Keine Strafe ohne Gesetz: Einführung in die Dogmengeschichte des Satzes "nullum crimen, nulla poena sine lege" [Reprint 2014 ed.] 9783110890693, 9783110097504


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Table of contents :
§ 1 Entwicklungsgeschichte des strafrechtlichen Gesetzesvorbehaltes bis zum GG
I. Zum Satz „nullum crimen, nulla poena sine lege“ im allgemeinen
1. Einleitung
2. Zur Entwicklung geschriebenen Rechts
3. Die Geschichte des „nullum-crimen-Prinzips“ von der Aufklärung bis zum GG
II. Zu den vier Einzelprinzipien des strafrechtlichen Gesetzesvorbehaltes
1. Ausschluß von Gewohnheitsrecht
2. Rückwirkungsverbot
3. Analogieverbot
4. Bestimmtheitsgebot
§ 2 Entstehungsgeschichte des Art. 103 Abs. 2 GG
I. Darlegung
II. Folgerungen
§ 3 Weitere Entwicklung des „nullum-crimen-Prinzips“
I. Zum Satz “nullum crimen, nulla poena sine lege“ im allgemeinen
1. Verfassungsrechtliche Garantie dieses Prinzips
2. Der strafrechtliche Gesetzesvorbehalt und Art. 7 MRK
II. Zu den vier Einzelprinzipien des strafrechtlichen Gesetzesvorbehalts
1. Ausschluß von Gewohnheitsrecht
2. Rückwirkungsverbot
3. Analogieverbot
4. Bestimmtheitsgebot
§ 4 Rückblick und Ausblick: Zum Grundgedanken des strafrechtlichen Gesetzes Vorbehalts
I. Zum Satz „nullum crimen, nulla poena sine lege“ im allgemeinen
II. Zu den vier Einzelprinzipien des strafrechtlichen Gesetzesvorbehalts
1. Ausschluß von Gewohnheitsrecht
2. Rückwirkungsverbot
3. Analogieverbot
4. Bestimmtheitsgebot
III. Resümee
Verzeichnis der auszugsweise abgedruckten Quellen
Register
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Keine Strafe ohne Gesetz: Einführung in die Dogmengeschichte des Satzes "nullum crimen, nulla poena sine lege" [Reprint 2014 ed.]
 9783110890693, 9783110097504

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Volker Krey Keine Strafe ohne Gesetz

Keine Strafe ohne Gesetz Einführung in die Dogmengeschichte des Satzes „nullum crimen, nulla poena sine lege" von Dr. Volker Krey o. Professor an der Universität Trier Richter am Oberlandesgericht Koblenz

w DE

G 1983

Walter de Gruyter · Berlin · New York

MEINER FRAU

CIP-Kurztitelaufnabme

der Deutschen

Bibliothek

Krey, Volker: Keine Strafe ohne Gesetz : Einf. in d. Dogmengeschichte d. Satzes „nullum crimen, nulla poena sine lege" / von Volker Krey. - Berlin ; New York : de Gruyter, 1983. ISBN 3-11-009750-8

© Copyright 1983 by Walter de Gruyter & Co., vormals G.J. Göschen'scne Verlaçshandlung, J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung, Georg Reimer, Karl J. Trübner, Veit 8c Comp., Berlin 30. Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Printed in Germany. Satz und Druck: Saladruck, Berlin 36 Bindearbeiten: Verlagsbuchbinderei Dieter Mikolai, Berlin 10

Vorwort Im Rahmen einer eingehenden Untersuchung zum Satz „nullum crimen, nulla poena sine lege" (Art. 103 Abs. 2 Grundgesetz)"' habe ich mich zunächst näher mit seiner Dogmengeschichte befaßt, wobei mir u.a. die Forschungen von v. Hippel, Kohlmann, Eh. Schmidt, Schöckel und namentlich Schreiher eine wertvolle Hilfe waren. Die dabei gewonnenen Einsichten sind in der vorliegenden Abhandlung festgehalten. Die Arbeit ist in vier Teile gegliedert: Der erste beginnt mit Ausführungen zur Entwicklung geschriebenen Rechts seit Hammurapi im allgemeinen und, anschließend, der Geschichte des „nullum-crimen-Prinzips" von der Aufklärung his zum Grundgesetz im besonderen. Dann folgt eine Darstellung der Dogmengeschichte der vier Einzelprinzipien des strafrechtlichen Gesetzesvorbehalts, nämlich des Ausschlusses von Gewohnheitsrecht, des Rückwirkungsverbots, des Analogieverbots und des Bestimmtheitsgebots. Diese Trennung zwischen der summarischen Zeichnung eines Gesamtbildes der historischen Entwicklung des Satzes „nullum crimen, nulla poena sine lege" einerseits und der Darlegung der Entwicklungsgeschichte jedes seiner vier Einzelprinzipien andererseits führt zwar notwendig zu einer Reihe von Wiederholungen in der Darstellung, erscheint gleichwohl aber sachgerecht. Denn wie sich zeigen wird, beruhen jene vier Einzelprinzipien keineswegs alle in

* Ihr Gegenstand sind Bedeutung, Grundgedanke und Geltungsbereich des Art. 103 Abs. 2 Grundgesetz. Die vorliegende Studie ist gewissermaßen ihr 1. Teil. - Zum Analogieverbot des Art. 103 Abs. 2 G G vgl. im übrigen bereits die Monographie des Verf.: „Studien zum Gesetzesvorbehalt im Strafrecht. Eine Einführung in die Problematik des Analogieverbots", 1977. -

VI gleicher Weise auf demselben Grundgedanken und haben sich auch nicht alle historisch gleichzeitig entwickelt. An eine Skizzierung der Entstehungsgeschichte des Art. 103 Abs. 2 Grundgesetz im zweiten Teil schließen sich dann im dritten Teil Ausführungen zur weiteren Entwicklung des „nullum-crimen-Prinzips" bis heute an. Die Schrift endet mit differenzierenden Darlegungen zum Grundgedanken des strafrechtlichen Gesetzesvorbehalts im allgemeinen und seiner vier Einzelprinzipien im besonderen (vierter Teil). Die Arbeit wendet sich zunächst an alle, die sich aus historischem Interesse mit der Entwicklungsgeschichte des Satzes „Keine Strafe ohne Gesetz" beschäftigen wollen; ihnen möchte sie als Einführung das nötige Basiswissen bieten und zugleich Anregung und Hilfe für vertiefte Forschungen sein. Weiterhin richtet sich die Arbeit an alle, die sich für die heutige Bedeutung des strafrechtlichen Gesetzesvorbehalts interessieren - sei es aus der Sicht des Strafrechts, des Verfassungsrechts, der Methodenlehre der Rechtswissenschaft oder aus der Sicht der Politikwissenschaft; denn jene Bedeutung erschließt sich nur bei hinreichender Berücksichtigung seiner Ideengeschichte. Für ihre Unterstützung auch in fachlicher Hinsicht habe ich Frau Ass. Weber-Linn und Herrn Ass. Arenz, namentlich aber den Herren cand. iur. Freudenberg und Pohl sowie Herrn Rechtspraktikanten Pföhler zu danken; auch meiner Sekretärin, Frau Böttger, schulde ich Dank für ihren unermüdlichen Einsatz. Trier, im Dezember 1982

Volker Krey

Inhaltsübersicht Rdnr. § 1 Entwicklungsgeschichte des strafrechtlichen Gesetzesvorbehaltes bis zum GG I. Zum Satz „nullum crimen, nulla poena sine lege" im allgemeinen 1 1. Einleitung 1 2. Zur Entwicklung geschriebenen Rechts 4 3. Die Geschichte des „nullum-crimen-Prinzips" von der Aufklärung bis zum G G 12 a) Aufklärung (Montesquieu, Beccaria) 13 b) Josephina und ALR als Kodifikationen des aufgeklärten Absolutismus 14 c) Französische Menschenrechtserklärung von 1789 15 d) Napoleons Code Pénal 16 e) Anselme. Feuerbach und das bayerische StGB von 1813 17 f) StGB für die Preußischen Staaten von 1851 19 g) Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich von 1871 20 h) Karl Binding und Franz v. Liszt 21 i) Art. 116 der Verfassung des Deutschen Reiches (WeimarerVerfassung) vom 11.8.1919 23 j) NS-Zeit (1933-1945) 24 k) Der Satz „nullum crimen, nulla poena sine lege" in der Gesetzgebung der Siegermächte 33 II. Zu den vier Einzelprinzipien des strafrechtlichen Gesetzesvorbehaltes 35 1. Ausschluß von Gewohnheitsrecht 35 a) Römisches Strafrecht 35 b) Constitutio Criminalis Carolina (CCC) 36 c) Wissenschaft des gemeinen Strafrechts 37 d) Aufklärung (Montesquieu, Beccaria) 38 e) Josephina und ALR 39 f) Die amerikanischen Verfassungendes 18. Jahrhunderts 40 g) Ausschluß von Gewohnheitsrecht in Gesetzen der französischen Revolutionszeit und im Code Pénal Napoleons . . . 42 h) Anselme. Feuerbach und das bayerische StGB von 1813 43 i) Die Durchsetzung des Verbots gewohnheitsrechtlicher Strafbegründung oder -schärfung im 19. Jahrhundert 44 j) Art. 116 Weimarer Verfassung 45

Vili k) NS-Zeit (1933-1945) 1) Das Gebot der lex scripta im Strafrecht und die Gesetzgebung der Siegermächte 2. Rückwirkungsverbot a) Römisches Strafrecht b) Constitutio Criminalis Carolina (CCC) c) Wissenschaft des gemeinen Strafrechts d) Aufklärung (Montesquieu, Beccaria) e) Die gesetzliche Verankerung des strafrechtlichen Rückwirkungsverbots in den amerikanischen Verfassungen des 18. Jahrhunderts f) Josephina und ALR g) Französische Menschenrechtserklärung von 1789 und Napoleons Code Pénal h) v. Feuerbach und das bayerische StGB von 1813 i) Die Durchsetzung des Rückwirkungsverbots im 19. Jahrhundert . . . j) Karl Binding k) Art. 116 Weimarer Verfassung von 1919 1) NS-Zeit (1933-1945) m) Die Durchbrechung des Rückwirkungsverbots durch die Siegermächte im Kontrollratsgesetz Nr. 10 von 1945 3. Analogieverbot a) Römisches Strafrecht b) Constitutio Criminalis Carolina c) Gemeines Recht d) Aufklärung (Montesquieu, Beccaria) e) Josephina und ALR f) Das Analogieverbot in Gesetzen der französischen Revolutionszeit .. g) Code Pénal Napoleons (1810) h) v. Feuerbach i) Bayerisches StGB von 1813 j) Die Durchsetzung des Analogieverbots im 19. Jahrhundert k) Art. 116 Weimarer Verfassung von 1919 1) NS-Zeit m) Analogieverbot und die Gesetzgebung der Siegermächte 4. Bestimmtheitsgebot a) Römisches Strafrecht b) Constitutio Criminalis Carolina c) Wissenschaft des gemeinen Strafrechts d) Aufklärung (Montesquieu, Beccaria) e) Josephina und ALR f) Französische Revolutionszeit g) Anselm v. Feuerbach h) StGB für das Königreich Bayern von 1813 i) Preußisches StGB von 1851 j) Reichsstrafgesetzbuch von 1871 k) Art. 116 Weimarer Verfassung

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1) NS-Zeit m) Das Bestimmtheitsgebot in der Gesetzgebung der Siegermächte § 2 Entstehungsgeschichte des Art. 103 Abs.2GG I. Darlegung II. Folgerungen § 3 Weitere Entwicklung des „nullum-crimen-Prinzips" I. Zum Satz "nullum crimen, nulla poena sine lege" im allgemeinen 1. Verfassungsrechtliche Garantie dieses Prinzips 2. Der strafrechtliche Gesetzesvorbehalt und Art. 7 MRK II. Zu den vier Einzelprinzipien des strafrechtlichen Gesetzesvorbehalts 1. Ausschluß von Gewohnheitsrecht 2. Rückwirkungsverbot a) Restriktionstendenzen b) Extensionstendenzen 3. Analogieverbot 4. Bestimmtheitsgebot § 4 Rückblick und Ausblick: Zum Grundgedanken des strafrechtlichen Gesetzesvorbehalts I. Zum Satz „nullum crimen, nulla poena sine lege" im allgemeinen II. Zu den vier Einzelprinzipien des strafrechdichen Gesetzesvorbehalts 1. Ausschluß von Gewohnheitsrecht 2. Rückwirkungsverbot 3. Analogieverbot 4. Bestimmtheitsgebot III. Resümee Verzeichnis der auszugsweise abgedruckten Quellen Register

Schrifttumsverzeichnis

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§ 1 Entwicklungsgeschichte des strafrechtlichen Gesetzesvorbehalts bis zum G G I. Zum Satz „nullum crimen, nulla poena sine lege" im allgemeinen 1. Einleitung Die Dogmengeschichte des Satzes „nullum crimen, nulla poena 1 sine lege" wird vielfach in der Weise geschildert, daß man ohne detaillierte Differenzierung zwischen den einzelnen aus jenem Satz abgeleiteten vier Verboten - Verbot von Gewohnheitsrecht, Rückwirkungsverbot, Analogieverbot, Verbot zu unbestimmter Strafgesetze versucht, summarisch ein Gesamtbild der historischen Entwicklung des strafrechtlichen Gesetzesvorbehalts zu zeichnen. Demgegenüber bemüht sich namentlich H.-L. Schreiber1 darum, nicht nur die Geschichte des „nulla-poena-Satzes" im allgemeinen, sondern zugleich seiner oben genannten vier Einzelprinzipien im besonderen darzulegen. Dies zu Recht. Denn eine zu undifferenzierte summarische Gesamtschau verdeckt den Zugang zu der Erkenntnis, daß jene vier aus dem strafrechtlichen Gesetzesvorbehalt fließenden und diesen konstituierenden Verbote keineswegs alle in gleicher Weise auf demselben Grundgedanken beruhen und sich keineswegs historisch gleichzeitig entwickelt und durchgesetzt haben. Auf der anderen Seite ist bei der Darlegung der Dogmengeschichte 2 des strafrechtlichen Gesetzesvorbehalts zu berücksichtigen, daß jene vier einzelnen Elemente nicht unverbunden nebeneinanderstehen, sondern daß Wechselbeziehungen existieren: Erst durch ihr Zusam1

Gesetz und Richter.

2 menwirken realisiert sich das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip. Auch sind der Ausschluß von Gewohnheitsrecht, das Rückwirkungsverbot, das Analogieverbot und das Bestimmtheitsgebot als strafrechtliche Einzelprinzipien letztlich nicht um ihrer selbst willen entwickelt worden, sondern deswegen, weil die angestrebte Herrschaft des Gesetzes im Strafrecht („nullum crimen, nulla poena sine lege") zu ihrer Realisierung die Anerkennung dieser vier Prinzipien erfordert. Demgemäß darf bei der historischen Einführung in die Problematik des strafrechtlichen Gesetzesvorbehalts (Art. 103 Abs. 2 GG) die Differenzierung nach den vier Einzelprinzipien nicht zu einer Vernachlässigung ihrer Interdependenz führen; und namentlich darf ihr gemeinsamer Nenner - das Postulat der Gesetzesherrschaft im Strafrecht, um dessen Durchsetzung es bei ihnen geht, nicht zu kurz kommen. 3 Im folgenden soll zunächst eine summarische Skizzierung der dogmengeschichtlichen Entwicklung dieses Postulats im allgemeinen erfolgen, ehe anschließend die Entstehungsgeschichte jener vier Einzelelemente dargelegt wird. Vorab aber seien noch einige erläuternde Worte zum Sinn unserer historischen Einführung erlaubt: Zum einen ist die Beschäftigung mit der Ideengeschichte des Satzes „nullum crimen, nulla poena sine lege" ein Gebot intellektueller Redlichkeit für alle, die sich eingehend mit der Problematik dieses Satzes auseinandersetzen wollen. Sie erhellt nämlich, in welchem Umfang Gesichtspunkte zur Deutung des strafrechtlichen Gesetzesvorbehalts, die heute diskutiert werden, bereits vor Jahrhunderten eine Rolle gespielt haben. Zum anderen lassen sich Geltungsgrund und Geltungsbereich des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips ohne Berücksichtigung seiner Entwicklungsgeschichte schwerlich bestimmen. Rechtsinstitute sind keine Gebilde ohne Geschichte; und daher bedarf es der Aufdekkung der „Bedingungen ihres Entstehens, ihrer früheren Bedeutung und eines etwaigen Bedeutungswandels, um eine zuverlässige Grundlage für die Beurteilung ihrer heutigen Bedeutung zu gewinnen"2. 2

Schreiber, Gesetz und Richter, S. 14 f.

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2. Zur Entwicklung geschriebenen Rechts

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Voraussetzung für das Postulat „nullum crimen, nulla poena sine lege" war die Entwicklung geschriebenen Rechts: Die Schaffung von Strafgesetzen als leges scriptae unter Zurückdrängung von ungeschriebenem Recht (Gewohnheitsrecht/Richterrecht) ist notwendige - wenn auch noch nicht hinreichende Bedingung für die Herausbildung der Idee des strafrechtlichen Gesetzesvorbehalts. War es auch ein unendlich langer Weg von den ersten großen Gesetzgebungswerken bis zur Entwicklung und Anerkennung des „nullum-crimen-Prinzips", so war doch mit dem Auftreten strafrechtlicher Kodifikationen der erste entscheidende Schritt in Richtung auf dieses Prinzip getan. Der Erlaß von Gesetzen dort, wo zuvor Gewohnheitsrecht, Richterrecht oder Willkür der Rechtsanwender herrschte, kann dabei auf zwei Wurzeln beruhen: Erstens auf dem Interesse des Souveräns, seine Gesetzgebungsmacht klar und deutlich zu dokumentieren und durch geschriebenes Recht unbedingten Gehorsam der Untertanen, aber auch der Richter sowie Verwaltungsbeamten zu erreichen. Zweitens auf dem Gesichtspunkt „Schutz vor obrigkeitlicher Willkür durch die lex scripta". Beispiele für ersteres bilden u.a. der Codex Hammurapi's; das Corpus Iuris des Justinian; das „Allgemeine Gesetz über Verbrechen und derselben Bestrafung" Joseph' II und das Preußische Allgemeine Landrecht als Kodifikationen des „aufgeklärten Absolutismus". Beispiele für letzteres sind u. a. das Zwölftafelgesetz und die Constitutio Criminalis Carolina.

a) Zum Kodex des Hammurapi

(Hammurabi):

Anfang unseres Jahrhunderts wurde in Susa eine Stele gefunden, die neben einem Prolog und Epilog die berühmte Gesetzessammlung des Königs Hammurapi von Babylon enthält (ca. 1700 vor Chr.). Zwar ist wegen späterer Zerstörung eines Teils der Inschriften auf der Stele der Kodex nicht vollständig auf uns gekommen; doch werden

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4 diese Lücken jedenfalls teilweise durch Bruchstücke von Abschriften auf erhaltenen Tontafeln gefüllt3. Dieser Kodex enthält in seinen 282 Paragraphen (heutige Einteilung) strafrechtliche, sonstige öffentlich-rechtliche sowie zivilrechtliche Normen. Ob und wieweit es sich dabei um eine Präjudiziensammlung, um eine Kodifizierung bestehenden Gewohnheitsrechts bzw. um eine Sammlung älterer Gesetze einerseits oder um inhaltlich neue Vorschriften andererseits handelte, ist strittig''. Am plausibelsten erscheint die Deutung, daß alte Vorschriften teils unverändert, teils reformiert - und neue in die Gesetzessammlung eingeflossen sind. Auf jeden Fall aber ist unbeschadet dieser Streitfrage die Zielsetzung jener Schaffung geschriebenen Rechts deutlich: Die Gesetzessammlung des Königs Hammurapi sollte seinen absolutistischen Machtanspruch als Normgeber, als des Herrn des Rechts, dokumentieren5. Hammurapi rühmt sich, von den Göttern Schamasch und Marduk zum Hirten der Menschen eingesetzt zu sein, um Recht und Gerechtigkeit einzuführen; dazu heißt es auf der Stele im Prolog: „Hammurapi..., der Aufdecker des Rechten, Rechtsordner der Völker . . . Als Marduk zur Rechtsordnung der Menschen . . . mich bestellte, habe Recht und Gerechtigkeit in das Land ich eingeführt". Im Epilog verkündet die Stele: „Auf Geheiß Schamasch's, des großen Richters von Himmel und Erde, werde meine Gerechtigkeit im Lande offenbar... Hammurapi, der König der Gerechtigkeit, dem Schamasch das Recht geschenkt hat, bin ich." Und über die Normen des Kodex sagt die Stele am Anfang des Epilogs : „Rechtssprüche der Gerechtigkeit, die Hammurapi, der tüchtige König festgesetzt und durch die er dem Lande rechte Leitung und gute Führung verschafft hat".

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Klengel, S. 155 ff; Preiser, S. 17ff, 20 f; Saggs, S. 295 ff. Eine deutsche Übersetzung des gesamten Gesetzestextes einschließlich Prolog und Epilog bietet Eilers. Dazu u. a. Koschaker, S. 1 ff m. w. N . Siehe auch v. Hippel, Bd. 1, S . 5 3 f .

5 Als „König der Gerechtigkeit" wollte Hammurapi herrschen; sein Wille sollte bestimmen, was geltendes Recht sei. Diesem absolutistischen Machtanspruch konnte nur die Normierung geschriebenen Rechts, die „Einmeißelung" des Königrechts, hinreichend gerecht werden. Die schriftliche Festlegung des geltenden Rechts diente aber zugleich auch dem Schutz der Untertanen; dazu verkündet die Stele im Epilog: „Vom Starken den Schwachen nicht entrechten zu lassen, der Witwe, der Waise Recht zu verschaffen, habe ich in B a b y l o n , . . . dem Entrechteten Recht zu verschaffen, meine köstlichen Worte auf meinen Denkstein geschrieben und vor meinem Bildnis als König der Gerechtigkeit festgelegt.. Der Epilog fährt dann fort: „Der entrechtete Bürger, der in einen Rechtshandel gerät, trete vor mein Bildnis als König der Gerechtigkeit. Und dann lese er meinen Schriftstein und höre meine köstlichen Worte, und mein Denkstein kläre ihm seinen Rechtshandel, seinen Rechtsspruch soll er ersehen, sein Inneres aufatmen lassen ". Diese uralten Worte, so fern sie uns Heutigen auch in ihrer archaischen Sprache erscheinen mögen, stehen inhaltlich unserem Rechtsdenken erstaunlich nah: Was in ihnen bereits anklingt, ist der Gesichtspunkt „Schutz der Bürger durch geschriebenes, ihnen zugängliches Recht" (Orientierungsgewißheit); und dieser ist von zeitloser Gültigkeit.

h) Das Corpus Juris des Justinian Bekanntlich hat Justinian (527-565 nach Chr.), Kaiser des oströmischen Reiches, im Rahmen seiner großangelegten Reform- und Restaurationspläne ein gewaltiges Gesetzgebungswerk geschaffen: Er hat mit dem Corpus Juris - bestehend aus den „Institutionen" (ein amtliches Einführungslehrbuch) von 533, den „Digesten" bzw. „Pandekten" (eine amtliche Sammlung des Juristenrechts, die uns einen Querschnitt durch das gesamte Schaffen der römischen Juristen bietet) von 533 sowie dem „Codex" (Sammlung der Kaiserkonstitutionen) von 534 -

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6 das wohl bedeutsamste Gesetzgebungswerk der Geschichte vollbracht6. Wieweit dabei unschöpferisches bloßes Sammeln oder schöpferische Reform dominierten, soll hier dahinstehen. Jedenfalls war auch das lediglich gesammelte alte Juristenrecht auf die Gesetzgebungsgewalt des Kaisers gestützt, und neues wie altes Recht des Corpus Juris waren in gleicher Weise „ius Justinianum"7. Für Justinian, der die absolutistische Kaisergewalt besonders betonte8, war seine Kodifikation - die namentlich Zivilrecht enthielt, aber auch öffentliches Recht und Strafrecht, ein „Mittel unitarischer Machtpolitik"9 und Ausdruck seines absoluten Herrscheranspruchs. Dieser kommt auch in dem bekannten Kommentierungsverbot der constitutio Tanta, § 21, zum Ausdruck: Danach war es die kaiserliche Autorität, der allein es erlaubt sein sollte, Gesetze zu interpretieren („cui soli concessum est leges et condere et interpretan")10. 7 c) „Allgemeines Gesetz über Verbrechen und derselben Bestrafung" Joseph II Dieses österreichische Strafgesetzbuch Kaiser Joseph II von 1787 (Josephina genannt) gehört zu den Kodifikationen des „aufgeklärten Absolutismus". Für jene strafrechtliche Kodifikation stand der absolutistische Gedanke vom Schutz der Autorität des gesetzgebenden Souveräns durch strikte Gesetzesbindung der Strafjustiz im Vordergrund11. Doch war diese absolutistische Wurzel „bereits durchsetzt mit der aufklärerischen Idee der Gesetzlichkeit als Freiheitsgarantie

Zum Corpus Juris vgl. u.a. Der Kleine Pauly, „Digesta", „Iustinianus" ; Dulckeit/ Schwarz/Waldstein, § 4 3 ; Wieacker, S. 146 ff. 7 Wieacker, S. 169. 8 Der Kleine Pauly, „Iustinianus". ' Wieacker, S. 190. 10 Vgl. Der Kleine Pauly, „interpretado"; Dulckeit/Schwarz/Waldstein, § 44 14. 11 Dazu Schreiber, Gesetz und Richter, S. 76 ff, sowie Krey, Studien, S. 208 f, jeweils m. w. N. 12 Siehe Anm. 11. 4

7 d) Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten (ALR) Diese umfassende Kodifikation von 1794, die man auf Grund ihrer Entstehungsgeschichte noch als „Frucht der späten Regierungszeit Friedrich II von Preußen (1712-1786)" zu verstehen hat13, stellt die bedeutendste gesetzgeberische Leistung des aufgeklärten Absolutismus dar. Sie enthält in ihren ca. 19 000 Paragraphen Zivilrecht, öffentliches Recht und Strafrecht. Grundlage für den Plan Friedrich II zur Schaffung einer solchen Kodifikation, die gewissermaßen eine rechtliche Gesamtordnung Preußens bringen sollte, war namentlich sein absolutistischer Machtanspruch, das in Preußen geltende Recht als Gesetzgeber selbst zu gestalten, anstatt es der „Spitzfindigkeit" der Juristen und richterlicher Willkür zu überlassen14. Dieser Standpunkt wird insbesondere in der vielzitierten Cabinetsordre Friedrich II von 178015 deutlich, wo der Monarch ausführt: „... ebenso ungereimt ist es, wenn man in einem Staat, der doch seinen unstreitigen Gesetzgeber hat, Gesetze duldet, die durch ihre Dunkelheit und Zweideutigkeit zu weitläufigen Disputen der Rechtsgelehrten Anlaß geben, oder wohl gar darüber, ob dergleichen Gesetz oder Gewohnheit jemals existiert . . . habe, weitläufige Prozesse veranlaßt werden müssen... Wenn wir . . . unseren Endzweck in Verbesserung der Gesetze und der Prozeßordnung erlangen, so werden freilich viele Rechtsgelehrten bei der Simplifikation dieser Sache ihr geheimnisvolles Wesen verlieren, um ihren ganzen Subtilitäten-Kram gebracht, und das ganze Corps der bisherigen Advocaten unnütze werden... Dagegen aber werden wir nicht gestatten, daß irgendein Richter . . . Unsere Gesetze zu interpretieren, auszudehnen oder einzuschränken, viel weniger neue Gesetze zu geben, sich einfallen lasse". Das tiefe Mißtrauen des absoluten Monarchen gegen die Rechtsfindungsmacht der Rechtsgelehrten und Richter war also eine entscheidende Wurzel für die Schaffung des ALR. Daneben aber - ähnlich wie bereits bei der Josephina, nur in wohl stärkerem Maße - tritt als weitere Wurzel die rechtsstaatliche Erwä13 14 15

Hattenhauer, S. 11. Dazu m. w. N. Schreiber, Gesetz und Richter, S. 85 ff. Wiedergegeben u. a. bei Schreiber aaO, S. 86 f Anm. 26.

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gung hinzu, den einzelnen vom Gesetz, nicht aber von der Willkür des Richters abhängig zu machen16. 9 e)

Zwölftafelgesetz

Diese älteste Kodifikation des römischen Rechts stammt aus dem 5. Jahrhundert vor Chr. Sie enthielt Zivil- und Zivilprozeßrecht, zudem Strafrecht und öffentliches Recht17. Den Anlaß für diese große Rechtsaufzeichnung bot der politische Kampf zwischen Patriziern und Plebejern: Die Herrschaft der Patrizier war für die Plebejer um so drückender, als es patrizische Priester und Magistraten waren, die das Rechtswissen verwalteten und das ungeschriebene Recht - oder das, was sie als geltendes Gewohnheitsrecht ausgaben anwandten18. Ein entscheidender Erfolg der Plebs in ihrem Kampf gegen das Patriziat lag nun darin, daß sie die schriftliche Niederlegung des geltenden Rechts durch das Zwölftafelgesetz erzwang19. Mit seiner Kodifizierung in den tabulae duodecim war die Kenntnis des Rechts auch der Plebs zugänglich; und zugleich war durch diese Rechtsaufzeichnung richterliche und magistratische Willkür des Patriziats eingeschränkt20. Mithin läßt sich sagen: Die schriftliche Fixierung des geltenden Rechts durch das Zwölftafelgesetz diente dem Schutz der Bürger vor obrigkeitlicher Willkür. 10 f) Constitutio Criminalis Carolina

(CCC)

Die Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karl V, CCC, von 153221 stellt für das Strafrecht den Höhepunkt der Rezeption des römischen Rechts dar22. Diese hat 16 17

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22

Dazu näher Schreiber, Gesetz und Richter, S. 89 ff; Krey, Studien, S. 208 f. Näher zu ihr Der Kleine Pauly, „Tabulae duodecim"; Du'II; Dulckeit/Schwarz! Waldstein, § 10; Wieacker, S.40ff. DUll, S. 5 f; Heuss, S. 18; Käser, S. 30 f. Heuss aaO. Düll, Heuss, Käser und Wieacker aaO. Im folgenden zitiert nach der Reclam-Ausgabe, herausgegeben von Radbruch/ Kaufmann. Dazu näher Krey, J Z 1979, 702, 704 f, m. w . N .

9 - wenn auch nicht allein, sondern zusammen mit überkommenen deutschrechtlichen Gedanken vor allem die Bamberger Halsgerichtsordnung von 1507, das Werk des Freiherrn Johann von Schwarzenberg, geprägt; auf ihr fußt weitgehend die CCC, eine Kodifikation des formellen sowie materiellen Strafrechts, d. h. sachlich Reichsstrafprozeßordnung und Reichsstrafgesetzbuch in einem": 1495 wurde durch den Ewigen Landfrieden das Fehderecht beseitigt; zugleich wurde das Reichskammergericht errichtet. Auf Veranlassung dieses Gerichts faßte der Reichstag zu Freiburg 1498 den Beschluß, „eine gemeine reformation und Ordnung in dem Reich fürzunehmen, wie man in criminalibus procedieren soll"24.

Freilich kam die Arbeit an der geplanten Kodifizierung unter Kaiser Maximilian nicht recht vorwärts. Nach dessen Tod (1519) aber wurde jener Gesetzgebungsplan endlich ernstlich verfolgt: Der Reichstag zu Worms (1521) nahm die lange unterbrochene Strafrechtsreform wieder auf; dies auf der Grundlage jener Bamberger Halsgerichtsordnung von 1507, der Constitutio Criminalis Bambergensis (CCB). Diese Kodifikation ihres Schöpfers v. Schwarzenberg hatte nämlich weit über das Bistum Bamberg hinaus Ansehen und Einfluß gewonnen, und zwar in solchem Maße, daß sie die natürliche Grundlage für die Arbeiten an dem geplanten Gesetzgebungswerk des Reiches wurde. Dabei sind die Bestimmungen der CCB weitgehend in die CCC übernommen worden, so daß man die Bambergensis zu Recht als „mater Carolinae" bezeichnet hat und sagen kann: die CCC ist sachlich im wesentlichen das Werk v. Schwarzenbergs25. Das Anliegen, das CCB und CCC verband, war die Beseitigung der „unfaßlichen Rechtsunsicherheit und Willkür der deutschen Strafrechtspflege"26; darüber hinaus ging es speziell bei der Schaffung der CCC um den Kampf gegen die partikuläre Rechtszersplitterung. Demgemäß kann man feststellen: 23 24 25

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Krey aaO; eingehend v. Hippel, Bd. 1, S. 171-213. Dazu v. Hippel aaO, S. 164 £f; Radbruch/Kaufmann, S.5. Zum Vorstehenden vgl. u.a. V.Hippel aaO, S.171f; Radbruch/Kaufmann, RUping, S. 36 f; Eb. Schmidt, S. 109, 130 f. Eb. Schmidt, S. 111.

S.8;

10 Die mit der CCC verfolgten Ziele waren ein einheitliches Reichsrecht und der Schutz der Bürger vor richterlicher Willkür27. Namentlich bei der Verhängung „peinlicher Strafen" - wozu nur Strafen am Leben, am Leib und an der Ehre gehörten28 war der Gesichtspunkt des Willkürschutzes ausgeprägt. Hierzu bestimmten Art. 104 und 105 CCC: Art. 104 „Eyn vorrede wie man mißthatt peinlich straffen soll . . . Aber inn feilen darumb (oder derselben gleichen) unser Keyserlich recht nit setzen oder zulassen, jemandt zum todt zu straffen, haben wir inn diser unser und des Reichs Ordnung auch keynerley todtstraff gesetzet,... Aber sonderlich ist zu mercken, inn was sachen (oder derselben gleichen) unser Keyserlich recht keynerley peinlicher straff am leben, ehren, leib oder gliedern setzen, oder verhengen, daß Richter und urtheyler dawider auch niemant zum todt oder sunst peinlich straffen .. Art. 105 „Von unbenanten peinlichen feilen und straffen Item ferner ist zu mercken, inn was peinlichen feilen oder verklagungen, die peinlichen straff inn disen nachvolgenden artickeln nit gesetzt oder gnugsam erklert oder verstendig wer, sollen Richter und urtheyler (so es zu schulden kompt) raths pflegen, wie inn solchen zufelligen oder unverstendlichen feilen, unsern Keyserlichen rechten, und diser unser Ordnung am gemessigsten gehandelt und geurtheylt werden soll, und alßdann ire erkantnuß danach thun..." Diese Vorschriften verankern zwar noch keinen Gesetzesvorbehalt i. S. des Satzes „nullum crimen, nulla poena sine lege", sondern lassen in Art. 105 Strafbarkeit „nach Analogie" des kaiserlichen Rechts und der Carolina selbst zu29. Doch wird Richtern und Urteilern die eigenmächtige Bestrafung gemäß Analogie genommen; denn Art. 105 ordnet die Einholung eines Rats an („sollen Richter und urtheyler raths pflegen..."), wobei die CCC in Art. 219 vorschreibt, „bei wem 27 28 29

V. Hippel aaO, S.212. Schreiber, Gesetz und Richter, S.26Í m.w. N. v. Hippel, Bd. 1, S. 177; Schreiber aaO, S.27.

11 und an welchen orten rath gesucht werden soll" (das „raths pflegen" erfolgte durch Aktenversendung, namentlich an einen Oberhof oder eine Rechtsfakultät). Ungeachtet jener Analogieermächtigung ist die CCC aber, was den 11 Schutz der Bürger vor richterlicher Willkür angeht, ein unerhört fortschrittliches Gesetz gewesen, offenbar sogar zu fortschrittlich für jene dunkle Zeit vor der Morgendämmerung der Aufklärung: So rügte der Städtetag zu Eßlingen 1522 den auf der CCB beruhenden Entwurf der Reichshalsgerichtsordnung mit den Worten: Sie sei „zu nichts fürständiger als alle Übelthäter zu harzen und zu pflanzen"™, also gewissermaßen eine Art „Ganoven-Schutzgesetz". Daß die Zeit wohl nicht reif war für die Respektierung eines solchen Willkürschutzes durch geschriebenes Strafrecht, zeigt dann besonders deutlich die weitere Entwicklung des deutschen Strafrechts: Die nach Erlaß der Carolina beginnende Epoche der Wissenschaft des „gemeinen", d.h. auf der CCC fußenden und damit reichsrechtlich geltenden Strafrechts war gekennzeichnet durch die Wiederauflösung jener beschränkten Gesetzesbindung, die das Anliegen der CCC gewesen war. Richterliche poenae arbitrariae und crimina extraordinaria, die mehr und mehr das Feld beherrschen, verdeutlichen, daß der von der Carolina intendierte Schutz vor richterlicher Willkür entweder in Vergessenheit geraten ist oder nicht mehr akzeptiert wird31. Auch Benedict Carpzov (1595-1666), der eigentliche Begründer der deutschen Strafrechtswissenschaft, hat insoweit keine rühmliche Rolle gespielt32. Wenn Riiping33 meint, es wäre unhistorisch, Carpzov am rechtsstaatlichen Gebot „nullum crimen, nulla poena sine lege" zu messen, so ist dem entgegenzuhalten: Es mag unhistorisch sein, ihm sein mangelndes Eintreten für unsere heutigen rechtsstaatlichen Forderungen vorzurechnen; es ist aber legitim, bei der Bewertung seines Ranges als Strafjurist festzuhalten: Was den Schutz der Bürger vor richterlicher Willkür durch geschriebenes Strafrecht angeht, bedeutet 30 31 32 33

Vgl. v. Hippel aaO, S. 173; Eb. Schmidt, S. 131. v. Hippel aaO, S. 236 ff; Schreiber, Gesetz und Richter, S. 28 ff. Siehe v. Hippel und Schreiber aaO. S.42.

12 sein Rechtsdenken einen Rückschritt gegenüber dem v. Schwarzenbergs. Erst mit dem Siegeszug des aufklärerischen Rechtsdenkens im 18. Jahrhundert und dem Erlaß der von ihm geprägten großen landesrechtlichen Kodifikationen - vornehmlich seien hier die Josephina und das ALR genannt (dazu oben, Rdnr. 7, 8), zudem das bereits vom Liberalismus beeinflußte Bayerische StGB von 1813 — endete die für die Entwicklung des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips wenig fruchtbare Epoche des gemeinen Rechts.

12 3. Die Geschichte des „nullum-crimen-Prinzips" von der Aufklärung bis zum GG Wie dargelegt ist die Idee, durch Gesetze die Rechtssetzungsmacht des Souveräns unter Zurückdrängung von Gerichtsgebrauch und 'Willkür der Rechtsanwender zu manifestieren, Jahrtausende alt. Dasselbe gilt für das Anliegen, durch die lex scripta den Bürger vor solcher Willkür zu schützen. Beide Wurzeln für die Schaffung der erwähnten großen Gesetzgebungswerke haben auch bei der Entwicklung und Durchsetzung des Satzes „nullum crimen, nulla poena sine lege" Bedeutung erlangt. Und doch war es vom Codex des Hammurapi, vom Zwölftafelgesetz und selbst noch von der Constitutio Criminalis Carolina ein langer Weg bis zur Entwicklung und Durchsetzung eines strafrechtlichen Gesetzesvorbehalts, der alle vier eingangs (Rdnr. 1) genannten Verbote umfaßte, d.h. für Strafbegründung und -schärfung ein Verbot von Gewohnheitsrecht, Rückwirkungsverbot, Analogieverbot und Verbot zu unbestimmter Strafgesetze normierte. 13 a) Aufklärung

(Montesquieu und Beccaria)

Bekanntlich ist der strafrechtliche Gesetzesvorbehalt eine Frucht des aufklärerischen Rechtsdenkens, wobei - neben Voltaire (1694-1778) insbesondere Montesquieu (1689-1755) und Beccaria (1738-1794) hervorzuheben sind. Bei ihnen findet sich die Idee des Gesetzesstaates, d. h. die Kodifikationsidee, verbunden mit der Vorstellung vom

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Gesetz als Garant bürgerlicher Freiheit, als Schutz vor richterlicher oder behördlicher Willkür. Namentlich im Strafrecht sollte nicht die Macht der Strafrichter herrschen - von der Montesquieu als der „puissance de juger si terrible parmi les hommes" (der unter Menschen so schrecklichen Gewalt zu richten) sprach - , sondern das Gesetz. Wenn Montesquieu und Beccaria also zu „geistigen Vätern" des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips wurden, so vornehmlich aus Sorge um die Gefährdung der Freiheit des einzelnen durch richterliche Willkür34: (1) Montesquieu In seinem epochalen Werk „Vom Geist der Gesetze" (De l'Esprit des Lois, 1748, XI. Buch Kapitel 6) hat Montesquieu bekanntlich das Postulat der Gewaltenteilung entwickelt. Danach sollten die gesetzgebende, die vollziehende und die rechtsprechende Gewalt strikt getrennt sein, um Machtmißbrauch zu verhindern und die Freiheit der Bürger zu schützen. Montesquieu führte dazu aus: „Ist die gesetzgebende Gewalt mit der vollziehenden in einer Person oder in einem und demselben obrigkeitlichen Staatsorgan vereint, so gibt es keine Freiheit, weil man fürchten kann, derselbe Monarch oder derselbe Senat werde tyrannische Gesetze geben, um sie tyrannisch zu vollziehen. Es gibt ferner keine Freiheit, wenn die richterliche Gewalt nicht von der gesetzgebenden und der vollziehenden getrennt ist. Wäre sie mit der gesetzgebenden Gewalt verbunden, so würde die Macht über Leben und Freiheit der Bürger willkürlich sein; denn der Richter wäre Gesetzgeber. Wäre sie mit der vollziehenden Gewalt verbunden, so könnte der Richter die Macht eines Unterdrückers besitzen"35. Die Forderung nach einer Trennung von richterlicher und gesetzgebender Gewalt sollte also dem Schutz der Bürger vor Willkür der Strafjustiz dienen. Diese Vorstellung verband sich mit dem aufkläre-

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35

Dazu u.a. v. Hippel, B d . l , S.262ff; Krey, Studien, S.207; Lemmel, S. 122ff; Sax, S. 992; Eb. Schmidt, S. 215 ff; Schreiber, Gesetz und Richter, S. 53 ff. Zitiert nach Stern, S. 625 f.

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rischen Postulat einer strikten Gesetzesbindung des Richters: Ihm dürfe nur die Funktion eines „Sprachrohrs des Gesetzes" zukommen, was Montesquieu in die Worte kleidete: „Les juges ne sont que la bouche qui prononce les paroles de la loi" 36 - übersetzt: Die Richter sind nur der Mund, der die Worte des Gesetzes ausspricht. Im Strafrecht sollte allein das Gesetz herrschen; dies beruhte auf der Uberzeugung: „Frei sein heißt von nichts anderem als dem Gesetz abhängen"37. Damit ist im Denken von Montesquieu das Prinzip „nullum crimen, nulla poena sine lege" bereits verankert - vgl. dazu auch unten, Rdnr. 38, 53, 73, 87 - , mag er es auch noch nicht ausdrücklich formuliert haben.

(2)

Beccaria

Beccaria hat diese Überlegungen Montesquieus in seinem vielzitierten Werk „Dei delitti e delle pene" (Über Verbrechen und Strafen, 1764) aufgegriffen und die Forderung gestellt: Allein die Gesetze könnten die Strafe bestimmen, kein Beamter. Und was den Strafrichter angehe, so dürfe dieser lediglich die Gesetze anwenden. Nur durch solche unbedingte Gesetzesherrschaft sei die Freiheit des Bürgers zu bewahren38. - Dabei ging Beccaria mit seiner Forderung nach dem strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzip und strikter Gesetzesbindung des Richters so weit, daß er diesem sogar die Gesetzesinterpretation verwehren wollte39 - . Auch im Rechtsdenken Beccarias war mithin der strafrechtliche Gesetzesvorbehalt bereits von entscheidender Bedeutung - siehe dazu ergänzend Rdnr. 38, 53, 73, 87 - .

36 37 38 35

Dazu Krey aaO, S. 56. Schreiber aaO, S. 53 m. w. N. Siehe v. Hippel, Bd. 1, S.266f; Kohlmann, S. 173; Eb. Schmidt, S.218. Krey aaO, S. 57 m. w. N.

15 b) Josephina und ALR als Kodifikationen des aufgeklärten Absolutismus (1) Josephina Das Strafgesetzbuch Kaiser Joseph II (dazu oben, Rdnr. 7) statuierte in Teil I § 1 den strafrechtlichen Gesetzesvorbehalt; § 1 lautete: „Nicht jede gesetzwidrige Handlung ist ein Criminalverbrechen oder sogenanntes Halsverbrechen; und sind als Criminalverbrechen nur diejenigen gesetzwidrigen Handlungen anzusehen und zu behandeln, welche durch gegenwärtiges Strafgesetz als solche erklärt werden"40. Diese Vorschrift beinhaltete der Sache nach schon weitgehend das Prinzip „nullum crimen, nulla poena sine lege"41 - vgl. auch unten, Rdnr. 39, 55, 74, 88 - . Was die Grundlage jener Normierung der Gesetzesherrschaft im Strafrecht angeht, stand der Gedanke der „Stärkung der absolutistischen Omnipotenz des Souveräns" im Vordergrund; seine Gesetzgebungsgewalt sollte durch den Gesetzesvorbehalt, verbunden mit einer strikten Bindung der Strafjustiz an den Buchstaben des Gesetzes, gegenüber richterlichem Gutdünken durchgesetzt werden42. Doch war dieser Absolutismus bereits beeinflußt von der aufklärerischen Idee der Gesetzlichkeit als Freiheitsgarantie*\ was auch im Kundmachungspatent zur Josephina zum Ausdruck kommt, wo es heißt: „Um auch der strafenden Gerechtigkeit durch ein allgemeines Gesetz eine bestimmte Richtung zu geben, bei Verwaltung derselben alle Willkür zu entfernen . . . wird das allgemeine Gesetz über Verbrechen und Strafen . . . kundgemacht"44. (2) Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten (ALR) Auch im ALR (dazu oben, Rdnr. 8) war das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip normiert, und zwar in § 9 II.Teil 20. Titel: 40 41 42 43 44

Zitiert nach Conrad, S. 56, 66. Fundstelle: unten, Anm. 175. Ebenso Conrad aaO. Krey, Studien, S. 208 f m. w. N. Siehe Anm. 42. Bei Conrad, S.65; Fundstelle: siehe Anm. 175.

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16 „Handlungen und Unterlassungen, welche nicht in den Gesetzen verboten sind, können als eigentliche Verbrechen nicht angesehen werden, wenn gleich Einem oder dem Andern daraus ein wirklicher Nachtheil entstanden seyn sollte". Auch hier war der Sache nach bereits weitgehend unser „nullumcrimen-Satz" verankert - dazu ergänzend unten, Rdnr. 39, 55,74, 88 - . Ähnlich wie bei der Josephina war Grundlage dafür der absolutistische Machtanspruch des Souveräns; doch trat auch hier - und wohl in noch stärkerem Maße als in der Josephina der rechtsstaatliche Gesichtspunkt des Schutzes des einzelnen vor richterlicher Willkür hinzu45. 15 c) Französische

Menschenrechtserklärung

von 1789

Die aufklärerische Forderung von Montesquieu, Beccaria u. a. nach der Herrschaft des Gesetzes im Strafrecht fand in Frankreich in Gesetzen der Revolutionszeit ihren Niederschlag, und war zuerst in Art. 7 und 8 der „Déclaration des Droits de l'homme et du citoyen" von 1789, sodann in den Verfassungen der folgenden Jahre46. Art. 7 und 8 jener Menschenrechtserklärung von 1789 verkündeten: Artikel 7 «Null homme ne peut être accusé, arrêté ni détenu que dans les cas déterminés par la loi et selon les formes, qu'elle a prescrites...» Artikel 8 «La loi ne doit établir, que des peines strictement et évidemment nécessaires, et nul ne peut être puni qu'en vertue d'une loi établie et promulguée antérieurement au délit et légalement appliquée.» (Ubersetzt: Niemand darf angeklagt, verhaftet oder in Haft gehalten werden außer in den vom Gesetz bestimmten Fällen und gemäß den vom Gesetz vorgeschriebenen Formen - Art. 7 - . Das Gesetz darf nur wirklich notwendige Strafen anordnen, und niemand darf

45 46

Krey aaO. Dazu eingehend Kohlmann, S. 174 ff; Schreiber, Gesetz und Richter, S. 67 ff.

17 bestraft werden, außer aufgrund eines vor der Tat erlassenen und verkündeten Gesetzes - Art. 8 -.) Hier war der Satz „nullum crimen, nulla poena sine lege" in noch deutlicherem Maße ausgedrückt als in der Josephina und im ALR. - Vgl. ergänzend unten, Rdnr. 42, 56, 75, 89 - . Diese Normierung des Gesetzlichkeitsprinzips war dabei entscheidend beeinflußt durch die leidvollen Erfahrungen mit dem „Mißbrauch der fast unbeschränkten richterlichen Macht in der vorrevolutionären Zeit" und sollte entsprechend den Postulaten von Montesquieu dem Schutz der individuellen Freiheit vor solcher Willkür dienen47. Daß der Gesichtspunkt der „Freiheitsverbürgung durch Gesetzesherrschaft" ganz dominant war, wurde nicht zuletzt durch die Aufnahme des „nullum-crimen-Prinzips" in den Katalog der Bürger- und Menschenrechte manifestiert. Bei der Bewertung jenes von hohem Pathos getragenen Postulats eines strafrechtlichen Gesetzesvorbehalts ist allerdings zu berücksichtigen, daß dieser gerade in der Zeit der französischen Revolution infolge der wachsenden Radikalisierung und der schließlichen Terrorherrschaft der Jakobiner (Marat, Robespierre) gründlich mit Füßen getreten worden ist; so brachten die Revolutionsereignisse schon bald nach jener Déclaration „einen kläglichen Rückschlag" durch obrigkeitliche Willkür im Strafrecht48. d) Napoleons Code Pénal (1810) Diese umfassende Kodifikation verankerte in Art. 4 den strafrechtlichen Gesetzesvorbehalt mit den Worten: «Nulle contravention, nul délit, nul crime ne peuvent être punis de peines qui n'étaient pas prononcées par la loi avant qu'ils fussent commis». (Ubersetzt: Keine Übertretung, kein Vergehen und kein Verbrechen kann mit Strafen geahndet werden, die das Gesetz vor ihrer Begehung nicht vorgesehen hatte.) Die Gesetzesfassung des „nullum-crimen-Prinzips" im Code Pénal Napoleons hat die weitere Entwicklung des strafrechtlichen Gesetzes47

Krey, Studien, S. 208 m. w. N. « Eb. Schmidt, S.260f.

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18 Vorbehalts im Deutschland des 19.Jahrhunderts mitbeeinflußt; so stellte etwa seine Normierung im preußischen StGB von 1851 (dazu Rdnr. 19) praktisch eine wörtliche Ubersetzung von Art. 4 des Code Pénal dar. Ungeachtet dieses Rückgriffs auf Napoleons StGB in der Form brauchte das Prinzip „nullum crimen sine lege" aber in der Sache nicht dem Code Pénal entnommen zu werden: Der Siegeszug des strafrechtlichen Gesetzesvorbehalts im Deutschland des 19. Jahrhunderts beruhte nicht auf Art. 4 des napoleonischen Strafgesetzes49, sondern in ungleich stärkerem Maße auf Anselm v. Feuerbach und dem von ihm geprägten bayerischen StGB von 1813: Jener Siegeszug ist nämlich in ideengeschichtlicher Sicht letztlich auf den wachsenden Einfluß rechtsstaatlich-liberalen Denkens im 19. Jahrhundert zurückzuführen: Das Prinzip „nullum crimen, nulla poena sine lege" wurde zu einem wesentlichen Element der liberalen Rechtsstaatsidee50, was auch in seiner Verankerung in zahlreichen Landesverfassungen51 deutlich wird. So bestimmt etwa Art. 8 der Verfassungsurkunde für Preußen von 1850: „Strafen können nur in Gemäßheit des Gesetzes angedroht oder verhängt werden". Napoleons Strafgesetzbuch aber war keineswegs vom freiheitlichen Geist des rechtsstaatlich-liberalen Denkens beherrscht, das im Deutschland des 19. Jahrhunderts bereits das bayerische StGB von 1813 beeinflußt hatte und später namentlich das preußische StGB von 1851 entscheidend prägte52. So war es eher die präzise, moderne Formulierung des Art. 4 Code Pénal als die Geisteshaltung dieser Kodifikation, die für die Weiterentwicklung des strafrechtlichen Gesetzesvorbehalts in Deutschland Bedeutung erlangte. 17 e) Anselm v. Feuerbach und das bayerische StGB von 1813 (1) v. Feuerbach (1775-1833) war es, der die Formulierung „nulla poena sine lege" geprägt hat, und zwar in der 1. Aufl. seines „Lehr49

50 51 52

v. Hippel, Bd. 1, S.235 mit Anm.8; Eb. Schmidt, S. 319f; Schreiber, Gesetz und Richter, S. 165 Anm. 81. Schreiber aaO, S. 162-164; so auch Eb. Schmidt, u. a. S. 315, 320, 344. Dazu Kohlmann, S. 191 f. Eb. Schmidt, S.261, 319 f.

19

buchs des gemeinen in Deutschland gültigen peinlichen Rechts" von 1801, wo er in § 24 als „keiner Ausnahme unterworfenem Grundsatz" postuliert: „Jede Zufügung einer Strafe setzt ein Strafgesetz voraus (nulla poena sine lege). Denn lediglich die Androhung des Übels durch das Gesetz begründet den Begriff und die rechtliche Möglichkeit einer Strafe". Das Verdienst v. Feuerbachs liegt dabei nicht nur in der Urheberschaft für die Formel „nulla poena sine lege" ; vielmehr hat er maßgeblich zur Anerkennung dieses Postulats beigetragen. Zudem hat er bereits alle vier Einzelprinzipien des strafrechtlichen Gesetzesvorbehalts - Ausschluß von Gewohnheitsrecht, Rückwirkungsverbot, Analogieverbot, Bestimmtheitsgebot vertreten (siehe ergänzend unten Rdnr. 43, 57, 77, 90); auch insoweit ist er also einer der geistigen Väter des nullum-crimenPrinzips geworden. Sein Eintreten für den strafrechtlichen Gesetzesvorbehalt war dabei noch geprägt vom Geist der Hochaufklärung, zugleich aber bereits beeinflußt vom Liberalismus Politisch gesehen ging es bei jener Forderung demgemäß um den Schutz der Bürger vor richterlicher Willkür54. Wenn gegenüber dieser rechtsstaatlichen Deutung v. Feuerbachs Postulats „nulla poena sine lege" geltend gemacht wird, ihm sei es in erster Linie um die „Realisierung einer strafrechtlichen Theorie" gegangen, nämlich der Theorie vom psychologischen Zwang55, so ist dies entschieden zu einseitig56. (2) Anselm v. Feuerbachs berühmte „Kritik des Kleinschrodischen 18 Entwurfs" von 1804

53

Dazu m. w. N . Kohlmann, 267.

54

Dazu u . a . Krey, Studien, S . 2 0 9 f ; Eb. Schmidt, S . 2 3 9 ; Schreiher, Gesetz und Richter, S. 1 1 0 - 1 1 2 m . w . N . ; siehe auch Naucke, ZStW 1975, 881 £. So u . a . Binding, Handbuch, S . 2 0 f ; Kohlmann, S. 1 8 8 f ; Sax, S . 9 9 3 - 9 9 5 . Vgl. näher Krey, Eb. Schmidt und Schreiber aaO.

55 56

S. 188; Krey, J Z 1979, 706; Eb. Schmidt, S. 237, 239, 262,

20 - Kleinschrod hatte 1802 seinen im Auftrag des bayerischen Staates erstellten „Entwurf eines peinlichen Gesetzbuchs für die Kurpfalzbairischen Staaten" vorgelegt hatte zur Folge, daß er selbst den Auftrag zur Ausarbeitung des Entwurfs eines bayerischen StGB erhielt und zum Schöpfer des „Strafgesetzbuchs für das Königreich Baiern" von 1813 wurde57. Diese Kodifikation war einerseits noch vom Geist des aufgeklärten Absolutismus geprägt, was namentlich auch im Kommentierungsverbot des königlichen Publikationspatents vom 19.10.1813 zu den amtlichen „Anmerkungen zum Strafgesetzbuch für das Königreich Baiern nach den Protokollen des königlichen Geheimen Rathes" zum Ausdruck kam: Als einzige Kommentierung des neuen StGB sollten diese amtlichen Anmerkungen fungieren. Dazu ordnete jenes Publikationspatent an: Es dürfe „durchaus von keinem anderen Staatsdiener oder Privatgelehrten ein Kommentar über das Strafgesetzbuch in Druck gegeben werden"; die Gerichte und Lehrer der Landesuniversitäten hätten sich „ausschließlich an den Text des Gesetzbuchs mit Benützung der Anmerkungen zu halten"58. Andererseits war das bayerische StGB von 1813 bereits vom Liberalismus beeinflußt: „Von diesem Gesetz nimmt die rechtsstaatlichliberale Epoche der Strafrechtsentwicklung ihren Ausgang"59. Die aufklärerischen und liberalen Wurzeln dieser Kodifikation nun machen die These plausibel, daß es bei der schriftlichen Fixierung des Strafrechts unter Aufhebung aller alten Gesetze, Verordnungen und Gewohnheiten zu den Regelungsmaterien des neuen StGB (Art. 1 Publikationspatent zum bayerischen StGB von 1813) namentlich auch um den Schutz der Bürger vor richterlicher Willkür ging60. In der Konsequenz dieses Denkens lag auch die Statuierung des Gesetzlichkeitsprinzips in Art. 1 des StGB, der lautete: „Wer eine unerlaubte Handlung oder Unterlassung verschuldet, für welche ein Gesetz ein gewisses Uebel gedroht hat, ist diesem gesetzlichen Uebel als seiner Strafe unterworfen..." 57 58

59 60

v. Hippel, Bd. 1, S.295, 298; Eb. Schmidt, S. 262 f. Dazu v. Hippel aaO, S. 298 f; Eb. Schmidt, S.266f; Schreiber, Gesetz und Richter, S. 119. Eb. Schmidt, S.263. Schreiber aaO, S.118f.

21 Hier wurde, wenn auch in sprachlich fremdartiger Gestalt, der Satz „nulla poena sine lege" verankert61. Dabei beinhaltete § 1 bereits alle vier Einzelprinzipien des strafrechtlichen Gesetzesvorbehalts - siehe auch unten, Rdnr. 43, 58, 77, 91 - . f ) StGB für die Preußischen Staaten von 1851

19

Von den zahlreichen Partikularstrafgesetzbüchern, die im Deutschland des 19. Jahrhunderts nach der bayerischen Kodifikation von 1813 bis zum Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich von 1871 erlassen wurden - ein umfangreiches Verzeichnis dieser deutschen Landesstrafgesetzbücher findet sich bei Binding62 -, war das bedeutendste das StGB für die Preußischen Staaten von 1851. Dieses wurde die Grundlage des StGB für den Norddeutschen Bund (1870), das 1871 mit wenigen Änderungen als Reichsstrafgesetzbuch verkündet wurde. Damit stellt das preußische StGB von 1851 das entscheidende Vorbild für das Strafgesetzbuch des Deutschen Reichs von 1871 dar". Jene preußische Kodifikation verankerte in § 2 das Postulat „nullum crimen, nulla poena sine lege"; diese Vorschrift lautete: „Kein Verbrechen, kein Vergehen und keine Übertretung kann mit einer Strafe belegt werden, die nicht gesetzlich bestimmt war, bevor die Handlung begangen wurde". Dabei hatte dieser Gesetzesvorbehalt im wesentlichen bereits alle vier oben genannten Einzelprinzipien zum Inhalt - siehe unten, Rdnr. 44, 59, 79, 92 - . Das preußische StGB von 1851 war weitgehend geprägt vom Geist des liberalen Rechtsstaates64; auf diesem Rechtsdenken beruhte auch entscheidend die Regelung in § 2 (vgl. bereits oben, Rdnr. 16). Neben diese dominierende rechtsstaatlich-liberale Wurzel des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips trat aber zugleich als weitere der sogenannte Konstitutionalismus : " Kohlmann, S. 188; Schreiber aaO. 62 Handbuch, S . 4 2 f f , Anm. 14. 63 Meyer!Allfeld, S.81; Eb. Schmidt, S. 314 f, 321; Schreiber, S. 164, 167 f. 64 Maurach/lipf, S.56; Eb. Schmidt, S.315, 320.

Gesetz und Richter,

22 Im Deutschland des 19. Jahrhunderts nämlich verband sich die rechtsstaatliche Vorstellung, nicht dem Richter, sondern dem Gesetzgeber komme die Aufgabe zu festzusetzen, was bei Strafe verboten sei, im Verlaufe der „Verfassungsbewegung" mit dem demokratischen Postulat einer Beteiligung des Volkes durch parlamentarische Vertretungen an der Gesetzgebung65. Jene Verfassungsbewegung, die getragen wurde vom Bürgertum, zielte auf eine Beschränkung der monarchischen Macht durch geschriebene Verfassungen ab. Kennzeichnend für den angestrebten Verfassungstyp war dabei insbesondere die Mitwirkung von Parlamenten bei der Schaffung von Gesetzen. Damit kam es zu einer Verknüpfung des rechtsstaatlichen Prinzips, daß staatliche Eingriffe in „Freiheit und Eigentum" des Bürgers grundsätzlich der gesetzlichen Ermächtigung bedürfen (Gesetzesvorbehalt), mit dem demokratischen Prinzip einer Legitimation solcher Gesetze durch Mitbestimmung von Volksvertretern. Folglich erhielt der strafrechtliche Gesetzesvorbehalt durch das Vordringen der Verfassungsbewegung bereits im 19. Jahrhundert einen gewissen demokratischen Charakter66. 20 g) Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich von 1871 Bei der Schaffung dieser Kodifikation hatten sich in Deutschland die Idee des liberalen Rechtsstaats und der Konstitutionalismus weitgehend durchgesetzt. Daher verstand es sich praktisch von selbst, daß dies StGB das nullum-crimen-Prinzip normierte; dazu bestimmte „Eine Handlung kann nur dann mit einer Strafe belegt werden, wenn diese Strafe gesetzlich bestimmt war, bevor die Handlung begangen wurde. Bei Verschiedenheit der Gesetze von der Zeit der begangenen Handlung bis zu deren Aburtheilung ist das mildeste Gesetz anzuwenden". Mit dieser Vorschrift war der Satz „nullum crimen, nulla poena sine lege" im gesamten Deutschen Reich verankert. Dies freilich nur einfachgesetzlich, d. h. ohne Verfassungsrang. 65 66

Krey, Studien, S.211 m.w.N. Krey aaO, m.w.N.; Schreiber,

Gesetz und Richter, S. 162ff.

23 h) Karl Binding und Franz v. Liszt Die gesetzliche Anerkennung jenes Prinzips in § 2 Reichsstrafgesetzbuch fand freilich bald einen namhaften Kritiker in Karl Binding (1841-1920): Er beklagte lebhaft die „Tyrannei des Satzes nulla poena sine lege"", lehnte dabei das Analogieverbot als „unwürdige Fessel" ab68 und stellte die Berechtigung des Rückwirkungsverbots weitgehend in Frage69. - Siehe ergänzend unten, Rdnr. 60, 61, 80 - . Den weltanschaulichen Hindergrund für Bindings Ablehnung des strafrechtlichen Gesetzesvorbehalts sollen die folgenden Zitate verdeutlichen: „Lehnt sich der Einzelne schuldhaft gegen die Norm auf, so muß principiell allein durch diesen Widerspruch der Staat berechtigt werden, sein Gehorsamsrecht in der verwandelten Gestalt des Rechts auf Strafzufügung wider den Delinquenten zur Geltung zu bringen. Stellt jemand die Machtfrage zwischen sich und der Obrigkeit, so kann er sich wahrlich nicht beschweren, wenn er die Macht des Rechts an seinem Leibe empfindet. Von vornherein ist klar, daß der Uebertreter in dieses Verhältnis lediglich als Leidender ... eintritt... Die Straferduldungspflicht wird principiell begründet durch das Delikt und nicht durch die ihm vielleicht gewidmete Strafdrohung... Das Strafgesetz regelt also (nur) Rechte und Pflichten des Staates... Es ist deshalb durchaus zulässig, jedenfalls keinem Rechte des Delinquenten zuwider, für ein begangenes Delikt das Strafgesetz hinterher zu erlassen, diesem also Rückwirkung einzuräumen"70. Und im Zusammenhang mit seiner Ablehnung des Analogieverbots, das der Gesetzgeber beklagenswerterweise in § 2 Reichsstrafgesetzbuch normiert habe, kritisiert Bindung herb, daß „bei unserer traditionellen Schonung des Delinquenten" beim „Conflikt zwischen den Interessen der Gemeinheit" - gemeint ist die Allgemeinheit „und des Einzelnen letzterer den Sieg davonträgt"71. 67 68 69 70 71

Handbuch, S. 17ff. aaO, S.28; Lehrbuch, l.Bd., S.21 f. Handbuch, S. 236 ff. Binding, Handbuch, S.236; ähnlich in: Grundriß, S. 186f. Handbuch, S. 28.

21

24 Diese Zitate machen deutlich, daß in Bindings Rechtsdenken jedenfalls dort, wo es um den strafrechtlichen Gesetzesvorbehalt geht, der Rechtsstaatsgedanke und das Demokratieprinzip zu kurz kommen: Sowohl der Gesichtspunkt des Schutzes des Bürgers - auch des Rechtsbrechers - vor obrigkeitlicher Willkür durch das Gesetzlichkeitsprinzip wie auch der Aspekt demokratischer Legitimation durch das Parlamentsgesetz (dazu Rdnr. 19) werden hier vernachlässigt. Auch insoweit war Bindings Schelte des Satzes „nullum crimen, nulla poena sine lege" unzeitgemäß. Daher überrascht nicht, daß er hierin kaum Gefolgschaft fand; vielmehr bejahte die absolut dominierende Auffassung in der Rechtswissenschaft die Notwendigkeit des § 2 Abs. 1 Reichsstrafgesetzbuch. 22 So namentlich auch Franz v. Liszt (1851-1919), der Begründer der sogen, „modernen Schule" im Strafrecht: Er hatte seit seinem berühmten Marburger Programm von 1882 („Der Zweckgedanke im Strafrecht") eine Abkehr von der Dominanz des Vergeltungsgedankens im Kriminalrecht unter Weiterbildung der Strafe durch den Zweckgedanken, insbesondere den spezialpräventiven Strafzweck, postuliert. Dies gegen den massiven Widerstand der sogen, „klassischen Schule" (u.a. Binding72), die an der Herrschaft des Vergeltungsgedankens festhielt73. Dabei beschrieb er die spezialpräventive Straffunktion wie folgt74: Bei dem „Augenblicksverbrecher" gehe es um Abschreckung; beim „angehenden Zustandsverbrecher" um Besserung durch den „Versuch der Ausrottung der verbrecherischen Anlage durch eine andauernde und eindringliche Strafe"; beim „Zustandsverbrecher" um „Unschädlichmachung". Es leuchtet ein, daß eine solche soziale („sozialistische") Ausrichtung des Strafrechts an der Spezialprävention als Abkehr vom Liberalismus mit dem Prinzip „nullum crimen, nulla poena sine lege" in Konflikt geraten könnte75.

72 73 74 75

Grundriß, S. 163 ff, 184 ff. Siehe Eb. Schmidt, S. 359-364, 373-381. v. Liszt, Lehrbuch, 12./13. Aufl., S.69, 73, 77. Dazu Eb. Schmidt, S. 362 f; Schreiber, Gesetz und Richter, S. 178 ff; beide m. w. N .

25 Diese Gefahr hat ν. Liszt auch klar erkannt; und er hat mit großartiger Entschiedenheit die rechtsstaatliche Funktion des Strafgesetzes gegenüber reinem kriminalpolitischen Zweckmäßigkeitsdenken hervorgehoben: Das Strafrecht sei die „unübersteigbare Schranke der Kriminalpolitik", was aus dem „nullum-crimen-Satz" folge; dieser sei zum Schutz des Bürgers vor der staatlichen Macht unverzichtbar. Damit sei - so paradox es klinge - das StGB die „magna charta des Verbrechers"7\ i) Art. 116 der Verfassung des Deutschen Reiches (Weimarer Verfassung) vom 11. 8.1919 Die fast allgemeine Anerkennung des strafrechtlichen Gesetzesvorbehalts fand in der Folge ihren stärksten Ausdruck in seiner Verankerung in der Weimarer Verfassung (WV). Diese ordnete in ihrem Zweiten Hauptteil über „Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen" in Art. 116 an: „Eine Handlung kann nur dann mit einer Strafe belegt werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Handlung begangen wurde". Dieser Art. 116 war mit § 2 Abs. 1 Reichsstrafgesetzbuch identisch mit Ausnahme eines Punktes: § 2 verlangte, die „Strafe" müsse gesetzlich bestimmt sein, während Art. 116 (nur) gesetzliche Bestimmtheit der „Strafbarkeit" forderte. In der parlamentarischen Beratung des Art. 116 in den Ausschüssen der Nationalversammlung war diese Abweichung von § 2 gerügt worden; doch hatte man dem entgegengehalten, eine sachliche Änderung sei damit nicht beabsichtigt. Auch während der Beratung im Plenum war jene Divergenz erneut kritisiert worden; doch hielt das Plenum an der dann in Art. 116 Gesetz gewordenen Fassung fest77. Es kann nicht verwundern, daß in der Folge in Rechtsprechung und Lehre diskutiert wurde, ob die fragliche Diskrepanz zwischen Art. 116 („Strafbarkeit") einerseits und § 2 („Strafe") andererseits zur 76

77

v. Liszt, Aufsätze, 2. Bd., S. 59 ff; Lehrbuch aaO, S.80 m. Anm. 12, S. 88 f. Kritisch zu jener „Magna-Charta-Formel" u.a. Naucke, Strafrecht, S.80f; Schiinemann, S. 1 Nachweise bei Kohlmann, S. 201 ff; Schreiber, Gesetz und Richter, S. 181 f.

23

26 Folge habe, daß mit verfassungsrechtlicher Kraft nur der Satz „nullum crimen sine lege", nicht aber der Satz „nulla poena sine lege" garantiert sei, d.h. Art. 116 nicht für den Strafrahmen gelte. Die Rechtsprechung des Reichsgerichts hierzu war uneinheitlich: RG St 56, 318 f führte unter Berufung auf jene Abweichung des Art. 116 von § 2 Abs. 1 aus: „Daß § 2 Abs. 1 auch den Ausschluß unbestimmter Strafen bedeute, wurde aus seinen Worten ,die Strafe' gefolgert. Den an ihre Stelle getretenen Worten ,die Strafbarkeit' kann nicht derselbe Sinn beigemessen werden. Mit ihnen wird die gesetzliche Festlegung der Möglichkeit einer Bestrafung gefordert, keineswegs aber zum Ausdruck gebracht, daß das ζ. Z. der Begehung der Tat geltende, eine bestimmte Strafart androhende Gesetz einen bestimmten Strafrahmen haben müsse". Demgegenüber sprach RG St 57, 404, 406 von der „sachlichen Übereinstimmung" des § 2 Abs. 1 StGB mit Art. 116 WV. - Im übrigen meinte RG St 57, 119, Art. 116 habe § 2 Abs. 1 ersetzt, während RG St 58, 401, 406 offenbar eine Weitergeltung des § 2 Abs. 1 neben jener Verfassungsnorm annahm - . Die im Schrifttum herrschende Auffassung ging dahin, die oben erwähnte Diskrepanz bedeute keineswegs eine sachliche Änderung: Art. 116 WV stimme mit § 2 Abs. 1 StGB inhaltlich überein78. Nach h. L. garantierte Art. 116 also auch den Satz „nulla poena sine lege", d.h. galt auch für die Strafdrohung; doch gab es davon abweichende Stimmen: So meinten einige, diese Verfassungsnorm stehe zwar nachträglicher Strafbarkeitserklärung, nicht aber nachträglicher rückwirkender Strafschärfung entgegen79. Und andere vertraten die Ansicht, da Art. 116 nur von „Strafbarkeit" spreche, sei ein Strafgesetz zulässig, das Art oder Höhe der Strafe richterlichem Ermessen anheimstelle80. - Was die Frage der Weitergeltung von § 2 Abs. 1 neben Art. 116 angeht, wurde diese von der wohl h. L. bejaht81 - . 78

79 80 81

So u. a. Anschütz, Art. 116 Anm. 1 ; v. Hippel, Bd. 2, S. 34 f ; v. Liszt/Schmidt, S. 111 Anm. 3. So u. ». Kohlrausch, § 2 Anm. 1. Frank, § 2 Anm. I. So u.a. v. Hippel, Bd.2, S.35 Anm. 1; Frank und Kohlrausch aaO; a.A. etwa Anschütz aaO; v. Liszt/Schmidt, S. 111 Anm. 3 und S. 115.

27 j) NS-Zeit (1933-1945)

24

Es ist offenbar nur ein kleiner Schritt von der rechtsstaatlichdemokratischen Herrschaft des Gesetzlichkeitsprinzips im Kriminalrecht, die sich erst mit dem Reichsstrafgesetzbuch von 1871 in ganz Deutschland durchgesetzt hatte82, zurück zu der Sache nach „voraufklärerischen Barbarei" einer Willkürherrschaft im Strafrecht. Dies zeigt namentlich die Entwicklung während der nationalsozialistischen Diktatur („Drittes Reich") - aber auch, wenn auch in geringerem Maße, der Niedergang der Rechtsidee in Mitteldeutschland (SBZ/DDR) in der Nachkriegszeit83 - . Die Machtergreifung Hitlers bewirkte in der Folge eine praktisch vollständige Preisgabe aller rechtsstaatlich-liberalen und demokratischen Errungenschaften, die sich in Deutschland seit der Aufklärung bis zur Weimarer Verfassung durchgesetzt hatten. Den totalitären Ungeist, der seit 1933 zur Herrschaft gelangte, sollen namentlich die folgenden Zitate verdeutlichen: Uber den demokratischen Parlamentarismus, den er zutiefst verab- 25 scheute84, äußerte sich Hitler u. a. wie folgt: „Die Demokratie des heutigen Westens . . . schuf sich . . . in ihrer äußeren Ausdrucksform, dem Parlamentarismus, eine ,Spottgeburt aus Dreck und Feuer',. ,"85. „Demokratie und Herrschaft des Parlamentarismus (schalten) die Persönlichkeit aus und setzen an ihre Stelle die Majorität der Dummheit, Unfähigkeit..." 86 . Dem demokratischen Gedanken stellt Hitler als Vorbild sein aristokratisches Führerprinzip gegenüber: „Eine Weltanschaung, die sich bestrebt, unter Ablehnung des demokratischen Massengedankens, dem besten Volk, also den höchsten Menschen, diese Erde zu geben, muß logischerweise auch innerhalb dieses Volkes wieder dem gleichen aristokratischen Prinzip gehorchen und den besten Köpfen die Füh-

82 83 84 85 86

v. Hippel, Bd. 1, S. 327-335. Dazu etwa Jescheck, Die Lage des Rechts in Mitteldeutschland, S. 79 ff. Vgl. nur „Mein Kampf", 489.-493. Aufl. 1939, S. 80 ff, 95, 347, 493, 500. „Mein Kampf", S. 85. aaO, S. 347.

28

rung . . . sichern. Damit baut sie nicht auf dem Gedanken der Majorität, sondern auf dem der Persönlichkeit auf"87. Dieser antidemokratische Standpunkt wird auch in einer Rede Goebbels von 1934 deutlich, in der er erklärte: „Wenn die Demokratie uns in Zeiten der Opposition demokratische Methoden zubilligte, so mußte dies ja in einem demokratischen System geschehen. Wir Nationalsozialisten haben aber niemals behauptet, daß wir Vertreter eines demokratischen Standpunktes seien, sondern wir haben offen erklärt, daß wir uns demokratischer Mittel nur bedienten, um die Macht zu gewinnen, und daß wir nach der Machteroberung unseren Gegnern rücksichtslos alle die Mittel versagen würden, die man uns in Zeiten der Opposition zugebilligt hatte"88. 26 Die radikale Gegnerschaft des NS-Regimes gegenüber den rechtsstaatlich-liberalen Errungenschaften von der Aufklärung bis zur Weimarer Verfassung kommt u. a. in den folgenden Zitaten zum Ausdruck: „Es gibt nur ein Recht in der Welt, und dieses Recht liegt in der eigenen Stärke"89. „Meine Maßnahmen werden nicht angekränkelt sein durch irgendwelche juristische Bedenken... Hier habe ich keine Gerechtigkeit zu üben, hier habe ich nur zu vernichten und auszurotten, weiter nichts"90. „Die Revolution, die wir gemacht haben, ist eine totale... Das System, das wir niederwarfen, fand im Liberalismus seine treffendste Charakterisierung. Wenn der Liberalismus vom Individuum ausging und den Einzelmenschen in das Zentrum aller Dinge stellte, so haben wir Individuum durch Volk und Einzelmensch durch Gemeinschaft ersetzt"'1. „Gemeinnutz vor Eigennutz!"92. 27 Diesem Denken verfielen auch zahlreiche Rechtswissenschaftler, was die folgenden Beispiele verdeutlichen sollen: 87 88

89 90 91 92

aaO, S.493. Zitiert nach: Hof er (Hrsg.), Der Nationalsozialismus. Dokumente 1933-1945, Fischer-Bücherei 1957, S.27, mit Quellenangaben S. 373 ff. Hitler in einer Rede 1928; zitiert nach Rüthers, S. 105 mit Quellenangaben. Göring 1933 als preußischer Innenminister; zitiert nach Rüthers, S. 108. Goebbels 1933; zitiert nach Hof er, S.89. Aus: Die 25 Punkte des Programms der NSDAP; in: Hofer aaO, S.28, 31.

29 So führte Carl Schmitt 1933 über das nationalsozialistische Führerprinzip aus: „Die organisatorische Durchführung des Führergedankens fordert zunächst negativ, daß alle der liberal-demokratischen Denkart wesensgemäßen Methoden entfallen. Die Wahl ... hört a u f . . . Endlich haben die typisch liberalen Trennungen von Legislative und Exekutive . . . ihren Sinn verloren... Uberall muß das System der Verantwortungsverteilung ... durch die klare Verantwortlichkeit des zu seinem Befehl sich bekennenden Führers und die Wahl durch Auswahl ersetzt werden"'3. Und Ernst Forsthoff4 postulierte: „Der totale Staat muß ein Staat der totalen Verantwortung sein. Er stellt die totale Inpflichtnahme jedes einzelnen für die Nation dar. Diese Inpflichtnahme hebt den privaten Charakter der Einzelexistenz auf. " Ein derartiger Abschied von rechtsstaatlich-liberalen und demo- 28 kratischen Grundsätzen konnte das Prinzip „nullum crimen, nulla poena sine lege" nicht unberührt lassen: Bereits auf der Versammlung der deutschen Landesgruppe der Internationalen Kriminalistischen Vereinigung im September 1932 in Frankfurt/M. - also noch vor der Machtübernahme - waren unter. Berufung auf „den Einfluß neuer Geistesströmungen und bedeutsamer Veränderungen im Verhältnis der politischen Kräfte" (gemeint waren nationalsozialistisches Denken und das ungeheure Erstarken der NSDAP) scharfe Angriffe gegen den „Liberalismus, Rationalismus und Individualismus" des geltenden Strafrechts laut geworden95. Anfang 1933 erschien dann die Schrift von Dahm und Schaff stein zu dem Thema: „Liberales oder autoritäres Strafrecht?", in der liberales Denken als überholt attackiert und eine „Auflockerung des Satzes nulla poena sine lege" propagiert wurde. Sehr deutlich formulierte Henkel 1934": Dem neuen Strafrecht dürfe es nicht um formale, im Gesetz den einzelnen gegebene Sicherungen gehen, sondern um „die Gewißheit, daß in jedem Fall Strafe eintrete, in dem die Strafwürdigkeit nach der Rechtsüberzeugung der Volksgesamtheit gegeben ist". 93 94 95 %

Zitiert nach Hofer aaO, S. 36. S.42. Dazu Eb. Schmidt, S. 425 f. Strafrichter und Gesetz im neuen Staat.

30 Oie Auflösung des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips durch die Gesetzgebung des Dritten Reiches soll im folgenden skizziert werden: 29 Am 24. März 1933 wurde vom Reichstag das Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Staat (Ermächtigungsgesetz) erlassen. Dieses bestimmte: „Artikel 1 Reichsgesetze können außer in dem in der Reichsverfassung vorgesehenen Verfahren auch durch die Reichsregierung beschlossen werden. Dies gilt auch für die in den Art. 85, Abs. 2 und 87 der Reichsverfassung bezeichneten Gesetze. Artikel 2 Die von der Reichsregierung beschlossenen Gesetze können von der Reichsverfassung abweichen, soweit sie nicht die Einrichtung des Reichstags und des Reichsrats als solche zum Gegenstand haben. Die Rechte des Reichspräsidenten bleiben unberührt." Mit diesem Gesetz war der Vorrang des Verfassungsrechts (Weimarer Verfassung) gegenüber sonstigen Gesetzen preisgegeben; fortan konnten ζ. B. Strafgesetze auch für Strafbegründung bzw. -schärfung rückwirkende Geltung beanspruchen, sofern es sich um Gesetze i. S. von Art. 1 und 2 Ermächtigungsgesetz handelte. Und tatsächlich ist das Rückwirkungsverbot des Art. 116 WV schon bald durch NS-Gesetze durchbrochen worden: Durch die sog. „lex van der Lübbe" vom 29.3.1933 (RGBl. I, 151) wurde rückwirkend - im Hinblick auf den Reichstagsbrand - die Todesstrafe für Brandstiftung eingeführt97. Durch Art. 2 des Gesetzes gegen erpresserischen Kindesraub vom 22.6.1936, RGBl. I, 493: rückwirkende Androhung der Todesstrafe. Durch das Gesetz gegen Straßenraub mittels Autofallen vom 22.6.1938, RGBl. I, 651, das kurz und bündig bestimmte: „Wer in räuberischer Absicht eine Autofalle stellt, wird mit dem Tode bestraft. Dieses Gesetz tritt mit Wirkung vom 1.1.1936 in Kraft". Strafschärfende Rückwirkung legten sich ferner die Verordnung zum Schutze gegen jugendliche Schwerverbrecher vom 4.10.1939

97

Dazu Naucke, Strafrecht, S. 78.

31 (RGBl. I, 2000) und die Verordnung gegen Gewaltverbrecher vom 5.12.1939 (RGBl. I, 2378) bei. Schließlich ist hier noch das Gesetz zur Änderung des Reichsstrafgesetzbuchs vom 4.9.1941 (RGBl.I, 549) zu nennen,'dessen §§ 1 und 10 anordneten:

S1

„Der gefährliche Gewohnheitsverbrecher (§ 20 a des StGB) und der Sittlichkeitsverbrecher (§§ 176-178 des StGB) verfallen der Todesstrafe, wenn der Schutz der Volksgemeinschaft oder das Bedürfnis nach gerechter Sühne es erfordert." § 10 „Dies Gesetz tritt eine Woche nach der Verkündung in Kraft. Es gilt auch für Straftaten, die vor seinem Inkrafttreten begangen sind."'8 Neben diese Preisgabe des Rückwirkungsverbots trat die Aufhe- 30 bung des Analogieverbots; die NS-Novelle zum StGB vom 28.6.1935 (RGBl. I, 839) führte zu folgender Neufassung des § 2 StGB: „Bestraft wird, wer eine Tat begeht, die das Gesetz für strafbar erklärt oder die nach dem Grundgedanken eines Strafgesetzes und nach gesundem Volksempfinden Bestrafung verdient. Findet auf die Tat kein bestimmtes Strafgesetz unmittelbar Anwendung, so wird die Tat nach dem Gesetz bestraft, dessen Grundgedanke auf sie am besten zutrifft."99 Ob dieser Neufassung lediglich die Bedeutung zukam, die sog. „ Gesetzesanalogie " zuzulassen, - d. h. die seiner ratio entsprechende Anwendung eines Gesetzes auf von seinem Wortsinn nicht erfaßte Fälle100 - , oder ob § 2 StGB i. d. F. v. 1935 eine noch darüber hinausgehende Entfesselung der Strafjustiz bezweckte, war im Schrifttum strittig101. Das Reichsgericht sah den Zweck der Neufassung des § 2 StGB darin, sie solle den Strafrichter in die Lage versetzen, „unbeabsichtig-

Weitere Beispiele bei Naucke, Die Mißachtung . . S . 227 ff. " Dazu jetzt Naucke, Die Aufhebung des strafrechtlichen Analogieverbots 1935. 100 Vgl. u.a. Krey, JZ 1978, 361, 363f. 101 Dazu Schreiber, Gesetz und Richter, S. 197-199 mit zahlreichen Nachweisen. 98

32 te Lücken des Gesetzes zu schließen und Fälle zu erfassen, auf die der Wortlaut des Gesetzes an sich nicht zutreffe"102. Einschränkend hob das Gericht aber hervor: Auch aus § 2 StGB n. F. sei „keine Freistellung des Richters gegenüber dem Gesetz" zu folgern; maßgeblich bleibe auch nach dieser Vorschrift immer das Gesetz; sein Grundgedanke, wenn auch nicht sein Wortlaut, müsse auf die Tat zutreffen (RG St 72, 91, 93 und öfter). Keinesfalls gestatte § 2 StGB n. F., „die Grenzen zu überschreiten, die der Gesetzgeber bewußt der Anwendung der Strafvorschrift gezogen" habe (RG St 70, 367, 369; 71, 112, 113; 75, 334, 335). Von der Analogieermächtigung des § 2 StGB i. d. F. von 1935 hat das RG zunächst sehr zurückhaltend Gebrauch gemacht, später dagegen, wohl unter dem Druck des NS-Regimes, in stärkerem Maße. - Eine Bestrafung gemäß diesem Analogiegebot lehnten ab (z.T. freilich nur, weil der Täter aus anderen Vorschriften strafbar sei): RG St70, 173, 175; 177, 186; 218, 220; 313 ff; 360, 362; 367, 368ff; 377; RG St 71, 193, 195f; 196f.; 223, 224, 306ff; 347f; RG St 72, 126, 128; 172, 174; 187, 189; 260, 261 f; 326, 328; 392, 394 ff; RG St 73, 126,127; 144, 147; 243, 244; 358 ff; 385f.; RG St 74, 214, 216; RG St 75, 306ff; 329, 332; 334, 335; RG St 77, 81 ff; 165, 168 f; 350, 356 f.; 371, 373. Demgegenüber hielten eine Bestrafung aufgrund des § 2 StGB n. F. für zulässig: RG St 70, 355, 356; RG St 71, 112, 113; 221, 222; 265, 268; 288, 289f; 323, 324f; 341, 342; 385, 388 ff; 390, 393 ff, 396 a.E.; RG St 72, 50ff; 65; 67, 69f.; 129, 130; 146, 147; 158, 160; 201, 204; 289, 293 f; 349, 351 f; 352, 353; RG St 73, 100, 101; 151, 154; 271, 274 f; RG St 74, 279, 280; 392, 393 f ; RG St 75, 60, 61 ; 65, 67 f ; RG St 76,, 79, 81; 108, llOf; 120, 122; 165 ff; 242 ff; 305 ff; 398 ff; RG St 77, 23 f; 53 ff.; 56, 58; 59, 60, 61 f; 68, 70f; 225, 226; 230, 233 f; 379, 380. Wenn man diese Entscheidungen des RG zu § 2 StGB n. F. näher analysiert, so muß man zwar einerseits einräumen, daß das Gericht von der Analogieermächtigung keinen exzessiven Gebrauch gemacht hat; andererseits verdeutlicht jene Judikatur aber die außerordentliche Einbuße an Rechtssicherheit, die jene Ermächtigung zur Folge hatte.

102

Siehe Krey, Studien, S. 137.

33 Einen Verlust an Rechtssicherheit bedeutete aber nicht nur die 31 Preisgabe des Analogieverbots. Vielmehr kamen Mißachtungen des Bestimmtheitsprinzips hinzu: Dem bereits erwähnten Postulat für ein nationalsozialistisches Strafrecht, in jedem Fall, in dem die Strafwürdigkeit nach der Rechtsauffassung der Volksgesamtheit gegeben sei, müsse Strafe eintreten (oben, Rdnr. 28)105, mußten vage Generalklauseln und sehr unbestimmte, normative Rechtsbegriffe am besten gerecht werden. So sprach sich etwa Freisler gegen exakte Verbrechensbeschreibungen aus, da sie es dem Rechtsbrecher ermöglichten, „durch die Maschen des Gesetzes zu schlüpfen".104 Dies Denken führte in der Folge zu so unbestimmten Strafgesetzen wie etwa § 1 des oben erwähnten Gesetzes zur Änderung des StGB vom 4.9.1941 (Rdnr. 29) sowie §§ 3, 4 der Verordnung gegen Volksschädlinge vom 5.9.1939 (RGBl.I, 1679). §§ 3, 4 Volksschädlings-VO lauteten: „§ 3 Wer eine Brandstiftung oder ein sonstiges gemeingefährliches Verbrechen begeht und dadurch die Widerstandskraft des deutschen Volkes schädigt, wird mit dem Tode bestraft. S4 Wer vorsätzlich unter Ausnutzung der durch den Kriegszustand verursachten außergewöhnlichen Verhältnisse eine sonstige Straftat begeht, wird unter Überschreitung des regelmäßigen Strafrahmens mit Zuchthaus bis zu 15 Jahren, mit lebenslangem Zuchthaus oder mit dem Tode bestraft, wenn dies das gesunde Volksempfinden wegen der besonderen Verwerflichkeit der Straftat erfordert." Eine vollständige Preisgabe des Bestimmtheitsgrundsatzes im Strafrecht bedeutete schließlich die furchtbare „Verordnung über die Strafrechtspflege gegen Polen und Juden in den eingegliederten Ostgebieten" vom 4.12.1941 (RGBl.I, 759), die im 1.Abschnitt unter Punkt III, Abs. 2, anordnete: „Auf Todesstrafe wird erkannt, wo das Gesetz sie androht. Auch da, wo das Gesetz Todesstrafe nicht vorsieht, wird sie verhängt, wenn die Tat von besonders niedriger Gesinnung zeugt oder aus 103 104

Weitere Nachweise bei Lemmel, S. 28 f. Siehe bei Lemmel, S. 28 f; vgl. auch Schreiber, Gesetz und Richter, S. 195.

34 anderen Gründen besonders schwer ist; in diesen Fällen ist Todesstrafe auch gegen jugendliche Schwerverbrecher zulässig". 32 War der weitgehende Abbau rechtsstaatlicher Schranken im materiellen Strafrecht schon schlimm genug, so wurde der Niedergang der Rechtsidee bei der Verfolgung von Straftätern vollends besiegelt durch die Entfesselung der Polizei, die willkürlich Delinquenten in „Schutzhaft" (Konzentrationslager) verbrachte. Die Geheime Staatspolizei „korrigierte" vielfach auch offen Strafurteile: Freigesprochene Angeklagte wurden von ihr in zahlreichen Fällen anschließend in „Schutzhaft" genommen oder gleich liquidiert; dasselbe Schicksal konnte Verurteilten widerfahren, deren Strafe - aus der Sicht der Gestapo - zu milde war105. 33 k) Der Satz „nullum crimen, nulla poena sine lege " in der Gesetzgebung der Siegermächte Als der Spuk des Dritten Reiches 1945 vorbei war, bemühten sich die Besatzungsmächte um die Wiedereinführung des Gesetzlichkeitsprinzips im deutschen Strafrecht: Mit seiner Proklamation Nr. 3 vom 20.10.1945106 verkündete der Alliierte Kontrollrat die folgenden „Grundsätze für die Wiederherstellung der Rechtspflege" in Deutschland: „... II (Gewährleistung der Rechte des Angeklagten) 1. Niemandem darf das Leben, die persönliche Freiheit oder das Eigentum entzogen werden, es sei denn auf Grund von Recht und Gesetz. 2. Strafbare Verantwortlichkeit besteht nur für Handlungen, welche das Recht für strafbar erklärt hat. 3. Kein Gericht darf irgendeine Handlung auf Grund von ,Analogie' oder im Hinblick auf das ,sogenannte gesunde Volksempfinden' für strafbar erklären, wie es bisher im deutschen Strafrecht der Fall war." Das Kontrollratsgesetz Nr. 11107 über die Aufhebung von Bestimmungen des deutschen Strafrechts vom 30.1.1946 hob dann in 105 106 107

Vgl. Rüping, S. 102; Eb. Schmidt, S.439f. ABl. des Kontrollrates in Deutschland, Nr. 1 S. 22. ABl. des Kontrollrates in Deutschland, Nr. 3 S. 55.

35 seinem Art. 1 den § 2 StGB (i. d. F. v. 1935) auf; dies allerdings, ohne § 2 i. d. F. vor der Analogienovelle wieder in Kraft zu setzen (siehe Art. IV des Gesetzes Nr. 11). In Ausführung der oben erwähnten Proklamation Nr. 3 des Kontrollrats von 1945 normierte das Militärregierungsgesetz (MRG) Nr. 1 in Art. IV Nr. 7 den strafrechtlichen Gesetzesvorbehalt: „Anklagen dürfen nur erhoben, Urteile nur erlassen und Strafen nur verhängt werden, falls ein zur Zeit der Begehung in Kraft befindliches Gesetz diese Handlung ausdrücklich für strafbar erklärt. Bestrafung von Taten unter Anwendung von Analogie oder nach angeblichem ,gesunden Volksempfinden' ist verboten"108. So verdienstvoll die Sorge der Alliierten - jedenfalls der Westmäch- 3 4 te - um die Geltung des Satzes „nullum crimen, nulla poena sine lege" im Nachkriegsdeutschland auch war, so sehr haben sie selbst im Rahmen der Abrechnung mit „NS-Verbrecbern" dieses Prinzip mißachtet: Das berühmt-berüchtigte Kontrollratsgesetz Nr. 10 über die „Bestrafung von Personen, die sich Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen den Frieden oder gegen die Menschlichkeit schuldig gemacht haben", vom 20.12.1945 (Amtsblatt des Kontrollrats in Deutschland, Nr. 3, S. 49) enthielt „uferlos gefaßte mit rückwirkender Kraft ausgestattete Straftatbestände"109. Art. II Kontrollratsgesetz (KRG) Nr. 10 lautete: „1. Jeder der folgenden Tatbestände stellt ein Verbrechen dar: a) Verbrechen gegen den Frieden. Das Unternehmen des Einfalls in andere Länder und des Angriffskriegs unter Verletzung des Völkerrechts und internationaler Verträge einschließlich der folgenden den obigen Tatbestand jedoch nicht erschöpfenden Beispiele: Planung, Vorbereitung, Beginn oder Führung eines Angriffskrieges oder eines Krieges unter Verletzung von internationalen Verträgen, Abkommen oder Zusicherungen; Teilnahme an einem gemeinsamen Plan oder einer Verschwörung zum Zwecke der Ausführung eines der vorstehend aufgeführten Verbrechen. 108

109

ABl. MilReg. Nr. 3. Zitiert nach Schreiber, Gesetz und Richter, S.201; BGH St 1, 13, 20. Maurach/Zipf, S. 163. Dasselbe galt für die Strafvorschriften des dem Londoner „Abkommen über die Bestrafung der Hauptkriegsverbrecher der europäischen Achse" von 1945 beigefügten Statuts (dazu Rdnr. 64).

36 b) Kriegsverbrechen. Gewalttaten oder Vergehen gegen Leib, Leben oder Eigentum, begangen unter Verletzung der Kriegsgesetze oder -gebrauche, einschließlich der folgenden den obigen Tatbestand jedoch nicht erschöpfenden Beispiele: Mord, Mißhandlung der Zivilbevölkerung der besetzten Gebiete oder ihre Verschleppung zur Zwangsarbeit oder zu anderen Zwecken; Mord oder Mißhandlung von Kriegsgefangenen oder Personen auf hoher See; Tötung von Geiseln; Plünderung von öffentlichem oder privatem Eigentum; mutwillige Zerstörung von Stadt oder Land; oder Verwüstungen, die nicht durch militärische Notwendigkeit gerechtfertigt sind. c) Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Gewalttaten und Vergehen, einschließlich der folgenden den obigen Tatbestand jedoch nicht erschöpfenden Beispiele: Mord, Ausrottung, Versklavung, Zwangsverschleppung, Freiheitsberaubung, Folterung, Vergewaltigung oder andere an der Zivilbevölkerung begangene unmenschliche Handlungen; Verfolgung aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen, ohne Rücksicht darauf, ob sie das nationale Recht des Landes, in welchem die Handlung begangen worden ist, verletzten. d) Zugehörigkeit zu gewissen Kategorien von Verbrechervereinigungen oder Organisationen, deren verbrecherischer Charakter vom Internationalen Militärgerichtshof festgestellt worden ist. 2. Ohne Rücksicht auf seine Staatsangehörigkeit oder die Eigenschaft, in der er handelte, wird eines Verbrechens nach Maßgabe von Ziffer 1 dieses Artikels für schuldig erachtet, wer, a) als Täter oder b) als Beihelfer bei der Begehung eines solchen Verbrechens mitgewirkt oder es befohlen oder begünstigt oder c) durch seine Zustimmung daran teilgenommen hat oder d) mit seiner Planung oder Ausführung in Zusammenhang gestanden hat oder e) einer Organisation oder Vereinigung angehört hat, die mit seiner Ausführung in Zusammenhang stand, oder f) soweit Ziffer 1 a) in Betracht kommt, wer in Deutschland oder in einem mit Deutschland verbündeten, an seiner Seite kämpfenden oder Deutschland Gefolgschaft leistenden Lande eine gehobene politische, staatliche oder militärische Stellung (einschließlich einer Stellung im Generalstab) oder eine solche im finanziellen, industriellen oder wirtschaftlichen Leben innegehabt hat.

37 3. Wer eines der vorstehend aufgeführten Verbrechen für schuldig befunden und deswegen verurteilt worden ist, kann mit der Strafe belegt werden, die das Gericht als angemessen bestimmt. Die folgenden Strafen können - allein oder nebeneinander - verhängt werden: a) Tod, b) lebenslängliche oder zeitlich begrenzte Freiheitsstrafe mit oder ohne Zwangsarbeit, c) Geldstrafe und, im Falle ihrer Uneinbringlichkeit, Freiheitsstrafe mit oder ohne Zwangsarbeit, d) Vermögenseinziehung, e) Rückgabe unrechtmäßig erworbenen Vermögens, f) völliger oder teilweiser Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte." Diese Strafvorschriften erscheinen rechtsstaatlich fragwürdig: Erstens waren sie ζ. T. bedenklich unbestimmt. Das galt namentlich für Art. II Nr. 1 c („Verbrechen gegen die Menschlichkeit"), zudem für die - auch im übrigen mit rechtsstaatlichen Grundsätzen schwerlich vereinbare - Regelung des Art. II Nr. 2, f; allzu unbestimmt war schließlich die Strafdrohung in Art. II Nr. 3. Zweitens stand das KRG Nr. 10 in gravierendem Widerspruch zum Rückwirkungsverbot. - Dazu näher unten, Rdnr. 64-69 - . Erst mit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes (Art. 103 Abs. 2) und dem Außerkrafttreten des KRG Nr. 10 war in der Bundesrepublik Deutschland die Herrschaft des Satzes „nullum crimen, nulla poena sine lege" wirklich wieder hergestellt. II. Zu den vier Einzelprinzipien des strafrechtlichen Gesetzesvorbehaltes 1. Ausschluß von Gewohnheitsrecht a) Römisches

Strafrecht

Im römischen Recht hat das „nullum-crimen-Prinzip" bekanntlich nicht gegolten110. uo

Dazu u. a. v. Hippel, Bd. 1, S. 54ff, 77; Schreiber, Gesetz und Richter, S. 17ff, 25; Wacke, JuS 1980, 204 f m. w . N .

35

38

Namentlich bestand auch kein Verbot, Straftatbestände aus anderen Quellen als geschriebenem Recht (lex scripta) - sei es Gewohnheitsrecht, sei es Richterrecht abzuleiten. Zwar gab es wichtige Ansätze für die Entwicklung eines strafrechtlichen Gesetzesvorbehaltes : Erstens die Kodifikation des Zwölftafelgesetzes (dazu oben, Rdnr. 9). Zweitens die sog. „leges iudiciomm publicorum" (Gesetze über öffentliche Gerichtsverfahren) des 2. und 1.Jahrhunderts v.Chr.: Sie erklärten bestimmte Verhaltensweisen zu Verbrechen (crimina legitima), setzten für ihre Aburteilung bestimmte Geschworenengerichte (quaestiones perpetuae) ein und ordneten den fraglichen Verbrechen gesetzlich fixierte Strafen (poenae legitimae) zu111. Ungeachtet dieser Ansätze für das Gesetzlichkeitsprinzip hat es sich in seiner Erscheinungsform des Gebots der lex scripta unter Ausschluß strafbegründenden bzw. -schärfenden ungeschriebenen Rechts nicht durchgesetzt: (1) Zum einen fand in den Jahrhunderten zwischen der Schöpfung des Zwölftafelgesetzes und dem Erlaß der leges iudiciorum publicorum keine umfangreiche Strafgesetzgebung statt; auch stockte nach den Ehegesetzen des Augustus die Strafgesetzgebung für Jahrhunderte112. (2) Zum anderen stellte weder das Zwölftafelgesetz noch die Strafgesetzgebung der leges iudiciorum publicorum eine abschließende Regelung des Strafrechts dar. Vielmehr stand neben der staatlichen Strafgewalt gemäß den Gesetzen die grundsätzlich freie, nicht an gesetzliche Ermächtigungsgrundlagen durch geschriebene Strafnormen gebundene Strafkompetenz der Magistrate (coercitio). Deren Ausübung erfolgte grundsätzlich nach Ermessen"3. War auch die magistratische coercitio bei kapitaler Bestrafung (Todesstrafe) beschränkt114, so umfaßte sie doch immerhin die Befugnis der arbiträren

111

1,2

114

Vgl. Der Kleine Pauly, „quaestio"; ν. Hippel, B d . l , S.62ff; Meyer/Allfeld, S.47f; Mommsen, S. 128, 190 f. v. Hippel aaO, S.62ff, 67; Mommsen, S. 127-131. Dazu Der Kleine Pauly, „coercitio"; Dulckeit/Schwarz/Waldstein, § 12 I—III ; v. Hippel, B d . l , S.59, 61 f, 65; Mommsen, S.35ff; Wacke, JuS 1980, 204f. Vgl. Dulckeit/Schwarz/Waldstein, v. Hippel und Wacke aaO.

39 Bestrafung etwa durch Ausweisung aus Rom, Einsperrung, Geldbußen, Zerstörung von Sachen u. ä.115. (3) Schließlich war die absolutistische Herrschaft der römischen Kaiser der Entwicklung des rechtsstaatlichen Gesetzlichkeitsprinzips im Strafrecht hinderlich116: Der Kaiser war Träger der uneingeschränkten Gerichtsgewalt; diese stand über dem Gesetz, d. h. war weder an gesetzliche Straftatbestände noch Strafrahmen gebunden. Damit sind selbst die Ansätze zur Herrschaft der lex scripta im Strafrecht, die sich ζ. Z. der römischen Republik entwickelt hatten, unter dem Prinzipat nicht bewahrt worden. b) Constitutio Criminalis Carolina (CCC) Wie ausgeführt (oben, Rdnr. 10) war es zwar Anliegen der CCC, die „unfaßliche Rechtsunsicherheit und Willkür der deutschen Strafrechtspflege zu beseitigen". Gleichwohl hat dieses erste deutsche Reichsstrafgesetzbuch noch nicht das Gesetzlichkeitsprinzip in seiner Erscheinungsform des Ausschlusses strafbegründenden bzw. -schärfenden Gewohnheitsrechts verwirklicht: (1) Zwar schloß Art. 104 CCC für die Verhängung von Todesstrafe offensichtlich den Rückgriff auf Gewohnheitsrecht aus. Und Art. 105 ließ hiervon keine Ausnahme zu, sondern enthielt lediglich eine Analogieermächtigung - dazu unten, Rdnr. 71 - . (2) Im übrigen aber ordnete die CCC bei einer Reihe von Delikten keine bestimmte Strafe an, sondern nahm insoweit auf Gewohnheitsrecht Bezug: Art. 120 verweist bezüglich der bei Ehebruch zu verhängenden Strafe auf die „sage unser vorfarn", d.h. auf GewoHhheitsrecht. Art. 121 nimmt bezüglich der Bigamiestrafe auf den erwähnten Art. 120 Bezug, d.h. ebenfalls auf Gewohnheitsrecht. Auch Art. 167 (Felddiebstahl) verweist bezüglich der Strafdrohung auf „gewonheyt". 115

Der Kleine Pauly und v. Hippel aaO; einen anschaulichen Fall der Ausübung jener coercitio bietet Wacke aaO, S. 202 ff. Dulckeit/Schwarz/Waldstein, § 3 2 III 4-10; v. Hippel, B d . l , S.65ff, 77; Mommsen, S. 262, 1039.

36

40 (3) Im übrigen wird in der C C C vielfach hinsichtlich der Art und Weise des Vollzugs der Todesstrafe auf Gewohnheitsrecht rekurriert, und zwar u.a. in Art. 104 Satz 1 und Art. 126. (4) Schließlich ist noch auf die sog. salvatorische Klausel in der „Vorrede" der C C C hinzuweisen; jene Klausel lautete: „Doch wollen wir durch diese gnedige erinnerung Churfürsten, Fürsten und Stenden an ihren alten wohlherbrachten rechtmessigen und billigen gebreuchen nichts benommen haben". Damit war im Rahmen dieser salvatorischen Klausel Gewohnheitsrecht, auch solches zum Nachteil des Täters, zugelassen117. 37 c) Wissenschaft des gemeinen

Strafrechts

Hatte die C C C auch nicht den Gesetzesvorbehalt im Sinne einer Herrschaft der lex scripta im Strafrecht verankert, so bedeutete sie doch immerhin einen gewaltigen Fortschritt auf dem Weg dahin. Demgegenüber brachte die Epoche der Wissenschaft des gemeinen Strafrechts (vgl. oben, Rdnr. 11) für den Gedanken des Ausschlusses von strafbegründendem bzw. -schärfendem ungeschriebenen Recht alles in allem keinen Gewinn, sondern bedeutete im Gegenteil einen Rückschritt: (1) Das Postulat, der Richter müsse bei strafwürdigem Verhalten auch dann Strafe verhängen können, wenn es an einer gesetzlichen Strafdrohung fehle118, führte zur Entwicklung von crimina extraordinaria durch Gerichtsgebrauch. Als schrecklichstes Beispiel dafür sei der Tatbestand der Hexerei genannt, der als crimen exceptum über den in der C C C vorgesehenen Rahmen hinaus durch die Rechtsprechung gewohnheitsrechtlich entwickelt wurde: Während die C C C nur die Schadenszufügung durch Zauberei mit dem Feuertod bedrohte (Art. 109), erfaßte der Straftatbestand der Hexerei in seiner durch Gerichtsgebrauch geprägten Gestalt außer dem Schadenszauber (maleficium) noch den Teufelspakt (pactum cum diabolo) und die Teufelsbuhlschaft (coitus cum diabolo). Und so sind

117 118

Binding, Grundriß, S.65; Eb. Schmidt, S.132f. So u. a. Carpzov; dazu v. Hippel, Bd. 1, S. 235-238; Schreiber, Gesetz und Richter, S. 28 f.

41 im 16. und 17. Jahrhundert, aber selbst noch im 18., unzählige Frauen wegen Verstoßes gegen den ungeschriebenen Straftatbestand der Hexerei (crimen magiae), begangen etwa durch Geschlechtsverkehr mit dem Teufel, zum Feuertode verurteilt und verbrannt worden119. Für diesen Wahnsinn trifft die Wissenschaft des gemeinen Strafrechts eine schlimme Mitverantwortung. (2) Neben die crimina extraordinaria traten die poenae arbitrariae: U. a. Carpzov postulierte, der Richter dürfe gemäß den Besonderheiten des Falles die gesetzlich vorgesehene Strafe mildern oder schärfen'1". Damit wurde praktisch auch für Strafbegründung und -schärfung ungeschriebenes Recht (Gewohnheitsrecht/Richterrecht) die letztlich maßgebende Rechtsquelle. d) Aufklärung

(Montesquieu,

Beccaria)

38

Wie dargelegt (Rdnr. 12, 13) ist der strafrechtliche Gesetzesvorbehalt eine Frucht des aufklärerischen Rechtsdenkens, wobei namentlich Montesquieu und Beccaria hervorzuheben sind. Ihnen ging es entscheidend um die Herrschaft des Gesetzes anstelle von Gerichtsgebrauch im Strafrecht. Damit lag das Gebot der lex scripta, verstanden als Verbot strafbegründenden bzw. -schärfenden ungeschriebenen Rechts, in der Konsequenz ihres Rechtsdenkens 121 : Montesquieu und Beccaria verbanden nämlich ihr Postulat unbedingter Gesetzesherrschaft im Strafrecht mit den Forderungen nach präzisen, bestimmten Strafnormen (dazu unten, Rdnr. 87) und nach strikter Gesetzesbindung des Richters (oben, Rdnr. 13); nur so sei die Freiheit des Bürgers zu schützen. Die Rechtssicherheit nun, die ein solches Bestimmtheitsgebot i. V. m. strenger Bindung des Richters an den Buchstaben des Gesetzes garantieren sollte, konnten Gewohnheitsrecht und Richterrecht nicht gewährleisten.

120

Dazu u. a. Hammes, JuS 1978, 584 ff; v. Hippel, Bd. 1, S. 230f; Rüping, S. 47 ff; Eb. Schmidt, S. 209 ff; Wimmer, JZ 1975, 631 f; ders. JZ 1982, 551 ff. v. Hippel, Bd. 1, S. 236 ff; Eb. Schmidt, S.167; Schreiber, Gesetz und Richter,

S.28Í. 121

Schreiber,

Gesetz und Richter, S.55; ebenso u.a. Schöckel,

S.63ff, 67.

42 39 e) Josephina (1)

und ALR

Josephina

In dieser Kodifikation des aufgeklärten Absolutismus war bereits der strafrechtliche Gesetzesvorbehalt verankert (siehe oben, Rdnr. 14); er beinhaltete dabei namentlich ein Verbot strafbegründenden bzw. -schärfenden Gewohnheitsrechts. Das folgt schon aus dem klaren Wortlaut der Formulierung des Gesetzlichkeitsprinzips in der Josephina. Für die Ableitung eines solchen Verbots ungeschriebenen Rechts aus der Normierung des Gesetzlichkeitsprinzips spricht zudem deren absolutistische Wurzel (zu ihr oben, Rdnr. 7 und 14): Da der Kaiser bei der „Verwaltung der strafenden Gerechtigkeit" an die Stelle richterlicher Willkür die Herrschaft seines gesetzgeberischen Willens setzen wollte122, lag in der Konsequenz dieses absolutistischen Machtanspruchs das Verbot, Strafen unter Berufung auf Gerichtsgebrauch zu begründen bzw. zu schärfen. Und schließlich streitet für die Deutung des Gesetzesvorbehalts der Josephina als Gebot der lex scripta und Verbot von Gewohnheitsrecht auch die aufklärerische Idee der Gesetzlichkeit als Freiheitsgarantie, die jenen Absolutismus bereits beeinflußt hatte (oben, Rdnr. 7, 14). (2) ALR Auch der im ALR verankerte strafrechtliche Gesetzesvorbehalt (dazu oben, Rdnr. 14) beinhaltete ein solches Verbot ungeschriebenen Rechts123; dies ergibt sich in gleicher Weise wie bei der Josephina aus Wortlaut und Grundgedanken des Gesetzlichkeitsprinzips. 4 0 f ) Die amerikanischen

Verfassungen des 18.

Jahrhunderts

Gelegentlich wird gesagt, der Satz „nullum crimen, nulla poena sine lege" habe bereits in den Verfassungen der nordamerikanischen Kolonien bzw. Staaten von 1776 seinen gesetzlichen Niederschlag 122 123

Conrad, S.56, 65 ff. Ebenso Kohlmann, S. 185.

43 gefunden, namentlich in der berühmten „Bill of Rights" des Staates Virginia vom 12.6.1776124. (1) Abschnitt 8 jener Bill of Rights bestimmte, „... that no man be deprived of his liberty, except by the Law of the land or the judgement of his peers"125. Entsprechende Vorschriften über die Herrschaft des Rechts im Strafrecht finden sich in anderen Verfassungen der nordamerikanischen Kolonien bzw. Staaten aus jener Zeit, ζ. B. in der Verfassung von Maryland v. 11.11.1776. Wie die Virginia Bill of Rights verwenden auch sie zur Umschreibung der Rechtsgebundenheit der Strafrechtspflege jeweils die Formel: "by the Law of the land or the judgement of his peers"™. Schließlich postulierte Art. 5 der berühmten amendments (Zusatzartikel) von 1791 zur US-Verfassung (1787): "No person shall . . . be deprived of life, liberty or property without due process of law"127. In diesem Zusatzartikel wird die Rechtsgebundenheit der Strafgerichtsbarkeit also mit der Formel "due process of law" umschrieben. Jene verfassungsrechtlichen Verankerungen der Herrschaft des 41 Rechts in der Strafjustiz sind dabei stark beeinflußt durch die englische Magna Carta Libertatum von 1215128. Diese Rechtsverbriefung des Königs Johann - genannt Johann Ohneland - bestimmte in Abschnitt 39: „Nullus líber homo capiatur vel imprisonetur, aut disseisiatur, aut utlagetur, aut exuletur, aut aliquo modo destruatur, nec super eum ibimus, nec super eum mittemus, nisi per legale judicium parium suorum vel per legem terrae" (zitiert nach Voigt129, der die folgende Übersetzung bietet: „Kein freier Mann soll ergriffen, gefangen genommen, vertrieben, ausgewiesen, geächtet oder auf andere Weise gemaßregelt werden, und wir 124

125 126 127 128

129

v. Liszt/Schmidt, § 18 Anm. 3; ähnlich v. Hippel, Bd. 1, S. 286 Anm. 3, Bd. 2, S. 34 Anm. 1. Zitiert nach Schreiber, Gesetz und Richter, S.65. Dazu Schreiber aaO. Zitiert nach Schreiber aaO. v. Hippel und v, Liszt/Schmidt aaO; Schreiber, Gesetz und Richter, S. 52, 65 m. w. N. S. 219.

44 werden nicht gegen ihn vorgehen, noch ihn verhaften lassen außer durch ein ordnungsmäßiges Urteil seiner Standesgenossen und nach Landesrecht" - bei dieser Ubersetzung ist allerdings zu fragen, ob es nicht richtiger heißen muß: „.. .oder nach Landesrecht"; die Frage ist strittig130 - ) . Die oben erwähnte Formel "by the Law of the land or the judgement of his peers" geht zurück auf die in der Magna Carta Libertatum verwendete Formel „per legale judicium parium suorum velper legem terrae"; der Sache nach dasselbe sollte die Formel vom "due process of Law" besagen. (2) v. Hippel und v. Liszt/Schmidt™ nun führen das „nullumcrimen-Prinzip" auf jenen Abschnitt 39 der Magna Carta Libertatum zurück und meinen, von dort sei es in die erwähnten nordamerikanischen Verfassungen übernommen worden. Dem ist zu widersprechen: Erstens ist es geistesgeschichtlich anachronistisch, die fragliche Bestimmung der Magna Carta als Ausdruck des Satzes „nullum crimen, nulla poena sine lege" zu deuten. Für den Gedanken, zum Schutze der Freiheit des Bürgers müsse im Strafrecht die Herrschaft der lex scripta unter Ausschluß von Gewohnheitsrecht (Gerichtsgebrauch ) verankert und der Richter an den Gesetzeswortlaut gebunden werden, war die Zeit noch nicht reif. Vielmehr meinte die Magna Carta mit der Formulierung der lex terrae das gesamte Common Law, also gerade Gewohnheitsrecht und Richterrecht132. Zudem sprechen gute Gründe dafür, daß es in Abschnitt 39 der Magna Carta in erster Linie um eine prozessuale Garantie ging, nämlich um die Sicherung eines gerichtlichen Strafverfahrens und um die Besetzung der Richterbank mit Standesgenossen133. So bleibt festzuhalten: Die Magna Carta Libertatum verbürgte nicht den „nullum-crimen-Satz" und beinhaltete namentlich nicht das Gebot der lex scripta. Zweitens ist hervorzuheben, daß auch die dargelegten amerikanischen Verfassungen noch keine Normierung des Prinzips „nullum 130 131 132 133

Dazu Blei, S.31. Vgl. Anm. 124. Schreiber, Gesetz und Richter, S. 52. Kohlmann, S. 167; Maurach/Zipf, S. 134f; Sax, S. 992 Anm. 250 m . w . N . ; wohl auch Jescheck, Lehrbuch, S. 103; Voigt, S.221.

45

crimen, nulla poena sine lege" darstellten: Wenn auch ihre Statuierung der Herrschaft des Rechts in der Strafjustiz bereits vom aufklärerischen Gedanken des Schutzes des einzelnen vor obrigkeitlicher Willkür geprägt war134, so hatte sich dieser Gedanke gerade nicht zu dem Prinzip verdichtet, der Bürger sei vor richterlicher Willkür durch die Herrschaft geschriebenen Rechts im Strafrecht unter Ausschluß strafbegründenden bzw. -schärfenden ungeschriebenen Rechts zu bewahren. Das Verbot von Gewohnheitsrecht - zudem auch das Bestimmtheitsgebot und das Analogieverbot war den nordamerikanischen Verfassungen des 18.Jahrhunderts fremd135; die aufklärerische Idee des geschriebenen Gesetzes als Freiheitsgarant hatte sich in ihrem Common-Law-System nicht durchgesetzt. g) Ausschluß von Gewohnheitsrecht der französischen Revolutionszeit

in Gesetzen und im Code Pénal

Napoleons

42

(1) Die Normierung des Gesetzlichkeitsprinzips in Gesetzen der französischen Revolutionszeit (oben, Rdnr. 15) beinhaltete namentlich ein Verbot strafbegründenden bzw. -schärfenden Gewohnheitsrechts. Das ergibt sich aus dem Wortlaut jener Normierung; zudem aus ihrer ratio: gemäß den Forderungen von Montesquieu sollte der Bürger vor richterlicher Willkür durch das Erfordernis bestimmter Strafgesetze136 und durch das Postulat strikter Bindung der Justiz an den Buchstaben des Gesetzes137 geschützt werden. (2) Auch Art. 4 des Code Pénal Napoleons (dazu oben, Rdnr. 16) verankerte das Gesetzlichkeitsprinzip i. S. eines solchen Verbots von Gewohnheitsrecht. h) Anselm v. Feuerbach und das bayerische StGB von 1813 (1) Der Ausschluß strafbegründenden und -schärfenden ungeschriebenen Rechts folgt unmittelbar aus v. Feuerbachs Umschreibung des Gesetzlichkeitsprinzips im Strafrecht (dazu oben, Rdnr. 17) und liegt in der Konsequenz seines straftheoretischen sowie seines rechtsstaatlichen Denkens: 134 135 136 137

Dazu m. w. N. Schreiber, Gesetz und Richter, S. 62 ff. Sax, S. 992 Anm. 250 m. w. Ν . ; Schöckel, S. 1 f; Schreiber aaO, S. 62 ff, 66f, 73. Kohlmann, S. 169 ff, 176 ff. Küper, S. 55-57.

43

46 Nach v. Feuerbachs Straftheorie, der sog. „Theorie vom psychologischen Zwang", war Zweck der Strafdrohung die Abschreckung (Generalprävention); diesen Zweck sollte das Strafgesetz durch psychologischen Zwang verwirklichen: Jeder Bürger sollte durch die gesetzliche Strafdrohung wissen, „daß auf die Übertretung ein größeres Übel folgen werde, als dasjenige ist, welches aus der Nichtbefriedigung des Bedürfnisses nach der Handlung entspringt"138. Voraussetzung für die Verwirklichung jener „Zwangstheorie" nun war die gesetzliche Bestimmtheit der Strafbarkeit vor der Tat139, d. h. der Satz „nulla poena sine lege" (oben, Rdnr. 17), verstanden namentlich auch als Gebot der lex scripta"". v. Feuerbachs Postulat „nulla poena sine lege" war aber nicht nur eine Frucht jener Straftheorie, sondern (zugleich) entscheidend geprägt von seinem aufklärerisch-liberalen, rechtsstaatlichen Anliegen eines Schutzes des einzelnen vor richterlicher Willkür durch das positive Gesetz (dazu oben, Rdnr. 17). Auch diese staatsrechtliche Wurzel des von ihm verfochtenen Gesetzesvorbehalts ergibt ein Verbot strafbegründenden bzw. -schärfenden Gewohnheitsrechts. (2) Entsprechend v. Feuerbachs Lehre verankerte dann das bayerische StGB von 1813 in Art. 1 das „nulla-poena-Prinzip" (oben, Rdnr. 18), wobei diese Vorschrift u. a. auch das Gebot der lex scripta beinhaltete. 44 i) Die Durchsetzung des Verbots gewohnheitsrechtlicher Strafbegründung oder -schärfung im 19. Jahrhundert Ungeachtet der Ablehnung des aufklärerischen Kodifikationsideals, der Verneinung des „Berufs unserer Zeit für Gesetzgebung" jedenfalls im bürgerlichen Recht und der Hinwendung zum Gewohnheitsrecht bzw. Juristenrecht bei v. Savigny (1779-1861) und Puchta (1798-1846), den Hauptrepräsentanten der historischen Rechtsschule romanistischer Ausrichtung141, setzte sich in der Folge in Deutschland jenes Verbot von Gewohnheitsrecht durch. 138

140 141

Dazu Kohlmann, S. 188 f; Krey, Studien, S.209 f. Vgl. Anm. 138. Schreiber, Gesetz und Richter, S. 109. Siehe v. Savigny, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, 1814; Puchta, Das Gewohnheitsrecht, l.Bd. 1828, 2.Bd. 1837, Neudruck 1965.

47 Im übrigen mußte auch Puchta einräumen, daß „etwas in der Natur des Strafrechts liegen müsse, welches vorzugsweise den Einfluß der Gesetzgebung als angemessen oder wünschenswert erscheinen lasse", und daß das Gesetz sich durch die größere Sicherung des Angeschuldigten gegen richterliche Willkür empfehle142. - v. Savignys rechtstheoretischer Standpunkt war letztlich nichts anderes als elitär: Er betonte den Vorrang jurisprudentieller Weisheit vor legislatorischer Dezision bei der Rechtsfortbildung. Zwar sah er den „Volksgeist" als die rechtserzeugende Kraft; doch könne dieser bei fortschreitender Rechtsentwicklung nur mittelbar Recht setzen, nämlich durch seine Repräsentanten, und zwar vornehmlich durch die Juristen. Diese maßgebliche Rolle des Juristenstandes als einer Funktionselite bei der Normbildung betonte auch - wenngleich wohl weniger prononziert - Puchta. Jener Standpunkt widersprach erstens dem aufklärerischen Kodifikationsoptimismus; zweitens dem Interesse der Monarchen in den deutschen Ländern, an die Stelle von Juristenrecht ihre Gesetze zu setzen (vgl. oben, Rdnr. 7, 8, 18); drittens dem das 19. Jahrhundert zunehmend beherrschenden demokratischen Gedanken einer Beteiligung des Volkes durch parlamentarische Vertretungen an der Gesetzgebung (oben, Rdnr. 19). Daher konnte die historische Rechtsschule den Siegeszug des Satzes „nullum crimen, nulla poena sine lege" nicht aufhalten - . (1) Das preußische StGB von 1851, das in seinem § 2 den strafrechtlichen Gesetzesvorbehalt normierte (oben, Rdnr. 19), verankerte damit das Verbot gewohnheitsrechtlicher Straftatbestände (siehe auch Rdnr. 92). (2) Entsprechend wurde dann § 2 Reichsstrafgesetzbuch von 1871 (oben, Rdnr. 20) allgemein dahin verstanden, er enthalte u. a. das Verbot strafbegründenden bzw. -schärfenden Gewohnheitsrechts143.

142 143

Vgl. bei Binding, Handbuch, S. 209. So etwa Binding, Handbuch, S.205, 210; ders. Grundriß, S.66f; Frank, § 2 Anm. I 1; v. Hippel, Bd. 2, S.32, 36f, 40; Kohlrausch, § 2 Anm. 2; v. Liszt!Schmidt, S. 110-112; Meyer/Allfeld, S. 89.

48 4 5 j) Art. 116 Weimarer

Verfassung

Auch diese verfassungsrechtliche Verankerung des „nullum-crimen-Prinzips" (dazu oben, Rdnr. 23) bedeutete ein Verbot gewohnheitsrechtlicher Straftatbestände144. 46 k)

NS-Zeit

Die dargelegte Auflösung des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips im Dritten Reich (siehe oben, Rdnr. 24-32) ließ auch das Gebot der lex scripta nicht unberührt: Wollte man Ernst machen mit der Forderung, dem neuen nationalsozialistischen Strafrecht müsse es um „die Gewißheit gehen, daß in jedem Fall Strafe eintrete, in dem die Strafwürdigkeit nach der Rechtsüberzeugung der Volksgesamtheit gegeben sei" (oben, Rdnr. 28), so war jenes Gebot letztlich eine lästige Fessel bei der Verbrechensverfolgung. Diese Fessel sollte durch die Neufassung des § 2 StGB v. 28.6.1935 (oben, Rdnr. 30) gelockert werden: Dabei bedeutete die Preisgabe des Analogieverbots wegen des Rekurrierens auf die Strafwürdigkeit „nach gesundem Volksempfinden" der Sache nach zugleich eine Einschränkung des Verbots strafbegründenden ungeschriebenen Rechts. - Aber auch ein dergestalt abgeschwächtes Gesetzlichkeitsprinzip war der NS-Willkürherrschaft offenbar noch ein Dorn im Auge. Der Gedanke der „Selbstbindung" der Staatsgewalt durch geschriebenes Recht mußte den Machthabern zunehmend als „abwegig" erscheinen145. Hierauf dürfte es auch zurückzuführen sein, daß die geplante Gesamtreform des Strafrechts aus nationalsozialistischem Geist nicht zustandekam146. Uberhaupt wird man mit Nauckeu? feststellen müssen: Die „NS-Maßnahmen im Bereich der strafrechtlichen Regelsetzung 1933-1945" haben gemeinsam, daß sie sich gegen das „überkommene Verständnis vom Strafgesetz" schlechthin wenden, das 144 145 146 147

Anschütz, Art. 116 Anm.4; v. Hippel, aaO und S. 34f; v. Liszt/Schmidt aaO. Eb. Schmidt, S.450. Siehe Anm. 145. Die Aufhebung des strafrechtlichen Analogieverbots 1935, S. 92.

49 Strafgesetz „als eigenständigen Faktor im Verhältnis Bürger/Justiz/ Staat" als Schranke der Strafgewalt, praktisch preisgeben. l) Das Gebot der lex scripta im Strafrecht und die Gesetzgebung der Siegermächte

47

Wie ausgeführt (Rdnr. 33) haben die Alliierten in der Nachkriegszeit die Bestrafung nach „gesundem Volksempfinden " untersagt und § 2 StGB i. d. F. von 1935 aufgehoben, zudem im MRG Nr. 1 das Erfordernis geschriebener Straftatbestände wiedereingeführt. 2. Rückwirkungsverbot a) Römisches Strafrecht (1) Die Rückwirkung von Strafgesetzen wurde insoweit nicht als problematisch empfunden, wie man solche Gesetze der Sache nach als bloß deklaratorisch verstehen konnte - und zwar in dem Sinne, daß sie Untaten mit Strafe bedrohten, die man auch ohne geschriebenes Strafrecht als Verbrechen angesehen und behandelt hätte. Dagegen drängte sich die Frage eines Rückwirkungsverbots für solche Strafgesetze auf, die man als konstitutiv auffaßte, weil sie Verhaltensweisen mit Strafe bedrohten, die vorher nicht strafbar gewesen waren und deren Strafwürdigkeit sich auch nicht etwa von selbst verstand. Nur für solche „konstitutiven" Strafgesetze wurde in der republikanischen Zeit ein Rückwirkungsverbot angenommen, so daß man zu einer differenzierenden Antwort auf die Frage rückwirkender Geltung von Strafsatzungen kam148. Diese Haltung wird namentlich bei Cicero deutlich, der ausführt („In Verrem"): „In lege Voconia non est fecit, fecerit, neque in ulla praeteritum tempus reprehenditur, nisi eius rei, quae sua sponte tarn scelerata et nefaria est, ut etiam si lex non esset, magno opere vitanda fuerit"; und später heißt es dann bei Cicero:

148

Dazu m. w. N. Schöckel, S. 6—10; Schreiber, Gesetz und Richter, S. 17-22.

48

50 „ . . . non ius aliquod novum populo constituitur, sed sancitur, ut quod semper malum facinus fuerit, eius quaestio ad populum pertineat ex certo tempore" 14 '; übersetzt: „In der lex Voconia . . . wird nichts, was in der Vergangenheit liegt, mißbilligt, es sei denn, daß etwas aus sich so verbrecherisch und gottlos ist, daß man es auch dann hätte meiden müssen, wenn es das Gesetz nicht gegeben hätte" „ . . . das Volk setzt nichts Neues als Recht fest, sondern normiert nur, daß das, was immer schon ein Verbrechen gewesen ist, von einer bestimmten Zeit an der Untersuchung durch das Volk unterliegt". Die Auffassung, eine Rückwirkung von Strafgesetzen sei nicht ungerecht oder sachwidrig, soweit diese lediglich Taten erfaßten, die schon immer als Verbrechen angesehen worden seien oder deren Strafwürdigkeit sich gewissermaßen von selbst verstehe, kann man als „Lehre vom natürlichen Verbrechen" bezeichnen. Sie hat, wie die Untersuchung zeigen wird, in der Entwicklungsgeschichte des strafrechtlichen Rückwirkungsverbots von der Zeit der römischen Republik bis heute eine wichtige Rolle gespielt: Der Rekurs auf den Gesichtspunkt des „natürlichen Verbrechens" bot sich an, wenn es darum ging, die rückwirkende Anwendbarkeit von strafbegründenden (bzw. -schärfenden) Gesetzen zu legitimieren. - Dazu unten, Rdnr.51, 52, 60, 67, 68, 105, 108, 109, 126. 49

(2) In der römischen Kaiserzeit finden sich erstmals gesetzliche Verankerungen eines (grundsätzlichen) Rückwirkungsverbots. So heißt es in einer Kaiserkonstitution des Theodosius I (347-395): „Omnia Constituía non praeteritis calumniam faciunt, sed futuris regulam ponunt"150; (übersetzt: „Alle Kaisererlasse beurteilen nicht das Vergangene, sondern stellen Regeln für die Zukunft auf"). Ein grundsätzliches Rückwirkungsverbot verankerten auch die Kaiser Theodosius II (401-450) und Valentinianus III (419-455): „Leges et constitutiones futuris certum est dare formam negotiis, non ad facta praeterita revocari, nisi nominatim et de praeterito tempore et adhuc pendentibus negotiis cautum sit"151; 149 150 151

Zitiert nach Schocket, S.2, 8 a.E., 9; Schreiber aaO, S. 19. Zitiert nach Schocket, S.9; Schreiber aaO, S.21. Siehe Anm. 150.

51 (übersetzt: „Es ist gewiß, daß Gesetze und Kaisererlasse nur die Form zukünftiger Geschäfte festlegen, sich aber nicht auf zurückliegende Handlungen erstrecken, wenn nicht ausdrücklich auch für die Vergangenheit und die schwebenden Geschäfte eine Regelung getroffen ist"). Jener (grundsätzliche) Rückwirkungsausschluß, der für Zivilrecht und Strafrecht galt152, darf aber nicht als Ausdruck rechtsstaatlichen Denkens überbewertet werden. Denn zum einen stand er unter dem Vorbehalt gesetzlicher Ausnahmeregelungen; und zum anderen war angesichts der unbeschränkten Strafgewalt des Kaisers (oben, Rdnr. 35 a. E.) kein Raum für die Anerkennung eines dem Schutz des Bürgers vor obrigkeitlicher Willkür dienenden strafrechtlichen Rückwirkungsverbots . b) Constitutio Criminalis Carolina (CCC)

50

Die CCC enthält kein ausdrückliches Rückwirkungsverbot; ein solches ist auch nicht in sie hineinzulesen. Denn der Idee nach sollte dieses Strafgesetz nicht konstitutiv neue Strafnormen einführen, sondern deklaratorisch „unser Keyserlich recht" schriftlich fixieren, um es den Richtern einzuschärfen und Willkür zu verhindern. Dieser „deklaratorische" Anspruch der CCC stand der Entwicklung des Rückwirkungsverbots entgegen153; er kam namentlich im Schlußsatz des Art. 104 CCC zum Ausdruck, wo es heißt: „Und damit richter und urtheyler die solcher rechten (gemeint: unser Keyserlich recht, d.h. „römisches Recht"154) nit gelert sein, mit erkantnuß solcher straff destoweniger wider die gemelten rechten, oder gute zulessig gewonheyten handeln, so wirt hernach von etlichen peinlichen straffen, wann und wie die gedachten recht guter gewonheyt, und vernunfft nach geschehen sollen, gesatzt." c) Wissenschaft des gemeinen Strafrechts und Rückwirkungsverbot Die Epoche des gemeinen Rechts war, wie bereits erwähnt, für die Entwicklung des strafrechtlichen Gesetzesvorbehalts ausgesprochen unfruchtbar (Rdnr. 11, 37). 152 153 154

Schöckel und Schreiber aaO. Schöckel, S. 21 f; Schreiber, Gesetz und Richter, S . 2 7 f m . w . N . Radbruch/Kaufmann, S. 140.

51

52 (1) Gleichwohl gab es Ansätze für ein strafrechtliches Rückwirkungsverbot, die wohl auf folgenden Faktoren beruhten: Zum einen auf der Kenntnis des römischen Strafrechts (dazu Rdnr. 48, 49); zum anderen auf dem Einfluß der italienischen Strafrechtswissenschaft des 13./14. Jahrhunderts^ ·, und schließlich auf der wachsenden Einsicht in den mehr und mehr konstitutiven Charakter neuerer Strafvorschriften der erstarkten deutschen Territorialgewalten156. Doch führten diese Faktoren nicht zu der Einsicht, strafbegründenden bzw. -schärfenden Gesetzen dürfe schlechthin keine Rückwirkung zukommen. Vielmehr wurde ganz überwiegend ein strafrechtliches Rückwirkungsverbot nur mit folgenden Einschränkungen akzeptiert: Erstens gelte es nicht für nur deklaratorische Strafvorschriften; zweitens seien gesetzliche Ausnahmen zulässig, und zwar namentlich bei „natürlichen Verbrechen"™. Diesen herrschenden Standpunkt sollen die folgenden Quellen verdeutlichen: (a) Die Tübinger Juristenfakultät hatte sich in einem Consilium von 1659 mit einem württemberger Reskript des Landesherrn über Unzuchtsverbrechen zu befassen. In dem anhängigen Strafverfahren hatte der Angeklagte die Rückwirkung jener fürstlichen Deklaration gerügt. Dem hielt das Consilium indes nach grundsätzlicher Anerkennung eines Rückwirkungsverbots entgegen: „praedicta iuris regula procedit tantum lege constitutiva, quae ius novum constituit; secus ac est in declarativa, quae ius vetus tantum declarat; haec siquidem etiam pertinet ad praeterita, cum is qui declarat, nihil novi addat"158; übersetzt: „die genannte Rechtsregel - gemeint: Rückwirkungsverbot - gilt nur für das konstitutive Gesetz, das neues Recht normiert; anders ist es beim deklaratorischen Gesetz, das nur altes Recht erläutert; das deklaratorische Gesetz kann sich auch auf Vergangenes beziehen, da derjenige, der nur erklärt, nichts neues hinzufügt". Ergänzend wird die rückwirkende Anwendbarkeit jenes Reskripts von der Fakultät noch mit einem weiteren Argument dargetan: 155 154 157 158

Vgl. Schöckel, S. 11 ff, 25, 41 ff; Schreiber aaO, S. 22 f. Schöckel, S. 25 f. Vgl. m . w . N . Schöckel, S. 23-33. Zitiert nach Schöckel, S . 2 9 f .

53 „quandocumque autem de Legislatoris volúntate constat, quod novam legem etiam ad praeterita pertinere velit; tunc lex etiam nova quoad praeterita est observanda, maxime si facta illa alias iure naturali et Divino sint prohibita" 159 ; übersetzt: „da aber als Wille des Gesetzgebers feststeht, daß sich das neue Gesetz auch auf Vergangenes beziehen soll; alsdann ist das neue Gesetz auch auf Vergangenes anzuwenden, besonders wenn jene Taten auch sonst durch Naturrecht und göttliches Recht verboten sind". Gemäß dieser Entscheidung der Tübinger Fakultät verfiel der Angeklagte der Schwertstrafe statt der zur Tatzeit und vor dem fraglichen Reskript üblichen milderen poena extraordinaria. (b) Die Wittenberger Fakultät hatte sich im Jahre 1706 ebenfalls mit der Frage der Rückwirkung von Strafgesetzen zu befassen, und zwar anläßlich einer strafschärfenden kursächsischen Constitution „vom anvertrauten Gute". Zu dieser Frage führte die Fakultät in ihrem Gutachten aus: „Obwohl ordentlich ein neuer Lex ad casus praeteritos (übersetzt: auf frühere Taten) nicht zu erstrecken, sondern allein von denen futuris zu verstehen, ne que enim lex extenditur ad praeterita, sed trahitur ad futura, 1. 7 C. de legibus (übersetzt: denn ein Gesetz erfaßt nicht Vergangenes, sondern bezieht sich auf Zukünftiges) . . . , also es das Ansehen gewinnen will, daß nach Eurem Anziehen gemäß gegenwärtiges Verbrechen sich vor der unterm dato den 26.Septembr. 1705 verneureten Königl. und Churfürstl. Sächs. Constitution von anvertrauetem Guthe ereignet, das Erkäntnüss nach deren Schärfe füglich nicht eingerichtet werden könne. Dennoch aber und dieweil obige Rechts-Regel in dem Fall nicht statt hat, sicubi Lex nova ius vetus interpretetur vel nominatim de praeteritis disponat..." {übersetzt: wenn irgendwie das neue Gesetz nur altes Recht erläutert oder ausdrücklich Vergangenes einbezieht...). Danach bejahte die Fakultät die rückwirkende Anwendbarkeit der Constitution, was für den „Iriquisiten", d.h. den Angeklagten, das Todesurteil bedeutete; dies wurde im Votum der Fakultät lapidar wie folgt formuliert:

159

Siehe Anm.158.

54

„So mag wider Inquisiten nach Anleitung angezogener verneureten Constitution . . . mit der daselbst ausgedruckten Straffe des Stranges wohl verfahren werden"160. 52

(2) Daß in der Wissenschaft des gemeinen Strafrechts die Idee eines Rückwirkungsverbots nur mit den dargelegten gravierenden Einschränkungen, die es weitgehend leerlaufen ließen, Anerkennung fand, ist leicht erklärt: Erstens ist hier die Entfesselung der Strafjustiz zu nennen, die in der Entwicklung von crimina extraordinaria durch Richterspruch und der Verhängung von poenas arbitrarias, d.h. gegenüber der gesetzlichen poena ordinaria milderen oder schärferen Strafen, ihren Ausdruck fand (dazu oben, Rdnr. 11, 37161). Wenn man nun dem Richter die Macht einräumte, gesetzlich nicht erwähnte aber als strafwürdig erscheinende Taten zu pönalisieren und darüber hinaus im Hinblick auf besondere Umstände gesetzliche Strafen zu verschärfen, war nicht zu erwarten, daß man dem Gesetzgeber rückwirkende Strafgesetze zum Nachteil des Täters schlechthin verwehrte162. Es war gewissermaßen der Gesichtspunkt des „natürlichen Verbrechens", der sowohl der Entwicklung des Gebots der lex scripta wie auch des Rückwirkungsverbots entgegenstand: Strafwürdige Taten sollte der Richter angemessen aburteilen können, notfalls auch ohne Strafgesetz oder unter Verschärfung gesetzlicher Strafen; entsprechend stand es dem Gesetzgeber frei, zur Ermöglichung angemessener Bestrafung gegebenenfalls rückwirkende Strafbestimmungen zu erlassen. Zweitens war der absolutistische Machtanspruch der normsetzenden Landesherrn der Durchsetzung eines strafrechtlichen Rückwirkungsverbots hinderlich.

53 d) Aufklärung (Montesquieu, Beccaria) (1) Wie gezeigt ist Montesquieu einer der „geistigen Väter" des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips (Rdnr. 13, 38). Indes wird das Verbot strafbegründender bzw. -schärfender Rückwirkung von 160 161 142

Zitiert nach Schocket, S . 3 0 f . Siehe auch Schaff stein, S. 39 ff. Schocket, S. 23 f, 37 a. E. f, 45 f.

55 Gesetzen bei ihm nicht ausdrücklich ausgesprochen163. Gleichwohl läßt sich feststellen, daß die Entwicklung eines solchen Rückwirkungsverbots in der Konsequenz seines Rechtsdenkens lag164; dies aus folgenden Gründen: (a) In Montesquieus Freiheitslehre ging es zum einen um Rechtssicherheit i. S. von Berechenbarkeit des Rechts für die Bürger: «La liberté est le droit de faire tout ce que les lois permettent» (De l'Esprit des Lois, 1748, XI. Buch Kapitel 6; übersetzt: Die Freiheit ist das Recht, alles zu tun, was die Gesetze erlauben). Die Gesetze sollten dem einzelnen Freiheit verbürgen als «cette tranquillité d'esprit qui provient de l'opinion que chacun a de sa sûreté» (Montesquieu aaO; übersetzt: die Ruhe des Geistes, die aus dem Vertrauen erwächst, das jeder in seine Sicherheit hat). Dem Aspekt „Vertrauensschutz" oder genauer: „Rechtssicherheit i. S. von Vorausseh barkeit staatlicher Sanktionen für den Rechtsunterworfenen", diente auch Montesquieus Forderung nach hinreichend bestimmten Strafgesetzen165. Jener Aspekt nun sprach gegen die Zulässigkeit rückwirkender Strafbegründung und -schärfung durch den Gesetzgeber166. (b) Montesquieus „moderne Freiheitsidee" war aber noch unter einem weiteren Gesichtspunkt der Entwicklung des strafrechtlichen Rückwirkungsverbots förderlich: Gemeint ist der Gedanke des „Schutzes der Bürger vor obrigkeitlicher Willkür". Hierauf - unabhängig vom Aspekt der Vorhersehbarkeit rekurriert Schreiber™, der zu Recht hervorhebt, ein Rückwirkungsverbot für strafbegründende und -schärfende Gesetze verstärke jenen Willkürschutz. (c) Schließlich liegt ein solches Verbot auch in der Konsequenz von Montesquieus Gewaltenteilungslehre168: Nach ihr sollte der Gesetzgeber Rechtssätze, d. h. abstrakt-generelle Regeln normieren, während dem Richter die Gesetzesanwendung auf den Einzelfall,

163 144 165

167 168

Schöckel, S. 65-74; Schreiber, Gesetz und Richter, S. 57-61. Dazu eingehend Schöckel und Schreiber aaO m. w. N. Kohlmann, S. 172; Schöckel, S.68. Schöckel aaO. Gesetz und Richter, S. 57-61. Abweichend Binding, Handbuch, S.25, 231 Anm.4.

56 d.h. die konkret-individuelle Entscheidung zukam. Rückwirkende Strafgesetze nun werden vielfach auf konkrete Einzelfälle abzielen und damit jenem Gewaltenteilungsmodell der Sache nach widersprechen. (2) Zur Vertiefung: Wie dargetan lag zwar die Entwicklung eines Rückwirkungsverbots letztlich in der Konsequenz des Rechtsdenkens von Montesquieu. Gleichwohl darf die Tatsache, daß er selbst ein solches Verbot nicht gefordert hat, keineswegs vernachlässigt werden. Sie dürfte nämlich darauf beruhen, daß in der Staatstheorie von Montesquieu, was das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip angeht, der Aspekt „Schutz des Bürgers vor richterlicher Willkür durch Herrschaft des Gesetzes" dominierte, nicht etwa der Gesichtspunkt „Schutz des Bürgers vor dem Strafgesetz". Wer wie Montesquieu das Gesetz idealisierend in erster Linie als Freiheitsgaranten sah und zudem einem vernunftrechtlichen Gesetzesbegriff, der die lex gewissermaßen als „ratio scripta" verstand, huldigte, hatte wohl zu wenig Anlaß, ein Rückwirkungsverbot zum Schutz der Bürger vor gesetzlicher Willkür ex post zu fordern. Diese Einsicht kommt, wie ich meine, bei Schöckel und Schreiber169 zu kurz. Montesquieus Postulat des „Schutzes des Bürgers durch das Gesetz" mußte gewissermaßen erst von seiner zu starken Fixierung auf richterliche Willkür befreit und zu Ende gedacht werden, um zu einem Rückwirkungsverbot führen zu können. (3) Entsprechend dem zu Montesquieu Ausgeführten lag auch bei Beccaria ein Rückwirkungsverbot für strafbegründende und -schärfende Gesetze in der Konsequenz seines Rechtsdenkens; zudem klingt dies Verbot bei ihm der Sache nach bereits deutlich an, wenn er Gesetze fordert, die den Bürger „in den Stand setzen, die einer Missetat folgenden Übel im vornherein zu ermessen"170. 54 e) Die gesetzliche Verankerung des strafrechtlichen Rückwirkungsverbots in den amerikanischen Verfassungen des 18. Jahrhunderts Seinen ersten gesetzlichen Niederschlag fand das Rückwirkungsverbot in den nordamerikanischen Verfassungen des 18.Jahrhun-

170

Oben, Anm. 163, 164. Bei Schöckel, S. 68.

57 derts; diese waren dabei u.a. durch das Rechtsdenken von Locke (1632-1704) und Montesquieu beeinflußt171. Am Anfang stand die Verfassung des Staates Maryland von 1776, die in Art. 15 statuierte: "That retrospective laws, punishing facts committed before the existence of such laws, and by them only declared criminal, are oppressive, unjust and incompatible with liberty; wherefore no ex post facto law ought to be made"172. Auch andere Verfassungen der nordamerikanischen Kolonien bzw. Staaten enthielten ein solches Rückwirkungsverbot. Schließlich verankerte Art. 1 der amerikanischen Bundesverfassung von 1887 ein Rückwirkungsverbot für Bundesgesetze ("No bill of attainder or ex post facto law shall be passed") und für die Gesetzgebung der Einzelstaaten ("No state s h a l l . . . pass any bill of attainder or ex post facto law")173. f ) Josephina und ALR (1) Josephina Die genannten amerikanischen Verfassungen hatten durch die Verankerung des Rückwirkungsverbots gesetzgeberischer Willkür Schranken gezogen; dagegen hatten sie - wie ausgeführt (oben, Rdnr. 40, 41) - dem im aufklärerischen Rechtsdenken Montesquieus und Beccarias dominanten Postulats, der Bürger sei durch die Herrschaft geschriebenen Rechts vor richterlicher Willkür zu schützen, nicht entsprochen. Geradezu umgekehrt war das Anliegen der Josephina, durch N o r mierung des strafrechtlichen Gesetzesvorbehalts (oben, Rdnr. 14) Willkür der Strafjustiz auszuschließen174; dagegen statuierte diese Kodifikation kein Rückwirkungsverbot 175 . Ein solches Verbot war

171 172 173 174 175

Dazu m. w. N . Schöckel, S.65, 75; Schreiber, Gesetz und Richter, S. 57-61, 63, 66. Zitiert nach Schöckel, S. 75; Schreiber aaO, S. 64. Schöckel, S. 76; Schreiber aaO, S. 65. Conrad, S.65 ff, 70, 73 f. Siehe das Kundmachungspatent zur Josephina („Patent im Kriminalgerichtsfache" vom 13.1.1787; Fundstelle: Vollständige Sammlung aller seit dem glorreichen

55

58 auch angesichts der Tatsache, daß es der Josephina primär um die Stärkung der „absolutistischen Omnipotenz des Souveräns" durch Herrschaft seiner Gesetze anstelle von Richtermacht ging - und nur in zweiter Linie um den Schutz der Freiheit des einzelnen - , kaum zu erwarten. (2) ALR § 9 II. Teil 20. Titel des ALR, der das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip normierte (Rdnr. 14), verlangte nicht, jedenfalls nicht expressis verbis, daß die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde; ein Rückwirkungsverbot war hier also nicht ausgesprochen. Doch bestimmte § 14 der Einleitung des ALR: „Neue Gesetze können auf schon vorhin vorgefallene Handlungen und Begebenheiten nicht angewendet werden". Dies Rückwirkungsverbot wurde aber für bestimmte „deklaratorische" Gesetze durchbrochen, und zwar in § 15 der Einleitung: „Die von Seiten des Gesetzgebers nöthig befundene und gehörig publizirte Erklärung eines ältern Gesetzes aber giebt, in allen noch zu entscheidenden Rechtsfällen, den Ausschlag". Das Rückwirkungsverbot des § 14 galt nicht für Strafmilderungen durch das ALR; hierzu ordnete § 18 der Einleitung an: „Die Minderung der in einer ältern Verordnung festgesetzten Strafe kommt auch demjenigen Uebertreter zu statten, an welchem diese Strafe, zur Zeit der Publication des neuern Gesetzes, noch nicht vollzogen war". Regierungsantritt Joseph des Zweiten für die k. k. Erbländer ergangenen höchsten Verordnungen und Gesetze, 7. Teil 1789, S. 5f): „ . . . wird das allgemeine Gesetz über Verbrechen und Strafen mit dem Befehle kundgemacht, daß von dem Tage der Kundmachung dasselbe allen . . . Kriminalrichtern . . . zur allgemeinen Richtschnur dienen soll, nach welcher über jeden Kriminalverbrecher, der erst nach Uberkommung dieses neuen Kriminalgesetzes bey dem Kriminalgerichte eingebracht worden ... das Strafurtheil zu fällen ist. Dadurch werden also alle älteren Gesetze, welche zu Bestimmung der Verbrechen und Strafen ergangen sind, ausser Kraft gesetzt, und aufgehoben. Und soll auf dieselben nur bei denjenigen Strafurtheilen Rücksicht genommen werden, welche bey jedem Kriminalgerichte über diejenigen Kriminalverbrecher ergehen, die zur Zeit des überkommenen Gesetzbuches bereits in Verhaft waren". Sekundärliteratur dazu: Schreiber, Gesetz und Richter, S. 79 m.w. N.

59 g) Französische Menschenrechtserklärung und Napoleons Code Pénal

von 1789

56

(1) Art. 8 jener Menschenrechtserklärung (oben, Rdnr. 15) normierte ausdrücklich ein Verbot der Rückwirkung strafbegründender (und -schärfender) Gesetze. Auch die Verfassungen von 1791, 1793 und 1795 sowie der Code des délits et des peines von 1795 verankerten ein solches Rückwirkungsverbot176. (2) In gleicher Weise enthielt Napoleons Code Pénal in seinem Art. 4 (oben, Rdnr. 16) expressis verbis das strafrechtliche Rückwirkungsverbot. h) v. Feuerbach (1)

und das bayerische StGB von 1813

v.Feuerbach

Er hat bereits in seinem „Lehrbuch des gemeinen in Deutschland geltenden Peinlichen Rechts" von 1801 der Sache nach ein Rückwirkungsverbot postuliert, indem er in § 19 die Strafe definiert als „ein von dem Staate wegen einer begangenen Rechtsverletzung zugefügtes und durch ein Gesetz vorher angedrohtes Uebel". Dies Rückwirkungsverbot wird in v. Feuerbachs Lehrbuch aus seiner oben (Rdnr. 43) dargelegten Theorie vom „psychologischen Zwang" abgeleitet; dazu führt er in § 18 aus: „Da der Staat durch psychologischen Zwang Gesetzmäßigkeit bewirken soll; so muß er diese Ueberzeugung in seinen Bürgern erwecken. Er muß also auf Rechtsverletzungen durch ein Gesetz ein solches Uebel als nothwendige Folge der That androhen... Da aber eine Drohung in sich selbst widersprechend ist, wenn sie, sobald ihre Voraussetzung existiert, nicht wirklich ausgeübt wird; so muß auch, damit die Bürger durch das Gesetz wirklich zur Unterlassung der bestimmten Rechtsverletzungen angetrieben werden können, die gesetzliche Drohung zugefügt werden, sobald die Übertretung geschehen ist, an die das Gesetz jenes Uebel geknüft hat." Aus diesen Überlegungen leitet v. Feuerbach dann konsequent in § 1 9 seine oben erwähnte Forderung her, die Strafe müsse gesetzlich 176

Dazu Schöckel, S. 78; Schreiber aaO, S.67f.

57

60 bestimmt sein, bevor die Tat begangen wurde: Wenn die gesetzliche Strafdrohung mittels „psychologischen Zwanges" generalpräventiv Verbrechen verhindern soll, muß sie bei ihrem Erlaß auf künftige Taten bezogen sein. Neben diese strafrechtliche Wurzel des Rückwirkungsverbots tritt aber - was vielfach übersehen wird Feuerbachs rechtsstaatliches Denken: Der Satz „nulla poena sine lege" enthält „die Grundvoraussetzung für ein rechtsstaatliches Strafrecht; Feuerbach selbst hat das so aufgefaßt"177. Demgemäß beruht seine Forderung nach der lex praevia, d. h. der gesetzlichen Strafdrohung bereits vor der Tat, gerade auch auf dem rechtsstaatlich-liberalen Gesichtspunkt des Schutzes des Bürgers vor obrigkeitlicher Willkür,m. Dieser Aspekt, und nicht der generalpräventive, ist der eigentliche Grund für die Durchsetzung des strafrechtlichen Rückwirkungsverbots im Deutschland des 19. Jahrhunderts geworden179. 58 (2) Bayerisches StGB von 1813 Art. 1 dieses Gesetzbuchs, der den Satz „nulla poena sine lege" verankerte (oben, Rdnr. 18), war ein Rückwirkungsverbot jedenfalls nicht eindeutig zu entnehmen. Doch wurde ein Verbot rückwirkender Strafschärfung in Art. 1 i. V. m. Art. 2 des Patents über die Verkündung des StGB normiert; diese Vorschriften lauteten: Artikel 1 „Gegenwärtiges Strafgesetzbuch hat vom 1. Okt. 1813 als allgemeines Gesetzbuch in dem ganzen Umfange Unseres Königreichs gesetzliche K r a f t . . . " Artikel 2 „Verbrechen oder Vergehen, welche nach dem vorbestimmten Zeitpunkte in Untersuchung oder zur Entscheidung kommen, wenngleich dieselben noch vor dem Eintritte desselben begangen worden, sollen nach gegenwärtigem Gesetzbuche beurtheilet werden, ausge-

177 178 179

Naucke, ZStW 1975, 861, 881; siehe bereits oben, Rdnr. 17. Naucke aaO; Schreiber aaO, S. 110-112. Schöckel, S. 60 f.

61 nommen, wenn sie von den zur Zeit ihrer Begehung gültigen Gesetzen mit einer bestimmten Strafe bedrohet waren, welche gelinder ist, als diejenige, die das gegenwärtige Gesetzbuch verordnet." Das Verbot rückwirkender Strafbegründung war hier zwar nicht ausdrücklich genannt; doch verstand sich ein solches Verbot gemäß § 1 des StGB i. V. m. jenen Art. 1 und 2 des Publikationspatents gewissermaßen von selbst: Zum einen war in dem Verbot rückwirkender Strafschärfung (Art. 1, 2 Publikationspatent) naturgemäß das Verbot rückwirkender Strafbegründung mitenthalten. Zum anderen war § 1 des bayerischen StGB von 1813 nichts anderes als Ausdruck des Feuerbach'sehen Postulats „nulla poena sine lege"; und das beinhaltete ja gerade auch dieses Rückwirkungsverbot. Und schließlich kam in den oben (Rdnr. 18) erwähnten amtlichen „Anmerkungen zum Strafgesetzbuch für das Königreich Baiern" (1813) das Verbot rückwirkender Strafbegründung klar zum Ausdruck; dort hieß es nämlich: „ . . . denn darauf beruhet die Sicherheit des Staats und aller Individuen, daß für jede an sich strafbare Handlung die Strafe im voraus gesetzlich bestimmt, aber auch jeder Bürger, solange er kein Strafgesetz übertritt, gegen Strafe sicher sey180." Hier wird auch deutlich, daß das Gebot der lex praevia namentlich dem Schutz bürgerlicher Freiheit dienen sollte. i) Die Durchsetzung

des Rückwirkungsverbots

im 19. Jahrhundert

Das Postulat, strafbegründenden bzw. -schärfenden Gesetzen dürfe keine Rückwirkung zukommen, setzte sich im Deutschland des 19. Jahrhunderts in Zusammenhang mit dem Siegeszug der Rechtsstaatlichkeit bald durch. (1) Das Preußische StGB von 1851, das am 1. Juli dieses Jahres in Kraft trat, verankerte in seinem § 2 (oben, Rdnr. 19) expressis verbis das Gebot der lex praevia. Ergänzend normierte Art. IV seines Einführungsgesetzes die Rückwirkung für die milderen Bestimmungen des neuen Strafgesetzbuches mit den Worten: „Die Strafbarkeit einer Handlung, welche vor dem l.Juli 1851 begangen ist, wird nach den bisherigen Gesetzen beurtheilt. Ist aber 180

Zitiert nach Schreiber,

Gesetz und Richter, S. 118 f.

59

62 eine solche Handlung in dem gegenwärtigen Strafgesetzbuche mit keiner Strafe, oder mit einer gelinderen als der bisher vorgeschriebenen, bedroht, so soll diese Handlung nach dem gegenwärtigen Strafgesetzbuche beurtheilt werden". Damit enthielt das Preußische StGB von 1851 der Sache nach bereits dieselbe Regelung, wie sie heute in § 1 i. V. m. § 2 III StGB verankert ist. (2) Auch § 2 des StGB für das Deutsche Reich von 1871 (dazu oben, Rdnr. 20) normierte das Verbot rückwirkender Strafbegründung bzw. -schärfung und schrieb die Rückwirkung strafmildernder Gesetze vor. 60 j) Karl Binding Wie ausgeführt (Rdnr. 21) beklagte er die „Tyrannei des Satzes nulla poena sine lege"; dabei stellte er die sachliche Berechtigung des Rückwirkungsverhots weitgehend in Frage: (1) Binding meinte, das Gebot der lex praevia sei Ausfluß der „psychologischen Zwangstheorie" v. Feuerbachs; diese aber sei überholt, und mithin sei auch jenes Gebot „hinfällig"181. Dem ist entgegenzuhalten: Unbeschadet der möglichen Fragwürdigkeit der Feuerbach'schen Straftheorie kann nicht hinwegdisputiert werden, daß die generalpräventive Funktion des Strafrechts einer der Rechtsgründe für das Postulat der lex praevia istni. (2) Weiterhin führte Binding aus, der Aspekt der Gewaltenteilung spreche nicht etwa für ein Rückwirkungsí>er¿o£, sondern müßte konsequenterweise ein unbedingtes Rückwirkungsge^oi zur Folge haben183. Auch dieser Begründung ist zu widersprechen (vgl. oben, Rdnr. 53). (3) Seine grundsätzliche Ablehnung des Gebots der lex praevia leitete Binding aus der von ihm vertretenen „Normentheorie" ab; eine nähere Darlegung dieser Lehre ist hier nicht möglich, nur soviel sei gesagt:

181 182

183

Handbuch, S.21, 25, 27. Ebenso u.a. Eser in: Schönke/Schröder, 163; Scbünemann, S.24. Handbuch, S.25, 231 Anm.4.

§ 2 Rdnr. 1; Maurach/Zipf,

S. 162 a.E.,

63

Sie sieht das Verbrechen nicht als Mißachtung des Strafgesetzes, sondern als Verstoß gegen die Norm als eines Rechtssatzes, sei er geschrieben oder ungeschrieben, „der von dem Strafgesetz fundamental verschieden ist"m. Normen seien Verbote oder Gebote, die nicht gesetzlich formuliert sein müßten, sondern vielfach als „Erbschaft von Jahrtausenden jedermann geläufig sind"; sie seien „nie Teile der Strafgesetze und nie Sätze des Strafrechts"185. Die Strafbefugnis des Staates gegenüber dem Delinquenten nun werde durch den Normverstoß begründet, nicht durch die „ihm vielleicht gewidmete Strafdrohung "18\ Folglich sei bei einem Verstoß gegen Normen rückwirkende Strafbegründung zulässig, zudem namentlich rückwirkende Strafschärfung187. Zu letzterer schreibt Binding: „Nur ein überreiztes Mitgefühl mit dem Verbrecher erkennt lediglich im milderen Gesetz den Fortschritt; ein kräftiges Staatsgefühl begrüßt es dagegen mit derselben Genugtuung, wenn der Staat durch schärfere Bedrohung eingewurzelten Unfugs sich aus früherer Mattherzigkeit und Schwäche aufrafft"188. Anders als Strafgesetzen dürfte den Normen keine rückwirkende Kraft zukommen; daraus folge: Wenn ein neues Strafgesetz (ausnahmsweise) „zugleich die Aufstellung einer neuen Norm bedeute, wenn es also eine bisher unverbotene oder in ihrer Rechtswidrigkeit zweifelhafte Handlung unter Strafe ziehe, so könne das Strafgesetz nur auf nach seinem Inkrafttreten begangene Handlungen Anwendung finden. Nicht aber wegen des Satzes: nulla poena sine lege, sondern vielmehr, weil keine Handlung ohne ihr voraufgehende Norm Delikt, und weil nur ein solches straffähig sei"189. Bindings Kritik des Satzes „nullum crimen, nulla poena sine lege" 61 im allgemeinen und des strafrechtlichen Rückwirkungsverbotes im besonderen beruht letztlich auf zwei Gründen:

184

Handbuch, S. 155 ff - weiterverweisend auf Binding, tretung, Bd. 1, 1872, Bd. 2, 1877 - .

185

Handbuch, S. 159, 162. aaO, S. 236. S. 236 ff. S. 239. Binding, Handbuch, S.237.

186 187 188 189

Die Normen und ihre Über-

64 Erstens auf seiner Verkennung der konstitutiven Bedeutung des Strafgesetzes für den Strafanspruch des Staates (1). Zweitens auf dem Fehlen des rechtsstaatlich-liberalen Gesichtspunktes „Schutz der Bürger vor obrigkeitlicher Willkür" durch Herrschaft des Gesetzes, verstanden als lex praevia, in seinem Rechtsdenken (2). Zu (1): Wenn Binding das Verbrechen nicht als Verletzung des Strafgesetzes, sondern als Verstoß gegen ungeschriebene oder geschriebene Normen versteht und die Strafbefugnis des Staates aus dem Normverstoß herleitet, nicht aus der möglicherweise bestehenden gesetzlichen Strafdrohung (vgl. oben), so ist dem entgegenzuhalten: Nicht jede Rechtsverletzung begründet eine Strafbefugnis des Staates. Vielmehr kommt eine solche angesichts des Charakters des Strafrechts als ultima ratio im System staatlicher Sozialkontrolle190 nur in Frage, wenn die Kriminalstrafe „das einzige Mittel darstellt, um das als sozialschädlich erkannte Verhalten zu unterbinden"191, d.h. wenn weniger einschneidende staatliche Maßnahmen der Sozialkontrolle keinen hinreichenden Rechtsgüterschutz versprechen. Diesem Gesichtspunkt des Strafbedürfnisses, nach dem der Strafgesetzgeber aus der Fülle von Verboten und Geboten (Normen) des öffentlichen Rechts und Zivilrechts solche auswählt, die er strafbewehrt, wird Binding nicht gerecht. Darüberhinaus mißachtet er auch den Aspekt der Strafwürdigkeit192, der besagt: Nicht jedes Unrecht kann Strafe zur Folge haben; vielmehr ist strafwürdig nur solches widerrechtliche Verhalten, das schwerwiegende Beeinträchtigungen der sozialen Ordnung beinhaltet. Strafwürdigkeit verlangt also einen „erhöhten Grad an Rechtswidrigkeit", den man als Strafunrecht bezeichnet193. Wenn nun der Strafgesetzgeber gemäß den Prinzipien von Strafbedürfnis und Strafwürdigkeit nur einen Teil der Rechtsnormen strafbewehrt194, kann angesichts dieser konstitutiven Funktion des Strafge-

·*> BVerfG E 39, 1, 47; Günther, JuS 1978, 8, 11 m. w . N . 1.1 Günther aaO. 1.2 Dazu Günther aaO, S. 12f m. w . N . 1.3 Siehe grundlegend Günther, Strafrechtswidrigkeit und Strafunrechtsausschluß, § 15 VI, § 16 und öfter. 1.4 Vgl. Günther, JuS 1978, S. 12 f.

65 setzes nicht der Verstoß gegen eine ungeschriebene oder geschriebene Rechtsnorm, sondern allein der gegen das Strafgesetz Anknüpfungspunkt für die Strafbefugnis des Staates sein. Zu (2): Wie bereits erwähnt (Rdnr.21) kam bei Binding der rechtsstaatlich-liberale Gehalt des „nulla-poena-Prinzips" im allgemeinen und des Rückwirkungsverbots im besonderen zu kurz. Angesichts der Dominanz rechtsstaatlichen Denkens im Deutschland seiner Zeit blieb seine Schelte des strafrechtlichen Gebots der lex praevia daher weitgehend ohne Resonanz. k) Art. 116 Weimarer Verfassung von 1919

62

Durch diese Vorschrift, die den strafrechtlichen Gesetzesvorbehalt verfassungsrechtlich verankerte (oben, Rdnr. 23), war das Verbot rückwirkender Strafbegründung expressis verbis garantiert. Doch war wegen der Formulierung „wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war . . . " strittig, ob jene Verfassungsnorm auch das Verbot rückwirkender Strafschärfung enthielt. Diese Frage wurde vereinzelt verneint™, dagegen von der h. A. bejahtm. I) NS-Zeit (1933-1945)

63

Die Auflösung des strafrechtlichen Gesetzesvorbehalts während des „Dritten Reiches" begann mit der Preisgabe des Verbots rückwirkender Strafbegründung und -schärfung durch die „lex van der Lübbe" (1933); auch in der Folge wurde immer wieder bei Strafgesetzen zum Nachteil des Täters Rückwirkung angeordnet. - Dazu oben, Rdnr. 24 ff, 29. m) Die Durchbrechung des Rückwirkungsverbots durch die Siegermächte im Kontrollratsgesetz Nr. 10 von 1945 (1) Bekanntlich haben die Siegermächte die Aburteilung von „NSVerbrechern" zunächst in eigener Regie durchgeführt, und zwar unter Anwendung rückwirkender Strafgesetze:

1,5

So etwa von Gerland, S. 368 ff; Kohlrausch, § 2 Anm. 1. So u.a. Anschütz, Art. 116 Anm. 1; v. Hippel, Bd.2, S . 3 4 f , 63; v. Liszt/Schmidt, S. 111 Anm. 3.

64

66 Die Anklage gegen die sog. „Hauptkriegsverbrecher" - Göring, Hess, Keitel u. a. vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg197 war gestützt auf das dem Londoner „Abkommen über die Bestrafung der Hauptkriegsverbrecher der europäischen Achse" vom 8. 8.1945 beigefügte Statut; dieses enthielt Straftatbestände über Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit198. Die Bestrafung weiterer NS-Verbrecher erfolgte dann gemäß dem oben (Rdnr. 34) erwähnten Kontrollratsgesetz (KRG) Nr. 10 in den einzelnen Besatzungszonen durch Gerichte der jeweiligen Besatzungsmächte199. Daß die Siegermächte durch Besatzungsgerichte die Abrechnung mit dem NS-Regime mittels rückwirkenden Besatzungsrechts durchführten, ist in Deutschland von vielen als rechtsstaatlich fragwürdig empfunden worden: Konnte man dies Vorgehen der Alliierten als gerechte Strafrechtspflege bewerten, oder ging es eher um ein rein politisches Geschäft i.S. von Rache nach dem Motto „vae victis!" (wehe den Besiegten!)? (2) An der Aufgabe der Vergangenheitsbewältigung mit den Mitteln des Strafrechts wurden aber früh schon deutsche Gerichte beteiligt; das K R G Nr. 10 bestimmte nämlich in Art. III: „Für die Aburteilung von Verbrechen, die deutsche Staatsbürger oder Staatsangehörige gegen andere deutsche Staatsbürger oder Staatsangehörige oder gegen Staatenlose begangen haben, können die Besatzungsbehörden deutsche Gerichte für zuständig erklären".

197

Eingehende Nachweise dazu bei Jescheck, Lehrbuch, S. 94 - In Analogie zum Nürnberger Gerichtshof wurde 1946 das "International Military Tribunal for the Far East (Tokyo)" eingesetzt. Auch hier ging es um die Aburteilung von "crimes against peace", "war crimes" und "crimes against humanity", und zwar aufgrund rückwirkender Strafvorschriften.

Hierzu, sowie zur Kritik daran, vgl. Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, 2. Bd., 2. Aufl. 1969, S. 261 ; v. Glahn, Law Among Nations, 4. Aufl. 1981, S. 769; Minear, Victors' Justice. The T o k y o War Crimes Trial, 1971 ; Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, 1976, S. 227. 1,8 Dazu Jescheck, Lehrbuch, S . 9 4 f ; Rückerl, S . 2 5 f f ; Thiele, S. 59 ff. "» Vgl. Rückerl, S.27ff.

67 Von dieser Ermächtigung wurde namentlich in der britischen und französischen Besatzungszone Gebrauch gemacht, was zur Verurteilung von NS-Tätern in Anwendung der Strafvorschriften des KRG Nr. 10 über Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die,Menschlichkeit durch deutsche Strafgerichte führte200. Damit war die deutsche Strafjustiz schon bald nach dem Ende der NS-Herrschaft erneut durch positives Recht in die Pflicht genommen, aufgrund rückwirkender Gesetze zu bestrafen. Ungeachtet der Kritik an dieser Durchbrechung des Rückwirkungsverbots - die in Deutschland zwar vielfach geäußert, seinerzeit aber selten veröffentlicht wurde201 ging die in Rechtsprechung und Lehre h. M. davon aus, die Rückwirkung der Strafvorschriften des KRG Nr. 10 sei erstens positivrechtlich wirksam, stehe zweitens nicht in Widerspruch zu „rechtlichen Grundüberzeugungen aller zivilisierten Völker " und sei drittens auch gerecht: (a) Was den ersten Punkt angeht, wurde darauf verwiesen, der 65 Alliierte Kontrollrat übe die oberste Staatsgewalt (supreme authority) in Deutschland aus und habe demgemäß eine uneingeschränkte Gesetzgebungsgew alt2"1. Und die jeweilige Militärregierung der einzelnen Besatzungszonen sei dort im Rahmen der Kontrollratsbestimmungen Träger der uneingeschränkten Staatsgewalt einschließlich der Gesetzgebungskompetenz203. Folglich sei das Gesetz Nr. 10 des Kontrollrats i.V.m. den Rechtsakten der Militärregierungen, die seine Anwendbarkeit durch die deutschen Strafgerichte in ihren Besatzungszonen vorschrieben - für die britische Besatzungszone war dies durch die Verordnung Nr. 47 der britischen Militärregierung geschehen - , als Besatzungsrecht für die deutschen Richter wirksames, sie bindendes positives Recht. 2M 201 202

203

Dazu Lange, Sp.302ff; Rückerl, S.35ff. Eine Ausnahme bildete u.a. der Aufsatz v. Hodenbergs, SJZ 1947, Sp. 120ff. LG Konstanz, SJZ 1947, Sp.337ff; OLG Köln, NJW 1947/48, 70f; OGH Stl, 1, 4 f ; Graveson, MDR 1947, 278 ff; Kiesselbach, MDR 1947, 2 ff. OLG Hamburg, MDR 1947, 241 ff.

68 66

(b) Zum zweiten Punkt wurde hervorgehoben, ein Verbot der Rückwirkung strafbegründender und -schärfender Gesetze sei nicht „Gemeingut aller zivilisierten Völker"™. Vielmehr sei ein solches Verbot namentlich dem englischen Strafrecht fremd; dazu führte der britische Jurist Graveson™ aus: Soweit das englische Strafrecht auf common law beruhe, sei für den Satz „nullum crimen, nulla poena sine lege" einschließlich des Rückwirkungsverbots kein Raum. Aber auch im Bereich des statute law gebe es kein solches Verbot. Zwar sei es u. a. auf das Rechtsdenken englischer Juristen der Aufklärungszeit zurückzuführen, daß in den nordamerikanischen Verfassungen des 18.Jahrhunderts ein Rückwirkungsverbot für strafbegründende bzw. -schärfende Gesetze verankert worden sei - vgl. oben, Rdnr. 54 - . In England selbst aber sei es nie dazu gekommen. Das sei keineswegs ein Zufall, sondern entspreche der „allgemeinen Tendenz des englischen Rechts", das sich stets große Zurückhaltung und Vorsicht bei der Aufstellung allgemeiner Rechtssätze auferlegt habe, „in der Erkenntnis, daß solche generellen Sätze bei der Mannigfaltigkeit der Lebensverhältnisse keine Gewähr für eine gerechte Regelung aller unter sie fallenden Tatbestände bieten und daher vielfach zu ungerechten Ergebnissen führen müssen". Freilich hielten auch die englischen Juristen rückwirkende Strafgesetze für „im Prinzip unerwünscht". Wenn ein Strafgesetz sich aber „in unzweideutiger Weise" rückwirkende Kraft beilege, müsse es nach englischem Recht auch rückwirkend angewandt werden206. Zur Unterstützung der These, die Rückwirkung des KRG Nr. 10 widerspreche keineswegs „allgemein anerkannten Rechtsprinzipien aller zivilisierten Staaten", wurde noch ergänzend hervorgehoben: Auch im Deutschland vor der NS-Zeit habe das Rückwirkungsverbot ungeachtet seines Verfassungsranges (Art. 116 Weimarer Verfassung) nicht unabdingbar gegolten; vielmehr „konnte es durch verfassungsänderndes Gesetz außer Kraft gesetzt werden"207. 204 205 206 207

LG Konstanz, Graveson und Kiesselbach aaO. Siehe Anm. 202. Vgl. dazu auch Bram-Friderici, S. 64 ff, 68 f. OLG Köln aaO; ebenso u.a. Graveson aaO, unter Berufung auf Wimmer, SJZ 1947, Sp. 123, 129.

69

(c) Daß die strafbegründende bzw. -schärfende Rückwirkung des 67 KRG nicht etwa der Rechtsidee widerspreche, sondern gerecht sei, wurde teils unter Rückgriff auf den Gesichtspunkt des „natürlichen Verbrechens", teils mit dem Vorrang der Gerechtigkeit vor der Rechtssicherheit begründet: Das OLG Köln208 meinte feststellen zu können: „Aus dem Wesen des Bösen folgt, daß ihm im Bereich des Sittlichen Strafe gebührt auch ohne besondere Strafdrohung. Was bei Begehung nach einheitlicher Bewertung aller Menschen sittlich schwer böse war und zu bestrafen den verpflichtenden Aufgaben eines Rechtsstaates zugehörte, kann der Staat auch noch rückwirkend unter Strafe stellen . . . der Staat verstößt damit keineswegs gegen einen ethischen Grundsatz, sondern stellt das Ideal einer Teilübereinstimmung von Ethos und Recht nachträglich her"209. In ähnlicher Weise argumentierte der Oberste Gerichtshof für die Britische Zone: „Rückwirkende Bestrafung ist ungerecht, wenn die Tat bei ihrer Begehung nicht nur nicht gegen eine positive Norm des Strafrechts, sondern auch nicht gegen das Sittengesetz verstieß. Bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist davon nicht die Rede. Nach der Auffassung aller sittlich empfindenden Menschen wurde schweres Unrecht begangen, dessen Bestrafung rechtsstaatliche Pflicht gewesen wäre. Die nachträgliche Heilung solcher Pflichtversäumnis durch rückwirkende Bestrafung entspricht der Gerechtigkeit"210. „Das, was das KRG Nr. 10 als Verbrechen gegen die Menschlichkeit unter Strafe stellt, war bereits zur Tatzeit nach der Auffassung aller sittlich empfindenden Menschen strafwürdig"211. „Das Schwurgericht erklärt ..., daß gegen die rückwirkende Kraft des KRG sehr erhebliche Bedenken sittlicher und rechtlicher Natur bestünden . . . Diese Haltung des Vorrichters ist befremdend . . . Es ist kaum begreiflich, wie der Vorrichter sittliche Bedenken empfinden kann, unmenschlich handelnde Täter nach einem Gesetz abzuurteilen, das gerade dazu bestimmt ist, die Grundsätze der Menschlichkeit und damit auch der Sittlichkeit wieder zur Geltung zu bringen.. ."212. 208 m 210

Siehe Anm. 207. Ebenso Wimmer, Sp. 127. OGH St 1, 1, 5.

211 212

OGH St 2, 231 f. OGH St 3, 134 f.

70 68

Auch im Schrifttum dominierte seinerzeit die Ansicht, die strafbegründende bzw. -schärfende Rückwirkung des K R G Nr. 10 sei nicht etwa rechtsstaatlich fragwürdig, sondern gerecht. Als Autoren, die für diesen Standpunkt eintraten, seien hier für alle Graveson, Kiesselbach, R. Lange, Radbruch und Wimmer angeführt: Lange meinte, das strafrechtliche Rückwirkungsverbot sei keine Forderung der Gerechtigkeit, sondern ein Postulat der Rechtssicherheit. Diese aber dulde „seltene Ausnahmen, wo die Gerechtigkeit als das höhere Ziel der Rechtsordnung sie unabweisbar gebiete"213. Ahnlich äußerte sich Wimmer: Der Satz „nullum crimen sine lege" diene der Rechtssicherheit, könne aber im Einzelfall der Gerechtigkeit abträglich sein. Beides seien „ethische Werte". Der Staat dürfe grundsätzlich der Rechtssicherheit durch die Herrschaft jenes Satzes den Vorrang geben. Es müsse aber „die Möglichkeit bestehen, ihn für den Fall einer zwingenden ethischen Verpflichtung des Staates im Ausnahmefall außer Kraft zu setzen"214. Graveson meinte, das „nullum-crimen-Prinzip" diene der Rechtssicherheit und der Gerechtigkeit; dies freilich nur „unter normalen Verhältnissen". Bei den NS-Verbrechen aber könne von solchen Verhältnissen keine Rede sein. Vielmehr sei ihre Bestrafung ein Gebot der Gerechtigkeit, zudem der Rechtssicherheit - letzeres im Hinblick auf die Erschütterung des Rechtsbewußtseins im deutschen Volk durch die Herrschaft der Nationalsozialisten - . Daher müsse bei der Aburteilung jener Verbrechen der Satz „nulla poena sine lege" zurücktreten215. Dem entsprechend führte Kiesselbach aus: „Wenn nach einer Zeit . . . nie dagewesenen Terrors Handlungen, deren verbrecherischer Charakter feststeht, bewußt straflos gelassen würden, so würde die Aufrechterhaltung eines zum Zwecke der Schirmung der normalen Staatsordnung geschaffenen Rechtsgedankens, wie der Satz „nulla poena" ist, nicht dem Recht dienen, sondern dem Unrecht"216. Radbruch hob zum einen hervor, das Humanitätsverbrechen gemäß dem K R G Nr. 10 sei kein Straftatbestand, noch nicht einmal dessen „Entwurf", sondern lediglich eine Ermächtigung an die Justiz

214

SJZ 1948, Sp. 303. SJZ 1947, Sp. 126, 128 f.

215 216

MDR 1947, 280. MDR 1947, 4.

71 zur „allmählichen Herausbildung eines solchen Tatbestandes". Hier könne das strafrechtliche Rückwirkungsverbot nicht gelten; denn es liege im Wesen des judge made law, zurückzuwirken217. Zum anderen sei in Wirklichkeit keine Rückwirkung gegeben, da der „Inhalt des angeblich zurückwirkenden Rechts" schon vorher, in freilich „nicht positiv gefaßter Form", als Naturrecht gegolten habem. (3) Auch nach Inkrafttreten des Art. 103 Abs. 2 GG wurde die 69 Rückwirkung des KRG Nr. 10 noch für verbindlich sowie gerecht gehalten und die Anwendbarkeit dieses Gesetzes von deutschen Gerichten weiterhin bejaht2". Das KRG Nr. 10 wurde erst durch das 1. Gesetz zur Aufhebung des Besatzungsrechts vom 30.5. 1956220 außer Kraft gesetzt. Doch endete seine Anwendbarkeit für deutsche Gerichte bereits 1950m; in der Folge konnten NS-Verbrechen von der Justiz der Bundesrepublik Deutschland nur noch nach deutschem Strafrecht abgeurteilt werden. Damit war die Herrschaft des strafrechtlichen Rückwirkungsverbots wiederhergestellt. 3. Analogieverbot a) Römisches Strafrecht Das Verbot strafbegründender bzw. -schärfender richterlicher Entscheidungen außerhalb des Rahmen bloßer Anwendung von nach ihrem Wortlaut und Sinn einschlägigen Strafgesetzen war dem römischen Recht fremd; ein Analogieverbot existierte nicht222: (1) Zwar war die Strafgewalt der Magistrate in der Republik zunächst durch das Zwölftafelgesetz (dazu Rdnr. 9) und später durch die „leges iudiciorum publicorum" (Rdnr. 35) eingeschränkt. Doch war die analoge Anwendung dieser Strafgesetze auf von ihrem Wort217 218 219 220 221 222

SJZ 1947, Sp. 133-135. aaO, Sp. 135 f. OGH St 2, 231 ff; 2, 361 ff; 3, 134 f. BGBl. I, 437. Jescheck, Lehrbuch S.95; Rückerl, S.41. So u.a. v.Hippel, Bd.2, S.33; Mommsen, S. 127; Wacke, JuS 1980, 204f m . w . N .

70

72 laut nicht erfaßte Fälle zulässig223. Zudem stand, wie ausgeführt (Rdnr. 35), neben der staatlichen Strafgewalt gemäß den Gesetzen die grundsätzlich freie Strafkompetenz der Magistrate (coercitio). (2) In der Kaiserzeit war dann namentlich die uneingeschränkte Gerichtsgewalt des Herrschers der Entwicklung eines strafrechtlichen Gesetzesvorbehalts hinderlich: Auf diese Gewalt gestützt kam es in wachsendem Umfang zur extraordinaria cognitio durch den Kaiser bzw. seine durch kaiserliche Delegation ermächtigten Amtsträger; diese Strafverfolgung war „weder an die vorhandenen Straftatbestände noch an bestimmte Strafarten gebunden"224 und führte zu crimina extraordinaria 225 . 71 b) Constitutio Criminalis Carolina

(CCC)

Obwohl es ihr Anliegen war, die „unfaßliche Rechtsunsicherheit und Willkür der deutschen Strafrechtspflege zu beseitigen" (oben, Rdnr. 10, 36), hat die C C C weder den Satz „nullum crimen sine lege" im allgemeinen noch das Analogieverbot im besonderen verankert226: Die C C C enthielt keine abschließende Regelung der Straftatbestände und Straftatfolgen, sondern sprach selbst von „unbenannten peinlichen feilen und straffen", die in Analogie zum „kaiserlichen Recht" und zur C C C entschieden werden sollten (Art. 105 C C C ; dazu oben, Rdnr. 10). Doch gebot die C C C in dieser Vorschrift den Richtern bzw. Urteilern die Einholung eines Rats (vgl. Rdnr. 10) und schloß dadurch die eigenmächtige Analogiebildung aus; damit sollten „Unwissenheit und Willkür der Schöffen" ausgeschaltet werden227. 72 c) Gemeines

Recht

Wie ausgeführt (oben, Rdnr. 11, 37) bedeutete die Epoche der Wissenschaft des gemeinen Strafrechts für die Idee der Gesetzesherr223 224 225

224

227

v. Hippel, aaO und Bd. 1, S. 65 Anm. 1 ; Mommsen aaO. Dulckeit/Schwarz/Waldstein, § 32 III 10. Vgl. v. Hippel, Bd. 1, S. 65 ff, 77; Meyer!Allfeld, S. 48-50; Mommsen, S.130; 194-196, 262, 1039. Binding, Handbuch, S. 19; v.Hippel, Bd.l, S. 177 mit Anm. 6; Radbruch/Kaufmann, S. 14, 140; Schreiber, Gesetz und Richter, S.26f. v. Hippel aaO.

73 schaft im Kriminalrecht einen Rückschritt. Gerade von der Anerkennung eines Verbots strafbegründender bzw. -schärfender gesetzesergänzender Lückenfüllung durch die rechtsprechende Gewalt war man weit entfernt; dies zeigt die dargelegte Entwicklung von crimina extraordinaria und poenas arbitrarias228. d) Aufklärung

(Montesquieu, Beccaria)

Das strafrechtliche Analogieverbot wurzelt im aufklärerischen Rechtsdenken namentlich Montesquieus und Beccarias: (1)

Montesquieu

Wie gezeigt war er einer der geistigen Väter des Gesetzesvorbehalts im Strafrecht, wobei es ihm entscheidend um den Schutz des Bürgers vor richterlicher Willkür ging (oben, Rdnr. 13, 38): Im Kriminalrecht sollte allein das Gesetz herrschen und dem Richter lediglich die Bedeutung seines „Sprachrohrs" zukommen; damit verstand sich das Verbot strafbegründender bzw. -schärfender richterlicher Rechtsfindung über den Rahmen bloßer Gesetzesanwendung hinaus von selbst. (2) Beccaria Wie Montesquieu postulierte auch er die unbedingte Gesetzesherrschaft im Strafrecht, wobei er in seinem tiefen Mißtrauen gegen die Strafjustiz so weit ging, ihr sogar die Gesetzesauslegung verbieten zu wollen (vgl. Rdnr. 13). Dies Mißtrauen drückte Beccaria dabei recht drastisch aus: Ließe man die Auslegung zu, so sei die Rechtsanwendung abhängig von guter oder schlechter Laune, guter oder schlechter Verdauung des Richters u. ä. Faktoren229. (3) Resümee: Montesquieu und Beccaria postulierten einen strafrechtlichen Gesetzesvorbehalt in dem Sinne, daß dem Strafrichter keinerlei rechtsm

Dazu oben, Rdnr. 37; siehe auch Schaffstein, S. 39 ff. ' Vgl. bei Krey, Studien, S. 56 f m. w. N.

22

73

74 schöpferische Funktion bei Strafbegründung bzw. -schärfung zukommen sollte, sondern lediglich die Rolle eines „Subsumtionsautomaten"2i°. 74 e) Josephina und ALR (1) Josephina (1787) Diesem Strafgesetzbuch gebührt das Verdienst, in seinem Teil I § 1 (abgedruckt oben, Rdnr. 14) die erste gesetzliche Anerkennung des Analogieverbots verankert zu haben231. Dabei beruhte diese Beschränkung der Richtermacht in erster Linie auf dem absolutistischen Interesse des Souveräns, seinen legislatorischen Willen an Stelle richterlicher Willkür herrschen zu lassen (dazu Rdnr. 7, 14, 39); in zweiter Linie spielte aber bereits die aufklärerische Idee des Gesetzesvorbehalts als Freiheitsgarantie eine Rolle (aaO). Jenes Analogieverbot wurde mit einer strikten Bindung an den Buchstaben des Gesetzes gekoppelt; dazu bestimmte Teil I § 13 der Josephina: „Der Kriminalrichter ist an die buchstäbliche Beobachtung des Gesetzes gebunden, so weit in demselben auf die Missetat die Größe und Gattung der Strafe genau und ausdrücklich bestimmt ist. Es ist ihm bei strenger Verantwortung die gesetzmäßig vorgeschriebene Strafe weder zu lindern noch zu verschärfen erlaubt. Noch weniger ist er berechtigt, die Gattung der Strafe zu ändern oder die Bestrafung gegen eine Ausgleichung zwischen dem Verbrecher oder dem Beschädigten ganz aufzuheben"232. Gemäß dieser Vorschrift waren poenae arbitrariae ausgeschlossen, gemäß Teil I § 1 waren crimina extraordinaria verboten; beide Vorschriften statuierten in ihrem Zusammenspiel für Strafbegründung und -schärfung ein Analogieverbot.

250 231

232

Krey aaO m.w.N. Zur Bedeutung des § 1 als Analogieverbot siehe u.a. Kohlmann, S. 181; Krey, Studien, S.208; Küper, S.62; Eb. Schmidt, S. 256; Schreiher, Gesetz und Richter, S.77; vgl. auch Conrad, S. 65 ff. Fundstelle: Siehe Anm. 175.

75 (2) ALR von 1794 Das ALR (dazu Rdnr. 4, 8) räumte zwar den Richtern die Befugnis zur gesetzesergänzenden Lückenfüllung mittels Analogie ein, indem es in § 49 der Einleitung bestimmte: „Findet der Richter kein Gesetz, welches zur Entscheidung des streitigen Falles dienen könnte, so muß er . . . nach den in dem Gesetzbuche angenommenen allgemeinen Grundsätzen, und nach den wegen ähnlicher Fälle vorhandenen Verordnungen, seiner besten Einsicht gemäß, erkennen". Diese Analogieermächtigung war aber im Geltungsbereich des in § 9 II. Teil 20. Titel des ALR (abgedruckt Rdnr. 14) verankerten strafrechtlichen Gesetzesvorbehalts ausgeschlossen; ihm kam nämlich gerade auch die Bedeutung eines Analogieverbots zu233: Sowohl der absolutistische Machtanspruch des Souveräns wie auch die aufklärerische Idee der Gesetzlichkeit als Freiheitsgarantie führten dazu, die Strafbarkeit vom Gesetz und nicht von Richterrecht abhängig zu machen (vgl. oben, Rdnr. 8, 14). f ) Das Analogieverbot

in Gesetzen der französischen Revolutionszeit

Wie gezeigt, normierte die französische Menschenrechtserklärung von 1789 in Art. 7 und 8 den Satz „nullum crimen, nulla poena sine lege" (dazu Rdnr. 15). Auch weitere Gesetze der französischen Revolutionszeit enthielten das nullum-crimen-Prinzip 234 . Hierbei verband man die Verankerung des strafrechtlichen Gesetzesvorbehalts mit der Forderung nach einer strikten Bindung der Strafjustiz an den Buchstaben des Gesetzes (oben, Rdnr. 42). Das damit statuierte Analogieverbot sollte dem Schutz des Bürgers vor richterlicher Willkür dienen (vgl. Rdnr. 15); das Mißtrauen gegenüber der Strafjustiz war dabei so stark, daß ihr unter Einführung des référé législatif - bei Zweifeln über den Sinn des Gesetzes sollte die Rechtsprechung die „Gesetzgebungskommissionen" anrufen in Gesetzen der Revolutionszeit sogar die Auslegung verboten wurde255. 233

234 235

So u.a. v. Hippel, B d . l , S.277, 286; Kohlmann, S.185; Krey, Studien, S.208f; Schreiber, Gesetz und Richter, S. 88 ff. Nachweise u. a. bei Schreiher aaO, S. 67 f. Krey aaO, S. 57 m. w. N.

75

76 76 g) Code Pénal Napoleons (1810) Dieses StGB garantierte in Art. 4 den Satz „nullum crimen, nulla poena sine lege" im allgemeinen (oben, Rdnr. 16) und das strafrechtliche Analogieverbot im besonderen. 77 h) v. Feuerbach Wie ausgeführt, war v. Feuerbachs Eintreten für das Prinzip „nulla poena sine lege" maßgeblich mitgeprägt durch den Gesichtspunkt „Schutz der Bürger vor richterlicher Willkür" (oben, Rdnr. 17); er sprach sogar von seinem „Haß" auf die Praxis, „dieser Stütze blinder Willkür"2*. Aber sein Mißtrauen gegen die Strafjustiz ging nicht so weit, daß er ihr die Gesetzesauslegung verwehren wollte; vielmehr gestand er dem Richter das Recht der Auslegung „nach dem Sprachgebrauch und nach dem Zusammenhang der Worte, der Sätze und der verschiedenen Verordnungen" zu237. Dagegen seien dem Strafrichter „alle Arten analogischer Anwendung des Gesetzes" untersagtm. 78 i) Bayerisches StGB von 1813 Diese strafrechtliche Kodifikation verankerte unter dem Einfluß v. Feuerbachs in Art. 1 den Satz „nulla poena sine lege" (vgl. oben, Rdnr. 18) im allgemeinen und das strafrechtliche Analogieverbot im besonderen23': Der Strafrichter sollte strikt an den Buchstaben des Gesetzes gebunden sein (dazu oben, Rdnr. 18). 79 j) Die Durchsetzung des Analogieverbots

im 19. Jahrhundert

(1) Preußisches StGB von 1851 (a) Trotz des starken Einflusses v. Feuerbachs und des „Strafgesetzbuchs für das Königreich Baiern" v. 1813 gab es in der wissenschaftlichen Diskussion im Deutschland der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch immer Stimmen, die für die Zulassung strafbeSiehe bei v. Hippel, Bd. 1, S.291 Anm.5. v. Feuerbach, Kritik II, S.23ff; dazu Kohlmann, S. 190; Schreiber aaO, S. 109f. 235 v. Feuerbach, Kritik aaO; Kohlmann und Schreiber aaO. 2" Eb. Schmidt, S. 264. 234 257

77

gründender Gesetzesanalogie eintraten240; doch dominierte die Auffassung, solche Analogie sei auszuschließen. (b) Auch in den Partikularstrafgesetzbüchern, die in Deutschland nach dem bayerischen StGB von 1813 und vor dem preußischen von 1851 in Kraft traten, wurde vereinzelt die Gesetzesanalogie zum Nachteil des Täters erlaubt241; überwiegend wurde die strafbegründende bzw. -schärfende Gesetzesanalogie aber verboten. (c) Entscheidend für die Durchsetzung des Analogieverbots wurde die Anerkennung des Satzes „nullum crimen, nulla poena sine lege" in § 2 des Strafgesetzbuchs für die Preußischen Staaten von 1851 (siehe oben, Rdnr. 19). - Zur Normierung des „nulla-poena-Prinzips" in der Verfassungsurkunde für Preußen von 1850 vgl. Rdnr. 16 - . Die Gesetzesfassung jenes § 2 StGB war gerade u. a. zu dem Zweck gewählt worden, die Analogie auszuschließen242. Demgemäß wurde diese Vorschrift auch ganz überwiegend als Analogieverbot verstanden243; hierzu führte Goltdammerw aus: „Die Ausschließung der Analogie umfaßt hiernach sowohl die Rechts- als auch die Gesetzes-Analogie, d. h. also nicht allein diejenige, welche aus dem Geiste der ganzen Gesetzgebung, sondern auch die, welche aus dem Grunde ihrer einzelnen Bestimmungen Regeln für die strafrechtliche Behandlung einzelner durch dieselbe nicht ausdrücklich betroffener Fälle schöpft. Sie beschränkt sonach das richterliche Urtheil lediglich auf die allgemeinen Interpretationsregeln. Diese gestatten aber sowohl die grammatische als die logische Interpretation, also die Auslegung nach Wortlaut und Sinn der einzelnen Vorschriften". (2) Reichsstrafgesetzbuch

von 1871

Mit § 2 Abs. 1 dieses StGB (dazu oben, Rdnr. 20) war das Analogieverbot im gesamten Deutschen Reich durchgesetzt: 240 241

242 243

244

Nachweise bei Schreiber, Gesetz und Richter, S. 121 ff, 131-140. Dazu Naucke, Die Aufhebung des strafrechtlichen Analogieverbots 1935, S.97; Schreiber aaO, S. 156 ff. Vgl. Goltdammer, S. 53-56. So u. a. Goltdammer aaO; Oppenhoff, Das StGB für die Preußischen Staaten, § 2 Anm. 1. aaO, S. 55.

80

78 (a) Zwar bezog sich Bindings herbe Kritik der „Tyrannei des Satzes nulla poena sine lege" (oben, Rdnr. 21) namentlich auch auf das Analogieverbot; hierzu führt er aus: „Wer indessen Verständnis für das Verbrecherleben und dafür besitzt, daß die Gesetzgebung demselben nicht in alle Schlupfwinkel zu folgen vermag, wer empfindet, was es heißt, schwere Misstaten blos in Ermangelung des Gesetzesbuchstabens straflos zu lassen, der muß dem Richter die Verurteilung auf Grund der Analogie nicht nur freigeben, sondern sie von ihm fordern"245. Binding ergänzte seine herbe Schelte des Analogieverbots als „unwürdiger Fessel" aber durch ein klares Bekenntnis zu seiner Verbindlichkeit kraft gesetzlicher Anordnung; jenes Verbot sei geltendes Recht, und dem habe man sich de lege lata „einfach zu fügen"246. Folglich dürfe keine Handlung, deren Strafbarkeit die Auslegung des Strafgesetzes nicht ergebe, „per analogiam" unter Strafe gezogen werden247. (b) Ebenso wie von Binding wurde § 2 des Reichsstrafgesetzbuchs auch von Rechtsprechung und h. L. in dem Sinne als Analogieverbot verstanden, daß die richterliche Ausdehnung der Strafbarkeit auf analoge, nicht vom Wortlaut des gesetzlichen Deliktstatbestandes erfaßte, Fälle ausgeschlossen sei248. Anders als Binding sahen Reichsgericht und h. L. aber im Analogieverbot keine „unwürdige Fessel" der Richtermacht, die de lege ferenda zu beseitigen sei, sondern eine rechtsstaatliche Schranke zum Schutze der Freiheit des einzelnen249. 81 k) Art. 116 Weimarer Verfassung von 1919 Wie ausgeführt (Rdnr. 23) war strittig, ob diese Verfassungsnorm in gleicher Weise wie § 2 Reichsstrafgesetzbuch auch die Strafdrohung umfaßte, d. h. den Satz „nullum crimen sine lege" und den Satz 245 246 247 248

249

Handbuch, S.28. aaO. Handbuch, S.218. So u.a. RG St 29, 111, 116; 32, 165, 185; 62, 369, 372f; Frank, § 2 Anm.I 2; v. Hippel, Bd. 2, S. 36-39; Meyer/Allfeld, S. 91 ff; v. Liszt, Lehrbuch, 21./22.Aufl. 1919, S. 86; v. Liszt/Schmidt, S. 110, 112 f mit Anm.6; Oppenhoff, Das StGB für das Deutsche Reich, § 2 Anm. 3. So u.a. v.Hippel, Meyer/Allfeld und v. Liszt/Schmidt aaO.

79 „nulla poena sine lege" garantierte. Bejahte man diese Frage, so galt das Analogieverbot des Art. 116 WV250 sowohl für straßegründende wie auch für strafschärfende richterliche Entscheidungen. Verneinte man dagegen jene Frage, so mußte man konsequenterweise annehmen, mit Verfassungsrang (Art. 116) sei nur die strafbegründende Analogie untersagt, während die strafschärfende allein einfachgesetzlich (§ 2 Abs. 1 StGB) ausgeschlossen sei. I) NS-Zeit Die Auflösung des strafrechtlichen Gesetzesvorbehaltes im allgemeinen und die Aufhebung des Analogieverbots im besonderen ist oben (Rdnr.24ff, 30, 3Iff) dargelegt worden. Bei der Bewertung der NS-Analogienovelle von 1935 sollte man im übrigen folgendes beachten: (1) Die durch sie erfolgte Zulassung strafbegründender und schärfender Gesetzesanalogie (dazu oben, Rdnr. 30 m. w. N.) ist zwar unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten zu mißbilligen. Doch ist dieser Verlust an Rechtsstaatlichkeit, ordnet man ihn ein in den allgemeinen Niedergang der Rechtsidee im Dritten Reich - dazu oben, Rdnr. 24 bis 32251 gewiß keiner der gravierendsten gewesen. Auf der anderen Seite aber erscheint es verfehlt, wenn Naucke252 die Analogienovelle insoweit als einen „eher belanglosen Vorgang" bezeichnet. (2) Die Forderung nach Gestattung strafbegründender bzw. -schärfender Gesetzesanalogie, d.h. Anwendung eines zwar nicht nach seinem Wortsinn, aber nach seiner ratio einschlägigen Gesetzes, ist auch nach v. Feuerbach nie verstummt (zu entsprechenden Tendenzen in der ersten Hälfte des ^ . J a h r hunderts vgl. oben, Rdnr. 79; zu Binding siehe oben, Rdnr. 21, 80; in den zwanziger Jahren trat namentlich Exner253 als Kritiker des Analogieverbots hervor). 250

251

252 253

Anschütz, Art. 116 A n m . 4 ; v. Hippel, B d . 2 , S . 3 4 f , 3 6 - 3 9 ; v. Liszt/Schmidt aaO, mit Anm. 3 a. E. Eingehend jetzt Naucke, Die Aufhebung des strafrechtlichen Analogieverbots 1935, S. 79 ff. aaO, S. 91. S. 39 ff.

82

80

Und nicht zuletzt hat jene Forderung ungeachtet der fast allgemeinen Ablehnung der NS-Analogienovelle in der Nachkriegszeit zahlreiche Anhänger gefunden™. Daher hat Naucke2ii nicht ganz Unrecht, wenn er feststellt: Es sei kaum möglich, die Wiederherstellung des Analogieverbots nach 1945 als „Wiedereinführung einer reinen Lehre" zu werten, „die nur zeitweise unterdrückt worden war" - in der Tat verstand sich auch außerhalb der Epoche des Dritten Reichs (1933-45) im 19. und 20. Jahrhundert das freiheitlich-rechtsstaatliche Postulat „Analogieverbot" nie von selbst. Und doch ist Naucke mit Nachdruck zu widersprechen, wenn er sich zu der Formulierung versteigt25': „Vielleicht ist die Auffassung nicht zu umgehen, daß das Strafrecht des 19. und 20. Jahrhunderts eine durchgehende Neigung zur Perversion hat." Bei solcher Mißdeutung der rechtsstaatlichen Entwicklung des Strafrechts seit v. Feuerbach wird völlig verkannt, daß die Gegner des Analogieverbots seit dem bayerischen StGB von 1813 bis zur Hitlerzeit stets in der Defensive waren und auch heute, nach jenen furchtbaren 12 Jahren von Willkürherrschaft, keineswegs dominieren. Insoweit bedeutete die NS-Analogieermächtigung von 1935 entgegen Naucke in der Tat einen Bruch in einer freiheitlich-rechtsstaatlichen Tradition. 83 πι) Analogieverbot

und die Gesetzgebung

der

Siegermächte

Wie dargelegt, haben die alliierten Siegermächte die NS-Analogienovelle von 1935 aufgehoben und das Analogieverbot wiedereingeführt (Rdnr. 33).

84 4. Bestimmtheitsgebot a) Römisches

Strafrecht

Ungeachtet der in den leges iudiciorum publicorum (oben, Rdnr. 35) enthaltenen Ansätze zur Schaffung „bestimmter", d. h. 254 255 256

Nachweise bei Krey, Studien, S. 49-52; Naucke aaO, S. 76 f, 96 ff. aaO, S. 78.

aaO, S. 103.

81 hinreichend klar umschriebener, Strafgesetze war das Bestimmtheitsgebot dem römischen Strafrecht fremd257: (1) Zahlreiche seiner Strafbestimmungen waren durch einen Mangel an Klarheit, an Bestimmtheit des Straftatbestandes geprägt; als Beispiele seien namentlich das crimen iniuriae und das crimen maiestatis genannt: (a) crimen iniuriae Die Straftat „iniuria" erfaßte Persönlichkeitsverletzungen in dreifacher Beziehung: Erstens Körperverletzungen; zweitens Ehrverletzungen; drittens Mißachtungen der Rechtsstellung eines Bürgers. Dies crimen war in seinen Schranken unbestimmt, und sein Anwendungsbereich erscheint uferlos, bedenkt man, daß als „iniuria" etwa die „Verleitung von Freien bzw. Unfreien zu unsittlichem Lebenswandel", die „unschickliche Begleitung (ehrbarer Frauen) auf öffentlichen Wegen", die „Nichtanerkennung der Freiheit des Bürgers oder ständischer Privilegien" angesehen wurden258. (b) crimen maiestatis - In der Republik sprach man vom „crimen imminutae maiestatis", in der Kaiserzeit vom „crimen laesae maiestatis"259 - . Dieser Straftatbestand war gänzlich unbestimmt. Und wegen seiner völligen Konturenlosigkeit bot er sich gewissermaßen dazu an, als Waffe im Kampf gegen politische Gegner mißbraucht zu werden: Bereits zur Zeit der Republik, und zwar während der römischen Revolution, wurde die Anklage wegen crimen maiestatis „zum beliebten politischen Kampfmittel" 260 . Namentlich in der Kaiserzeit hat man den Vorwurf des Majestätsverbrechens dann vielfach als Mittel des „Terrors im Gewände des Strafrechts" eingesetzt261. (2) Das crimen iniuriae und das crimen maiestatis waren crimina legitima262, d. h. auf Gesetze zurückzuführen. Neben solche crimina legitima traten zur Kaiserzeit 257 258 259 260 261 262

V. Hippel, Bd. 1, S. 54 ff, 77; v. Liszt/Schmidt, S.41. Zum Vorstehenden vgl. Mommsen, S. 784 ff, 790 ff. Der Kleine Pauly, „Maiestas"; Mommsen, S. 537 ff. Oer Kleine Pauly aaO. Der Kleine Pauly aaO; Mommsen, S. 542. v. Hippel, Bd. 1, S. 62 ff, 67.

82 - gestützt auf die weder an die gesetzlichen Deliktsbegriffe noch an das gesetzliche Strafmaß gebundene absolutistische Herrschaftsmacht des Kaisers (dazu oben, Rdnr. 35 a. E., 70) die crimina extraordinaria (oben, Rdnr. 70). Zu ihnen zählte etwa der „stellionatus" („Schufterei"), ein konturenloser Straftatbestand263, der beispielsweise die Verpfändung fremder Sachen, den Meineid zum Zwecke der Bereicherung u. ä. erfaßte"4. (3) Als Resümee läßt sich festhalten: Das römische Strafrecht hat - wie ausgeführt (Rdnr. 35, 48, 49, 70) kein Gebot der lex scripta, kein Rückwirkungsverbot und kein Analogieverbot entwickelt; und es hat auch kein Bestimmtheitsgebot gekannt. Was den Satz „nullum crimen, nulla poena sine lege" angeht, stellt das römische Strafrecht kein Ruhmesblatt in der Geschichte des Kriminalrechts dar. 85 b) Constitutio Criminalis Carolina

(CCC)

Gegenüber dem römischen Kriminalrecht - sowie dem mittelalterlichen deutschen Strafrecht brachte die CCC einen Zugewinn an rechtsstaatlicher Bestimmtheit der Strafvorschriften: (1) Die CCC kennt, wie v. Hippel2115 zutreffend hervorhebt, „keine uferlosen und unbestimmten Sammelbegriffe wie crimen maiestatis, . . . iniuria, . . . stellionatus". Zwar bezeichnet die CCC gemäß der Praxis der mittelalterlichen Quellen eine Reihe von Straftatbeständen lediglich mit ihren hergebrachten Bezeichnungen, nennt also nur die Deliktstypen ohne nähere tatbestandliche Deliktsbeschreibungen2''''. Beispiele hierfür bieten etwa Brandstiftung (Art. 125), Raub (Art. 126) und Diebstahl (Art. 157 ff). In diesen Fällen hat v. Schwarzenberg, der Urheber jener Vorschriften, sich wohl darauf verlassen, „daß aus altem Herkommen hinreichende Klarheit bezüglich der einzelnen Tatbestandselemente bestehen dürfte"267. 263 264 265 264 267

Siehe Der Kleine Pauly, „Stellionatus"; Mommsen, S.680f. Der Kleine Pauly aaO. Bd. 1, S. 195. Dazu v. Hippel, Bd. 1, S. 196; Eb. Schmidt, S. 115 f. Eb. Schmidt aaO.

83 Im übrigen aber bemüht sich die C C C um klare Tatbestandsumschreibungen, so u. a. bei der Gotteslästerung (Art. 106), beim Meineid (Art. 107), bei der Münzfälschung (Art. 111), beim Parteiverrat (Art. 115) und bei der Vergewaltigung (Art. 119); weitere Beispiele bieten etwa Art. 113 und 114. Namentlich das erwähnte Verbrechen der Münzfälschung vermag dies Bemühen um Tatbestandsbestimmtheit zu verdeutlichen:

Artikel 111 „Item inn dreierley weiß würd die müntz gefelscht, Erstlich wann eyner betrieglicher weiß eyns andern zeychen darauff schlecht, Zum andern wann eyner unrecht metall darzu setzt, Zum dritten, so eyner der müntz ire rechte schwere geuerlich benimbt, solche müntzfelscher sollen nachfolgender massen gestrafft werden . . . " (2) Auch auf der Rechtsfolgenseite ist dem Bestimmtheitsgebot in erheblichem Umfang Rechnung getragen: Zwar wird bei einer Reihe von Delikten ohne nähere Präzisierung bezüglich der Strafe einfach auf „unser kaiserliches Recht" und „Gewohnheit" verwiesen (so bei Ehebruch, Bigamie, Felddiebstahl Art. 120, 121, 167 - ; siehe bereits oben, Rdnr. 36). Vielfach wird auch unter Verzicht auf gesetzliche Festlegung der Strafe dem Richter vorgeschrieben, einen Rat einzuholen - zu diesem Rechtsinstitut siehe oben, Rdnr. 10 a. E. - ; Beispiele hierfür sind u.a. Art. 109 S.2 und Art. 112. Im übrigen aber dominiert in der C C C das Prinzip gesetzlicher Bestimmtheit der Strafe. - Beispiele: Für Mord wird Rädern, für Totschlag Enthaupten angedroht (Art. 137), für Schadenszauber, widernatürliche Unzucht und Brandstiftung der Feuertod (Art. 109, 116, 125), für den Rückfalldieb, der zum dritten Mal gestohlen hat, Tod durch den Strang (Art. 162). Der Meineid soll mit Abhacken der beiden Schwurfinger bestraft werden (Art. 107). Geldbuße, ersatzweise Kerker, wird gegen den Dieb, der das erste Mal gestohlen hat, und zwar Beute unter fünf Gulden Wert, verhängt (Art. 157) - . (3) Alles in allem ist in der C C C das Bestimmtheitsgebot zwar weder für die Straftatbestände noch für die Straftatfolgen verwirklicht worden; doch bedeutet diese Kodifikation immerhin einen großen

84 Fortschritt auf dem Wege zu einem jenem Gebot entsprechenden Strafrecht268. 86 c) Wissenschaft des gemeinen

Strafrechts

Wie ausgeführt (Rdnr. 11, 37, 52) hat die Entwicklung des gemeinen Strafrechts nach der C C C im wesentlichen zu einer Wiederauflösung der beschränkten Gesetzesbindung geführt, die das Anliegen v. Schwarzenbergs gewesen war: Die Zulassung von richterrechtlichen crimina extraordinaria und poenas arbitrarias ließ keinen Raum für einen strafrechtlichen Gesetzesvorbehalt i. S. der Herrschaft von Strafgesetzen mit hinreichend bestimmten Tatbeständen und Strafrahmen. - Wie fern die Wissenschaft des gemeinen Strafrechts der Idee eines solchen Gesetzesvorbehalts stand, macht namentlich die Figur des „stellionatus" („Schufterei") deutlich; er diente als Sammelbegriff für alle gesetzlich nicht erwähnten, aber wegen ihrer von der Judikatur angenommenen Strafwürdigkeit als crimina extraordinaria zu bestrafenden Handlungen 2 ". Benedict Carpzov (1595-1666) nennt aus der Praxis des Leipziger Schöppenstuhls, dem er Jahrzehnte lang angehört hat, u.a. die folgenden Beispiele für „stellionatus": Unzüchtiges Benehmen auf einer Hochzeit; Abschneiden eines Gehenkten vom Galgen; Übertragen der Pest durch verbotswidriges Verlassen des Hauses; Wahrsagen des Todes; Nichtzahlung der Erbzinsen vom Lehen trotz obrigkeitlicher Aufforderung 270 87 d) Aufklärung

(Montesquieu und Beccaria)

Wie der strafrechtliche Gesetzesvorbehalt im allgemeinen, so ist namentlich auch das Bestimmtheitsgebot im besonderen eine Frucht aufklärerischen Rechtsdenkens, wobei Montesquieu und Beccaria besondere Bedeutung zukommt 271 :

268 269

270 271

Vgl. auch Rüping, S. 36. Dazu v. Hippel, Bd. 1, S.238 Anm.2; Schaffstein, S.40; Schreiber, Gesetz und Richter, S. 29. Schaffstein und Schreiher aaO. Vgl. Kohlmann, S. 169-173; Lemmel, S.22; Sax, S. 1006.

85 (1)

Montesquieu

Sein Postulat der Gewaltenteilung in einem so strikten Sinne, daß der Richter gewissermaßen nur „Subsumtionsautomat" sein dürfe (oben, Rdnr. 13, 38, 73), setzte entsprechend bestimmte, präzise Strafgesetze voraus. Demgemäß forderte Montesquieu klare, fest umrissene Strafnormen 272 , wobei er diese Forderung auf den Gesichtspunkt „Schutz der Freiheit der Bürger vor Willkür" stützte. (2) Beccaria Auch er verband das Postulat nach Herrschaft des Gesetzes anstelle richterlicher Willkür mit der Forderung nach bestimmten, „jede Willkür ausschließenden und so klar wie möglich abgefaßten" Strafgesetzen273. e) Josephina und ALR (1) Josephina Dort, wo sich der strafrechtliche Gesetzesvorbehalt in erster Linie auf den absolutistischen Machtanspruch des Souveräns, auf die Dominanz seiner Gesetzgebungsgewalt gegenüber richterlichem Gutdünken stützte - wie es bei der Josephina der Fall war (oben, Rdnr. 7, 14) - , w o die freiheitsverbürgende Funktion des strafrechtlichen Gesetzesvorbehalts also nur in zweiter Linie eine Rolle spielte, ging es bei dem Problem der Bestimmtheit von Strafgesetzen nicht primär um rechtsstaatliche Ziele, sondern um das absolutistische Interesse des Herrschers, durch möglichst präzise Normierungen den Bereich richterlicher Rechtsschöpfung weitestgehend zurückzudrängen. Das bedeutet: Wieweit der Souverän jenes absolutistische Interesse realisierte, wieweit er also bestimmte Strafgesetze schuf, lag letztlich in seinem Belieben; die absolutistische Komponente des strafrechtlichen Gesetzesvorbehalts in Josephina und ALR (dazu oben, Rdnr. 7, 8, 14, 74) ließ die hinreichende Präzision von Strafnormen daher als zwar sinnvoll, aber nicht unbedingt geboten erscheinen 272 273

Nachweise bei Kohlmann und Lemmel aaO. Siehe Kohlmann und Lemmel aaO.

88

86 - während freiheitlich-rechtsstaatliches Denken den Gesetzgeber insoweit in Pflicht nahm -. Da nun bei der Josephina stärker als beim ALR absolutistisches Denken vor freiheitlich-rechtsstaatlichem dominierte, erscheint erklärlich, daß jenes österreichische Strafgesetzbuch dem Bestimmtheitsgebot weniger gerecht wurde und „unter mangelnder Begriffsbestimmung" litt274, während - was im folgenden darzulegen ist die Strafvorschriften des A L R diesem Gebot bereits weitgehend entsprachen275. (2)

ALR

(a) Hattenhauer hat das A L R mit Fug und Recht als „Frucht der späten Regierungszeit Friedrich II von Preußen" bezeichnet (vgl. oben, Rdnr. 8). Dieser Monarch nun führte in seiner Cabinetsordre von 1780, mit der er „einen neuen Anlauf zur Durchführung einer umfassenden Gesetzgebungsreform unternahm" 276 , über den Bestimmtheitsgedanken aus: „Eben so ungereimt ist es, wenn man in einem Staat, der doch seinen unstreitigen Gesetzgeber hat, Gesetze duldet, die durch ihre

274

275 276

Vgl. Kohlmann, S. 181 f; v. Liszt/Schmidt, S.61. Ein anschauliches Beispiel hierfür bietet das Kriminalverbrechen „Trug"; hierzu bestimmten §§ 148, 149 des Ersten Theils der Josephina: § 148 „Die Verbrechen, welche auf das Vermögen und Rechte Beziehung nehmen, sind a. Trug (stellionatus, falsum), b. Diebstahl, c. Raub, d. Brandlegung, e. zweyfache Ehe". § 149 „Im allgemeinen macht sich des Trugs schuldig jeder, der durch was immer für Ränke, und List fremdes Eigenthum an sich zu ziehen, oder jemanden aus böser Absicht an Vermögen, Ehre, Freyheit, oder seinen Rechten zu schaden sucht, ohne Rücksicht auf die Mittel, deren sich der Betrüger bedienet und ohne darauf zu sehen, ob er seine Absicht wirklich erreichet habe, oder nicht". (In §§ 150 ff folgen dann Spezialfälle des Trugs - „insbesondere aber ist des Trugs schuldig . . . " - wie Urkundenfälschung, Falschaussage, betrügerische falsche Namensangabe usw.). Fundstelle: Siehe Anml75. v. Hippel, Bd. 1, S.276. Kohlmann, S.183.

87 Dunkelheit und Zweydeutigkeit zu weitläufigen Disputen der Rechtsgelehrten Anlaß geben... Ihr müßt also vorzüglich dahin sehen, daß alle Gesetze für unsere Staaten und Unterthanen in ihrer eigenen Sprache abgefaßt, genau bestimmt und vollständig gesammlet werden"277. Friedrich II Eintreten für das Bestimmtheitsgebot ist dabei einerseits noch deutlich geprägt von dem absolutistischen Interesse des Souveräns an einer möglichst weitgehenden Herrschaft seiner Gesetze anstelle von Richtermacht (dazu oben, Rdnr. 8). Andererseits aber entspricht jenes Postulat zugleich den aufklärerischen Vorstellungen des Monarchen, der vom Rechtsdenken Voltaires und Montesquieus (oben, Rdnr. 13, 38, 73, 87) beeinflußt war und im deutschsprachigen Raum wohl als der wichtigste Vorkämpfer der Aufklärung bezeichnet werden kann278. (b) Die Forderung des Monarchen nach klaren, bestimmten Gesetzen lag auch Svarez (1746-1798), dem eigentlichen Schöpfer des ALR, am Herzen279: In seinen 1791 vor dem preußischen Kronprinzen gehaltenen Vorträgen über Recht und Staat verfocht er die Pflicht des Gesetzgebers, für „deutliche und bestimmte Gesetze" Sorge zu tragen280. (c) Diesen Vorstellungen ist das ALR, jedenfalls in seinen Strafvorschriften - Zweyter Theil, 20. Titel der Kodifikation - , alles in allem „trefflich gerecht geworden"281; freilich um den Preis einer völlig übertriebenen, pedantischen Kasuistik: Das Ringen um präzise Tatbestände ist einer der Gründe dafür, daß das ALR im allgemeinen und seine Strafrechtskodifikation mit ihren 1577 Paragraphen im besonderen einen gänzlich unverhältnismäßigen Umfang erhielten. So umfaßte etwa der 10. Abschnitt über „Beleidigungen der Ehre" 129 Paragraphen!

177 278 279 280 281

Zitiert nach Schreiber, Gesetz und Richter, S. 86 Anm. 26. Dazu v. Hippel, Bd. 1, S.271 ff. Siehe m. w . N . Kohlmann, S. 185. Vgl. bei Kohlmann aaO. v. Hippel, Bd. 1, S.276; kritisch aber v. Bar, Geschichte, S. 161 f.

88 89 f ) Französische

Revolutionszeit

Ensprechend den Postulateti Montesquieu s wurde der Satz „nullum crimen, nulla poena sine lege" in Gesetzen der französischen Revolutionszeit normiert; dies in Verbindung mit einer strikten Bindung des Richters an den Buchstaben des Gesetzes. Damit sollte der Schutz der Bürger vor richterlicher Willkür garantiert werden. - Vgl. oben, Rdnr. 15, 42, 75 - . In der Konsequenz dieser rechtsstaatlichen Zielsetzung nun lag die Forderung nach hinreichend bestimmten Strafgesetzen; und in der Tat hat man bei der gesetzlichen Verankerung des „nulla-poenaPrinzips" in jener Zeit Strafgesetze im Auge gehabt, die dem Bestimmtheitsgedanken entsprechen sollten282. Wieweit freilich die Strafvorschriften der französischen Revolutionszeit, und später Napoleons Code Pénal, dem Bestimmtheitspostulat gerecht wurden, ist eine andere Frage, die hier nicht vertieft werden kann. 90 g) Anselm v. Feuerbach (1) Seine Straftheorie, „Theorie vom psychologischen Zwang" (oben, Rdnr. 43, 57), setzte hinreichende gesetzliche Bestimmtheit von Straftatbeständen und Strafdrohungen voraus283. Wenn Feuerbach also für klare, präzise Strafgesetze eintrat284, so beruhte dies zum einen auf seiner Strafrechtstheorie. (2) Zum anderen wurzelte v. Feuerbachs Eintreten für das Bestimmtheitsgebot aber zugleich in seinem freiheitlich-rechtsstaatlichen Denken: So, wie v. Feuerbachs Postulat des strafrechtlichen Gesetzesvorbehalts im allgemeinen maßgeblich mitgeprägt war durch den Aspekt „Schutz des Bürgers vor Willkür" (oben, Rdnr. 17, 77), so beruhte auch seine Forderung nach bestimmten Strafgesetzen im besonderen mit auf diesem Aspekt. Wie ernst es v. Feuerbach mit dem Bestimmtheitsgebot war, zeigt das im wesentlichen von ihm verfaßte Bayerische StGB von 1813: 2,2 283 284

Dazu Kohlmann, S. 174 ff, 178; Schreiber, Gesetz und Richter, S. 67ff, 73, 75. Kohlmann, S. 189; Sax, S.995; Schreiber aaO, S. 109. In: Kritik I, S.20; II, S. 33; III, S . l l und öfter. Dazu Kohlmann aaO; Lemmel, S. 23; Schreiber aaO.

89 h) StGB für das Königreich Bayern von 1813 Diese Kodifikation wurde 1827 von den Motiven des preußischen Entwurfs eines Kriminalgesetzbuchs u.a. wegen der „Schärfe der darin aufgestellten Begriffe" und des „Strebens, Bestimmtheit der Strafen . . . zu erreichen", gerühmt285. (1) Was das Prinzip der Tatbestandsbestimmtheit angeht, ist das bayerische StGB von 1813 in der Tat ein alles in allem erstaunlich gelungenes Werk. Mag auch seine kasuistische Ausdifferenzierung manchmal übertrieben erscheinen, so doch niemals in so pedantisch anmutender Weise wie im ALR. Einige Beispiele sollen belegen, wie v. Feuerbach sich um klare Deliktsbeschreibungen bemüht hat: Artikel 233 „Wer, um eine Entwendung zu vollbringen, einer Person Gewalt anthut, entweder durch thätliche Mißhandlungen oder durch Drohung auf Leib oder Leben, der ist des Raubes schuldig, er habe seine habsüchtige Absicht erreicht oder nicht". Artikel 247 „Wer in rechtswidrigem Vorsatze fremdes Eigenthum, oder sein Eigenthum, mit Gefahr für dessen Bewohner oder für fremde Wohnungen, in Brand sezt, wird des Verbrechens der Brandlegung schuldig, wenn gleich das Feuer nur geringen Schaden gestiftet hat oder bald nach seinem Ausbruche wieder gedämpft worden ist". (2) In noch viel stärkerem Maße als um die Bestimmtheit der Straftatbestände ging es v. Feuerbach bei der Schaffung des bayerischen StGB aber um die Bestimmtheit der Straidrohung: Dem diente die Normierung sehr enger Strafrahmen - Beispiele bieten u.a. Art. 152, 155, 183, 215 - , zudem die Schaffung einer Vielzahl von qualifizierten bzw. privilegierten Straftatbeständen für schwerere bzw. leichtere Fälle eines Delikts - vgl. etwa für den Diebstahl Art. 214 ff, 3 79 ff - . Hier hat v. Feuerbach wohl des Guten zu viel getan, d.h. zur Erreichung gesetzlicher Bestimmtheit der Strafen den richterlichen 285

Siehe bei v. Hippel, Bd. 1, S. 300.

91

90 Entscheidungsspielraum bei der Zumessung der gerechten Sanktion sachwidrig zu eng bemessen286. (3) Resümée: Das Bayerische StGB von 1813 stellt eine Kodifikation dar, die rechtsstaatlichen Bestimmtheitsanforderungen in besonderem Maße genügt - dies freilich auf der Rechtsfolgenseite um den Preis einer Gerechtigkeit und Billigkeit widerstreitenden Starrheit - . 92 i) Preußisches StGB von 1851 (1) Diese Kodifikation hat in § 2 den Satz „nullum crimen, nulla poena sine lege" verankert (oben, Rdnr. 19, 44, 59, 79); dabei hat man sich ausweislich der Gesetzesmaterialien bei der Schaffung jener Vorschrift in erster Linie mit der Problematik des Analogieverbots befaßt und in zweiter Linie mit der des Rückwirkungsverbots, während der Ausschluß von Gewohnheitsrecht und das Bestimmtheitsprinzip offenbar keine eingehendere Erörterung erfuhren287. Das bedeutete jedoch keineswegs, daß das Gebot der lex scripta und das der lex certa nicht mehr anerkannt wurden. Vielmehr verstand sich der Ausschluß strafbegründenden und -schärfenden Gewohnheitsrechts in Preußen seit dem ALR praktisch von selbst. Nicht anders war es mit dem Bestimmtheitsgebot: Daß Strafgesetze hinreichend klar sein sollten, lag in der Konsequenz des rechtsstaatlichen Denkens, auf dem, wie gezeigt (Rdnr. 19), jener § 2 maßgeblich beruhte. Und zudem sprach auch die konstitutionalistische, demokratische Komponente, die der strafrechtliche Gesetzesvorbehalt im 19. Jahrhundert gewonnen hatte (Rdnr. 19 a. E.), für bestimmte Gesetze: Soweit man die Mitwirkung von Parlamenten bei der Schaffung von Gesetzen postulierte, wäre dieser demokratische Aspekt bei ganz unbestimmten, weitgehend inhaltsarmen Gesetzen praktisch leergelaufen288.

286 287 288

V. Hippel, Bd. 1, S.301; Eb. Schmidt, S. 265 f. Vgl. Goltdammer, S. 53-56. Zu dieser demokratischen Komponente des Bestimmtheitsgebots siehe u. a. Grünwald, ZStW 1964, 16; Κrey, Zur Verweisung auf EWG-Verordnungen in Blankettstrafgesetzen, S. 177f; BVerfG E 47, 109, 120.

91 Im übrigen wird das Bestimmtheitsgebot bei Goltdammer2*9 auch ausdrücklich angesprochen, wenngleich nur bezüglich der Straftatfolgen; er führt nämlich aus: gemäß den Gesetzesmotiven werde durch die Fassung von § 2 des preußischen StGB „eine sowohl ihrer Art als ihrem Grade oder Maaße nach bestimmte Strafe" gefordert. (2) In der Tat ist diese Kodifikation eine alles in allem „beachtliche Durchführung der gesetzlichen Bestimmtheit"290: (a) Die Straftatbestände sind im wesentlichen klar und präzise umschrieben; dies vielfach so zeitlos vorbildlich, daß sie z.T. heute noch in praktisch unveränderter Fassung gelten. Als Beispiele seien u.a. §215 (Diebstahl), §230 (Raub) sowie § 210 (Freiheitsberaubung) genannt. - Freilich gab es auch „Sünden wider den Geist des Bestimmtheitsgebots": So arbeitete das preußische StGB von 1851 mit einem so unbestimmten Rechtsbegriff wie dem der „Unzucht" (§§ 141 ff) und normierte ein so konturenloses Delikt wie den „groben Unfug" (Ubertretung gemäß § 340 Nr. 9) - . (b) Die Rechtsfolgenseite war in wohl noch stärkerem Maße vom Bestimmtheitsgedanken geprägt: Die Strafrahmen sind alles in allem deutlich enger als heute, ohne so übertrieben starr zu sein wie im bayerischen StGB von 1813. j) Reichsstrafgesetzbuch

von 1871

§ 2 Abs. 1 dieser Kodifikation hat den strafrechtlichen Gesetzesvorbehalt reichseinheitlich durchgesetzt (oben, Rdnr. 20). Dabei wurde diese Vorschrift von der ganz h. M. als Normierung des Gebots der lex scripta (Rdnr. 44), des Rückwirkungsverbots (Rdnr. 59), des Analogieverbots (Rdnr. 80) und des Bestimmtheitsgebots gedeutet: (a) Zwar wurde das Verbot allzu unbestimmter Strafgesetze bei der Erörterung des § 2 StGB im Schrifttum nach Erlaß dieses Gesetzes vielfach nicht oder nur am Rande behandelt291. Das dürfte indes nur z.T. darauf beruhen, daß man jenes Verbot nicht ernst genug 285 2.0 2.1

S. 55. Rüping, S. 81. Siehe etwa Oppenhoff, Das StGB für das Deutsche Reich, der das Bestimmtheitsgebot in seiner Kommentierung des § 2 übergeht.

93

92 nahm292; vielmehr war es wohl so, daß man zu Recht oder zu Unrecht meinte, der Bestimmtheitsgedanke verstehe sich von selbst und hier lägen keine aktuellen Probleme. (b) Uberwiegend aber leitete man aus § 2 ein Bestimmtheitsgebot ab und nahm dieses durchaus ernst, was die folgenden Belege zeigen2'3: Binding, obwohl wie ausgeführt (Rdnr. 21, 60, 61, 80) de lege ferenda ein entschiedener Gegner des „nullum-crimen-Prinzips", führte de lege lata zum Bestimmtheitsgrundsatz aus: „Das Gesetz verlangt weiter, daß ein bestimmter Tatbestand mit bestimmter Strafe bedroht sei. Ein absolut unbestimmtes Strafgesetz ist somit nichtig.. ."294. Von Belingm stammt das folgende prononcierte Bekenntnis zum Bestimmtheitsgebot: Aus § 2 Abs. 1 Reichsstrafgesetzbuch sei neben dem Verbot „abso-

lut unbestimmter Strafdrohungen" das Postulat „fest umrissener Tat-

bestände" abzuleiten. Dieses habe seine selbständige Bedeutung und sei von der Frage nach Gewohnheitsrecht und Analogie ganz unabhängig. Beling fährt dann fort: „Ein Gesetz, das den - von manchen Seiten ja sehnlich herbeigewünschten - Schurkenparagraphen enthielte: ,jeder Schurke wird . . . bestraft', würde, wiewohl es von der Ausschließung von Gewohnheitsrecht und Analogie nicht betroffen wäre, keine Beschränkung auf bestimmte Verbrechenstypen in sich schließen und deshalb dem § 2 widerstreiten". Schließlich heißt es in der Begründung zum amtlichen „Vorentwurf zu einem Deutschen Strafgesetzbuch" (1909): „Der alte wohlbegründete Satz nulla poena sine lege . . . führt, wenn man von ihm aus folgerichtig weiterdenkt, auch zur Ablehnung großer Dehnbarkeit der Strafgesetze"296. 2.2

2.3

2.4 295 296

So aber Meyer/Allfeld, S.23, mit der dem Bestimmtheitsgebot nicht genügenden These: das Gesetz sollte „wenigstens die wichtigeren Delikte nicht ohne Definition lassen". Siehe ergänzend Lemmel, S.23 ff; Mayer, Die gesetzliche Bestimmtheit, S.259f, 261 f. Handbuch, S.208; ebenso Grundriß, S.62 a.E. S.21 f. Zitiert nach Mayer aaO, S. 261.

93 Freilich stand zu diesem herrschenden Anerkenntnis des Bestimmtheitsgedankens in gewissem Widerspruch, daß gegen das konturenlose Strafgesetz des § 360 Nr. 11 StGB betreffend den „groben Unfug" („mit Geldstrafe bis zu einhundertfünfzig Mark oder mit Haft wird bestraft: 11. wer ungebührlicherweise ruhestörenden Lärm erregt oder wer groben Unfug verübt") nur von wenigen Bedenken wegen seiner Unbestimmtheit geäußert wurden; vielmehr galt die Kritik der Lehre in erster Linie der Judikatur zu dieser Strafvorschrift297. Immerhin aber klingt in Rechtsprechung und Lehre zum groben Unfug bereits ein wesentlicher Aspekt des Bestimmtheitsgebots an, der - wie noch zu zeigen sein wird (unten, Rdnr. 121) — heute von entscheidender Bedeutung für sein Verständnis ist; gemeint ist das Bestimmtheitsprinzip als Konkretisierungsauftrag an die Judikatur, der die Aufgabe zukommt, unbestimmte Strafgesetze soweit möglich durch Auslegung zu präzisieren: Eine solche Berücksichtigung des Bestimmtheitsgebots bei der Auslegung von unpräzisen Strafnormen wird etwa in folgenden Stellungnahmen zu § 360 Nr. 11 StGB a. F. deutlich: Der „grobe Unfug" dürfe nicht als ein „allgemein subsidiärer Tatbestand für alles Strafwürdige" verstanden werden298; denn ein derartiges Verständnis würde § 2 StGB mißachten299. In diesem Sinne führte RG St 19, 294, 296 aus: Die Interpretation des „groben Unfugs" durch die Vorinstanz „würde in der That dahin führen, was abgelehnt werden muß, daß die ursprünglich nur bubenhaften Straßenunfug verbietende Strafnorm eine subsidiäre Strafvorschrift unbestimmtester Allgemeinheit wird, welcher der Strafrichter alles zu unterstellen befugt ist, was ihm ,ungehörig' erscheint, und doch unter die sonstigen Strafandrohungen mit ihren wohlerwogenen begrifflichen Grenzen nicht paßt".

2.7

Vgl. m . w . N . Lemmel, S.24. Meyer/Allfeld, S.652. 2 " v. Bar, GS Bd. 40 (1888), 429 ff; Frank, § 360 A n m . X I 2. 2.8

94 94 k) Art. 116 Weimarer Verfassung und das strafrechtliche Bestimmtheitsgebot Vor Inkrafttreten dieser Verfassung galt der Satz „nullum crimen, nulla poena sine lege" nur einfachgesetzlich, d.h. ohne rechtlichen Vorrang vor jüngeren Reichsgesetzen (lex posterior derogat legi priori). Demgemäß war der Reichsgesetzgeber durch § 2 StGB nicht daran gehindert, ganz unbestimmte, konturenlose Strafgesetze zu erlassen; solche legislatorische Mißachtung des Bestimmtheitsgedankens hätte also keineswegs zur Nichtigkeit der unbestimmten Strafnormen geführt (das übersieht etwa Binding™). Durch die verfassungsrechtliche Verankerung des strafrechtlichen Gesetzesvorbehalts in Art. 116 WV (oben, Rdnr.23, 45, 62, 81) stellte sich nun die Frage, ob und wie weit durch diese N o r m das Bestimmtheitsgebot mit Verfassungsrang anerkannt sei. (1) Wie ausgeführt wurde aus der sprachlichen Abweichung des Art. 116 gegenüber § 2 StGB von vielen gefolgert, jene Verfassungsnorm gelte nicht für den Strafrahmen und garantiere daher nur den Satz „nullum crimen sine lege", nicht aber „nulla poena sine lege" (oben, Rdnr.23). Nach dieser Konzeption konnte der Gesetzgeber ohne Verstoß gegen die Verfassung Strafvorschriften mit absolut unbestimmter Strafdrohung erlassen. - In diesem Sinne äußerten sich beispielsweise RG St 56, 318 f und Frank™ -. Die h. L. ging demgegenüber dahin, Art. 116 WV stimme mit § 2 Abs. 1 StGB inhaltlich überein, erfasse also den Straftatbestand und die Strafdrohung (Rdnr.23). Von diesem Standpunkt aus gelangten viele Autoren zu der These: absolut unbestimmte Strafdrohungen bedeuteten einen Verstoß gegen jene Verfassungsnorm 302 . Dieser Meinungsstreit war durchaus von praktischer Relevanz: Der Gesetzgeber hatte nämlich in § 359 Reichsabgabenordnung von 1919 Geldstrafe in unbeschränkter Höhe angedroht; und § 27 Abs. 1 StGB i. d. F. von 1924 bestimmte: „Die Geldstrafe ist in Reichsmark festzusetzen. Sie beträgt 300 501 302

Siehe oben, Rdnr.93 mit Anm.294. §2 Aran. 1,11. v. Hippel, Bd. 2, S.34f i.V.m. S.42f; v. Liszt/Schmidt, S. 111 Anm.3 i.V.m. S.377 Anm.6; v. Olshausen, §2 Anm.3 a.E., i.V.m. Anm.7.

95 1. bei Verbrechen und Vergehen, soweit nicht höhere Beträge oder Geldstrafe in unbeschränkter Höhe angedroht sind oder werden, mindestens drei Reichsmark und höchstens zehntausend Reichsmark . . Einige Autoren nun sahen in der Androhung von „Geldstrafe in unbeschränkter Höhe" einen Verstoß gegen Art. 116 WV303; anders aber die h. M.304, nach der eine solche Strafdrohung wirksam sei. Damit aber ließ die h. A. das Bestimmtheitsprinzip bezüglich der Straftatfolgen praktisch leerlaufen. (2) Was die TdíZwtówíkbeschreibung angeht, waren die Voraussetzungen für die Herrschaft jenes rechtsstaatlichen Prinzips an sich sehr viel besser. Denn Art. 116 WV stellte nach allgemeiner Ansicht die verfassungsrechtliche Verankerung des Satzes „nullum crimen sine lege" dar, und ihn hatte die h. L. ja - wie gezeigt (Rdnr. 93) u. a. als Anerkennung des Bestimmtheitsgedankens verstanden. Demgemäß hätte sich nach Inkrafttreten der Weimarer Verfassung eigentlich die Ansicht durchsetzen müssen, allzu unbestimmte Straftatbestände seien verfassungswidrig. Indes läßt sich eine solche Herrschaft des Bestimmtheitsprinzips nicht feststellen305 : Zwar gab es eine Reihe von Autoren, die den Grundsatz der T