Katastrophe als Beruf: Die bundesdeutsche Ärzteschaft und der nukleare Ernstfall (1950–1990) [1 ed.] 9783412522421, 9783412522407


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German Pages [378] Year 2021

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Katastrophe als Beruf: Die bundesdeutsche Ärzteschaft und der nukleare Ernstfall (1950–1990) [1 ed.]
 9783412522421, 9783412522407

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Während des Kalten Krieges sah sich die westdeutsche Ärzteschaft mit dem beispiellosen Bedrohungsszenario einer atomaren Massenvernichtung konfron­ tiert. Vor diesem Hintergrund analysiert Jochen Molitor die Denkweisen und Handlungsmuster medizinischer Experten in Vorbereitung auf den Ernstfall, wobei Militärärzte ebenso berücksichtigt werden wie Zivilisten, führende Kammerfunktionäre ebenso wie die ärztliche Friedensbewegung. Im Mittelpunkt der Darstellung steht die Genese der Katastrophenmedizin. Deren Entwicklung von der sanitätsdienstlichen Vorbereitung auf einen be­ fürchteten Atomkrieg zur notfallmedizinischen Reaktion auf die neuartigen Schadensszenarien der „Risikogesellschaft“ liefert nicht nur vielfache Er­ kenntnisse zum Wesen des Arztberufs, sondern auch zur Bedrohungs- und Angstgeschichte der Bundesrepublik Deutschland.

Katastrophe als Beruf

Jochen Molitor

Band 57 Kölner Historische Abhandlungen

Katastrophe als Beruf Die bundesdeutsche Ärzteschaft und der nukleare Ernstfall (1950 –1990)

Jochen Molitor

978-3-412-52240-7_molitor.indd Alle Seiten

19.07.21 18:35

KÖLNER HISTORISCHE ABHANDLUNGEN Für das Historische Institut herausgegeben von Sabine von Heusinger, Karl-Joachim Hölkeskamp, Ralph Jessen und Anke Ortlepp Band 57

KATASTROPHE ALS BERUF Die bundesdeutsche Ärzteschaft und der nukleare Ernstfall (1950 –1990)

von

JOCHEN MOLITOR

BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Bonn, sowie des Kölner Gymnasial- und Stiftungsfonds. Zugl. Diss. Universität Köln 2019

Mit 16 Abbildungen Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2021 Böhlau, Lindenstraße 14, D-50674 Köln, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Übung mit Notfallbeatmungsgerät, aus: ZS-Magazin, Zeitschrift für Zivilschutz, Katastrophenschutz und Selbstschutz 4/1987, Foto: Dräger. Verwendet mit freundlicher Genehmigung des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe. Umschlaggestaltung: Michael Haderer, Wien Korrektorat: Dore Wilken, Freiburg Satz: le-tex publishing services, Leipzig Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-52242-1

Inhalt

Anmerkungen zur verwendeten Sprache ................................................

7

1. 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5

Einleitung .................................................................................... Der Arzt am Tag danach ................................................................ Zielsetzung, Quellenbasis und Aufbau der Arbeit .............................. Katastrophe als Erfahrung und Erwartung........................................ Katastrophe als Handlungsrahmen: Zivil- und Katastrophenschutz ..... Katastrophe als Standesinteresse: Die Ärzteschaft als profession ...........

9 9 12 19 30 44

2. 2.1 2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.1.4 2.1.5 2.1.6 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.2.4 2.2.5

Die Entstehung der Katastrophenmedizin (1950–1980) ................ Die Sanitätsoffiziere der Bundeswehr und der dritte Weltkrieg ............ Arztsoldaten ................................................................................. Das Sanitätswesen der Bundeswehr: Organisation und Kooperation .... Der dritte Weltkrieg in Theorie und Praxis ....................................... Der dritte Weltkrieg in Forschung und Lehre .................................... Wehrmedizin und Katastrophenmedizin .......................................... Gesetzgebung I: Zivil-militärische Zusammenarbeit .......................... Die zivile Ärzteschaft sucht das Katastrophische................................ Die Schutzkommission .................................................................. Zweierlei Mahnungen: Die Bundesärztekammer und der Zivilschutz ... Gesetzgebung II: Das Gesundheitssicherstellungsgesetz ..................... Von Atomkraft zu all hazards: Arbeitskreise der Bundesärztekammer... Der Gang an die Öffentlichkeit........................................................

57 57 57 70 78 97 111 118 123 123 127 137 150 166

3. 3.1 3.1.1 3.1.2 3.1.3

Ärzte für all hazards – und gegen den Atomkrieg (1981–1985) ...... Die ärztliche Friedensbewegung ...................................................... Zäsur: Die Nachrüstungsdebatte ..................................................... Die bundesdeutsche Sektion der IPPNW: Genese und Ansichten ........ Die bundesdeutsche Sektion der IPPNW: Mitglieder und Arbeitsformen .............................................................................. Friedensaktivisten, Katastrophenmediziner und Kammern................. Der Friedensnobelpreis 1985 .......................................................... Die Suche geht weiter: Die Etablierung der Katastrophenmedizin ........ Die Deutsche Gesellschaft für Katastrophenmedizin .......................... Publikationsflut.............................................................................

181 181 181 185

3.1.4 3.1.5 3.2 3.2.1 3.2.2

199 219 232 240 240 244

6

Inhalt

3.2.3 Ernst Rebentischs Arbeitskreis(e) .................................................... 248 3.2.4 Gesetzgebung III: Das Zivilschutzgesetz und die Hilfsorganisationen... 260 3.3 Der dritte Weltkrieg – zur Zeit des Doppelbeschlusses der NATO ....... 267 4.

4.3 4.4 4.5 4.6

Das Katastrophische zwischen Beharrung und Wandel (1986–1990) .............................................................................. Die Katastrophe ist der Krieg: Der Reaktorunfall in Tschernobyl ......... Der Deutsche Ärztetag 1986 und der 6. Internationale Kongress der IPPNW..................................................................... Die ärztliche Friedensbewegung – quo vadis?.................................... Katastrophenmedizin – und Notfallmedizin? .................................... Gesetzgebung IV: Das Katastrophenschutzergänzungsgesetz............... Der Krieg ist die Katastrophe: Vergangenheit als Text und Subtext .......

5.

Schluss ....................................................................................... 335

4.1 4.2

275 275 283 292 301 312 321

Dank.................................................................................................... 345 Abkürzungsverzeichnis.......................................................................... 347 Quellen- und Literaturverzeichnis .......................................................... Archivbestände ..................................................................................... Periodika .............................................................................................. Veröffentlichte Quellen ........................................................................... Literatur ...............................................................................................

351 351 351 353 359

Bildnachweis ........................................................................................ 373 Personenregister .................................................................................. 375

Anmerkungen zur verwendeten Sprache

Im Gegensatz zur zeitgenössisch je nach Interessenlage forcierten Verwendung von Komposita mit dem negativ konnotierten Präfix „Atom“ oder dem positiv konnotierten Präfix „Kern“ verwendet die folgende Darstellung diese und ähnliche Begriffe aus Gründen besserer Lesbarkeit synonym.1 Das Adjektiv „katastrophisch“ wird gegenüber der gemeinhin häufiger und oft umgangssprachlich verwendeten Variante „katastrophal“ bevorzugt. Die Nutzung ausschließlich maskuliner Formen (insbesondere „Ärzte“) stellt im Folgenden zumeist nicht das generische Maskulinum dar, sondern verweist auf weitgehend oder exklusiv aus Männern bestehende Gruppen, die im historischen Rückblick nicht inklusiver wirken sollten, als sie es gewesen sind. Bei gegebener, geschlechtlich diverser Zusammensetzung wird bevorzugt auf Doppelnennungen (insbesondere „Ärztinnen und Ärzte“) zurückgegriffen.

1 Vgl. hierzu Matthias Jung, Öffentlichkeit und Sprachwandel: Zur Geschichte des Diskurses über die Atomenergie. Opladen 1994.

1.

Einleitung

1.1

Der Arzt am Tag danach

„You know what’s going to happen next around here, don’t you?“, fragt Dr. Russell Oakes. „We may be the only hospital operating within a hundred miles. Everyone half-alive or dying will find their way here.“ „Too late to become a dentist?“, entgegnet ihm Krankenschwester Nancy Bauer lakonisch. Oakes lacht – was bleibt ihm anderes übrig. Dieser fiktive Dialog beschreibt den letzten Moment der Ruhe im Universitätsklinikum von Lawrence, Kansas, unmittelbar nach einem Atomschlag auf das benachbarte Kansas City. Entnommen wurde er einem der erfolgreichsten Fernsehfilme aller Zeiten,2 der US-amerikanischen ABC-Produktion The Day After, im November 1983 erstmalig gesendet.3 Der Titel war Programm: Geschildert wurde der sprichwörtliche Tag nach dem alles entscheidenden, besser: alles beendenden nuklearen Krieg zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion bzw. ihrer Militärbündnisse, der NATO und dem Warschauer Pakt. Jason Robards spielte die Hauptrolle des Arztes Russell Oakes. Zunächst beseelt davon, zu helfen soweit irgend möglich, prüfen er und andere beherzt die vorhandenen Ressourcen, suchen nach alternativen Methoden der Stromversorgung und bemühen sich, mit einer Außenwelt in Kontakt zu treten, von der sie praktisch nichts wissen – nicht einmal, wer den Krieg begonnen hat. Trotz tagelangem, kaum unterbrochenem Arbeitseinsatz des Krankenhauspersonals fallen jedoch immer mehr Patienten der Strahlenkrankheit zum Opfer; die Seuchengefahr steigt, Beerdigungen finden in Massengräbern statt, wobei die Leichen aufgrund des Mangels an body bags schließlich in einfachen Müllsäcken „entsorgt“ werden. Der gesundheitliche Zustand Dr. Oakes’ lässt sichtbar nach. Auf die Frage, warum er überhaupt noch arbeite, antwortet er: „I don’t know.“ Mehrere Patienten verlassen aus freien Stücken die Klinik. Sie ahnen, dass ihnen niemand helfen kann, und möchten lieber zuhause sterben als in einem der über das Universitätsgelände verstreuten provisorischen Bettencamps. Bei den verbliebenen Ärzten, die längst mehr wie Seelsorger wirken, bedanken sie sich für die gezeigte Freundlichkeit. Inzwischen selbst von Strahlenschäden gezeichnet, gealtert und verwirrt, zieht es auch Dr. Oakes zum Ende des Films zurück nach Kansas City. Inmitten einer

2 Dominique Henz, The Day After – Der Tag danach, S. 401, in: Thomas Koebner (Hrsg.), Filmgenres: Science Fiction. Stuttgart 2003, S. 401–405. 3 Nicholas Meyer (Regie), The Day After. ABC Circle Films 1983.

10

Einleitung

Abb. 1 Die Gestik Dr. Oakes’ verdeutlicht den Wunsch, selbst im Atomkrieg so lange wie möglich handlungsfähig zu bleiben.

planierten Geisterstadt findet er zwar die Ruine seines Hauses, von seiner Frau aber nichts als ihre verkohlte Armbanduhr. In der letzten Szene des Films bricht Oakes zusammen und weint. Ein sich in der Nähe befindender Fremder umarmt ihn; der Helfer braucht Hilfe. The Day After – ein vielgelobter Film, dem gleichwohl Verharmlosung ebenso vorgeworfen wurde wie Heimatverrat, Kitsch wie übertriebene Düsternis4 – erzählt im Kern eine Geschichte des Scheiterns. Interessanterweise liegt der Fokus dabei nicht auf dem nur am Rande erwähnten, diffus bleibenden Versagen der Politik,

4 Eine zumindest ansatzweise Verharmlosung gesteht der Film selbst ein, endet er doch mit einem Texthinweis darauf, dass ein realer Atomkrieg noch zerstörerischer ausfallen könnte als dargestellt. Regisseur Nicholas Meyer äußerte sich später bezüglich der Herausforderung, die Auswirkungen eines Atomkriegs nicht für der Kernaussage ohnehin zugeneigte Kinobesucher, sondern ein beiläufigeres Fernsehpublikum aufzubereiten: „People have a remote control in their hands. So we had to make a movie that conveyed the awfulness of nuclear war without making it so awful that you changed the channel“, siehe: Hannah McBride, The TV-Movie that Terrified America, 17.7.2017, online unter: https://theoutline.com/post/1918/the-tv-movie-that-terrified-america?zd=2&zi=w6jou3yg (aufgerufen am 5.2.2019).

Der Arzt am Tag danach

Abb. 2 Dr. Oakes am Ende von The Day After: Jegliche agency scheint verloren.

sondern auf demjenigen der Menschen, die das politische Fehlverhalten durch ihr individuelles Handeln abzufedern suchen. Die zentrale Figur des Arztes scheint treffend gewählt, sind Ärztinnen und Ärzte doch qua Beruf regelmäßig damit befasst, Schäden wiedergutzumachen, die sie selbst nicht verschuldet haben. Der zunächst achtbar wirkende Kampf Russell Oakes’ hingegen entpuppte sich vor den Augen der millionenfach zuschauenden US-Amerikaner letztlich als Donquichotterie, zum Scheitern verurteiltes Heldentum, dessen karitativem Motiv der eher ichbezogene Wunsch zugrunde lag, persönliches Elend durch geistig-körperliche Verausgabung so lange wie möglich zu verdrängen. Erst nach Ablegung seiner beruflichen agency wird Oakes klar, dass es nach einem Atomkrieg nur noch Patienten gibt. Die traditionelle, berufsspezifische Dichotomie zwischen Hilfsbedürftigkeit und Hilfe, Patient und Arzt – am Tag danach ist sie gegenstandslos.5

5 Zur weiterführenden, kritischen Analyse sowie für weitere Literatur- und Webverweise zum Film vgl. z. B.: Bill Geerhart, A Look Back at The Day After, 16.8.2010, online unter: http://conelrad.blogspot. com/2010/08/nuclear-landscape-look-back-at-day.html (aufgerufen am 23.2.2019).

11

12

Einleitung

1.2

Zielsetzung, Quellenbasis und Aufbau der Arbeit

Jenseits solch fiktiver Darstellungen der Machtlosigkeit von Ärztinnen und Ärzten im nuklearen Ernstfall fragt die vorliegende Arbeit danach, ob und gegebenenfalls wie sich die bundesdeutsche Ärzteschaft dennoch darauf vorzubereiten suchte. Die Analyse beschränkt sich dabei keinesfalls auf das Szenario des Atomkriegs, wenn dieses auch vor dem weltpolitischen Hintergrund des angesetzten Untersuchungszeitraums (1950 bis 1990) den Ausgangspunkt der Überlegungen darstellte. Nicht nur in Anbetracht der geschilderten kurzen Spielfilmskizze kann davon ausgegangen werden, dass der Umgang mit derartigen Worst-Case-Szenarien Grundfragen zu den Möglichkeiten und Grenzen ärztlicher Tätigkeit aufwarf, Erwartungshaltungen und Idealvorstellungen prägte und sich gestaltend auf berufsspezifische Identitätsbildungsprozesse auswirkte. Zum sich aus angesetztem Untersuchungsort und -zeitraum ableitenden historischen Hintergrund der Studie sei im Vorfeld nur knapp auf zwei Forschungsfelder verwiesen, die in den nachfolgenden Kapiteln näher zu bestimmen sein werden: Der Kalte Krieg sowie die Entwicklung und zunehmende zivile Nutzung teils risikoreicher Hochtechnologien. Es gilt, sich potenziell verbundene ebenso wie separate Elemente beider Felder bewusst zu machen. Bernd Stöver hat den Kalten Krieg als „weitgehend entgrenzte politisch-ideologische, ökonomische, technologischwissenschaftliche und kulturell-soziale Auseinandersetzung“ definiert, „die ihre Auswirkungen bis in den Alltag zeitigte“.6 Da er „global, gleichzeitig aber regional und lokal“ geführt worden sei, müsse versucht werden, „einerseits alles zu erfassen, was dazu gehört, andererseits keine künstlichen Verbindungen zu suggerieren“.7 Analog hierzu wurde anderenorts darauf hingewiesen, dass nicht alles, was sich zwischen 1947 und 1990 ereignet hat, unter dem Containerbegriff Kalter Krieg subsumiert werden dürfe8 und dass sich in der Fülle vorhandener Einzelstudien zu einer verwirrenden Bandbreite an Themen das Genuine des Systemkonflikts zu

6 Bernd Stöver, Der Kalte Krieg: Geschichte eines radikalen Zeitalters 1947–1991. München 2007, S. 21. 7 Ebd., S. 24. 8 David Eugster & Sibylle Marti, Das Imaginäre des Kalten Krieges, S. 15–16, in: David Eugster & Sibylle Marti, Das Imaginäre des Kalten Krieges: Beiträge zu einer Kulturgeschichte des Ost-West-Konfliktes in Europa (Frieden und Krieg 21). Essen 2015, S. 3–16. Für eine Kritik am Begriff des Kalten Krieges vgl. grundsätzlich Jost Dülffer, Europa im Ost-West-Konflikt 1945–1991 (Oldenbourg Grundriss der Geschichte 18). München 2004. Dülffer bevorzugt dessen Nutzung lediglich für verschiedene Krisenphasen und unterscheidet einen ersten (Berlin-Blockade und Koreakrieg, 1948–1951), zweiten (Berlin- und Kubakrise, 1959–1962) und dritten (NATO-Nachrüstungskontroverse, 1979–1984) Kalten Krieg, schreibt verallgemeinernd hingegen vom Ost-West-Konflikt. Andere Autoren identifizieren – unter Auslassung der Détente ab Mitte der 1960er bis zum Ende der 1970er Jahre – zumindest zwei „Kalte Kriege“, vgl. Philipp Gassert, Tim Geiger & Hermann Wentker (Hrsg.), Zweiter Kalter Krieg und Friedensbewegung: Der NATO-Doppelbeschluss in deutsch-deutscher und internationaler

Zielsetzung, Quellenbasis und Aufbau der Arbeit

verlieren drohe.9 Wenn man den Kalten Krieg aber weniger als chronologischen Epochenbegriff, sondern als spezifischen Untersuchungsgegenstand begreift,10 bemerkt man schnell, dass dessen Grenzen immer unschärfer werden, je weiter man sich von seinem Zentrum – den Kriegsvorbereitungen zweier militärischer Bündnisse, jeweils dominiert durch die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten – entfernt. Dies gilt auch für die Imagination des Katastrophischen sowie hiermit verbundener Eventualplanungen. So ist beispielsweise festzustellen, dass zwischen militärischer und beginnender ziviler Nutzung der Atomenergie enge Bezüge bestanden.11 Verdankte sich deshalb jedoch die Existenz von Kernkraftwerken dem Kalten Krieg? Es ist oft angemerkt worden, dass der zwischen den Supermächten vorherrschende Konkurrenzdruck einen enormen Einfluss auf die Entwicklung von Wissenschaft und Hochtechnologie und damit auch auf entsprechende Katastrophenpotenziale gehabt habe.12 Gleichwohl kann nicht davon ausgegangen werden, dass es ohne die Blockkonfrontation zu bestimmten technischen Innovationen nie gekommen wäre. Ausgehend von derlei Überlegungen mag festgehalten werden, dass der ärztliche Zivil- und Katastrophenschutz seine Existenz kaum grundsätzlich dem Kalten Krieg verdankte, dieser jedoch einen maßgeblichen, wenngleich nicht quantifizierbaren, Einfluss auf die konkrete Genese entsprechender Bemühungen ausgeübt haben dürfte. In Bezug auf die gewählte Thematik stellt die Ärzteschaft aus mehreren Gründen eine besonders interessante Akteursgruppe dar. Als erstes wäre die existenzielle Dimension ärztlicher Tätigkeit im Angesicht katastrophischer Ereignisse anzuführen, die sich aus dem unmittelbaren Umgang mit den Betroffenen ableitet. Wenn Macht und Ohnmacht hierbei auch nahe beieinanderliegen, da sich die berufliche Autorität dort zu verlieren droht, wo sie – wie in The Day After geschildert – wirkungslos verpufft: Der teils gefährliche Einsatz für das menschliche (Über-)Leben sowie die Notwendigkeit, schwierige Entscheidungen unter hohem persönlichen Druck treffen zu müssen, ist grundlegend mitverantwortlich für die sprichwörtliche Überhöhung von Ärzten als „Halbgötter in Weiß“. Obwohl im Alltag nur ein geringer Teil der Ärzteschaft regelmäßig um die nackte Existenz ihrer Patienten

9 10 11 12

Perspektive (Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte). Oldenbourg 2011. Zu diesen alternativen Periodisierungen vgl. wiederum kritisch: Stöver, Der Kalte Krieg, S. 19 ff. Vgl. Holger Nehring, What Was the Cold War?, S. 923, in: English Historical Review 527/2012, S. 920–949. Ebd., S. 948. Vgl. Ilona Stölken-Fitschen, Atombombe und Geistesgeschichte: Eine Studie der fünfziger Jahre aus deutscher Sicht. Baden-Baden 1995, S. 184. Vgl. Patrick Bernard, Holger Nehring & Anne Rohstock, Der Kalte Krieg im langen 20. Jahrhundert: Neue Ansätze, Befunde und Perspektiven, S. 16–17, in: Patrick Bernard & Holger Nehring (Hrsg.), Den Kalten Krieg denken: Beiträge zur sozialen Ideengeschichte (Frieden und Krieg 19). Essen 2014, S. 11–39.

13

14

Einleitung

ringen dürfte, gilt genau diese Komponente des Berufs als genuin ärztlich und sichert diesem sein traditionell hohes Ansehen. Hiermit hängt der zweite Grund zusammen: Aufgrund ihres seltenen, in langjähriger Ausbildung erworbenen und damit besonders wertvollen Spezialwissens ist im Ernstfall jede Ärztin, jeder Arzt aufgefordert, zu helfen – auch und gerade diejenigen, die sich nicht hauptberuflich mit Notfallmedizin und Katastrophenhilfe befassen. Da in Katastrophen und Kriegen auf niemanden verzichtet werden kann, betrifft deren Herausforderung somit keineswegs nur einen kleinen Zirkel hiermit befasster Spezialisten, sondern potenziell die gesamte Ärzteschaft.13 Dies wird ihr zudem nicht bloß von außen auferlegt, sondern als aus dem ärztlichen Ethos abgeleitete Selbstverpflichtung ausgewiesen. Ärztinnen und Ärzte arbeiten, drittens, als Selbstständige ebenso wie im Staatsdienst, als Zivilisten ebenso wie als Soldaten, in der Praxis ebenso wie in der Forschung. Die Fokussierung auf die Ärzteschaft bietet somit eine gute Gelegenheit, stichprobenartige Einblicke in unterschiedliche gesellschaftliche Felder sowie deren Wechselwirkungen vorzunehmen, ohne auf die ordnende Klammer einer klar abgrenzbaren Akteursgruppe verzichten zu müssen. Als vierter und letzter Grund sei auf den besonderen Status der Ärzteschaft als professionalisierte Funktionselite verwiesen. Ärztinnen und Ärzte verfügen über hohes Einkommen und Ansehen und sind daran gewöhnt, in verschiedenen Handlungsräumen Anweisungen zu erteilen. Politisch hingegen sind sie kaum je Entscheider, obwohl ihre fachliche Mithilfe entscheidend ist;14 im Katastrophenfall sind sie demnach ebenso machtvolle Akteure wie – aus Sicht der Gesamtplanung – chronisch knappe und begehrte Ressource. Das hierdurch maßgeblich beeinflusste Verhältnis der Ärzteschaft bzw. deren beruflicher Organisationen zu anderen wirkmächtigen Gruppen, insbesondere aber zur Politik, verspricht demnach auch interessante Einblicke zur Interessenvertretung in heterogenen Tätigkeitsfeldern. Die Untersuchung beschränkt sich auf die bundesdeutsche Ärzteschaft, die während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts national-föderal organisiert war und es bis heute ist. Eine angemessene Verortung des Geschehens in inter- und transnationale Zusammenhänge soll gewährleistet bleiben; ein symmetrisch angelegter Vergleich wird hingegen nicht angestrebt.15 Stattdessen sucht die gewählte An13 Vgl. Johanna Bleker, Medizin im Dienst des Krieges – Krieg im Dienst der Medizin: Zur Frage der Kontinuität des ärztlichen Auftrags und ärztlicher Werthaltungen im Angesicht des Krieges, S. 21, in: Johanna Bleker & Heinz-Peter Schmiedebach (Hrsg.), Medizin und Krieg: Vom Dilemma der Heilberufe 1865–1985. Frankfurt/M. 1987, S. 13–25. 14 Im Gegenteil; es wird sogar argumentiert, dass ein Experte seinen Status ablegt bzw. ruhen lässt, sofern es ihm gelingen sollte, selbst zum Entscheider zu werden. Vgl. Steven Brint, Rethinking the Policy Influence of Experts: From General Characterizations to Analysis of Variation, S. 364, in: Sociological Forum 5, 3/1990, S. 361–385. 15 Vgl. die Argumentation Stenecks, der in seiner grundlegenden Arbeit zum bundesdeutschen Zivilschutz zwar den verflochtenen Charakter der deutsch-deutschen Geschichte bejaht, aber aufgrund

Zielsetzung, Quellenbasis und Aufbau der Arbeit

lage, der inhärenten Komplexität der Akteure Rechnung zu tragen und Vereinfachungen auszuweichen, welche bei einem breiteren Projektzuschnitt über den gleichen, langen Untersuchungszeitraum kaum vermeidbar wären. Die Bundesrepublik Deutschland stellt für das gewählte Thema zudem aus mehreren Gründen einen vielversprechenden Untersuchungsort dar, von denen die geographische Lage im Kalten Krieg, die nationale Teilung, die NS-Vergangenheit (insbesondere auch der Ärzteschaft selbst) sowie die zu erwartende, mit diesen Punkten verbundene Schärfe ideologisch-politischer Debatten bereits an dieser Stelle benannt seien. Ausgehend von diesen ersten Überlegungen verfolgt die vorliegende Arbeit im Kern vier Leitfragen. Die erste bezieht sich auf den Charakter der angenommenen und ausgedeuteten Szenarien. Um sich beruflich auf den Ernstfall vorbereiten zu können, musste dieser aus ärztlicher Sicht spezifiziert werden. Diese Konkretisierung des zunächst Allgemeinen bestimmte nicht allein die sich anschließenden, fachlichen Vorbereitungsmaßnahmen, sondern mag aus Sicht des Historikers zudem Einblicke in die Mentalitäten derjenigen gestatten, die sich solche – wie auch immer bestimmte – Katastrophen zum Beruf machten. Als Zweites wird nach möglichen Rückbezügen der angenommenen Szenarien und sich hieran anschließende Maßnahmen auf die Institutionen und Verbände der bundesdeutschen Ärzteschaft gefragt. Inwiefern reagierten diese auf die berufliche Beschäftigung mit dem Katastrophischen? Entstanden neue Institutionen bzw. Institutionsformen? Prägten entsprechende Vorbereitungen die wechselseitigen Beziehungen der verschiedenen Berufsorgane? Auf dritter, wiederum höherer Ebene stellt sich die Frage nach den Auswirkungen auf den Arztberuf als solchen. Veränderte der postulierte Versuch einer beruflichen Handhabung vernichtender Szenarien bis hin zum Atomkrieg die hierzulande vorherrschende Idealvorstellung einer „guten“ Ärztin bzw. eines „guten“ Arztes? Welche Ausprägungen ärztlichen Selbstverständnisses zeigten sich und wie wurden diese durch die Konfrontation mit der extremen Thematik wiederum beeinflusst? Der vierte Fragenkomplex schließlich nimmt die Ärzteschaft in ihrem Verhältnis zu weiteren sicherheitspolitischen Akteuren in den Blick. Wie gestaltete sich der Umgang zwischen Ärzten und Nicht-Ärzten auf dem existenziell

gravierender Systemdifferenzen auf der Relevanz nationalstaatlicher Einzelstudien beharrt: Nicholas Steneck, Everybody Has a Chance: Civil Defense and the Creation of Cold War West German Identity, 1950–1968. Diss. Phil. Columbus, Ohio 2005, S. 29–30. Vgl. hingegen auch Heitmanns einseitige Monographie zum Zivilschutz der DDR, der eine zumindest punktuell vorgenommene, vergleichende Einbeziehung der Zivilschutzbemühungen westlicher Nationen durchaus gut getan hätte: Clemens Heitmann, Schützen und Helfen?: Luftschutz und Zivilverteidigung in der DDR 1955 bis 1989/90 (Militärgeschichte der DDR 12). Berlin 2006. Siehe hierzu auch Christian Th. Müllers Rezension in: sehepunkte 6/2006, 11, http://www.sehepunkte.de/2006/11/11145.html (aufgerufen am 26.1.2019).

15

16

Einleitung

aufgeladenen, viele Bereiche tangierenden Handlungsfeld des Zivil- und Katastrophenschutzes? Welche Formen der Kooperation und Konfrontation zeigten sich und inwiefern gelang es der Ärzteschaft, ihre berufsspezifischen Ansichten in konkrete Gestaltungsmacht zu übersetzen, gerade auch gegenüber den demokratisch legitimierten politischen Entscheidungsträgern? Aus diesen durchweg aufeinander Bezug nehmenden und somit kaum isoliert adressierbaren Leitfragen ergibt sich auch der methodische Zugang der Untersuchung. Zunächst mag man sie als Diskursgeschichte betrachten, da sie den sich wandelnden Charakter des aus ärztlicher Sicht Denkbaren, Sagbaren und Machbaren in Bezug auf katastrophische Ereignisse nachzuzeichnen sucht. Der die Diskursforschung bestimmende Gedanke des Konstruktionscharakters von Wirklichkeit spiegelt sich dabei explizit im zunächst leeren Begriff der Katastrophe bzw. des Katastrophischen, welches, anlehnend an die Frage nach dem Charakter angenommener Szenarien, diskursiver Konkretisierung bedurfte, um überhaupt Wirkmächtigkeit entfalten zu können (vgl. hierzu auch das nächste Kapitel).16 Da im Folgenden allerdings weniger die prinzipiellen Regeln des Denk-, Sag- und Machbaren im Vordergrund stehen sollen, sondern vielmehr die historische Analyse konkreter, zumeist berufsspezifischer Kommunikationssituationen, ist die vorliegende Arbeit eher dem mit der Diskursgeschichte verwandten Ansatz der Historischen Semantik zuzurechnen.17 Dietrich Busse beispielsweise definiert diesen folgendermaßen: Es muß zu untersuchen versucht werden, wie das Auftauchen und die Kombination der einzelnen diskursiven Mittel (Gegenstände, Äußerungsformen etc.) zusammenhängen, ob sie einer Strategie zugeordnet werden können. Diese Strategie muß durch die einzelnen Äußerungen und Texte verfolgt werden; es muß bestimmt werden, ob sich […] verschiedene Strategien treffen (kreuzen und verbinden).18

Gerade durch den Verweis auf bewusst verfolgte Diskursstrategien betont Busses Auslegung der Historischen Semantik deutlich stärker die Wirkmächtigkeit souverän sprechender und handelnder Akteure als dies im Rahmen diskursgeschichtlicher Ansätze zumeist geschieht bzw. überhaupt als hilfreich erachtet wird. Passend

16 Achim Landwehr, Diskurs und Diskursgeschichte, Version 2.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 1.3.2018, http://docupedia.de/zg/Landwehr_diskursgeschichte_v2_de_2018#cite_note-11 (aufgerufen am 23.2.2019). 17 Zur Historischen Semantik und der in Bezug auf das Wort „Katastrophe“ ebenfalls relevanten Begriffsgeschichte vgl. Kathrin Kollmeier, Begriffsgeschichte und Historische Semantik, Version 2.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 29.10.2012, https://docupedia.de/zg/Begriffsgeschichte _und_Historische_Semantik_Version_2.0_Kathrin_Kollmeier (aufgerufen am 23.2.2019). 18 Dietrich Busse, Historische Semantik: Analyse eines Programms. Stuttgart 1987, S. 263.

Zielsetzung, Quellenbasis und Aufbau der Arbeit

hierzu ist in den kommenden Kapiteln meistens nicht die Rede von einem medizinischen oder gar klinischen System, angelehnt etwa an Michel Foucault,19 sondern von konkreten Akteuren: verallgemeinernd von „der Ärzteschaft“, insbesondere aber auch von im näheren Fokus der Analyse stehenden, ihr zugeordneten Teilgruppen und Individuen. Dies führt gerade unter Beachtung der zweiten Leitfrage dazu, dass nicht allein der Wandel von Begriffen erörtert, verbreitete Topoi bzw. narrative Muster identifiziert sowie insgesamt zentrale Argumentationsstrukturen der Ärzteschaft in Konfrontation mit der Vorstellung des Katastrophischen freigelegt werden sollen: Überall dort, wo sprachlich-argumentative Aushandlungsprozesse beispielsweise zur Schaffung neuer ärztlicher Institutionen oder Handlungsanweisungen führten, soll stichprobenartig auch entsprechenden institutionellen, fachlichen und personellen Entwicklungen nachgespürt werden. Die konsequente Verknüpfung beider Ansätze – an konkreter Realität orientierte Professions- und Institutionsgeschichte sowie eine diese Realität erst ermöglichende Historische Semantik – scheint essenziell zu sein zur Beantwortung des angewandten Fragenkatalogs, der ebenso sehr mentalitäts- und (berufs-)kulturelle wie faktische Befunde in Aussicht stellt. Durchaus typisch für zeithistorische Forschungen bestimmte keineswegs der Mangel, sondern ein Übermaß an verfügbarem Quellenmaterial das Entstehen dieser Studie. Die sich am Forschungsstandort Köln befindende Deutsche Zentralbibliothek für Medizin bot dabei leichten Zugang zur gesamten veröffentlichten, zeitgenössischen Spezialliteratur sowie zu allen relevanten Periodika, wovon insbesondere das Deutsche Ärzteblatt als allen bundesdeutschen Ärztinnen und Ärzten kostenfrei zugestelltes zentrales Presseerzeugnis bereits an dieser Stelle hervorzuheben ist. Neben einer Vielzahl publizierter Quellen wurde zudem extensiv auf Archivbestände des Bundesarchivs zurückgegriffen, von denen beispielhaft zwei genannt seien: der in Koblenz lagernde Bestand der Bundesärztekammer (B 417) sowie der im Militärarchiv in Freiburg vorzufindende Bestand der Inspektion des Sanitätswesens der Bundeswehr (BW 24), die gemeinsam gestatteten, sowohl den zivilen als auch den militärischen Zweig der hiesigen Ärzteschaft detailliert berücksichtigen zu können.20 Insbesondere der Bestand der Bundesärztekammer, die einer themenbezogenen Einsicht erfreulicherweise bis zum Ende des Untersuchungszeitraums zustimmte, muss als essenziell bezeichnet werden. Das in seiner Fülle kaum zu überblickende und leider völlig unerschlossene Material enthält u. a. weitreichende Informationen zu den Deutschen Ärztetagen, zahlreiche Unterlagen jahrelang bestehender Arbeitskreise zur Tätigkeit der Ärzteschaft im Zivil- und

19 Vgl. Michel Foucault, Die Geburt der Klinik: Eine Archäologie des ärztlichen Blicks. Übersetzt von Walter Seitter. Frankfurt/M. 1991 (Originalausgabe 1963). 20 Eine vollständige Auflistung der verwendeten Archivbestände findet sich im Anhang.

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Einleitung

Katastrophenschutz (z. B. Arbeits- und Abschlussberichte, Protokolle, Korrespondenz), verschiedene, teils umfassend kommentierte Entwürfe relevanter Gesetze, dokumentierte Entstehungsprozesse zentraler Fachpublikationen sowie eine Fülle interessanter Korrespondenz verantwortlicher Ärzte zu nahezu allen Aspekten der im Mittelpunkt dieser Arbeit stehenden Themenkomplexe, sowohl berufsintern als auch z. B. mit Vertretern des Innen-, Gesundheits- und Verteidigungsministeriums sowie mit einer Vielzahl nicht-ärztlicher Organisationen. Analog hierzu erwies sich auch der Bestand der Inspektion des Sanitätsdienstes der Bundeswehr als im Sinne der gestellten Forschungsfragen überaus ertragreich. Neben manchen, mit den Aktensätzen der Bundesärztekammer durchaus vergleichbaren Materialtypen (z. B. Diskussion von Gesetzentwürfen und Fachpublikationen, Korrespondenz) sei auf zahlreiche Informationen zur seinerzeit geplanten zivil-militärischen Zusammenarbeit auf dem Gebiet des gesundheitlichen Zivilschutzes ebenso verwiesen wie auf einschlägiges Material etwa zur Erforschung der Strahlenkrankheit sowie, allgemeiner, zum angenommenen sanitätsdienstlichen Kriegsbild und zur hieraus abgeleiteten Aus- und Fortbildungspraxis der Sanitätsoffiziere der Bundeswehr. Jenseits dieser beiden Sammlungen wurde ergänzend auf weitere Archivbestände zurückgegriffen, von denen hier lediglich der in der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg (FZH) lagernde Bestand der bundesdeutschen ärztlichen Friedensbewegung als mit Abstand wesentlichster gesondert angeführt sei. Ebenso wie die Bundesärztekammer gestattete auch die deutsche Sektion der International Physicians for the Prevention of Nuclear War (IPPNW) die Einsicht entsprechender Archivalien bis zum Jahr 1990 und trug damit dazu bei, eine lückenlose Fortschreibung der Untersuchung über allgemein übliche Sperrfristen hinaus zu gewährleisten. Zum Abschluss dieser kursorischen Vorstellung der verwendeten Quellenbasis sei betont, dass auf die bei zeithistorischen Untersuchungen zunächst naheliegend scheinende Einbeziehung von Oral-history-Interviews bewusst verzichtet wurde. Nicht allein hätten solche den angesichts der Vielzahl gut zugänglicher Quellenbestände ohnehin hohen Rechercheaufwand zusätzlich vermehrt; es hätte auch die Gefahr argumentativer Verzerrungen bestanden, da viele der bedeutendsten Ärzte, die sich während des Untersuchungszeitraums um den medizinischen Zivil- und Katastrophenschutz bemühten, bereits verstorben waren. Eine systematische und aus historischer Relevanz abgeleitete Anwendung der Oral-history-Methode schied demnach frühzeitig aus. Nach dieser grundlegenden Vorstellung von Zielsetzung und Materialbasis sollen nun zunächst der Katastrophenbegriff problematisiert, der Zivilschutz als zentraler Handlungsrahmen sowie die Ärzteschaft als Kollektivakteur vorgestellt und die Einleitung damit abgeschlossen werden. Das darauffolgende inhaltliche Kernstück der Arbeit besteht aus drei Teilen. Hiervon behandelt der erste den vergleichsweise langen Zeitraum von 1950 bis 1980 und thematisiert zunächst die Diskussion des Katastrophischen aus Sicht des Sanitätsdienstes der Bundeswehr sowie den

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Transfer und die damit einhergehende Transformation relevanter Wissensbestände vom Militär zu den ärztlichen Berufsverbänden. Am Ende dieses Teils wird die Formierung des neuen, nunmehr zivilmedizinischen Handlungsfeldes der Katastrophenmedizin bestimmt. Der zweite, chronologisch kürzer geschnittene Teil nimmt im Anschluss die sich hieran entzündenden, in den Jahren 1981 bis 1985 stattfindenden Kontroversen in den Blick. Diese begannen nahezu zeitgleich mit den öffentlichen Diskussionen um den sogenannten Doppelbeschluss der NATO, wurden aber über deren Ende hinaus fortgeführt. Ebenfalls behandelt wird die trotz vielfältiger Widerstände vorgenommene, graduelle Etablierung der Katastrophenmedizin als zwischen Kaltem Krieg und ziviler Risikogesellschaft agierender medizinischer Fachrichtung. Der dritte Abschnitt des Hauptteils schließlich widmet sich deren Veränderungen im Zuge der Tschernobyl-Katastrophe des Jahres 1986, während das abschließende Fazit der Arbeit empirisch gestützte Antworten zu dem eingangs vorgestellten Fragenkatalog formuliert.

1.3

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Unter dem Eindruck des Reaktorunglücks im ukrainischen Kernkraftwerk Tschernobyl ergänzte der Soziologe Ulrich Beck seine im Jahr 1986 erschienene Studie zur von ihm selbst so getauften Risikogesellschaft „aus gegebenem Anlaß“ um ein zweites Vorwort. Die ersten Sätze lauteten nunmehr: Arm an geschichtlichen Katastrophen war dieses Jahrhundert wahrlich nicht: zwei Weltkriege, Auschwitz, Nagasaki, dann Harrisburg und Bhopal, nun Tschernobyl. Das zwingt zur Behutsamkeit in der Wortwahl und schärft den Blick für die historischen Besonderheiten.21

Aus heutiger Sicht wirkt seine Aneinanderreihung so vollkommen unterschiedlicher Ereignisse wohl eher befremdlich als behutsam. Interessant ist zumal, dass Becks Satz zeitlich parallel zum sogenannten Historikerstreit erschien, der u. a. die Grenzen historischer Vergleichbarkeit zum Gegenstand hatte.22 Während also im

21 Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Frankfurt/M. 1986, S. 7. Zur weiteren Einordnung von Becks Hauptwerk vgl. Gabriele Metzler, Demokratisierung des Risikos? Ulrich Becks „Risikogesellschaft“, in: Zeithistorische Forschungen, Online-Ausgabe 7, 2/2010, http://www.zeithistorische-forschungen.de/22010/id=4600 (aufgerufen am 26.1.2019). 22 Als Überblick hierzu vgl. Klaus Große Kracht, Debatte: Der Historikerstreit, Version 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 11.1.2010, http://docupedia.de/zg/Historikerstreit?oldid= 106429 (aufgerufen am 4.5.2016).

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Abb. 3 Ngram-Viewer Rechercheergebnis, https://books.google.com/ngrams.

Feuilleton der Bundesrepublik heftig über die Singularität des Holocaust gestritten wurde, war dessen vergleichende oder assoziative Verwendung auf anderem Terrain längst üblich. Parallel zu den Protesten gegen die Nachrüstungspolitik zu Beginn der 1980er Jahre avancierte „atomarer Holocaust“ zur wohl beliebtesten Floskel der westdeutschen Friedensbewegungen, um dem befürchteten Atomkrieg zwischen der NATO und dem Warschauer Pakt ein Gesicht zu verleihen.23 Googles Ngram-Viewer mag dies verdeutlichen; auch wenn die über das umstrittene Google-Books-Programm ermittelten Ergebnisse letztlich intransparent sind, geben sie doch einen guten ersten Einblick bezüglich der relativen Verwendungshäufigkeit von Begriffen bzw. Begriffspaarungen in einem bestimmten Zeitraum.24 Die auffallend häufige Verwendung des Holocaust als sprachliche Chiffre für den befürchteten Weltuntergang gerade um das Jahr 1986 illustriert, wie sehr Becks „behutsame Wortwahl“ dem friedensbewegten Trend entsprach.25 Und – ob als Reaktion oder aus eigenem Antrieb – auch die konservative Gegenseite suchte, den imperativen Fingerzeig auf die Lehren aus Auschwitz für ihre eigenen Argu-

23 Vgl. Christoph Becker-Schaum, Philipp Gassert, Martin Klimke, Wilfried Mausbauch & Marianne Zepp, Einleitung: Die Nuklearkrise der 1980er Jahre; NATO-Doppelbeschluss und Friedensbewegung, S. 24, in: dies. (Hrsg.), „Entrüstet Euch!“ Nuklearkrise, NATO-Doppelbeschluss und Friedensbewegung. Paderborn 2012, S. 7–37. 24 Online unter: https://books.google.com/ngrams. Für eine kurze Erläuterung der dem Ngram-Viewer zugrunde liegenden Methodik vgl. https://books.google.com/ngrams/info (beide aufgerufen am 26.1.2019). Allgemein formuliert bezeichnen N-Gramme die einzelnen Fragmente, aus denen ein Text zusammengefügt ist, wobei im vorliegenden Kontext Worte und ggf. Wortkombinationen gemeint sind. Ebenfalls vorstellbare N-Gramme wären z.B. Phoneme und Buchstaben. 25 In Erinnerung gerufen sei die in Westdeutschland vergleichsweise spät einsetzende Popularisierung des Holocaustbegriffs u. a. durch die gleichnamige Fernsehreihe, vgl. Marvin J. Chomsky (Regie), Holocaust. Titus Productions/NBC 1978.

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mentationen zu nutzen.26 Solche im Lauf der 1980er Jahre zusehends routiniert verwandte argumentative Strukturen belegen, wie sehr die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs die Erwartung eines dritten prägte.27 Die so oft personalisierte „Bombe“, an die man sich trotz populärer Appelle nie völlig gewöhnen wollte,28 repräsentierte dabei als finale Waffe des Zweiten Weltkriegs und nunmehr zentrales Artefakt der Blockkonfrontation zwischen Ost und West29 die düstere Möglichkeit, dass der Völkermord der Konzentrationslager vielleicht nicht singulärer Höhepunkt des Schreckens, sondern der Anfang vom Ende der Welt gewesen sein könnte.30 In diesem Kontext wurde selten thematisiert, dass Vergleiche zwischen einem bis heute glücklicherweise theoretisch gebliebenen Atomkrieg und dem rassistisch motivierten Massenmord der Nationalsozialisten nicht nur historisch schief, sondern oft auch unangemessen sein mochten; der antizipierte Schrecken schien vielmehr derart übergroß, dass sich allein Auschwitz als Vergleichspunkt anbot. Der Anfang von Becks Risikogesellschaft potenzierte diese zeitgenössische Praxis der überhöhenden Assoziation: Während es auch aus gegenwärtiger Sicht verständlich erscheinen mag, sich einen dritten Weltkrieg auf Basis des vorangegangenen vorzustellen, irritiert die Verknüpfung des Schreckens der Weltkriege mit Kernkraft- und Chemieunfällen wie in Harrisburg 1979 oder in Bhopal 1984. Die Auswirkungen der Kernschmelze in Tschernobyl waren in der Bundesrepublik Deutschland heftig umstritten und wurden je nach politischer Motivation sowohl über- als auch unterschätzt,31 können

26 So z. B. der damalige CDU-Generalsekretär Heiner Geißler, der am 15.6.1983 im Rahmen einer Bundestagsdebatte die These aufstellte, dass der Pazifismus der 1930er Jahre den Massenmord in Auschwitz erst ermöglicht habe, vgl. Andreas Wirsching, Abschied vom Provisorium, 1982–1990 (Geschichte der Bundesrepublik Deutschland). München 2006, S. 97. 27 Vgl. Michael Geyer, Der Kalte Krieg, die Deutschen und die Angst: Die westdeutsche Opposition gegen Wiederbewaffnung und Kernwaffen, S. 315, in: Klaus Naumann (Hrsg.), Nachkrieg in Deutschland. Hamburg 2001, S. 267–318. Zur Begriffspaarung Erfahrungsraum und Erwartungshorizont vgl. Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft: Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt/M. 1979, S. 359–375. 28 Vgl. den zum geflügelten Wort avancierten Titel der vielbeachteten Artikelserie: Carl Friedrich von Weizsäcker, Mit der Bombe leben (I–IV), in: Die Zeit, 15.5., 22.5., 29.5. und 5.6.1958. 29 Vgl. Jeremi Suri, Logiken der atomaren Abschreckung oder Politik mit der Bombe, in: Bernd Greiner, Christian Th. Müller & Dierk Walter (Hrsg.), Krisen im Kalten Krieg (Studien zum Kalten Krieg 2). Hamburg 2008, S. 24–47. Vgl. als grundlegende Überlegung hierzu nach wie vor auch George Orwell, You and the Atomic Bomb, in: The Tribune, 19.10.1945. 30 Vgl. Michael Salewski, Einleitung: Zur Dialektik der Bombe, S. 16, in: Michael Salewski (Hrsg.), Das Zeitalter der Bombe: Die Geschichte der atomaren Bedrohung von Hiroshima bis heute. München 1995, S. 7–26. 31 Melanie Arndt, Tschernobyl: Auswirkungen des Reaktorunfalls auf die Bundesrepublik Deutschland und die DDR. Erfurt 2011, S. 146.

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aber keineswegs mit Auschwitz und Nagasaki verglichen werden.32 Die verbindende Klammer derart unterschiedlicher Ereignisse ist bei Beck hingegen klar: Ob Weltkriege, Auschwitz, Nagasaki oder Tschernobyl – alle waren Katastrophen. Über den Katastrophenbegriff selbst ist lange Zeit nur wenig Geistes- und Gesellschaftswissenschaftliches publiziert worden, insbesondere wenn man dessen ubiquitäre Verwendung im öffentlichen Raum in Rechnung stellt. Olaf Briese und Günther Timo bezeichneten ihn noch im Jahr 2009 als „gravierende theorie- und begriffsgeschichtliche Leerstelle“ und fügten hinzu, dass der „Nichtforschungsstand“ alle Erwartungen übertreffe.33 Der aktuelle Duden führt als gängige Definition zwei Komponenten an: „schweres Unglück, Naturereignis mit verheerenden Folgen“ sowie „(Literaturwissenschaft) entscheidende Wendung [zum Schlimmen] als Schlusshandlung im [antiken] Drama“.34 Obwohl selbst diese knappe Definition die ursprüngliche Herkunft aus der Dramentheorie nicht ausspart,35 wirkt sie doch klarer, als der Begriff in der Vielfalt seiner tatsächlichen Verwendungen zu sein scheint. Herfried Münkler hat der jüngeren Zeit eine „Veralltäglichung des Katastrophalen“36 attestiert und auch an anderer Stelle ist darauf hingewiesen worden, dass der gegenwärtig allzu beliebte Begriff Gefahr laufe, sich selbst zu dementieren.37 Da er aber trotz solcher Tendenzen zur Trivialisierung nach wie vor auch zur Bezeichnung horrender Ereignisse verwendet wird, vervielfacht sich seine semantische Spannweite: „So oszilliert die Katastrophe zwischen dem Malheur, das kein Schreiben an die Versicherung lohnt, und dem GAU (‚größter anzunehmender Unfall‘) eines Atomreaktors, der alle Versicherungen sprengt.“38 Es ist diese Kontextabhängigkeit und der stetigen Ausdeutung bedürfende Relativität des Katastrophenbegriffs, die es Ulrich Beck ermöglichte, mit ihm Auschwitz und Tschernobyl sprachlich zusammenzuklammern und die ihn zusehends auch für die historische Forschung interessant gemacht hat, so dass man zumindest von einem Nichtforschungsstand inzwischen nicht mehr sprechen kann. Neben ersten Versuchen kulturhistorischer Betrachtungen in der longue durée mehrerer

32 Arndt beziffert die unmittelbaren Todesopfer im Zusammenhang mit dem Reaktorunfall auf 31 (Arndt, Tschernobyl, S. 50) – trotz aller moralischer und methodischer Schwierigkeiten solcher Quantifizierungen eine völlig andere Größenordnung als die zehntausenden unmittelbaren Todesopfer in Hiroshima und Nagasaki, vom Holocaust ganz zu schweigen. 33 Olaf Briese & Günther Timo, Katastrophe: Terminologische Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, S. 156, in: Archiv für Begriffsgeschichte 51/2009, S. 155–195. 34 http://www.duden.de/rechtschreibung/Katastrophe (aufgerufen am 26.1.2019). 35 Für eine genauere Begriffsgenese vgl. Briese & Timo, Katastrophe. 36 Herfried Münkler, Revolution, Krieg und Katastrophe: Ein Diskurs über Domestizierung und Enthegung, S. 95, in: Leon Hempel, Marie Bartels & Thomas Markwart (Hrsg.), Aufbruch ins Unversicherbare: Zum Katastrophendiskurs der Gegenwart. Bielefeld 2013, S. 95–139. 37 Briese & Timo, Katastrophe, S. 194. 38 Münkler, Revolution, Krieg und Katastrophe, S. 95.

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Jahrhunderte39 sind hierzulande einzelne epochenübergreifend und vergleichend angelegte Sammelbände zum gesellschaftlichen Umgang mit Naturkatastrophen im Wandel der Zeit aufgefallen. Zentrale Prämisse der gegenwärtigen Literatur ist dabei zumeist, Katastrophen als „Kommunikationsereignisse“40 zu betrachten, die in unterschiedlichen Gesellschaftsformen jeweils unterschiedlich aufgearbeitet werden. Im Blickfeld der Untersuchungen steht also nicht etwa ein als katastrophisch bezeichnetes Ereignis, sondern der diesem ausgesetzte und sich an ihm abarbeitende Mensch.41 Der Katastrophenbegriff findet im tatsächlichen Gebrauch keineswegs nur bei Naturereignissen, sondern auch bei durch menschliches Fehlverhalten verursachten Szenarien Verwendung. Die vorstellbare Unterscheidung zwischen natürlichem und menschlichem Katastrophenursprung mag dabei an die klassische definitorische Trennung der Begriffe Gefahr und Risiko erinnern, wobei eine Naturkatastrophe der von außen hereinbrechenden Gefahr entspricht. Atomreaktoren, Chemiewerke und letztlich auch Kriege werden hingegen betrieben, weil sich bestimmte Gruppierungen hiervon einen Vorteil erhoffen. Die damit verbundenen Katastrophenpotenziale verweisen demnach auf den Risikobegriff, der das bewusste In-Kauf-Nehmen potenzieller Schäden zugunsten eines erhofften Gewinns beinhaltet. Trennscharf zu unterscheiden sind Risiken und Gefahren nicht. Niklas Luhmann etwa betont, dass die Auswirkungen moderner Risiken gerade nicht in erster Linie die Verantwortlichen betreffen, sondern regelmäßig zur externen Gefahrenquelle für diejenigen werden, die selbst keinerlei Einfluss auf die ursprüngliche Risikoentscheidung hatten.42 Darüber hinaus erschweren komplexe, oftmals systemisch verborgende Verantwortlichkeiten die Zurechenbarkeit menschlich verursachter Katastrophen: Nachdem das Schlimmste geschehen ist, sind meist derart viele Personen „ein

39 François Walter, Katastrophen: Eine Kulturgeschichte vom 16. bis ins 20. Jahrhundert. Übersetzt von Doris Butz-Striebel und Trésy Lojoly. Stuttgart 2010 (Originalausgabe 2008). 40 Kurt Imhof, Katastrophenkommunikation in der Moderne, S. 145, in: Peter Rusterholz & Rupert Moser (Hrsg.), Katastrophen und ihre Bewältigung: Perspektiven und Positionen. Bern (u. a.) 2004, S. 145–163. 41 Dieter Groh, Michael Kempe & Franz Mauelshagen, Einleitung: Naturkatastrophen; Wahrgenommen, gedeutet, dargestellt, S. 19, in: Dieter Groh (Hrsg.), Naturkatastrophen: Beiträge zu ihrer Deutung, Wahrnehmung und Darstellung in Text und Bild von der Antike bis ins 20. Jahrhundert. Tübingen 2003, S. 11–33. 42 Niklas Luhmann, Soziologie des Risikos. Berlin (u. a.) 1991, S. 119. Wolfgang Bonß bezeichnet solche Gefahren treffend als „Gefahren zweiter Ordnung“, siehe Wolfgang Bonß, Vom Risiko: Unsicherheit und Ungewissheit in der Moderne. Hamburg 1995, S. 80. Vgl. hierzu auch Charles Perrow, Normale Katastrophen: Die unvermeidbaren Risiken der Großtechnik. Übersetzt von Udo Rennert. Frankfurt/M. (u. a.) 1987 (Originalausgabe 1984), S. 357: „Letzten Endes geht es nicht um Risiken, sondern um Macht – um die Macht nämlich, im Interesse einiger weniger den vielen anderen enorme Risiken aufzubürden.“

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bisschen“ schuldig, dass es für einen tatsächlichen Schuldspruch nirgendwo mehr ausreicht.43 Ebenso wie der Gefahrenbegriff kann nun auch die Deklarierung eines Ereignisses als Katastrophe – der Duden-Definition entsprechend ein nicht beabsichtigtes Unglück – dazu genutzt werden, um die Öffentlichkeit von der spezifischen, eventuell persönlich zurechenbaren Genese abzulenken und sie stattdessen auf die anstehende, vorgeblich unpolitische Bewältigungsleistung auszurichten. Speziell in einer hochtechnisierten Umgebung, in der Katastrophenszenarien – wie bereits von Charles Perrow beschrieben44 – häufig direkte oder indirekte Resultate menschlicher Risikoentscheidungen sind, mag der Verwendung des Begriffs durchaus etwas Verschleierndes anhaften. Diese rhetorische Praxis verfügt leider bereits über eine lange Tradition. So entspricht etwa die tradierte Bezeichnung der Weltkriege als Katastrophen letztlich demselben Muster.45 Münkler schreibt hierzu: Wo von einer Katastrophe die Rede ist, soll gesagt werden, dass das, was passiert ist, nicht gewollt wurde. […] Indem der Ausbruch des Ersten Weltkriegs als ein katastrophisches Ereignis apostrophiert wird, hat der Begriff eine politisch exkulpative Funktion.46

Dieser exkulpative Charakter des Begriffs kann durch eine auf das unmittelbare Jetzt verweisende, aktivierende und imperative Konnotation noch verstärkt werden. Bei Hempel und Bartels heißt es in diesem Zusammenhang: Katastrophen-Sprechakte sind […] als Souveränitätsbehauptungen konzeptualisiert. […] Es erscheint als humanitärer oder gleichsam naturrechtlicher Konsens, angesichts der erklärten Katastrophe, der Deklaration größtmöglichen Schreckens, ohne Diskussion, sogar unter Missachtung geltender Gesetze handeln zu müssen. Die Katastrophen-Erklärung entzieht sich dem politischen Diskurs, ist nicht verhandelbar, weil die unmittelbare Folge des katastrophischen Ereignisses als existenzielle Not behauptet wird.47

43 Vgl. Beck, Risikogesellschaft, S. 43. Hingewiesen sei in diesem Zusammenhang durchaus auch auf die notorisch schwierige Erörterung von Schuldfragen nach Kriegen. 44 Vgl. Perrow, Normale Katastrophen. 45 Ernst Jüngers wirkmächtige Beschreibung des Krieges als „Stahlgewitter“ – d. h. als Wettererscheinung, die sich der eigenen Verantwortung entzieht – gehört ebenso zu diesem Konnex; vgl. hierzu Georg Mein, Deutungsmuster der Katastrophe: Erhabenheit und Evangelium in Ernst Jüngers Stahlgewittern, in: Claude Conter, Oliver Jahraus & Christian Kirchmeier, Der Erste Weltkrieg als Katastrophe: Deutungsmuster im literarischen Diskurs (Film – Medium – Diskurs 53). Würzburg 2014, S. 243–260. 46 Münkler, Revolution, Krieg und Katastrophe, S. 97. 47 Leon Hempel & Thomas Markwart, Einleitung: Ein Streit über die Katastrophe, S. 12–13, in: Leon Hempel (u. a., Hrsg.), Aufbruch ins Unversicherbare, S. 7–27.

Katastrophe als Erfahrung und Erwartung

In dieser Eigenschaft verknüpft sich der Katastrophenbegriff mit dem seit den Terroranschlägen vom 11.9.2001 wieder vielbeachteten, aus geisteswissenschaftlicher Sicht insbesondere von Giorgio Agamben diskutierten (Rechts-)Konzept des Ausnahmezustands als vorstellbare Reaktion auf das Katastrophische.48 Die Idee des Konzepts selbst ist deutlich älter; neben dem von Agamben häufig herangezogenen Carl Schmitt wird die Praxis des Ausnahmezustands in Agambens Sinne auch in Becks Risikogesellschaft erläutert: Die Risikogesellschaft ist also keine revolutionäre Gesellschaft, sondern mehr als das: eine Katastrophengesellschaft. In ihr droht der Ausnahme- zum Normalzustand zu werden. Daß die aktuelle oder potentielle Katastrophe keine Lehrmeisterin in Sachen Demokratie ist, wissen wir aus der deutschen Geschichte dieses Jahrhunderts nur allzu gut.49 […] Die Risikogesellschaft enthält eine Tendenz zu einem ‚legitimen‘ Totalitarismus der Gefahrenabwehr, der mit dem Recht, das eine Schlimmste zu verhindern, in nur allzubekannter Manier das andere Noch-Schlimmere schafft.50

Hier treffen nun mehrere der bislang vorgestellten Argumente aufeinander: Nicht nur wird bei Beck das Katastrophenpotenzial der Gegenwart prinzipiell mit dem bewusste Inkaufnahme signalisierenden Risiko- anstatt mit dem auf ein unkontrollierbares Externes verweisenden Gefahrenbegriff verknüpft. Zusätzlich wird auch darauf hingewiesen, dass ein als katastrophisch deklariertes Ereignis dazu genutzt werden könne, politisch außergewöhnliche Maßnahmen zu rechtfertigen, welche gerade im Licht deutscher Erfahrungen aus der NS-Zeit kritisch zu sehen seien. Die Ausrufung des Ausnahmezustands selbst diene dann, so lautet hier wie – vereinfacht – später bei Agamben die These, in aller Regel nicht dem Beheben einer faktischen Katastrophenlage, sondern als Feigenblatt einer Exekutive, die auf dem Boden des Rechtsstaates das Recht selbst außer Kraft zu setzen sucht.51 Obwohl also bereits bei Beck klar von anderen Szenarien ausgegangen wurde als noch in den 1950er und 1960er Jahren, blieb zumindest die befürchtete staatliche Reaktion auf das Katastrophische eng mit den Erfahrungen der (Weltkriegs-)Vergangenheit verhaftet. Vor diesem Hintergrund erhält sein eingangs thematisierter Einleitungssatz einen gänzlich anders gearteten Subtext: Auch wenn sich das Zerstörungspotenzial

48 Giorgio Agamben, Ausnahmezustand (homo sacer 2.1). Übersetzt von Ulrich Müller-Schott. Frankfurt/M. 2001. 49 Beck, Risikogesellschaft, S. 105. 50 Ebd., S. 106. Betonungen im Original. 51 Vgl. Agamben, Ausnahmezustand, S. 8–14. Auch Agamben beruft sich dabei in seiner Darstellung auf historische Beispiele und behauptet zumal, dass der Ausnahmezustand als Regierungsinstrument während der Zeit des Ersten Weltkriegs erprobt worden sei.

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technischer Großunfälle von den Weltkriegen und dem Holocaust deutlich unterscheiden mag, so wird es letztlich doch als existenziell bedrohend für Demokratie und Rechtsstaat gedeutet, da es die Wiedereinführung eben jener totalitären Praktiken begünstige, die in der Zwischenkriegszeit das Ende der Weimarer Republik besiegelten. Nach dieser Sichtweise schien die Bundesrepublik des Jahres 1986 keinesfalls „geglückt“;52 vielmehr überwog selbst vierzig Jahre nach Kriegsende das Misstrauen gegenüber einer Exekutive, der unterschwellig zugetraut wurde, als Reaktion auf einen postulierten Reichstagsbrand abermals zu den gefürchteten Notverordnungen zu greifen. Diese tiefe Skepsis gegenüber dem Staat und dessen präferierter Maßnahmen im Angesicht des Katastrophischen nährt oft auch das ursprünglich aus der Politikwissenschaft stammende Konzept der Versicherheitlichung.53 Die zentrale These ist hier, dass insbesondere staatliche und staatsnahe Akteure aus Gründen der Selbstlegitimierung möglichst viele Angelegenheiten zu Sicherheitsfragen erklären, um sich für diese exklusive Behandlungsrechte zu sichern.54 Zumal seit 9/11, aber auch vorher schon, habe Sicherheit andere Grundwerte wie Frieden oder Freiheit zusehends in den Hintergrund gedrängt.55 Freiheit und Sicherheit werden als nicht gleichzeitig maximierbares Begriffspaar ausgewiesen,56 welches sich zwar gegenseitig bedinge, aber eben auch wechselseitig ausschließen könne.57 Beim Versicherheitlichungsnarrativ wird demnach ähnlich wie bei Becks und Agambens Kritik am Instrument des Ausnahmezustands davon ausgegangen, dass ein Mehr an Sicherheit seltener aufgrund der Sachlage, sondern aus Gründen exekutiver Machterweiterung eingefordert wird. Versicherheitlichung umschreibt hingegen keinen schlagartig einsetzenden „Zustand“, sondern eine sukzessive Entwicklung, welche gleichwohl die Ausdehnung staatlicher Hoheitsrechte zuungunsten bürgerlicher Freiheiten nach sich zieht. Das Konzept hat in der Geschichtswissenschaft einiges an Anerkennung erfahren und zur Einrichtung eines entsprechenden Sonderfor-

52 Vgl. den noch deutlich auf die NS-Vergangenheit als grundlegendste Herausforderung verweisenden Titel: Edgar Wolfrum, Die geglückte Demokratie: Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart. Stuttgart 2006. 53 Vgl. insbesondere die Studien der vor allem mit dem Kopenhagener Institut für Friedensforschung verbundenen Kopenhagener Schule der International Relations, z. B. Barry Buzan, Ole Wæver & Jaap de Wilde, Security: A New Framework for Analysis. Boulder (u. a.) 1998. 54 Eckart Conze, Securitization: Gegenwartsdiagnose oder historischer Analyseansatz?, S. 458, in: Geschichte und Gesellschaft 38/2012, S. 453–467 (in Anlehnung an Ole Wæver). 55 Christopher Daase, Die Historisierung der Sicherheit: Anmerkungen zur historischen Sicherheitsforschung aus politikwissenschaftlicher Sicht, S. 387, in: Geschichte und Gesellschaft 38/2012, S. 387–405. 56 Eckart Conze, Sicherheit als Kultur: Überlegungen zu einer „modernen Politikgeschichte“ der Bundesrepublik Deutschland, S. 365, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 3/2005, S. 357–380. 57 Daase, Die Historisierung der Sicherheit, S. 389 (in Anlehnung an Franz-Xaver Kaufmann).

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schungsbereiches geführt,58 wurde seit seiner Einführung aber auch von grundsätzlichen Anhängern kritisch hinterfragt. So befürchtet der Politologe Christopher Daase, dass die Verwendung des Versicherheitlichungsbegriffs dazu führen könne, exklusiv staatliche Akteure in den Blick zu nehmen und sich „komplexeren Sprachhandlungen und Bedrohungsbildern“ zu verweigern. In einem Plädoyer für die Abkehr von einem einseitig verstandenen Sicherheitsbegriff empfiehlt er die Hinwendung zu verwandten semantischen Feldern und sozialen Praktiken, um entsprechende Prozesse angemessen erfassen zu können.59 Stephen Collier und Andrew Lakoff betonen analog hierzu, dass zumindest in Bezug auf das Fallbeispiel der USA keineswegs davon gesprochen werden könne, dass der (Bundes-)Staat einseitig mehr und mehr Felder für sich beanspruche, sondern dass die übergroße Autonomie lokaler Behörden sowie mit Sicherheitsfragen befasster Privatunternehmen sich diesem Prozess vielleicht sogar zu erfolgreich widersetzen würde.60 Collier und Lakoff sehen dabei sowohl die im Zuge von 9/11 in den USA verabschiedeten Sicherheitsmaßnahmen selbst,61 aber eben auch deren radikale Kritiker kritisch, und appellieren dafür, sich in Bezug auf die Versicherheitlichungsfrage weniger auf das generelle „Ob“ als das konkretere „Wie“ zu konzentrieren: „The question, then, is not whether something is being securitized, but what type of security is being discussed. What is being secured? Through what kinds of interventions? And with what political implications?“62 Als Gegengewicht zu diesen kurz paraphrasierten Perspektiven der Risikosoziologie, der philosophischen Kritik am Rechtsinstrument des Ausnahmezustands sowie des politikwissenschaftlichen Konzepts der Versicherheitlichung sei daran erinnert, dass Katastrophisches existiert und dies auch jenseits normativ verwerflicher Bemühungen seiner Indienstnahme. Die Überschreitung geltender, selbst niemals perfekter Regeln mag für eine begrenzte Zeit ebenso unumgänglich sein wie die Entwicklung neuer, verstetigter Sicherheitsstrukturen im Angesicht sich wandelnder Bedrohungsszenarien. Neben dem zweifellos berechtigten Misstrauen gegenüber staatlichem Aktionismus muss darauf hingewiesen werden, dass sich auch langsames, inkonsequentes und wenig effektives Vorgehen in Bezug auf als existenziell

58 Vgl. dessen Internetauftritt Dynamics of Security unter https://www.sfb138.de (aufgerufen am 26.1.2019). 59 Daase, Die Historisierung der Sicherheit, S. 404. 60 Stephen Collier & Andrew Lakoff, Distributed Preparedness: The Spatial Logic of Domestic Security in the United States, S. 26, in: Environment and Planning D: Society and Space 26/2008, S. 7–28. 61 Insbesondere den auch von Agamben viel thematisierten sog. Patriot Act, vgl. z. B. Agamben, Ausnahmezustand, S. 9–10. 62 Collier & Lakoff, Distributed Preparedness, S. 25. Betonungen im Original.

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wahrgenommene Bedrohungen demokratiegefährdend auswirken kann.63 Auf einer übergeordneten Ebene ist zudem die bei den vorangegangenen Überlegungen implizit oder explizit vorgenommene Trennung zwischen Staat und Gesellschaft zu hinterfragen. Die auch von Wissenschaftsseite regelmäßig vorgenommene Gegenüberstellung des Staates als autoritär auf Machterhalt ausgerichteten, skeptisch zu begutachtenden Leviathan und einer um Frieden und Freiheit ringenden Zivilgesellschaft scheint zu kurz zu greifen und weder historischen noch gegenwärtigen Betrachtungen standzuhalten.64 Selbst in diktatorisch regierten Staatensystemen wird man zahlreiche komplexe Gemengelagen zwischen Staat und Gesellschaft registrieren müssen; in Demokratien dürfte zumindest von einem Gegensatz beider Pole kaum zu sprechen sein. Die hier vorliegende Arbeit befasst sich durchgängig mit Sicherheitskultur(en) im Sinne Daases, der hierunter diejenigen „Werte, Diskurse und Praktiken“ versteht, „die dem auf Erzeugung von Sicherheit und Reduzierung von Unsicherheit gerichteten sozialen Handeln individueller und kollektiver Akteure Sinn und Bedeutung geben“.65 Dabei soll allerdings der Begriff der Versicherheitlichung weitgehend gemieden werden, um nicht den Eindruck einer staatlichen Dominanz oder gar Hegemonie in Sicherheitsfragen zu erwecken. Gleichfalls soll das hiermit oft verbundene Klischee eines sich stetig ausweitenden, immanent demokratiegefährdenden Prozesses vermieden werden, gegen den sich „besorgte Bürger“ notwendigerweise zur

63 Der Aspekt der Wahrnehmung kann hierbei kaum hoch genug eingeschätzt werden. Die Gefahren des Straßenverkehrs werden z. B. oft als freiwillig eingegangene Risiken empfunden, die ein Mindestmaß eigener Kontrolle gestatten und mit einem konkreten Nutzen verbunden sind. Daher wird das hiermit verknüpfte Gefahrenpotenzial zumeist nicht als existenziell bedrohend wahrgenommen, obwohl es deutlich wahrscheinlicher ist, einem Verkehrsunfall zum Opfer zu fallen als einem Terroranschlag, vgl. Helmut Jungemann & Paul Slovic, Charakteristika individueller Risikowahrnehmung, in: Bayerische Rückversicherung AG (Hrsg.), Risiko ist ein Konstrukt: Wahrnehmungen zur Risikowahrnehmung. München 1993, S. 90–107. 64 Gerade das Beispiel der Weimarer Republik und ihrer überaus aktiven, keineswegs demokratischliberal orientierten Zivilgesellschaft drängt sich auf. Gegenwärtig zählen die vielfältigen (rechts-)populistischen Bürgerbewegungen ebenso zur Zivilgesellschaft wie z. B. Klimaschutz- oder globalisierungskritische Bewegungen. Bedauerlicherweise wird der Begriff jedoch oft nicht dazu verwendet, um auf die Zivilgesellschaft als Ganzes zu verweisen, sondern um denjenigen Teil von ihr rhetorisch zu adeln, dem man selbst nahesteht. Eine Synopse mehrerer analytischer und normativer Ausprägungen des Konzepts sowie vereinzelte Ansätze m.E. berechtigter Kritik finden sich bei Saskia Richter, Zivilgesellschaft: Überlegungen zu einem interdisziplinärem Konzept, Version 1,0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 8.3.2016, https://docupedia.de/zg/ Zivilgesellschaft (aufgerufen am 28.2.2019). Als einleitende Literatur vgl. Ralph Jessen & Sven Reichardt, Einleitung, in: Ralph Jessen, Sven Reichardt & Ansgar Klein (Hrsg.), Zivilgesellschaft als Geschichte: Studien zum 19. und 20. Jahrhundert (Bürgergesellschaft und Demokratie 13). Wiesbaden 2004, S. 7–27. 65 Christopher Daase, Sicherheitskultur: Ein Konzept zur interdisziplinären Erforschung politischen und sozialen Wandels, S. 63, in: Sicherheit und Frieden 29/2011, S. 59–65.

Katastrophe als Erfahrung und Erwartung

Wehr setzen müssten. Eine Gefährdung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit mag sich aus einer Unterversorgung an Versicherheitlichung ebenso gut ableiten wie aus einem Übermaß, und staatliche Akteure sind keineswegs die einzigen, die hierüber entscheiden. Gerade die historische Genese des organisierten Katastrophenschutzes, der seine Existenz zumeist nicht obrigkeitsstaatlicher Dekrete, sondern privatem Engagement verdankt,66 spricht dafür, bei hiermit befassten Arbeiten keine schlichte Asymmetrie zwischen dominantem Staat und servilem Bürger zu erwarten, sondern einen viele Schattierungen abdeckenden kommunikativen Prozess. An dieser Stelle führt der Bogen zurück zum eingangs dieses Kapitels vorgestellten, inhaltlich offenen Katastrophenbegriff. In seiner existenziell aufgeladenen, von den zeitgenössischen Security Studies weitgehend übernommenen Definition als das „absolut zu Vermeidende“;67 als „figure of the limit, the limit of knowledge as well as the limit of governmental practice“,68 verweist dieser darauf, dass der Mensch zur Unsicherheit verdammt ist. Im Gegensatz zum deutschsprachigen Notfall oder zu alternativen, englischsprachigen Begriffen (etwa emergency oder crisis) beschreibt die Katastrophe ein wie auch immer geartetes worst case scenario natürlichen oder menschlichen Ursprungs, das sich mittels verfügbarer Ressourcen nicht mehr effektiv bewältigen lässt und gerade deswegen das grundlegende Hinterfragen des eigenen Verhaltens erzwingt.69 Katastrophen können technischen Fortschritt und politischen Wandel befördern,70 führen vor allem aber zu vielfältigen Prozessen der Identitätsstiftung, indem „Kontingentes […] zum Vorhersehbaren oder sogar zum Unabwendbaren, Zufall in Notwendiges, Sinnloses in Sinnhaftes“71 umgedeutet wird. Solche Prozesse betreffen nunmehr sowohl Staat als auch Gesellschaft, politisch konservatives wie progressives Spektrum, weshalb die Konzentration auf diesen Begriff – im Gegensatz zu Risiko/Gefahr, Ausnahmezustand oder Versicherheitlichung – vielversprechend erscheint für eine Analyse, die sich Dualismen so weit wie möglich zu entziehen sucht, um stattdessen identitätsbildende Austauschprozesse in den Mittelpunkt zu rücken. Die zu Beginn dieses Kapitels geschilderte inhaltliche Spannweite des Begriffs verweist in Bezug auf das Thema dieser Arbeit zudem darauf, die sich je nach Situation

66 Vgl. Nils Ellebrecht & Markus Jenki, Organisationen und Experten des Notfalls: Ein Forschungsüberblick, S. 19, in: Markus Jenki, Nils Ellebrecht & Stefan Kaufmann (Hrsg.), Organisationen und Experten des Notfalls: Zum Wandel von Technik und Kultur bei Feuerwehr und Rettungsdiensten (Zivile Sicherheit 7). Berlin 2014, S. 11–48. 67 Münkler, Revolution, Krieg und Katastrophe, S. 135. 68 Claudia Aradau & Rens van Munster, Politics of Catastrophe: Genealogies of the Unknown. London (u. a.) 2013 (1. Auflage 2011), S. 107. 69 Aradau & van Munster, Politics of Catastrophe, S. 5 und S. 28. 70 Groh, Kempe & Mauelshagen, Einleitung, S. 14. 71 Ebd., S. 25.

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und Motivation unterschiedlicher Akteure womöglich dynamisch entwickelnde Konkretisierung des Katastrophischen stets im Blick zu behalten.

1.4

Katastrophe als Handlungsrahmen: Zivil- und Katastrophenschutz

Nach gegenwärtiger Definition bezeichnet Katastrophenschutz den nichtmilitärischen, nicht-polizeilichen Schutz der Bevölkerung vor friedenszeitlichen Katastrophen, während der Zivilschutz die Bevölkerung vor den Auswirkungen kriegerischer Konflikte zu schützen sucht. Einige der hiermit verbundenen konkreten Maßnahmen – etwa die Unterrichtung in Erster Hilfe und die Brandbekämpfung – gelten gemeinhin als nützlich, während der Bau von Deichen oder Schutzräumen exklusiv auf spezifische Katastrophen- bzw. Zivilschutzszenarien ausgerichtet sind. Ein allgemeinerer, beide Aspekte vereinender Oberbegriff ist Bevölkerungsschutz.72 Von einer konsequenten Beachtung dieser Definitionen konnte hierzulande jedoch lange Zeit kaum die Rede sein. Wenig überraschend war dabei insbesondere der Zivilschutz umstritten, der im Lauf der 1960er Jahre in der Bundesrepublik Deutschland den als notorisch unbeliebt geltenden begrifflichen Vorläufer Luftschutz durch eine weniger belastete Vokabel ersetzte.73 Stärker noch als Zivilschutz verwies Luftschutz auf die Genese der eigentlichen Praxis, die Bernd Lemke als „genuines Kind des 20. Jahrhunderts“74 bezeichnet hat und die ihre Existenz der aufkommenden Unschärfe zwischen Front und Hinterland während des Luftkriegs verdankte. Als primär nicht-militärisches Bemühen, eine zusehends ins Visier des modernen Krieges rückende Zivilbevölkerung zu schützen, nahm der Luft- bzw. Zivilschutz stets eine interessante Position zwischen Zivilgesellschaft und Militärplanung ein. In der Forschung hat dies dazu geführt, sich auf das Konzept der Militarisierung – des graduellen Vorrückens militärischer Werte und Strukturen

72 Wolfram Geier, Bevölkerungsschutz, Politik und Wissenschaft – analytisch-zeitgeschichtliche Aspekte bei der Betrachtung eines Stiefkindes der Innenpolitik, S. 28, in: Hans-Jürgen Lange, Christian Endreß & Michaela Wendekamm (Hrsg.), Versicherheitlichung des Bevölkerungsschutzes (Studien zur Inneren Sicherheit 15). Wiesbaden 2013, S. 27–47. 73 Vgl. etwa den im Nachgang der Hamburger Sturmflut verfassten Appell Helmut Schmidts zur Verwendung des Begriffs Zivilschutz, da dieser weniger an „schlechte Zeiten“ erinnern würde: Helmut Schmidt, Ziviler Bevölkerungsschutz als staatspolitische und wirtschaftliche Verantwortung (Schriftenreihe der Handelskammer Hamburg 5). Hamburg 1962, S. 12. 74 Bernd Lemke, Zivile Kriegsvorbereitungen in unterschiedlichen Staats- und Gesellschaftssystemen: Der Luftschutz im 20. Jahrhundert; ein Überblick, S. 68, in: ders. (Hrsg.), Luft- und Zivilschutz in Deutschland im 20. Jahrhundert (Potsdamer Schriften zur Militärgeschichte 5). Potsdam 2007, S. 67–88.

Katastrophe als Handlungsrahmen: Zivil- und Katastrophenschutz

in die zivile Sphäre – zu berufen75 und analog zur Versicherheitlichungsdebatte mögliche Einschränkungen bürgerlicher Freiheiten zu problematisieren.76 Als auf einen antizipierten Krieg ausgerichtetes Programm war der Zivilschutz zwingend auf die möglichst umfassende Unterstützung der Bevölkerung angewiesen. Die Mobilisierung des erforderlichen aktivistischen Potenzials konfrontierte die Verantwortlichen hingegen immer wieder mit einem letztlich unauflösbaren Dilemma: Es galt, die Angst vor einem befürchteten Krieg zunächst zu schüren, um dann doch beruhigend Lösungen zu ihrer Bewältigung anzubieten.77 Obwohl etwa dem NS-Luftschutz während des Zweiten Weltkriegs von vielen Seiten lebensrettender Einsatz bescheinigt worden war,78 stieß dieses durch die verschiedenen Zivilschutzverbände und -behörden betriebene „Dilettieren mit dem Gefühlsmanagement“,79 das lähmende Angst in aktivierende Furcht umzuwandeln suchte,80 zu Zeiten eines drohenden Atomkrieges zwischen der UdSSR und den USA deutlich an seine Grenzen. Zumindest gemessen an dem zum Totalen neigenden Anspruch, möglichst alle Menschen für entsprechende Vorbereitungen zu interessieren, kann man den Zivilschutzbemühungen nach 1945 in den meisten Ländern eine eindeutige Niederlage bescheinigen. Angesichts dieser Entwicklung ist dem Zivilschutz vorgeworfen worden, überhaupt kein ernsthaft betriebenes Programm, sondern stets nur zur Besänftigung der Bevölkerung im Angesicht einer unverantwortlichen Abschreckungspolitik gedacht gewesen zu sein.81 Dieser umstrittene, keineswegs generalisierbare Befund erscheint umso auffallender, wenn man ihn mit den zumeist positiven Darstellungen der Friedensbewegungen der 1980er Jahre kontrastiert. Im Sinne des Aufbrechens tradierter Dualismen mag es als Gedankenexperiment hingegen reizvoll sein, die Grenzen zwischen damaligen Zivilschutzbefürwortern 75 Laura McEnaney, Civil Defense Begins at Home: Militarization Meets Everyday Life in the Fifties. Princeton 2000. 76 Steneck, Everybody Has a Chance, S. 398. 77 Diese Widersprüchlichkeit findet selbst in den frühesten Darstellungen des historischen Zivilschutzes Erwähnung; siehe z. B. Guy Oakes, The Imaginary War: Civil Defense and American Cold War Culture. New York (u. a.) 1994, S. 146. 78 Lemke, Zivile Kriegsvorbereitungen, S. 75; Steneck, Everybody Has a Chance, S. 112. Vgl. die Argumentation westdeutscher Zivilschutzexperten, die ausgehend von einer Verlautbarung des Statistischen Bundesamtes 1962 betonten, wie vergleichsweise (!) gering die Verlustzahlen des Luftkrieges gegenüber den Sachschäden ausgefallen seien, siehe Jochen Molitor, Mit der Bombe überleben: Die Zivilschutzliteratur der Bundesrepublik 1960–1964. Marburg 2011, S. 38–39. 79 Bernd Greiner, Angst im Kalten Krieg: Bilanz und Ausblick, S. 22, in: Bernd Greiner, Christian Th. Müller & Dierk Walter (Hrsg.), Angst im Kalten Krieg (Studien zum Kalten Krieg 3). Hamburg 2009, S. 7–29. 80 Oakes, Imaginary War, S. 33. Zur begrifflichen Differenzierung von Angst und Furcht vgl. Søren Kierkegaard, Furcht und Zittern; Der Begriff Angst; Die Krankheit zum Tode (Werkausgabe 1). Düsseldorf (u. a.) 1971. 81 Oakes, Imaginary War, S. 71.

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und -gegnern einmal anders anzuordnen und anstatt zwischen „konservativ“ und „progressiv“ zwischen Aktivisten und Nicht-Aktivisten zu unterscheiden.82 Sowohl die Aktivisten der Friedensbewegungen als auch die „Zivilschützer“ waren sich darin einig, dass man im Angesicht eines drohenden Atomkriegs nicht einfach passiv bleiben konnte, sondern handeln musste. Beide Gruppen suchten darüber hinaus – in Anlehnung an eine von Susanne Schregel formulierte These – die übermächtig wirkende Atomkriegsdrohung in den lokal verorteten Nahraum zu projizieren, um ihn für selbstständig durchführbare Aktivitäten überhaupt erst behandelbar zu machen.83 Wenn auch Weltvorstellungen und Ziele der damaligen Akteure sehr unterschiedlich gewesen sein mochten: Auch der Bau eines privaten Atomschutzraums kann als Akt des Protests gedeutet werden, als zumindest psychologisch wirkmächtige Absichtserklärung, sich die eigene agency auch anhand der befürchteten Apokalypse nicht nehmen lassen zu wollen.84 Es mag der erzählerisch interessantere Hintergrund sein, der in den letzten Jahren dafür gesorgt hat, dass der Zivilschutz zumindest nicht mehr als Stiefkind der Forschung gelten kann,85 während über die Genese des institutionellen Katastrophenschutzes nach wie vor wenig bekannt ist. Die geschichtswissenschaftliche Deutung des Zivilschutzes als trennscharf abgrenzbares Unterfangen des Kalten Krieges anstatt als historisch spezifische Variante des Katastrophenschutzes mag dabei vorstellbare Synergieeffekte zwischen beiden Forschungsfeldern lange Zeit verunmöglicht haben. Erklärbar wird diese Entwicklung durch eine Historisierung der Zivilschutzforschung selbst, die in den US-amerikanischen, kulturhistorisch arbeitenden Cold War Studies ihren Anfang nahm. Forschungsort und -zeitraum waren dabei klar bestimmt: Thematisiert wurde der aus heutiger Sicht oft tragikomisch wirkende Zivilschutz der USA während der 1950er bis frühen 1960er Jahre.86 In diese spezifische Phase fielen die berüchtigten Aufklärungsfilme der Federal Civil Defense Administration (FCDA), insbesondere der an Schulkinder gerichtete Duck and

82 Molitor, Mit der Bombe überleben, S. 87. 83 Susanne Schregel, Der Atomkrieg vor der Wohnungstür: Eine Politikgeschichte der neuen Friedensbewegung in der Bundesrepublik 1970–1985. Frankfurt/M. 2011. 84 Vgl. Martin Diebel, Atomkrieg und andere Katastrophen: Zivil- und Katastrophenschutz in der Bundesrepublik und Großbritannien nach 1945. Leiden und Boston 2017, S. 61. In der bundesdeutschen Zivilschutzliteratur der 1960er Jahre war dieser Punkt ein häufig auftretender Topos. Den „Großen“ der Weltpolitik wurde dort wenig Vertrauen entgegengebracht, weshalb man für den Kriegsfall eigenständig Schutzvorbereitungen treffen müsse, so gut es eben ging, vgl. Molitor, Mit der Bombe überleben, S. 53–55. 85 Steneck hat im Jahr 2005 treffend darauf hingewiesen, dass die gängigsten, damals verfügbaren Gesamtdarstellungen der Bonner Republik den Zivilschutz nicht einmal erwähnten, siehe: Steneck, Everybody Has a Chance, S. 24–25. 86 Vgl. Kenneth Rose, One Nation Underground: The Fallout Shelter in American Culture. New York 2001, S. 11–12.

Katastrophe als Handlungsrahmen: Zivil- und Katastrophenschutz

Cover (1951)87 , ebenso wie die unter dem Eindruck der Berlinkrise am 25.7.1961 gesendete Fernsehansprache John F. Kennedys, in der dieser der US-Bevölkerung den Bau privater (Atom-)Schutzräume empfahl.88 Der US-Zivilschutz war in der damaligen Zeit auf die Gefahr eines Krieges zwischen NATO und Warschauer Pakt ausgerichtet und gewann zumal mit dem im Nachhinein vielfach kritisch bewerteten Wechsel der NATO-Verteidigungsstrategie an Brisanz.89 Da die während der 1960er Jahre etablierte Leitlinie der flexible response im Gegensatz zu ihrem Vorläufer massive retaliation auch von der Möglichkeit begrenzter Atomschläge und hieran anschließender „adäquater“ Eskalationsmaßnahmen ausging, verhalf sie dem Zivilschutz, der im totalen Atomkrieg selbst seinen Befürwortern zufolge praktisch nutzlos gewesen wäre, überhaupt erst zur eigentlichen Daseinsberechtigung. Die von den damaligen Zivilschutzverbänden inszenierten Genderrollen90 wurden von der frühen US-Forschung ebenso thematisiert wie die mit dem nunmehr von höchster Stelle angeratenen Schutzraumbau verknüpften Kontroversen.91 Deren Häufung habe den Zivilschutz nach Ansicht vieler US-Historiker zusehends diskreditiert, so dass die breite Mehrheit der Bevölkerung entsprechenden Maßnahmen durchgängig skeptisch bis ablehnend gegenüberstand. Die stellenweise angegebenen Zahlen stützen diese These eines gescheiterten Zivilschutzes hingegen nur bedingt. Kenneth Rose erwähnte beispielsweise im Jahr 2001, dass 1965 rund 200.000 Schutzräume in den USA existiert hätten – statistisch einer für je 900 US-Amerikaner. Rose bezeichnete dies als „a lot of shelters“, beharrte aber darauf, dass in Anbetracht des damals vorherrschenden Ausmaßes an nuclear fear die Zahl

87 Vgl. u. a. Melvin Matthews, Duck and Cover: Civil Defense Images in Film and Television from the Cold War to 9/11. Jefferson 2012. Man hat Duck and Cover immer wieder vorgeworfen, die Gefahr des Atomkrieges einerseits verharmlost, andererseits jedoch Millionen amerikanischer Schulkinder nachhaltig traumatisiert zu haben. Der eigentlich zentrale Hinweis des Films – bei einem Angriff in Deckung zu gehen – erscheint demgegenüber banal vernünftig. 88 Rose, One Nation Underground, S. 37. 89 Rose, One Nation Underground, S. 36. Vgl. Christian Tuschhoff, Strategiepoker: Massive Vergeltung – flexible Antwort, in: Salewski (Hrsg.), Das Zeitalter der Bombe, S. 167–188. Als Gegenposition vergleiche auch Bruno Thoß, NATO-Strategie und nationale Verteidigungsplanung: Planung und Aufbau der Bundeswehr unter den Bedingungen einer massiven atomaren Vergeltungsstrategie 1952 bis 1960 (Sicherheitspolitik und Streitkräfte der Bundesrepublik Deutschland 1). München 2006, S. 740. Für eine lesenswerte, zeitgenössische Studie zu massive retaliation und flexible response aus deutscher Sicht vgl. Helmut Schmidt, Verteidigung oder Vergeltung: Ein deutscher Beitrag zum strategischen Problem der NATO. Stuttgart-Degerloch 1961. 90 Laura McEnaney spricht in diesem Zusammenhang von militarized maternalism, einer Mischung aus Antikommunismus, „Mütterlichkeit“ und nicht-revolutionärem Feminismus, siehe McEnaney, Civil Defense Begins at Home, S. 89. 91 Beispielsweise die Gun-thy-Neighbor-Debatte, die sich mit der Frage befasste, ob man den eigenen Schutzraum im Ernstfall mit Waffengewalt vor einer etwaigen Überbelegung durch die Nachbarn schützen dürfe, siehe Rose, One Nation Underground, S. 97.

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eher gering einzustufen sei. Zudem stellte er fest: „Shelter building clearly peaked in the early 1960s.“92 Zehn Jahre später behauptete demgegenüber David Monteyne, dass das frühe Untersuchungsende vorheriger US-Studien oftmals dazu geführt habe, die eigentliche Reichweite des Schutzraumbaus zu unterschätzen, und sprach für das Jahr 1966 – ein Jahr nach dem von Rose verwendeten Datum – bereits von 670.000 Schutzräumen und für 1969 gar von „more than 100.000 buildings and 104 million individual shelter spaces“.93 Auch wenn sich Monteynes eigene Monographie ironischerweise ebenfalls auf die 1950er und 1960er Jahre bezieht, verdeutlicht sie im Vergleich doch gut, wie der zunächst sehr eng gefasste Untersuchungsort und -zeitraum die Einschätzung des Zivilschutzes als kurzlebige Glosse des Kalten Krieges hervorgebracht haben mag. Eine sich während der letzten Jahre zeigende perspektivische Ausweitung relativiert den US-Zivilschutz der 1950er Jahre demgegenüber zusehends als eine von vielen regional und zeitlich spezifischen Varianten. In einem 2012 erschienenen Aufsatz charakterisiert beispielsweise Edward Geist den Zivilschutz der Sowjetunion als weitgehend geheim durchgeführtes,94 staatsfinanziertes Programm, das gleichwohl von Regierungsseite oft kritisch gesehen und zeitweise sogar eingestellt wurde.95 Seine Existenz verdankte es weder dem Streben nach militärischer Überlegenheit noch einer beabsichtigten Indoktrinierung der eigenen Bevölkerung,96 sondern einer Mischung aus genuiner Furcht vor einem Erstschlag der USA sowie institutioneller Beharrungskräfte.97 Auch wenn Geist sicher zu Recht betont, dass entsprechende Maßnahmen einem Atomkrieg kaum standgehalten hätten, erscheinen die angegebenen Daten und Zahlen abermals aufschlussreich: Erst ab 1966 habe die UdSSR sich wieder verstärkt um den Zivilschutz bemüht, um Mitte der 1970er Jahre jährlich eine Million Blast-shelter- sowie drei bis vier Millionen zusätzliche Fallout-Bunkerplätze einzurichten.98 Wiederum zeigt sich, dass eine ausschließlich an der „klassischen“ Zeit des Kalten Krieges der 1950/60er Jahre orientierte Untersuchung der Geschichte des Zivilschutzes kaum gerecht

92 Ebd., S. 202. 93 David Monteyne, Fallout Shelter: Designing for Civil Defense in the Cold War. Minneapolis 2011, S. 42. 94 Edward Geist, Was there a Real „Mineshaft Gap“? Bomb Shelters in the USSR, 1945–1962, S. 27, in: Journal of Cold War Studies 14, 2/2012, S. 3–28. 95 Ebd., S. 21–22. 96 Vgl. den wohl deutlich „erzieherischer“ angelegten Zivilschutz der DDR: Christian Th. Müller, Im Banne der Bombe: Überlegungen zu Luftschutz und Zivilverteidigung in der DDR, in: Greiner (u. a., Hrsg.), Angst im Kalten Krieg, S. 94–122. 97 Geist, Bomb Shelters in the USSR, S. 27. 98 Ebd., S. 26. Als blast shelter wurden druckbeständige Schutzräume bezeichnet, die auch im erweiterten Radius einer Detonation ein gewisses Maß an Schutz versprachen, während fallout shelter oft kaum mehr als ausgebaute Keller zum Schutz vor radioaktiven Niederschlägen darstellten.

Katastrophe als Handlungsrahmen: Zivil- und Katastrophenschutz

zu werden scheint; eine Annahme, die bei Betrachtung eines dritten regionalen Beispiels noch offensichtlicher wird. Einen wohl einmaligen Schutzplatzdeckungsgrad von 114 Prozent attestiert Silvia Berger Ziauddin der Schweiz, bestehend aus „insgesamt 2.300 Kollektivschutzanlagen und 360.000, ins kleinste Detail normierte Personenschutzräume[n]“.99 Dabei verdoppelte sich deren Zahl zwischen 1963 und 1970 und stieg auch während der 1980er Jahre kontinuierlich an;100 mit dem Schutzraumbau befasste schweizerische Ingenieure wurden zu global gefragten Experten und produzierten Anlagen u. a. für Saddam Hussein und Muammar alGaddafi.101 Die weitestgehend vom Staat übernommenen Kosten des Programms, aber auch eine spezifisch schweizerische Mentalität, die aufgrund der Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs Vorstellungen des „Einigelns“ und „Eingrabens“ im Gegensatz zu den USA positiv bewertete,102 mochten dazu beigetragen haben, dass der schweizerische Zivilschutz vergleichsweise wenig umstritten war.103 Das Murmeltier, welches in der Schweiz zum Symbol des Zivilschutzes avancierte,104 kontrastierte dabei frappierend mit der von US-Historikern geschilderten massiven Ablehnung entsprechender Metaphern in den USA – der mole schien den USAmerikanern jedenfalls keine probate Strategie zur Bewältigung des Kalten Krieges bereitzustellen, sondern versinnbildlichte stattdessen den feigen Rückzug.105 In Bezug auf den bundesdeutschen Zivilschutz ist zunächst auf dessen komplexe Organisationsstruktur zu verweisen.106 Im Rahmen des hiesigen föderalen Systems sind die Länder für den Katastrophenschutz, der Bund hingegen für den Zivilschutz verantwortlich. Obwohl diese Aufteilung gegenwärtig kaum hinterfragt wird und sicher Vorteile in Bezug auf demokratische Kontrollmöglichkeiten bietet,107 sorgte sie im Lauf der Geschichte wiederholt für Spannungen. Die hiermit verbundenen Streitigkeiten unterstreichen abermals die Bedeutung nationaler Spezifika in Sachen Zivil- und Katastrophenschutz, stellten sie doch in dieser Form eine

99 Silvia Berger Ziauddin, „Wahre Schweizer Architektur ist unterirdisch“: Die Formation globaler Bunkerexpertise in der Schweiz des Kalten Krieges, S. 2. Unveröffentlichtes Manuskript, 2013. Für eine aktuellere, englischsprachige Fassung vgl. dies., Superpower Underground: Switzerland’s Rise to Global Bunker Expertise in the Atomic Age, in: Technology and Culture 4/2017, S. 921–954. 100 Berger Ziauddin, „Wahre Schweizer Architektur ist unterirdisch“, S. 31. 101 Ebd., S. 36. 102 Yves Meier & Martin Meier, Zivilschutz: Ein Grundpfeiler der Schweizer Landesverteidigung im Diskurs, S. 220, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 60, 2/2010, S. 212–236. 103 Ebd., S. 221. 104 Berger Ziauddin, „Wahre Schweizer Architektur ist unterirdisch“, S. 12. 105 Rose, One Nation Underground, S. 88. 106 Hans-Jürgen Lange & Christian Endreß, Der Bevölkerungsschutz als integraler Bestandteil der bundesdeutschen Sicherheitsarchitektur, S. 13, in: Lange (u. a., Hrsg.), Versicherheitlichung des Bevölkerungsschutzes, S. 9–25. 107 Geier, Bevölkerungsschutz, Politik und Wissenschaft, S. 44.

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westdeutsche Besonderheit dar, die sich keineswegs der Natur der Sache verdankte. Ebenso spezifisch war die trotz vielfacher personeller und sicher auch mentaler Kontinuitäten108 intendierte Distanzierung des Bevölkerungsschutzes der jungen Bundesrepublik von ihrem Vorläufer, dem vom Reichsluftfahrtministerium geführten NS-Luftschutz. Hierzu suchten die Verantwortlichen, ob nun aus Einsicht oder lediglich aufgrund der vorherrschenden politisch-gesellschaftlichen Bedingungen, die karitative Grundidee des Zivilschutzes gegenüber dessen Bedeutung für eine erfolgreiche Kriegsführung zu betonen.109 Nach zunächst inoffiziellen, bereits 1948 einsetzenden und sich ab 1950 intensivierenden Vorüberlegungen110 zu einem neuen deutschen Luftschutzsystem stellte das am 9.10.1957 verabschiedete Erste Gesetz über Maßnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung (1. ZBG) den eigentlichen Startschuss dar. Es regelte die organisatorischen Grundlagen und zog am 5.12.1958 insbesondere die Einrichtung des Bundesamtes für zivilen Bevölkerungsschutz (BzB; 1973 in Bundesamt für Zivilschutz [BZS] umbenannt) nach sich. Zur Förderung des sogenannten Selbstschutzes111 der Bevölkerung wurde der bereits seit 1951 existierende Bundesluftschutzverband (BLSV) im Jahr 1960 in eine Körperschaft des öffentlichen Rechts umgewandelt. Um die als vorrangig erachtete Aufklärung der Bevölkerung über die Gefahrenlage, vor allem also den befürchteten „heißen“ Krieg zwischen Warschauer Pakt und NATO, sorgten sich sowohl der BLSV als auch das BzB, u. a. mit der Versendung zweier umstrittener Aufklärungsbroschüren – Jeder hat eine Chance (1961) und Zivilschutzfibel (1964) – an sämtliche bundesdeutsche Haushalte.112 Trotz solcher relativ frühzeitig beschlossener Maßnahmen wird hingegen auch dem bundesdeutschen Zivilschutz zumeist nachgesagt, gescheitert zu sein. Eine Regel zum verpflichtenden Schutzraumbau in Neubauten wurde gleich zweimal in Angriff genommen (im Rahmen des 1. ZBG sowie während der Notstandsgesetzdebatten Mitte der 1960er Jahre), nur um unmittelbar darauf aus Kostengründen kassiert zu werden. Ein hauptamtlich organisiertes Zivilschutzkorps zur Verstärkung des als unzureichend eingeschätzten ehrenamtlichen Engagements wurde jahrelang diskutiert und blieb doch stets nur die Wunschvorstellung einer Minderheit.113 Zusammenfassend muss festgehalten werden, dass die im Bundestag 108 109 110 111

Steneck, Everybody Has a Chance, S. 173–175. Ebd., S. 132–133. Ebd., S. 113 f. und 115 f. „Selbstschutz“ bezeichnet alle Bevölkerungsschutzmaßnahmen, die eigenverantwortlich realisiert werden können, also z. B. die Vorratshaltung von Lebensmitteln und Medikamenten. 112 Bundesamt für zivilen Bevölkerungsschutz (Hrsg.), Jeder hat eine Chance. Bad Godesberg 1961; ders. (Hrsg.), Zivilschutzfibel: Informationen, Hinweise, Ratschläge. Bad Godesberg 1964. Vgl. Frank Biess, „Jeder hat eine Chance“: Die Zivilschutzkampagnen der 1960er Jahre und die Angstgeschichte der Bundesrepublik, in: Bernd (u. a., Hrsg.), Angst im Kalten Krieg, S. 61–93. Für eine vergleichende Bewertung siehe Molitor, Mit der Bombe überleben, S. 69–71. 113 Steneck, Everybody Has a Chance, S. 369–372.

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vertretenen Parteien sich während der 1950er und 1960er Jahre zwar öffentlich für Zivilschutzmaßnahmen aussprachen, deren Finanzierung aber wiederholt verweigerten,114 wovon der Schutzraumbau besonders betroffen war. Dieser galt von Beginn an nicht nur als zu teuer, sondern selbst in Expertenkreisen als hoffnungslos unpopuläre Maßnahme, die man der kriegstraumatisierten deutschen Bevölkerung kaum zumuten konnte.115 Die verbreitete Skepsis blieb nicht ohne Konsequenz: Selbst in den 1980er Jahren vermochte die Bundesrepublik Deutschland lediglich für ca. 3 Prozent der Bevölkerung Schutzraumplätze vorzuhalten.116 In Anbetracht der zur damaligen Zeit verbreiteten These, dass es ohne Schutzraumbau keinen wirksamen Zivilschutz geben könne,117 wirkt diese Zahl in der Tat bezeichnend und auch in der Forschung wurde oftmals davon ausgegangen, dass gerade die fehlende Unterstützung des Schutzraumbaus den westdeutschen Zivilschutz bereits Mitte der 1960er Jahre de facto beendete.118 Nach einer alternativen, insbesondere von Wolfram Geier vertretenen Lesart wurde der Zivilschutz in den 1960er Jahren hingegen keineswegs abgeschafft, sondern – durchaus erfolgreich – mit dem Katastrophenschutz kombiniert. Drehund Angelpunkt ist hierbei die Bewertung des Gesetzes über die Erweiterung des Katastrophenschutzes von 1968 (KatSG-68).119 Dieses sah vor, die für den Katastrophenschutz verantwortlichen Länder zur Mitwirkung am Zivilschutz zu verpflichten, Länder, Landkreise und relevante Hilfsorganisationen120 dafür aber bei der Wahrnehmung dieser Aufgabe durch entsprechende Ausstattung und Ausbildungen zu unterstützen. Da diese vom Bund bereitgestellten Mittel nunmehr direkt und ohne den Umweg der Amtshilfe dem Katastrophenschutz der Länder zur Verfügung stehen sollten, erhoffte man sich eine Win-win-Situation, die sowohl zu

114 Nicholas Steneck, Eine verschüttete Nation?: Zivilschutzbunker in der Bundesrepublik Deutschland 1950–1965, S. 81, in: Inge Marszolek & Marc Buggeln (Hrsg.), Bunker: Kriegsort, Zuflucht, Erinnerungsraum. Frankfurt/M. 2008, S. 75–88. 115 Steneck, Everybody Has a Chance, S. 222. Vgl. Molitor, Mit der Bombe überleben, S. 55–62. 116 Wolfram Geier, Zwischen Kriegsszenarien und friedenszeitlicher Katastrophenabwehr: Zur Entwicklung der zivilen Verteidigung in der Bundesrepublik Deutschland unter besonderer Berücksichtigung des Zivilschutzes und seiner Reformen vor und nach Beendigung des Kalten Krieges. Diss. phil. Marburg 2003, S. 56. 117 Vgl. z. B. die Aussagen des ehemaligen Präsidenten des BLSV zum Schutzraumbau als „Sorgenkind Nummer 1“ (S. 47): Hermann Sautier, Der Weg des BLSV, in: Zivilschutz 2/1961, S. 45. 118 Steneck, Everybody Has a Chance, S. 314. 119 Vgl. Geier, Zwischen Kriegsszenarien und friedenszeitlicher Katastrophenabwehr, S. 183–192. 120 Als Hilfsorganisationen gelten vor allem die im Rettungswesen tätigen freien Verbände: Das Deutsche Rote Kreuz e. V. (DRK), der Arbeiter-Samariter-Bund Deutschland e. V. (ASB), der katholische Malteser-Hilfsdienst e. V. (MHD) sowie die evangelische Johanniter-Unfall-Hilfe e. V. (JUH). Auch die Bundesanstalt Technisches Hilfswerk (THW) zählt in der Regel dazu, ebenso wie die in Deutschland zumeist ehrenamtlich organisierten („freiwilligen“) Feuerwehren.

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einem besseren Katastrophenschutz als auch zu einem pragmatischeren Zivilschutz führen sollte.121 Zivil- und Katastrophenschutz blieben de jure zwar voneinander getrennt, verschmolzen de facto jedoch zu einer Einheit, die nunmehr betont zivil als Erweiterter Katastrophenschutz bezeichnet wurde. Da fortan immer weniger Gelder für einseitig dem Zivilschutz dienende Maßnahmen wie den Schutzraumbau bereitgestellt wurden,122 mag man das Gesetz durchaus als das Ende zumindest des klassischen Zivilschutzes hierzulande betrachten; die alternative Sichtweise hingegen betont, dass der Zivilschutz nur so zu retten war. Martin Diebel etwa konstatiert, dass dieser zwar zusehends veralltäglicht, aber in eingeschränkter Form eben auch durchgesetzt wurde.123 Fortan sprach man vom „Doppelnutzen“, also dem Nutzen auch für den Katastrophenschutz, den Zivilschutzmaßnahmen vorweisen mussten, um realisiert werden zu können. Dieser Doppelnutzen war schon während der Hamburger Sturmflut 1962 von den beteiligten Hilfsorganisationen beschworen worden124 und prominenter Teil etwa der Zivilschutzfibel gewesen;125 erst nach dem KatSG-68 setzte sich die Formel hingegen vollends durch. Nach und nach beschlossen die Länder eigene Katastrophenschutzgesetze,126 was den zuvor eher informellen Katastrophenschutz auf eine solidere rechtliche Basis stellte. Das Rettungswesen wurde standardisiert127 und das dem Bundesministerium des Innern (BMI) unterstellte, bereits 1950 gegründete Technische Hilfswerk (THW) wandelte sich in Fremd- und Eigenwahrnehmung von einer Zivilschutz- zu einer Katastrophenschutzorganisation.128 Die im Zusammenhang mit den Debatten um die NATO-Nachrüstung von einer nationalkonservativen Politikergruppe um

121 Vgl. hierzu die überwiegend positive Bewertung des KatSG-68 auch von Seiten der Hilfsorganisationen, etwa in: Schreiben von Walter Bargatzky (DRK-Präsident) an den Bundesminister des Innern Paul Lücke vom 13.3.1968. DRK, 2858. 122 Diebel, Atomkrieg und andere Katastrophen, S. 116. 123 Ebd., S. 115–116. 124 Vgl. Jochen Molitor, Lehren für den Verteidigungsfall: Die Sturmflutkatstrophe von 1962 und der bundesdeutsche Zivilschutz, in: Martina Heßler & Christian Kehrt (Hrsg.), Die Hamburger Sturmflut von 1962: Risikobewusstsein und Katastrophenschutz aus zeit-, technik- und umweltgeschichtlicher Perspektive (Umwelt und Gesellschaft 11). Göttingen 2014, S. 195–221. 125 Vgl. Molitor, Mit der Bombe überleben, S. 69–71. 126 Im Zeitraum vom 31.7.1970 bis zum 17.9.1979 in sämtlichen Bundesländern, siehe Geier, Zwischen Kriegsszenarien und friedenszeitlicher Katastrophenabwehr, S. 188. 127 Vgl. Nils Kessel, Geschichte des Rettungsdienstes 1945–1990: Vom „Volk von Lebensrettern“ zum Berufsbild „Rettungsassistent/in“. Frankfurt/M. (u. a.) 2008. 128 Zur Geschichte des aus historischer Sicht überaus interessanten THW existiert leider noch keinerlei fundierte Monographie. Wesentliche Informationen liefert Diebel, Atomkrieg und andere Katastrophen, S. 141–149. Dort wird auch die vom THW höchst erfolgreich vorgenommene Umdeutung von einer Zivil- zur Katastrophenschutzorganisation kohärent dargelegt. Der Prozess begann bereits deutlich vor dem KatSG-68 und war zur Zeit der Sturmflut 1962 bereits fortgeschritten, vgl. Molitor, Lehren für den Verteidigungsfall, S. 214.

Katastrophe als Handlungsrahmen: Zivil- und Katastrophenschutz

Alfred Dregger, dem damaligen Vorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, geforderte Rückbesinnung des Zivilschutzes auf dessen Abschreckungs- und Verteidigungskomponente129 traf somit zu Beginn der 1980er Jahre auf institutionell und personell bereits massiv veränderte, mit dem Erweiterten Katastrophenschutz befasste Institutionen und Verbände, die diese Pläne kaum noch mittragen wollten.130 Der westdeutsche Zivilschutz war – so Diebel in Umkehrung der oftmals vorgebrachten Militarisierungsthese – katastrophisiert worden.131 Dieser Prozess erwies sich als unumkehrbar. Der Entwurf eines neuen Zivilschutzgesetzes scheiterte132 und das 1989 verabschiedete Gesetz zur Ergänzung des Erweiterten Katastrophenschutzes brachte nach vorherrschender Ansicht wenig grundlegende Neuerungen,133 wenngleich dies für den im Vordergrund der vorliegenden Untersuchung stehenden medizinischen Zivil- und Katastrophenschutz zumindest nicht unbeschränkt bejaht werden kann (vgl. hierzu Kapitel 4.5). „Zeitgeschichtliche Forschung im Kalten Krieg war bekanntlich über weite Strecken die Fortsetzung desselben mit anderen Mitteln“134 – so heißt es bei Bernd Greiner. Für die Zivilschutzforschung trifft dies in hohem Maße zu. Neben einigen Autoren auf Seiten der „Zivilschützer“ hat insbesondere eine Reihe ehemaliger Mitglieder der Friedensbewegungen der 1980er Jahre versucht, ihre Interpretation der Geschichte des Zivilschutzes darzulegen. Es ist diese spezielle Stoßrichtung, der sich die lange Zeit vorherrschende, eng gefasste Deutung des Zivilschutzes als Produkt des Kalten Krieges verdankt. In den Blick genommen wurden zumeist spektakuläre Aktionen, die – ganz im Sinne der im vorigen Kapitel geschilderten Theorien – eine durchgreifende Militarisierung der Gesellschaft sowie die Aushöhlung demokratisch-rechtsstaatlicher Strukturen befürchten ließen. Der oftmals eher sporadische Widerstand der Friedensbewegungen erreicht in solchen Darlegungen teils epische Proportionen. So schreibt etwa Dee Garrison am Ende ihrer Version der Geschichte des Zivilschutzes:

129 Vgl. Diebel, Atomkrieg und andere Katastrophen, S. 182–186. 130 Vgl. ebd., S. 291–292. 131 Für die Verwendung des Begriffs „Katastrophisierung“ spricht nach Diebel dessen analytische Offenheit. „Zivilisierung des Zivilschutzes“ erwecke demgegenüber den falschen Eindruck, dass der frühere Zivilschutz dem Militär unterstanden hätte, während „Militarisierung des Katastrophenschutzes“ zu sehr an zeitgenössische Deutungen der Friedensbewegungen erinnere, siehe Diebel, Atomkrieg und andere Katastrophen, Fußnote 2 auf S. 91. 132 Geier, Zwischen Kriegsszenarien und friedenszeitlicher Katastrophenabwehr, S. 266. 133 Ebd., S. 304–305. 134 Bernd Greiner, Kalter Krieg und „Cold War Studies“, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 11.2.2010, http:// docupedia.de/zg/Cold_War_Studies (aufgerufen am 26.1.2016).

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From the beginning of the nuclear age, the authorities have lied, attempting to sell the public a series of fallacies about how to save their families from nuclear destruction. […] The experts denounced the propaganda. The fantasy was exposed. The people revolted. And social conflict threatened elite controls. […] We know now that many national leaders, from Eisenhower to Gorbachev, privately decided never to unleash a nuclear exchange. But it was the public rejection of civil defense and, with it, the massive public recognition here and abroad, that nuclear war is suicidal, that ended the Cold War nuclear confrontation. […]135 We must begin again. The history of American civil defense strengthens our understanding of government propaganda and provides inspirational lessons in the effectiveness of massive popular power. The people’s fight continues.136

Bei Martin Diebel liest sich das „Scheitern“ des Zivilschutzes der 1950er und 1960er Jahre ungleich nüchterner: „Der Schutz der Bevölkerung war schlicht zu teuer.“137 Klar scheint jedenfalls, dass die wirklich konsequente Historisierung des Zivilschutzes gerade erst begonnen hat. Eine solche müsste es sich zur Aufgabe machen, die Heterogenität der Akteure zu betonen138 und sich vor über Gebühr vereinfachten Abstraktionen des Staates, der Gesellschaft, der Friedensbewegung oder eben des Zivilschutzes lösen. Auch wenn man die vollständige Ablehnung des Militarisierungsvorwurfs durch Geier139 – der gegenwärtig für das heutige Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe arbeitet –140 kritisch sehen kann (sie mag ja durchaus von einzelnen Akteursgruppen intendiert gewesen sein, auch wenn diese sich nicht durchsetzen konnten): Der Zivilschutz war und ist zu vielfältig, um ihn als reines Propagandaprogramm zu deklarieren. Besonders vielsagend in dieser Hinsicht ist der Status der Hilfsorganisationen, von denen die hierzulande wohl wirkmächtigste das Deutsche Rote Kreuz (DRK) sein dürfte. Dieses genoss selbst während der Zeit des NATO-Doppelbeschlusses ein hohes Ansehen auch innerhalb der Friedensbewegungen, obwohl es seit seiner Neugründung nach dem Zweiten Weltkrieg fest in sämtliche Zivilschutzbemühungen integriert gewesen war.141 Der Einfluss der Hilfsorganisationen auf die konkrete Gestaltung des Zivil135 Dee Garrison, Bracing for Armageddon: Why Civil Defense Never Worked. Oxford 2006, S. 192. 136 Garrison, Bracing for Armageddon, S. 196. Dee Garrison (1934–2009) sah sich selbst als Aktivistin, was ihrer Monografie, die den Einfluss der Friedensbewegungen überhöht und deren zeitgenössische Selbstwahrnehmung unkritisch fortschreibt, leider einen fahlen Beigeschmack verleiht – trotz allem Respekt vor „guten Absichten“. 137 Diebel, Atomkrieg und andere Katastrophen, S. 79. 138 Vgl. Becker-Schaum (u. a.), Die Nuklearkrise der 1980er Jahre, S. 7. 139 Geier, Zwischen Kriegsszenarien und friedenszeitlicher Katastrophenabwehr, S. 560. 140 Siehe https://www.kavoma.de/studiengang/dozierende-1/geier-dr.-wolfram-1 (aufgerufen am 26.1.2019). 141 Vgl. hierzu umfassend Dieter Riesenberger, Das Deutsche Rote Kreuz: Eine Geschichte 1864–1990. Paderborn (u. a.) 2002, S. 399–423.

Katastrophe als Handlungsrahmen: Zivil- und Katastrophenschutz

und Katastrophenschutzes war ebenso zentral wie erfolgreich142 und gemeinhin wurde akzeptiert, dass es ohne sie keinerlei Bevölkerungsschutz geben könne.143 Der Zusammenhang zwischen dem Bau von Atomschutzbunkern und dem DRK, zwischen den Notstandsgesetzen und den Feuerwehren wird dabei den wenigsten Menschen überhaupt bewusst gewesen sein. Es gab zur Zeit des Kalten Krieges eben zwei grundsätzlich verschiedene Arten von Zivilschutz: Zunächst den sensationellen, strikt auf den Atomkrieg ausgerichteten, der von politischer Seite zwar zur Schärfung des eigenen Profils gerne diskutiert, gefordert oder vehement abgelehnt wurde, sich aber schon aus Kostengründen nicht durchsetzen konnte. Die andere Seite des Zivilschutzes war pragmatisch, eng mit dem Katastrophenschutz verknüpft und über vielfache ehrenamtliche Beteiligung der Bevölkerung in der gesellschaftlichen Mitte verankert.144 Auch die Geschichtswissenschaft konnte bislang der Versuchung nicht widerstehen, sich auf die Variante zu konzentrieren, welche „bessere Geschichten“ versprach. Die hier vorliegende Arbeit macht es sich nun zur Aufgabe, durch die Konzentration auf eine heterogene, über kritische Wissensbestände verfügende Berufsgruppe nicht nur Befürworter und Gegner, sondern auch beide Varianten des Zivilschutzes, sensationellen wie pragmatischen, gleichermaßen in die Analyse einzubeziehen. Die Abwendung von den USA als Untersuchungsort sowie die deutliche Erweiterung des Untersuchungszeitraums in die jüngere Zeitgeschichte bis 1990 wurden dabei ausgehend von den benannten, neueren Erkenntnissen gewählt, die nahelegen, die Geschichte des Zivilschutzes nicht allein jenseits der 1950/60er Jahre, sondern vor allem auch in Verbindung mit dem Katastrophenschutz zu betrachten. Es sei an dieser Stelle betont, dass die Verschmelzung von Zivil- und Katastrophenschutz ein internationales Phänomen war.145 Das wohl prominenteste 142 Diebel, Atomkrieg und andere Katastrophen, S. 267. Auf S. 262 betont Diebel auch das weitaus höhere Ansehen des DRK im Vergleich zum eher den klassischen Luftschutz vertretenden Bundesverband für den Selbstschutz (BVS), der Nachfolgeorganisation des BLSV, sowie die Konkurrenz der Hilfsorganisationen um Gelder und ehrenamtliche Helfer. Gerade die rhetorische Konzentration auf den Doppelnutzen und die Vernachlässigung genuiner Zivilschutzmaßnahmen wird dem DRK eher genutzt haben als BLSV und BVS, vgl. hierzu auch Molitor, Mit der Bombe überleben, S. 72–73. 143 Diebel, Atomkrieg und andere Katastrophen, S. 263–264. 144 In diesem Zusammenhang muss z. B. Claudia Kemper widersprochen werden, wenn sie sagt, dass dieser nie die „breite Masse“ zu mobilisieren vermochte. Eine Addition der Mitglieder der verschiedenen Hilfsorganisationen (BSV, DRK, THW und viele weitere) verweist darauf, dass ein pragmatischer Zivilschutz jenseits der Schutzraumbauklischees von zahlreichen Bundesbürgern sicher begrenzt, dafür aber oft jahrzehntelang eingeübt wurde. Vgl. Claudia Kemper, Medizin gegen den Kalten Krieg: Ärzte in der anti-atomaren Friedensbewegung der 1980er Jahre (Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte). Göttingen 2016, S. 249. 145 Als äußeres Anzeichen hierfür mag beispielsweise auf die sich während der 1970er Jahre intensivierenden Planungen des NATO Civil Defense Committee zur Einrichtung bzw. Erweiterung einer

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Fallbeispiel führt dabei zurück in die Vereinigten Staaten: Dort wandelte sich die vormalige FCDA im Lauf der Zeit zur Federal Emergency Management Agency (FEMA), die gegenwärtig dem Department of Homeland Security untersteht.146 Ihr Aufgabenbereich hat sich über die Jahre massiv erweitert. Im Zentrum der Vorbereitungen steht dabei seit längerem das sogenannte All-hazards-Prinzip. Mehr noch als das klassische Konzept eines erwünschten Doppelnutzens verwischt all hazards konsequent den verschiedenartigen Charakter der antizipierten Szenarien und erinnert somit an die zu Beginn des letzten Kapitels skizzierte, Beck’sche Nutzung des Katastrophenbegriffs. Die unterschiedliche Genese einer Technik- oder einer Naturkatastrophe, eines Hurrikans oder eines Terroranschlags tritt in den Hintergrund gegenüber der Einsicht, dass viele Szenarien nach ähnlichen Reaktionen (z. B. Warnung und Evakuierung) verlangen und somit auch ähnlich vorbereitet und geplant werden können:147 „Thus all-hazards planning focused not on assessing specific threats, but on building generic capabilities that could function across multiple threat domains.“148 Insbesondere Lakoff hat auf die Genese dieses Sicherheitskonzepts aus dem klassischen Zivilschutz des Kalten Krieges hingewiesen und den antizipativen Charakter beider Ansätze betont.149 Sowohl in Bezug auf einen befürchteten dritten Weltkrieg als auch bei modernen Katastrophenszenarien seien Art und Ausmaß der Bedrohung letztlich unwägbar, weshalb sich die Vorstellung durchsetzte, dass relevantes Wissen hierüber nicht aus der Vergangenheit ermittelt, sondern narrativ konstruiert werden müsse.150 Der moderne All-hazard-Ansatz basiert also auf der Imagination der Bevölkerungsschutzexperten und erinnert damit frappierend an die Charakterisierung des Kalten Krieges als imaginary war durch Mary Kaldor. Ebenso wie für diesen gilt auch für den gegen all hazards gerichteten „Krieg“: „Strategies may belong to the realm of imagination. But preparations for an imaginary war are real enough. The imaginary war consists of real soldiers, weapons, arms manufacturers and scientists pretending to fight a war.“151 Das Imaginäre der Risikogesellschaft spiegelt somit den chronologisch früheren Imaginationscharakter des Kalten Krieges, weshalb der auf den (unbekannten) Atomkrieg vorbereitende Zivilschutz als Basis des gegenwärtigen Sicherheitsdenkens begriffen

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international koordinierten Katastrophenabwehr im Rahmen der NATO hingewiesen werden, vgl. Diebel, Atomkrieg und andere Katastrophen, S. 156–160. Zur fortlaufenden Umbenennung und sich verändernder Zuordnungen der USZivilschutzorganisationen vgl. die entsprechende Tabelle in Monteyne, Fallout Shelter, S. 13. Tracy Davis, Stages of Emergency: Cold War Nuclear Civil Defense. Durham (u. a.) 2007, S. 20. Andrew Lakoff, Preparing for the Next Emergency, S. 262, in: Public Culture 19, 2/2007, S. 257–271. Vgl. ebd., S. 255–262. Ebd., S. 255. Mary Kaldor, The Imaginary War: Understanding the East-West Conflict. Oxford & Cambridge 1990, S. 212.

Katastrophe als Handlungsrahmen: Zivil- und Katastrophenschutz

werden kann. Auch in Bezug auf die Bundesrepublik Deutschland gilt dabei, dass aus den klassischen „Zivilschützern“ graduell moderne Sicherheitsexperten mit vielfältigsten Aufgabenbereichen wurden.152 So wie der historische Zivilschutz oft kritisiert worden ist, kennt auch die Entwicklung des gegenwärtigen Bevölkerungsschutzes längst ihre eigenen Kritiker. Der Soziologe Ulrich Bröckling beispielsweise hat zwischen drei verschiedenen „Präventionsregimes“ unterschieden. Diese seien Hygiene (das Suchen und Beseitigen von Gefahrenursachen), Immunisierung (die Stärkung von Resilienz) sowie das dem All-hazards-Ansatz des Bevölkerungsschutzes am nächsten kommende precautionary principle. Hierunter versteht Bröckling einen „entgrenzten Aktivismus im Namen der Vorsorge“,153 der sich seit dem 11. September 2001 zusehends durchgesetzt habe. Die zentrale Prämisse des Prinzips sei die Imagination ständig neuer „post-probabilistisch[er] und katastrophisch[er]“154 Szenarien, auf die sich der Staat umfassend vorzubereiten glaube. So wie viele andere Autoren befürchtet Bröckling, dass ein Prinzip, das stets vom Schlimmstmöglichen ausgeht, selbst den „Terror im Dienste der Terrorbekämpfung“155 rechtfertige. Die Argumentation erinnert nicht nur an die zeitgenössische Kritik des historischen Zivilschutzes, sondern vor allem auch an die bereits geschilderten, von Beck befürchteten Effekte der Risikogesellschaft, die später von Agamben und den Vertretern des Versicherheitlichungsnarrativs aufgegriffen wurden: Nicht in der eigentlichen Gefahr, sondern in der staatlichen Vorbereitung auf sie wird eine Bedrohung von Rechtsstaat und Demokratie vermutet. Während manche Praktiken vor allem US-amerikanischer Institutionen im war against terror diese Argumentation durchaus zu unterstützen scheinen, gilt es entgegenzuhalten, dass nahezu zwanzig Jahre nach 9/11 von einem Rückfall der westlichen Staaten in Diktatur und Barbarei (noch?) nicht die Rede sein kann und dass es trotz mancherlei Einschränkungen leicht fällt, Bereiche zu identifizieren, in denen bürgerliche Freiheiten teils deutliche Zuwächse verzeichnen. Die notwendige differenzierte Abwägung der Grundprinzipien Freiheit und Sicherheit sollte jedenfalls keiner allzu glatten Meistererzählung zum Opfer fallen. Eine interessante Position hierzu vertritt Scott G. Knowles – einer der wenigen Historiker, der sich bislang um eine konsequente Verknüpfung der so oft voneinander getrennten Katastrophen- und Zivilschutznarrative bemüht hat. Dieser konstatiert einerseits, dass heutzutage ebenso wie zur Zeit des Kalten Krieges externe Risiken (z. B. Terrorismus) tendenziell gegenüber denjenigen Risiken überbewertet würden,

152 Vgl. Diebel, Atomkrieg und andere Katastrophen, S. 315–319. 153 Ulrich Bröckling, Dispositive der Vorbeugung: Gefahrenabwehr, Resilienz, Precaution, S. 100, in: Christopher Daase, Philipp Offermann & Valentin Rauer (Hrsg.), Sicherheitskultur: Soziale und politische Praktiken der Gefahrenabwehr. Frankfurt/M. (u. a.) 2012, S. 93–108. 154 Ebd., S. 99. 155 Ebd., S. 101.

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die es tagtäglich auszuhalten gelte (z. B. soziale Verwerfungen und Städteplanungspolitik).156 Andererseits bewertet er die grundsätzliche Entwicklung der FEMA sowie den modernen All-hazards-Ansatz des Bevölkerungsschutzes eher positiv.157 Das Hauptproblem bestehe, so Knowles, oftmals nicht so sehr in den Ratschlägen der Bevölkerungsschutzexperten, sondern darin, dass diese geschichtsvergessen in den Wind geschlagen würden.158

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Katastrophe als Standesinteresse: Die Ärzteschaft als profession

Die Wahl des zentralen Akteurs dieser Arbeit – der bundesdeutschen Ärzteschaft – legt die Verwendung eines wissensgeschichtlichen Untersuchungsansatzes nahe, der analog zu Philipp Sarasins Definition insbesondere die spezifisch ärztliche Produktion und Zirkulation von Wissen in den Blick nimmt.159 Hierunter fällt nicht allein die Identifikation dessen, was sich überhaupt als ärztliches Wissen durchsetzte, sondern auch die notwendige Differenzierung der verschiedenen Teilbereiche, die das ärztliche Berufsfeld in Bezug auf die Themen Zivil- und Katastrophenschutz dominierten. So besaßen und produzierten etwa das Sanitätswesen der Bundeswehr und die zivile Ärzteschaft unterschiedliche Wissensbestände über das Katastrophische. Im gemeinsamen Dialog mochten diese Bestände nun miteinander abgeglichen und in die jeweils andere Sphäre übertragen werden. Da Wissen bei seiner Weitergabe jedoch nie statisch erhalten bleibt, sondern sich fortlaufend ändert,160 sind gerade solche Transfer- und Transformationsprozesse in den Blick zu nehmen. Obwohl nun das Konzept der Wissensgesellschaft161 gerade in Bezug auf Wechselwirkungen zwischen militärischer und ziviler Sphäre in der Geschichtswissenschaft bereits erprobt wurde,162 scheint mir eine Beschränkung der Untersuchung auf diesen

156 Scott Knowles, The Disaster Experts: Mastering Risk in Modern America. Philadelphia 2011, S. 302 und 304. 157 Ebd., S. 276–279, 307 und 309–310. 158 Ebd., S. 251, 282 und 300–301. 159 Philipp Sarasin, Was ist Wissensgeschichte?, S. 164, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur (IASL) 36, 1/2011, S. 159–172. 160 Nico Stehr & Reiner Grundmann, Expertenwissen: Die Kultur und die Macht von Experten, Beratern und Ratgebern. Weilerswist 2010, S. 20. 161 Der Begriff verweist keinesfalls auf eine „bessere“ Gesellschaft, sondern wertneutral auf die Dominanz vor allem wissenschaftlich generierten Wissens, vgl. Nico Stehr, Arbeit, Eigentum und Wissen: Zur Theorie von Wissensgesellschaften. Frankfurt/M. 1994, S. 13–14. 162 Vgl. hierzulande die Arbeiten Margit Szöllösi-Janzes zu Verwissenschaftlichungsprozessen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Margit Szöllösi-Janze, Der Wissenschaftler als Experte: Kooperationsverhältnisse von Staat, Militär, Wirtschaft und Wissenschaft, 1914–1933, in: Doris Kaufmann (Hrsg.), Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus: Bestandsaufnahme

Katastrophe als Standesinteresse: Die Ärzteschaft als profession

Aspekt wenig zielführend zu sein. Im Gegensatz zu Sarasin, der in der Tradition Foucaults zumindest zeitweise Wissen und (diskursive) Macht gleichsetzt,163 wird im Folgenden deren Unterschiedlichkeit betont. Der Soziologe Eliot Freidson etwa differenziert in diesem Zusammenhang klar: „Formal knowledge is an instrument of power, a source of guiding and facilitating the exercise of power, but not power in itself.“164 Gerade die Art der Organisation der Wissensbestände sowie ihrer Produzenten und Träger ist maßgeblich mitentscheidend für deren Umsetzung in Gestaltungsmacht. Ausgehend von diesen Überlegungen wird die vorliegende Arbeit die bundesdeutsche Ärzteschaft als Profession (profession) begreifen, d. h., einen wissens- wie organisationssoziologische Zugänge vereinenden professionssoziologischen Ansatz zu ihrer näheren Bestimmung als Kollektivakteur wählen. Der Professionsbegriff war in der deutschen Wissenschaftslandschaft recht lange eher unklar bestimmt, hat sich hingegen mit der verstärkten Rezeption angloamerikanischer Forschung seit den 1980er Jahren zusehends präzisiert. Neben den Juristen wird insbesondere die Ärzteschaft als „prototypisches Modell“165 einer gelungenen Professionalisierung angeführt. Die professions sind keinesfalls deckungsgleich mit dem in jüngerer Zeit viel diskutierten Expertentypus, den Nico Stehr als Wissensvermittler definiert hat,166 wurden aber bereits als „spezifisch moderne, an der Durchsetzung von kollektiven Eigeninteressen orientierte Erscheinungsform von Experten“167 charakterisiert. Die Bewertung ihres Einflusses fällt unterschiedlich aus: Dietrich Rüschemeyer etwa bezeichnet sie als „potentiell gemeingefährliche Gruppen“, deren soziale Kontrolle ebenso wichtig wie schwierig sei,168 und Konrad Jarausch betont, dass sich die professions allzu oft einer altruistischen Rhetorik bedient hätten, um die dahinterliegende egozentrische Gewinnsucht zu verschleiern.169 Demgegenüber

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und Perspektiven der Forschung. Göttingen 2000, S. 47–64; Margit Szöllösi-Janze, Wissensgesellschaft in Deutschland: Überlegungen zur Neubestimmung der deutschen Zeitgeschichte über Verwissenschaftlichungsprozesse, in: Geschichte und Gesellschaft 30, 2/2004, S. 277–313. Sarasin, Was ist Wissensgeschichte?, S. 169. Eliot Freidson, Professional Powers: A Study of the Institutionalization of Formal Knowledge. Chicago (u. a.) 1986, S. 9. Ronald Hitzler, Wissen und Wesen des Experten: Ein Annäherungsversuch – zur Einleitung, S. 15, in: Ronald Hitzler, Anne Honer & Christoph Maeder (Hrsg.), Expertenwissen: Die institutionalisierte Kompetenz zur Konstruktion von Wirklichkeit. Opladen 1994, S. 13–30. Stehr & Grundmann, Expertenwissen, S. 109. Hitzler, Wissen und Wesen des Experten, S. 25. Dietrich Rüschemeyer, Professionalisierung: Theoretische Probleme für die vergleichende Geschichtsforschung, S. 316, in: Geschichte und Gesellschaft 6/1980, S. 311–325. Konrad Jarausch, The German Professions in History and Theory, S. 20, in: Geoffrey Cocks & Konrad Jarausch (Hrsg.), German Professions 1800–1950. New York (u. a.) 1990, S. 9–26.

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sind die Professionen in ihrer typischen Ausrichtung auf den Erhalt „gesellschaftlicher Zentralwerte“170 seit Anbeginn ihrer Erforschung wiederholt als notwendiges Gegengewicht eines wertfreien Marktradikalismus bewertet worden, u. a. sogar von Freidson, der zumindest die Generalkritik an den Professionen kritisch sieht171 – ironischerweise am Ende einer Karriere, die teilweise auf eben solcher Kritik basierte. Was ist nun eine Profession? Eine Zusammenfassung zentraler Kriterien liefert wiederum Freidson. Nach seiner Definition bezeichnet profession eine hoch spezialisierte Arbeit mit exklusiven Zuständigkeitsbereichen und einer geschützten Position auf dem Arbeitsmarkt,172 die einen langen akademischen Bildungsweg voraussetzt. Zusätzlich betont er die Bedeutung einer professionsspezifischen Ideologie,173 die während der Ausbildung vermittelt und in der beruflichen Praxis fortwährend eingeübt wird. Professionelles Handeln umfasst nach dieser Lesart jenseits des technisch-rationalen Handelns stets auch eine symbolisch-kulturelle Komponente.174 Professionen gründen Interessenverbände zur Regelung sowohl ihrer internen Angelegenheiten (Inhalt der Ausbildung, Qualitätssicherung usw.) als auch zur Aushandlung ihres Verhältnisses zum Staat und zu professionsfremden Akteuren. Darüber hinaus zeichnet sich eine Profession dadurch aus, dass sie sämtliche Bereiche personell zu besetzen sucht, die den Kern ihrer Arbeit tangieren.175 Der Einfluss von Nicht-Professionellen auf die eigene Tätigkeit wird kritisch betrachtet: „Anathema to professions is supervison and control by nonprofessionals.“176 Als zentrales Attribut der Professionen betont Freidson schlussendlich die Autonomie,177 worunter sowohl die organisatorische Unabhängigkeit von externen gesellschaftlichen Kräften (z. B. vom Staat oder der Industrie) als auch die fach-

170 Michael Dick, Professionsentwicklung als Handlungs- und Forschungsfeld, S. 11, in: ders., Winfried Marotzki & Harald Mieg (Hrsg.), Handbuch Professionsentwicklung. Bad Heilbrunn 2016, S. 9–24. Zum Aspekt der Gemeinwohlorientierung vgl. auch: Michaela Pfadenhauer, Gemeinwohlorientierung als Maxime professionellen Handelns, in: ebd., S. 40–50. 171 Eliot Freidson, Professionalism: The Third Logic. Cambridge 2001, S. 220. 172 Zur These der professions als market project zur Erringung einer stabilen Monopolposition vgl. Magali Sarfatti Larson, The Rise of Professionalism: A Sociological Analysis. Berkeley (u. a.) 1977. 173 Freidson, Professionalism, S. 127. 174 Thomas Klatetzki, Professionelle Arbeit und kollegiale Organisation: Eine symbolisch-interpretative Perspektive, S. 256, in: Thomas Klatetzki & Veronika Tacke (Hrsg.), Organisation und Profession. Wiesbaden 2005, S. 253–283. 175 Freidson, Professional Powers, S. 211. 176 Ebd., S. 85. 177 Eliot Freidson, Profession of Medicine: A Study of the Sociology of Applied Knowledge. New York (u. a.) 1970, S. 82.

Katastrophe als Standesinteresse: Die Ärzteschaft als profession

liche Unabhängigkeit des einzelnen Professionsmitglieds zu zählen sind.178 Eine klassische Profession ist als nicht-egalitäres Kollegium organisiert,179 welches den einzelnen Mitgliedern ein hohes Grundvertrauen hinsichtlich ihrer individuellen Befähigung zuspricht. Dies führt dazu, dass professionals dazu tendieren, allein zu arbeiten, Kolleginnen und Kollegen gegenüber Fachfremden im Zweifel in Schutz nehmen, auch bei erwiesenem Fehlverhalten ungern sanktionieren und dann zumeist im Rahmen informeller Gespräche.180 Der Deprofessionalisierungsthese, die davon ausgeht, dass die professionelle Autonomie zusehends durch Kräfte aus Wirtschaft und Verwaltung begrenzt wird, hält Freidson entgegen, dass sich zumindest die technical autonomy der praktischen Berufsausübung ungebrochen erhalte181 und zudem viele angeblich fachfremde Vorgesetzte selbst aktive oder ehemalige Mitglieder der Profession seien.182 Ein im Vergleich zu Freidsons Studien mehr auf die praktische Tätigkeit bezogenes Konzept liefert Andrew Abbot. Die Charakterisierung der professions fällt bei ihm unspezifischer, damit naturgemäß aber auch offener aus und ist weniger auf die klassischen Professionen (Kirche, Justiz, Medizin) als auf die moderne Berufswelt insgesamt bezogen. Laut Abbot sind Professionen „exclusive occupational groups applying somewhat abstract knowledge to particular cases“.183 Anstelle des sonst gemeinhin verwendeten Monopolbegriffs schreibt Abbot von einer letztlich begrenzten Anzahl exklusiver Zuständigkeiten (jurisdictions), um die sich die verschiedenen Professionen zum Erhalt oder zur Ausdehnung der ihnen gewährten Privilegien fortwährend stritten,184 weshalb die Professionalisierung eines Berufszweiges fast zwangsläufig den Bedeutungsverlust einer bereits etablierten Profession nach sich ziehe. Professionelles Arbeiten wird als Dreischritt der Grundhandlungen Diagnose (diagnosis), Inferenz (inference) und Behandlung (treatment) beschrieben. Diagnose und Behandlung fungierten dabei als Übersetzungsleistungen zwischen der nichtprofessionellen und der professionellen Sphäre;185 ein Problem müsse zunächst in Sprache und Gedankenwelt der Profession überführt

178 Charles McClelland, Zur Professionalisierung der akademischen Berufe in Deutschland, S. 241, in: Werner Conze & Jürgen Kocka (Hrsg.), Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert – Teil 1: Bildungssystem und Professionalisierung im internationalen Vergleich. Stuttgart 1985, S. 233–247. 179 Vgl. Malcolm Waters, Collegiality, Bureaucratization, and Professionalism: A Weberian Analysis, S. 969–971, in: The American Journal of Sociology 94, 5/1989, S. 945–972. 180 Klatetzki, Professionelle Arbeit und kollegiale Organisation, S. 276. 181 Freidson, Professional Powers, S. 141. 182 Ebd., S. 145. Vgl. Dani Filc, Physicians as „Organic Intellectuals“: A Contribution to the Stratification versus Deprofessionalization Debate, in: Acta Sociologica 49, 3/2006, S. 273–285. 183 Andrew Abbot, The System of Professions: An Essay on the Division of Expert Labor. Chicago 1988, S. 8. 184 Ebd., S. 90. 185 Ebd., S. 40.

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werden (in Bezug auf die Ärzteschaft könnte man von Medikalisierung sprechen), um der Klientin oder dem Klienten schlussendlich eine konkrete Problemlösung anbieten zu können.186 Der „purely professional act“187 sei hingegen die Inferenz, eine Art professionsspezifischen Schlussfolgerns. Da die Diagnose keineswegs immer eindeutig sei, müssten professionals auf der Basis verfügbarer Wissensbestände sowie praktischer Erfahrung diejenige Behandlung auswählen, die am ehesten konkrete Erfolge verspreche. Es ist diese Verbindung aus Wissenschaft und Intuition, das bewusste Changieren zwischen theoretischer Exaktheit und einer chronisch vagen Realität,188 die gelegentlich zur Kunst erhoben wird und die eine Automatisierung professionellen Handelns weitgehend verhindert. Die Inferenz erweist sich dabei als eng verknüpft mit der von Freidson betonten Autonomie: Sie ist der Akt professionellen Handelns, in dem sich die Individualität des professional manifestiert. Die konkrete Genese der Professionen entwickelte sich national unterschiedlich.189 Im deutschsprachigen Raum vollzog sich die Professionalisierung der Ärzteschaft ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts rasant: Seit den 1860er Jahren gab es bereits Ärztekammern, 1873 wurde der Ärztevereinsbund als Dachorganisation gegründet190 und auch die Einführung einer gesetzlichen Krankenversicherung im Jahr 1883, deren Leistungen an das Urteil akademisch gebildeter Schulmediziner gekoppelt waren, beförderte den Prozess.191 Als zusätzliche Interessenvertretung konstituierte sich im Jahr 1900 der „Verband der Ärzte Deutschlands zur Wahrung ihrer wirtschaftlichen Interessen“, der später nach seinem Gründer schlicht Hartmannbund genannt wurde192 und Konflikte mit den nicht zentral organisierten Krankenkassen in aller Regel in seinem Sinne zu entscheiden vermochte.193 Trotz mancher interner Spannungen, insbesondere während der Zeit der Weimarer Re-

186 Vgl. hierzu Peter Conrad, Medicalization and Social Control, S. 211, in: Annual Review of Sociology 18/1992, S. 209–232. 187 Abbot, The System of Professions, S. 40. 188 Vgl. hierzu auch Dick, Professionsentwicklung, S. 13–15. 189 Ein knapper Vergleich der national spezifischen Professionalisierungsentwicklung in Großbritannien und Deutschland findet sich in Mark Neal & John Morgan, The Professionalization of Everyone?: A Comparative Study of the Development of the Professions in the United Kingdom and Germany, in: European Sociological Review 16, 1/2000, S. 9–26. 190 Claudia Huerkamp, Ärzte und Professionalisierung in Deutschland: Überlegungen zum Wandel des Arztberufs im 19. Jahrhundert, S. 366, in: Geschichte und Gesellschaft 6/1980, S. 349–382. 191 Hedwig Herold-Schmidt, Ärztliche Interessenvertretung im Kaiserreich 1871–1914, S. 82, in: Robert Jütte (Hrsg.), Geschichte der deutschen Ärzteschaft: Organisierte Berufs- und Gesundheitspolitik im 19. und 20. Jahrhundert. Köln 1997, S. 43–95. 192 Ebd., S. 50. 193 Ebd., S. 93.

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publik,194 setzte sich in der Ärzteschaft mehrheitlich eine national-konservative Gesinnung durch, die alles „Sozialistische“ ablehnte195 und den kühl zwischen Leben und Tod entscheidenden Kriegschirurgen des Ersten Weltkriegs zum Idealbild einer männlich konnotierten „heroischen“ Medizin verklärte.196 Die konsequente Hinwendung zu den aufstrebenden Naturwissenschaften während des frühen 20. Jahrhunderts verband sich sukzessive mit der Wunschvorstellung, Krankheiten weniger zu heilen als zu beseitigen,197 was die Eugenik zur medizinischen Leitwissenschaft avancieren ließ,198 welche später einen entscheidenden Einfluss auf Denkweise und Repressionssystem der Nationalsozialisten ausüben sollte.199 Die zur Zeit des Nationalsozialismus erfolgende Gleichschaltung der organisierten Ärzteschaft geschah freiwillig,200 und auch wenn ihr tatsächlicher Politisierungsgrad umstritten bleibt,201 muss betont werden, dass Ärzte von allen akademischen Berufen die prozentual höchsten Mitgliedschaftsraten in den zentralen NS-Institutionen vorzuweisen hatten (NSDAP 45 %, SA 26 %, SS 9 %).202 Organisierten Widerstand gab es keinen,203 obwohl ein Arzt kaum schwerwiegende Repressionen zu befürchten hatte, falls er sich etwa der Umsetzung rassistischer NS-Paradigmen verweigerte.204 Finanziell stand die deutsche Ärzteschaft während der NS-Zeit

194 Vgl. Michael Kater, Die soziale Lage der Ärzte im NS-Staat, S. 51, in: Angelika Ebbinghaus & Klaus Dörner (Hrsg.), Vernichten und Heilen: Der Nürnberger Ärzteprozess und seine Folgen. Berlin 2001, S. 51–67. 195 Eberhard Wolff, Mehr als nur materielle Interessen: Die organisierte Ärzteschaft im Ersten Weltkrieg und in der Weimarer Republik 1914–1933, S. 141, in: Jütte (Hrsg.), Geschichte der deutschen Ärzteschaft, S. 97–142. 196 Michael Kater, Professionalization and Socialization of Physicians in Wilhelmine and Weimar Germany, S. 685, in: Journal of Contemporary History 20, 4/1985, S. 677–701. 197 Gerhard Baader, Heilen und Vernichten: Die Mentalität der NS-Ärzte, S. 278, in: Ebbinghaus & Dörner (Hrsg.), Vernichten und Heilen, S. 275–294. 198 Alfons Labisch, Die „hygienische Revolution“ im medizinischen Denken: Medizinisches Wissen und ärztliches Handeln, S. 82, in: Ebbinghaus & Dörner (Hrsg.), Vernichten und Heilen, S. 68–89. 199 Robert Lifton bezeichnete das NS-System vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen gar als biocracy: Eine Pseudo-Theokratie, in der die NS-Ärzte als säkulare Priesterkaste zur Legitimierung und Durchsetzung der rassistischen Ideologie beitrugen, vgl. Robert Lifton, The Nazi Doctors: Medical Killing and the Psychology of Genocide, New York 1986, S. 17. 200 Winfried Süß, Der „Volkskörper“ im Krieg: Gesundheitspolitik, Gesundheitsverhältnisse und Krankenmord im nationalsozialistischen Deutschland 1939–1945 (Studien zur Zeitgeschichte 65). München 2003, S. 36. 201 Ebd., S. 376. 202 Tobias Freimüller, Mediziner: Operation Volkskörper, S. 14, in: Norbert Frei (Hrsg.), Karrieren im Zwielicht: Hitlers Eliten nach 1945. Frankfurt/M. 2001, S. 13–69. 203 Vgl. Michael Kater, Ärzte als Hitlers Helfer. Übersetzt von Helmut Dierlamm und Renate Weitbrecht. Hamburg (u. a.) 2000 (Originalausgabe 1989), S. 20. 204 Martin Rüther, Ärztliches Standeswesen im Nationalsozialismus 1933–1945, S. 183, in: Jütte (Hrsg.), Geschichte der deutschen Ärzteschaft, S. 143–193.

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glänzend da: So gibt Martin Rüther an, dass deren Durchschnittseinkommen zwischen 1933 und 1938 um 61 Prozent zunahm,205 während Robert Jütte schreibt, dass wohl keine akademische Berufsgruppe mehr vom Nationalsozialismus profitiert habe.206 Insgesamt muss den Strukturen und Organisationen der deutschen Ärzteschaft über die politischen Systemwechsel der deutschen Geschichte hinweg ein hohes Maß an Kontinuität bescheinigt werden. Zu einer wirklichen Entnazifizierung kam es nach 1945 nicht;207 den meisten Ärzten gelang es vielmehr, ihre Karrieren in der jungen Bundesrepublik fortzusetzen.208 Dies galt insbesondere für die teils hoch belasteten, frühen Spitzenfunktionäre der 1947 gegründeten Bundesärztekammer (BÄK): Karl Haedenkamp, Ernst Fromm und Hans Joachim Sewering waren allesamt SA- oder SS-Mitglieder209 und während ihrer jeweiligen Amtszeiten Verfechter der These gewesen, dass es Medizinverbrechen zwar in den Konzentrationslagern gegeben habe, die Ärzteschaft insgesamt jedoch auch während der NS-Zeit ihren ethischen Prinzipien treu geblieben sei. Diese Meistererzählung von wenigen Einzeltätern passte nicht nur gut zur apologetischen Grundhaltung der frühen Bundesrepublik, sondern wurde zusätzlich gedeckt durch den von der BÄK selbst in Auftrag gegebenen, von Alexander Mitscherlich und Fred Mielke verfassten Bericht zum 1946 bis 1947 stattfindenden Nürnberger Ärzteprozess,210 Das Diktat der Menschenverachtung.211 Obwohl Mitscherlich nach seiner Arbeit mit heftigen Vorwürfen der „Nestbeschmutzung“ konfrontiert wurde,212 verwiesen die ärztlichen Berufsorganisationen bei Fragen nach der eigenen „Vergangenheitsbewältigung“ doch regelmäßig auf die frühe Drucklegung seines

205 Ebd., S. 161. 206 Robert Jütte (u. a.), Medizin und Nationalsozialismus: Bilanz und Perspektiven der Forschung. Wallstein 2011, S. 179. 207 Thomas Gerst, Neuaufbau und Konsolidierung: Ärztliche Selbstverwaltung und Interessenvertretung in den drei Westzonen und der Bundesrepublik Deutschland 1945–1995, S. 200, in: Jütte (Hrsg.), Geschichte der deutschen Ärzteschaft, S. 143–193. 208 Vgl. Boris Böhm, Norbert Haase & Matthias Pfüller, Zur Einführung, S. 9, in: Boris Böhm & Norbert Haase (Hrsg.), Täterschaft – Strafverfolgung – Schuldentlastung: Ärztebiographien zwischen nationalsozialistischer Gewaltherrschaft und deutscher Nachkriegsgeschichte. Leipzig 2007, S. 9–27. 209 Kater, Ärzte als Hitlers Helfer, S. 14. 210 Nähere Informationen zum Nürnberger Ärzteprozess, der die juristische Aufarbeitung der NSMedizinverbrechen zum Thema hatte, liefert insbesondere Ebbinghaus & Dörner (Hrsg.), Vernichten und Heilen. 211 Alexander Mitscherlich & Fred Mielke, Das Diktat der Menschenverachtung: Eine Dokumentation. Heidelberg 1947. 212 Vgl. Jürgen Peter, Unmittelbare Reaktionen auf den Prozess, S. 468, in: Ebbinghaus & Dörner (Hrsg.), Vernichten und Heilen, S. 452–475.

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Buches.213 Zur Verbreitung von Das Diktat der Menschenverachtung liegen widersprüchliche Informationen vor; als gesichert muss hingegen gelten, dass es in seiner ersten Fassung kaum rezipiert wurde.214 Die vordringliche Aufmerksamkeit der ärztlichen Organisationen galt nach 1945 mithin der Gegenwart. Das Beharren auf der möglichst weitreichenden Selbstkontrolle des Berufs sowie die Lobbyarbeit gegen eine allseitig befürchtete „Sozialisierung“ des Gesundheitswesens (etwa in Form der Etablierung einer Einheitskrankenkasse) belegen eindrücklich deren Wunsch, den erreichten Professionalisierungsgrad zu halten oder zu erweitern.215 Zumindest für den Untersuchungszeitraum dieser Arbeit muss diesem Vorhaben Erfolg bescheinigt werden, was sich nicht nur an hohen Einkommenszuwächsen,216 sondern auch an der oft überlegenen Position der Ärzteschaft gegenüber den Krankenkassen ablesen lässt.217 Zwar bemühten sich insbesondere nachrückende Generationen von Ärzten (und nun verstärkt auch Ärztinnen) durchaus um Reformimpulse. Diese setzten sich hingegen – wenn überhaupt – langsam durch, was sich wiederum an der ärztlichen Vergangenheitspolitik demonstrieren lässt. Dort zeigte die zum Grundkonsens avancierte Praxis des Beschweigens ab Mitte der 1980er Jahre erste Risse, was sich z. B. an der Affäre um den bis 1978 als Präsident der Bundesärztekammer amtierenden Hans Joachim Sewering ablesen lässt. Sewering musste im Jahr 1993 seine Kandidatur als Präsident des Weltärztebundes aufgrund externen Drucks zurückziehen, während der damalige BÄK-Präsident Karsten Vilmar ihn demonstrativ unterstützte.218 In einem von Vilmar und seinem Nachfolger Jörg-Dietrich Hoppe verfassten Nachruf aus dem Jahr 2010 wurde auf Sewerings wohlbekannte NS-Vergangenheit nicht eingegangen (die Würdigung setzt dort erst 1947 ein), was verdeutlicht, dass die ärztlichen Berufsverbände bis in die allerjüngste Vergangenheit zumindest keine konsequente Politik in Bezug auf

213 Insbesondere bei der 1951 erfolgenden Wiederaufnahme der westdeutschen Ärzteschaft in den Weltärztebund wurde auf die betriebene Aufarbeitung bei gleichzeitiger Ablehnung einer kollektiven Verantwortung hingewiesen, vgl. Gerst, Neuaufbau und Konsolidierung, S. 208. 214 Jürgen, Unmittelbare Reaktionen auf den Prozess, S. 459 und 461. 215 Vgl. Ulrike Lindner, Gesundheitspolitik in der Nachkriegszeit: Großbritannien und die Bundesrepublik Deutschland im Vergleich (Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London 57). München 2004, S. 85–86. 216 Gerst, Neuaufbau und Konsolidierung, S. 225. 217 Ebd., S. 230. 218 Vgl. hierzu Michael Katers ernüchternde Bilanz nicht nur zur Sewering-Affäre, sondern zur apologetischen Grundhaltung der ärztlichen Berufsorganisationen insgesamt: Michael Kater, The Sewering Scandal of 1993 and the German Medical Establishment, in: Manfred Berg & Geoffrey Cocks (Hrsg.), Medicine and Modernity: Public Health and Medical Care in Nineteenth and Twentieth-Century Germany. Cambridge (u. a.) 1997, S. 213–234.

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ihre Rolle im Nationalsozialismus gefunden zu haben scheinen.219 Diese Zerrissenheit findet sich auch in der medizinhistorischen Geschichtsschreibung wieder. Einerseits gibt es inzwischen zwar eine kaum überschaubare Fülle an Werken zur Tätigkeit von Ärzten während des Nationalsozialismus, andererseits scheint die lange Jahre vorherrschende Praxis der „erbaulichen“, gegenwärtige Verhältnisse legitimierenden Geschichtsschreibung keineswegs gänzlich ausgestorben zu sein,220 was sich auch am Beispiel des Themas dieser Arbeit aufzeigen lässt. So betont Nils Kessel in seiner Untersuchung zur Geschichte des Rettungsdienstes die in diesem Bereich vorherrschende Dominanz heroischer Pioniererzählungen, d. h. letztlich teleologisch angelegte Taten- und Innovationsgeschichten „großer Männer“.221 In seiner vornehmlich auf die Gegenwart der Katastrophenmedizin bezogenen Dissertation entspricht Thomas Bschleipfer (selbst Urologe) diesem Paradigma weitgehend, indem er insbesondere die Bedeutung der Tugendhaftigkeit des Arztes im Angesicht des Katastrophischen betont und somit das prinzipielle Dilemma individualistisch auflöst. Der Arzt, so lautet zugespitzt Bschleipfers finale These, der sich den schwerwiegenden ethischen Konflikten im Katastrophenfall stellt, muss eben schlicht der fachlich wie moralisch beste Arzt sein – die Qualität seiner Persönlichkeit muss mit dem Schrecken der Katastrophe schritthalten können.222 Kritischer präsentiert sich demgegenüber Claudia Kempers zeithistorische Studie zur blockübergreifenden ärztlichen Friedensbewegung IPPNW (International Physicians for the Prevention of Nuclear War). Während diese hingegen als Beitrag zur Geschichte der Neuen Sozialen Bewegungen überzeugt und insbesondere die Schilderung des charakteristischen Spannungsverhältnisses zwischen internationalen Dachverbänden und nationalen Sektionen vielfach anschlussfähige Erkenntnisse liefert, vermag sie ihr Ziel einer modernen Professionsgeschichte nur bedingt einzulösen. Kempers Nutzung des Professionsbegriffs wirkt insgesamt mehr narrativ als theoretisch, wird kaum zur Formulierung von Forschungsthesen verwendet und mündet in der eher banalen Feststellung, dass die Professionsgeschichtsschreibung einen guten Zugang zur Gesellschaftsgeschichte darstellt.223 Der

219 Jörg-Dietrich Hoppe & Karsten Vilmar, Hans Joachim Sewering: Gestalter im Dienst der Ärzteschaft, in: Deutsches Ärzteblatt 28–29/2010, S. 1409. Vgl. Ralf Forsbach, Die 68er und die Medizin: Gesundheitspolitik und Patientenverhalten in der Bundesrepublik Deutschland (1960–2010). Göttingen 2011, S. 41. 220 Vgl. Hans-Georg Hofer & Lutz Sauerteig, Perspektiven einer Kulturgeschichte der Medizin, S. 112, in: Medizinhistorisches Journal 42, 2/2007, S. 105–141 und Thomas Schlich, Zeitgeschichte der Medizin: Herangehensweise und Probleme, S. 284, in: Medizinhistorisches Journal 42, 3–4/2007, S. 269–298. 221 Kessel, Geschichte des Rettungsdienstes, S. 10. 222 Thomas Bschleipfer, Ethik einer Krisenmedizin: Kritische Analyse bereichsspezifischer Dilemmata: Ressourcenallokation, Instrumentalisierung und Doppelloyalität. Diss. phil. Cottbus 2007, S. 132–136. 223 Kemper, Medizin gegen den Kalten Krieg, S. 409.

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Studienanlage entsprechend thematisiert Kemper zudem Minderheiten deutlich prononcierter als die letztlich entscheidenden Mehrheiten, wobei die „etablierte“ Ärzteschaft als eigenständiger Akteur wenig in den Blick genommen wird. Trotz des anfänglich geäußerten Vorsatzes, keine Heldengeschichte mit umgekehrten Vorzeichen schreiben zu wollen,224 resultiert somit schon aus der Untersuchungsanlage eine tendenzielle Verzerrung der Wirkmächtigkeit eines berufsspezifischen Arms der Friedensbewegungen, welcher professionsintern zwar Sympathien, aber keine Abstimmungen gewann (vgl. hierzu etwa Kapitel 4.2 sowie zur ärztlichen Friedensbewegung insgesamt Kapitel 3.1).225 Gerade im Vergleich zu den affirmativen Darstellungen wissenschaftlicher Einzelleistungen „großer Männer“ veranschaulicht Kempers Untersuchung einer oppositionellen Flügelbewegung jedoch, dass es „die“ deutsche Ärzteschaft weder gab noch gibt. Gerade das von Eliot Freidson betonte, unter professionals übliche hohe Maß an persönlicher Autonomie sowie die kollegiale Organisationsstruktur sorgen dafür, dass Dissens tendenziell respektiert wird. Demgegenüber steht jedoch der Drang zur Geschlossenheit in Bezug auf zentrale berufspolitische Positionen. Die sich während des Untersuchungszeitraums dieser Arbeit kaum ändernde Organisation der bundesdeutschen Ärzteschaft stellte (und stellt) hierfür eine überaus effiziente Infrastruktur bereit. Zuallererst ist auf den extrem hohen Organisationsgrad der Ärzteschaft zu verweisen. Da jede Ärztin und jeder Arzt Zwangsmitglied der für sie bzw. ihn zuständigen Landesärztekammer ist, gibt es schlicht keinen praktizierenden Arzt, der nicht an eine Berufsorganisation angebunden ist. Die Landesärztekammern übernehmen dabei als öffentlich-rechtliche Körperschaften die professionstypische Selbstverwaltung in Bezug auf Satzungsgebung, Fortbildung, Qualitätssicherung usw., während die für das Gesundheitswesen zuständigen Landesministerien sich auf die Ausübung der Rechtsaufsicht beschränken.226 Die für das Thema dieser Arbeit besonders wichtige Bundesärztekammer ist demgegenüber keine Körperschaft des öffentlichen Rechts, sondern ein nicht eingetragener Verein. Der bei ihrer Gründung ursprünglich verwendete Name, „Arbeitsgemeinschaft der Westdeutschen Ärztekammern“, umschreibt ihre Funktion recht gut: Sie ist eine Arbeitsgemeinschaft, in der nicht einzelne Ärztinnen und Ärzte, sondern die Landesärztekammern als Körperschaften Mitglieder sind. Die Bundesärztekammer befasst sich vornehmlich mit Fragen, die nach einer zentralen Regelung verlangen (Rechtliches, das Entwerfen von Musterordnungen zur Wahrung vergleichbarer

224 Vgl. ebd., S. 9. 225 Vgl. ebd., S. 249–259. 226 Die Pflichtmitgliedschaft und der hiermit verknüpfte Monopolcharakter der Kammern kennt in vielen anderen Nationen keine Entsprechung und ist wiederholt kritisiert worden, vgl. Martin Sebaldt & Alexander Straßner, Verbände in der Bundesrepublik Deutschland: Eine Einführung (Studienbücher Politisches System der Bundesrepublik Deutschland). Wiesbaden 2004, S. 220.

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Standards usw.), wirkt aber auch im Sinne der Ärzteschaft am Meinungs- und Gesetzbildungsprozess mit.227 Ihre jährliche Hauptversammlung, der Deutsche Ärztetag, kann als Parlament der Ärzteschaft bezeichnet werden, welches den Vertreterinnen und Vertretern der Landesärztekammern zur Festlegung fachlicher und berufspolitischer Standards dient. Bundesärztekammer und Deutscher Ärztetag übernehmen somit einen zentralen Beitrag zur professionellen Kompromissfindung und „Schließung“ (Aggregation);228 mit ihrer Hilfe ist es möglich, tatsächlich eine Forderung im Sinne „der“ bundesdeutschen Ärzteschaft, bzw. deren Mehrheit, zu formulieren (Artikulation).229 Als Ergänzung zu dieser bereits sehr dichten Organisation obliegt den Kassenärztlichen Vereinigungen (KV)230 die Vertretung der ärztlichen Interessen gegenüber den Krankenkassen, während diverse andere Verbände sich um die Belange einzelner Fachbereiche oder um Ärztinnen und Ärzte in jeweils unterschiedlichen Beschäftigungsverhältnissen bemühen. Unter letzteren ist, neben dem bereits erwähnten Hartmannbund, vor allem der Marburger Bund als Fachgewerkschaft der Krankenhausärzte anzuführen. Auch diese, eindeutiger als die Kammern auf die konkrete berufliche und finanzielle Situation individueller Ärztinnen und Ärzte bezogenen Verbände weisen traditionell sehr hohe Mitgliederzahlen auf.231 Basierend auf den geleisteten Vorüberlegungen wird nunmehr davon ausgegangen, dass die bundesdeutsche Ärzteschaft während des Untersuchungszeitraums zwar divergierende Ansichten zuließ, aber im Rahmen ihres hohen, letztlich auf berufspolitische Geschlossenheit ausgelegten Organisationsgrades effektiv Mehrheitsmeinungen zu formulieren und vertreten suchte. Ein Oszillieren zwischen zugelassenem internem Konflikt sowie extern demonstrierter Geschlossenheit stellt dabei keinesfalls eine Anomalie, sondern ein konstituierendes Kennzeichen kollegial organisierter, nach Autonomie strebender Professionen im Sinne Freidsons dar. Gleichfalls kann davon ausgegangen werden, dass sich die bundesdeutsche Ärzteschaft mit Hilfe ihrer verschiedenen Interessenverbände darum bemühte, innerhalb des heterogenen Handlungsfelds Zivil- und Katastrophenschutz im Sinne Abbots

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Vgl. ebd., S. 101. Ebd., S. 60–61. Ebd., S. 63. Hierunter fallen die einzelnen Kassenärztlichen Vereinigungen der Länder ebenso wie die Kassenärztliche Bundesvereinigung als Dachorganisation. Im Gegensatz zu den Ärztekammern sind die Kassenärztlichen Vereinigungen allesamt Körperschaften des öffentlichen Rechts. 231 Aktuell gibt der Marburger Bund eine Mitgliederzahl von 118.000 an, siehe: https://www. marburger-bund.de/bundesverband/der-marburger-bund/der-verband/ihre-interessenvertretung/ wir-sind. Die Gesamtzahl berufstätiger Ärzte betrug im Jahr 2017 nach Angaben der Bundesärztekammer ca. 385.000: https://www.bundesaerztekammer.de/ueber-uns/aerztestatistik/ aerztestatistik-2017/ (beide aufgerufen am 26.1.2019).

Katastrophe als Standesinteresse: Die Ärzteschaft als profession

Bereiche exklusiver jurisdiction zu gewinnen und diese möglichst gegenüber nichtärztlichem Einfluss zu behaupten. Dabei sind Strategien der Medikalisierung – des Betrachtens und Bewertens aus spezifisch ärztlicher Sicht – ebenso zu erwarten wie die Hervorhebung der Bedeutung genuin ärztlicher Inferenzleistungen.

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Die Entstehung der Katastrophenmedizin (1950–1980)

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Die Sanitätsoffiziere der Bundeswehr und der dritte Weltkrieg

2.1.1 Arztsoldaten Die höchste Auszeichnung der deutschen Ärzteschaft ist die Paracelsus-Medaille. Sie wird seit 1952 alljährlich im Rahmen des Deutschen Ärztetages von der Bundesärztekammer an besonders verdienstvolle Ärztinnen und Ärzte verliehen. Die konkrete Begründung ist dabei variabel und mag sowohl auf außergewöhnliche Forschungsleistungen, effektive „Standespolitik“ sowie humanitäres Engagement – einer der ersten Träger war Albert Schweitzer – verweisen. Auf dem 112. Deutschen Ärztetag im Jahr 2009 ging sie an Ernst Rebentisch.1 Ernst Rebentisch wurde am 31. Januar 1920 in Offenbach als Sohn eines Medizinalrats und Krankenhausdirektors geboren. Während des Zweiten Weltkriegs war er Offizier der 1941 im Pariser Raum aufgestellten und anschließend an der Ostfront eingesetzten 23. Panzer-Division und brachte es dort 1944 zum Rang eines Majors.2 Nach einer Verwundung diente er bis zur Inhaftierung durch die Alliierten im Oberkommando des Heeres in Berchtesgaden. Trotz einstweiliger Exmatrikulation wegen seiner Vergangenheit als Stabsoffizier der Wehrmacht schloss Rebentisch sein nach dem Krieg in München begonnenes Medizinstudium mit ausgezeichneten Leistungen ab. Auf Promotion und chirurgische Facharztprüfung folgte schließlich die schwerwiegende Entscheidung, welchen grundsätzlichen Karriereweg es nun einzuschlagen gelte: Den zivilen, als Arzt im Krankenhaus, oder den militärischen, als Arzt in Uniform. Sicher auch aufgrund seiner Kriegserfahrung entschied sich Rebentisch für Letzteres und trat 1959 als Sanitätsoffizier in den Dienst der jungen Bundeswehr. Resultat dieser Entscheidung sollte eine – so hieß es in der ihn ehrenden Laudatio anlässlich der Medaillenverleihung – „beispiellose Karriere“ sein.3 Nach Tätigkeiten beim deutschen Bevollmächtigten im nordeuropäischen Bereich der NATO sowie als Referent beim Bundesministerium

1 Birgit Hibbeler, Vorbildliche ärztliche Haltung gewürdigt, in: Deutsches Ärzteblatt 21/2009, S. 1055. 2 Ernst Rebentisch, Zum Kaukasus und zu den Tauern: Die Geschichte der 23. Panzer-Division 1941–1945. Esslingen 1963, S. 9. 3 Laudatio zur Verleihung der Paracelsus-Medaille an Prof. Dr. med. Ernst Rebentisch, https:// www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/downloads/Lau-rebentisch.pdf (aufgerufen am 26.1.2019).

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Die Entstehung der Katastrophenmedizin (1950–1980)

Abb. 4 Ernst Rebentisch als Sanitätsoffizier der Bundeswehr (undatierte Aufnahme).

der Verteidigung wurde er 1969 zum Kommandeur der Akademie des Sanitätsund Gesundheitswesens der Bundeswehr in München und 1976 zum Inspekteur des Sanitätswesens (InspSan) ernannt. In diesem Amt war er als einziger Generaloberstabsarzt der ranghöchste Sanitätsoffizier der Bundeswehr und hatte somit seinen alten Wehrmachtsdienstgrad weit überholt. Parallel zu seiner militärischen Laufbahn leitete Rebentisch 1972 den Sanitätseinsatz während des Attentats auf die Olympischen Spiele und unterrichtete ab 1975 als Honorarprofessor Wehrmedizin an der TU München. Im Jahr 1980 schied er schließlich aus dem aktiven Dienst der Bundeswehr aus – und wurde zeitgleich Mitbegründer der Deutschen Gesellschaft für Katastrophenmedizin. Nachdem er bereits längere Zeit im Ausschuss „Sanitätswesen in der Bundeswehr und Zivilschutz“ tätig gewesen war, leitete er von 1980 bis 1991 den Arbeitskreis „Katastrophenmedizin“ des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer. Jahrelang publizierte er in einer Vielzahl renommierter Fachzeitschriften und im Jahr 1988 erschien als persönliches opus magnum schließlich sein fast 1000 Seiten umfassendes Handbuch Katastrophenmedizin,4 von seiner Anlage her klar als Standardwerk konzipiert.5

4 Ernst Rebentisch, Handbuch der medizinischen Katastrophenhilfe. München-Gräfelfing 1988. 5 Sämtliche biografischen Informationen des vorangegangenen Teils wurden der offiziellen, von JörgDietrich Hoppe als damaligem Präsidenten der Bundesärztekammer auf dem 112. Deutschen Ärztetag im Mai 2009 in Mainz verlesenen Laudatio entnommen, vgl. Laudatio zur Verleihung der ParacelsusMedaille an Prof. Dr. med. Ernst Rebentisch.

Die Sanitätsoffiziere der Bundeswehr und der dritte Weltkrieg

Ernst Rebentisch war Arztsoldat. Dieser in den 1950er und 1960er Jahren innerhalb des Sanitätswesens der Bundeswehr viel beschworene Begriff verwies keineswegs nur auf den Beruf des Sanitätsoffiziers, sondern auch auf dessen angemessene (Neu-)Verortung zwischen Bundeswehr und Ärzteschaft, die nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs vielfach als notwendig erachtet wurde. So bekundete im Oktober 1956 etwa Hans Neuffer, der damalige Präsident der Bundesärztekammer, bei einem „Gespräch über militärärztliche Fragen“ an der Evangelischen Akademie in Loccum, dass die deutsche Ärzteschaft der Aufstellung einer „neuen deutschen Wehrmacht“ zwar „mit sehr gemischten Gefühlen“6 gegenüberstehe, gerade deshalb aber darauf beharre, aktiv an der Gestaltung eines nunmehr wieder erforderlichen Sanitätswesens teilzunehmen. Grundtenor seiner Ansprache war, dass im Gegensatz zu mancherlei anderslautenden früheren Idealvorstellungen der neue Arztsoldat zu allererst Arzt sein müsse.7 In diesem Sinne sei die BÄK bereits 1952 an das Amt Blank – die Vorgängerorganisation des Bundesministeriums für Verteidigung (BMVg) – herangetreten und habe einen entsprechenden Sanitätsausschuss gebildet. Dort sei die Idee, den neuen Sanitätsdienst gänzlich zivil, d. h. außerhalb der Bundeswehr, zu organisieren, verworfen worden; er solle aber dennoch so zivil wie möglich ausfallen.8 Die „Auslese der Sanitätsoffiziere“ sei zur Erfüllung dieses Kernanliegens entscheidend. Diese müssten ausgezeichnet ausund fortgebildete, „charaktervolle Arztpersönlichkeiten“ sein, die weniger aufgrund ihres Offiziersstatus, sondern wegen ihrer „ärztlichen und menschlichen Qualitäten“ mit Autorität aufzutreten wüssten. Die Heilung von Kranken und Verletzten habe unmissverständlich im Vordergrund zu stehen, um das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient – in diesem Falle deckungsgleich mit Sanitätsoffizier und Soldat – nicht unnötig zu belasten.9 Denselben Punkt betonte in Loccum auch der Oberstarzt a.D. und damalige Vizepräsident der Bayerischen Landesärztekammer Gustav Sondermann, der kurze Zeit später Vorsitzender des BundesärztekammerAusschusses für Fragen des Sanitätswesens der Bundeswehr und des Zivilschutzes werden sollte und 1964 mit der Paracelsus-Medaille ausgezeichnet wurde.10 In

6 Hans Neuffer, Die deutsche Ärzteschaft zum Aufbau des Sanitätswesens der Bundeswehr, S. 18 (beide), in: Gespräch über militärärztliche Fragen vom 22. bis 24. Oktober an der Evangelischen Akademie Loccum, S. 18–23. BArch-MA, BW 51/1. 7 Ebd., S. 21. 8 Ebd., S. 19. 9 Ebd., S. 18 (auch die drei vorangegangenen wörtlichen Zitate). 10 Personalia – Dr. Sondermann 70 Jahre, in: Bayerisches Landesärzteblatt 10/1964, S. 789. Vgl. auch den Nachruf des Präsidenten der Bayerischen Landesärztekammer, Hans Sewering, auf seinen „väterlichen Freund“ (S. 929) Sondermann. Sewering betonte dort insbesondere dessen frühe Bemühungen um die Beziehungen zwischen der zivilen Ärzteschaft und dem Sanitätsdienst der Bundeswehr, siehe Hans Joachim Sewering, In Memoriam – Dr. Gustav Sondermann, in: Bayerisches Landesärzteblatt 10/1973, S. 928–929. Wie Sewering hatte auch Gustav Sondermann eine „belastete“

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seinem Beitrag „Über das Leitbild des Arztsoldaten“ konstatierte er, dass ein grundsätzlicher Gegensatz zwischen dem Auftrag des Soldaten und dem des Arztes nicht bestehe;11 vielmehr seien die Arztsoldaten in gewisser Weise die humansten aller Ärzte, da sie den Verletzten selbst unter Missachtung des eigenen Lebens zu dienen hätten.12 In Abwehr des Vorwurfs, dass Arztsoldaten weder echte Ärzte noch echte Offiziere seien, beschwor Sondermann in einem zehn Jahre nach dem Loccumer Gespräch gehaltenen Vortrag durchgängig deren Eigenständigkeit. Der Arztsoldat sei „weder ein militärisch eingekleideter Arzt, noch ein medizinisch angelernter Militär“, sondern „eine Erscheinung eigener Art“. Er sei im Gegensatz zum Zivilisten zwar in eine strikte Hierarchie eingebunden, verfüge dort jedoch über erhebliche Freiheiten und sei schließlich „der einzige Soldat, der keinen Feind kennt“13 , da er im Krieg auch diesem bedingungslos zu helfen habe. Sondermann attestierte den Arztsoldaten demnach zwar eine gewisse Distanz zur allgemeinen Ärzteschaft, vor allem aber auch zum nicht-ärztlichen Militär. In seinen Beiträgen zum Thema wirkte der Arztsoldat ärztlicher als der Zivilist; gerade die hinzukommende soldatische Seite schuf dabei eine Heldenfigur, die im Krieg nicht etwa den Gegner, sondern – mit oft unzureichenden Möglichkeiten und unter Einsatz ihres Lebens – den Tod selbst bekämpfte. Einer allzu starken Trennung zwischen militärischer und ziviler Ärzteschaft erteilte Sondermann angesichts seiner humanistisch geprägten Darstellung eine klare Absage: Wie der Arztsoldat [als Soldat bzw. Offizier] Kamerad unter Kameraden sein soll, so gehört er auch zur Gesamtheit seiner zivilen Kollegen: Wir haben bei uns die frühere scharfe Trennung zwischen aktiven und Reserveärzten immer als ungut empfunden. Vorurteile, falsche Wertungen hatten sich eingeschlichen und wirken bis heute noch nach! […] Man sollte wissen, wer man ist, aber dem anderen auch seine Ehre, seinen Wert lassen, und dies gilt für beide Teile!14

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NS-Vergangenheit. Er war nicht nur Autor einschlägiger ideologischer Publikationen gewesen (vgl. die entsprechenden Suchergebnisse in der Online-Datenbank der Deutschen Nationalbibliothek), sondern auch – gemeinsam mit zahlreichen späteren NS-Eliten – aktives Mitglied des bayerischen Wehrverbands Bund Oberland, siehe: Manfred Kittel, Provinz zwischen Reich und Republik: Politische Mentalitäten in Deutschland und Frankreich 1918–1933/36. München 2000, S. 242 und 286–287. Gustav Sondermann, Über das Leitbild des Arztsoldaten, S. 26, in: Gespräch über militärärztliche Fragen vom 22. bis 24. Oktober an der Evangelischen Akademie Loccum, S. 24–29. BArch-MA, BW 51/1. Ebd., S. 27. Gustav Sondermann, Das Leitbild des Arztsoldaten, S. 1885, in: Deutsches Ärzteblatt 37/1967, S. 1877–1886 (beide). Ebd., S. 1880.

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Eben diese Forderung fand sich in abgewandelter Form auch im früheren Vortrag Neuffers. Analog zu den zeitlich parallel geführten Diskussionen über ein neues, demokratiekonformes Soldatenbild, die sich mit dem geflügelten Wort des „Staatsbürgers in Uniform“ sowie dem insbesondere mit Wolf Graf von Baudissin verbundenen Konzept der Inneren Führung umreißen lassen,15 warnte dieser den militärischen Flügel der Ärzteschaft ausdrücklich davor, abermals Staat im Staate werden zu wollen. Eine spezialisierte militärärztliche Akademie nach dem Vorbild der Berliner Pépinière16 sei als antidemokratisch abzulehnen; vielmehr habe jeder Sanitätsoffizier zunächst das volle zivile Studium mit ordentlicher Approbation abzuschließen.17 Die Beziehung der Sanitätsoffiziere zur allgemeinen Ärzteschaft sollten vergleichbar mit der Beziehung zwischen allgemeiner Ärzteschaft und einzelnen Fachärztegruppen angelegt werden und die Arztsoldaten demnach nicht allein Ärzte, sondern auch unbestritten Teil der Ärzteschaft bleiben. Den Verantwortlichen war wohl bewusst, dass sich diese zentralen Forderungen keineswegs von selbst erfüllen würden. Allein die doppelte Betonung beinahe deckungsgleicher Punkte durch zwei Ärzte, von denen Neuffer – selbst noch Veteran des Ersten Weltkriegs – eher die Zivilisten, Sondermann hingegen die Militärs vertrat, verdeutlicht, welche Priorität man der intendierten Integration der Sanitätsoffiziere in den Kreis der Gesamtärzteschaft zusprach. Das Loccumer „Gespräch über militärärztliche Fragen“ stellte nur eine Momentaufnahme dieser Bemühungen dar. Abseits der Spitze der Bundesärztekammer, aber in regem Kontakt zu

15 Zum Konzept der Inneren Führung sowie insgesamt zu den innerhalb der Bundeswehr immer wiederkehrenden Konflikten zwischen Traditionalisten und Reformern vgl. Detlef Bald, Die Bundeswehr: Eine kritische Geschichte, 1955–2005. München 2005; Frank Nägler, Der gewollte Soldat und sein Wandel: Personelle Rüstung und Innere Führung in den Aufbaujahren der Bundeswehr 1956 bis 1964/65. München 2010. Analog zur Formulierung „Staatsbürger in Uniform“ sprach die Ärzteschaft gelegentlich auch vom „Arzt in Uniform“, vgl. Hans Joachim Sewering, In Memoriam – Dr. Gustav Sondermann, S. 928. 16 Die ursprünglich preußische, am 2.8.1795 gegründete chirurgische Pépinière war eine militärärztliche Akademie, die nach dem Ende des Ersten Weltkriegs zunächst aufgelöst, in den 1930er Jahren jedoch wiedereröffnet wurde. Auch wenn die dortige medizinische Ausbildung durchaus in Kooperation z. B. mit der zivilen Berliner Charité erfolgte, muss ihr doch eine deutlich eigenständige, militärisch-elitäre Ausrichtung bescheinigt werden. Eine ganze Reihe ehemaliger Absolventen der wiedereröffneten Pépinière – sogenannte Pfeifhähne – waren auch noch in der Bundeswehr tätig und bemühten sich jahrzehntelang um Traditionspflege und punktuelle Kontinuität, vgl. G. Frese, Scientiae, Humanitati, Patriae, in: Wehrmedizinische Monatsschrift 8/1967, S. 272–275; Otfried Messerschmidt, Treffen ehemaliger „Pfeifhähne“ anläßlich der Feier der 180. Wiederkehr der Gründung der Pépinière, in: Wehrmedizinische Monatsschrift 4/1976, S. 125–126; Wehrmedizinische Tagung – 190. Stiftungsfest der Pépinière – 30 Jahre Bundeswehr, in: Wehrmedizin und Wehrpharmazie 1/1986, S. 8–12. 17 Neuffer, Die deutsche Ärzteschaft zum Aufbau des Sanitätswesens der Bundeswehr, S. 20.

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dieser, suchte zumal der Hartmannbund bereits frühzeitig im Sinne einer gegenseitigen Annäherung und eines verstetigten Austauschs zwischen den zivilen und den „neuen“ militärischen Ärzten tätig zu werden. Auf dem 59. Deutschen Ärztetag in Münster 1956 konstituierte sich hierzu der Arbeitskreis „Sanitätsoffiziere im Verband der Ärzte Deutschlands/Hartmannbund e. V. “, dessen Zielsetzung darin bestand, „in kollegialer und kameradschaftlicher Art Fragen zu erörtern, die uns gemeinsam betreffen: Aktive Sanitätsoffiziere, ehemalige aktive Sanitätsoffiziere und Reserve-Sanitätsoffiziere sowie die zivile Ärzteschaft“.18 Eine der maßgeblichen Persönlichkeiten des Arbeitskreises war Generalarzt Kurt Groeschel, von 1962 bis 1965 Kommandeur der Sanitätsakademie der Bundeswehr. Groeschel hatte bereits frühzeitig vehement für die Geschlossenheit der Ärzteschaft über die zivil-militärische Grenze hinweg plädiert und bekräftigt, dass die Sanitätsoffiziere „keine Kaste für sich“ sein wollten. Vielmehr sollte es selbstverständlich werden, dass Ärzte und Arztsoldaten im Rahmen gemeinsamer Fortbildungen, gemeinsamer wissenschaftlicher Tätigkeit, gemeinsamer Mitgliedschaft in Kammern und Verbänden sowie „im Bereich der Zivilverteidigung, Luftschutz, Strahlenschutz, Rotes Kreuz“19 eng zusammenarbeiteten. Ebenso wie Sondermann befasste sich auch Groeschel in einer Reihe von Vorträgen und Publikationen mit dem Idealbild des Arztsoldaten und ebenso wie jener betonte er, dass die Sanitätsoffiziere keineswegs mit unüberwindbaren Widersprüchen zu ringen hätten, gebe es doch zahlreiche Parallelen zwischen den Berufsbildern des Arztes und des Offiziers: Die Verpflichtung zu vorurteilsloser Beurteilung (Diagnose) einer Lage, eines Zustandes, einer Krankheit nach vorhergegangener Aufklärung – Anamnese und Untersuchung – ist dem Arzt wie dem Offizier auferlegt. Ebenso stimmen sie überein in verantwortungsbewußtem Entschluß zum Handeln, zum Eingreifen, zum Operationsbefehl, vor dem der Auftrag und die Chance des Erfolges (die Prognose) abgewogen werden müssen. Sehr viel [sic] Analogien also, die zusammen mit aufrechter innerer Haltung, Sauberkeit im Leben und Beruf und Anerkennung einer ethischen Verpflichtung, sowie Kenntnissen in Psychologie, Pädagogik und Menschenführung, die Grundlage des ihnen entgegengebrachten Vertrauens und ihrer Autorität bilden. Entschlußkraft und Härte in der Durchführung konkurrieren mit der Rücksicht auf das Menschliche, Humanitäre. Der Forderung, größtmögliche Schonung des Gewebes und der Psyche hier entspricht dort größtmögliche Rücksicht auf die Kräfte der eigenen Truppe. Als letztes wird von beiden verlangt, in kritischen Lagen in voller Ruhe und Kaltblütigkeit die Interessen abzuwägen und unter

18 Kurt Groeschel, Rundbrief Nr. 1 des Arbeitskreises Sanitätsoffiziere im Verband der Ärzte Deutschlands (Hartmannbund) e. V., 15.2.1957. BArch, B 389/112. 19 Kurt Groeschel, Gedanken zur Koordination von aktiven San. Offizieren und Zivilärzteschaft, 20.6.1956. BArch, B 389/112 (beide).

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Umständen den Entschluß zu verantworten, Teile im Interesse des Ganzen zu opfern (Sichtung, Amputation!).20

Was gegen Ende der 1980er Jahre von mit den Friedensbewegungen sympathisierenden Medizinhistorikerinnen und -historikern kritisch beäugt werden sollte,21 diente bei Groeschel als Argumentationsbasis für einen möglichst engen Schulterschluss zwischen Militär- und Zivilärzten. Neben der männlich konnotierten heroischen Überhöhung derjenigen Persönlichkeiten, die sich überhaupt charakterlich für den Arzt- oder Offiziersberuf eigneten, verschmolzen in der zitierten Passage militärische und medizinische Prozesse sprachlich bis zur Unkenntlichkeit; Arzt und Offizier sprachen im Wortsinn dieselbe Sprache, so dass von einer Trennung gar nicht die Rede sein konnte. Groeschel verfolgte eine zweigleisige Strategie: Einerseits wurde das militärische Element des Arztsoldaten nicht nur bewusst bejaht, sondern als Satz allgemeingültiger Tugenden ausgewiesen, über die auch der zivile Arzt verfügen solle. Andererseits wurde aber stets „vom Ärztlichen her“ gedacht; in Groeschels zahlreichen Texten zum Thema fand sich im Gegensatz zur Diskussion über Art und Umfang der militärischen Aspekte z. B. keinerlei Debatte darüber, ob Sanitätsoffiziere überhaupt approbierte Ärzte sein sollten – das Primat des Ärztlichen im von ihm sogenannten „Doppelberuf “ galt also ebenso wie im Vortrag Neuffers. Im Vorwort einer Festschrift der Sanitätsakademie legte Groeschel dies präzise dar. Zunächst verwies er darauf, dass die Umbenennung der vormaligen Sanitätstruppenschule des Heeres (1956 bis 1959) bzw. der Sanitätsschule der Bundeswehr (1959 bis 1963) in „Akademie des Sanitätsund Gesundheitswesens der Bundeswehr“ (ab 1963)22 bewusst in Anlehnung an die „ruhmreiche Tradition der alten Militärärztlichen Akademien“ erfolge.23 Etwaige Vorbehalte der zivilen Ärzteschaft gegenüber einer neuen militärärztlichen Akademie – wie 1956 auf dem Loccumer Gespräch noch von Neuffer vorgebracht – seien jedoch unbegründet, da man keinesfalls beabsichtige, eine echte Hochschule im Stil der Pépinière aufzubauen. Zweck der neuen Akademie sei – so Groeschel – 20 Kurt Groeschel, Das Leitbild des Sanitätsoffiziers (Arzt und Soldat) unter Berücksichtigung des heutigen Kriegsbildes, S. 98, in: Wehrmedizinische Mitteilungen 7/1963, S. 97–101. Dem Ansinnen eines regen Austauschs zwischen Sanitätsoffizieren und ziviler Ärzteschaft entsprechend wurde eine Zusammenfassung des Artikels, der auf einem vorangegangenen Vortrag basierte, auch im Deutschen Ärzteblatt veröffentlicht: Das Leitbild des Sanitätsoffiziers, in: Deutsches Ärzteblatt 9/1963, S. 384–386. 21 Vgl. etwa Heinz-Peter Schmiedebach, Der Arzt als Gesundheitsoffizier – die systematische Militarisierung der Medizin von 1933 bis zum Zweiten Weltkrieg, S. 192, in: Bleker & Schmiedebach (Hrsg.), Medizin und Krieg, S. 191–208. 22 Die Akademie des San.- und Gesundheitswesens der Bundeswehr, ihre Entwicklung und derzeitige Aufgabe mit Ausblick in die Zukunft. München 30.9.1965, S. 1. BArch-MA, BW 8–IV/14. 23 Ebd., S. 3.

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ausschließlich die sanitätsdienstliche Weiterbildung bereits approbierter Ärzte, keineswegs hingegen die Einführung einer eigenständigen ärztlichen Ausbildung.24 Zum genuin militärischen Teil der Fortbildung hieß es an anderer Stelle schließlich: Unnötige militärische Spielereien und jeden Trend zum Übermilitärischen lehne ich für den Sanitätsoffizier völlig ab. […] Das Schwergewicht für den Sanitätsoffizier liegt zweifellos im fachlichen Bereich. Die fachliche Qualifikation bestimmt seine Stellung und Autorität in der Truppe.25

In dieser Bevorzugung des praktisch-ärztlichen Teils der Ausbildung spiegelte sich die bereits in den frühen 1950er Jahren geäußerte Kritik einzelner, von den aktiven Sanitätsoffizieren menschlich und fachlich bitter enttäuschter ehemaliger Reservisten der Wehrmacht. So monierte etwa der während des Zweiten Weltkriegs als Beratender Chirurg tätige Freiburger Chirurgieprofessor Hans Killian26 noch zu Zeiten des BMVg-Vorgängers Amt Blank (1950 bis 1955) gegenüber dem späteren ersten Generalinspekteur der Bundeswehr Adolf Heusinger die im Vergleich zum Gros der Reservisten mangelhafte praktische Erfahrung vieler aktiver Sanitätsoffiziere während des Zweiten Weltkriegs und forderte eine radikale Abkehr vom militärischen Gestus zugunsten eines ständigen Einübens ärztlicher Praxis.27 Heusinger meinte später, Killian habe ihm gegenüber betont, dass es „Aufgabe der Ärzte sei, zu operieren und zu heilen, nicht aber ‚Remonte zu reiten und Sporen zu tragen‘“, und dass die Unterscheidung zwischen Zivil- und Militärärzten angesichts gegenwärtiger Kriegsbilder ohnehin nicht mehr zeitgemäß sei. Schließlich bemerkte Heusinger, dass ihm die Reform des Sanitätswesens seinerzeit nicht weit genug gegangen sei, „die alten Sanitätsoffiziere [jedoch] energisch um ihre Position gekämpft hätten, in Sonderheit dann für den eigenen, unbedingt den anderen gleichrangigen und natürlich auch gleichgestellten Inspekteur“.28

24 Ebd., S. 2–3. 25 Ebd., S. 10. 26 Beratende Chirurgen waren zumeist für die Dauer des Krieges von ihren universitären Pflichten freigestellte, in der Wehrmacht eingesetzte Professoren. Einzelne biographische Informationen zum 1892 geborenen, bereits während des Ersten Weltkriegs hochdekorierten Killian finden sich in: Karl Behrendt, Die Kriegschirurgie von 1939–1945 aus der Sicht der Beratenden Chirurgen des deutschen Heeres im Zweiten Weltkrieg. Diss. med. Freiburg im Breisgau 2003, S. 223–224. Online abrufbar unter: https://www.freidok.uni-freiburg.de/fedora/objects/freidok:1134/datastreams/FILE1/content (aufgerufen am 26.1.2019). Killian war sowohl ein international angesehener und vielfach ausgezeichneter Anästhesiologe als auch Mitglied in NSDAP, Stahlhelm und SA gewesen. 27 Georg Meyer, Aktennotiz vom 7.3.1979. BArch-MA, BW 24/7796. 28 Georg Meyer, Vermerk über ein Gespräch mit Herrn General a.D. Adolf Heusinger (mit Bemerkungen von Herrn MinDir a.D. Wirmer) am 30.1.1979. BArch-MA, BW 24/7796. Ernst Rebentisch äußerte hierzu, dass Killian mit seiner wiederholten, einer „abgrundtiefen Abneigung gegen aktive

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Es kann zwischenzeitlich festgehalten werden, dass führende Arztsoldaten sich durchaus auf einschlägige Traditionen beriefen,29 ohne sich an deren potenzieller „Belastung“ zu stören. Im wenig auf Aufarbeitung drängenden gesellschaftlichen Klima der an der Frontlinie des Kalten Krieges geteilten Bundesrepublik beschwor man stattdessen ein überzeitliches sanitätsdienstliches Heldentum, welches keine Feinde kenne, und verneinte implizit jede Eigenverantwortung am Vernichtungskrieg der Nationalsozialisten (weiterführende Informationen zu den Stadien der berufsspezifischen Vergangenheitspolitik finden sich in Kapitel 4.6). Gleichwohl aber – und dies scheint der interessantere Befund zu sein – propagierten die neuen Arztsoldaten eine weitestmögliche Hinwendung zu ihrer fachlichen Kernkompetenz ebenso wie zu ihren nicht-militärischen Kollegen: „Wir haben offene Türen und keine Geheimnisse vor ihnen“30 beteuerte etwa Kurt Groeschel in seiner Funktion als stellvertretender Vorsitzender des Arbeitskreises „Sanitätsoffiziere“ im Hartmannbund während eines Vortrags vor zivilen Ärzten. Gleichzeitig setzte sich der damalige Vorsitzende des Arbeitskreises, Generalarzt Hans Paul Milark,31 entgegen seinerzeit vom Bundesministerium für Gesundheitswesen (BMG) geäußerter Bedenken dafür ein, dass auch aktive Sanitätsoffiziere Mitglieder der zivilen Ärztekammern sein sollten, da „die Einheit der Ärzteschaft unbedingt gewahrt“ werden müsse32 und die Gefahr bestehe, „daß die Militärärzte uns wiederum ent-

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Sanitätsoffiziere“ entspringenden Kritik sowohl dem Sanitätswesen der Bundeswehr als auch der Gesamtverteidigung substanziell geschadet habe, und dass u. a. wegen derartiger Kritik zu Beginn des Aufbaus der Bundeswehr die ärztliche Seite kaum angehört, geschweige denn berücksichtigt worden sei, vgl. Brief von Ernst Rebentisch an Dr. G. Meyer (Militärgeschichtliches Forschungsamt) vom 7.2.1979. BArch-MA, BW 24/7796. In Bezug auf die Sanitätsakademie erstreckte sich dies sogar auf deren Motto, welches man schlicht von der Pépinière übernahm: Scientiae – Humanitati – Patriae. Dieses Motto wurde im Rahmen der Identitätsstiftung des Sanitätswesens der Bundeswehr ähnlich oft beschworen wie das Bild des Arztsoldaten. Auffallend erscheint dabei die zwar bejahende, zumindest punktuell jedoch nicht unkritische Auseinandersetzung mit den angeführten Leitbegriffen, siehe: Ludwig Schmitt, Scientiae – Humanitati – Patriae, S. 114 und 116, in: Wehrmedizinische Mitteilungen 8/1962, S. 113–116. Vgl. auch Ludwig Schmitt, Scientiae – Humantitati – Patriae, in: Wehrmedizinische Monatsschrift 12/1978, S. 353–356. Aktuelle Fragen des San-Dienstes der Bundeswehr (Vortrag am 2.11.1961 in Baden-Baden), S. 3. BArch-MA, BW 24/7790. Der 1895 geborene Milark war ein ehemaliger Student der Pépinière gewesen und hatte als Sanitäter im Ersten sowie als Sanitätsoffizier im Zweiten Weltkrieg gedient. Aufgrund einer wohl aus politischen Gründen vorgenommenen Aberkennung seines Generalarztranges, die 1964 korrigiert wurde, galt er als „unbelastet“, siehe: Generalarzt Dr. Milark 80. Jahre! [sic]. BArch BW 51/69. Milark hatte sich bereits 1953 im Rahmen der Planungen im Amt Blank für die Einrichtung eines vollwertigen Sanitätsdienstes eingesetzt, vgl. Hubertus Grunhofer, 25 Jahre Sanitäts- und Gesundheitswesen der Bundeswehr – Ausblick auf die achtziger Jahre, S. 97, in: Wehrmedizinische Monatsschrift 4/1981, S. 97–102. Sanitätsoffiziere, S. 568, in: Der Deutsche Arzt 11 (1963), S. 568–569.

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gleiten und die frühere Kluft zwischen Zivil und Militär, die jetzt unter keinen Umständen wieder aufkommen sollte, doch von neuem entstehen würde“.33 Der erste Inspekteur des Sanitätswesens der Bundeswehr, Theodor Joedicke, suchte derartige Bedenken seinerseits postalisch zu zerstreuen und versprach, „dass der deutsche Sanitätsoffizier nicht neben, sondern mitten in der deutschen Ärzteschaft seinen Platz als Arzt und Offizier haben muss“.34 Joedicke hinwiederum verdankte die Existenz seiner nach Heusingers Aussage zunächst kaum vorgesehenen Position nicht unwesentlich den Bemühungen der zivilen Kammern. So brachte eine Entschließung des 59. Deutschen Ärztetags in Münster (21. bis 23.9.1956), die Bundesärztekammerpräsident Neuffer dem neuen Bundesminister für Verteidigung Franz Josef Strauß schriftlich zukommen ließ, „Befremden und Bestürzung“ darüber zum Ausdruck, dass die deutsche Ärzteschaft zur Gestaltung eines neuen Sanitätswesens bislang nicht befragt worden sei. Deckungsgleich mit dem kurz zuvor gehaltenen Loccumer Vortrag Neuffers appellierte der Ärztetag ausdrücklich dafür, bei der Gestaltung der neuen Bundeswehr die „Fürsorge für die Menschen“ nicht aus den Augen zu verlieren und die hiermit betrauten Sanitätsoffiziere mit weitreichenden Befugnissen auszustatten: So wurde nicht allein die Gleichstellung des Sanitätswesens mit den drei Teilstreitkräften Heer, Marine und Luftwaffe sowie die damit einhergehende Berufung eines Sanitätsinspekteurs mit Vorspracherecht beim Bundesminister gefordert, sondern auch, dass in Verteidigungsfragen nirgendwo – „das gilt vom Ministerium so gut wie von der kleinsten Einheit“ – Entscheidungen getroffen werden sollten, „ohne den Arzt als Sachwalter der Gesundheit zu hören“. Analog zur Charakterisierung des Arztsoldaten als innerhalb der Militärhierarchie von unmittelbarem Druck weitgehend befreiten unbequemen Mahners sowohl bei Sondermann als auch bei Groeschel,35 habe der Sanitätsoffizier zudem „weitgehend unabhängig und nur seinem ärztlichen Wissen und Gewissen verantwortlich [zu] sein“.36 Bereits auf dem nächsten, 60. Deutschen Ärztetag 1957 in Köln konnte die bundesdeutsche Ärzteschaft in dieser Angelegenheit einen Teilerfolg feiern, da zum 1. Juni 1957 die Einrichtung der Inspektion des Sanitätswesens der Bundeswehr (InSan) verfügt

33 Schreiben von Dr. Milark an Dr. Auer, den Vorsitzenden des Landesverbandes Baden-Württemberg im Verband des Hartmannbundes e. V., vom 23.3.1961. BArch, B 389/112. 34 Schreiben von Generalstabsarzt Dr. Joedicke (BMVg) an den Vorsitzenden des Arbeitskreises „Sanitätsoffiziere“ des Hartmannbundes e. V. vom 24.11.1961. BArch, B 389/112. 35 Sondermann, Über das Leitbild des Arztsoldaten, S. 28; Groeschel, Das Leitbild des Sanitätsoffiziers (Arzt und Soldat) unter Berücksichtigung des heutigen Kriegsbildes, S. 100. 36 Entschließung des 59. Deutschen Ärztetags 1956: Sanitätswesen in der Bundeswehr. Anlage eines Schreibens von Prof. Dr. Neuffer (Bundesärztekammer – Der Präsident) an den Bundesminister für Verteidigung Franz-Josef Strauss vom 10.11.1956 (auch die vorangegangenen wörtlichen Zitate). BArch-MA, BW 24/20790.

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worden war. In einer weiteren Entschließung wurde nunmehr auf die Herauslösung sämtlicher, noch den Teilstreitkräften zugeordneter Sanitätsdienste und deren Zuordnung zur neuen InSan ebenso gedrängt wie auf insgesamt verbesserte Aufstiegsmöglichkeiten für die Sanitätsoffiziere der Bundeswehr.37 „Grundtenor müsse daher immer sein, daß wir alle Ärzte sind“, so heißt es im sechsten Rundbrief des Arbeitskreises „Sanitätsoffiziere“ des Hartmannbundes, „und nach aussen [sic] eine Geschlossenheit in unseren Anschauungen und Forderungen anstreben, nachdem wir uns jeweils intern ‚zusammengerauft‘ haben. Nur mit dieser Einigkeit würden Aktive und Nichtaktive Einfluß bei den Nichtärzten gewinnen und könnte für alle Beteiligten Positives erreicht werden.“38 Mit den Nichtärzten waren in diesem Zusammenhang insbesondere den Ideen der „alten“ Sanitätsoffiziere gegenüber skeptisch eingestellte Offiziere wie Heusinger sowie diejenigen Politiker und sonstigen Entscheidungsträger gemeint, die maßgeblichen Einfluss auf die konkrete Ausgestaltung des neuen Sanitätswesens der Bundeswehr hatten. So wie die Militärärzte während der 1950er und 1960er Jahre intensiv den Schulterschluss mit ihren zivilen Kollegen suchten, so bemühten sich ihrerseits die Vertreter der Ärztekammern um deren keineswegs von vornherein gesicherte, ja akut bedrohte Stellung im Gesamtgefüge der jungen Bundeswehr. Die Einheit der militärischen und zivilen Ärzteschaft wurde in diesem Zusammenhang von beiden Seiten stets als unabdingbare Grundvoraussetzung ausgewiesen. Zur Begründung der hiermit verbundenen Forderungen nach entsprechenden Kompetenzerweiterungen diente der Ärzteschaft gegenüber den Nichtärzten bereits seit Beginn der 1950er Jahre der „Katastrophenfall“. Der Deutsche Ärztetag betonte 1956, dass man „wiederholt im Interesse der Soldaten und – für den Katastrophenfall – auch im Interesse der Gesamtbevölkerung ausführliche Vorschläge für die Gestaltung des Sanitätswesens unterbreitet“39 habe. Kaum zehn Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs diente der Katastrophenbegriff durchweg als wenig verschleierte Chiffre entweder für den vergangenen oder für einen befürchteten Krieg; vor dem Hintergrund der absoluten Niederlage vermochte sich der Begriff kaum auf andere Assoziationsbereiche zu erstrecken. In Neuffers Loccumer Vortrag trat dies eindrücklich zu Tage: Daß die Bedeutung des Sanitätsdienstes in einem künftigen Katastrophenfall eine noch viel größere Rolle spielen würde, als in vergangenen Kriegen, ist offensichtlich. Man wird

37 Entschließung des 60. Deutschen Ärztetags 1957: Sanitätswesen der Bundeswehr. BArch-MA, BW 24/20790. 38 Bericht über die 1. Arbeitstagung auf Bundesebene am 20.9.1958 im Kurhaus Baden-Baden um 11:30 Uhr, in: Rundbrief Nr. 6 des Arbeitskreises Sanitätsoffiziere im Verband der Ärzte Deutschlands (Hartmannbund) e. V., 26.11.1958. BArch, B 389/112. 39 Entschließung des 59. Deutschen Ärztetags 1956: Sanitätswesen in der Bundeswehr.

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ja leider damit rechnen müssen, daß schon, ehe es zu eigentlichen Kampfhandlungen gekommen ist, große Teile der militärischen und zivilen Bevölkerung durch Atombomben schwere Verletzungen und Schäden erlitten haben. Der Sanitätsdienst in der Bundeswehr wird also im Ernstfall vor weit größere und schwerere Aufgaben gestellt als je bisher. […] Es müssen daher sowohl in personeller als auch in materieller Hinsicht umfassende Vorbereitungen getroffen werden. Das Beste ist hier gerade gut genug. Wenn behauptet worden ist, man müsse beim Aufbau der Wehrmacht [d. h. der Bundeswehr] sehr sparsam sein, dann mag das überall gelten, aber nicht bei der Organisation des Sanitätswesens […].40

Katastrophenfall und Krieg – in diesem Fall der befürchtete Atomkrieg zwischen NATO und Warschauer Pakt – wurden in solchen Passagen begrifflich völlig gleichgesetzt; geradesogut hätte Neuffer von „vergangenen Katastrophenfällen“ und „künftigen Kriegen“ sprechen können. Kritiker wie Hans Killian hatten aufgrund eines gewandelten, zwischen Zivilisten und Soldaten nicht mehr unterscheidenden Kriegsbilds für die Abschaffung eines eigenständigen Sanitätswesens der Bundeswehr plädiert. Demgegenüber verknüpften Neuffer, Groeschel und andere die explizite Beschwörung der atomaren Drohung nicht allein mit dem nachdringlichen Appell für dessen Erhalt, sondern auch mit Forderungen hinsichtlich einer guten Ausstattung und einer möglichst hohen Stellung der Sanitätsoffiziere. Der Preis für dieses erfolgreiche Festhalten an der eigenen Tradition im sogenannten Atomzeitalter schien hingegen der ausdrückliche Verzicht darauf gewesen zu sein, sich abermals von der zivilen Ärzteschaft abzuwenden. Ob es dabei auf Seiten der Sanitätsoffiziere zu einem echten Umdenken kam oder ob man sich aufgrund der vergleichsweise schwachen Stellung des Sanitätswesens in Bezug zum restlichen Militär zur Aufgabe der vormaligen Sonderstellung genötigt sah, kann an dieser Stelle ebenso wenig beantwortet werden wie die Frage, ob der Verweis auf das Katastrophische sich echter humanitärer Sorgen verdankte oder eher als kaum hinterfragbares Druckmittel zur Durchsetzung von Standesinteressen verwendet wurde. In der Realität schlossen sich diese und andere Faktoren ohnehin kaum gegenseitig aus. Mit dem getroffenen Kompromiss – Beibehaltung eines eigenständig organisierten Sanitätswesens bei gleichzeitiger Konzentration auf dessen genuin ärztliche Komponente sowie forcierter Annäherung an die zivile Ärzteschaft – konnten wohl auch ehemalige Kritiker wie Hans Killian gut leben. Immerhin führte dieser aus, „daß seine leidenschaftliche Forderung, die Militärärzte müßten ‚ganz nah am Metier‘ bleiben, wohl doch nicht ungehört geblieben wäre. Denn damit

40 Neuffer, Die deutsche Ärzteschaft zum Aufbau des Sanitätswesens der Bundeswehr, S. 22.

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stehe es heute [1979] sehr viel besser als früher. Die Bundeswehrkrankenhäuser seien auch ein wesentlicher Schritt in die richtige Richtung zum Nutzen aller.“41 Der Medizinhistorikerin Johanna Bleker ist in ihrer nunmehr bereits dreißig Jahre alten, knappen Analyse der Thematik sicher beizupflichten, dass in den frühen Debatten um das (Ideal-)Bild der Arztsoldaten das zentrale Dilemma zwischen Kriegsinteresse und ärztlichem Präventions- und Heilauftrag wenig problematisiert, sondern durch den Verweis auf die besonders hohe charakterliche Qualität des individuellen Sanitätsoffiziers schlicht als gegenstandslos deklariert wurde.42 Zu widersprechen ist ihr hingegen in manchen anderen Punkten. Die Auseinandersetzung mit den Erfahrungen des Weltkrieges, die Bleker in Abrede stellt, gab es durchaus – wenn auch während der 1950er bis 1960er Jahre erwartungsgemäß nicht in Form historisch-kritischer oder gar juristischer Aufarbeitungen (vgl. hierzu abermals Kapitel 4.6), sondern in Bezug auf als wünschenswert erachtete Veränderungen des eigenen Berufsideals.43 Eine während der Zwischenkriegszeit vielfach attestierte Spaltung der Ärzteschaft in einen zivilen und einen habituell strikt militärisch geprägten Teil konnte zudem in einer konzertierten Aktion von Sanitätsoffizieren und zivilen Ärztefunktionären unter ausdrücklichem Verweis auf die Lehren der Geschichte verhindert werden: In der Bundesrepublik Deutschland gab es schließlich keinen Bundeswehrarzt mehr, der nicht ein ziviles Medizinstudium absolviert hatte. Spätestens seit Mitte der 1950er Jahre konstituierten sich verschiedene, jahrzehntelang fortgeführte Arbeitskreise, um den gedanklichen Austausch zwischen militärischen und zivilen Ärzten zu fördern. Ein neuer Elitenkult um das Sanitätswesen konnte sich nicht durchsetzen, im Gegenteil: Die Nachwuchswerbung sollte über Jahre hinweg eine Hauptsorge der Arztsoldaten bleiben – trotz aller, von der zivilen Ärzteschaft unterstützter Forderungen nach verbesserten Aufstiegs- und Verdienstmöglichkeiten. Und während später den Friedensbewegungen der 1980er Jahre nahestehende Ärztinnen und Ärzte gern vor einer „Militarisierung der Medizin“ warnen sollten,44 muss für die anfänglichen Entwicklungen zunächst eher das Gegenteil festgehalten werden: eine zumal im Vergleich zu Kriegs- und Vorkriegszeit verstärkte Hinwendung des Sanitätswesen

41 Meyer, Aktennotiz vom 7.3.1979. 42 Johanna Bleker, Die Diskussion über Medizin und Krieg in der Bundesrepublik nach 1945: Ein Überblick, S. 238, in: Bleker & Schmiedebach (Hrsg.), Medizin und Krieg, S. 232–255. 43 Vgl. ebd., S. 232. 44 Auch Blekers frühe Studie ist aus heutiger Sicht eher diesem Bereich zuzuordnen. Bleker betont, dass sich die Sanitätsoffiziere insbesondere um ihren Offiziersstatus und die damit verbundene Aufwertung innerhalb der Militärhierarchie bemüht hätten, geht aber nicht auf deren Bereitschaft ein, sich zur Erreichung dieses Ziels enger an die zivile Ärzteschaft zu binden und dabei eine partielle Demilitarisierung in Kauf zu nehmen. Vgl. Bleker, Die Diskussion über Medizin und Krieg in der Bundesrepublik nach 1945, S. 238.

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an eine zivile Ärzteschaft, deren Mithilfe man sowohl zur Durchsetzung eigener Interessen als auch zur intendierten Vorbereitung auf den befürchteten Atomkrieg für unverzichtbar hielt. Mit seiner zu Beginn dieses Kapitels geschilderten stationsreichen Biographie mag Ernst Rebentisch geradezu als Idealbeispiel des bundesdeutschen Arztsoldaten der Nachkriegszeit gelten. Er hatte als Wehrmachtsveteran eine bis zur Spitze führende Karriere im Sanitätswesen der Bundeswehr vorzuweisen, den Kontakt zur zivilen Seite der Ärzteschaft jedoch nie abbrechen lassen. Bereits während seiner aktiven Bundeswehrzeit war er nicht nur zusätzlich in Lehre und Forschung sowie in verschiedenen Arbeitskreisen des zivilen Kammerwesens tätig gewesen, sondern hatte sein ärztliches Können auch im praktischen Einsatz unter Beweis stellen können. Im Anschluss an eine glänzende soldatische Karriere erfolgte nicht etwa der Rückzug ins Private, sondern ein bemerkenswert bruchloser Wechsel in verschiedene Verantwortlichkeiten der zivilen Ärzteschaft. Rebentischs Karriereweg lässt ihn rückblickend als jemanden erscheinen, der die vielfach geäußerten Forderungen, eine abermalige Spaltung von militärischer und ziviler Ärzteschaft abzuwenden, internalisiert hatte und der dieses Bemühen mit exakt dem Thema verknüpfte, das bereits 1956 Arztsoldaten und Zivilisten argumentativ miteinander zu verbinden wusste: die Angst vor dem Atomkrieg, der mit bislang unbekannter Härte Zivilisten und Militärs gleichermaßen treffen mochte und deshalb eine vorurteilsfreie und kooperative zivil-militärische Zusammenarbeit erzwang. Allein, die Vermeidung einer Art der Spaltung mag andere nach sich ziehen. 2.1.2 Das Sanitätswesen der Bundeswehr: Organisation und Kooperation Die Aprilausgabe der Wehrmedizinischen Monatsschrift des Jahres 1981 stand ganz im Zeichen eines Jubiläums, dem auch das von der Bundesärztekammer herausgegebene Deutsche Ärzteblatt im Sinne zivil-militärischer Kooperation einen Artikel widmete: 25 Jahre Sanitätsdienst der Bundeswehr.45 Als Geburtstag des Sanitätswesens wurde der 11. April 1956 ausgemacht. An diesem Tag beschloss der Verteidigungsausschuss des zweiten Deutschen Bundestages einstimmig die Verleihung des Offiziersstatus an die Ärzte der Bundeswehr und damit gleichzeitig die Einrichtung des Sanitätsdienstes als integrierten Teil der neuen Armee. Der graduelle Prozess der Einrichtung und formellen Gleichstellung dieses integrierten Sanitätsdienstes mit den traditionellen Teilstreitkräften verlief, wie im vorigen Kapitel geschildert, keineswegs zwangsläufig, sondern wurde mühevoll erstritten. Selbst die maßgeblich 45 Karl-Wilhelm Wedel, 25 Jahre Sanitätsdienst der Bundeswehr, in: Deutsches Ärzteblatt 17/1981, S. 838–840. In Ausgabe 4/1981 der Wehrmedizinischen Monatsschrift u. a. W. Berger, Chronik des Sanitätsdienstes der Bundeswehr, S. 117–122; Hubertus Grunhofer, 25 Jahre Sanitäts- und Gesundheitswesen der Bundeswehr: Ausblick auf die achtziger Jahre, S. 97–102.

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auch von der zivilen Ärzteschaft unterstützte Berufung des Generalarztes Theodor Joedicke zum ersten Inspekteur des Sanitätswesens am 1. September 1957 beendete die vormalige Ungleichheit nicht, da dieser den Inspekteuren der Teilstreitkräfte vom Rang her nicht gleichgestellt war.46 Mit der am 14. Juli 1965 erfolgenden Beförderung des am 1. Oktober 1962 berufenen zweiten Inspekteurs Wilhelm Albrecht zum Generaloberstabsarzt wurde zwar auch diese Hürde erfolgreich überwunden, allerdings mit achtjähriger Verzögerung.47 In der Wehrmedizinischen Monatsschrift wurde die Genese des Sanitätsdienstes der Bundeswehr grob in eine Aufbau- (1956 bis 1963) und eine Konsolidierungsphase (1963 bis 1970) unterteilt. Neben der abermaligen Bekräftigung des Kompetenzbereichs der Sanitätsinspektion im März 197048 ist für das Thema dieser Arbeit noch die im Oktober 1970 erfolgte Öffnung der nunmehr Bundeswehrkrankenhäuser genannten Lazarette für zivile Patienten49 sowie deren Engagement im noch in der Gründung begriffenen zivilen Rettungswesen von Interesse. Gerade diese beiden Punkte müssen als deutliche Geste in Richtung früherer Kritiker eines bundeswehrintegrierten Sanitätswesens sowie dem vielfach geäußerten Ruf nach einer verbesserten, praktisch-ärztlichen Tätigkeit der Sanitätsoffiziere bei weitgehend zivilem bzw. zivilerem Auftreten gedeutet werden (vgl. die Aussagen Hans Killians in Kapitel 2.1.1). Die 1970er Jahre standen schließlich ganz im Zeichen der Entwicklung und Erprobung neuer Sanitätsmodelle sowie der Behebung des den Sanitätsdienst seit Anbeginn plagenden Ärztemangels, für die man neben geringerer beruflicher Attraktivität insbesondere die im Vergleich zu den Möglichkeiten der Zivilisten niedrigen Verdienstaussichten verantwortlich machte.50 Abseits der bereits erwähnten Öffnung der Bundeswehrkrankenhäuser suchte man diese Situation durch die Zahlung von Studienbeihilfen,51 durch alternative Quotierung bei der Studienplatzvergabe sowie durch die 1975 erfol-

46 Ernst Rebentisch bewertete dies im Nachhinein als Symptom einer lange fortwährenden Geringschätzung sanitätsdienstlicher Aspekte bei der militärischen Gesamtplanung mit teilweise verheerenden realitätsverzerrenden Folgen, vgl. Georg Meyer, Aktennotiz über ein Gespräch mit Generaloberstabsarzt Prof. Dr. Rebentisch am 29.1.1979. BArch-MA, BW 24/7796. 47 Berger, Chronik des Sanitätsdienstes der Bundeswehr, S. 119. Vgl. Kurt Groeschel, Vorwort zur Schrift „Die Akademie des San.- und Gesundheitswesens der Bundeswehr, ihre Entwicklung und derzeitige Aufgabe mit Ausblick in die Zukunft“. München 20.9.1965. BArch-MA, BW 8–IV/14. 48 Wedel, 25 Jahre Sanitätsdienst der Bundeswehr, S. 839–840. 49 Berger, Chronik des Sanitätsdienstes der Bundeswehr, S. 121. 50 Grunhofer, 25 Jahre Sanitäts- und Gesundheitswesen der Bundeswehr, S. 100. 51 Eine Maßnahme mit unzureichendem Effekt, da viele Medizinstudenten sich zwar um eine entsprechende Förderung bemühten, diese im Anschluss an die Approbation jedoch lieber zurückzahlten, als sich tatsächlich zum Dienst als Sanitätsoffizier zu verpflichten, siehe Berger, Chronik des Sanitätsdienstes der Bundeswehr, S. 119.

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gende, zu Gründungszeiten noch völlig undenkbare Zulassung von Frauen als Sanitätsoffiziere zu verbessern.52 Die detaillierte Organisation des Sanitätswesens der Bundeswehr kann an dieser Stelle ebenso wenig dargelegt werden wie deren gradueller Wandel; die Skizzierung eines knappen Organigramms scheint hingegen sinnvoll zu sein. Grundlegender Auftrag des Sanitätswesens der Bundeswehr war die Versorgung der Soldaten im Frieden sowie die „stete Bereitschaft […] für den Katastrophen- und Verteidigungsfall“53 , wozu möglichst gute, kooperative Kontakte mit den NATO-Verbündeten, insbesondere aber auch mit dem zivilen Gesundheitswesen als prioritär angesehen wurden.54 Obwohl sich die dem Inspekteur (InspSan) unterstellte, in verschiedene Unterabteilungen aufgefächerte Inspektion des Sanitäts- und Gesundheitswesens (InSan) stets einen streitkräfteübergreifenden Sanitätsdienst unter einheitlicher Führung wünschte, sollte ihr diese Forderung während des Untersuchungszeitraums dieser Arbeit verwehrt bleiben.55 Die Sanitätsdienste der Teilstreitkräfte verblieben demnach in den jeweiligen Organisationsbereichen von Heer, Marine und Luftwaffe und wurden auch von diesen ausgestattet und verwaltet, während InSan lediglich die zentralen, medizinischen Einrichtungen der Bundeswehr unterstanden. Hierzu zählte als unmittelbar untergeordnete, koordinierende Behörde das Sanitätsamt der Bundeswehr (SanABw), dem wiederum die Sanitätsakademie (SanAkBw) als für die Sanitäter aller Teilstreitkräfte zentrale Aus- und Fortbildungsstätte, verschiedene sanitätsdienstliche Untersuchungsstellen, drei Forschungsinstitute sowie die Bundeswehrkrankenhäuser (insgesamt zwölf im Jahr 1980, inklusive des Bundeswehrzentralkrankenhauses in Koblenz) unterstellt waren. In der Zuständigkeit der Teilstreitkräfte verblieb hingegen eine Vielzahl lokaler Sanitätszentren56 ebenso wie die Verantwortung für die jeweiligen Truppenärzte und die flug- und

52 Ebd., S. 121. Die Wichtigkeit von Frauen als sogenannte Schwesternhelferinnen im Sanitätsdienst der Bundeswehr oder der Hilfsorganisationen wurde von allen Verantwortlichen bejaht, ihre Eignung als Bundeswehrärztinnen in der Frühphase hingegen kategorisch verneint. 53 Ernst Rebentisch, Auftrag des Sanitaetswesens und Gesundheitswesens in der Bundeswehr, Organisationsformen und zukuenftige Organisationsformen und zukuenftige Plaene, Personalprobleme, Forschung und Entwicklung, dabei als Schwerpunkt der Medizinische ABC-Schutz, S. 2, München 1.10.1978. BArch-MA, BW 24/36421. 54 Ebd., S. 5. 55 Verwirklicht wurde lediglich die „raumdeckende“, d. h. dezentrale und mobile Aufstellung. Vgl. Das Modell eines bundeswehrgemeinsamen, raumdeckenden Sanitätsdienstes. Anlage eines Schreibens von Ernst Rebentisch (InSan) an Dr. Heinz-Peter Brauer vom 24.1.1979. Die heutige Organisationsform des Sanitätswesens der Bundeswehr trägt den damaligen Forderungen weitgehend Rechnung. 56 Diese fielen im Gegensatz zu den Krankenhäusern in den Zuständigkeitsbereich des Heeres und sollten über eine personelle Besetzung von 9 bis 11 Soldaten unterschiedlicher Funktion verfügen. Angestrebt wurden 100, über das gesamte Bundesgebiet verteilte Zentren, vgl. Rebentisch, Auftrag des Sanitätswesens und Gesundheitswesens in der Bundeswehr.

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schifffahrtmedizinischen Institute.57 Für den Themenbereich dieser Arbeit ist insbesondere der Zentrale Sanitätsdienst, d. h. InSan und nachgeordnete Stellen, von Interesse, da hier nicht nur sanitätsdienstspezifische Leit- und Kriegsbilder formuliert, kommuniziert und eingeübt wurden, sondern auch die anvisierte Kooperation mit dem zivilen Gesundheitswesen klar in deren Aufgabenbereich fiel. Zusätzlich dazu bemühte sich die SanAkBw gemeinsam mit den spezialisierten Forschungsinstituten der Bundeswehr für Radiobiologie, Mikrobiologie und Pharmakologie/ Toxikologie um die Erforschung der Auswirkungen atomarer, biologischer und chemischer (ABC-)Waffen aus medizinischer Sicht, worunter insbesondere die Entwicklung diagnostischer Verfahren und vorstellbarer Therapiemöglichkeiten fielen.58 Die hierzu gewonnenen Erkenntnisse wurden schließlich in Fachverlagen publiziert und verbreitet, z. B. in der bereits erwähnten Wehrmedizinischen Monatsschrift, der zentralen Publikation der Vereinigung Deutscher Sanitätsoffiziere (VdSO). Die am 19.6.1954 (neu-)gegründete VdSO berief sich auf die Tradition der Berliner Militärärztlichen Gesellschaft und muss zunächst als Kombination aus Fachgesellschaft sowie Interessen- und Traditionspflegeverband der Sanitätsoffiziere bewertet werden. Im Lauf der Jahre wurde hingegen das Bemühen um die Wissenschaft verstärkt in den Vordergrund gerückt, was sich insbesondere in zwei Umbenennungen niederschlug: Die 1973 gewählte, bis heute gültige Bezeichnung Deutsche Gesellschaft für Wehrmedizin und Wehrpharmazie e. V. (DGWMP) betonte demnach klar die Rolle als Fachgesellschaft gegenüber der Kameradschaftspflege.59 So wie es häufig bei dieser Quellengattung der Fall ist, suggerieren auch die zeitgenössischen Organigramme des Sanitätswesens der Bundeswehr klar abgegrenzte Zuständigkeitsbereiche, die in der Realität oftmals unscharf waren oder sich in laufender Tätigkeit erst finden mussten. In diesem Zusammenhang ist zu betonen, dass es nicht nur innerhalb des Sanitätswesens der Bundeswehr, sondern auch mit fachlich verwandten, nicht- bzw. halb-militärischen Einrichtungen eine Vielzahl kooperativer Kontakte und somit eine – mitunter strittige – Aufteilung von Zuständigkeiten gab. Als Beispiel einer offenbar konfliktarm verlaufenden Kooperation sei das damalige Atomforschungszentrum des Wissenschaftsministeriums in Neuherberg, der Vorläufer des heutigen Helmholtz Zentrum München

57 Organisation und Auftrag des Sanitäts- und Gesundheitswesens der Bundeswehr, November 1980. BArch-MA, BW 24/10746. 58 Vgl. Anlage 1 zum Schreiben InspSan/InSan I 3, AZ 42-18-00/VS-NfD vom 8.3.1983. BArch-MA, BW 24/8494. 59 Für einen knappen historischen Überblick zur VdSO vgl. R. Vollmuth & A. Müllerschön, Geschichte als Auftrag für die Gestaltung der Zukunft: 150 Jahre „Deutsche Militärärztliche Gesellschaften“, in: Deutsche Gesellschaft für Wehrmedizin und Wehrpharmazie e. V. – Bundesgeschäftsstelle (Hrsg.), Festschrift 150 Jahre Deutsche Militärärztliche Gesellschaften 1864–2014. Bonn 2014, S. 22–32.

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– Deutsches Forschungszentrum für Gesundheit und Umwelt60 – genannt. Mit der Einrichtung dieser „Versuchs- und Ausbildungsstätte für Strahlenschutz“ wurde bereits 1959 begonnen, wobei die personelle und materielle Ausstattung zunächst über das Strahlenbiologische Institut sowie das Institut für Physikalische Therapie und Röntgenologie der Münchener Universität durchgeführt wurde.61 Seit 1960 wurde das entstehende Großforschungszentrum von der Gesellschaft für Strahlenforschung mbH geführt, deren alleiniger Gesellschafter der Bund war. Die dortigen Möglichkeiten waren umfangreich: Im Jahr 1964 beschäftigte die Anlage bereits über 150 Personen, unterhielt eine ganze Reihe von Laboratorien, verfügte über ca. 6000 Versuchstiere und arbeitete z. B. an der Erforschung der Strahlenkrankheit62 und der Lagerung radioaktiver Abfälle.63 Man kooperierte nicht nur mit anderen Forschungsinstituten, sondern auch mit der Europäischen Atomgemeinschaft (EURATOM)64 und übernahm neben Lehr- und Forschungstätigkeiten auch Gutachterfunktionen im Strahlenschutz. InSan interessierte sich – ebenso wie andere Stellen der Bundeswehr – bereits frühzeitig für eine Kooperation auf dem Gebiet des ABC-Schutzes65 und betonte dabei insbesondere die Bedeutung des Austauschs qualifizierter Wissenschaftler sowie die Vermeidung „doppelter“ Forschungsarbeiten.66 Das Bundeswissenschaftsministerium gestattete Anfang 1965 nicht nur zwei bis vier Mitarbeiterentsendungen der Sanitätsakademie, sondern begrüßte die Zusammenarbeit ausdrücklich und betonte die Möglichkeit einer eventuellen Ausweitung der Kooperation.67 Die Einrichtung der zur damaligen Zeit noch in der Planung befindlichen eigenen Institute des Sanitätswesens suchte InSan auch vor der Folie solcher zivil-militärischer Kooperationsmöglichkeiten zu bekräftigen: Trotz aller Vorteile gemeinsamer Forschungsarbeiten machten gerade

60 Vgl. die Chronik des Helmholtz Zentrums, online unter: http://www.helmholtz-muenchen.de/ ueber-uns/profil/geschichte/index.html (aufgerufen am 26.1.2019). 61 Übersicht über Aufbau, Organisation und Aufgaben der Gesellschaft für Strahlenforschung mbH. Bad Godesberg 20.6.1964, S. 1. BArch-MA, BW 24/1083. 62 In den Instituten für Biologie und für Strahlenhämatologie, siehe: ebd., S. 4–5. 63 In der Forschungsstelle Tieflagerung radioaktiver Abfälle, siehe: ebd., S. 6. 64 Aufbau, Organisation und Aufgaben der Gesellschaft für Strahlenforschung mbH, S. 2. 65 InSan I 3, Sprechzettel für Herrn Minister über Herrn Generalinspekteur, Herrn Staatssekretär vom 15.10.1963, Betr.: Atomforschungszentrum des Wissenschaftsministeriums in Neuherberg b/München; hier: Zusammenarbeit mit dem Sanitäts- und Gesundheitswesen der Bundeswehr. BArch-MA, BW 24/1083. 66 InSan I 3, Vermerk vom 27.11.1963, Betr.: Zusammenarbeit mit der Gesellschaft für Kernforschung in Neuherberg. BArch-MA, BW 24/1083. 67 Brief des Bundesministers für Wissenschaftliche Forschung an den Bundesminister der Verteidigung vom 11.2.1965, Betr.: Zusammenarbeit mit der Gesellschaft für Strahlenforschung mbH München in Neuherberg (GSF); hier: Bereitstellung von Arbeitsplätzen. BArch-MA, BW 24/1083.

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diese klar, dass es der Geheimhaltung unterliegende Bereiche gebe, die man keineswegs an Dritte übertragen könne.68 Kooperative Kontakte schienen den Aufbau bundeswehreigener Forschungseinrichtungen ohnehin weniger infrage zu stellen, als vielmehr zu ermöglichen. Die alleinige kostspielige Finanzierung zumal der erforderlichen Grundlagenforschung hätte den Etat des Sanitätswesens sicher überfordert – jedenfalls findet sich im Quellenmaterial eine Vielzahl von Bemerkungen über die eigenen finanziellen Grenzen. Die kooperative Praxis entsprach zudem klar dem in Kapitel 2.1.1 dargelegten Wunsch zentraler Akteure des Sanitätswesens, aktiv den Kontakt mit der zivilen Ärzteschaft zu suchen. Kooperationen konnten allerdings auch zu schwerwiegenden Zuständigkeitskonflikten führen. Ein gutes, wenn auch extremes Beispiel hierfür stellt der jahrelang andauernde Streit zwischen InSan und der wehrtechnischen Abteilung T dar, welcher trotz mehrerer, seit dem Frühjahr 1966 unternommener Schlichtungsversuche erst am 30.1.1968 beigelegt werden konnte.69 Im Zentrum des Konflikts stand das Referat T II 4 beim Bundesministerium für Verteidigung, in dessen Verantwortungsbereich das damals nahezu vollständig vom BMVg finanzierte,70 1956 von dem Arzt Karl Bisa in Schmallenberg-Grafschaft gegründete Fraunhofer-Institut für Aerobiologie (IfA) fiel.71 Während einer Besprechung beim BMVg sollte im März 1966 konkretisiert werden, welche ABC-Forschungsaufträge welchem Referat (und somit welchem Institut) zufallen sollten, da zwischenzeitlich erhebliche fachliche Schnittmengen festgestellt worden waren. InSan war naturgemäß daran interessiert, diejenigen Projekte an sich zu ziehen, welche den eigenen Kompetenzbereich berührten, wie z. B. die von dem hoch angesehenen Freiburger Radiologieprofessor

68 InSan I 3, Vermerk vom 27.11.1963, Betr.: Zusammenarbeit mit der Gesellschaft für Kernforschung in Neuherberg. 69 Abgrenzung und Koordination der wehrmedizinischen Forschung und Entwicklung auf dem Gebiet des medizinischen ABC-Schutzes im nationalen und internationalen Bereich. 15.10.1982. BArchMA, BW 24/8493. 70 Stefan Kirschner & Stefan Johannsen, Das Institut für Aerobiologie der Fraunhofer-Gesellschaft und die Verteidigungsforschung in den 1960er Jahren (Algorismus 57). Augsburg 2006, S. 24–26, 27–43 sowie 37–38. 71 Das IfA geriet im November 1968 in die Schlagzeilen, weil trotz strenger Überwachung durch den Militärischen Abschirmdienst (MAD) der dort beschäftigte Mikrobiologe Ehrenfried Petras nicht nur in die DDR übersiedelte, sondern in einer Fernsehansprache zudem behauptete, das IfA entwickele im Auftrag des BMVg B- und C-Waffen. Heutige Arbeiten hierzu belegen hingegen, dass es sich bei Petras um einen von mehreren, zur damaligen Zeit enttarnten Wissenschaftsagenten der DDR handelte. Zudem konnte der Waffenforschung des IfA kein offensiver Charakter nachgewiesen werden. In den mir vorliegenden Quellen finden sich hierzu ebenfalls keinerlei Belege. Manche Forschungsprojekte, wie z. B. „Auslösung von Psychosen durch Psychochemikalien“ mochten zwar mehrdeutig wirken, liefen offiziell jedoch klar unter C-Abwehr, vgl. Abgrenzung und Koordination der wehrmedizinischen Forschung und Entwicklung auf dem Gebiet des medizinischen ABCSchutzes. Zur Geschichte des IfA insgesamt vgl. Kirschner & Johannsen, Das Institut für Aerobiologie.

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Hanns Langendorff72 durchgeführten Untersuchungen zur Inkorporierung und Dekorporierung radioaktiver Spaltprodukte sowie zur Prophylaxe und Therapie der Strahlenkrankheit.73 Schon die Beschäftigung bestens vernetzter Spezialisten wie Langendorff wurde als unzulässiger Eingriff in die eigene Kernkompetenz sowie als Versuch betrachtet, ein Konkurrenzangebot zur hierfür eigentlich zuständigen Sanitätsakademie aufzubauen.74 Immer offener warf InSan dem IfA grobes Fehlverhalten vor. Insbesondere dessen erster Vorsitzender Bisa wurde scharf kritisiert. Dieser täusche durch die gehäufte Verwendung von Fachausdrücken gegenüber Laien Kenntnisse vor, über die weder er noch seine Mitarbeiter verfügten und betreibe „pseudopharmakologische Machenschaften“75 : Ob wohl [sic] Sie selbst [d. h. der Referatsleiter T II 4] über keine Fachkenntnisse verfügen, weil Sie sonst die Fehlerhaftigkeit der Bisa’schen Arbeiten schon selbst hätte bemerken müssen [sic], haben Sie es nicht für erforderlich gehalten, In San in dieser Frage einzuschalten […]. Stattdessen wurde in Grafschaft weiterhin mit erheblichen Mitteln der Bundeswehr – es handelt sich inzwischen um Millionen – experimentiert. Ich habe festgestellt, dass alleine im Jahr 1964 10.000 Ratten und über 100 Affen verarbeitet wurden, ohne dass entsprechende Berichte an In San weitergegeben wurden. Was ist mit diesen Tieren geschehen? Was wurde z. B. mit den Affen gemacht, die sich bekanntlich hinsichtlich der Vergiftung mit insektiziden Alkylphosphaten völlig anders verhalten als der Mensch. [sic] Es ist ein einmaliges Phänomen, dass T II 4 toxikologisch-pharmakologische Arbeiten, die sehr viel Geld kosten, an Nichtpharmakologen vergibt und sich darüber hinaus jeder fachlichen Beratung und Kontrolle entzieht, z.T. mit Hilfe des fadenscheinigen Vorwandes der Geheimhaltung.76

72 Vgl. den gegenwärtigen Internetauftritt der Hanns-Langendorff-Stiftung, http://langendorff-stiftung.de (aufgerufen am 26.1.2019). 73 Ergebnisniederschrift über die Besprechung am 2.3.1966 vom 8.3.1966. BArch-MA, BW 24/1323. 74 InSan I 3, Sprechzettel für den Herrn Inspekteur für die Besprechung mit AL T vom 17.7.1967, S. 6. BArch-MA, BW 24/1323. 75 Undatierter Entwurf eines Vermerks von InSan I 3 an Referat T II 4, Betr.: Abgrenzung der Forschungsbereiche, S. 1. BArch-MA, BW 24/1323. 76 Ebd., S. 2–3.

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Dem federführend verantwortlichen Referatsleiter T II 4, Siegfried Glupe,77 wurde parallel hierzu vorgeworfen, „sein“ IfA trotz des Wissens um solcherlei skandalöse Vorgänge zu decken. Im Juli 1967 monierte schließlich der damalige Inspekteur des Sanitätswesens – der Datierung nach Herbert Hockemeyer – gegenüber dem Abteilungsleiter T, dass T II 4 die 1966 beschlossenen Zuständigkeitsaufteilungen nicht eingehalten habe und weiterhin zulasten der sanitätsdienstlichen Institute wehrmedizinische Untersuchungen als Biochemie oder Biophysik ausgebe.78 Glupe wurde vorgeworfen, sich einen „Geheimnis- und Machtbereich“ aufgebaut zu haben,79 um innerhalb der Abteilung T eine von InSan unabhängige wehrmedizinische Forschung insbesondere im Antidotbereich aufzubauen.80 InSan sei dabei regelrecht vorgeführt worden,81 und dies trotz der offenkundigen Nutzlosigkeit eines Großteils der Arbeiten des IfA.82 Gefordert wurde im Anschluss an diese Feststellungen erneut die klare Abgrenzung der Zuständigkeiten, wobei InSan sämtliche medizinische, der Abteilung T hingegen lediglich die technischen Bereiche zufallen müssten.83 Auf die prinzipiell gebotene Auflösung des IfA solle aufgrund bereits getätigter, umfangreicher Investitionen verzichtet werden: Das Institut solle mithin erhalten bleiben, „um es ohne Zeitdruck neuen Aufgaben zuführen zu können“.84 Der Konflikt wurde demnach zwar zugunsten InSans entschieden; dem IfA scheint er aber mit Blick auf dessen kontinuierliches Wachstum – gegenwärtig trägt es den Namen Fraunhofer-Institut für Molekularbiologie und Angewandte Oekologie [sic] –85 nicht geschadet zu haben.

77 Es konnte während meiner Forschungen nicht zweifelsfrei geklärt werden, ob es sich hierbei um jenen Siegfried Glupe handelte, der im Rahmen seiner Dissertation am Kaiser-Wilhelm-Institut für physikalische Chemie und Elektrochemie ein Verfahren zur industriellen Produktion des sogenannten N-Stoffs (das Brandmittel Chlortrifluorid) entwickelte und später – von SA und Wehrmacht zur SS gewechselt – beim Heereswaffenamt beschäftigt war, vgl. Florian Schmaltz, Kampfstoff-Forschung im Nationalsozialismus: Zur Kooperation von Kaiser-Wilhelm-Instituten, Militär und Industrie (Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus 11). Göttingen 2005, S. 145 f., 172. Glupes Position als Wehrtechnikexperte sowie die Bemühungen des IfA gerade um die B- und C-Forschung legen dies hingegen nahe. 78 InSan I 3, Sprechzettel für den Herrn Inspekteur für die Besprechung mit AL T vom 17.7.1967, S. 2. BArch-MA, BW 24/1323. 79 Ebd., S. 3. Zur wohl maßgeblich auf Glupe zurückgehenden „Geheimniskrämerei“ des vom MAD überwachten IfA vgl. Kirschner & Johannsen, Das Institut für Aerobiologie, S. 34–43. 80 Schreiben von InspSan an Abteilungsleiter T, Ministerialdirektor Wahl vom 23.8.1967, Betr.: Endgültige Abgrenzung zwischen den Abteilungen T und InSan hinsichtlich der Forschung auf dem ABC-Gebiet, S. 3. BArch-MA, BW 24/1323. 81 Vgl. ebd., S. 5. 82 Ebd., S. 5, 9 und 13. 83 Ebd., S. 17. 84 Ebd., S. 12. 85 Vgl. dessen Internetauftritt: http://www.ime.fraunhofer.de/ (aufgerufen am 26.1.2019).

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Beide hier geschilderten Kooperationsvorgänge bezeugen die engen Verbindungen zwischen der Bundeswehr und einer entstehenden ABC-Großforschung, für die aufgrund ihrer maßgeblichen Mitfinanzierung durch das BMVg die Bezeichnung „zivil“ kaum zuzutreffen scheint. Trotz der Schwierigkeiten einer rückschauenden Bewertung liegt dabei die Vermutung nahe, dass – um sich der Sprache Andrew Abbots zu bedienen – im Konflikt um professionelle jurisdiction, d. h. um existenzsichernde, exklusive Zuständigkeiten, eine von Einzelpersonen forcierte Schaffung von Tatsachen durchaus von Erfolg gekrönt sein konnte. So war das einmal eingerichtete IfA trotz später vorgebrachter, schwerster fachlicher Bedenken too big to fail: zu teuer, als dass man es einfach hätte schließen können. Der erzwungene Entzug medizinischer Forschungsaufträge zog somit gerade nicht dessen Schrumpfung, sondern die Kreierung neuer Aufgabenbereiche zur Kompensation nach sich. InSan musste in diesem Zusammenhang selbst einsehen, dass z. B. die von eigener Seite vergleichsweise spät angegangene Erforschung der Strahlenkrankheit keineswegs bedeutete, dass dieser Bereich unbesetzt blieb, im Gegenteil: Eine nur um wenige Jahre verzögerte Beschäftigung mit einem der vordringlichsten Forschungsgebiete der damaligen Zeit – der Atomenergie – zog bei Bestehen eines personellen oder institutionellen Vakuums zeitnah Versuche konkurrierender Institutionen nach sich, diese Bereiche auch entgegen logisch-systemischer Zuständigkeiten langfristig selbst zu okkupieren. 2.1.3 Der dritte Weltkrieg in Theorie und Praxis Es wirkt zunächst leichter, das vom Sanitätsdienst der Bundeswehr antizipierte Katastrophische zu identifizieren als entsprechende Imaginationen des zivilen Sektors, da es sich aus dessen zentralem Auftrag ableitet: den Soldaten im Ernstfall des Krieges bestmöglichen medizinischen Schutz bereitzustellen. Während der Krieg also in zahlreichen Quellen des bundesdeutschen Zivilschutzes spätestens seit den späten 1960er Jahren als „größtmögliche Katastrophe“ auf einer Skala vieler denkbarer Szenarien bezeichnet wurde, für den es auch Vorsorge zu treffen galt (vgl. hierzu Kapitel 1.4), war er für das Sanitätswesen der Bundeswehr mehr als das: Seine Möglichkeit begründete die eigene Existenz und war erster Ausgangspunkt sämtlicher Planungen. Auch wenn ein etwaiger Friedensnutzen durchaus begrüßt wurde, konnte dieser kein vordringliches Motiv der immerhin vom BMVg finanzierten eigenen Maßnahmen sein. Hierbei sei erneut auf die Öffnung der Bundeswehrkrankenhäuser für zivile Patienten verwiesen, die vor allem aus der Notwendigkeit abgeleitet wurde, die ärztliche Befähigung der Sanitätsoffiziere in regelmäßiger, praktischer Tätigkeit für einen etwaigen Ernstfall zu schulen und zu erhalten. Wer nach dem Katastrophischen sucht, das vom Sanitätsdienst der Bundeswehr ima-

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giniert und antizipiert wurde, sucht also insbesondere nach Imaginationen und Antizipationen eines zukünftigen Krieges, d. h. nach Kriegsbildern.86 Unabhängig von der Vielfalt zeitgenössisch diskutierter Varianten können doch schnell einige Konstanten ausgemacht werden. Die antizipierten Gegner waren – wie nicht anders zu erwarten – durchweg die Staaten des Warschauer Paktes und insbesondere die Sowjetunion. Bereits in den 1950er Jahren wurde in aller Regel davon ausgegangen, dass ein künftiger Krieg unter Verwendung von Atomwaffen geführt werden würde. Da man der UdSSR nachsagte, im Rahmen ihrer weltrevolutionären Ideologie westliche Staaten im Sinne Osteuropas erobern und besetzen, nicht jedoch vernichten zu wollen, erwartete man von Seiten des Sanitätsdienstes einen tendenziell begrenzten, taktischen Einsatz der neuen Waffen. Dieser mochte sich über nur wenige Tage erstrecken und dabei dennoch verheerende Wirkungen nach sich ziehen. In Bezug auf eine anschließende Restitutionsphase nahm man an, dass die jeweiligen Militärbündnisse in einem derartigen Maße mit eigenen Verlusten zu ringen hätten, dass Offensivaktionen zeitweise in den Hintergrund rücken könnten.87 Trotz des vermuteten, begrenzten Einsatzes der atomaren Arsenale wurde deren Wirkung keinesfalls als „Weiterentwicklung der Artillerie“88 verharmlost, sondern als absolut entscheidend eingeschätzt: „Die atomtaktische Lage – und nur diese kann für das Sanitätswesen der alleinige Ausgangspunkt sein – stellt

86 Zum Begriff des Kriegsbildes vgl. detaillierter: Florian Reichenberger, Der gedachte Krieg: Vom Wandel der Kriegsbilder in der militärischen Führung der Bundeswehr im Zeitalter des Ost-West-Konflikts (Sicherheitspolitik und Streitkräfte der Bundesrepublik Deutschland 13). Berlin und Boston 2018, S. 33–66. Reichenbergers Definition des Kriegsbildes als „Vorstellung von einem künftigen Krieg“ (S. 50) wird dort weiterführend charakterisiert als zwischen politischer und militärischer Sphäre oszillierendes, zumeist aber von Militäreliten propagiertes „Mittel zur sicherheitspolitischen Entscheidungsfindung“ (S. 53), welches die notwendigen Prämissen für sich anschließende, konkrete Militärplanungen bereitstelle (S. 52). Kriegsbilder seien dabei weder starr noch exklusiv; es existierten vielmehr verschiedene Varianten, die sich dynamisch verändern und gegenseitig beeinflussen könnten (S. 58). Obwohl sie sich auf einen zukünftigen Krieg bezögen, unterlägen sie doch einer gewissen „Vergangenheitsverhaftung“ und orientierten sich zumal am Verhalten vorheriger Siegermächte (S. 54). 87 Sanitätsführung im atomaren Krieg: Stoffsammlung und Stichworte zu Vorträgen an der Führungsakademie der Bundeswehr. II. Teil: Grundsätze der Sanitätsführung. Stand August 1963, S. 16. BArch-MA, BW 24/12194. 88 So bezeichnete Konrad Adenauer in einer Presseerklärung am 5.4.1957 die Atomwaffen, vgl. Die Bombe im Schiff, in: Der Spiegel 20/1957, S. 12. Seine Wortwahl wurde vielfach kritisiert, u. a. von den „Göttinger 18“, einer Gruppe angesehener Atomforscher, vgl. Robert Lorenz, Protest der Physiker: Die „Göttinger Erklärung“ von 1957 (Studien des Göttinger Instituts für Demokratieforschung zur Geschichte politischer u nd gesellschaftlicher Kontroversen 3). Bielefeld 2011.

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ausserordentliche [sic] organisatorische, personelle und materielle Anforderungen an das Sanitätswesen.“89 Detaillierter beschrieben wurde das antizipierte Kriegsbild beispielsweise von Oberstarzt a. D. Alfred Bayer90 in einer dreiteiligen Artikelserie der Wehrmedizinischen Mitteilungen, der Vorläuferzeitschrift der Wehrmedizinischen Monatsschrift. Im Jahr 1962, also zur Hochzeit der Krisenerfahrungen des Kalten Krieges, wurden hier bereits zahlreiche Motive und Begriffe benannt, die die ärztlichen Diskussionen zur Medizin im Angesicht des Katastrophischen jahrzehntelang prägen sollten. Zunächst wurde wiederholt festgestellt, dass es in einem zukünftigen, im unmittelbar an den Ostblock grenzenden Deutschland geführten Krieg keinerlei Trennung zwischen Front und Hinterland geben könne: „Front ist überall, ein Vorne und Hinten ist nicht mehr zu unterscheiden.“91 In einem Vortrag zur gleichen Thematik vermutete Bayer, dass die Zivilbevölkerung im Krieg der Zukunft wohl schwerere Verluste befürchten müsse als das Militär;92 eine Mutmaßung, die von vielen Verantwortlichen der damaligen Zeit geteilt wurde.93 Dies erfordere neben verstärkten Bemühungen um den Zivilschutz94 eine effektive Zusammenarbeit zwischen militärischer und ziviler Führung.95 Gelegentlich mahnte Bayer dazu, das Sanitätswesen der Bundeswehr auf eine Vielzahl möglicher Szenarien 89 IV H an Abteilungsleiter IV vom 13.5.1957, Betr.: Organisation des Führungsstabes des Gesundheitsund Sanitätswesens der Bundeswehr. BArch-MA, BW 24/20790. Betonung im Original. 90 Nach Angaben der Wehrmedizinischen Mitteilungen war Bayer früherer Inspizient des Sanitätswesens der Territorialen Verteidigung gewesen. Die Aufgabe des als eigenständige Teilstreitkraft geplanten, aber 1969 dem Heer unterstellten Territorialheeres sollte im Kriegsfall vor allem die Unterstützung der kämpfenden Truppe durch die militärische Sicherung des Rückraums (Versorgungswege usw.) sein. Ähnlich wie beim heutigen Kommando Territoriale Aufgaben der Bundeswehr stand eine möglichst gute Zusammenarbeit mit zivilen Stellen im Fokus entsprechender Bemühungen. 91 Alfred Bayer, Gedanken über die Sanitätstaktik in einem Verteidigungsfall (III), S. 196, in: Wehrmedizinische Mitteilungen 1962, S. 196–198 (jahrgangsübergreifende Seitenzahl). 92 Alfred Bayer, Welche Aufgaben ergeben sich aus der Wehrmedizinischen Tagung für die Wehrmedizinische Gesellschaft?. Vortrag der 1. Wehrmedizinischen Tagung der VdSO am 12.10.1963, S. 6. BArch, B 389/112. 93 Vgl. Sprechzettel für InspSan vom 8.2.1962, S. 9. BArch-MA, BW 24/20790. Vgl. hierzu auch eine von Zivilschutzexperten wie Friedensaktivisten gerne verwendete Grafik der damals insbesondere von Carl Friedrich von Weizsäcker geprägten, weithin als überparteilich eingeschätzten Vereinigung Deutscher Wissenschaftler e. V. (VDW), die als prozentualen Anteil der zivilen Verluste des Ersten Weltkriegs 5 %, des Zweiten Weltkriegs 48 % und des Koreakriegs schließlich 84 % angab. VDW, Ziviler Bevölkerungsschutz heute (Schriften der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler 1). Frankfurt/ M. 1962, S. 7. 94 Bayer, Welche Aufgaben ergeben sich aus der Wehrmedizinischen Tagung für die Wehrmedizinische Gesellschaft?, S. 2–3. 95 Bayer, Gedanken über die Sanitätstaktik in einem Verteidigungsfall (III), S. 197; Bayer, Welche Aufgaben ergeben sich aus der Wehrmedizinischen Tagung für die Wehrmedizinische Gesellschaft?, S. 1–2.

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vorzubereiten, um je nach der Art des eingetroffenen Ernstfalls adäquat reagieren zu können. In diesen Passagen lässt sich der Strategiewechsel der NATO hin zur flexible response (vgl. Kapitel 1.4.) herauslesen: Ob der Krieg von Anfang an total geführt wird oder ob er sich aus kleineren bewaffneten Konflikten zu einer größeren Auseinandersetzung entwickelt, ob er mit ABC-Waffen, mit konventionellen Waffen oder mit beiden geführt wird, stets muß die Planung alle Möglichkeiten berücksichtigen.96

Jenseits solcher Passagen blieb allerdings auch in Bayers Texten klar, dass mit dem Einsatz von Atomwaffen fest gerechnet wurde. Der Abwurf von Atombomben auf Städte könne dabei „Katastrophengebiete größten Ausmaßes“97 erzeugen und sich physisch wie psychisch verheerend auf Truppe und Zivilbevölkerung auswirken: Der Massenanfall von Verwundeten, Verbrannten und Verstrahlten, die kombiniert verletzt und verstrahlt sein können, erfordert sanitätstaktische Maßnahmen, die nicht nur das organisatorische Gebiet, sondern alle Fachgebiete der Medizin angehen. Man denke dabei nur an die Organisation der Behandlung Verbrannter, an die Bevorratung mit Verbandmitteln, Flüssigkeitsersatz, Blutkonserven und Blutplasma, […] an die Behandlung der Strahlenkranken, an die Entstrahlung und an das Verhalten von Sanitätseinrichtungen im radioaktiven Niederschlagsgebiet.98

Die hier imaginierte Katastrophe hat nichts von der dem Begriff heutzutage oft innewohnenden Beiläufigkeit an sich und verwies die Zeitgenossen letztlich auf die bekannte Erfahrung des totalen Krieges, der von Bayer und anderen Autoren aufgrund ihrer Rolle als Sanitätsoffiziere effizient zu eben jener reaktiven „totalen Verteidigung“ umgedeutet werden konnte, von der zur damaligen Zeit auch viele Zivilschutzexperten sprachen. Kurt Groeschel betonte in gleichem Zusammenhang stets die Bedeutung der zivil-militärischen Zusammenarbeit des Gesundheitswesens, da bei einer zu erwartenden, unüberschaubaren Vielzahl eintreffender Verletzter kaum effektiv zwischen Soldaten und Zivilisten getrennt werden könne, weshalb es im Ernstfall auf die potenziell verfügbare Gesamtbettenzahl, weniger jedoch auf den Krankenhaustyp ankäme.99 Bayer ging in seinen Texten noch weiter und 96 Alfred Bayer, Gedanken über die Sanitätstaktik in einem Verteidigungsfall (I), S. 161, in: Wehrmedizinische Mitteilungen 1962, S. 161–164 (jahrgangsübergreifende Seitenzahl). 97 Ebd., S. 162. 98 Alfred Bayer, Gedanken über die Sanitätstaktik in einem Verteidigungsfall (II), S. 180, in: Wehrmedizinische Mitteilungen 1962, S. 178–180 (jahrgangsübergreifende Seitenzahl). 99 Kurt Groeschel, Studie: Zur Organisation des territorialen Sanitätsdienstes. Bad Godesberg 1.11.1957. BArch-MA, BW 24/87, S. 12.

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beschwor ein dezentrales, allgegenwärtiges und „omnipotentes“100 Sanitätswesen, welches zu jeder Zeit und an jedem Ort umfassend reagieren könne. Selbst die Zusammenlegung und Zentralisierung sämtlicher militärischer und ziviler Sanitätseinrichtungen unter einer einheitlichen Führung wurde dabei gefordert, wenn auch nie verwirklicht.101 Der einzige Ausweg aus der zu unvorstellbarem Ausmaß angewachsenen Größe der Bedrohung schien bei Bayer mithin die weitreichende Aufhebung zivil-militärischer Zuständigkeitsbereiche zu sein. Die Bedrohung eines Atomkriegs betreffe jedenfalls – getreu der Idee des totalen Krieges – die gesamte Bevölkerung gleichermaßen, weshalb in Bezug auf das Gesundheitswesen keineswegs nur die Sanitätsoffiziere, sondern auch die gesamte zivile Ärzteschaft von der existenziellen Relevanz wehrmedizinischer Fragestellungen zu überzeugen sei.102 Als medizinisches Hauptproblem des antizipierten Kriegsbildes wurde – bei Bayer wie in praktisch allen anderen Quellen zum Thema – bereits ab Mitte der 1950er Jahre der sogenannte Massenanfall an Verwundeten und Erkrankten bestimmt. Es wurde also weniger die konkrete Form der atomwaffenspezifischen Verletzungen (Verbrennungen, Strahlenschäden usw.), sondern das horrende Missverhältnis zwischen der Anzahl anfallender Patienten und den zu ihrer Versorgung verfügbaren Ärzten als neuartige Herausforderung des Sanitätswesens betrachtet. Während Bayer in seinen Texten noch suchte, diese mittels der rhetorischen Beschwörung fachlicher „Meisterschaft“ zu zähmen,103 lesen sich zahlreiche Quellen des Sanitätsdienstes alles andere als optimistisch. Vielfach wurde angemahnt, dass der Krieg der Zukunft den Schrecken des Zweiten Weltkriegs weit übertreffen würde. Innerhalb des ersten Kriegsmonats sei mit dem Verlust von 30 Prozent der Bevölkerung zu rechnen (hiervon 50 % Tote, je 25 % Schwer- und Leichtverletzte),104 während man der kämpfenden Truppe – ebenfalls während des ersten Kriegsmonats – gar Ausfälle von 40 bis 60 Prozent prognostizierte (40 % Tote, 53 % Verwundete und 7 % Vermisste).105 Vor Falloutschäden wurde ebenso gewarnt wie vor Seuchen und stark eingeschränkten Transportmöglichkeiten. Zudem betonte man, dass der Sanitätsdienst dem Zerstörungswillen des Gegners ebenso ausgesetzt sei wie der Rest der Truppe, was zu einer gerne übergangenen, zusätzlichen Verknappung

100 Bayer, Welche Aufgaben ergeben sich aus der Wehrmedizinischen Tagung für die Wehrmedizinische Gesellschaft?, S. 7. 101 Ebd., S. 8. 102 Ebd., S. 10. 103 Bayer, Gedanken über die Sanitätstaktik in einem Verteidigungsfall (I), S. 161. 104 Anlage zu In San II 3, Az 24-01-24 vom 26.1.1966, S. 1. BArch-MA, BW 24/2621. 105 Sprechzettel für InspSan vom 8.2.1962, S. 3.

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an Behandlungskapazitäten führen müsse.106 Von den überlebenden Ärzten würde ein neuer Krieg geradezu übermenschliche Leistungen abverlangen. In einer Studie wurde davon ausgegangen, dass jeder von ihnen – Militär wie Zivilist – täglich 16 Stunden arbeiten müsse und dabei etwa 48 Schwerverletzte zu versorgen habe (pro Patient wurden 20 Minuten Behandlungsdauer angesetzt). Gleichwohl könnten etwa zwei Drittel der in den ersten zehn Tagen anfallenden 2.000.000 Verletzten aufgrund Kapazitätsmangels keinerlei Versorgung erwarten.107 Da solche Prognosen als untragbar angesehen wurden, wies das Sanitätswesen der Bundeswehr regelmäßig auf aus seiner Sicht notwendige Verbesserungen hin. Die Ausbildung und die Erfassung nichtärztlichen Pflegepersonals sei deutlich auszuweiten, ebenso wie die Anzahl und Ausstattung im Ernstfall verfügbarer Hilfskrankenhäuser.108 Unabdingbar seien zudem eine verbesserte Ausbildung der Ärzteschaft sowie deren Einübung von Verfahren zur Bewältigung der im Krieg befürchteten Massenanfälle. Diese würden vom Arzt eine zeitweise Abkehr von der Individualmedizin verlangen, da es im Ernstfall nicht mehr darum gehen könne, den Einzelnen möglichst perfekt, sondern möglichst viele ausreichend zu versorgen.109 Bezüglich der Frage, was dies konkret zu bedeuten habe, gingen die Ansichten teils deutlich auseinander. Alfred Bayer vertrat (auch) in diesem Zusammenhang eine extreme Position: Neben diesen die humanitäre Aufgabe des Sanitätswesens erschwerenden Einflüssen muß diese Aufgabe leider gelegentlich eine weitere Einschränkung dadurch erfahren, daß in Sondersituationen diejenigen Verwundeten und Kranken den Vorrang ärztlicher Versorgung und Behandlung erhalten müssen, deren Genesung und Wiederverwendung gewiß ist. Diese Forderung, die in einem Kriege zwangsläufig an jeden Sanitätsoffizier gestellt wird, führt zu ernster Auseinandersetzung zwischen Gewissen und Pflicht, bürdet dem Arzt eine hohe Verantwortung auf und erfordert eine harte Entscheidung.110

Hier wurde den ethischen Konflikten, denen ein Arzt im hoffnungslos unzureichenden 16-Stunden-Einsatz während eines Atomkriegs ständig ausgesetzt wäre, die Beschwörung eines „harten“, männlich konnotierten Berufsideals entgegengesetzt. Bemerkenswert war zudem die klar benannte Forderung, die „Wiederverwendbarkeit“ eines Patienten bzw. Soldaten gegebenenfalls zum – keineswegs medizinisch

106 Ebd., S. 8. Vgl. hierzu die bissige Bemerkung Rebentischs, dass noch 1979 „die Ausbildung der Offiziere darauf angelegt [sei], daß es im Krieg keine Verluste gebe…“, in: Meyer, Aktennotiz über ein Gespräch mit Generaloberstabsarzt Prof. Dr. Rebentisch am 29.1.1979. 107 Anlage zu In San II 3, Az 24-01-24 vom 26.1.1966, S. 1. 108 Ebd., S. 7. Hilfskrankenhäuser waren öffentliche Gebäude, welche im Ernstfall als behelfsmäßig ausgestattete Krankenhäuser genutzt worden wären (z. B. Schulen). 109 Sprechzettel für InspSan vom 8.2.1962, S. 6. 110 Bayer, Gedanken über die Sanitätstaktik in einem Verteidigungsfall (I), S. 163.

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indizierten – Auslesekriterium zu erheben. Von späteren Kritikern wurde gerade dieser Punkt immer wieder als ethisch verwerflich angeführt, wobei vor allem auf die Zentrale Dienstvorschrift 49/50 der NATO, Die dringliche Kriegschirurgie (ZDv 49/50), von 1958 hingewiesen wurde. Deren 1961 veröffentlichte deutsche Übersetzung dürfte in mancherlei Hinsicht Pate für Bayers Artikel und Vorträge gestanden haben. Nicht nur war dort gleich im ersten Kapitel von zu erwartenden „neuen Ernstfällen“111 die Rede, die sich im Abschnitt „Thermonukleare Kriegsführung“ dann klar als Atomschläge entpuppten, deren wesentlichstes medizinisches Erscheinungsbild der Massenanfall an Verwundeten sei.112 Darüber hinaus wurde auch hier die Bedeutung der potenziellen militärischen Wiederverwendbarkeit verletzter Soldaten als Behandlungskriterium unterstrichen. Grundlegendes Prinzip der Wehrmedizin etwa sei, „soviel [sic] Soldaten wie möglich zur Durchführung der militärischen Aufgaben einsatzbereit zu erhalten“,113 und an einer anderen Stelle wurde darauf hingewiesen, dass eine „Rettung möglichst vieler Leben“ im Ernstfall nur durch die Konzentration auf „die Behandlung möglichst vieler Verwundeter mit guter Überlebenschance und zu erwartender Dienstfähigkeit“114 gewährleistet werden könne. Zwar bekräftigte die ZDv 49/50, dass die Kriegschirurgie „kein grobes Abweichen von den anerkannten chirurgischen Grundsätzen“ kenne, „das Beste für möglichst viele Verwundete und Verletzte“115 anstrebe und „die Erhaltung des Lebens“116 das wichtigste Ziel der eigenen Bemühungen sei. Angesichts genannter, scheinbar konträrer Bemerkungen war die Dienstvorschrift hingegen von Anbeginn umstritten. Trotz ihres offiziellen Charakters setzten sich manche ihrer Grundsätze auch innerhalb des Sanitätswesens kaum durch; die vereinzelt vorgebrachte Idee einer bevorzugten Behandlung „wiederverwendbarer“ Soldaten etwa verlor sich im Lauf der Jahre vollkommen und war bereits zur Zeit der Erstveröffentlichung keinesfalls herrschende Meinung. Eine ebenfalls zu Beginn der 1960er Jahre verfasste Stoffsammlung der Führungsakademie der Bundeswehr betonte beispielsweise die unteilbare Hilfspflicht des Sanitätsdienstes in jeder Lage und in Bezug auf jeden Patienten.117 Explizit wurde die Einführung der potenziellen Wiederverwendbarkeit als Soldat oder Arbeiter als Behandlungskriterium 111 ZDv 49/50: Die dringliche Kriegschirurgie. Übersetzung des NATO-Handbook Emergency War Surgery (1958). November 1961, S. 13. 112 Ebd., S. 18–19. Der Massenanfall ist in der ZDv 49/50 auch darüber hinaus allgegenwärtig: So hat jedes einzelne der nach Verletzungsarten gegliederten Kapitel („Schußverletzungen“, „Verbrennungen“ usw.) einen eigenen Abschnitt zu Massenanfällen. 113 ZDv 49/50, S. 19. 114 Ebd., S. 171. 115 Ebd., S. 161 (beide). 116 Ebd., S. 163. 117 Sanitätsführung im atomaren Krieg: Stoffsammlung und Stichworte zu Vorträgen an der Führungsakademie der Bundeswehr. II. Teil: Grundsätze der Sanitätsführung, S. 4–5.

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abgelehnt; Gesundheit sei weder als Wirtschaftsgut noch Krankheit „als Mangel an Nutzeffekt“ zu interpretieren und die Bundeswehr keineswegs nur nach ihrem Kampfwert, sondern als an sich schützenswerter Teil der Bevölkerung zu bewerten.118 Das „Heldentum“ des Sanitätsoffiziers wurde auch hier betont – er müsse z. B. „jederzeit bereit sein, im Kampfe auszuharren“ und die ihm anvertrauten Verwundeten notfalls in die Gefangenschaft begleiten –, jedoch sei es eben nicht der Wille zum Sieg, sondern seine auch in inhumanen Zeiten der Humanität verpflichtete Haltung, die ihn hierzu motivierte. Wie bei Alfred Bayer oder auch in der ZDv 49/50 wurde geschildert, dass im Falle eines Atomkriegs notgedrungen von der Individual- zur Massenmedizin gewechselt werden müsse; als Aufgabe des Sanitätsdienstes wurde jedoch ausschließlich das Überleben möglichst vieler ausgegeben: Hier [beim Massenanfall von Verwundeten] zwingt den Arzt das krasse Mißverhältnis zwischen der Zahl der Hilfesuchenden und den verfügbaren Hilfsmitteln, alle Kräfte auf diejenigen Verwundeten zu konzentrieren, die unter geringem Aufwand an Zeit und Material mit Sicherheit am Leben erhalten werden können. Der Erfolg wird später an der Zahl der Überlebenden, nicht an der Zahl einzelner kunstvoll ausgeführter Operationen gemessen. Der Auftrag des Arztes, das Leben des Einzelnen zu erhalten, wandelt sich hier in den Auftrag um, möglichst vielen zum Überleben zu verhelfen.119

Es kann an dieser Stelle noch nicht genauer auf chronologisch spätere Kontroversen zu diesem Themenbereich eingegangen werden (vgl. hierzu insbesondere Kapitel 3.1). Es sei zwischenzeitlich jedoch festgehalten, dass in der überwiegenden Mehrzahl der entsprechenden Quellen des Sanitätswesens der Bundeswehr auch beim angenommenen Kriegsbild eines begrenzten Atomkriegs den Leitwerten der neuen Arztsoldaten entsprechend nicht auf militärische, sondern auf ärztliche Prinzipien verwiesen wurde. In Anbetracht der keineswegs verharmlosenden Grundannahme, dass zwei Drittel der anfallenden Patienten vermutlich keine Behandlung erhalten könnten, schien den führenden Sanitätsoffizieren der Übergang zu einer rein utilitaristisch orientierten Medizin eine humanitär indizierte Notwendigkeit zu sein. Jegliches Beharren auf im Frieden liebgewonnenen Prinzipien der Individualmedizin schien angesichts des angenommenen Kriegsbildes absurd. Die aufgrund der vernichtenden Waffenwirkung noch verbliebenen Möglichkeiten würden derart simpel und improvisiert ausfallen, dass an eine der guten wissenschaftlichen Praxis

118 Ebd., S. 5. 119 Ebd., S. 6.

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genügende Tätigkeit im Ernstfall kaum zu denken sei.120 Auch wenn es überflüssig scheinen mag, es überhaupt zu erwähnen: Trotz der zahlreichen Möglichkeiten, die der imaginierte Atomkrieg zur habituellen Selbstvergewisserung bot, wird doch in der überwiegenden Mehrheit des Materials deutlich, dass führende Sanitätsoffiziere das kalkulierte Risiko einer atomaren Eskalation im Rahmen der Abschreckungspolitik zwar in Kauf nehmen mochten, diesen jedoch keineswegs herbeisehnten. Neben nüchternen Analysen der limitierten medizinischen Möglichkeiten, Zweckoptimismus („Der ärztliche Beruf läßt keinen Pessimismus zu, er muß sich auch schwer lösbaren Forderungen stellen!“)121 sowie der Romantisierung einer sich in der Apokalypse beweisenden Meisterschaft finden sich somit auch nachdenkliche Passagen. So beendete etwa Emil Karl Frey, selbst angesehener Chirurgieprofessor, Oberstarzt a. D. und ehemaliger Beratender Chirurg der Wehrmacht,122 einen Artikel zur „wehrmedizinischen Aufgabe des Chirurgen“ folgendermaßen: Es kann wohl kein Zweifel darüber sein, daß jeder, der die fürchterlichen Folgen eines Masseneinsatzes dieser neuen Vernichtungsmittel überschaut, sich klar darüber ist, daß er unter keinen Umständen geschehen darf. Und doch führen politische Spannungen bis hart an den Rand solchen Unheils. Da bleibt die brennende Frage: Wie kann es vermieden werden? […] Könnten nicht, so fragen wir uns wohl manchmal, wenn die Mächtigen der Welt gezwungen sind, sich soviel mit den Fragen der Vernichtung zu befassen, die Denker und Wissenschaftler des Erdkreises sich vereinen, um ein Gegengewicht zu bilden, um eine Verständigung anzubahnen, auf die es letzten Endes doch ankommt, wenn die Welt weiterhin Bestand haben soll? Es fällt offenbar schwer, von seiner Weltanschauung etwas aufzugeben und das Weltbild auch einmal von der anderen Seite anzusehen. […] Wir sind überzeugt, daß eine solche Verständigung möglich ist und auch einmal erreicht werden wird. Bis dahin aber haben wir noch eine höchst gefahrvolle Zone zu durchschreiten, und das zwingt uns, uns auf alle Eventualitäten, so gut es nur immer geht, vorzubereiten. Umsonst wird auch diese Arbeit nicht sein, auch sie mag zu Ergebnissen führen, die der Menschheit dienlich sind.123

120 Vgl. Bayer, Welche Aufgaben ergeben sich aus der Wehrmedizinischen Tagung für die Wehrmedizinische Gesellschaft?, S. 5. 121 J. Schunk, Zum Geleit: Zugleich ein Beitrag zur Verabschiedung der Zivilschutzgesetzes durch den Bundestag, S. 2, in: Katastrophenmedizin (Beilage der Wehrmedizin) 1/1963, S. 1–2. 122 Diese und weitere biographische Informationen zum 1888 geborenen Frey finden sich in: Behrendt, Die Kriegschirurgie von 1939–1945 aus Sicht der Beratenden Chirurgen, S. 196, 215–216. Frey ist eines der drei Fallbeispiele, aus deren Perspektive Behrendt die Kriegschirurgie des Zweiten Weltkriegs charakterisiert. Obschon 1939 in die NSDAP eingetreten, sei diesem vorher eine ablehnende Einstellung zum NS-Staat nachgesagt und ein früherer Parteieintritt aufgrund seines Einsatzes für jüdische Kollegen an der Medizinischen Akademie verweigert worden. 123 Emil Karl Frey, Die wehrmedizinische Aufgabe des Chirurgen, S. 153, in: Wehrmedizinische Mitteilungen 1962, S. 148–153 (jahrgangsübergreifende Seitenzahl).

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Auch wer dem Pathos solcher, vielleicht allzu sehr auf Vernunft und Tugendhaftigkeit der Wissenschaft vertrauender Zeilen skeptisch gegenüberstehen mag, muss zugeben: als Kriegstreiberei wird man sie kaum bezeichnen können.124 Gedanklich interessant wirkt zudem Freys Selbstverordnung als pragmatischer „Denker und Wissenschaftler“ in Opposition der zum Unheil strebenden „Mächtigen“. In dem Versuch, sich selbst in vorsichtiger Distanz zur politischen Führung zu positionieren, manifestiert sich hier einmal mehr der Wunsch der Sanitätsoffiziere, nach Kriegs- und Vorkriegszeit wieder stärker als „freie“ Ärzte anstatt der Führung unterworfene Soldaten wahrgenommen zu werden – ob ethisch, fachlich, standesoder gar vergangenheitspolitisch motiviert (vgl. hierzu auch die Charakterisierung des Arztsoldaten als „unbequemen Mahner“ bei Sondermann und Groeschel in Kapitel 2.1.1). Die meisten Aspekte des hier dargelegten Kriegsbildes sowie der daraus resultierenden medizinisch-logistischen Hauptprobleme leiteten das Sanitätswesen der Bundeswehr über viele Jahre hinweg zumindest im Grundsatz unverändert.125 Wie bereits erwähnt imaginierten führende Sanitätsoffiziere der Bundeswehr das Katastrophische in aller Regel vom worst case des Krieges hergehend. Andere, in Friedenszeiten vorstellbare Szenarien – etwa die oftmals angeführte Hamburger Sturmflut 1962 oder auch das zerstörerische Erdbeben im marokkanischen Agadir 1960 – dienten zwar auch dem Sanitätswesen der Bundeswehr als Bewährungsproben und wurden als Prüfsteine eingeübter Fähigkeiten begriffen;126 das genuine Ziel der eigenen Bemühungen blieb jedoch stets noch schlimmer, noch vernichtender und drohte gelegentlich, sich einer pragmatischen Behandlung gänzlich

124 Im Gegenteil erinnert Freys Aussage an bereits während der 1940er Jahre kursierende Vorstellungen einer vernunftbasierten, wissenschaftsgeleiteten Weltregierung, vgl. Paul Boyer, By the Bomb’s Early Light: American Thought and Culture at the Dawn of the Atomic Age. New York 1994 (1. Auflage 1985), S. 27–46. 125 Ein im Juni 1977 gehaltener Vortrag Ernst Rebentischs, damals bereits Inspekteur des Sanitätswesens, wich hinsichtlich des Kriegsbildes wenig vom Inhalt vergleichbarer Texte der 1960er Jahre ab. Rebentisch ging von „kurzer Spannungszeit“, „kurzer Kriegsdauer“ und einem „intensiven Schlagabtausch“ (S. 17) aus, betonte allerdings stärker die Bedeutung des Prinzips der Vorneverteidigung („möglichst grenznah im Osten“, S. 8), siehe: Ernst Rebentisch, Der Sanitätsdienst der Bundeswehr im Hinblick auf die zivil-militärische Zusammenarbeit. Vortrag Inspekteur San vor der Gesellschaft für Wehrkunde, Sektion Bonn, 1.2.1977. BArch-MA, BW 24/7790. Als später verfasste, ebenfalls nur graduell angepasste Darlegung zum Kriegsbild vgl. Ernst Rebentisch, Einführung, in: Ernst Rebentisch & Heinrich Dinkloh (Hrsg.), Wehrmedizin: Ein kurzes Handbuch mit Beiträgen zur Katastrophenmedizin. München (u. a.) 1980, S. 1–7. Zum Wandel des Kriegsbildes der Bundeswehr während des Kalten Krieges vgl. insgesamt Reichenberger, Der gedachte Krieg. 126 Vgl. analog hierzu die Inszenierung der Hamburger Sturmflut als atomschlagähnlicher Praxislauf für den Ernstfall durch Zivilschutzexperten des BzB, des BLSV sowie des THW, siehe: Diebel, Atomkrieg und andere Katastrophen, S. 93–99, Molitor, Mit der Bombe überleben, S. 62–71 sowie Molitor, Lehren für den Verteidigungsfall.

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zu entziehen. Umso interessanter erscheint es nunmehr, kurz auf das in Übungen und Planspielen verwendete Kriegsbild einzugehen, da dort naturgemäß die Praktikabilität der Annahmen im Vordergrund stehen musste. Es gilt herauszufinden, inwiefern die imaginierte Praxis des befürchteten dritten Weltkriegs mit der theoretischen Imagination der Sanitätsoffiziere übereinstimmte und welche Handlungsmöglichkeiten sich das Sanitätswesen in einem solchen gespielten Krieg ausrechnete. Die Praxis der militärischen Übung sowie die hierdurch generierten, teilweise leider nur bruchstückhaft überlieferten und nicht immer freigegebenen Quellen (Vorüberlegungen, „Kriegstagebücher“ und Eingaben, Text- und Dialogblätter, Erfahrungsberichte und Auswertungen) kann gerade für die historische Erforschung des Kalten Krieges als zentral erachtet werden. Bereits Mary Kaldor betonte, dass das Imaginäre des Kalten Krieges keineswegs nur im Theoretischen verbleibe, sondern die Realität entscheidend prägen könne (vgl. Kapitel 1.4). Zwischen Imagination und Realität aber befindet sich die Simulation, in der Vorgestelltes durch performative Akte zu einer Scheinrealität ergänzt wird.127 Diese verfügt wiederum über ihre eigene Künstlichkeit, da ein erwartetes, (über-) komplexes Kriegsgeschehen nach bestimmten Grundannahmen vereinfacht wird. Unterschieden werden kann dabei zunächst zwischen klassischen Planspielen und praxisorientierten Manövern. Im Gegensatz zu Letzteren verzichtet das Planspiel auf tatsächliche Truppenbewegungen o.Ä., weshalb es schlussendlich ebenso im Theoretischen verbleibt wie ein entsprechender Fachartikel. Der entscheidende Unterschied bzw. das eigentlich Simulierende ergibt sich aus der vorhandenen Interaktivität sowie einem zumindest tendenziell offenen Verlauf. Grundsätzlich gestaltet sich ein Planspiel folgendermaßen: Eine unabhängige Instanz fungiert als Spielleiter und übernimmt sowohl die Rolle des Gegenspielers (im vorliegenden Fall also des Warschauer Pakts) wie auch sonstiger externer Faktoren (Wetterverhältnisse, Moral von Truppe und Zivilbevölkerung usw.). Basierend auf von der Spielleitung bereitgestellten und laufend aktualisierten Informationen müssen nun die spielenden Personen und Institutionen Entscheidungen treffen, deren Effekt wiederum beurteilt und im weiteren Spielverlauf berücksichtigt wird. Planspiele werden nicht nur in unterschiedlichen Bereichen verwendet, sondern lassen sich auch hinsichtlich der von ihrer Durchführung erhofften Funktion differenzieren. Der Soziologe Stefan Kaufmann unterscheidet beispielsweise (Militär-)Planspiele, die zur Ausbildung von Offizieren verwendet werden, sowie Planspiele, die dem Testen und der Entwicklung militärisch-operativer Pläne dienen sollen als taktische,

127 Vgl. in Anlehnung an das Simulationskonzept Jean Baudrillards: Sibylle Marti, Den modernen Krieg simulieren: Imagination und Praxis totaler Landesverteidigung in der Schweiz, S. 245, in: Eugster & Marti, Das Imaginäre des Kalten Krieges, S. 243–268.

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operative und Forschungsspiele.128 Das Sanitätswesen der Bundeswehr übte im Lauf der Jahrzehnte sämtliche, von Kaufmann angeführte Varianten; angesichts des Themas dieser Arbeit werden die vorgenommenen Beobachtungen hingegen selektiv bleiben müssen und der Komplexität des Ausgangsmaterials somit nur bedingt Rechnung tragen.129 Im Folgenden werden zunächst drei Planspiele der 1960er und 1970er Jahre untersucht (einige weitere folgen in Kapitel 3.3), wobei ausschließlich das Sanitätswesen der Bundeswehr in seinem Umgang mit dem Katastrophischen in den Blick genommen wird. Im Fokus der Überlegungen steht dabei nach wie vor die Frage des der jeweiligen Übung zugrunde liegenden, oft jedoch nicht vom Sanitätswesen selbst bestimmten Kriegsbildes sowie die sich hieraus aus Sicht der Sanitätsführung ergebenden Schlussfolgerungen. Wohl eines der bekanntesten Planspiele überhaupt war die (operative) NATOÜbung FALLEX 62.130 Dabei handelte es sich um jene großangelegte, zivilmilitärische Stabsrahmenübung, die aufgrund der hiermit zusammenhängenden Berichterstattung zum Auslöser der sogenannten Spiegel-Affäre avancierte. Die vom Supreme Allied Commander Europe (SACEUR) der NATO ausgehende Vorbereitung und Durchführung der Übung131 verlief wohl nicht nur aufgrund ihrer internationalen Anlage, sondern auch wegen der breit gestreuten Einbeziehung zahlreicher Ministerien, Landesregierungen, nachgeordneter Behörden, Hilfsorganisationen und dem Militär keineswegs reibungslos.132 Informationen hierzu liefert etwa ein seinerzeit als geheim eingestufter Erfahrungsbericht des BMI vom 13.2.1963, der die verspätete Ausgabe benötigter Übungsunterlagen kritisierte und eine bessere, straffere Organisation und Koordination anmahnte.133

128 Stefan Kaufmann, Kriegsspiel: Den Krieg modellieren und simulieren, S. 121–122, in: Stefan Poser, Joseph Hoppe & Bernd Lücke (Hrsg.), Spiel mit Technik: Katalog zur Ausstellung im Deutschen Technikmuseum Berlin. Berlin 2006, S. 120–126. 129 Zum Planspiel als performative Praxis existiert bislang nur wenig Literatur, obwohl das Thema vielfältige Anschlussmöglichkeiten bietet, die vom Konzept der Planbarkeit als solches bis hin zur Genese des Videospiels reichen. 130 An der Übung wirkten keineswegs nur militärische Stellen mit, sondern auch zahlreiche zivile Behörden, Hilfsorganisationen sowie natürlich Politiker des Bundestages bzw. deren Vertretungen. Auch wenn die Übung in vielen Überblicksdarstellungen erwähnt wird, fällt der eigentliche Forschungsstand hierzu nach wie vor ernüchternd aus, was auch an m.E. überzogenen Geheimhaltungsbeschränkungen liegen mag. Meine Informationen stützen sich auf Quellen des Sanitätswesens der Bundeswehr sowie des DRK. Zu FALLEX 62 vgl. Wolfram Dorn, So heiß war der Kalte Krieg. Köln 2002. 131 Erfahrungsbericht über die NATO-Herbstübung „FALLEX 62“ vom 6.–27.9.1962; Anlage zu BMI VII B 5 (Gekürzte Fassung), S. 2. DRK, 4274. 132 Allein in der Bundesrepublik nahmen über 2500 Zivilisten an der Übung teil, siehe: Erfahrungsbericht über die NATO-Herbstübung „FALLEX 62“ (Gekürzte Fassung), S. 3. 133 Erfahrungsbericht über die NATO-Herbstübung „FALLEX 62“ vom 6.–27.9.1962; Anlage zu BMI VII B 5 (Vollständige Fassung), S. 84. DRK, 4274.

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Zudem insistiere das Militär aufgrund anderer Übungsprioritäten auf möglichst vielen simulierten Kriegstagen (die sogenannte Hauptübung), während für die zivile Seite die dem Krieg vorgelagerte Spannungs- und Alarmierungszeit (d. h. die Vorübung) relevanter sei.134 Der Bericht bezog detailliert und kritisch Stellung zum gewählten Kriegsbild der Übung. SACEUR ging von einer längeren Spannungszeit sowie anschließenden, sich überstürzenden Ereignissen aus. Hierzu zählte auch der „Abwurf von ca. 300 A-Bomben zwischen 5 und 200 KT (davon 60 Bodendetonationen)135 innerhalb 6 Tagen auf die fast ungeschützte Bevölkerung des Bundesgebietes“, dem etwa die Hälfte der Bevölkerung durch Tod oder Verwundung zum Opfer gefallen wäre.136 FALLEX 62 habe damit, so der BMI-Bericht, einen Kriegsverlauf zum Ausgangspunkt gewählt, der in kürzester Zeit zum Chaos führen müsse. Obwohl zugestanden wurde, dass ein solches Kriegsbild durchaus eintreten könne, sei „ein solches Verfahren aber bei einer Übung unzweckmäßig und psychologisch sogar gefährlich“, da es die Bereitschaft zur Verteidigung eher lähme als fördere.137 Dennoch wurde die Übung keineswegs als völliger Misserfolg gewertet, da sie eindrücklich auf die Notwendigkeit seit längerem angemahnter Maßnahmen (Notstandsgesetze, Verwaltungsplanung und Schutzraumbau) verwies.138 Bereits der im Zentrum der Spiegel-Affäre stehende, am 10. Oktober 1962 veröffentlichte Artikel „Bedingt abwehrbereit“ wusste in Bezug auf FALLEX 62 Ernüchterndes über den Einsatz des Sanitätswesens im simulierten Atomkrieg zu berichten: „Das Sanitätswesen brach als erstes zusam-

134 Erfahrungsbericht über die NATO-Herbstübung „FALLEX 62“ (Gekürzte Fassung), S. 2. 135 Die Bodendetonationen wurden eigens ausgewiesen, da bei ihnen mehr Partikel aufgewirbelt würden als bei einer Detonation in der Luft und daher mit radioaktivem fallout zu rechnen sei. Die Angabe „Kilotonnen“ (KT) dient als Größeneinheit von Atomwaffen, indem sie die Explosionsstärke mit dem geschätzten Äquivalent an konventionellem TNT-Sprengstoff vergleicht, welches zum Erreichen derselben Energiefreisetzung erforderlich wäre. Die über Hiroshima abgeworfene Atombombe hatte eine Stärke von 10–15 Kilotonnen; eine 5-KT-Atombombe war demensprechend kleiner bzw. weniger wirkmächtig, eine 200-KT-Bombe um ein Vielfaches größer. Anzumerken ist hingegen, dass aufgrund der unterschiedlichen Arten an freigesetzter Energie eine Verdoppelung des TNT-Äquivalents keine Verdoppelung der realen Zerstörungskraft bedeutet. Sogenannte taktische, zur Truppenunterstützung gedachte Atomwaffen verfügten während des Kalten Krieges über ca. 10–20 KT Sprengkraft, während die zur Abschreckung oder Vernichtung des Gegners vorgesehenen Wasserstoffbomben es auf eine Energieleistung von über 50 Megatonnen (MT) TNT-Äquivalent bringen konnten. Für eine erschöpfende Beschreibung der Wirkungsweise von Atomwaffen vgl. insbesondere den vom US Department of Defense herausgegebenen Klassiker: Samuel Glasstone & Philip J. Dolan, The Effects of Nuclear Weapons. Washington D.C. 1977 (1. Auflage 1950). 136 Erfahrungsbericht über die NATO-Herbstübung „FALLEX 62“ (Gekürzte Fassung), S. 10. 137 Erfahrungsbericht über die NATO-Herbstübung „FALLEX 62“ (Vollständige Fassung), S. 86. 138 Ebd., S. 87.

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men. Es fehlte an Ärzten, an Hilfslazaretten und an Medikamenten.“139 Kaum optimistischer urteilte das vom damaligen Oberstabsarzt Karl-Wilhelm Wedel140 geführte Übungs-Kriegstagebuch des Sanitätsführungsstabs (SanFü). Nachdem knapp geschildert wurde, dass das Sanitätswesen während der Spannungszeit Schiffe zum Krankentransport beschlagnahmte, Impfstoffe aus Frankreich importierte und sich um die Einberufung von Medizinstudenten bemühte,141 schienen die während des simulierten Kriegsverlaufs angenommenen Ereignisse wenig Freiraum zu planvollen Reaktionen gelassen zu haben. Bereits einen Tag nach dem ersten Atomangriff auf den Fliegerhorst Büchel notierte Wedel insgesamt 89 Atomschläge im Bundesgebiet.142 Wiederum einen Tag später berichtete er über eine ganz dem Idealbild des Arztsoldaten als „Mahner“ (vgl. Kapitel 2.1.1) folgende Lagebesprechung der InSan: „I 3 hält Lage für irreal, Optimistische Ausfallschätzungen! Die psycholog. Lage der schwer getroffenen Bevölkerung wird sicher unterschätzt!“143 Passend zur verbreiteten, theoretischen Kriegsbildannahme eines intensiv geführten, aber kurzen Atomkriegs ließen auch bei FALLEX 62 die Angriffe bereits am vierten Tag nach, wobei nun zusätzlich vermerkt wurde, dass auch weitere europäische Staaten schwer getroffen seien.144 Nach ersten Seuchenmeldungen145 lautete der letzte Eintrag des Kriegstagebuchs am sechsten Tag: „Chef des Stabes erhält Mitteilung, daß bei Anhalten der bisherigen Verluste der SanDienst nur noch wenige Tage zur Versorgung in der Lage sei, da dann alle Improvisationen ausgeschöpft seien.“146 In einer Zusammenfassung wichtiger Meldungen wurde mehrfach auf überfüllte Einrichtungen und schwere Verluste des Sanitätspersonals hingewiesen,147 auf Panikstimmung der Bevölkerung, die starke Beanspruchung des Sanitätsdienstes der Bundeswehr durch Zivilisten148 sowie auf „Psycholog. Schäden bei Truppe durch A-Einschläge, zumal jegliches

139 Bedingt abwehrbereit, in: Der Spiegel 41/1962, S. 2. Online abrufbar unter: http://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/spiegel/pdf/25673830 (aufgerufen am 26.1.2019). 140 Der 1925 geborene Chirurg und spätere Admiralarzt Wedel fungierte zeitweise als Chefredakteur der Wehrmedizinischen Monatsschrift sowie als Präsident der VdSO, siehe: Geburtstage – Dr. med. Karl-Wilhelm Wedel, in: Deutsches Ärzteblatt 22/1995, S. 1617. Wiederholt hatte er sich für eine intensivierte zivil-militärische Zusammenarbeit eingesetzt. 141 Üb-Kriegstagebuch Nr. 1 – KNDS – SAN FÜ, S. 4–5. BArch-MA, BW 24/173. 142 Ebd., S. 7 und 9. 143 Ebd., S. 11. 144 Ebd., S. 13. 145 Ebd., S. 15. 146 Ebd., S. 17. 147 KNDS/SanFü II 2, FALLEX 62, Zusammenfassung von wichtigen Meldungen, S. 46. BArch-MA, BW 24/173. 148 Ebd., S. 47.

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Fehlen ärztl. Hilfeleistung durch Truppe erkennbar“.149 An anderer Stelle las es sich gerade wegen des typisch knappen, militärischen Berichtsstils bedrückend: LSO DBv Nord meldet 231700 Z sep., daß durch Ausfall von ResLazaretten und ziv. Krankenanstalten ein Stau von Massen unversorgter Verwundeter und Verstrahlter vor allen SanEinrichtungen besteht. Verbliebene ResLazarette und ziv. Krankenanstalten restlos überfüllt. Paniksituationen. Fehlen von weiblichem SanPersonal. Wirksame Hilfe nicht möglich, da keine beweglichen SanTruppen.150

Derartige Beschreibungen erinnern stark an später populär werdende, künstlerische Darstellungen des Atomkriegs als menschgemachten Weltuntergang, der selbst den engagiertesten und besten Arzt ganz im Sinne des zu Beginn dieser Arbeit erwähnten Films The Day After schließlich zum physischen und psychischen Zusammenbruch treiben musste. In Bezug auf die sanitätsdienstliche Einschätzung des FALLEX 62 zugrunde liegenden Kriegsbilds wird klar: Der von SACEUR angenommene kurze, dafür jedoch vernichtende Atomkrieg verbot jegliche optimistische Einschätzung der eigenen Möglichkeiten und beschwor stattdessen die Zerstörung Europas. Führende Offiziere des Sanitätswesens forderten als Folge der Übung zwar die erweiterte Anschaffung und verbesserte Verteilung von Medikamenten und medizinischem Gerät (vor allem Narkotika, Blutersatzmittel und Verbandsmaterial)151 ebenso wie die verbesserte Ausbildung der Ärzteschaft und eine verstärkte Heranziehung zivilen Hilfspersonals,152 mussten schlussendlich jedoch feststellen, dass man keinesfalls imstande sei, „Verluste, wie sie dem derzeitigen Kriegsbild entsprechen, auch nur annähernd ausreichend zu versorgen“.153 Das FALLEX 62 zugrunde liegende, noch klar den Prämissen der Massive-retaliation-Strategie der NATO verhaftete Kriegsbild schien demnach noch düsterer auszufallen als dasjenige der führenden Sanitätsoffiziere der Bundeswehr. Trotz mancher von NATO-Seite graduell veränderter Annahmen beharrte der Sanitätsdienst der Bundeswehr insgesamt auf seiner kritischen Einschätzung der eigenen Möglichkeiten, zumindest im ABC-Krieg. Als Beispiel hierfür mag das WINTEX-SILVER-Planspiel des Jahres 1975 dienen. WINTEX (Winter Exercise, Winterübung) war der alle zwei Jahre durchgeführte Nachfolger der Herbstübung

149 Ebd., S. 48. 150 Ebd., S. 54. 151 KNDS/SanFü, FALLEX 62, Kurzfassung der Sanitäts- und Gesundheitslage Nr. 8. BArch-MA, BW 24/173. 152 KNDS/SanFü, FALLEX 62, Sanitäts- und Gesundheitslage Nr. 8 (Beitrag zur Lagebesprechung bei Chef des Stabes KNDS), S. 162. BArch-MA, BW 24/173. 153 KNDS/SanFü, FALLEX 62, Sanitäts- und Gesundheitslage Nr. 2 (Beitrag zur Lagebesprechung bei Chef des Stabes KNDS), S. 192. BArch-MA, BW 24/173.

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(Fall Exercise) FALLEX und sollte insbesondere der praxisnahen Erprobung der aktualisierten NATO-Strategie flexible response dienen. Während massive retaliation selbst bei kleineren Provokationen des Gegners stets den massiven, nuklearen Gegenschlag angedroht hatte, sah flexible response vor, dass auf eine Vielzahl vorstellbarer Drohungen „angemessen“ reagiert werden müsse. Das WINTEX 75 zugrunde liegende Kriegsbild ging, ähnlich wie dasjenige von FALLEX 62, von einer längeren, dem Kriegsausbruch vorangehenden Spannungsphase aus, während der die Sowjetunion nicht nur in mehreren Staaten des Ostblocks Militärmanöver durchführte, sondern auch auf Maßnahmen der psychologischen Kriegsführung (u. a. Propagandaaktionen moskaufreundlicher „Friedensgruppen“) zurückgriff.154 Die mir vorliegenden Unterlagen waren hinsichtlich des Kriegsverlaufs lückenhaft; klar ist hingegen, dass konventionelle Angriffe ebenso gespielt wurden wie Atomschläge. Eine aus Sicht des westdeutschen Sanitätswesens besondere Herausforderung der Übung war zudem der angenommene massive Chemiewaffeneinsatz unter Verwendung des Nervenkampfstoffes Sarin. Passend zum Differenzierungsgebot von flexible response zog der Sanitätsdienst der Bundeswehr aus WINTEX 75 je nach imaginiertem Szenario unterschiedliche Schlussfolgerungen bezüglich der eigenen Leistungsfähigkeit. In einem vom späteren Inspekteur des Sanitätswesens Hansjoachim Linde155 unterzeichneten Kurzbericht wurde die eigene Leistung verhalten positiver bewertet als noch bei FALLEX 62. Die Versorgung wurde trotz mancher Engpässe als ausreichend bezeichnet156 und die Kooperation der nationalen Kommandobehörden sowie die zivil-militärische Zusammenarbeit lobend hervorgehoben.157 Die Übung habe „wertvolle Hinweise zur Überprüfung der Planungen auf sanitätsdienstlichem Gebiet“ geliefert. Deutlich kritischer hingegen wurden die eigenen Möglichkeiten bei atomaren und chemischen Flächenangriffen

154 InSan II 1/EXERCISE WINTEX SILVER, Betr.: Lage Stand 260700 Zfeb 75 vom 26.2.1975. BArchMA, BW 24/5432. 155 Der 1926 geborene Linde diente während des Zweiten Weltkriegs zunächst als Flak-Helfer und später als Offiziersanwärter der Luftwaffe. Nach dem Medizinstudium und ersten ärztlichen Tätigkeiten als chirurgischer Assistent trat er 1957 der Bundeswehr bei, wo er es nach mehreren Stationen 1976 zum Kommandeur der Sanitätsakademie, 1980 zum Chef des Sanitätsamtes sowie 1982 schließlich zum Generaloberstabsarzt und Inspekteur des Sanitätswesens brachte. Die Laudatio zu seiner Auszeichnung mit dem Verdienstkreuz I. Klasse, der diese Informationen entnommen wurden, betont darüber hinaus Lindes „besonderes Augenmerk auf die zivil-militärische Zusammenarbeit“ sowie seine „Förderung der Zusammenarbeit mit den zivilen Ärzteorganisationen“. Auch Lindes Biographie enthält demnach klare Bezugspunkte zum Ideal des Arztsoldaten. Siehe: W. Scheunert, Auszeichnung, in: Wehrmedizinische Monatsschrift 2/1983, S. 88. 156 Oberstarzt Linde (Territorialkommando Süd/Abteilung Sanitäts- und Gesundheitswesen), Kurzbericht (FIRST IMPRESSION REPORT) über die Übung WINTEX 75 vom 17.3.1975, S. 2. BArch-MA, BW 24/5432. 157 Ebd., S. 4.

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eingeschätzt; Reservelazarette und zivile Krankenhäuser müssten beim Versuch ihrer Bewältigung völlig versagen158 und der Sanitätsdienst insgesamt könne – so hieß es in einem anderen Dokument – bereits einen einzigen Tag nach den schweren C-Angriffen seinen Auftrag „nur noch eingeschränkt erfüllen“.159 Letztlich ist festzustellen, dass das bei WINTEX 75 imaginierte Kriegsbild im Vergleich zu FALLEX 62 gedrosselt wirkte und weniger vom Eskalations- und Vernichtungswillen des Gegners auszugehen schien. Das sanitätsdienstliche Urteil fiel hingegen nach wie vor zwiespältig aus: Man sah sich „insgesamt den Anforderungen gewachsen, solange keine Massenvernichtungsmittel eingesetzt wurden“.160 Deren hypothetischer Einsatz hingegen – man erinnere sich daran, dass zahlreiche Sanitätsoffiziere im Falle eines neuen Krieges fest damit rechneten – offenbarte nach wie vor einen Sanitätsdienst, der seinem Auftrag nur wenige Tage gerecht werden konnte. Der große Krieg, der von WINTEX 75 ebenso wie FALLEX 62 angenommen wurde, schien aufgrund der beschränkten Handlungsmöglichkeiten zu Fortbildungszwecken eher schlecht geeignet zu sein. Ausgehend von dieser Überlegung soll als letztes Fallbeispiel nun eine kleinere taktische Übung geschildert werden: das im Dezember 1965 durchgeführte imaginierende Planspiel SCHWALBE, eine an der Sanitätsakademie konzipierte und durchgeführte Übung für angehende Offiziere des Sanitätsdienstes der Luftwaffe. Während das Sanitätswesen der Bundeswehr bei den NATO-Planspielen nur Teilnehmer war, konnten führende Sanitätsoffiziere bei eigenen Übungen Kriegsbild und Kriegsverlauf selbst bestimmen. Aufgrund des Einsatzes von SCHWALBE im Rahmen der Ausbildung unterschied sich die Anlage des Planspiels fundamental von FALLEX und WINTEX und nahm in weiten Teilen eher die Form eines multimedialen Schauspiels an, in dem in idealisierten, größtenteils in Form von Hörspielaufnahmen verlesenen Dialogen samt hierzu passender Folien gezielt spezifische Problemstellungen und Handlungsanleitungen aufgezeigt wurden. Zusätzlich durchbrochen wurde diese „Planspiel-Performance“ durch knappe Lehrvorträge einzelner Experten.161 Zu SCHWALBE lagen mir zahlreiche Vortragsblätter sowie insbesondere die verwendeten, auch den gespielten Kriegsverlauf beschreibenden Dialoge vor, leider aber keinerlei Eingaben der unterrichteten Offiziersanwärter. Da die Organisatoren von SCHWALBE diese selbst abwechselnd

158 Ebd., S. 2. 159 WINTEX SILVER/InSan II 1, Lagebeitrag Sanitäts- und Gesundheitswesen vom 13.3.1975. BArchMA, BW 24/5432. 160 InSan II 1, Erfahrungsbericht WINTEX/Kurzbericht InSan – undatierter Entwurf, S. 2. BArch-MA, BW 24/5432. 161 Beispielsweise referierte der damalige Oberfeldarzt Ernst Rebentisch zehn Minuten lang über den Lufttransport Verwundeter, siehe: OFArzt Dr. Rebentisch, Textblatt der Übung SCHWALBE, Die Lenkung des Lufttransportes von Verwundeten. BArch BW8-IV/15.

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als Planspiel und als Übung bezeichneten,162 muss jedenfalls von der Existenz nicht protokollierter interaktiver Elemente ausgegangen werden; im Gegensatz zu den NATO-Übungen wurde jedoch frontalunterrichtartigen Passagen großer Raum zugestanden. Das SCHWALBE zugrunde liegende Kriegsbild ging abermals von einer dem Kriegsausbruch vorangehenden Spannungsphase aus. Der Kriegsbeginn wurde als massiver Übertritt kommunistischer Verbände über die westdeutsche Grenze imaginiert, auf den die eigenen Truppen insgesamt relativ gefasst reagiert hätten. Der Angriff erfolgte zunächst ausschließlich konventionell, obwohl beide Seiten über Atomwaffen verfügten. Die Versorgungslage der eigenen Streitkräfte sei gut, ebenso wie das Wetter. Trotz massiver Sabotageaktionen des Feindes gegen die eigene Infrastruktur (Verkehr, Industrie, Wasser- und Elektrizitätsversorgung) verbleibe die Bevölkerung der großen Städte gemäß den Empfehlungen der Regierung zuhause.163 Vier Tage nach der ersten Grenzüberschreitung eskaliere der Krieg hingegen zusehends. Nach nunmehr heftigen Luftangriffen ginge Deutschland bzw. die NATO zum Gegenangriff über und sichere sich nach verlustreichen Kämpfen die Luftüberlegenheit.164 Anhand der angenommenen Lage wurde nun in detaillierten Dialogen insbesondere die Erstversorgung aufgenommener Verwundeter sowie deren späterer Lufttransport in den vom Krieg nicht betroffenen Rückraum Europas (Porto und Beja, Portugal) dargestellt, so z. B. in folgender Passage: E-Offz [Einsatzoffizier]: Also, das heißt, daß wir einige Verwundete nach PORTO bringen müssen. Das bedeutet aber einen Zeitverlust von 2 Stunden für uns. SanOffz [Sanitätsoffizier]: Und dennoch … der Zeitverlust ist hier zweitrangig. Denken Sie daran, daß, soweit die taktische Lage es erlaubt, die Verwundeten Priorität für den Transport haben. E-Offz: Ja, Sie haben recht. Der Mensch geht vor! Ich bin mit PORTO einverstanden. SanOffz: Vielen Dank, wir sind schnell einig geworden, nun zu den Einzelheiten […].165

Die didaktische Anlage der Übung tritt hier – wie an vielen anderen Stellen – deutlich zutage. Wesentliches Motiv des konkreten Übungsablaufs schien bei SCHWALBE gerade nicht Realismus, sondern vielmehr eine bewusste Idealisierung gewesen zu sein, um den angehenden Offizieren neben fachlichen Aspekten auch arztsoldatische Wertvorstellungen über das gebotene Verhalten während eines zukünftigen Krieges zu vermitteln. In der zitierten Passage z. B. vertritt der Sanitätsoffizier nicht

162 GenArzt Dr. Dörner, Textblatt der Übung SCHWALBE, Takt/Üb. Phase A1. BW8-IV/15. 163 Akademie des Sanitäts- und Gesundheitswesens/Planübung „SCHWALBE“, Lage „BLAU“ 291200 z jul 1970. Dezember 1965. BArch BW8-IV/15. 164 Akademie des Sanitäts- und Gesundheitswesens/Planübung „SCHWALBE“, Lage „BLAU“ – Entwicklung der Lage bis 011400 Z aug, Teil I, Dezember 1965. BArch BW8-IV/15. 165 Textblatt der Übung SCHWALBE, Gespräch im Lufttransportkommando, Takt. u. Üb/Phase I/4. BArch BW8-IV/15.

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nur klar die Interessen der Verwundeten; er tut dies zudem mit der väterlich-sanften Autorität eines Wissenden, der aufgrund seiner evident humanitären Gesinnung zum harten Befehl gar nicht erst greifen muss. „Optimal“ verlief das antizipierte Geschehen hingegen nicht: Nach weiteren, heftigen Gefechten sah der gespielte Kriegsverlauf am sechsten Tag schließlich den Atomwaffeneinsatz des Gegners vor. Im Gegensatz zu FALLEX 62 etwa wurde dieser jedoch als begrenzt und zudem in beruhigendem Maße „vernünftig“ imaginiert. Man ging von zunächst fünf Atomschlägen aus, u. a. auf den im Mittelpunkt des vorherigen Transportgeschehens stehenden Leipheimer Militärflughafen.166 Der Einsatz markierte einen Bruch im Verlauf des Planspiels, da nunmehr die Bewältigung eines Massenanfalls von Verwundeten die Thematisierung des Verwundetentransports ablöste. Die eingesetzte Waffe des Gegners wies mit 100 KT etwa die zehnfache Größe der HiroshimaBombe auf167 und sowohl auf dem Fliegerhorst als auch in Leipheim selbst wurde mit schwersten Verlusten gerechnet. Allerdings machte die bei SCHWALBE durchgängig angewandte Idealisierung auch vor dem Atomschlag nicht halt: Die Waffe hatte den Fliegerhorst nicht voll getroffen und aufgrund ihrer „sauberen“ Luftdetonation war mit radioaktivem fallout kaum zu rechnen.168 Als wesentlichster Punkt muss hingegen betont werden, dass SCHWALBE keinen Vernichtungskrieg im Sinne FALLEX’ mehr beschwor. Da das kleine schwäbische Städtchen Leipheim keinesfalls das Ziel des Angriffs gewesen sein konnte, galt dieser offensichtlich dem militärischen Ziel des Fliegerhorstes, welchen der Feind gezielt auszuschalten suchte. Die Zahl der angenommenen Opfer blieb allein aufgrund dieser Prämisse begrenzt und der Sanitätsdienst insgesamt einsatzfähig.169 Wie zuvor beim Transport wurde auch beim gespielten Atomschlag die didaktische Vermittlung zentraler ärztlicher bzw. arztsoldatischer Werte nicht vernachlässigt: Geschwader-Kommodore: Wie weit werden Sie sich am Bergen der Verwundeten beteiligen können, Herr Doktor? Chef LwSanStff: Herr Oberst, die Aufgabe meiner SanStaffel ist in erster Linie die sanitätsdienstliche Versorgung verwundeter Soldaten, und die Zahl der Verwundeten wird sehr hoch sein! Dazu muß ich mein gesamtes Personal einsetzen. Das Bergen ist Aufgabe der Truppe.

166 Akademie des Sanitäts- und Gesundheitswesens/Planübung „SCHWALBE“, Lage „BLAU“, Entwicklung der Lage bis 030715 Z aug (Fortsetzung Teil II). Dezember 1965. BArch BW8-IV/15. 167 Major Fricke, Textblatt der Übung SCHWALBE, Takt. u. Üb./Phase III/5. BArch BW8-IV/15. 168 Textblatt der Übung SCHWALBE, Einsatzbesprechung beim Chef der Sanitätsstaffel, Takt. Üb/ Phase III/12. BArch BW8-IV/15. 169 Textblatt der Übung SCHWALBE, Gespräch LwGrpArzt Süd DivArzt 5. LwDiv, Takt/Üb. Phase III/14. BArch BW8-IV/15.

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[Der Chef der Sanitätsstaffel der Luftwaffe bittet im Folgenden darum, ihm einen „energischen Feldwebel“ samt Fahrer zur Unterstützung des Sanitätseinsatzes zur Verfügung zu stellen.] Kommodore: Gut, Herr Doktor. Ich brauche zwar auch jeden Soldaten, aber ich sehe ein, daß ich Ihnen und damit den Verwundeten vordringlich helfen muß.170

In solchen Passagen stand der eigentliche Anlass – der Atomkrieg – weniger im Vordergrund als das Einüben professionsspezifischer Verhaltensweisen, die für angehende Sanitätsoffiziere in zahlreichen Kontexten als relevant betrachtet wurden, also z. B. das klare Bekenntnis zur Erfüllung des eigenen, ärztlichen Auftrags, das saubere Trennen von Zuständigkeiten, aber auch die respektvolle, ergebnisorientierte Kommunikation mit anderen Truppenteilen. Das unvermeidbare Chaos, das der antizipierte Kriegsverlauf der großen, operativen Übungen FALLEX 62 und WINTEX 75 ausgezeichnet hatte, wandelte sich aufgrund der von SCHWALBE in den Blick genommenen Mikroebene eines einzigen isolierten Atomschlags zur Schulstunde, so dass der verantwortliche Generalarzt der Luftwaffe, Fritz Dörner, der Übung in seiner Schlussbemerkung treffend einen „Lehrspielcharakter“ attestieren musste.171 Das konkrete Kriegsbild fiel im direkten Vergleich zu den NATO-Planspielen deutlich beherrschbarer aus, stand aber auch weniger im Fokus der intendierten Ausbildung, die – dem All-hazards-Prinzip des Erweiterten Katastrophenschutzes nahestehend – für vielfältige Kontexte nützlich sein sollte. Der isoliert betrachtete Atomschlag des Planspiels diente weniger als Verweis auf die Möglichkeit eines dritten Weltkriegs, sondern als letztlich austauschbarer Auslöser eines didaktisch aufbereiteten, idealtypisch verlaufenden Ernstfalls und rückte erzählerisch damit tatsächlich in die Nähe einer Sturmflut oder eines Erdbebens. 2.1.4 Der dritte Weltkrieg in Forschung und Lehre Der während des Kalten Krieges vom Sanitätswesen ebenso wie von anderen militärischen Bereichen fortlaufend geführte Diskurs über das vorstellbare Aussehen eines dritten Weltkriegs fand weder isoliert statt noch blieb er folgenlos: Die Bestimmung des Kriegsbilds prägte vielmehr entscheidend die konkreten sanitätsdienstlichen Vorbereitungen. Aus Sicht der Sanitätsoffiziere fielen hierunter nicht nur die Anschaffung von Material und Medikamenten, sondern vor allem auch die Ausrichtung von Forschung und Lehre. Aufgrund des arztsoldatischen Berufsbildes, welches den Sanitätsoffizier als approbierten Arzt mit angeschlossener

170 Textblatt der Übung SCHWALBE, Dienstbesprechung im Geschwadergefechtsstand leKG 44 in GROSSKÖTZ, Takt/Üb. Phase III/10. BArch BW8-IV/15. 171 Ref. GenA Dr. Doerner bei Lw Planspiel „Schwalbe“, 7.12.1965. BArch BW8-IV/15.

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Abb. 5 Didaktisierter „Krieg im Klassenzimmer“. Undatierte, vermutlich aus den 1960er Jahren stammende Aufnahme eines sanitätsdienstlichen Planspiels an der SanAkBw.

Fortbildung definierte, musste man keinesfalls mit Umfang und Komplexität der allgemeinen medizinischen Wissenschaftslandschaft mithalten, sondern konnte die begrenzten Finanzmittel nutzen, um ausschließlich militärrelevante Themen zu bearbeiten – teils in Eigenregie, teils im Rahmen der in Kapitel 2.1.2 skizzierten Kooperationen mit Universitäten und sonstigen Einrichtungen. Der Erforschung vorstellbarer Diagnose- und Heilverfahren von durch Atomwaffen verursachten Schäden wurde dabei viel Raum zugestanden. Wesentliche Punkte von Forschung und Lehre waren hierbei die Generierung und Vermittlung von Wissen zur Strahlenkrankheit, zu Verbrennungs- und Kombinationsschäden sowie insbesondere zur korrekten Verhaltens- und Verfahrensweise beim befürchteten Massenanfall von Verwundeten und Erkrankten. Als langjährig führender Radiologie der Bundeswehr muss Otfried Messerschmidt bezeichnet werden. Dieser erfuhr seine medizinische Ausbildung als „Pfeifhahn des Jahrganges 40“ noch an der wiedereröffneten Pépinière, der Berliner Militärärztlichen Akademie (vgl. Anmerkung 16 in Kapitel 2.1.1), und war dementsprechend einer der letzten, über die Dauer seines gesamten Studiums genuin wehrmedizinisch ausgebildeten Bundeswehrärzte. Im Gegensatz zur schillernden, zahlreiche Stationen durchlaufenden Karriere des im gleichen Jahr (1920)

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geborenen Rebentischs blieb Messerschmidt durchgängig Wissenschaftler.172 Er habilitierte 1967 an der Universität Freiburg bei dem bereits in Kapitel 2.1.2 erwähnten Radiologie-Spezialisten Hanns Langendorff173 und wurde im Jahr 1973 als Professor an die TU München berufen.174 Im aktiven Dienst der Bundeswehr stand er von 1956 bis 1981, zuletzt als Oberstabsarzt und Leiter des der Sanitätsakademie zugehörigen Instituts für Radiologie der Bundeswehr;175 wissenschaftlich tätig blieb er hingegen lange darüber hinaus. Messerschmidt wurde insbesondere durch seine vergleichsweise frühen Arbeiten zur Strahlenkrankheit bekannt, wobei als grundlegendes Werk sicher Auswirkungen atomarer Detonationen auf den Menschen anzuführen ist, eine im Jahr 1960 erschienene Abhandlung über Folgen und Spätfolgen sowohl der Angriffe auf Hiroshima und Nagasaki als auch der US-Atomtests im Bikini-Atoll 1954, bei denen die Besatzungsmitglieder des japanischen Fischkutters „Glücklicher Drache“ starkem radioaktivem fallout ausgesetzt wurden. Der Band war Resultat eines mehrere Monate andauernden Forschungsaufenthalts in Japan, der Messerschmidt gemeinsam mit sieben westdeutschen Kollegen 1957/58 gewährt worden war.176 Messerschmidt fasste darin die bislang vorhandenen Forschungsergebnisse japanischer und US-amerikanischer Ärzte in kohärenter Form (und deutscher Sprache) zusammen und ergänzte sie um eigene Untersuchungen und Schlussfolgerungen. Hanns Langendorff bezeichnete das Werk als erste ausführliche Abhandlung hierüber und äußerte die Hoffnung, dass es der „Einsicht der Menschen“ dienen möge,177 während Messerschmidt selbst anführte, dass sein Buch an den Radiologen gerichtet sei, „um ihm bei der Strahlenschutzausbildung eine Hilfe zu sein und um letzten Endes für den Fall, den Gott verhüten möge, ihm als diagnostischer Ratgeber zu dienen“.178 Der letzte Absatz des Buches lautete: Die Marshallesen wie die Bikinifischer und die Überlebenden von Hiroshima und Nagasaki, ebenso ihre Kinder und Enkel sollten ihr ganzes Leben lang der Gegenstand sorgfältigster medizinischer Untersuchungen sein, um die Kenntnis von den strahlenbedingten

172 Wehrmedizin und Wehrpharmazie (Sonderheft) 2/1981, S. 103 (Autorenverzeichnis). 173 H. Mönig & C. Streffer, Hanns Langendorff (1901 bis 1974): Sein Werk und sein Vermächtnis, S. 9. Online unter: http://langendorff-stiftung.de/pdf/langendorff.pdf (aufgerufen am 26.1.2019). 174 Berufungen und Ernennungen, in: Deutsches Ärzteblatt 14/1973, S. 933. 175 Verleihung – Ernst-Rodenwaldt-Plakette, in: Deutsches Ärzteblatt 8/1980, S. 491. Leiter der Akademie selbst wurde er hingegen nie, auch wenn ihm ein Spiegel-Artikel dies andichtete: „Notfalls mit Ohrfeigen behandeln“, S. 244, in: Der Spiegel 49/1980, S. 242–249. 176 Messerschmidt gehörte zur zweiten, 1958 nach Japan reisenden Forschergruppe, siehe das Vorwort Masao Tsuzukis in: Otfried Messerschmidt, Auswirkungen atomarer Detonationen auf den Menschen: Ärztlicher Bericht über Hiroshima, Nagasaki und den Bikini-Fall-out. München 1960, S. VII. 177 Ebd., S. IX. 178 Ebd., S. XII.

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somatischen und genetischen Schäden weiter zu vertiefen. Mögen diese Bedauernswerten jedoch die letzten gewesen sein, die das Studium von den Auswirkungen atomarer Detonationen auf den Menschen ermöglichten.179

Bemerkenswert an diesen beiden Stellen ist, dass Messerschmidt dort den persönlichen Wunsch einer Verhütung des absolut Katastrophischen zum Ausdruck brachte, während sein Werk ansonsten kompromisslos nüchtern gehalten war. Die schmucklose Sprache kann dabei keinesfalls als verharmlosend bezeichnet werden, im Gegenteil: Gemeinsam mit einem dezidiert medizinischen Blick, der die oft nackt fotografierten verbrannten und verstrahlten Patientinnen und Patienten zwangsläufig objektivierte, wirkt zumindest aus heutiger Sicht gerade das Fehlen jedweder Emotionalisierung erschütternd. Neben der Aufnahme eines jungen Mannes, sichtlich geschwächt und von Strahlenschäden gezeichnet, findet sich beispielsweise folgender Text: Abb. 6.10: 21jähriger Mann, im Holzhaus 1000 m Hypocenterabstand. Haarausfall am 12. Tage, Petechien und Zahnfleischblutungen beginnend am 23. Tag. Nekrotisierende Angina, Aufnahme 2 Stunden vor dem Tode am 28. Februar (Erstes Militärhospital, Tokio).180

Das ohnehin asymmetrische Verhältnis zwischen gesund und krank, Arzt und Patient erhielt in solchen Passagen eine bedrückende Verstärkung durch die Einsicht, dass der Mensch, welcher hier zur Untersuchung der titelgebenden „Auswirkungen atomarer Detonationen“ diente, zum Zeitpunkt der Aufnahme noch in die Kamera zu blicken vermochte, unmittelbar danach jedoch verstarb – verewigt als Fallbeispiel eines letalen Verlaufs der Strahlenkrankheit. Messerschmidts Darstellung erinnerte in ihrem Effekt zeitweise an die zur gleichen Zeit entstandenen Texte Herman Kahns,181 wobei hier weniger das Undenkbare gedacht als vielmehr das Unheilbare geheilt, das Unbehandelbare behandelt zu werden schien. Das zumeist japanische Bildmaterial, welches planierte Ex-Städte und Leichenberge neben Detailaufnahmen teils tödlicher Verletzungen und Erkrankungen stellte, mochte trotz aller historischen Ungenauigkeit die Bezeichnung „atomarer Holocaust“ durchaus nahegelegt haben. Messerschmidts jahrzehntelange Tätigkeit als Radiologe und Bundeswehrsoldat verstärkte noch die Eindrücklichkeit mancher Schilderung: 179 Ebd., S. 277. 180 Ebd., S. 83. 181 Der umstrittene US-amerikanische „Zukunftsforscher“ Kahn wurde insbesondere durch seine unverblümten Schilderungen eines möglichen Atomkriegs sowie der Welt danach bekannt, vgl. Herman Kahn, On Thermonuclear War. Princeton 1960; ders., Thinking About the Unthinkable. New York 1962.

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So kam es, daß die wenigen stehen gebliebenen Gebäude [Nagasakis], die oft auch noch teilweise zerstört und ausgebrannt waren, deren Türen und Fenster fehlten und deren Dächer teilweise abgedeckt waren, zu Asylen von Anhäufungen hilfsbedürftiger Menschen wurden (Abb. 8.2–8.4). In den Räumen und Gängen dieser Häuser lagen dichtgedrängt nebeneinander, mit blutenden Wunden, Verbrennungen und schweren Infektionen, mit Erbrechen und Durchfällen, Frauen, Kinder, Greise und Soldaten, viele mußten auf dem Boden liegen oder fanden keinen Platz mehr im Hause und lagen in den Höfen und Gärten. Diesen fiebernden und sterbenden Menschen konnte in den ersten Tagen wegen des Ärztemangels gar keine oder doch nur sehr unzureichende Behandlung und Krankenpflege gebracht werden. Die besonders hohe Sterblichkeit des 1. Tages und auch noch der folgenden Tage war zum Teil eine direkte Folge des völligen Fehlens ärztlicher Betreuung.182

Analog zu den vorangegangenen Betrachtungen zum Kriegsbild wusste demnach auch die Forschungsliteratur Bilder zu produzieren, die von dramatischen Darstellungen wie in The Day After wenig zu unterscheiden waren. Gleichwohl beharrte Messerschmidt darauf, dass selbst eine minimale Verbesserung des geschilderten „völligen Fehlens ärztlicher Betreuung“ im Ernstfall nicht zu unterschätzende, positive Resultate haben könne. Der Fokus seiner Darstellung, die neben den zerstörerischen Bombardements vor allem die Beobachtung und Therapie strahlungsbedingter Spätschäden umfasste, verdeutlichte zusätzlich, dass auch bei einem Atomschlag keineswegs jeder tot, alles verloren sein musste. Dieser vergleichsweise optimistischen Einschätzung blieb Messerschmidt auch in anderen Schriften treu. In einem 1979 in englischer Sprache erschienenen Band – Medical Procedures in a Nuclear Disaster: Pathogenesis and Therapy for Nuclear-Weapons Injuries – traten die Ähnlichkeiten zu Kahn noch deutlicher zutage. Im dortigen Vorwort betonte Messerschmidt, dass sein vorliegendes Werk vor allem als „praktisches Buch“ intendiert sei. Dort hieß es auch: Some might pose the question whether, in such a situation, anything should be done at all. Are not recommendations, as in this book for treating wounds, burns, and radiation injuries under conditions of a massive holocaust, a pretense that a nuclear war can even be survived? Is it not naive to offer advice for a catastrophe that can be absolutely hopeless? If an impression of hopelessness results from reading this book, it is absolutely not the intention of the author. On the contrary, the information in this book is presented to spark initiative and imagination in a nuclear catastrophe in the firm belief that it will save human life. The will to help is not enough unless one knows what to do. […] To be sure, nuclear war would be the most devastating event that could happen to mankind today.

182 Messerschmidt, Auswirkungen atomarer Detonationen auf den Menschen, S. 119–120.

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Should this catastrophe occur, against the will of all reasonable men, a medical service organization must stand ready to save as many lives as possible.183

Gerade die von Messerschmidt gewählte Kombination aus einerseits schonungsloser Schilderung des Kriegs der Zukunft, andererseits aber geradezu beiläufig wirkendem Beharren darauf, dass man im Ernstfall eben so gut wie möglich damit fertig werden müsse,184 mag damals ebenso verstörend gewirkt haben wie heute. Auch wenn man sicher zurückhaltend damit sein sollte, als Nichtmediziner radiologische Forschungs- und Lehrliteratur paraphrasieren zu wollen, seien einige, dem Verständnis der weiteren Arbeit dienliche Befunde Messerschmidts und anderer Ärzte dennoch angeführt. Klarzustellen ist dabei zunächst, dass sich die Forschung während des Untersuchungszeitraums dieser Arbeit fortentwickelte, d. h., dass man sich vor allem mittels experimenteller Tierversuche darum bemühte, alte Erkenntnisse zu verfeinern und neue zu generieren, wobei in Bezug auf die Strahlenkrankheit z. B. die Einschätzung des Umfangs einer Verstrahlung (die sogenannte Dosimetrie), aber auch Verlauf und Heilungsmöglichkeiten sowie die Effizienz sogenannter Radioprotektoren – dem präventiven Strahlenschutz dienende Medikamente –185 Forschungsgegenstände waren. Das Sanitätswesen der Bundeswehr ging in aller Regel davon aus, dass auch kleinere Strahlendosen, wenn irgend möglich, zu vermeiden seien. Messerschmidt selbst äußerte sich in diesem Zusammenhang unmissverständlich: „Es gibt keinen Schwellenwert, von dem man sagen könnte, daß die darunterliegende Dosis mit Sicherheit unschädlich sei. Für den Arzt darf es daher keine ‚Toleranz-Dosen‘ oder ‚zulässige Dosen‘ geben. Diese Richtigstellung im Sprachgebrauch ist notwendig, um falsche Vorstellungen zu beseitigen.“186 Gleichwohl wurde allgemein akzeptiert, dass im Falle eines Atomkriegs gerade den Soldaten des Sanitätsdienstes die Aufnahme einer gewissen Strahlendosis zugemutet werden müsse, z. B. während der Bergung und Behandlung etwaiger

183 Otfried Messerschmidt, Medical Procedures in a Nuclear Disaster: Pathogenesis and Therapy for Nuclear-Weapons Injuries. München 1979, S. XIV–XV. 184 Vgl. hierzu Kahn, Thinking About the Unthinkable, S. 18, wo Kahn sein vorangegangenes Werk On Thermonuclear War mit ähnlichen Worten beschrieb. 185 Vgl. K. Ritter, Experimentelle Untersuchungen über Möglichkeiten eines chemischen Strahlenschutzes, in: Wehrmedizinische Monatsschrift 11/1973, S. 337–341; Otfried Messerschmidt, Über den chemischen Strahlenschutz in seiner Bedeutung für die Katastrophen- und Wehrmedizin, in: Wehrmedizinische Monatsschrift 7/1979, S. 193–197. 186 Otfried Messerschmidt, Ärztliche Überlegungen zur Strahlenbelastung von Soldaten, S. 87, in: Wehrmedizinische Mitteilungen 1963, S. 86–88 (jahrgangübergreifende Seitenzahl). Vgl. hierzu auch den bereits 1957 auf dem 60. Deutschen Ärztetag gehaltenen Vortrag des Marburger Radiobiologen Emil Graul, der die Existenz eines sogenannten Grenzwerts ebenfalls verneinte, siehe: Bundesärztekammer (Hrsg.), Wortbericht des 60. Deutschen Ärztetages vom 25.6.–29.6.1957 in Köln, S. 25. BArch, B 417/2347.

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Überlebender. Die zur Messung der aufgenommenen Äquivalentdosis187 ionisierender Strahlung verwendete Einheitsangabe war in der mir vorliegenden Literatur fast ausschließlich rem (roentgen equivalent in man), nicht jedoch die neuere Einheit Sievert (Sv). Als kritisch bezeichnete die entsprechende Forschungsliteratur zumeist Werte ab 100 rem (d. h. 1 Sv),188 wobei als vordringlich behandlungsbedürftig oft der Bereich zwischen 200 und 400, bei vorhandener, intensivmedizinischer Betreuungsmöglichkeit auch bis 500 rem angegeben wurde.189 Ab 600 rem ging man von fast zwingend tödlichem, spätestens ab 1000 rem von einem in jedem Fall tödlichen Verlauf der Strahlenkrankheit aus.190 Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang, dass die Sanitätsoffiziere diese keineswegs als vordringlichste Gefahr eines Atomwaffeneinsatzes einschätzten, im Gegenteil: Gestützt auf Zahlen des u. a. vom US-Verteidigungsministerium herausgegebenen Standardwerks The Effects of Nuclear Weapons orientierte man sich zumeist an einem Schlüssel, welcher bei den verletzten Überlebenden der Hiroshima-Detonation – also den potenziellen, eine Behandlung erfordernden Patientinnen und Patienten – 70 Prozent Druckstoßverletzte, 65 Prozent Brandverletzte und lediglich 30 Prozent Strahlengeschädigte aufzeigte,191 wobei konzediert wurde, dass eine Bodendetonation im Gegensatz zu den Luftdetonationen über Japan aufgrund des aufgewirbelten, radioaktiv verseuchten Erdreichs zu einem höheren Prozentsatz Strahlengeschädigter führen würde.192 Während unter Druckstoßschäden summierte Verletzungsmuster wie innere Blutungen und zerrissene Organe (mit Ausnahme des Trommelfells) meist sofort tödlich endeten, zählten zu den sogenannten sekundären oder indirekten Druckschädigungen oft auch kleinere oder zumindest behandelbare mechanische Verletzungen, wie z. B. Wunden durch Glassplitter oder sonstige, durch die Gegend geschleuderte Objekte, die Messerschmidt als „nichts grundsätzlich Neues“193 bezeichnete. Analog hierzu galt auch für die enorme Hitze und den Feuerball einer Atomwaffenexplosion: Diejenigen Menschen, die sich in der Nähe des Epizentrums aufgehalten hatten, starben sofort, während sich die Verletzungsmuster der Überlebenden kaum von konventionellen Verbrennungsopfern unterschieden. Deren 187 Die Äquivalentdosis berücksichtigt die relative biologische Wirksamkeit unterschiedlicher Strahlenarten (z. B. hochwirksame Alpha- vs. weniger wirksame Gammastrahlen) und bringt demzufolge die Wahrscheinlichkeit eines potenziellen Strahlenschadens deutlicher zum Ausdruck als die allgemeinere Angabe der insgesamt empfangenen Energiedosis. 188 Hansrudolf Renfer, Die A-Katastrophe, S. 219, in: Rolf Lanz & Mario Rossetti (Hrsg.), Katastrophenmedizin. Stuttgart 1980, S. 216–231. 189 Josef Schunk, Erste Hilfe bei allgemeinen Strahlenschäden einschließlich Wundbehandlung bei Kontaminierten, S. 50, in: Wehrmedizinische Mitteilungen 4/1960, S. 49–52. 190 Renfer, Die A-Katastrophe, S. 219. 191 Glasstone & Dolan, The Effects of Nuclear Weapons, S. 546. 192 Ebd., S. 542. 193 Messerschmidt, Auswirkungen atomarer Detonationen auf den Menschen, S. 37.

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Diagnose und Behandlung war zumindest den Spezialisten nicht nur durch die Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs, sondern auch aus Unfällen in Bergbau und Schwerindustrie194 sowie durch Haus-, Schiffs- und Flugzeugbrände195 grundsätzlich vertraut, wenn auch ihr massenhaftes Auftreten ebenso wie die Möglichkeit von Kombinationsschäden (z. B. gleichzeitige Verbrennungs- und Strahlenschäden)196 unbeherrschbare Ausmaße annehmen konnte. Die Strahlenkrankheit war jedoch nicht nur als solche ein relativ neuartiges Phänomen, sondern zudem gleichermaßen mit den vordringlichsten militärischen wie zivilen Katastrophenpotenzialen des Kalten Krieges verbunden. Bereits im Jahr 1960 stellte Otfried Messerschmidt in diesem Zusammenhang fest: Die Atomdetonationen von Hiroshima und Nagasaki brachten der Menschheit eine neue Krankheit: das ‚akute Strahlensyndrom‘. Die Ärzte täten gut daran, das Wissen um die Krankheit ihrem medizinischen Kenntnisschatz bald hinzuzufügen; denn viel spricht dafür, daß sie eines Tages Patienten behandeln müssen, die am akuten Strahlensyndrom oder chronischen Strahlenschaden leiden. Dazu braucht nicht einmal das Schreckensbild eines Atomkrieges heraufbeschworen zu werden. Auch im tiefsten Frieden werden bald in den zahlreichen zukünftigen Isotopenlabors, Reaktoren und anderen Kernenergieanlagen Unglücksfälle geschehen […] Es wird eine neue Berufskrankheit geben: den Strahlenschaden der Reaktortechniker und Isotopenlaboranten.197

Es konnten demnach gleich mehrere gute Gründe dafür angeführt werden, die Strahlenkrankheit zu erforschen und sich hierin zeitnah weiterbilden zu lassen; sie wurde als eine der eigenen Gegenwart entstammende Größe ausgewiesen, an der kaum ein Arzt vorbeikomme. Bereits die Diagnose einer aufgenommenen

194 Vgl. Friedrich Wilhelm Ahnefeld, Die Erstbehandlung von Verbrennungsschäden im Katastrophenfall, S. 146, in: Wehrmedizinische Mitteilungen 10/1961, S. 145–149. Der Verbrennungsspezialist und Oberstabsarzt Ahnefeld leitete das Anästhesiologische Institut der Universität Ulm und fungierte später zudem als Chefarzt des Ulmer Bundeswehrkrankenhauses. Er gilt als Pionier des bundesdeutschen Notfallrettungswesens, vgl. Kessel, Geschichte des Rettungsdienstes, S. 70. 195 Vgl. Leo Koslowski, Die Behandlung von Verbrennungen im Katastrophenfalle, S. 7, in: Katastrophenmedizin (Beilage der Wehrmedizin) 4/1966, S. 17–20. 196 In Anlehnung an die genannte Auflistung der Verwundungshäufigkeiten aus The Effects of Nuclear Weapons wurde nach einem Atomschlag mit ca. 50 % kombinationsgeschädigter Patienten gerechnet, vgl. Leo Koslowski & Otfried Messerschmidt, Kombinationsschäden durch Verletzung, Verbrennung und Bestrahlung und ihre Bedeutung für die Kriegschirurgie, S. 124, in: Wehrmedizinische Monatsschrift 5/1967, S. 123–158. 197 Otfried Messerschmidt, Über prognostische Gesichtspunkte, die sich aus klinischen und hämatologischen Befunden Strahlenexponierter aus Hiroshima und Nagasaki ergeben, S. 213, in: Georg Finger (Hrsg.), Wehrdienst und Gesundheit: Abhandlungen aus Wehrmedizin, Wehrpharmazie und Wehrveterinärwesen – Band I. Darmstadt 1960, S. 213–230.

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Strahlendosis war dabei mit vielen Unsicherheiten behaftet und stellte eine medizinische Herausforderung dar. Die physikalische oder gar biologische Dosimetrie der aufgenommenen Äquivalentdosis galt zumal unter Katastrophenbedingungen (d. h. unter höchstem Zeitdruck und mit primitiver Ausstattung) als schwierig bis unmöglich,198 so dass Forschung und Lehre die Einschätzung des Schweregrads der Strahlenkrankheit anhand Art und Ausmaß sichtbarer Symptome propagierten. Diese Methode galt ihrerseits jedoch als kaum weniger unsicher. Messerschmidt selbst betonte beispielsweise, „daß in Hiroshima und Nagasaki keineswegs alle Symptome regelmäßig auftraten, und daß selbst die häufigsten wie Übelkeit und Erbrechen auch bei höheren Strahlendosen fehlen konnten“.199 In Auswirkungen atomarer Detonationen auf den Menschen fand sich hierzu eine vielsagende Tabelle, welche die relative Häufigkeit strahlenkrankheitsbedingter Symptome überlebender Personen ca. 20 Tage nach den Atombombenabwürfen über Hiroshima und Nagasaki zusammenfasste und in Relation zur Aufenthaltsnähe des jeweiligen Patienten zum Hypozentrum der Explosionen setzte. Die Ungenauigkeit der symptomatischen Einschätzung ließ sich aus der Tabelle gut ablesen. Generell nahm mit der Nähe zur Detonation die Anzahl und Häufigkeit der Symptome zwar zu; das insgesamt meistverbreitete Symptom, der Haarausfall, wurde hingegen auch bei größter Nähe zum Hypozentrum nur bei maximal 70 Prozent der Betroffenen festgestellt, während gleichzeitig selbst bei größtem erfassten Abstand die meisten Symptome dennoch auftreten konnten. So musste die Bestimmung eines „behandlungswürdigen“, d. h. gefährlich, aber nicht tödlich verstrahlten Patienten überaus kompliziert ausfallen und – aufgrund der unklaren, im Krankheitsverlauf zudem wechselhaften, diagnostischen Faktenlage – ein hohes Maß ärztlicher Inferenz erfordern. Ebenso schwierig wie die Diagnose der Strahlenkrankheit gestaltete sich zudem ihre Therapie. Messerschmidt brachte dies in folgender Passage auf den Punkt: There is no specific treatment for radiation sickness, such as treatment with an antidote. Neither the central nervous nor the gastrointestinal syndrome can be affected by therapy with the prospect of survival; only the hemopoietic syndrome can be influenced. Therefore, practical treatment consists only of replacing destroyed bone marrow through transplantation, replacing white blood cells in the circulatory system and treating the bacterial systemic infection, which is a direct consequence of bone-marrow insufficiency, with antibiotics.200

198 Vgl. Messerschmidt, Medical Procedures in a Nuclear Disaster, S. 105. 199 Messerschmidt, Über prognostische Gesichtspunkte, S. 217. Vgl. hierzu auch Messerschmidt, Auswirkungen atomarer Detonationen auf den Menschen, S. 75 ff. 200 Messerschmidt, Medical Procedures in a Nuclear Disaster, S. 115. Betonung im Original.

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Abb. 6 Tabelle 6.1., entnommen aus Otfried Messerschmidt, Auswirkungen atomarer Detonationen auf den Menschen: Ärztlicher Bericht über Hiroshima, Nagasaki und den Bikini-Fall-out. München 1960, S. 76

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Wie im obigen Absatz zu lesen, gab und gibt es kein Medikament gegen die Strahlenkrankheit; der häufig missverstandene Begriff „Dekontamination“ bezeichnet in diesem Zusammenhang lediglich die gründliche äußere Reinigung des Körpers von unter Umständen selbst strahlenden Partikeln (fallout), nicht jedoch eine tatsächliche „Entstrahlung“. Die Strahlenkrankheit schädigt neben den Schleimhäuten insbesondere die Stammzellen sowie das Blutbild, führt somit typischerweise zu einer Immunschwäche201 und erhöht die Gefahr einer Blutvergiftung (Sepsis) ebenso wie sonstige Infekte. Da die von Messerschmidt als echte therapeutische Maßnahme ausgewiesene Knochenmarktransplantation während eines Atomkriegs unmöglich schien und ebenfalls hilfreiche Bluttransfusionen zumindest nur begrenzt durchgeführt werden könnten, müsse man sich im Ernstfall notgedrungen auf die Verabreichung von Breitbandantibiotika zur Infektionsprophylaxe beschränken.202 Als wesentliche, die Eigenheilung des Körpers unterstützende Maßnahmen wurden zudem ausreichender Flüssigkeitsersatz, „protein- und vitaminreiche Ernährung“203 sowie „absolute Ruhe“204 in einer möglichst sterilen Umgebung angeraten.205 Es scheint evident, dass selbst diese vergleichsweise simplen Maßnahmen zumindest im Falle eines Atomkrieges der bei FALLEX 62 imaginierten Größenordnung kaum realisierbar gewesen wären. Das bereits mehrfach erwähnte, sich aus den imaginierten Kriegsbildern ergebende Auftreten von Massenanfällen von Verwundeten und Erkrankten sowie der hiermit einhergehende Zeitdruck, unter dem überlebende Ärzte hätten arbeiten müssen, musste jegliche diagnostische und therapeutische Arbeit – ob in Bezug auf die Strahlenkrankheit oder sonstige Verletzungen – zusätzlich erschweren. Die Vorstellung des Massenanfalls, der mit unvermittelter Wucht ein hierauf kaum vorbereitetes Sanitäts- und Gesundheitswesen treffen konnte, zog sich während des gesamten Untersuchungszeitraums durch zahlreiche Forschungs- und Lehrarbeiten. Der Sanitätsdienst der Bundeswehr befasste sich hiermit seit seiner Entstehung, war doch das Ungleichverhältnis zwischen Verletzten und den zu ihrer Versorgung bereitstehenden Ressourcen eine Grundkonstante des Krieges. Die Existenz der Atomwaffen verlieh dem Thema hingegen eine potenzierte Bedeutung, da nunmehr mit zehntausenden simultanen Verletzten gerechnet werden musste. Die medizinische Technik, mit der die Sanitätsoffiziere auf das hierbei zwangsläufig entstehende Chaos zu reagieren suchten, war die Sichtung bzw. Triage (frz. triager: sortieren): Die der ärztlichen Behandlung vorausgehende Einteilung anfallender

201 202 203 204 205

Ebd., S. 96–97. Ebd., S. 116. Schunk, Erste Hilfe bei Strahlenschäden, S. 50. Ebd., S. 50. Zu den Behandlungsmaßnahmen insgesamt vgl. auch Renfer, Die A-Katastrophe, S. 226.

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Patienten in unterschiedliche Dringlichkeitsstufen.206 Der Soziologe Nils Ellebrecht hat die Triage als „ordnungsstiftendes Verfahren“ bezeichnet, welches der unmittelbaren medizinischen Hilfeleistung einen Verwaltungsakt voranstelle,207 der diese einerseits optimieren solle, andererseits aber die innere Haltung der Beteiligten präge: Die Triage ist als ein Verfahren zum Gewinn von Ordnung zu verstehen, daneben kann sie auch als eine mentale Technik betrachtet werden. Die Triage ist ein Modus des Handelns, der auf einer emotionalen Distanz zum äußeren Geschehen wie zum inneren Verlangen beruht. Gerade Emotionalität, Mitleid etc. müssen streng kontrolliert werden, um nicht am Ende demjenigen zu helfen, der am lautesten schreit (aber oft nicht am schwersten verletzt ist).208

In Anbetracht der imaginierten Umstände und Arbeitsbedingungen nach einem Atomschlag schien die strikte Beachtung der Triage in der Tat nicht nur fachlich, sondern auch mental angeraten zu sein, um sich als Arzt im Ernstfall auf das Wesentliche konzentrieren zu können und unter Ausblendung des Unmöglichen das Machbare zu erreichen. Abhandlungen zur Sichtung sind im Quellenmaterial des Sanitätswesens der Bundeswehr allgegenwärtig, teils auf konkrete Verletzungsarten (insbesondere Verbrennungen, allgemeine Chirurgie und Strahlenschäden) bezogen, teils allgemein gehalten. Die aus Sicht des Sanitätswesens konventionelle Triage wurde dabei zumeist von der „härteren“ Variante des Massenanfalls unterschieden, so z. B. in einem noch an die ZDv 49/50 angelehnten, frühen Lehrvortrag für Sanitätsoffiziere des Jahres 1960. Dort wurden für den „atomaren Wirkungsbereich“ folgende Kategorien ausgewiesen: Der I. Gruppe seien alle geringfügig Verletzten zuzuordnen, die sich im Zweifel selbst behandeln müssten, der II. Gruppe diejenigen, deren Weiterbehandlung nach einer kurzen Erstbehandlung problemlos auf später verschoben werden könne. Die für das Verständnis späterer, die Triage betreffenden Diskussionen wesentlichsten Gruppen waren III und IV, wovon sich erstere auf „lebensrettende Sofortbehandlung“ bezog, letztere hingegen auf „Wartefälle (hoffnungslose Fälle)“,209 d. h. Patientinnen und Patienten, deren Leben entweder gar nicht oder nur mit höchstem Zeit- und Materialaufwand zu retten sei. Diese könnten zunächst nicht behandelt werden, da diejenigen der III. Gruppe

206 „Sichtung“ und „Triage“ werden in dieser Arbeit, ebenso wie in der überwiegenden Mehrheit des mir vorliegenden Quellenmaterials, durchgängig synonym verwendet. 207 Nils Ellebrecht, Triage: Charakteristika und Gegenwart eines ordnungsstiftenden Verfahrens, S. 237, in: Sociologica Internationalis 47,2/2009, S. 229–257. 208 Ebd., S. 240–241. 209 Dringlichkeitsstufen für die ärztliche Sichtung Verwundeter (Auszug aus einem Vortrag für Sanitätsoffiziere). Januar 1960, S. 3. BArch-MA, BW 8–IV/6.

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nach den bereits beschriebenen utilitaristischen Regeln der Massenmedizin vorzuziehen seien. Hierzu hieß es in dem Vortrag: „Diese [III.] Gruppe muss unter allen Umständen die Hauptarbeit sein, denn es handelt sich um Patienten, die mit der Sofortbehandlung zu retten sind, die aber ohne Sofortbehandlung nur eine schlechte Überlebenschance haben.“210 Das medizinethische Konfliktpotenzial, welches mit einer solchen, unter höchstem Zeitdruck von übermüdeten Ärzten (man erinnere sich an die Forderung nach 16-stündigen Einsätzen) zu vollziehenden Eingruppierung verbunden gewesen wäre, scheint evident. Hinsichtlich der geschilderten Strahlenkrankheit sei beispielhaft expliziert, dass Betroffene mit einer „gemessenen oder geschätzten“ Bestrahlung von 100 bis 400 rem Gruppe III, Patienten mit einer höheren Strahlendosis hingegen Gruppe IV hätten zugewiesen werden müssen211 – angesichts der schwierigen Einschätzbarkeit des Verstrahlungsgrades insbesondere im Katastrophenfall zweifellos eine enorme fachliche und persönliche Herausforderung. Die vier Sichtungskategorien blieben während der nächsten Jahrzehnte (und im Grundsatz bis in die Gegenwart) unverändert; lediglich in der Anordnung wurde Gruppe III später vorgezogen, so dass die aus ärztlicher Sicht vordinglichste nunmehr auch die erste Kategorie darstellte. Der Chirurgieprofessor und Verbrennungsspezialist Leo Koslowski, langjähriger Direktor der Chirurgischen Universitätsklinik in Tübingen und ehemaliger Präsident der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie,212 fasste diese aktualisierten Sichtungskategorien Ende der 1960er Jahre folgendermaßen zusammen: „Kategorie I – Sofortige Versorgung, Kategorie II – Aufgeschobene Versorgung, Kategorie III – Ambulante Versorgung (Leichtverletzte), Kategorie IV – Abwartende Behandlung (Schwerstverletzte).“213 Auch in dieser Folge blieb leicht zu erkennen, dass Schwer-, nicht jedoch Schwerstverletzte bei einem Massenanfall im Vordergrund stehen sollten; Koslowski sprach in Bezug auf Kategorie I von „akuter Lebensbedrohung“,214 bei Kategorie IV hingegen von Verletzten, „die keine oder nur geringe Überlebenschancen haben und deren Versorgung unter Katastrophenbedingungen unmöglich erscheint“.215 Gerade die nicht gegebene Operationalisierbarkeit solch schwerwiegender Einschätzungen markierte – ausgehend von den in Kapitel 1.5 geäußerten Vorüberlegungen – den imaginierten Massenanfall von Verwundeten als idealtypischen Wirkungsbereich des ärztlichen professional. Hier wären dem Arzt in der Tat Entscheidungen über Leben

210 Ebd., S. 4. Betonungen im Original. 211 Ebd., S. 5. 212 Siehe den Eintrag „Frühere Präsidenten“ des Internetauftritts der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie unter http://www.dgch.de/index.php?id=86&L=0Frau (aufgerufen am 26.1.2019). 213 Leo Koslowski, Die Sichtung (Triage) der Verletzten bei Massenkatastrophen, S. 47, in: Katastrophenmedizin (Beilage der Wehrmedizin) 1969 (7. Jahrgangsband), S. 46–49. 214 Ebd., S. 46. 215 Ebd., S. 48.

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Abb. 7 Ein 1983 diskutierter Entwurf eines zur besseren Patientenidentifikation fortlaufend nummerierten Verletztenanhängers, auf dem der Sichtungsarzt Verletzungsart und Priorität nach dem dargelegten vierstufigen System hätte eintragen können.

und Sterben abverlangt worden, die angesichts einer keineswegs stets eindeutigen Ausgangslage sämtliche berufliche Qualitäten in besonderer Weise gefordert hätten: Persönlicher, notfalls autonom durchzusetzender, durch Zeitdruck und Materialmangel erzwungener Entscheidungswille, profunde Fachkenntnis sowie insbesondere das für die Inferenz so wichtige, über jahrelange Berufserfahrung erworbene Bauchgefühl, welches auch bei lückenhafter Faktenlage eine professionelle Einschätzung des Einzelfalls gestattet. Die geforderte Praxis der Triage verdichtete diese professionsspezifischen Grundtugenden auf derart dramatische Weise, dass sie zwangsläufig zur ärztlichen Königsdisziplin avancieren musste. Prinzipien der Sichtung beim Massenanfall von Verwundeten wurden an der Sanitätsakademie der Bundeswehr sowohl theoretisch als auch – mittels Falldarstellungen und geschminkter Übungsverwundeter – praktisch gelehrt.216 Es kann an dieser Stelle allerdings nicht unerwähnt bleiben, dass sich die konkreten Lehrpläne der Akademie keineswegs nur an den hier beispielhaft dargestellten Themen der

216 Vgl. Einweisung von Sanitätsoffizieren in die Grundsätze der Sichtung (Undatiert), S. 3. BArch-MA, BW 24/10852.

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Sichtung und der Strahlenkrankheit orientierten. Die ABC-Lehrgänge waren selbst nur ein Teil der sanitätsdienstlichen Fortbildung und innerhalb dieser Lehrgänge wurde dem auf einen vorstellbaren Chemiewaffeneinsatz – man denke an das WINTEX 75 zugrunde liegende Kriegsbild – vorbereitenden, toxikologischen „C-Gebiet“ ebenfalls breiter Raum zugestanden. In einer mir vorliegenden Lehrstoffgliederung aus dem Jahr 1963 standen hingegen für das „B-Gebiet“ lediglich 7 von 92 vorgeschriebenen Lehrstunden zur Verfügung und für das „C-Gebiet“ 20 von 92. Dem in verschiedene Untergruppen unterteilten „A-Gebiet“ widmeten sich demgegenüber insgesamt 65 von 92 Stunden, d. h. über zwei Drittel der verpflichtenden Kursteile.217 „ABC“ bedeutete demzufolge, nicht nur in Bezug auf manche, chronologisch spätere Diskussion und Kontroverse, sondern auch hinsichtlich der Forschung und Lehre des Sanitätswesens der Bundeswehr, zuallererst „A“. 2.1.5 Wehrmedizin und Katastrophenmedizin Wie bezeichneten die verantwortlichen Sanitätsoffiziere der Bundeswehr die sich mit dem prognostizierten Massenanfall von Verwundeten befassende Medizin? In diesem Zusammenhang müssen zwei aufeinander bezogene Felder genannt werden: Wehrmedizin und Katastrophenmedizin. Eine klare Definition beider Begriffe fällt aus Sicht des Historikers schwer, da sich diese insbesondere für „Katastrophenmedizin“ im Lauf des Untersuchungszeitraums sukzessive änderte bzw. überhaupt erst formuliert wurde. Ein wesentlicher Unterschied wird hingegen deutlich, wenn man im bereits in Kapitel 1.3 verwendeten Google NGram-Viewer 218 nach den Begriffen sucht. Das erste der folgenden Diagramme visualisiert die relative Häufigkeit von „Wehrmedizin“, das zweite von „Katastrophenmedizin“ in deutschsprachigen Texten der Jahre 1900 bis 2000. Nach diesen Ergebnissen begann die publizistische Verwendung des Begriffs Wehrmedizin während der NS-Zeit, nahm im Verlauf des Zweiten Weltkriegs stark zu und erlebte nach einem scharfen Einbruch zum Kriegsende ab Mitte der 1950er Jahre einen erneuten Aufschwung zur Zeit der Gründung von Bundeswehr und Sanitätsdienst. Anschließend unterlag sie gewissen Konjunkturen – ob die Krisenerfahrungen des Kalten Krieges hierbei eine Rolle spielten, sei dahingestellt – brach jedoch nicht mehr signifikant ein. Wenn man von seiner minimalen Nutzung um die Zeit der Weltkriege absieht, scheint sich der Begriff Katastrophenmedizin

217 Lehrgang über ABC (San) – Lehrstoffgliederung und Zeiteinteilung. 31.10.1963. BArch-MA, BW 24/126. In diesem konkreten Lehrgang wurden die Pflichtstunden noch durch 15 Wahlpflichtstunden, 28 Stunden Selbststudium sowie 22 praxisorientierte Lehrgangsstunden auf eine Kurslänge von insgesamt 157 Stunden (also ca. einen Monat) ergänzt. 218 Online unter: https://books.google.com/ngrams (aufgerufen am 26.1.2019).

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Abb. 8/9 Ngram-Viewer Rechercheergebnisse, https://books.google.com/ngrams.

demgegenüber erst während der 1970er Jahre etabliert zu haben.219 In den 1980er Jahren wurde der Begriff exorbitant häufig verwendet, während er seit dem Ende des Kalten Krieges wieder deutlich seltener publizistisch auftauchte, um sich auf niedrigem Niveau zu stabilisieren. Ohne allzu sehr vorweggreifen zu wollen: Die beiden folgenden Hauptteile dieser Arbeit thematisieren die 1980er Jahre, weil die extreme Spitze um die Zeit der NATO-Nachrüstung 1983 sich keineswegs allein der fachlichen Verwendung verdankte, sondern vielmehr den intensiven Diskussionen um den Begriff als solchen. Die weniger schwankende Verwendung von „Wehrmedizin“ lässt demgegenüber auf einen durchgängig fachbezogeneren, weniger umstrittenen Charakter schließen, der, bedenkt man etwa die Zäsur zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Gründung der Bundeswehr, durchweg mit dem Militärischen verknüpft blieb.

219 Es sei an dieser Stelle auf die abweichende Einschätzung Cecile Stehrenbergers und Svenja Goltermanns verwiesen, die den Ursprung der Katastrophenmedizin weniger in der Wehr- als vielmehr in der Arbeitsmedizin des frühen 20. Jahrhunderts verorten (S. 318). Auch sie konzedieren jedoch, dass der relative Durchbruch des Feldes mit dem nuclear threat verknüpft war (S. 320), siehe: Cecile Stehrenberger & Svenja Goltermann, Disaster Medicine: Genealogy of a Concept, in: Social Science & Medicine 120/2014, S. 317–324.

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Eine interessante Definition des Felds der Wehrmedizin stammte beispielsweise von Kurt Groeschel. Dieser beschrieb sie nicht als klar umrissenen Fachbereich, sondern als „die praktische Anwendung der [medizinischen] Wissenschaft, und zwar aller Fächer, unter den besonderen Verhältnissen einer Katastrophe, eines Krieges“.220 „Wehrmedizin“ umfasst demnach weniger ein Set spezifischer Verletzungsoder Erkrankungsmuster samt passender Behandlungsmethoden, sondern vielmehr das Wissen darum, auch unter erheblich erschwerten Bedingungen – also beim Massenanfall von Verwundeten und Erkrankten – ärztlich tätig zu sein. Groeschel verfasste seine Definition im Jahr 1965 und damit während einer Zeit des Umbruchs sowohl der NATO-Strategie von massive retaliation hin zu flexible response als auch von der ausschließlich auf den Krieg bezogenen Ausrichtung bundesdeutscher Zivilschutzbemühungen hin zum Erweiterten Katastrophenschutz, der verstärkt alle vorstellbaren Szenarien in den Blick zu nehmen begann (vgl. hierzu Kapitel 1.4). Eine solche, bereits auf all hazards beziehbare Definition des Wehrmedizinbegriffs lässt die später eingeführte Bezeichnung „Katastrophenmedizin“ fast überflüssig wirken und in der Tat schien die definitorische Abgrenzung zunächst unscharf zu sein, was sich an der oft austauschbaren Verwendung beider Begriffe insbesondere während der 1970er Jahre leicht ersehen lässt. Der Titel eines 1980 von Ernst Rebentisch herausgegebenen Lehrbuchs lautete beispielsweise Wehrmedizin: Ein kurzes Handbuch mit Beiträgen zur Katastrophenmedizin221 – wie bei Groeschels Definition erscheinen hier Katastrophenszenarien und ein befürchteter Krieg nicht grundsätzlich voneinander unterschieden zu sein. In einem sehr frühen Artikel zur Katastrophenmedizin aus dem Jahr 1969 wurde zu Beginn auf den Erweiterten Katastrophenschutz, „der möglichst jeder Katastrophenlage, auch der ernstesten im Verteidigungsfall gewachsen sein soll“222 verwiesen. Später wurde betont, dass auch Zivilschutzverantwortliche bei „Katastrophen“ keinesfalls gleich an den Krieg denken würden, wobei auf die gegen Ende der 1960er Jahre in der Tat horrende Zahl Verkehrstoter223 ebenso hingewiesen wurde wie auf die zunehmende Ge-

220 Groeschel, Vorwort zur Schrift „Die Akademie des San.- und Gesundheitswesens der Bundeswehr“, S. 8. 221 Rebentisch & Dinkloh (Hrsg.), Wehrmedizin: Ein kurzes Handbuch mit Beiträgen zur Katastrophenmedizin. 222 A. Dedekind, Katastrophenmedizin und zivile Verteidigung, S. 1, in: Katastrophenmedizin (Beilage der Wehrmedizin) 1/1969, S. 1–7. 223 Die Angabe von 30.000 war dabei sicher übertrieben (Dedekind, Katastrophenmedizin, S. 2); insbesondere aufgrund des damals nicht existenten bzw. erst im Aufbau befindlichen, rein ehrenamtlich organisierten Rettungswesens kam es hingegen von den 1950er bis zu den 1980er Jahren regelmäßig zu einer aus heutiger Perspektive kaum vorstellbaren Anzahl Toter und Verletzter im Straßenverkehr – z. B. 21.000 allein im Jahr 1970 – und dies bei geringerem Verkehrsaufkommen, siehe: Kessel, Geschichte des Rettungsdienstes, S. 52–53.

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fährdung der Bevölkerung durch die neuen Kernenergieanlagen.224 Die zweite Hälfte des Artikels bezog sich dann jedoch wieder gänzlich auf den befürchteten Verteidigungsfall, forderte eine Erweiterung von Zivilschutzmaßnahmen sowie die Verbesserung der gesundheitlichen Vorsorge (Ausbildung von Ärzten und Hilfspersonal, Bevorratung mit Medikamenten usw.) nach Schweizer Vorbild.225 Die der flexible response zugrunde liegenden Kriegsbilder, die analog zu den Planspielen WINTEX 75 oder (mehr noch) SCHWALBE eher von der Möglichkeit eines konventionellen Krieges mit begrenztem ABC-Einsatz ausgingen als vom kompromisslosen Vernichtungswillen des Gegners, ließen demnach gemeinsam mit einer parallel wahrgenommenen Zunahme technisch-zivilisatorischer Risiken das traditionell militärische Feld der Wehrmedizin zusehends mit dem im Entstehen begriffenen Feld Katastrophenmedizin korrelieren. Im Jahr 1974 schrieb beispielsweise der schweizerische Chirurg Mario Rossetti (zur Erinnerung: die neutrale Schweiz wusste ein Höchstmaß nationaler Zivilschutzbemühungen aufzuweisen): Katastrophenmedizin ist die Medizin der Massenversorgung unter erschwerten Bedingungen. Sie ist kein neues Sonderfach für einige Spezialisten, sondern ein integrierender Bestandteil zeitgemäßer Heilkunde. Sie geht uns alle an, und zwar nicht nur das medizinische und technische Fachpersonal, sondern die ganze Bevölkerung. Sie unterscheidet sich von der sog. Friedensmedizin sicher nicht in Grundsätzen und Zielen, sondern in der Art, in der Härte, in den Einschränkungen von personellem und materiellem Einsatz […]. Lehre und Inhalt bezieht sie aus allen Fachgebieten, in erster Linie aber aus Kriegschirurgie und Wehrmedizin.226

In dieser Passage erschienen „Katastrophenmedizin“ und „Wehrmedizin“ völlig austauschbar zu sein, zumal als Gegensatz ausgerechnet der Begriff „Friedensmedizin“ gewählt wurde. Wenn es also überhaupt einen bestimmbaren Unterschied zwischen beiden Begriffen gab, wurde dieser zumeist als graduell, nicht jedoch als grundsätzlich angesehen, so etwa 1979 von Karl-Wilhelm Wedel: Die Katastrophenmedizin, vornehmlich ihr chirurgischer Anteil, steht der Kriegschirurgie inhaltlich am nächsten. Die grundlegenden Unterschiede bestehen jedoch darin, daß die medizinische Katastrophenbewältigung meist auf benachbarte, friedensmäßig funktionierende Krankenhauseinrichtungen zurückgreifen kann, das Schadensereignis meist singularer [sic] Art und regional begrenzt ist, schließlich daß aus fachlicher Sicht

224 Dedekind, Katastrophenmedizin, S. 3. 225 Ebd., S. 3–7. 226 Mario Rossetti, Katastrophenmedizin als Realität und Lehraufgabe, S. 16, in: Wehrmedizinische Monatsschrift 1/1974, S. 15–18.

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das Ende der ungewöhnlichen Belastung abschätzbar wird. Dennoch ist gerade die Katastrophenmedizin mit ihrem Zwang zu Elastizität, Improvisation bei Überforderung der Kräfte eine Vorstufe der Kriegsmedizin.227

Wedel verwendete hier den Begriff Kriegsmedizin anstelle von Wehrmedizin. Auch hierzu mag eine Ngram-Suche von Interesse sein:

Abb. 10 Ngram-Viewer Rechercheergebnis, https://books.google.com/ngrams.

„Kriegsmedizin“ scheint als unmittelbar erkennbares Gegenteil von Rossettis „Friedensmedizin“ der begrifflich eindeutigere, insbesondere während des Ersten Weltkriegs verwendete Vorläufer von „Wehrmedizin“ gewesen zu sein. Besonders auffällig ist allerdings auch hier die Spitze der publizistischen Verwendung gegen Mitte der 1980er Jahre, Jahrzehnte nach seiner begrifflichen Ablösung und deckungsgleich mit der Hochkonjunktur des Begriffs Katastrophenmedizin. Auch hier liegt nahe, dass sich dies keineswegs einer sprunghaften Renaissance der fachlichen Verwendung verdankte, sondern dass der Begriff selbst, ebenso wie „Katastrophenmedizin“, Gegenstand verschiedener Veröffentlichungen gewesen sein muss. Wedels knappe Definition brachte den Unterschied zwischen Katastrophen- und Kriegs- bzw. Wehrmedizin gut auf den Punkt. So wie sich im Zuge von flexible response und Erweitertem Katastrophenschutz seit dem Ende der 1960er Jahre sukzessive die Vorstellung durchsetzte, dass ein singuläres Katastrophenereignis – etwa die 1962er Hamburger Sturmflut – als „kriegsähnlich“ bezeichnet werden konnte, betrachtete Wedel die Katastrophenmedizin als Vorstufe der Wehrmedizin. Beide erforderten gleichermaßen ein Umdenken des Arztes angesichts der dramatischen, die eigenen Fähigkeiten und Ressourcen überfordernden Situation des Massenanfalls; unterschiedlich seien allein dessen Ausmaß und Dauer. Ebenfalls im Jahr 1979 schrieb auch Ernst Rebentisch eine längere Abhandlung zur Katastrophenmedizin, basierend auf einem zuvor bei einem anästhesiologischen

227 Karl-Wilhelm Wedel, Katastrophenchirurgie, in: Zivilverteidigung 1/1979, S. 48.

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Kolloquium an der Universität Mainz – und damit wohl vor allem vor Zivilisten – gehaltenen Vortrag. Dort mahnte er an, dass die Bundeswehr im Fall einer Katastrophe zwar gerne helfe, dies jedoch keinesfalls die Regel werden könne, da im Gegensatz zum Zivilschutz die zivile Katastrophenhilfe Ländersache sei und ein permanentes Vertrauen auf die Katastrophenschutzleistung der Bundeswehr somit einem fortgesetzten Rechtsbruch gleichkäme.228 Insbesondere die zivile Ärzteschaft wurde dabei in die Pflicht genommen, in der anstehenden Debatte u. a. auf der Verabschiedung eines Gesundheitssicherstellungsgesetzes (GesSG) zu bestehen, welches nach schwedischem und schweizerischen Vorbild bereits im Frieden die im Ernstfall notwendigen Zuständigkeiten klären müsse. Rebentischs Artikel fiel insgesamt bemerkenswert zivil aus; Anspielungen auf den Kriegsfall waren auf ein Minimum reduziert, während gleichzeitig moniert wurde, dass man zehntausenden Verkehrsopfern das Leben hätte retten können.229 Ganz wie bei Wedels Definition schien demgegenüber der inhaltliche Kern der Katastrophenmedizin der Wehrmedizin frappierend zu ähneln: „Der radikale Zwang zum plötzlichen Umdenken“ stand jedenfalls auch hier klar im Vordergrund.230 Der letzte Absatz des Artikels lautet: Wir sollten aber vor allem unser medizinisches Personal und alle Ärzte intensiv ausbilden und ihnen die notwendige Ausrüstung zur Verfügung stellen. Schließlich sollte sich die Ärzteschaft nachhaltiger in die offiziellen Planungen zur Katastrophenbewältigung einschalten und dem Fachlichen mehr Einfluß verschaffen.231

Drei Punkte wirken in dieser Passage bemerkenswert. Zunächst fällt Rebentischs Forderung nach einer „intensiven“ katastrophenmedizinischen Ausbildung auf, die vor dem Hintergrund des nur graduellen Unterschieds zwischen Katastrophenund Wehrmedizin einem Appell zur Transferierung militärischer Wissensbestände in die zivile Sphäre zu entsprechen schien. Darüber hinaus mochte es erstaunen, dass Rebentisch zwischen militärischen und zivilen Ärzten kaum noch unterschied: „Unser medizinisches Personal“ bezog sich auf Krankenschwestern ebenso wie auf Schwesternhelferinnen, auf DRK-Mitarbeiter ebenso wie auf Sanitätsunteroffiziere und „die Ärzteschaft“ fungierte – Jahrzehnte nach den beginnenden Bemühungen um die professionelle Aggregation – selbstverständlich als Oberbegriff aller Militärs und Zivilisten. Eben diese Geschlossenheit von Ärzten und Arztsoldaten war nun nach Rebentisch unbedingt erforderlich, um – drittens – dem Fachlichen, d. h. 228 Ernst Rebentisch, Katastrophenmedizin, S. 97, in: Wehrmedizinische Monatsschrift 4/1979, S. 97–100. 229 Ebd., S. 98. 230 Ebd., S. 99. 231 Ebd., S. 100.

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dem Ärztlichen, im heterogenen, insbesondere von der Länderpolitik abhängigen Handlungsfeld Katastrophenschutz endlich mehr Geltung zu verschaffen. Hinsichtlich der Definitionsfrage lässt sich nunmehr generalisierend zusammenfassen: Die Wehrmedizin denkt vom Krieg her: Ihre Vorbereitungen sind am antizipierten Kriegsgeschehen und damit an den leitenden Kriegsbildern orientiert, ihr Nutzen in einem zivilen Katastrophenfall letztlich kollateral. Die Katastrophenmedizin denkt vom Frieden her und – wenn überhaupt – zum Krieg hin: Ihre Vorbereitungen beziehen sich auf zwar zunächst nicht beherrschbare, jedoch weder zeitlich noch räumlich unbegrenzte, vorrangig zivile Schadensereignisse. Ihr potenzieller Nutzen in einem vorstellbaren Krieg wurde von den Verantwortlichen kaum je bestritten, ergab sich hingegen eher beiläufig durch ihre inhaltliche Ähnlichkeit zur Wehrmedizin – „Unfall- und katastrophenmedizinische Themen sind zugleich wehrmedizinische Themen“,232 so äußerte sich 1979 Inspekteur Rebentisch in einem Interview. Sprache und Wirklichkeit bedingen sich gegenseitig. Im Nachhinein betrachtet scheint es die Absicht des Sanitätswesens der Bundeswehr gewesen zu sein, aus der zunächst nur sie tangierenden Wehrmedizin ein neues, nunmehr der gesamten Ärzteschaft offenstehendes Feld zu entwickeln bzw. diese Entwicklung zumindest nach Kräften zu unterstützen. Der „Eigenkraft des Wortes“233 vertrauend bediente man sich hierfür eines unbesetzten Begriffs, dessen Vorsilbe nicht mehr wie „Krieg-“ oder „Wehr-“ auf ein antizipiertes, genuin militärisches Ereignis verwies, sondern auf den kontextabhängigen Katastrophenbegriff, unter dem letztlich alles, all hazards, subsumiert werden konnte. In gewisser Weise ähnelten diese Bemühungen durchaus denjenigen hauptamtlicher Zivilschutzexperten, den in der Öffentlichkeit als unbeliebt geltenden Begriff „Luftschutz“ sukzessive durch „Zivilschutz“ zu ersetzen, zumal sie demselben Zeitraum – Mitte der 1960er Jahre – zuzuordnen sind (vgl. hierzu Kapitel 1.4). Die Vermutung liegt nahe, dass die geförderte Begriffsverschiebung der so häufig angemahnten und im Kriegsfall als essenziell betrachteten zivil-militärischen Zusammenarbeit der Ärzteschaft dienen sollte. Man nutzte den neuen „Containerbegriff “ dazu, die eigene Hilfsbereitschaft im Katastrophenfall ebenso zu unterstreichen wie das Interesse am eigentlich nur zivile Ärzte betreffenden Zivil- und Katastrophenschutz, und konnte gleichzeitig einen für alle Ärzte nützlichen Erwerb wehrmedizinischer Grundkenntnisse propagieren. Es scheint mir wesentlich zu sein, diesen Aspekt des Gegenseitigen erneut zu betonen: Die Sanitätsoffiziere der Bundeswehr arbeiteten sicher nicht „in eine

232 Interview der Wehrmedizinischen Monatsschrift (WMM) mit dem Inspekteur des Sanitäts- und Gesundheitswesens der Bundeswehr, Herrn Generaloberstabsarzt Prof. Dr. Ernst Rebentisch, S. 324, in: Wehrmedizinische Monatsschrift 11/1979, S. 321–324. 233 Reinhart Koselleck, Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte, S. 19, in: ders. (Hrsg.), Historische Semantik und Begriffsgeschichte. Stuttgart 1979, S. 19–36.

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Richtung“; vielmehr wurde als Ausgleich zur intendierten Ausstattung der Zivilisten mit einem Minimum wehrmedizinischen Wissens die weitestmögliche eigene Annäherung an die Zivilmedizin sowie – man vergleiche hierzu Kapitel 2.1.1 – der Erhalt der ärztlichen Einheit über die vormals so starre zivil-militärische Grenze hinweg zugesichert. 2.1.6 Gesetzgebung I: Zivil-militärische Zusammenarbeit Nach den in Kapitel 2.1.3 geschilderten Ansichten des Oberstarztes Alfred Bayer grassierte zu Beginn der 1960er Jahre – also während der wohl krisenreichsten Zeit des Kalten Krieges – die Vorstellung, dass die Antwort auf den totalen Krieg aus sanitätsdienstlicher Sicht ein gleichfalls totales Sanitätswesen sein müsse, welches militärische und zivile Kräfte unter einer einheitlichen Führung vereine. Solche Gedankenspiele verloren sich schnell, wobei es keinesfalls äußerer Druck gewesen war, welcher die Militärs zu einem Umdenken bewog, sondern vielmehr nachhaltige Kritik aus den eigenen Reihen. Ernst Rebentisch etwa befasste sich während seiner aktiven Zeit als Sanitätsoffizier über Jahrzehnte (und in verschiedenen Positionen) mit dem Thema der zivil-militärischen Zusammenarbeit und war einer der schärfsten Kritiker des Bayer’schen Ansatzes. Einem Vortrag des späteren Sanitätsinspekteurs Hansjoachim Lindes zufolge reichten erste Versuche einer Konkretisierung der zivil-militärischen Zusammenarbeit in das Jahr 1964 zurück. Diese liefen darauf hinaus, das damalige BMG im Interesse des BMI und des BMVg zu bitten, „als federführendes Ressort Möglichkeiten und Organisationsform einer optimalen Sicherstellung der gesundheitlichen Versorgung im zivilen und militärischen Bereich gemeinsam zu prüfen und eine entsprechende Vorlage für den Bundessicherheitsrat (BSR) auszuarbeiten“.234 Von BMI, BMVg und BMG wurde in diesem Zusammenhang eine erste interministerielle Arbeitsgruppe eingerichtet, um gemeinsam Möglichkeiten, aber auch Grenzen einer konzertierten Vorbereitung des gesamten Gesundheitswesens auf einen vorstellbaren Krieg auszuloten. Eine erste, im Auftrag von BMG und BMVg angefertigte Studie hierzu versandte der dem verantwortlichen Referat InSan II 1 angehörende Rebentisch im Jahr 1965 an sämtliche Referate der InSan.235 Bereits dort wurden vielfache Unterschiede

234 OTA Dr. Linde, Probleme und Fragen einer Zusammenlegung des militärischen Sanitätsdienstes mit dem zivilen Sanitäts- und Gesundheitswesen (Vortrag an der Akademie für zivile Verteidigung). 1.11.1971, S. 6. BArch-MA, BW 24/4838. Betonungen im Original. 235 Schreiben von Ernst Rebentisch (InSan II 1) an sämtliche Referate InSan sowie nachrichtlich an InspSan, Stellv InspSan, UAL InSan I und II vom 22.3.1965, Betr.: Studie über die Notwendigkeit und über die Möglichkeiten einer engen Zusammenarbeit zwischen dem zivilen und militärischen Sanitäts- und Gesundheitsdienst. BArch-MA, BW 24/718.

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zwischen militärischem und zivilem Gesundheitswesen geltend gemacht. Der Sanitätsdienst der Bundeswehr sei in einem Kriegsfall zunächst der militärischen Führung verpflichtet und müsse unbedingt mobil bleiben, um die eigenen, beweglichen Truppen ebenso wie etwaig anfallende Verwundete verbündeter NATOStaaten angemessen versorgen zu können; auf „regionale Belange“ – hierunter fiel speziell die medizinische Versorgung der Zivilbevölkerung – könne nicht prioritär Rücksicht genommen werden,236 weshalb dies zwingend von einem entsprechend vorbereiteten, zivilen Gesundheitswesen zu bewältigen sei.237 Als Fazit der Studie wurde festgehalten, dass „die an sich wünschenswerte Verschmelzung der beiden Sanitätsdienste“ unmöglich sei, eine „enge Zusammenarbeit“ hingegen alsbald realisiert werden solle.238 Rebentisch unterstrich in den darauffolgenden Jahren gegenüber BMI und BMG wiederholt den von der zivilen Seite abweichenden Auftrag des Sanitätswesens der Bundeswehr. Der zivile Sanitätsdienst handele im Krieg rein humanitär, während der militärische Sanitätsdienst zusätzlich die Kampfkraft der Truppe zu erhalten habe239 und sich darum bemühen müsse, „daß der verwundete Soldat weder in Feindeshand fällt noch bei ihm eine unrechtmäßige Unterbrechung oder Beendigung des Wehrdienstverhältnisses erfolgt und seine Kampffähigkeit wieder hergestellt wird“.240 Neben solchen Verweisen auf die gerade nicht ausschließlich humanitären Ziele des Sanitätswesens fällt aus heutiger Sicht das Anführen völkerrechtlicher Argumente auf, insbesondere wenn man diese zu den dominierenden Kriegsbildern bzw. deren damaligem Wandel in Beziehung setzt. Allein das Festhalten an der Vorstellung, dass sowohl die eigene Seite als auch die Sowjetunion als mutmaßlicher Gegner eines zukünftigen Krieges das Völkerrecht tatsächlich achten würden, schien gut zu denjenigen Kriegsbildern zu passen, welche nicht mehr den Vernichtungswillen, sondern eine auch im Atomkrieg fortbestehende Vernunft des Feindes imaginierten. Die unterschiedliche völkerrechtliche Bewertung des zivilen und militärischen Sanitätsdienstes wurde in mehreren Stellungnahmen betont. Rebentisch selbst meinte, dass „[…] eine solche Zusammenlegung [beider Sanitätsdienste] eine wesentliche Verminderung des völkerrechtlichen Schutzes für die neue Organisation gegenüber dem Schutz,

236 Studie über die Notwendigkeiten und über die Möglichkeiten einer engen Zusammenarbeit zwischen dem zivilen und militärischen Sanitäts- und Gesundheitsdienst, S. 2–3. BArch-MA, BW 24/ 718. 237 Ebd., S. 4 und 6–7. 238 Ebd., S. 14. 239 Schreiben von Ernst Rebentisch an den Bundesminister des Innern sowie nachrichtlich an den Chef des Bundeskanzleramtes vom 28.11.1966, Betr.: Studie über den Sanitäts- und Gesundheitsdienst im Rahmen der Gesamtverteidigung, S. 6. BArch, B 106/124991. 240 Ebd., S. 2.

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der dem militärischen Sanitätsdienst zusteht, bedeuten würde“.241 Als Beispiel sei etwa auf Art. 28 des I. Genfer Abkommens von 12.8.1949 verwiesen, in dem festgelegt wird, dass Angehörige des militärischen Sanitätsdienstes keine legitimen Kriegsgefangenen seien, sondern vom Gegner lediglich temporär „zurückgehalten“ werden können, um gefangene Verletzte, „vorzugsweise der ihren eigenen Streitkräften angehörenden“, zu versorgen. Sie dürften keinesfalls vom Gegner dazu gezwungen werden, fachfremde Tätigkeiten auszuüben und seien im Zweifel schlicht zu entlassen.242 Da ein insbesondere vom BMI angedachter, weitreichend zusammengelegter Sanitätsdienst243 kaum den Statuten des I. und II. (Verbesserung des Loses der Verwundeten und Kranken der bewaffneten Kräfte im Felde und zur See), sondern lediglich denen des für alle Zivilisten geltenden IV. Abkommens (Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten) entsprochen hätte, bewerteten Rebentisch und andere Vertreter des BMVg derartige Pläne als aus ihrer Sicht abzulehnenden völkerrechtlichen Rückschritt.244 Stattdessen sollten verbesserte Kooperationsmöglichkeiten gesucht werden, zu deren Regelung sich das BMVg bereits 1967 für die Verabschiedung eines „Notstandsgesetz[es] für das gesamte medizinische Personal in der Bundesrepublik, wie es z. B. in Schweden besteht“, aussprach. In späteren Verhandlungen setzte sich diese Ansicht letztlich durch und im Dezember 1968 sprachen sich sämtliche beteiligte Ministerien – auch das wohl schwer zu überzeugende BMI – dafür aus, die noch von Alfred Bayer befürworteten Pläne eines einheitlich geführten, gemeinsamen Sanitätsdienstes endgültig zu verwerfen.245 Auch jenseits hochgesteckter Ziele einer Zusammenlegung stießen jedoch die Rufe des BMVg nach einer gesetzlichen Regelung der ärztlichen Rechte und Pflich-

241 Schreiben von Ernst Rebentisch an Ministerialrat Bönsch (BMI) sowie an Ministerialrat Dr. Borgolte (BMG), nachrichtlich an Ministerialrat Stolzhäuser (Bundeskanzleramt) vom 20.6.1967, Betr: Zusammenlegung bzw. Zusammenarbeit des zivilen und militärischen Sanitätsdienstes. BArch, B 106/124991. 242 Genfer Abkommen über den Schutz der Opfer bewaffneter Konflikte, S. 182, online einzusehen u.a. auf den Seiten des DRK: https://www.drk.de/das-drk/auftrag-ziele-aufgaben-undselbstverstaendnis-des-drk/humanitaeres-voelkerrecht-im-kontext-des-drk/genfer-abkommen/ (aufgerufen am 26.1.2019). 243 Ergebnisniederschrift über eine Ressortbesprechung am Mittwoch, dem 12. Juli 1967 im Bundesministerium für Gesundheitswesen, Tagesordnung: Zusammenlegung bzw. Zusammenarbeit von zivilem und militärischem Sanitätsdienst. 28.8.1967, S. 2–3. BArch, B 106/124991. Rebentisch war als einziger anwesender Vertreter von InSan der maßgebliche Sprecher für die Interessen der Sanitätsoffiziere bei der Ressortbesprechung. 244 Ebd., S. 5. 245 Schreiben von InSan II 1 an Herrn Staatssekretär vom 14.1.1969 (Entwurf, Anlage zu InSan II 1 Az. 08-25-00 vom 30. Dezember 1968), Betr.: Zusammenlegung bzw. Zusammenarbeit von zivilen und militärischen Sanitätsdienststellen, S. 2. BArch-MA, BW 24/2629.

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ten im Katastrophen- und Verteidigungsfall keineswegs nur auf Zuspruch. Im Gegensatz zum zwischenzeitlich ganz auf der Linie des BMVg stehenden BMI fiel seit Mitte der 1970er Jahre verstärkt das Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit (BMJFG, bis 1969 BMG) als bremsender Faktor auf. Dieses ließ – nachdem es dem BMI 1973 die Vorbereitung eines noch genauer zu definierenden Gesundheitssicherstellungsgesetzes (GesSG) zugesichert hatte – die Angelegenheit einstweilen mit Verweisen auf rechtliche und finanzielle Probleme versanden. Vom BMVg wurde diese Argumentation jedoch bereits damals als vorgeschoben betrachtet und stattdessen, ausgehend von den 1968 gemachten Erfahrungen mit der außerparlamentarischen Opposition gegen die verabschiedeten Notstandsgesetze, „politische Gründe“ vermutet.246 Alle weiteren Entwicklungen in dieser Angelegenheit vollzogen sich im Schneckentempo. Erst Ende 1977 legte das BMJFG einige vom BMVg prompt als unzureichend benannte Grundsätze als ersten Schritt eines „ÖGD[Öffentlicher Gesundheitsdienst]-Aufgabenregelung“ vor. Den Begriff „Gesundheitssicherstellung“ suchte das BMJFG zu dieser Zeit zu vermeiden, da er etwas zu versprechen schien, was letztlich nicht eingelöst werden könne: Die „Sicherstellung“, d. h. Garantie eines funktionierenden Gesundheitswesens auch im Atomkrieg. Es gelte, so das BMJFG, „eine politisch noch gangbare Lösung [zu] finden und unnötige Widerstände in allen möglichen Bereichen nicht [zu] provozieren“.247 Hierfür sollte der Umfang des Gesetzes kleingehalten und auf den Zivilschutz beschränkt werden – womit gerade die Klärung der zivil-militärischen Zuständigkeiten entfiel, an der InSan seit Mitte der 1960er Jahre so viel gelegen hatte. Trotz scharfer Kritik an dieser verschleppenden und eigenmächtigen Vorgehensweise von Seiten des BMVg248 fanden sich in den BMJFG-Grundsätzen nach erneuten Überarbeitungen bereits die meisten Aspekte, die auch in sämtliche spätere Gesetzentwürfe Eingang fanden.249 Das Gesetz sollte die gesundheitsdienstlichen Zuständigkeiten im Verteidigungsfall klären und die zahlreichen, am zivilen

246 BMVg-Vermerk vom 14.12.1976, Betr.: Gesetz zur Sicherstellung des Gesundheitswesens im Verteidigungsfall (Gesundheitssicherstellungsgesetz); hier: Stand der Vorarbeiten, S. 2. BArch-MA, BW 24/4842. In einem anderen Vermerk vermutete das BMVg offen die „politische Leitung“ des BMJFG, also letztlich Gesundheitsministerin Antje Huber (SPD), hinter der Blockadehaltung, siehe: BMVg-Vermerk vom 23.6.1978, Betr.: Gesundheitssicherstellungsgesetz; hier: Vorgeschichte und Sachstand, S. 2. BArch-MA, BW 24/4840. 247 Wagemann (BMVg), Vermerk vom 22.12.1977, Betr.: Gesundheitssicherstellung; hier: Grundsätze für ein ÖGD-Aufgabengesetz, S. 1. BArch-MA, BW 24/4842. 248 Dr. Schöner (BMVg), Vermerk vom 28.12.1977, Betr.: Gesundheitssicherstellungsgesetz. BArchMA, BW 24/4842. 249 Die anschließenden Punkte stammen aus: Skizze der Schwerpunkte einer zukünftigen gesetzlichen Regelung von Problemen der Gesundheitssicherstellung für den Verteidigungsfall. Anlage eines Schreibens von Ernst Rebentisch an den Bayerischen Staatsminister des Innern Alfred Seidl vom 12.10.1978. BArch-MA, BW 24/36422.

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Gesundheitswesen beteiligten Parteien, vom niedergelassenen Arzt bis hin zum Krankenhausträger, nicht nur über ihre jeweiligen Aufgabenbereiche im Ernstfall, sondern auch über eine etwaige Weisungsgebundenheit transparent informieren. Darüber hinaus stand neben der verbesserten, katastrophenmedizinischen Aus- und Fortbildung sowohl der Ärzte als auch des medizinischen Hilfspersonals vor allem deren möglichst lückenlose Erfassung im Vordergrund. Hierbei wurde nicht etwa nur an im Falle eines Krieges unverzichtbare, pensionierte oder in andere Berufszweige gewechselte, während der 1970er Jahre noch überwiegend männliche Ärzte gedacht, über die den jeweiligen Kammern bzw. Kassenärztlichen Vereinigungen keinerlei aktuelle Informationen vorlagen (geschätzt 20.000 von 135.000 Ärzten insgesamt, Stand 1977).250 Als ebenso wesentlich wurde die Registrierung sämtlicher, bereits ausgebildeter Krankenschwestern angesehen, da diese zur damaligen Zeit meist nach wenigen Jahren heiratsbedingt aus dem Berufsleben ausschieden, weshalb sie über die Krankenhausträger kaum mehr kontaktiert werden konnten.251 Zusätzlich sollten Möglichkeiten geschaffen werden, die Kapazitäten des zivilen Gesundheitswesens in einem Verteidigungsfall stark auszuweiten, etwa durch die Einrichtung von Hilfskrankenhäusern sowie die Bevorratung mit Material und Medikamenten, um auf dieser Basis schließlich die Grundregeln der vorgesehenen zivil-militärischen Zusammenarbeit zu koordinieren, wobei beide Seiten der jeweils anderen möglichst weitreichende Unterstützung zuzusichern hätten. Kurz vor der Bereitstellung eines ersten offiziellen Referentenentwurfs des BMJFG informierte Inspekteur Rebentisch auf Anfrage den damaligen bayerischen Innenminister Alfred Seidl (CSU) über die angeführten Eckpunkte des zukünftigen GesSG. Rebentisch betonte, dass das BMVg an dessen Verabschiedung größtes Interesse habe, da nur so eine sinnvolle zivil-militärische Zusammenarbeit ermöglicht werde, welche den bereits seit längerem entsprechende Vorbereitungen treffenden Sanitätsdienst der Bundeswehr nicht einseitig benachteiligen und in seinem Kernauftrag – die Gesunderhaltung der Soldaten – im Ernstfall über Gebühr behindern würde.252 Parallel zu den hier geschilderten, frühen Vorstößen zu einer gesetzlichen Regelung, die allein aufgrund der komplexen Zuständigkeitsverhältnisse des Gesundheitswesens extrem langwierig auszufallen drohten, verfolgte insbesondere

250 Ernst Rebentisch, Überlegungen zur Struktur des Sanitäts- und Gesundheitswesens – Aspekte der Zusammenarbeit mit dem zivilen Gesundheitswesen. Vortrag vor der Friedrich-Ebert-Stiftung am 4.10.1977, S. 16. BArch-MA, BW 24/7810. 251 Rebentisch bezifferte 1977 die durchschnittliche Beschäftigungsdauer einer fertig ausgebildeten medizinisch-technischen Assistentin mit vier, einer Krankenschwester gar nur mit drei Jahren, siehe: Rebentisch, Überlegungen zur Struktur des Sanitäts- und Gesundheitswesens – Aspekte der Zusammenarbeit mit dem zivilen Gesundheitswesen, S. 16. 252 Schreiben von Ernst Rebentisch an den Bayerischen Staatsminister des Innern Alfred Seidl vom 12.10.1978. BArch-MA, BW 24/36422.

Die zivile Ärzteschaft sucht das Katastrophische

Ernst Rebentisch eine weitere, vielleicht erfolgversprechendere Strategie, die zivilmilitärische Kluft in wehr- bzw. katastrophenmedizinischen Fragen zu überwinden. Für den Arzt lag es nahe, auch abseits der bürokratisch-ministerialen Ebene möglichst weite Teile der Gesamtärzteschaft für das Thema zu interessieren. Hiermit verbanden sich zwei Vorteile: Einerseits brauchte es aufgrund der hohen berufspolitischen Autonomie der Ärzteschaft keineswegs gesetzliche Regelungen zur Erhöhung des fachlichen Wissens um das neue Feld der Katastrophenmedizin, andererseits mochte ein geschlossenes Auftreten der Ärzteschaft in den hiermit zusammenhängenden Fragen stärkeren Handlungsdruck bei den zögerlich agierenden Entscheidungsträgern aufbauen. Der medizinische Zivilschutz war Arztsoldaten wie Gustav Sondermann oder Kurt Groeschel seit Gründung des Sanitätsdienstes der neuen Bundeswehr als idealtypischer Themenbereich erschienen, um das zivilmilitärische Lagerdenken der Ärzteschaft nicht bloß ideologisch, sondern durch gemeinsame praktische Tätigkeit nachhaltig zu zerstreuen. Aus dieser Perspektive lag es also nahe, der Gesamtärzteschaft im Sinne Abbots anzuraten, professionelle jurisdiction im Bereich Gesundheitssicherstellung anzumelden, um den ärztlichen Einfluss auf dieses bislang vorwiegend auf Referentenebene ausgehandelten Themas zu erhöhen. Dass zu diesem übergeordneten Zweck Kompromisse zwischen militärischer und ziviler Ärzteschaft erreicht werden mussten, war Sanitätsoffizieren wie Rebentisch sicher bewusst – als Arztsoldat musste man von deren Möglichkeit hingegen von Berufs wegen überzeugt sein.

2.2

Die zivile Ärzteschaft sucht das Katastrophische

2.2.1 Die Schutzkommission Die wohl traditionsreichste Zivilschutzeinrichtung der Bundesrepublik Deutschland war die Schutzkommission beim BMI. Diese wurde bereits 1951 auf Anraten des damaligen Innenministers Gustav Heinemann eingerichtet und befasste sich seit ihrer Gründung mit den Gefahren der damals noch neuartigen Atomwaffen.253 Die zunächst dem Deutschen Forschungsrat bzw. der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) zugeordnete „Kommission zum Schutz der Zivilbevölkerung gegen kernphysikalische, chemische und biologische Angriffe“ – so ihr ursprünglicher Name –254 setzte sich aus einem koordinierenden Inneren Ausschuss sowie

253 Heinz Reichenbach, Entwicklung und Aufgabe der Schutzkommission, S. 9, in: BZS (Hrsg.), Schutzkommission beim Bundesminister des Innern: 25 Jahre Forschung für den Zivil- und Katastrophenschutz (Zivilschutz-Forschung 1). Bonn 1975, S. 9–13. 254 Schreiben von MR Dr. Stein (Arbeitsgruppe KatS) an Herrn Abteilungsleiter ZV vom 11.5.1981, Betr.: 30. Jahrestagung der Schutzkommission (SK) beim BMI. BArch, B 106/125199.

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mehreren Fachausschüssen zusammen, welche jeweils verschiedene zivilschutzrelevante Forschungsprojekte bearbeiteten. Während der 1950er Jahre waren diese größtenteils technisch orientiert und sollten der Entwicklung besserer Dosimetriegeräte, Atemschutzmasken sowie der Ausarbeitung von Richtlinien für den Schutzraumbau dienen.255 Mit den Jahren verschob sich diese Ausrichtung hingegen sukzessive zugunsten medizinischer Themen: Im Jahr 1975 beispielsweise arbeiteten etwa 80 Wissenschaftler in neun Fachausschüssen der seit dem 11.1.1962 nicht mehr der DFG, sondern unmittelbar dem BMI zugeordneten Schutzkommission.256 Von diesen hatten lediglich zwei keinerlei medizinischen Bezug („Schutzwirkung von Bauten“ und „Störungen in Warnanlagen“), während in allen anderen in unterschiedlichem Maße ärztliches Fachwissen gefordert war. So gab es neben einem speziellen Ausschuss „Katastrophenmedizin“, der sich u. a. mit Verbrennungsschäden und Triage befasste,257 und einem seit 1972 bestehenden psychiatrischsoziologisch ausgerichteten Ausschuss „Psychobiologie“258 ganze drei Ausschüsse, welche mittelbar oder unmittelbar die Strahlenkrankheit erforschten („Radioaktive Niederschläge“, „Strahlendosis und Strahlenwirkung“ sowie „Strahlenschäden, Strahlenkrankheiten“).259 Bearbeitet wurden die betreffenden Themen dabei von namhaften Fachwissenschaftlern, von denen die überwiegende Mehrzahl Univer-

255 Bericht über den Stand der wissenschaftlich-technischen Luftschutzvorbereitungen (Anlage zu ZB 4 – O4 – 5 – 5849/53) vom 19.12.1953. BArch, B 106/17178. 256 Schreiben von MR Dr. Stein (Arbeitsgruppe KatS) an Herrn Abteilungsleiter ZV vom 11.5.1981, Betr.: 30. Jahrestagung der Schutzkommission (SK) beim BMI. 257 Vgl. Wilhelm Greuer, Fachausschuß V: Katastrophenmedizin, in: BZS (Hrsg.), Schutzkommission beim Bundesminister des Innern: 25 Jahre Forschung für den Zivil- und Katastrophenschutz (Zivilschutz-Forschung 1). Bonn 1975, S. 63–69. 258 Ergebnisbericht der Jahrestagung der Schutzkommission beim BMI am 12.5.1972 in Freiburg vom 25.5.1972. BArch, B 106/54520. Die mit der Bewältigung nicht hilfreichen Panikverhaltens im Kriegs- und Katastrophenfall befasste Katastrophenpsychiatrie fristete während des Untersuchungszeitraums dieser Arbeit insgesamt ein Schattendasein. Ihr bekanntester Protagonist war der umstrittene Oberstarzt und Wehrpsychiater Rudolph Brickenstein, der zahllose Artikel zum Thema verfasste und dabei vor zweifelhaften historischen Analogien nicht zurückschreckte (vgl. z. B. Die Kernwaffenexplosion in der Sicht des Psychiater, S. 1, in: Wehrmedizinische Mitteilungen 1/1964, S. 1–7). Die Übergabe des „Psychobiologie“-Vorsitzes an den angesehenen Psychiatrieprofessor Hanns Hippius (zur Biographie vgl. Norbert Müller & Peter Falkai, Hanns Hippius: Impulsgeber für die Psychiatrie, in: Deutsches Ärzteblatt 18/2015, S. 831) verbesserte das Ansehen des Bereichs, wenn auch einige von Hippius’ Arbeiten von linkspolitischer Seite gleichfalls attackiert wurden, siehe: Hans Bräutigam, Angstforschung im Zwielicht, in: Die Zeit, 52/1989, online unter: http:// www.zeit.de/1989/52/angstforschung-im-zwielicht (aufgerufen am 26.1.2019). Die Katastrophensoziologie entstand chronologisch nach der Katastrophenpsychiatrie. Ihr Erfolg lässt sich, abseits der Bestseller Perrows und Becks, durch die Genese der Kieler Schule belegen, deren Begründer Lars Clausen von 2003 bis 2009 Vorsitzender der Schutzkommission war. 259 Reichenbach, Entwicklung und Aufgabe der Schutzkommission, S. 10.

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sitätsprofessoren waren.260 Einige von ihnen wirkten über Jahrzehnte hinweg in verschiedenen Projekten der erst 2015 aufgelösten Schutzkommission,261 z. B. der bereits in Kapitel 2.1.4 erwähnte Verbrennungsspezialist Koslowski. Dieser war seit 1962 Mitglied des damals neu gegründeten Ausschusses „Katastrophenmedizin“ gewesen262 – lange bevor das Thema größere Bekanntheit erlangte – und führte seine Arbeit bis in die 1980er Jahre hinein fort. Er war nicht der einzige der bereits genannten Ärzte, welcher zeitweise für die Schutzkommission tätig war: So zählten der Radiologe Langendorff (vgl. die Kapitel 2.1.2 und 2.1.4)263 ebenso dazu wie sein Habilitand Messerschmidt (vgl. Kapitel 2.1.4), der einige seiner Forschungsergebnisse zu Kombinationsschäden in der seit 1975 vom BZS herausgegebenen „Schriftenreihe der Schutzkommission“ publizierte.264 Angesehene Ärzte wie Koslowski, Langendorff und Messerschmidt arbeiteten ehrenamtlich für die Schutzkommission, genossen hierdurch aber auch Vorteile. Immerhin stellte das BMI zur Erforschung der als wesentlich betrachteten Themen entsprechende Personal- und Sachmittel zur Verfügung, weshalb viel dafür spricht, die Schutzkommission nicht nur als Forum interdisziplinärer, aber sachbezogener Kontaktaufnahme, sondern auch als zeitgenössischen Drittmittelpool für zivilschutzbezogene und katastrophenmedizinische Themen zu betrachten. Obwohl die Arbeit der Schutzkommission während der 1950er und 1960er Jahre zwar nicht im Wortsinn geheim, aber doch auf die mehr oder minder exklusive Nutzung durch das BMI ausgerichtet war, bemühte sie sich ab den 1970er Jahren verstärkt um eine größere Wahrnehmung in der (zivilschutzinteressierten) Öffentlichkeit. Hierzu zählte neben der erwähnten, der Zirkulation ausgewählter Forschungsergebnisse dienenden Schriftenreihe die Gelegenheit, unmittelbar vor Bundestagsabgeordneten sprechen zu können. Leo Koslowski tat dies beispielsweise im November 1979, indem er auf einer Sitzung des Inneren Ausschusses, zu der auch einzelne Abgeordnete eingeladen waren, über den „Stand der Katastrophenmedizin“ referierte. Dabei griff er zahlreiche Topoi auf, die zum damaligen Zeitpunkt nur innerhalb bestimmter Zirkel der Ärzteschaft oder unter Zivilschutzexperten Gesprächsthemen waren:

260 Vgl. etwa Niederschrift über die konstituierende Sitzung der Schutzkommission beim Bundesminister des Innern am 27.2.1962, S. 2–4. BArch, B 106/125199. Die dort vorhandene Auflistung erwähnt namentlich 54 Ausschussmitglieder, darunter 36 Professoren. 261 Vgl. den entsprechenden Vermerk auf den Seiten des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK), der Nachfolgeorganisation des BZS, online unter: http://www.bbk.bund.de/DE/AufgabenundAusstattung/Forschung/Schutzkommission/schutzkommission_node.html (aufgerufen am 26.1.2019). 262 Niederschrift über die konstituierende Sitzung der Schutzkommission beim Bundesminister des Innern am 27.2.1962, S. 3. 263 Ebd., S. 3. 264 Otfried Messerschmidt, Kombinationsschäden als Folge nuklearer Explosionen (ZivilschutzForschung 5). Bonn 1977.

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Ein dem Katastrophenschutz im Weg stehender Föderalismus, der zu einem kaum durchschaubaren Flickenteppich von Regularien und Zuständigkeiten geführt habe, die Unklarheit darüber, wer im Katastrophenfall dazu berechtigt sei, Ärzten und Krankenhausträgern Anweisungen zu erteilen oder auch die fehlende Verpflichtung der Krankenhäuser zur Aufstellung von Notfallplänen.265 Das Verfahren der Triage wurde ebenso erwähnt wie die Notwendigkeit, die Ärzteschaft hierin notfalls verpflichtend auszubilden.266 Zur richtigen Behandlung von Verbrennungen – „die Brandkatastrophe ist aus ärztlicher Sicht die häufigste Friedenskatastrophe“ – empfahl Koslowski die Einrichtung zusätzlicher, spezialisierter Behandlungszentren. Insbesondere aber wurde auf die Bedeutung der Verabschiedung eines GesSG verwiesen. Koslowski sagte hierzu: Dies ist keine politische Frage, sondern eine Lebensfrage für die Bürger unserer Republik. Zumindest wir Ärzte haben kein Verständnis dafür, daß man unbequeme Sachforderungen mit dem Hinweis abwürgt, es handle sich um eine politische Frage.

Koslowskis Vortrag endete schließlich mit einem Appell dazu, „ihren ganzen politischen Einfluß geltend zu machen, daß wir auf diesem Gebiet endlich vorankommen und nicht ein Entwicklungsland bleiben“.267 Deutlich bringen solche Passagen nicht nur den Wunsch zum Ausdruck, Einfluss zu nehmen auf die politischen Entscheidungsträger; gerade auch die scharfe Abgrenzung des Ärztlichen vom Politischen, der „politischen Frage“ von der „Lebensfrage“ wirkt auffallend und inszenierte die Ärzteschaft als im Vergleich zu demokratisch legitimierten Abgeordneten letztlich probateren Sachwalter der Bevölkerungsinteressen – zumindest in Bezug auf die „wirklich wichtigen“, existenziellen Probleme. Sicher scheint jedenfalls, dass Koslowski seine Mitarbeit in der politiknahen Schutzkommission auch dazu nutzte, um die Katastrophenmedizin über die reine Forschungsarbeit hinaus voranzubringen. Wenn auch diese größere Politiknähe zeitweise mit einer gewissen Entfernung zur allgemeinen Wissenschaftssphäre einherzugehen schien: In Bezug auf das Thema dieser Arbeit konnte die Schutzkommission durchaus Ergebnisse vorweisen, z. B. einen von Koslowski herausgegebenen, an die gesamte bundesdeutsche Ärzteschaft gerichteten Leitfaden zur Katastrophenmedizin. Den Auftrag hierfür erhielt dieser wohl 1978, wobei auf einer Sitzung des Inneren Ausschusses explizit erwähnt 265 Leo Koslowski, Der Stand der Katastrophenmedizin aus der Sicht der Schutzkommission beim Bundesminister des Inneren. Vortrag gehalten auf der Gemeinsamen Sitzung des Inneren Ausschusses mit den Herren Abgeordneten der Arbeitsgruppe Zivilschutz des Innenausschusses des Deutschen Bundestages am 15.11.1979, S. 1–2. BArch, B 106/73375. 266 Ebd., S. 4 und 7. 267 Ebd., S. 6 (alle drei Zitate).

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wurde, dass der Leitfaden als Ersatz des veralteten „NATO-Handbuchs über Katastrophenmedizin“ – gemeint war die ZDv 49/50 (vgl. Kapitel 2.1.3) – gedacht sei.268 Zu Beginn der Arbeit hieran stand die Klärung, auf welches Ereignis bzw. welche Ereignisse dieser denn überhaupt vorbereiten solle. Die ZDv 49/50 gehörte eindeutig zur Wehrmedizin und hatte sich keineswegs an die gesamte, zumal zivile Ärzteschaft gerichtet. In einem Schreiben an den damaligen Vorsitzenden der Schutzkommission Franz Gross269 – selbst hoch geachteter Pharmakologieprofessor in Heidelberg und 1984 posthum mit der Paracelsus-Medaille ausgezeichnet –270 schrieb Koslowski, dass der von ihm erarbeitete Leitfaden im Gegensatz zur ZDv 49/50 „ein ärztliches Vademekum im Katastrophenfalle“ sein solle; die Aussage ist im Dokument hingegen vom Leser unterstrichen und mit der Randnotiz „V-Fall!“ versehen worden.271 Auch wenn die eigentliche Ausgestaltung und Rezeption dieses „Vademekums“ aufgrund seines Veröffentlichungsdatums erst im nächsten Teil dieser Arbeit erläutert werden soll, gilt es demnach festzuhalten, dass auch innerhalb der Schutzkommission die genauere Bestimmung des inhaltlichen Mittelpunkts der eigenen Bemühungen ein fortlaufender Suchprozess war und das Katastrophische von deren Mitgliedern unterschiedlich konkretisiert werden mochte. 2.2.2 Zweierlei Mahnungen: Die Bundesärztekammer und der Zivilschutz Die berufliche Selbstverwaltung stellt einen Eckpfeiler der ärztlichen Profession dar. Sie verdeutlicht die vergleichsweise hohe Freiheit des einzelnen Arztes ebenso sehr wie den Wunsch nach einem möglichst geschlossenen Auftreten „nach außen“, also z. B. gegenüber der Politik oder anderen Interessenverbänden (vgl. hierzu Kapitel 1.5). In Bezug auf Imagination und Planung des Katastrophischen sind demnach zwei divergierende Tendenzen zu erwarten: Einerseits kontrovers geführte, aber kollegial bleibende, interne Diskussionen, andererseits Akte der Kompromissfindung, um trotz etwaigem Dissens eine geschlossene Haltung formulieren zu können, die dann – als Ansicht der Ärzteschaft – eine möglichst große Wirkmächtigkeit im Sinne des Berufs entfalten soll. Im Gegensatz zu mehr oder

268 Ergebnisbericht vom 11.12.1978, Betr.: Sitzung des Inneren Ausschusses der Schutzkommission beim BMI am 30.11.1978. BArch, B 106/73375. 269 Vgl. die Auflistung sämtlicher Präsidenten auf den Seiten des heutigen BBKs, online unter: https://www.bbk.bund.de/DE/AufgabenundAusstattung/Forschung/Schutzkommission/Vorsitzende/Vorsitzende_Schuko_node.html (aufgerufen am 26.1.2019). 270 Die Träger der Paracelsus-Medaille der deutschen Ärzteschaft 1984 – Prof. Dr. med. Franz Gross, in: Deutsches Ärzteblatt, 21/1984, S. 1723. 271 Schreiben von Leo Koslowski an den Vorsitzenden der Schutzkommission beim BMI, Prof. Dr. F. Gross, vom 7.9.1978. BArch, B 106/73375.

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minder exklusiven Gruppen wie dem Sanitätswesen der Bundeswehr oder gar der Schutzkommission beim BMI war und ist jede Ärztin, jeder Arzt der Bundesrepublik Deutschland Pflichtmitglied der jeweils verantwortlichen Landesärztekammer, deren Vertreter wiederum den Kern der Bundesärztekammer bilden. Die dortige Diskussion des Katastrophischen betraf somit nicht nur einen vergleichsweise großen Personenkreis, sondern auch eine pluralistische Berufsgruppe, deren Mitglieder sich im Gegensatz zu den Sanitätsoffizieren keineswegs hauptberuflich mit Kriegsbildern auseinandersetzten und deren Alltag meist nicht von Dienstanweisungen, sondern von hoher persönlicher Autonomie in der eigenen Praxis geprägt war. Als spezifische, gut konturierbare Teilmenge der Ärzteschaft vermochte das Sanitätswesen der Bundeswehr Ansichten zu formulieren, die keiner allgemeinen Zustimmung der zivilen Ärzteschaft bedurften; die Kammern hingegen waren mit der Herausforderung konfrontiert, Positionen zu bestimmen, auf die sich möglichst viele Ärztinnen und Ärzte grundsätzlich einigen konnten. Bereits die frühesten Debatten zum Thema verdeutlichten die skizzierte Dynamik zwischen individuellem Dissens und gleichzeitig erstrebtem berufspolitischen Konsens. Nachdem bereits der 59. Ärztetag eine Kommission zur Untersuchung etwaiger, „der Entwicklung der Atomwissenschaft“ geschuldeter Strahlenschäden der Bevölkerung ins Leben gerufen hatte, eröffnete der Vorsitzende eben dieses „Ausschusses für Atomfragen“, der 1970 mit der Paracelsus-Medaille ausgezeichnete Radiologie Paul Eckel,272 die entsprechende Nachfolgedebatte des 60. Deutschen Ärztetags (25. bis 29. Juli 1957 in Köln). In seinem Eingangsstatement bezeichnete dieser insbesondere „die Frage der Abfallprodukte des sog. Atommülls und ihrer Beseitigung“ als vordinglich und brachte den Wunsch der Ärzteschaft zum Ausdruck, stärkere Berücksichtigung in der Strahlenschutzkommission des Bundes zu erfahren.273 Anschließend verlas er – mit Bitte um Diskussion und Abstimmung – eine „vom Vorstand beschlossene Entschließung zum Schutz der Bevölkerung in Atomfragen“: Aus Verantwortung für die Volksgesundheit fühlt sich der Deutsche Ärztetag verpflichtet, zu der die gesamte Öffentlichkeit tief bewegenden Frage der Atomgefahren Stellung zu nehmen. Der Deutsche Ärztetag hält sich zur Zeit nicht für aufgerufen, über das medizinisch-biologisch-wissenschaftliche Problem hinaus politische Empfehlungen zu dieser Frage zu geben. Er hält es aber für dringend notwendig, die widerspruchsvollen Verlautbarungen über die Gefahren radioaktiver Verseuchung sowohl bei der Erprobung

272 Ehrentafel der deutschen Ärzteschaft: Die Träger der Paracelsus-Medaille, S. 2697, in: Deutsches Ärzteblatt 41a/1973 (Sondernummer), S. 2696–2697. 273 Wortbericht des 60. Deutschen Ärztetages, S. 19.

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nuklearer Waffen, wie auch bei der friedlichen Nutzung der Kernenergie einer unverzüglichen, von den besten Wissenschaftlern der Welt vorzunehmenden Klärung zuzuführen. Die Erkenntnis der Kernwissenschaft stellt der Menschheit neue Energiequellen zur Verfügung und begrüßenswerte Fortschritte auf den verschiedensten Gebieten des Lebens in Aussicht. […] Die Bundesrepublik sollte es als eine ihrer besonderen Verpflichtungen betrachten, ihre wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Kräfte auch in den Dienst der biologisch-medizinischen Forschung zu stellen, um die friedliche und humanistische Anwendung der Atomwirtschaft zu fördern und die Bevölkerung vor den möglichen Gefahren zu schützen. Die Bundesärztekammer ist bereit, bei der Beratung und Durchführung aller hiermit zusammenhängenden Fragen mitzuwirken. Der Deutsche Ärztetag hat zu diesem Zweck bereits vor einem Jahr eine Atom- und Strahlenschutzkommission der Ärzteschaft gebildet. Er fordert im Interesse der Bevölkerung die Bundesregierung erneut und dringlich auf, die ihr angebotene Zusammenarbeit nunmehr zu verwirklichen.274

Interessant scheint hier zunächst zu sein, dass keineswegs trennscharf zwischen Atomenergie oder Atomwaffen unterschieden, sondern bereits 1957 verallgemeinernd vom Problem der „Atomgefahren“ gesprochen wurde, ganz im Sinne des sich erst zehn Jahre später durchsetzenden All-hazards-Ansatz des Zivil- und Katastrophenschutzes. Davon abgesehen musste die Entschließung zwangsläufig Erinnerungen an die wenige Monate zuvor veröffentlichte Göttinger Erklärung der 18 Atomwissenschaftler – darunter Otto Hahn, Werner Heisenberg und der Initiator Carl Friedrich von Weizsäcker –275 wecken, welche durchweg ähnliche Motive beinhaltete. Nicht nur verknüpften beide Texte die Mahnung vor den Gefahren der neuen Technik mit einem Appell zur intensivierten Förderung ihrer „friedlichen Verwendung“; auch die vorgenommene Unterscheidung zwischen Politik und Wissenschaft wirkte deckungsgleich. „Wir fühlen keine Kompetenz, konkrete Vorschläge für die Politik der Großmächte zu machen“, so hieß es in der Göttinger Erklärung.276 Der Deutsche Ärztetag sah sich analog dazu „nicht für aufgerufen, über das medizinisch-biologisch-wissenschaftliche Problem hinaus politische Empfehlungen zu dieser Frage zu geben“ – und tat dies unmittelbar im Anschluss dennoch. Sowohl die Göttinger 18 als auch der Deutsche Ärztetag betonten ihren Status als objektive Wissenschaftler, die aufgrund der gegebenen Sachlage zu einer Stellungnahme geradezu gezwungen wurden. Ausgehend hiervon erhielt das vom Deutschen Ärztetag formulierte Angebot der erweiterten ärztlichen Mitarbeit ei-

274 Ebd., S. 20. 275 Vgl. Lorenz, Protest der Physiker. 276 Göttinger Erklärung, 11.4.1957. Originaltext online einsehbar auf den Seiten der Universität Göttingen unter: http://www.uni-goettingen.de/de/54320.html (aufgerufen am 26.1.2019).

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nen unabdingbaren Charakter, obwohl es de facto kaum mehr als die erwünschte Maximierung der ärztlichen jurisdiction im neuartigen, interdisziplinären Feld des Strahlenschutzes zum Ausdruck brachte. Wie zu Beginn dieses Absatzes angedeutet, stellte die angenommene Entschließung einen Kompromiss dar und war vor ihrer Verabschiedung intensiv diskutiert worden. Die persönlichen Ansichten lagen dabei weit auseinander: Während einige sie als das „samteste und weichste, was man sich überhaupt vorstellen kann“277 betrachteten, und – teils in Anlehnung an den populären, „politischen“ Arzt Albert Schweitzer –278 eine deutlich schärfere Formulierung forderten, wiesen andere eben dies entschieden zurück: Ich halte es aber für falsch, daß ein Ärzteparlament sich überhaupt jemals direkt in politische Fragen einschaltet. Indirekt wollen wir es tun, wir wollen warnen vor den Gefahren, aber direkte politische Einflußnahme nehmen sollten wir nicht.279

Ernst Fromm, der nur zwei Jahre später selbst Präsident der Bundesärztekammer werden sollte (von 1959 bis 1973), positionierte sich in dieser Frage noch eindeutiger: Ich glaube nicht, daß es dem Ansehen des Ärztetages sehr tunlich ist, Entschließungen zu fassen, die praktisch eine Forderung des ewigen Friedens oder eine Verbannung des Krieges darstellen, von der wir wissen, daß kein Politiker, daß kein Parlament sie deshalb verwirklichen wird, weil wir sie etwa gefordert hätten.280

Schließlich warnte Herbert Britz, der erste Vorsitzende des Marburger Bundes, gar davor, eine „politische Debatte“ zu entfesseln, „die nicht des Deutschen Ärztetages würdig ist“,281 worauf ihm u. a. entgegnet wurde, mit welchem Recht man sich dann anmaße, Empfehlungen zur Sozialversicherung zu treffen.282 Anhand der genannten Argumente ist leicht zu erkennen, dass hier jenseits der konkreten Entschließung grundsätzlich diskutiert wurde, inwiefern und in Bezug auf welche Themen der Deutsche Ärztetag „politisch“ werden könne oder müsse. Dabei waren bereits 1957 zwei sich diametral gegenüberstehende Positionen auszumachen: Zunächst gab es diejenigen, welche ein stärkeres Engagement der Ärzteschaft anmahnten, übertriebene Zurückhaltung in diesem Bereich als mit dem beruflichen

277 278 279 280 281 282

Wortbericht des 60. Deutschen Ärztetages, S. 21. Ebd., S. 23. Ebd., S. 21. Ebd., S. 22. Betonung im Original. Ebd., S. 23. Ebd., S. 24.

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Ansehen nicht zu vereinbarende Feigheit gegenüber den Entscheidungsträgern verstanden und darauf beharrten, dass die eigene, „objektive“ Wissenschaftlichkeit gegenüber allzu „subjektiven“ Politikern als Korrektiv fungieren müsse. Einer anderen Gruppe von Ärzten erschien eine solche Vorgehensweise hingegen als unangemessene Übernahme einer als würdelos angesehenen, politischen Praxis, die drohe, ein um Konsens bemühtes professionelles Kollegium zu streitsüchtigen Parlamentariern abzuwerten. Der Deutsche Ärztetag habe sich daher zumindest aus dem politischen Tagesgeschäft herauszuhalten und seine Entschließungen auf den engen Bereich der Gesundheits- und Sozialpolitik zu beschränken, welcher die eigene Berufsausübung unmittelbar betreffe. Abgesehen von der beide Seiten gleichermaßen prägenden negativen Bewertung des Politikbetriebs wurden sie ebenso von der übergeordneten Klammer des Aggregationswillens zusammengehalten, der in Bezug auf die obige Entschließung nicht allein durch die finale Abstimmung erzwungen, sondern auch in verschiedenen Redebeiträgen wörtlich zum Ausdruck gebracht wurde.283 Es spricht einiges dafür, die 1950er und 1960er Jahre als Zeit des berufsspezifischen Austarierens verschiedener Ansichten hinsichtlich der „Atomgefahren“ zu betrachten. Bereits auf dem 1958 folgenden, 61. Ärztetag in Garmisch-Partenkirchen beispielsweise wirkte die in dieser Sache verabschiedete Entschließung deutlich schärfer formuliert als ihr Vorläufer, obwohl sie inhaltlich nahezu identisch war: Nach einer Beschwörung der ärztlichen Verantwortung wurde das Primat des Wissenschaftlichen betont und die Beendigung des „politischen Missbrauchs halber Wahrheiten“, ebenso aber eine „großzügige Förderung“ der Atomforschung unter ärztlicher Mitwirkung angemahnt. Neu hinzugekommen war ein Absatz, der das Katastrophenpotenzial insbesondere der vorhandenen Waffen hervorhob: Der Deutsche Ärztetag warnt die Verantwortlichen in der ganzen Welt vor frevlerischem Mißbrauch der Atomenergie, der die Gesundheit und das Leben aller Menschen zerstören kann; er beschwört die verantwortlichen Politiker der ganzen Welt, die allen Menschen gemeinsam drohenden Gefahren abzuwenden und im Zusammenleben der Völker der Humanität und der Ehrfurcht vor dem Leben wieder Geltung zu verschaffen; er fordert daher die Ächtung aller Massenvernichtungswaffen, zu denen auch die bakteriologischen und chemischen Kampfmittel gehören; er verlangt eine internationale Vereinbarung über den Verzicht auf weitere Atomwaffenversuche.284

283 Vgl. Wortbericht des 60. Deutschen Ärztetages, S. 22. 284 Diskussionen und Entschließungen des Ärztetages – Atomgefahren, in: Ärztliche Mitteilungen 27/1958, S. 758.

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Paul Eckel hielt diesmal gar den Eröffnungsvortrag mit dem Titel „Arzt und Gesundheit im Atomzeitalter“, der nach einer knappen Chronologie der Atomforschung sowie der Erörterung ausgewählter wissenschaftlicher Erkenntnisse nunmehr scharf zwischen der zivilen und militärischen Nutzung der Atomenergie unterschied. Letztere sei gerade aufgrund mangelhafter Schutz- und Heilungsmöglichkeiten konsequent abzulehnen: Den Erscheinungen eines Atomkrieges stehen wir mit ärztlichen Maßnahmen praktisch machtlos und ohnmächtig gegenüber. Es besteht die Möglichkeit, in Schutzbunkern mit besonderer Konstruktion, die wir aber nicht besitzen und die auch in einer geziemenden Entfernung vom Detonationsort sich befinden müßten, einen Schlag einzelner H-Bomben zu überleben. Gegen einen H-Bomben-Teppich gibt es voraussichtlich überhaupt keinen Schutz.285

Eckels bedrückender Schilderung und der damit zusammenhängenden pessimistischen Einschätzung etwaiger ärztlicher Möglichkeiten lag noch klar das Massiveretaliation-Kriegsbild zugrunde, welches frühe NATO-Übungen wie FALLEX 62 geprägt hatte (vgl. hierzu Kapitel 2.1.3). Während aber die Ärzteschaft auch in Bezug auf vorstellbare Gefahren der zivilen Nutzung der Atomenergie „Mahner und Helfer“ bleiben müsse, habe sie ebenso sehr darauf hinzuwirken, die in der Öffentlichkeit wahrnehmbare, übertriebene „Strahlenpsychose“ abzubauen, etwa durch die Betonung der „segensreichen“ medizinischen Einsatzmöglichkeiten radioaktiver Strahlung.286 Gemahnt wurde demnach in zweierlei Richtung, ganz dem Geist der Göttinger Erklärung entsprechend: Gegen die Nutzung der Atomwaffen, aber auch für eine auszubauende Verwendung der Atomenergie. Ambivalent blieb die Haltung der Kammern – und damit offiziell der westdeutschen Ärzteschaft – in diesen Fragen allemal; von einer einseitigen Beschwichtigung hinsichtlich der „Atomgefahren“ konnte zumindest bis Mitte der 1960er Jahre hinein keinerlei Rede sein. Dies lässt sich auch anhand der entsprechenden Berichterstattung der Ärztliche Mitteilungen bzw. des Deutschen Ärzteblattes (ab 1964 umbenannt) als zentraler Publikation der Bundesärztekammer belegen, welche in einer Vielzahl von Notizen und Artikeln beide charakterisierten Flügel der Ärzteschaft zu Wort kommen ließ. Ein 1960 stattfindender, an Sanitätsoffiziere der Reserve gerichteter ABC-Abwehrkurs der Bundeswehr etwa erfuhr eine überaus positive Berichterstattung. Besonders gelobt wurde aber vor allem die kritische

285 Paul Eckel, Arzt und Gesundheit im Atomzeitalter (Eröffnungsvortrag des 61. Deutschen Ärztetags in Garmisch-Partenkirchen), S. 777, in: Deutsches Ärzteblatt 27/1958, S. 768–777. 286 Ebd., S. 775–776.

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Abgewogenheit des Kursleiters, welcher neben der Schilderung vorstellbarer Abwehrmaßnahmen explizit betont habe, dass der Atomkrieg durch „die ständige Mahnung aller verantwortungsbewußter Sanitätsoffiziere und ABC-Fachleute aus West und Ost“287 unbedingt zu verhindern sei. Einen anlässlich der Kubakrise erfolgenden Aufruf des Sanitätsinspekteurs zur erwünschten Mitwirkung ziviler Ärzte an Wehrübungen der Bundeswehr288 druckte man ebenso wie einen positiven Beitrag zur Möglichkeit von Ärzten, den Militärdienst zu verweigern.289 Als Reaktion auf diesen wiederum veröffentlichte ein Sanitätsoffizier einen Leserbrief, welcher exakt dem Lager derjenigen zu entsprechen schien, die auf dem 60. Deutschen Ärztetag eine möglichst weitreichende Distanz der Ärzteschaft zur politischen Sphäre angemahnt hatten. Dort hieß es: „Was Sanitätsoffiziere (aktive und d. Res.) hier tun, ist nichts anderes, als alle erdenklichen Vorbereitungen zu treffen, um im Falle eines Krieges, den Politiker herbeiführen, den Verwundeten und Kranken zu helfen.“290 Diesem Appell zur Beschränkung des Arztes auf seine Kernaufgabe wurde im Schlusswort des ursprünglichen Autors allerdings gegenübergehalten: „Wenn ich eine Tat für verwerflich halte, so unterlasse ich sie, natürlich auch die Vorbereitung dazu. Deswegen lehne ich den Wehrdienst als Vorbereitung auf meine Beteiligung am Kriege ab.“291 Einen Höhepunkt erreichte die kritische Berichterstattung des Deutschen Ärzteblattes zu den „Atomgefahren“ im Jahr 1965. Im Rahmen der Reihe „Themen der Zeit“ veröffentlichte die Redaktion eine Artikelserie mit dem Titel „Die medizinischen Folgen eines thermonuklearen Krieges“.292 Dabei handelte es sich keineswegs um eine originale Arbeit, sondern um übersetzte Auszüge des zwei Jahre älteren US-amerikanischen Bandes The Fallen Sky: Medical Consequences of Thermonuclear War,293 welcher fünf längere Artikel beinhaltete, die bereits in der angesehenen Fachzeitschrift New England Journal of Medicine erschienen waren. Hinter der ursprünglichen Veröffentlichung stand die zu Beginn der 1960er Jahre von den Ärzten Victor Sidel, Jack Geiger und

287 Karl Frick, ABC-Abwehr in der Bundeswehr: Bericht über den ersten Kurzlehrgang für Sanitätsoffiziere der Reserve an der Sanitätsschule der Bundeswehr in München, S. 2351, in: Ärztliche Mitteilungen 46/1960, S. 2351–2352. 288 Der Sanitätsinspekteur der Bundeswehr bittet alle deutschen Ärzte um ihre Mitarbeit, in: Ärztliche Mitteilungen 37/1961, S. 2050. 289 Treiber, Ärzte als Kriegsdienstverweigerer anerkannt, in: Ärztliche Mitteilungen 40/1963, S. 2014. 290 Carl Merkle, Ärzte als Kriegsdienstverweigerer anerkannt (Leserbrief), in: Deutsches Ärzteblatt 2/ 1964, S. 83. 291 Treiber, Ärzte als Kriegsdienstverweigerer anerkannt (Schlusswort), S. 83, in: Deutsches Ärzteblatt 2/ 1964, S. 83–84. 292 In: Deutsches Ärzteblatt 8/1965, S. 440–445; 9/1965, S. 497–500; 10/1965, S. 554–558; 11/1965, S. 612–616; 12/1965, S. 668–674. 293 Saul Aronow, Frank Ervin & Victor Sidel, The Fallen Sky: Medical Consequences of Thermonuclear War. New York 1964.

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Bernard Lown gegründete atomkritische Gruppe Physicians for Social Responsibility (PSR), die sich zunächst insbesondere für eine Beendigung der Atomwaffentests, später verstärkt auch gegen die zivile Nutzung der Atomenergie einsetzte.294 Lown, bekannter Kardiologe und Professor der Harvard School of Health, sollte später einer der Gründer und Co-Präsident der transnationalen ärztlichen Friedensbewegung International Physicians for the Prevention of Nuclear War werden – der Inhalt der Artikel fiel dementsprechend düster aus. Anhand eines imaginierten, mit zehn Atomwaffen durchgeführten sowjetischen Angriffs auf den US-Staat Massachusetts wurden denkbare Verletzungsmuster ebenso thematisiert wie die eingeschränkten ärztlichen Handlungsmöglichkeiten. Die Grundprämisse der Texte wurde bereits in der von Willy Reichstein für das Deutsche Ärzteblatt verfassten Einleitung auf den Punkt gebracht: Den Verfassern schwebt im übrigen nicht vor, einen Plan zum Überleben zu entwickeln. Sie sehen dafür keine rationale Grundlage. Ihre Absicht war vielmehr, nüchtern geschilderte Tatsachen erneut beweisen zu lassen, daß die Vorbeugung die einzig wirksame Therapie sein kann. Den Ärzten in der Welt erwächst aus dieser Tatsache nach Ansicht der Verfasser die besondere Verpflichtung, ihren ganzen Einfluß zur Verhütung des thermonuklearen Krieges und zur Bewahrung des Friedens geltend zu machen.295

Dass die Existenz von Schutzräumen in gewissen Angriffsszenarien „die Zahl der Verluste deutlich reduzieren würde“ wurde zunächst bejaht, gleich darauf jedoch als willkürlich problematisiert: Man könne „zu fast jeder Schlußfolgerung kommen […], wenn man die jeweils passenden Voraussetzungen wählt“.296 Der Differenzierung verschiedener Kriegsbilder, der Aufstellung entsprechender Pläne sowie dem Wunsch, sich zumindest so weit wie möglich vorzubereiten, wurde insgesamt eine Absage erteilt und in medikalisierter Sprache die Prävention des Atomkriegs als „neues Gebiet der vorbeugenden Medizin“ ausgerufen.297 Kein ganzes Jahr nach der Veröffentlichung dieser ausführlichen Darlegung der Ansichten des „politischen Flügels“ der Ärzteschaft hieß es hingegen in einem anderen Artikel des

294 Kemper, Medizin gegen den Kalten Krieg, S. 130. 295 Willy Reichstein, Die medizinischen Folgen eines thermonuklearen Krieges (Einleitung), S. 442, in: Deutsches Ärzteblatt 8/1965, S. 440–442. 296 Victor Sidel, Jack Geiger & Bernard Lown, Die Aufgaben des Arztes nach einem Angriff I (Die medizinischen Folgen eines thermonuklearen Krieges 3), S. 555–556, in: Deutsches Ärzteblatt 10/ 1965, S. 554–558. 297 Victor Sidel, Jack Geiger & Bernard Lown, Die Aufgaben des Arztes nach einem Angriff II (Die medizinischen Folgen eines thermonuklearen Krieges 4), S. 616, in: Deutsches Ärzteblatt 11/1965, S. 612–616.

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Deutschen Ärzteblattes völlig gegenteilig, und damit ganz im Sinne der geschilderten Ambivalenz: So verständlich und auch notwendig solche düsteren Gedanken sind, muß doch festgestellt werden, daß ärztliche Hilfe stets lohnt, auch wenn sie nur einem kleinen Kreis Hilfebedürftiger gegeben werden kann. Ärztliche Hilfe wird nicht nur dann geleistet, wenn der Erfolg zahlenmäßig übersehbar ist. Seit Menschengedenken haben sich Ärzte Seuchen, Hungersnöten und anderen elementaren Lebensbedrohungen entgegengestellt, ohne nach dem Ausmaß ihrer Erfolge zu fragen. Versuchen wir in unserem ärztlichen Alltag nicht auch in hoffnungslosen Krankheitsfällen zu helfen? Dürfen wir im Großen anders denken?298

Der Verfasser dieses Artikels, Friedrich Schäfer, war Oberstarzt der Bundeswehr; der inhaltliche Kontrast zur PSR-Artikelserie unübersehbar. Während dort das Politische zum neuen ärztlichen Fachgebiet (um-)gedeutet werden sollte, unterstrich Schäfer den „anerkannten und gesicherten Vorrang der Politik in allen Fragen der Landesverteidigung“299 und betonte, dass wehrmedizinische Kenntnisse „auch bei im Frieden auftretenden Großkatastrophen“ nützlich sein mochten, weshalb man diese denn auch als „Katastrophenmedizin“ (im Original mit Anführungszeichen) bezeichnen könne.300 Trotz solcher, bereits seit den 1950er Jahren nachweisbarer, diametraler Gegensätze innerhalb der westdeutschen Ärzteschaft glich sich die Wahl der von beiden Seiten verwendeten Metaphern frappierend. So schrieb man auf PSR-Seite von der „nuklearen Epidemie“301 und charakterisierte den Erhalt des Friedens als „Prävention“ der „Krankheit“ Krieg. Schäfer und andere, ähnlich argumentierende Autoren unterschieden demgegenüber eine politische Prävention, die den Frieden sichern müsse, von einer ärztlichen, die für den Fall des Versagens der Politik eben doch zur Vorbereitung auf den Ernstfall mahnte. Auffallend ist bei einem Vergleich beider Positionen erneut das überdeutlich sichtbare Misstrauen, welches gemeinhin dem Politikbetrieb entgegengebracht wurde. Dieses verband letztlich beide Positionen: Während manche Ärzte sich als bessere, „objektivere“ Politiker inszenierten, rechneten selbst diejenigen, die das Primat der Politiker in Fragen von Krieg und Frieden betonten, fest mit der Möglichkeit ihres Versagens.

298 Friedrich Schäfer, Das Unbehagen in der Wehrmedizin, S. 147–148, in: Deutsches Ärzteblatt 3/1966, S. 146–148. 299 Ebd., S. 148. 300 Ebd., S. 146. 301 Herbert Leiderman & Jack Mendelson, Einige psychiatrische und soziale Gesichtspunkte des Luftschutzprogramms (Die medizinischen Folgen eines thermonuklearen Krieges 5), S. 673, in: Deutsches Ärzteblatt 12/1965, S. 668–674.

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Gegen Ende der 1960er Jahre schien sich das Meinungsklima der zivilen Ärzteschaft der Bundesrepublik – bzw. ihrer Repräsentanten – zunehmend zu homogenisieren. Dies mag man an zahlreichen Texten des 1975 mit der Paracelsus-Medaille ausgezeichneten Ärztefunktionärs und Oberfeldarztes der Reserve a.D. Bernhard Degenhard ablesen. Degenhard war nicht nur von 1963 bis 1975 Präsident der Baden-Württembergischen Landesärztekammer, sondern zusätzlich von 1967 bis 1971 auch Vizepräsident der Bundesärztekammer gewesen und in dieser Funktion maßgeblich an der Arbeit verschiedener Arbeitskreise beteiligt, wobei ihm sein „besonderes Anliegen […], Verständnis zu wecken und zu fördern für die Aufgaben des Sanitätsdienstes und des zivilen Bevölkerungs- sowie Katastrophenschutzes“302 den Vorsitz des Ausschusses und der Ständigen Konferenz „Sanitätswesen und ziviler Bevölkerungsschutz“ einbrachte. In einer Reihe von Artikeln und Vorträgen setzte sich Degenhard vehement für die Verzahnung beider geschilderter Ansichten der bundesdeutschen Ärzteschaft hinsichtlich des Atomthemas ein, indem er neben der konsequenten Forderung nach verstärkten Zivilschutzbemühungen auch von Seite der Ärzteschaft gleichwohl zu betonen suchte, dass „Krieg vermeiden“ letztlich der beste Schutz sei.303 Degenhard erwies sich als geschickter Rhetoriker, der beispielsweise anmerkte, dass das Verteidigungsministerium in Wirklichkeit ein Soldatenministerium sei und dass es ihn ungemein beruhige, wenn die Bundesregierung für den Bau von Schutzräumen für ihre „lieben Starfighter und deren sympathische Nachfolgeflugzeuge“ gleich viel Geld ausgebe wie für den Schutz von 60 Millionen Bundesbürgern.304 Gerade durch diesen, oft sarkastischen Tonfall seiner Texte suchte Degenhard zu betonen, dass ihn keineswegs die Zuneigung zum Militärischen, sondern echte, von der Politik nicht genügend berücksichtigte Besorgnis dazu dränge, sich für Zivilschutzmaßnahmen auszusprechen. Degenhard stand keineswegs allein: Seine Ansicht fand im Kreis der Kammern und sonstigen Berufsverbände während der 1970er Jahre zusehends Anklang und manifestierte sich u. a. in anhaltenden, nunmehr auch von zivilärztlicher Seite ausgehenden Forderungen nach der zügigen Verabschiedung des bereits in Kapitel 2.1.6 erwähnten GesSG.

302 Die Träger der Paracelsus-Medaille der deutschen Ärzteschaft 1975 – Dr. med. Bernhard Degenhard, S. 1400, in: Deutsches Ärzteblatt 20/1975, S. 1400–1401. 303 Bernhard Degenhard, Arzt und Zivilschutz: Eine Skizze der deutschen Situation, in: Deutsches Ärzteblatt 18/1967, S. 959–960 und 994–996. 304 Gesundheits-, Sozial- und ärztliche Berufspolitik 1971: Tätigkeitsbericht der Bundesärztekammer 1971 – Sicherstellung der ärztlichen Versorgung im Katastrophen- und Verteidigungsfall (Referat von Bernhard Degenhard), S. 1806–1808, in: Deutsches Ärzteblatt 23/1971, S. 1807.

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2.2.3 Gesetzgebung II: Das Gesundheitssicherstellungsgesetz Eine Vorreiterrolle im zivilärztlichen Bemühen um die Verabschiedung des Gesundheitssicherstellungsgesetzes übernahm der Hartmannbund, der traditionsreichste ärztliche Berufsverband. Der bereits im Jahr 1956 gegründete, maßgeblich von Generalarzt Kurt Groeschel geprägte Arbeitskreis „Sanitätsoffiziere“ (vgl. hierzu Kapitel 2.1.1) existierte auch Mitte der 1970er Jahre noch, nunmehr umbenannt in „Ärzte in der Bundeswehr und im Zivilschutz“ und geführt von dem Allgemeinund Flottenarzt der Reserve Friedhelm Otto, während Groeschel nach einem Intermezzo als Vorsitzendem erneut als stellvertretender Vorsitzender fungierte. Es sei an dieser Stelle ein erstes Mal auf die langjährige personelle Kontinuität verwiesen, welche die bundesdeutsche Ärzteschaft z. B. von hauptberuflich tätigen Zivilschutzbeamten unterschied, die nach Erreichen der entsprechenden Altersgrenze in den Ruhestand traten. Für viele Ärzte bedeutete diese Zäsur hingegen eine Intensivierung ihrer Funktionärstätigkeit. Verantwortlich hierfür muss wohl die charakteristische Verknüpfung zwischen Beruf und Privatleben, zwischen persönlichem und fachlichem Wirken angesehen werden, die Eliot Freidson als Teil der professionsspezifischen Ideologie betrachtet. Auch der hohe Respekt vor der generationellen Folge ist hiermit verknüpft. In Bezug auf die Ärzteschaft wurde dieser bereits im antiken Hippokratischen Eid und später im sogenannten Genfer Gelöbnis schriftlich fixiert und mehrfach durch den Weltärztebund bestätigt, zuletzt im Jahr 2017. Aktuell heißt es dort: Ich werde die Ehre und die edlen Traditionen des ärztlichen Berufes fördern. Ich werde meinen Lehrerinnen und Lehrern, meinen Kolleginnen und Kollegen und meinen Schülerinnen und Schülern die ihnen gebührende Achtung und Dankbarkeit erweisen.305

Solche tradierten symbolisch-kulturellen Vergemeinschaftungspraktiken mögen dazu beigetragen haben, dass nicht allein für Kurt Groeschel, sondern für viele der in dieser Arbeit genannten Ärzte das Berufsleben erst mit der tatsächlichen altersoder krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit endete. Der seinerzeit von Groeschel vorgegebenen Linie blieb der Arbeitskreis auch in den 1970er Jahren weitgehend treu: In mehreren Artikeln der Verbandszeitschrift

305 Deklaration von Genf, ursprünglich verabschiedet von der 2. Generalversammlung des Weltärztebundes 1948, zuletzt revidiert von der 68. Generalversammlung 2017. Online einsehbar unter: https://www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/downloads/pdf-Ordner/International/Deklaration_von_Genf_DE_2017.pdf (aufgerufen am 26.1.2019). Demgegenüber enthielt die vorherige, 1994 revidierte Version den Satz: „Meine Kolleginnen und Kollegen werden meine Schwestern und Brüder sein“, während „Achtung und Dankbarkeit“ ausschließlich auf „Lehrerinnen und Lehrer“ bezogen blieb.

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des Hartmannbundes, Der Deutsche Arzt, wurde die Bedeutung insbesondere der zivil-militärischen Zusammenarbeit im Gesundheitswesen betont,306 sowohl für den nicht ausschließbaren Fall eines Krieges als auch aufgrund des Potenzials kaum beherrschbarer Großkatastrophen wie z. B. der Hamburger Sturmflut von 1962.307 Wiederholt wurde darauf hingewiesen, dass keineswegs die Bundeswehr, sondern im Gegenteil das zivile Gesundheitswesen von einer verbindlichen Rahmengesetzregelung in diesem Bereich besonderes profitieren würde.308 Viele andere Staaten wie die Schweiz, Israel,309 Schweden, Norwegen, aber auch die Deutsche Demokratische Republik310 hätten bereits deutlich umfassendere und stringentere Regelungen hierzu getroffen als die im Ernstfall so verwundbare Bundesrepublik. Gerade die Schweiz erfuhr in Bezug zur Regelung der sanitätsdienstlichen, zivil-militärischen Zusammenarbeit, aber auch für ihre sonstigen Zivilschutzbemühungen (vgl. hierzu Kapitel 1.4) großes Lob. Dabei wurde deren friedliebender Charakter unterstrichen und darauf hingewiesen, dass sie ihre Bürgerinnen und Bürger als „Vorbild demokratischer Verfassung“ in Sicherheitsfragen unabhängig „von Parteihader und Emotionen“311 zu informieren wüsste. Gegen Ende eines Beitrags für Der Deutsche Arzt verglich Groeschel die schweizerische Herangehensweise nun mit westdeutschen Zuständen: Unter dem Eindruck dieses für den Schutz der Bevölkerung vorbildlichen Sachstandes sei die Frage erlaubt, wann die im Parteiengezänk mehr und mehr verstrickten Politiker der Bundesrepublik Deutschland aller Ebenen und Parteien nunmehr endlich die dringend notwendigen gesetzlichen und sonstigen Regelungen treffen wollen, um das Überleben der Bevölkerung in einem ernsten Katastrophenfall nach Menschenmöglichkeit abzusichern.312

306 Friedhelm Otto, Gesundheitliche Versorgung im Verteidigungsfall, in: Der Deutsche Arzt 23/1976, S. 12–18 und Friedhelm Otto, Dringende Probleme nicht beiseiteschieben, in: Der Deutsche Arzt 19/1977, S. 48–54. 307 Helmut Knupfer, Ärztliche Versorgung im Katastrophenfall sichern, S. 40, in: Der Deutsche Arzt 24/1976, S. 40–48 und Kurt Groeschel, Warten auf ein notwendiges Gesetz, S. 16, in: Der Deutsche Arzt 12/1978, S. 16–22. 308 Ärztliche Versorgung bei Katastrophen ungesichert, in: Der Deutsche Arzt 22/1977, S. 52. 309 Vgl. Otto, Gesundheitliche Versorgung im Verteidigungsfall, S. 12–14. 310 Friedhelm Otto, Gesundheitssicherstellungsgesetz schnellstens realisieren, in: Der Deutsche Arzt 21/1978, S. 43–44; Friedhelm Otto, Zivilschutz und Armee im Ostblock eng verzahnt, in: Der Deutsche Arzt 5/1979, S. 28. 311 Kurt Groeschel, Gesundheitsdienst im Rahmen des Zivilschutzes, S. 30, in: Der Deutsche Arzt 2/1979, S. 35, S. 30 und 35. 312 Ebd., S. 35, S. 30 und 35.

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In dieser Vorstellung von „hadernden“ und „zankenden“ Politikern, die das geforderte GesSG mehr durch Unfähigkeit als durch mangelnden Willen verunmöglichen würden, spiegelte sich dieselbe ablehnende Einstellung zum Politikbetrieb wider, welche bereits während der 1950er Jahre innerhalb der Ärzteschaft wiederholt zum Ausdruck gebracht worden war. Diese griff zwar punktuell auf autoritäre Motive zurück, erwuchs letztlich aber eher einer berufsspezifisch-technokratischen Mentalität, die sich an der Tatsache störte, dass Politiker oft Laien ihrer eigenen Ressorts sind und keineswegs vorrangig aufgrund fachlicher Expertise gewählt werden. Die Hochachtung der Schweiz deckte sich im Übrigen mit Argumentationsmustern, welche sich unter bundesdeutschen Zivilschutzexperten bereits seit Jahren größter Popularität erfreuten. Diese blickten geradezu neidisch auf den historisch „unbelasteten“ Nachbarn, der in Sachen Krieg und Verteidigung deutlich sorgloser vorgehen konnte, als es in der geteilten Bundesrepublik Deutschland mit ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit und unter dem Druck einer starken außerparlamentarischen Opposition für möglich erachtet wurde. Ihre positive Außenwahrnehmung in Sachen Zivilschutz wusste die Schweiz zudem auch aktiv bestens zu fördern. Silvia Berger hat in diesem Zusammenhang ausgeführt, wie erfolgreich sich schweizerische „Zivilschützer“ seit den frühen 1960er Jahren um internationale Kontakte zur Erweiterung ihrer Expertise bemühten313 und wie sehr sie dabei – etwa im Kontakt zu Wissenschaftlern und Technikern aus den USA und der Bundesrepublik – trotz vorgeblicher Neutralität „wissenschaftliche Westintegration“314 betrieben. Die Schweiz avancierte schlussendlich zu einer in Zivilschutzfragen weltweit führenden Nation, auf deren „vorbildliche Zivilschutzeinrichtungen“315 und „geradezu ideale Verhältnisse für die Bewältigung der Folgen von Katastrophen“316 sich schließlich auch die Funktionärsebene der bundesdeutschen Ärzteschaft gerne berief. Nachdem eine Delegation der Bundesärztekammer – bestehend aus Mitgliedern des ursprünglich mit dem Namen Gustav Sondermann verbundenen BÄK-Ausschusses „Sanitätswesen in der Bundeswehr und Zivilschutz“ (vgl. Kapitel 2.1.1) – bereits im Jahr 1978 eine Exkursion in Sachen Zivilschutz nach Schweden und Norwegen unternommen hatte,317 erfolgte vom 21. bis 22. August 1980 eine ähnliche Bildungsreise in die Schweiz, bei der die Delegierten nicht nur mit schweizerischen Beamten das Gespräch suchen, sondern

313 Berger Ziauddin, „Wahre Schweizer Architektur ist unterirdisch“, S. 14–19. 314 Ebd., S. 16. 315 Katastrophenalarm – und was danach?. Information der Pressestelle der deutschen Ärzteschaft vom 23.9.1980. BArch, B 417/157. 316 Vgl. z. B. Wilhelm Ahrens, Unzureichende Rüstung für den Katastrophenfall, S. 19, in: Arzt und Krankenhaus 4/1980, S. 18–20. 317 Skandinavien: Zivilschutz beispielhaft, in: Deutsches Ärzteblatt 27/1978, S. 1592.

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auch mehrere entsprechende Einrichtungen (öffentliche Schutzräume, gesicherte Hilfskrankenhäuser usw.) besichtigen konnten.318 Die arztsoldatisch geprägte Führungsriege des Arbeitskreises „Ärzte in der Bundeswehr und im Zivilschutz“ des Hartmannbundes und die Mitglieder des beinahe gleichnamigen Ausschusses der Bundesärztekammer waren nicht die einzigen zivilärztlichen Gremien, welche Ende der 1970er Jahre zur zügigen Verabschiedung eines GesSG aufriefen. Der insbesondere die Interessen angestellter Krankenhausärzte vertretende Marburger Bund schloss sich solchen Forderungen ebenso an wie der Verband der niedergelassenen Ärzte Deutschlands e. V. (NAV). Letzterer betonte dabei die Bedeutung ziviler Großschadensereignisse und verwies analog zu Kurt Groeschels Argumentation auf die Hamburger Sturmflut ebenso wie auf „Erfahrungen aus dem Ausland – insbesondere der Schweiz“. Gefordert wurde eine „präventive, massive politische Einflußnahme“, da die Ärzteschaft „sowohl im zivilen als auch militärischen Katastrophenfall“ besonders beansprucht würde.319 Der Marburger Bund schrieb demgegenüber vom „Verteidigungs- und Katastrophenfall“, für den u. a. eine „bestmögliche Kooperation zwischen zivilen und militärischen Verantwortungsbereichen“ vorzuschreiben sei.320 Solchen Initiativen der zivilen Ärzteschaft um das GesSG waren – parallel zu den während der 1970er Jahre vorangetriebenen Versuchen, die Binnenstruktur des Sanitätswesens zu reformieren (vgl. Kapitel 2.1.2) – intensive Diskussionen vorstellbarer Varianten einer zivil-militärischen Zusammenarbeit321 ebenso vorausgegangen wie verstärkte Werbungsbemühungen der InSan. So hieß es etwa 1976 in dem Protokoll einer Sitzung des BÄK-Ausschusses „Sanitätswesen in der Bundeswehr und Zivilschutz“:

318 Schreiben von Heinz-Peter Brauer an die Teilnehmer der Studienreise „Zivilschutz in der Schweiz“ in der Zeit vom 20. bis 23. Aug. 1980 vom 11.8.1980. BArch, B 417/157. Dem Schreiben lagen sowohl das Veranstaltungsprogramm als auch die Teilnehmerliste bei: Von Seiten der Bundesärztekammer waren dies Präsident Karsten Vilmar, Vizepräsident Gustav Osterwald, Heinz-Peter Brauer als geschäftsführender Arzt sowie Norbert Jachertz vom Deutschen Ärzteblatt. Alle anderen Teilnehmer scheinen Journalisten gewesen zu sein (u. a. DPA, WDR, Die Welt). Vgl. auch die berufsinterne Berichterstattung zur Studienreise: Günter Burkart, Die Schweiz ist gut vorbereitet, in: Deutsches Ärzteblatt 28/1980, S. 2214–2217. 319 Verband der niedergelassenen Ärzte Deutschlands (NAV) e. V., Entschließung Nr. 4 der Bundeshauptversammlung 1979: Katastrophenmedizin. BArch-MA, BW 24/4840. 320 Marburger Bund – Verband der angestellten und beamteten Ärzte Deutschlands e. V. (Bundesverband): Beschluß Nr. 10 der 53. Hauptversammlung 1978: Gesundheitssicherstellungsgesetz. BArch-MA, BW 24/4842. 321 Eine Übersicht der unterschiedlichen Ansätze findet sich beispielsweise in: Entwurf einer Studie über die Möglichkeiten einer Zusammenlegung bzw. Zusammenarbeit der zivilen und militärischen Sanitätsdienste, Stand: 20.2.1970 (Anlage eines Schreiben des BMJFG an den BMI sowie BMVg – InSan II 1 vom 5.3.1970, Betr.: Studie über die Zusammenlegung bzw. Zusammenarbeit der zivilen und militärischen Sanitätsdienste). BArch-MA, BW 24/4838.

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Die Konferenz bittet daher den Vorstand der Bundesärztekammer, in einer Entschließung auf dem 79. Deutschen Ärztetag nochmals nachdrücklich die Verabschiedung des sog. „Gesundheitssicherstellungsgesetzes“ bei der Bundesregierung und den übrigen staatlichen Behörden zu fordern, da allein eine gesetzliche Regelung die Länder zwingen könnte, in ihren Bereichen „zivilschutzaktiv“ tätig zu werden, um nach einer gewissen Zeit gemeinsame Pläne für die Sicherstellung der Versorgung der Zivilbevölkerung im gesundheitlichen Bereich bei einem Katastrophen- bzw. Verteidigungsfall zu gewährleisten.322

Gemeinsam mit zwei anderen Sanitätsoffizieren nahm auch Ernst Rebentisch als damaliger stellvertretender Inspekteur des Sanitätswesens der Bundeswehr an der Konferenz teil. Von einer einseitigen Beeinflussung der zivilen Ärzteschaft kann hingegen keine Rede sein; so hieß es in dem Protokoll explizit, dass Rebentisch vom zivilärztlichen Vorsitzenden der Konferenz, dem Chirurgen Horst Bourmer, darum gebeten wurde, gemeinsam mit der Bundeswehr „die niedergelassene Ärzteschaft in Fragen der zivilen Verteidigung fortzubilden und dabei insbesondere die Notfall-, Katastrophen- und Verteidigungsmedizin zu behandeln“.323 Bourmer war ein besonders vielbeschäftigter „ärztlicher Berufspolitiker der ersten Stunde“324 , welcher u. a. (!) für den Marburger Bund (1951 bis 1968), als langjähriger Präsident des Hartmannbundes (1972 bis 1989), Vizepräsident der Bundesärztekammer (1973 bis 1978) sowie als Präsident der Ärztekammer Nordrhein (1981 bis 1993) tätig gewesen war. Am Anfang seiner Karriere stand hingegen auch bei ihm – wie Rebentisch und Messerschmidt im Jahr 1920 geboren – die Kriegserfahrung in mehreren Fronteinsätzen (vgl. hierzu auch Kapitel 4.6). Während Rebentischs berufliche Vita das Ringen um die Überbrückung der zivil-militärischen Kluft veranschaulichen mag, offenbarte Bourmers vielfältiges Engagement ein vergleichbares Bemühen um die möglichst breitflächige berufspolitische Aggregation, welche als Schlüssel zur Freiheit von Fremdbestimmung ausgewiesen wurde.325 Trotz biographischer Ähnlichkeiten einzelner Akteure ist allerdings davor zu warnen, in diesem Zusammenhang allzu sehr auf generationelle Deutungen (etwa in Anlehnung an Karl

322 Niederschrift über die 1. und konstituierende Sitzung der Wahlperiode 1975/79 des Ausschusses und der Ständigen Konferenz „Sanitätswesen in der Bundeswehr und Zivilschutz“ am 6.3.1976 im Bundesärztehaus in Köln-Lindenthal, S. 6. Aus einer vom Generalsekretariat der Deutschen Gesellschaft für Katastrophenmedizin bereitgestellten Materialsammlung. 323 Niederschrift über die Sitzung des Ausschusses und der Ständigen Konferenz „Sanitätswesen in der Bundeswehr und Zivilschutz“ am 6.3.1976, S. 7. 324 Die Träger der Paracelsus-Medaille der deutschen Ärzteschaft 1994 – Prof. Dr. med. Horst Reiner Bourmer, S. 1462, in: Deutsches Ärzteblatt 20/1994, S. 1462–1463. 325 Prof. Dr. Horst Bourmer starb 80-jährig, in: Rheinisches Ärzteblatt 7/2001, S. 19.

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Mannheims Begriff der Generationseinheit)326 zu vertrauen. Der teils verbissen geführte Kampf um weitreichende persönliche und berufspolitische Autonomie war immerhin ein bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurückreichendes, fortlaufend perpetuiertes Kernanliegen der professionalisierten Ärzteschaft. Das von Rebentisch und Bourmer demonstrierte Bemühen um die Einigung zunächst disparat wirkender Bereiche wie Sanitätsoffiziere und Zivilisten, Angestellte und Niedergelassene, Allgemein- und Fachärzte usw. zu einer in politischen Fragen geschlossenen Gesamtärzteschaft mochte sich somit beruflicher Tradierung ebenso verdanken wie geteilten biographischen Erfahrungen. Klar scheint hingegen, dass Rebentisch bei Funktionären wie Bourmer kaum Überzeugungsarbeit leisten musste, um diese von seinem bereits in Kapitel 2.1.5 vorgestelltem Kernanliegen zu überzeugen: den ärztlichen Einfluss in Bezug auf das Katastrophische zu erhöhen. Die jeweils ähnliche Punkte aufgreifenden Erklärungen der sonst oft uneinigen Berufsverbände Hartmannbund, Marburger Bund und NAV demonstrieren dieses Bemühen um einen Konsens in wehr- bzw. katastrophenmedizinischen Fragestellungen, welcher der zivilen Ärzteschaft gemeinsam mit dem Sanitätsdienst der Bundeswehr ermöglichen sollte, sich gegenüber allzu „subjektiv“ agierenden Politikern durchzusetzen. Dieses Ansinnen wurde gekrönt von einer Entschließungsserie der Deutschen Ärztetage, auf denen man in den Jahren 1969, 1971, 1976 (wie von der o.a. BÄKKonferenz erbeten), 1978, 1979 und 1980 eine Verbesserung der ärztlichen Versorgung der Bevölkerung im Katastrophen- und Verteidigungsfall verlangte. Dabei wurde einmal die zivil-militärische Zusammenarbeit in den Vordergrund gerückt,327 ein anderes Mal die Forderung nach einem GesSG328 oder aber der Appell zur allgemein stärkeren Berücksichtigung ärztlichen Sachverstands in entsprechenden Angelegenheiten.329 Auch möglichst umfassende Schutzraumbauprogramme wurden empfohlen330 – und damit die Grenzen der Verantwortlichkeit des Ärzte-

326 Karl Mannheim, Das Problem der Generationen (1928, mit einer Einleitung von Ulrike Jureit), S. 25 f. Einsehbar unter: https://www.1000dokumente.de/index.html?c=dokument_de&dokument=0100_gen&object=translation&st=&l=de (aufgerufen am 26.1.2019). 327 Entschließung des 72. Deutschen Ärztetags 1969: Sicherung der ärztlichen Versorgung im Katastrophenfall. BArch, B 417/164. 328 Entschließung des 79. Deutschen Ärztetags 1976: Sicherstellung der ärztlichen Versorgung im Katastrophenfall. BArch, B 417/164; Entschließung des 81. Deutschen Ärztetags 1978: Gesundheitssicherstellungsgesetz. BArch, B 417/164; Entschließung des 82. Deutschen Ärztetags 1979: Gesundheitssicherstellungsgesetz. BArch, B 417/164; Entschließung des 83. Deutschen Ärztetags 1980: Versorgung der Bevölkerung im Katastrophen- und Verteidigungsfall. BArch, B 417/164. 329 Entschließung des 83. Deutschen Ärztetags 1980: Gesundheitssicherstellungsgesetz – Rettungswesen. BArch, B 417/164. 330 Entschließung des 81. Deutschen Ärztetags 1978: Gesundheitssicherstellungsgesetz; Entschließung des 82. Deutschen Ärztetags 1979: Gesundheitssicherstellungsgesetz. Gefordert wurde hier und an anderen Stellen meist die Förderung des Baus privater Schutzräume nach Schweizer Vorbild,

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tags durchaus weit interpretiert – wobei man sich auf Schweden, Norwegen und natürlich die Schweiz als Beispiele berief. Sämtliche Entschließungen bedienten sich des All-hazards-Prinzips: „Alle Regelungen, die für den Spannungs- und Verteidigungsfall gelten, sind auch für Katastrophenfälle von praktischem Nutzen.“331 Ähnlich brachte es der 1922 geborene Hals-Nasen-Ohrenarzt Gustav Osterwald – von 1978 bis 1990 Präsident der niedersächsischen Landesärztekammer und ab 1979 zusätzlich Nachfolger Bourmers als Vizepräsident der BÄK und Vorsitzender des Ausschusses „Sanitätswesen in der Bundeswehr und Zivilschutz“ –332 zum Ausdruck, als er behauptete, dass zwischen Kriegs- und Katastrophenfall „keine grundsätzlichen, sondern allenfalls graduelle Unterschiede“333 bestünden. Obwohl gerade der auch von Osterwald geforderte Schutzraumbau dieser These widersprach (vgl. hierzu Kapitel 1.4) schienen das erwünschte GesSG sowie eine hiermit zusammenhängende Optimierung der zivil-militärischen Zusammenarbeit im Ernstfall klar mit dem All-hazards-Ansatz vereinbar zu sein. Da in diesem Zusammenhang keineswegs mit unüberwindlichen Kosten gerechnet wurde, hofften die Ärzteverbände, dass der von ihrer Seite ausgeübte Druck nach jahrelangem Bemühen endlich auch politisch Früchte tragen mochte. Nach zwei bereits 1979 kursierenden, vom BMJFG als hausinterne Beratungsgrundlage betrachteten Vorentwürfen334 datierte der erste offizielle „Referentenentwurf eines Gesetzes zur Anpassung des Gesundheitswesens an besondere Anforderungen eines Verteidigungsfalles – Gesundheitssicherstellungsgesetz (GesSG)“ auf den 31.5.1980.335 Der bandwurmartige Titel spiegelte sich auch in der stolzen Länge des Entwurfs (175 Seiten), welcher am 8. August 1980 vom BMJFG mit der Bitte um Stellungnahme bis zum 20. Oktober an sämtliche relevanten Adressa-

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vgl. z. B. das auf dem 83. Deutschen Ärztetag 1980 beschlossene sogenannte „Blaue Papier“ zu den „gesundheits- und sozialpolitischen Vorstellungen der deutschen Ärzteschaft“, S. 1526, in: Deutsches Ärzteblatt 23/1980, S. 1508–1526. Entschließung des 82. Deutschen Ärztetags 1979: Gesundheitssicherstellungsgesetz. Wenige biografische Informationen finden sich in: Birgit Hibbeler, Nachruf auf Gustav Osterwald: Vorbildlicher Einsatz für die Ärzteschaft, in: Deutsches Ärzteblatt 36/2011, S. 1867. Gustav Osterwald, Sicherstellung der ärztlichen Versorgung im Katastrophenfall (Referat anläßlich des 29. Deutschen Kongresses für ärztliche Fortbildung am 31.5.1980 in Berlin), S. 1. BArch, B 417/ 159. Heutzutage würde man wohl von geleakten Entwürfen sprechen, über deren Existenz das BMJFG keineswegs erfreut war, vgl. die Aussage des verantwortlichen Referenten Jelen in: Auszug aus dem Protokoll über die 4. Sitzung der gewählten Mitglieder des Deutschen Senats für ärztliche Fortbildung am 19.12.1979 im Haus der BÄK, Köln. Zu Punkt 2 TO: Gesundheitssicherstellungsgesetz. BArch, B 417/162. Von diesem ersten Entwurf existieren Kopien in mehreren Archivbeständen sowie zusätzlich eine große Anzahl inoffizieller, gekürzter Versionen. Der Originaltext findet sich u. a. im Bundesarchiv in Koblenz unter BArch, B 417/162 oder im Archiv des DRK unter DRK, 3965.

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ten – im konkreten Fall eine stattliche Vielzahl – versandt wurde.336 Zufrieden war kaum jemand. In einer interministeriellen Besprechung unter Beteiligung des BMJFG, BMI, BMVg und des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung (BMA) wurde nicht allein die Verständlichkeit des Entwurfs kritisiert; die generellen Kostenbedenken des BMJFG waren vielmehr ebenso spürbar wie die nach wie vor grundlegend ungeklärte Richtung der zivil-militärischen Zusammenarbeit.337 Noch deutlicher äußerten sich die Gesundheitsminister der Länder im Rahmen einer gemeinsamen Besprechungsrunde: Das niedersächsische Sozialministerium attestierte dem BMJFG einen „Planungsfetischismus […], dem jeder Bezug zur Realität fehle“;338 der vorliegende Entwurf sei „nicht lesbar“.339 Der Kritik des Hamburger Vertreters am überzogenen Perfektionismus der Vorlage schlossen sich in der anschließenden Diskussion mit Ausnahme Baden-Württembergs sämtliche Ministerien an.340 Bedenken hinsichtlich etwaiger, auf die Länder zukommender Verwaltungskosten sowie der Missmut darüber, dass der Bund ein entsprechendes Rahmengesetz vorbereite, ohne sich maßgeblich an dessen praktischer Umsetzung beteiligen zu wollen, durchzogen die gesamte Diskussionsrunde. Als Beispiel einer eher neutralen Reaktion sei auf die relativ knappe Stellungnahme des DRK verwiesen, dessen Generalsekretariat zunächst die prinzipielle Bedeutung eines entsprechenden Gesetzes unterstrich und immerhin konstatierte, dass der Entwurf des BMJFG die Unabhängigkeit des Roten Kreuzes nicht grundsätzlich gefährde.341 Kritischer hatte sich in Bezug auf denselben Aspekt zuvor der Verband der Schwesternschaften des DRK geäußert, welcher weder den Grundsatz der Freiwilligkeit der Rotkreuzarbeit genügend betont sah noch die Unabhängigkeit des DRK von staatlichen Weisungen sowie dessen institutionelle Integrität.342 Solche Bedenken reihten sich nahtlos in die grundlegende Verbandspolitik des DRK ein, das den zuständigen Behörden zwar seit den frühen 1950er Jahren stets seine Bereitschaft zur Mitwirkung im Zivilschutz zugesichert hatte, seinen ehrenamtlich tätigen Helfern gleichfalls jedoch garantieren wollte, auch im Ernstfall ausschließlich unter

336 Rundschreiben von Ministerialrat Jelen (BMJFG) vom 8.8.1980. BArch, B 417/162. 337 InSan II 1, Vermerk vom 29.9.1980, Betr.: Gesundheitssicherstellungsgesetz, Referentenentwurf vom 31.5.1980. BArch-MA, BW 24/4841. 338 Niederschrift der wesentlichen Ergebnisse der Besprechung mit den Ländern am 29. und 30. September 1980 im Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit, Haus K; Betr.: Referentenentwurf eines Gesetzes zur Anpassung des Gesundheitswesens an besondere Anforderungen eines Verteidigungsfalles – Gesundheitssicherstellungsgesetz (GesSG) (Stand: 31.5.1980). 12.11.1980, S. 3. BArch-MA, BW 24/4841. 339 Ebd., S. 7. 340 Ebd. S. 3–7. 341 Schreiben des Generalsekretariats an alle DRK-Landesverbände vom 2.10.1980, Betr.: Gesundheitssicherstellungsgesetz, S. 2. DRK, 3965. 342 Stellungnahme des Verbands der Schwesternschaften des DRK vom 7.8.1980, S. 5–6. DRK, 4798.

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der Ägide des DRK eingesetzt und nicht etwa einer anderen Stelle zugewiesen zu werden. Das beständige Verlangen nach der bereits am 27. September 1956 von Regierungsseite zugesicherten Unabhängigkeit343 war demgegenüber der institutionellen Verfasstheit des DRK als Teil des Internationalen Roten Kreuzes (IRK) sowie der damit einhergehenden, besonderen völkerrechtlichen Anerkennung seiner Arbeit geschuldet. Trotz der relativ gutwilligen Stellungnahme des DRK verwiesen solcherlei vorgebrachte Bedenken nachdrücklich darauf, dass die reine Existenz des auch von DRK-Seite seit vielen Jahren geforderten Gesetzes den zentralen Akteuren keineswegs genügte, sondern der konkrete Wortlaut hinsichtlich seiner vorstellbaren Auswirkungen auf die eigene Institution, den eigenen Verband, genauestens überprüft wurde. Gleiches galt für die Bundesärztekammer als Sachwalterin der zivilen Ärzteschaft. Etwaige Hoffnungen des BMJFG, dass diese den vorgelegten Entwurf schlicht begrüßen würde, wurden enttäuscht. Aus Sicht der BÄK musste insbesondere § 10 Abs. 2 des Entwurfs eine klare Absage erteilt werden. Dieser lautete: Ärzte, Zahnärzte, Tierärzte und Apotheker sind verpflichtet, sich zur Ausübung ihres Berufs unter den besonderen Anforderungen eines Verteidigungsfalles fortzubilden und hierüber einen Nachweis gemäß § 20 Abs. 3 zu führen.344

Anhand dieses Paragraphen lässt sich der Widerstand der Bundesärztekammer gegen den vorgelegten Gesetzentwurf gut zusammenfassen. So äußerte sich beispielsweise der seit 1975 als geschäftsführender Arzt des neubegründeten Ressorts Fortbildung und Wissenschaft der Bundesärztekammer fungierende Psychiater Paul Odenbach345 intern überaus kritisch zu der vom BMJFG propagierten „Zwangsfortbildung“ der Ärzteschaft: Erstmals wird hier durch Gesetz ein Fortbildungs-Zwang mit festem Lehrplan und Nachweis-Verpflichtung eingeführt, wobei die Konsequenzen entsprechend der nicht als Scherz

343 Ebd., S. 5. 344 Referentenentwurf eines Gesetzes zur Anpassung des Gesundheitswesens an besondere Anforderungen eines Verteidigungsfalles – Gesundheitssicherstellungsgesetz (GesSG), Stand 31.5.1980, S. 11. DRK, 3965. 345 Einzelne biografische Informationen zum in mehreren berufspolitischen Funktionen tätigen, wie viele andere in dieser Arbeit Erwähnung findenden Ärzte mit der Paracelus-Medaille ausgezeichneten Odenbach finden sich in: Die Träger der Paracelsus-Medaille 1994 – Dr. med. Paul Erwin Odenbach, in: Deutsches Ärzteblatt 91/1994, S. 1463–1464.

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empfundenen einschleichenden Zunahme der Reiz-Stärke (bzw. Salami-Taktik) kaum erkannt werden.346

Odenbach bediente sich hier bewusst des Arguments der „schiefen Ebene“: Eine einmal vorgenommene Aufweichung des Grundprinzips, welches die konkrete Ausgestaltung etwaiger Fortbildungen der ärztlichen Selbstverwaltung überließ, wurde als unbotmäßiger, von fachfremder Seite angestrebter Eingriff in die professionelle Autonomie wahrgenommen, der bedrohliche Auswirkungen für die allgemeine Berufsverfasstheit nach sich ziehen konnte. Dass dies „ausgerechnet über dieses Gebiet und dieses Gesetz“ geschehen sollte, empfand Odenbach als Betrug an der Ärzteschaft, hatte diese dem Gesetzgeber doch fortwährend versichert, dass sie sich nichts lieber wünsche, als mit der katastrophenmedizinischen Ausbildung endlich voranzukommen. Bereits 1979 hatte Odenbach als Reaktion auf ein vorangegangenes Schreiben des BMJFG mit entsprechenden Forderungen festgestellt: Allerdings ist bemerkenswert, daß hier ein Gebiet, auf dem wir selbst durch unseren wissenschaftlichen Beirat überhaupt erst die wissenschaftlichen Grundlagen erarbeiten und die Konsequenzen zusammenstellen müssen, mit einer obligatorischen Fortbildungspflicht versehen wird, was für „alte“, gesicherte Gebiete nicht der Fall ist.347

Zur abgelehnten Idee der Zwangsfortbildung kam erschwerend hinzu, dass sich das BMJFG gleichzeitig anmaß, auf deren konkrete fachliche Ausgestaltung Einfluss ausüben zu wollen. So hatte Horst Zöllick, Ministerialrat beim BMJFG, beispielsweise davor gewarnt, „den Ärzten Horror-Bilder von durch A-Bomben ausradierten Städten“348 zu präsentieren, wie dies etwa Otfried Messerschmidt regelmäßig tat (vgl. hierzu Kapitel 2.1.4). Eine derartige, politisch begründete Scheu vor der wissenschaftlich „unbedingt erforderlichen“349 Präsentation der einzigen existierenden Aufnahmen durch Atomwaffen geschädigter Menschen – dies waren die von Messerschmidt verwendeten Fotos schließlich –, musste den Eindruck erwecken, dass das BMJFG nicht nur dem Willen, sondern auch der Befähigung der Ärzteschaft misstraute, die katastrophenmedizinische Fortbildung in der staatlicherseits gewünschten Qualität eigenverantwortlich zu organisieren. Einen anderen, ebenfalls

346 Aktennotiz von Erwin Odenbach an J. F. Volrad Deneke und Heinz-Peter Brauer, nachrichtlich an Karsten Vilmar, vom 17.9.1980. BArch, B 417/157. Betonungen im Original. 347 Erwin Odenbach, Schreiben an Karsten Vilmar, Otto Lippross und Hansjoachim Sewering vom 7.12.1979, Betr.: Obligatorische Fortbildung in Katastrophen-Medizin und medizinischer Versorgung im Zivilschutz, S. 2. BArch, B 417/157. 348 Schreiben von Horst Zöllick (BMJFG) an Erwin Odenbach vom 3.12.1979, S. 5. BArch, B 417/157. 349 Erwin Odenbach, Schreiben an Karsten Vilmar, Otto Lippros und Hansjoachim Sewering vom 7.12.1979, S. 3.

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den o.a. Absatz des Gesetzentwurfs betreffenden Kritikpunkt betonte demgegenüber Ernst Rebentisch. Dieser war als ehemaliger Inspekteur des Sanitätswesens der Bundeswehr (seine Dienstzeit endete am 31. März 1980) und Spezialist der Materie vom geschäftsführenden Arzt der Bundesärztekammer, Heinz-Peter Brauer, um eine Stellungnahme zum Entwurf des BMJFG gebeten worden. Rebentischs Antwort fiel eindeutig aus: „Zunächst stört bereits in der Überschrift zum Gesetz der ausschließliche Bezug auf den Verteidigungsfall.“ Überraschenderweise war genau dies der zentrale Kritikpunkt, welcher sich durch beinahe jeden Absatz des achtseitigen Schreibens zog: [Zu § 3] Hier müßte lediglich das Wort „Verteidigungsfall“ geändert werden, wenn das Gesetz auch für den Frieden gilt. [Zu § 10] Den Vorbehalten der Bundesärztekammer zum § 10, Abs. 2 und 3 stimme ich voll zu […], allerdings muß auch hier wieder […] das Wort „Verteidigungsfall“ heraus. [Zu § 11] Hier muß natürlich der „Verteidigungsfall“ heraus bzw. ergänzt werden durch den „Katastrophenschutz“. [Zu § 12] Auch hier wieder „Verteidigungsfall“ zu ergänzen durch „Katastrophe“, aber ich erwähne das jetzt zum letzten Mal; ich wäre dankbar, wenn darauf geachtet würde. [Zu § 21] Alles das, was im § 21 und dem folgenden steht, betrifft genauso den Katastrophenfall. Zur Begründung des Gesetzestextes erneuere ich vor allem den Hinweis, daß sich das Gesetz keinesfalls nur auf den Verteidigungsfall beziehen darf. Die Ärzteschaft und auch die anderen Heilberufe dürfen sich die Chance nicht entgehen lassen, ihre Position auch im Rahmen der Katastrophenbekämpfung im Frieden zu sichern und zu wahren. […] Das Gesundheitsministerium drückt sich mit allgemeinen Formulierungen an dem Kern des Anliegens vorbei und geht immer wieder nur auf den Verteidigungsfall ein, obwohl es selbst zugibt, daß für den Katastrophenschutz im Frieden nicht das geringste getan ist.350

Hier offenbarte sich Rebentisch – zumindest im Jahr 1980 – tatsächlich als Katastrophenmediziner, welcher sich wohl der Methodik der Wehrmedizin verpflichtet fühlte, ganz offensichtlich aber im modernen Kontext des All-hazards-Prinzips des Katastrophenschutzes. Ausgerechnet dem Arztsoldaten und frisch pensionierten Inspekteur des Sanitätswesens war der Gesetzentwurf des zivilen BMJFG zu militärisch! Gerade in Bezug auf § 10, welcher die Ärzteschaft dazu verpflichten sollte, sich für die „besonderen Anforderungen eines Verteidigungsfalles“ fortbilden zu lassen, erschien die Trennung von Katastrophen- und Verteidigungsfall und somit von Katastrophen- und Wehrmedizin sinnlos, da die eingeübten Prinzipien

350 Schreiben von Ernst Rebentisch an Heinz-Peter Brauer vom 13.10.1980. BArch, B 417/160 (alle). Die hier angegebenen Zitate stellen nur eine Auswahl vergleichbarer Hinweise dar.

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– wie bereits in Kapitel 2.1.5 beschrieben – weitgehend identisch waren. Rebentisch erhoffte sich daher „die Verabschiedung des Gesundheitssicherstellungsgesetzes in einer auch im Frieden praktizierbaren Form“.351 Den noch Mitte der 1960er Jahre vom Sanitätswesen der Bundeswehr vorgebrachten Grund einer gesetzlichen Regelung, nämlich die zivil-militärische Zusammenarbeit im Verteidigungsfall, ließ dieser nunmehr geäußerte Wunsch einer umfassenden Klärung der ärztlichen Rechte und Pflichten in all hazards weit hinter sich. Bereits auf der ersten Seite seiner Stellungnahme erwähnte Rebentisch, dass eine ausreichende Berücksichtigung ärztlicher Belange in den bestehenden Katastrophenschutzgesetzen der Länder kaum mehr möglich sei. Das GesSG als vorrangig für den Zivilschutz vorgesehenes Rahmengesetz des Bundes erschien somit als vielleicht letzte Gelegenheit, um – so hatte es kaum einen Monat zuvor das Deutsche Ärzteblatt formuliert – im Sinne der Ärzteschaft „positive Auswirkungen auf die den Ländern vorbehaltenen Regelungen zum Katastrophenschutz“ zu erwirken.352 Die Führungsriege der Bundesärztekammer orientierte sich schließlich exakt an Rebentischs und Odenbachs Kritikpunkten. Gleich zu Beginn der auf den 5. Dezember 1980 datierten, offiziellen Stellungnahme zum ersten Entwurf des GesSG wurde bedauert, dass sich das Gesetz aufgrund der Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern nur auf den Verteidigungsfall beziehen könne (zur Erinnerung: Zivilschutz war und ist in der Bundesrepublik Deutschland Sache des Bundes, Katastrophenschutz Sache der Länder). Man hoffe hingegen dennoch, dass zumindest eine „Koordinierung“ hinsichtlich „der Pläne, Einrichtungen und Maßnahmen der Gesundheitssicherstellung im Verteidigungsfall und im Katastrophenfall“ zu erreichen sei und das Gesetz somit der „Abstimmung“ des medizinischen Zivilund Katastrophenschutzes dienen könne.353 Der Kern der Stellungnahme bezog sich klar auf den angeführten § 10 Abs. 2. Einer Zwangsfortbildung wurde eine Absage erteilt, da diese sich negativ auf die hohe Motivation der Ärzteschaft auswirken würde. Man erkenne zwar die Fortbildungsverpflichtung in Fragen der Gesundheitssicherstellung grundsätzlich an; deren Durchführung müsse hingegen „den zuständigen Berufsvertretungen nach Maßgabe der hierfür geltenden landesrechtlichen Bestimmungen übertragen werden.“354 In ihrer Stellungnahme

351 Ernst Rebentisch, Die Stellung der Medizin in der Katastrophenbekämpfung – Forderungen an den Gesetzgeber (Vortrag), S. 6. BArch, B 417/160. 352 Zur sozialen Sicherung gehört auch der Katastrophenschutz!, S. 2213, in: Deutsches Ärzteblatt 38/1980, S. 2213–2214. Fast wortgleich hatte sich in diesem Zusammenhang bereits zu Beginn des Jahres 1980 der Justitiar der Bundesärztekammer geäußert, siehe Rainer Hess, Regelungslücken im Katastrophenschutz, S. 474, in: Deutsches Ärzteblatt 8/1980, S. 473–474. 353 Stellungnahme der Bundesärztekammer zum Entwurf eines Gesundheitssicherstellungsgesetzes. Stand: 5.12.1980, S. 1. BArch, B 417/162. 354 Ebd., S. 4.

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offenbarte sich die Bundesärztekammer als geschickt agierende Lobbyorganisation zur professionellen Interessenwahrung: Während die föderale Struktur der Bundesrepublik in Bezug auf die unterschiedlichen Zuständigkeiten im Kriegs- und Katastrophenfall kritisiert wurde, nutzte man gleichwohl das auch dem ärztlichen Kammerwesen zugrunde liegende föderalistische Prinzip (zur Erinnerung: Die BÄK war und ist eine „Arbeitsgemeinschaft“ der Landesärztekammern, vgl. Kapitel 1.5), um die unliebsame Zwangsfortbildung kurzerhand als gesetzwidrig zu deklarieren und das BMJFG mehr oder weniger dezent an die eigene Souveränität in Fortbildungsfragen zu erinnern. Insgesamt muss festgehalten werden, dass die Verabschiedung des GesSG weniger aufgrund der Opposition einer beteiligten Partei verhindert wurde, sondern vielmehr durch die dem bundesdeutschen Gesundheitswesen zugrunde liegende Heterogenität der Akteure und ihrer Interessen. Auf einer Sitzung des Gemeinsamen Ausschusses von Bund und Ländern am 7. November 1979, bei der Ernst Rebentisch als Inspekteur des Sanitätswesens referierte, während Abgeordnete der CDU/CSU – darunter der spätere Verteidigungsminister Manfred Wörner –355 massive Kritik am Istzustand anbrachten, konstatierte in diesem Zusammenhang die verantwortliche Bundesministerin für Jugend, Familie und Gesundheit, Antje Huber (SPD): Die Schwierigkeiten liegen ganz woanders: Es sind so viele Gesetze tangiert, so viele Behörden betroffen, so viele Verbände involviert, daß die Abstimmungen mit den Ländern angesichts der Fülle der Probleme, die es zweifellos gibt, nicht schneller durchgeführt werden können. Auch ich bedaure das. Denn daß gerade die Gesundheitssicherstellung ein ganz vorrangiges Thema ist, liegt auf der Hand. Darüber braucht man nichts mehr zu sagen. Ich würde mich deshalb freuen, zumal wenn hier von Länderseite solche Appelle an uns gerichtet werden, wenn jeder, der mit dieser Materie zu tun hat, auf zügige Abwicklung bei sich zu Hause hinwirken würde. Denn die Schwierigkeiten im Detail können wir eben nur mit den Ländern ausräumen. […] Es ist ja nicht alles nur von uns zu veranlassen.356

355 Mitglieder der Unionsparteien brachten mehrfach Anträge und Anfragen bezüglich des Gesundheitssicherstellungsgesetzes im Bundestag ein. Diese standen allerdings klar im Zusammenhang mit der propagierten „Gesamtverteidigung“ der Bundesrepublik, und damit eher im Gegensatz zu einer von Rebentisch u. a. geforderten Ausrichtung des Gesetzes auf all hazards. Vgl. z. B. Antrag der Abgeordneten Gerlach, Handlos, Dr. Dregger, Dr. Wörner, Dr. Marx (u. a.) und der Fraktion der CDU/CSU, Gesamtverteidigung. Drucksache 8/2295 des Deutschen Bundestages vom 16.11.1978. BArch-MA, BW 24/4839. 356 Auszug aus dem Protokoll der Sitzung des Gemeinsamen Ausschusses vom 7.11.1979, S. 37. BArchMA, BW 24/4840.

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Die sich bei den Diskussionen um das GesSG in seltener Deutlichkeit zeigende politische Version der Binsenweisheit, dass „viele Köche den Brei verderben“, erinnert nachdrücklich daran, dass sich in Gesetzesfragen mit der Zahl beteiligter Akteure nicht nur Ansichten und Interessen multiplizieren, sondern auch die Möglichkeiten, Verantwortung vorrangig beim jeweils anderen zu suchen. 2.2.4 Von Atomkraft zu all hazards: Arbeitskreise der Bundesärztekammer Es gehört zum Wesen professionalisierter Berufe, nicht darauf zu warten, bis andere sich ihrer Sorgen annehmen. Hierauf ist es wohl zurückzuführen, dass sich die westdeutsche Ärzteschaft in ihrem Engagement um das Katastrophische nicht auf die Lobbyarbeit beschränkte, sondern das „diagnostizierte“ Problem eigenständig zu lösen suchte, wenn ihr der Gesetzgeber die aus ihrer Sicht erforderliche Unterstützung versagte. Derartige Bemühungen sowohl einzelner Ärzte als auch der Kammerebene speisten sich neben der Frage einer „Gesundheitssicherstellung“ im Kriegsfall auch aus dem bereits in Kapitel 2.2.2 geschilderten, seit Mitte der 1950er Jahre formulierten Misstrauen gegenüber den „Atomgefahren“. Deren offizielle wissenschaftliche Bearbeitung begann mit einem Arbeitskreis des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer, welcher keinen zivileren Titel hätte tragen können: „Gefährdung durch Kernkraftwerke“. Als Vorbild muss wohl der erwähnte, Ende der 1950er Jahre von Paul Eckel geführte „Atomausschuss“ betrachtet werden, obschon seine Existenz offiziell aus der Tätigkeit des Arbeitskreises „Umweltmedizin (Medizinische Environtologie)“ abgeleitet wurde.357 Dessen Vorsitzender und früherer Mitarbeiter des BÄK-Atomausschusses war der Marburger Professor für Radiobiologie Emil Graul, einer der Begründer der deutschen Nuklear- und Umweltmedizin.358 Aufgrund verschiedener, auf dem 73. Deutschen Ärztetag 1970 geäußerter Anfragen wurde dieser als einschlägiger Spezialist um die Gründung eines weiteren Arbeitskreises gebeten, welcher sich gänzlich den Risiken der Kernenergie widmen sollte.359 Bereits die Auswahl der Mitarbeiter stieß hingegen auf Kritik, stammten doch einige von ihnen aus den Reihen der Industrie (AEG, Siemens) oder waren als erklärte Atomkraft-Befürworter360 in staatsnahen

357 Der wissenschaftliche Beirat der Bundesärztekammer gibt bekannt: Stellungnahme zum Thema „Gefährdung durch Kernkraftwerke“, S. 2821, in: Deutsches Ärzteblatt 41/1975, S. 2821–2824. 358 Norbert Jachertz, Gestorben – Prof. Dr. med. Dr. rer. nat. Emil Heinz Graul, in: Deutsches Ärzteblatt 10/2005, S. 690–691. 359 Hanno Poppe, 18. Plenarsitzung des Wissenschaftlichen Beirats der BÄK (5.5.1979, Köln, Bundesärztekammer), TOP 3 C – Arbeitskreis „Ärztliche Hilfe bei Kernkraft-Katastrophen“, S. 1. BArch, B 417/864. 360 Vgl. Unsere Meinung: Über Atomenergie muss endlich offen geredet werden, in: Diagnosen 7/1979, S. 55.

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Positionen beschäftigt, wie z. B. der renommierte Strahlenschutzexperte und Leiter des dem Bundesgesundheitsamt zugeordneten Instituts für Wasser-, Boden- und Lufthygiene Karl Aurand.361 Die von 1972 bis 1975 durchgeführte Tätigkeit des thematisch und personell eher physikalisch und strahlenbiologisch ausgerichteten Arbeitskreises362 fiel zudem in einen Zeitraum der Polarisierung der Ärzteschaft in dieser Angelegenheit, welche selbst wiederum mit den allgemeinpolitischen Debatten der 1970er Jahre um die „Grenzen des Wachstums“363 einherging. Lange vor der Veröffentlichung der Arbeitskreisresultate etwa wurde Emil Graul im Deutschen Ärzteblatt in ein Streitgespräch mit ärztlichen Kernkraftgegnern verwickelt, welche u. a. auf die hohe Störungsanfälligkeit komplexer Systeme, die bedenkliche Entwicklung sogenannter Schneller Brüter sowie die ungeklärte Beseitigung des kernindustriellen Abfalls verwiesen.364 In seinem Schlusswort wies Graul hingegen „unbegründete Pauschalablehnung“ als „unwissenschaftlich“ zurück und verwies in optimistischer Manier darauf, dass hinsichtlich des Atommülls in näherer Zukunft „mit Sicherheit eine fortschrittliche Technologie für gefahrlose Aufarbeitung sorgen“ würde.365 Das in der ärztlichen Standespresse (so die Selbstbezeichnung) gemeinhin übliche Schlusswort, welches laut Sigrid Stöckel der „höflichen wie paternalistischen“ Autoritätszurückgewinnung des zuvor Kritisierten366 dient, wurde im Deutschen Ärzteblatt hingegen nicht nur den AKW-Befürwortern zugestanden: So veröffentlichte etwa im Jahr 1979 der Hamelner Allgemeinarzt Hermann Kater den achtseitigen Artikel „Tödliche Risiken in unserer Umwelt“, welcher mit dem Satz „Seveso ist überall“367 endete. Nach anschließender Leserbriefdiskussion betonte er im Schlusswort, dass er im Gegensatz zur „Atomkraft-Filzokratie“ „niemandes Lobbyist“ sei. Kater war nicht nur einer derjenigen Ärzte, die sich frühzeitig ökologisch engagierten, sondern mag auch als gutes Beispiel dafür

361 Einzelne biografische Informationen zu Aurand finden sich z.B. in: C. Streffer, Laudatio für Prof. Dr. Karl Aurand anläßlich der Verleihung der Hanns-Langendorff-Medaille am 30.4.1999, online unter: http://langendorff-stiftung.de/pdf/aurand_l.pdf (aufgerufen am 26.1.2017). 362 Wissenschaftlicher Beirat, Arbeitskreise A–E (1965–1975), Arbeitskreis „Gefährdung durch Kernkraftwerke“, Stand 18.5.1972. BArch, B 417/835. 363 Vgl. den zur damaligen Zeit druckfrischen Klassiker: Club of Rome (Dennis Meadows u. a.), Die Grenzen des Wachstums. Übersetzt von Hans-Dieter Heck. Stuttgart 1972. 364 Das Risiko der Kernkraftwerke, S. 21–23, in: Deutsches Ärzteblatt 1/1973, S. 21–24. 365 Ebd., S. 23. 366 Sigrid Stöckel, Wandel medi(k)aler Öffentlichkeiten? Standespresse als Gestaltungsraum intraprofessioneller und gesellschaftspolitischer Diskurse in der frühen Bundesrepublik, S. 352, in: Sebastian Brandt (u. a., Hrsg.), Universität, Wissenschaft und Öffentlichkeit in Westdeutschland (1945 bis ca. 1970). Stuttgart 2014, S. 343–367. 367 Eine Anspielung nicht nur auf den Chemieunfall im italienischen Seveso von 1976, sondern auch auf die populäre gleichnamige Buchveröffentlichung: Egmont Koch & Fritz Vahrenholt, Seveso ist überall: Die tödlichen Risiken der Chemie. Köln 1978.

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angeführt werden, dass sich der Streit um die „Atomgefahren“ sowie – später – um die Katastrophenmedizin keineswegs schlicht an Generationengrenzen festmachen ließ. Kater war 1914 geboren und wie viele andere in dieser Arbeit erwähnten Ärzte Veteran des Zweiten Weltkriegs.368 Er war Mitglied der CDU und blieb Zeit seines Lebens ein angesehener Standespolitiker. Von 1958 bis 1982 gehörte er als Kammermitglied der niedersächsischen Landesärztekammer an, fungierte von 1967 bis 1980 als zweiter Vorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsens und war jahrzehntelang aktives Mitglied des Hartmannbundes,369 wofür er 1977 – wie später auch Kurt Groeschel und Friedhelm Otto – mit der HartmannThieding-Plakette geehrt wurde.370 Gleichzeitig war er hingegen Autor des zunächst privat und schließlich in erweiterter Form von einem Hamelner Verlag veröffentlichten Buches namens Atomkraftwerksgefahren aus ärztlicher Sicht.371 In verschiedenen Zeitschriften initiierte Kater entsprechende Debatten, etwa zur Leukämiehäufigkeit in der Nähe von Kernkraftwerken372 oder zur „positiven Voreingenommenheit“ mancher Experten,373 und auch zur jungen Geschichte ärztlicher Antiatomkraftinitiativen publizierte er.374 Grauls Arbeitskreis stand er – eben wegen der Teilnahme Aurands und anderer „Atomkraft-Filzokraten“ – skeptisch gegenüber, obwohl ihm das Recht eingeräumt wurde, an einer der Sitzungen teilzunehmen. Da sich später jedoch Interna eben dieser Sitzung in einer atomkritischen Streitschrift wiederfanden,375 wurde ihm die abermalige Teilnahme verweigert.376 Kater bestritt die Weitergabe,377 gab aber zu, dass er sich dazu gezwungen sah, scharf gegen die finale Stellungnahme des Arbeitskreises „Gefährdung durch Kernkraftwerke“ vorzugehen, nachdem die Atomwirtschaft damit begann, diese 368 Hermann Kater, Man merkt die Absicht (Leserbrief), in: Deutsches Ärzteblatt 12/1993, S. 836. 369 Gestorben – Dr. med. Hermann Kater, in: Deutsches Ärzteblatt 91/1994, S. 990. 370 Vgl. die entsprechende Auflistung, online unter: https://www.hartmannbund.de/der-verband/ preise-und-ehrungen/ht-plakette/ (aufgerufen am 15.5.2021). 371 Hermann Kater, Atomkraftwerksgefahren aus ärztlicher Sicht. Hameln 1976. 372 Vgl. z. B. Leukämie durch Kernkraftwerke?, in: Selecta 51/1978, S. 4884; Schreiben von Ulrich Behrendt (FDP) an Wilhelm Ahrens vom 3.2.1979. BArch, B 417/864. 373 Vgl. Heinrich Heinsen, Atomkraftwerksgefahren aus ärztlicher Sicht – Streitfall: Bundesgesundheitsamt gegen Arzt, in: Niedersächsisches Ärzteblatt 22/1977, S. 756–759. 374 Deren Ursprung verortete Kater im Widerstand ärztlicher Berufsinitiativen, die 1970 gegen den Bau des Atomkraftwerks in Würgassen protestiert hatten, siehe Hermann Kater, Wie Ärzte seit 1970 gegen Kernkraftwerke protestieren, S. 36, in: Der Deutsche Arzt 19/1978, S. 36–39. 375 Auszug aus dem Protokoll der 24. Sitzung des Vorstandes der Bundesärztekammer am 12.10.1977 in Köln. BArch, B 417/864. Vgl. Arbeitsgemeinschaft Medizinische Soziologie, Münster (Hrsg., Zusammengestellt von Peter Voswinckel), Gefährdung durch Kernkraftwerke: Denkschrift der Ärztekammer – Propaganda für wen?. Aachen 1976. 376 Schreiben von Wilhelm Ahrens an Hanno Poppe vom 20.11.1978, Betr.: Konstituierende Sitzung des Arbeitskreises. BArch, B 417/864. 377 Schreiben von Hermann Kater an Wilhelm Ahrens vom 27.4.1978. BArch, B 417/864.

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für ihr eigenes politisches Lobbying zu verwenden.378 Die Stellungnahme erschien im Oktober 1975 und muss den Vorstellungen der Energiekonzerne in der Tat voll entsprochen haben. Von einer Gefährdung der Bevölkerung, hieß es, könne gar nicht gesprochen werden, zumal wenn man diese mit sonstigen Risiken wie dem Straßenverkehr vergleiche.379 Der Sicherheitsstandard der Atomkraftwerke sei „vorbildlich“ und die „Behandlung radioaktiver Abfälle“ erzeuge ebenfalls „keine Strahlengefährdung“, weshalb man sich von wissenschaftlicher Seite darum bemühen solle, zu einer „Versachlichung“ der Debatte zurückzukehren.380 Auch wenn sich „sein“ niedersächsischer Landesverband des Hartmannbundes mit am schärfsten gegen Grauls Stellungnahme verwehrte, war Hermann Kater keinesfalls der einzige Arzt, der diese eher als Handlungsaufforderung denn als Beitrag zur Versachlichung verstand. Ein Abdruck der Stellungnahme im offiziellen Tätigkeitsbericht der BÄK wurde auf dem 79. Deutschen Ärztetag 1976 von der Mehrheit der westdeutschen Ärzteschaft (bzw. deren Delegierter) abgelehnt und stattdessen – so hieß es in der offiziellen Sprechweise der Selbstverwaltung – „an den Vorstand zurückverwiesen“.381 Sowohl auf dem 80. als auch auf dem darauffolgenden 81. Deutschen Ärztetag382 wurde der Vorstand der Bundesärztekammer nunmehr dazu aufgefordert, die Untersuchungsergebnisse des Wissenschaftlichen Beirats zu den umstrittenen „Atomgefahren“ zu überprüfen und gegebenenfalls zu aktualisieren. Allen Beteiligten war schnell klar, dass ein etwaiger neuer Arbeitskreis zur Thematik personell anders besetzt sein müsse, schon allein weil mehrere bisherige Mitglieder eine abermalige Mitarbeit aufgrund der vorgebrachten Kritik ablehnten,383 wobei sich Aurand namentlich auf die Angriffe Katers berief.384 Grundsätzlich dachte man von Seiten des Wissenschaftlichen Beirats dennoch 378 Schreiben von Hermann Kater an Hanno Poppe vom 26.4.1978. BArch, B 417/864. Vgl. hierzu Schreiben von Wilhelm Ahrens an Ulrich Behrendt (FDP) vom 26.2.1979, Betr.: Stellungnahme zum Betrieb von Kernkraftwerken. BArch, B 417/864. Ahrens gab dort die Verwendung der Stellungnahme in einer Informationsbroschüre der Kernenergiebetreiber zu, betonte hingegen, dass dies „bei Abfassung des Votums nicht beabsichtigt“ gewesen sei. 379 Stellungnahme zum Thema „Gefährdung durch Kernkraftwerke“, S. 2823–2824. Erneut sei darauf hingewiesen, dass die jährliche Zahl der Verkehrstoten während der 1970er Jahre im Vergleich zur Gegenwart exorbitant war (deutlich über 10.000 pro Jahr). 380 Ebd., S. 2822, 2823 und 2824. 381 Poppe, 18. Plenarsitzung des Wissenschaftlichen Beirats der BÄK (5.5.1979, Köln, Bundesärztekammer), TOP 3 C – Arbeitskreis „Ärztliche Hilfe bei Kernkraft-Katastrophen“, S. 1. 382 Vgl. Auszug aus dem Protokoll der 24. Sitzung des Vorstandes der Bundesärztekammer am 12.10.1977 in Köln; Schreiben von Hanns Peter Wolff an Hanno Poppe vom 8.6.1978, Betr.: Ausschuss Gefährdung durch Kernkraftwerke. BArch, B 417/159. 383 Poppe, 18. Plenarsitzung des Wissenschaftlichen Beirats der BÄK (5.5.1979, Köln, Bundesärztekammer), TOP 3 C – Arbeitskreis „Ärztliche Hilfe bei Kernkraft-Katastrophen“, S. 1. 384 Schreiben von Wilhelm Ahrens an Hanno Poppe vom 28.11.1978, Betr.: Konstituierende Sitzung des Arbeitskreises. BArch, B 417/864.

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eher an eine Fortschreibung des Bestehenden als an etwas grundsätzlich Neues: Im Mittelpunkt sollten die besonders umstrittene Aussage Grauls zu den Risiken durch radioaktive Abfälle ebenso stehen wie das korrekte ärztliche Handeln bei einer Kernkraftkatastrophe – ein abermals gänzlich ziviler Ansatz. Um die Leitung bat Wilhelm Ahrens, von 1963 bis 1982 Geschäftsführer des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer,385 den Göttinger Radiologen Hanno Poppe. Dessen erklärtes Ziel war es von Anfang an, die Tätigkeit des Arbeitskreises zu entpolitisieren oder, alternativ ausgedrückt, zu verärztlichen. In einem frühen Schreiben an den Vorsitzenden des Wissenschaftlichen Beirats, Hanns Peter Wolff, brachte er in diesem Sinne einen Vorschlag ein, welcher den neuen Arbeitskreis in eine markant andere Richtung führen sollte als seinen Vorgänger: die ausschließliche Konzentration auf die ärztlichen Handlungsmöglichkeiten bei einem AKW-Unfall bei gleichzeitiger Ausblendung des allgemeinpolitischen Problems der Endlagerung: „Ich meine, daß die Frage der End-Lagerung von Abfallstoffen aus Kernkraftwerken weniger eine ärztliche Aufgabe denn ein Problem der Sicherheit darstellt, dessen Lösung Aufgabe des Staates ist.“386 Poppe ging so weit, seine eigene Mitwirkung von einer solchen Neuausrichtung abhängig zu machen und betonte mehrfach, dass der Wissenschaftliche Beirat in dieser Angelegenheit überhaupt nur dann gewinnbringend aktiv werden könne, wenn er der Beantwortung grundsätzlich politischer Fragen nach Sinn und Unsinn der Atomenergie entschieden ausweiche: Ein solcher Versuch [der Gründung eines weiteren Arbeitskreises zu den Gefahren der Kernenergie] konnte von Anfang an jedoch nur unternommen werden, wenn dem neugebildeten Arbeitskreis mit Rücksicht auf die Diskussionen und die bis heute noch ausstehenden Entscheidungen im politischen Raum nur Aufgaben zur Bearbeitung überwiesen würden, die die Behandlung rein ärztlicher Probleme, z. B. bei Kernkraftwerk-Katastrophen, also auf dem Gebiet der ärztlichen Versorgung der Bevölkerung erteilt würde.387

Interessanterweise verwandte Poppe dieses Argument auch, um Hermann Kater von einer erneuten Beteiligung abzubringen, die aufgrund des im Raum stehenden Vorwurfs, Arbeitskreisinterna weitergegeben zu haben, von niemandem gewünscht wurde.388 Poppe betonte Kater gegenüber den geradezu langweiligen Konserva-

385 Gestorben – Dr. med. Wilhelm Ahrens, in: Deutsches Ärzteblatt 88/1991, S. 1290. 386 Schreiben von Hanno Poppe an Hanns Peter Wolf vom 8.5.1978, Betr.: Ausschuß „Gefährdung durch Kernkraftwerke“. BArch, B 417/864. 387 Poppe, 18. Plenarsitzung des Wissenschaftlichen Beirats der BÄK (5.5.1979, Köln, Bundesärztekammer), TOP 3 C – Arbeitskreis „Ärztliche Hilfe bei Kernkraft-Katastrophen“, S. 2. Betonungen im Original. 388 Schreiben von Wilhelm Ahrens an Hanno Poppe vom 28.11.1978, Betr.: Konstituierende Sitzung des Arbeitskreises. BArch, B 417/864.

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tismus des neuen Arbeitskreises, der „zur prinzipiellen Frage der Gefährdung der Bevölkerung durch den Betrieb von Atomkraftwerken keine Stellung nehmen“ werde, um sich stattdessen auf „rein ärztliche Aufgaben“ zu konzentrieren.389 Ohne allzu kontroverse Teilnehmer wie Kater und Aurand erhofften sich Poppe sowie die Verantwortlichen des Wissenschaftlichen Beirats und des Vorstands der Bundesärztekammer demnach eine pragmatische Fortsetzung des Graul’schen Arbeitskreises bei gleichzeitigem Ausbleiben politisch hochkochender Emotionen auf zukünftigen Deutschen Ärztetagen. In diesem Zusammenhang wurde es sicher als hilfreich angesehen, dass die propagierte Neuausrichtung auf „das Ärztliche“ keine maßgebliche Beteiligung von Nicht-Ärzten oder gar Industrievertretern mehr erforderte und man bei der personellen Besetzung stattdessen verstärkt auf professionals der eigenen Reihen zurückgreifen konnte. Kein einziger Mitwirkender des Arbeitskreises „Gefährdung durch Kernkraftwerke“ schaffte es in Poppes Nachfolgegremium. Da man sich fachlich strikt um die Teilnahme von Ärzten bemüht hatte, die tatsächlich etwas von „Ärztlicher Hilfe bei Kernkraft-Katastrophen“ – so der offizielle neue Titel – verstanden, ersetzten nunmehr Arztsoldat Otfried Messerschmidt als Kernstrahlungsexperte (vgl. Kapitel 2.1.4) sowie das Schutzkommissionsmitglied Leo Koslowski als Spezialist für Verbrennungsschäden und Triage die Industrievertreter; „journalistisch interessierte“ Allgemeinärzte wie Hermann Kater wurden nicht zugelassen. Weitere Mitglieder waren u. a. Rudolf Frey sowie (gelegentlich) Johann Friedrich Volrad Deneke. Während Frey ein hochangesehener Mainzer Anästhesiologieprofessor war – noch dazu der erste Deutschlands – und sich zahlreiche Verdienste in den Bereichen Schmerzbehandlung, Sterbehilfe sowie Notfall- und Katastrophenmedizin erworben hatte,390 war Deneke kein Arzt, sondern „professioneller Funktionär“. Er war von 1969 bis 1971 Bundesgeschäftsführer der FDP gewesen, von 1971 bis 1974 Hauptgeschäftsführer des Hartmannbundes, von 1974 bis 1984 Hauptgeschäftsführer der Bundesärztekammer sowie Präsident des Berufsverbands der Freien Berufe von 1974 bis 1994. Nebenher betätigte er sich als Journalist (u. a. ab 1958 als Chefredakteur der Ärztlichen Mitteilungen bzw. des Deutschen Ärzteblattes) und

389 Schreiben von Hanno Poppe an Hermann Kater vom 9.12.1978, Betr.: Publikation „Nds. Ärzteblatt“ Nr. 20/78. BArch, B 417/864. 390 Verstorben – Prof. Dr. med. Rudolf Frey, in: Deutsches Ärzteblatt 5/1982, S. 96. Vgl. auch Kessel, Geschichte des Rettungsdienstes, S. 69 und S. 125–126. Kessel listet Frey in einer Reihe mit F. W. Ahnefeld und anderen als zentralen Pionier der westdeutschen Notfallrettung, der z. B. am Konzept der Rettungskette (die schrittweise Bearbeitung eines Notfalls vom Notruf bis zur Behandlung im Krankenhaus) mitgewirkt (S. 69) und sich um die sinnvolle Kombination von Notfalldienst und Katastrophenmedizin bemüht hatte (S. 126).

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veröffentlichte wissenschaftlich angelegte Bücher,391 obwohl er selbst kein abgeschlossenes Studium vorzuweisen hatte; ein begonnenes Studium der Wirtschaftsund Sozialwissenschaft hatte der gelernte Buchhändler aufgrund des Kriegsdienstes abgebrochen.392 Wie bei praktisch allen vergleichbaren Fällen sparte der Nachruf des Deutschen Ärzteblattes Denekes konkrete Kriegsvergangenheit aus und betonte stattdessen seine Verdienste für die junge westdeutsche Demokratie. Deneke mag als gutes Beispiel dafür angesehen werden, dass es auch non-professionals gelingen konnte, maßgeblichen Einfluss unter professionals zu erlangen, wenn sie deren Kultur möglichst weitreichend übernahmen. Denekes Hebel hierzu war das Konzept der freien Berufe, welches er als Journalist und herausgehobenes FDP-Mitglied aktiv nutzte, um in strittigen Fragen seine politisch-ideologische Nähe zur Ärzteschaft zu betonen. Als Hauptgeschäftsführer war Deneke an manchen Vorgängen der Bundesärztekammer maßgeblicher beteiligt als deren Präsident, welcher oftmals öffentlichkeitswirksame, repräsentative Funktionen zu übernehmen hatte und dementsprechend weniger Zeit für „die Mühen der Ebene“ aufbringen konnte. Hierunter fiel auch die Unterstützung von Poppes Arbeitskreis „Ärztliche Hilfe bei Kernkraft-Katastrophen“, an dessen Sitzungen der damalige BÄK-Präsident Karsten Vilmar nicht teilnahm. Dieser tagte von Januar 1979 bis Mai 1980 insgesamt sechs Mal, wobei naturgemäß gerade abseits der eigentlichen Sitzungen ein nicht bestimmbarer, erheblicher Forschungs- und Verwaltungsaufwand betrieben wurde. Das erste Treffen fand am 13. Januar 1979 im Frankfurter Sheraton-Hotel statt und bezweckte insbesondere die gezielte Vernetzung der teilnehmenden Akteure. Koslowski erinnerte seine Kollegen an die Existenz der Schutzkommission beim BMI und erwähnte, dass diese einen Leitfaden zur Katastrophenmedizin vorbereite, während Deneke versprach, sowohl das BMI als auch das BMVg (und hierbei insbesondere Sanitätsinspekteur Rebentisch) über die Konstituierung und Ausrichtung des aktuellen Arbeitskreises in Kenntnis zu setzen.393 Auf Koslowskis Hinweis auf ein „NATO-Handbuch“ zum Thema (er meinte die ZDv 49/50, Die dringliche Kriegschirurgie, vgl. hierzu Kapitel 2.1.3) gab Messerschmidt zu Protokoll, dass er dieses seinerzeit aus dem Englischen übersetzt habe. Messerschmidt betonte die Relevanz der militärischen Wissensbestände in Bezug auf Reaktorunfälle; schließlich gäbe es zumindest in Bezug auf die ersten ärztlichen Maßnahmen „keinen prinzipiellen Unterschied zwischen einer Atombomben-Explosion und

391 Als letztes: J. F. Volrad Deneke, Arzt und Medizin in der Tagespublizistik des 17. und 18. Jahrhunderts. Berlin 2010. 392 Thomas Gerst, Nachruf auf J. F. Volrad Deneke: Ein Generalist im wahrsten Sinne, in: Deutsches Ärzteblatt 41/2006, S. 2731. 393 Protokoll der 1. Sitzung des Arbeitskreises „Ärztliche Hilfe bei Kernkraft-Katastrophen“ des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer am 13.1.1979, S. 1–3. BArch, B 417/159.

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einer Reaktorunfall-Katastrophe“.394 Alle Mitglieder einigten sich darauf, dass eine verbesserte Aufklärung der Gesamtbevölkerung hinsichtlich der „Atomgefahren“ ebenso erforderlich sei wie die forcierte Ausbildung möglichst der gesamten Ärzteschaft für den Fall eines zwar sehr unwahrscheinlichen, jedoch nicht unmöglichen Unfalls in einem Kernkraftwerk. Der insgesamt unzureichende Stand des bundesdeutschen Zivilschutzes wurde ebenso bemängelt wie die Tatsache, dass die Bundeswehr „auf diesem Gebiet ohne Zweifel viel besser gerüstet [sei] als jede zivile Institution“.395 Nachdem Messerschmidt auf die aus seiner Sicht deutlich vorteilhaftere Situation in Skandinavien und in der Schweiz verwiesen hatte, schlug Frey vor, die nächste Sitzung mit einer Studienreise nach Genf zu verknüpfen. Als Mitbegründer396 der dort ansässigen Internationalen Gesellschaft für Katastrophenmedizin (IGKM) könne er es den Arbeitskreisteilnehmern ermöglichen, sich ein Bild von den vielfältigen, in Genf präsenten Katastrophenschutzeinrichtungen zu machen.397 Das erklärte Ziel dieser am 5. und 6. Juni 1979 stattfindenden, zweiten Sitzung war der Austausch transnationaler Expertise. Neben der eigentlichen Arbeitskreistätigkeit (und dem jeweiligen Abendprogramm in Begleitung der mitreisenden Ehefrauen) waren verschiedenartige Exkursionen vorgesehen, jeweils inklusive Empfang bzw. Führung durch ein Mitglied der besuchten Organisation. Man besichtigte das Gebäude der Liga der Rot-Kreuz-Gesellschaften, das Operationszentrum der United Nations Disaster Reflief Organisation (UNDRO), die Zentrale der World Health Organization (WHO), aber auch lokale Zivilschutzeinrichtungen inklusive eines „unterirdischen strahlensicheren chirurgischen Notlazaretts“.398 Die Teilnehmerliste der zweiten Sitzung des Arbeitskreises war durch mehrere Gäste aus den Reihen der WHO (u. a. den Director of the Division of Environmental Health Dieterich und den Chief of Radiation Medicine Racoveanu) sowie der ebenfalls in Genf ansässigen International Civil Defense Organisation (ICDO) erweitert, deren Vorsitzender Milan Bodi gleichzeitig Mitbegründer und Schatzmeister der IGKM war. Der ebenfalls als Gast eingeladene Wolfgang Hübschmann vom Kernforschungszentrum Karlsruhe hielt ein Referat zur Klassifizierung von Kernkraftwerksunfällen sowie vorstellbarer Schutzmaßnahmen und sprach von möglichen „16.700 Sofort-Toten“ bei einer Reaktorkatastrophe, betonte gleichwohl jedoch, dass das Katastrophenpotenzial von Atomkraftwerken insgesamt weniger

394 Ebd., S. 4. 395 Ebd., S. 9. 396 In einem später datierten Dokument bezeichnete sich Frey auch als ihr Präsident, siehe: Schreiben von Rudolf Frey an Wilhelm Ahrens vom 19.11.1979. BArch, B 417/855. 397 Protokoll der 1. Sitzung des Arbeitskreises „Ärztliche Hilfe bei Kernkraft-Katastrophen“, S. 10–11. 398 Schreiben von Wilhelm Ahrens an die Mitglieder des Arbeitskreises „Ärztliche Hilfe bei KernkraftKatastrophen“ vom 3.4.1979, Betr.: Arbeitstagung in Genf: Zweite Einladung mit dem zweiten geänderten vorläufigen Programm. BArch, B 417/864.

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gefährlich sei als beispielsweise dasjenige eines Staudamms.399 Milan Bodi hinwiederum erläuterte den Teilnehmern das Konzept des schweizerischen Zivilschutzes, welcher gleichermaßen bei „Unfällen, Katastrophen und Kriegszeiten“400 tätig würde. Die heutzutage noch existierende ICDO muss aus Sicht des Historikers als hochinteressante Organisation angesehen werden.401 Bodi selbst war ein in der Schweiz eingebürgerter jugoslawischer Exilant und bemühte sich überaus aktiv um die von ihm begründete internationale Zivilschutzorganisation. Da die Staaten der NATO und des Warschauer Paktes deren Ansinnen misstrauten, den internationalen Austausch verschiedener nationaler Zivilschutzorganisationen zu ermöglichen, mauserte sich die 1957 gegründete ICDO über die Jahre zu einem Interessenverband des Non-Aligned Movement (vor allem aus dem Nahen Osten, Nordafrika und Arabien).402 Ihre Ausrichtung war dabei – ebenso wie diejenige der erst 1975 gegründeten IGKM – vorrangig nicht-militärisch;403 im Vordergrund ihrer Tagungen und Bulletins standen zivile Katastrophenszenarien, von denen Staaten der „Dritten Welt“ tendenziell eher heimgesucht wurden als die vormaligen Kolonialmächte.404 Ungeachtet des schweizerischen und internationalen Bezugs spielte das Szenario des Atomkriegs auch in der Genfer Sitzung des BÄK-Arbeitskreises keine Rolle. Obwohl von den Teilnehmern durchaus hinterfragt wurde, inwiefern die medizinische Versorgung bei einem GAU überhaupt gewährleistet werden 399 Protokoll einer Arbeitstagung (2. Sitzung des Arbeitskreises) „Ärztliche Hilfe bei KernkraftKatastrophen“ des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer am 5./6.6.1979 in Genf. BArch, B 417/159. 400 Ebd., S. 3. 401 Vgl. ihren Webauftritt: http://www.icdo.org/en (aufgerufen am 26.1.2019). 402 Von westdeutscher Seite wurden mehrfach Bedenken angemeldet, dass auch die DDR Mitglied werden könne. Das Auswärtige Amt bemühte sich zudem um Informationen über den wenig bekannten Bodi – sicher aufgrund dessen reger, sich vor allem an Regierungen richtender Werbetätigkeit, siehe Schreiben von Dr. Emmel (Vertretung Bundesrepublik Deutschland bei den Internationalen Organisationen in Genf) an das Auswärtige Amt vom 10.2.1964, Betr.: Internationale Organisation für zivile Verteidigung. BArch, B 106/85383. Obwohl Bodi bescheinigt wurde, kein Kommunist zu sein und man die ICDO durchaus als seriöse internationale Organisation charakterisierte, beschränkte sich die Beziehung des BMI ihr gegenüber auf vorsichtig-interessierte Beobachtung. 403 Im Gegensatz zur ICDO waren die Mitglieder der IGKM zumeist Einzelpersonen aus Wissenschaft oder Rettungswesen, vgl. Newsletter Nr. 1 der Internationalen Gesellschaft für Katastrophenmedizin vom August 1977. BArch-MA, BW 24/36414. Mir sind außer Rudolf Frey keine weiteren westdeutschen Mitglieder bekannt; ähnlich wie schon in Bezug zur ICDO sahen zentrale Stellen wie das BMI und das BMVg eine Mitgliedschaft eher kritisch, da man die von der IGKM ausgegebene Zielsetzung nicht notwendig als kongruent mit der eigenen betrachtete, vgl. z. B.: Schreiben von Ernst Rebentisch (InspSan) an Generalarzt Dr. Linde (Kommandeur SanAkBw) vom 30.1.1978. BArch-MA, BW 24/36414. 404 Weiterführende Informationen zur ICDO finden sich vor allem im Bundesarchiv unter der Signatur B 106/85383, aber auch bei Diebel, Atomkrieg und andere Katastrophen, S. 150–156.

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könne,405 wurden doch verschiedene Methoden besprochen, um die Überlebenschancen der im Ernstfall betroffenen Bevölkerung zu verbessern, wobei sowohl Evakuierungsmaßnahmen als auch der Bau von Schutzräumen im Umkreis von 40 km um Kernkraftwerke als vorstellbare Möglichkeiten Erwähnung fanden.406 Die dritte Arbeitskreissitzung fand auf Anregung Messerschmidts am 6. Juli 1979 in der ABC- und Selbstschutzschule der Bundeswehr im bayerischen Sonthofen statt. Nach einigen praktischen Übungen und Demonstrationen, u. a. zur Strahlenmessung und zur Dekontamination,407 richtete sich auch diese, im zivil-militärischen Kontext stattfindende Tagung ganz am gewählten Thema des Kernkraftwerkunfalls aus. Als Gast erläuterte ein bayerischer Ministerialrat die Überlegungen des lokalen Katastrophenschutzes u. a. zur Warnung und Evakuierung von in Kraftwerksnähe wohnender Bevölkerungsgruppen und auch die Bevorratung mit Jodtabletten – im richtigen Zeitfenster kann ihre Verabreichung der Aufnahme radioaktiven Jods in der Schilddrüse vorbeugen – wurde thematisiert. Das Bundesland Bayern halte zwar sechs Millionen solcher Tabletten vor; eine Ausgabe an die Bevölkerung sei hingegen nur im Ernstfall vorgesehen, da die anlasslose Einnahme schädlich sei.408 Jenseits der fachlichen Erörterungen drängte Ahrens die Arbeitskreismitglieder schließlich dazu, alsbald über probate Veröffentlichungsformen nachzudenken, wobei die Verbreitung der zentralen Ergebnisse über das an alle westdeutschen Ärzte versandte Deutsche Ärzteblatt von einer Mehrzahl der Mitglieder als unabdingbar angesehen wurde.409 Ironischerweise setzte sich nahezu zeitgleich bei vielen Beteiligten die Vorstellung durch, dass jede anstehende Publikation aufgrund der ursprünglich gewählten Begrenzung des Arbeitskreisauftrags Stückwerk bleiben müsse. Nach einer vom Deutschen Ärztetag erzwungenen Fortschreibung des Graul’schen Arbeitskreises erachteten nunmehr die Mitglieder selbst, ebenso wie der Wissenschaftliche Beirat und der Vorstand der Bundesärztekammer, eine Fortführung und thematische Erweiterung der eigenen Tätigkeit als notwendig. Ausgehend von derartigen Überlegungen war Ernst Rebentisch bereits im Februar des Jahres 1979 in den Fokus der Bundesärztekammer gerückt und hatte nach einer entsprechenden Anfrage BÄK-Hauptgeschäftsführer Deneke seine generelle Bereitschaft zur Mitwirkung

405 Protokoll einer Arbeitstagung (2. Sitzung des Arbeitskreises) „Ärztliche Hilfe bei KernkraftKatastrophen“, S. 11. 406 Ebd., S. 14–15. 407 Protokoll der 3. Sitzung des Arbeitskreises „Ärztliche Hilfe bei Kernkraft-Katastrophen“ des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer am 6.7.1979, S. 1–5. BArch, B 417/855. 408 Ebd., S. 5–7. 409 Ebd., S. 10.

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zugesichert.410 Dieser wiederum verständigte sich in einer Besprechung mit Wolff und Poppe am 22. August 1979 darauf, dass die Arbeit des derzeitigen Arbeitskreises „Ärztliche Hilfe bei Kernkraft-Katastrophen“ nur dann sinnvoll weitergeführt werden könne, wenn fortan allgemein die „Sicherstellung der ärztlichen Versorgung im Katastrophenfall“ im Fokus stünde. Dabei gehe man – so Deneke – davon aus, „daß die Katastrophenanfälligkeit der hochindustriellen Gesellschaft zunimmt und wie die Erfahrung der letzten Jahre gezeigt hat, dies nicht auf Reaktorunfälle beschränkt ist“.411 Die erforderliche Zustimmung des Vorstands der Bundesärztekammer erfolgte bereits am 14. September 1979;412 die einstmals von Poppe bewusst beschränkte Thematik sollte somit stärker ausgedehnt werden als es der Graul’sche Arbeitskreis je bezweckt hatte, wenn auch mit der wesentlichen Einschränkung, nach wie vor keinerlei „allgemeinpolitische“ Empfehlungen abzugeben. Neben der fachlichen Diskussion (u. a. über die Triage, den Mitgliedern noch nicht vorliegende Katastrophenschutzpläne sowie potenzielle Veröffentlichungsformen) wurde auf der vierten Sitzung von Poppes Arbeitskreis auch das angedachte Konzept zur Auftragserweiterung nicht nur vorgestellt, sondern bereits personell angedeutet. Nachdem schon in der dritten Sitzung ein offizieller Vertreter des BMI teilgenommen hatte, führte die Anwesenheitsliste nun zwei weitere Bundeswehrsoldaten an, darunter erstmals „in personam“,413 d. h. nicht in seiner Funktion als Inspekteur, Ernst Rebentisch.414 Kann von einer fortschreitenden Militarisierung des Arbeitskreises gesprochen werden? Obwohl die personelle Verschiebung dies zunächst anzudeuten schien, mag man sich in diesem Zusammenhang an die im vorigen Kapitel thematisierte Stellungnahme Rebentischs zum ersten Referentenentwurf des GesSG erinnern, in welcher dieser insbesondere dessen exklusive Ausrichtung auf den Verteidigungsfall moniert hatte. Im Spiegel des umfangreichen Quellenmaterials ist Rebentisch als Vertreter des All-hazards-Ansatzes des Katastrophenschutzes zu bewerten und in eben diese Richtung sollte ja die thematische Erweiterung des Arbeitskreises führen: Poppe selbst sprach davon, „daß letztlich all diese Probleme nur unter den generellen Aspekten einer Desaster-Medicine [sic] gesehen werden

410 Schreiben von J. F. Volrad Deneke an Ernst Rebentisch vom 15.2.1979; Schreiben von Ernst Rebentisch an J. F. Volrad Deneke vom 16.2.1979. BArch, B 417/158. 411 Schreiben von J. F. Volrad Deneke an Hanns Peter Wolff und Hanno Poppe vom 27.8.1979, Betr.: Unterausschuß des Wissenschaftlichen Beirates „Sicherstellung der ärztlichen Versorgung bei Reaktorunfällen“. BArch, B 417/159. 412 Auszug aus dem Protokoll über die 4. Sitzung des Vorstandes der Bundesärztekammer am 14.9.1979 in Köln. BArch, B 417/158. 413 Vgl. Schreiben von Hanno Poppe an Wilhelm Ahrens vom 30.8.1979. BArch, B 417/158. 414 Protokoll der 4. Sitzung des Arbeitskreises „Ärztliche Hilfe bei Katastrophen“ des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer am 6.10.1979. BArch, B 417/159.

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können“ und verwies auf Güterzugunglücke und Chemiekatastrophen,415 während Wolff versprach, man werde „sich auch mit Natur- und nichtnuklearen technischen Katastrophen beschäftigen“.416 Rebentisch wurde am 17. November 1980 von Deneke darum gebeten, den Vorsitz im nunmehr tatsächlich katastrophenmedizinischen Arbeitskreis zu übernehmen.417 Der ehemals ranghöchste Arztsoldat der Bundesrepublik konnte demnach unter dem Schirm des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer eben jene zivil-militärische Zusammenarbeit etablieren, welche er selbst seit Jahren eingefordert hatte. Ideelle Spannungen zwischen Berufssoldaten und Zivilisten waren dabei übrigens kaum festzustellen. Antikommunistische Einstellungen etwa waren in der westdeutschen Ärzteschaft weithin verbreitet und in Bezug auf die Mitglieder der katastrophenmedizinischen Arbeitskreise der Bundesärztekammer unterschieden sich die teilnehmenden Militärs in dieser Hinsicht wenig von ihren zivilen Kollegen. Gleiches galt für die vorherrschenden Ansichten zur Kernenergie: Diese war trotz des kritischen Titels der von Hanno Poppe geleiteten Gruppe nie grundsätzlich ablehnend. Ein echter Gegner der zivilen Nutzung der Atomkraft – ein Hermann Kater – war unter den Teilnehmern unabhängig ihres zivilen oder militärischen Hintergrundes nicht zu finden; man erkannte gemeinhin an, dass neue Technologien stets mit Risiken verbunden seien, auf die man sich präventiv (mittels hoher Sicherheitsstandards) wie reaktiv (mittels eines gut vorbereiteten Katastrophenschutzes) vorzubereiten habe, bewertete die Kernenergie hingegen nicht als ungewöhnlich gefährlich. Im Gegenteil, ihre Existenz wurde zumeist als notwendiger Tribut an eine insgesamt als erstrebenswert erachtete, hochindustrielle Gesellschaftsform ausgewiesen. Jenseits solcher verhältnismäßigen Homogenität der Arbeitskreismitglieder in Bezug auf grundlegende Prämissen verlief die eigentliche Forschungsarbeit konfliktbehafteter als es in dieser Darstellung bislang den Anschein hatte. Dies mag an den Personalien Klaus-Rüdiger Trott sowie Ministerialrat Seelentag418 veranschaulicht werden. Beide arbeiteten zusätzlich zu ihrer Tätigkeit für den Wissenschaftlichen Beirat der Bundesärztekammer an „konkurrierenden“ Studien: Trott, damals Privatdozent und später Professor am Institut für Radiobiologie der Technischen Universität in München, war ein Mitglied der 1973 dem BMI zugeordneten

415 Plenarsitzung des Wissenschaftlichen Beirates der BÄK – 17.11.1979 – Köln BÄK, 10.00 Uhr; TOP Berichte aus den Arbeitskreisen, hier: Arbeitskreis „Ärztliche Hilfe bei Kernkraft-Katastrophen“, S. 8–9. BArch, B 417/855. 416 Auszug aus dem Protokoll der 21. Plenarsitzung des Wissenschaftlichen Beirats der BÄK vom 8.11.1980; b.) „Ärztliche Hilfe bei Katastrophen“, S. 9. BArch, B 417/863. 417 Schreiben von J. F. Volrad Deneke an Ernst Rebentisch vom 17.11.1980, Betr.: Katastrophenmedizin. BArch, B 417/863. 418 Trotz vielfacher Bemühungen konnte der Vorname des stets nur als MR Seelentag ausgewiesenen Beamten nicht ausfindig gemacht werden.

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Strahlenschutzkommission gewesen und hatte an der Deutschen Risikostudie Kernkraftwerke mitgewirkt,419 Seelentag hingegen an einem „Merkblatt für Ärzte zur Verwendung von Jodtabletten bei einem kerntechnischen Unfall“. Insbesondere auf der fünften Arbeitskreissitzung stieß Trott mit einigen Bemerkungen auf teils heftigen Widerspruch anderer Teilnehmer, welchen der Protokollführer Ahrens bei seiner Niederschrift der Tonbandaufzeichnung offenbar rhetorisch entschärfen musste.420 Messerschmidt etwa kritisierte Aussagen zur mangelhaften Schutzfunktion gewöhnlicher Kellerräume und sah diese als durchaus beachtlich an; insbesondere aber wurde ein für die etwaige Veröffentlichung der Arbeitskreisergebnisse vorgesehenes Manuskript Trotts bemängelt. Auf die Frage des Teilnehmers Vladimir Volf vom Kernforschungszentrum in Karlsruhe,421 warum Trott in seinem Manuskript von einer achtstündigen Evakuierungszeit im Ernstfall ausgehe, antwortete dieser damit, dass er „diesen Zeitraum selbst erfunden“ habe und man ihn daher „nicht überbewerten“ solle.422 Die Bestätigung Trotts, mehrere Zahlenangaben, etwa die Größe des Evakuierungsbezirks bei einer Kernkraftkatastrophe (8 km anstelle des in vergleichbarer US-Literatur meist angegebenen 16 km großen Umkreises) gleichfalls „erfunden“ zu haben, bezeichnete der anwesende Deneke als „bedenklich“, während Volf forderte, „bei der Festlegung solcher Daten stets nur den Sachverstand entscheiden zu lassen und sich nie der Verwaltung zu beugen“.423 Die konkrete Formulierung belegt einmal mehr das Misstrauen, mit dem selbst die im Arbeitskreis vertretenen, generell eher fortschrittsoptimistischen Ärzte die Aussagen politiknaher Kollegen einzuordnen pflegten. Ohne der Kritik Volfs ihre Validität absprechen zu wollen – einige der Aussagen des Kernenergiebefürworters Klaus-Rüdiger Trott erscheinen angesichts der besprochenen Thematik in der Tat erschreckend lax gewesen zu sein – die Neigung, nicht allein die persönlich-fachliche

419 Vgl. Schreiben von Hanno Poppe an J. F. Volrad Deneke vom 10.7.1979, Betr.: 3. Sitzung des Arbeitskreises „Ärztliche Hilfe bei Kernkraft-Katastrophen“ am 6.7.1979. BArch, B 417/159; Gesellschaft für Reaktorsicherheit (Hrsg.), Deutsche Risikostudie Kernkraftwerke: Eine Untersuchung zu dem durch Störfälle in Kernkraftwerken verursachten Risiko. Bonn 1979. 420 Schreiben von Vladimir Volf an Wilhelm Ahrens vom 6.3.1980, Betr.: „Ärztliche Hilfe bei Katastrophen“ – Protokoll der 5. Sitzung des Arbeitskreises. BArch, B 417/863. 421 Teilnehmerliste des Arbeitskreises „Ärztliche Hilfe bei Kernkraft-Katastrophen“, Stand 11.1.1979. BArch, B 417/835. 422 Protokoll der 5. Sitzung des Arbeitskreises „Ärztliche Hilfe bei Katastrophen“ des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer am 12.1.1980, S. 7. BArch, B 417/158. 423 Ebd., S. 8. Volf entpuppte sich in späterer Korrespondenz immer deutlicher als fachlicher Gegner Trotts, vgl. z. B. Schreiben von Vladimir Volf an Hanno Poppe vom 18.8.1980, Betr.: Manuskript Dr. LOESTER – Stellungnahme PD Dr. Trott. BArch, B 417/863. Die zunehmende Animosität beider Wissenschaftler behinderte Ernst Rebentisch zufolge auch die zeitige Veröffentlichung der Arbeitskreisergebnisse, siehe: Schreiben von Ernst Rebentisch an Heinz-Peter Brauer vom 6.10.1980. BArch, B 417/160.

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Ansicht bzw. Eignung des entsprechenden Kollegen zu hinterfragen, sondern zusätzlich zu befürchten, dass dieser vor „der Verwaltung“ kapituliert habe, offeriert abermals ein beredtes Zeugnis über das Verhältnis der Ärzteschaft zur Politik, welche hier, ähnlich wie bereits in Kapitel 2.2.2 dargestellt, als korrumpierendes Element professioneller Integrität erscheint. Diese Beobachtung gewinnt an zusätzlicher Evidenz, wenn man die Einschätzung des nochmals deutlich politiknäheren BMI-Vertreters Seelentag in den Blick nimmt. Gerade in Zusammenhang mit den Veröffentlichungsplänen des BÄKArbeitskreises berichtete dieser z. B. darüber, dass im BMI ebenfalls an einer Art Merkblatt für die Ärzteschaft zum Themenbereich Jodtabletten gearbeitet werde. Vor allem Volf lehnte einen von Seelentag vorgelegten Entwurf scharf ab; die dort empfohlene Jod-Dosierung sei deutlich zu hoch angesetzt, während man die Risiken einer Verabreichung fünffach unterschätze. In einem Schreiben an Seelentag, welches er nachrichtlich auch an den damaligen Bundesminister des Innern Gerhart Baum (FDP) versandte, hieß es hierzu: Die im Merkblatt [des BMI] enthaltenen Falschinformationen werden nicht zur Wahrheit, wenn sie vom Unterausschuß Medizin des Länderausschusses AtomenergieStrahlenschutz angenommen und vom Länderausschuß verabschiedet werden. Ist es so schwierig, unrichtige Behauptungen vorher zu berichtigen, damit sie nicht nachträglich öffentlich kritisiert werden müssen? Sehr geehrter Herr Seelentag, sollten Sie mich auch weiter mißverstehen, werde ich – ermutigt durch Ihre großen und schönen Worte über sachliche Kompromißlosigkeit – vor allem die deutsche Ärzteschaft auf die erwähnten Fehler des Merkblattes aufmerksam machen.424

Seine Kritik flankierte Volf zusätzlich durch ein direkt an Baum adressiertes Schreiben: Ich habe mich bemüht darauf hinzuwirken, daß das Merkblatt [des BMI] sachlich richtig konzipiert wird, weil die Ärzte anspruchsvolle Leser sind und sowieso oft Bedenken hinsichtlich der möglichen Nebenwirkungen der Jodtabletten haben. Leider hatte ich bisher wenig Erfolg. Bevor ich ggfs. Weiteres unternehme möchte ich Sie um Ihre Stellungnahme bitten: Muß es sein, daß ein sachlicher Fehler im Ministerialentwurf nach

424 Schreiben von Vladimir Volf an Seelentag vom 22.10.1980, Betr.: Merkblatt für Ärzte zur Verwendung von Jodtabletten bei einem kerntechnischen Unfall – Stand 24.9.1980. BArch, B 417/ 863.

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einem Durchgang durch Ministerialausschüsse so zementiert wird, daß eine Berichtigung unmöglich ist?425

Auch in diesem Vorgang scheint die scharfe, teilweise gar drohende Positionierung „der Ärzteschaft“ gegen „die Politik“ auffallend; das „Ministeriale“ wird als Maschinerie dargestellt, welche anstehende Themen lieber abstempele als ihnen die notwendige, fachliche Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Seelentag verhielt sich gegenüber den Vorwürfen Volfs eher defensiv,426 kritisierte seinerseits jedoch die geplante Publikation der Arbeitskreisergebnisse, indem er etwa darauf hinwies, dass diese sich „vielleicht mehr darauf konzentrieren [solle], dem Allgemeinarzt zu vermitteln, was er tun kann und sollte, als das, was von Behörden erwartet wird“.427 Man mochte dies als einen Appell des BMI an die Ärzteschaft verstanden haben, sich weniger darum zu bemühen, Forderungen an die Politik zu richten (z. B. das GesSG betreffend), als vielmehr die Ärzteschaft darüber aufzuklären, was bei gegenwärtigem Stand der Dinge getan werden könne. Insbesondere der Vorsitzende Hanno Poppe verbat sich jedoch in einer Fülle von Briefen jegliche Einmischung auf eigene Arbeit. Den mit der Anfertigung eines die Erkenntnisse des Arbeitskreises zusammenfassenden Merkblatts betrauten Otfried Messerschmidt ließ Poppe in diesem Zusammenhang wissen: Ob Herr SEELENTAG vom BMI mit dem Inhalt Ihres Merkblattes einverstanden ist, sollte eigentlich den Mitgliedern des Arbeitskreises und – insbesondere – Ihnen egal sein. […] So sehr ich für die „Interessen-Wahrnehmung“ des Ministeriums durch Herrn SEELENTAG Verständnis habe, so sehr lehne ich auf der anderen Seite aber den Versuch einer Einflußnahme auf ärztliche, sachverständige Stellungnahmen durch eine Bundesbehörde ab. […] Es wäre arm um ein Gremium des Wiss. Beirates bestellt, wenn es sich nicht jeglichen Versuchen einer Einflußnahme auf die eigene Meinung entgegenstellen würde.428

Poppes Verlautbarungen zu Seelentags Versuchen einer unbotmäßigen Beeinflussung der abschließenden Publikation der Arbeitskreisergebnisse können einer

425 Schreiben von Vladimir Volf an Gerhart Baum (BMI) vom 23.10.1980, Betr.: Merkblatt für Ärzte zur Verwendung von Jodtabletten bei einem kerntechnischen Unfall – Stand 24.9.1980. BArch, B 417/863. 426 Vgl. Schreiben von Seelentag an Vladimir Volf vom 21.11.1980, Betr.: Merkblatt für Ärzte zur Verwendung von Jodtabletten bei einem kerntechnischen Unfall. BArch, B 417/863. 427 Schreiben von Seelentag (BMI) an Wilhelm Ahrens vom 9.6.1981, Betr.: Merkblatt zur Ersten ärztlichen Hilfe nach Unfällen in Kernkraftwerken. BArch, B 417/863. Betonung im Original. 428 Schreiben von Hanno Poppe an Otfried Messerschmidt vom 12.6.1981. BArch, B 417/159. Betonungen im Original.

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langen Reihe negativer Kommentare zugeordnet werden, mit der dieser Seelentags Arbeit bereits zwei Jahren lang bedacht hatte. Im Nachgang der dritten Arbeitskreissitzung am 6. Juli 1979 – der ersten, an der Seelentag teilgenommen hatte – schrieb Poppe in diesem Sinne bereits an Wilhelm Ahrens: Zur Mitarbeit von Herrn Seelentag hatte ich Ihnen mit gesondertem Schreiben ja schon meine persönliche Meinung deutlich skizziert. Herr Seelentag wird einen wesentlichen Teil seiner „Mitarbeit“ darin sehen, irgendetwas „anzuregen“. Wir sollten uns jedoch darüber im klaren sein, daß wir von ihm konkrete Beiträge nicht erwarten können. […] Ich fühle mich geradezu geehrt, wenn Herr Seelentag im persönlichen Gespräch Ihnen gegenüber geäußert hat, daß er sich „ein wenig enttäuscht über die sehr unterschiedlichen Auffassungen, die zu einzelnen Fragen von Mitgliedern des Arbeitskreises bestehen“, gezeigt hatte. Man muß wohl Mitglied einer Ministerialbürokratie sein, um „unterschiedliche Auffassungen“ als Negativum anzusehen. Mir persönlich ist es aber lieber, in einer sachlichen Diskussion unterschiedliche Auffassungen herauszustellen, um dann schließlich zu einer einheitlichen Kompromißlösung zu kommen.429

Die hier geschilderte offene Diskussion bei anschließender Kompromissfindung entsprach auffallend dem Prinzip der Deutschen Ärztetage bzw. der ärztlichen Selbstverwaltung als solcher, welche internen Dissens weitreichend zuließ, im Kontakt zur nichtprofessionellen Sphäre hingegen stets weitreichende Einigkeit zum Zwecke einer möglichst effektiven Interessenpolitik zu erreichen suchte. Seelentag hingegen wurde als Ministerialrat nicht allein die fachliche Kompetenz abgesprochen, sondern auch die Fähigkeit, die Sprache der professionals zu sprechen. Die „Ministerialbürokratie“, welcher er angehörte, erschien in Poppes Schreiben als diskussionsfeindlicher Ort gleichgeschalteter Untergebener, während der Arbeitskreis im Sinne der Professionssoziologie als locker organisiertes Kollegium ausgewiesen wurde, als Zusammenschluss autonomer Teilnehmer mit Poppe als primus inter pares. Anders ausgedrückt: Seelentag wurde auf den Sitzungen des Arbeitskreises zuallererst als Vertreter des BMI wahrgenommen; Person und Institution schienen bei ihm aus Sicht der professionals zusammenzufallen. Leo Koslowski etwa galt demgegenüber keineswegs vorrangig als Mitglied der Schutzkommission und Otfried Messerschmidt keineswegs vorrangig als Mitglied der Bundeswehr, sondern als ungeachtet ihrer institutionellen Anbindungen freie, individuell legitimierte Ärzte.

429 Schreiben von Hanno Poppe an Wilhelm Ahrens vom 27.7.1979. BArch, B 417/855.

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2.2.5 Der Gang an die Öffentlichkeit Mithin kann festgehalten werden, dass das tendenziell fortschrittsoptimistische Gremium „Ärztliche Hilfe bei Kernkraft-Katastrophen“ sich nicht nur allzu unbesorgte Ansichten verbat, sondern sich auch der potenziellen Beeinflussung durch politiknahe non-professionals heftig widersetzte, während seine Mitglieder gleichzeitig versuchten, Einfluss auf die verantwortlichen Politiker auszuüben. Ähnlich wie während der Etablierung der Notfallmedizin gegen Ende der 1960er Jahre430 sahen sich teilweise dieselben Ärzte erneut als ungebetene Experten, welche gerade nicht im Auftrag des Staates agierten. Gegenüber einer politischen Bürokratie, die als ineffizient und feige wahrgenommen wurde und die sich davor drückte, den Wählerinnen und Wählern „unpopuläre Wahrheiten“ zuzumuten, musste man den lebensrettenden Nutzwert der eigenen Expertise offensiv etablieren. Die Katastrophenmediziner entsprachen somit keineswegs dem von Nico Stehr skizzierten Bild des Experten als Wissensvermittler, welcher zumeist im (bezahlten) Auftrag anderer agiert, sondern versuchten, eigenverantwortlich zu handeln und sich hierfür möglichst weitreichende Definitions- und Handlungsmacht – jurisdiction – in den von ihnen in den Blick genommenen Bereichen zu sichern (vgl. hierzu allgemein Kapitel 1.5). Dieser Prozess erwies sich hingegen als schwierig. Gerade nach der im Juni 1979 erfolgten Kontaktaufnahme mit entsprechenden Verantwortlichen in der Schweiz stellte Hanno Poppe fest, dass ihm nun erst der „ganze politische Sprengsatz der Materie“431 auffalle, welcher die Arbeitsweise bundesdeutscher Behörden in Sachen Zivil- und Katastrophenschutz grundsätzlich in Frage stellte. Während die Schweiz mit entsprechenden Informationen vergleichsweise offen und transparent verfuhr und sich im Rahmen ihrer umfassenden Zivilschutzkonzepte darum bemühte, nicht nur die lokale Ärzteschaft, sondern alle Bürgerinnen und Bürger über erforderliche Verhaltensweisen im Ernstfall zu informieren,432 stießen Poppe und selbst Deneke – trotz dessen einschlägiger, politischer Kontakte – regelmäßig auf Widerstand, wenn sie sich darum bemühten, Einsicht in etwaig vorhandene Katastrophenschutzpläne zu erhalten. Rebentisch hielt hierzu in einem Schreiben fest: Aus einem in letzter Zeit recht lebhaften Schriftwechsel mit Prof. Poppe muß ich entnehmen, daß es recht schwierig ist, an die Katastrophenschutzpläne der einzelnen Bundesländer [zur Erinnerung: der zivile Katastrophenschutz war und ist Ländersache] heranzu-

430 Kessel, Geschichte des Rettungsdienstes, S. 76. 431 Schreiben von Hanno Poppe an Hanns Peter Wolff vom 18.6.1979, Betr.: Genf-Besuch des Arbeitskreises „Ärztliche Maßnahmen bei Kernkraft-Katastrophen“. BArch, B 417/159. 432 Schreiben von Hanno Poppe an J. F. Volrad Deneke vom 10.7.1979, Betr.: 3. Sitzung des Arbeitskreises „Ärztliche Maßnahmen bei Kernkraft-Katastrophen“. BArch, B 417/159.

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kommen. Ich hatte meine Hilfe angeboten und bei einem Gespräch mit dem Präsidenten des Bundesamtes für Zivilschutz, Dr. Kolb, erfahren, daß es derartige Pläne nicht auf Landesebene gibt, weil dort nur die Gesetze liegen. Für die Exekutive maßgebend sind die Kommunen und Landkreise. Diese aber halten, sofern sie überhaupt darüber verfügen, zum nicht geringen Mißfallen von Dr. Kolb ihre Katastrophenschutzpläne größtenteils geheim, so daß auch die zur Katastrophenbewältigung aufgerufenen Organisationen und Einzelpersonen gar nichts von derartigen Plänen erfahren.433

Neben der offenkundigen Sinnlosigkeit, dass die Behörden beispielsweise für einen Reaktorunfall ausgearbeitete Pläne – sofern vorhanden – selbst vor denjenigen, die im Zweifel zur Mithilfe verpflichtet waren, geheim hielten, enthält eine Vielzahl der mit diesem Sachverhalt befasster Quellen zusätzlich eine emotionale Komponente. Dass Ärzte, noch dazu hoch angesehene und in offiziellem Auftrag der Bundesärztekammer agierende Spezialisten, von Kreisbeamten und Bürgermeistern daran erinnert werden konnten, über keinerlei Befugnisse zur Einsichtnahme zu verfügen, wurde als schwere berufliche Kränkung aufgefasst. Poppe betonte in diesem Zusammenhang etwa, er „meine allen Ernstes, daß die Ärzteschaft darauf Anspruch hat zu erfahren, welche Pläne im einzelnen und für jeden Kernkraftwerk-Standort für den Evakuierungsfall bestehen“,434 und Rebentisch spottete: „Dies gibt übrigens ein herrliches Thema bei der Feststellung der Fähigkeit zur Katastrophenbewältigung, wenn die klugen Leute [der lokalen Behörden] ihre eigenen Pläne vor denen, die sie eigentlich ansprechen müßten, geheimhalten!“435 Mit den schließlich doch vereinzelt eintreffenden Stellungnahmen mochten sich die Arbeitskreismitglieder ebenso wenig zufriedengeben, erschienen ihnen diese doch allesamt unbrauchbar und an den im Ernstfall beteiligten Praktikern „vorbeigeplant“.436 In einem vielsagenden Schreiben von Deneke an Rebentisch brachte dieser am 18. Dezember 1979 unmissverständlich seine Frustration mit der gesamten Angelegenheit auf den Punkt. Dort hieß es: Das wird ja immer schlimmer: Selbst wenn wir über die ärztlichen Orts- und Kreisvereine Zugang zu den regionalen Katastrophenschutzplänen bekommen, werden wir Sinnvolles nur dann ausrichten können, wenn zentrale Positionen den vollen Überblick auch über die Detailplanungen erhalten. Wir werden daher an die Öffentlichkeit gehen müssen,

433 Schreiben von Ernst Rebentisch (InspSan) an J. F. Volrad Deneke vom 13.12.1979. BArch, B 417/ 160. 434 Schreiben von Hanno Poppe an J. F. Volrad Deneke vom 20.11.1979, Betr.: Katastrophenschutzpläne der einzelnen Bundesländer. BArch, B 417/159. Betonung im Original. 435 Schreiben von Ernst Rebentisch (InspSan) an Hanno Poppe vom 13.12.1979. BArch, B 417/855. 436 Vgl. Schreiben von Hanno Poppe an J. F. Volrad Deneke vom 25.3.1980, Betr.: Katastrophenpläne der Bundesländer. BArch, B 417/157.

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um auf diese im wahrsten Sinne des Wortes katastrophalen Zustände hinzuweisen. Das Mißverhältnis zwischen der öffentlichen Diskussion über Abrüstung, Nachrüstung, Aufrüstung, Gleichrüstung, Stellenpläne und Haarschnitt in der Bundeswehr im Vergleich zum totalen Nichts an Vorsorge für den Zivilschutz im Katastrophenfall kann einfach nicht mehr hingenommen werden.437

Das Schreiben brachte die zu Beginn dieses Kapitels benannte Grundkonstellation deutlich zum Ausdruck: Die Geschäftsführung der BÄK sah sich, ebenso wie die Mitglieder des Poppe’schen Arbeitskreises, durch die Unfähigkeit der Behörden in Fragen des Zivil- und Katastrophenschutzes zum eigenmächtigen Handeln geradezu gezwungen. Keineswegs betrachtete man sich als Zuarbeiter der Politik und jeder Versuch einer Beeinflussung etwa durch das BMI musste von sachkundigen professionals, die sich von Verwaltungsseite – d. h. von Laien – massiv behindert empfanden, als doppelter Affront verstanden werden. In einem gleichfalls am 18. Dezember 1979 versandten Rundschreiben forderte Deneke nunmehr Schlüsselmitglieder der Bundesärztekammer dazu auf, mit der gemeinsamen Planung des angedrohten Gangs an die Öffentlichkeit in Sachen Zivil- und Katastrophenschutz zu beginnen.438 Empfänger des Schreibens waren – neben BÄK-Präsident Vilmar –Gustav Osterwald als Vorsitzender des Ausschusses „Sanitätswesen in der Bundeswehr und Zivilschutz“, Hanns Peter Wolff als Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats, Poppe, Rebentisch, Brauer, Ahrens und der bereits in Kapitel 2.2.3 erwähnte, in der Bundesärztekammer für Fortbildungsfragen verantwortliche Paul Odenbach. Parallel zu den Form annehmenden Plänen einer Fortführung und thematischen Erweiterung des Arbeitskreises „Ärztliche Hilfe bei Kernkraft-Katastrophen“ (vgl. Kapitel 2.2.4) sowie zum im Lauf der 1970er Jahre sukzessive intensivierten politischen Lobbying in Sachen GesSG (vgl. Kapitel 2.2.3) sollte nun auch die Öffentlichkeit über das von Deneke so bezeichnete „totale Nichts an Vorsorge“ in Kenntnis gesetzt werden – mit dem expliziten Hintergedanken, auf diesem Wege den Druck auf die politischen Entscheider zu erhöhen. Obwohl Deneke in diesem Zusammenhang betonte, dass über die Möglichkeit des Atomkriegs viel zu viel, über den zivilen Katastrophenschutz (von ihm als „Zivilschutz im Katastrophenfall“ bezeichnet) zu wenig diskutiert wurde: Das leitende Prinzip aller zukünftigen Bemühungen lautete all hazards und sollte der Vorbereitung auf die „größtmögliche Katastrophe“ des Krieges ebenso dienen wie deutlich beherrschbareren zivilen Szenarien. Gerade weil sich zentrale Techniken der Wehr- bzw. Katastrophenmedizin – insbesondere 437 Schreiben von J. F. Volrad Deneke an Ernst Rebentisch (InspSan) vom 18.12.1979, Betr.: Katastrophenschutzpläne; Bezug: Ihr Schreiben vom 13.12.1979. BArch, B 417/160. 438 Schreiben von J. F. Volrad Deneke an Karsten Vilmar, Gustav Osterwald, Hanns Peter Wolff, Hanno Poppe sowie nachrichtlich an Ernst Rebentisch (InspSan), Heinz-Peter Brauer, Wilhelm Ahrens und Paul Odenbach vom 18.12.1979, Betr.: Katastrophenschutzpläne. BArch, B 417/855.

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die Triage – in unterschiedlichen Szenarien lediglich in der Größenordnung ihrer Anwendung, nicht aber grundlegend unterschieden, wurde das Katastrophische von den hiermit befassten Ärzten als jegliches Ereignis verstanden, welches sich der Beherrschung durch lokal verfügbare Kräfte zeitweilig entzog. Dass es zumindest teilweise eben dieses All-hazards-Prinzip gewesen war, welches den Behörden eine Weiterleitung vorhandener Katastrophenschutzpläne verunmöglicht hatte, entbehrte in diesem Zusammenhang nicht einer gewissen Ironie. Ein etwaig vorhandener Plan, in dem Kriegs- und Katastrophenszenarien kombiniert behandelt wurden, unterlag in aller Regel einer höheren Geheimhaltung und durfte demnach nur von einem sehr kleinen Kreis hierzu ermächtigter Personen eingesehen werden. Die Vertreter der Bundesärztekammer plädierten demgegenüber für eine in diesem Zusammenhang generell höhere Transparenz nach schweizerischem Vorbild: Idealerweise seien alle Vorbereitungen der Behörden zumindest den im Ernstfall involvierten Praktikern offenzulegen, völlig unabhängig davon, ob diese auf den Kriegs- oder Katastrophenfall abzielten. In den Augen der mit diesen Fragen befassten Ärzte waren keinesfalls sie selbst, sondern die staatlichen Stellen Verharmloser der „Atomgefahren“, da diese sich davor scheuten, vorhandene Risiken klar zu benennen und der Bevölkerung in Sicherheitsfragen allzu wenig Vertrauen entgegenbrachten. Der schließlich von der gesamten Führungsriege der Bundesärztekammer befürwortete Kurs einer intensivierten Aufklärung über den so bezeichneten „katastrophalen Katastrophenschutz“ wurde zweigleisig geplant, sah man sich doch mit zwei grundverschiedenen Öffentlichkeiten konfrontiert: Der berufsinternen, d. h. der nicht-spezialisierten Gesamtärzteschaft, sowie der berufsexternen, d. h. der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland. Zum Erreichen der berufsinternen Öffentlichkeit wurde nicht nur ab Ende der 1970er und bis weit in die 1980er Jahre hinein eine kaum zu überblickende Vielzahl von Artikeln zur Katastrophenmedizin in sämtlichen Fach- und Verbandszeitschriften der deutschen Ärzteschaft veröffentlicht, sondern insbesondere auch das Angebot an katastrophenmedizinischen Fortbildungsmöglichkeiten deutlich ausgeweitet. Das außerhalb spezialisierter Bereiche wie der Schutzkommission oder der Bundeswehr bis dahin kaum existente Feld erfuhr hierdurch eine deutliche Aufwertung. Bereits im Januar 1979 etwa begann an der Sanitätsakademie der Bundeswehr eine zwölfteilige Veranstaltungsreihe zum Thema „Notfall- und Katastrophenmedizin“. Die Eröffnung bestand neben der Begrüßung durch den damaligen Kommandeur der Akademie, Generalarzt Hansjoachim Linde, aus zwei Vorträgen Messerschmidts zur Pathogenese, Diagnostik und Therapie von Kernwaffenschäden sowie einem Vortrag Koslowskis zur Behandlung von Verwundungen

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und Verbrennungen nach einer nuklearen Katastrophe.439 Die Reihe war ein gemeinschaftliches Unterfangen der Akademie, der bayerischen Landesärztekammer sowie der bereits erwähnten Gesellschaft für Strahlen- und Umweltforschung mbH (vgl. hierzu Kapitel 2.1.2) und sparte ganz im Sinne von all hazards weder den Krieg noch zivile Katastrophenszenarien aus. Teile der Veranstaltung wurden für eine Veröffentlichung ediert und erschienen kurze Zeit später unter dem Titel Reaktorunfälle und nukleare Katastrophen: Ärztliche Versorgung Strahlengeschädigter.440 Dieser war der erste Band einer von Oberstarzt Rainer Kirchhoff und Linde herausgegebenen Reihe Notfall-Medizin, welcher während der nächsten Jahre mehrere einschlägige Veröffentlichungen hinzugefügt werden sollten. Wie die ihm zugrunde liegende Veranstaltung beinhaltete das Werk Kapitel sowohl zu verschiedenen Reaktortypen in Kernkraftwerken inklusive vorstellbarer Störungsund Unfallszenarien, zur Pathogenese und Behandlung von Kernwaffenschäden sowie allgemein zur Therapie der Strahlenkrankheit. Bereits in den drei Vorworten verwies Mitherausgeber Kirchhoff darauf, dass sich jeder Arzt „für den Fall einer lokalen oder globalen Katastrophe“441 vorzubereiten habe, während Hans Joachim Sewering als Präsident der Bayerischen Landesärztekammer dazu mahnte, „gerade diese Thematik“ der „oft emotional gefärbten politischen Diskussion“ zu entziehen, um sie überhaupt „medizinisch-sachlich“442 untersuchen zu können. Der damalige bayerische Staatsminister für Arbeit und Sozialordnung Fritz Pirkl fächerte gleich in den ersten Zeilen des Buches die ganze, bereits in Kapitel 1.3 angesprochene Bandbreite des Katastrophischen auf: Nach der globalen Katastrophe unseres Jahrhunderts, dem zweiten Weltkrieg, bestand die Hoffnung, daß uns Katastrophen großen Ausmaßes in Zukunft erspart bleiben würden. Zwar ist Europa seither von großen kriegerischen Auseinandersetzungen verschont geblieben. Aber Katastrophen haben uns immer wieder heimgesucht und werden uns auch weiterhin bedrohen. Die Naturgewalten fordern unsere Zivilisation mit Erdbeben und Überschwemmungen heraus, die Technisierung der Umwelt bringt neue Gefahren mit sich und der Terrorismus bedroht unseren inneren Frieden.443

439 Anlage zu einem Schreiben von Rainer Kirchhoff an Otfried Messerschmidt vom 8.1.1979: Programm der Eröffnungsveranstaltung der Reihe „Notfall- und Katastrophenmedizin“ am 24.1.1979, Titel: „Katastrophenmedizin I – Die nukleare Katastrophe“. BArch, B 417/159. 440 Rainer Kirchhoff & Hansjoachim Linde (Hrsg.), Reaktorunfälle und nukleare Katastrophen: Ärztliche Versorgung Strahlengeschädigter (Notfall-Medizin 1). Erlangen 1984 (1. Auflage 1979). Der Band erschien zudem 1987 in dritter und letzter Auflage. 441 Ebd., S. 10. 442 Ebd., S. 8. 443 Ebd., S. 7.

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Hier erschienen – mit Kirchhoffs Worten ausgedrückt – die vielfältigeren „lokalen“ Katastrophen die „globale“ Katastrophe des Weltkriegs zusehends ersetzt zu haben. Gleichwohl war es nach wie vor der Zweite Weltkrieg, welcher das vorliegende katastrophenmedizinische Werk eröffnete und dessen Erfahrung offenbar nicht aufhörte, zukünftige Erwartungen bzw. Befürchtungen zu prägen. Messerschmidt und Koslowski hielten ihre Vorträge keineswegs nur an Einrichtungen der Bundeswehr, sondern sprachen z. B. im März 1979 auch auf dem XXIV. Internationalen Fortbildungskongress der Bundesärztekammer und der Österreichischen Ärztekammer in Badgastein. Auch dort wurde durchaus der Atomkrieg thematisiert und behauptet, „daß sowohl die Möglichkeiten des Schutzes gegen Verletzungen im Umkreis einer Kernwaffenexplosion wie auch die therapeutischen Möglichkeiten größer sind, als der Laie gemeinhin annimmt“. Im Anschluss wurde allerdings betont, dass „die hier aufgestellten Grundsätze ebenso für jede andere, nicht kriegerische Katastrophe gelten“ würden, wobei Koslowski insbesondere auf vorstellbare Hotelund Warenhausbrände sowie auf Tankwagen- und Flugzeugunglücke verwies. Die Beobachtung des Deutschen Ärzteblattes, dass anwesende Schweizer Referenten „wie selbstverständlich vom ‚Krieg‘“ sprechen würden, belegte einmal mehr, wie stark sich der Dialog über Sicherheitsfragen, Krieg und Frieden, aber auch in Bezug auf das Katastrophische allgemein national stark unterscheiden konnte (vgl. hierzu auch Kapitel 1.4).444 Neben weiteren katastrophenmedizinischen Veranstaltungen auf dem XXVII. Internationalen Fortbildungskongress der Bundesärztekammer in Davos445 sowie auf dem Jahreskongress der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie (beide 1979)446 war die prominenteste, auf der die Katastrophenmedizin breiten Raum erhielt, zweifellos das vom 23. bis zum 26. Januar 1980 stattfindende IV. Interdisziplinäre Forum der Bundesärztekammer „Fortschritt und Fortbildung in der Medizin“, eine der bundesweit angesehensten medizinischen Fortbildungsveranstaltungen, die sich zudem an die Fortbildungsbeauftragten der verschiedenen Landesärztekammern und damit an potenzielle Multiplikatoren des dargebotenen Wissens richtete. In der noch im selben Jahr erschienenen, die Vorträge und Diskussionen des Forums enthaltenden Buchpublikation konnte sich die berufsinterne Öffentlichkeit nunmehr in aller Deutlichkeit über die zentralen Inhalte

444 Günter Burkart, Medizin und Politik sind vielfältig verknüpft: XXIV. Internationaler Fortbildungskongreß der Bundesärztekammer und der Österreichischen Ärztekammer in Badgastein, in: Deutsches Ärzteblatt 16/1979, S. 1065–1066, 1118–1120. 445 Vgl. Jörg G. Veigel, Stiefkind Katastrophenmedizin: Erfahrungen mit einem Schweizer Modell, S. 1799, in: Deutsches Ärzteblatt 27/1979, S. 1799–1802. 446 Leo Koslowski, Thema II: Katastrophenmedizin und medizinische Versorgung im Zivilschutz, S. 84, in: Bundesärztekammer (Hrsg.), Fortschritt und Fortbildung in der Medizin: IV. Interdisziplinäres Forum der Bundesärztekammer, 23.–26.1.1980. Ergebnisse, Referate, Diskussionen. Köln 1980, S. 83–84.

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(„Massenmedizin“ und Triage, Therapie der Strahlenkrankheit usw.) und Forderungen (GesSG, ärztliche Mitwirkung an Katastrophenschutzplanungen), aber auch über die innere Widersprüchlichkeit des neuen Handlungsfelds Katastrophenmedizin informieren. Paul Odenbach erhoffte sich in seinem Eingangsstatement eine möglichst zivile Konnotation der Veranstaltung: Wenn Sie heute von hier fortgingen und dabei nicht nur an Krieg oder Atombomben dächten, sondern auch an die Katastrophen, die ganz einfach nur die Ressourcen am Ort übersteigen, dann wären wir sehr glücklich.447

Dieser Hoffnung entsprach auch die Auswahl der Vortragsthemen: „Rechtsgrundlagen des Katastrophenschutzes“, „Erste Maßnahmen am Unfallort“ oder „Die Katastrophe an den Beispielen Autobahn und Kernkraftwerk aus der Sicht der Polizei“ konnten kaum als Kriegsvorbereitung missverstanden werden. Die personelle Besetzung der von Leo Koslowski geleiteten Veranstaltung mochte hingegen manchen Skeptiker nachdenklich stimmen, sprachen doch u. a. Rebentisch, Messerschmidt, Frey sowie der umstrittene Katastrophenpsychologe Rudolph Brickenstein (vgl. Anmerkung 258 in Kapitel 2.2.1). Der vortragende Autobahnpolizist kam aus Zürich und der Basler Universitätsprofessor Hans Reber, der einen Vortrag zur „Hygiene in der Katastrophensituation“ hielt, war exakt derjenige schweizerische Referent, welcher sich auf dem Badgasteiner Fortbildungskongress so „selbstverständlich“ zum Krieg geäußert, und dessen dortiger Vortrag die „Seuchen- und Impfprophylaxe im Verteidigungsfall“ zum Gegenstand gehabt hatte. Viele Vortragenden bemühten sich redlich, Odenbachs Wunsch gerecht zu werden: Rebentisch beteuerte gleich zu Beginn seiner Ausführungen zur zivil-militärischen Zusammenarbeit, dass er sich ausschließlich auf den Katastrophenfall im Frieden beziehen werde,448 und Messerschmidt hielt seinen Vortrag dieses Mal nicht über Kernwaffenschäden, sondern allgemein über „Ärztliche Maßnahmen nach einer Strahlenkatastrophe“ und dies noch dazu in dem von ihm gewohnten, keineswegs verharmlosenden Stil.449 Den persönlichen und beruflichen Hintergrund als Arztsoldaten und Weltkriegsveteranen konnte hingegen niemand verbergen. Der Krieg fand daher, vor

447 Ebd., S. 84. 448 Ernst Rebentisch, Zivil-militärische Zusammenarbeit bei Katastrophen, S. 95, in: Bundesärztekammer (Hrsg.), Fortschritt und Fortbildung in der Medizin: IV. Interdisziplinäres Forum der Bundesärztekammer, S. 95–98. 449 Messerschmidt blieb seiner Linie treu, die Strahlenkrankheit nicht schönzureden und betonte nach wie vor, dass ihre Diagnose schwierig und ihre Therapie „eine der aufwendigsten Behandlungsformen überhaupt“ sei, siehe Otfried Messerschmidt, Ärztliche Maßnahmen nach einer Strahlenkatastrophe, S. 118, in: Bundesärztekammer (Hrsg.), Fortschritt und Fortbildung in der Medizin: IV. Interdisziplinäres Forum der Bundesärztekammer, S. 115–120.

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allem auch in den Diskussionen abseits der Vorträge, immer wieder Eingang in die Veranstaltung, was sich nicht allein an den von BÄK-Vizepräsident Gustav Osterwald dargelegten Forderungen nach einem intensivierten Schutzraumbau, der Einrichtung von Hilfskrankenhäusern sowie generell erhöhten Ausgaben für die zivile, im Gegensatz zur militärischen, Verteidigung450 ablesen lies. Gegen Ende der Veranstaltung führte der anwesende Bremer Professor Pfander ein kurzes Gespräch mit dem Referenten Brickenstein über die Auswirkungen objektiv unbegründeten Panikverhaltens. Beide griffen hierfür auf Kriegsereignisse zurück. Pfander schilderte die dramatischen Auswirkungen eines „geschickten Reiterangriffs des Oberst von Waldenfels“, während Brickenstein eine Paniksituation umschrieb, die eine in Polen stationierte Wehrmachtsdivision ergriff, weil einzelne Soldaten statt des Wortes „Glas“ (der Familienname des Divisionsmelders) „Gas“ verstanden hatten.451 Trotz allem Bekenntnis zu einer zivilen Veranstaltungsausrichtung mochten derart anekdotische, an Veteranentreffen erinnernde Diskussionspassagen manche Hoffnung dämpfen, dass es der Katastrophenmedizin zügig gelingen könne, sich von ihrer soldatisch geprägten, wehrmedizinischen Vergangenheit zu lösen. Nicht nur blieb der Krieg als solcher subkutan präsent; auch die spezifischen Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs erwiesen sich im Jahr 1980 als nach wie vor virulenter Faktor. In gleich zwei Artikeln des Deutschen Ärzteblattes wurde über Vorträge und Diskussionen des IV. Interdisziplinären Forums berichtet;452 einer der beiden bezog sich ausschließlich auf den katastrophenmedizinischen Teil und stammte von Koslowski selbst. Dieser positionierte sich bereits auf der ersten Seite eindeutig: Auch wenn, rechtlich gesehen, Verteidigungs- und Katastrophenfall unterschiedliche Verantwortungsbereiche berührten, sei „eine klare Trennung zwischen dem Verteidigungsfall als der größten denkbaren Katastrophe, der Friedenskatastrophe und dem großen Unfall aus ärztlicher Sicht praktisch nicht möglich“,453 weshalb der Zivilschutz „ein überschaubares, für jeden einsehbares, einfach strukturiertes und deshalb wirksames Abwehrsystem gegen die Gefahren der Natur, der Zivilisation und des Krieges“ aufbauen müsse.454 Aus fachlich-pragmatischer Sicht mochte all hazards einleuchten. Der sich später artikulierende Verdacht, dass sich

450 Diskussion, S. 154, in: Bundesärztekammer (Hrsg.), Fortschritt und Fortbildung in der Medizin: IV. Interdisziplinäres Forum der Bundesärztekammer, S. 148–164. 451 Ebd., S. 161–162. 452 Fortbildung für die Multiplikatoren der Fortbildung: Das IV. Interdisziplinäre Forum der Bundesärztekammer, in: Deutsches Ärzteblatt 7/1980, S. 353–357; Leo Koslowski, Katastrophenmedizin und medizinische Versorgung im Zivilschutz: Bericht über Tagesordnungspunkt II des IV. Interdisziplinären Forums „Fortschritt und Fortbildung in der Medizin“ der Bundesärztekammer, in: Deutsches Ärzteblatt 21/1980, S. 1393–1396. 453 Koslowski, Katastrophenmedizin und medizinische Versorgung im Zivilschutz, S. 1393. 454 Ebd., S. 1396.

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die Katastrophenmediziner gegen Ende der 1970er Jahre – ähnlich wie die Zivilschutzexperten während der frühen 1960er –455 des „Katastrophenarguments“ nur bedienten, um den Zivilschutz vorantreiben zu können, ließ sich hingegen nur mühselig widerlegen, zumal auf der übergeordneten politischen Ebene von all hazards weniger die Rede war als von „Sicherstellung der gesundheitlichen Versorgung im Spannungs- und Verteidigungsfall“.456 Es sei zwischenzeitlich aber festgehalten, dass der von der BÄK unternommene Versuch einer Etablierung der Katastrophenmedizin sich keinesfalls nur den einsetzenden Kontroversen um die NATO-Nachrüstung verdankte, sondern – wie geschildert – insbesondere den vorwiegend zivil ausgerichteten Arbeitskreisen Grauls und Poppes, den seit 15 Jahren andauernden Bemühungen um ein GesSG sowie den bereits Jahrzehnte zuvor geleisteten Vorüberlegungen bekannter Wehr- und Katastrophenmediziner wie Messerschmidt, Koslowski oder Frey. Am 17.4.1980 veranstaltete die Bundesärztekammer im Pressehaus des „Tulpenfelds“ im Bonner Bundesviertel eine offizielle Pressekonferenz zur Katastrophenmedizin, die als Kernstück einer erforderlichen Aufklärung der berufsexternen Öffentlichkeit angesehen wurde. Zu dieser Konferenz, die auf das erwähnte Rundschreiben Denekes vom 18. Dezember 1979 sowie auf ein Treffen der Führungsriege der Bundesärztekammer am 12. Januar 1980 zurückging, waren insbesondere Vertreter der allgemeinen westdeutschen Presselandschaft eingeladen (u. a. Axel-SpringerInland-Dienst, Deutsche Presse-Agentur, Frankfurter Allgemeine Zeitung [FAZ], Die Welt, Westdeutscher Rundfunk [WDR]).457 Diese trafen auf ein zwischenzeitlich eingespieltes Team mit klarer Rollenverteilung: Messerschmidt hielt „seinen“ Vortrag zur Strahlenkatastrophe, Koslowski „seinen“ Vortrag zu Verbrennungsschäden und Triage; Frey erinnerte mahnend an die katastrophenmedizinische Überlegenheit der Schweiz, Osterwald an die Vorzüge des Schutzraumbaus, Rebentisch an die für den Ernstfall erforderliche Planung und Organisation. Die Forderung nach einem GesSG kam von Karsten Vilmar persönlich und damit von höchster offizieller Stelle der bundesdeutschen Ärzteschaft.458 Im Rahmen der Konferenz gab

455 Vgl. Molitor, Mit der Bombe überleben, S. 62–71. 456 Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Becker, Wörner, Dregger (u. a.) und der Fraktion der CDU/CSU – Drucksache 8/2906 – „Sicherstellung der gesundheitlichen Versorgung im Spannungs- und Verteidigungsfall“. Drucksache 8/2992 vom 21.6.1979. BArch, B 417/157. 457 Anmeldungen Pressekonferenz 17.4.1980, Stand: 15.4.1980. BArch, B 417/158. 458 Pressestelle der deutschen Ärzteschaft, Stiefkind Katastrophenmedizin: Bundesärztekammer drängt auf Verabschiedung eines Gesundheitssicherstellungs-Gesetzes [sic] noch in dieser Legislaturperiode. Köln 17.4.1980. BArch, B 417/158. Hanno Poppe war bei der Konferenz aufgrund des Tods seines Vaters verhindert, siehe Schreiben von Hanno Poppe an Wilhelm Ahrens vom 2.6.1980. BArch, B 417/863.

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Vilmar dem ZDF,459 Rebentisch dem Südwestfunk ein Interview,460 welche beide noch am selben Tag ausgestrahlt wurden. Beide nutzten die Gelegenheit, um ihren Standpunkt darzulegen, während die jeweiligen Interviewpartner neugierig, kaum jedoch kritisch nachfragten, weshalb sich die Ärzteschaft denn „auf einmal“ für diese Angelegenheit interessiere. Das wohl interessanteste Interview gab hingegen Koslowski und dies ausgerechnet dem zur damaligen Zeit gelegentlich als „Rotfunk“ geschmähten WDR. Das in der WDR-2-Radiosendung „Mittagsmagazin“ gesendete Interview begann wie folgt: Schütte [WDR]: Natürlich spielt die weltpolitische Lage auch ein bißchen eine Rolle dabei, wie eben [d. h. auf der Pressekonferenz der BÄK] offen zugegeben wurde, angesichts dessen, was auch der Bundeskanzler vor kurzem sagte, wird vielleicht die Bereitschaft sowohl in der Öffentlichkeit als auch bei den Politikern größer sein, sich dieses Themas nun endlich intensiver anzunehmen. Man muß gerechtigkeitshalber sagen, daß die deutschen Ärzte schon seit über zehn Jahren versuchen, eine gesetzliche Regelung auf Bundesebene für solche Fälle herbeizuführen, aber geschehen ist bisher wenig. Herr Prof. Koslowski, man braucht ja nun nicht unbedingt gleich vom schlimmsten zu reden, nämlich vom Verteidigungsfall, aber es gibt ja genügend andere Katastrophen, die jederzeit eintreten können. Wenn wir uns ein solches Bild einmal vorstellen. Sie sind nun Leiter einer Klinik. In Ihrer unmittelbaren Umgebung passiert, sagen wir ein Unfall in einem größeren Werk, wie weit sind Sie eigentlich in der Praxis darauf vorbereitet? Prof. Koslowski: Wir sind darauf vorbereitet wie auf jeden Verkehrsunfall, d. h. unzureichend. Je nach Umfang einer solchen Katastrophe können unsere Quellen, unsere personellen Möglichkeiten ausreichen oder es kann sein, daß sie nicht ausreichen. In den Katastrophenschutzgesetzen der Länder kommen die Worte „Arzt“ und „Krankenhaus“ nicht einmal vor. Es ist eine Gesetzgebung, die nur die Verwaltung, die Planung berücksichtigt und wir Ärzte sind der Meinung, daß es endlich an der Zeit ist, den ärztlichen Dienst – denn der muß ja die Hilfe für die Bevölkerung bringen – in diese Gesetzgebung einzuschalten und klare Richtlinien im Hinblick auf Weisungsbefugnis und Weisungsgebundenheit zu geben.461

Die Passage ist in mehrerer Hinsicht aufschlussreich. Nicht nur wurde hier bereits zu Beginn bestätigt, dass die deutsche Ärzteschaft durchaus die weltpolitische Lage des Kalten Krieges vor Augen hatte, diese jedoch nicht Ursprung ihrer Bemühungen um die Katastrophenmedizin war. Man sah wohl den sich abermals verschärfenden Ost-West-Konflikt bzw. die beginnende Nachrüstungskontroverse als günstige Gelegenheit, um z. B. die Verabschiedung eines Gesetzes voranzutreiben, welches man

459 ZDF, „Drehscheibe“, 17.4.1980, 17:40 Uhr. BArch, B 417/863. 460 SWF, „Heute Mittag“, 17.4.1980, 13:00 Uhr. BArch, B 417/863. 461 WDR II, „Mittagsmagazin“, 17.4.1980, 12:05 Uhr, S. 1. BArch, B 417/863.

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sich von ärztlicher Seite seit 1965 herbeigewünscht hatte und das an politischer Mutlosigkeit gescheitert war (vgl. hierzu Kapitel 2.1.6 und 2.2.3). „Jeder vernünftige deutsche Bürger“ – so Koslowski – wisse aber, „daß Katastrophen jederzeit kommen können.“ Eine entsprechende Vorbereitung konnte und sollte man daher der Bevölkerung, speziell aber der Ärzteschaft, durchaus zumuten. Mehrfach kritisierte Koslowski während des Interviews Politik und Verwaltung, welche die im Ernstfall beteiligten professionals laienhaft ignorierten und ihre unzureichenden Pläne lieber „in den Panzerschränken der Landratsämter und der Stadtverwaltungen“462 bunkerten als der offenen Diskussion zu stellen. Gerade Koslowskis Anspielung darauf, dass man gegenwärtig nicht einmal zur Bewältigung der Risiken des Straßenverkehrs wirklich adäquate medizinische Hilfe bereitstellen könne – bis zum Ende des Jahres 1980 sollten in ca. 1,7 Millionen Verkehrsunfällen über 13.000 Menschen auf westdeutschen Straßen sterben (im Jahr 2015 etwa gab es im wiedervereinigten Deutschland in über 2.5 Millionen Unfällen „nur“ 3459 Tote zu beklagen) –463 sollte klarstellen, dass schlicht die Grundsituation verbessert werden musste. Das entsprechend wohlwollend ausfallende Interview endete geradezu mit einem Appell: Thoma [WDR]: Ja, das klingt alles sehr vernünftig und sehr einleuchtend und wir hoffen, daß es andere auch so gehört haben. Dankeschön, Herr Prof. Koslowski.

Im Lichte einer solchen Berichterstattung mochte der entsprechende Artikel des Deutschen Ärzteblattes zur Konferenz („Katastrophenschutz: Heilloses Chaos – und kein Ende?“) mit Fug und Recht behaupten, dass diese mit „großem Interesse“ angenommen worden sei;464 von der Kritikwelle, die aus Sicht der Ärzteschaft allzu ängstliche Politikerinnen und Politiker stets befürchtet hatten, war nichts zu sehen.465 Es gilt an dieser Stelle anzumerken, dass der Zivilschutz des Kalten Krieges seinerzeit keineswegs so negativ wahrgenommen worden war, wie sein vor allem durch ehemalige Mitglieder bzw. Sympathisanten der Friedensbewegungen entscheidend ruinierter Ruf vermuten lassen mag. Demoskopische Umfragen zeichnen jedenfalls ein differenziertes Bild zwischen Zustimmung und Ablehnung, wobei

462 Ebd., S. 2. 463 Nachzusehen auf den Internetseiten des Statistischen Bundesamtes, online unter: https://www. destatis.de/DE/ZahlenFakten/Wirtschaftsbereiche/TransportVerkehr/Verkehrsunfaelle/Tabellen_/ Strassenverkehrsunfaelle.html (aufgerufen am 26.1.2019). 464 Harald Clade, Katastrophenschutz: Heilloses Chaos – und kein Ende?, S. 1162, in: Deutsches Ärzteblatt 18/1980, S. 1161–1165. 465 Vgl. z. B. auch Wolgang Larmann [sic], Es fehlt an konkreten Einsatzplänen in Katastrophenfällen: Keine Garantie für Überlebende, in: Kölnische Rundschau, 18.4.1980. BArch, B 417/863.

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sich während der 1950er und 1960er Jahre eine stabile Mehrheit der bundesdeutschen Bevölkerung positiv zum Zivilschutz äußerte und große Teile der damaligen Presselandschaft eher dessen Unterlassen als dessen Notwendigkeit kritisierten.466 Noch gegen Ende der 1970er Jahre kam eine entsprechende EMNID-Umfrage zu dem Ergebnis, „daß das Meinungsbild zum Zivilschutz durchaus nicht einheitlich ist, wenngleich eine klare Mehrheit den Ausbau der derzeitigen Maßnahmen wünscht“.467 53 Prozent der Westdeutschen stimmten in diesem Zusammenhang der Aussage zu, dass der Zivilschutz ausgebaut werden müsse, während nur 12 Prozent der Befragten dagegen votierten.468 Selbst hochgradig invasiven Maßnahmen „Schweizer Art“, etwa dem verpflichtenden Schutzraumbau in Neubauten, stimmten noch 1977 ganze 63 Prozent der Bevölkerung zu. Bei Frauen lag dabei die Zustimmungsrate geringfügig höher als bei Männern (64 gegenüber 61 Prozent) und vom Alter her erfolgte die höchste Zustimmung bei den 30- bis 49-Jährigen, wenngleich alle Altersgruppen (einschließlich der 14 bis 19-Jährigen) eine Baupflicht mehrheitlich befürworteten.469 Was später die Friedensbewegungen für sich reklamieren sollten, galt lange Zeit für den Zivilschutz: Die Zustimmung erfolgte aus sämtlichen Teilen der Gesellschaft. Für den ausgewiesenen Kernkraftgegner Hermann Kater (vgl. hierzu Kapitel 2.2.4) ebenso wie für manche kritische Ärzteinitiative der 1970er Jahre war der eigentliche Skandal nicht die Präsenz, sondern das Fehlen eines adäquaten Zivilschutzes bei gleichzeitig vorangetriebenem Bau von Atomkraftwerken. In einem Artikel zur Geschichte des ärztlichen Widerstands gegen die Kernenergie seit 1970 erwähnte Kater eine Initiative von 250 Ärzten, die 1977 in der Badischen Zeitung nicht nur die „Errichtung von Dekontaminationsanlagen und Schutzräumen“, sondern auch „eine spezielle Aus- und Fortbildung der Ärzte und des Pflegepersonals der gesamten Region“ um das neu errichtete AKW Fessenheim verlangten,470 während im Raum Heide/Holstein 50 Ärzte „endlich eine gezielte Fortbildung für Ärzte forderten, um in Katastrophenfällen helfen zu können“.471 Ausgerechnet der als ärztefeindlich geltende Spiegel offerierte den bundesdeutschen Katastrophenmedizinern kurzfristig eine auflagenstarke Plattform: Im Artikel „Katastrophenmedizin: Luft raus“ kamen Osterwald, Koslowski, Frey, Rebentisch und Messerschmidt nach ihrer Bonner Pressekonferenz erneut unmissverständlich zu Wort. Neben der Ansprache üblicher Themen fiel die Ubiquität auf, die der Artikel dem Katastrophischen verlieh:

466 467 468 469 470

Vgl. hierzu Molitor, Mit der Bombe überleben, S. 75–83. EMNID (Hrsg.), Informationen 7/1977, S. 7. DRK, 4619. Ebd., S. A7. Ebd., S. A4. Hermann Kater, Wie Ärzte seit 1970 gegen Kernkraftwerke protestieren, S. 38, in: Der Deutsche Arzt 19/1978, S. 36–39. 471 Ebd., S. 38–39.

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Derweil ticken allerorten Zeitbomben. Tag und Nacht durchqueren an die 5.000 Tanklastwagen, mehr als 10.000 Bundesbahnwaggons und einige hundert Binnenschiffe die Bundesrepublik – randvoll mit Benzin, Gas, Gift, Säuren oder Sprengstoff. Wenn auch nur ein kleiner Zwischentank von etwa 30.000 Litern Phosgen explodiert – als Ausgangsprodukt für Kunst- oder Farbstoff in jeder größeren Chemie-Fabrik vorrätig –, gäbe es ein Desaster. In Ballungsgebieten […] muß nach einer Risikostudie des TÜV Rheinland dann mit 17.000 Schwerverletzten gerechnet werden. Die zuständigen Behörden jedoch müßten erst einmal zeitraubend im Branchentelephonbuch blättern […].472

Auch hier stand nicht der Zivilschutz oder gar die Katastrophenmedizin in der Kritik, sondern der offenkundige Mangel einer dem gesunden Menschenverstand genügenden Eventualplanung. Etwa ein halbes Jahr später erschien im Spiegel demgegenüber der Artikel „Notfalls mit Ohrfeigen behandeln“, welcher folgendermaßen begann: Bundeswehrmediziner und Ärztefunktionäre fordern Vollmachten und mehr Übungen für den „Katastrophenfall“. Doch im Atomkrieg oder nach einem schweren ReaktorUnfall würde kaum nützen, was die Katastrophen-Mediziner empfehlen: etwa durchs Taschentuch atmen, Jodtabletten und Kaugummi.473

Messerschmidt hatte zur optimalen Therapie der Strahlenkrankheit von Knochenmarktransplantationen, im Katastrophenfall hingegen von absoluter Ruhe, der präventiven Verabreichung von Antibiotika usw. gesprochen, nicht jedoch von auch unter Katastrophenmedizinern umstrittenen Jodtabletten (vgl. hierzu Kapitel 2.2.4) oder gar Kaugummi. Er wurde nunmehr aber, gemeinsam mit Brickenstein („der Wehrpsychiater, der einst dem Führer lebenslange Treue schwor“), dem Präsidenten des Bundesamtes für Zivilschutz Paul Wilhelm Kolb („ein blasser und bebrillter Ministerialbeamter“) und Koslowski („Tübinger Chirurgie-Ordinarius“), als „apokalyptischer Warner“ und Mitglied einer „Katastrophen-Lobby“ tituliert, die von Bundesärztekammer und Kassenärztlicher Vereinigung wohl nur unterstützt werde, weil diese sich von der Katastrophenmedizin-Debatte „offenbar auch die

472 Katastrophen: Luft raus, S. 113, in: Der Spiegel 19/1980, S. 111–116. Innerhalb des BMI kritisierte Ministerialrat Seelentag den Artikel übrigens als „wie üblich“ halb wahr und erklärte u. a. die Geheimhaltung von Katastrophenschutzplänen mit bestehenden datenschutzrechtlichen Bedenken (!), siehe Vorlage von MR Seelentag, Referat RS II 5 (BMI) an Herrn Minister vom 8.5.1980, Betr.: Katastrophenschutz – Medizinische Versorgung; Bezug: Spiegel-Bericht „Katastrophen – Luft raus“ in Nr. 19/1980, Seite 111 ff. BArch, B 106/125190. 473 „Notfalls mit Ohrfeigen behandeln“, S. 242, in: Der Spiegel 49/1980, S. 242–249.

Die zivile Ärzteschaft sucht das Katastrophische

Ablenkung des öffentlichen Interesses von den Insuffizienzzeichen des medizinischindustriellen Komplexes“ (!) versprachen.474 Das vormals selbst geforderte GesSG wurde als zum Totalitären neigende Einschränkung der Grundrechte betrachtet und konstatiert, dass es den „Ernstfall-Strategen“ keineswegs „in erster Linie um Naturkatastrophen, sondern um den Krieg“ gehe.475 Jene Arztsoldaten, die man nach der Konferenz im April als Autoritäten, ja Koryphäen anerkannt hatte, wurden als ewig Gestrige charakterisiert, welche ungebrochen mit den naiven Rezepturen der 1950er Jahre hantieren würden. Und obwohl gerade Der Spiegel der Ärzteschaft oft finanzielle Raffgier unterstellte, stigmatisierte man die Bundeswehrärzte nun als „Sozialfälle“476 , welche sich wegen ihres Unvermögens mit etwa einem Drittel des durchschnittlichen Kassenarzteinkommens bescheiden müssten. Kurzum: In dem Artikel offenbarte sich eine extreme Re-Ideologisierung der Debattenkultur, welche sich allen komplexeren Überlegungen der seit Mitte der 1960er Jahre keineswegs nur von rechtsnationalen Kräften vorangetriebenen Reformversuche des bundesdeutschen Zivilschutzes in Richtung all hazards verweigerte. Mit zivilen Katastrophen sei man „alles in allem stets gut fertig geworden“,477 so hieß es im Artikel; der Atomkrieg müsse hiervon jedoch so scharf wie möglich unterschieden werden. Ganz im Stil der Friedensbewegungen wurde in düsterer Sprache ein Atomschlag auf die Hamburger Innenstadt imaginiert: Innerhalb des Sieben-Kilometer-Kreises waren alle Hamburger sofort tot, etwa 900.000 Menschen, darunter 73.000 Kinder. Noch 35 Kilometer vom Hauptbahnhof entfernt verbrannten Menschen […]. Die meisten Strahlenopfer starben erst nach einigen Wochen. Ihre Haut war blutunterlaufen, das Haar ausgefallen. Hohes Fieber, Brechreiz und Durchfälle quälten die Todgeweihten. Für sie gab es keine ärztliche Hilfe.478

The Day After in Reinkultur: Der Ernstfall war der Krieg; für diesen gab es keine ärztliche Hilfe und diejenigen, die anderes behaupteten, waren Alt-Nazis (Brickenstein) oder „bebrillte“ Schreibtischtäter (Kolb). Auch wenn die allgemeine Ansicht der westdeutschen Bevölkerung zum Zivilschutz keinesfalls dieselbe radikale Wendung durchlief wie es der Spiegel in wenigen Monaten fertigbrachte: Entgegen aller Hoffnungen der Katastrophenmediziner blieb die befürchtete Kritikwelle keineswegs aus; sie kam verzögert.

474 475 476 477 478

Ebd., S. 244 (alle). Ebd., S. 247. Ebd., S. 245. Ebd., S. 247. Ebd., S. 242.

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3.1.1 Zäsur: Die Nachrüstungsdebatte Das Schlüsselereignis, das den Wandel in den Debatten um die Katastrophenmedizin grundierte, war der am 12. Dezember 1979 verabschiedete Doppelbeschluss der NATO. Gemeinsam mit dem Einmarsch sowjetischer Truppen in Afghanistan am 25. Dezember 1979 signalisierte er nach längerer Entspannungsphase einen „Klimasturz in den internationalen Beziehungen“1 und erinnerte daran, dass der Kalte Krieg keineswegs Geschichte war. Dem Doppelbeschluss vorausgegangen waren die Kontroversen um die Neutronenwaffe2 ebenso wie die Aufrüstung der Sowjetunion mit den modernen Mittelstreckenraketen vom Typ SS-20. In diesem Zusammenhang wurde bereits am 28. Oktober 1977 von Bundeskanzler Helmut Schmidt am Londoner International Institute for Strategic Studies angemahnt, dass einem aufgrund seiner Reichweite ausschließlich gegen Europa gerichteten Waffenarsenal gemäß der Logik der Flexible-response-Strategie der NATO adäquat – d. h. mit in Europa stationiertem Mittelstreckenarsenal – begegnet werden müsse, sofern es nicht gelänge, die Sowjetunion von der Abrüstung zu überzeugen. Aus seiner Sicht stand nichts weniger als die Glaubwürdigkeit des eigenen Militärbündnisses auf dem Spiel: Man konnte sich von europäischer Seite eben nicht vollständig sicher sein, dass die USA auf einen Mittelstreckenwaffenangriff der UdSSR auf Europa mit einem eigenen interkontinentalen Gegenschlag antworten würden, welcher wiederum einen Angriff auf die USA selbst provozieren musste.3 Der Doppelbeschluss – die Modernisierung des eigenen Mittelstreckenpotenzials nach einem etwaigen Scheitern vorheriger Abrüstungsverhandlungen mit der Sowjetunion – wurde somit von westdeutscher Seite angeregt und verdankte sich keineswegs vorrangig US-amerikanischer Initiative.4 Der „gleichzeitige und gleichgewichtete“ Charakter 1 Tim Geiger, Der NATO-Doppelbeschluss: Vorgeschichte und Implementierung, S. 64, in: BeckerSchaum (u. a., Hrsg.), „Entrüstet Euch!“, S. 54–70. 2 Ebd., S. 59. 3 Vgl. Oliver Bange, SS-20 und Pershing II: Waffensysteme und die Dynamisierung der Ost-WestBeziehungen, S. 71–72, in: Becker-Schaum, (u. a., Hrsg.), „Entrüstet Euch!“, S. 71–87. 4 Teile der Friedensbewegungen lancierten hingegen die Darstellung der Bundesrepublik als Opfer bzw. willfährigen Spielball US-amerikanischer Machtinteressen, vgl. Becker-Schaum (u. a.), Die Nuklearkrise der 1980er Jahre, S. 27.

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des Beschlusses, die „Koppelung von Modernisierung und Abrüstung“5 wurde hingegen von einem wachsenden Teil der bundesdeutschen Bevölkerung angezweifelt, wozu die negative US-amerikanische Bewertung der Entspannungspolitik bereits durch die Regierung Präsident Jimmy Carters,6 vor allem aber die zeitweise martialische Rhetorik seines Nachfolgers Ronald Reagan nicht unerheblich beitrugen.7 Der von den verschiedenen, weltanschaulich divergenten Friedensbewegungen geleistete Widerstand gegen die Nachrüstung scheiterte hingegen, als der am 6. März 1983 neu gewählte Deutsche Bundestag trotz des erstmaligen Einzugs der 1980 gegründeten Partei Die Grünen am 22. November 1983 die Stationierung moderner Pershing-II-Raketen bekräftigte. Der aufgrund des Bruchs der sozialliberalen Koalition bereits seit Oktober 1982 als Bundeskanzler amtierende Helmut Kohl setzte damit die Politik seines Vorgängers Helmut Schmidt um,8 wenn auch – so wurde es zumindest von Seite der SPD zunehmend bewertet – ohne dem Verhandlungsteil des Doppelbeschlusses ausreichend nachgekommen zu sein. Die zeithistorischen Bewertungen der Nachrüstungspolitik fallen unterschiedlich aus; dennoch scheint sich seit längerem ein gewisser Konsens abzuzeichnen, welcher sich beispielsweise bei Andreas Wirsching wiederfindet: Groß ist die Versuchung, die friedenspolitische Debatte des Jahres 1983 allzusehr an der Erfahrung der späteren Jahre zu messen. Rückblickend erscheint die Festigkeit, die der Westen im allgemeinen und die Bundesrepublik im besonderen in der Nachrüstungsfrage einnahmen, tatsächlich als die politisch einzig vertretbare Option. Sehr leicht unterschätzt eine solche Perspektive aber die echte Sorge, mit der weite Teile der west- (und der ost-) deutschen Bevölkerung um den Weltfrieden fürchteten und die Vernichtungskraft der Atomwaffen als reale Bedrohung empfanden.9

Wirsching unterstreicht demnach die Legitimität sowohl der politischen Leitlinie der Bundesregierung als auch der Friedensbewegungen und betont den Anteil beider Seiten an der Beendigung des Kalten Krieges. Die Friedensbewegungen hätten dabei zwar ihr erklärtes Ziel – die Verhinderung der Stationierung – nicht erreicht, allerdings zur graduellen Überwindung einer starren Abschreckungslogik beigetragen, welche den Frieden nur bei gleichzeitiger Inkaufnahme einer potenziell totalen Vernichtung zu sichern wusste.10 „Die Friedensbewegungen trugen“, so hatte es einige Jahre zuvor bereits Wolfram Wette formuliert, „trotz mancher berechtigter Kritik 5 6 7 8 9 10

Geiger, Der NATO-Doppelbeschluss, S. 61. Betonung im Original. Ebd., S. 55. Ebd., S. 66. Ebd., S. 67. Wirsching, Abschied vom Provisorium, S. 85. Ebd., S. 106.

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dazu bei, dass man sich von der Vorstellung des Krieges als schicksalhafte Konstante mehr und mehr löste.“11 Der tatsächliche Einfluss eines derartigen Mentalitätsund Diskurswandels auf das sich ab Mitte der 1980er Jahre wiederum entspannende Weltklima wird hingegen unterschiedlich gewichtet. Verschiedentlich wurde in diesem Zusammenhang betont, dass die erneute Annäherung zwischen den Supermächten zu einem Zeitpunkt begann, als die Friedensbewegungen den Zenit ihrer Bedeutung längst überschritten hatten und zudem von einer „von Protesten weitgehend verschont und unbeeindruckt geblieben[en]“12 Sowjetunion ausging. Kaum jemand bezweifelt dabei die zentrale Bedeutung des 1985 zum Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) ernannten Michail Gorbačёv, dessen berühmte, einen reformorientierten Kommunismus in Aussicht stellende, politische Leitlinien Glasnost und Perestroika allerdings durch innenpolitische Zwänge mindestens ebenso motiviert waren wie durch die Existenz der neuen NATO-Mittelstreckenwaffen oder der Friedensbewegungen.13 Die lange Zeit verbreitete These einer „Fernsteuerung“ der Bewegungen durch Moskau wird inzwischen von den meisten Wissenschaftlern abgelehnt. Wirsching konzedierte in diesem Zusammenhang, dass es zwar Einflüsse aus UdSSR und DDR gegeben habe, es diesen jedoch nicht gelungen sei, die Friedensbewegungen tatsächlich zu kontrollieren.14 Mehrere Autorinnen und Autoren unterstreichen die Heterogenität und das Selbstbewusstsein der Bewegungen,15 die etwaige kommunistische Beeinflussungsversuche durchaus als solche erkannten und sich ihnen teils aktiv widersetzten. Gerade die weltanschauliche Vielfalt und die weitgehend dezentrale Organisation hätten sich dabei als entscheidende Hürde gegenüber einer durchgreifenden externen Indoktrinierung erwiesen.16

11 Wolfram Wette, Der Beitrag des Nuklearpazifismus zur Ausbildung einer Friedenskultur, S. 166, in: Thomas Kühne (Hrsg.), Von der Kriegskultur zur Friedenskultur?: Zum Mentalitätswandel in Deutschland seit 1945 (Jahrbuch für historische Friedensforschung 9). Münster 2000, S. 144–167. 12 Florian Pressler, Ein Sieg der Rüstungskontrolle?: Die 1980er Jahre und das internationale politische System, S. 341, in: Becker-Schaum, (u. a., Hrsg.), „Entrüstet Euch!“, S. 339–354. 13 Pressler, Ein Sieg der Rüstungskontrolle?, S. 347. 14 Wirsching, Abschied vom Provisorium, S. 87. Vgl. hierzu auch Claudia Kemper, welche DKP-Einflüsse auf berufsspezifische Friedensbewegungen im Allgemeinen sowie spezifisch für die ärztliche Friedensbewegung grundsätzlich bejaht, deren zeitweise behauptete Dominanz jedoch bestreitet: Kemper, Medizin gegen den Kalten Krieg, S. 194 und 202–206. 15 Schregel, Der Atomkrieg vor der Wohnungstür, S. 77. 16 Als Beispiel einer Auseinandersetzung um den Grad der kommunistischen Beeinflussung vgl. Gerhard Wettig, Die Sowjetunion in der Auseinandersetzung über den NATO-Doppelbeschluss 1979–1983, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 2/2009, S. 217–259 sowie Holger Nehring & Benjamin Ziemann, Führen alle Wege nach Moskau?: Der NATO-Doppelbeschluss und die Friedensbewegung – eine Kritik, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 1/2011, S. 81–100.

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Allzu glatten, rückblickend konstruierten Behauptungen, dass beide Seiten des Nachrüstungskonflikts eigentlich dasselbe – den Erhalt des Friedens – zum Ziel gehabt hätten und am Ende somit beide erfolgreich gewesen seien, sollte man gleichwohl mit Skepsis begegnen. Leicht erwächst hieraus eine teleologische Meistererzählung der 1980er Jahre, die einstige Gegner zu unausgesprochenen Verbündeten im Geiste verklärt und Gefahr läuft, den Eigensinn der Akteure sowie die Kontingenz der Ereignisse aus den Augen zu verlieren. Der überwiegende Teil der Friedensbewegungen und die damalige Bundesregierung um Helmut Kohl bzw. das konservativ-bürgerliche Spektrum sahen sich selbst als politische Widersacher und inszenierten sich auch so, noch dazu in einer oft existenziell aufgeladenen Art und Weise. Gerade aufgrund des vorherrschenden Umgangstons permanenter Beleidigungen und permanenten Beleidigt-Seins bleibt es eine handwerkliche Herausforderung, trotz der extremen Politisierung des Quellenmaterials die für den Historiker notwendige Distanz zu wahren. Von Seite der Friedensbewegungen wurden Emotionalität und Angstbekundungen nicht nur aufgewertet, sondern offensiv eingefordert; wer sich dem entzog, wurde gerne als entfremdeter, herzenskalter Technokrat, als Schreibtischtäter dargestellt.17 Dieser, sich auch in dem geschilderten Wandel der Berichterstattung zur Katastrophenmedizin niederschlagenden Strategie wiederum begegnete die Gegenseite mit Vorwürfen der Kollaboration mit einem repressiven Sowjetkommunismus, dem diejenigen, die betonten, das eigene System gar nicht verteidigen zu wollen, bewusst oder unbewusst in die Hände spielten. Überzeugte Antikommunisten, welche vor einer „fünften Kolonne Moskaus“ warnten, bedienten sich teils ähnlicher Strategien wie die Friedensbewegungen. So wie diese beispielsweise suchten, den weltpolitischen Konflikt in den regionalen Nahraum zu übertragen, um ihn so erfahr- und behandelbar zu machen, diente die antikommunistisch motivierte Imagination des Feindes „in der Nachbarschaft“ oftmals einem ähnlichen Zweck.18 Analog zur bereits in Kapitel 1.3 dargelegten Beobachtung, dass ein möglicher dritter Weltkrieg gerade in Deutschland stets vor dem Hintergrund des vorherigen imaginiert wurde, betont auch Wirsching die Widersprüchlichkeit der Lehren, welche beide Seiten aus der NS-Zeit zogen: So

17 Vgl. insbesondere Susanne Schregel, Konjunktur der Angst: „Politik der Subjektivität“ und „neue Friedensbewegung“, 1979–1983, in: Greiner (u. a., Hrsg.), Angst im Kalten Krieg, S. 495–520 oder auch Silke Mende & Birgit Metzger, Ökopax: Die Umweltbewegung als Erfahrungsraum der Friedensbewegung, in: Becker-Schaum, (u. a., Hrsg.), „Entrüstet Euch!“, S. 118–134. 18 Vgl. Schregel, Der Atomkrieg vor der Wohnungstür, S. 23. Vgl. zudem Bernd Greiner, Antikommunismus, Angst und Kalter Krieg: Eine erneute Annäherung, in: Stefan Creuzberger & Dierk Hoffmann (Hrsg.), „Geistige Gefahr“ und „Immunisierung der Gesellschaft“: Antikommunismus und politische Kultur in der frühen Bundesrepublik (Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Sondernummer). München 2014, S. 29–41.

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stilisierte das links-alternative Milieu ihre Gegner gerne als unverbesserliche Militaristen nach nationalsozialistischer Manier, während das konservative Spektrum gerne mit dem Appeasement-Vorwurf konterte und darauf beharrte, dass nicht mangelnder Friedenswille, sondern die fehlende Entschlossenheit, Hitler frühzeitig zu stoppen, Schuld trugen an Weltkrieg und Holocaust.19 Ein entsprechender Subtext durchzieht weite Teile des vorhandenen Quellenmaterials und erinnert nachhaltig daran, dass Menschen selbstverständlich gewillt sind, aus der Geschichte zu lernen, dabei jedoch zu höchst unterschiedlichen Schlussfolgerungen gelangen können. Die geschilderte Politisierung und Ideologisierung der Zeit des Doppelbeschlusses übertrug sich umfassend auf die internen Debatten und externen Bestrebungen der bundesdeutschen Ärzteschaft um die Etablierung der Katastrophenmedizin. Während entsprechende Kontroversen in der allgemeinen Presselandschaft zwar präsent, aber keineswegs dominant waren, müssen sie als das vorrangige medizinethische Thema der ersten Hälfte der 1980er Jahre betrachtet werden. Es erscheint als typische Ironie der Geschichte, dass die Bundesärztekammer den Dialog um die Katastrophenmedizin zunächst selbst an die Öffentlichkeit trug, um in der aus ihrer Sicht jahrelang stiefmütterlich behandelten Sache endlich substanzielle Fortschritte zu erzielen, während sie in den darauffolgenden Jahren gerade auf diesem Handlungsfeld größte Mühe haben sollte, ihre vormals selbstverständliche Deutungshoheit gegenüber einer sich formierenden innerärztlichen Opposition zu behaupten. 3.1.2 Die bundesdeutsche Sektion der IPPNW: Genese und Ansichten In der Bundesrepublik Deutschland entwickelte sich die ärztliche Friedensbewegung während der frühen 1980er Jahre zur wohl stärksten berufsspezifischen Bewegung dieser Art. Dies mag auf das außergewöhnlich hohe Engagement einzelner Aktiver zurückgeführt werden, verweist prioritär aber darauf, dass der Arztberuf zur Thematik des Katastrophischen in einem besonderen Verhältnis steht, welches zu Beginn dieser Arbeit bereits erläutert wurde (vgl. Kapitel 1.2). In Erinnerung sei an dieser Stelle lediglich die Überlegung gerufen, dass in einem Atomkrieg jede Ärztin, jeder Arzt mit dem konkreten Leiden und Sterben einer horrenden Vielzahl von Patientinnen und Patienten unmittelbar konfrontiert worden wäre. Der hohe gesellschaftliche Status der Ärzteschaft sowie ihr tatsächlicher oder vorgeblicher Expertenrang in Katastrophenfragen taten ein Übriges und sorgten letztlich dafür, dass die Diskussion zwischen „friedensbewegten“ Ärztinnen und Ärzten und ihren Gegnern keineswegs nur den Doppelbeschluss der NATO betrafen, sondern stets

19 Wirsching, Abschied vom Provisorium, S. 85.

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auch die ethischen Grundlagen des eigenen Berufs sowie dessen Verhältnis zu Politik und Gesellschaft. Um die Gründungsgenese der ärztlichen Friedensbewegung der Bundesrepublik Deutschland verstehen zu können, müssen zwei unterschiedliche Entwicklungsstränge angesprochen werden. Zunächst einmal bestand diese – analog zur allgemeinen Friedensbewegung – aus verschiedenen regionalen, politisch teilweise heterogenen Kleingruppen, welche sich entweder bereits im Zuge der ersten bundesdeutschen Antiatomkraftproteste formierten20 oder während der frühen 1980er Jahre in Opposition zur NATO-Nachrüstung. Parallel hierzu entstand die Organisation, die sich schließlich als Repräsentant der ärztlichen Friedensbewegung durchsetzte: die bundesdeutsche Sektion der International Physicians for the Prevention of Nuclear War (IPPNW). Deren Vorstandsmitglieder erinnerten gerne daran, eine eigenständige, internationale Bewegung zu sein, die parallel zu den regionalen Initiativen existiere und keineswegs als deren Dachverband anzusehen sei.21 Da aber zahlreiche Mitglieder der regionalen Organisationen (inklusive deren Vorsitzende) gleichfalls Mitglieder der IPPNW wurden, übernahm diese dennoch dachverbandtypische Aufgaben, ohne den regionalen Initiativen allerdings im Wortsinn übergeordnet bzw. weisungsbefugt zu werden. Diese, für die westdeutsche IPPNW charakteristische, zweifache Verankerung sei als grundlegender Aspekt zum Verständnis der Organisation vorausgestellt: Sie verstand sich global als Teil der international und blockübergreifend aufgestellten IPPNW sowie lokal als bundesweit agierender, zentraler Arm der regionalen Ärzteinitiativen. Die Gründung der IPPNW ging ursprünglich auf die Anstrengungen mehrerer US-amerikanischer, vor allem in Harvard wirkender Ärzte zurück, von denen insbesondere der bereits in Kapitel 2.2.2 erwähnte renommierte Kardiologe Bernard Lown hervorgehoben sei, der schließlich gemeinsam mit seinem sowjetischen Kollegen Evgenij Chasov den Vorsitz übernehmen sollte. Als Massenorganisation war die IPPNW zunächst nicht konzipiert, wodurch sie im Vergleich zu der ebenfalls bereits genannten und gleichfalls von Lown mitbegründeten Ärztebewegung Physicians for Social Responsibility (PSR) an Profil gewinnen sollte. Das ursprünglich im Juni 1980 vorgeschlagene Konzept imaginierte die IPPNW als elitäre Gruppe weniger, auf persönliche Einladung beitretender Ärzte aus den USA, der Sowjetunion und Japan, welche durch fachlich unbestreitbare Expertise die Regierungen ihrer jeweiligen Länder von der Notwendigkeit weiterer Abrüstungsbemühungen

20 Ergebnisprotokoll der 1. Vollversammlung der BRD-Sektion der Internationalen Ärzte zur Verhinderung eines Atomkrieges am 8. Mai 1982 im Ärztehaus in Frankfurt/Main, S. 1. FZH, 16–3 A/2.1.–1. 21 Ergebnisprotokoll der 1. Vollversammlung der BRD-Sektion der IPPNW am 8. Mai 1982 im Ärztehaus in Frankfurt/Main, S. 3. FZH, 16–3 A/2.1.–1.

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überzeugen sollten.22 Auch um das konfliktbehaftete Verhältnis zu den teilnehmenden sowjetischen Ärzten aufrechtzuerhalten, denen man von US-Seite wenig Möglichkeiten zur Einwirkung auf die Politik des Kreml einräumte, muss es als Gründungskonsens der IPPNW bezeichnet werden, sich auf die ärztlich fundierte Aufklärungsarbeit zur Verhinderung eines Atomkrieges zu beschränken, während verwandte Themen – etwa die zivile Nutzung der Kernenergie – bewusst ausgeblendet wurden.23 Die im März 1981 stattfindende, vom Bostoner Central Office der IPPNW geplante, erste internationale Konferenz im Airlie House bei Washington, D.C., etablierte die IPPNW schließlich fest als blockübergreifende Bewegung. Der Teilnehmerkreis war zwischenzeitlich auf mehrere Nationen ausgeweitet worden, nach wie vor aber dem Elitenkonzept verpflichtet.24 Auch wenn die IPPNW erst 1983 eine internationale Satzung verabschieden sollte,25 kam es in der Folgezeit doch zu regelmäßigen Aktivitäten, wobei die Ausrichtung internationaler Tagungen im Vordergrund stand. Auf diesen präsentierten sich die Mitglieder dezidiert sachlich, wobei die über alle Systemgrenzen hinweg vergleichbare ärztliche Professionalität, der aufklärerisch-ernste Habitus sowie die Inszenierung des besonnenen Dialogs unter Kollegen aus Sicht mancher Betrachter scharf mit dem rhetorischen Säbelrasseln geradezu kindisch wirkender Politiker kontrastierte. Eine gute Zusammenfassung der Philosophie vor allem der US-amerikanischen Sektion der IPPNW findet sich beispielsweise in einem Brief Howard Hiatts, damals Dekan der Harvard School of Public Health, an den Frankfurter Internisten und Medizinprofessor Ulrich Gottstein: I feel, however, that it is important not to politicize the health aspects of the nuclear war issue. Indeed, the position that I have attempted to articulate is that we in the medical area do have a responsibility to educate ourselves and others concerning the health aspects of nuclear war. By so doing, we can help focus attention on the need to develop strategies of prevention. Since such strategies are political matters, our medical backgrounds do not provide us with the expertise to lead discussions in this sphere. We can, of course, do so as citizens, but we can make no claim of special knowledge.26

Während der Aufklärungsgedanke sowie die fachliche Verantwortung dezidiert betont wurden, verweigerte Hiatt der Ärzteschaft, auch auf dem politischstrategischen Feld weiterführende Expertise geltend machen zu können. Politische

22 23 24 25 26

Kemper, Medizin gegen den Kalten Krieg, S. 132. Ebd., S. 135. Ebd., S. 141. Ebd., S. 160. Schreiben von Howard Hiatt an Ulrich Gottstein vom 8.1.1981. BArch, B 417/233.

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Gestaltungsmacht sollte die IPPNW vielmehr durch die Verweigerung des Politischen, durch die Konzentration auf das Ärztliche erlangen. Kurzum, es wurde exakt jene Linie vertreten, welche z. B. in der Göttinger Erklärung oder in der „Entschließung zum Schutz der Bevölkerung in Atomfragen“ auf dem 60. Deutschen Ärztetag 1957 die Stoßrichtung vorgegeben hatte (vgl. hierzu abermals Kapitel 2.2.2): Die Ärzteschaft versuchte, ihren eigenen Aussagen den politischen Aspekt abzusprechen, um diese stattdessen als faktisch und somit unangreifbar zu inszenieren. Es war Hiatts Adressat Gottstein, welcher als einziger deutscher Teilnehmer des zweiten internationalen IPPNW-Kongresses in Ascot im Herbst 1981 darum gebeten wurde, die Gründung einer westdeutschen Sektion in Angriff zu nehmen.27 Ein persönliches Anliegen war ihm dies vorher schon gewesen. Bereits im Dezember 1980 hatte er etwa Karsten Vilmar, dem damaligen Präsidenten der Bundesärztekammer, mitgeteilt, „daß es gegen die ‚Epidemie‘ der Atomwaffen keine ärztliche Hilfe gebe“ und „daß meines Erachtens internationale Mediziner-Kongresse an die Regierungen der Welt appellieren müßten, auf den Bau und Einsatz von Atomwaffen zu verzichten“.28 Im März 1981 bekräftigte Gottstein – diesmal gegenüber dem geschäftsführenden Arzt der BÄK, Heinz-Peter Brauer – dass es „keinerlei Therapie gegen atomare Waffen“ gebe und zog gleichzeitig eine denkwürdige Parallele zum Zweiten Weltkrieg: Genauso wie wir im letzten Krieg alle die Gasmasken am Koppel trugen, dennoch aber keine Macht es wagte, Gas einzusetzen, weil eben eine wirksame Vorbeugung und Therapie kaum existierte, genauso müßte jetzt allen Regierungen in der ganzen Welt klar sein und werden, daß man Atomwaffen nicht einsetzen darf […].29

Analog zu seinen US-amerikanischen Kollegen suchte auch Gottstein von Beginn an, das eigene friedenspolitische Engagement möglichst beruflich motiviert darzustellen und empfahl dieses Vorgehen auf der ersten Vollversammlung der westdeutschen Sektion der IPPNW ausdrücklich, um die Mitwirkung konservativer Ärzte nicht von vornherein auszuschließen.30 Der sachlich-nüchterne ärztliche

27 Schreiben von Ulrich Gottstein an Karsten Vilmar vom 12.3.1982, Betr.: Gründung einer westdeutschen Sektion der IPPNW. BArch, B 417/1809. 28 Schreiben von Ulrich Gottstein an Karsten Vilmar vom 19.12.1980, Betr.: Bitte amerikanischer Professoren um Unterstützung in einer Warnung vor dem Einsatz atomarer Waffen. BArch, B 417/ 233. 29 Schreiben von Ulrich Gottstein an Heinz-Peter Brauer vom 18.3.1981. BArch, B 417/233. 30 Ergebnisprotokoll der 1. Vollversammlung der BRD-Sektion der IPPNW am 8. Mai 1982 im Ärztehaus in Frankfurt/Main, S. 3. FZH, 16–3 A/2.1.–1.

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Duktus sowie die konsequente Verwendung einer medikalisierten Sprache, welche den Atomkrieg ohne ironische Brechung als „Epidemie“ auswies, für die es keine „Therapie“ gebe und gegen die man „präventiv“ vorgehen müsse, ist als klassische Mediationsleistung im Sinne der Theorie Andrew Abbots zu deuten: Damit sich die Ärzteschaft eines Problems als Ärzte annehmen konnte, musste dieses zunächst in die Sprach- und Gedankenwelt der professionals überführt werden. Gottstein hoffte jedenfalls, mit seinen stark an die Grundüberzeugungen des eigenen Berufs erinnernden Briefen in der Bundesrepublik ähnlich arrivierte Kollegen mobilisieren zu können, wie sie sich in den Vereinigten Staaten in Harvard oder Boston zusammengefunden hatten. Deren Kooperation sah Gottstein als absolut entscheidend an und übernahm somit Bernard Lowns Vorstellung der IPPNW als exklusivem Expertenkreis, welcher fernab der Massenproteste vor allem qualitativ überzeugen solle.31 Nach seiner Teilnahme am Ascoter IPPNW-Kongress intensivierte Gottstein dementsprechend seine Bemühungen um eine Kooperation mit der Bundesärztekammer,32 erhielt jedoch am 30. Mai 1982 nicht mehr als eine wohlwollende Würdigung seiner Bemühungen zugesandt, welche gleichzeitig die Möglichkeit einer Verbindung von Kammer und westdeutscher IPPNW aus formalen Gründen ausschloss.33 Seine Anstrengungen um eine Annäherung an die offiziellen Stellen gab Gottstein gleichwohl nie auf; analog zum guten Verhältnis zwischen der US-amerikanischen IPPNW und der dortigen American Medical Association (AMA) beharrte er auf Möglichkeit und Notwendigkeit einer ähnlichen Konstellation in der Bundesrepublik,34 obwohl sich markante Unterschiede zwischen US-amerikanischen und westdeutschen Verhältnissen bereits in Gottsteins eigenen Briefen abzeichneten. Die Bundesärztekammer ihrerseits betonte auch in späteren Jahren stets, dass ein Vergleich zwischen AMA und BÄK in diesem Zusammenhang unzulässig sei. Erstere sei eben eine association, d. h. ein freier Verband, und eher mit dem Hartmannbund als mit dem westdeutschen Kammerwesen vergleichbar, welches alle deutschen Ärztinnen und Ärzte zur Mitgliedschaft verpflichte. Diese grundlegend andersartige, staatsnähere Organisationsform scheint westdeutschen wie internationalen Ärzten oft wenig bewusst gewesen zu sein. Die Bemühungen Gottsteins um eine Allianz zwischen Kammern und IPPNW in Bezug auf die konzertierte ärztliche Aufklärungsarbeit zur während der frühen 1980er Jahre wieder verstärkt diskutierten Möglichkeit eines (Atom-)Kriegs

31 Ebd., S. 2. FZH, 16–3 A/2.1.–1. 32 Vgl. Schreiben von Ulrich Gottstein an Heinz-Peter Brauer vom 10.4.1982, Betr.: IPPNW-Kongress in Cambridge, 3.–7. April 82. BArch, B 417/1809. 33 Schreiben von Heinz-Peter Brauer an Ulrich Gottstein vom 30.5.1982, Betr.: Gründung einer westdeutschen Sektion der IPPNW. BArch, B 417/18099. 34 Vgl. Ergebnisprotokoll der 1. Vollversammlung der BRD-Sektion der IPPNW am 8. Mai 1982 im Ärztehaus in Frankfurt/Main, S. 2. FZH, 16–3 A/2.1.–1.

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der Militärbündnisse hatten zum Zeitpunkt der BÄK-Absage bereits eine längere Vorgeschichte. Einige der zentralen Protagonisten der späteren bundesdeutschen IPPNW-Sektion (etwa die Vorstandsmitglieder Barbara Hövener und HorstEberhard Richter) waren vom 19. bis 20. September 1981 gemeinsam mit einigen prominenten Persönlichkeiten der Friedensbewegungen (u. a. die damaligen Grünen-Politiker Gert Bastian35 und Otto Schily) auf einem „Medizinischen Kongress zur Verhinderung des Atomkrieges“ in Hamburg aufgetreten, welcher von der Hamburger Ärzteinitiative gegen Atomenergie angeregt worden war. In späteren Quellenaussagen wurde dieser oft als inoffizieller, erster Kongress der bundesdeutschen IPPNW-Sektion bezeichnet. Der 1982 im teils von ostdeutscher Seite finanzierten, politisch linksstehenden Kölner Pahl-Rugenstein-Verlag erschienene Kongressband Die Überlebenden werden die Toten beneiden begann mit einer einschlägigen Stellungnahme der Hamburger Ärzteinitiative: Seit zwei Jahren wird wieder massiv an der Heimatfront aufgerüstet: Wie vor dem 2. Weltkrieg werden heute wieder in großem Stile Bunker gebaut, es werden reihenweise Zivilschutzübungen durchgeführt, vor genau zwei Jahren begann die Kampagne zur Fortbildung in Katastrophenmedizin, und seit diesem Zeitpunkt wurde die Diskussion um ein Notstandsgesetz zur Anpassung des Gesundheitswesens an die Anforderungen des nächsten Krieges intensiviert. […] Die Aufrüstung an der Heimatfront vollzog sich in strenger zeitlicher Koordination mit dem NATO-Beschluß, ab 1983 mit den Pershing 2-Raketen und den Cruise Missiles Waffensysteme auf westeuropäischem Boden zu installieren, die aufgrund ihrer Zielgenauigkeit besonders für den Erstschlag geeignet sind.36

Die für den Kriegs- und Katastrophenfall einzuübende Triage wurde mit Euthanasie gleichgesetzt und mit der Selektion in Auschwitz verglichen (vgl. das spätere Kapitel 4.6). Während den ersten katastrophenmedizinischen Arbeitskreisen der BÄK noch eine zu große Wirtschaftsnähe vorgeworfen worden war (vgl. hierzu Kapitel 2.2.4), beanstandete die Hamburger Ärzteinitiative nunmehr, dass mit Ernst 35 Der Bundeswehrgeneral a.D. Bastian war der damalige Lebensgefährte von Grünen-Mitbegründerin Petra Kelly, Mitverfasser des bereits zur damaligen Zeit umstrittenen, u. a. von den Grünen und der Deutschen Friedensunion (DFU) getragenen Krefelder Appells von 1980 sowie späterer Initiator der kommunistisch beeinflussten Gruppe „Generale für den Frieden“, vgl. Jochen Staadt, Die SED und die „Generale für den Frieden“, in: Jürgen Maruhn & Manfred Wilke (Hrsg.), Die verführte Friedensbewegung: Der Einfluss des Ostens auf die Nachrüstungsdebatte. München 2002, S. 123–140. Er war zudem Vater des späteren Geschäftsführers der bundesdeutschen Sektion der IPPNW, Till Bastian. 36 Stellungnahme der „Hamburger Ärzteinitiative gegen Atomenergie“ zum Kongreß, S. 11, in: Bayerische Ärztinnen und Ärzte gegen Atomenergie (Hrsg.), Die Überlebenden werden die Toten beneiden: Ärzte warnen vor dem Atomkrieg; Materialien des Hamburger „Medizinischen Kongresses zur Verhinderung des Atomkrieges“ vom 19./20. September 1981. Köln 1982, S. 11–17.

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Rebentisch ausgerechnet ein pensionierter Sanitätsoffizier die Bundesärztekammer in dieser Sache vertrat.37 Die Katastrophenmedizin wurde als Maßnahme einer angedachten „Militarisierung der Ärzteschaft“ begriffen und zudem konsequent als „Kriegsmedizin“ bezeichnet,38 was auch das entsprechende N-Gramm des Kapitels 2.1.5 erklärt. Den Militärärzten attestierte man „Gefühlskälte“ und sprach ihnen – professionssoziologisch ein heftiger Affront – das „Arzttum“ ab; sie seien Ärzte, die das Ärztliche pervertierten.39 Derlei Angriffe standen den 1956 getroffenen Aussagen des damaligen BÄK-Präsidenten Hans Neuffer sowie Arztsoldaten wie Gustav Sondermann oder Kurt Groeschel, welche jahrelang eine Aufweichung der Gegensätze zwischen ziviler und militärischer Ärzteschaft angestrebt hatten, diametral entgegen (vgl. Kapitel 2.1.1). Der Gießener Psychiatrieprofessor Horst-Eberhard Richter propagierte in seinem Hamburger Tagungsbeitrag zur „Psychosozialen Medizin und Prävention von Militarisierungsbereitschaft“ nunmehr Emotionalität und Sensibilität als Gegenentwurf gegenüber einer von den Friedensbewegungen kritisch bewerteten „Kühle“: Wir brauchen aber nicht Menschen, die in einem künftigen schrecklichen Krieg – so lange sie in ihm überleben – möglichst beschwerdefrei und psychosomatisch stabil funktionieren, vielmehr eine Stärkung des Widerstandswillens der Massen sensibler Menschen, die schon jetzt Mühe haben, die mit einer fatalen Hochrüstungspolitik verbundenen mörderischen Risiken nervlich zu ertragen. […] Die Hirne der Stärkepolitiker und gerade auch diejenigen der gefühlsverdrängenden Technokraten sind, wenn man schon so will, die ungesunden Träger einer ungesunden Politik.40

Ganz im Sinne Claudia Kempers Überlegungen zum „psychotherapeutischen Stil“ der Zeit diagnostizierte Richter hier eine zwischen Gesellschaft und Individuum changierende, sich wechselseitig beeinflussende Psychose: Die „Krankheit“ des Kalten Krieges entsprang der (Geistes-)Krankheit der Technokraten, die ihn führten, und wirkte wiederum auf diese bzw. auf deren „sensiblere“ Kontrahenten zurück.41 Der im Jahr 1923 geborene Richter muss neben dem 1926 geborenen

37 Ebd., S. 13. 38 Ebd., S. 12. 39 Andreas Henke, Arbeitsgruppe V: Militärmedizin und Katastrophenpsychiatrie: Selektion statt Hilfe, Medizin ohne Menschlichkeit, S. 172, in: Bayerische Ärztinnen und Ärzte gegen Atomenergie (Hrsg.), Die Überlebenden werden die Toten beneiden, S. 169–172. 40 Horst-Eberhard Richter, Psychosoziale Medizin und Prävention von Militarisierungsbereitschaft, S. 97, in: Bayerische Ärztinnen und Ärzte gegen Atomenergie (Hrsg.), Die Überlebenden werden die Toten beneiden, S. 91–101. 41 Zu Richters spezifischen Deutungsansätzen vgl. Kemper, Medizin gegen den Kalten Krieg, S. 101–103, zum „psychotherapeutischen Stil“ allgemein vgl. ebd., S. 80–111.

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Gottstein – beide waren ebenso Weltkriegsveteranen wie die kaum älteren Kollegen Messerschmidt und Rebentisch –42 als einer der angesehensten Persönlichkeiten der westdeutschen IPPNW betrachtet werden. Richter adelte in seinen Vorträgen die in Selbst- und Fremdbeschreibungen, inzwischen aber auch in einer Vielzahl historischer Untersuchungen konstatierte offensive Emotionalität der „Friedensbewegten“, während denjenigen, die der friedenssichernden Funktion der Atomwaffen vertrauten, letztlich attestiert wurde, krank zu sein. Gemeinsam mit anderen in der IPPNW vertretenen Psychoanalytikern machte er die Chance realer Abrüstungsbemühungen von einer vorher durchzuführenden „psychologischen Abrüstung“ abhängig,43 was naturgemäß Rolle und Bedeutung von Psychologie und Psychiatrie etwa gegenüber den somatisch dominierten katastrophenmedizinischen Arbeitskreisen deutlich ausweitete. Auch in der Schlusserklärung der Hamburger Tagung kam diese charakteristische Betonung des Fühlens deutlich zum Ausdruck („Wir trafen uns, weil uns die Bedrohung eines Atomkrieges Angst macht“). Schließlich wurde betont: Die Folgerung, die wir Ärzte daraus [d. h. aus der Atomkriegsgefahr] ziehen müssen, ist, vorbeugend mit der Kriegsgefahr umzugehen, d. h. wir müssen aus unserer gewohnten ärztlichen Rolle heraustreten und sind gezwungen, aufgrund unserer fachlichen Kenntnisse, politisch tätig zu werden. Politisch tätig werden heißt für uns, daß wir die Bevölkerung schonungslos darüber aufklären, daß wir ihren Leiden nach einem Atomkrieg als Ärzte hilflos gegenüberstehen. Mit solcher Aufklärung begeben wir uns in Widerspruch zu der Politik der Ärztekammer und der Regierung, die die Folgen eines Atomkriegs immer noch in unverantwortlicher Weise verharmlosen.44

In seinem Brief an Gottstein hatte Howard Hiatt noch betont, dass die Friedenspolitik der Ärzteschaft ganz im Ärztlichen, d. h. im fachlich Spezifischen, aufzugehen habe, während alle weiteren friedensaktivistischen Maßnahmen zwar als citizen, nicht jedoch als Arzt durchgeführt werden sollten. Der Hamburger Schlussappell ergänzte nunmehr die auch von Hiatt geforderten Aufklärungsbemühungen nicht nur um die Erfordernis, aus der ärztlichen Rolle „herauszutreten“, sondern auch um einen klaren Aufruf zur Opposition gegenüber der Bundesregierung wie auch – schwerwiegender – gegenüber dem ärztlichen Kammerwesen und damit der Mehrheitsgesellschaft der westdeutschen Ärzteschaft. Gemeinsam mit den im 42 Diese und einige weitere biografische Informationen finden sich z. B. unter: Thomas Gerst, Nachruf auf Horst-Eberhard Richter, in: Deutsches Ärzteblatt 1-2/2012, S. 37 sowie Norbert Jachertz, Ulrich Gottstein: Hohe Ziele und praktisches Wirken, in: Deutsches Ärzteblatt 1-2/2007, S. 37. 43 Vgl. Richter, Psychosoziale Medizin und Prävention von Militarisierungsbereitschaft, S. 98. 44 Cosima Kettner, Schlußerklärung, S. 146, in: Bayerische Ärztinnen und Ärzte gegen Atomenergie (Hrsg.), Die Überlebenden werden die Toten beneiden, S. 146–147.

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Rahmen des Kongresses vielfach vorhandenen rhetorischen Spitzen, den historischen Analogien insbesondere zum Holocaust, der kategorischen Ablehnung der Katastrophenmedizin, der Diskreditierung der Sanitätsoffiziere, Richters gruppenpsychologischer Deutung des Kalten Krieges als inhaltsleere Geisteskrankheit „Kalter Krieger“ sowie der Betonung von Emotionalität gegenüber Sachlichkeit erschien nach derartigen Ansagen ein Konflikt mit den Kammern bereits im Herbst 1981 deutlich wahrscheinlicher zu sein als die von Ulrich Gottstein bevorzugte Annäherung. Über den Hamburger Kongress wurde umfassend und überregional berichtet. Neben Beiträgen mit klarer Tendenz erschienen auch mehrere Artikel sowohl in der ärztlichen Verbandspresse45 wie auch in der allgemeinen Publizistik46 mit eher differenzierten, ja zurückhaltenden Bewertungen. Übereinstimmende Punkte waren dabei zumeist, dass das Grundanliegen – die Warnung vor den Folgen eines Atomkriegs aus ärztlicher Sicht – ehrenwert sei und die aktuell bedrückende politische Lage solche Appelle durchaus rechtfertige, die von sowjetischer Seite ausgehende Drohkulisse hingegen kaum genug zur Sprache gekommen sei. Ähnlich äußerte sich der auf dem Kongress anwesende, jedoch nicht selbst Vortragende Gottstein gegenüber Karsten Vilmar. Dieser verwies erneut in medikalisierter Sprache auf die Bedeutung der „Prophylaxe“ eines Atomkriegs und betonte, dass sich die Elite der westdeutschen Ärzteschaft hierbei nicht länger zurückhalten dürfe, wenn man diese höchste ärztliche Aufgabe nicht vollends anderen überlassen wolle: Wenn wir seriösen Ärzte und die Bundesärztekammer nicht diese Aufgabe der Warnung übernehmen, so werden dies linke und anarchistische Gruppen tun. Diese werden dann „im Namen der deutschen Ärzteschaft“ sprechen und dabei eine Tendenz vertreten, der wir nicht zustimmen können.

In seinem Schreiben kritisierte Gottstein zwar manche Aspekte des Hamburger Kongresses (insbesondere den Auftritt Otto Schilys), unterstrich aber auch, dass ein Großteil der anwesenden Referenten sachlich geblieben sei. Der Bundesärztekammer empfahl er, den Sorgen des in Hamburg vertretenen Teils der Ärzteschaft zumindest öffentlich Verständnis entgegenzubringen; von einzelnen Rednern distanzieren könne man sich schließlich immer noch.47 Deren offizielle Reaktion auf

45 Vgl. z. B. Dieter Schmidt, Wirkung und Folgen eines verkannten Kongresses, in: Der Deutsche Arzt 20/1981, S. 23–27. Auf S. 24 wurde dort auch auf die Ausgabe der ARD-Tagesschau vom 20.9.1981 hingewiesen, welche wohl ebenfalls recht detailliert über das Thema berichtet hatte. 46 Vgl. z. B. Gerd Bucerius, Nachtrag zu einem Kongreß, in: Die Zeit 40/1981. Online unter: http:// www.zeit.de/1981/40/nachtrag-zu-einem-kongress (aufgerufen am 26.1.2019). 47 Schreiben von Ulrich Gottstein an Karsten Vilmar vom 22.9.1981, Betr.: Verantwortung der Ärzte im Zeitalter eines drohenden Atomkrieges. BArch, B 417/233.

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den Kongress fiel hingegen keineswegs so konziliant aus, wie Gottstein sich dies gewünscht hatte. Kaum eine Woche nach seinem Brief an den Bundesärztekammerpräsidenten erschien im Deutschen Ärzteblatt ein Beitrag Volrad Denekes mit dem Titel „Ein Angriff auf die sittliche Substanz des Arzttums“. Obschon als Kommentar gekennzeichnet, musste es den Verantwortlichen klar gewesen sein, dass hier nicht irgendjemand, sondern der Hauptgeschäftsführer der BÄK kommentierte und Denekes Glosse somit zumindest offiziell wirken mochte. Deneke griff den Hamburger Kongress scharf an und bezeichnete die Organisatoren als „linke Propagandisten“ und „ideologische Fremdenlegionäre“, welche die Todesangst ihrer Mitmenschen im Sinne sowjetischer Propagandabestrebungen missbräuchlich schürten und sich hierfür lediglich einer „ethischen Tarnkappe“ bedienen würden. So wie von Kongressseite gegen die Sanitätsoffiziere der Bundeswehr vorgegangen worden war, verfuhr nunmehr auch Deneke: Er sprach den „Alternativen“ das Arzt-Sein ab und nannte die Teilnehmerinnen und Teilnehmer gleich im Eingangsparagraph „als Ärzte bezeichnete Personen“. Den eigentlichen Angriff auf die „sittliche Substanz des Arzttums“ machte Deneke an deren Einstellung zur Katastrophenmedizin fest: Der Kongreß hat sich mit einer Resolution gegen Ausbildung und Fortbildung in der Katastrophenmedizin gewandt, da weder entsprechende Übungen noch das geplante Gesundheitssicherstellungsgesetz der Bevölkerung gegen atomare Gefährdung „irgendeinen Schutz“ bieten könnten. Hier wird eine Erfolgserwartung zum Maßstab ärztlichen Handelns gemacht und offen dazu aufgerufen, ärztliche Ausbildungs- und Fortbildungspflichten zu sabotieren.48

Denekes Artikel sollte noch Jahre nach seiner Veröffentlichung von „friedensbewegten“ Ärztinnen und Ärzten bemüht werden, um den Kammern ihre konservative Grundhaltung vorzuwerfen, und prägte gemeinsam mit dem Hamburger Kongress den scharfen Gegensatz beider Seiten, der sich von Mittlern wie Ulrich Gottstein kaum überbrücken ließ. Die den atomaren Patt teils verharmlosende, teils nationalistisch verbrämende Sprache Denekes stellte dabei eine Art berufsspezifische Variante der vom rechten Flügel der Unionsparteien zur damaligen Zeit propagierten „geistig-moralischen Wende“49 dar und kontrastierte hart mit

48 J. F. Volrad Deneke, Ein Angriff auf die sittliche Substanz des Arzttums, in: Deutsches Ärzteblatt 40/ 1981, S. 1856–1857 (alle). 49 Vgl. Axel Schildt, „Die Kräfte der Gegenreform sind auf breiter Front angetreten“: Zur konservativen Tendenzwende in den Siebzigerjahren, in: Archiv für Sozialgeschichte 44/2004, S. 449–478. Deneke machte keinen Hehl daraus, dass für ihn „Freiheit noch vor Frieden komme“ und bediente sich damit der Sprachfigur „lieber tot als rot“, vgl. Schreiben von J. F. Volrad Deneke an Ernst Rebentisch vom 28.4.1983. BArch, B 417/164. Interessanterweise betonte er an anderer Stelle zudem, dass er Sanitätsoffizieren der Wehrmacht sein Leben verdanke und gerade deswegen der Diffamierung von

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dem linksalternativen Sprachstil der Hamburger Ärzteinitiative. Der Artikel zog eine enorme Zahl kritischer Leserbriefe nach sich, die sich hinter die Zielsetzung des Kongresses stellten und von denen das Deutsche Ärzteblatt über zwei Dutzend abdruckte. Unter den Autorinnen und Autoren befanden sich dabei u. a. die Psychoanalytikerin Melitta Mitscherlich, die Medizinhistorikerin Johanna Bleker sowie die spätere IPPNW-Funktionärin Barbara Hövener. In seinem Schlusswort zur Diskussion beharrte Deneke hingegen auf seinem persönlichen Standpunkt und bekräftigte erneut: Es bleibt auffallend, daß weder der Einfall der Sowjetunion in Afghanistan noch die sowjetische atomare Aufrüstung, sondern erst die Diskussion um die atomare Nachrüstung der NATO zu „Friedensdemonstrationen“ in der Bundesrepublik Deutschland geführt hat, wie sie in der UdSSR nicht stattfinden können. Ich wünsche allen meinen ärztlich approbierten Kritikern, daß sie niemals in die Lage kommen, zu ärztlicher Hilfeleistung nicht imstande zu sein, weil sie pflichtwidrig versäumt haben, sich darauf vorzubereiten.50

Untypischerweise fand sich nach dieser traditionell vom Deutschen Ärzteblatt gewährten Schlusserklärung eine zusätzliche Anmerkung der Redaktion, welche darauf verwies, über 100 kritische Zuschriften als Reaktion auf Denekes Artikel erhalten zu haben – etliche davon durchsetzt mit „allzu persönlichen“ Angriffen, auf deren Wiedergabe man, wenn irgend möglich, verzichtet habe.51 Wenig überraschend wurde Deneke insbesondere das vorgeworfen, was er selbst den Aktivistinnen und Aktivisten attestiert hatte: kein Arzt zu sein. Volrad Deneke war, wie bereits erwähnt, Journalist und vollberuflicher Kammerfunktionär. Dass ausgerechnet er als Nicht-Professioneller sich zur „Substanz des Arzttums“ zu äußern anmaßte und den zukünftigen IPPNW-Mitgliedern ihre credentials abzusprechen suchte, wurde nicht nur als unbotmäßiger Eingriff eines Außenstehenden aufgenommen, sondern auch als Versuch, die Sprecherinnen und Sprecher des Kongresses außerhalb der von Eliot Freidson als so wesentlich erachteten professionsspezifischen Ideologie und damit berufsintern in das mundtote Abseits der Laien und Scharlatane zu stellen. Diese Taktik wurde im späteren Verlauf der Kontroverse immer wieder angewandt: Man suchte, dem jeweiligen Gegner seinen Status als professional streitig zu machen, etwa indem man Sanitätsoffiziere per se nicht als Ärzte, sondern Soldaten bewertete oder sich in Bezug auf die IPPNW abschätzig über den dort vertretenen hohen Anteil an Studierenden oder Ärztinnen

Militärärzten strikt entgegenstehe, siehe: Schreiben von J. F. Volrad Deneke an H. Piechowiak vom 28.4.1983. BArch, B 417/153. 50 J. F. Volrad Deneke, Schlußwort: Die atomare Bedrohung, in: Deutsches Ärzteblatt 46/1981, S. XXII. 51 Norbert Jachertz, Anmerkung der Redaktion, in: Deutsches Ärzteblatt 46/1981, S. XXII.

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und Ärzten aus weniger angesehenen, nicht-somatischen Bereichen (vor allem aus der Psychiatrie) äußerte. Die Vermutung, dass solche Aussagen nicht der Kommunikation, sondern der identitären Selbstvergewisserung dienen sollten, drängt sich aus gegenwärtiger Sicht unweigerlich auf: Wer dem politischen Gegner abspricht, diskussionsfähig zu sein, will bekanntlich nicht diskutieren. Das eigentliche Schlusswort in Sachen Hamburger Ärztekongress und Denekes Replik jedenfalls beanspruchte der Präsident der Bundesärztekammer selbst. Karsten Vilmar warnte allgemein vor einer allzu polemischen Ausrichtung der Diskussion, sah die Schuld für diese Entwicklung allerdings klar bei der Ärzteinitiative. Dezidiert verwarf er die in Hamburg geäußerten Attacken gegen die organisierte Ärzteschaft. Auf dem Kongress war beispielsweise ein leerer Stuhl auf dem Diskussionspodium freigehalten worden, der die angeblich bewusste Abwesenheit der Bundesärztekammer demonstrieren sollte. Vilmar bezeichnete dies als „Propagandatrick“,52 da die Kammer erst zehn Tage vor Kongressbeginn telefonisch eingeladen worden sei und in dieser kurzen Frist auf das Teilnahmeangebot nicht habe reagieren können. Er erinnerte daran, dass man von ärztlicher Seite mehrfach unmissverständlich vor den Gefahren eines Atomkriegs gewarnt habe, und verwies als Beleg hierfür auf die bereits angesprochenen Ärztetag-Entschließungen der Jahre 1957 und 1958 ebenso wie auf die Veröffentlichung der PSR-Artikelserie im Jahr 1965 (vgl. hierzu detailliert Kapitel 2.2.2). Solche sinnvollen Warnungen könnten den einzelnen Arzt jedoch nicht von der Verantwortung entbinden, sich für den Fall des Falles eben doch vorbereiten zu müssen, sei es für unwahrscheinliche, aber mögliche Katastrophenereignisse oder aber für vorstellbare Randzonen eines nicht total geführten, nuklearen Konflikts. Unabänderliche ärztliche Aufgabe und „Substanz des Arzttums“ sei es, „Katastrophen und Bedrohungen des menschlichen Lebens zu vermeiden, menschliches Leben zu erhalten und überall dort, wo Gesundheit und Leben bedroht sind, nach besten Kräften zu helfen“.53 Deutlich erkennbar war in Vilmars Artikel der Wunsch, eine übermäßige berufsinterne Auseinandersetzung durch die Bemerkung zu vermeiden, dass man ja gleichzeitig vor dem Atomkrieg warnen und sich dennoch darauf vorbereiten könne. Damit würde man beiden Aspekten ärztlicher Verantwortung – Prävention und Therapie – gleichermaßen gerecht. Hiermit verknüpfte Vilmar das Bemühen darum, die im Verlauf der letzten Jahre zusehends komplexer gewordene Definition des Katastrophischen sowie den All-hazards-Ansatz des Katastrophenschutzes nicht durch Gegenentwürfe zu gefährden, welche unter „Katastrophe“ gerade nicht ein relationales Verhältnis zwischen Schadensausmaß und Hilfsmöglichkeiten, sondern ausschließlich das

52 Karsten Vilmar, Ärztliches Berufsethos erfordert Fortbildung in Katastrophenmedizin, S. 2213, in: Deutsches Ärzteblatt 47/1981, S. 2213–2214. 53 Ebd., S. 2214.

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Schlimmstmögliche – den totalen Atomkrieg – verstanden. Vilmars Hoffnungen sollten sich zunächst als Illusion erweisen. Am 6. Februar 1982 konstituierte sich die bundesdeutsche Sektion der IPPNW offiziell und verabschiedete gleichzeitig eine Gründungsresolution. Diese erklärte die Verhinderung eines Atomkrieges der Supermächte zur „höchsten Aufgabe präventiver Medizin“ und forderte dafür beiderseitige Abrüstung, den Abbau von Feindbildern, eine „rückhaltlose Aufklärung der Bevölkerung über die Folgen von atomaren Waffen und atomaren Kriegen“ sowie den Verzicht auf die Stationierung weiterer Atomwaffen, was sich prioritär auf die damals vorbereitete Stationierung der US-amerikanischen Pershing II bezog.54 Eine größere Breitenwirkung erreichte hingegen die sogenannte „Frankfurter Erklärung“, welche in teilweiser Abkehr vom ursprünglichen Charakter der internationalen Dachorganisation massenhaft zur persönlichen Unterschrift angeboten wurde. Diese fasste den Kern der weiteren Bemühungen gut zusammen: Ich halte alle Maßnahmen und Vorkehrungen für gefährlich, die auf das Verhalten im Kriegsfall vorbereiten sollen. Ich lehne deshalb als Arzt jede Schulung oder Fortbildung in Kriegsmedizin ab und werde mich daran nicht beteiligen. Das ändert nichts an meiner Verpflichtung und Bereitschaft, in allen Notfällen medizinischer Art meine Hilfe zur Verfügung zu stellen und auch weiterhin meine Kenntnisse in der Notfallmedizin zu verbessern. Da ein Krieg in Europa nach überwiegender Expertenmeinung unter Benutzung der modernen Massenvernichtungswaffen geführt werden würde, muß er absolut unmöglich gemacht werden. Jede Vorbereitungsmaßnahme indessen, die von der Möglichkeit ausgeht, fördert indirekt die Bereitschaft, sich auf etwas einzustellen, was um jeden Preis verhindert werden muß. Deshalb erkenne ich als Arzt nur eine einzige auf den Kriegsfall bezogene Form der Prävention an, nämlich die Verhinderung des Krieges selbst mit allen Anstrengungen, zu denen ich mein Teil beizusteuern entschlossen bin.55

Diese Positionen wurden keineswegs allein intern oder vor der allgemeinen Presse, sondern z. B. auch im Deutschen Ärzteblatt mehrfach unmissverständlich darge-

54 Die Resolution wurde von Ulrich Gottstein u. a. auch Vilmar zur Unterschrift angeboten, siehe: Schreiben von Ulrich Gottstein an Karsten Vilmar vom 12.3.1982, Betr.: Gründung einer westdeutschen Sektion der IPPNW. BArch, B 417/1809. 55 Die Erklärung wurde über Jahre hinweg breitflächig kolportiert, erstmals aber auf der 1. Vollversammlung der BRD-Sektion der IPPNW in Frankfurt unterzeichnet. Ein Exemplar fand sich beispielsweise auf dem Backcover der Buchveröffentlichung zum 2. Medizinischen Kongreß zur Verhinderung eines Atomkriegs, siehe: Berliner Ärzteinitiative gegen Atomenergie (Hrsg.), Ärzte warnen vor dem Atomkrieg: Im Ernstfall hilflos; Beiträge und Materialien zum 2. Medizinischen Kongreß zur Verhinderung eines Atomkrieges. Berlin 1982.

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legt.56 Der Fokus lag demnach nicht nur auf aus der Ärzteschaft hinauswirkenden Maßnahmen wie der Aufklärung oder dem intendierten Abbau von Feindbildern, zu welchem sich die IPPNW als blockübergreifende Bewegung besonders bekannte, sondern auch auf der berufsinternen Auseinandersetzung um den Inhalt der medizinischen Aus- und Fortbildung. Die gerade 1980 von offiziellen Vertretern der Bundesärztekammer auf ihrer Bonner Pressekonferenz geforderte und von der Öffentlichkeit zunächst unterstützte Intensivierung des medizinischen Katastrophenund Zivilschutzes wurde ebenso wie das Bemühen um die Verabschiedung des GesSG konsequent als Kriegsvorbereitung abgelehnt. Als Belege hierfür dienten der IPPNW einerseits die Beobachtung, dass es unbeherrschbare Zivilkatastrophen, welche beispielsweise das massenhafte Triagieren von Patienten erfordert hätten, in der Bundesrepublik noch nie gegeben habe, insbesondere aber der zeitliche Zusammenhang zwischen der Propagierung der Katastrophenmedizin durch die Bundesärztekammer und der NATO-Nachrüstung. Ein IPPNW-Arzt brachte dies gegenüber der BÄK-Geschäftsführung in folgenden Worten zum Ausdruck: Das Mißtrauen der Friedensbewegung gegen die Katastrophenmedizin kommt nicht von ungefähr: Wir sehen nicht nur einen möglichen Massenanfall von Schwerverletzten, sondern wir sehen Pershing-Raketen, Zivilschutzgesetz, Bunkerbau, SDJ, Katastrophenmedizin in engem Zusammenhang, Parallelen zum Dritten Reich drängen sich auf und die Frage: Warum ist dies alles plötzlich so wichtig?57

Man kann aus derartigen Schreiben gut ablesen, dass die Bundesärztekammer mit ihrer via Pressekonferenz vorgebrachten Werbung für die Katastrophenmedizin der Sache kaum einen Gefallen getan haben dürfte. Dass die Nachrüstungsdebatte den beteiligten Akteuren als Chance vorgekommen sein mochte, seit langem Geplantes endlich umzusetzen, mochte teilweise stimmen; der Ursprung ihrer Bemühungen war sie hingegen, wie bereits dargelegt, nicht. Frühere Vorgänge in diesem Zusammenhang, etwa die Diskussionen von BMVg, BMI und BMG in Sachen Gesundheitssicherstellung und zivil-militärischer Zusammenarbeit (vgl. hierzu Kapitel 2.1.6) waren jedoch deutlich weniger wahrnehmbar gewesen als eine bewusst auf Öffentlichkeitswirksamkeit angelegte Pressekonferenz, und gerade solche Aktionen wirkten aus Sicht vieler IPPNW-Mitglieder nun als ärztlicher Beitrag eines vom Zentrum der Macht forcierten gesellschaftlichen Militarisierungsprozesses. Gerade anhand der vorgenommenen Parallelsetzung der 1980er Jahre mit 56 Programmatisch vgl. z. B.: Ulrich Gottstein, Helmut Koch, Horst-Eberhard Richter & Knut Sroka, Können Ärzte zur Verhinderung eines Atomkrieges beitragen?, in: Deutsches Ärzteblatt 43/1982, S. 65–68. 57 Schreiben von Eugen Vogt an die Geschäftsführung der Bundesärztekammer vom 9.7.1985, Betr.: Az 484 – Ihr Schreiben vom 2.7.85. BArch, B 417/156.

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Nazi-Deutschland lässt sich in solchen Passagen gut die enorme Skepsis aufzeigen, mit der zahlreiche Aktivistinnen und Aktivisten der IPPNW den USA, der Bundesregierung, aber auch ihren eigenen Kammervorsitzenden gegenüberstanden. Das imaginierte Katastrophische verwies durchweg auf den vergangenen und befürchteten Weltkrieg, keinesfalls jedoch auf zivile oder technische Szenarien: Aufgrund des Ursprungs vieler lokaler Ärzteinitiativen aus der Umweltbewegung (nicht umsonst nannten sich die Organisatoren des 1981-er Hamburger Kongresses „Hamburger Ärzteinitiative gegen Atomenergie“), aber auch aufgrund der Genese der katastrophenmedizinischen Arbeitskreise der BÄK, welche ja zunächst auf die Gefahren der Kernkraftwerke bezogen gewesen waren, ein durchaus interessanter Befund. In einer Phase weltweiter Ideologisierung wurde der Katastrophenbegriff teils derart verengt, dass sich seine Bedeutung derjenigen der unmittelbaren Nachkriegszeit annäherte. 3.1.3 Die bundesdeutsche Sektion der IPPNW: Mitglieder und Arbeitsformen Eine personelle Charakterisierung der IPPNW fällt schwer. Im vorliegenden Quellenmaterial werden ihre Mitglieder oft als „jünger“58 oder – dann meist mit negativer Konnotation – studentisch geprägt bezeichnet. Belastbare Quantifizierungen können auf Basis solcher Eindrücke hingegen kaum vorgenommen werden, wenn sie auch im Kern zutreffen mögen. Als erste Sprecher der westdeutschen IPPNW wurden neben dem Internisten Helmut Koch (geb. 1937) und dem Allgemeinmediziner Knut Sroka (geb. 1942)59 die bereits genannten Ärzte Horst-Eberhard Richter und Ulrich Gottstein gewählt – Richter mit den verhältnismäßig meisten (85), Gottstein mit den wenigsten Stimmen (54).60 Aufgrund des graduell zunehmenden Arbeitsaufwands wurde der erste Geschäftsführer Richter 1983 durch den in dieser Funktion nunmehr hauptamtlich tätigen Till Bastian ersetzt. Der in Heidesheim ansässige Allgemeinarzt und Psychotherapeut war Jahrgang 1949 und damit tatsächlich deutlich jünger als viele in dieser Arbeit genannten Kriegsveteranen.61 Im Gegensatz zu Gottstein betrachtete Bastian seine Arbeit von Beginn an eher als politisch denn ausschließlich ärztlich, was sich in zahlreichen Buchveröffentlichungen

58 Vgl. etwa Bucerius, Nachtrag zu einem Kongress. 59 Vgl. das Autorenverzeichnis in: Tübinger Ärzteinitiative gegen den Krieg (Hrsg.), Unser Eid auf das Leben verpflichtet zum Widerstand: Dokumentation des 4. Medizinischen Kongresses zur Verhinderung eines Atomkrieges 1984 in Tübingen. Tübingen 1984. 60 Ergebnisprotokoll der 1. Vollversammlung der BRD-Sektion der IPPNW am 8. Mai 1982 im Ärztehaus in Frankfurt/Main, S. 5. FZH, 16–3 A/2.1.–1. 61 Einige biographische Details zu Bastian finden sich z.B. auf den Internetseiten der IPPNW unter http://www.ippnw.de/der-verein/geschichte-der-ippnw/persoenlichkeiten/artikel/de/till-bastian. html (aufgerufen am 26.1.2019).

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niederschlug, welche den Single-issue-Ansatz der internationalen IPPNW deutlich hinter sich ließen. Als frühes Beispiel mag der Band „Katastrophenmedizin“ oder die Endlösung der Menschheitsfrage: Medizinische Folgen des Atomkriegs dienen, welcher IPPNW-typische Planspiele atomarer Angriffe und die nicht vorhandenen ärztlichen Handlungsmöglichkeiten beschrieb, in den Schlussfolgerungen jedoch bereits 1982 von internationalen IPPNW-Forderungen abwich und die Bedrohung durch den Atomkrieg sehr allgemein auffasste: Wir dürfen uns nicht der Illusion hingeben, daß ein Atomkrieg erst dann Tote und Verletzte kosten wird, wenn die ersten Kernwaffen explodieren. In unserer Welt gibt es mehr Sprengstoff als Brot – die Millionen von Verhungernden sind ganz unmittelbare Opfer des Rüstungswettlaufs, der immer mehr Geld verschlingt, das zur Lösung existentieller Menschheitsprobleme fehlt […]. Selbst wenn der nukleare Krieg uns in den nächsten Jahren erspart bleibt – unseren von Hunger, Rohstoffvergeudung und Umweltzerstörung bedrohten Planeten erwartet ohnehin eine düstere Zukunft, die durch das atomare Wettrüsten noch drastisch verdunkelt wird.62

Die Verknüpfung von Atomrüstung und Hungersnot in Form eines Nullsummenspiels scheint in solchen Passagen ebenso von Interesse zu sein wie eine eher an den Club of Rome als an die IPPNW erinnernde Beschwörung allgemeinen, dem technischen Fortschritt zu verdankenden Unheils. Der Band endete mit Querverweisen zur NS-Zeit, auf die Bastian häufig zurückgriff. Zudem veröffentlichte er mehrere Bücher, die sich ganz dem Nationalsozialismus bzw. der NS-Medizin widmeten, wobei er stets betonte, dass die grundlegenden Denkstrukturen, welche die Medizinverbrechen ermöglicht hatten, keineswegs der Vergangenheit angehörten, sondern kontinuierlich erkannt und bekämpft werden müssten.63 Als Beispiel des entgegengesetzten Spektrums der westdeutschen IPPNW mag Ulrich Gottstein dienen: als Arzt weithin anerkannt, kriegserfahren, älter und in mancherlei Hinsicht altmodischer als etwa der jüngere Bastian.64 Gottstein betonte selbst, „kein Linker“ zu sein, stand in manchen Punkten dem klassischen Konservatismus durchaus nahe und begründete sein Engagement in der IPPNW insbesondere mit

62 Till Bastian, „Katastrophenmedizin“ oder die Endlösung der Menschheitsfrage: Medizinische Folgen des Atomkriegs. Berlin 1982, S. 86. 63 Vgl. etwa: Till Bastian, Arzt, Helfer, Mörder: Eine Studie über die Bedingungen medizinischer Verbrechen. Paderborn 1982. 64 In einem Schreiben bemerkte Gottstein beispielsweise gegenüber Bastian, dass ihm der generelle Umgangston der bundesdeutschen IPPNW, vor allem die Anrede per „Du“, evtl. wegen deren übermäßiger Nutzung während der NS-Zeit, nach wie vor befremdlich erscheine, siehe: Schreiben von Ulrich Gottstein an Till Bastian vom 12.7.1983. FZH, 16–3 A/2.1.–1.

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seiner christlichen Gesinnung. In einem bemerkenswerten Schreiben an einen die Katastrophenmedizin unterstützenden Militärdekan betonte er dies überdeutlich: Als Arzt, aber ganz besonders als Christ, muß ich alles in meiner Macht Stehende tun, um die Zerstörung von Gottes Schöpfung zu verhindern oder zu verhüten. […] Es ist unmöglich mit unserem Glauben an Gott und den Herrn Christus zu vereinbaren, mit Atomwaffen Hunderttausende oder Millionen von Menschen zu ermorden, gleichzeitig die Tiere und Pflanzen, Erde, Wasser und Luft und alle Kulturgüter zu zerstören.

Auch bei Gottstein verknüpfte sich dieser christliche Gestus wiederholt mit dem Appell, Lehren aus der deutschen Geschichte zu ziehen: Ich bin sehr traurig über Ihren Beitrag und hoffe von Herzen, daß Sie wirklich ein Christ sind, der Gottes Schöpfung bewahren möchte. Ich hoffe gleichzeitig, daß Sie nicht zu den Christen gehören, die glauben, wenn die Welt untergehe, dann sei es auch Gottes Wille. 6 Millionen Juden wanderten in die Gaskammern, weil wir damals die Sünde auf uns nahmen, nicht dagegen zu protestieren. Millionen von Menschen mußten sterben, weil wir nicht mutig genug waren, die Nazidiktatur zu brechen, sondern wir alle gehorchten dem Führereid, der Pflichterfüllung, unser ärztliches Ethos beschäftigte sich nur mit Wunden verbinden und nicht mit Wunden verhüten. Ich sehe in Ihnen meinen Bruder und nicht meinen Gegner, ich bete zu Gott, daß ER Ihnen ein anderes Denken schenken möge.65

In seltener Klarheit trat hier nicht allein Gottsteins christliches (Sendungs-)Bewusstsein zu Tage, sondern auch der Wunsch, die „Sünde“ des unterlassenen Widerstands gegen Hitler mit dem Widerstand gegen die Gefahr des Atomkriegs zumindest teilweise wiedergutmachen zu können – die Verhinderung des „atomaren Holocaust“ erschien als Sühne für den tatsächlichen Holocaust, den man während der NS-Zeit nicht verhindert hatte. Neben seinem Bemühen darum, die IPPNW gerade nicht allgemeinpolitisch, sondern ganz im Sinne der frühen, internationalen IPPNW strikt ärztlich auszurichten, war auch diese christliche Gesinnung ein Aspekt, welcher Gottstein zum favorisierten IPPNW-Gesprächspartner seitens der Unterstützer der Katastrophenmedizin machte. In einem Schreiben an Rebentisch etwa bat Gottstein diesen in religiös konnotierter Sprache (vergeblich) darum, aufgrund der Erfahrung eines gemeinsamen Gottesdienstbesuchs der

65 Schreiben von Ulrich Gottstein an R. Wagner (Militärdekan des Evangelischen Kirchenamtes für die Bundeswehr) vom 13.9.1984, Betr.: Ihre Publikation in „Wehrmedizinische Monatsschrift“, Heft 2, S. 51–58, 1984 über „Ethische Gesichtspunkte für den Dienst des Sanitätsoffiziers bei Katastrophen und im Verteidigungsfall“. BArch, B 417/156 (alle drei Zitate).

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IPPNW doch gleichfalls beizutreten. „Wir feierten gerade Ostern“, schrieb er dort, „die Auferstehung Jesu Christi, nachdem er ermordet wurde. Und wir drohen damit, Jesus Christus erneut hundertausendmal oder millionenfach zu ermorden.“66 Diese Sprache schien manchem konservativem Befürworter der Katastrophenmedizin naturgemäß vertrauter als beispielsweise die auf dem Hamburger Kongress wiederholt aufflammende „linke“ Rhetorik, so dass es wenig verwundert, dass Gottstein selbst während des Höhepunkts der innerärztlichen Kontroversen von den offiziellen Kammervertretern zumindest Respekt entgegengebracht wurde.67 Rebentisch selbst bestimmte die IPPNW durchaus treffend als heterogenes Gebilde, das ein „schillerndes Bild von Ansichten“ vorzuweisen hatte. In mehreren, wechselseitigen Schreiben verschiedener Befürworter der Katastrophenmedizin suchte man zu eruieren, wer sich von IPPNW-Seite als Ansprechpartner anbot bzw. mit wem gegebenenfalls ein gewisses Maß an Einigkeit erzielt werden könne. In einem Brief charakterisierte Rebentisch beispielsweise Richter als Opportunisten, der auch seine IPPNW-Tätigkeit lediglich als Vehikel des persönlichen Karrierefortschritts verstehen würde, während er Gottstein ebenso wie den Ärzten Hartmut Hanauske-Abel und – eingeschränkt – Herbert Begemann und Helmut Koch ein glaubwürdiges Engagement für die Sache attestierte, welches gewinnbringende Diskussionen und punktuelle Einigungen ermöglichen mochte.68 Unabhängig von solchen, keineswegs rein negativen Einschätzungen zumindest der IPPNW-Führungselite erfuhren hingegen auch tendenziell um Ausgleich bemühte Persönlichkeiten wie Gottstein von Seite der Kammervertreter intern Kritik. Einen wunden Punkt sprach beispielsweise Friedhelm Otto an, der meinte, dass Gottstein ihm nicht ins Konzept passende Tatsachen in Diskussionen gerne ignoriere und unter Druck „ungehemmt“ seine beruflichen Kontakte und Verdienste ausnutze.69

66 Schreiben von Ulrich Gottstein an Ernst Rebentisch vom 5.4.1983. BArch, B 417/164. 67 Gottsteins christliche Überzeugungen konnten jedoch gleichfalls dazu genutzt werden, von dessen Kernanliegen abzulenken. Michael Popović als geschäftsführendem Arzt der Bundesärztekammer gelang es z. B. wiederholt, Gottstein in Diskussionen um die von den „progressiven“ IPPNWMitgliedern im Vergleich zum Theorem des Atomkriegs kaum kritisierten, massenhaft praktizierten Abtreibungen zu verwickeln, vgl. insbesondere den Briefwechsel zwischen Popović und Gottstein mit wechselseitigen Schreiben vom 18.7.1985, 28.8.1985, 5.9.1985, 10.9.1985 sowie 10.9.1985. BArch, B 417/1880. 68 Schreiben von Ernst Rebentisch an Michael Popović vom 25.6.1984. BArch, B 417/147. Ähnliche Quellen, die Mutmaßungen über die Persönlichkeitsprofile der argumentativen Gegenseite anstellten, gab es auch von Seite der IPPNW, vgl. z. B. Horst-Eberhard Richter an die Mitglieder von Vorstand und Beirat der IPPNW vom 24.2.1986. FZH, 16–3 A/2.1.–7. 69 Schreiben von Friedhelm Otto an Michael Popović vom 6.7.1986. BArch, B 417/1852.

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Der kaum gänzlich unberechtigte Vorwurf70 verwies auf einen weiteren Aspekt, welcher zur Charakterisierung nicht nur des Vorstandes, sondern nahezu sämtlicher IPPNW-Mitglieder wesentlich ist: Sie waren trotz ihrer oppositionellen Positionen Ärztinnen und Ärzte und damit nach wie vor Teil einer in Bezug auf Ansehen und Einkommen privilegierten sozialen Gruppe. Hierüber gab es auch IPPNW-intern manche Kontroverse, vor allem hinsichtlich ihres Verhältnisses zu den allgemeinen Friedensbewegungen,71 welche nach der 1983 erfolgenden Raketenstationierung im Gegensatz zu einer über Mitgliederbeiträge solide finanzierten westdeutschen IPPNW mit Geldsorgen zu kämpfen hatten.72 Der gesellschaftliche Respekt vor dem Arztberuf wurde von den Mitgliedern der westdeutschen Sektion – ganz im Sinne des Konzepts der internationalen IPPNW – durchaus bewusst eingesetzt, etwa indem bei öffentlichen Zusammenkünften und Demonstrationen das Tragen des Kittels explizit mit dem Hinweis erbeten wurde, sich von sonstigen „Friedensbewegten“ absetzen zu wollen. Das IPPNW-Beiratsmitglied Knut Sroka schrieb in diesem Zusammenhang: […] unser Ärztebonus ist zweifellos mit „Seriosität“ verknüpft. So würde ich es auch für sehr wünschenswert halten, wenn die Stadt-Aktion deutlich sichtbar von ärztlichen Kitteln geprägt wäre, daß also die weißen Vaterfiguren inmitten der bunt-alternativen Kinder nicht völlig untergehen.73

Die hier ironisierend angesprochene bewusste Inszenierung ärztlicher Attribute als öffentlichkeitswirksame Erinnerung an den eigenen, paternalistisch konnotierten Status spielte in zahlreichen Quellentexten der bundesdeutschen IPPNW eine Rolle, wenn auch selten in ähnlicher Drastik bzw. unter Verwendung der vielsagenden

70 Vgl. z. B. Schreiben von Ulrich Gottstein an Emil Graul vom 16.6.1986. Gottstein zählte dort einen Absatz lang seine unterschiedlichen Tätigkeiten für Bezirks-, Landes- und Bundesärztekammer ebenso auf wie seine Lehrverpflichtung, wissenschaftliche Arbeit, Krankenhausleitung usw. Auch wenn in Gottsteins Briefen der argumentative Verweis auf eigene Verdienste in der Tat überdurchschnittlich oft Verwendung fand, muss entgegengehalten werden, dass dieser sich aufgrund seiner oppositionellen Rolle häufiger dazu genötigt gesehen haben mochte, daran zu erinnern, dass er selbst ein Teil – und keineswegs Gegner – der ärztlichen community war. 71 Vgl. z. B. Schreiben von Horst-Eberhard Richter an die Mitglieder von Sprecherrat und Beirat vom 12.4.1984. FZH, 16–3 A/2.1.–2. 72 Vgl. etwa Schreiben von Till Bastian an Vorstand und Beirat vom 1.1.1985. FZH, 16–3 A/2.1.–5. Die Geschäftsführung der IPPNW legte regelmäßig aktuelle Zahlen vor. Im o.a. Schreiben meinte Bastian wörtlich: „Unsere finanzielle Basis ist gesund und, verglichen mit dem sonstigen Zustand der Friedensbewegung, sensationell.“ Gleichzeitig verwies er auf monatliche Einnahmen von ca. 50.000,- DM mit steigender Tendenz. 73 Schreiben von Knut Sroka an Vorstand und Beirat vom 20.10.1985. FZH, 16–3 A/2.1.–6.

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„Vater-Kinder“-Assoziation. „Das Volk, die eigentlichen Betroffenen eines drohenden Atomkrieges“, so schrieb etwa ein Frankfurter IPPNW-Arzt, „muß mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln darüber belehrt (und nicht, wie Herr Kollege Popović meint, beruhigt) werden, daß es keine Überlebenschance gibt, wenn der Wahnsinn Wirklichkeit wird.“74 Die Patientinnen und Patienten des befürchteten Krieges traten hier wie an vielen anderen Stellen als dem Arzt letztlich untergeordnete, weitgehend passive Informationsempfänger auf, wenn überhaupt auf sie verwiesen wurde – der von manchen Befürwortern der Katastrophenmedizin vorgebrachten Beschreibung der westdeutschen IPPNW als „‚Halbgötter in Weiß‘ in neuer Auflage“ kann dementsprechend kaum gänzlich widersprochen werden.75 Zu diesen Beobachtungen passend sei auf das von Claudia Kemper dargelegte, innerhalb der IPPNW vorherrschende Geschlechterbild hingewiesen. Kemper schreibt, dass dort verhältnismäßig nicht mehr Frauen vertreten gewesen waren als in der allgemeinen Ärzteschaft76 und dass trotz ihres Bemühens um Neutralität bzw. Geschlechtergerechtigkeit das Leitbild der IPPNW – wie im Übrigen auch der allgemeinen Friedensbewegungen, trotz einiger prominenter Ausnahmen –77 ein männlich konnotiertes blieb, wenn auch ein eher „universal ausgerichtetes“.78 Im Vergleich zu den in dieser Arbeit im Mittelpunkt stehenden Institutionen muss demgegenüber festgehalten werden, dass Frauen in der IPPNW nicht nur deutlich häufiger vertreten waren – bis 1982 gab es beispielsweise in sämtlichen, die Katastrophenmedizin betreffenden Arbeitskreisen der Bundesärztekammer keine Frauen, danach (kurzzeitig) eine –,79 sondern zudem hohe Positionen, etwa als Vorsitzende (z. B. die bereits genannte Barbara Hövener) oder Beiräte (z. B. Odette Klepper), bekleiden konnten. Umfang und Qualität einer etwaigen, dieser Tatsache geschuldeten Veränderung von Ausrichtung und Arbeit bleiben naturgemäß schwierig zu bestimmen und bedürften grundsätzlich anders fokussierter Studien. Abermals festzuhalten ist hingegen, dass den Katastrophenmedizinern und bis in

74 Schreiben von Becker (Arzt für Innere Krankheiten und Psychoanalyse, Frankfurt) an das Deutsche Ärzteblatt vom 18.2.1985, bezugnehmend auf einen Artikel Michael Popovićs im Deutschen Ärzteblatt 7/1985 (S. 395–396 und 421–424). BArch BArch, B 417/1809. 75 Undatiertes Schreiben von Günter Burkart an Michael Popović. BArch, B 417/1953. 76 Kemper, Medizin gegen den Kalten Krieg, S. 341–342. 77 Vgl. Reinhild Kreis, „Männer bauen Raketen“: Frauenfriedensbewegung und Geschlechterdimensionen, in: Becker-Schaum (u. a., Hrsg.), „Entrüstet Euch!“, S. 294–308. 78 Kemper, Medizin gegen den Kalten Krieg, S. 344. 79 Bei solchen Beobachtungen überschneiden sich freilich geschlechter- und generationsspezifische Deutungsmuster. Da die Katastrophenmediziner oft ältere Ärzte mit militärischem Hintergrund waren, verhinderten gleich zwei Faktoren, Frauen als potenziell Mitwirkende wahrzunehmen. Sowohl durch die zunehmende Zulassung von Frauen zum Medizinstudium, als auch durch die Öffnung der Sanitätsoffizierslaufbahn der Bundeswehr für Frauen veränderte sich diese Ausgangslage graduell (wenn auch sehr langsam). Vgl. hierzu auch Anmerkung 264 in Kapitel 3.2.3.

Die ärztliche Friedensbewegung

die 1980er Jahre hinein wohl auch den Funktionärsebenen vieler Ärztekammern durchaus etwas „Männerbündisches“ anhaften konnte und im einschlägigen Quellenmaterial zumeist ein heroisch-männlich konnotiertes Ärzteideal bemüht wurde, welches klar auf der Betonung von agency und der Vorstellung von zumindest ansatzweiser, gegebenenfalls konstruierter Machbarkeit beruhte. Die bundesdeutsche IPPNW war im Vergleich dazu hinsichtlich ihrer Geschlechterzusammensetzung zumindest heterogener aufgestellt und verwies ungleich häufiger auf das Ende der Machbarkeit, die ärztliche Ohnmacht im Angesicht des Atomkriegs. In Bezug auf den paternalistischen Habitus hingegen, welcher aus der Differenz zwischen Arzt und Patient bzw. zwischen Laie und professional abgeleitet wurde, standen zumindest ihre Funktionäre den führenden Katastrophenmedizinern kaum nach. Recht eindeutige Auskunft gibt das vorhandene Quellenmaterial zum vielfach befürchteten – man erinnere sich an Denekes Replik auf den Hamburger Kongress – sowjetischen Einfluss innerhalb der westdeutschen IPPNW (vgl. hierzu auch die beiden folgenden Kapitel). Festzuhalten ist, dass es dem Kommunismus nahestehende Gruppierungen dort zweifelsfrei gab. Diesen gelang es jedoch nicht, die Sektion entscheidend zu beeinflussen oder gar zu kontrollieren. Aufgrund der bereits geschilderten lokalen Verankerung der westdeutschen IPPNW fielen über den harten Kern der gemeinsamen Arbeit hinausgehende weltanschauliche Ansichten je nach Ausrichtung der regionalen Initiativen unterschiedlich aus. In Einzelfällen konnten durchaus der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) nahestehende Ärzte zu hohem Einfluss gelangen; dies übertrug sich hingegen nicht ohne Weiteres auf andere Initiativen oder gar auf Vorstand und Beirat der westdeutschen IPPNW-Sektion. Als wirkungsvollste Abwehr gegen derartige Übertragungen muss die Tatsache angeführt werden, dass den Vorstandsmitgliedern die Präsenz kommunistischer Strömungen in den eigenen Reihen bewusst war und kritisch beobachtet wurde. Leitende Philosophie war wohl, deren Präsenz zu tolerieren – Gottstein meinte in diesem Zusammenhang einmal, dass er auch nicht aus der Kirche austräte, obwohl es dort vereinzelt Kommunisten gebe –,80 sich Versuchen einer Beeinflussung jedoch möglichst zu erwehren. Ein gutes Beispiel hierfür stellt die Korrespondenz zwischen Sprecherrat und den Münchner Ärzteinitiativen im Vorfeld des „Dritten Medizinischen Kongresses zur Verhinderung eines Atomkriegs“ im Jahr 1983 dar. Dort wies IPPNW-Sprecher Helmut Koch darauf hin, dass man bei den Vorbereitungen des Kongresses „Tendenzen“ beobachtet habe, „die unsere politische Identität beeinflussen könnten“ und betonte:

80 Schreiben von Ulrich Gottstein an Till Bastian vom 26.3.1985. FZH, 16–3 A/2.1.–3.

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Sollte sich im Verlauf des Kongresses herausstellen, daß politische Zweideutigkeiten aufgebaut werden, werden wir uns nicht scheuen, noch während des Kongresses in aller Öffentlichkeit einen ganz klaren Trennungsstrich zu ziehen.81

Koch verfasste ein Jahr später zudem eine vielsagende, aus Quellenschutzgründen als „streng vertraulich“ eingestufte „Dokumentation einer DDR-Reise“.82 Neben deprimierenden Schilderungen regimekritischer Ärzte, welche in der DDR bis hin zur Zwangseinweisung in die Psychiatrie fortwährend drangsaliert würden, ließen bereits die einleitenden Absätze keine Zweifel an Kochs persönlichen Ansichten über den „Arbeiter- und Bauernstaat“. In düsteren Worten charakterisierte er diesen als Potemkin’sches Dorf, das von omnipräsenten Durchhalteparolen lebe, faktisch jedoch der Orwell’schen Dystopie nahekam: Buna, Leuna, Halle – eine süßlich-schwere Luft verschafft Atemprobleme. Tote Bäume und weißgrau beschichtete Blätter, die Saale […] mit großflächigen, weißgrauen Schaumteppichen. […] Die Stadtbilder ähneln sich. Noch viele kriegszerstörte und zeitzerstörte Gebäude, abbröckelnde Fassaden und Putz, zersplitterte Fensterscheiben, stellenweise Pappe statt Fensterglas, Hausruinen halbbewohnt und halb im Einsturz, Bürgersteige nicht angelegt, Farbeindruck grau in grau. Der Verdacht einer kontinuierlichen Stasiüberwachung aller Beteiligten wird von mehreren Seiten als absolut sicher eingeschätzt. Überwachung der Autofahrten, Überwachung und Abhörung auch von Privatgesprächen, selbst in Privatwohnungen. Erste Gespräche mit Kollegen: die Einschätzung sieht so aus, daß außer der Parteispitze, den Bonzen und den Stasileuten nahezu alle DDR-Bürger gegen diesen Staat mit seinem real existierenden Sozialismus sind. Folge: Apathie! – Fundamentale Kritik ist nicht erlaubt, die Partei hat immer Recht!83

Die Tätigkeit der ebenfalls existierenden ostdeutschen Sektion der IPPNW wurde von Koch als medizinisch verbrämte Staatspropaganda bezeichnet. Es gelinge dieser zwar, in kürzester Zeit zehntausende Unterschriften unter ein bestimmtes Dokument zu pressen; das Regime als solches würde hingegen an keiner Stelle hinterfragt und auch eine Aufklärung der Bevölkerung sei nicht erwünscht.84 Insgesamt mögen solche Quellen als Beleg dafür dienen, dass man zumindest von Seite der IPPNWFührung dem „real existierenden Sozialismus“ kritisch gegenüberstand und sich auch keinerlei Illusionen bezüglich einer freiheitlichen, mit der westdeutschen

81 Schreiben von Helmut Koch an die Münchner Ärzteinitiativen vom 4.3.1983. FZH, 16–3 A/2.1.–2. 82 Helmut Koch, Dokumentation einer DDR-Reise – Nicht zur Veröffentlichung!!, 26.9.1984. FZH, 16–3 A/2.1.–4. 83 Ebd., S. 1. 84 Ebd., S. 2.

Die ärztliche Friedensbewegung

Sektion tatsächlich vergleichbaren Tätigkeit der DDR-IPPNW hingab. Deren Vorsitzender Moritz Mebel galt auch aus Sicht des bundesdeutschen IPPNW-Vorstands als Marionette des Staatsapparats und seine offiziellen Verlautbarungen bedienten sich in der Tat eben jener Friedensrhetorik, welche in offiziellen DDR-Dokumenten ubiquitär Verwendung fand.85 So beschwor beispielsweise ein auf einem Gespräch mit Mebel basierender Artikel der Zeitung Neues Deutschland den „Konfrontationsund Hochrüstungskurs des USA-Imperialismus“, um später zu betonen, dass die Unterzeichnung des Amsterdamer Appells der internationalen IPPNW durch ganze 46.000 Ärzte der DDR ein „beredtes Zeugnis der Übereinstimmung mit der friedensfördernden Politik unseres Staates“ ablege. Helmut Koch schätzte demgegenüber die tatsächliche Größe der ostdeutschen ärztlichen Friedensbewegung auf 120, im Raum Halle aktive Personen.86 Wie viele Mitglieder aber hatte die freie westdeutsche IPPNW? Die zu dieser Frage gehörenden Zahlen sind keinesfalls eindeutig und bedürfen der Interpretation. Es sei mit der Feststellung begonnen, dass die Sektion selbst zum Jahresbeginn 1983 eine Mitgliederzahl von „weit über 1.000“ schriftlich bekanntgab, während sie die Größe der westdeutschen Ärzteschaft auf 178.119 festsetzte.87 1984 sprach Ulrich Gottstein demgegenüber davon, dass er ganze „8.000 Ärztinnen und Ärzte der IPPNW“ vertrete,88 noch im selben Jahr mutmaßte er, dass die Hälfte der bundesdeutschen Ärzteschaft die Ansichten der IPPNW teile89 und im Frühjahr 1985 betonte er schließlich „daß über 65 % der deutschen Ärzteschaft hinter uns stehen […]“.90 Gleichwohl gab Geschäftsführer Bastian im Dezember 1984 eine aktuelle offizielle Mitgliederzahl von 2841 an.91 Der Ursprung solch divergierender Angaben ist schnell geklärt: Die kleinere Zahl wies die tatsächlich zahlenden Mitglieder

85 Damit es niemals jenen „Tag danach“ gibt …: Prof. Dr. Moritz Mebel über das Wirken des Komitees „Ärzte der DDR für die Verhütung eines Nuklearkrieges“, in: Neues Deutschland, 19.7.1984, S. 6. 86 Koch, Dokumentation einer DDR-Reise, S. 2. Zum problembehafteten Verhältnis zwischen den west- und ostdeutschen Sektionen der IPPNW bietet Claudia Kempers Darstellung weiterführende, interessante Details, vgl. Kemper, Medizin gegen den Kalten Krieg, S. 301–319. 87 Sektion Bundesrepublik Deutschland der IPPNW e. V., Wenn unsere Aufgabe als Arzt die Erhaltung von Leben und Gesundheit ist, so ist unsere dringendste Aufgabe die Verhinderung eines Atomkrieges, S. 3–4. FZH, 16–3 A/2.1.–1. 88 Etwa in: Ärzte warnen vor dem Atomkrieg: „Die letzte Epidemie der Menschheit“, in: Der Arzt im Krankenhaus 4/1984, S. 199 oder Schreiben von Ulrich Gottstein an Vorstand und Beirat vom 26.11.1984, Betr.: Versuch eines Berichtes über die öffentliche Anhörung vor dem Innenausschuß – Kommission Zivilschutz der SPD am 20. November von 10.30–15.00 Uhr. FZH, 16–3 A/2.1.–5. 89 Schreiben von Ulrich Gottstein an Norbert Jachertz (Redaktion des Deutschen Ärzteblatt) vom 2.8.1984. FZH, 16–3 A/2.1.–4. 90 Schreiben von Ulrich Gottstein an Michael Popović vom 27.3.1985. FZH, 16–3 A/2.1.–5. 91 Schreiben von Till Bastian an Vorstand und Beirat vom 1.1.1985. FZH, 16–3 A/2.1.–5.

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aus. Hieran gemessen integrierte die IPPNW bis zum Ende des Untersuchungszeitraums stets nur eine verschwindend geringe Minderheit der bundesdeutschen Gesamtärzteschaft, insbesondere wenn man bedenkt, dass einige der Mitglieder noch keine approbierten Ärztinnen und Ärzte waren. Gottsteins Angabe von 8000 durch ihn vertretene Ärzte wiederum bezog sich auf die damalige Zahl an Unterschriften der Frankfurter Erklärung (vgl. hierzu Kapitel 3.1.2). Diese wurde von IPPNW-Kreisen gemeinhin als Signal der Unterstützung derjenigen gewertet, welche den Mitgliedsbeitrag nicht zahlen oder aus sonstigen Gründen keine ordentlichen Mitglieder werden mochten. Die Existenz zweier Zahlengrößen erlaubte der westdeutschen IPPNW eine gewisse Flexibilität; nicht selten entschied man sich im Rahmen eines Interviews oder eines Zeitschriftenbeitrags dafür, ohne nähere Erläuterung die beeindruckendere Zahl zwangloser Unterstützungsbekundungen anstelle der eigentlichen Verbandsgröße anzugeben. Die von Gottstein genannten Prozentzahlen entbehrten demgegenüber jeder faktischen Grundlage. Ebenso wie dies bei den berufsunabhängigen Friedensbewegungen der Fall war, erfuhr auch die IPPNW außerhalb des Kerns ihrer Mitglieder einiges an Sympathie. Erwiesen ist darüber hinaus, dass einzelne ihrer Forderungen von einer beachtlichen, mitunter mehrheitsfähigen Prozentzahl der westdeutschen Ärzteschaft unterstützt wurden – andere hingegen kaum bis gar nicht. So mag man als Basis von Gottsteins exorbitanten Angaben zwei repräsentative Umfragen des Deutschen Ärzteblattes anführen, welche jeweils im Herbst 1983 (dem „heißen Herbst“ der Raketenstationierung) sowie im Frühjahr 1985 durchgeführt wurden. Erstere eruierte die ärztlichen „Ansichten zu Kernkraftwerken und Atomrüstung“, Letztere die Einstellungen zur Katastrophenmedizin. Eine Mehrheit der Ärzteschaft unterstützte 1983 beispielsweise den Bau neuer Kernkraftwerke, wobei sich diese Zahl nicht von derjenigen der Gesamtbevölkerung unterschied (65 % Zustimmung, 30 % Ablehnung, 4 % keine Angabe). Die NATO-Nachrüstung hingegen lehnte in der Tat die Hälfte der bundesdeutschen Ärzteschaft ab (46 % Zustimmung, 47 % Ablehnung, 7 % keine Angabe), wobei diese Ablehnung in der Gesamtbevölkerung mit ganzen 69 Prozent deutlich höher ausfiel. Solche Zahlen mochten Gottstein bei seinen Angaben ermutigt haben; gleichwohl vernachlässigte er jedoch, dass etwa die Hälfte der bundesdeutschen Ärzteschaft meinte, man solle sich aus derartigen Diskussionen gänzlich heraushalten.92 In Bezug auf die Katastrophenmedizin bot sich ein ähnliches Bild: Manche Ansichten der bundesdeutschen IPPNW erfuhren ein erheblich höheres Maß an Unterstützung, als es deren Mitgliederzahl vermuten ließ – hinsichtlich anderer, zentraler Aspekte hingegen stand sie isoliert da. So befürwortete

92 Asta-Karin Deibl, Aktuelle Politik im Urteil der Kollegen (III): Ansichten zu Kernkraftwerken und Atomrüstung, in: Deutsches Ärzteblatt 38/1983, S. 13–16.

Die ärztliche Friedensbewegung

immerhin eine stabile Zweidrittelmehrheit westdeutscher Ärztinnen und Ärzte Appelle an die Bevölkerung, um diese vor den Gefahren eines Atomkriegs zu warnen (hierzu mochten im Übrigen selbst Männer wie Vilmar oder Rebentisch zählen). Demgegenüber lehnte aber eine deutliche Mehrheit (322 gegenüber 76 befragten Ärzten, 2 machten keine Angabe) die Verweigerung katastrophenmedizinischer Fortbildungsinhalte ab, während die Notwendigkeit einer solchen Ausbildung 64 gegenüber 31 befragte Internisten und 82 gegenüber 18 befragte Chirurgen bejahten.93 Eine wesentliche Einschränkung dieser zweiten Umfrage war eben diese vorgenommene, kaum zufällige Konzentration der Befragung auf Internisten und Chirurgen, während beispielsweise die der Katastrophenmedizin als besonders kritisch gegenüber geltenden Psychiater ausgeklammert worden waren. Dennoch lassen die verfügbaren Zahlen darauf schließen, dass nur eine Minderheit der Ärzteschaft die Zielsetzungen der westdeutschen IPPNW teilte, wenn auch eine über deren Mitgliedszahl deutlich hinausgehende Minderheit. Die von Gottstein und anderen IPPNW-Vertretern pauschal getätigten Angaben von 50 bis 65 Prozent Unterstützung seitens der Gesamtärzteschaft müssen demnach als überzogen bezeichnet werden und wurden von Kammervertretern teils scharf kritisiert, so z. B. von Michael Popović, dem geschäftsführenden Arzt der Bundesärztekammer: Zur Zahlenakrobatik hinsichtlich der Mitgliedschaft in der IPPNW oder anderen ärztlichen Verbänden sei Ihnen mitgeteilt, daß den von Ihnen in der Öffentlichkeit genannten 3.500 Mitgliedern [der westdeutschen IPPNW-Sektion] eine Zahl von ca. 8.000–10.000 arbeitslosen Ärzten gegenübersteht. Von den Mitgliedszahlen in anderen Berufsverbänden, Fachgesellschaften oder gar Hartmannbund oder Marburger Bund soll gar nicht gesprochen werden.94

Zu Beginn des Jahres 1985 bezifferte Popović die Mitgliedszahl des Hartmannbundes auf „über 35.000“, des Marburger Bundes gar auf „nahezu 50.000“; die Gesamtzahl der Ärztinnen und Ärzte betrage in der Bundesrepublik „mittlerweile über 185.000“.95 Die westdeutsche IPPNW-Sektion bediente sich verschiedener Arbeitsformen. Gemäß ihrer eigenen Zielsetzungen konzentrierte sie sich dabei auf die Öffentlichkeitsarbeit. Neben der bereits angesprochenen Lancierung entsprechender Themen

93 Internisten und Chirurgen in Akutkrankenhäusern befragt: Die Mehrheit sagt Ja zur Fortbildung in Katastrophenmedizin, in: Deutsches Ärzteblatt 19/1985, S. 1397–1399. 94 Schreiben von Michael Popović an Jürgen Bickardt vom 16.1.1986. BArch, B 417/1890. 95 Schreiben von Michael Popović an Hanßen (Arbeitsgemeinschaft der Helferinnen und Helfer in den Regieeinheiten und Regieeinrichtungen des Katastrophenschutzes – ARKAT) vom 25.2.1985. BArch, B 417/156.

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Abb. 11 Cover des Rundbrief, Ausgabe 7/ 1983. Solche und zahllose weitere, auch von allgemeinen Friedensbewegungen massenhaft verwendete Karikaturen wurden von IPPNWSeite zumeist um spezifisch ärztliche Details ergänzt.

und Argumente in nahezu allen ärztlichen Fachzeitschriften, der Herausgabe einer eigenen Publikation (Rundbrief: Ärzte warnen vor dem Atomkrieg) und der Veröffentlichung zumal an westdeutsche Spitzenpolitiker gerichteter offener Briefe96 suchte man daher auch frühzeitig Kontakt zur allgemeinen Presselandschaft. Eine ganze Reihe Zeitungen und Zeitschriften – keineswegs alle –97 standen den Friedensbewegungen tendenziell wohlwollend gegenüber, weshalb nicht nur etliche die Ansichten und Absichten der IPPNW kolportierten, sondern einzelnen IPPNW-Mitgliedern auch anboten, dort eigene Artikel zu publizieren.98 Als auffallend muss erneut der den Debatten um die NATO-Nachrüstung geschuldete Bruch in der Berichterstattung über die Katastrophenmedizin bezeichnet werden, welcher

96 Offener Brief der Sektion Bundesrepublik Deutschland der IPPNW an Bundeskanzler Helmut Kohl vom 13.6.1983. FZH, 16–3 A/2.1.–1. 97 Die Frankfurter Allgemeine Zeitung und die die Friedensbewegungen scharf ablehnende Die Welt wurden von Till Bastian beispielsweise als „Dreckschleudern“ bezeichnet, siehe: Schreiben von Till Bastian an Vorstand und Beirat vom 20.11.1985. FZH, 16–3 A/2.1.–7. 98 Vgl. z. B.: Knut Sroka, „Ärzte als Ordnungspolizei“: Katastrophenmedizin und Atomkrieg, in: Der Spiegel 40/1983, S. 293 oder Hartmut Hanauske-Abel & Gustav Obermair, Zivilisten haben keine Chance: Unter der Tarnkappe der Katastrophenmedizin wird die ärztliche Versorgung im Kriegsfall geprobt, in Die Zeit 39/1981, online unter: http://www.zeit.de/1981/39/zivilisten-haben-keinechance/komplettansicht (aufgerufen am 26.1.2019).

Die ärztliche Friedensbewegung

sich durch weite Teile der Presselandschaft zog. Der Spiegel etwa wandelte sich, wie in Kapitel 2.2.5 bereits angesprochen, in kürzester Zeit vom Befürworter zum Gegner, wobei vor allem der Medizinjournalist Hans Halter als scharfer Polemiker auftrat.99 Halter verarbeitete in seinen Artikeln gängige IPPNW-Positionen und betonte vor allem die Kritik an den Sanitätsoffizieren der Bundeswehr, welche er süffisant als Ärzte der „untersten Stufe, direkt hinter dem Amtsarzt“, geprägt von einer „dreifachen Schwäche – ängstlich, arm, unkundig“ charakterisierte, so z. B. in einem Beitrag über eine wehrmedizinische Fachtagung in Baden-Baden: Warum also wird man Militärarzt? So merkwürdig es klingt: Man geht zu den Streitkräften, weil man Angst hat. Angst vor der freien Praxis (der Patient kann kommen, gehen, oder fortbleiben, ganz wie es ihm beliebt), Angst vor dem schwankenden Einkommen (kein Quartal ist wie das andere), vor dem Alter (niemand zahlt eine Pension) und vor Diagnose und Therapie (es gibt so viele Möglichkeiten, so viele Fehlerquellen, aber in der Praxis ist man ganz allein).100

So wie viele Ärztinnen und Ärzte der IPPNW sich gegen tatsächliche oder empfundene Diffamierungen zur Wehr setzten, blieb auch hier die Gegenreaktion nicht aus. In zahlreichen Leserbriefen äußerten sich Sanitätsoffiziere zur Unredlichkeit des Spiegels, der gegen die vorgebliche Gier der Ärzteschaft zu Felde ziehe, die Bundeswehrärzte gleichzeitig aber als „Sozialfälle“ brandmarke.101 Auch die vielfach im Spiegel und anderen Zeitungen und Magazinen vorgebrachte, der westdeutschen IPPNW nahestehende Kritik einer angeblichen „Emotionskälte“ erfuhr vehemente Ablehnung. In einem Leserbrief hieß es in diesem Zusammenhang etwa: Ich kenne keinen Militär-Arzt, den nicht der Tod eines Patienten, auch nach vielen Berufsjahren im Innersten berührt, geschweige denn der 1000-fache Tod von Menschen im Kriegsfall. Leider gibt es schreckliche Themen aller Art in allen Lebensbereichen, die von kompetenten Leuten gelegentlich sachlich diskutiert werden müssen. Neben Abrüstungs- und Rüstungsbegrenzungskonferenzen, bei denen die Teilnehmer mit den furchtbarsten Waffensystemen jonglieren, den Diskussionsrunden über Völkermorde

99 Polemik schien eine Stärke Halters gewesen zu sein, fiel er doch später durch seine teils homophobe Berichterstattung zur Immunschwächekrankheit AIDS auf, vgl. Magdalena Beljan, Rosa Zeiten?: Eine Geschichte der Subjektivierung männlicher Homosexualität in den 1970er und 1980er Jahren der BRD. Bielefeld 2014, S. 178–192. 100 Hans Halter, Alle Kinder werden sterben müssen, S. 271, in: Der Spiegel 43/1982, S. 269–275. Betonung im Original. 101 R. Heuwinkel (Bundeswehr-Zentralkrankenhaus Koblenz) an den Herausgeber des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“, Rudolf Augstein vom 30.10.1982, Betr.: „Spiegel“-Artikel von Hans Halter: Alle Kinder werden sterben müssen. Nr. 43, S. 269–274 (1982). BArch, B 417/154.

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oder Berichterstattungen von Kriegsschauplätzen, Berichten von UNICEF über den Hunger in der Welt oder Diskussionen über das Sterben unserer Umwelt, steht auch eine Tagungsinformation von Militär-Ärzten über Kampfstoffe, die keineswegs zu deren Erheiterung erfunden wurde.102

Man kann derartigen Auseinandersetzungen nicht nur gut entnehmen, wie sehr sich die Sanitätsoffiziere in ihrer beruflichen Kompetenz und jurisdiction angegriffen empfanden, sondern auch, wie über den eigentlichen Diskussionsgegenstand hinaus das vom eigenen Lager präferierte Arztideal mitverhandelt wurde, ob „frei“ oder im Staatsdienst, ob man sich „gelegentlich sachlich“ auch mit schrecklichsten Themen auseinanderzusetzen habe bzw. welches Maß an zur Schau gestellter Betroffenheit hierbei angemessen sei. Die Auseinandersetzung gerade mit dem Sanitätsdienst der Bundeswehr blieb der IPPNW im Übrigen bis in die Mitte der 1980er Jahre ein Anliegen. Abseits gegenseitiger Vorwürfe kam es dabei gerade auf der Führungsebene auch zu Annäherungsversuchen und Verständigungen, wobei z. B. auf ein Treffen zwischen Ulrich Gottstein, Helmut Koch und Karl Bonhoeffer mit dem damaligen Inspekteur des Sanitätswesens Hansjoachim Linde am 30. Mai 1984 hingewiesen sei. Derartige Aussprachen sind durchaus als Versuch zu werten, einer professionellen Spaltung gerade derjenigen Bereichen entgegenzuwirken, welche aus IPPNW-Sicht am weitesten voneinander entfernt zu sein schienen und sich trotz vorhandener Meinungsunterschiede zumindest des gegenseitigen kollegialen Respekts zu versichern.103 Mit Wehrmedizinern sowie mit Vertretern der Ärztekammern und des Zivilschutzes setzte man sich nicht nur publizistisch und im Privatgespräch auseinander; im Gegensatz etwa zur Bundesärztekammer, welche ihre Aufklärungstätigkeit vorrangig intern, d. h. auf die Ärzteschaft zielend, begriff, wandte sich die bundesdeutsche IPPNW-Sektion frühzeitig auch an Rundfunk und Fernsehen. In zahlreichen Beiträgen, Reportagen, Interviews und Diskussionsrunden suchte man dort, die eigenen Ansichten möglichst breit und

102 H. Frössler, Stellungnahme zum SPIEGEL-Artikel „Alle Kinder werden sterben müssen“. BArch, B 417/154. Der Ordner enthält zahlreiche weitere Leserbriefe ähnlichen Inhalts. Betonung im Original. 103 Vgl. Hansjoachim Linde (BMVg) an Karsten Vilmar (Präsident der Bundesärztekammer) vom 4.6.1984. FZH, 16–3 A/2.1.–4. Der Ordner enthält weitere Korrespondenz und Material zu dem Treffen, u. a. von Gottstein und Koch. Letzterer bescheinigt Linde dabei „zweifellos menschlichere Züge“ als seinem Vorgänger Rebentisch (Schreiben von Helmut Koch an Vorstand und Beirat vom 5.6.1984), und auch Claudia Kemper erwähnt in ihrer Arbeit die relative Beliebtheit des Inspekteurs in den Reihen der bundesdeutschen IPPNW: Vgl. Kemper, Medizin gegen den Kalten Krieg, S. 287–288. Betont sei in diesem Zusammenhang allerdings, dass sich Linde selbst intern kaum weniger kritisch über deren Ansichten und Methoden äußerte als z. B. Ernst Rebentisch.

Die ärztliche Friedensbewegung

auf unterschiedlichen Kanälen zu popularisieren.104 Aus Sicht der Mitglieder und des Vorstands der IPPNW entsprach nur diese, offensive Aufklärung über die Gefahren eines Atomkriegs dem auch vom Deutschen Ärztetag in seinen früheren Entschließungen unterstrichenen ärztlichen Auftrag. Ungeachtet der durchgängigen Bejahung dieses Auftrags war sich die IPPNW aufgrund ihrer inhärenten Heterogenität nicht darüber einig, welcher über Gespräch und Publizistik hinausgehender Methoden man sich zusätzlich bedienen solle. Obwohl er in zahlreichen Medienbeiträgen für die Zielsetzungen der IPPNW stritt, betonte etwa Ulrich Gottstein, „daß wir uns in der Ärzteschaft nicht unnötig zerfleischen sollten“ und dass der „Gegner“ keineswegs die Bundesärztekammer oder das Sanitätswesen der Bundeswehr, sondern die „Atomkriegs-Politik“ der Regierung bzw. der Supermächte sei.105 Wie bereits in Kapitel 3.1.2 geschildert, vertrat er fortwährend die Absicht, ärztliche Kammern und Verbände zumindest grundlegend von der IPPNW-Leitlinie überzeugen zu können, und stand dementsprechend manchen alternativen, die innerärztliche Polarisierung fördernde Protestformen skeptisch gegenüber.106 Eine Gegenposition vertrat auf der Funktionärsebene der westdeutschen IPPNW-Sektion beispielsweise Helmut Koch. Dieser warnte im Januar 1984 vor der Stagnation „auf einer weichen Welle“, appellierte daran, dass in Sachen Atomkrieg und Katastrophenmedizin alle Überzeugungsbemühungen in Richtung Kammern zwecklos seien und es stattdessen darum gehen müsse, „diese Kollegen [die verantwortlichen Spitzenfunktionäre] mit allen möglichen Mitteln zu desavouieren“. Eine Differenzierung der eigenen Argumentation, etwa in Bezug auf eine Art rein zivil ausgerichtete Katastrophenmedizin, lehnte er vehement ab:

104 Siehe etwa WDR-Interview am 16.3.1983. BArch, B 417/1942 und Aufzeichnung einer Rundfunkdiskussion im Südwestfunk 2 vom 14.6.1985 zum Thema: Katastrophenmedizin. Teilnehmer: Dr. med. Popović (Bundesärztekammer), Prof. Dr. Mayer (BMVg InSan I 3), OTL i.G. Dr. Schilling (Fü S III 1), Dr. Koch (IPPNW), Prof. Dr. Gottstein (IPPNW). BArch, B 417/949. Eine gesonderte Erwähnung verdient der Vorgang um ein Sitzungsprotokoll des BÄK-Ausschusses „Sanitätswesen in der Bundeswehr und Zivilschutz“ vom 26.2.1983, welches es zunächst in die Hände der IPPNW und über deren Pressemitteilung in die Tagesschau schaffte, vgl. ARD-Tagesschau, 28.7.1983 – 17.50 Uhr. BArch, B 417/146. Auf den sich hieran anschließenden Vorwurf der Kriegsvorbereitung (Offener Brief von Thomas Schramm, Initiative „Mediziner gegen die atomare Bedrohung“, München, an Karsten Vilmar vom 18.7.1983) reagierte Vilmar abermals mit der Aussage, dass sich das Warnen vor dem Krieg und die Vorbereitung auf ein denkbares Versagen der Friedenssicherung keinesfalls ausschließe, siehe: Schreiben von Karsten Vilmar an Thomas Schramm vom 26.7.1983. BArch, B 417/146 (beide). 105 Schreiben von Ulrich Gottstein an Till Bastian vom 28.6.1984. FZH, 16–3 A/2.1.–4. 106 Schreiben von Ulrich Gottstein an Till Bastian vom 18.1.1984. FZH, 16–3 A/2.1.–2. Besonders intensiv diskutiert wurde z. B. eine organisierte Verweigerung der zu leistenden Kammerbeiträge. Diese kam hingegen – vor allem wohl aufgrund schlichter Rechtswidrigkeit – nur in Ansätzen seitens lokaler Initiativen bzw. einzelner Ärztinnen und Ärzte zustande.

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Es gibt nur eine Katastrophenmedizin! Diese eine Katastrophenmedizin verlangt von uns die Triage, diese eine Katastrophenmedizin ist gleich Kriegsmedizin! […] Eine Verfeinerung unserer Argumentationskette ist nicht nötig, bleiben wir einfach, logisch und konsequent: Katastrophenmedizin nein! Notfallmedizin ja!107

Nach Kochs Empfinden sollte sich die IPPNW-Tätigkeit eben nicht, wie von Gottstein angedacht, exklusiv auf eher konziliante Protestformen stützen, sondern neben der legitimen und notwendigen Aufklärungstätigkeit in Presse und Rundfunk zusätzlich auf „Protest, Widerstand, Verweigerung und Anklage“108 setzen. Insbesondere nach der 1983 erfolgten Raketenstationierung könne nur so eine „Erstarrung“ der Bewegung verhindert werden. Klarer als Gottstein empfand sich Koch – und sicher manch anderes IPPNW-Mitglied – als Teil der allgemeinen Friedensbewegungen und plädierte dafür, sich mit diesen konsequent zu sozialisieren. Zum populären Instrument der (Massen-)Demonstration griff die bundesdeutsche Sektion der IPPNW jedoch nur selten. Als Ausnahme organisierte man gemeinsam mit den regionalen Ärzteinitiativen zum 1. Oktober 1983, d. h. zum Höhepunkt der Nachrüstungskontroverse, einen Ärztemarsch in Bad Godesberg, welcher mit einem gemeinsamen Niederlegen der Kittel und einer Schweigeminute vor dem dortigen Gebäude des Bundesgesundheitsministeriums endete.109 Die Rezeption fiel unterschiedlich aus: Helmut Koch – eigentlich ja ein Befürworter ebensolcher Protestformen – verwarf die eigene „Demo“ aufgrund ihrer vergleichsweise geringen Öffentlichkeitswirksamkeit im Bonner Randbezirk als „beschissen“;110 Geschäftsführer Till Bastian hingegen bewertete sie gerade in Bezug auf das Presseecho „insgesamt als Erfolg“ und verwies darauf, aus etwaigen Fehlern in Vorbereitung und Durchführung konstruktiv zu lernen.111 Ulrich Gottstein hatte sich demgegenüber bereits im Vorfeld der geplanten Aktion überaus kritisch geäußert: In einer Zeit, in der Demonstrationen, Massenveranstaltungen etc. zahlreich sein werden, ist es sicher wichtig, daß wir Ärzte uns im Auftreten von anderen Demonstrationen unterscheiden, insbesondere eben auch durch Seriosität. Und wichtig ist es, daß wir nicht durch politische Gruppierungen ausgenutzt werden, wie dies z. B. hier in Frankfurt bei den Friedensmärschen durch zahlreiche DKP-Schilder der Fall war.112

107 Schreiben von Helmut Koch an Klaus Engels vom 9.1.1984. FZH, 16–3 A/2.1.–2. 108 Schreiben von Helmut Koch an Vorstand und Beirat vom 8.2.1984. FZH, 16–3 A/2.1.–2. 109 Till Bastian, Rundbrief an alle Ärzteinitiativen und Initiativen im Gesundheitswesen zur Vorbereitung der zentralen Demonstration am 1.10.1983 in Bonn. FZH, 16–3 A/2.1.–1. 110 Schreiben von Helmut Koch an Vorstand und Beirat vom 6.10.1983. FZH, 16–3 A/2.1.–2. 111 Schreiben von Till Bastian an die Kolleginnen und Kollegen der IPPNW vom 9.11.1983. FZH, 16–3 A/2.1.–2. 112 Schreiben von Ulrich Gottstein an Till Bastian vom 6.7.1983. FZH, 16–3 A/2.1.–1.

Die ärztliche Friedensbewegung

Neben der vorhandenen Sorge gegenüber einer kommunistischen Vereinnahmung stellte Gottstein damit die Demonstration als Agitationsmittel grundsätzlich in Frage, war sie doch letztlich „unseriös“ und der Würde des eigenen Berufs kaum angemessen. Aufgrund derartiger Kritik sowie divergierender, interner Ansichten zu alternativen Protestformen überrascht es kaum, dass auch die bundesdeutsche Sektion der IPPNW letztlich derjenigen Aktionsform den Vorzug gab, welche grundlegender Teil der internationalen Gründungsgenese gewesen war (vgl. hierzu Kapitel 3.1.2) und die allenthalben als genuin ärztlich und damit angemessen verstanden wurde: Der medizinische Kongress. Die Beratungen wurden teils auf recht hohem intellektuellem Niveau geführt. Sie waren jedoch gelegentlich auch von realitätsfernem, missionarischem Eifer und mangelnder Pragmatik getragen.113

So lautete BÄK-Geschäftsführer Michael Popovićs Urteil über den 1984 in Helsinki stattfindenden 4. Kongress der internationalen IPPNW und gerade so dürften viele Kammerfunktionäre auch die jährlichen nationalen Kongresse deren westdeutscher Sektion bewertet haben. Als Prototyp diente der geschilderte Hamburger Kongress von 1981: Eine vorab festgelegte, regionale Ärzteinitiative traf unter einem emotionalen, aber berufsbezogenen Motto entsprechende Vorbereitungen. Neben verschiedenen Vorträgen wurden Arbeitsgruppen zu Schwerpunktthemen sowie Podiumsdiskussionen angesetzt, deren Resultate, meist gemeinsam mit einer Abschlusserklärung, Eingang in den im Anschluss herausgegebenen Tagungsbericht fanden. Zu den Referenten zählten neben Mitgliedern der nationalen und (seltener) internationalen IPPNW stets auch einige non-professionals aus den Reihen der allgemeinen Friedensbewegungen. Beim „2. Medizinischen Kongreß zur Verhinderung eines Atomkrieges“ mit dem Titel „Medizin und Atomkrieg – hilflos?“ waren dies beispielsweise der damalige, innerhalb der westdeutschen Friedensbewegungen sehr engagierte Friedensforscher (und späterer rechtsextremer „Befreiungsnationalist“) Alfred Mechtersheimer,114 der ehemalige Direktor des Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI) Frank Barnaby115 sowie der Theologieprofessor Friedrich-Wilhelm Marquardt, welcher zur „Legitimation von Verweigerung“ referierte und dabei – ebenso wie Ulrich Gottsteins Vortrag – auf die Erfahrungen

113 Michael Popović, Apokalyptische Vision: 4. Weltkongreß der Internationalen Ärzte zur Verhinderung eines Atomkrieges, Helsinki, in: Deutsches Ärzteblatt 42/1984, S. 3048–3049. 114 Vgl. Alfred Mechtersheimer, Europa als Kontinent des Friedens – Rüstungsverweigerung als Bestandteil der europäischen Friedenspolitik, in: Berliner Ärzteinitiative gegen Atomenergie (Hrsg.), Medizin und Atomkrieg – hilflos?: Ärzte warnen vor dem Atomkrieg. Berlin 1983, S. 13–21. 115 Vgl. Frank Barnaby, Die konventionellen Waffen anhand ihres heutigen Entwicklungsstandes, in: Berliner Ärzteinitiative gegen Atomenergie (Hrsg.), Medizin und Atomkrieg – hilflos?, S. 80–83.

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der NS-Zeit und Auschwitz verwies.116 Gottsteins Verwendung der „nicht von ungefähr“ kommenden Formel des „atomaren Holocaust“117 spiegelte sich im Tagungsband bereits in einem vorangestellten Gedicht Erich Frieds mit dem Titel „Kein zweites Mal“ wider: Dr. Mengele hat amtlich Menschen auf Tod und Leben gesichtet An der Rampe in Auschwitz schon. Und heute heißt es: deutsche Ärzte werden verpflichtet Nach einem Atomschlag wieder zur „Selektion“. Nein! Die Selektion von Auschwitz sollte uns lehren, wer das von Ärzten verlangt, ist ein Mörder, oder er irrt. Alle Ärzte und auch alle anderen müssen sich wehren, damit nicht ganz Europa zu Auschwitz wird.118

Die Gleichsetzung von katastrophenmedizinischer Triage – aus Sicht ihrer Befürworter schlicht die Behandlung von Patienten nach medizinisch indizierter Priorisierung – mit der Selektion der Konzentrationslager, mehr noch: der Katastrophenmediziner mit Mengele konnte das innerärztliche Verhältnis kaum unberührt lassen. Auch wenn sich etwa Gottstein in seinem Kongressbeitrag konsequent der Forschungsergebnisse und Tabellen Otfried Messerschmidts bediente und diesem ironisch dafür dankte, ebenfalls der Ansicht zu sein, dass ein Atomkrieg verhindert werden müsse:119 Aus historischer Perspektive sei abermals darauf hingewiesen, dass solche Kongresse mehr als der (Selbst-)Vergewisserung und Verbreitung der eigenen Identität dienende Kommunikationsereignisse bewertet werden müssen, keinesfalls jedoch als tatsächliche Dialogangebote, was sich auf späteren Kongressen tendenziell bestätigen sollte. An dem „4. Medizinischen Kongress zur Verhinderung eines Atomkrieges“, der 1984 in Tübingen stattfand, nahm neben BÄK-Vizepräsident Gustav Osterwald erstmals auch Präsident Karsten Vilmar teil. Dieser betonte gleich zu Beginn der angesetzten Podiumsdiskussion, dass er an den vorherigen Kongressen ausschließlich aus Termingründen verhindert gewesen

116 Vgl. Friedrich-Wilhelm Marquardt, Müssen Ärzte die Bevölkerung schonungslos aufklären?: Zum Problem der Legitimation von Verweigerung, in: Berliner Ärzteinitiative gegen Atomenergie (Hrsg.), Medizin und Atomkrieg – hilflos?, S. 32–40. 117 Ulrich Gottstein, Die medizinischen, hygienischen und psychologischen Folgen eines Atomkrieges – dargestellt an einem Szenario von Berlin, S. 58, in: Berliner Ärzteinitiative gegen Atomenergie (Hrsg.), Medizin und Atomkrieg – hilflos?, S. 47–58. 118 Erich Fried, Kein zweites Mal, in: Berliner Ärzteinitiative gegen Atomenergie (Hrsg.), Medizin und Atomkrieg – hilflos?, S. 5. 119 Gottstein, Die medizinischen, hygienischen und psychologischen Folgen eines Atomkrieges – dargestellt an einem Szenario von Berlin, S. 51.

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sei. Vilmars Auftritt wurde nicht nur vom Publikum applaudierend begrüßt;120 er wurde auch deutlich weniger als Kontrahent wahrgenommen als etwa der mit Pfiffen bedachte Osterwald, der ja gleichzeitig Vorsitzender des Ausschusses „Sanitätswesen in der Bundeswehr und Zivilschutz“ war.121 In der überregionalen Presse weit kolportiert wurde Vilmars Aussage, dass in einem Atomkrieg keine organisierte medizinische Hilfe möglich sei.122 Dies wurde von westdeutscher IPPNW-Seite zumindest als Respektbekundung verstanden, ebenso wie Vilmars und Osterwalds Bestätigung, dass es in keinem Fall eine Zwangsfortbildung in Katastrophenmedizin geben werde.123 Aus Perspektive der Funktionäre hatte Vilmar hingegen nur zusammengefasst, was stets die eigene Position gewesen war. Ausgehend von den erwähnten Ärztetagsentschließungen der 1950er Jahre (vgl. hierzu Kapitel 2.2.2) habe man seit jeher vor einem Atomkrieg gewarnt124 und sich zudem jeglicher Zwangsfortbildungsmaßnahmen strikt verwehrt (vgl. Kapitel 2.2.3).125 Die in der damaligen Berichterstattung zum Kongress vorherrschende Einschätzung einer partiellen Annäherung der Standpunkte126 entsprach demnach sicher einem von vielen Ärztinnen und Ärzten gehegten Wunsch, entpuppte sich letztlich aber als Trugschluss. Von der banalen Aussage abgesehen, dass ein Atomkrieg nichts Gutes sei, bestand in sämtlichen grundlegenden Punkten nach wie vor Dissens: Sowohl Vilmar als auch Osterwald beharrten auf der Relevanz der Katastrophenmedizin und verwendeten einen relativen anstatt einen absoluten Katastrophenbegriff.

120 Hermann Kater, Unser Eid auf das Leben verpflichtet uns – wozu?: Der Tübinger „Kongreß zur Verhütung eines Atomkrieges“, S. 1340, in: Deutsches Ärzteblatt 17/1984, S. 1337–1340. 121 Vgl. ebd., S. 1339 und Thomas Klingebiel, „Was können Ärzte gegen den Krieg tun?“: Zusammenfassung der Podiumsdiskussion, S. 279, in: Tübinger Ärzteinitiative gegen den Krieg (Hrsg.), Unser Eid auf das Leben verpflichtet zum Widerstand, S. 275–288. 122 Klingebiel, „Was können Ärzte gegen den Krieg tun?“, S. 277. Zur Presseberichterstattung vgl. z. B. Ärzte warnen vor dem Atomkrieg: Auch Präsident Vilmar sieht im Ernstfall keine Überlebenschance, in: Süddeutsche Zeitung, 2.3.1984; Ärztekammer-Präsident Vilmar ist mit Medizinerinitiativen überraschend einig: Bei einem Atomkrieg würde die ärztliche Kunst versagen, in: Westfälische Rundschau, 2.4.1984; Peter Henkel, Auch der Ärztechef wetterte gegen den Atomkrieg, in: Frankfurter Rundschau, 2.4.1984 sowie viele weitere Berichte zum Kongress, vorliegend in einer Pressemappe der Bundesärztekammer. BArch, B 417/1811. 123 Schreiben von Till Bastian an Karsten Vilmar vom 19.4.1984. FZH, 16–3 A/2.1.–2. 124 Klingebiel, „Was können Ärzte gegen den Krieg tun?“, S. 276 f. 125 Ebd., S. 281. 126 Vgl. Kater, Unser Eid auf das Leben verpflichtet uns – wozu?, S. 1340 oder Feindbilder in der Ärzteschaft, in: Süddeutsche Zeitung, 2.4.1984. BArch, B 417/1811. Es gab hingegen auch abweichende Analysen. Die Tageszeitung beispielsweise bescheinigte Vilmar, sich „taktisch aus der Affäre zu ziehen“ und bewertete Osterwalds Aussagen als typischen Sprachduktus eines „Kalten Kriegers“, siehe: „Partisanen der Humanität“: 4. Medizinischer Kongreß der Ärzte gegen den Atomkrieg in Tübingen, in: Die Tageszeitung, 2.4.1984. BArch, B 417/1811.

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Osterwald definierte das Katastrophische als jegliches Ereignis, in dem die Hilfsmöglichkeit die Hilfsbedürftigkeit übersteige127 und betonte: Diese Triage, diese Auswahl ist schon notwendig, wenn Sie nachts als Arzt zu einem Verkehrsunfall gerufen werden und da liegen vier Schwerverletzte auf der Straße. Dann müssen Sie schon Behandlungsprioritäten setzen, weil Ihnen sonst der stirbt, der nicht sterben muß.128

Darüber hinaus beharrte er darauf, dass auch im Falle eines begrenzten Atomkriegs die Ärzteschaft in Randzonen „kleinerer“ Detonationen verpflichtet sei, so gut zu helfen wie irgend möglich.129 Die IPPNW-Ärztin Edith Schieferstein warf der Bundesärztekammer mangelnde Rückendeckung vor, wenn „friedensbewegten“ Ärztinnen und Ärzten öffentlich ihr „Arzttum“ abgesprochen werde.130 Andererseits hatte der Veranstalter des Tübinger Kongresses selbst, die Südwestdeutsche Ärzteinitiative gegen den Krieg, Sanitätsinspekteur Hansjoachim Linde mit durchaus polemischen Worten eingeladen: Wir möchten aber auch Sie, als einen exponierten Vertreter derjenigen Ärzte in diese Diskussion einbeziehen, die durch ihre Berufswahl der Überzeugung Ausdruck verleihen, daß Kriegsmedizin mit der ärztlichen Ethik in Einklang steht.131

Nicht nur in Bezug auf die Definition des Katastrophischen, sondern hinsichtlich des dominanten Ärzteideals – zwischen Arztsoldat und Friedensaktivist – lagen die innerärztlichen Ansichten Mitte der 1980er Jahre weit auseinander, was sich auch in einer Fülle rhetorisch scharfer, um Konsensfindung kaum bemühender Leserbriefe beider Seiten bezüglich des Tübinger Kongresses im Deutschen Ärzteblatt abzeichnete.132 Die bundesdeutsche IPPNW bzw. die ihr nahestehenden Initiativen vertraten im Verhältnis zur offiziellen Kammerpolitik demnach in der

127 128 129 130 131

Klingebiel, „Was können Ärzte gegen den Krieg tun?“, S. 284. Ebd., S. 280. Ebd., S. 286. Ebd., S. 282. Norbert Jachertz, Verlegener Kriegsgegner, in Deutsches Ärzteblatt 11/1984, S. 776. Linde wurde nach seiner Zusage wieder ausgeladen, was eine süffisante Kommentierung im Deutschen Ärzteblatt nach sich zog, siehe: Norbert Jachertz, Sie liebt mich, sie liebt mich nicht, sie liebt mich doch, in: Deutsches Ärzteblatt 13/1984, S. 957. Eine detailliertere Schilderung der Ein- bzw. Ausladequerelen am Rande der Kongresse muss an dieser Stelle unterbleiben; in Bezug auf den Tübinger Kongress vgl. Kemper, Medizin gegen den Kalten Krieg, S. 236. 132 Vgl. die Vielzahl entsprechender Leserbriefe in: Deutsches Ärzteblatt 25-26/1984, S. 1977–1982, Deutsches Ärzteblatt 27/1984, S. 2072 und Deutsches Ärzteblatt 28-29/1984, S. 2152.

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Tat die oppositionelle Rolle einer Minderheit – allerdings einer keineswegs zu vernachlässigenden Minderheit, deren exakte Größenordnung wie bei den meisten (Friedens-)Bewegungen schwer bestimmbar blieb. 3.1.4 Friedensaktivisten, Katastrophenmediziner und Kammern Die Teilnahme an einer auf dem „2. Medizinischen Kongreß zur Verhinderung eines Atomkrieges“ angesetzten Podiumsdiskussion hatte BÄK-Präsident Vilmar abgesagt. Die Verteidigung der Katastrophenmedizin gegenüber der IPPNW-Mehrheit von Ulrich Gottstein, Helmut Koch, Kurt Sroka und Niels Perksen (Leiter der Psychiatrischen Klinik in Häcklingen) übernahm stattdessen der Tübinger Chirurg Bernd Domres. Dieser war ein Schüler des Verbrennungsspezialisten Leo Koslowski gewesen und ist für seine etwa 50 Hilfseinsätze im Ausland – u. a. im kambodschanischen Bürgerkrieg – mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet worden.133 Als 1938 geborener Arzt war Domres (im Gegensatz etwa zum 1921 geborenen Koslowski) ein Hauptvertreter der zweiten Generation deutscher Katastrophenmediziner ohne soldatische Weltkriegserfahrung. Während der Diskussion verwies er auf internationale Einsätze im Rahmen humanitärer Hilfe bei konventionellen Kriegen und Erdbeben, welche die katastrophenmedizinische Triage erfordert hätten, wobei die als erstes Behandelten stets lebensbedrohlich Verletzte gewesen seien „mit der Einschränkung, daß wir uns therapeutisch um sie kümmern, wenn sie eine Chance haben“.134 Helmut Koch wiederum beharrte darauf, dass die Triage ein „Euthanasieprinzip“ sei, bei dem der Arzt zwischen lebenswertem und lebensunwertem Leben entscheide und das dem Erhalt der „Kriegsfähigkeit“ dienen solle.135 Domres hielt dem entgegen: Sicherlich ist die Triage ein Kriterium der Kriegsmedizin. Aber auf die Triage können wir nicht verzichten im alltäglichen Leben und auch nicht bei zivilen Katastrophen. […] Wenn wir Mediziner nicht in der Lage sind, aufgrund rein medizinischer Kriterien einen Ablauf unserer Verfahrensweisen in der Diagnostik und Therapie und des Transports zu treffen, dann passiert das, was Sie verhindern wollen, nämlich daß Andere – Fachfremde – uns vorschreiben, wie der Ablauf in der Behandlung und in der Priorität abläuft.136

133 Allein für die medizinische Hilfsorganisation humedica e. V. absolvierte Domres elf Einsätze u.a. in Haiti, in Pakistan und im Kongo, siehe: https://www.humedica.org/berichte/2012/prof-dr-drbernd-domres-erhaelt-bundesverdienstkreuz/index_ger.html (aufgerufen am 26.1.2019). 134 Ist die gegenwärtig betriebene katastrophenmedizinische Fortbildung sinnvoll und ärztlich vertretbar? (Podiumsdiskussion), S. 124, in: Berliner Ärzteinitiative gegen Atomenergie (Hrsg.), Medizin und Atomkrieg – hilflos?, S. 114–133. 135 Ebd., S. 122. 136 Ebd., S. 123.

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Mit dem Verweis darauf, dass nur das Erlernen der Triage deren etwaige Anwendung nach nicht-medizinischen Kriterien verhindern könne, verknüpfte Domres den Appell, allen Ärztinnen und Ärzten die Gelegenheit einzuräumen, zur Prävention des Atomkriegs beizutragen, indem man auf eine überzogene Generalkritik an der Katastrophenmedizin verzichte. Koch erwiderte, dass man dafür den Begriff insgesamt abschaffen solle: Statt von der umstrittenen Katastrophenmedizin, unter der man gemäß der in Kapitel 1.3 dargelegten Offenheit des Katastrophenbegriffs alles Mögliche und Unmögliche verstehen mochte, solle man zwischen Notfall- und Kriegsmedizin unterscheiden, da in dem von Naturkatastrophen gemeinhin wenig betroffenen Deutschland nur diese Begriffe relevant sein könnten. Domres’ Verweis darauf, dass dies bereits in Italien völlig anders aussehe, verpuffte demgegenüber; in der Bundesrepublik Deutschland verstanden gerade die Friedensbewegungen der beginnenden 1980er Jahre unter „Katastrophe“ zumeist Krieg. Der Konflikt um die ärztliche Grundvorstellung des Katastrophischen ist bereits gegen Ende des Kapitels 3.1.2 angerissen worden. Die Relativität und Offenheit, die stark abweichende Verwendungspraxis zwischen Alltag und apokalyptischem worst case sowie der mehr auf den Handlungsdruck des Ist-Zustands als auf die Genese verweisende Charakter des Katastrophenbegriffs wurden dabei auch in den zeitgenössischen Quellen der Ärzteschaft zu Sinn und Unsinn der Katastrophenmedizin teils explizit thematisiert (vgl. hierzu auch Kapitel 1.3).137 Selbst zu einer Zeit, in der entsprechende Diskussionen oft von Polemik geprägt waren, existierten Zwischentöne, welche sich der leichten Verortung im politischen Spektrum entzogen. Der erwähnte journalistisch tätige Arzt Hermann Kater beispielsweise hatte zur ersten Generation westdeutscher Kernkraftkritiker gezählt und war mit der Bundesärztekammer aufgrund deren früher Arbeitskreise zur Atomenergie (vgl. Kapitel 2.2.4) in heftige Konflikte geraten. Der westdeutschen IPPNW stand er wohlwollend gegenüber, auch wenn er aus Gründen seiner „politischen und journalistischen Unabhängigkeit“ selbst keiner Initiative angehörte. Gleichwohl übte Kater deutliche Kritik an mancher Argumentation „friedensbewegter“ Ärztinnen und Ärzte und verwies dabei in einem Schreiben an Vilmar – kaum mehr überraschend – auf seine Kriegserfahrungen: Die IPPNW sollte mit der Behauptung aufhören, daß Triage zugleich Euthanasie sei. Als Chef einer Sanitätskompanie in den beiden letzten Jahren des Rußland-Feldzuges habe ich dieses Geschäft täglich betrieben. Wir Ärzte haben überhaupt keinen Begriff

137 Vgl. etwa Helmut Piechowiak, Notfallmedizin und Katastrophenvorsorge: Kritische Anmerkungen zur Diskussion um die Ethik der Katastrophenmedizin, in: Deutsches Ärzteblatt 5/1983, S. 56–60.

Die ärztliche Friedensbewegung

dafür verwandt und nur ärztlich gehandelt. Es gab auch gar keinen [sic] schriftlichen Anweisungen.138

Aus journalistischem Interesse hatte Kater zuvor bei dem Wienerischen Internisten und Friedensaktivisten Friedrich Kummer nachgefragt, warum das Verhältnis der dortigen IPPNW-Sektion und der offiziellen Standesvertretung so viel besser sei als in der Bundesrepublik. Dieser schrieb in seiner Antwort: Tatsache ist, daß sich unsere Vereinigung tatkräftiger Unterstützung durch die „Österreichische Ärztezeitung“ (offizielles Organ der Ärztekammer) und durch das Bundesministerium für Gesundheit und Umweltschutz erfreut. […] Ich entnehme Ihren Beilagen, daß in der Bundesrepublik „Katastrophenmedizin“ und „Kriegsmedizin“ prinzipiell in einen Topf geworfen werden. Dies wollen wir in unserem Lande mit allen Mitteln verhindern. Wir sind der Ansicht, daß eine zivile Katastrophenmedizin oder eine Notfallmedizin im Rahmen des „großen Unfalls“ tatsächlich in weiten Kreisen der Ärzteschaft völlig unbekannt ist und auf diesem Gebiet ein großer Nachholbedarf besteht (Massenkarambolagen, Gasexplosionen, Hotelbrände, Massenanfall von Ertrunkenen, bis zum zivilen Strahlenunfall). Andeutungsweise wird hier auch über „Triage“ als höchst individuelle, äußerst verantwortungsvolle, den Einzelnen [sic] Arzt sehr belastende Form der Sofortentscheidung zu sprechen sein. Die Vereinigung „Österreichischer Ärzte gegen den Atomkrieg“ trennt davon aber strikt alle jene Aktivitäten ab, die den Ärzten einreden wollen, es gebe im Falle eines nuklearen Krieges irgendeine Möglichkeit der fruchtbaren ärztlichen Betätigung. So wie dies auch in Ihren Schriften immer wieder anklingt, versuchen wir die Auffassung zu verbreiten, daß die Bemühungen zum nuklearen Zivilschutz einen Atomkrieg denkbar und damit führbar, wenn nicht sogar gewinnbar erscheinen lassen.139

Einerseits schien also die Vermischung der Begrifflichkeiten – bzw. eine spezifisch deutsche Auslegung des Katastrophenbegriffs – ein zentrales Problem gerade der hiesigen Debatte gewesen zu sein. Andererseits widersprach das gegen Ende der 1960er Jahre eingeführte, vielfach als besonders fortschrittlich gepriesene und insbesondere von der SPD propagierte All-hazards-Prinzip des zum Erweiterten Katastrophenschutz umgestalteten Zivilschutzes (vgl. hierzu Kapitel 1.4) der von Kummer als wesentlich erachteten Unterscheidung zwischen der Vorbereitung auf Friedenskatastrophen und einen vorstellbaren Krieg. So wie die bundesdeutsche IPPNW stets die klare Trennung zwischen Notfall- und „Kriegsmedizin“ forderte,

138 Schreiben von Hermann Kater an Karsten Vilmar vom 28.8.1983. BArch, B 417/146 (beide). 139 Schreiben von Friedrich Kummer an Hermann Kater vom 2.8.1983. BArch, B 417/146.

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bekannten sich die Ärztekammern und sämtliche Hilfsorganisationen zu all hazards; Präsident Vilmar z. B. bekräftigte 1981 gegenüber der Berliner Tageszeitung, dass die Katastrophenmedizin keinesfalls allein für einen Atomkrieg, sondern „für Katastrophen aller Art“140 gedacht sei. Zumal auf der fachlichen Ebene stellte sich die Frage, wie überhaupt die Grenze zu ziehen sei bzw. wie man verhindern konnte, dass eine Fortbildungsveranstaltung etwa für einen Kernkraftwerksunfall indirekt auch für den Atomkrieg Kenntnisse vermitteln musste. Aufgrund solcher Bezüge betrachtete die westdeutsche IPPNW selbst zivil ausgerichtete katastrophenmedizinische Veranstaltungen als klandestine Maßnahmen zur Militarisierung des Gesundheitssystems, wobei die entgegengesetzte Möglichkeit – dass die Wehr- und Katastrophenmedizin durch den verstärkten Kontakt mit Zivilisten ziviler bzw. im Sinne Martin Diebels „katastrophisiert“ werden könne (vgl. hierzu Kapitel 1.4) – praktisch nie thematisiert wurde. Zu groß war wohl das Misstrauen gegenüber dem Militärischen und seinen Vertretern, d. h. auch den Sanitätsoffizieren. Ulrich Gottstein schrieb in diesem Zusammenhang beispielsweise: Militär und Militärärzte unterscheiden sich nicht signifikant in freiheitlich-westlichen Demokratien und in sozialistischen Staaten. So ist die Realität. Aufpassen müssen wir nur, daß Kollegen, die berufsmäßig in diesen Denkschablonen erzogen wurden, nicht entscheidende Führungspositionen in den Verwaltungsgremien und Entscheidungspositionen der Ärzteschaften bekommen. Ich kenne viele Militärärzte und Kollegen, die früher Berufsoffiziere und bis vor kurzem Militärärzte waren, und ihre Denkweise unterscheidet sich doch erheblich in vieler Hinsicht von der unseren. Das ist ganz verständlich, und mit um so größerer Verantwortung müssen wir, die wir sowohl im letzten Krieg mitmachen mußten als auch heute Verantwortung tragen, zur Vernunft raten.141

Gerade die Präsenz der Sanitätsoffiziere in den Ärztekammern blieb den IPPNWMitgliedern befremdlich. Diese Haltung markierte nicht nur einen signifikanten Bruch eines Gründungskonsenses der westdeutschen Ärzteschaft, deren frühe Funktionäre die Wiedereingliederung der Arztsoldaten in die Gesamtärzteschaft bewusst gefördert hatten, um deren abermalige Abspaltung zu vermeiden (vgl. Kapitel 2.1.1). Darüber hinaus offenbarte sich in solchen Aussagen auch eine generelle Skepsis gegenüber der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Institutionen, denen eine abermalige Regression in Richtung Totalitarismus durchaus zugetraut wurde. Manche Katastrophenmediziner vermuteten darin hingegen keinen berechtigten

140 Katastrophenvorsorge – Dr. Vilmar zur Einstellung der Bundesärztekammer: Interview der Zeitung „Die Tageszeitung“ (taz), Berlin, mit dem Präsidenten der Bundesärztekammer, S. 2112, auch veröffentlicht in: Deutsches Ärzteblatt 45/1981, S. 2112–2113. 141 Schreiben von Ulrich Gottstein an Michael Popović vom 20.1.1986. BArch, B 417/1946.

Die ärztliche Friedensbewegung

Wunsch nach auszuweitenden Kontrollmöglichkeiten, sondern mehr oder minder offene Systemfeindschaft. So äußerte sich beispielsweise der Mainzer Anästhesiologe Rudolf Frey in Bezugnahme auf einen in der Zeit erschienenen Artikel Hartmut Hanauske-Abels und Gustav Obermairs, „Zivilisten haben keine Chance“, in einem Schreiben an Ernst Rebentisch: Der obige Artikel stammt von einem als „rot“ bekannten Assistenten der ebenfalls als „rot“ bekannten Universitäts-Kinderklinik Mainz. Es handelt sich um eine massive, ehrenrührige Diffamierung der Forschungsrichtung Katastrophenmedizin: Wir werden geradezu als „Kriegsverbrecher“ eingestuft, weil wir es wagen, uns aus humanitären Gründen Gedanken zu machen, wie bei Katastrophen möglichst viele Menschenleben gerettet werden können. Es waren dieselben kommunistischen „Desinformanten“, die nach den Erdbeben-Katastrophen in Italien und Algerien in abfälligem Ton den „Kapitalismus“ und die „Dekadenz der westlichen Welt“ dafür verantwortlich machten, daß keine katastrophenmedizinischen Vorbereitungen getroffen waren. Aus meiner Sicht handelte es sich mit Sicherheit um bezahlte Agenten des „Desinformationsstabes“ des kommunistischen Geheimdienstes: typisch ist, daß die großartigen katastrophenmedizinischen Forschungen in kommunistischen Ländern totgeschwiegen werden. […] Wenn wir diese infamen Rufmordversuche an den humanitären Aufgaben und Bemühungen der Katastrophenmedizin unbeantwortet im Raum stehen lassen, können wir uns begraben lassen: ich würde es als Feigheit vor dem Feind empfinden, wenn wir nicht massiv zurückschlagen.142

Der Brief des bereits 1917 geborenen, wenige Monate nach o.a. Schreiben verstorbenen Katastrophenmediziners Frey erscheint insbesondere aus zwei Gründen denkwürdig: einerseits aufgrund der auch unter Katastrophenmedizinern eher seltenen antikommunistischen Rhetorik, welche die „friedensbewegten“ Ärztinnen und Ärzte als bezahlte Agenten des Feindes einstufte, andererseits aber aufgrund des demonstrierten Entsetzens darüber, dass man mit der Katastrophenmedizin ausgerechnet die humanste Form der Medizin angriff, welche sich im Gegensatz zum bequemen ärztlichen Alltag tatsächlich ganz dem Erhalt des nackten Überlebens verschrieben hatte. Ähnlich wie die Aussagen Bernd Domres’ auf dem „2. Medizinischen Kongress zur Verhinderung eines Atomkrieges“ erinnerte der Verweis auf Italien und Algerien daran, dass nicht-kriegerische Katastrophen durchaus vorkamen, wenn auch nicht vor der eigenen Haustür. Zumindest die westdeutsche IPPNW-Sektion wirkte hinsichtlich dieses Aspekts gelegentlich provinziell, trotz

142 Schreiben von Rudolf Frey an Ernst Rebentisch vom 6.10.1981, Betr.: Artikel in „Die Zeit“ Nr. 39 vom 18. September 1981, Seite 56, „Keine Chance für Zivilisten“. BArch, B 417/865.

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anderweitig demonstrierter Internationalität. Als Edgar Ungeheuer, Chirurgieprofessor und damaliger Präsident der Deutschen Gesellschaft für Katastrophenmedizin – hierzu mehr in Kapitel 3.2.1 – im Deutschen Ärzteblatt die Chemiekatastrophe im indischen Bhopal als Warnung vor dem Katastrophenpotenzial der Industrie sowie als Mahnung zur Verbesserung auch der bundesdeutschen katastrophenmedizinischen Fortbildung darstellte,143 lehnten dies in einer späteren Ausgabe mehrere IPPNW-Mitglieder in Leserzuschriften mit dem Hinweis ab, dass Indien als Entwicklungsland mit der Bundesrepublik Deutschland in Bezug auf industrielle Sicherheitsstandards und Katastrophenschutz nicht vergleichbar sei. Auch wenn dies stimmen mochte: Dass auch in der Bundesrepublik große Unfälle vorstellbar blieben, wurde ebenso wenig beachtet wie die etwaige Relevanz einer Spezialausbildung zur Nothilfe im benachbarten Ausland (also z. B. in Italien). Im Gegensatz zur scharfen Rhetorik Freys stand Ernst Rebentisch – ebenso wie Domres – den Bemühungen der bundesdeutschen IPPNW zumindest zu Beginn keineswegs gänzlich ablehnend gegenüber. In verschiedenen Schreiben äußerte er sich positiv zur Friedensbewegung, nannte sie „eine durchaus respektable Macht“144 und meinte, ihr fortwährender Appell an die verantwortlichen Politiker habe „viel Gutes gebracht“.145 Andererseits war Rebentisch All-hazards-Vertreter der ersten Stunde und befürwortete exakt das, was den IPPNW-Vertretern ein Dorn im Auge war: die Förderung eines verbesserten Katastrophenschutzes im Frieden, welcher bis zum Fall eines „begrenzten“ Atomkriegs nutzbar sein solle. Rebentisch vertrat (intern) frühzeitig die Position, dass sich die offiziellen Kammervertreter überhaupt nicht mehr zu Krieg, „Kriegsmedizin“ usw. äußern, sondern stattdessen konsequent von Katastrophenschutz sprechen sollten, „um die ganze Problematik möglichst unangreifbar bzw. unangegriffen über die Runden zu bringen“.146 Gegenüber Deneke bestätigte er, dass es „von einem funktionsfähigen Gerüst eines Katastrophenschutzes […] mühelos möglich sein [würde], die so geschaffenen Grundlagen auch in einem Kriege zur Hilfe für Betroffene zu nutzen“,147 und auch in Richtung der BÄKGeschäftsführung brachte er diese Ansicht unmissverständlich zum Ausdruck: Sie wissen, ich bin noch nie feig gewesen und liebe auch die streitbare Auseinandersetzung, aber ich vermisse [auf Seite der Kammerfunktionäre] jedes Gefühl für Diplomatie. Das Eine erreichen zu wollen, schließt doch nicht die Benutzung eines anderen Weges aus! […] Denken Sie doch bitte mal an Rheinland-Pfalz, dessen [Landeskatastrophenschutz-]

143 144 145 146 147

Edgar Ungeheuer, Die Lehren aus Bhopal, in Deutsches Ärzteblatt 1-2/1985, S. 1. Schreiben von Ernst Rebentisch an Peter Hauber vom 8.1.1985. BArch, B 417/1808. Schreiben von Ernst Rebentisch an Ulrich Gottstein vom 17.2.1985. BArch, B 417/156. Schreiben von Ernst Rebentisch an Heinz-Peter Brauer vom 8.2.1982. BArch, B 417/154. Schreiben von Ernst Rebentisch an J. F. Volrad Deneke vom 18.12.1983. BArch, B 417/1808.

Die ärztliche Friedensbewegung

Gesetz für den Frieden gemacht ist. Aber jedermann ist sich doch im Klaren darüber, daß die damit getroffenen Regeln auch im V-Fall volle Gültigkeit behalten. Aus meiner Zeit als Inspekteur kann ich doch ein Lied singen, welche Schwierigkeiten es macht, gegenüber Parlamentariern von Kriegsvorbereitungen zu sprechen und sie gar zum Mitziehen zu bewegen. Ich mußte ja erst diese Erfahrungen machen, ehe ich auf die Idee kam, den Frieden und seine möglichen Katastrophen zu nutzen.148

Das frühe und konsequente Beharren Rebentischs, etwa beim Entwurf des GesSG von 1980 – vor der Gründung der IPPNW also – den Begriff „Katastrophenschutz“ gegenüber „Verteidigungsfall“ zu priorisieren, bedeutet demnach nicht, dass dieser ausschließlich den „friedlichen“ Ernstfall im Sinn hatte (vgl. hierzu Kapitel 2.2.3). Der zivile Katastrophenschutz war ihm kein inhaltsleerer Vorwand, wie viele IPPNW-Mitglieder es vermuteten. Er betonte sogar, dass in einem Atomkrieg keinerlei eigentliche Katastrophenmedizin – welche insbesondere auf Organisation und Logistik basiere – mehr praktiziert werden könne, sondern sich jede ärztliche Hilfeleistung dann auf einfachste Maßnahmen beschränken müsse. Dass aber für Rebentisch die Vorbereitungen auf zivile Katastrophen und Krieg nicht sinnvoll zu trennen waren und dass es daher schon aus diplomatischen Gründen klug schien, sich ganz auf den Katastrophenschutz zu konzentrieren, ist offensichtlich. Rebentisch zeigte sich dementsprechend frustriert nicht nur über eine CDU/CSU-Linie, welche zu Beginn der 1980er Jahre den Zivilschutz wieder bewusst kriegsbezogener zu inszenieren suchte, sondern auch über innerhalb der „eigenen Reihen“, d. h. der Katastrophenmediziner, fortbestehende begriffliche Unklarheiten. Der IPPNW bot man aus Rebentischs Sicht viel zu oft eine ergiebige Angriffsfläche,149 welche seiner Ansicht nach durch die strikte Konzentration auf den Katastrophenschutz leicht zu vermeiden wäre. In mancherlei Hinsicht mag man Rebentischs Einstellung mit derjenigen Gottsteins vergleichen, schien er doch lange Zeit daran geglaubt zu haben, dass mit einzelnen westdeutschen IPPNW-Mitgliedern durchaus Konsens zu erzielen sei, insbesondere weil diese stets ihre grundsätzliche Bereitschaft betonten, in jedem vorstellbaren Ernstfall bis hin zum Krieg helfen zu wollen.150 In späterer Korrespondenz überwog hingegen eine zusehends negativere Einschätzung zumindest der bundesdeutschen Sektion, die mit einem „Netz vorgefertigter Fragen und Phrasen“ operiere und jede sachliche Diskussion bewusst verunmögliche.151

148 Schreiben von Ernst Rebentisch an Heinz-Peter Brauer vom 8.2.1982. BArch, B 417/154. 149 Vgl. beispielsweise ein Schreiben Helmut Kochs, in welchem dieser Zitate verschiedener Katastrophenmediziner – einschließlich ältere Aussagen Rebentischs – mit klarem Kriegsbezug anführte: Schreiben von Helmut Koch an W. Müller-Osten vom 23.2.1984. BArch, B 417/1808. 150 Vgl. Schreiben von Ernst Rebentisch an Erwin Odenbach vom 2.2.1983. BArch, B 417/153. 151 Schreiben von Ernst Rebentisch an Edgar Ungeheuer vom 26.10.1985. BArch, B 417/1880.

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Gerade die schon von Frey vorgebrachte Enttäuschung darüber, als „Kriegstreiber“ dargestellt zu werden, rückte immer stärker in den Vordergrund, wobei auch Rebentisch auf Verweise zur Vergangenheit nicht verzichtete: Jeder Mitmensch und vor allem jeder Arzt will mit allen Mitteln verhindern, daß es jemals zum Atomkrieg kommt. Wir haben Schreckliches genug erlebt, daß wir darüber hinaus jeden Krieg verhindern wollen. Dies lasse ich mir nicht nehmen.152

Die anfänglich geäußerten Respektbekundungen wichen schließlich der allseits beliebten Taktik, dem jeweiligen Kontrahenten das Arzt-Sein abzusprechen und ihn als Gegner der Demokratie zu betrachten. So äußerte sich Rebentisch beispielsweise zu einer gemeinsam mit dem IPPNW-Mitglied Karl Bonhoeffer durchgeführten Diskussionsrunde des (Fernseh-)Senders Freies Berlin folgendermaßen: Eine ganz dumme Frage zum Schluß, auf die sich jeder von uns einstellen muß, ist: „Was haben Sie nun für den Frieden getan?“. Die Antwort, daß ich mich durch Einordnung in die vom Grundgesetz vorgegebene Situation um Frieden bemühe und der von uns frei gewählten Regierung vertraue, löste höhnisches Lachen aus. Ich hoffe nur, daß möglichst viele Fernsehzuschauer das mitbekommen haben.153

Das viele IPPNW-Mitglieder antreibende Misstrauen gegenüber Staat und Regierung, welches sich hier einmal mehr widerspiegelt, teilte Rebentisch zwar in Bezug auf die Thematisierung „unbequemer Wahrheiten“ oder die Verabschiedung eines Gesundheitssicherstellungsgesetzes, nicht aber hinsichtlich des grundsätzlichen Agierens im Koordinatensystem des Kalten Krieges. Trotz eines sich während der frühen 1980er Jahre verschlechternden Verhältnisses zwischen bundesdeutscher IPPNW-Sektion und führenden Katastrophenmedizinern bedeutet dies keinesfalls, dass Letztere sich mit den Funktionären der Ärztekammern oder gar dem Handeln der Bundesregierung stets einverstanden zeigten. Als gutes Beispiel für die Komplexität der Konfliktlinien mag die innerärztliche Kontroverse bezüglich des Umgangs mit einer WHO-Studie namens Effects of Nuclear War on Health and Health Services dienen, welche zwar erst im Jahr 1984

152 Ernst Rebentisch, Schlußwort zu der Arbeit „Aktuelle Fragen der Katastrophenmedizin“ und der Stellungnahme von Dr. med. Koch, Internist, vom 23.2.1984. BArch, B 417/1808. 153 Schreiben von Ernst Rebentisch an Edgar Ungeheuer vom 26.10.1985. BArch, B 417/1880.

Die ärztliche Friedensbewegung

veröffentlicht wurde,154 inoffiziell aber bereits im März 1983 vorlag.155 Diese stellte die Reaktion der Weltgesundheitsorganisation auf eine zuvor angenommene Resolution zur Rolle der Ärzteschaft für den Erhalt des Friedens dar und bestätigte schon im abstract, dass kein Gesundheitswesen tatsächlich effektive Hilfe während eines Atomkriegs bereitstellen könne und die unbedingte Empfehlung der Kommission daher die Prävention eines solchen Krieges sei. Sowohl der internationale Dachverband als auch die westdeutsche Sektion der IPPNW verwiesen zur Unterstützung ihrer eigenen Ansichten während der nächsten Jahre wiederholt auf die unter Mithilfe angesehener Physiker, Chemiker und Ärzte betont nüchtern verfasste Studie. Hansjoachim Linde hingegen schickte als Inspekteur des Sanitätswesens am 23. Mai 1984 eine gemeinsame Stellungnahme von BMVg, BMI, BMJFG sowie dem Auswärtigen Amt an den geschäftsführenden Arzt der Bundesärztekammer Michael Popović, in welcher die Arbeit als „unzulässige Ausweitung“ der Kompetenz der WHO bezeichnet und davon abgeraten wurde, sie „der breiten Öffentlichkeit zuzuführen“.156 In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass vielen westlichen Regierungen die Ächtung allein des Atomkriegs suspekt erschien, entsprach sie doch der kommunistischen Taktik, die atomare Rüstung des Westens zu kritisieren, ohne gleichzeitig auf die mutmaßliche sowjetische Überlegenheit in Bezug auf konventionelle Waffensysteme hinzuweisen. Der Ausschuss „Sanitätswesen in der Bundeswehr und Zivilschutz“ unter Leitung von BÄK-Vizepräsident Osterwald hingegen befürwortete auf seiner Sitzung vom 15. August 1984 zumindest eine partielle Veröffentlichung der Studie durch die Bundesärztekammer, versehen mit dem Hinweis, dass man stets „die Entwicklung und Anwendung derartiger Waffen“ kritisiert habe, ohne von dem Standpunkt abzurücken, dass alle Ärztinnen und Ärzte dazu verpflichtet seien, in jeder Schadenslage so gut zu helfen wie möglich.157 In mehreren Briefen mit der BÄK-Geschäftsführung wurde Ernst Rebentisch – der ebenso wie Linde Mitglied des Ausschusses war – deutlich drastischer. Gegenüber Popović merkte er an, dass sich die IPPNW sehr darüber freuen würde, Lindes

154 World Health Organization (Hrsg.), Effects of Nuclear War on Health and Health Services: Report of the International Committee of Experts in Medical Sciences and Public Health to implement resolution WHA32.38. Genf 1984. In deutscher Sprache erschienen unter: Weltgesundheitsorganisation (Hrsg.), Auswirkungen eines Atomkriegs auf die Gesundheit und das Gesundheitswesen: Bericht des Internationalen Fachausschusses Medizin und Gesundheitswesen zur Verwirklichung der Resolution WHA34.35. Kopenhagen 1984. Die zweite Auflage der Studie aus dem Jahr 1987 kann online eingesehen werden unter: http://apps.who.int/iris/handle/10665/39199 (aufgerufen am 26.1.2019). 155 Vgl. Schreiben von Otfried Messerschmidt an Erwin Odenbach vom 3.8.1983. BArch, B 417/854. 156 Schreiben von Hansjoachim Linde an Michael Popović vom 23.5.1984, Betr.: WHO-Studie „Effects of Nuclear War on Health and Health Services“. BArch, B 417/1871. 157 Ergebnisniederschrift über die 1. und konstituierende Sitzung (Wahlperiode 1983/87) der Ständigen Konferenz „Sanitätswesen in der Bundeswehr und Zivilschutz“ am 15. August 1984 im Hause der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Köln, S. 9. BArch, B 417/155.

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Schreiben in die Hände zu bekommen, da sich daraus propagandistisch einiges machen ließe, „auch wenn man kein Goebbels ist“,158 und an anderer Stelle bezeichnete er die Absicht einer Unterdrückung der WHO-Studie seitens der offiziellen Stellen als feige und dumm.159 Er unterstrich die Qualität der beteiligten Wissenschaftler, plädierte vehement dafür, die „sehr eindrucksvolle“ Darstellung ungekürzt, etwa als Fortsetzungsreihe, zu veröffentlichen anstatt sie lediglich zu kommentieren160 – und stellte sich damit bewusst gegen die Absicht nicht nur der Ministerien, sondern auch seines eigenen Nachfolgers als Sanitätsinspekteur. Was Rebentisch an der Studie schätzte, war dasselbe, was Karsten Vilmar sich im Nachgang zum Hamburger „Medizinischen Kongress zur Verhinderung des Atomkriegs“ 1981 erhofft hatte: Die Verknüpfung der Warnung vor dem Krieg mit einer dennoch durchzuführenden Vorbereitung auf sämtliche Eventualitäten. Rebentisch betonte, dass die WHO sich im Gegensatz zur westdeutschen IPPNW-Sektion tatsächlich auf wissenschaftlich belastbare Aussagen beschränke, auf spekulative Elemente verzichte und sich politischer Empfehlungen, wie der Friede denn nun konkret zu bewahren sei, konsequent enthalte.161 Auch andere Katastrophenmediziner äußerten sich positiv zu der von ministerieller Seite gerügten Untersuchung. Otfried Messerschmidt beispielsweise brachte seine Ansicht nüchtern auf den Punkt: Die in dem WHO-Bericht genannten Tabellen und Graphiken sind mir zumeist bekannt und als realistisch anzusehen. Die angezogene Literatur ist zum großen Teil „seriös“ und es besteht kein Anhalt für „politisch-emotionelle“ Unwahrheiten. Die Verlustabschätzungen zu bestreiten besteht kein Anlaß und es gibt auch keine Untersuchungen, die diese widerlegen könnten. Das wäre meine Stellungnahme.162

Ebenso wie Rebentisch war Messerschmidt der Ansicht, dass solche Erkenntnisse keinesfalls davon abhalten sollten, sich als Arzt entsprechend ausbilden zu lassen, da abseits des von der WHO angenommenen Szenarios eines „totalen“ Atomkriegs sowohl die Detonation einer einzigen Atombombe (etwa aufgrund eines Computerfehlers oder als Drohgebärde) sowie der „selektive Einsatz kleinerer Kernwaffen, hauptsächlich gegen militärische Ziele gerichtet“, ebenso bedacht werden müssten

158 Schreiben von Ernst Rebentisch an Michael Popović vom 4.6.1984, Betr.: WHO-Studie „Effects of Nuclear War on Health and Health Services“. BArch, B 417/1808. 159 Schreiben von Ernst Rebentisch an Michael Popović vom 20.10.1984. BArch, B 417/1808. 160 Schreiben von Ernst Rebentisch an Erwin Odenbach vom 24.7.1983. BArch, B 417/854. 161 So hieß es etwa im abstract: „It is not for the Group to outline the political steps by which this threat can be removed or the preventive measures to be implemented.“ Siehe: WHO (Hrsg.), Effects of Nuclear War on Health and Health Services (1987), S. 5. 162 Schreiben von Otfried Messerschmidt an Erwin Odenbach vom 3.8.1983. BArch, B 417/854.

Die ärztliche Friedensbewegung

wie die „sehr viel unwahrscheinlichere Möglichkeit eines Reaktorunfalls“.163 Die schlussendliche Veröffentlichung lediglich des Teils der Studie im Deutschen Ärzteblatt, welcher auf die überaus begrenzten medizinischen Hilfsmöglichkeiten in einem Atomkrieg hinwies („Versorgung der Verletzten“ bzw. Management of the Casualties im Original), stellte eine Kompromisslösung nach langen Überlegungen verschiedener Seiten dar. Der düsteren WHO-Prognose wurde ein Kommentar Popovićs vorangestellt, der aus Sicht der Bundesärztekammer die Quadratur des Kreises wagte: Verschiedene, negative wie positive Aussagen Lindes und Rebentischs wurden sinngemäß oder gar wortgleich übernommen, gleichzeitig auf die kritischen Entschließungen vergangener Deutscher Ärztetage zur Thematik hingewiesen und letztlich betont: Selbst das umfassende Szenario eines Nuklearkrieges, das vom Einsatz der Hälfte der in den Arsenalen gelagerten Kampfmittel ausgeht, erkennt die Wahrscheinlichkeit, daß von der betroffenen Hälfte der Weltbevölkerung wiederum die Hälfte überlebt. Es gibt nichts, was dem überlebenden und handlungsfähigen Arzt das Recht einräumen könnte, diesen Hilfebedürftigen nicht mit den dann noch zur Verfügung stehenden Mitteln zu helfen. Wer sich hierzu unfähig macht oder hält [d. h. sich der katastrophenmedizinischen Fortbildung verweigert], verstößt gegen festgefügte Grundsätze des Rechtes, der Ethik und der Moral.164

Popovićs Kommentar zog eine ganze Reihe entrüsteter Leserzuschriften nach sich, unter ihnen auch eine Entgegnung Ulrich Gottsteins. Dieser sprach von einer „offiziösen Stellungnahme“, kritisierte Popovićs Beharren auf einer nutzlosen „Scheinausbildung“165 sowie – in einem späteren Brief – dessen „Verharmlosung“ der Triage,166 während Rebentisch den Bericht explizit dafür gelobt hatte, dass dieser die Triage keinesfalls ablehne, sondern als „grundlegendes Prinzip“ des Katastrophenschutzes „sowohl bei Natur- als auch bei Zivilisationskatastrophen“ auswies.167 Aus Sicht von Katastrophenmedizinern und Kammervertretern stellte die scharfe Gegenreaktion des IPPNW-Lagers auf die Veröffentlichung zumindest eines Teils

163 Ebd. 164 Auswirkungen eines Atomkriegs auf das Gesundheitswesen: Bericht eines „Internationalen Fachausschusses Medizin und Gesundheitswesen“ der Weltgesundheitsorganisation. Kommentar von Michael Popović, S. 396, in: Deutsches Ärzteblatt 7/1985, S. 395–396. 165 Ulrich Gottstein, Aus Sicht der IPPNW (Leserbrief), S. 1309 und 1306, in: Deutsches Ärzteblatt 18/1985, S. 1306–1309. 166 Schreiben von Ulrich Gottstein an Michael Popović vom 2.5.1985. BArch, B 417/233. 167 „Auswirkungen eines Atomkriegs auf die Gesundheit und das Gesundheitswesen“ (Auszug), S. 421, in: Deutsches Ärzteblatt 7/1985, S. 421–424.

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der überaus kritischen WHO-Studie – noch dazu gegen den Willen der verantwortlichen Bundesministerien! – eine unverständliche Überreaktion dar, welche nur auf ideologische Verblendung bzw. „sektorale Betrachtungsweise“168 zurückgeführt werden könne. Die Gegenseite der Aktivistinnen und Aktivisten wusste hingegen nicht um die teils drastischen Unterschiede zwischen den Ansichten von Ministerien, Kammerfunktionären und Katastrophenmedizinern; man nahm wohl an, dass sich die BÄK nur durch äußeren Druck zu einer Teilveröffentlichung durchgerungen hatte und keineswegs aufgrund der Initiative „eigener Leute“. Popovićs Kommentar schließlich begriff man als Beleg dafür, dass sich die Funktionäre mit dem eigentlichen Inhalt des Berichts keineswegs identifizierten und es daher nicht ertragen konnten, diesen für sich sprechen zu lassen. Die abermalige Verurteilung der eigenen Position als jenseits von Gesetz und Moral stehend begriff man (zu Recht) als Versuch, selbst die Publikation einer den IPPNW-Zielsetzungen weitgehend entsprechenden Studie als Mittel zum Angriff einzusetzen. Vilmars und Rebentischs Vorstellung einer parallelen Aufklärung und Vorbereitung wurde nach wie vor abgelehnt und als Kriegstreiberei gebrandmarkt. „Wer eine Versorgung nach einem Inferno plant, akzeptiert das Inferno“,169 so hieß es in einem der Leserbriefe zu Popovićs Kommentar: interessanterweise die exakte Umkehr der von Zivilschutzaktivisten gerne verwendeten Sprachfigur, dass sich die Feuerwehr ja auch auf Brände vorbereite, ohne diese herbeizusehnen – von Ärztinnen und Ärzten, die qua Beruf stets Ungewolltes einüben, ganz zu schweigen. Selbst punktueller innerärztlicher Konsens blieb in Fragen der Katastrophenmedizin während der ersten Hälfte der 1980er Jahre schwierig. Weniger kompliziert fielen demgegenüber entsprechende Entschließungen auf den Deutschen Ärztetagen aus, welche die offenstehenden Fragen jedoch nicht auszuräumen vermochten. Nach mehreren vorangegangenen, insbesondere auf die zügige Verabschiedung eines GesSG drängenden Beschlüssen (vgl. hierzu Kapitel 2.2.3), wurde bereits auf dem 85. Deutschen Ärztetag 1982 die Entschließung „Warnung vor den Gefahren des Krieges: Ärztliche Hilfe im Katastrophen- und Verteidigungsfall“ angenommen. Obwohl dort unbeirrt „die Vorbereitung aller Ärzte auf Gefahren jeglicher Katastrophen“ gefordert und festgestellt wurde, dass derartiges „möglicherweise vergebens, jedoch niemals falsch“ sein könne, fanden auch mehrere Kernanliegen der IPPNW Berücksichtigung: Verlangt wurde der Abbau von Feindbildern auf Seiten beider Blöcke, die schonungslose Aufklärung der Bevölkerung über die zerstörerische

168 Schreiben von Michael Popović an Ulrich Gottstein vom 9.5.1985, Betr.: Leserbriefdiskussion im Deutschen Ärzteblatt Heft 18 vom 1.5.1985, Bezug: Ihr Schreiben vom 2.5.1985. BArch, B 417/233. 169 Fred Salomon, Alles oder nichts (Leserbrief), S. 1218, in: Deutsches Ärzteblatt 17/1985, S. 1218–1221.

Die ärztliche Friedensbewegung

Wirkung moderner Massenvernichtungswaffen sowie eine allseitige Abrüstung.170 Dennoch stieß nicht nur die vertraute Verknüpfung von Warnung vor und Vorbereitung auf einen Krieg bei der bundesrepublikanischen IPPNW-Sektion auf erwartbaren Widerstand; auch die Tatsache, dass sich die geforderte Aufklärung der Bevölkerung von Seite der Kammern auf die einmalige Kundgebung ebensolcher Entschließungen zu beschränken schien, bewertete man als Missachtung der eigenen Versprechen. Entschließungen, welche von mit der IPPNW sympathisierenden Delegierten angeregt wurden, stießen hingegen auf klare Ablehnung. Als Ellis Huber, späterer langjähriger Präsident der Ärztekammer Berlin,171 auf dem 87. Deutschen Ärztetag 1984 beispielsweise die Frankfurter Erklärung (vgl. hierzu Kapitel 3.1.2) als Vorschlag einbrachte, stimmten nach persönlichem Eindruck der ebenfalls delegierten IPPNW-Funktionärin Edith Schieferstein „höchstens 40“ von 250 Anwesenden für die Annahme, was sich mit der Einschätzung der IPPNWPositionen als nicht unwesentliche, aber doch eindeutige Minderheitenmeinung deckt.172 Über den folgenden 88. Deutschen Ärztetag zeigte sich Schieferstein besonders enttäuscht,173 da dort eine von IPPNW-Mitgliedern abermals geforderte Diskussion um Zivilschutz und Katastrophenmedizin rundweg abgelehnt und acht entsprechende Entschließungsanträge (ganze sechs stammten von Huber und richteten sich u. a. gegen das geplante Zivilschutzgesetz sowie gegen Rebentischs Denkschrift Katastrophenmedizin, vgl. hierzu das spätere Kapitel 3.2.3) somit für

170 Entschließung des 85. Deutschen Ärztetages 1982: Warnung vor den Gefahren des Krieges – Ärztliche Hilfe im Katastrophen- und Verteidigungsfall, abgedruckt u. a. in: Deutsches Ärzteblatt 21/1982, S. 35. Vgl. auch den offiziellen Tätigkeitsbericht der Bundesärztekammer für das Jahr 1984, welcher sich zwar zur ärztlichen Verantwortung bezüglich der Warnung vor einem Krieg, aber eben auch zur Notwendigkeit katastrophenmedizinischer Fortbildung inklusive Triage und umfassender Zivilschutzmaßnahmen bekannte: Tätigkeitsbericht ’84 der Bundesärztekammer (Arbeitsgemeinschaft der Westdeutschen Ärztekammern). BArch, B 417/570. 171 Ellis Huber war Mitglied der Berliner „Fraktion Gesundheit“; seine Wahl zum ersten „linken“ Präsidenten einer Ärztekammer im Jahr 1987 (Gewählt: Dr. med. Erich [„Ellis“] Huber, in: Deutsches Ärzteblatt 8/1987, S. 440) wurde von zahlreichen Kammerfunktionären kritisch betrachtet. Insbesondere warf man ihm vor, mit der Gründung des Berliner Gesundheitsladens (vgl. Fünf Jahre Gesundheitsladen in Berlin, in: Deutsches Ärzteblatt 49/1983, S. 92) sowie den 1980 und 1981 parallel zum Deutschen Ärztetag stattfindenden alternativen „Gesundheitstagen“ (vgl. „Gesundheitstag ’80“: Multiprofessionelle Teamarbeit, in: Deutsches Ärzteblatt 25/1980, S. 1615–1616) zur Generalopposition jenes Kammerwesens aufzurufen, welches er gleichzeitig in offizieller Position vertreten wolle. Auch Jahrzehnte später galt Huber, zwischenzeitlich als Krankenkassenvorstand ebenso tätig wie als Berater der Linkspartei, als Enfant terrible der bundesdeutschen Ärzteschaft, siehe: Norbert Jachertz, Ende einer Dienstfahrt: Ellis Huber meldet sich zurück, in: Deutsches Ärzteblatt 19/2006, S. 1322. 172 Schreiben von Edith Schieferstein an Till Bastian vom 25.5.1984. FZH, 16–3 A/2.1.–2. 173 Schreiben von Edith Schieferstein an Till Bastian vom 19.5.94 [sic; es handelt sich um einen Tippfehler]. FZH, 16–3 A/2.1.–6.

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nichtig erklärt wurden.174 Es offenbarte sich hier nicht allein die Grenze der Gestaltungsmacht der bundesdeutschen IPPNW-Sektion; vielmehr artikulierte sich auch der Wunsch zahlreicher Ärztinnen und Ärzte, das allgegenwärtig scheinende Thema Katastrophenmedizin nicht jedes Jahr von Neuem ausdiskutieren zu wollen – zumal dies gegen Mitte der 1980er Jahre zunehmend als aussichtslos betrachtet wurde. 3.1.5 Der Friedensnobelpreis 1985 Für ihre Bemühungen um die blockübergreifende Verständigung sowie – natürlich – für ihre Warnung vor den Gefahren eines Atomkriegs erhielt die IPPNW im Jahr 1985 den Friedensnobelpreis. Auch wenn sich die Vertreter der bundesrepublikanischen Sektion hierüber naturgemäß freuten,175 erwies sich die Verleihung rückblickend zumindest als zweischneidiges Schwert. Grundlegend für diese Entwicklung waren Äußerungen des damaligen Generalsekretärs der CDU, Heiner Geißler, vom 9. November 1985. Dieser kritisierte die Verleihung des Preises an eine Organisation, deren Co-Präsident Evgenij Chasov sich maßgeblich an der Diffamierung und Verfolgung des sowjetischen Dissidenten und Menschenrechtsaktivisten Andréj Sácharov beteiligt habe und betonte zudem, dass der Erhalt des Friedens insbesondere der wachsam aufrechterhaltenen Verteidigungsbereitschaft der westlichen Staaten zu verdanken sei. Vom bundesdeutschen IPPNW-Geschäftsführer Till Bastian wurden diese Vorwürfe zunächst verworfen; Geißler – als „verlogenes Großmaul“ bezeichnet – habe keinerlei Beweise für seine Behauptungen, weshalb man ihm nicht den Gefallen tun dürfe, von Chasov abzurücken.176 Ebenso wie der zweite Präsident der internationalen IPPNW, Bernard Lown, bewertete Bastian die Vorwürfe Geißlers als durchsichtiges Manöver mit der Absicht, die IPPNW in ihrem Markenkern zu treffen: ihrer als vorbildlich ausgewiesenen, blockübergreifenden Anlage. Über mehrere Telefonate mit Medienvertretern erwirkte Bastian schließlich, dass Geißlers Kritik eine offizielle Reaktion der bundesdeutschen Sektion gegenübergestellt wurde, welche von „haltlosen Verdächtigungen“ sprach und versicherte, dass das Nobelkomitee seine höchste Auszeichnung niemals jemandem zugesprochen hätte, der an der Verfolgung des Preisträgers von 1975 beteiligt

174 Der „Tätigkeitsbericht“ ist für Überraschungen immer gut: Entschließungen des 88. Deutschen Ärztetages zu vielen aktuellen Fragen, S. 1757, in: Deutsches Ärzteblatt, S. 1751–1757. Zum konkreten Inhalt der einzelnen Entschließungen siehe: Bundesärztekammer (Hrsg.), Stenographischer Wortbericht des 88. Deutschen Ärztetages vom 14.–18. Mai 1985 in Lübeck-Travemünde. Köln 1985, S. 36–37, 44–46, 52, 54–55. 175 Vgl. Schreiben von Till Bastian an Vorstand und Beirat vom 15.10.1985. FZH, 16–3 A/2.1.–6. 176 Schreiben von Till Bastian an Vorstand und Beirat vom November 1985 (genaue Datierung fehlt). FZH, 16–3 A/2.1.–7.

Die ärztliche Friedensbewegung

gewesen wäre.177 Trotz aller Gegendarstellungen blieben Geißlers Äußerungen jedoch nicht ohne Wirkung. Claudia Kemper stellt in diesem Zusammenhang fest, dass die zuvor ausgewogene Presse in Sachen IPPNW zusehends negativer ausfiel, „denn jede Berichterstattung zeigte sich nun mindestens irritiert über die prominente Rolle Chasovs in der Organisation, an der auch nach dem Bekanntwerden der Vorwürfe festgehalten zu werden schien“.178 Ausgerechnet die konservative Frankfurter Allgemeine Zeitung bemühte sich um eine relativ neutrale Dokumentation der am 10. Dezember 1985 stattfindenden Nobelpreisverleihung. Dort schrieb man von „mehreren hundert Demonstranten“ (unter ihnen der ehemalige Vorsitzende des Nobelkomitees Aase Lionaes), welche der IPPNW vorwarfen, die in Bezug auf die UdSSR drängende Menschenrechtsfrage bewusst zu ignorieren. Chasov habe keinerlei Antwort auf Anfragen gegeben, ob er es inzwischen bereue, im Jahr 1973 einen gegen Sácharov gerichteten offenen Brief unterzeichnet zu haben oder ob er als stellvertretender Gesundheitsminister der UdSSR und Mitglied des Zentralkomitees der KPdSU dazu bereit sei, sich für das Schicksal des nach Gorki verbannten Sácharov, der seinen eigenen Nobelpreis nicht hatte entgegennehmen können, einzusetzen. Gleichfalls erwähnte die FAZ allerdings die Stellungnahme des Nobelkomitees, welche das blockübergreifende Engagement der IPPNW bewusst würdigte und die Ansicht vertrat, dass diese für das grundlegendste Menschenrecht – das Recht auf Leben – nach Kräften gestritten habe.179 Andere überregionale Zeitungen der Bundesrepublik urteilten schärfer. Überraschend waren dabei weniger die bereits im Titel eindeutigen Aussagen der Bild („Suchen Sie sich bessere Freunde, Dr. Lown!“)180 oder der Welt („Die Schande von Oslo“), die der IPPNW stets ablehnend gegenübergestanden hatten und nun hervorhoben, dass etwa Horst-Eberhard Richter sein psychiatrisches Können dazu aufwende, den Westen zu kritisieren, während in der UdSSR – von Chasov unwidersprochen – Kritiker des Staates mithilfe psychiatrischer Gutachten zwangseingewiesen und somit mundtot gemacht würden.181 Auffallend war vielmehr die Kritik zahlreicher Zeitungen, welche zuvor oftmals positiv über die IPPNW berichtet hatten. Die Frankfurter Rundschau schrieb von einer „verpassten Chance“ und urteilte, dass Chasovs Verhalten gerade auch im Umgang (bzw. Nicht-Umgang) mit den an ihn gerichteten Vorwürfen den von konservativer Seite seit jeher geäußerten

177 Till Bastian, Protokoll der Ereignisse vom 9.11.1985 vom 11.11.1985. FZH, 16–3 A/2.1.–7. 178 Kemper, Medizin gegen den Kalten Krieg, S. 381. 179 Proteste und Zustimmung in Oslo: Chasov verweigert Äußerungen zu Sacharow, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.12.1985. FZH, 16–3 A/4.2.–1. 180 Friedensnobelpreis, Proteste gegen Chasov: „Suchen Sie sich bessere Freunde, Dr. Lown!“, in: Bild, 11.12.1985. FZH, 16–3 A/4.2.–1. 181 Peter Hofstätter, Die Schande von Oslo, in: Die Welt, 9.11.1985. FZH, 16–3 A/4.2.–1.

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Vorwurf, die IPPNW agiere einseitig, leider bestätige.182 Die Süddeutsche Zeitung konstatierte sarkastisch, dass die Zwangseinweisung politischer Dissidenten in der Sowjetunion nichts sei, wovon Chasov sich zu distanzieren habe, da jemand, der mutig genug sei, das dortige System zu kritisieren, in der Tat verrückt sein müsse,183 und selbst die linksstehende Tageszeitung urteilte, dass die IPPNW zwar behaupte, der „Osten“ sei friedliebender als der „Westen“, es gleichwohl aber die Sowjetunion sei, die ihren Militärapparat selbst gegen die eigene Zivilbevölkerung ungehemmt einsetze.184 Die während der Gründungsphase der IPPNW nicht unkritisch bewertete Integration sowjetischer Ärzte (vgl. hierzu auch Kapitel 3.1.2) hatte sich zwar graduell zur gerne perpetuierten Versinnbildlichung des „Feindbilder überwinden“Leitgedankens entwickelt, offenbarte gerade anlässlich der Nobelpreisverleihung aber auch große Angriffsflächen.185 Im Zuge der sich wandelnden Berichterstattung wandten sich nicht nur mehrere Bundestagsabgeordnete in offenen Briefen an die IPPNW, um beispielsweise dafür zu appellieren, auf die Freilassung Sácharovs hinzuwirken186 oder Kritik an deren „dubiosem Hintergrund“ zu üben.187 Auch der sich ausgerechnet um den Abbau von Feindbildern bemühende prominente Dissident Lev Kopelev äußerte sich in einem Kommentar in der Bild überaus kritisch in der Sache Chasov und Sácharov, woraufhin Helmut Koch diesem schriftlich zugestand, Chasovs Ansichten bezüglich Sácharov ebenfalls abzulehnen, gleichwohl aber betonte, dass der Nobelpreis nicht an Chasov, sondern an die IPPNW als Ausdruck einer „international artikulierten Sorge“ verliehen worden sei.188 Die deutsche Sektion der antikommunistischen Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM) schrieb wiederholt, bezeichnete die Entgegennahme des Friedensnobelpreises durch Chasov als Verhöhnung anderer Preisträger wie Sácharov oder Lech Wałęsa, der den Preis zwei Jahre zuvor erhalten hatte, und bat zudem um die Distanzierung von dem sowjetischen Psychiater und IPPNW-Mitglied Martan Vartanyan, welcher sich unmittelbar an der Verfolgung von Dissidenten

182 Verpaßte Chance, in: Frankfurter Rundschau, 12.12.1985. FZH, 16–3 A/4.2.–1. 183 Das Streiflicht, in: Süddeutsche Zeitung, 1.12.1985. FZH, 16–3 A/4.2.–1. 184 Max Mehr, Fauler Friede: Zu den Reaktionen der „IPPNW-Ärzte“ auf Geißler, in: Die Tageszeitung, 16.11.1985. FZH, 16–3 A/4.2.–1. 185 Vgl. hierzu auch Kemper, Medizin gegen den Kalten Krieg, S. 417. 186 Offener Brief von Johannes Gerster (CDU, MdB) an die Deutsche Sektion der IPPNW vom 10.12.1985. FZH, 16–3 A/2.1.–8. 187 Offener Brief von Rudolf Ruf (CDU, MdB) an die Ärztinnen und Ärzte aus Karlsruhe und Umgebung, Betr.: Ärzteappell gegen den Krieg und für Abrüstung in Ost und West anläßlich der Verleihung des Friedensnobelpreises an die Präsidenten der „Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs“ vom 19.12.1985. FZH, 16–3 A/2.1.–8. 188 Schreiben von Helmut Koch an Lew Kopelew vom 13.12.1985. FZH, 16–3 A/2.1.–8.

Die ärztliche Friedensbewegung

beteilige.189 Als durchaus effektiv muss die Taktik der IGFM bewertet werden, bei ihrer Kritik nicht auf der allgemeinen Ebene zu verharren, sondern die westdeutsche IPPNW aufgrund deren „gutem Verhältnis“ zu Sowjet-Funktionären um Hilfe in konkreten Einzelfällen zu bitten,190 was Ulrich Gottstein zwar mit dem Verweis abzulehnen suchte, dass dies nicht dem zentralen Ansinnen der IPPNW entsprach,191 ihn aber gleichwohl dazu motivierte, sich in der Sache an die Geschäftsstelle der sowjetischen IPPNW-Sektion zu richten, versehen mit der Bitte: Please, be so kind and answer to my letter as soon as possible, because it is very important for my work here to prove, that [sic] IPPNW in East and West really work together in confidence and friendship.192

Derartige Verweise der IGFM oder auch der Presse speziell auf die Rolle der Psychiatrie in der Sowjetunion trafen die bundesrepublikanische IPPNW nicht allein, weil einige ihrer zentralen Protagonisten, allen voran Horst-Eberhard Richter, ebenfalls argumentierten, der politische Gegner sei „psychisch krank“ (vgl. hierzu Kapitel 3.1.2), sondern weil einzelne ihrer Arbeits- bzw. Protestformen durchaus als Missbrauch der Psychiatrie bewertet werden konnten. Parallel zur Debatte um den Nobelpreis erschienen beispielsweise mehrere kritische Zeitungsberichte zu einer bundesweiten Umfrage, mit der die IPPNW herausfinden wollte, ob bzw. wie sehr sich westdeutsche Kinder und Jugendliche (anvisiert war eine Altersspanne von 9 bis 18 Jahren) vor einem möglichen Atomkrieg fürchteten.193 Abgesehen von datenschutzrechtlichen Bedenken wurde insbesondere moniert, dass hierdurch Minderjährige ohne deren Wissen und Zustimmung politisch vereinnahmt und als Waffe im öffentlichen Diskurs benutzt werden sollten, zumal gerade bei den Jüngeren kaum auszumachen sei, ob deren etwaig geäußerte Ängste nicht erst durch die Befragung selbst ausgelöst würden. BÄK-Geschäftsführer Michael Popović erkundigte sich u. a. bei der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Nervenheilkunde, bei der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde und der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie nach Sinn oder Unsinn der von der IPPNW verwandten Fragebögen. Deren Aussagen fielen eindeutig

189 Schreiben von Jörn Ziegler (Vorstandssprecher der Deutschen Sektion der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte) an Till Bastian vom 29.11.1985. B 417/233. 190 Schreiben von Jörn Ziegler an Till Bastian vom 15.11.1985. FZH, 16–3 A/2.1.–8. 191 Schreiben von Ulrich Gottstein an Jörn Ziegler vom 21.11.1985. FZH, 16–3 A/2.1.–8. 192 Schreiben von Ulrich Gottstein an Alexei Dmitriev (Generalsekretär der sowjetischen Sektion der IPPNW) vom 21.11.1985. FZH, 16–3 A/2.1.–8. 193 Vgl. z. B.: Datenschützer: Umfrage unzulässige Privataktion, in: Frankfurter Rundschau, 7.1.1986; Neue Vorwürfe gegen „Friedensärzte“: Umstrittene Befragung zur Kriegsangst bei Kindern, in: Die Welt, 14.11.1985. FZH, 16–3 A/4.2.–1.

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aus: Die Umfrage sei keinesfalls repräsentativ und nicht nur methodisch, sondern aufgrund des Suggestivcharakters mancher Fragen auch moralisch fragwürdig.194 Popović selbst verglich die Aktion in späteren Schreiben – u. a. an Journalisten, versehen mit der expliziten Bitte, hierüber zu berichten – mit der Legende des Rattenfängers von Hameln und sprach ausgehend von den vorliegenden Gutachten der Fachgesellschaften von einem durch die westdeutsche IPPNW-Sektion initiierten „Kinderkreuzzug“.195 Am schwersten wog allerdings die sich häufende Kritik aus den eigenen Reihen, welche diese im Zusammenhang der Nobelpreisdebatte erfuhr. Als bezeichnendes Beispiel mag auf das „Grußwort“ Franz-Josef GroßeRuykens, des Vorsitzenden der baden-württembergischen Landesärztekammer, verwiesen werden, welches dieser anlässlich einer Festveranstaltung zur Verleihung am 9. Dezember 1985 in Freiburg verlas. Große-Ruyken hatte sich, obschon selbst CDU-Mitglied, lange Jahre den Ansichten und Zielsetzungen der IPPNW verbunden gezeigt und war einer der ersten Kammerfunktionäre gewesen, der sich in verschiedenen Stellungnahmen, Entschließungsanträgen usw. in deren Sinne engagiert hatte. Sein Grußwort schien dem diametral gegenüberzustehen; neben einem eigentlich eher von Vilmar oder Popović zu erwartenden Verweis auf entsprechende Entschließungen der Deutschen Ärztetage bejahte er ausdrücklich die ärztliche Pflicht, sich katastrophenmedizinisch fortzubilden und lehnte die Argumentation der bundesdeutschen IPPNW in diesem Kontext unzweideutig ab – der Streit hierüber sei insgesamt sinnlos und würde Energien binden, welche man für den Erhalt des Friedens anderweitig benötigen würde. Gerade im Rahmen einer Laudatio zum Erhalt des Friedensnobelpreises muss zudem folgender Absatz als vernichtend bezeichnet werden: Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, wie ich gelesen habe, wird Prof. Tschasow morgen in Stockholm die Friedensrede halten. [sic, gemeint war wohl Oslo] Wir würden es alle sehr begrüssen, wenn er Professor Sacharow zur Preisverleihung mitbringen würde, dem dies 1975 bei der Verleihung des Friedensnobelpreises an ihn nicht vergönnt gewesen ist. Ich bin überzeugt, dass dieser Wunsch auch Ihren Intensionen entspricht und dass Sie sich genauso wie ich über Amnestie International bemühen, die Kolleginnen und

194 Schreiben von F. Bläker (Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde) an Michael Popović vom 22.11.1985, Betr.: Ihre Anfrage zur Beurteilung der Fragebogenaktion „Frieden und Ängste vor einem Atomkrieg“; Schreiben von F. Blöcker (Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Nervenheilkunde) an Michael Popović vom 27.11.1985. BArch, B 417/1983. Schreiben von M. Schmidt (Geschäftsstelle der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie) an Michael Popović vom 20.12.1985, Betr.: Bundesweite Befragung von Kindern und Jugendlichen zum Thema „Frieden und Ängste vor einem Atomkrieg“. BArch, B 417/1873. 195 Schreiben von Michael Popović an R. Moniac (Redaktion Die Welt) vom 21.10.1985, Betr.: Fragebogen-Aktion für Kinder von Ärzten gegen Atomkrieg. BArch, B 417/1983.

Die ärztliche Friedensbewegung

Kollegen in aller Welt aus den Gefängnissen und psychiatrischen Anstalten zu befreien, in denen sie als nicht systemkonform einsitzen. Ein öffentliches Eintreten der IPPNW für diese Kollegen würde Sie schnell von einem bestimmten, sicher zu Unrecht in der Öffentlichkeit diskutierten Verdacht befreien.196

Auch wenn die westdeutsche Sektion der IPPNW zunächst ablehnend auf die vielfach geäußerten Vorwürfe reagierte, ganz so wie dies Till Bastian anfänglich gefordert hatte,197 zeitigte die von Heiner Geißler – bei einer späteren Diskussionssendung zum Thema mit einem Farbbeutel attackiert198 – (mit-)initiierte Kampagne schließlich auch IPPNW-intern eine große Wirkung, welche sich in der Verbandskorrespondenz gut nachzeichnen lässt. Ulrich Gottstein gab sich besorgt über die massiver werdenden Vorwürfe, dass sich die IPPNW nicht eindeutig vom Kommunismus distanziere und bat Bastian darum, sich nicht mehr grundsätzlich negativ zur Bundeswehr zu äußern, sondern entsprechende Aussagen strikt auf das „nukleare Wettrüsten“ zu beschränken. Die Teilnahme des umstrittenen UdSSRPsychiaters Vartanyan an dem anstehenden Internationalen Kongress der IPPNW in Köln lehnte er ab.199 Sehr selbstkritisch äußerten sich die IPPNW-Funktionäre Knut Sroka und Odette Klepper. Sroka schrieb, dass es falsch gewesen sei, Chasov zu schützen und warf diesem unumwunden vor, kein Problem mit der Ausschaltung von Regierungskritikern zu haben. Zudem mutmaßte er, dass die Sowjetunion die IPPNW wohl tatsächlich dazu nutze, die Aufrüstung des verhassten Westens zu verlangsamen, um selbst wieder gleichziehen zu können, und dass man in dieser Hinsicht „auf einem Auge blind“ gewesen sei; schließlich kritisierten sowohl die Ost- als auch die Westgruppen der IPPNW die US-Rüstung ungleich häufiger als die sowjetische.200 Noch deutlicher wurde Klepper. „Wir sind wirklich auf einem Auge blind“, schrieb sie; US-Amerikaner, die ähnlich einseitig wie Chasov oder Vartanyan lediglich die offiziellen Positionen der eigenen Regierung rekapitulieren würden, hätte man auf den eigenen Kongressen längst ausgepfiffen. Schließlich konstatierte sie sogar: „Dank Geißler, und wir müssen es zugeben, daß wir leider

196 Grusswort von Dr. Franz-Josef Grosse-Ruyken (Präsident der Landesärztekammer BadenWürttemberg) anlässlich der Festveranstaltung der IPPNW zur Verleihung des Friedensnobelpreises am 9.12.1985 in Freiburg. FZH, 16–3 A/2.1.–8. 197 Vgl. beispielsweise Roland Scholz, Sacharow und die IPPNW, in: Rundbrief: Ärzte warnen vor dem Atomkrieg, 16/1986, S. 14–16 sowie mehrere andere Artikel dieses Rundbriefs. 198 „Ärzte gegen den Atomkrieg“: Der tiefe Graben zur offiziellen Ärzteschaft ist kaum zu überbrücken, in: Ärzte-Zeitung, 24.2.1986. FZH, 16–3 A/4.2.–1. 199 Schreiben von Ulrich Gottstein an Till Bastian sowie an Vorstand und Beirat vom 28.11.1985. FZH, 16–3 A/2.1.–7. 200 Schreiben von Knut Sroka an Vorstand und Beirat, Herbert Begemann und Roland Scholz vom 26.12.1985. FZH, 16–3 A/2.1.–7.

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erst jetzt angefangen haben, ernsthaft nachzudenken, ist es uns jetzt voll bewußt, mit wem wir es zu tun haben.“201 Auch wenn Gottstein später beruhigend darauf hinwies, dass die Zusammenarbeit mit den IPPNW-Sektionen der DDR oder der Sowjetunion eine bewusste Kompromissleistung zum Erreichen des höheren Ziels der Friedenssicherung darstelle,202 muss doch betont werden, dass es in der bundesrepublikanischen Sektion zu einem teils markanten Umdenken kam und man in der Folge versuchte, sich von vorgeblich oder tatsächlich belasteten Akteuren zu distanzieren sowie die eigenen Beziehungen zur sowjetischen Sektion generell neu zu ordnen.203 Klar ist, dass viele Politiker ebenso wie manche, der IPPNW ablehnend gegenüberstehende Funktionäre der Ärztekammern die Verleihung des Friedensnobelpreises erfolgreich in eine gegen die IPPNW gerichtete Kampagne umzudeuten verstanden. Gerade die oft eher behauptete „blockübergreifende“ Tätigkeit erwies sich hierbei als Bumerang: Warum die westdeutsche Sektion der IPPNW beispielsweise nicht müde wurde, die von den eigenen Kammern propagierte Katastrophenmedizin als Kriegsvorbereitung zu werten, während in der DDR bekannte Katastrophenmediziner wie Hans Röding problemlos als Führungsmitglieder der IPPNW fungierten,204 warum man die traditionell beschränkten Zivilschutzmaßnahmen des Westens als Gefährdung des Friedens anprangerte, während deutlich umfangreichere und zudem mit Zwang durchgesetzte Bemühungen des Ostblocks kaum zur Sprache kamen, ließ sich schwer beantworten, ohne sich dem Vorwurf der Einseitigkeit preiszugeben. Aus professionssoziologischer Hinsicht verbot allein die von der IPPNW betriebene Ausgrenzung ihrer „Gegner“ als amoralisch oder gar psychisch krank eine Annäherung seitens der Kammern. Während z. B. BÄK-Präsident Vilmar – im Gegensatz zu „Hardlinern“ wie Deneke – etwaigen Spaltungstendenzen mit dem Hinweis entgegenzuwirken suchte, dass sich die Warnung vor einem möglichen Krieg mit einer (beschränkten) Vorbereitung kombinieren ließ, widersetzten sich die westdeutsche IPPNW und die zahlreichen regionalen Ärzteinitiativen

201 Schreiben von Odette Klepper an Vorstand und Beirat vom 8.1.1985. FZH, 16–3 A/2.1.–7. 202 Schreiben von Ulrich Gottstein an Vorstand und Beirat vom 13.1.1986. FZH, 16–3 A/2.1.–7. 203 Vgl. hierzu etwa die Kurzfassung eines Berichts über einen Besuch der bundesrepublikanischen bei der sowjetischen Sektion der IPPNW: Schreiben von Till Bastian an Vorstand und Beirat vom 3.2.1986. FZH, 16–3 A/2.1.–7. 204 Vgl. den Klassiker der DDR-Katastrophenmedizin, Hans Rödings erstmals 1983 veröffentlichtes, noch 1990 in einer stark erweiterten, vierten Auflage erschienenes Werk: Der Massenunfall: Organisation, Taktik und Planung medizinischer Hilfe. Leipzig 1983. Röding schien nach der „Wende“ eine schnelle und wohlwollende Aufnahme im Kreis westdeutscher Katastrophenmediziner erfahren zu haben, vgl. Schreiben von Kremers an Peter Knuth vom 5.2.1990 inklusive der beiliegenden Einladung zu einer saarländischen Fortbildungsveranstaltung, auf der auch Röding einen Vortrag mit dem Titel „Triage – Transport – Treatment – und danach?“ hielt. BArch, B 417/1885.

Die ärztliche Friedensbewegung

einem solchen, in ihren Augen verlogenen Kompromiss. Die meisten Kammerfunktionäre teilten demgegenüber das professionsspezifische Dogma, dass zwar innerhalb des Berufs, d. h. im Kollegium heftig gestritten werden dürfe, man zur Umsetzung berufsspezifischer Interessen im politischen Raum jedoch zwingend auf ein geschlossenes öffentliches Auftreten als Gesamtärzteschaft angewiesen war. Eine als übermäßig empfundene, insbesondere auch an die nicht-ärztliche Öffentlichkeit gerichtete „Politisierung“ des eigenen Berufs lehnte man insofern ebenso ab wie die von den Friedensaktivistinnen und -aktivisten betriebene Generalkritik etwa an den Sanitätsoffizieren, mit denen nach dem Zweiten Weltkrieg die professionelle Einheit erst mühsam hatte erstritten werden müssen (vgl. hierzu detailliert Kapitel 2.1.1). Fraktionierung habe der Ärzteschaft insgesamt stets geschadet: So argumentierten oft nicht nur die „Offiziellen“, sondern beizeiten auch eher konservative IPPNW-Mitglieder und Sympathisanten wie Ulrich Gottstein oder Franz-Josef Große-Ruyken. Wie wesentlich trotz aller Meinungsverschiedenheiten die Aufrechterhaltung der eigenen ärztlichen Identität sowie die Zugehörigkeit zur Gesamtärzteschaft allen an der Kontroverse beteiligten Akteuren blieb, bestätigte insbesondere der wechselseitig angewandte, in Bezug auf die eigene Position jedoch als ehrenrührig abgelehnte Vorwurf, „unärztlich“ zu sprechen oder zu handeln. Die zahlreichen Diskussionen zwischen IPPNW, Kammern und Katastrophenmedizinern führten somit keinesfalls zu einem grundsätzlichen Hinterfragen der eigenen professionellen Identität, sondern beeinflussten lediglich den fortdauernden Verhandlungsprozess darüber, was genau eine „gute“ Ärztin, ein „guter“ Arzt denken, sagen, tun solle. Auch „friedensbewegte“ Ärztinnen und Ärzte bedienten sich regelmäßig gängiger berufsspezifischer Klischeevorstellungen, wenn sie diese auch zeitweise mit alternativen Inhalten versahen. Tatsächlich und grundsätzlich gespalten wurde die bundesdeutsche Ärzteschaft jedenfalls nie und wenn nicht bereits die Organisationsform des Kammerwesens dies verhindert hätte: Selbst während des im vierten Teil dieser Arbeit zu schildernden Höhepunkts der entsprechenden Kontroversen hätte dies kaum jemand gewollt. Obwohl nicht vergessen werden darf, dass die westdeutschen Konflikte z. B. um die NATO-Nachrüstung genuin politischer Natur waren, welche oft – wenn schon nicht immer – auf unterschiedliche (partei-)politische Lager verwiesen, ist aus historischer Sicht gleichwohl die Relevanz alternativer Ordnungsmodelle zu beachten. In Bezug auf das in dieser Untersuchung im Mittelpunkt stehende Fallbeispiel etwa erwies sich das organisatorische und ideelle Konstrukt des „Arzttums“ als wirkmächtiger Quell alternativer Unterscheidungen jenseits von „links“ und „rechts“, so z. B. zwischen professionals und non-professionals, zwischen einzelnen Fachgruppen (etwa Chirurgie und Psychiatrie), zwischen kurativen und präventiven Medizinmodellen.

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3.2

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3.2.1 Die Deutsche Gesellschaft für Katastrophenmedizin Trotz mancher Erfolge gelang es der bundesdeutschen Sektion der IPPNW nie, die Katastrophenmedizin zu einem rein moralischen bzw. medizinethischen Gegenstand umzudeuten. Vielmehr intensivierte sich in den Jahren um die NATONachrüstung – wie auf dem IV. Interdisziplinären Forum oder der 1980er Bonner Pressekonferenz von der Bundesärztekammer gefordert (vgl. hierzu Kapitel 2.2.5) – auch deren fachliche Bearbeitung. Hierzu suchten führende Katastrophenmediziner, den Grad ihrer beruflichen Vernetzung zu erhöhen und bedienten sich dabei u. a. eines dezidiert professionsspezifischen Instruments: Sie gründeten eine Fachgesellschaft. Die am 29. Juli 1980 bereits vor der westdeutschen Sektion der IPPNW gegründete Deutsche Gesellschaft für Katastrophenmedizin e. V. (DGKM)205 sah sich von Seite der Friedensbewegungen von Beginn an heftiger Kritik ausgesetzt. Ihre Konstitution ausgerechnet im Zuge der Nachrüstungskontroverse wurde von vielen Ärztinnen und Ärzten als untrügliches Anzeichen einer befürchteten Militarisierung der Medizin wahrgenommen und zur Legitimierung des eigenen friedenspolitischen Engagements herangezogen. Ein unmittelbarer Bezug zur NATONachrüstung ist hingegen unwahrscheinlich, und selbst falls es diesen gab: Katastrophenmediziner wie Ernst Rebentisch befürworteten naturgemäß die Existenz einer eigenen Fachgesellschaft, ungeachtet des weltpolitischen Klimas. Rebentisch war Vorstandsmitglied sowie stellvertretender Präsident der DGKM und unterzeichnete 1983 gemeinsam mit dem Chirurgen Georg Heberer sowie dem Anästhesiologen und ersten Präsidenten Klaus Peter einen Artikel des Deutschen Ärzteblattes, welcher – drei Jahre nach ihrer Gründung – abermals die „Bestrebungen und Ziele“ der DGKM vorstellen sollte. Der Artikel begann mit einer Begriffsdefinition: Eine Katastrophe ist ein außergewöhnliches Schadensereignis, das Leben und Gesundheit einer großen Anzahl von Menschen, erhebliche Sachwerte und die lebensnotwendige Versorgung der Bevölkerung in so ungewöhnlichem Maße schädigt oder gefährdet, daß mit den örtlich verfügbaren Mitteln nicht geholfen werden kann und zusätzliche Hilfe von außen erforderlich ist. Katastrophen können sowohl durch die Natur selbst als auch direkt oder indirekt durch den Menschen ausgelöst werden.

Darüber hinaus wurde betont, dass ein Atomkrieg keinerlei organisierte Hilfemöglichkeit zulasse, weshalb die Katastrophenmedizin dort an die „Grenzen ihrer

205 Vgl. Neugründung, in: Deutsches Ärzteblatt 40/1980, S. 2384.

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Anwendbarkeit“206 stoßen müsse. Der dezidiert zivile und pragmatische Tonfall des Artikels mochte sich zumindest teilweise der zwischenzeitlichen Organisation der ärztlichen Friedensbewegung verdanken, war insbesondere aber an einen früheren programmatischen Artikel Rebentischs („Die Katastrophe – Vorkommen, Arten, Häufigkeit, Folgen“) im ersten Tagungsband der DGKM angelehnt. Dort hatte dieser von Großunfällen, Erdbeben und Chemiekatastrophen gesprochen und sich skeptisch gegenüber den Möglichkeiten der Katastrophenmedizin im Kriegsfall geäußert: Ein Krieg erfüllt zweifellos die Kriterien einer Katastrophe, er muß aber dennoch von einer „Katastrophe im engeren Sinne“ unterschieden werden, weil er sich im Gegensatz zu letzterer weder räumlich noch zeitlich abgrenzen läßt […]. Ein ABC-Krieg übersteigt aber das Maß jeglicher Katastrophe allein schon deshalb, weil es angesichts der unermeßlichen Schäden niemals eine organisierte Hilfe geben kann. Dann kann und muß jeder Überlebende und Handlungsfähige seinen Mitmenschen so gut und so lange helfen, wie er kann. Daß jeder vernünftige Mensch den Krieg verabscheut und nichts mehr wünscht, als daß ihm ein solches Ereignis erspart bleibt, ist sicher Allgemeingut. Daß man aber die Chance nutzt, sich auch gegen diese Eventualität zu schützen, ist nur allzu logisch.207

Gerade der letzte Teil des Zitats konnte die IPPNW-Mitglieder kaum beruhigen, zumal auch in anderen Artikeln des Bandes widersprüchliche Signale aufzutauchen schienen und die klassischen Themen – Triage, der „Massenanfall von Strahlengeschädigten“ – allesamt abgehandelt wurden. Zusätzlich störte man sich an der hohen Militärpräsenz auf den Tagungen der DGKM. Obschon die thematische Ausrichtung bereits ihrer ersten Veranstaltung mehrheitlich zivil war,208 hatte InSan aufgrund des „unmittelbaren wehrmedizinischen Bezugs“ 150 Sanitätsoffizieren die Teilnahme befohlen und diesen zudem das Tragen der Uniform am ersten Veranstaltungstag angeordnet.209 In einem offenen Brief an DGKM-Präsident Peter charakterisierte die westdeutsche IPPNW die Tagung als der Militarisierung der

206 Georg Heberer, Klaus Peter und Ernst Rebentisch, Bestrebungen und Ziele der Deutschen Gesellschaft für Katastrophenmedizin e. V., S. 39 (beide), in: Deutsches Ärzteblatt 25/1983, S. 39–40. 207 Ernst Rebentisch, Die Katastrophe – Vorkommen, Arten, Häufigkeit, Folgen, S. 3, in: Klaus Peter, Georg Heberer, Ernst Rebentisch, Hansjoachim Linde und Rainer Kirchhoff (Hrsg.), Katastrophenmedizin: 1. Tagung der Deutschen Gesellschaft für Katastrophenmedizin e. V. in München am 1. und 2. Juli 1982. München 1984, S. 1–7. 208 Vgl. 1. Tagung der Deutschen Gesellschaft für Katastrophenmedizin e. V. vom 1.–2. Juli 1982 in München, Klinikum Großhadern – Vorprogramm. BArch, B 417/154. 209 Schreiben von BMVg – InSan II 4 an das Sanitätsamt der Bundeswehr (u. a.), Betreff: 1. Tagung der Deutschen Gesellschaft für Katastrophenmedizin e. V.; hier: Teilnahme von SanOffz. BArch-MA, BW 24/8021.

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Ärzteschaft dienende „Mischung […] aus Notfallmedizin und auf den Atomkrieg zugeschnittener Randzonenmedizin“ und kritisierte dabei explizit die Präsenz ehemaliger und aktiver Sanitätsoffiziere in der DGKM,210 während Befürworter darauf verwiesen, dass sich außerhalb des Militärs eben viel zu wenige Ärzte z. B. mit der Herausforderung eines Reaktorunfalls befassten.211 Der IPPNW wurde letztlich Scheinheiligkeit vorgeworfen – man könne nicht kritisieren, dass in Bezug auf zivile Katastrophen auf militärische Expertise zurückgegriffen werde, wenn die Zivilisten sich für eine entsprechende Aus- und Fortbildung zu schade seien. Auch wenn dies kaum explizit angesprochen wurde, muss gerade die Brückenfunktion der DGKM zwischen sanitätsdienstlichen und zivilärztlichen Wissensbeständen betont werden. Die von Heberer, Peter und Rebentisch benannten Kernaufgaben um die verbesserte Fortbildung der Ärzteschaft in einfacher Diagnose, Ersthilfe unter außerklinischen Bedingungen sowie in Planung und Organisation entsprachen dabei nicht nur Rebentischs Vorstellung einer verbesserten zivil-militärischen Zusammenarbeit, sondern auch den Forderungen jener Arztsoldaten, welche sich bereits in den 1950er Jahren um die Institutionalisierung entsprechender Austauschforen bemüht hatten (vgl. Kapitel 2.1.1). Claudia Kemper schreibt über die DGKM, dass sich deren „ursprünglich rein wehrmedizinischer Charakter“ erst ab 1985 unter dem neuen Präsidenten Edgar Ungeheuer verstärkt auf zivile Szenarien verschoben habe.212 Als alternative Ansicht sei angeführt, dass sich vor allem die bundesdeutsche Sektion der IPPNW zu dieser Zeit änderte. Dieser fiel es im Lauf der Jahre zunehmend schwerer, die DGKM derart kategorisch abzulehnen, wie sie es 1982 getan hatte – und dies, obwohl sich gerade Ungeheuer unversöhnlich präsentierte. Schon in der Einladung zum 3. Kongress der DGKM sprach ihr neuer Präsident den Gegnern der Katastrophenmedizin das „Arzttum“ ab213 und in einem Schreiben an Till Bastian bekräftigte er, dass er die Diskussion mit der IPPNW insgesamt nicht mehr als sinnvoll erachte, da längst alles Sagbare gesagt worden sei.214 Gerade dieser, im Jahr 1985 stattfindende 3. DGKM-Kongress beförderte ein Umdenken innerhalb der IPPNW. Eine zunächst geplante Gegenveranstaltung scheiterte an mangelnder Vorbereitung und mehrere Vorstandsmitglieder – u. a. Ulrich Gottstein und

210 Helmut Koch (im Auftrag des Sprecherrats), Offener Brief der Sektion Bundesrepublik Deutschland der IPPNW an Klaus Peter vom 20.6.1982. BArch, B 417/154. 211 Eberhard Buchborn (Direktor der Medizinischen Klinik Innenstadt der Universität München) an die Deutsche Sektion der IPPNW vom 24.6.1982. BArch, B 417/154. 212 Kemper, Medizin gegen den Kalten Krieg, S. 396. 213 Einladung und Programm zum 3. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Katastrophenmedizin – Alte Oper – Frankfurt am Main – 20./21. Juni 1985; Vorwort von Edgar Ungeheuer (Präsident der DGKM). BArch, B 417/1871. 214 Schreiben von Edgar Ungeheuer an Till Bastian vom 10.4.1985. FZH, 16–3 A/2.1.–3.

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Barbara Hövener215 – betonten, dass man sich angesichts der prominent besetzten Tagung keine unausgegorene Gegenveranstaltung leisten könne. Gottstein betonte mehrfach die Qualität des Veranstaltungsprogramms und bekräftigte, dass er selbst nicht nur teilnehmen wolle, sondern auch damit rechne, dort einiges lernen zu können.216 Sein an Vorstand und Beirat der IPPNW versandter Bericht über den Ablauf des DGKM-Kongresses registrierte zunächst eine ungebrochen hohe Präsenz des Militärs: Etwa 50 Prozent der Zuhörer seien uniformierte Sanitätsoffiziere gewesen und lediglich 30 Prozent „wirkliche Zivilisten“.217 Auch von „rein kriegsmedizinischen“ Vorträgen berichtete er, so dass von einem grundsätzlichen Wandel der DGKM im Jahr 1985 kaum gesprochen werden kann; sie diente nach wie vor als Transmissionsriemen zwischen den militärischen und zivilen Wissensbeständen. Dennoch lobte Gottstein den Inhalt etlicher Vorträge und bemängelte den seiner Ansicht nach unangemessenen Protest einer Frankfurter IPPNW-Gruppe (diese hatte sich z. B. auf den Boden gelegt, so dass die Teilnehmer über sie hinweggehen mussten), welche von ihm bereits zuvor als „marxistisch-leninistisch“ kritisiert worden war.218 In Bezug auf ihr Handeln auf dem DGKM-Kongress bemerkte er: Bei den Kongreßbesuchern hat dies ebenfalls nur den Eindruck bestärkt, daß es sich bei den Ärztegruppierungen und der IPPNW eben um naive und unreife Persönlichkeiten handele, die Freude am Theaterspielen hätten. Ich persönlich glaube nicht, daß sich ein einziger dadurch in seiner Meinung hat wankend machen lassen.219

Stets hatte Gottstein versucht, die IPPNW gerade nicht als Gegenbewegung zur bundesdeutschen Ärzteschaft zu etablieren, sondern als kritischen, aber seriösen Teil derselben. Hierzu empfahl er seinen Mitstreiterinnen und Mitstreitern schließlich eine deutliche Korrektur der bisherigen Ausrichtung: Aber wir verlieren unsere Glaubwürdigkeit, wenn der Eindruck entstünde, die IPPNW sei eine Bewegung gegen Katastrophenmedizin. Wir müssen klarstellen, daß wir gegen Nuklearwaffen und gegen Massenvernichtungswaffen und gegen den Krieg sind […], dürfen aber nicht außerachtlassen [sic], daß die Bevölkerung Angst vor Katastrophen hat, wie sie z. B. auch durch eine neuauflebende Terroristenaktivität entstehen könnte.220

215 Vgl. Schreiben von Ulrich Gottstein an Vorstand und Beirat vom 19.4.1985; Schreiben von Barbara Hövener an Vorstand und Beirat vom 9.5.1985. FZH, 16–3 A/2.1.–6. 216 Schreiben von Ulrich Gottstein an Vorstand und Beirat vom 19.4.1985. FZH, 16–3 A/2.1.–6. 217 Schreiben von Ulrich Gottstein an Vorstand und Beirat vom 15.7.1985, S. 1. FZH, 16–3 A/2.1.–6. 218 Schreiben von Ulrich Gottstein an Vorstand und Beirat vom 8.5.1985; Betr.: 22. Juni in Frankfurt/ Main. FZH, 16–3 A/2.1.–6. 219 Schreiben von Ulrich Gottstein an Vorstand und Beirat vom 15.7.1985, S. 3–4. FZH, 16–3 A/2.1.–6. 220 Ebd., S. 4.

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Ab dem Jahr 1985 schien sich demnach weniger der Charakter der DGKM als Militärs wie Zivilisten gleichermaßen offenstehende Fachgesellschaft zu ändern, sondern – zumindest punktuell – die IPPNW, die den Widerstand gegen die Katastrophenmedizin teils kritisch zu reflektieren begann und zudem nach Strategien suchte, um sich innerhalb der Ärzteschaft stärkere Geltung zu verschaffen. Die DGKM setzte demgegenüber ungebrochen auf vornehmlich zivile Szenarien in den Blick nehmende, aber auch für Sanitätsoffiziere relevante Inhalte und entsprach damit dem von konservativen „Falken“ ebenso wie den Friedensbewegungen verurteilten Ansatz eines auf zivil-militärische Synergieeffekte setzenden Erweiterten Katastrophenschutzes (vgl. hierzu die Kapitel 1.4 und 3.2.4). 3.2.2 Publikationsflut Auch eine der zentralen Veröffentlichungen zum Thema entsprach klar dem ursprünglich vor allem von der SPD geförderten zivil-militärischen Doppelnutzen des Zivilschutzes: der von der Schutzkommission beim BMI herausgegebene Band Katastrophenmedizin: Leitfaden für die ärztliche Versorgung im Katastrophenfall, zumeist schlicht Leitfaden Katastrophenmedizin genannt (vgl. hierzu Kapitel 2.2.1).221 Der Leitfaden war Teil einer kaum enden wollenden Publikationsflut während der 1980er Jahre. Bereits der erste Satz der von Gesundheits- und Familienministerin Antje Huber (SPD) und Innenminister Gerhart Baum (FDP) unterzeichneten Einleitung verkündete: Seit ihrem Bestehen hat die Menschheit unter naturbedingten Katastrophen, Seuchen und kriegerischen Auseinandersetzungen gelitten.222

Noch deutlicher und nunmehr auch die aktuelle Auseinandersetzung mit der ärztlichen Friedensbewegung aufgreifend, lautete das kurze Nachwort: In jüngster Zeit wird versucht, Katastrophenmedizin mit Kriegsmedizin, d. h. auch mit Wehrmedizin gleichzusetzen. Dabei wird übersehen, daß sich weltweit seit langem schon nationale und internationale Organisationen darum bemühen, auf Katastrophen vorbereitet zu sein – gleichgültig, ob sie durch Naturgewalten, technische Ursachen oder bewaffnete Konflikte ausgelöst sind. Für den Arzt ist der Übergang von großen Unfällen zur Katastrophe fließend. Ärztliche Hilfe vorzubereiten, heißt nicht: den Eintritt einer Katastrophe zu begünstigen; ärztliche Hilfe auch für Extremsituationen vorzubereiten, heißt

221 Schutzkommission beim Bundesminister des Innern (Hrsg.), Katastrophenmedizin: Leitfaden für die ärztliche Versorgung im Katastrophenfall. Bonn 1982 (1. Auflage 1981). 222 Ebd., S. 5.

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vielmehr: Leben erhalten. Dies aber ist zu allen Zeiten und in jeder Situation vornehmste ärztliche Pflicht.223

Die Frontlinien wurden vom Hauptautor des Leitfadens – dem mehrfach genannten Leo Koslowski – hier einmal mehr klar gezogen: Der Erhalt des Lebens wurde als genuin professionstypische Kernkompetenz benannt; die Tätigkeit des Arztes im Katastrophenfall habe sich nach utilitaristischem Maßstab danach auszurichten, „das Bestmögliche für die größte Zahl zur rechten Zeit am richtigen Ort zu tun, um das Überleben möglichst vieler Katastrophenopfer zu sichern“.224 Der von der IPPNW so oft bemühte Präventionsbegriff fehlte im Leitfaden schon aufgrund dessen Zielsetzung, keine theoretische Abhandlung, sondern ein Vademecum für den eingetretenen, wie auch immer gearteten Ernstfall darzustellen. Seine dementsprechend knapp gehaltenen Inhalte überraschen zu diesem Zeitpunkt der Untersuchung kaum: Rudolf Frey schrieb über die Anästhesie, Otfried Messerschmidt über „Ärztliche Maßnahmen bei Strahlenunfällen und Strahlenkatastrophen“ und Koslowski über Triage und Chirurgie im Katastrophenfall. Dabei wurde die Möglichkeit eines Atomkriegs keineswegs diplomatisch ausgespart, sondern in ein Kontinuum mit anderen vorstellbaren Szenarien gestellt, für das es trotz der hohen Kosten Vorsorge zu treffen gelte.225 Die Federführung des Bundesinnenministers, die Mitwirkung des Bundesamtes für Zivilschutz sowie insbesondere die redaktionelle Tätigkeit Koslowskis verdeutlichten den Anspruch des Leitfadens, insbesondere ein Dokument des westdeutschen Zivilschutzes zu sein, welches vorherige, umstrittene NATO-Richtlinien ablösen sollte (vgl. hierzu detailliert Kapitel 2.1.2). Vorgestellt wurde der Band auf einer 1981 stattfindenden Jubiläumsveranstaltung zum 30jährigen Bestehen der Schutzkommission, wobei die erste, umfangreiche Auflage von 60.000 Exemplaren bereits ein Jahr später verdoppelt wurde. Etwa die Hälfte der Exemplare wurde den Landesärztekammern zur Verteilung an möglichst viele Ärzte kostenfrei zur Verfügung gestellt; 3700 Exemplare erhielten demgegenüber die Bundeswehr und gut 7000 Exemplare die privaten Hilfsorganisationen. Das diese breitflächige Weitergabe organisierende BZS hoffte mithin darauf, die „doch recht lebhafte und negativ verlaufende Diskussion über Katastrophenmedizin“ in ihrem Sinne zu versachlichen.226 Evident ist hingegen, dass Koslowskis Leitfaden

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Ebd., S. 125. Ebd., S. 9. Ebd., S. 48. Schreiben von Paul Kolb (BZS) an den Bundesminister des Innern – Referat ZV 2: AG Katastrophenschutz vom Januar 1983, Betr.: Veröffentlichung auf dem Gebiet des Zivil- und Katastrophenschutzes; hier: „Katastrophenmedizin. Leitfaden für die ärztliche Versorgung im Katastrophenfall“. BArch, B 106/125190. Die genannte Auflagenstärke stammt aus demselben Dokument.

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trotz oder gerade wegen seiner massenhaften Verteilung keineswegs nur auf Gegenliebe stieß. Die durchweg ablehnende Haltung der IPPNW war aufgrund der dort vorgenommenen Verquickung ziviler und militärischer Szenarien folgerichtig. Interessanter scheint demgegenüber die Haltung der im Kammerauftrag arbeitenden Katastrophenmediziner zu sein. Ernst Rebentisch offenbarte sich beispielsweise eher als Kritiker des Leitfadens.227 Koslowski, der sich gegenüber der Politik stets als „unpolitischer“ Arzt geriert hatte (vgl. Kapitel 2.2.1), erschien diesem ironischerweise zu politisch; sein Leitfaden unterscheide nicht ausreichend zwischen begrenzter Katastrophe und unbegrenztem Kriegsfall und sei der katastrophenmedizinischen Sache – analog zu manch anderen staatlichen Bemühungen – in Summe ein eher diffuser Nutzen. Wie erwähnt war der Leitfaden keineswegs die einzige entsprechende Publikation der frühen 1980er Jahre. Jenseits der kaum zu durchdringenden, sich thematisch und inhaltlich oft überschneidenden Artikelfülle in sämtlichen medizinischen Fachund Verbandzeitschriften sei auf zwei weitere Buchveröffentlichungen verwiesen, welche sich zu vielzitierten Standardwerken des jungen medizinischen Handlungsfelds entwickelten. Während Koslowski (bzw. die Schutzkommission) im Leitfaden den Krieg als probates Szenario der Katastrophenmedizin recht unverblümt inkludierte, sah dies in weniger staatsnah verantworteten Werken teilweise anders aus. Die Bayerische Landesärztekammer (BLÄK) etwa veröffentlichte den Sammelband Katastrophenmedizin 1981 und versandte diesen kostenlos an alle niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte Bayerns. Er basierte auf einem 1981 von der BLÄK und der Sanitätsakademie der Bundeswehr ausgerichteten und im Folgejahr wiederholten, von insgesamt 600 Ärzten besuchten Fortbildungsseminar.228 Der Krieg als vorstellbares Objekt der Katastrophenmedizin wurde dort durch den geschäftsführenden Arzt der BLÄK (und ehemaligen Sanitätsoffizier) Kurt Stordeur gleich zu Beginn offen thematisiert,229 die fließende Grenze zwischen Unfall und Katastrophe betont und die Bedeutung des Zivilschutzes für „die Moral der kämpfenden Truppe“ und damit das Abschreckungsprinzip hervorgehoben.230 Gleichwohl war der Tenor der Buches insgesamt weniger martialisch, wie es der Beginn vermuten ließ: Es enthielt Artikel zu Eisenbahnunglücken, zum Oktoberfestattentat,231 zu Flugzeugabstürzen 227 Vgl. z. B. Schreiben von Ernst Rebentisch an J. F. Volrad Deneke und Hanns Peter Wolff vom 10.10.1981. BArch, B 417/168. 228 Schreiben von Michael Popović (BÄK) an die Bayerische Landesärztekammer vom 6.4.1982. BArch, B 417/154. 229 Vgl. Nachruf auf Dr. Kurt Stordeur, in: Bayerisches Ärzteblatt 5/2004, S. 311. 230 Kurt Stordeur, Einführung, S. 6–7, in: Bayerische Landesärztekammer und Kassenärztliche Vereinigung Bayerns (Hrsg.), Katastrophenmedizin 1981 (Schriftenreihe der Bayerischen Landesärztekammer 58), München 1982, S. 6–9. 231 Ironischerweise wurde dieses aufgrund der günstigen Versorgungsbedingungen in einem Artikel Rebentischs im selben Band als (knapp) nicht der Katastrophenmedizin zuzuordnendes Ereignis

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und Campingplatzkatastrophen; autobahnpolizeiliche Berichte standen neben katastrophenschutzrechtlichen Informationen des Landes, so dass eine Darstellung der möglichen Kriegsbilder oder Otfried Messerschmidts Beitrag zu „Kombinationsschäden nach Kernwaffeneinsatz“ zumindest zivil gerahmt erschienen.232 In der grundsätzlichen Ausrichtung unterschied sich das nur kurze Zeit nach dem Leitfaden erschienene Werk keineswegs, im Gegenteil; gerade die bewusste Einbeziehung der Sanitätsakademie markierte den Band klar als dem Doppelnutzen des Zivilschutzes verhaftetes zivil-militärisches Projekt. Die konkrete inhaltliche Bestimmung einer Vielzahl plausibler ziviler Szenarien, in denen katastrophenmedizinische Wissensbestände hilfreich sein mochten, sowie die Berücksichtigung auch nicht-ärztlicher Perspektiven betonten gleichwohl, dass diese kein wohlfeiles Feigenblatt der Kriegsvorbereitung waren, sondern in ihrem Eigenwert bzw. als ganz besondere Herausforderungen ernst zu nehmen waren. Bemängelt wurde die unzureichende Einbindung ärztlichen Sachverstands in Notfallplanung und -geschehen. So sei bei einer am 8. Juni 1975 sich ereignenden Eisenbahnkollision in Warngau der zuständige leitende Notarzt aufgrund verspäteter Alarmierung erst 78 Minuten nach dem Unfall vor Ort gewesen – Bergung, Erstversorgung und Abtransport der Verletzten (bei dem Unglück kamen 40 Menschen ums Leben; 111 wurden z.T. schwer verletzt) waren zu diesem Zeitpunkt bereits weit fortgeschritten. Das professionsspezifische Anliegen einer frühzeitigen Einbeziehung sowie die Sicherung des Entscheidungsprimats gegenüber anderen im Katastrophenschutz beteiligten Akteuren (z. B. lokale Behörden, Hilfsorganisationen oder Polizei und Feuerwehr) stand also auch bei solchen, mit Zeitverläufen und Materialaufstellungen versehenen Artikeln im Vordergrund.233 Noch ziviler fiel der von der Niedersächsischen Landesärztekammer herausgegebene, mit einer Auflage von zunächst 13.000 Exemplaren234 gedruckte Band Wegweiser medizinische Katastrophenhilfe: Schwerpunkte ärztlicher Hilfe bei Großunfällen und zivilen Katastrophen – Handbuch für den Katastrophenschutz aus. Adäquat zum Titel hatte sich die Kammer klar darauf festgelegt, den Kriegsfall komplett auszusparen. Dies äußerte sich sowohl in der Auswahl der Autoren, welche auf Wehrmediziner weitgehend verzichtete, als auch in den vorgestellten Szenarien. So waren beide enthaltenen Artikel, die sich mit Strahlenexposition befassten,

eingestuft, vgl. Ernst Rebentisch, Aufgaben und Besonderheiten der Katastrophenmedizin im Frieden und im Verteidigungsfall, S. 20, in: BLÄK und KV Bayerns (Hrsg.), Katastrophenmedizin 1981, S. 20–29. 232 Vgl. das Inhaltsverzeichnis zu BLÄK und KV Bayerns (Hrsg.), Katastrophenmedizin 1981. 233 Rainer Kirchhoff, Eisenbahnunglück in Warngau, in: BLÄK und KV Bayerns (Hrsg.), Katastrophenmedizin 1981, S. 37–43. 234 Presseinformationen der Ärztlichen Pressestelle Niedersachsen vom 8.10.1982. BArch, B 417/158.

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ausschließlich auf zivile Fälle bezogen235 und gingen an keiner Stelle von einem zusammengebrochenen System der Hilfeleistung aus, wie es im Atomkriegsfall drohte. Insgesamt wurde der später oft verkürzt als Handbuch Katastrophenschutz zitierte Band Ernst Rebentischs Anspruch, zunächst „stets die Möglichkeit einer Katastrophe im Frieden“236 in den Mittelpunkt des Bemühens zu stellen, deutlich konsequenter gerecht als das kooperativ mit dem Sanitätswesen der Bundeswehr erarbeitete Werk Katastrophenmedizin 1981. Die Tatsache, dass auch dieser Band mit einer Abgrenzung zur IPPNW begann – noch dazu aus der Feder Gustav Osterwalds, damals in Personalunion Präsident der Ärztekammer Niedersachsens und Vizepräsident der BÄK – verdeutlicht einmal mehr, wie sehr man diese als Gefährdung des medizinischen Zivil- und Katastrophenschutzes verstand. Der von IPPNW-Seite angestrengten Umdeutung der Katastrophenmedizin zu einem rein medizinethischen Gegenstand wurde eine klare Absage erteilt und die Bedeutung einer entsprechenden ärztlichen Ausbildung ausdrücklich betont.237 Die Praxis der Triage wurde nicht problematisiert, sondern als medizinische Notwendigkeit schon bei Großunfällen ausgewiesen. Gerade deswegen muss die im Vergleich zum Leitfaden Katastrophenmedizin zivilere Schwerpunktsetzung beider Kammerpublikationen als Indiz dafür betrachtet werden, dass die Bestimmung des exakten Wesens der Katastrophenmedizin auch unter ihren Befürwortern umstritten blieb – nicht jedoch dafür, dass man ernsthaft darüber nachdachte, den Forderungen der IPPNW nachzukommen. 3.2.3 Ernst Rebentischs Arbeitskreis(e) „Was ist zur Sicherstellung der Gesundheit in einer Großkatastrophe (Krieg) vorhanden?“ lautete die Überschrift eines Artikels von Arztsoldat Kurt Groeschel.238 Dieser erschien 1981 in der vom Bundesamt für Zivilschutz herausgegebenen Zeitschrift Zivilverteidigung und erinnerte eindrücklich an die den Katastrophenbegriff kennzeichnende Unschärfe. Während die Ärztekammern, und noch eindeutiger

235 Vgl. H. Creutzig & D. Junker, Akutmaßnahmen bei einer Strahlenexposition durch eine zivile Katastrophe sowie Katastrophenschutz in der Umgebung kerntechnischer Anlagen, beide in: Ärztekammer Niedersachsen (Hrsg.), Wegweiser Medizinische Katastrophenhilfe: Schwerpunkt ärztlicher Hilfe bei Großunfällen und zivilen Katastrophen – Handbuch für den Katastrophenschutz. Hannover 1982, S. 136–148 und S. 149–200. 236 Rebentisch, Aufgaben und Besonderheiten der Katastrophenmedizin im Frieden und im Verteidigungsfall, S. 25. 237 Gustav Osterwald, Katastrophenschutz als Aufgabe der Ärzte und der Ärztekammern, S. 11–12, in: Ärztekammer Niedersachsen (Hrsg.), Wegweiser Medizinische Katastrophenhilfe, S. 11–20. 238 Kurt Groeschel, Was ist zur Sicherstellung der Gesundheit in einer Großkatastrophe (Krieg) vorhanden?, in: Zivilverteidigung 3/1981, S. 18–23.

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Katastrophenmediziner wie Rebentisch, frühzeitig den All-hazards-Ansatz vertraten und die ganze Bandbreite vorstellbarer Szenarien zu thematisieren suchten, verwendeten andere, zumal staatliche Stellen, „Katastrophe“ nach wie vor als Chiffre für den Krieg – ganz im Sinne der Befürchtungen der ärztlichen Friedensbewegung. Daran änderte auch der 1981 nach vielen Querelen und Verzögerungen endlich erschienene Abschlussband des von Hanno Poppe geleiteten Arbeitskreises nichts (vgl. detailliert Kapitel 2.2.4). Die rund 150 Seiten umfassende Broschüre konzentrierte sich – ganz wie seinerzeit von Poppe gewünscht – auf fachliche Aspekte der mit der zivilen Nutzung der Atomenergie zusammenhängenden Risiken. Poppe bezog sich in seinem Vorwort auf den Harrisburg-Unfall von 1979, auf die gleichfalls 1979 von der Deutschen Gesellschaft für Reaktorsicherheit herausgegebene Deutsche Risikostudie, die heftigen Proteste gegen den Bau des AKW Brokdorf sowie auf die im Vergleich zur bundesrepublikanischen Öffentlichkeit deutlich gelassener reagierenden Franzosen.239 Sämtliche Artikel konzentrierten sich auf zivile Szenarien und gingen von einem voll funktionsfähigen Gesundheitswesen zu ihrer Bewältigung aus.240 Aber auch hier galt analog zu Katastrophenmedizin 1981 und zum Handbuch Katastrophenschutz: Die Triage als ärztliche Praxis wurde mehrfach detailliert vorgestellt und keineswegs als grundlegend bedenklich problematisiert. Es wurde transparent dargelegt, dass mehrere Forschungsbefunde auf den Studien zu den Atombombenabwürfen über Hiroshima und Nagasaki basierten und Ernst Rebentisch erläuterte im Eröffnungskapitel „Katastrophen aus medizinischer Sicht und die Grundlagen ihrer Bekämpfung“, dass die Katastrophenmedizin ihre Wissensbestände teilweise der Wehrmedizin verdanke. Die Schlüsselbezeichnung Massenunfall – laut Rebentisch aufgrund des technisch-industriellen Fortschritts und der zunehmenden Vernetzung der Welt über moderne Kommunikationsmöglichkeiten „ein typischer Begriff unseres Zeitalters“241 – wurde gar aus dem Atomkrieg hergeleitet, nun jedoch zivil umgedeutet: Der Massenunfall ist der typische Begriff für die Katastrophe aus medizinischer Sicht. Abgeleitet aus der amerikanischen „mass casualty situation“ im atomaren Krieg, findet er heute bei all den Ereignissen Anwendung, bei denen die Zahl der Verwundeten […]

239 Vgl. Hanno Poppe, Vorwort, in: Wissenschaftlicher Beirat der Bundesärztekammer (Hrsg.), Zur Frage der ärztlichen Versorgung der Bevölkerung bei Kernkraftwerksunfällen. Köln 1981, S. 7–9. 240 Als Beispiel mag die detailliert besprochene Knochenmarktransplantation als Therapiemaßnahme der Strahlenkrankheit angeführt werden, welche im Kriegsfall kaum durchführbar gewesen wäre, vgl. F. Wendt, Die Behandlung des Strahlensyndroms, in: Wissenschaftlicher Beirat der Bundesärztekammer (Hrsg.), Versorgung der Bevölkerung bei Kernkraftwerksunfällen, S. 101–113. 241 Ernst Rebentisch, Katastrophen aus medizinischer Sicht und die Grundlagen ihrer Bekämpfung, S. 12, in: Wissenschaftlicher Beirat der Bundesärztekammer (Hrsg.), Versorgung der Bevölkerung bei Kernkraftwerksunfällen, S. 11–39.

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die Leistungsfähigkeit der Ärzte, ihrer Hilfskräfte und ihrer materiellen Hilfsquellen überschreitet.242

Aufgrund der programmatischen Ausrichtung seines Artikels war Rebentisch der einzige Autor des Bandes, welcher den Verteidigungsfall explizit, wenn auch sehr kurz thematisierte und die unterschiedlichen Zuständigkeiten in Bezug auf Katastrophen- und Zivilschutz (Länder, Bund) definierte. Als die Ärzteschaft zentral interessierende Aspekte nannte er insbesondere deren unabdingbaren Entscheidungsprimat in Sachen Patientenversorgung,243 ihre durchgängige Berücksichtigung und Einbeziehung in Katastrophenschutzpläne und gesetzliche Bestimmungen244 sowie die Offenlegung sämtlicher, unsinnigerweise als geheim eingestufter Eventualplanungen (vgl. hierzu Kapitel 2.2.5).245 Abermals präsentierte sich der Generaloberstabsarzt a.D. Rebentisch hier als Fürsprecher einer Ärzteschaft, die professionsspezifische Interessen notfalls auch gegen den Willen der politischen Entscheidungsträger durchzusetzen suchte. Etwaige Differenzen zwischen Militärs und Zivilisten erschienen dabei nichtig im Vergleich zu dem wesentlich größeren Unterschied zwischen ärztlichem „Stand“ und den nicht-ärztlichen Akteuren des Handlungsfeldes Zivil- und Katastrophenschutz. Wie bereits in Kapitel 2.2.4 erwähnt, ersetzte Rebentisch Hanno Poppe als Vorsitzender des Nachfolgerarbeitskreises des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer, welcher nun schlicht „Ärztlicher Einsatz bei Katastrophen“ hieß und damit die spezifischeren Vorgängertitel – „Gefährdung durch Kernkraftwerke“ (Vorsitz Emil Graul) und „Ärztliche Hilfe bei Kernkraft-Katastrophen“ (Vorsitz Hanno Poppe) – transzendierte. Auch wenn die Befürchtung der Friedensbewegungen, es würde verdeckt der Atomkrieg geprobt, nun noch naheliegender erschienen sein musste als bei den eindeutiger benannten Vorläufern, ging es letztlich um eine sachlich fokussierte Verschmelzung sanitätsdienstlicher und zivilärztlicher Wissensbestände anhand eines Gegenstands, welcher per definitionem offen war: das Katastrophische als fluider, relativer und damit vergleichsweise „modern“ imaginierter Zustand. Rebentisch suchte dabei vor allem, die keinesfalls exklusiv bei der IPPNW, sondern auch – man denke an den Beginn dieses Kapitels – in den eigenen Reihen verbreitete Gleichsetzung von Katastrophe und Krieg aufzubrechen246 und die Vielfalt vorstellbarer Szenarien zu betonen, welche bereits in Katastrophenmedizin 1981 und im Handbuch Katastrophenschutz zur Sprache gekommen war. Um

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Ebd., S. 13. Ebd., S. 23. Ebd., S. 24. Ebd., S. 25. Vgl. Schreiben von Ernst Rebentisch an J. F. Volrad Deneke und Hanns Peter Wolff vom 10.10.1981. BArch, B 417/168.

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die Katastrophenmedizin als solche breit aufzustellen, empfand Rebentisch die Klärung der Grundlagen als prioritär, waren es seiner Ansicht nach doch Missverständnisse hierüber gewesen, welche den innerärztlichen Widerstand ursprünglich verantwortet hatten. Hierfür wurde der neue Arbeitskreis zunächst in drei Gruppen aufgespalten, wovon die erste „Begriffsdefinitionen der Katastrophenmedizin“ erarbeiten, die zweite „Ethische Fragen der Katastrophenmedizin“ diskutieren und die dritte „Rechtsfragen der Katastrophenmedizin“ klären sollte.247 In einer allgemein gehaltenen Eingangssitzung des Arbeitskreises warnte Rebentisch davor, die Möglichkeit eines Krieges auch nur zu thematisieren und betonte, dass man den dafür zuständigen Stellen (allen voran dem Staat) keinesfalls die Arbeit abnehmen solle. Die Grundlage der Katastrophenmedizin sei nicht die Wehrmedizin, sondern die Notfallmedizin,248 da es „fließende Übergänge“ zwischen einem Großunfall und einer Katastrophe gebe.249 Diese Einordnung wurde insbesondere in der Arbeitsgruppe „Ethische Fragen“ vertieft problematisiert. Als einziger Gegenpol zu Rebentischs Position muss Volrad Deneke, damals Hauptgeschäftsführer der Bundesärztekammer, angeführt werden, welcher es nach wie vor für eine Verpflichtung hielt, explizit auch auf den Krieg hinzuweisen. In gegenteiliger Richtung zu Rebentisch beharrte er darauf, dass Übergänge auch zwischen „Friedens- und Kriegs-Katastrophen“ fließend sein könnten; die anderen Mitglieder (z. B. Hanns Peter Wolff und Werner Wachsmuth) schlossen sich jedoch Rebentischs Position an.250 „Katastrophenmedizin“ beschrieb somit ein zivilmedizinisches Feld, welches zwischen der umstrittenen „Kriegsmedizin“ und der allseits geschätzten Notfallmedizin angesiedelt, aufgrund „fließender Grenzen“ aber insbesondere von Letzterer kaum trennscharf abzugrenzen war. Entsprechende Debatten in Rebentischs Arbeitsgruppen müssen als Versuch angesehen werden, vor dem Hintergrund professionsinterner Spannungen erwünschte Regeln des Sagbaren über dieses nach wie vor neue Handlungsfeld zu formulieren. Ausgangspunkt sollten

247 Vgl. Auszug aus dem Protokoll der 23. Plenarsitzung des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer vom 4.12.1981, Punkte 4 a) TO: Ärztlicher Einsatz bei Katastrophen. BArch, B 417/865. 248 Vgl. Protokoll der 1. Sitzung des Arbeitskreises „Ärztlicher Einsatz bei Katastrophen“ des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer am 22.4.1981, S. 2. BArch, B 417/159. 249 Protokoll der 1. Sitzung der Arbeitsgruppe „Begriffsdefinitionen der Katastrophenmedizin“ des Arbeitskreises „Ärztlicher Einsatz bei Katastrophen“ des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer am 29.8.1981, S. 4. BArch, B 417/159. 250 Vgl. Protokoll der 1. Sitzung der Arbeitsgruppe „Ethische Fragen der Katastrophenmedizin“ des Arbeitskreises „Ärztlicher Einsatz bei Katastrophen“ des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer am 29.10.1981, S. 3. BArch, B 417/1171. Die Thematisierung umstrittener, nicht genuin ärztlicher Themen (z. B. der Schutzraumbau) war bereits zuvor ausgeschlossen worden, vgl. ebd., S. 2.

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dabei stets friedenzeitliche Szenarien – Natur- und technische Katastrophen251 bzw. „Unfälle, Verbrennungen, Vergiftungen“252 – sein. Diese Charakterisierung entsprach damit der bereits in Kapitel 2.1.5 vorgenommenen Unterscheidung, dass die Katastrophenmedizin im Gegensatz zur Wehrmedizin nicht vom Kriegsfall ausgeht, sondern vielmehr sucht, ursprünglich wehrmedizinische Erkenntnisse für den Frieden nutzbar zu machen. Neu hinzu kam an dieser Stelle der unumwundene Hinweis auf ihre Gemeinsamkeiten zur Notfallmedizin, zu der man noch gegen Ende der 1970er Jahre vor allem auf Abgrenzung pochte, sicher auch, um die Notwendigkeit der Etablierung eines eigenständigen Fachbereichs zu unterstreichen. Schlussendlich wurde „Katastrophenmedizin“ wie folgt definiert: Katastrophenmedizin ist die alle Fachgebiete übergreifende Lehre und Praxis der Rettung, Sichtung und Behandlung vieler, nahezu gleichzeitig bedrohter Menschen. Sie umfaßt die Anwendung medizinischer Behandlungsverfahren in unmittelbarer, oft sich plötzlich ändernder Abhängigkeit von der Verfügbarkeit qualitativ und quantitativ geeigneter personeller und materieller Hilfen. Katastrophenmedizin ist Massenmedizin, die unter Bildung zusätzlicher Stufen ärztlicher Versorgung betrieben werden muß und vorübergehend zur Abkehr von der Individualmedizin zwingt. Der verstärkten Mitwirkung der paramedizinischen Kräfte kommt dabei besondere Bedeutung zu.253

Auch wenn dem neuen Arbeitskreis der Bundesärztekammer ein Bemühen um Klarheit attestiert werden muss und der Grundlagendiskussion breiterer Raum zugestanden wurde, als dies zuvor der Fall gewesen war, blieb die Definition angreifbar. Weder wurden konkrete Szenarien benannt bzw. ausgeschlossen, noch trennte man sich von der Idee der „Massenmedizin“, im Gegenteil: Die von IPPNW-Seite rundweg abgelehnte, zeitlich begrenzte Abkehr von der Individualmedizin schien mehr denn je ins Zentrum katastrophenmedizinischer Überlegungen zu rücken. Von einer Umstimmung der innerärztlichen Opposition ging man auf Arbeitskreisseite folgerichtig gar nicht erst aus und von der erörterten Aufnahme eines prominenten Gegners der Katastrophenmedizin (hierbei kann wohl nur Ulrich Gottstein gemeint gewesen sein) distanzierten sich insbesondere Deneke und Wilhelm Ahrens, der Geschäftsführer des Wissenschaftlichen Beirats, aufgrund „schlechter

251 Ebd., S. 8. 252 Protokoll der 2. Sitzung der Arbeitsgruppe „Ethische Fragen der Katastrophenmedizin“ des Arbeitskreises „Ärztlicher Einsatz bei Katastrophen“ des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer am 1.12.1981, S. 1. BArch, B 417/159. 253 Protokoll der 1. Sitzung der Arbeitsgruppe „Begriffsdefinitionen der Katastrophenmedizin“ des Arbeitskreises „Ärztlicher Einsatz bei Katastrophen“, S. 6. Betonung im Original.

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Erfahrungen“254 (angespielt wurde hier auf den Skandal um Hermann Kater, vgl. Kapitel 2.2.4). Wegen der Offenheit des Katastrophenbegriffs, welche man durch weiterführende Definitionen einzuschränken suchte,255 blieb der Kriegsfall auch bei nunmehr präziserer Verortung des Feldes präsent, wenngleich eher subkutan. An dieser Stelle muss die je nach Arbeitsgruppe unterschiedliche personelle Besetzung mit durchweg älteren, teils kriegserfahrenen Ärzten betont werden: Neben Rebentisch und den BÄK-Funktionären Deneke, Wolff und Ahrens war auch der Schutzkommissionsarzt Leo Koslowski bei der ersten Sitzung der Gruppe „Begriffsdefinitionen“ vertreten, gleichermaßen Hansjoachim Linde als Inspekteur des Sanitätswesens der Bundeswehr sowie der den Arbeitskreismitgliedern „Idealismus“ bescheinigende Rudolf Frey,256 bei der ersten Sitzung der Gruppe „Rechtsfragen“ auch Paul Wilhelm Kolb vom BZS. Der sich in der Arbeitsgruppe „Ethische Fragen“ wie Rebentisch vehement für eine Konzentration auf zivile Szenarien aussprechende, hochangesehene Würzburger Chirurg und Krankenhausdirektor Werner Wachsmuth war bereits im Jahr 1900 geboren, seit 1969 emeritiert und Veteran beider Weltkriege; noch während des Zweiten Weltkriegs veröffentlichte er als Beratender Chirurg der Wehrmacht kriegschirurgische Schriften aus dem Sonderlazarett des Oberkommandos des Heeres in Brüssel.257 Die Idealbiographie des professional, welche keinen Ruhestand kennt, sondern das ungebrochen fortgesetzte Bemühen um den eigenen Beruf vorsieht (von Harald Mieg als „Einheit von Beruf und Wissen“ beschrieben)258 wurde somit um den Faktor der persönlichen Biographie erweitert. Trotz anderslautender Aussagen Rebentischs blieb die Wehrmedizin schon aufgrund der Erfahrungen ihrer Protagonisten eine der Grundlagen des katastrophenmedizinischen Arbeitskreises. Die grundlegende Zielsetzung, ein Set von Handlungsanweisungen zu formulieren, welche möglichst unabhängig von der Schadensursache hilfreich sein könnten, sicherte zudem eine vorstellbare

254 Protokoll der 1. Sitzung der Arbeitsgruppe „Ethische Fragen der Katastrophenmedizin“ des Arbeitskreises „Ärztlicher Einsatz bei Katastrophen“, S. 9. 255 Vgl. hierzu umfangreich: Protokoll der 4. Sitzung der Arbeitsgruppe „Begriffsdefinitionen der Katastrophenmedizin“ des Arbeitskreises „Ärztlicher Einsatz bei Katastrophen“ des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer. BArch, B 417/158. 256 Protokoll der 1. Sitzung des Arbeitskreises „Ärztlicher Einsatz bei Katastrophen“, S. 3. 257 Werner Wachsmuth (Hrsg.), Veröffentlichungen aus dem Chirurgischen Sonderlazarett des O. K. H., 1942–1943. Brüssel 1944. Zur allgemeinen Biographie Wachsmuths vgl. auch: Geburtstage: Prof. Dr. med. Dr. jur h. c. Werner Wachsmuth, in: Deutsches Ärzteblatt 18/1985, S. 1366; Gestorben: Prof. Dr. med. Dr. jur. h. c. Werner Wachsmuth, in: Deutsches Ärzteblatt 34-35/1990, S. 2568. Eine Ehrung anlässlich seines Todes verfasste zudem Gründungsmitglied und späterer Präsident der DGKM Edgar Ungeheuer: ders., Nestor der deutschen Chirurgen: Zum Tod von Werner Wachsmuth, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.6.1990. 258 Harald Mieg, Profession: Begriff, Merkmale, gesellschaftliche Bedeutung, S. 28, in: Michael Dick (u. a.), Handbuch Professionsentwicklung, S. 27–40.

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Anwendbarkeit der Ergebnisse auch im Kriegsfall. Weniger offizielle Dokumente als die Arbeitskreisprotokolle bestätigen diese Überlegung: In einem bereits in Kapitel 3.1.4 erwähnten, selten offenherzigen Schreiben gab Rebentisch unumwunden zu, dass wünschenswerte Vorbereitungen für den Frieden (etwa die Verabschiedung ziviler Landeskatastrophenschutzgesetze) deren Nutzen im Falle eines Krieges keinesfalls ausschlössen.259 Sämtliche Maßnahmen jedoch, die einseitig den Krieg berücksichtigten sollten ausgeblendet, Maßnahmen, die einem dynamischen Katastrophenbegriff dynamisch angepasst werden konnten, hervorgehoben werden – insbesondere die „vor Ort“ und in Echtzeit modifizierbare ärztliche Inferenzleistung der Triage (vgl. hierzu die Kapitel 1.5 und 2.1.4). Es offenbart sich an dieser Stelle einmal mehr, dass Zivilschutzbemühungen wohl gerade dort erfolgreich waren, wo man deren Nutzen vor allem für den Frieden glaubhaft begründen konnte. Dies war im Gegensatz zum Schutzraumbau bei flächendeckenden Erste-Hilfe-Ausbildungen der Fall gewesen und eben an dieser Stelle suchte auch die Katastrophenmedizin anzudocken: Der Wert der eigenen Tätigkeit gerade im Frieden sollte betont, die damit zwangsläufig einhergehende, aber wenig invasive Minimalvorbereitung für die Eventualität des Kriegsfalles kollateral „mitgenommen“ werden. Diese Vorgehensweise schloss die Kriegsvorbereitung demnach nicht aus, zwang sie aber in ein – die Sprachfigur Diebels bemühend – „katastrophisiertes“ Schattendasein. Am bereits innerhalb der entsprechenden Arbeitsgruppe vorgebrachten Widerstand gegenüber Denekes Wunsch, den Krieg stärker zu berücksichtigen, lässt sich gut belegen, wie sehr man auf Seite der Katastrophenmediziner den Schlüssel zum Erfolg der eigenen Bestrebungen in eben dieser Entwicklung zu sehen begann. Über die Rolle, welche allein die Existenz einer innerärztlichen Generalopposition hierbei gespielt haben mag, können in diesem Zusammenhang hingegen nur Mutmaßungen angestellt werden. Ohne allzu sehr auf die juristischen Details der Arbeitsgruppe „Rechtsfragen der Katastrophenmedizin“ eingehen zu können: Im Mittelpunkt der Diskussionen stand die bereits von Hanno Poppe empört konstatierte Beobachtung, dass Ärzte in den Katastrophenschutzgesetzen der Bundesländer nirgendwo berücksichtigt wurden und Fragen der Weisungsbefugnis in Bezug z. B. auf Sichtungsund Transportprioritäten ungeklärt blieben (vgl. Kapitel 2.2.4). Die Arbeitskreismitglieder, nunmehr ergänzt durch Vertreter der Rechtsabteilung der Bundesärztekammer, waren sich darin einig, „daß ein Verwaltungsbeamter über die reine medizinische Versorgung im Katastrophenfalle nicht entscheiden kann“.260 Der verantwortliche Katastrophenschutzleiter müsse vielmehr zwingend einen Arzt 259 Vgl. Schreiben von Ernst Rebentisch an Heinz-Peter Brauer vom 8.2.1982. BArch, B 417/154. 260 Protokoll der 1. Sitzung der Arbeitsgruppe „Rechtsfragen der Katastrophenmedizin“ des Arbeitskreises „Ärztlicher Einsatz bei Katastrophen“ des Wissenschaftlichen Beirates der Bundesärztekammer am 1.12.1981, S. 3. BArch, B 417/159.

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mit klar umrissenem Aufgabenbereich frühzeitig in den Katastrophenstab berufen und gegebenenfalls weitere Ärzte an der Planung teilnehmen lassen. Die hierbei von der Ärzteschaft angestrebte Rechtssicherheit bei gleichzeitiger Wahrung von Deutungshoheit und Weisungsbefugnis in ihrem professionsspezifischen Bereich entsprach dabei nicht nur dem Prinzip der ärztlichen Selbstverwaltung, sondern verdeutlichte zudem, dass Ärztinnen und Ärzte im Katastrophenfall keineswegs eigenmächtig agieren, sondern innerhalb eines komplexen Geflechts teils widersprüchlicher Zuständigkeiten und Organisationskulturen. Große Aufmerksamkeit wurde dabei dem Berufsbild des Rettungssanitäters eingeräumt, der – auch hier waren sich die Arbeitskreismitglieder einig – im wie auch immer gearteten Ernstfall durchaus lebensrettende Maßnahmen einzuleiten habe, ohne auf entsprechende ärztliche Anweisungen warten zu können. Dass Sanitäter für solche Aufgaben (z. B. Infusionen und Intubationen) nicht ausgebildet würden und somit auch nicht strafrechtlich verantwortbar gemacht werden könnten, sei ein Missstand, welcher gesetzlich behoben werden müsse, ohne hingegen die Handlungsspielräume des Hilfspersonals etwa auf operative Eingriffe auszuweiten.261 Die auf eine Klärung des rechtlichen Status von Ärztinnen und Ärzten im Katastrophenfall ebenso wie auf eine genauere Bestimmung des Verhältnisses zwischen Ärzteschaft und Hilfsorganisationen abzielenden Protokolle der Arbeitsgruppe „Rechtsfragen“ verdeutlichten gemeinsam mit den zuvor angesprochenen Gruppen und der nachträglich eingerichteten Gruppe „Jodprophylaxe“262 die schillernde Vielfalt der insgesamt vom Arbeitskreis angegangenen Aufgaben: Seine Arbeit sollte einerseits in einem katastrophenmedizinischen Manifest der Bundesärztekammer aufgehen, gleichfalls aber auch zur Beeinflussung politischer Entscheidungsträger „im Rahmen des politisch Machbaren“ nutzbar sein sowie für die katastrophenmedizinische Fortbildung angemessene Materialien bereitstellen.263

261 Vgl. Protokoll der 1. Sitzung der Arbeitsgruppe „Rechtsfragen der Katastrophenmedizin“ des Arbeitskreises „Ärztlicher Einsatz bei Katastrophen“, S. 4; sowie Protokoll der 3. Sitzung der Arbeitsgruppe „Rechtsfragen der Katastrophenmedizin“ des Arbeitskreises „Ärztlicher Einsatz bei Katastrophen“ des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer am 22.2.1982, S. 3. BArch, B 417/1171. 262 Diese war im Gegensatz zu den programmatischer arbeitenden Gruppen klarer auf eine konkrete Situation bezogen: Ausgehend von einer vom BMI in einem entsprechenden Merkblatt empfohlenen Jodprophylaxe bei Kernkraftwerksunfällen wurde dort deren Sinnhaftigkeit besprochen, mögliche Nebenwirkungen diskutiert und Änderungswünsche von ärztlicher Seite angemeldet. Neben dem als Strahlenschutzexperte vertretenen Otfried Messerschmidt nahm mit Caroline Pickardt, einer Professorin für Innere Medizin, erstmals eine Ärztin an einem entsprechenden Arbeitskreis der Bundesärztekammer teil. Vgl. Protokoll der konstituierenden Sitzung der Arbeitsgruppe „Jodprophylaxe“ des Arbeitskreises des Wissenschaftlichen Beirats „Ärztliche Hilfe bei Katastrophen“ vom 19.1.1982. BArch, B 417/158. 263 Protokoll der 1. Sitzung des Arbeitskreises „Ärztlicher Einsatz bei Katastrophen“, S. 6–8.

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Während Rebentisch demnach die Plenarsitzung des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer am 19. Mai 1982 über den Abschluss der Arbeitsgruppenarbeit und einzelne erste Befunde informierte,264 wurde die Arbeitskreisarbeit angesichts der multiplen Aufgaben fortgeführt. Zur repräsentativeren Ausweitung der Erkenntnisse versandte Rebentisch einen detaillierten Fragenkatalog an etwa 100 Ärzte, eingeleitet durch kurze Texte zu den ethischen und rechtlichen Grundlagen der Katastrophenmedizin,265 und auch der vorläufige Abschlussbericht des Arbeitskreises wurde am 29. Februar 1984 in einem breiteren Umfeld zum peer review verteilt.266 Er umfasste über 300 Seiten und suchte, sämtliche Bereiche des vielfältigen Handlungsfeldes von den ethischen und rechtlichen Grundlagen bis hin zu fachspezifischen Anweisungen und zur Kooperation der Ärzteschaft mit Kliniken und Hilfsorganisationen abzudecken. Begründet wurde die eigene Arbeit dabei nicht allein mit der fachlichen Notwendigkeit, sondern auch mit einer gewünschten Versachlichung der Debatte, insbesondere im Hinblick auf die „Atomkriegsgegner“ sowie – besonders wichtig – mit dem Wunsch, das sich weitgehend in Laienhand befindende Handlungsfeld medizinischer Katastrophenhilfe endlich konsequent in die Ägide der eigenen Profession zu überführen.267 Der Großteil des erhaltenen Feedbacks fiel positiv aus: Unabhängig von vielfach konstatierten stilistischen Ungereimtheiten, meist unterschiedlicher Autorenschaft geschuldeter Wiederholungen usw., wurde gerade Ernst Rebentischs Leistung lobend hervorgehoben.268 Doch der Bericht erfuhr auch Kritik. Wilhelm Ahrens bemängelte eine nach wie vor nicht ausreichend zivile Ausrichtung gerade in der Einleitung, wo von Ost-West-Krisen und der NATO die Rede sei.269 Bereits im ersten Absatz hieß es zudem, dass sich „seit dem schrecklichen Erlebnis des 2. Weltkrieges und dem Zusammenbruch unseres Staatsgefüges 1945 nur wenige Menschen Gedanken darüber gemacht [haben], welche Folgen eine Katastrophe für unsere hochempfindliche, von der Technik

264 Auszug aus dem Protokoll der 24. Plenarsitzung des Wissenschaftlichen Beirates am 19.5.1982; zu Punkt 4 a) TO: Ärztlicher Einsatz bei Katastrophen. BArch, B 417/949. 265 Vgl. z. B. Schreiben von Ernst Rebentisch an Kurt Stordeur (Geschäftsführender Arzt der Bayerischen Landesärztekammer) vom 26.4.1983, inkl. Anhang. BArch, B 417/146. 266 Schreiben von Paul Odenbach an die Mitglieder des Vorstandes und des Plenums des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer vom 29.2.1984, Betr.: Vorläufiger Abschlußbericht des Arbeitskreises „Katastrophenmedizin“. BArch, B 417/952. 267 Abschlußbericht des Arbeitskreises „Katastrophenmedizin“ – Einleitende Bemerkungen, S. 2 und 4. 268 Vgl. z. B. Schreiben von K. F. Schlegel an Paul Odenbach vom 2.5.1984; Schreiben von Günter Neuhaus an Paul Odenbach vom 7.6.1984; Schreiben von G. E. Schubert an Paul Odenbach vom 11.12.1984. BArch, B 417/952. 269 Stellungnahme von Wilhelm Ahrens an Paul Odenbach vom 30.4.1984, Betr.: Abschlußbericht des Arbeitskreises „Katastrophenmedizin“. BArch, B 417/952.

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abhängige soziale Struktur und für sehr viele Menschen haben könnte“,270 und auch der Abschnitt zu den ethischen Grundlagen der Katastrophenmedizin betonte die Hilfeleistungspflicht jeden Arztes „auch im Falle eines Krieges“, wenngleich nur in einem einzigen, womöglich auf Deneke zurückgehenden Satz.271 Die interessanteste Stellungnahme stammte wohl von dem Neurologen Jürgen Pfeiffer, der sich nach seiner Emeritierung 1988 auch an der historischen Erforschung der NS-Medizin beteiligende Direktor des Tübinger Instituts für Hirnforschung. In einem langen Anschreiben bekundete dieser mehrfach seinen Respekt vor Rebentischs Arbeit.272 Gleichwohl befürchtete er, ähnlich wie Ahrens, dass „bei der jetzigen Handhabe des Begriffs ‚Katastrophe‘“273 die Sache nach wie vor widersprüchlich und der Verdacht einer – von ihm selbst übrigens als notwendig erachteten – Vorbereitung der Ärzteschaft auf den Verteidigungsfall bestehen bleiben könne. Die Ursache hierfür sah Pfeiffer im Festhalten des Arbeitskreises an der „so eindeutig deklarierten Unterscheidbarkeit von Notfallmedizin und Katastrophenmedizin“,274 welche seiner eigenen Einschätzung nicht entspreche. Der Unterschied zwischen beiden Bereichen liege weniger in der Natur des ärztlichen Handelns, sondern vielmehr in der „Logistik des Notfalls“.275 Die Hinwendung zum All-hazards-Gedanken im Abschlussbericht wurde von Pfeiffer nicht kritisiert; vielmehr ging sie ihm nach wie vor nicht weit genug: Ich bin überhaupt der Meinung, dass es eine kontinuierliche Abfolge von Massnahmen [sic] gibt, die beim einfachen Verkehrsunfall mit dem Ruf nach dem Notarztwagen und 2 bis 3 Verletzten beginnt und über Massenunfälle, Brandkatastrophen bis zum Verteidigungsfall reicht.276

Die Logistik ändere sich, die Tätigkeit des Arztes hingegen kaum bzw. lediglich in Umfang und Dauer: Pfeiffers Einschätzung erinnerte an verschiedene, ähnlich lautende Bemerkungen der Arbeitsgruppendiskussionen. Rebentisch selbst wurde kaum müde, auf seiner Ansicht nach bestehende Unterschiede hinzuweisen. 270 Arbeitskreis Katastrophenmedizin des Wissenschaftlichen Beirates der Bundesärztekammer, Vorläufiger Abschlußbericht über eine Untersuchung der derzeitigen Leistungsfähigkeit der Katastrophenmedizin in der Bundesrepublik Deutschland aus der Sicht der Ärzte und der im Gesundheitswesen beteiligten Organisationen und Institutionen. Dezember 1983, S. 9. BArch, B 417/ 952. 271 Ebd., S. 39. 272 Schreiben von Jürgen Pfeiffer an Ernst Rebentisch vom 25.4.1984, Betr.: Vorläufiger Abschlussbericht des Arbeitskreises „Katastrophenmedizin“, S. 1 und 9. BArch, B 417/952. 273 Ebd., S. 2. 274 Ebd., S. 1. 275 Ebd., S. 8. 276 Ebd., S. 3.

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Dennoch: Obwohl die Katastrophenmedizin aufgrund ihres zivilen Charakters keine Wehrmedizin und aufgrund ihrer logistischen Herausforderungen keine Notfallmedizin sein mochte, blieb die Abgrenzung schwierig und verdankte sich forcierten Institutionalisierungsbestrebungen sicher ebenso wie fachlicher Notwendigkeit. Pfeiffer forderte demgegenüber die Verwischung sämtlicher Kategorien und präsentierte ein Konzept, welches auf zivile Katastrophenszenarien ebenso wie den Verteidigungsfall vorbereiten, gleichzeitig jedoch nur von Notfallmedizin sprechen solle, ergänzt lediglich durch eine der Größe des Unfalls, der Katastrophe, des Krieges angepasste logistische Komponente. Am 18. April 1986 – eine Woche vor der Tschernobyl-Katastrophe – erschien als erstes im Deutschen Ärzteblatt publiziertes Ergebnis der Bemühungen Ernst Rebentischs und seines Arbeitskreises das anvisierte Manifest: die Denkschrift Katastrophenmedizin.277 Die westdeutsche IPPNW bereitete hierzu eine Stellungnahme vor, in der sie die „Holocaust-Strategie“ der Atommächte ebenso geißelte wie die Vorstellung, dass „auch nach 450 Atombombenexplosionen in Westeuropa“ eine irgendwie geartete ärztliche Hilfeleistung möglich sei.278 Solche Behauptungen widersprächen den Erkenntnissen der erwähnten WHO-Studie zu den medizinischen Möglichkeiten im Atomkrieg – eine Studie, die Rebentisch selbst sehr schätzte (vgl. Kapitel 3.1.4). Der Denkschrift wurde eine unbotmäßige Propagierung der Massengegenüber der Individualmedizin, die „Vernachlässigung der Präventionspflicht“ sowie ein „Dolchstoß der ärztlichen Selbstverwaltung“ hinsichtlich etwaiger Ausbildungsverpflichtungen vorgeworfen; zudem fehle der Katastrophenmedizin in der (natur-)katastrophenarmen Bundesrepublik Deutschland jegliche wissenschaftliche Rechtfertigung und technische Großkatastrophen könne „man nicht vorbereiten und nicht üben“.279 Die Haltung der IPPNW schien im Kern unversöhnlich geblieben zu sein: Man befürchtete nach wie vor, dass die Katastrophenmedizin lediglich ein Vehikel zur Realisierung umstrittener Zivilschutzmaßnahmen darstelle. Als „Katastrophe“ verstand sie ein Szenario, welches „inzwischen selbst dem einfachen Bürger hinreichend bekannt“ sei – der totale Atomkrieg. Von einer elitären Position ausgehend erfolgte hier eine gänzlich auf die Erfahrungen der Weltkriegszeit abzielende Ausdeutung des Katastrophenbegriffs, zusätzlich verdeutlicht durch

277 Bundesärztekammer (Hrsg.), Denkschrift Katastrophenmedizin, in: Deutsches Ärzteblatt 16/1986, S. 1097–1111. Der ursprüngliche Autor war Rebentisch, allerdings nahm die BÄK (bzw. deren Rechtsabteilung) einige nicht geklärte Veränderungen vor, vgl. Schreiben von Ernst Rebentisch an Ministerialdirektor Steinbach (BMJFG) vom 7.1.1985. BArch, B 417/1808. 278 Schreiben von Helmut Koch an Vorstand und Beirat vom 11.3.1985, S. 1. FZH, 16–3 A/2.1.–5. 279 Ebd., S. 2–3.

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die einschlägig konnotierte Wortwahl („Holocaust“, „Dolchstoß“).280 Die Katastrophe war der Krieg und selbst gegen Vorfälle wie im indischen Bhopal half nur die Prävention. Eine Dynamisierung des Katastrophenbegriffs hatte seitens der bundesdeutschen IPPNW (noch) nicht stattgefunden bzw. war in derartigen Stellungnahmen nicht ersichtlich. Der erste Satz der Denkschrift Katastrophenmedizin lautete demgegenüber: „Katastrophenmedizin ist Teil des Katastrophenschutzes und fällt als Friedensaufgabe in die Zuständigkeit der Länder.“281 Die Möglichkeit eines Krieges wurde lediglich einmal erwähnt, und dies nur in Form eines Verweises auf die entsprechenden Beschlüsse der Deutschen Ärztetage (vgl. hierzu Kapitel 2.2.2). Ansonsten schien sich die Denkschrift ausschließlich auf zivile Szenarien zu beziehen, welche allerdings in keiner Weise näher bestimmt wurden. Der Katastrophenbegriff diente somit als verallgemeinernde Chiffre für einen wie auch immer gearteten medizinischen Groß-Notfall; die im Arbeitskreis entworfenen Begriffsdefinitionen, welche den ersten Teil des vorläufigen Abschlussberichts bildeten, wurden im knappen Manifest ausgespart. Ersichtlich wurde hingegen an mehreren Stellen, dass die Bundesärztekammer im Gegensatz zum politischen Trend der 1980er Jahre an einer gegenseitigen Hilfeleistung von Katastrophen- und Zivilschutz festhielt (vgl. Kapitel 1.4). Der Schwerpunkt der Denkschrift lag jedoch keineswegs auf einer abermaligen Schilderung des All-hazards-Gedanken oder gar der Erörterung von Triage usw., sondern auf dem Beharren der Ärzteschaft auf weitreichenden und rechtlich garantierten Befugnissen im Handlungsfeld Katastrophenschutz. Die Ärzteschaft solle sich endlich darum bemühen, ihre professionelle Autonomie auch auf diesem Gebiet einzufordern und ärztliche Aufgaben nicht länger an Laien, d. h. non-professionals, abgeben. Diese Absicht wurde durch ein Zitat der Medizinrechtskoryphäe Adolf Laufs verdeutlicht: Will der Ärztestand die Eigenart seines Dienstes bewahren, so hat er allen Anlaß, an einer alten Aufgabe festzuhalten, nämlich selbst Berufsregeln aus- und fortzubilden, damit das Recht sie aufnehme. Den ärztlichen Standesorganisationen und Fachgesellschaften obliegt es, über die beruflichen Standards zu wachen, sie zu entwickeln, zu verteidigen und zu kontrollieren.282

280 Ebd., S. 1 (alle drei Zitate). Es sei daran erinnert, dass Helmut Koch, der Autor des hier zitierten Entwurfs einer IPPNW-Stellungnahme, für seine scharfe Rhetorik bekannt war und im Gegensatz etwa zu Gottstein weniger auf den innerärztlichen Ausgleich setzte. 281 Denkschrift Katastrophenmedizin, S. 1099. 282 Ebd., S. 1099. Ursprünglich aus: Adolf Laufs, Die Entwicklung des Arztrechtes 1982/83, in: Neue Juristische Wochenschrift 24/1983, S. 1345–1392.

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Dieses Zitat verwies auf den Hauptzweck der Denkschrift Katastrophenmedizin, als Vorlage für professionsspezifisches Lobbying zu dienen. Sie adressierte demnach weniger den nach wie vor offenen Konflikt zwischen der offiziellen Berufsvertretung und der innerärztlich oppositionellen IPPNW oder gar den (Un-)Sinn einer von der Notfallmedizin unterschiedenen Katastrophenmedizin, sondern das Verhältnis der im Katastrophenschutz beteiligten Ärztinnen und Ärzte zu den Verantwortlichen der Behörden und Organisationen. Ausgangspunkt war dabei die erwähnte Nichtberücksichtigung der Ärzteschaft in den Landeskatastrophenschutzgesetzen, was im Ernstfall dazu führen könne, dass Entscheidungen ohne ärztlichen Sachverstand getroffen würden. Im Gegensatz hierzu wurde nicht nur die frühzeitige Einbeziehung verantwortlicher Ärzte (in der Regel der höchsten Medizinalbeamten des jeweiligen Gesundheitsamtes) bereits bei der Erstellung von Katastrophenplänen gefordert. Ärzte dürften in Ausübung ihrer Tätigkeit zudem „keinen Weisungen von Nichtärzten unterworfen werden“283 , sondern müssten vielmehr selbst bis hin zu Punkten der Energieversorgung und Küchenleistung284 gegenüber den in der Regel ehrenamtlich arbeitenden Laien der Hilfsorganisationen weisungsbefugt sein. Abgesehen vom unverändert bestehenden Konfliktpotenzial mit der IPPNW (nach wie vor verlangt wurde beispielsweise die Erfassung und forcierte Fortbildung möglichst der gesamten Ärzteschaft)285 rückte damit die Beziehung der Katastrophenmedizin zu den Hilfsorganisationen, d. h. vor allem dem DRK, verstärkt ins Zentrum der Debatte. Trotz aller, sich in der Denkschrift niederschlagenden Bekundungen der Arbeitskreisarbeit, vorherrschende Kontroversen versachlichen und den Katastrophenbegriff so zivil wie möglich ausdeuten zu wollen, schien das vorliegende Manifest gleichwohl neue Konfliktlinien zu eröffnen, ohne der berufsinternen Minderheit von Gegnern in der Substanz entgegenzukommen. Die Denkschrift Katastrophenmedizin ist insofern vor allem als berufsständisches Dokument einer selbstbewusst auftretenden Ärzteschaft anzusehen, welche ihre Interessen trotz vorhandenen, kollegialen Dissenses gegenüber den nicht-ärztlichen Akteuren des Zivil- und Katastrophenschutzes geschlossen durchzusetzen suchte. 3.2.4 Gesetzgebung III: Das Zivilschutzgesetz und die Hilfsorganisationen Nach dem Scheitern des vielgeschmähten ersten, im Mai 1980 vorgelegten Referentenentwurfs eines Gesundheitssicherstellungsgesetzes erhielt die BÄK am 18. Mai 1982 die Bestätigung, dass auch ein in Arbeit befindlicher zweiter Entwurf ausgesetzt werde. Dies wurde von der Opposition (d. h. der CDU/CSU) vielfach

283 Denkschrift Katastrophenmedizin, S. 1107. 284 Ebd., S. 1104. 285 Ebd., S. 1103.

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als politische Kapitulation vor linken Strömungen in der SPD wahrgenommen, von der verantwortlichen Ministerin für Jugend, Familie und Gesundheit Anke Fuchs (SPD) jedoch damit begründet, dass ein Bundesgesetz zur Nutzbarmachung ziviler Katastrophenschutzeinrichtungen für den Verteidigungsfall nur sinnvoll sein könne, wenn solche Einrichtungen überhaupt existierten. Da dies auf der dafür verantwortlichen Länderebene bislang kaum der Fall sei, müsse zunächst einem entsprechenden Aufbau Vorrang eingeräumt werden.286 Die Bemühungen, nunmehr einen – so Fuchs – realistischen, weniger perfektionistischen Entwurf vorzulegen (vgl. hierzu Kapitel 2.2.3) wurden dennoch einstweilen fortgesetzt, zusätzlich befeuert durch einen von der Unionsfraktion vorgelegten eigenen Entwurf.287 Dieser lag der Bundesärztekammer in einer auf den 10. November 1981 datierten Fassung vor und stieß auf ebenso wenig Zustimmung wie der bereits gescheiterte Versuch des BMJFG – ein weiterer Beleg dafür, wie wenig manche Konflikte um die Katastrophenmedizin an Parteilinien festgemacht werden konnten. Ernst Rebentisch, von Michael Popović am 22. Januar 1982 um Stellungnahme zum CDU/CSU-Entwurf gebeten, lehnte diesen rundweg ab; er enthalte „nach wie vor alle Mängel früherer Entwürfe“ und berücksichtige ausschließlich die Hilfsorganisationen anstelle der Ärzteschaft.288 Denselben Punkt, nunmehr aber auch in Bezug zu den einzelnen Landeskatastrophenschutzgesetzen, sollte später auch die Denkschrift Katastrophenmedizin scharf kritisieren. Ärztliche Rechte und Pflichten im Katastrophenfall würden nirgends ausreichend geklärt, wobei nur das am 22. Oktober 1981 verabschiedete rheinland-pfälzische Katastrophenschutzgesetz eine ansatzweise Ausnahme darstelle. Zudem würden sämtliche Ländergesetze den Katastrophenschutz viel zu sehr auf den Erweiterten Katastrophenschutz im Verteidigungsfall und damit auf den Zivilschutz ausrichten, anstatt sich der Fülle vorstellbarer ziviler Szenarien überhaupt bewusst zu sein.289 Trotz einiger weiterführender Arbeiten des BMJFG an einer nunmehr „Gesundheitsschutzgesetz“ genannten Rahmenrichtlinie290 erfuhr die Debatte insgesamt

286 Schreiben von Hildegard Mandt (Bonner Büro) vom 18.5.1982, Betr.: Sog. „Gesundheitssicherstellungsgesetz“. BArch, B 417/157. 287 Schreiben von Hildegard Mandt (Bonner Büro) vom 30.6.1982, Betr.: Gesundheitsschutzgesetz; Gesetzentwurf der CDU/CSU-Bundestagsfraktion in 1. Lesung im Bundestag am 23. Juni. BArch, B 417/1171. 288 Schreiben von Ernst Rebentisch an Heinz-Peter Brauer vom 8.2.1982. BArch, B 417/154. 289 Für eine relativ frühe, umfangreiche Bewertung dieses Umstands aus Sicht der Kammern vgl. Untersuchung über Art und Umfang der Berücksichtigung ärztlicher Anliegen und dem Arzt vorbehaltener Aufgaben im Katastrophenfall in der Zivil- und Katastrophenschutzgesetzgebung des Bundes und der Länder nach dem Stand vom 1.1.1982. BArch, B 417/157. 290 Vgl. Niederschrift über die Sitzung des Ausschusses und der Ständigen Konferenz „Sanitätswesen in der Bundeswehr und Zivilschutz“ am 26.2.1983 im Hause der Bundesärztekammer – Zu TO 1.): Stand der Beratungen eines Gesundheitssicherstellungsgesetzes. BArch, B 417/146.

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erst 1983/84 eine Wiederbelebung unter der Kanzlerschaft Helmut Kohls sowie mit CDU und CSU als Regierungsparteien, welche eine entsprechende gesetzliche Regelung aus der Opposition heraus seit Längerem gefordert hatten. Mehr noch: Es wurde von weiten Teilen der Union als Erfordernis einer gewünschten „konservativen Wende“291 der 1980er Jahre betrachtet, dem sich bewusst dezentral gebenden und spätestens durch das KatSG-68 rechtlich festgeschriebenen Konzept des zivil-militärischen Doppelnutzens von Zivilschutzmaßnahmen eine wiederum schärfer zentralisierte und auf die „Gesamtverteidigung“ ausgelegte Richtung zu geben.292 Den Kern der Bemühungen, den in den 1960er Jahren verlorengegangenen staatlichen Einfluss zurückzugewinnen, bildete das anvisierte Zivilschutzgesetz (ZSG), welches das vormalige Gesetz zur Erweiterung des Katastrophenschutzes ablösen und den Zivilschutz insgesamt verbindlicher regeln sollte. Ähnlich wie zuvor beim GesSG entstanden hierzu während der Jahre 1982 bis 1985 mehrere Referentenentwürfe (EZSG), die allesamt scheiterten.293 In Bezug auf das Thema dieser Untersuchung erscheint dabei die Abkehr von einem dezidierten Notstandsgesetz für das Gesundheitswesen interessant. Die organisierte Ärzteschaft richtete ihre Bemühungen um gesetzgeberische Einflussnahme folgerichtig auf eine angemessene Berücksichtigung ihrer Interessen im künftigen ZSG aus, anstatt weiterhin auf einer Sonderregel in Form eines GesSG zu beharren. Wie bereits im einleitenden Teil dieser Arbeit dargelegt, kann die Bedeutung der Hilfsorganisationen – DRK, ASB, MHD, JUH, THW und Feuerwehren – für den Zivilschutz kaum hoch genug angesetzt werden (vgl. hierzu Kapitel 1.4), sorgten diese doch dafür, dass trotz aller Kritik an einzelnen Aspekten zentrale, pragmatische Forderungen der Zivilschutzexperten (Einrichtung eines Blutspendedienstes, Durchführung von Erste-Hilfe-Kursen usw.) kaum widersprochen durchgesetzt werden konnten und über die massenhaft durchgeführte ehrenamtliche Tätigkeit fest in der Mitte der Gesellschaft verankert blieben.294 Zudem wäre die hierzulande beachtliche jährliche Bereitstellung finanzieller Mittel in durchweg dreistelliger Millionenhöhe für den Zivilschutz kaum denkbar, wenn nicht erfahrene und weitreichend respektierte Organisationen es verstanden hätten, solche Gelder zunächst anzuwerben und schließlich – im Rahmen des Erweiterten Katastrophenschutzes – glaubhaft auch in friedenzeitlichen Szenarien zur Geltung zu bringen. Es überrascht daher kaum, dass die Hilfsorganisationen am Scheitern des EZSG maßgeblich

291 Vgl. hierzu Wirsching, Abschied vom Provisorium, S. 50–53. 292 Als parlamentarischer Ausgangspunkt hierfür diente insbesondere der vom Deutschen Bundestag bereits 1980 verabschiedete „Antrag zur Gesamtverteidigung“. Siehe hierzu Diebel, Atomkrieg und andere Katastrophen, S. 190–191. 293 Einführend hierzu vgl. Diebel, Atomkrieg und andere Katastrophen, S. 191 f. 294 Vgl. ebd., S. 265.

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beteiligt waren.295 Als Beispiel mag das im gesundheitlichen Katastrophen- und Zivilschutz führend auftretende DRK dienen. Obschon dieses vielfach denselben Verantwortungsbereich beanspruchte, unterschieden sich seine Ansichten in Bezug auf die gewünschte Gesetzgebung teils fundamental von denen der ärztlichen Berufsverbände, von der den Zivilschutz ablehnenden ärztlichen Friedensbewegung ganz zu schweigen. Wenn auch die grundsätzliche Bedeutung des EZSG vom DRK konsequent unterstrichen wurde und man das BMI in teils deutlichen Worten an seine Verantwortung für den Zivilschutz in der geografisch exponierten Bundesrepublik erinnerte,296 beharrte man gleichwohl auf der eigenen Organisationsphilosophie. Das DRK drängte zwar auf eine Intensivierung von Zivilschutzmaßnahmen (einschließlich des Schutzraumbaus), bestand andererseits jedoch auf der Beibehaltung des im KatSG-68 verankerten Erweiterten Katastrophenschutzes und dem damit einhergehenden Verbundsystem von Zivil- und Katastrophenschutz (und damit Bund und Ländern). Vor allem wurde der Wille des BMI kritisiert, den in Deutschland vornehmlich privat und ehrenamtlich organisierten Zivilschutz wieder stärker verstaatlichen und „mit Hilfe dirigistischer Methoden“ – d. h. mittels Aufsichts- und Eingriffsrechten – kontrollieren zu wollen.297 Das DRK sah sich hierdurch insofern hintergangen, weil es einen Großteil der tatsächlich verwirklichten Zivilschutzmaßnahmen selbst geschultert hatte und dafür nun gegängelt, ja sanktioniert und gegenüber dem THW benachteiligt werden sollte.298 Der besonderen Rolle des DRK als weltweit anerkannte Rotkreuzgesellschaft trügen die Überlegungen des BMI ebenso wenig Rechnung wie der auf ehrenamtliche Helferinnen und Helfer angewiesenen Rolle der Hilfsorganisationen insgesamt. Schlussendlich erwies sich das DRK als wirkmächtiger und bestens vernetzter Akteur, welcher sich eigeninitiativ mit anderen Organisationen (ASB, MHD, JUH, Deutscher Feuerwehrverband) verabredete, Absprachen traf und gemeinsame Entschlüsse fasste. Es scheint bemerkenswert, dass das DRK es manchen „Hardlinern“ im BMI, allen voran Staatssekretär Carl-Dieter Spranger, durchaus zutraute, den EZSG auch gegen die eigenen Einwände durchzusetzen.299 Ohne die Mitwirkung der Organisationen jedoch konnte es in der Bundesrepublik Deutschland der 1980er Jahre – darüber muss sich das BMI im Klaren gewesen sein – keinen Zivilschutz geben. Die von

295 Ebd., S. 267. 296 Aktenvermerk vom 28.9.1983, Betr.: Novellierung des Zivilschutzgesetzes; hier: Gespräch des BMI mit den Hilfsorganisationen am 27.9.1983. DRK, 4015. 297 Entwurf eines Zivilschutzgesetzes – Stand Juni 1984; hier: Stichworte zur bisherigen Entwicklung und allgemeinen vorläufigen Bewertung des Gesetzes aus der Sicht des DRK, S. 3. DRK, 4015. 298 Vermerk für Herrn Dr. Schmitz-Wenzel vom 12.12.1984, Betr.: Gespräch beim Deutschen Feuerwehrverband am 11.12.1984, S. 3. DRK, 4015. 299 Ebd., S. 2.

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staatlicher Seite versuchte Versicherheitlichung scheiterte, während die Hilfsorganisationen gleichzeitig untermauerten, dass Sicherheitsfragen Aushandlungsprozesse sind, in denen zivile, nicht-staatliche Akteure maßgebliche Rollen übernehmen. Abseits der schon den Grundgedanken eines ZSG ablehnenden IPPNW erschließt sich aus der gegen Ende des letzten Kapitels vorgestellten, erst 1986 veröffentlichten Denkschrift Katastrophenmedizin, dass auch die Bundesärztekammer mit dem EZSG (noch) nicht zufrieden war. Ernst Rebentisch – längst zu dem maßgeblichen Experten für die Katastrophenmedizin avanciert – bekundete einerseits seine volle Unterstützung des ZSG,300 beharrte andererseits aber darauf, dass der EZSG „trotz einiger weniger Verbesserungen“ den ärztlichen Interessen nicht genügen könne.301 Ironischerweise bemängelte Rebentisch dabei vor allem eine unangemessene Bevorzugung der Hilfsorganisationen gegenüber der Ärzteschaft, was sich bereits in der Verfügbarmachung äußere. Während der Entwurf den Organisationen frühzeitig und ohne weiteren Aufwand vorgelegt worden sei, blieb Rebentischs erste Anfrage bezüglich einer gewünschten Einsichtnahme beim BMI aus Gründen der Geheimhaltung erfolglos302 – unangenehme Erinnerungen zur Weigerung mancher Behörden, der Ärzteschaft Einsicht in vorhandene Katastrophenschutzpläne zu gewähren, mochten sich aufdrängen, nunmehr sogar den ehemaligen Inspekteur des Sanitätswesens der Bundeswehr betreffend. Allein diese offensichtliche Bevorzugung der Hilfsorganisationen gegenüber den eigentlichen professionals für Gesundheitsfragen offenbarte nach Rebentisch die Gefahr, dass vornehmlich mit ehrenamtlichen Kräften besetzte Stellen, „bei denen bekanntlich Ärzte nur ein kompetenzloses Schattendasein führen“ von staatlicher Seite mehr und mehr Verantwortlichkeit in Bereichen zugewiesen bekämen, die diese keineswegs übernehmen dürften. Unabhängig solcher, gerade aus rechtlicher Sicht legitimer Bedenken zeigte sich hier einmal mehr der Konflikt um Fragen professioneller jurisdiction in Abbots Sinne: Die Profession muss nicht allein dafür sorgen, exklusive Sphären der Zuständigkeit zu erlangen, sondern diese Exklusivität auch gegenüber anderen Gruppen verteidigen. Fachliche und professionsbzw. „standespolitische“ Bedenken wurden (und werden) dabei teils bis zur Unkenntlichkeit miteinander verknüpft. Wenn Rebentisch etwa schrieb, dass „eine nicht zu verantwortende Laienmedizin“ drohe, „wenn die Ärzteschaft sich nicht den ihr zustehenden Einfluß verschafft“,303 konnte die genuin fachliche von der berufspolitischen Motivation kaum noch unterschieden werden bzw. fiel aus professionssoziologischer Sicht ineinander. Inwieweit die zur Legitimation eigener 300 Schreiben von Ernst Rebentisch an Wolfgang Beyer vom 12.12.1984. BArch, B 417/136. 301 Schreiben von Ernst Rebentisch an Ministerialdirektor Steinbach (BMJFG) vom 7.1.1985. BArch, B 417/1808. 302 Schreiben von Ernst Rebentisch an Karsten Vilmar vom 8.12.1983. BArch, B 417/146. 303 Ebd. (beide).

Die Suche geht weiter: Die Etablierung der Katastrophenmedizin

Anliegen stets angewandte „Ideologie der gesellschaftlichen Verantwortlichkeit“304 also nur als argumentative Strategie Verwendung fand oder vorrangig ernst gemeinten Bedenken entsprang, kann letztlich nicht geklärt werden. Die Bundesärztekammer veröffentlichte naturgemäß eine eigene Stellungnahme zum EZSG, deren auf den 25. Februar 1985 datierte (End-)Fassung sich maßgeblich an einem Entwurf sowie an einem längeren Kommentar Rebentischs orientierte.305 Dort wurden nicht nur Zielsetzung und Aufbau des EZSG gelobt, sondern insbesondere die erstmalige Berücksichtigung der Ärzteschaft bzw. ihrer Selbstverwaltungsorgane, welche bereits seit Jahrzehnten in diesem Zusammenhang gefordert worden war.306 Zudem wurde begrüßt, dass auf die Festschreibung einer katastrophenmedizinischen „Pflichtfortbildung“ für die Ärzteschaft verzichtet wurde; ein Punkt, den die offizielle Kammerseite trotz gegenteiliger Bedenken verschiedener IPPNW-Mitglieder stets als dirigistischen Eingriff in ihre professionelle Autonomie abgelehnt und der seinerzeit den Widerstand der BÄK gegen den Entwurf des GesSG ursächlich begründet hatte (vgl. hierzu Kapitel 2.2.3).307 Auch die auf die Stellungnahme folgenden Kommentare zu den einzelnen Paragraphen des EZSG – wobei naturgemäß die das Gesundheitswesen unmittelbar betreffenden Teile im Vordergrund standen – fielen deutlich positiver aus als z. B. diejenigen des DRK. Aus Sicht der BÄK schien der EZSG also tatsächlich einen bedeutenden Fortschritt zu früheren gesetzgeberischen Entwürfen dargestellt zu haben, welchen man im Gegensatz zum Referentenentwurf des GesSG keineswegs grundlegend torpedieren wollte. Gänzlich zufrieden gab man sich hingegen nicht, wobei zwei Kritikpunkte vorrangig gewesen zu sein scheinen. Ähnlich wie dies Ministerin Fuchs zwei Jahre zuvor getan hatte, bemängelte man zunächst, dass ein auf dem Katastrophenschutz der Länder aufbauender Zivilschutz selbstverständlich nur funktionieren könne, wenn ersterer „tatsächlich existent und einsatzfähig“ sei, was für die Feuerwehren und das THW bejaht, für den Gesundheitsdienst jedoch verneint wurde.308 Die BÄK, und damit die All-hazards-Anhänger der Katastrophenmedizin, unterschieden somit klar die positive Absicht des im KatSG-68 festgeschriebenen Konzepts von der von Länderseite aus kaum erfolgten Realisierung. Die Länder hätten das

304 Vgl. Pfadenhauer, Gemeinwohlorientierung als Maxime professionellen Handelns, S. 46. 305 Vgl. Stellungnahme zum Referentenentwurf eines Zivilschutzgesetzes (EZSG); Stand: Oktober 1984. BArch, B 417/1164 und Ernst Rebentisch, Kommentar zum Vortrag „Probleme des gesundheitlichen Zivilschutzes“ von MR Jelen im BMJFG vom 5.4.1984. BArch, B 417/136. 306 Vgl. hierzu Referentenentwurf eines Zivilschutzgesetzes (EZSG), Stand: 30.1.1984, § 23 Abs. 3. BArch, B 417/136. 307 Stellungnahme der Bundesärztekammer zum Entwurf eines Zivilschutzgesetzes, Stand 8.11.1984 vom 25.2.1985, S. 1–2. BArch, B 4177/165. 308 Stellungnahme der Bundesärztekammer zum Entwurf eines Zivilschutzgesetzes, Stand 8.11.1984 vom 25.2.1985 – Kommentar, S. 1. BArch, B 417/165.

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KatSG-68 vielmehr dazu missbraucht, ihren eigenen Katastrophenschutz auf ein Minimum zu reduzieren und zudem vornehmlich aus den Zivilschutzmitteln des Bundes zu decken, welche im Gesetz lediglich als Erweiterungen eigener Bemühungen vorgesehen waren. Der zweite Kritikpunkt bezog sich auf die Rolle der Hilfsorganisationen. Während der EZSG erstmalig die Bedeutung der „ärztlichen Leitung“309 stationärer Einrichtungen (also insbesondere Krankenhäuser und Hilfskrankenhäuser) festschrieb, stand dort nichts von der Bedeutung des Arztes auch und gerade am Katastrophenort bzw. – in Bezug auf den EZSG wohl treffender – am Kriegsschauplatz. Aufbauend auf unscharfen Begrifflichkeiten, interessanterweise aber auch mit Verweis auf den genuin ärztlichen Akt der Triage (bzw. auf die Bedeutung der Rolle des „Sichtungsarztes“) beharrte man auf den qua Profession garantierten Zuständigkeiten: Der Sichtungsarzt hat aber auch die ebenso schwere Aufgabe, zu entscheiden, wer nicht in ein Krankenhaus aufgenommen wird, wer ambulant weiter zu behandeln ist, wer keiner Behandlung und keines Abtransportes bedarf und wer wegen der Schwere seines Gesundheitszustandes zumindest zeitweilig keiner weiteren Versorgung zugeführt werden kann. Die Hilfsorganisationen sind hierzu nicht in der Lage, da sie nicht über Ärzte in entsprechender Zahl und Eignung verfügen. Andererseits ist nach Recht und Gesetz ein Arzt, der zu einem Kranken oder Verletzten tritt, stets der einzig Verantwortliche. Er darf sich bei seinem Handeln auch nicht von einem Laien leiten lassen. Die hier dargelegten Rechte und Pflichten des Arztes sind mit keiner anderen Gruppe der im Katastrophen- und Zivilschutz Mitwirkenden zu vergleichen. Ihre Beachtung durch den Gesetzgeber ist zwingend notwendig, hat jedoch weniger den Interessen der Ärzte als der hilfebedürftigen Menschen zu dienen.310

Was also in der professionsinternen Auseinandersetzung mit der IPPNW für den größten diskursiven Sprengstoff sorgte, konnte und wurde auf einem anderen, nicht mehr berufsinternen Handlungsfeld glaubhaft gegen non-professionals in Stellung gebracht. Kurzum: Wenn bereits eine durch Ärztinnen und Ärzte nach medizinischen Kriterien durchzuführende Triage als mancherorts hoch umstrittene Königsübung galt, welche nur den Erfahrensten zufallen solle, wie musste dann eine durch ehrenamtlich arbeitende Laien durchgeführte Sichtung massenhaft anfallender Schwerstverletzter zu beurteilen sein? In solchen Argumenten zeigte sich wiederum sowohl das Beharren auf professioneller jurisdiction im eigenen Fachbereich als auch eine berufsideologische Strategie, welche das Interesse der

309 Referentenentwurf eines Zivilschutzgesetzes (EZSG), Stand: 30.10.1984, § 25 Abs. 1 UAbs. 2. BArch, B 417/136. 310 Stellungnahme der Bundesärztekammer zum EZSG, Stand 8.11.1984 vom 25.2.1985, S. 8.

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potenziellen Patientinnen und Patienten in den Vordergrund rückte und damit die Grenzen reeller fachlicher Bedenken und potenziellen Eigennutzes auflöste. Die intendierte Sicherung exklusiver Verantwortungsbereiche wurde kurzerhand mit dem Patienteninteresse gleichgesetzt und wirkte somit kaum angreifbar. Trotz der grundsätzlich bekundeten Unterstützung blieb der zentralste Kritikpunkt der organisierten Ärzteschaft am EZSG essenziell: Die seit Langem verlangte, etwa ein Jahr später auch in der Denkschrift Katastrophenmedizin vehement eingeforderte, konkrete gesetzliche Klärung der ärztlichen Rechte und Pflichten im Katastrophen- und Verteidigungsfall, nunmehr ergänzt durch Spitzen gegen die Hilfsorganisationen, welche man verstärkt als unbotmäßige Konkurrenz im Bereich der eigenen jurisdiction wahrnahm. Die Wurzeln dieses Konflikts mochten in der erwähnten, zentralen Rolle der Hilfsorganisationen im bundesdeutschen Zivilschutz begründet sein, speisten sich jedoch ebenso sehr aus der auch in Rebentischs katastrophenmedizinischem Arbeitskreis problematisierten Rolle des Sanitäters im Katastrophenfall, welche kaum weniger unscharf geblieben war als diejenige der Ärztinnen und Ärzte.

3.3

Der dritte Weltkrieg – zur Zeit des Doppelbeschlusses der NATO

Nach längeren Ausführungen über die sich verstärkt an zivilen Szenarien bzw. am All-hazards-Konzept orientierenden Katastrophenmediziner, die den Kriegsfall lediglich als extremsten Anwendungspunkt eines vielfältigen Handlungsfeldes betrachteten, erscheint es sinnvoll zu sein, kurzzeitig zur Perspektive der Wehrmediziner – und damit des Sanitätsdienstes der Bundeswehr – zurückzukehren. Eingangs sei in diesem Zusammenhang erwähnt, dass sich am in den 1950er Jahren entwickelten Idealtypus des „Arztsoldaten“ bis in die 1980er Jahre grundsätzlich wenig änderte. Die Ansicht Gustav Sondermanns und Kurt Groeschels, dass der moderne Arztsoldat zwar Offizier bleiben, prioritär jedoch ein hervorragend ausgebildeter Arzt sein müsse, blieb weiterhin gültig (vgl. detailliert Kapitel 2.1.1). In einem in der Fachzeitschrift Wehrmedizin und Wehrpharmazie veröffentlichten Interview stellte der seit dem 1. April 1983 als Generalinspekteur der Bundeswehr amtierende Wolfgang Altenburg – „der erste Generalinspekteur, der im vergangenen Krieg nicht mehr Soldat gewesen ist“ –311 klar: General Altenburg: Die Truppenführung muß wissen, daß sie es [beim Sanitätsoffizier] mit einem Arzt zu tun hat und nicht mit einem zusätzlichen Grenadier- oder Artillerieoffizier,

311 Der Sanitätsdienst – ein wesentlicher Pfeiler der Bundeswehr, S. 84, in: Wehrmedizin und Wehrpharmazie 4/1984, S. 84–86.

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und der Arzt muß wissen, daß er seinen Respekt durch seine menschlichen und ärztlichen Qualitäten erwerben wird. Wehrmedizin und Wehrpharmazie: Ist der Sanitätsoffizier ein Arzt in Soldatenuniform oder ein Soldat, der als Arzt eingesetzt wird? General Altenburg: Für mich ist er in erster Linie ein Arzt in Soldatenuniform.

Das wichtigste am Arztsoldaten sei „eindeutig die ärztliche Tätigkeit“,312 und aus dieser – nicht jedoch aus seinem militärischen Rang – erwachse seine Autorität. Die intendierte Betonung der zivilen Seite des Sanitätsoffiziers wurde durch eine Berufsbeschreibung untermauert, welche insbesondere die vielfältigen Pflichten der Militärärzte im Frieden, etwa in den Bundeswehrkrankenhäusern, betonte. Auch ihre Verdienste im Katastrophenschutz wurden, beispielsweise von Sanitätsinspekteur Linde, in den Vordergrund gerückt, wobei die Bundeswehr hierbei stets im klar umrissenen Auftrag ziviler Stellen (vor allem des Innenministeriums) agiere.313 Die Betonung des „Arzttums“ der Sanitätsoffiziere ging demnach mit einer Darstellung der Bundeswehr als in der bundesrepublikanischen Ordnung verankerter „Friedensarmee“, deren Aufgabe es sei, Kriege zu verhindern, Hand in Hand.314 Dieser Hintergrund ist zu beachten, wenn man die Beziehung des Sanitätswesens zur Katastrophenmedizin in den Blick nimmt. Man stellte durchaus stolz fest, dass hier ein zivilärztliches Handlungsfeld entstanden sei, zu dessen Genese die eigenen wehrmedizinischen Wissensbestände (z. B. in Bezug auf die Triage im Massenanfall von Verwundeten) maßgeblich beigetragen hatten.315 Keinesfalls wurde die Katastrophenmedizin als verlängerter Arm des Sanitätswesens der Bundeswehr ausgedeutet, sondern vielmehr als Indikator des hohen Stellenwerts der eigenen Fachkompetenz. Dass sich Sanitätsoffiziere als Zuhörer und Referenten auf zivilen katastrophenmedizinischen Fortbildungsveranstaltungen einfänden, wurde nicht als Akt der Militarisierung interpretiert, sondern als Erfolg der seit Gründung des Sanitätswesens beabsichtigten Überwindung früherer Spaltungstendenzen zwischen Militär- und Zivilärzten und somit als wünschenswerter Akt professioneller Aggregation.316 Trotz der geäußerten Bekenntnis zu einer für das Bestehen der Demokratie als notwendig ausgewiesenen Streitkultur317 vermochte man den Positionen der ärztlichen Friedensbewegung also gleich auf mehreren Ebenen kaum

312 Ebd., S. 85 (beide). Betonungen im Original. 313 Für mehr Zusammenarbeit der zivilen und militärischen Sanitätsdienste, S. 7, in: Wehrmedizin und Wehrpharmazie 2/1982, S. 7–15 (erster Teil). 314 Der Sanitätsdienst – ein wesentlicher Pfeiler der Bundeswehr, S. 85. 315 Bernhard Häfner, Die Wehrmedizin – Schrittmacher der Katastrophenmedizin?, S. 84, in: Wehrmedizin und Wehrpharmazie 2/1986, S. 81–85. 316 Für mehr Zusammenarbeit der zivilen und militärischen Sanitätsdienste, S. 8. 317 Vgl. Hansjoachim Linde, Wehrmedizin in ethischer Verantwortung, S. 11–12, in: Wehrmedizin und Wehrpharmazie 2/1986, S. 11–16.

Der dritte Weltkrieg – zur Zeit des Doppelbeschlusses der NATO

Verständnis entgegenzubringen, betrachtete man doch die Bundeswehr als rein defensiv bzw. abschreckend ausgerichteten, den Frieden sichernden Akteur und sich selbst als voll integrierten Teil der Gesamtärzteschaft. An deren militärische „Übernahme“ konnte schon aus Eigeninteresse gar nicht zu denken sein, da dies der nun bereits jahrzehntelang gepflegten Selbstdarstellung insbesondere als vollwertige Ärzte, weniger als Offiziere, völlig widersprochen hätte. Es macht insofern Sinn, von einer gewünschten Gleichberechtigung der Sanitätsoffiziere mit der zivilen Ärzteschaft zu sprechen anstatt von wie auch immer benannten Hegemoniebestrebungen; eine erhöhte Sichtbarkeit in der zivilen Sphäre war im Lichte solcher Überlegungen aber klar gewollt und wurde als Erfolg der eigenen Bemühungen ausgewiesen. Neben der Auseinandersetzung mit dem neuen Handlungsfeld Katastrophenmedizin sowie der Bemühungen um eine bessere zivil-militärische – auch zivilmilitärärztliche – Zusammenarbeit galt auch während der hier im Vordergrund stehenden Jahre 1981 bis 1985, dass die Kriegsgefahr und entsprechende Vorbereitungen hierauf das Kerngeschäft des Sanitätswesens der Bundeswehr ausmachten. Analog zu Kapitel 2.1.3 soll an dieser Stelle deshalb kurz auf einige, zur Zeit der NATO-Nachrüstung stattfindende Planübungen eingegangen werden. Nach wie vor entwarf insbesondere die Sanitätsakademie der Bundeswehr in München im Rahmen der Sanitätsoffiziersausbildung entsprechendes Material. Das imaginierte Kriegsbild der wohl jährlich durchgeführten sanitätsdienstlichen Übungen ging dabei sowohl 1981 als auch 1984 von einem mit konventionellen Waffen geführten Krieg aus. Der Gegner ORANGE („politische Struktur und Zielsetzung wie in den Staaten des Ostblocks“) verfüge zwar jederzeit über die Möglichkeit des Einsatzes nuklearer und chemischer Kampfmittel, mache dabei aber während des Übungsverlaufs keinen Gebrauch.318 Angenommen wurde jeweils eine offensive „Vorneverteidigung“ der Bundesrepublik durch westdeutsche und verbündete Streitkräfte, um dem massiv angreifenden Gegner nicht weite Teile des Bundesgebiets überlassen zu müssen.319 Geltendes NATO-Konzept war dabei nach wie vor die Strategie der flexible response, welche von „angemessenen“ Reaktionen ausging und militärische Eskalation im Gegensatz zur Vorgängerstrategie massive retaliation als abgestuften Prozess mit verschiedenen Möglichkeiten des Innehaltens begriff (vgl.

318 Planübung des Sanitätsdienstes der Bundeswehr 1981; Taktisches Rahmenkonzept, S. 6. BArch-MA, BW 8–IV/56. 319 Zur Einbettung solcher Annahmen in die allgemeine Kriegsbildentwicklung der Bundeswehr vgl. erneut Reichenberger, Der gedachte Krieg. Das auf S. 432 zu findende Schaubild visualisiert z. B. das Konzept der Vorneverteidigung, welches vorsah, den von Ostseite konventionell angreifenden Feind über weit vorgerückte Verteidigungsreihen möglichst auf dessen eigenem Territorium zu verteidigen. Frühere Vorstellungen imaginierten demgegenüber einen zeitweisen Rückzug westdeutscher Truppen bis hinter die Rheingrenze.

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hierzu Kapitel 1.4). Auslöser des Krieges waren in der Planübung von 1981 um innere Reformen ringende Arbeiter- und Studentenunruhen in den osteuropäischen Staaten. Nach deren Niederschlagung und damit einhergehenden Massenverhaftungen versuchten die kommunistischen Regime nunmehr, der NATO die Schuld für die Unzufriedenheit der eigenen Bevölkerung zuzuschieben und starteten eine Reihe militärischer Provokationen (Mobilmachung, Truppenbewegungen).320 Die Planübung 1984 ging interessanterweise nicht nur von erhöhter Aggressivität des imaginierten Gegners, sondern auch von inneren Unruhen als Reaktion auf eine umstrittene militärische Intervention der USA „zur Sicherstellung der Lieferung wichtiger Rohstoffe“ aus; eigentlicher Auslöser war schließlich ein „Zwischenfall“ von Seestreitkräften der NATO und des Warschauer Paktes.321 Trotz Warnungen, dass eine militärische Aggression theoretisch innerhalb von 48 Stunden erfolgen könne, gingen somit beide angenommenen Kriegsbilder von einer mehrtägigen Spannungs- und damit Vorbereitungszeit des Sanitätsdienstes aus; gespielt wurde ein Zeitraum von 14 Tagen vor bis vier (1981) bzw. fünf Tage (1984) nach Beginn des Verteidigungsfalles. Die Planübung 1981 dauerte eine ganze Woche322 und behandelte zahlreiche Aspekte des Sanitätswesens der Bundeswehr (Struktur, Materialversorgung, Handlungsmöglichkeiten usw.),323 während die 1984er Übung zusätzlich betonte, besonders bei den „zivilen Gästen“ ein Verständnis für die Möglichkeiten und Grenzen des Sanitätsdienstes der Bundeswehr wecken zu wollen.324 Die trotz der veränderten Kriegsgründe identische Anlage beider Übungen verankerten diese in der Tradition, der bereits SCHWALBE (vgl. Kapitel 2.1.3) angehört hatte: Eine weniger auf Realismus als vielmehr auf den anvisierten Lernerfolg setzende, stark didaktisierte Übung,325 welche Planspielsequenzen immer wieder mit Fachvorträgen verschiedener Ressorts unterbrach und somit eher eine Überblicksdarstellung bzw. kritische Bestandsaufnahme der eigenen Fähigkeiten mit einem veranschaulichenden praktischen Aspekt darstellte. Man mag derartigen Planübungen angesichts der Konzentration auf ein Kriegsbild, bei dem das Sanitätswesen zumindest eine Zeit lang handlungsfähig zu bleiben hoffte, eine gewisse Tendenz zur Verharmlosung attestieren. Allein, ausgespart 320 Planübung des Sanitätsdienstes der Bundeswehr 1981; Taktisches Rahmenkonzept, S. 1–2. 321 Planübung des Sanitätsdienstes der Bundeswehr 1984; Taktisches Rahmenkonzept, S. 1–2. BArchMA, BW 8–IV/16. 322 Vgl. Rahmendienstplan für die Planübung des Sanitätsdienstes der Bundeswehr 1981 vom 1.12. bis 4.12.1981. BArch-MA, BW 8–IV/56. 323 Planübung des Sanitätsdienstes der Bundeswehr 1981 – Stoffplan, Dezember 1981. BArch-MA, BW 8–IV/56. 324 Planübung des Sanitätsdienstes der Bundeswehr 1984 – Einführung in die Planübung und Einleitung, S. 1. BArch-MA, BW 8–IV/16. 325 Vgl. hierzu auch die explizit geäußerten Zielsetzungen in: Planübung des Sanitätsdienstes der Bundeswehr 1981 – Stoffplan, Dezember 1981, S. 4. BArch-MA, BW 8–IV/56.

Der dritte Weltkrieg – zur Zeit des Doppelbeschlusses der NATO

wurde die Möglichkeit eines Atomkriegs auf Seiten des Sanitätswesens auch in den 1980er Jahren nicht. Jenseits groß angelegter Übungen wie FALLEX 62 und WINTEX 75 (vgl. Kapitel 2.1.3) war der „Medizinische ABC-Schutz“ in Form eines gesonderten Lehrgangs, der vom Völkerrecht bis zu konkreten Behandlungsmöglichkeiten etwa von strahlen- und verbrennungsgeschädigten Personen alle grundlegenden Bereiche abzudecken suchte, Pflichtbestandteil der Sanitätsoffiziersausbildung.326 Auch wenn es an dieser Stelle unmöglich ist, auf der Mikroebene die Vielzahl möglicher Imaginationen des Sanitätswesens aufzuzeichnen, herrschte insgesamt wohl eine ähnliche Nachdenklichkeit und Skepsis gegenüber den eigenen Möglichkeiten im Atomkrieg wie sie sich bereits im Rahmen von FALLEX 62 geäußert hatte. Ein gutes Beispiel hierfür stellt die westdeutsche Zusammenfassung der vom 24. bis 27. Mai 1981 durchgeführten US-amerikanischen Großübung Wounded Warrior I dar. Diese „größte Sanitätsübung der US-Streitkräfte seit 1945“ wurde im Gegensatz zu den schulisch durchgeführten Planübungen der Sanitätsakademie als vollwertiges Manöver mit Tendenzen zur Materialschlacht durchgeführt, welches neben 4500 teilnehmenden Soldaten327 u. a. auch 72 Lastwagen und 35 Hubschrauber aufbot.328 Die Übung, die – wiederum nach einer längeren, Vorbereitungen gestattenden Spannungszeit – auf kalifornischem Boden insbesondere Kampfhandlungen im Mannheimer Raum simulierte,329 rechnete mit einem Chemiewaffeneinsatz am dritten und einem Atomwaffeneinsatz am fünften Kriegstag.330 Als Ergebnis der Übung fasste die dreiköpfige deutsche Delegation (zwei Ärzte sowie ein Apotheker der Bundeswehr) zusammen, dass mit dem Einsatz von Massenvernichtungsmitteln der Sanitätsdienst schnell an seine Grenzen gebracht würde. Bei der gespielten Nichtberücksichtigung der eigenen Rotkreuz-Abzeichen durch den Gegner wurden die angenommenen Verluste der eingesetzten Sanitätskompanien bereits am dritten Einsatztag auf erschütternde 80 Prozent beziffert; bereits ab dem vierten – wohlgemerkt einen Tag vor dem Atomwaffeneinsatz – sei man mit der hohen Anzahl anfallender Verwundeter überfordert. Aufgrund der nunmehr hinzukommenden Zerstörung von Infrastruktur und Materialvorräten, Behinderung der eigenen Arbeit durch Fluchtbewegungen der Zivilbevölkerung sowie anhaltenden Überfüllung der Betreuungseinrichtungen sei ab dem fünften Tag an eine geordnete Durchführung des eigenen Auftrags nicht mehr zu den-

326 Ausbildungsweisung Nr. 4304 für den Sonderlehrgang „Medizinischer ABC-Schutz A“ vom 19.3.1983. BArch-MA, BW 24/31555. 327 Volker Beck, Bericht über die Teilnahme an der Übung „Wounded Warrior I“ vom 14.7.1981, S. 1 (Teilnehmerzahl und wörtliches Zitat). BArch-MA, BW 24/9080. 328 Ebd., S. 4. 329 Ebd., S. 5–6. 330 Ebd., S. 6–7.

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ken.331 Gegenüber den, im Rahmen der diversifizierten Flexible-response-Strategie „gestatteten“, positiveren Kriegsbilder kleinerer, intern durchgeführter Übungen der Sanitätsakademie blieb demnach die Eventualität eines deutlich zerstörerischen, unbeherrschbaren Krieges präsent. Die Einschätzung der eigenen Leistungsfähigkeit hatte sich seit FALLEX – und damit seit immerhin zwei Jahrzehnten – nicht gebessert; hier wie dort ging man von einer nur wenige Tage anhaltenden, zudem eingeschränkten Handlungsfähigkeit aus. Als verharmlosend kann das Kriegsbild des Sanitätswesens (offenbar sowohl des US-amerikanischen wie des bundesdeutschen) insgesamt kaum bezeichnet werden. Stattdessen ist festzuhalten, dass auch während der 1980er Jahre jede Berücksichtigung einer atomaren Eskalation die Durchführung der eigenen Arbeit letztlich verhinderte und entsprechend angelegte Übungen didaktisch einschränkten bzw. diese eher als Erinnerung und Versicherung des postulierten eigenen Auftrags der Friedenssicherung markierten. Ein im Oktober 1981 von Oberfeldarzt Paul (Referat BMVg InSan II 1), einem der deutschen Wounded-Warrior-Teilnehmer, gehaltener Vortrag an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg fasste diesen ernüchternden Gedanken im Anschluss an die knappe Schilderung eines im Atomkrieg scheiternden organisierten Sanitätswesens prägnant zusammen: Mit dieser etwas apokalyptischen Vision eines nuklearen großen Schlagabtauschs möchte ich meine Ausführung abschließen. Wir alle hoffen, daß diese Vision nicht eines Tages Wirklichkeit wird, denn dann hätte die Strategie der Erhaltung des Friedens durch Abschreckung nicht zum Erfolg geführt.332

Man suchte von Seite des Sanitätswesens der Bundeswehr also durchaus – mit oder ohne die Hilfe der zivilen Ärzteschaft – alle denkbaren Szenarien vorzubereiten, betrachtete dies jedoch als Instrument der Friedenssicherung im Rahmen der Abschreckungsstrategie und erachtete schon einen konventionellen „großen“ Krieg, viel mehr aber noch die nukleare Eskalation, als nicht beherrschbar. Am Grundgedanken, dass man selbst in ausweglosen Situationen weiterhin so viele Menschenleben retten müsse wie irgend möglich, hielt man hingegen ungebrochen fest.333 Dem beispielsweise in The Day After dargestellten, am Filmende obsiegenden Fatalismus der ärztlichen Hauptfigur (vgl. Kapitel 1.1) konnte nicht stattgegeben werden; er

331 Ebd., S. 8–9. 332 Akte von InSan II 1 vom Juli 1981, Betr.: 12. Lehrgang „Sanitäts- und Gesundheitswesen im Rahmen der Gesamtverteidigung“ an der FüAk in Hamburg; hier: Vortrag OFA Dr. Paul am … Oktober 1981. Thema: Sanitätsdienstliche Einsatzgrundsätze auf der Grundlage der Militär-Strategischen Konzeption, S. 26. BArch-MA, BW 24/8017. 333 Vgl. ebd.

Der dritte Weltkrieg – zur Zeit des Doppelbeschlusses der NATO

hätte die eigene Vorbereitung auf beherrschbare Szenarien gefährdet, welche man trotz der Möglichkeit des Apokalyptischen als durchweg erstrebenswert erachtete.

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4.

Das Katastrophische zwischen Beharrung und Wandel (1986–1990)

4.1

Die Katastrophe ist der Krieg: Der Reaktorunfall in Tschernobyl

Am 26. April 1986 ereignete sich im sowjetischen Kernkraftwerk Tschernobyl, nahe der ukrainischen Stadt Prypjat gelegen, der – so Melanie Arndt – „bisher größte nukleare Unfall der Menschheitsgeschichte“.1 In Bezug auf die durch Reaktorexplosion und freigesetzte Radioaktivität verursachten Verluste äußert sich Arndt differenziert: 31 Menschen hätten in unmittelbarer Folge des Unglücks ihr Leben verloren,2 während sich die Schätzungen weiterer Opferzahlen aufgrund der unsicheren Quellenlage sowie der eher statistisch als individuell auf die Katastrophe zurückzuführenden Spätfolgen teils drastisch – von wenigen hundert bis zehntausende – unterschieden. Die Auswirkungen der Katastrophe erschöpften sich hingegen keineswegs in solchen, schwierig zu ermittelnden Zahlen. „Tschernobyl“ sei vielmehr zum „Leitbegriff des 20. Jahrhunderts“ avanciert3 – zu einer von Apologeten wie Apokalyptikern gleichermaßen bemühten Projektionsfläche. Eine sowjetische Geheimhaltungspolitik, welche selbst die Staaten des Warschauer Pakts äußerst nachlässig informierte, und natürlich auch der energie- und umweltpolitische Sprengstoff der Materie trugen maßgeblich dazu bei, die eigentliche Faktenlage zunächst eher zu verdunkeln als zu erhellen. Politik und Verwaltung der Bundesrepublik Deutschland bemühten sich zwar um zügige Reaktionen; nach dem Einsetzen der nationalen Berichterstattung Ende April regierte hingegen dennoch ein „Chaos aus Entwarnungen, Alarmmeldungen, Information und Desinformation“,4 ein Gewitter der Experten und Gegenexperten, in dem die Wahrheit kaum zu eruieren war. Sich zwischen Bund und Ländern markant unterscheidende Grenzwerte sowie die typischen Zuständigkeitsstreitigkeiten bezüglich der Verantwortlichkeit im Katastrophenfall beförderten die allgemeine Verunsicherung und erzeugten schlussendlich oft Ohnmacht und Angst. In historischer Rückschau muss man sich dem Urteil Arndts sicher anschließen, die manche Reaktionen

1 Arndt, Tschernobyl, S. 5. Ein umfangreicherer Vergleich mit den Auswirkungen der Nuklearkatastrophe im japanischen Fukushima des Jahres 2011 würde an dieser Stelle zu weit führen. Arndt verweist selbst lediglich punktuell darauf; explizitere Vergleiche verboten sich wohl bereits aufgrund des Veröffentlichungsdatums ihrer Studie (ebenfalls 2011). 2 Ebd., S. 50. 3 Ebd., S. 6. 4 Ebd., S. 55.

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Das Katastrophische zwischen Beharrung und Wandel (1986–1990)

auf die Katastrophe als „überzogen“, andere als „verharmlosend“ charakterisiert.5 Wenn es auch Fortschritts- und Technikkritik bereits vor 1986 vielfach gegeben hatte – Charles Perrows Studie zu den „Normalen Katastrophen“ von 1984 etwa oder die noch deutlich früheren Befunde des Club of Rome –; in Tschernobyl fanden derartige Zeitdiagnosen samt den dazugehörigen Diagnostikern das Symbol schlechthin. Ulrich Becks Rückgriff auf die Tschernobyl-Katastrophe bereits im Vorwort seiner Studie zur Risikogesellschaft erscheint vor diesem Hintergrund einer wahrgenommenen Erosion des Konzepts „kalkulierbarer Risiken“ folgerichtig, wenn auch keineswegs faktisch zwangsläufig (vgl. hierzu Kapitel 1.3). Im Kontext der hier vorliegenden Untersuchung überrascht inzwischen weder die frühzeitige Einbindung der westdeutschen Ärzteschaft in die Bewertung „Tschernobyls“, noch deren innerprofessionelle Uneinigkeit bezüglich der Thematik. Geradezu paradigmatisch lässt sich innerhalb des Berufs nachzeichnen, was Arndt und andere für die allgemeine bundesrepublikanische Gesellschaft konstatierten: Ein Oszillieren zwischen Verharmlosung und Panik. Die Pressestelle der Bundesärztekammer veröffentlichte eine von Präsident Karsten Vilmar unterzeichnete Stellungnahme zu dem Großunfall, welche am 12. Juni 1986 in zahlreichen deutschen Tageszeitungen abgedruckt wurde. Die darin enthaltenen Befunde entsprachen im Wesentlichen denjenigen der im Auftrag des BMI arbeitenden Strahlenschutzkommission, welche bereits am 2. Mai 1986 konstatiert hatte, dass keinerlei akute Gesundheitsschäden im Bundesgebiet zu erwarten seien.6 Die BÄK forderte ihrerseits zwar eine Überprüfung der Sicherheitsvorkehrungen auch deutscher Kernkraftwerke, betonte aber insbesondere den Nutzen der Atomenergie sowie den Primat wissenschaftlicher Expertise gegenüber den unbegründeten Sorgen der Laien: Nach dem zuverlässigen Urteil von Experten, insbesondere Nuklearmedizinern, Strahlenschutzärzten, Strahlenbiologen und Kernphysikern, hat in unserem Lande durch die erhöhte Strahlenexposition kein Bürger gesundheitliche Schäden erlitten. Die Wahrscheinlichkeit, daß solche Schäden in den kommenden Jahren auftreten, wird aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisse und vorliegenden Meßdaten als äußerst gering angesehen. […] Die Ärzte in der Bundesrepublik Deutschland sollten ihre Patienten ausschließlich auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse aufklären, um unsinnige Spekulation, Unsicherheit der Bürger und Hysterie zu begegnen, zumal bei der Erkennung und Behandlung zahlreicher Erkrankungen die Anwendung ionisierender Strahlung unverzichtbar ist.

5 Ebd., S. 146. 6 Stellungnahme der Strahlenschutzkommission zu den Auswirkungen des Unfalls im Kernkraftwerk Tschernobyl (UdSSR) in der Bundesrepublik Deutschland vom 2.5.1986. BArch, B 417/1810.

Die Katastrophe ist der Krieg: Der Reaktorunfall in Tschernobyl

Unmittelbar nach der Veröffentlichung dieser Stellungnahme forderte die ärztliche Friedensbewegung Vilmars Rücktritt. Dabei verwies man nicht nur auf den angesichts willkürlich gesetzter Grenzwerte verharmlosenden Charakter der Annoncen, sondern vor allem darauf, dass diese nicht im Auftrag der BÄK, sondern der Vereinigung Deutscher Elektrizitätswerke e. V. (VDEW) – also der Lobby der Energiekonzerne – erfolgt war.7 Die VDEW hatte das öffentliche Statement der Bundesärztekammer als Zitat in einer eigenständig finanzierten Anzeige großräumig veröffentlichen lassen, lediglich gerahmt durch die Bemerkungen „Die Elektrizitätswirtschaft informiert …“ sowie „Ihre Stromversorger“.8 Eine Fülle von Anschreiben an die BÄK – teils von IPPNW-Initiativen initiiert, teils privater Natur – übte scharfe Kritik an deren empfundener Nähe zur Energiewirtschaft. Man sprach sich gegen den „Mißbrauch des Begriffs ‚Hysterie‘“ aus und beharrte darauf, dass die eigenen Ängste berechtigt seien; die Erklärung Vilmars sowie die „verleugnende Bagatellisierung der ‚Experten‘“ wurden gar ihrerseits als angstinduzierend bezeichnet.9 Die etwa von Susanne Schregel im Zusammenhang der frühen 1980er Jahre und der Friedensbewegungen konstatierte „Konjunktur der Angst“ ist in solchen Anschreiben dominant nachweislich.10 Darüber hinaus wurde die personelle Zusammensetzung entsprechender Expertengremien kritisiert, interessanterweise aus zweierlei Richtungen: Man bemängelte etwa die „ehrenwerte Strahlenschutz-Kommission“, deren Experten zumeist „sehr direkt mit kerntechnischen Einrichtungen zu tun haben bzw. von diesen abhängig sind“,11 andererseits jedoch auch „die zahlreichen Militärs in denen [sic] von Ihnen [Karsten Vilmar] als so vertrauenswürdig beschriebenen Katastrophenschutzgremien“.12 Man mag sich an dieser Stelle daran erinnern, dass in den katastrophenmedizinischen Arbeitskreisen der BÄK Wehrmediziner wie Rebentisch gerade dadurch prominent nachgefragt waren, weil man die Mithilfe industrienaher Ärzte aufgrund der innerberuflich vorgebrachten Kritik

7 Herbert Begemann, IPPNW fordert den Rücktritt des Präsidenten der Bundesärztekammer Herrn Dr. med. Karsten Vilmar, in: Rundbrief: Ärzte warnen vor dem Atomkrieg 18/1986, S. 65. Vergleichbare Rücktrittsforderungen erschienen parallel z. B. auch in der Frankfurter Rundschau und anderen Zeitungen und Zeitschriften. 8 Die Elektrizitätswirtschaft informiert: Die Bundesärztekammer zu Tschernobyl (ursprünglich entnommen aus dem Kölner Stadt-Anzeiger vom 12.6.1986). BArch, B 417/1871. 9 Schreiben von Mechthild Klingenburg an Karsten Vilmar vom 20.6.1986, Betr.: Anzeige der Vereinigung Deutscher Elektrizitätswerke mit Ihrer Stellungnahme zu Tschernobyl. BArch, B 417/ 1879. 10 Vgl. Schregel, Konjunktur der Angst. 11 Schreiben von N. Szczeponik an Karsten Vilmar vom 4.7.1986, Betr.: Ihre Tschernobyl-Anzeige. BArch, B 417/1879. 12 Schreiben von Mechthild Klingenburg an Karsten Vilmar vom 20.6.1986, Betr.: Anzeige der Vereinigung Deutscher Elektrizitätswerke mit Ihrer Stellungnahme zu Tschernobyl. BArch, B 417/ 1879.

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an Emil Grauls seinerzeitigem Arbeitskreis „Gefährdung durch Kernkraftwerke“ (vgl. Kapitel 2.2.4) meiden wollte. Jenseits rhetorischer Spitzen und Vergleiche der organisierten westdeutschen Ärzteschaft mit der staatsnahen Rolle der Ärzte während der NS-Zeit sei betont, dass die Bedenken der Kritiker keineswegs substanzlos waren. Kaum zwei Monate nach dem Skandal um die VDEW-Anzeige erschien beispielsweise ein mit „Neutronenfänger und Containment halten die Atomkraft in Schach“ überschriebener Artikel im Deutschen Ärzteblatt. Dieser schilderte den Besuch einer Delegation der Bundesärztekammer ausgerechnet in der kaum zwei Jahre betriebenen Kernenergieanlage Mülheim-Kärlich und war von einer Werbeanzeige kaum zu unterscheiden. Gleich eingangs wurde etwa festgestellt: Keine Frage blieb unbeantwortet. Die einzige bleibende Unsicherheit wäre, ehrlich gesagt, nur noch, ob auch alle Fragen gestellt wurden. Mir sind jedenfalls keine weiteren mehr eingefallen. Eines aber ist, trotz dieser Einschränkung, wohl sicher: Ein TschernobylUnglück ist bei uns nicht möglich.13

Die Behauptung, dass eine Nuklearkatastrophe exakt wie in Tschernobyl bei den anders aufgebauten westdeutschen Reaktoren nicht möglich sei, entsprach zwar der Realität; gleichwohl deckte sich die Darstellung im Deutschen Ärzteblatt mit den beständig vorgebrachten Behauptungen sowohl der Energiekonzerne wie auch der Bundesregierung, dass die eigenen Kraftwerke „die sichersten der Welt“ seien.14 Solcherlei Berichterstattung suchte mithin, trotz Tschernobyl und der sich hieran entzündenden Rufe nach einer Neubewertung am atomwirtschaftsfreundlichen Status quo festhalten zu können. Die Mehrzahl der im Deutschen Ärzteblatt veröffentlichten Leserbriefe zur Besichtigung des AKWs Mülheim-Kärlich verurteilten den Grundtenor des Artikels; man schrieb von einer Führung „prominenter Laien“,15 verurteilte den zur Schau gestellten „naiven Fortschrittsglauben“16 und attestierte dem Artikel Werbetextcharakter.17 Interne Dokumente offenbaren, dass zwischen den an der Führung teilnehmenden Ärztefunktionären – u. a. HeinzPeter Brauer als Hauptgeschäftsführer und Gustav Osterwald als Vizepräsident der BÄK18 – und den Rheinisch-Westfälischen Elektrizitätswerken (RWE) ein exzellen-

13 Walter Burkart, Bundesärztekammer erkundete die Sicherheit deutscher Kernkraftwerke: Neutronenfänger und Containment halten die Atomkraft in Schach, S. 2276, in: Deutsches Ärzteblatt 34, 35/1986, S. 2276–2280. 14 Arndt, Tschernobyl, S. 56. 15 Alfred Scheid, Unbestritten (Leserbrief), in: Deutsches Ärzteblatt 43/1986, S. 2915. 16 Beate Schicker, Keineswegs überrascht (Leserbrief), in: Deutsches Ärzteblatt 43/1986, S. 2916–2917. 17 Wolfgang Ensle, Werbetextcharakter (Leserbrief), in: Deutsches Ärzteblatt 43/1986, S. 2917–2918. 18 Teilnehmerliste von Seiten der Bundesärztekammer an der Besichtigung des Kernkraftwerks Mülheim-Kärlich am Freitag, den 18.7.1986 um 11.00 Uhr. BArch, B 417/1850.

Die Katastrophe ist der Krieg: Der Reaktorunfall in Tschernobyl

tes Verhältnis bestand. So bedankte sich Brauer gegenüber dem kaufmännischen Leiter des AKWs Mülheim-Kärlich nicht nur für dessen „wertvolle Unterstützung“, sondern verstieg sich gar zu folgender Aussage: Ich bin sicher, daß alle, die sich von den unvorstellbaren Sicherheitsvorkehrungen überzeugen konnten, in Zukunft besser als bisher in die Lage versetzt worden sind, im Sinne der Nutzung der Kernkraft zu wirken.19

Von der westdeutschen IPPNW-Sektion wären solcherlei Bemerkungen zweifellos gerne aufgegriffen worden. Nicht nur widersprachen sie dem beharrlich vorgebrachten Anspruch der ärztlichen Neutralität, sie entlarvten zudem die Funktionärselite der bundesdeutschen Ärzteschaft einmal mehr als durchaus politisch agierende Befürworter der Kernenergie, welche, wie schon Emil Grauls Arbeitskreis zu Beginn der 1970er Jahre, gerne von den Vorzügen und weniger von den potenziellen Nachteilen der Atomenergienutzung sprachen. Die bereits lange vor der IPPNWGründung existierenden kritischen Stimmen (etwa Hermann Kater, vgl. hierzu Kapitel 2.1.4) wurden in dieser Hinsicht wohl tatsächlich marginalisiert. Aus Sicht der Kammerfunktionäre selbst mochte hingegen weniger eine unbotmäßige Nähe zur Industrie, sondern die scheinbar oder tatsächlich hohe Sicherheit der Kernenergie ausschlaggebend für die positive Berichterstattung gewesen sein. Schon vor der Führung in Mülheim-Kärlich äußerte sich etwa der Direktor des Instituts für Medizin des Forschungszentrums Jülich und der Nuklearmedizinischen Klinik der Universitätsklinik Düsseldorf, Ludwig Feinendegen,20 gegenüber dem Wissenschaftlichen Beirat der Bundesärztekammer: Alle noch so intensiven Bemühungen, sachlich und den Tatbestand erläuternd die Öffentlichkeit gut und allgemeinverständlich zu informieren, müssen jedoch fehlschlagen, wenn Panik und Verunsicherung steuernde Sensationsmeldungen sich jagen. Die Diskrepanz zwischen den Darstellungen in der Schweiz und den nur wenige Kilometer hinter der Grenze herausgegebenen deutschen Verlautbarungen mußte grotesk anmuten.21

Feinendegen hatte ebenso wenig Verständnis für seiner Ansicht nach aus politischen Gründen vorgenommene unterschiedliche Grenzwertsetzungen zwischen Bund 19 Schreiben von Heinz-Peter Brauer an den Kaufmännischen Leiter des AKWs Mülheim-Kärlich, Herrn Mönning vom 21.7.1986. BArch, B 417/1850. 20 Vgl. die entsprechenden Informationen auf der Internetseite der Deutschen Gesellschaft für Nuklearmedizin e. V., online unter: https://www.nuklearmedizin.de/ahnengalerie/ahnengalerie.php?ahn= feinendegen (aufgerufen am 9.11.2018). 21 Protokoll der 32. Plenarsitzung des Wissenschaftlichen Beirates der Bundesärztekammer am 5.7.1986. BArch, B 417/2473.

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und Ländern wie für emotionalisierende Presseveröffentlichungen; seiner Ansicht nach hätte man sich vielmehr auf die Aussagen der verantwortlichen Wissenschaftler (also u. a. die eigenen Aussagen) schlicht verlassen sollen. Nach Feinendegens Einschätzung erwuchs es einer bundesdeutschen Anomalität, dass dies nicht in auseichendem Maße geschah. Ohne den umstrittenen Topos einer wie auch immer gearteten German Angst bedienen zu wollen, fällt es leicht, in der Fülle des vorhandenen Quellenmaterials die von Feinendegen geschmähten Sensationalismen zu finden. Der regelmäßig IPPNW-Positionen aufgreifende Spiegel-Redakteur Hans Halter etwa (vgl. Kapitel 3.1.3) würzte die Berichterstattung zu den aus seiner Perspektive keineswegs ausreichenden Sicherheitsvorkehrungen deutscher Kernkraftwerke mit zahllosen diffamierenden Klischees über „ein bisschen besoffene“ Schichtleiter, Polizeibeamte und Verwaltungsjuristen („Schon die gewöhnlichen Risiken einer kleinbürgerlichen Existenz, unbeschützt vom ‚Vater Staat‘, sind ihnen zuviel“) sowie über Sanitätsoffiziere wie „GAU-Guru“ Otfried Messerschmidt oder den „belastbaren Kommandeur alter Schule“ Ernst Rebentisch.22 Die Funktionäre der Bundesärztekammer suchten sich demgegenüber – trotz durchaus berechtigter Vorwürfe einer hohen beruflichen wie persönlichen Nähe zur Kernindustrie – als wissenschaftlich-sachliches Korrektiv zu gerieren, was durch zahlreiche Veröffentlichungen untermauert wurde.23 In diesem Kontext ist auch Karsten Vilmars Antwortschreiben gegenüber den an ihn gerichteten Protestbriefen und Rücktrittsforderungen im Nachgang der Affäre um die VDEW-Anzeige zu verorten. Vilmar betonte zunächst, dass die Bundesärztekammer die VDEW weder daran hindern wollte noch daran hindern konnte, sich ihrer öffentlichen, nicht urheberrechtlich geschützten Presseerklärung zu bedienen. Anschließend schrieb er, ganz im Sinne Feinendegens und anderer Fachexperten: Wissenschaftlich begründetes Wissen hätte viele Sorgen und Ängste gar nicht erst entstehen lassen. Es hätte auch besser beurteilt werden können, welche öffentlichen Äußerungen medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen entsprechen und welche eher von Emotionen oder politischen Absichten getragen werden.24

Das Beharren auf dem Primat wissenschaftlicher gegenüber politischer oder gar emotionaler Kategorien hatte innerhalb der Ärzteschaft eine lange Tradition, die

22 Hans Halter, „Ein kerntechnischer Unfall hat sich ereignet“, in: Der Spiegel 34/1986, S. 68–77. 23 Vgl. beispielsweise Emil Grauls Abhandlung inklusive detailliertem Glossar „Zur Problematik der Beurteilung des Gefährdungspotentials radioaktiver Verseuchung“: Emil Graul, Kernreaktordurchgang, in: Deutsches Ärzteblatt 21/1986, S. 1542–1628. 24 Karsten Vilmar, Sachliche Informationen geboten, S. 2006, in: Deutsches Ärzteblatt 28-29/1986, S. 2006–2008. Die Versender entsprechender Protestbriefe erhielten Vilmars Artikel offenbar auch als persönlich adressiertes Anschreiben, vgl. die Vorlage in BArch, B 417/1871.

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nicht selten in offene Abwertung des Politischen umschlagen konnte (vgl. hierzu Kapitel 2.2.2). Gegenüber Autoren wie Halter mochte die Argumentation stichhaltig sein und die hohe Fachkenntnis der Materie von Nuklearmedizinern wie Feinendegen sollte keineswegs ignoriert werden. Gleichwohl ist zu beachten, dass gerade die Frage des medizinischen Risikos geringerer Radioaktivitätsbelastungen wissenschaftlich kontrovers diskutiert wurde und führende Wehr- und Katastrophenmediziner die Existenz gänzlich harmloser, weil zu niedriger Dosen mehrheitlich verneinten. Otfried Messerschmidt etwa hatte bereits in den 1960er Jahren darauf beharrt, dass es „Toleranz-Dosen“ in Bezug auf Radioaktivität nicht gebe (vgl. umfangreicher hierzu Kapitel 2.1.4); eine geringere Strahlenbelastung sei zwar besser als eine höhere, niemals jedoch völlig unschädlich. Das allzu unverblümt vorgebrachte Engagement führender Ärztefunktionäre im Sinne der Kernenergie mochte das Seinige dazu beigetragen haben, der wissenschaftlichen Glaubwürdigkeit verdienter Experten maßgeblichen Schaden zuzufügen, da es selbst kaum anders als „politisch motiviert“ bezeichnet werden konnte. Hinsichtlich der Bundesrepublik Deutschland ist die Tschernobyl-Katastrophe sicher mehr als intensivierendes Moment bereits zuvor in Gang gesetzter Entwicklungen zu bewerten denn als grundsätzliche Zäsur. Gleichwohl bewirkte sie Veränderungen und dies keinesfalls allein auf der Diskursebene. Institutionell führte sie zur Einrichtung des Ministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit am 6. Juni 1986 und damit langfristig zu einer stärkeren Beachtung umweltpolitischer Fragestellungen.25 Nach seiner Gründung setzte sich das Ministerium nicht nur für die bundeseinheitliche Festlegung entsprechender Richtwerte ein, um eine Wiederholung des nach dem Reaktorunfall auftretenden Chaos in diesem Bereich zu verhindern, sondern forderte zudem die Verbesserung des bundesdeutschen Zivil- und Katastrophenschutzes.26 Bei den im Mittelpunkt dieser Arbeit stehenden Akteuren löste die Tschernobyl-Katastrophe zweierlei Entwicklungen aus: Sogleich nach Bekanntwerden des Unglücks diskutierte die ärztliche Friedensbewegung (d. h. die bundesdeutsche Sektion der IPPNW und ihre lokalen Initiativen), in welchem Maße sie ihr eigenes Kernanliegen um die Gefahren der Kernenergienutzung erweitern müsse. Geschäftsführer Till Bastian bemerkte hierzu bereits im Juni 1986 treffend, dass die Debatte die IPPNW nicht mehr loslassen werde.27 Während sich Ulrich Gottstein als Hauptsprecher des eher konservativen Flügels der Organisation kritisch zu dieser Entwicklung äußerte,28 fiel

25 Arndt, Tschernobyl, S. 61. 26 Pressemitteilung vom 3.9.1986 – Das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit teilt mit: Arbeitsprogramm der Bundesregierung betreffend die Folgen aus dem Reaktorunfall von Tschernobyl. BArch, B 417/1873. 27 Schreiben von Till Bastian an Vorstand und Beirat vom 6.6.1986. FZH, 16–3 A/2.1.–7. 28 Schreiben von Ulrich Gottstein an Vorstand und Beirat vom 4.8.1986. FZH, 16–3 A/2.1.–9.

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das Ergebnis einer im September 1986 durchgeführten Mitgliederbefragung mit über 80-prozentigen Zustimmungswerten eindeutig zugunsten einer solchen Erweiterung der im eigenen Namen (International Physicians for the Prevention of Nuclear War) festgeschriebenen Agenda aus. Eine ebenfalls vorgeschlagene Namensänderung – und damit eine Entfremdung von der internationalen IPPNW – erhielt demgegenüber keine Zustimmung.29 Die nationale Entscheidung der bundesdeutschen Sektion, die Risiken der zivilen Kernenergienutzung verstärkt zu problematisieren, war gerade hinsichtlich des blockübergreifenden Charakters ihrer Dachorganisation nicht ohne Gefahrenpotenzial, erfuhr die Atomkraft doch von der politischen Führung sowie den IPPNW-Mitgliedern der Sowjetunion anhaltende Unterstützung, obwohl diese ungleich stärker von der Tschernobyl-Katastrophe betroffen war.30 Mit dem u. a. während der Jahreshauptversammlung 1986 festgeschriebenen Bekenntnis der westdeutschen Sektion31 riskierte man demnach nicht nur einen Bruch mit der sowjetischen sowie, mittelbar, der ostdeutschen IPPNW, sondern musste auch damit rechnen, dass die „Gegenspieler“ auf Seite der Kammern diesen Punkt argumentativ ähnlich nutzen würden wie zuvor die Menschenrechtsfrage (vgl. hierzu Kapitel 3.1.5). Aus Sicht der Katastrophenmediziner war die Schlussfolgerung aus Tschernobyl klar: Es galt nun, mehr denn je den Ausbau des eigenen Fachbereichs voranzubringen. Bereits am 27. Mai 1986 wandte sich die Bundesärztekammer in seltener Einigkeit mit DRK, ASB, JUH, MHD und dem Deutschen Feuerwehrverband in diesem Sinne per Telegramm an Bundeskanzler Helmut Kohl,32 was schließlich zur Einrichtung einer entsprechend besetzten Arbeitsgruppe „Krisenmanagement“ beim BMI führte.33 Und auch gegenüber der Öffentlichkeit artikulierten sich die bekannten Positionen wieder mit erhöhtem Selbstbewusstsein, beispielsweise in der vornehmlich an Patientinnen und Patienten gerichteten „Wartezimmerzeitschrift“ medizin heute. Dort hieß es gleich im Vorwort in der Ausgabe 6/1986 (das Hauptthema lautete „Mensch und Umwelt“):

29 Vgl. Ergebnis der Mitglieder-Befragung vom 26.9.1986. FZH, 16–3 A/2.1.–9. 30 Vgl. hierzu auch Kemper, Medizin gegen den Kalten Krieg, S. 401–402. 31 Presse-Informationen der IPPNW: Beschluss der Jahreshauptversammlung in Stuttgart am 27.9.1986; Zeit zum Aufwachen. FZH, 16–3 A/2.1.–9. 32 Telegramm der Hilfsorganisationen und der Bundesärztekammer an den Bundeskanzler vom 27.5.1986. BArch, B 417/1871. 33 Vermerk der Arbeitsgruppe ZV 2 vom 10.11.1986, Betr.: Einrichtung eines bundesweiten Krisenmanagements für großflächige Schadens- und Gefährdungslagen mit zentraler Koordinierungsstelle beim BMI; hier: Besprechung der Arbeitsgruppe „Krisenmanagement“ am 4.11.1986 im BMI. BArch, B 417/1872.

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Für die Katastrophenmedizin waren die letzten Wochen Beweis ihrer Existenzberechtigung – allen politisch gefärbten Unkenrufen zum Trotz. Nur macht es sich derzeit ja gut, die atomare Bedrohung im Kriegsfall mit der aus zivilen Nutzungen in einen Topf zu werfen. So wehten nicht nur widrige Winde die Radioaktivität bis in heimische Schrebergärten – sie wehen den Befürwortern geeigneter Vorsorgemaßnahmen noch allerorten entgegen.34

Ohne späteren Befunden zu sehr vorzugreifen: Auch für die innerärztliche und (eingeschränkt) gesamtgesellschaftliche Kontroverse um die Katastrophenmedizin markierte Tschernobyl eine vorerst letzte, heftige Intensivierung. Gerade weil die Bundesrepublik Deutschland selbst bei einem vermehrt geforderten Ausstieg aus der zivilen Nutzung der Atomenergie von ausländischen Reaktoren umgeben blieb, welche bei einer nunmehr konkret Gestalt annehmenden Katastrophe oberhalb des Unfalls, unterhalb des Krieges entsprechende Schutzmaßnahmen sinnvoll erscheinen ließen, mochten sich deren Befürworter in der Initiative sehen.

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Der Deutsche Ärztetag 1986 und der 6. Internationale Kongress der IPPNW

Zwei Kongresse flankierten den Höhepunkt der innerärztlichen Kontroverse um die Katastrophenmedizin im Jahr 1986: der jährlich veranstaltete Deutsche Ärztetag sowie der eine Besonderheit darstellende, von der bundesdeutschen Sektion der IPPNW organisierte, 6. Internationale Ärztekongress zur Verhütung des Atomkriegs in Köln. Gemeinsam markierten sie den Tiefpunkt der Beziehung zwischen den Kammern und der ärztlichen Friedensbewegung. Die Tschernobyl-Katastrophe war dabei nicht der Auslöser – innerärztliche Konflikte um die Katastrophenmedizin existierten immerhin seit Beginn der 1980er Jahre –, wohl aber ein irritierendes Element, welches vertraute Argumentationslinien unter Druck setzte und den jeweiligen Kontrahenten bislang unerprobte Stellungnahmen abverlangte. Der 89. Deutsche Ärztetag – das Parlament der bundesdeutschen Ärzteschaft – tagte vom 29. April bis zum 3. Mai 1986 in Hannover. Eine Betrachtung der angenommenen und abgelehnten Entschließungsanträge verdeutlicht, dass die bundesdeutsche IPPNW-Sektion hier eine schwere Niederlage erfuhr. Allein Ellis Huber, Mitinitiator der alternativen „Gesundheitstage“, späterer Präsident der Landesärztekammer Berlins sowie in den 1990er Jahren langjähriges Vorstandsmitglied der IPPNW, brachte fünf Entschließungsanträge zur Abstimmung. Diese betra-

34 Johann F. Jeurink, Es wehen die widrigen Winde allerorten (Vorwort), in: medizin heute 6/1986, S. 1.

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fen die „unzulässige Vermischung von Friedens- und Kriegsfall“,35 die Ablehnung „jeder Schulung oder Fortbildung in Kriegsmedizin“36 sowie der Denkschrift Katastrophenmedizin,37 die Ausrichtung eines Kongresses zum Feindbildabbau38 und die Bekräftigung, dass auch bei Katastrophen stets dem Schwerstkranken zuerst geholfen werden müsse.39 Sämtliche Anträge wurden abgelehnt, ebenso wie solche, die ein „atompolitisches Moratorium“ zur Förderung alternativer Energiequellen verlangten,40 die Aufnahme von vier (!) Vertretern der IPPNW in den BÄK-Sanitätsausschuss41 sowie die Anerkennung des besonderen Engagements der IPPNW und die Teilnahme offizieller Kammervertreter an deren 6. Weltkongress.42 Angenommen wurden demgegenüber Entschließungen, welche die Bedeutung schneller Aufklärung und entsprechender Schutzmaßnahmen im Katastrophenfall unterstrichen,43 an die Möglichkeit von „Randzonen“ erinnerten, in denen auch im Atomkrieg ärztliche Hilfe sinnvoll sein mochte44 sowie ein Antrag des Vorstands der Bundesärztekammer, welcher zwar frühere Warnungen Deutscher Ärztetage vor den Gefahren eines (Atom-)Kriegs bekräftigte, gleichwohl aber betonte: Ärzte müssen stets darauf vorbereitet sein und sind verpflichtet, Menschen Hilfe zu leisten, ohne danach zu fragen, wodurch sie Schaden genommen haben und warum sie der Hilfe bedürfen. Der 89. Deutsche Ärztetag hält deshalb unverändert organisatorische Vorbereitungen im Katastrophen- und Zivilschutz sowie Fortbildung in Notfall- und Katastrophenmedizin für unerläßlich.45

35 Beschlussantrag von Dr. Huber als Delegierter der ÄK Berlin; Drucksache Ia–72 in: Bundesärztekammer (Hrsg.), Stenografischer Wortbericht des 89. Deutschen Ärztetages vom 29.4.–3.5.1986 in Hannover. Köln 1986, S. A 33–34. 36 Entschliessungsantrag [sic] von Dr. Huber als Delegierter der ÄK Berlin; Drucksache III–19, in: ebd., S. A 71–72. 37 Beschlussantrag von Dr. Huber als Delegierter der ÄK Berlin; Drucksache III–21, in: ebd., S. A 73. 38 Beschlussantrag von Dr. Huber als Delegierter der ÄK Berlin; Drucksache II–29, in: ebd., S. A 77. 39 Entschliessungsantrag [sic] von Dr. Huber als Delegierter der ÄK Berlin; Drucksache III–20, in: ebd., S. A 72. 40 Entschliessungsantrag [sic] von Dr. Köppl als Delegierter der ÄK Berlin; Drucksache II–5, in: ebd., S. A 51. 41 Beschlussantrag von Dr. Schieferstein als Delegierte der ÄK Baden-Württemberg; Drucksache III–22, in: ebd., S. A 73. 42 Beschlussantrag von Prof. Schmaltz, Prof. Kolkmann, Dr. Schilling als Delegierte der ÄK BadenWürttemberg; Drucksache III–18, in: ebd., S. A 71. 43 Entschliessungsantrag [sic] von Dr. Schaefer als Delegierter der ÄK Hessen; Drucksache II–9, in: ebd., S. A 54. 44 Änderungsantrag zum Entschliessungsantrag [sic] von Prof. Poche als Delegierter der ÄK WestfalenLippe; Drucksache III–5a, in: ebd., S. A 64. 45 Entschliessungsantrag [sic] vom Vorstand der Bundesärztekammer; Drucksache III–5, in: ebd., S. 63–64.

Der Deutsche Ärztetag 1986 und der 6. Internationale Kongress der IPPNW

Wenig überraschend fielen die dem Abstimmungsprozess vorausgegangenen Debatten kontrovers aus, wobei neben Eindeutigem auch Zwischentöne vorgebracht wurden. Der durch die Diskussionen führende BÄK-Präsident Vilmar mühte sich nach Kräften, eine allzu große Polarisierung zu vermeiden; ihm muss mithin attestiert werden, die Debatte im Sinne eines freien Austauschs im Kollegium geleitet und insbesondere die IPPNW-Mitglieder vor überzogenen Spitzen geschützt zu haben.46 Es scheint an dieser Stelle wenig erkenntnisfördernd, die bekannten Muster der Debatte erneut kleinschrittig nachzuzeichnen. Neben antikommunistischen Attacken und entsprechenden Entgegnungen etwa von Ellis Huber sei auf einzelne Redner hingewiesen, die ein wachsendes Unverständnis bezüglich des gesamten Themas zum Ausdruck brachten. So meinte etwa ein Delegierter der Ärztekammer Niedersachsens: Wenn wir einen ärztlichen Beitrag zum Abbau von Feindbildern leisten wollen, dann muß ich einfach fragen: Wo ist dieser Block, daß [sic] die IPPNW immer wieder insistiert – trotz wiederholter gegenteiliger Beteuerungen –, daß hier etwas für den Kriegsfall getan wird? Wie oft müssen wir es noch sagen? Wo ist der Block? Können Sie mir das erklären? Dies stimmt einfach nicht. Kein Mensch in dieser Bundesrepublik bereitet sich auf einen Kriegsfall vor. (Beifall) Das muß einfach irgendwann einmal weg. Ich selber war zum Notdienst eingeteilt, als bei uns in Friesland die Schneekatastrophe war. […] Es war katastrophal, ich war nicht gut genug darauf vorbereitet. Wenn Sie dieses Vokabular wegließen, hätten Sie die Ärzteschaft einstimmig hinter sich.47

Auch IPPNW-Positionen kamen umfangreich und gelegentlich unter Applaus zur Sprache. Dennoch schienen deren Mitglieder insgesamt in die Defensive gedrängt zu sein, präsentierten sie sich doch deutlich wahrnehmbar in einer Opferrolle und monierten die „Diffamierung“ ihrer eigenen Positionen,48 ohne einzugestehen, dass sich die Gegenseite gleichfalls diffamiert sah. Ein Delegierter bemerkte in diesem Zusammenhang: Ich glaube, man kann feststellen, daß nichts dafür spricht, daß sich seit den Ausführungen des Präsidenten Eckel im Jahre 1958 in den Anschauungen der deutschen Ärzteschaft zur [sic] der Frage „Arzt und Gesundheit im Atomzeitalter“ etwas geändert hat [vgl. hierzu Kapitel 2.2.2]. Ich glaube, daß hier niemand unter uns ist, der sich für Gewalt und

46 Vgl. etwa seine scharfe Zurückweisung des Vorwurfs der „Menschenverachtung“, die man „auch kontrovers Andersdenkenden und gerade Ärzten nicht unterstellen“ solle: ebd., S. 355. 47 Bundesärztekammer (Hrsg.), Stenografischer Wortbericht des 89. Deutschen Ärztetages, S. 392. 48 Vgl. hierzu etwa den Redebeitrag Edith Schiefersteins, ebd., S. 389.

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Kriegsvorbereitungen ausspricht. Ich muß deshalb an den Antragssteller [aus den Reihen der IPPNW] die Frage stellen: Sind Sie sich dessen bewußt, daß Sie mit Ihren Anträgen in der Öffentlichkeit und im internationalen Raum immer wieder den Eindruck erwecken – vielleicht erwecken wollen –, daß unter uns Ärzten Kolleginnen und Kollegen vertreten sind, die solche Anschauungen haben?49

Einen Schlüsselbeitrag der in mehreren Teilen durchgeführten Diskussion brachte BÄK-Vizepräsident Gustav Osterwald. Dieser betonte, dass auch kontroverse Positionen „unter Ärzten“ selbstverständlich vertreten werden dürften, beharrte aber darauf, dass schon das Grundgesetz der Bundesrepublik die „Vorbereitung und die Führung von Angriffskriegen“ verbiete.50 Osterwalds entscheidender, mit lebhafter Zustimmung quittierter Beitrag war jedoch folgender: Frau Schieferstein, Sie haben gesagt, der Zivilschutz sei etwas völlig Unnötiges. Das mag aus Ihrer Sicht sein. Aber dann nur hier in Deutschland; denn überall sonst wird er betrieben. Ich habe hier Materialien, die ganz offen sind. Das ist ein Bericht über die Vorbereitungen der Sowjetunion für die Zivilverteidigung. Da sind aber ganz selbstverständlich die Dinge wie Sichtung usw. enthalten, und zwar genau in den Stufen, die man im Papier der WHO findet [vgl. hierzu Kapitel 3.1.4], die man im übrigen […] in der DDR findet. Das steht auch in dem Buch von Herrn Röding. Er ist, nebenbei bemerkt, stellvertretender Vorsitzender der IPPNW in der DDR. (Beifall) Erwecken Sie also bitte nicht den Eindruck, als sei dies hier eine sakrosankte Diskussion um höchst menschliche Werte auf ganz hoher Ebene! Ich will überhaupt nicht bestreiten, daß das Engagement vieler ihrer Mitglieder und ganz sicher vieler ihrer Sympathisanten ärztlich-ethische Gründe hat. Ich glaube aber, daß sie durch die Unwägbarkeiten, die in dem politischen Teil dieser Auseinandersetzungen sichtbar werden, vielleicht etwas zuviel Mißtrauen gegen das hegen, was im Gesamtkonsens der Mehrheit der deutschen Ärzteschaft bereits seit Jahrzehnten ausgesprochen wird. (Lebhafter Beifall)51

Osterwald griff hier die bereits im Zuge der Nobelpreisverleihung problematisierten inneren Widersprüche der IPPNW als blockübergreifender Bewegung auf: die Bezeichnung nationaler katastrophenmedizinischer Bemühungen als Kriegsmedizin und die Überhöhung der eigenen Verweigerungshaltung als Akt berufsethischer Superiorität bei gleichzeitiger Akzeptanz identischer und breitflächig kolportierter Bemühungen der Staaten des Warschauer Pakts. Diese Diskrepanz war letztlich

49 Ebd., S. 391. 50 Ebd., S. 125. 51 Ebd., S. 126–127.

Der Deutsche Ärztetag 1986 und der 6. Internationale Kongress der IPPNW

kaum aufzulösen und wurde von den Befürwortern der Katastrophenmedizin verstärkt angegriffen, häufig unter Bezugnahme auf das katastrophenmedizinische Standardwerk der DDR, Der Massenunfall, dessen Autor Hans Röding prominentes IPPNW-Mitglied war.52 Gerade der letzte Teil von Osterwalds Aussage erscheint interessant, erweckte die bundesrepublikanische IPPNW-Sektion doch tatsächlich zeitweise den Eindruck, dass sie ihren eigenen Staat, der ihnen Redefreiheit ebenso gewährte wie glänzende Karriereaussichten, fürchtete, ihm mehr misstraute als einer Sowjetunion, welche sich gegenüber ihren Kritikern wiederholt gnadenlos präsentiert hatte. Es sei daran erinnert, dass die IPPNW Vorgehensweise und Leitlinien des „Ostens“ intern teils deutlich bitterer kommentierte (vgl. hierzu Kapitel 3.1.3). Allein – aufgrund der als notwendig erachteten Inszenierung blockübergreifender Einheit war diese (selbst-)kritische Seite zumindest des Vorstands der westdeutschen IPPNW nicht nur der Mehrheit der Delegierten des Deutschen Ärztetags, sondern wohl auch weiten Teilen der lokalen Initiativen unbekannt. Dort beharrte man zumeist darauf, dass die Sowjetunion kein Feind, sondern lediglich ein von konservativen Kräften behauptetes Feindbild sei, welches systematisch zur befürchteten (Re-)Totalisierung der eigenen Demokratie aufgebauscht werde. Gerade aufgrund der Komplexität des Phänomens Antikommunismus und seiner langen Tradition sollte man sich davor hüten, diesen Punkt schlicht zu verwerfen.53 Jedenfalls scheint es evident, dass die bundesdeutsche IPPNW dem eigenen Staat einen terminalen Rückfall in die Barbarei auch vierzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs durchaus zutraute. Ironischerweise war es der einschlägig NS-belastete Hans Joachim Sewering (vgl. Kapitel 1.5), welcher die entsprechenden Debatten des Deutschen Ärztetags mit weiteren Verweisen auf die inneren Widersprüche der internationalen IPPNW beendete. Seinem Plädoyer, dass BÄK-Präsident Vilmar dem 6. Weltkongress fernbleiben solle, stimmte der Deutsche Ärztetag zu;54 ein bereits zuvor angekündigter Boykott durch die Bundesärztekammer blieb somit

52 Vgl. Hans Röding, Der Massenunfall sowie beispielsweise auch die Argumentation insbesondere Ernst Rebentischs auf dem „Gesundheitsforum“ der Süddeutschen Zeitung: Christian Ullmann, Zivilschutz und Katastrophenmedizin – Erfahrungen nach Tschernobyl, in: Süddeutsche Zeitung (Sonderdruck), 20.11.1986. Entnommen aus: FZH, 16–3 A/2.1.–9. 53 Vgl. hierzu insbesondere Till Kössler, Die Grenzen der Demokratie: Antikommunismus als politische und gesellschaftliche Praxis in der frühen Bundesrepublik, in: Creuzberger & Hoffmann (Hrsg.), „Geistige Gefahr“ und „Immunisierung der Gesellschaft, S. 229–250. Dort werden sowohl auf Ausschluss drängende, aber auch integrative, die junge Demokratie der Bundesrepublik eher stützende Aspekte antikommunistischer Motive dargelegt. Eine deutlich kritischere Sicht auf den Antikommunismus vertritt im selben Band Andreas Wirsching, vgl. Antikommunismus als Querschnittsphänomen politischer Kultur, 1917–1945, in: ebd., S. 15–28. 54 Ebd., S. 402–404. Der bayerische Kammerpräsident Sewering unterstrich seine auf dem 89. Deutschen Ärztetag vorgebrachten Argumente detailreich u. a. auch im Bayerischen Ärzteblatt, vgl. Hans Joachim Sewering, Zur Kenntnis genommen, in: Bayerisches Ärzteblatt 7/1986, S. 277–278.

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unangetastet. Edgar Ungeheuer hatte Karsten Vilmar hierfür bereits in seiner Funktion als Präsident der Deutschen Gesellschaft für Katastrophenmedizin am 3. April 1986 schriftlich gratuliert und bekräftigt, dass die BÄK in dieser Hinsicht standfest bleiben müsse, solange die IPPNW Katastrophen- und Kriegsmedizin gleichsetze.55 Vilmar selbst hatte sich in seinem Absageschreiben an Karl Bonhoeffer, den Präsidenten des Weltkongresses, zwar ähnlich geäußert; insbesondere jedoch moniert, dass eine Münchener Regionalinitiative den Kammern vorgeworfen habe, diese verdankten ihre Macht den Nationalsozialisten –56 ein abermaliger Hinweis auf die zum Ende der 1980er Jahre immer vielfältiger zwischen „Kriegsverhinderung“ und „Vergangenheitsbewältigung“ changierenden Diskurse. Dass die nationalsozialistische Vergangenheit gerade der eigenen Profession während der Kontroversen um die Katastrophenmedizin seit dem einsetzenden Engagement der IPPNW eine große Rolle spielte, wurde bereits mehrfach angedeutet (vgl. insbesondere die Kapitel 3.1.2 und 3.1.3) und soll im Anschluss in Kapitel 4.5 dieser Studie vertieft werden. Im Gegensatz zum 89. Deutschen Ärztetag war der exakt einen Monat später vom 29. Mai bis zum 1. Juni 1986 ausgerichtete 6. Weltkongress der IPPNW, gerade aufgrund der nach wie vor in der Diskussion stehenden Tschernobyl-Katastrophe und des westdeutschen Austragungsortes Köln, keine Routine.57 Der Kongress stand unter dem Motto „Gemeinsam leben – nicht gemeinsam sterben“ und wurde von etwa 4500 Teilnehmern sowie über 500 Journalistinnen und Journalisten besucht.58 Eines der positivsten Urteile fällte ausgerechnet das Bundesministerium für Verteidigung. Dessen Abteilung I (Dezernat Psychologische Verteidigung) stellte fest, dass er überaus erfolgreich verlaufen sei. Der Kongress habe viele, auch internationale und teils prominente Besucher anziehen können; neben der vom damaligen Ministerpräsidenten Nordrhein-Westfalens Johannes Rau (SPD) vor-

55 Schreiben von Edgar Ungeheuer an Karsten Vilmar vom 3.4.1986, Betr.: 6. Weltkongress IPPNW. BArch, B 417/1983. 56 Schreiben von Karsten Vilmar an Karl Bonhoeffer vom 27.3.1986; Betr.: 6. Weltkongreß der „Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs (IPPNW)“. BArch, B 417/1871. 57 Dem Thema dieser Arbeit entsprechend steht im Folgenden die bundesdeutsche Sicht auf den Kongress im Mittelpunkt, nicht jedoch z. B. die internationale Planung. Nähere Informationen zu diesem und weiteren Aspekten finden sich bei: Kemper, Medizin gegen den Kalten Krieg, S. 382–408. 58 Vorwort, in: Sektion Bundesrepublik Deutschland der IPPNW (Hrsg.), Gemeinsam leben – nicht gemeinsam sterben!; Dokumentation des 6. Weltkongresses der IPPNW in Köln. München 1987. Andere Quelle nennen demgegenüber, ebenso wie Claudia Kemper (Medizin gegen den Kalten Krieg, S. 382), nur 3000 Besucher, vgl. Auch Tschernobyl wurde in Köln nicht ausgeklammert, in: Die Neue Ärztliche, 2.6.1986. Dieser und nachfolgende Presseartikel zum Weltkongress wurden entnommen aus: Pressestelle der deutschen Ärzteschaft, Dokumentation der Presseveröffentlichungen zum 6. Internationalen Ärztekongreß zur Verhütung des Atomkrieges vom 29.5.–1.6.1986 in Köln. BArch, B 417/1986.

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getragenen Begrüßungsansprache hätten zahlreiche Regierungschefs Grußworte übersandt. Zusätzlich sei man – trotz einer wenig überraschenden „Schlagseite“ Richtung USA – im Rahmen des Möglichen um politische Ausgewogenheit bemüht gewesen.59 Geradezu überschwänglich fiel die abschließende Schlussfolgerung des Berichts aus: Die notwendige inhaltliche Auseinandersetzung mit Grundpositionen und Aktionen der IPPNW sollte daher nicht aus einer Konfrontationshaltung heraus erfolgen, sondern der moralischen Qualität der Argumente und offenkundigen Integrität der überwiegenden Mehrzahl ihrer Mitglieder Rechnung tragen.60

Der Bericht des BMVg dient als markanter Beleg dafür, dass die Trennlinien der Kontroverse sich gängigen Klischeevorstellungen vermuteter institutioneller Gesinnung oft widersetzten. Das BMVg stand mit seiner Einschätzung keinesfalls allein da; mehrere Pressepublikationen berichteten Ähnliches und beharrten auf der moralischen Integrität der IPPNW.61 Die Mehrheit der öffentlichen Berichterstattung attestierte dem Kongress hingegen ein durchwachsenes Ergebnis. Abseits klar negativer Darstellungen, die von einem typischen „Ost-West-Unternehmen“ sprachen, das stets „ins Rutschen gerate, wenn vitale sowjetische Interessen durchschlagen und gerade wirklicher Pluralismus nicht mehr gefragt ist“,62 frappiert insbesondere die Fülle zwiespältiger Beiträge in Presseorganen, welche vormals oft wohlwollend über die IPPNW berichtet hatten. Eine Überschrift des Kölner StadtAnzeigers veranschaulichte das Dilemma: „Ärzte im Zwiespalt“. Der Weltkongress offenbare Konflikte und „innere Zweifel“,63 welche sich der Widersprüchlichkeit der IPPNW als einerseits nationaler, andererseits jedoch blockübergreifender Bewegung verdanke. Der Spiegel vollzog in Sachen IPPNW und Katastrophenmedizin eine abermalige Kehrtwende und schrieb nunmehr negativ über den auf dem Kongress sichtbar gewordenen, „schmerzhaften Spagat“ zwischen westdeutscher Basis und internationaler Führungsspitze,64 während die Kölnische Rundschau den

59 Schreiben vom Streitkräfteamt Abteilung I – Dezernat Psychologische Verteidigung an das BMVg – Fü S III 9 vom 2.6.1986; Betr.: Meldung aus aktuellem Anlaß; hier: Dokumentation und Bericht vom 6. Weltkongreß der IPPNW (Internationale Ärzte für die Verhinderung des Atomkriegs), Köln, 29.5.–1.6.1986, S. 2–5. BArch, B 417/1953. 60 Ebd., S. 7. 61 Vgl. z. B. Ingrid Müller-Münch, Die Atomenergie spaltete den Kongreß nicht, in: Frankfurter Rundschau, 2.6.1986. 62 Jürgen Wahl, In Köln starb die Illusion der Friedensärzte, in: Rheinischer Merkur, 31.5.1986. Vgl. auch Werner Kahl, Auf dem Ärztekongreß führt Moskau die Regie, in: Die Welt, 31.5.1986. 63 Hans Werner Kettenbach, Ärzte im Zwiespalt, in: Kölner Stadt-Anzeiger, 2.6.1986. 64 Schmerzhafter Spagat, in: Der Spiegel, 2.6.1986.

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„Anti-Atomkriegsärzten“ zwar „gute Absichten“ attestierte, gleichzeitig aber meinte, dass diese sich selbst fortwährend „politische Knüppel […] zwischen die Beine“ werfen würden.65 Als kritischste Punkte führte die Berichterstattung durchgängig die Lehren aus Tschernobyl sowie die Kontroverse um die Katastrophenmedizin an, welche auch von IPPNW-Befürwortern zusehends als international nicht anschlussfähiges, in Richtung Warschauer Pakt gar verlogenes Alleinstellungsmerkmal der deutschen Sektion ausgewiesen wurde.66 Man bekämpfe die Katastrophenmedizin national, während man ihre internationale Anerkennung, gerade in Bezug auf technische Katastrophen und seitens der Sowjetunion, kaum thematisiere; man fordere national die Abschaltung der Kernkraftwerke, während man die deutlich unsichere Energiepolitik der Staaten des Warschauer Pakts stillschweigend dulde – der „kleinste gemeinsame Nenner“ der IPPNW sei, so stand es in der Neuen Ärztlichen, „nach Tschernobyl zu klein geworden“.67 Die Zeitschrift Arzt heute veröffentlichte parallel zum Weltkongress ein Interview mit den beiden Präsidenten der IPPNW-Dachorganisation, Bernhard Lown und Evgenij Chasov. Auf die Frage, wie diese den Boykott ihres Kongresses durch die Bundesärztekammer bewerten würden, antwortete Chasov: Ich kann mir nicht vorstellen, was an unserer Bewegung zu kritisieren wäre. Logisch gedacht, würden jene, die unsere Bewegung ablehnen, die Welt zum Krieg führen wollen.68

Wer nicht für uns ist, ist gegen uns – unglücklicherweise bediente sich Chasov damit eines Arguments, welches auf dem 89. Deutschen Ärztetag massive Kritik erfahren hatte: die moralische Überhöhung des eigenen Standpunkts bei gleichzeitig latentem Vorwurf, dass die Kritiker der IPPNW einen Atomkrieg „wollten“. Zu allem Überfluss entgegnete Lown auf die Frage nach der Menschenrechtssituation in der Sowjetunion, dass Ärzte stets Prioritäten setzen müssten und dass die Verhinderung des Atomkriegs, nicht jedoch die Menschenrechtsfrage Priorität der IPPNW sei. Parallelen zu den von der bundesdeutschen Sektion so vehement abgelehnten Triagekategorien mussten sich aufdrängen, nunmehr auf das bestens vertraute, sozialistische Narrativ bezogen, dass Frieden nun einmal wichtiger sei als Freiheit. Die Abwesenheit eines Vertreters der zur damaligen Zeit ebenfalls in Köln ansässigen BÄK auf dem Weltkongress wurde von Seiten der ärztlichen Friedensbewegung zumeist als Totalverweigerung jeden Dialogs interpretiert, während Kammervertreter und Katastrophenmediziner die IPPNW mehrheitlich kaum noch als 65 66 67 68

Norbert A. Sklorz, Zweifel an Friedensärzten, in: Kölnische Rundschau, 2.6.1986. Vgl. Auch Tschernobyl wurde in Köln nicht ausgeklammert, in: Die Neue Ärztliche, 2.6.1986. Elga Lehari, Kommentar: Ein Anlaß zum Umdenken, in: Die Neue Ärztliche, 3.6.1986. „Hinter der Bewegung steht der Eid des Hippokrates“: Die IPPNW-Co-Präsidenten Jewgeni Tschasow und Bernhard Lown im Interview mit „Arzt heute“, in: Arzt heute, 2.6.1986.

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dialogwürdig erachteten. Wenig überraschend markierte das Jahr 1986 demnach auch in der BÄK-Verbandsschrift, dem Deutschen Ärzteblatt, den Tiefpunkt wechselseitiger Beziehungen. Die Diskussionen kreisten dort abermals um die von der westdeutschen IPPNW-Sektion abweichende Bewertung der Katastrophenmedizin durch die Sowjetunion sowie um die Bedeutung der Tschernobyl-Katastrophe als friedenszeitliches Szenario, welches katastrophenmedizinische Vorbereitungen sinnvoll erscheinen ließ. Derartige Widersprüchlichkeiten wurden vom Deutschen Ärzteblatt im Gegensatz zu den positiveren Aspekten des Weltkongresses breit kolportiert.69 Erschwerend kam hinzu, dass bereits zuvor versucht worden war, den US-amerikanischen IPPNW-Präsidenten Bernhard Lown als Kommunisten im Sinne seines Kollegen Chasov darzustellen bzw. zu diffamieren.70 Auch auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung wurden jedoch kritische Stimmen im Deutschen Ärzteblatt, zumindest in Form von Leserbriefen, nicht ausgeblendet. Diese griffen die vorherrschende Berichterstattung teils massiv an, schrieben von „Hetzkampagnen“71 und Ulrich Gottstein durfte gar bezweifeln, ob das Deutsche Ärzteblatt überhaupt noch eine Zeitschrift „der Ärzteschaft“ sei.72 In der gleichfalls stattfindenden internen, teils verbitterten Korrespondenz zwischen der von der BÄK offiziell unabhängigen Redaktion und IPPNW-Mitgliedern73 bedankte sich Till Bastian sarkastisch für die polarisierende Berichterstattung; sie trüge sicher zum stetigen Wachstum der Sektion (im Juni 1986 ca. 5200 Mitglieder) bei.74 Der eigentliche Ablauf des Weltkongresses drohte über dieses Hintergrundrauschen von Kontroversen, welche bereits seit Längerem geführt worden waren und durch die Tschernobyl-Katastrophe zusätzlich geschürt wurden, zeitweise in Vergessenheit zu geraten. Ungeachtet der beeindruckenden Kongressanlage und eines reichhaltigen Programms, dessen teils hochkarätig besetzte Fachvorträge von Grüßen höchster Prominenz flankiert wurden,75 und das auch die Stadt Köln und

69 Vgl. z. B. Ernst Roemer, Friedensliebe – dialektisch, in: Deutsches Ärzteblatt 21/1986, S. 1485; Norbert Jachertz, Der lange Schatten von Tschernobyl, in: Deutsches Ärzteblatt 24/1986, S. 1749–1750 und Günter Burkart, Was alles unter der IPPNW-Flagge segelt, in: Deutsches Ärzteblatt 24/1986, S. 1750–1751. 70 Einspruch der DDR-Sektion, in: Deutsches Ärzteblatt 14/1986, S. 917. 71 Karl-Heinz Dauenhauer, Hetzkampagne: Letzter Anstoß (Leserbrief), in: Deutsches Ärzteblatt 50/ 1986, S. 3511. 72 Ulrich Gottstein, Glücklich mit der Ärzte-Zeitung (Leserbrief), in: Deutsches Ärzteblatt 27/1986, S. 1918. 73 Vgl. z. B.: Schreiben von Kurd Stapenhorst an Ernst Roemer vom 5.5.1986; Betrifft: Artikel „Einspruch der DDR-Sektion“ im Deutschen Ärzteblatt vom 4.4.1986. FZH, 16–3 A/2.1.–8. 74 Schreiben von Till Bastian an Norbert Jachertz vom 16.6.1986. FZH, 16–3 A/2.1.–8. 75 Der deutschsprachige Kongressband – eine internationale Version existierte ebenfalls – umfasste Grußworte von Peres de Cuellar (Generalsekretär der Vereinten Nationen), Bundespräsident Richard von Weizsäcker, dem erwähnten Ministerpräsident NRWs, Johannes Rau, US-Präsident

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ihre Gedenkorte mit einbezog: Nicht verleugnen lassen sich zahlreiche Reibungen zwischen der nationalen bundesdeutschen Sektion der IPPNW und dem blockübergreifenden Dachverband. Diese manifestierten sich bereits organisatorisch in der vorgenommenen Trennung des im Vordergrund stehenden internationalen sowie eines nationalen Teils, welcher sich gerade bezüglich der Risiken der Kernenergie deutlich kritischer äußerte, als dies anderenorts erwünscht war.76 In dieser Hinsicht griff die bundesdeutsche Sektion ihrer bereits erwähnten, im September stattfindenden Jahreshauptversammlung vorweg und bekräftigte die aus ihrer Sicht trotz aller übergeordneten Ziele gegebene Legitimität nationalspezifischer Standpunkte. Eine Ausweitung der Zielsetzungen war hingegen auch aus den internationalen Vorträgen des Kongresses abzulesen: So rückte etwa die Entwicklungshilfe und die medizinische bzw. gesundheitspolitische Lage der so bezeichneten „Dritten Welt“ verstärkt als Ergänzung zur traditionell thematisierten Ost-West-Dichotomie in den Vordergrund. Gerade aufgrund dieser mehrfach angedeuteten Abkehr vom einstigen Single-issue-Charakter zeichnete sich somit bereits im Jahr 1986 ab, dass der zumindest in der Bundesrepublik Deutschland nach wie vor virulent ausgetragene innerprofessionelle Konflikt keinesfalls hoffnungslos zu sein schien, mochten doch alternative Schwerpunktsetzungen alternative Möglichkeiten der Verständigung mit sich bringen. Trotz aller ungelösten Widersprüche und einem denkbar schlechten Verhältnis zwischen „Etablierten“ und „Alternativen“ stellte der 6. Internationale Kongress der IPPNW in der historischen Betrachtung demnach auch aus nationaler Sicht keine Sackgasse, sondern eher einen Wendepunkt des innerprofessionellen Dialogs dar.

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Die ärztliche Friedensbewegung – quo vadis?

Seit der Tschernobyl-Katastrophe beriet sich die bundesdeutsche Sektion der IPPNW verstärkt über die genuine Bedeutung des Katastrophenbegriffs und über die Katastrophenmedizin. Abzulesen war dieser Diskussionsbedarf u. a. an der Gründung eines Arbeitskreises „Katastrophenmedizin“. Dort versuchte insbesondere der seit Beginn seines Wirkens bei der IPPNW mäßigend auftretende, auf einen abermaligen Schulterschluss mit den Kammern drängende Ulrich

Ronald Reagan, Michail Gorbačёv (Generalsekretär des Zentralkomitees der KPdSU) sowie – stellvertretend für den Papst – Kardinalstaatssekretär Agostino Casaroli. Vgl. Sektion Bundesrepublik Deutschland der IPPNW (Hrsg.), Gemeinsam leben – nicht gemeinsam sterben!, Inhaltsverzeichnis und entsprechende Textstellen. 76 Vgl. etwa Till Bastian, Aus Tschernobyl lernen, in: Sektion Bundesrepublik Deutschland der IPPNW (Hrsg.), Gemeinsam leben – nicht gemeinsam sterben!, S. 228–229 und Horst-Eberhard Richter, Zeit zum Aufwachen, in: ebd., S. 232–233.

Die ärztliche Friedensbewegung – quo vadis?

Gottstein, die interne Verwendung des Begriffs komplexer anzulegen bzw. die konsequente Gleichsetzung von Katastrophen- und Kriegsmedizin aufzubrechen. Till Bastian hatte in diesem Zusammenhang Vorsicht angemahnt und daran erinnert, dass „Katastrophe“ ein Begriff der Alltagssprache sei, welcher sich einer Konkretisierung weitgehend entzog, was man auch an den gescheiterten Versuchen einer eindeutigen Definition durch die Katastrophenmediziner ablesen könne.77 Gerade vor dem Hintergrund der theoretischen Vorüberlegungen dieser Untersuchung schien Bastians Argument stichhaltig zu sein; die westdeutsche IPPNW jedoch hatte den Begriff seit Jahren konkretisiert und mit „Krieg“ gleichgesetzt – eben diese Entwicklung war es ja, die Gottstein kritisierte. Auch wenn sich die Arbeitsgruppe nach wie vor kritisch gegenüber den Katastrophenmedizinern zeigte und deren zivileres Auftreten als Augenwischerei abtat, konnte sie Gottsteins Argument, dass die in dieser Schärfe nur in der Bundesrepublik Deutschland stattfindende Kontroverse um die Katastrophenmedizin in eine argumentative Sackgasse führe, kaum ignorieren.78 Auf der ersten Sitzung des Arbeitskreises „Katastrophenmedizin“ am 19. September 1987 konzentrierte man sich demnach auf die Forderung, den Katastrophen- vom Zivilschutz verstärkt zu trennen, um klare Positionen für eine nunmehr gänzlich zivile Katastrophenmedizin und gegen eine militärische Zivilschutzmedizin formulieren zu können.79 Dass exakt diese Trennung mit dem KatSG-68 aus pragmatischen Gründen aufgeweicht worden war, wurde nicht erwähnt bzw. war nicht bekannt. Eine abermalige, wegen aufwändiger Doppelstrukturen teure Trennung des Zivil- und Katastrophenschutzes musste bei Fachexperten wie Hilfsorganisationen auf Ablehnung stoßen – erwünscht wurde sie hingegen ausgerechnet von konservativen Hardlinern der Bundesregierung, welche sich hiervon eine Stärkung des Zivilschutzes versprachen. Die Position des IPPNW-Arbeitskreises wurde von Gottstein prominent auf dem 7. Medizinischen Kongress zur Verhinderung eines Atomkriegs am 7. November 1987 in Essen vertreten. Dort äußerte sich dieser wohlwollend gegenüber den Hilfsorganisationen sowie der Bundeswehr und dankte ihnen für den selbstlosen Einsatz bei Überschwemmungen, Chemie- und Nuklearkatastrophen sowie großen Verkehrsunfällen und terroristischen Attacken.80 Gottstein betonte, dass man von

77 Protokoll der Arbeitsgruppe Katastrophenmedizin 21./22.3.1987, S. 1. FZH, 16–3 A/17.2.–1. 78 Ebd., S. 2. 79 Protokoll AK Katastrophenmedizin, 19.9.1987, Frankfurt/Main-Flughafen. FZH, 16–3 A/17.2.–1. Vorausgegangen war dem Protokoll ein ähnlich lautender Beschluss der Hauptversammlung bereits im September 1986, vgl. Beschluss der Jahreshauptversammlung in Stuttgart am 27.9.1986. FZH, 16–3 A/2.1.–9. 80 7. Med. Kongreß zur Verhinderung eines Atomkriegs. Essen. Katastrophenschutz – Zivilschutz. Podiumsdiskussion am 7.11.1987 von Prof. Dr. U. Gottstein, Frankfurt, S. 1–2. B 417/1875.

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IPPNW-Seite wegen der Gründung einer Deutschen Gesellschaft für Katastrophenmedizin ausgerechnet während des Höhepunkts der Nachrüstungsdebatte skeptisch geworden, nunmehr aber zur Kooperation bereits sei: […] nachdem aber die Bevölkerung und die Deutsche Ärzteschaft weiterhin unter einer Katastrophe lediglich ein schlimmes Ereignis, einen Notfall unter erschwerten Bedingungen, verstehen, werden wir in Zukunft uns dieser allgemeinen Auffassung über Katastrophe und daraus abgeleitet Katastrophenmedizin anschließen. Wir werden in Zunkunft [sic] unter einer Katastrophe einen Großunfall verstehen, und unter Katastrophenmedizin die hierfür notwendige ärztliche und medizinische Versorgung. Notfallmedizin und Unfallmedizin und Katastrophenmedizin werden sich für uns in Zukunft nur noch in der Quantität des erforderlichen ärztlichen und medizinischen Einsatzes unterscheiden, jedoch niemals in der Qualität.81

Zunächst mochte Gottsteins Erklärung als Aufgabe der bisherigen IPPNW-Position in dieser Angelegenheit aufgefasst werden. Gleichwohl beharrte er nicht nur auf der vollständigen Abschaffung der vierten Triagekategorie, die sogenannte „abwartende“ Behandlung vorgeblich oder tatsächlich Unheilbarer in Massenanfällen von Erkrankten und Verletzten; auch die eingeforderte Zusammenlegung von Notfallund Katastrophenmedizin und damit die Ablehnung, Letztere als eigenständiges Feld zu betrachten, blieb der traditionellen Linie treu.82 Der im Gegensatz zum Weltkongress des Vorjahres ebenfalls anwesende Karsten Vilmar unterstrich kontrastierend die Relevanz der Katastrophenmedizin auch im Kriegsfall und bekannte sich klar zur Verteidigungsbereitschaft der Bundesrepublik. Neben der konziliant wirkenden, von Kammerseite jedoch stets vertretenen Ablehnung verpflichtender Vorbereitungen (vgl. hierzu Kapitel 2.2.3)83 enthielt Vilmars Vortrag zahlreiche Spitzen gegenüber einer seiner Ansicht nach mangelhaften, auf „Emotionalisierung und das Schüren von Ängsten“84 setzenden Diskussionskultur der IPPNW sowie die bereits vom 89. Deutschen Ärztetag bekannte Kritik an der Einseitigkeit speziell der bundesdeutschen Sektion.85 Allein die abermalige Anwesenheit des BÄK-Präsidenten auf dem Kongress muss hingegen als Indiz dafür betrachtet werden, dass Gottsteins Bemühungen auch von Kammerseite als Versuch einer Annäherung verstanden wurden, welchen man nicht übergehen konnte bzw. wollte,

81 Ebd., S. 3–4. 82 Ebd., S. 4. 83 Vgl. Kongreß zur Verhinderung eines Atomkrieges: Wie sinnvoll ist Katastrophenschutz?, S. 2224, in: Deutsches Ärzteblatt 47/1987, S. 2223–2224. 84 Karsten Vilmar, Katastrophenschutz – Zivilschutz. Podiumsdiskussion auf dem 7. Medizinischen Kongress zur Verhinderung eines Atomkrieges am 7.11.1987, S. 4. BArch, B 417/2916. 85 Ebd., S. 6–8.

Die ärztliche Friedensbewegung – quo vadis?

schon aus Gründen der für Ansehen und Gestaltungsmacht wesentlichen professionellen Geschlossenheit. Obwohl der 1986 erreichte Höhepunkt der innerärztlichen Kontroverse um die Katastrophenmedizin somit relativ zeitnah überwunden werden konnte, muss auf die Grenzen dieser Wiederannäherung hingewiesen werden, welche sich bereits in Gottsteins und Vilmars Vorträgen auf dem 1987er IPPNW-Kongress offenbarten: Das „neue“ Verhältnis beruhte auf dem wechselseitigen Bekenntnis zu einer verbesserten Gesprächskultur, aber auch auf dem Prinzip agree to disagree. So wurde beispielsweise die ebenfalls 1987 beantragte Aufnahme der bundesdeutschen IPPNW-Sektion in das Präsidium des Deutschen Ärztetags klar abgewiesen, wenn auch etwa ein Drittel der Stimmberechtigten sich dafür aussprachen oder ihrer Stimme enthielten. Im Gegensatz etwa zu Hans Joachim Sewering zeigte sich Vilmar eher auf Ausgleich bedacht und bemerkte, „daß mit der Ablehnung des Aufnahmeantrages keine Mißbilligung der Ziele der IPPNW verbunden ist“; im Gegenteil würden sämtliche im Präsidium vertretenen Organisationen sich diesen zumindest grundsätzlich anschließen.86 Die offiziell mit der „allgemeinpolitischen“ Ausrichtung begründete Ablehnung wurde von dem auf der Präsidiumssitzung vertretenden Ulrich Gottstein dennoch als demütigend empfunden, musste sich dieser doch nicht allein das Gelächter einzelner Anwesender anhören, sondern wiederum diejenigen Vorwürfe, gegen die er selbst die bundesdeutsche IPPNW-Sektion graduell zu immunisieren suchte.87 Weitere Bewerbungen scheiterten ebenfalls und erübrigten sich ab 1989 aufgrund der Abschaffung des umstrittenen Präsidiums, dem zusehends eine verbändegesteuerte Unterlaufung des demokratischen Prinzips der Ärztetage vorgeworfen wurde.88 Intern verlief die maßgeblich von Gottstein forcierte Kehrtwende der bundesdeutschen IPPNW im Übrigen keinesfalls unwidersprochen. Teils massive, sich über mehrere Jahre hinziehende Proteste flankierten sämtliche entsprechenden Reformversuche. Insbesondere Helmut Koch, Gründungs- und Vorstandsmitglied der westdeutschen IPPNW-Sektion, wehrte sich bereits ab Mai 1986 gegen eine Übernahme des Begriffs Katastrophenmedizin, die seiner Ansicht nach eine 86 Ergebnisniederschrift der 1. Sitzung des Präsidiums des Deutschen Ärztetages (Wahlperiode 1987/ 91) am 12.112.1987 in 5000 Köln 41, Herbert-Lewin-Straße 1. BArch, B 417/2339. 87 Vgl. Schreiben von Ulrich Gottstein an Vorstand und Beirat vom 14.12.1987, Betr.: Unser Antrag auf Sitz im Präsidium des Deutschen Ärztetages. FZH, 16–3 A/2.3.–2. 88 Vgl. hierzu: Das Ärztetags-Präsidium wird abgeschafft, in: Deutsches Ärzteblatt 21/1989, S. 1589–1592. Das sich aus Repräsentanten einzelner Berufsverbände und Körperschaften zusammensetzende Präsidium verfügte eher über formelle denn entscheidungsgebende Befugnisse. Mitglieder des Präsidiums waren auf den Deutschen Ärztetagen zwar nicht stimm-, jedoch redeberechtigt und konnten somit die Interessen ihrer jeweiligen Organisationen vor großem Plenum darlegen, ohne sich auf demokratischem Wege um ein entsprechendes Mandat ihrer jeweiligen Landesärztekammer bemüht zu haben.

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Aufweichung des eigenen Verbandprofils nach sich ziehen musste.89 Wie bereits angedeutet, äußerte sich der langjährige Geschäftsführer Till Bastian ebenfalls kritisch, beharrte auf einer Gleichsetzung von Katastrophen- und „Triagemedizin“ sowie auf der These, dass der genuine Zweck der Katastrophenmedizin allein die stets befürchtete und zu Recht verurteilte Vermischung von Krieg und Frieden gewesen sei. Lediglich die eigene, stark moralisierende Rhetorik müsse unter Umständen hinterfragt werden: Oft haben wir Katastrophenhelfer, Rot-Kreuz-ler [sic], Chirurgen, die von Sichtung reden etc. etc. deshalb gleichsam als Mini-Kriegstreiber behandelt und angeprangert, als wäre ihre unreflektierte, wenig überdachte Haltung schon ein Beweis dafür, daß diese Menschen auch selber den Atomkrieg wollten und aktiv vorbereiteten. Dies ist natürlich Unsinn. Oder aber es wurde behauptet, wer die Triage auch nur in Erwägung ziehe, beweise schon dadurch, daß er die Tradition der Nazi- und Euthanasie-Ärzte fortsetzen wolle usw.90

Es mag an dieser Stelle auf die in Kapitel 4.2 dargelegten Aussagen Evgenij Chasovs im Zusammenhang mit dem 6. Weltkongress der IPPNW verwiesen werden, in denen Nicht-Mitgliedern durchaus vorgeworfen wurde, den Atomkrieg zu „wollen“. Zudem mochte Bastians Appell für eine abgewogenere Diskussionskultur daran kranken, dass er der Gegenseite nach wie vor eine „unreflektierte, wenig überdachte Haltung“ attestierte – ein Vorwurf, der letztlich die eigene, professionstypische Strategie unterstrich, politische Positionen als unangreifbare, medizinische Fakten auszuweisen. Der vielfach auch Zustimmung erhaltende Gottstein91 wiederum beharrte darauf, dass es gerade im Nachgang von Tschernobyl nicht mehr zu vermitteln sei, warum sich die IPPNW derart an der Bezeichnung „Katastrophenmedizin“ störe, ähnliche Begriffspaare (Katastrophenschutz, Katastropheneinsatz usw.) aber ebenso akzeptiere wie der Rest der Bevölkerung.92 Gegen Ende der 1980er Jahre schien die IPPNW mithin nicht allein mit ihrer blockübergreifenden Anlage zu hadern, sondern auch mit ihrer grundsätzlichen parteipolitischen Offenheit. Der interne Konflikt um die Katastrophenmedizin jedenfalls schien von eher konservativ-liberalen auf der einen, politisch links stehenden Vertretern auf der anderen Seite geführt worden zu sein und offenbarte eine Problematik vieler Single-issue-Bewegungen: Jede Schwächung ihres Kernanliegens, im konkreten Fall der Tschernobyl-Katastrophe ebenso geschuldet wie den Vorwürfen eines Messens

89 Vgl. Schreiben von Helmut Koch an Vorstand und Beirat vom 15.5.1986. FZH, 16–3 A/2.1.–7. 90 Schreiben von Till Bastian an Vorstand und Beirat vom 16.3.1987. FZH, 16–3 A/2.1.–11. 91 Vgl. z. B. Schreiben von J. Schröder an Till Bastian vom 5.11.1987, nachrichtlich an Ulrich Gottstein. FZH, 16–3 A/2.1.–14. 92 Schreiben von Ulrich Gottstein an Ingeborg Oster vom 1.2.1988. FZH, 16–3 A/2.3.–3.

Die ärztliche Friedensbewegung – quo vadis?

mit zweierlei Maß in Bezug auf die Sowjetunion, konnte vorhandene innere Widersprüche zutage treten lassen. Scharf kritisiert wurde beispielsweise auch ein vom IPPNW-Arbeitskreis „Atomenergie“ erarbeitetes Vorsorgeblatt, welches Empfehlungen zum korrekten Verhalten während einer weiteren Kernenergiekatastrophe enthielt und sich von ähnlich lautenden Empfehlungen der Katastrophenmediziner kaum unterschied.93 Helmut Koch bemerkte hierzu, dass man die IPPNW auflösen könne, wenn man nun selbst damit anfing, das Geschäft der Gegenseite zu betreiben.94 Noch im Jahr 1989 legte dieser seine persönliche Sicht der Dinge unmissverständlich dar: Wir brauchen keine Triage in Friedenszeiten. Katastrophenmedizin ist gleich TriageMedizin. Eine solche irrsinnige Medizin kann nur für einen irrsinnigen Krieg von schwachsinnigen Köpfen ausgedacht sein. […] Ich bin nach wie vor ein Gegner der Katastrophenmedizin.95

Gerade die in den entsprechenden Debatten verstärkt auftretenden, persönlichen Angriffe – von einzelnen IPPNW-Mitgliedern als stereotyp männliche, empathiearme Diskussionsform kritisiert –96 verweisen eindrücklich auf die innere Fragilität der nach außen hin um Geschlossenheit bemühten Interessengemeinschaft. So richteten sich Kochs Vorwürfe nicht allein gegen den Wunsch nach veränderten Begrifflichkeiten und Schwerpunktsetzungen, sondern auch gegen eine sich seiner Ansicht nach zu sehr von ihren grass roots entfernende Identität der eigenen „Bewegung“: Ulrich [Gottstein], seid ihr alle schon zu abgehoben? Vielleicht macht das ein Blendwerk der Wertigkeit, der persönlich-politischen Bedeutsamkeit? Wöchentlich ein Gespräch mit einem Minister oder einem Parteivorsitzenden, das ist doch was; und dann immer noch der Nobelpreis (ich habe übrigens zwei, mit Amnesty International, entschuldige,

93 Vgl. hierzu Lutz Castell & Katharina Strecker (Institut für Umweltuntersuchungen Starnberg e. V.), Maßnahmen beim nächsten Super-GAU, 10.4.1987. FZH, 16–3 A/17.3.–5.; sowie Schreiben von Roland Scholz an die Mitglieder des Arbeitskreis Atomenergie vom 20.8.1987. FZH, 16–3 A/2.3.–4. und Schreiben von Wolfgang Kratzke an den Arbeitskreis Atomenergie vom 2.4.1988. FZH, 16–3 A/ 17.3.–5. 94 Schreiben von Helmut Koch an Wolfang Gratzke vom 13.4.1988. FZH, 16–3 A/17.2.–2. 95 Schreiben von Helmut Koch an Vorstand und Beirat, den Arbeitskreis Katastrophenmedizin sowie Arndt Dohmen vom 3.3.1989. FZH, 16–3 A/17.2.–3. Betonung im Original. 96 Schreiben von Hermann Flux an Vorstand und Beirat sowie den Arbeitskreis Katastrophenmedizin vom 17.3.1989; Betr.: Brief von Helmut Koch zur Katastrophenmedizin. FZH, 16–3 A/17.2.–3.

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Das Katastrophische zwischen Beharrung und Wandel (1986–1990)

war nicht so gemeint). Unsere Kongreßhallen werden immer imposanter, die Konzerte auch, und den Rhein befahren wir inzwischen mit Luxusdampfern.97

Es zeigt sich in derartigen Passagen abermals, wie sehr Teile der bundesdeutschen Sektion von der internationalen IPPNW-Leitlinie abwichen, hatte Letztere doch nie einen Hehl daraus gemacht, im Gegensatz zu allgemeinen, auf Proteste statt Kongresse setzenden Friedensbewegungen ein elitäres Unterfangen darzustellen, welches gerade im fortwährenden Betonen des ärztlichen Habitus – und damit der „Abgehobenheit“ im Koch’schen Sinne – den Schlüssel zum Erfolg suchte (vgl. Kapitel 3.1.2). Klar ist, dass eine von Gottstein und anderen erwünschte Verbesserung des Verhältnisses zwischen der IPPNW und den Kammervertretungen sowie den sich gemäßigt gebenden Katastrophenmedizinern mit dem Risiko massiven internen Dissens erkauft werden musste, wenngleich ein grundsätzlicher Reformbedarf aufgrund des sich wandelnden weltpolitischen Kontextes von kaum jemandem bezweifelt wurde. Zusätzlich ist festzuhalten, dass sich die Konflikte um den politisch-ideellen Standort der IPPNW nicht allein inneren Widersprüchen, sondern ausdrücklich auch Erfolgen verdankten. In diesem Zusammenhang sei beispielsweise auf eine am Rande des Anfang Juni 1987 in Moskau stattfindenden, 7. Weltkongresses der IPPNW anberaumte Gesprächsrunde hingewiesen, an der neben führenden IPPNW-Mitgliedern wie Lown und Chasov auch der seit 1985 als Generalsekretär des Zentralkomitees der KPdSU amtierende Michail Gorbačёv teilnahm. Dem bereits ganz im Sinne von Glasnost und Perestroika98 einvernehmlich verlaufenden Gespräch widmete der ebenfalls anwesende Ulrich Gottstein eine innerhalb der bundesdeutschen Sektion breit kolportierte Zusammenfassung, welche mit einem überaus positiven Urteil nicht allein zur Persönlichkeit Gorbačёvs, sondern insbesondere auch des eigenen Wirkens endete: G[orbačёv] verabschiedete sich von jedem von uns persönlich mit Handschlag, er ist ganz ohne Zweifel eine sympathische Persönlichkeit mit großer Ausstrahlung. Gerade wir Ärzte, die wir ja auch Psychologen sind, können sehr wohl beurteilen, daß es sich hier nicht um eine Person handelt, die uns mit politischen Tricks in den eigenen Sack stecken will. Seine Aussagen, daß die IPPNW ganz wesentlich zu seinem Neuen Denken

97 Schreiben von Helmut Koch an Ulrich Gottstein vom 26.9.1988. FZH, 16–3 A/2.3.–6. 98 Die vielfach kolportierten Begriffe bezeichnen eine von der Sowjetunion gerade aufgrund der desaströsen wirtschaftlichen Lage intendierte, auf erhöhte Transparenz und Offenheit angelegte Neuausrichtung der Innen- und Außenpolitik. Vgl. einführend: Stöver, Der Kalte Krieg, S. 437–442.

Die ärztliche Friedensbewegung – quo vadis?

und zum Neuen Denken in der sowjetischen Politik geführt habe, war [sic] für uns alle sehr glaubhaft.99

Die in derartigen Thesen zum Ausdruck kommende Betonung des eigenen Beitrags zur Überwindung der Blockkonfrontation sowie die berufliche Hybris, die Persönlichkeit eines Menschen bereits nach einer kurzen Gesprächsrunde einschätzen zu können, da man „ja auch Psychologe sei“ (Gottstein war Internist), mochte durchaus als „Abgehobenheit“ ausgelegt werden; allein die Einladung und die hiermit in der Tat einhergehende Gelegenheit einer recht freien Aussprache, in der beispielsweise auch das Übermaß konventioneller Waffen der Sowjetunion nicht ausgespart blieb, muss zweifelsfrei als großer Erfolg gerade des von Gottstein gestützten Kurses einer internationalen IPPNW bewertet werden, welche ungeachtet der Ausprägung ihres westdeutschen Flügels ihrer elitären Anlage treu geblieben war. Gegenwärtig engagiert sich die bundesdeutsche Sektion der IPPNW in einer Vielzahl von Bereichen, bemüht sich beispielsweise um die Rechte Geflüchteter und propagiert das Vorankommen der sogenannten Energiewende,100 während der internationale Dachverband dem ehemaligen Kernanliegen der atomaren Abrüstung bzw. der Friedenspolitik eher verhaftet bleibt.101 Diese sich bereits gegen Ende des Untersuchungszeitraums dieser Arbeit abzeichnende Ausweitung der eigenen Zielsetzungen machte die bundesdeutsche Sektion für viele attraktiv – bereits im November 1988 zählte sie 7138 Ärztinnen und Ärzte sowie 544 Medizinstudierende zu ihren Mitgliedern –;102 andere wandten sich gerade deswegen von ihr ab. So erklärte etwa Josef Große-Ruyken, langjähriger Präsident der Landesärztekammer Baden-Württembergs, am 29. Januar 1990 seinen Rücktritt aus der IPPNW und begründete dies, neben einer Bemerkung zur Mitgliedschaft hochrangiger SEDMitglieder in der ostdeutschen Sektion,103 insbesondere mit folgendem Absatz: Die übrige zunehmende mehr innenpolitische [sic] Orientierung der IPPNW geht über das ursprüngliche Ziel der internationalen Friedensbewegung weit hinaus. Kernenergie

99 Ulrich Gottstein, IPPNW traf Gorbatschow, S. 5, in: Rundbrief: Ärzte warnen vor dem Atomkrieg 22/1987, S. 4–5. 100 Vgl. die Website der bundesdeutschen Sektion der IPPNW, online unter: www.ippnw.de (aufgerufen am 5.12.2018). 101 Vgl. hierzu den Eintrag What we do auf der Website der IPPNW, online unter: ippnw.org (aufgerufen am 5.12.2018). 102 Schreiben von Ulrich Gottstein an Karsten Vilmar vom 28.11.1988, Betr.: Bitte der IPPNW, in das Präsidium des Deutschen Ärztetages aufgenommen zu werden. BArch, B 417/2339. 103 Die Spitze der DDR-Sektion, inklusive des langjährigen Vorsitzenden und SED-Funktionärs Moritz Mebel, wurde hingegen wenige Monate nach Große-Ruykens Schreiben im Zuge der „Wende“ abgewählt, vgl. Wechsel bei IPPNW, in: Deutsches Ärzteblatt 30/1990, S. 2290.

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und Ökologie sind durchaus im Rahmen der bestehenden Parteien diskutable Gegensätze, haben aber nichts mit dem Gründungszweck der IPPNW zu tun. Die IPPNW hat durch diese Entwicklung und Schwerpunktsetzung den Rahmen der Überparteilichkeit verlassen.104

Gemeinsam mit weiteren Aspekten lässt diese Begründung des CDU-Mitglieds Große-Ruykens andeuten, dass sich die bundesdeutsche IPPNW über die Wahl ihrer Themen politisch zusehends nach links orientierte. Die Bemühungen konservativer Mitglieder wie Ulrich Gottstein, die eigene Sektion wieder verstärkt an die parteiübergreifende, durch die Profession spezifizierte Anlage des Dachverbands zu erinnern, scheiterten mithin; ein gewisses Spannungsverhältnis zwischen internationaler und bundesdeutscher, eher lokalinitiativ organisierter „Graswurzel“-Seite blieb bestehen. Die Gleichsetzung von Katastrophen- und Kriegsmedizin sowie – grundlegend – die exklusive Ausdeutung des Katastrophischen als totaler Atomkrieg verlor sich hingegen zusehends. Während im Jahr 1990 der 9. Weltkongress der IPPNW passend zur Gründungsgenese im japanischen Hiroshima stattfand,105 umschrieb ein im gleichen Jahr in Bonn ausgerichteter Kongress die Ausweitung der zukünftigen Zielsetzungen: Der Ost-West-Konflikt ist zu Ende Durch die Annäherung von Ost und West scheint ein Atomkrieg in Europa abgewendet. Aber am Golf ist ein solcher schon morgen möglich, wenn es zu einer militärischen Auseinandersetzung käme. Zahlreiche Spannungen bedrohen den Frieden: ökonomisches Gefälle zwischen Erster und Dritter Welt, globale Unvereinbarkeit von Wirtschaftswachstum und Ökologie, religiöse Feindschaften. Die Bedrohung des Lebens bleibt allgegenwärtig. Wir Ärzte bleiben in der Verantwortung.106

Gefordert wurde neben der atomaren Abrüstung nunmehr eine „sozialverpflichtete Medizin“ sowie die Beendigung des „Kriegs gegen die Natur“ durch Müllvermeidung, Ausweitung des öffentlichen Nahverkehrs und einen „sofortigen FCKWStopp“.107 Ebenfalls 1990 erschien die IPPNW-Studie Naturzerstörung: Die Quelle der künftigen Kriege.108 Ihr Autor war Till Bastian, bis zum 31. Dezember 1986 Geschäftsführer der bundesdeutschen Sektion.109 Dieser hatte sich bereits in einem

104 Schreiben von Josef Große-Ruyken an Ulrich Gottstein vom 29.1.1990. FZH, 16–3 A/2.3.–13. 105 IPPNW in Hiroshima, in: Deutsches Ärzteblatt 3/1990, S. 104. 106 Abschlußerklärung des Öffentlichen Kongresses der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW) vom 5.–7. Oktober 1990 in Bonn, S. 1. FZH, 16–3 A/2.3.–15. 107 Ebd., S. 3. 108 Till Bastian, Naturzerstörung: Die Quelle der künftigen Kriege; eine Studie der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW). Heidesheim 1991 (2. Auflage, 1. Auflage 1990). 109 Vgl. Schreiben von Ulrich Gottstein an Till Bastian vom 15.1.1987. FZH, 16–3 A/2.1.–10.

Katastrophenmedizin – und Notfallmedizin?

Bericht über seinen Besuch verschiedener afrikanischer Sektionen (selbst-)kritisch über die grundsätzliche Anlage der IPPNW geäußert, welche die Aufteilung der Erde in zwei dominante Blöcke und eine marginalisierte „dritte“ Welt letztlich mehr reproduziere als hinterfrage.110 Seine Darstellung suchte sich diesem „neokolonialen“ Blick dementsprechend zu widersetzen und behandelte ein breites Themenspektrum, das von den „Atomgefahren der Zukunft“ bis zu gegenwärtigen Megatrends wie Bevölkerungswachstum und Urbanisierung reichte. Obschon man sich weltanschaulich bedingt, sicher aber auch aufgrund unterschiedlich verorteter Expertisen, in vielen Punkten stets uneins gewesen war und dies hinsichtlich mancherlei Streitthemen bis zum heutigen Tage ist:111 Mit der im Vergleich zu früheren Bekundungen enorm gesteigerten, unserer gegenwärtigen Sicht deutlich näher wirkenden Komplexität des Katastrophenbegriffs sowie der Ausweitung potenzieller Katastrophenszenarien näherte man sich den Vertretern aus Katastrophenschutz und Katastrophenmedizin indirekt an und warnte nunmehr vor „allen Gefahren“, all hazards. Vor dem Hintergrund einer sich verändernden Welt und einem denkbar erscheinenden Ende des Kalten Krieges war die Vorstellung des Katastrophischen auch für die ärztliche Friedensbewegung kompliziert geworden und verlangte neue Suchbewegungen.

4.4

Katastrophenmedizin – und Notfallmedizin?

Auch aus Sicht der Katastrophenmediziner hatte die Kontroverse um den eigenen Interessenbereich 1986 ihren Höhe- und Wendepunkt erreicht. Die Entschließungen des 89. Deutschen Ärztetags sowie die Abwesenheit offizieller Kammervertreter auf dem Kölner IPPNW-Weltkongress wurden als Mandat zur Realisierung einer pragmatischen Katastrophenmedizin aufgefasst, welches die ärztliche Friedensbewegung selbst auf dem Zenit ihres Einflusses nicht hatte verhindern können. Es sei an dieser Stelle daran erinnert, dass sich die Genese der Katastrophenmedizin nicht ursächlich der NATO-Nachrüstung und den zunehmenden internationalen

110 Vgl. Till Bastian, Kurzer Bericht über meinen Besuch bei den IPPNW-Mitgliedern in Kenya, Tanzania, Zambia (Dezember 1986), S. 1. FZH, 16–3 A/2.1.–10. 111 Man vergleiche beispielsweise die dramatisch unterschiedlichen Bewertungen der Spätfolgen der Tschernobyl-Katastrophe im Deutschen Ärzteblatt durch IPPNW-Mitglieder und Nicht-Mitglieder: Alex Rosen & Angelika Claußen (IPPNW), Strahlenbelastung: 30 Jahre Leben mit Tschernobyl, in: Deutsches Ärzteblatt 18/2016, S. A-868, B-734, C-722; Gerhard Feurle, Strahlenbelastung: Befangen (Leserbrief), in: Deutsches Ärzteblatt 25/2016, S. A-1218; Joachim Breckow, Anna Friedl, Christian Küppers und Wolfgang-Ulrich Müller (Vorsitzende und stellvertretende Vorsitzende der Strahlenschutzkommission), Tschernobyl: Andere Bewertung (Leserbrief), in: Deutsches Ärzteblatt 31-32/2016, S. A-1446, B-1222.

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Spannungen zu Beginn der 1980er Jahre verdankte, man jedoch von Seite ihrer Befürworter davon ausgegangen war, aufgrund eben jener Entwicklungen im eigenen Sinne politischen Handlungsdruck ausüben zu können (vgl. hierzu Kapitel 2.2.5). Dieser Gedanke erwies sich eindeutig als Trugschluss: Es war das sich verbessernde internationale Klima einer Wiederannäherung von Ost und West, welches gegen Ende der 1980er Jahre den Befürwortern der Katastrophenmedizin in Politik und Öffentlichkeit wieder Sympathie bescherte. Während die 1986 von Ulrich Beck postulierte Risikogesellschaft aufgrund der Tschernobyl-Katastrophe unmittelbar bei Veröffentlichung ihre Echtheit unter Beweis zu stellen schien (vgl. hierzu die Kapitel 1.3 und 4.1), trafen sich im gleichen Jahr der auf Seite der Friedensbewegungen verhasste US-Präsident Ronald Reagan mit KPdSU-Generalsekretär Gorbačёv im isländischen Reykjavík. Die bereits ein Jahr auf diesen Wiederannäherungsversuch folgende wechselseitige Unterzeichnung der Abrüstungsabkommen INF und START-I, welche die Abschaffung der in Europa stationierten Mittelstreckenraketen sowie eine Begrenzung der strategischen Atomwaffenarsenale festschrieben, erhöhte die Wahrscheinlichkeit eines Ausbleibens der Apokalypse.112 Jedes Jahr aber, in dem ein ärztlich nicht mehr behandelbarer, sich der beruflichen Pragmatisierung ultimativ entziehender Atomkrieg nicht stattfand, die Häufigkeit ziviler Katstrophen jedoch zunahm, musste die Argumentationsbasis der Katastrophenmediziner letztlich stärken. So wie sich die bundesdeutsche Sektion der IPPNW im Lauf der innerprofessionellen Kontroverse ein stabiles Set passender Argumente zurechtlegte, mag der Abschnitt „Sanitätswesen im Katastrophen-, Zivilschutz und in der Bundeswehr“ des auf dem 89. Deutschen Ärztetag des Jahres 1986 verabschiedeten, von Vorstand und Geschäftsführung der Bundesärztekammer vorgelegten Tätigkeitsberichts als routinierte Darstellung der Befürworter der Katastrophenmedizin verstanden werden. Vor den Gefahren eines Krieges wurde dort – sicher auch zur Immunisierung gegenüber der inzwischen vertrauten Kritik – gewarnt, jede Art der offensiven Kriegsvorbereitung nach Art. 26 GG abgelehnt113 und betont, dass ein Atomkrieg jede Art organisierter Hilfe unmöglich machen würde, während gleichwohl „improvisierte Hilfsmaßnahmen“ „jederzeit denkbar und möglich“ blieben.114 Das Prinzip der Triage wurde in Anlehnung an die von der IPPNW ebenfalls gern herangezogene kritische WHO-Studie Effects of Nuclear War on Health and He-

112 Zum Gipfeltreffen in Reykjavík sowie zu INF und START-I vgl. Stöver, Der Kalte Krieg, S. 437–442. 113 Bundesärztekammer (Hrsg.), Tätigkeitsbericht ’86, dem 89. Deutschen Ärztetag vorgelegt von Vorstand und Geschäftsführung, S. 171. BArch, B 417/2347. Vgl. hierzu auch die entsprechende Synopse im Deutschen Ärzteblatt: Tätigkeitsbericht – Organspende, Katastrophenmedizin, Diagnosestatistik, Abtreibungen …, in: Deutsches Ärzteblatt 21/1986, S. 1515–1520. 114 Bundesärztekammer (Hrsg.), Tätigkeitsbericht ’86, S. 170.

Katastrophenmedizin – und Notfallmedizin?

alth Services (vgl. hierzu Kapitel 3.1.4) als international anerkannt bekräftigt,115 an Rebentischs Denkschrift Katastrophenmedizin ebenso wie an zahlreiche, vorangegangene Entschließungen deutscher Ärztetage zum Thema erinnert116 und allgemein unterstrichen, „daß die Fortbildung in notfallmedizinischen Kenntnissen, in Katastrophenmedizin und in ärztlichen Maßnahmen des gesundheitlichen Zivilschutzes dem ethischen Imperativ ärztlicher Berufsauffassung und menschlicher Nächstenliebe entspricht“.117 Analog zu dieser gleichzeitig trennenden wie zusammenführenden Auflistung und basierend auf Ernst Rebentischs Arbeitsgruppe „Begriffsdefinitionen“ (vgl. Kapitel 3.2.3) wurden zudem die Handlungsfelder Unfallchirurgie, Notfallmedizin, Katastrophenmedizin, Zivilschutz und Wehrmedizin definitorisch voneinander unterschieden und ihre Einübung durchgängig bejaht, der Begriff „Kriegsmedizin“ hingegen als „ideologisch inaugurierte Wortschöpfung ohne konkretes Korrelat“ außerhalb der beruflich legitimen Diktion verortet.118 Dies war nicht immer so gewesen: In Anlehnung an die in Kapitel 2.1.5 präsentierten N-Gramme sei daran erinnert, dass „Kriegsmedizin“ der vor allem während des Ersten Weltkriegs verwendete Vorläufer des vom Sanitätswesen der Bundeswehr verwendeten Begriffs „Wehrmedizin“ gewesen war. Kritisiert wurde im Tätigkeitsbericht demnach kaum das Wort als solches, sondern dessen zu Beginn der 1980er Jahre ubiquitäre Verwendung zur Abwertung der Katastrophenmedizin. Insgesamt war der katastrophenmedizinische Abschnitt des Tätigkeitsberichts ganz im Sinne des Doppel- und Mehrfachnutzens entsprechender ärztlicher Bemühungen formuliert und damit dem All-hazards-Prinzip verpflichtet. Im Hinblick auf einen Verteidigungsfall wurden die medizinischen Möglichkeiten als ausgesprochen begrenzt, aber nicht sinnlos ausgewiesen und die Katastrophenmedizin als zwischen Notfall- und „Zivilschutzmedizin“, zwischen Unfall und Krieg angesiedeltes Handlungsfeld definiert. Zwei Jahre später – und daher mit größerer zeitlicher Distanz zum Höhepunkt der innerärztlichen Kontroverse – erschien als wesentlicher Gradmesser zur Bestimmung des Status quo der Katastrophenmedizin das rund 1000 Seiten umfassende Hauptwerk Ernst Rebentischs: das Handbuch der medizinischen Katastrophenhilfe. Die Veröffentlichung erfolgte im Auftrag des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer und basierte im Wesentlichen auf Rebentischs jahrelanger Arbeitskreistätigkeit (vgl. hierzu die Kapitel 2.2.4 und 3.2.3). Karsten Vilmars Vorwort orientierte sich noch deutlich an dem 1986 beschlossenen Tätigkeitsbericht und enthielt neben einer Warnung vor den Gefahren eines Krieges das aus den allgemeinen Diskursen der damaligen Zeit vertraute Bekenntnis, „daß wir uns […] ebenso 115 116 117 118

Ebd., S. 170 und S. 172. Ebd., S. 167–169. Ebd., S. 165. Ebd., S. 166–167.

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energisch für die Erhaltung des Friedens einsetzen werden wie für die Sicherung der Freiheit unseres Staates und seiner Bürger“.119 Der anschließende Band war, dem Anspruch des Arbeitskreises folgend, überaus breit angelegt und enthielt neben einem detaillierten, definitorischen Teil Informationen zur rechtlichen und organisatorischen Verfasstheit des nationalen wie internationalen Katastrophenschutzes, eine umfassende Beschreibung der medizinischen Katastrophenhilfe unter Berücksichtigung z. B. der Hilfsorganisationen und des Krankenhauswesens sowie einen umfangreichen praktischen Teil, welcher sich mit dem als ggf. essenziell ausgewiesenen Verfahren der Sichtung ebenso befasste wie mit konkreten Szenarien und Behandlungsproblemen.120 Analog zu der zuvor veröffentlichten Denkschrift Katastrophenmedizin betonte Rebentisch mehrfach seine zentralen Forderungen nach einer verbindlichen Klärung der ärztlichen Verantwortlichkeiten und Weisungsbefugnisse im Katastrophenfall und nach einer grundsätzlichen Berücksichtigung ärztlicher Expertise bereits in den verantwortlichen Planungsstäben.121 Am interessantesten für die vorliegende Arbeit scheint aber die von ihm vorgenommene Definition des Katastrophenbegriffs zu sein, gerade weil die von Rebentisch geleitete Arbeitsgruppe „Begriffsdefinitionen“ sich hierüber explizit beraten hatte. Die Katastrophenmedizin wurde wenig überraschend als „die alle medizinischen Gebiete übergreifende Lehre und Praxis der Rettung und Behandlung einer Vielzahl hilfebedürftiger Menschen im Katastrophenfall unter Beachtung der Prioritäten bezüglich medizinischer Notwendigkeit und des praktisch Realisierbaren“ beschrieben;122 „Katastrophe“ hingegen wurde nicht allein isoliert definiert, sondern auch relational in zwei eigenständigen Kapiteln, unter Bezugnahme der Begriffe „Unfall“, „Großschadensereignis“ und „Krieg“. Auch diese Abgrenzung wirkte vertraut, bediente sie sich doch des Faktors der regionalen Beherrschbarkeit, welcher bereits Ende der 1970er Jahre vielfach vorgebracht worden war (vgl. die entsprechende Definition Karl-Wilhelm Wedels in Kapitel 2.1.5). Im Gegensatz zu vorherigen, von

119 Karsten Vilmar, Vorwort, S. 3, in: Ernst Rebentisch, Handbuch der medizinischen Katastrophenhilfe. München-Gräfelfing 1988, S. 1–3. 120 Gerade dieser, über 300 Seiten lange Teil muss aus ärztlicher Sicht wohl als besonders interessant angesehen werden, wurde hier doch versucht, dem potenziell alle ärztliche Fachrichtungen umfassenden Charakter der Katastrophenmedizin Rechnung zu tragen. Angesprochen wurden nahezu alle medizinischen Gebiete: Reanimation, Schockbehandlung, Punktion, Infusionstherapie, Analgesie und Anästhesie, Verbrennungstherapie, Chirurgie, Neurochirurgie, Urologie, Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie, Innere Medizin, Kinderheilkunde, Psychiatrie, Toxikologie, Hygiene, Gynäkologie, Hals-Nasen-Ohren-Medizin, Augenheilkunde, Dermatologie und Rechtsmedizin. Die Diagnose und Therapie von Strahlenschäden fehlte in dieser Auflistung, wurde aber keineswegs ausgespart, sondern vielmehr in einem eigenständigen, 80 Seiten umfassenden Teil „Kernenergie und Katastrophenmedizin“ gesondert aufgeführt. 121 Vgl. z. B. Rebentisch, Handbuch der medizinischen Katastrophenhilfe, S. 7–8. 122 Ebd., S. 116.

Katastrophenmedizin – und Notfallmedizin?

fließenden Übergängen ausgehenden Definitionen etwa im Sinne Jürgen Pfeiffers (vom „einfachen Verkehrsunfall […] bis zum Verteidigungsfall“, vgl. Kapitel 3.2.3), verdeutlichte Rebentisch nun schon durch die Kapitelüberschriften, wo das in seiner Arbeit im Mittelpunkt stehende Katastrophische zu verorten sei: Die erste lautete „Unfall – Großschadensereignis – Katastrophe“, die zweite „Abgrenzung der Katastrophe vom Krieg“. Ernst Rebentisch schien sich vom All-hazards-Ansatz der Katastrophenmedizin abgewandt zu haben und stattdessen einen Most-hazardsAnsatz zu propagieren: „Katastrophe“ wurde definiert als regional zunächst nicht beherrschbares Ereignis mit fließendem Übergang zu Großschadensereignissen und Unfällen; mit dem Krieg habe die Katastrophe jedoch nichts zu tun. Gerade in Anbetracht der teils synonymen Verwendung der Begriffe in der Nachkriegszeit, aber auch hinsichtlich der oft verwendeten Deutung des Krieges als „Großkatastrophe“ noch während der 1980er Jahre (vgl. etwa die Aussage Kurt Groeschels in Kapitel 3.2.3) muss dies als markanter, definitorischer Wandel aufgefasst werden. Zentral schien die folgende Passage zu sein: Jede militärische Auseinandersetzung führt zu Störungen und Zerstörungen der Lebensgrundlagen vieler Menschen, bringt Not und Elend und kann insoweit einer Katastrophe ähneln. Dennoch gibt es eine Anzahl markanter Unterschiede zwischen dem Wesen und Ablauf sowie den Folgen eines Krieges und denen einer Katastrophe im Frieden. Krieg wird stets zumindest von einer Seite vorsätzlich begonnen. Krieg steht immer im Zusammenhang mit politischem Handeln und soll ein politisches, wirtschaftliches oder weltanschauliches Ziel erreichen. Davon kann weder bei Naturkatastrophen noch technischen Katastrophen noch bei Seuchen die Rede sein. Zu einem Krieg kommt es niemals so plötzlich und unvorhersehbar wie zu einer Katastrophe. Die geographische Ausdehnung, die Dauer und die Folgen eines Krieges sind weitaus weniger absehbar als die der ausgedehntesten und tiefgreifendsten Katastrophe. Die Maßnahmen zur Sicherung und Erhaltung der Existenzfähigkeit sowie des sozialen Gefüges eines Volkes im Krieg sind mit dem, was bei einer Katastrophe in die Wege zu leiten ist, nicht annähernd vergleichbar.123

Dieser in der zeitgenössischen katastrophenmedizinischen Literatur seltene, explizite Hinweis Rebentischs auf die exkulpative Funktion des Katastrophenbegriffs (vgl. hierzu Herfried Münklers Aussagen in Kapitel 1.3), der – auf den Krieg angewandt – ausblendet, dass Kriege nicht „geschehen“, sondern aktiv begonnen werden, mag zumindest als Annäherung an die zentrale Forderung der ärztlichen Friedensbewegung erscheinen, Kriege und Katastrophen trotz ggf. ähnlicher ärztlicher Handlungsregeln grundsätzlich voneinander zu unterscheiden. Aufgrund

123 Ebd., S. 52.

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früherer Äußerungen ist fest davon auszugehen, dass Rebentisch sich des potenziellen Nutzens der von ihm propagierten, rein zivilen Katastrophenmedizin auch im Verteidigungsfall bewusst war (vgl. hierzu die Kapitel 3.1.4 und 3.2.3). Gleichwohl verblieb der Eindruck eines Eingeständnisses, dass nicht jedes beliebige Szenario ärztlich pragmatisiert und „beherrscht“ werden könne. Ein weiteres Mal muss an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass Rebentisch bereits das ursprünglich für den Verteidigungsfall bestimmte Gesundheitssicherstellungsgesetz so zivil wie irgend möglich auszurichten suchte (vgl. Kapitel 2.2.3) und dass auch seine Denkschrift Katastrophenmedizin Verweise auf den Kriegsfall aussparte. In seinen Arbeitskreisen war es der Kammerfunktionär Volrad Deneke gewesen, welcher sich gegen die weitestmöglich zivile Deutung des Begriffs ausgesprochen hatte, während Rebentisch die Katastrophenmedizin als eigenständiges, am ehesten aber mit der Notfallmedizin verwandtes Feld zu etablieren suchte. Hinsichtlich des Vorwurfs der ärztlichen Friedensbewegung, dass die zivile Ärzteschaft über die Aufnahme von Sanitätsoffizieren in ihre Arbeitskreise „militarisiert“ werde, scheint diese Wandlung Ernst Rebentischs besonders interessant zu sein, hatte dieser doch noch 1980 – wie bereits in Kapitel 2.1.5 dargelegt – einen Band mit dem Titel Wehrmedizin: Ein kurzes Handbuch mit Beiträgen zur Katastrophenmedizin124 herausgegeben und demzufolge Katastrophen- und Wehrmedizin durchaus in wechselseitigem Bezug gesehen. Eine Militarisierung schien nicht stattgefunden zu haben, im Gegenteil: Der im Sinne des Arztsoldatentypus den Kontakt zur zivilärztlichen Seite aktiv suchende Rebentisch lenkte das von ihm selbst mitbegründete Handlungsfeld während seiner Tätigkeit für die zivilen Kammern tendenziell von der Wehrmedizin fort, zur Notfallmedizin hin. Bei dieser Entwicklung spielte die Einsicht in die wachsende Bedeutung ziviler Szenarien vermutlich ebenso eine Rolle wie die von Rebentisch stets unterstrichene Bedeutung diplomatischen Auftretens. Sein Kapitel „Abgrenzung der Katastrophe vom Krieg“ endete gleichwohl mit einer Attacke Richtung westdeutscher IPPNW, vor deren Vorwürfen er die von ihm so vorsichtig eingegrenzte Katastrophenmedizin offensichtlich schützen wollte: Wer dennoch versucht, die Schutzmaßnahmen gegen Katastrophen und für den Kriegsfall gleichzusetzen, kann nur die Verhinderung jeglichen Gemein- und Individualschutzes wollen, um die Menschen an Staat, Recht und Ordnung zweifeln zu lassen und allgemeine Verunsicherung hervorzurufen.125

124 Rebentisch & Dinkloh (Hrsg.), Wehrmedizin: Ein kurzes Handbuch mit Beiträgen zur Katastrophenmedizin. 125 Rebentisch, Handbuch der medizinischen Katastrophenhilfe, S. 53.

Katastrophenmedizin – und Notfallmedizin?

Die These, dass Rebentisch seine 1000-seitige Abhandlung lediglich als Tarnung militärischer Absichten verfasst hatte, muss ins Reich der Verschwörungstheorien verwiesen werden. Nicht allein war die Darstellung dafür zu substanziell, sondern auch die Verweise auf die „Risikogesellschaft“ allzu zahlreich, wenn auch nicht unter Bezugnahme auf Ulrich Beck. So schrieb er beispielsweise: Nachweislich hat die Zahl der Katastrophen in den letzten Jahren zugenommen. Unter ihnen dominieren solche, deren Entwicklung und Ausbruch direkt oder indirekt dem Handeln des Menschen anzulasten sind. Gründe für ihre Zunahme liefern vor allem das schnelle Anwachsen der Weltbevölkerung, der rasante technische Fortschritt und seine oft voreilige und unbedachte, Sicherheit und Gesundheit vernachlässigende Ausnutzung in allen Lebensbereichen.126

Gedeckt wurden solche Aussagen u. a. durch Datensätze der Versicherungswirtschaft; der erste der abgedruckten Graphen dokumentierte dabei die weltweite Zunahme von Katastrophen, der zweite speziell der Naturkatastrophen von 1970 bis 1986. Auch bzw. gerade aus Sicht der Katastrophenmediziner schien sich demnach die Komplexität des Begriffs erhöht, die Anzahl vorstellbarer Szenarien im Lauf der Zeit potenziert zu haben. Wie später der ehemalige IPPNW-Geschäftsführer Bastian verwies Rebentisch auf das Bevölkerungswachstum als Gefahrenquelle und betonte – ohne dessen globalisierungskritische Stoßrichtung, aber unter Zurschaustellung einer vergleichbaren Fortschrittsskepsis – die allgemeine Zunahme des Katastrophenpotenzials.127 Die IPPNW-Zeitschrift Rundbrief: Ärzte warnen vor dem Atomkrieg widmete Rebentischs Werk eine ausführliche Rezension. Diese würdigte durchaus einzelne Aussagen des – so wurde er bezeichnet – „beschränkt denkenden“, „alten Militärs“,128 wobei die definitorische Trennung von Katastrophe und Krieg ebenso Erwähnung fand wie das Geständnis der geringen ärztlichen Möglichkeiten etwa bei der Behandlung der Strahlenkrankheit. Gleichwohl wurde betont, dass sich an der Katastrophenmedizin selbst wenig geändert habe, insbesondere nicht am dargestellten Prinzip der Triage inklusive der 4. Kategorie einer „abwartenden Behandlung“. Vor allem jedoch störte sich der Autor Walter Popp an Rebentischs

126 Ebd., S. 37. 127 Vgl. ebd., S. 37–47. Zur „konservativen“ (im Sinne von „bewahrenden“) Grundhaltung mancher „Neuen Sozialen Bewegung“ vgl. jüngst Philipp Gassert, Bewegte Gesellschaft: Deutsche Protestgeschichte seit 1945. Stuttgart 2018. Vgl. auch Jan-Henrik Meyers Rezension in H-Soz-Kult, 17.09.2018, online unter www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-29876 (aufgerufen am 13.3.2019). 128 Walter Popp, Handbuch der medizinischen Katastrophenhilfe (Rezension), S. 34 und 35, in: Rundbrief: Ärzte warnen vor dem Atomkrieg 26/1988, S. 34–36.

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Abb. 12 Zur Visualisierung der Zunahme des Katastrophenpotenzials stellte Rebentisch seiner Arbeit entsprechende Datensätze der Schweizerischen Rückversicherungsgesellschaft vorweg, vgl. Rebentisch, Handbuch der medizinischen Katastrophenhilfe, S. 38.

Katastrophenmedizin – und Notfallmedizin?

detailliert vorgebrachter Bejahung der zivilen Nutzung der Atomenergie.129 Wie bereits dargelegt, war die von Popp in dieser Sache eingeforderte Kritik innerhalb der IPPNW umstritten, erhielt von internationaler, zumal sowjetischer Seite, keinerlei Unterstützung und vermochte kaum denselben existenziellen Rang zu behaupten, welcher den Widerstand gegen einen befürchteten Atomkrieg stets ausgezeichnet hatte. Der von Rebentisch skizzierte Katastrophenbegriff schien sich zudem mit derjenigen Definition zu decken, welche Ulrich Gottstein zur gleichen Zeit auch inmitten der westdeutschen IPPNW zu popularisieren suchte (vgl. hierzu Kapitel 4.3). Angesichts bestehen bleibender Reibungspunkte kann somit zwar nicht von einer Beendigung des innerärztlichen Dissenses gesprochen werden, wohl aber von einer deutlichen Entschärfung. Diese wurde letztlich von Vertretern beider Richtungen parallel vorangetrieben und verdankte sich wohl auch der grundlegenden Einsicht, dass längerfristige Spaltungstendenzen der Geltungsmacht des Berufs stets abträglich gewesen waren, während von einer weitgehenden Schließung zumindest zur nichtprofessionellen Seite hin letztlich die Gesamtärzteschaft profitieren musste. Im gleichen Jahr, in dem Rebentisch sein Handbuch der medizinischen Katastrophenhilfe veröffentlichte – 1988 –, investierten Bund und Länder gemeinsam 3,7 Milliarden DM in das dem Prinzip des gegenseitigen Doppelnutzens folgende Hilfeleistungssystem, bestehend aus Zivil- und Katastrophenschutz.130 Eine „Umfrage zum Bevölkerungsschutz (Katastrophen- und Zivilschutz)“ desselben Jahres kam zu dem Ergebnis, dass das Gebiet zwar insgesamt wenig bekannt sei und von der bundesdeutschen Bevölkerung gerne verdrängt, aber keinesfalls derart negativ bewertet werde wie oftmals angenommen und das Interesse, mehr hierüber zu lernen, vergleichsweise hoch sei.131 Für das Jahr 1990 gibt Martin Diebel einen Aufwendungsumfang von einer Milliarde DM allein auf Seiten des Bundes – d. h. nur für den Zivilschutz – an.132 Im Angesicht solcher Zahlen erscheint es zumindest im internationalen Vergleich wenig angebracht, von einem grundsätzlichen Scheitern des Zivil-, geschweige denn des Katastrophenschutzes zu sprechen. Auch die Katastrophenmedizin verlor sich mit dem Ende des Kalten Krieges keinesfalls in der Bedeutungslosigkeit. Neue Akteure traten die Nachfolge der älteren

129 Ebd., S. 36. Vgl. hierzu auch das Kapitel „Kernenergie und Katastrophenmedizin“ in Rebentisch, Handbuch der medizinischen Katastrophenhilfe, S. 501–571. 130 Schreiben von Peter Knuth an den Ausschuss „Sanitätswesen im Katastrophen-, Zivilschutz und in der Bundeswehr“ sowie weitere Empfänger, Betr.: Leistungsbilanz [des BMI] „Bevölkerungsschutz, Notfallvorsorge und zivile Verteidigung“ für das Jahr 1988. BArch, B 417/2993. 131 Vgl. Infratest Wirtschaftsforschung GmbH, Bevölkerungsschutz (Katastrophen- und Zivilschutz): Informationsstand, Einstellungen und Mitwirkungsbereitschaft in der Bevölkerung. München 1988. FZH 16–3 A/17.2.–2. 132 Diebel, Atomkrieg und andere Katastrophen, S. 314.

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an; bereits der nicht mehr wie Rebentisch, Messerschmidt, Graul und Deneke 1920, sondern 18 Jahre später geborene Bernd Domres (vgl. zu diesem Kapitel 3.1.4) zählte zur „zweiten Generation“ bundesdeutscher Katastrophenmediziner. Selbst mehrfacher Präsident der nach wie vor bestehenden Deutschen Gesellschaft für Katastrophenmedizin,133 wurde Dormes schließlich auch zum Mitbegründer und ersten Präsidenten des seit 2005 existierenden, in Leo Koslowskis ehemaliger Wirkstätte Tübingen ansässigen Deutschen Instituts für Katastrophenmedizin (DIFKM), welches in Kooperation mit dem Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) sowie dem Bundeswehrkrankenhaus in Ulm die Katastrophenmedizin in Forschung, Lehre und Praxis zu fördern sucht.134 Besonderes Augenmerk liegt dabei auf der seit 2010 bestehenden hauseigenen Stiftung sowie der hiermit zusammenhängenden jährlichen Ausrichtung einer mehrtägigen Fortbildungsveranstaltung namens „Sommerakademie Katastrophenmedizin und Humanitäre Hilfe“.135 In einer Grußansprache des 2018er Programms verwies Gerd Müller, Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, u. a. auf die geleistete Hilfe während der Ebola-Krise Westafrikas sowie während des Erdbebens in Nepal im Jahr 2015.136 Diese aktuelle Stoßrichtung des DIFKM erscheint vor dem Hintergrund des biografischen Werdegangs Bernd Domres’, letztlich aber auch ausgehend von Ernst Rebentischs 1988 vorgenommenen Überlegungen folgerichtig; eine grundsätzlich zivile Gestaltung der Katastrophenmedizin war jedenfalls lange vor dem Generationenwechsel gefordert worden und vermochte gerade nach dem (vorläufigen?) Ende der Atomkriegsgefahr eine ganze Reihe von Erfolgen vorzuweisen. So wirkte etwa der Anästhesist und Notfallmediziner Peter Knuth, der 1946 geborene Nachfolger Michael Popovićs als geschäftsführender Arzt der Bundesärztekammer, am erfolgreich durchgesetzten Konzept des Leitenden Notarztes (LNA) mit. Dieser bezeichnete exakt den von der Katastrophenschutzleitung bestellten, in entsprechende Planungen integrierten und am Katastrophenort weisungsbefugten Arzt, welchen Rebentisch insbesondere in seiner Denkschrift Katastrophenmedizin gefordert hatte (vgl. hierzu Kapitel 3.2.3).137 Die stärkere Anbindung der Katastrophen- an die Notfallmedizin mag auch durch einen Blick in einen aktuelleren Jahresbericht des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer belegt werden, welcher „Katastrophenmedizin“ nicht mehr

133 134 135 136

Vgl. deren Website unter: http://www.dgkm.org (aufgerufen am 13.3.2019). Vgl. deren Website unter: http://disaster-medicine.com/startseite (aufgerufen am 11.3.2019). Vgl. deren Website unter: https://www.stiftung-difkm.de (aufgerufen am 11.3.2019). Vgl. 9. Sommerakademie Katastrophenmedizin und Humanitäre Hilfe, 17.9.–21.9.2019 in Ulm, online unter: file:///C:/Users/joche/Downloads/2018_SoAk_Programmheft%20(1).pdf (aufgerufen am 11.3.2019), S. 4–5 sowie S. 8. 137 Vgl. Axel Ekkernkamp & Gert Muhr, Qualifizierung und Berufung des Leitenden Notarztes: Analyse und Ausblick, in: Deutsches Ärzteblatt 9/1993, S. A 628–633.

Katastrophenmedizin – und Notfallmedizin?

Abb. 13 Katastrophenmedizin: Leitfaden für die ärztliche Versorgung im Katastrophenfall (2010, Buchcover). Im Gegensatz zum Titel des Bandes weicht der Inhalt teils deutlich von der 1981 veröffentlichten Erstauflage ab.

in Kombination mit dem Zivilschutz, sondern mit der Notfallmedizin anführt. Vordringlicher Bereich bleibt jedoch auch dort der Massenanfall von Verletzten, nunmehr mit der Abkürzung MANV bezeichnet.138 Zum Abschluss dieses knappen Ausblicks auf die Gegenwart sei allerdings auf einen bereits in Kapitel 3.2.2 erwähnten katastrophenmedizinischen Klassiker, den von der Schutzkommission herausgegebenen, insbesondere durch Leo Koslowski verantworteten Leitfaden Katastrophenmedizin verwiesen. Dieser wurde mehrfach aktualisiert und liegt seit 2010 in fünfter, stark erweiterter, wenn auch „nur“ noch 30.000 (Print-)Exemplare umfassender Auflage vor.139 Vom Original ist kaum etwas übrig geblieben. Der während der 1980er Jahre auch von manchen Katastrophenmedizinern aufgrund seiner unverblümten Ansprache des Verteidigungsfalls zuweilen kritisierte Band beginnt nunmehr mit einer Problematisierung des Katastrophenbegriffs, wobei auf einen Artikel Herfried Münklers

138 Bundesärztekammer (Hrsg.), Jahresbericht 2017 des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer. Berlin 2018, S. 20. 139 Zur Erinnerung: Die Erstauflage umfasste, ebenso wie ihr ein Jahr später erschienener Nachdruck, 60.000 Exemplare (vgl. Kapitel 3.2.2).

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verwiesen und betont wird, dass selbst Naturkatastrophen oftmals direkt oder indirekt menschlich verursacht werden (vgl. Kapitel 1.3).140 Eine ähnlich reflexive Deutung erfährt die Triage. Diese wird zwar, im inhaltlichen Kern unverändert, als zentraler Aspekt der Katastrophenmedizin ausgewiesen, aber auch als ethisches Dilemma, welches – im Gegensatz zu manch früheren Darstellungen – nicht mehr über die schlicht vorausgesetzte fachliche Exzellenz des verantwortlichen Sichtungsarztes individuell aufgelöst wird. In diesem Zusammenhang wird zudem auf IPPNW-Positionen aufgreifende Literatur zurückgegriffen141 und ein punktuell kritisches Licht auf entsprechende Passagen des ansonsten als grundlegend bezeichneten Hauptwerks von Ernst Rebentisch geworfen.142 Der Leitfaden ging mit der Zeit. Als denkbare Szenarien nennen die verschiedenen Geleitworte (u. a. von den damaligen Bundesministern des Innern und für Gesundheit, Thomas de Maizière und Philipp Rösler) die Tsunami-Katastrophe 2004, die Fußball-Weltmeisterschaft 2006, das Erdbeben auf Haiti 2010 sowie – allgemeiner – Terroranschläge und Klimawandel.143 Über die Ausblendung des Krieges und die daraus resultierende Konzentration weniger auf all, sondern most hazards, die grundlegende Reflexion des Katastrophenbegriffs sowie die ansatzweise Anerkennung kritischer Stimmen schien der Band in Bezug auf die Katastrophenmedizin im Jahr 2010 eine professionelle Schließung zu realisieren, welche sich viele Ärztinnen und Ärzte während seiner Erstveröffentlichung 1981 kaum hätten vorstellen können.

4.5

Gesetzgebung IV: Das Katastrophenschutzergänzungsgesetz

Einer innerhalb des Untersuchungszeitraums dieser Arbeit letzten, größeren Probe wurde die in den vorigen Kapiteln geschilderte Annäherung der verschiedenen Flügel der Ärzteschaft im Zusammenhang mit der seit vielen Jahren umkämpften Zivilschutzgesetzgebung unterworfen. Die bundesdeutsche Sektion der IPPNW positionierte sich klar gegen den Ende der 1980er Jahre diskutierten Entwurf eines Katastrophenschutzergänzungsgesetzes (KatSErgG). Bereits dessen Bezeichnung sei irreführend, bezog es sich doch keineswegs auf die „Ländersache“ Katastrophenschutz, sondern auf den Erweiterten Katastrophenschutz des Bundes – also

140 Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (Hrsg.), Katastrophenmedizin: Leitfaden für die ärztliche Versorgung im Katastrophenfall. München 2010 (1. Auflage 1981), S. 23–29. 141 Im konkreten Fall auf Reiner Goltermann, Triage als zentrales Merkmal der Katastrophenmedizin, in: Joyce Mayer & Peter Augst, Katastrophenmedizin oder: Die Lehre vom ethisch bitteren Handeln. Neckarsulm (u. a.) 1987, S. 8–54. 142 Ebd., S. 53. 143 Ebd., S. 13–19.

Gesetzgebung IV: Das Katastrophenschutzergänzungsgesetz

den Zivilschutz. Dies wurde auch von der ebenfalls Opposition ankündigenden SPD als „Etikettenschwindel“ ausgewiesen; der Gesetzentwurf ignoriere die grundsätzlichen Unterschiede zwischen Kriegen und Katastrophen und erwecke den Eindruck, „als könne unter dem Begriff ‚Bevölkerungsschutz‘ für den Katastrophenschutz der Länder und den Zivilschutz des Bundes ein einheitliches System abwehrender Maßnahmen geschaffen werden“.144 Die SPD kritisierte somit das von ihr selbst mit erarbeitete All-hazards- bzw. Dual-use-Prinzip eines sich je nach Bedarf wechselseitig unterstützenden Katastrophen- und Zivilschutzes, welches im Katastrophenschutzgesetz des Jahres 1968 festgeschrieben und insbesondere dazu benutzt worden war, deutlich invasivere, genuine Zivilschutzbemühungen ohne Sekundärnutzen zu erübrigen (vgl. hierzu Kapitel 1.4). Ulrich Gottstein verfasste in dieser Sache mehrere Briefe an den erst seit April 1989 amtierenden Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble. Während dieser in einer ersten Antwort noch umfangreich darzulegen suchte, warum nicht allein der Name des Gesetzes folgerichtig sei – schließlich diene es lediglich der „Ergänzung“ des seit 1968 gültigen KatSG –, sondern es auch inhaltlich Sinn mache, da der von der IPPNW befürchtete totale Atomkrieg die „unwahrscheinlichste Form einer Auseinandersetzung“ sein dürfte,145 fasste er sich in seiner zweiten Antwort deutlich knapper. Gottsteins Appell, „diese Vermischung von Friedenskatastrophen und Krieg zu beenden“,146 konterte er mit einem schlichten Bekenntnis zum All-hazards-Prinzip: Lassen Sie mich deshalb noch einmal sagen, daß für mich der Staat Vorsorge für den Schutz der Bevölkerung in Katastrophen jeder Art treffen muß. Vorkehrungen für die Bekämpfung von Katastrophen im Frieden müssen auch für Notfälle eines hoffentlich nie eintretenden Verteidigungsfalles nutzbar sein, während umgekehrt die Maßnahmen des Zivilschutzes den Katastrophenschutz ergänzen müssen.147

Im Gegensatz zu Gottstein hielt Schäuble, und mit ihm die Mehrheit der Abgeordneten des deutschen Bundestages, an einem Katastrophenbegriff fest, welcher den Kriegsfall als extremste Stufe mit einschloss. Allein aus finanziellen Überlegungen schien es unsinnig zu sein, Vorbereitungen auf zivile Katastrophen gänzlich abzukoppeln von Vorbereitungen auf den Verteidigungsfall, musste dies doch nicht allein zur doppelten Anschaffung zahlreicher Materialien durch die Länder und den Bund führen, sondern auch dazu, dass Investitionen für den Zivilschutz im 144 Die SPD im deutschen Bundestag, 20.4.1989: SPD wird Katastrophenschutzgesetz ablehnen. Vom Bonner Büro der deutschen Ärzteschaft an die Bundesärztekammer weitergeleitet. BArch, B 417/ 2924. 145 Schreiben von Wolfang Schäuble an Ulrich Gottstein vom 19.6.1989, S. 2. FZH, 16–3 A/17.2.–4. 146 Schreiben von Ulrich Gottstein an Wolfgang Schäuble vom 23.6.1986, S. 4. FZH, 16–3 A/2.3.–11. 147 Schreiben von Wolfgang Schäuble an Ulrich Gottstein vom 20.7.1989. FZH, 16–3 A/2.3.–11.

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ausdrücklich erwünschten Falle dauerhaften Friedens verloren wären. Schäuble wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass der Bund seit 1968 jährlich etwa 400 Millionen DM zur Förderung des Katastrophenschutzes der Länder ausgegeben und dies lediglich mit der pragmatischen Forderung verbunden habe, auf diese Mittel in einem hypothetischen Verteidigungsfall zurückgreifen zu können.148 Von Seite der IPPNW konnte man demgegenüber kaum gewillt sein, einer vollständigen Ausweitung des Katastrophenbegriffs stattzugeben, hatte man gegen eine solche „Vermischung“ der Begrifflichkeiten doch seit annähernd zehn Jahren Stellung bezogen. Wie bereits mehrfach erwähnt, war es auf Seiten der Politik ironischerweise der rechte Flügel des Parlaments gewesen, welcher auf dem Höhepunkt der Nachrüstungskontroverse die schärfere Trennung von Zivil- und Katastrophenschutz gefordert hatte. Im Gegensatz zur IPPNW, die eine Militarisierung des Katastrophenschutzes befürchtete, hatte jene Gruppe stets kritisiert, dass das Prinzip des geforderten Doppelnutzens den Zivilschutz seiner Kernanliegen beraube, ihn im Sinne Martin Diebels „katastrophisiere“ und insbesondere den Schutzraumbau zusehends von der Agenda verdränge.149 Die IPPNW nahm keinesfalls nur Anstoß an der Benennung des KatSErgG. Der aufgrund seines ergänzenden Charakters eher wenige grundlegende Veränderungen bezweckende Entwurf umfasste insbesondere im § 13 – „Planung der gesundheitlichen Versorgung“ – viele Inhalte, welche bereits Teil des zu Beginn der 1980er Jahre diskutierten Gesundheitssicherstellungsgesetzes gewesen waren (vgl. Kapitel 2.2.3). Eine Erfassung sämtlicher im Gesundheitswesen ausgebildeter Personen wurde z. B. ebenso gefordert wie eine auf Wunsch der Katastrophenschutzbehörden und Gesundheitsämter durchzuführende Überprüfung von „Einrichtungen der gesundheitlichen Versorgung“ auf ihren potenziellen Wert im Verteidigungsfall. Die insbesondere von Ernst Rebentisch wiederholt verlangte Berücksichtigung ärztlicher Interessen bereits auf der Planungsebene war gleichfalls Teil des Entwurfs: Sowohl die Gesundheitsämter als auch die Ärztekammern sollten die entsprechenden Stellen dabei unterstützen, „ergänzende Maßnahmen zur gesundheitlichen Versorgung der Bevölkerung im Verteidigungsfall zu planen bzw. die Planung fortzuschreiben“.150 Im Krisenfall solle es der Bundesregierung obliegen, die Katastrophenschutzbehörden der Städte und Landkreise zu ermächtigen, „die zur Versorgung eines Massenanfalls von Verletzten und Erkrankten notwendigen organisatorischen Umstellungen des Krankenhaus- und Rettungswesen vorzuneh-

148 Schreiben von Wolfgang Schäuble an Ulrich Gottstein vom 19.6.1989, S. 4. FZH, 16–3 A/17.2.–4. 149 Vgl. hierzu Diebel, Atomkraft und andere Katastrophen, S. 184. 150 Entwurf eines Gesetzes zur Ergänzung des Katastrophenschutzgesetzes und anderer Vorschriften (Katastrophenschutzergänzungsgesetz – KatSErgG), Stand: 8.9.1988, S. 10. FZH, 16–3 A/2.3.–7. Betonung im Original.

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men“.151 Folgerichtig betrachtete die bundesdeutsche Sektion der IPPNW gerade diesen § 13 als Versuch, das vormals gescheiterte, selbst von Seite der Bundesärztekammer abgelehnte GesSG in der weniger angreifbaren Form eines generisch benannten „Ergänzungsgesetzes“ doch noch realisieren zu können. Die auf Bekanntmachung des Entwurfs folgende Diskussion verlief entlang der auch den damaligen Akteuren längst vertrauten Frontlinien. So vertrat Ulrich Gottstein auf einer das KatSErgG problematisierenden Tagung der Evangelischen Akademie Loccum die ablehnende Position der IPPNW. Dabei berief er sich auf Gespräche mit „über 1.000 Intellektuellen“ sowie – indirekt – auf eine angebliche Ablehnung des Gesetzes durch die Mehrheit der Ärzteschaft.152 Zusätzlich warf er dem die Ansichten des BMI darlegenden Ministerialrat Konrad Ammermüller ganz im Sinne eines professional vor, die eigene Argumentation nur deshalb nicht nachvollziehen zu können, weil er kein Arzt sei.153 Ammermüller konterte seinerseits mit der offiziellen Position der Bundesärztekammer, welche den Gesetzentwurf unter Verweis auf die Entschließungen des 89. Deutschen Ärztetags unterstützte.154 Unwidersprochen war diese Position nicht; immerhin vier Landesärztekammern (Baden-Württemberg, Berlin, Hamburg und Schleswig-Holstein) hatten sich in nahezu identisch lautenden Statements gegen die Verabschiedung des Gesetzes und eine damit einhergehende befürchtete Militarisierung des zivilen Katastrophenschutzes ausgesprochen.155 Die Mehrheit der Kammern unterstützte den Entwurf hingegen ebenso wie die Deutsche Gesellschaft für Katastrophenmedizin, deren ehemaliger Präsident Edgar Ungeheuer sich auf der 8. Jahrestagung der DGKM explizit dafür aussprach, „sowohl den zivilen als auch den militärischen Katastrophenfall“ in einem Gesetz zu berücksichtigen.156 Maßgeblich verantwortlich für die Leitlinie der Bundesärztekammer hinsichtlich des KatSErgG war jedoch Ernst Rebentisch. Dieser vertrat die BÄK auf den mit dem Entwurf befassten Anhörungen im Innenausschuss gegenüber anderen Interessengruppen und war gleichzeitig Autor

151 Ebd., Begründung, S. 5–6. Betonung im Original. 152 Ulrich Gottstein, Thesenpapier, S. 123 und 125, in: Evangelische Akademie Loccum (Hrsg.), Vorsorge für den Ernstfall?: Zur Diskussion über die Neuregelung des Zivilschutzes durch ein Katastrophenschutzergänzungsgesetz. Dokumentation einer Tagung der Evangelischen Akademie Loccum vom 20.–22.11.1989 (Loccumer Protokolle 64/89). Rehburg/Loccum 1990, S. 123–125. 153 Konrad Ammermüller (BMI), Diskussionsbeitrag, S. 151, in: ebd., S. 146–151. 154 Ebd., vgl. auch den entsprechenden Beitrag des Hauptgeschäftsführers der Bundesärztekammer, Peter Knuth, in: ebd., S. 155–164. 155 Vgl. z. B. Entschließung der 5. Vertreterversammlung der Landesärztekammer Baden-Württemberg am 3.6.1989 in Stuttgart-Möhringen sowie Pressemitteilung der Ärztekammer Schleswig-Holstein (undatiert). BArch, B 417/2924. Vgl. außerdem: Pressestelle der Hamburger Ärzteschaft – Presseinformation vom 25.9.1989. BArch, B 417/2983. 156 Edgar Ungeheuer, Krankenhäuser brauchen Zivilschutzgesetz, in: Deutsches Ärzteblatt 37/1989, S. C-1595.

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ihrer offiziellen Änderungsvorschläge. Rebentischs Hauptkritikpunkt war einmal mehr die nicht eindeutig geklärte Zuständigkeit allein des Arztes als in medizinischen Belangen leitend Verantwortlicher im Katastrophen- und Verteidigungsfall, gerade gegenüber den Laienhelfern der privaten Hilfsorganisationen, denen der Staat zudem eine seiner Ansicht nach zu hohe Autonomie zugestand.157 Obwohl Rebentisch die Beibehaltung eines einheitlichen Hilfssystems im Katastrophenund Verteidigungsfall befürwortete, beanstandete er außerdem – ähnlich wie die IPPNW – die Bezeichnung des Gesetzes als dem Katastrophenschutz zugehörig.158 In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass Rebentisch in seinem Handbuch der medizinischen Katastrophenhilfe die Katastrophenmedizin zwar von einer auf den Krieg ausgerichteten „Zivilschutzmedizin“ abzugrenzen suchte, die grundlegende Legitimität des Zivilschutzes im Gegensatz zur IPPNW jedoch keineswegs bestritt. Anders als Ulrich Gottstein rechnete er zudem damit, dass das KatSErgG positive Impulse für den zivilen Katastrophenschutz setzen mochte und vertrat dabei eine Art Trickle-down-Theorie: Seiner Ansicht nach neigten die Länder dazu, im wenig populären Bereich des Katastrophenschutzes erst dann gesetzgeberisch tätig zu werden, wenn der Bund als übergeordnete Instanz des wechselseitigen Hilfssystems die Initiative ergriff, wobei er sich insbesondere auf die zögerliche Verabschiedung erster Landeskatastrophenschutzgesetze nach der Verabschiedung des KatSG-68 berief.159 Rebentisch ging damit von einer von dem Zivilschutzgesetz ausgehenden Impulswirkung für den Katastrophenschutz der Länder aus, welche ihre eigenen Gesetze bei einer Verabschiedung anpassen müssten, um mit den Leitlinien des Bundes ausreichend synchron zu bleiben.160 Trotz mancher Kritikpunkte unterstützte er den Gesetzentwurf demnach nicht allein wegen der darin aus seiner Perspektive enthaltenen Verbesserungen, sondern auch wegen des erhofften Effekts auf die Länder, die Rolle des Arztes auch in ihren eigenen, für den zivilen Katastrophenfall geltenden Gesetzen stärker zu berücksichtigen. Eine schlagende Argumentationshilfe bot sich Rebentisch in Form der Katastrophe von Ramstein. Der sich am 28. August 1988 ereignende Flugunfall während einer Manöverdarbietung auf einer US-Air-base führte zu 70 Todesopfern und hunderten, teils schwerstverbrannten Verletzten. Das Unglück offenbarte zahlreiche Mängel

157 Anmerkungen und Änderungsvorschläge der Bundesärztekammer zur geplanten Änderung des Gesetzes über die Erweiterung des Katastrophenschutzes (undatiert). BArch, B 417/2983. 158 Ebd., S. 17. 159 Vgl. Ernst Rebentisch, Statement zum Entwurf eines Gesetzes zur Ergänzung des Katastrophenschutzgesetzes und anderer Vorschriften (Katastrophenschutzergänzungsgesetz – KatSErgG) – Drucksache 11/4728 – 6.10.1989, S. 3. BArch, B 417/2924. 160 Vgl. Ernst Rebentisch, Beantwortung des Fragenkatalogs der Anhörung am 6.10.1989. BArch, B 417/2924.

Gesetzgebung IV: Das Katastrophenschutzergänzungsgesetz

in der Erstbehandlung und medizinischen Priorisierung161 und führte zu einer von Rebentisch ausgesprochen positiv bewerteten Änderung der Katastrophenschutzgesetzgebung des Bundeslandes Rheinland-Pfalz.162 Gemeinsam mit der sich entspannenden weltpolitischen Lage mag auch ein solcher, von Rebentisch und anderen Spezialisten in Aussicht gestellter, ziviler Sekundärnutzen des sich auf den Zivilschutz beziehenden Gesetzes dazu beigetragen haben, dass dieses nach Annahme durch Bundestag (15. November 1989) und Bundesrat (21. Dezember 1989)163 am 22. Januar 1990164 tatsächlich in Kraft treten konnte. Die bundesdeutsche Sektion der IPPNW hatte – so Ernst Rebentisch – „die Schlacht verloren“.165 Abermals entscheidend in den Diskussionen um das KatSErgG war hingegen die Position der privaten Hilfsorganisationen, welche in der Bundesrepublik Deutschland eigenen Aussagen zufolge das „Rückgrat des Katastrophenschutzes“ bildeten und dies auf den entsprechenden Sitzungen des Innenausschusses explizit geltend machten.166 In der historischen Betrachtung erscheint es bisweilen erstaunlich, dass die IPPNW ihre Kritik in Sachen Zivilschutz und Katastrophenmedizin derart stark auf die Ärzteschaft konzentrierte, obwohl sich gerade die Organisationen ungebrochen zu ihrer Verantwortung auch im Verteidigungsfall bekannten. Gewünscht wurden von deren Seite nicht allein „Maßnahmen der Gesundheitssicherstellung für den friedensmäßigen Katastrophenfall (einschließlich der Vorstufe ‚Massenanfall von Verletzten‘) bis zum Verteidigungsfall“;167 auch der als gesellschaftlich besonders umstritten geltende, von den Ärztekammern zwischenzeitlich abgelehnte Schutzraumbau wurde beispielsweise von der Johanniter-Unfall-Hilfe noch zum Ende der 1980er Jahre eingefordert.168 Auf der bereits erwähnten, das KatSErgG betreffenden Loccumer Akademietagung konnte sich Ulrich Gottstein somit zwar 161 Vgl. z. B. Hartmut Jatzko, Sybille Jatzko & Heiner Seidlitz, Das durchstoßene Herz: Ramstein 1988. Beispiel einer Katastrophen-Nachsorge. Edewecht 1995. Vgl. auch Ernst Rebentisch, Katastrophenmedizin: Gesetzgebung völlig unzulänglich, in: Ärztliche Praxis (Sonderdruck) 44/1989, S. 1659–1660. 162 Vgl. Schreiben von Ernst Rebentisch an Erwin Odenbach vom 10.10.1989. BArch, B 417/2924. 163 Ergebnisniederschrift über die Sitzung des Ausschusses „Sanitätswesen im Katastrohen-, Zivilschutz und in der Bundeswehr“ am 6.12.1989, S. 2. BArch, B 417/2983. 164 Diebel, Atomkrieg und andere Katastrophen, 315. 165 Schreiben von Ernst Rebentisch an Erwin Odenbach vom 10.10.1989. BArch, B 417/2924. 166 Ergebnisniederschrift der Besprechung über den Arbeitsentwurf eines Gesetzes zur Ergänzung des Katastrophenschutzgesetzes und anderer Vorschriften (KatSErgG) am 21.6.1988 im Bundesministerium des Innern – Forderungen der 4 Hilfsorganisationen zur Verbesserung des Katastrophenschutzes. DRK, 4052. 167 Ebd. 168 Vgl. Schreiben der Johanniter-Unfall-Hilfe e. V. an den Bundesminister des Innern vom 20.10.1988, Betr.: Referentenentwurf eines Gesetzes zur Ergänzung des Katastrophenschutzgesetzes und anderer Vorschriften (KatSErgG) – Stand 8.9.1988, S. 1. BArch, B 417/2924 sowie Vorwort von Wilhelm Graf von Schwerin (Präsident der Johanniter Unfall-Hilfe e. V.), in: JUH-Report 12/1988, S. 5.

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über die Unterstützung durch die Gewerkschaft ÖTV,169 den Deutschen Städtetag170 sowie das Diakonische Werk171 freuen. Die das Gesetz befürwortenden Gegenstimmen der Bundesärztekammer,172 der Deutschen Krankenhausgesellschaft (unter expliziter Nennung der Katastrophen von Tschernobyl und Ramstein)173 und insbesondere des mit der Autorität aller sanitätsdienstlichen Hilfsorganisationen auftretenden Deutschen Roten Kreuz („auch wenn es dieses Katastrophenschutzgesetz nicht gäbe, würden wir aus eigenem Recht so handeln“)174 wogen aber wegen ihrer vorrangigen Bedeutung für die konkrete Umsetzung jeden Katastrophenund Zivilschutzes schlicht und ergreifend schwerer. Den Befunden Martin Diebels zur dominanten Rolle der Hilfsorganisationen ist in diesem Zusammenhang voll zuzustimmen,175 und auch Ernst Rebentischs Kritik an der seiner Ansicht nach zu starken Berücksichtigung der Interessen der Hilfsorganisationen durch den Gesetzgeber blieb letztlich ohne Wirkung. Auffallend an den Diskussionen um das KatSErgG ist aus Sicht des Historikers, dass sich die große innerärztliche Kontroverse der vorangegangenen Jahre nicht wiederholte. Hierfür können mehrere Gründe verantwortlich gemacht werden. Eine mit dem folgenden Kapitel 4.6 zusammenhängende Erklärung soll an dieser Stelle zunächst ausgespart bleiben; anzuführen sind hingegen drei Punkte, von denen die ersten beiden bereits angedeutet wurden. Nicht unterbleiben kann, erstens, der Verweis auf die gewandelte weltpolitische Lage bei gleichzeitig auftretenden zivilen Szenarien, welche mit dem Begriff „Unfall“ kaum mehr erfasst werden konnten. Wie zu Beginn des vorigen Kapitels bereits erwähnt, verbesserten der sich entspannende Kalte Krieg und die laufenden Abrüstungsverhandlungen wider früherer Erwartungen die Chancen der Katastrophenmediziner, Reformen in ihrem Sinne verwirklichen zu können. Vor dem Hintergrund internationalen Tauwetters wirkten die zivilen Schadensszenarien der technisierten Moderne ungleich auffallender als zu einer Zeit, in der alles, was geschah, stets mit dem ungleich Schlimmeren verglichen wurde, was geschehen könnte. Im Zuge dessen setzte sich verstärkt eine Ansicht durch, welche bei den Katastrophenmedizinern keinesfalls von Beginn an 169 Vgl. Horst Rothenbach (Geschäftsführer der Hauptabteilung Länder, ÖTV Hauptvorstand), Diskussionsbeitrag, in: Evangelische Akademie Loccum (Hrsg.), Vorsorge für den Ernstfall?, S. 133–136. 170 Vgl. Wolfgang Keil (Deutscher Städtetag), Diskussionsbeitrag, in: ebd., S. 141–145. 171 Vgl. Gerhard Hoffmann (Diakonisches Werk in Hessen und Nassau), Diskussionsbeitrag, in: ebd., S. 137–140. 172 Vgl. Peter Knuth (Hauptgeschäftsführer Bundesärztekammer), Die Position der Bundesärztekammer zum Gesetz zur Ergänzung des Katastrophenschutzgesetzes und anderer Vorschriften (Katastrophenschutzergänzungsgesetz – KatSErgG), in: ebd., S. 155–164. 173 Vgl. Klaus Prößdorf (Hauptgeschäftsführer Deutsche Krankenhausgesellschaft), Diskussionsbeitrag, in: ebd., S. 130–132. 174 Hartwig Schlegelberger (Vizepräsident des DRK), Diskussionsbeitrag, in: ebd., S. 126–129. 175 Vgl. Diebel, Atomkrieg und andere Katastrophen, S. 313–315.

Gesetzgebung IV: Das Katastrophenschutzergänzungsgesetz

dominant gewesen und von Seiten der bundesdeutschen IPPNW-Sektion heftig attackiert worden war: Es schienen in der Tat Gefahrenlagen wie in Tschernobyl oder Ramstein – im Sinne Charles Perrows „normale Katastrophen“ komplexer Systeme (vgl. hierzu Kapitel 1.3) – zu sein, auf die sich die Ärztinnen und Ärzte des ausgehenden 20. Jahrhunderts vorzubereiten hatten. Ob bzw. in welchem Umfang sich einzelne Katastrophenmediziner in der Vergangenheit solcher Szenarien eher diskursiv bedient hatten, um tatsächlich ein Mindestmaß berufsspezifischer Vorbereitung auf den Verteidigungsfall zu erwirken, spielte in Anbetracht einer sich ganz in diesem Sinne entwickelnden Realität kaum mehr eine Rolle. Auch wenn die konkrete Ausgestaltung nach wie vor umstritten blieb, ging demnach zumindest die Kritik an der Existenz einer Katastrophenmedizin deutlich zurück. Als zweiter Punkt muss auf die sich zwischenzeitlich routinierende Durchführung des innerärztlichen Konflikts hingewiesen werden. Spätestens nach dem 1986 erreichten Höhepunkt der Kontroversen um die Katastrophenmedizin hatten sich die „Parteien“ gefunden und sämtliche grundlegenden Argumentationsmuster waren hinlänglich bekannt. Ausbleibende Überraschungen sowie bekannte Topoi, auf die jeweils nach vertrauter Manier reagiert werden konnte, förderten wohl das Ausbleiben eines allzu scharfen Konflikts um das KatSErgG. Die letzte, hier zu skizzierende Begründung für die vergleichsweise zurückhaltend geführte Diskussion um das KatSErG erklärt sich durch die professionsspezifische Dynamik innerhalb der Ärzteschaft zum Ende der 1980er Jahre. Der keineswegs vollumfänglichen, aber doch in Ansätzen vollzogenen Annäherung an einzelne Prämissen des jeweiligen Gegners – propagiert insbesondere von Ulrich Gottstein auf Seite der IPPNW, aber auch von einzelnen Katastrophenmedizinern – wurde schließlich auch institutionell Rechnung getragen. Bereits am 1. September 1987 berief man Gottstein in den insbesondere mit katastrophenmedizinischen Fragen befassten Ausschuss sowie die Ständige Konferenz „Sanitätswesen im Katastrophen-, Zivilschutz und in der Bundeswehr“.176 Die Integration eines opponierenden Kollegen hatte sicher auch Auswirkungen auf Gottsteins in die bundesdeutsche Sektion zurückwirkenden Reformbestrebungen und mochte dessen Eindruck bestärkt haben, dass sich der professionsinterne Dissens mit punktuellen Anpassungen der eigenen Argumentation überwinden ließ. Gottsteins Schilderung z. B. der im Ausschuss geführten Debatten zum KatSErgG fiel insgesamt sehr wohlwollend aus. Trotz teils abweichender Ansichten bezeichnete er Gustav Osterwald, den sich seit vielen Jahren für die Katastrophenmedizin engagierenden Vizepräsidenten der Bundesärztekammer, als „außerordentlich fair“, attestierte Rebentisch

176 Vgl. Schreiben von Ulrich Gottstein an Vorstand und Beirat der IPPNW sowie an die Mitglieder des Arbeitskreises „Sanitätswesen im Katastrophen-, Zivilschutz und in der Bundeswehr“ vom 2.5.1988, S. 1. FZH, 16–3 A/2.3.–5.

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anerkennend „Zurückhaltung“ und verwies auf das gerade während der Mittagspause sich entfaltende, von ehrlichem Interesse geprägte Gespräch.177 In Bezug auf den von ihm festgestellten Zivilschutzcharakter des Gesetzes traf Gottstein kaum auf Widerspruch und der lange Zeit offensiv eingeforderte Schutzraumbau wurde längst auch von Seite mancher Katastrophenmediziner überaus kritisch gesehen.178 Da die Sitzungen des Sanitätsausschusses typischerweise mehrere Themen umfassten und keinesfalls ausschließlich den Verteidigungsfall betrafen, gab es vielfache Gelegenheit zu einmütigen Diskussionen, etwa in Bezug auf zu fordernde Reaktionen bezüglich der Katastrophe von Ramstein oder hinsichtlich umstrittener, insbesondere bei der Triage einzusetzender Verletztenanhängerkarten des DRK (ein beispielhafter Entwurf findet sich abgedruckt in Kapitel 2.1.5). Gottsteins Plädoyer dafür, dass solche Karten in jedem Fall von einem Arzt, nicht jedoch von einem Rettungssanitäter auszufüllen seien, deckte sich mit der von Ernst Rebentisch wiederholt geforderten Verantwortlichkeit des Arztes im Katastrophenfall ebenso wie mit der offiziellen Kammerlinie.179 Über diese alltäglich anmutende Arbeit gesellten sich somit verstärkt Punkte gegenseitiger Übereinstimmung zu den nach wie vor strittigen Fragen, weshalb Letztere die Charakterzüge normalen, gelegentlich auftretenden Widerspruchs im Kollegium annahmen. Die Inklusion Gottsteins in ein Gremium, welches seitens der IPPNW als Keimzelle der befürchteten Militarisierung des Gesundheitswesens bezeichnet worden war, muss nicht nur als Maßnahme zum Abbau wechselseitiger Vorurteile, sondern auch als professionstypischer Akt betrachtet werden, Streitigkeiten berufsintern offen zu verhandeln, nach außen hin aber dennoch geschlossen Mehrheitsmeinungen formulieren zu können. Letzteres wurde dabei insbesondere in Mahnungen ersichtlich, die Gottstein sowohl von BÄK-Präsident Vilmar als auch von Vizepräsident Osterwald erhielt.180 Diese bemängelten beide, dass Gottstein seine Teilnahme am Sanitätsausschuss im Sinne seiner Lobbytätigkeit als IPPNW-Vorstand, beispielsweise in Anschreiben an Politiker, gewinnbringend zu nutzen suchte.181 Es stünde ihm selbstverständlich frei, seine Ansichten zu äußern; sobald er hingegen als Ausschussmitglied spreche,

177 Ebd., S. 5 178 Ebd., S. 7. Gottstein hob hierbei den sich insbesondere um die Koordinierung des zivilen und militärischen Sanitätswesens bemühenden Siegener Arzt Reinhold Schultze hervor. Vgl. hierzu auch: Ergebnisniederschrift über die Sitzung des Ausschusses und der Ständigen Konferenz „Sanitätswesen im Katastrophen-, Zivilschutz und in der Bundeswehr“ am 2.3.1988. S. 6. BArch, B 417/2983. 179 Vgl. Ergebnisniederschrift über die Sitzung des Ausschusses „Sanitätswesen im Katastrophen-, Zivilschutz und in der Bundeswehr am 6.12.1989“, S. 11. BArch, B 417/2983. 180 Schreiben von Karsten Vilmar an Ulrich Gottstein vom 20.7.1988. FZH, 16–3 A/2.3.–6; Schreiben von Gustav Osterwald an Ulrich Gottstein vom 19.7.1989. BArch, B 417/2983. 181 Vgl. z. B. Schreiben von Ulrich Gottstein an Carl-Dieter Spranger (BMI) vom 15.7.1988. FZH, 16–3 A/2.3.–5.

Der Krieg ist die Katastrophe: Vergangenheit als Text und Subtext

habe er sich an bindende Mehrheitsbeschlüsse ebenso zu halten wie alle anderen Mitglieder. Gottsteins Zugang zum Ausschuss ist somit zwar als Erfolg in Sachen verstärkter Repräsentation der bundesdeutschen Sektion der IPPNW anzusehen, unterschied sich aber nicht grundlegend von der Teilnahme einzelner IPPNWMitglieder auf den Deutschen Ärztetagen, welche dort ebenfalls ihre Ansichten kundtun durften, sich der Majorität am Ende aber dennoch beugen mussten.

4.6

Der Krieg ist die Katastrophe: Vergangenheit als Text und Subtext

Auf dem 112. Deutschen Ärztetag des Jahres 2009 erhielt Ernst Rebentisch die Paracelsus-Medaille. Bereits der Titel einer im Deutschen Ärzteblatt abgedruckten Laudatio – „Einsatz für die Katastrophenmedizin“ – machte unmissverständlich klar, wodurch er sich diese Auszeichnung aus Sicht der deutschen Ärzteschaft verdient hatte.182 Im gleichen Jahr veröffentlichte der kanadische Militariaverlag J. J. Fedorowicz unter dem Titel To the Caucasian and the Austrian Alps die Geschichte der 23. Panzerdivision der deutschen Wehrmacht,183 eine englische Übersetzung der bereits 1963 erschienenen, im Selbstverlag ehemaliger Divisionsangehöriger herausgegebenen deutschen Fassung Zum Kaukasus und zu den Tauern.184 Das Buch stellte einen typischen Vertreter des Genres dar: Bereits die Widmung „unseren Gefallenen und Vermissten“ verortete den Text vorwiegend im Bereich von Veteranengedenken und Kameradschaftspflege. Wie in vielen vergleichbaren Werken wurde eine (selbst-)kritische Aufarbeitung des Geschehenen gar nicht erst angestrebt; die Gründe und Hintergründe des Zweiten Weltkriegs blendete das Werk ebenso aus wie etwaige deutsche Kriegsverbrechen, ganz zum Mythos der „sauberen Wehrmacht“ passend. Der Krieg selbst wurde als Faktum präsentiert, während sich die Narrative auf das vorgeblich unpolitische militärische Handwerk konzentrierten: Personal, Gerät, Taktik und Kampfhandlungen. Autor der annähernd 600 Seiten umfassenden Abhandlung war Ernst Rebentisch, der während des Zweiten Weltkrieges zunächst als Hauptmann, später als Major der 23. Panzerdivision gedient hatte. Im Vorwort schrieb er:

182 Ernst Rebentisch: Einsatz für die Katastrophenmedizin, in: Deutsches Ärzteblatt 21/2009, S. 1959. 183 Ernst Rebentisch, To the Caucasian and the Austrian Alps. Übersetzt von Bob Edwards. Winnipeg 2009. Zusätzlich als Lizenzausgabe bei Stackpole veröffentlicht: Ernst Rebentisch, The Combat History of the 23rd Panzer-Division in World War II. Mechanicsburg 2012. 184 Ernst Rebentisch, Zum Kaukasus und zu den Tauern: Die Geschichte der 23. Panzer-Division 1941–1945. Esslingen 1963.

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Abb. 14/15 Zwischen den beiden Aufnahmen Rebentischs liegen Jahrzehnte – veröffentlicht wurden sie nahezu zeitgleich. Im Jahr 2009 zierte das rechte Bild die Laudatio des Deutschen Ärzteblattes anlässlich der Verleihung der Paracelsus-Medaille, das linke zeigt Rebentisch als Hauptmann der Wehrmacht zur Illustration des Vorwortes seiner englischsprachigen Divisionsgeschichte. (Militärische) Vergangenheit und (zivile) Gegenwart sind in den Publikationen separiert, tatsächlich aber kaum voneinander zu trennen.

Das Ziel meiner Arbeit war und ist, […] zu schildern und in kriegsgeschichtlich fundierter Form darzustellen, wie die 23. Panzer-Division in Glück und Unglück ihre Pflicht erfüllte.185

Das originale Veröffentlichungsdatum seiner Darstellung zu Beginn der 1960er Jahre sowie deren unter Mithilfe des Autors vorgenommene Erweiterung anlässlich der englischen Fassung186 belegen eindrucksvoll, dass sich Rebentisch offenbar

185 Ebd., S. 7. 186 Vgl. das Vorwort des Herausgebers Fedorowicz in der englischen Fassung: Rebentisch, The Combat History of the 23rd Panzer-Division in World War II, S. viii. An gleicher Stelle unterstrich dieser zudem die besondere Qualität von Ernst Rebentischs Darstellung.

Der Krieg ist die Katastrophe: Vergangenheit als Text und Subtext

während seiner gesamten ärztlichen Karriere mit der eigenen Vergangenheit beschäftigte und suchte, dieser ein Denkmal zu setzen. Inwiefern sich auch sein jahrzehntelanges Bemühen um die Katastrophenmedizin diesem Motiv verdankt haben mochte, kann nicht beantwortet werden und verbleibt im Bereich der Spekulation. Allein, die Konstruktion von Bezügen zwischen Rebentischs Kriegserfahrung und seinem späteren Wirken als westdeutscher Arztsoldat fällt leicht. Wie viele andere Teilnehmer der entsprechenden Diskussionen lernte auch er die Katastrophenmedizin in der „größten Katastrophe“ kennen – dem Krieg, der während der 1950er Jahre häufig schlicht die Katastrophe genannt wurde. An der Ostfront wurde eine andere Art Medizin praktiziert als im Hinterland; chronischer Mangel an Ressourcen und Zeit beherrschten den Alltag und zwangen die Militärärzte regelmäßig zur Improvisation mit einfachsten Mitteln. Dabei wirkten diese keineswegs professionstypisch autonom, sondern hatten sich Grundsituation und Gesamtplanung letzten Endes unterzuordnen. Im Lichte solcher Überlegungen veranschaulicht Rebentischs Lebensweg den Fluss spezifischer Wissensbestände von den Fronten des Zweiten Weltkriegs zunächst zur Bundeswehr und schließlich – eingeschränkt – auch zur zivilen Ärzteschaft. „Militarisiert“ im eigentlichen Sinne wurde die Ärzteschaft nicht, wohl aber verdankte sie einen Teil ihres Wissens und ihrer ärztlichen Ideale dem Krieg. Passenderweise beschrieb Rebentisch die Sanitätsoffiziere der Wehrmacht in seiner Divisionsgeschichte als „unbesungene Helden“187 und bediente sich damit einer narrativen Formel, welche bis in die jüngere Zeitgeschichte hinein die berufsinterne Beschäftigung mit der eigenen Vergangenheit bestimmen sollte. Die Meistererzählung der Ärztekammern basierte dabei auf dem bereits in Kapitel 1.5 erwähnten Bericht Alexander Mitscherlichs und Fred Mielkes zum Nürnberger Ärzteprozess, Das Diktat der Menschenverachtung, später erneut herausgegeben unter dem Titel Wissenschaft ohne Menschlichkeit: Medizinische und eugenische Irrwege unter Diktatur, Bürokratie und Krieg.188 Gegen den Willen der Verfasser avancierte das Werk zum Kronzeugen einer von Kammerseite als abgeschlossen deklarierten Aufarbeitung der NS-Vergangenheit; man ignorierte die grundlegende Absicht, systematische Verstrickungen aufzuzeigen und bezog sich stattdessen auf

187 Rebentisch, The Combat History of the 23rd Panzer-Division in World War II, S. 99. 188 Alexander Mitscherlich & Fred Mielke, Das Diktat der Menschenverachtung: Eine Dokumentation. Heidelberg 1947. Zwei Jahre später erneut herausgegeben als: Alexander Mitscherlich & Fred Mielke, Wissenschaft ohne Menschlichkeit: Medizinische und eugenische Irrwege unter Diktatur, Bürokratie und Krieg. Heidelberg 1949. Erst die 1960 veröffentlichte Neuausgabe wurde hingegen abseits der Ärzteschaft bekannt und in späteren Auflagen zum Bestseller: Alexander Mitscherlich, Medizin ohne Menschlichkeit: Dokumente des Nürnberger Ärzteprozesses. Frankfurt/M. 1960.

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Abb. 16 Das Foto wurde der erweiterten Fassung Rebentischs ursprünglich 1963 auf Deutsch erschienener Divisionsgeschichte, The Combat History of the 23rd Panzer-Division in World War II, entnommen. Die originale Bildunterschrift lautet: An unsung hero – a battalion physician at work. Der am Boden liegende Verletzte würde im Frieden zweifellos die volle Aufmerksamkeit des Arztes auf sich ziehen; im Krieg hingegen mag jemand anderes der sofortigen Hilfe dringender bedürfen. Das Verfahren der Triage scheint ohne Alternative: im Sinne der Patienten, aber auch im Sinne des Arztes. Wie sollte er sonst verfahren? Er kann nicht allen helfen.

die von Mitscherlich genannte Zahl von 350 Tätern,189 um den Berufsstand von jeglicher Schuld freizusprechen. So konstatierte beispielsweise das Deutsche Ärzteblatt 1958 in Bezug auf „Verbrechen, die von einzelnen Ärzten in nationalsozialistischen Konzentrationslagern verübt wurden“: Es war gemessen an der Zahl der in Deutschland tätigen Ärzte eine verschwindend kleine Schar, welche verbrecherisch entgleiste. Daß ihre negative Auslese stattfand und daß sie mit Macht über Leben und Tod begabt wurden, zählt zum Schuldkonto der Diktatur, die überall die zerstörerischen Kräfte um sich scharte.190

Nicht allein wurde die Zahl der Täter als zu gering ausgewiesen, um grundsätzliche Überlegungen zu erzwingen; zum Hauptschuldigen der Medizinverbrechen wurde zudem das politische System, keinesfalls jedoch die eigene Berufsideologie erklärt, um anschließend den eigennützlichen Schluss abzuleiten, dass die Autonomie der

189 Vgl. hierzu auch Tobias Freimüller, Wie eine Flaschenpost: Alexander Mitscherlichs Dokumentation des Nürnberger Ärzteprozesses, in: Zeithistorische Forschungen Online-Ausgabe 7, 1/2010, online unter: www.zeithistorische-forschungen.de/1-2010/id=4474 (aufgerufen am 26.1.2019). 190 Stellungnahme der Bundesärztekammer zu Verbrechen, die von einzelnen Ärzten in nationalsozialistischen Konzentrationslagern verübt wurden, S. 891, in: Deutsches Ärzteblatt 32/1958, S. 891–892.

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Ärzteschaft vor staatlichen Eingriffen unbedingt zu schützen sei. Auf die Zahl von 350 Tätern – im Vergleich zu einer Gesamtärztezahl von 90.000 – verwies 1961 auch ein Artikel zum „ärztlichen Widerstand“ gegen Adolf Hitler. Organisierten Widerstand, so hieß es dort, habe es kaum gegeben, wohl aber massenhaften, „stillen, unpolitischen Widerstand“ und – ganz an Rebentischs Formulierung erinnernd – „stilles Heldentum“ von Ärzten, die auch während der NS-Zeit den Prinzipien des Hippokratischen Eids verbunden geblieben seien.191 Bis in die 1980er Jahre wurde das Narrativ einer Ärzteschaft kolportiert, die unter dem Nationalsozialismus mehrheitlich schuldlos geblieben oder gar zu „unbesungenen Helden“ geworden war. So hieß es 1985 in einem Editorial des Deutschen Ärzteblattes über die im Weltkrieg tätigen Ärzte: […] sie waren und sind Teil der namenlosen Mehrheit der Ärzte, die auch im „Dritten Reich“ Humanität geübt und ihre Patienten, Zivilisten oder Soldaten, nach allen Regeln der ärztlichen Kunst betreut haben, ohne Fehl und Tadel.192

Keinesfalls soll an dieser Stelle angedeutet werden, es hätte während der NS-Zeit ausschließlich „schuldige“ Ärzte gegeben. Neuere Untersuchungen bestätigen im Gegenteil die These, dass die ideologische Durchdringung der Ärzteschaft im Alltag an ihre Grenzen stoßen konnte, ihrer Spitzenposition hinsichtlich der NSDAPParteimitgliedschaften zum Trotz.193 Gerade aufgrund des abermaligen Verweises auf die Zahl von 350 Tätern verortete sich das lediglich eine Viertelseite umfassende Editorial dennoch eher im Bereich der Exkulpation. Die während der 1980er Jahre in den Diskussionen um die Katastrophenmedizin sich abzeichnenden inneren Widersprüche der Ärzteschaft äußerten sich auch in den im Anschluss veröffentlichten Leserbriefen, wobei sich neben einigem Zuspruch auch der Vorwurf der Verharmlosung wiederfand194 – welcher in einem weiteren Schreiben als „Psycho-Masochismus“ einer bereits viel zu selbstkritischen Ärzteschaft abgewiesen wurde.195

191 Georg Bittner, Gedanken zum 20. Juli 1944: Der deutsche Widerstand gegen Hitler, S. 1532, in: Deutsches Ärzteblatt 27/1961, S. 1529–1535. 192 Ernst Roemer, 8. Mai 1945, in: Deutsches Ärzteblatt 19/1985, S. 1381. 193 Süß, Der „Volkskörper“ im Krieg, S. 376–377. Auch Michael Kater, selbst scharfer Kritiker der Aufarbeitungspraxis der westdeutschen Ärzteschaft, kommt nicht umhin, Mitscherlichs und Mielkes vergleichsweise geringe Täterzahl zu bestätigen, vgl. Kater, Ärzte als Hitlers Helfer, S. 361. 194 Vgl. Hans Narr, Vergangenheit aufarbeiten (Leserbrief), in: Deutsches Ärzteblatt 28-29/1985, S. 2080–2081. 195 Vgl. Gerhard Keil, Psycho-Masochismus (Leserbrief), in: Deutsches Ärzteblatt 35/1985, S. 2449–2450.

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Ab der zweiten Hälfte der 1980er Jahre entwickelte sich die Beschäftigung mit der NS-Vergangenheit zu einem Dauerthema des Deutschen Ärzteblattes,196 begleitet von einer wachsenden Zahl veröffentlichter Zuschriften. Die Initialzündung hierfür lieferte Bundesärztekammerpräsident Karsten Vilmar persönlich. Dieser kommentierte im April 1987 in Form eines Interviews mit der bezeichnenden Überschrift „Die ‚Vergangenheitsbewältigung‘ darf nicht kollektiv die Ärzte diffamieren“ einen im Vorjahr in der britischen Fachzeitschrift The Lancet veröffentlichten Artikel des deutschen Arztes Hartmut Hanauske-Abel. Dessen gleichfalls vielsagender Titel „From Nazi Holocaust to Nuclear Holocaust: A Lesson to Learn“ offenbarte die genutzte argumentative Stoßrichtung: Der auf einem Vortrag des 6. Weltkongresses der IPPNW basierende Text beschränkte sich nicht auf die Darlegung der Pervertierung ärztlicher Ethik während des Nationalsozialismus, sondern zog Parallelen zur auf dem Höhepunkt befindlichen Kontroverse um die Katastrophenmedizin.197 Wenn auch seine Aussagen zur NS-Vergangenheit der Ärzteschaft komplexer ausfielen als manche früheren, in ärztlichen Berufszeitschriften veröffentlichten Darstellungen, suchte auch Vilmars „Antwort“ auf Hanauske-Abel letztlich das Gros der deutschen Ärzteschaft von aus seiner Sicht überzogenen Kollektivschuldzuweisungen freizusprechen: Er berief sich auf eine Zahl von „höchstens 400“ Medizinverbrechern und verteidigte – im Gegensatz zum sonstigen Beharren der Ärzteschaft auf ihrer herausragenden ethischen Qualität – die „äußere Anpassung an Postulate des Regimes“ als „nicht unbedingt mannhaft, aber damals verständlich“.198 Das Interview wurde bereits kurz nach Veröffentlichung als Beleg der ärztlichen Verweigerungshaltung gegenüber einer tatsächlich vorbehaltlosen Aufarbeitung der Geschichte betrachtet199 und auch im Deutschen Ärzteblatt in vielen veröffentlich196 Vgl. z. B. Hans Schadewaldt, Anhänger und Kritiker der NS-Zeit, in: Deutsches Ärzteblatt 17/1986, S. 1187–1188; Klaus Dörner, Wie können Ärzte den Überlebenden noch helfen?, in: Deutsches Ärzteblatt 39/1986, S. 2587–2590. 197 Vgl. Kurt Gelsner & Karsten Vilmar, Die „Vergangenheitsbewältigung“ darf nicht kollektiv die Ärzte diffamieren (Interview), in: Deutsches Ärzteblatt 18/1987, S. B-847–B-500 und B-858–B-859; Hartmut M. Hanauske-Abel, From Nazi Holocaust to Nuclear Holocaust: A Lesson to Learn, in: The Lancet, 2.8.1986, S. 271–273. Basierend auf: Hartmut Hanauske-Abel, Medizin unter dem Nationalsozialismus, in: Sektion Bundesrepublik Deutschland der IPPNW (Hrsg.), in: Gemeinsam leben – nicht gemeinsam sterben!, S. 58–65. 198 Gelsner & Vilmar, Die „Vergangenheitsbewältigung“ darf nicht kollektiv die Ärzte diffamieren (Interview), S. B-850. Norbert Jachertz mutmaßte in diesem Zusammenhang, dass es Vilmar in seiner Darstellung auch darum gegangen sein mochte, seine Chancen bei den auf dem 90. Deutschen Ärztetag 1987 anstehenden Vorstandswahlen nicht durch unbedachte Äußerungen zu einem kontroversen Thema zu gefährden, vgl. Norbert Jachertz, Phasen der „Vergangenheitsbewältigung“ in der deutschen Ärzteschaft nach dem Zweiten Weltkrieg, S. 284, in: Jütte (Hrsg.), Geschichte der deutschen Ärzteschaft, S. 275–288. 199 Vgl. hierzu etwa die unmittelbare Reaktion einer Gruppe von 16 Medizinhistorikerinnen und -historikern: Ulrich Stock, Zu diesem Text: Ärzte streiten über die Vergangenheit, in: Die Zeit,

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ten Leserbriefen kritisiert.200 Für die vorliegende Untersuchung scheint hingegen von größerem Interesse zu sein, dass eine ganze Reihe von Leserinnen und Lesern Hanauske-Abels Vergleich zwischen historischem und hypothetischem Holocaust ausdrücklich als gerechtfertigt erachteten, während Vilmar diesen als „unzulässig polemisch“ bezeichnet hatte.201 In solchen, verbreitete IPPNW-Ansichten widerspiegelnden Reaktionen wurde nicht allein der Begriff „nuklearer“ bzw. „atomarer Holocaust“ als angemessen ausgewiesen, sondern der mangelnde „Widerstand“ der Ärztefunktionäre gegen das Wettrüsten der Supermächte explizit mit dem fehlenden Widerstand der Ärzteschaft gegen den NS-Staat gleichgesetzt.202 Noch extremer hatte dies auf dem IPPNW-Weltkongress Hanauske-Abel selbst getan, als er gegen Ende seines Vortrages zunächst einen aus verschiedenen Flugblättern der Weißen Rose203 amalgamierten Text zitierte, um diesen schließlich im letzten Absatz in Richtung „atomarer Holocaust“ umzudichten: Wir müssen das Böse dort angreifen, wo es am mächtigsten ist. Verbergt nicht Eure Feigheit unter dem Mantel der Klugheit. Jeder ist in der Lage, etwas beizutragen zum Ende des Nuklearen Systems. Jetzt kommt es darauf an, sich keine Ruhe zu geben, bis auch der Letzte überzeugt ist von der äußersten Notwendigkeit seines Kämpfens wider [sic] dieses Übel.204

Die bundesdeutsche IPPNW leistete also nicht allein „Widerstand“; sie verglich diesen vielmehr mit dem historischen Widerstand gegen Hitler und sich selbst mit denjenigen, die hierfür ihr Leben gelassen hatten. Dass sie damit ihrer Gegenseite – den Ärztekammern und Katastrophenmedizinern – indirekt die Rolle der Nationalsozialisten zuschoben, wurde zumindest rhetorisch weithin akzeptiert. Auch wenn die Reaktion der Berufsorganisationen gegenüber Hartmut Hanauske-Abel in meh-

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6.11.1987. Online unter: https://www.zeit.de/1987/46/zu-diesem-text (aufgerufen am 26.1.2019). Als Gegendarstellung hierzu: Norbert Jachertz, NS-Zeit: Vom Umgang mit der Wahrheit, in: Deutsches Ärzteblatt 47/1987, S. B-2213. Vgl. z. B. P. M. Faustmann, Einfache Rechnung (Leserbrief), in: Deutsches Ärzteblatt 31-32/1987, S. B-1451. Gelsner & Vilmar, Die „Vergangenheitsbewältigung“ darf nicht kollektiv die Ärzte diffamieren (Interview), S. B-847. Vgl. Ulla Dörffer, Verantwortung (Leserbrief) und R. Schmidt, Parallelen (Leserbrief), in: Deutsches Ärzteblatt 31-32/1987, S. B-1452. „Weiße Rose“ war die Selbstbezeichnung einer studentisch geprägten Widerstandsgruppe gegen den Nationalsozialismus um die Studierenden Willi Graf, Christoph Probst, Hans und Sophie Scholl, Alexander Schmorell sowie den Universitätsprofessor Karl Huber. Der innere Kreis der Gruppe wurde 1943 in Schauprozessen verurteilt und ermordet. Hanauske-Abel, Medizin unter dem Nationalsozialismus, S. 65. Betonung im Original.

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reren Punkten zweifelhaft gewesen sein mag,205 erscheint Vilmars Kritik zumindest an dieser aus heutiger Sicht kruden Analogie nachvollziehbar. Solche Analogien zählten zu einem insbesondere in Kapitel 3.1.3 bereits erwähnten, unübersehbaren Subtext zahlloser Publikationen der bundesdeutschen IPPNW-Sektion und ihrer Mitglieder, ob öffentlich oder in Form privater Korrespondenz. Ulrich Gottstein griff hierauf ebenso zurück wie Horst-Eberhard Richter – Belege dafür, dass Bezugsetzungen zwischen NS-Zeit und der Debatte um die Katastrophenmedizin keinesfalls nur einen Generationenkonflikt abbildeten.206 Gründungsmitglied Edith Schieferstein, Jahrgang 1929, äußerte sich 1984 auf einer Podiumsdiskussion des 4. Medizinischen Kongresses zur Verhinderung eines Atomkriegs (Titel: „Unser Eid auf das Leben verpflichtet zum Widerstand“) folgendermaßen: „Damals ging es um den Holocaust; heute spricht man vom atomaren Holocaust. Und ich sage: ‚Wehret den Anfängen!‘“207 Auf dem 90. Deutschen Ärztetag des Jahres 1987 gab sie öffentlich zu: Ich bin mit der Nazi-Geschichte bis heute nicht fertiggeworden, was meine Gefühle angeht und was auch mein Nachdenken angeht über die Generation vor mir, über meine eigene Generation, die in Uniform einherschritt und gar nichts dabei fand. […] Es geht doch auch nicht darum, daß wir jetzt aufzählen: Die und die waren beteiligt, die KVen haben das und das gemacht. Darum kann es mir nicht gehen, sondern es geht mir darum, daß kein Mensch sagt: Es tut mir zutiefst leid.208

Auf demselben, im Schatten des Vilmar-Interviews stehenden Ärztetag äußerten mehrere IPPNW-Mitglieder, dass ihr friedenspolitisches Engagement als Reaktion

205 Der komplexe Vorgang kann an dieser Stelle nicht umfassend rezipiert werden. Vereinfacht dargestellt sah sich Hanauske-Abel im Anschluss an seine Publikation von der für ihn zuständigen Ärztekammer aus politischen Gründen benachteiligt und ging hiergegen gerichtlich vor. Das Verfahren endete mit einem Vergleich. Vgl. Ulrich Stock, Deutsche Ärzte und die Vergangenheit, in: Die Zeit, 12.6.1987. Online unter: https://www.zeit.de/1987/25/deutsche-aerzte-und-die-vergangenheit (aufgerufen am 25.1.2019), sowie: Historische Forschung kein Grund zur Diffamierung, in: Ärzte-Zeitung, 5.6.1989. FZH, 16–3 A/2.3.–12. Vgl. auch: Kater, The Sewering Scandal of 1993 and the German Medical Establishment, S. 228–229. 206 Vgl. z. B.: Schreiben von Ulrich Gottstein an Reinhold Schultze vom 17.7.1985, S. 3. BArch, B 417/ 1880. Schreiben von Horst-Eberhard Richter an Ralf Kühne vom 27.11.1985, S. 3. FZH, 16–3 A/ 2.1.–7. 207 „Was können Ärzte gegen den Krieg tun?“: Zusammenfassung der Podiumsdiskussion von Thomas Klingenbiel, S. 279, in: Tübinger Ärzteinitiative gegen den Krieg (Hrsg.), Unser Eid auf das Leben verpflichtet zum Widerstand, S. 275–288. 208 Bundesärztekammer (Hrsg.), Stenografischer Wortbericht des 90. Deutschen Ärztetages vom 12.–16.5.1987 in Karlsruhe. Köln 1987, S. 432.

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auf die NS-Zeit, als Lehre aus der Geschichte zu verstehen sei. Gleich zwei Ärzte verglichen die Verfolgung politischer Minderheiten im NS-Staat implizit mit der vorgeblichen oder tatsächlichen Ausgrenzung der sich nunmehr selbst – im Gegensatz zu den gerne von Ulrich Gottstein vorgebrachten Zahlen (vgl. hierzu ebenfalls Kapitel 3.1.3) – unumwunden als Minderheit gerierenden westdeutschen IPPNW.209 Eine genauere Schilderung sowohl des ärztlichen Wirkens im Zweiten Weltkrieg als auch dessen späterer Beurteilungen kann hier nicht geleistet werden. Am Ende einer Darstellung zur Genese der Katastrophenmedizin muss jedoch abermals betont werden, in welchem Umfang die entsprechenden Diskussionen mit expliziten und impliziten Verweisen auf die deutsche Vergangenheit durchsetzt waren. Diese wirkte in Ernst Rebentisch, u. a. belegt durch die von ihm verfasste, von seinen damaligen Diskussionsgegnern überraschenderweise nicht beachtete Divisionsgeschichte; seinem Idealtypus des Arztes als „unbesungenem Helden“ stand dasjenige Vilmars und anderer beiseite, welche betonten, dass die Ärzteschaft auch unter der NS-Herrschaft mehrheitlich einer als überzeitlich, überpolitisch ausgewiesenen ärztlichen Ethik treu geblieben sei. Solche und ähnliche Narrative beharrten auf der männlich konnotierten Rolle des Arztes als Agens: Auch wenn es gelte, diejenigen zu ehren, die Widerstand gegen den Nationalsozialismus geleistet hatten, sei die vorrangige ärztliche Pflicht keineswegs politischer Widerstand gewesen, sondern die gegebenenfalls trotzige Aufrechterhaltung ärztlichen Helfens und Heilens auch unter Diktatur und Krieg. Demgegenüber imaginierten die westdeutschen IPPNW-Mitglieder nicht allein den befürchteten Atomkrieg vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkrieges, sondern auch ihren Widerstand hiergegen. Die existenzielle, selbst punktuellen Widerspruch kaum duldende Aufladung ihres eigenen Tuns speiste sich demnach nicht allein aus der Vorstellung vollkommener Vernichtung, sondern auch aus einer Vergangenheit, die man als berufsständische Schande empfand. Der historische Fehler, als kriegswichtige Elite den Willen, die Weitsicht oder den Mut nicht besessen zu haben, Widerstand zu leisten, durfte sich aus dieser Perspektive keinesfalls wiederholen. Somit arbeiteten wohl sämtliche Flügel der Ärzteschaft parallel zu den Diskussionen um die Katastrophenmedizin auch an ihrer eigenen Identität und deren Ehrenrettung: Während die Katastrophenmediziner sich mühten, zumindest das dem Krieg abgerungene fachliche Wissen zu bewahren und die Ärzteschaft darauf vorzubereiten, frei nach Ernst Rebentisch, „in Glück und Unglück ihre Pflicht zu erfüllen“, mochte sich manches Mitglied der IPPNW vorgestellt haben, der geleistete Widerstand gegen den „atomaren Holocaust“ möge als Ausgleich für den Widerstand dienen, den man während des tatsächlich geschehenen Holocaust nicht hatte leisten können oder – schlimmer! –

209 Vgl. ebd., S. 426 und 438.

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nicht geleistet hatte (vgl. hierzu auch Ulrich Gottsteins Aussagen in Kapitel 3.1.3). Passenderweise lassen sich diesen beiden Subtext-Narrativen zwei divergierende Deutungsarten eines Hauptpunkts der Kontroverse um die Katastrophenmedizin, der Triage, zur Seite stellen: die in höchster Not und unter Aufbietung des gesamten persönlichen Könnens durchgeführte, lebensrettende im Fronteinsatz der Sanitätsoffiziere – und die den Menschen sozialdarwinistisch selektierende, mordende an der Rampe Auschwitz-Birkenaus.210 „Unser Eid auf das Leben verpflichtet zum Widerstand heißt es. Ich glaube, daß Widerstand gar nicht mal das richtige Wort ist. Es geht eher um Aufklärung“, gab Karsten Vilmar während der erwähnten Podiumsdiskussion des 4. Kongresses der bundesdeutschen IPPNW gegenüber Edith Schieferstein und anderen zu bedenken: Wer das Dritte Reich erlebt hat, weiß, was Widerstand ist und ich glaube, man tut denen Unrecht, die damals Widerstand geleistet haben, wenn man jetzt glaubt, dieses im Wohlstand vorgetragene Unbehagen, diese oppositionellen Gedanken seien mit dem Widerstand von damals vergleichbar. Heute tut das jeder ohne jedes Risiko. Und das ist der entscheidende Unterschied.211

Aus heutiger Perspektive mag eine solche Sichtweise überzeugen, suggeriert doch der historisch aufgeladene Begriff „Widerstand“ eine Art Abwehrkampf, welcher aus dem Munde wenig riskierender Ärztinnen und Ärzte den Eindruck fehlgeleiteter Hybris erwecken mochte. In Bezug auf das Jahr 1984 muss jedoch darauf hingewiesen werden, dass es die von Vilmar mehr konstatierte als eingeforderte „Aufklärung“ kaum gab. Der oft kolportierten These, die deutsche Ärzteschaft habe besonders spät damit begonnen, ihr eigenes Handeln während des Nationalsozialismus zu hinterfragen, muss dennoch widersprochen werden. Auch wenn man Michael Kater aus moralischen Gründen recht geben möchte bei seiner Skandalisierung des mindestens bis in die 1990er Jahre reichenden ausweichenden Verhaltens speziell der Bundesärztekammer212 – in Anbetracht chronologisch später beginnender Bemühungen z. B. der Historiker hierzulande relativiert sich mancher, isoliert betrachtet berechtigte Vorwurf über den ernüchternden Vergleich.213 Ob auf den Umstand

210 Zu letzterem Punkt vgl. explizit Hanauske-Abel, Medizin unter dem Nationalsozialismus, S. 63 sowie: Rainer Jogschies, betrifft: Ärzte gegen den Atomkrieg; ein Portrait des Friedensnobelpreisträgers. München1986, S. 122. 211 „Was können Ärzte gegen den Krieg tun?“: Zusammenfassung der Podiumsdiskussion von Thomas Klingenbiel, S. 287. 212 Vgl. Kater, Ärzte als Hitlers Helfer, S. 13–14, sowie insgesamt Kater, The Sewering Scandal of 1993 and the German Medical Establishment. 213 Als Startschuss entsprechender Debatten und tatsächlicher Selbstkritik wurde zumeist das Panel „Deutsche Historiker im Nationalsozialismus“ des 42. Deutschen Historikertags 1998 (!) ausgewie-

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zurückzuführen, dass Schuldige nicht gerne Schuld, Täter nicht gerne Taten zugeben, oder auf die mannigfaltigen Erwartungen vorgeblicher oder tatsächlicher „Enthüllungen“ in entsprechenden (Auftrags-)Arbeiten: Die nationalsozialistische Vergangenheit sowie die Untersuchung etwaiger Kontinuitätslinien in den Institutionen der Bundesrepublik erweist sich bis heute als unter Umständen kontroverses Unterfangen.214 Der deutschen Ärzteschaft mag in diesem Zusammenhang attestiert werden, dass der 1987 auf dem 90. Deutschen Ärztetag aufgenommene Versuch einer Thematisierung des NS-Unrechts durchaus weiterverfolgt wurde. Dort hatte Präsident Vilmar sich im Gegensatz zum Tenor seines vorherigen Interviews selbstkritischer gezeigt, seine Erschütterung gegenüber sich verbreitenden Hakenkreuzschmierereien zum Ausdruck gebracht und in einem Schlussplädoyer dargelegt, dass man aus der NS-Vergangenheit lernen müsse; „bewältigen“ könne man sie nie.215 In einem Bericht des Deutschen Ärzteblattes wurde konzediert, dass es keinesfalls nur „junge“ oder „linke“ Ärztinnen und Ärzte gewesen seien, die ein großes Interesse an dem Thema hätten.216 Auch wenn der Deutsche Ärztetag sich – wie dem stenografischen Wortbericht zu entnehmen ist – keineswegs einstimmig hinter dem Ziel einer verstärkten Aufarbeitung versammelte,217 stellten doch die Delegierten, die dies taten, klar die Mehrheit. Die anwesenden Ärztinnen und Ärzte der IPPNW konnten für sich reklamieren, dieses Mal der Majorität anzugehören, und sahen sich in einem Lager z. B. mit dem Katastrophenmediziner Reinhold

214

215 216 217

sen. Vgl. hierzu Winfried Schulze & Otto Oexle (Hrsg.), Deutsche Historiker im Nationalsozialismus. Frankfurt/M. 1999 sowie das Interviewprojekt „Fragen, die nicht gestellt wurden! oder Gab es ein Schweigegelübde der Zweiten Generation?“, siehe: Rüdiger Hohls, Fragen, die nicht gestellt wurden!: Interviews über die deutsche Geschichtswissenschaft in den 1950/60er Jahren zwischen Kontinuität und Aufbruch, 13.6.1999. Online unter: https://www.hsozkult.de/debate/id/diskussionen-255 (aufgerufen am 14.2.2019). Hierbei ist zunächst auf die heftig umstrittene Arbeit zur Geschichte des Auswärtigen Amtes zu verweisen: Vgl. Eckart Conze, Norbert Frei, Peter Hayes & Moshe Zimmermann, Das Amt und die Vergangenheit: Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik. München 2010; zur sich anschließenden Debatte: Christian Mentel, Die Debatte um „Das Amt und die Vergangenheit“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 32–34/2012, S. 38–46. Auf die Vielzahl kürzlich erschienener Auftragsarbeiten auf diesem Feld kann hier nicht eingegangen werden. Als Beispiele seien genannt: Manfred Görtemaker & Christoph Safferling, Die Akte Rosenburg: Das Bundesministerium der Justiz und die NS-Zeit. München 2016; sowie die zahlreichen Veröffentlichungen der Unabhängigen Historikerkommission zur Erforschung der Geschichte des Bundesnachrichtendienstes, 1945–1968, vgl. http://www.uhk-bnd.de/ (aufgerufen am 16.5.2021). Bundesärztekammer (Hrsg.), Stenografischer Wortbericht des 90. Deutschen Ärztetages, S. 442. Norbert Jachertz, Die Gnade des Verzeihens, S. B-1067, in: Deutsches Ärzteblatt 22/1987, B-1067–B1068. So wurde z. B. auch die Forderung nach einem „Schlussstrich“ geäußert, wenn auch nur vereinzelt. Vgl. Bundesärztekammer (Hrsg.), Stenografischer Wortbericht des 90. Deutschen Ärztetages, S. 429.

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Schultze, der von einer „Sternstunde“ des Ärztetags sprach.218 Dem angenommenen Beschluss, „das Thema Medizin und Nationalsozialismus in geeigneter Form weiter zu diskutieren und aufzuarbeiten“,219 kam der Vorstand zunächst mit einer auf ein Jahr angelegten, zumeist von Medizinhistorikern verfassten, 16-teiligen Artikelserie im Deutschen Ärzteblatt mit dem Titel „Medizin im Dritten Reich“ nach,220 welche später zusätzlich in Buchform publiziert wurde.221 Die Reihe wurde von einer Flut veröffentlichter Leserbriefe begleitet, wobei an dieser Stelle auf das überaus hohe, an die US-amerikanische Auslegung von free speech erinnernde Maß an Liberalität des Deutschen Ärzteblattes hingewiesen werden muss, welches selbst extreme Positionen ungefiltert abzudrucken schien, noch dazu stets unter Angabe von Name und Anschrift des jeweiligen Autors.222 Traurige Berühmtheit erlangten mehrere Leserbriefe des inzwischen längst behördenbekannten, rechtsextremen Arztes und Publizisten Rigolf Hennig, welcher die gesamte Reihe scharf kritisierte, vom problembehafteten Verhältnis „zwischen Juden und ihren jeweiligen Gastvölkern“ sowie dem „Unglück eines verlorenen Krieges“ sprach und später gar den Holocaust als „Überreaktion des Dritten Reiches beim Versuch, ein erkanntes Problem zu lösen“, bezeichnete.223 Die Veröffentlichung offen antisemitischer Parolen durch Hennig und einige andere wurde in weiteren Zuschriften – manche gar von Autoren der Reihe – ihrerseits aufs Schärfste verurteilt; die Redaktion selbst 218 Ebd., S. 435. 219 Jachertz, Die Gnade des Verzeihens, S. B-1068. 220 Im Folgenden werden die einzelnen Artikel des Deutschen Ärzteblattes aufgelistet; die Ausgabennummer bezieht sich stets hierauf, die römische Ziffer auf den Reihenteil. Gunter Mann, Biologismus: Vorstufen und Element einer Medizin im Nationalsozialismus (I), 17/1988, S. B-836–B-841; Gerhard Baader, Rassenhygiene und Eugenik (II), 27/1988, S. B-1357–B-1360; Friedrich Kümmel, Die „Ausschaltung“ (III), 33/1988, S. B-1568–B-1569; Hans-Peter Kröner, Die Emigration von Medizinern unter dem Nationalsozialismus (IV), 38/1988, S. B-1789–B-1793; Georg Lilienthal, Medizin und Rassenpolitik: Der „Lebensborn e. V.“ der SS“ (V), 44/1988, S. B-2129–B-2134; Peter Reeg, Deine Ehre ist die Leistung… (VI), 51-52/1988, S. B-2588–B-2594; Christiane Rothmaler, Zwangssterilisationen nach dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ (VII), 4/1989, S. B-123–B-126; Rolf Winau, Die Freigabe der Vernichtung „lebensunwerten Lebens“ (VIII), 7/ 1989, S. B-285–B-289; Eduard Seidler, Alltag an der Peripherie (IX), 9/1989, S. B-400–B-404; Klaus Dörner, Anstaltsalltag in der Psychiatrie und NS-Euthanasie (X), 11/1989, S. B-534–B-538; Gerhard Baader, Menschenversuche in Konzentrationslagern (XI), 13/1989, S. B-652–B-B-657; Michael Hubenstorf, Von der „freien Arztwahl“ zur Reichsärzteordnung (XII), 14/1989, S. B-726–B-B-730; Christian Pross, Die „Machtergreifung“ am Krankenhaus (XIV), 16/1989, S. B-821–B-825; Johanna Bleker & Heinz-Peter Schmiedebach (XV), Weiterhin ein Thema für Ärzte? (XV), 17/1989, S. B-870–B-872; Fridolf Kudlien, Bilanz und Ausblick (XVI), 17/1989, S. B-873–B-875. 221 Johanna Bleker & Norbert Jachertz (Hrsg.), Medizin im Dritten Reich. Köln 1989. 222 Wie auch in der allgemeinen Presse üblich, wurden die mir nur vereinzelt im Original vorliegenden Briefe oft gekürzt, in Sinngehalt und Wortwahl aber nicht maßgeblich verändert. 223 Rigolf Hennig, Zeitgemäß (Leserbrief), in: Deutsches Ärzteblatt 40/1988, S. B-1888 und ders., Ignoranz (Leserbrief), in: Deutsches Ärzteblatt 5/1989, S. B-172.

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rechtfertigte ihr Verhalten in einem eigenen Beitrag zur Leserdiskussion mit dem Argument, keine „scheinbare, tatsächlich aber nicht existierende Harmonie“ abbilden zu wollen.224 Aus Historikersicht offenbarte sich das Deutsche Ärzteblatt damit einmal mehr als hochinteressante Quelle, wenn auch das Werturteil gegenüber einer derartigen, wie auch immer gerechtfertigten Veröffentlichungspraxis anders ausfallen mag. Positive, teils bewegende Leserbriefe gab es im Übrigen auch: Der Psychiater Klaus Dörner – einer der Autoren – zeigte sich berührt ob der Danksagungen, die er persönlich erhalten habe und im versöhnlichen letzten Beitrag zur Reihe äußerte der in Neuseeland lebende Sohn eines während der NS-Zeit in Köln ermordeten Arztes, dass er die Fülle anteilnehmender Zuschriften kaum alle beantworten könne.225 Wo aber war die Katastrophenmedizin geblieben? Die Antwort fällt leicht, wenn man die Publikationspraxis der Verbandsschriften in Bezug auf die Medizinethik beachtet, welcher neben fachlichen und aktuellen berufspolitischen Themenfeldern stets nur ein begrenzter Raum zugestanden wurde. NS-Artikelserie, dutzende Leserbriefe, später auch Debatten um den richtigen Kurs einer „Wiedervereinigung“ der ost- und westdeutschen Ärzteschaften: Die Kontroverse um die Katastrophenmedizin, welche den innerärztlichen Dialog rund zehn Jahre lang dominiert hatte, musste vergleichsweise bekannt, abgeschlossen wirken. Die begonnene Thematisierung ärztlicher Verantwortung während des Nationalsozialismus mündete auf dem 92. Deutschen Ärztetag schließlich in ein stilles Gedenken der Delegierten an die Opfer des Holocaust: „Der Ärztetag verharrte schweigend.“226 Der in zahlreichen Texten zur Katastrophenmedizin enthaltene Subtext konnte sich damit – in Form bewusster Stille – als Text artikulieren. Die von vielen Ärztinnen und Ärzten empfundene Ohnmacht nicht nur hinsichtlich des theoretischen atomaren, sondern gerade auch gegenüber dem tatsächlichen Holocaust konnte unmittelbar zum Ausdruck gebracht werden und erforderte keinerlei metaphorische Umwege mehr. Jede Meistererzählung, nach der etwa die bundesdeutsche Sektion der IPPNW nie genuin am Atomkrieg, sondern stets nur an einer überfälligen Aufarbeitung der Vergangenheit interessiert gewesen sei, muss strikt zurückgewiesen werden. Die sich an den 90. Deutschen Ärztetag anschließende offene Thematisierung der vormals häufig am Rande problematisierten NS-Vergangenheit des eigenen Berufs

224 Norbert Jachertz, Vergangenheits„bewältigung“ in der Nußschale, in: Deutsches Ärzteblatt 13/1989, S. B-643. 225 Klaus Dörner, Schlußwort (Leserbrief), in: Deutsches Ärzteblatt 23/1989, S. B-1234. Ernst Philipp, Unglaubliche Reaktion (Leserbrief), in: Deutsches Ärzteblatt 3/1990, S. B-70. 226 92. Deutscher Ärztetag: Berliner Mischung, S. B-1064, in: Deutsches Ärzteblatt 20/1989, S. B1061–B-1064. Vgl. auch den auf dem 92. Deutschen Ärztetag gehaltenen, längeren Vortrag des Medizinhistorikers Richard Toellners: ders., Ärzte im Dritten Reich: „Nehmen wir die Last auf – die Last ist die Lehre“, in: Deutsches Ärzteblatt 33/1989, S. B-1617–B-1623.

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trug jedoch ihren Teil dazu bei, dass sich die Kontroversen um die Katastrophenmedizin verloren oder zumindest einen Teil ihrer vormaligen Schärfe einbüßten. Die gewohnten Chiffren – hier „Widerstand“, dort „unbesungene Helden“, insbesondere aber „atomarer Holocaust“ – verloren in Konfrontation mit den historischen Hintergründen an Überzeugungskraft.

5.

Schluss

Am Ende von The Day After sieht Dr. Russell Oakes ein, dass jeglicher Versuch, die Auswirkungen eines Atomkriegs zu „heilen“, vergeblich sein muss (vgl. Kapitel 1.1). Dennoch zeigt der Film auch Überlebende, die – primitiv natürlich und ohne Hoffnung auf einen echten Neubeginn – in den Ruinen des Krieges ausharren, so lange und so gut es irgend geht. Etliche Mitglieder der bundesdeutschen IPPNW-Sektion bewerteten The Day After daher zwiespältig und warfen ihm einen „Mangel an Eindeutigkeit“1 vor: Der „richtige“ Atomkrieg hatte eindeutig zu sein und keinerlei Hilfe mehr gestattend, für niemanden, nirgendwo. Gemeinsam mit weiten Teilen der europäischen Kritik bevorzugten sie eine andere, weniger „amerikanische“ Darstellung des Tags danach. Der ein Jahr nach The Day After erscheinende britische Fernsehfilm Threads2 schilderte die Auswirkungen des befürchteten Krieges um ein Vielfaches grausamer und zudem unter Berücksichtigung der in den 1980er Jahren boomenden Theorie des „Nuklearen Winters“.3 Threads ließ in Sachen Eindeutigkeit wenig vermissen: Der klägliche Rest der dargestellten, physisch und psychisch degenerierten Menschheit verlernt wenige Jahre nach dem geschilderten Atomkrieg sogar die Fähigkeit des Sprechens. Vielfach für seinen „Realismus“ gelobt, verweist Threads aus Sicht des Historikers darauf, wie sehr man sich auf Seite der Friedensbewegungen darum bemühte, das grundsätzlich Unbekannte als Eindeutiges zu imaginieren. Während Nicholas Meyer, der Regisseur von The Day After, später bekräftigte, seinen Film bewusst konventionell inszeniert zu haben, um insbesondere die vormals Indifferenten zu erreichen,4 zeigte Threads den bereits Überzeugten, was sie sehen wollten: Den Weltuntergang.5 Beide filmischen Darstellungen – The Day After und Threads – beschrieben katastrophische Szenarien, wie sie von zentralen Akteuren dieser Untersuchung häufig diskutiert wurden. Manche betonten dabei das ethische Gebot, auch im wenig aussichtsreichen Fall Hilfe zu leisten, notfalls bis zum bitteren Ende. Andere

1 Linde Wagner & Konstantin Westphal, „The Day After“, in: Rundbrief: Ärzte warnen vor dem Atomkrieg 9/1984, S. 46. 2 Mick Jackson (Regie), Threads. BBC 1984. 3 Vgl. Sibylle Marti, Nuklearer Winter – emotionale Kälte: Rüstungswettlauf, Psychologie und Kalter Krieg in den Achtzigerjahren, in: Silvia Berger Ziauddin, David Eugster & Christa Wirth (Hrsg.), Nach Feierabend 2017: Der Kalte Krieg; Kältegrade eines globalen Konflikts (Züricher Jahrbuch für Wissensgeschichte 13). Zürich 2017, S. 157–174. 4 Vgl. hierzu Anmerkung 4 in Kapitel 1.1. 5 Vgl. hierzu Philipp Gassert, Popularität der Apokalypse: Zur Nuklearangst seit 1945, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 46–47/2011, S. 48–54.

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wiederum beharrten darauf, dass die Verhinderung des Atomkriegs eine ultimative Alles-oder-Nichts-Entscheidung darstelle, bei der jegliche Nuancierung fehl am Platze sei. Der Prüfstein der Realität blieb den Akteuren – und uns allen – erspart. Gleichwohl zeitigten die jeweils unterschiedlichen Vorstellungen des Katastrophischen ihre eigenen Auswirkungen, welche im Folgenden anhand einer Beantwortung der in Kapitel 1.2 aufgeworfenen Leitfragen zusammengefasst und interpretiert werden sollen. Die erste Fragestellung bezog sich – passend zum kurzen Vergleich der beiden Fernsehfilme – auf den Charakter der von der bundesdeutschen Ärzteschaft angenommenen Katastrophenszenarien bzw. auf die jeweils konkreten Ausdeutungen des grundsätzlich offenen Katastrophenbegriffs. Wenig überraschend diente dieser in der jungen Bundesrepublik Deutschland zunächst als kaum verschleiernde Chiffre sowohl für den erlebten Zweiten Weltkrieg als auch für einen befürchteten Konflikt zwischen Warschauer Pakt und NATO, welchen das Sanitätswesen der Bundeswehr frühzeitig (und wenig hoffnungsvoll) als Atomkrieg imaginierte (vgl. hierzu Kapitel 2.1.3). Der professionellen Aggregation der Ärzteschaft war ein solcher, auf den Krieg bezogener Katastrophenbegriff zunächst dienlich, schuf er doch ein Arbeitsfeld, welches jeden Arzt tangieren musste und somit zivilen Ärzten ebenso offenstand wie den Arztsoldaten der Bundeswehr. Ganz im Sinne früher Ärztefunktionäre der Bundesrepublik wie Hans Neuffer oder Gustav Sondermann (vgl. Kapitel 2.1.1) sollte die hierdurch ermutigte zivil-militärische Kooperation abseits ihres fachlichen Ertrags auch einer abermaligen Aufspaltung der Ärzteschaft in Zivilisten und Militärs entgegenwirken. Ab den 1970ern, vor allem aber während der 1980er Jahre offenbarten sich jedoch neue professionsinterne Spannungen. Zivile, zumal technisch verursachte (Groß-)Katastrophen begannen in das Bewusstsein der Verantwortlichen zu rücken, von denen die mit Abstand wirkmächtigste der Reaktorunfall eines Atomkraftwerks war. Versuchte Ausweitungen des Katastrophenbegriffs auf „alle möglichen“ vorstellbare Szenarien – es sei an das All-hazards-Prinzip des Zivilschutzes erinnert – überlagerten sich mit dessen paralleler Nutzung als Euphemismus für den Krieg. Die konzeptionelle Uneinigkeit selbst der Protagonisten des entstehenden zivilmedizinischen Feldes der Katastrophenmedizin kollidierte schließlich mit einer ärztlichen Friedensbewegung, welche „Katastrophe“ (abermals) mit der Vorstellung eines totalen Atomkriegs gleichzusetzen suchte und hinter der seinerzeit von beiden Seiten forcierten zivil-militärischen Kooperation bewusst betriebene Militarisierungsbestrebungen vermutete. Vor dem Hintergrund einer sich entspannenden weltpolitischen Lage bei sich gleichzeitig öffentlichkeitswirksam zeigenden katastrophischen Auswirkungen der Hochtechnologie, aber auch im Zuge einer verstärkten Thematisierung der nationalsozialistischen Vergangenheit wandelte sich die berufsspezifische Nutzung des Katastrophenbegriffs erneut. Verschiedene Flügel der Ärzteschaft bemühten sich nach dem Höhepunkt entsprechender Kontroversen im

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Nachgang der Tschernobyl-Katastrophe 1986, den vermehrt als wenig zielführend wahrgenommenen innerprofessionellen Dissens zu überwinden (vgl. hierzu vor allem die Kapitel 4.3 und 4.4). Während sich die ärztliche Friedensbewegung verstärkt damit abfand, dass zumindest prinzipiell Szenarien vorstellbar waren, welche in ihrer Größenordnung zwischen Unfall und (Atom-)Krieg anzusiedeln seien, bemühten sich die meisten Katastrophenmediziner darum, den Krieg definitorisch von ihrem Tätigkeitsfeld fernzuhalten. Am Ende des Untersuchungszeitraums steht somit ein komplexer Katastrophenbegriff sowie die verstärkte Hinwendung zu einem gleichfalls komplexen Verständnis von Sicherheit.6 Als Zweites wurde in der vorliegenden Untersuchung nach den Auswirkungen der angenommenen Szenarien und sich hieran anschließender Maßnahmen auf die Institutionen und Verbände der bundesdeutschen Ärzteschaft gefragt. Hierbei muss zunächst das Entstehen zweier neuer Institutionen festgehalten werden: der Deutschen Gesellschaft für Katastrophenmedizin im Jahr 1980 (vgl. hierzu Kapitel 3.2.1) sowie der bundesdeutschen Sektion der International Physicians for the Prevention of Nuclear War im Jahr 1982 (vgl. hierzu Kapitel 3.1.2). Darüber hinaus verdankte auch das Sanitätswesen der Bundeswehr den angenommenen Szenarien zwar nicht seine Existenz, wohl aber seine konkrete Organisationsform inklusive kooperativer Kontakte mit spezialisierten ABC-Forschungseinrichtungen (vgl. Kapitel 2.1.2). Gerade diese verdeutlichen dabei, wie sehr die atomare Bedrohung auch mit der entstehenden Forschungslandschaft der Bundesrepublik (man denke etwa an das Helmholtz Zentrum) und damit dem „Wirtschaftsstandort Deutschland“ zusammenhing. Die im Haupttext erwähnten Institutionen erwiesen sich als langlebig. Die IPPNW und die DGKM bestehen fort, ergänzt um weitere Einrichtungen wie das Deutsche Institut für Katastrophenmedizin (vgl. Kapitel 4.7). Darüber hinaus gilt es, die jahrzehntelange Bearbeitung des Katastrophischen über spezialisierte, oft von Zivil- und Militärärzten gemeinsam besetzte Arbeitskreise zumal der Bundesärztekammer hervorzuheben (vgl. die Kapitel 2.2.4 und 3.2.3). Gemeinsam mit den genannten Neugründungen bestätigt gerade dieses Reagieren bereits bestehender Institutionen den Eindruck einer sich im Bereich des Katastrophischen während des Untersuchungszeitraums differenzierenden und spezialisierenden Ärzteschaft. Es mag sich die Frage anschließen, welche ggf. generalisierbaren Aussagen sich den hier paraphrasierten Institutionalisierungsprozessen entnehmen lassen. In diesem Zusammenhang scheint die Effektivität demokratisch organisierter (Berufs-) Verbände auffallend zu sein. So wurden in den genannten Einrichtungen teils extreme Positionen erörtert, welche sich jedoch über die Grenzen der eigenen peer

6 Vgl. hierzu die in Teilen ähnlich verlaufende Entwicklung der hauptamtlichen Zivilschutzbehörden, siehe: Diebel, Atomkraft und andere Katastrophen, S. 315–319.

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group hinaus kaum nennenswert verbreiten konnten. In späteren Debatten mit entsprechenden „Gegeninstitutionen“ schliffen sich kontroverse Sichtweisen weiter ab, bis sich mit dem – zugegeben, etliche Jahre später vorliegenden – Endresultat einer weitreichend zivilen, auf pragmatische Elemente beschränkten und mit der Notfallmedizin verknüpften Katastrophenmedizin die meisten Ärztinnen und Ärzte zumindest arrangieren konnten. Zu einer Spaltung des ärztlichen Kammerwesens kam es dabei wohl auch deswegen nicht, weil vielen führenden Akteuren das Risiko allzu langen und allzu offen ausgetragenen berufsinternen Konflikts explizit bewusst war. Selbst auf dem Höhepunkt entsprechender Kontroversen präsentierten sich die innerärztlichen Friktionen in historischer Betrachtung somit eher als Ausdruck der von Eliot Freidson identifizierten Autonomie individueller professionals im Kollegium, während die vertrauten Aggregationsinstrumente (z. B. Entschließungen der Deutschen Ärztetage) ihre Gültigkeit kaum je verloren (vgl. hierzu grundsätzlich Kapitel 1.5). Die professionssoziologische These einer berufsinternen Liberalität bei gleichzeitiger Schließung zur nicht-professionellen Sphäre hin erwies sich als durchaus treffend, was am Ende z. B. dazu führte, dass die Diskussion um die vierte Triagekategorie der „abwartenden Behandlung“ (vgl. Kapitel 2.1.4) – gegenwärtig auch als Kategorie „Schwarz“ bezeichnet – zwar nach wie vor andauert, allerdings (wieder) berufsintern. Die IPPNW erwies sich trotz ihres Minderheitsstatus als schlagkräftige Organisation, über die sich das junge Feld der Katastrophenmedizin zumindest nicht einfach hinwegsetzen konnte; die Wichtigkeit einer Problematisierung verwendeter Begriffe, die Evidenz der ethischen Dilemmata sowie die grundsätzliche Möglichkeit des Versagens jeglicher agency im Katastrophenfall wurden sicher auch aufgrund der IPPNW-Tätigkeit anerkannt und letztlich selbst genuiner Teil der eigenen Fachrichtung (man vergleiche hierfür etwa die Veränderungen des Leitfadens Katastrophenmedizin zwischen erster und fünfter Auflage, siehe Kapitel 3.2.2 und 4.7). Trotz divergenter Ansichten präsentierte sich die berufliche Organisation der Ärzteschaft insgesamt als äußerst effizient im zeitweiligen Zulassen und schlussendlichem Einhegen von Konflikten. Dies lässt sich auch daran ablesen, dass die Bundesärztekammer die Paracelsus-Medaille nicht nur 2009 an Ernst Rebentisch verlieh, sondern bereits ein Jahr zuvor an Horst-Eberhard Richter („sein mutiger Einsatz für Frieden und Gerechtigkeit ist mehr als vorbildlich“) und im Jahr 2011 schließlich auch an Ulrich Gottstein („sein Einsatz für den Frieden ist vorbildlich“),7 beides führende Ärzte der westdeutschen IPPNW und in Sachen Katastrophenmedizin Hauptkontrahenten Rebentischs. Gerade solche Akte scheinen beispielhaft zu sein für das Beharren der ärztlichen Profession und ihrer

7 Vgl. die offiziellen Laudationes: Paracelsus-Medaille für Horst-Eberhard Richter: Der unbequeme Impulsgeber, in: Deutsches Ärzteblatt 6/2008, S. 269 und Ulrich Gottstein: Mann mit Rückgrat, in: Deutsches Ärzteblatt 22/2011, S. A 1241.

Schluss

„Standesorganisationen“, in strittigen Fragen Mittel und Wege zur Schließung der eigenen Reihen zu finden – oder diese wenigstens rückwirkend zu konstruieren. Auf dritter, übergeordneter Ebene verfolgte diese Arbeit die Frage nach den Auswirkungen der von ärztlicher Seite imaginierten Szenarien auf das in der Bundesrepublik Deutschland vorherrschende (Ideal-)Bild des Arztberufs. Dabei ist zunächst dessen keineswegs nur in der Öffentlichkeit, sondern vor allem auch berufsintern in höchstem Maße moralisch aufgeladener Charakter festzustellen. Dies führte dazu, dass hinsichtlich der wünschenswerten Attribute einer „guten“ Ärztin bzw. eines „guten“ Arztes alternativen Ansichten meist wenig Toleranz entgegengebracht wurde, was sich an den wiederkehrenden Versuchen sämtlicher Parteien belegen lässt, der jeweiligen Gegenseite das „Arzttum“ abzusprechen. Die bundesdeutsche Sektion der IPPNW mag dabei zwar für sich in Anspruch nehmen, analog zu den allgemeinen Friedensbewegungen die grundlegende Mechanik des Kalten Krieges bzw. die Praxis der nuklearen Abschreckung hinterfragt zu haben; ihre regelmäßig den Ausschluss Andersdenkender intendierende Gesprächsführung unterschied sich hingegen kaum von der „konservativen“ Gegenseite – vielmehr übertraf sie diese noch an Polemik und Schärfe. In historischer Rückschau wirkt der teils erbittert geführte Streit um ärztliche Idealbilder zwischen vorwiegend „präventiv“ oder „kurativ“ tätigem, „psychiatrisch“ oder „somatisch“ orientiertem, „politischem“ und „unpolitischem“ Arzt gerade deshalb verwirrend, weil sich die grundsätzlichen Berufseinstellungen zwischen Sanitätsoffizieren, Kammern, Katastrophenmedizinern und „Friedensbewegten“ relativ wenig voneinander zu unterscheiden schienen. Dies soll keinesfalls implizieren, es habe keine Unterschiede gegeben. Das als erwünscht geltende Maß etwa, in dem sich Ärztinnen und Ärzte öffentlichkeitswirksam zu „allgemeinpolitischen Fragestellungen“ äußern sollten, kontrastierte durchaus entlang der Frontlinien, zumal zwischen Kammern und IPPNW. Gleichwohl muss betont werden, dass kaum jemand den IPPNW-Mitgliedern abzusprechen suchte, sich mit den Friedensbewegungen zu assoziieren; kritisiert wurde vielmehr, dass sie es mit ärztlicher Autorität, entgegengesetzt z. B. anderslautender Beschlüsse der Deutschen Ärztetage, taten. Auch an der Praxis der Triage mögen sich kontrastierende Berufsvorstellungen etwa der IPPNW und der führenden Katastrophenmediziner aufzeigen. Während Letztere trotz der bereits zu Beginn der 1960er Jahre von Wehrmedizinern wie Otfried Messerschmidt als beschränkt ausgewiesenen medizinischen Möglichkeiten in einem Atomkrieg daran festhielten, dass man sich dennoch so gut wie möglich auch auf diese Eventualität vorbereiten müsse (vgl. hierzu Kapitel 2.1.4), suchten Erstere über eine offen kolportierte Verweigerungshaltung öffentlichkeitswirksamen Druck auszuüben (vgl. vor allem Kapitel 3.1.3). Da aber auch die IPPNW-Mitglieder durchweg beteuerten, aktiv helfen zu wollen, falls es trotz all ihrer Bemühungen zu einem Krieg käme, kann auch in diesem Bereich von einem Gegensatz ärztlicher Ideale kaum gesprochen werden, wenngleich führende Katastrophenmediziner betonten, dass z. B. die Verweigerung

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Schluss

einer entsprechenden Ausbildung einer Verweigerung der Hilfe gleichkomme. Das durchaus an die Klischeevorstellung des „Halbgott in Weiß“ erinnernde Helferethos mancher Katastrophenmediziner wurde seitens der westdeutschen IPPNW in diesem und weiteren Zusammenhängen zu einem ähnlich paternalistisch anmutenden Belehrungsethos umgedeutet und die den Arztberuf auszeichnende Machtasymmetrie zwischen „wissendem“ Arzt und „unwissendem“, letztlich unmündig bleibendem Patienten nicht hinterfragt. Als wesentlichster Punkt, der wohl sämtliche in dieser Untersuchung genannten Ärztinnen und Ärzte einte, muss die fortwährende Bezugnahme zu einer je unterschiedlich konkretisierten, „überzeitlichen“ ärztlichen Ethik angeführt werden, welche aus Sicht des Historikers naturgemäß problematisch zu bewerten ist. Deren Existenz wurde nur selten hinterfragt8 und – ebenso wie die zumindest subkutan angenommene Superiorität ärztlicher gegenüber nicht-ärztlicher Ansichten – regelmäßig zur Überhöhung des eigenen Standpunkts in Stellung gebracht. Die Frage danach, warum Ärztinnen und Ärzte überhaupt qua Beruf einen moralisch hervorgehobenen Status – etwa im Vergleich zur Politik – einnähmen, wurde über alle weltanschaulichen Grenzen hinweg kaum gestellt, geschweige denn überzeugend beantwortet. Somit verbleibt als Erkenntnis, dass sich die ärztlichen Idealvorstellungen während des Untersuchungszeitraums dieser Arbeit als bemerkenswert stabil erwiesen, wenn auch ihre Ausdeutung durch unterschiedliche Gruppierungen in zahlreichen Details voneinander abwich. Der vierte Fragenkomplex schließlich sollte die Ärzteschaft in ihrem Verhältnis zu weiteren sicherheitspolitischen Akteuren in den Blick nehmen. Dieser wesentliche Aspekt scheint am Ende der vorliegenden Arbeit leicht und eindeutig zu beantworten. Ob Kammervertreter, Katastrophenmediziner oder die bundesdeutsche Sektion der IPPNW: Private bzw. nicht-staatliche Organisationen und Individuen wirkten in teils wechselhaften Konstellationen regelmäßig als machtvolle Akteure auf dem Feld der Sicherheitspolitik. Gerade das ausgesprochene Selbstbewusstsein, mit dem sich verschiedene Flügel der Ärzteschaft den demokratisch legitimierten Entscheidungsträgern gegenüber präsentierten, scheint dabei bemerkenswert, ebenso wie die professionsspezifische Verhaltensweise, sich eines „diagnostizierten“ Problems bei ausbleibender Unterstützung kurzerhand selbst anzunehmen. Der Staat erschien im Verlauf der vorliegenden Untersuchung keineswegs so machtvoll, wie es die in Kapitel 1.3 vorgestellten geistes- und gesellschaftswissenschaftlichen Ansätze tendenziell postulierten, im Gegenteil: Die Politik wurde durch die professionals einmal angetrieben, ein anderes Mal ausgebremst und zentrale Zielsetzungen

8 Als Beispiel eines Hinterfragens von Sinn und Zweck einer solchen Ethik vgl. z. B. Till Bastian, Medizin und Gewalt, in: Tübinger Ärzteinitiative gegen den Krieg (Hrsg.), Unser Eid auf das Leben verpflichtet zum Widerstand, S. 79–90.

Schluss

einzelner Ärztegruppen mochten ebenso häufig an anderen Privatakteuren (z. B. den Hilfsorganisationen) scheitern wie auf ministerieller Ebene. Allzu sehr auf einen letztlich unscharf definierten „Staat“ bezogenen Narrativen ist im Lichte solcher Befunde mit Skepsis zu begegnen. Stattdessen hat es sich für die vorliegende Arbeit als erkenntnisfördernd erwiesen, ein Handlungsfeld in den Blick zu nehmen, auf dem staatliche mit nicht-staatlichen Akteuren in Aushandlungsprozesse treten. Nicht-staatliche Akteure sollten zudem keinesfalls a priori positiver bewertet werden als staatliche;9 im Gegenteil müsste gerade von geschichtswissenschaftlicher Seite verstärkt versucht werden, das Konzept einer oft mit bestimmten politisch-ethischen Grundhaltungen (etwa bürgerlich, emanzipatorisch, liberal, „links“) verknüpften und als Gegensatz zum Staat präsentierten Zivilgesellschaft zu hinterfragen. Ansonsten laufen auch historische Untersuchungen mithin Gefahr, ein vorherrschendes Narrativ zu übernehmen, welches die ärztlichen Akteure dieser Arbeit einte: die Abneigung gegenüber „der Politik“. Hier schließt sich nun eine fünfte Fragestellung an, welche aus den Befunden dieser Untersuchung selbst erwächst und im Vorfeld nicht formuliert werden konnte: Woher stammt die nahezu sämtlichen geschilderten ärztlichen Akteuren gemeine Abneigung gegenüber der Politik? Deren Charakterisierung als chronisch fehleranfällig, als „schmutziges Geschäft“, von dem sich die Ärzteschaft so weit wie möglich fernhalten solle und zu deren „Subjektivität“ sie in „objektivem“ Gegensatz stehe, aus Sicht der IPPNW schließlich als Bereich, den man aktiv „medikalisieren“ müsse (vgl. zu beiden Sichtweisen grundlegend Kapitel 2.2.2), scheint abermals Parallelen aufzuweisen zu dem in Kapitel 1.3 dargelegten, überaus kritischen Blick der Geisteswissenschaften auf den Staat und seine Institutionen. „Politik ist nichts weiter als die Medizin im Großen.“10 – Dieses verkürzte Zitat des berühmten deutschen Pathologen Rudolf Virchow (1821–1902) findet sich u. a. als Kapitelüberschrift des die Ziele der IPPNW adelnden Buches betrifft: Ärzte gegen den Atomkrieg. An gleicher Stelle wird beklagt: „Noch immer werden die Ärzte gegen den Atomkrieg von den Medien weniger beachtet als Politiker.“11 Auf Virchow und sein obiges Zitat wurde während der im Mittelpunkt dieser Untersuchung stehenden Kontroversen gerne verwiesen, meist von Seite der ärztlichen Friedensbewegung, verstanden als Appell dafür, „politische Ärzte“ zu sein, teilweise aber auch von deren Kontrahenten. Solche Annäherungen von Medizin und Politik sowie, damit zusammenhängend, Vergleiche zwischen menschlichem und staatlichem „Körper“ reichen chronologisch weit zurück. Prominent bediente sich ihrer Platon in seinem Hauptwerk Politeia und auch die englische Metapher des body politic inklusive

9 Vgl. hierzu beispielsweise Gassert, Bewegte Gesellschaft. 10 Jogschies, betrifft: Ärzte gegen den Atomkrieg, S. 114. 11 Ebd., S. 123. Betonung im Original.

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Schluss

eines head of state verdankt sich derselben Tradition, ebenso wie die von den Nationalsozialisten verwendete Bezeichnung des „Volkskörpers“. Die Bedenken von auf individuelle und institutionelle Expertise verweisenden professionals gegenüber den „ewigen Laien“ des Politikbetriebs mögen oft genug sachlich gerechtfertigt sein. Der unter den analysierten Ärztezirkeln geradezu erschreckend verbreiteten Vorstellung, dass Ärztinnen und Ärzte aufgrund ihres Berufes „bessere“ Politikerinnen und Politiker seien, ist gleichwohl entgegenzutreten. Es muss daran erinnert werden, dass zumindest in einer pluralistischen Demokratie der „Körper“ stets „krank“ ist und dass von Versuchen, ihn mit womöglich invasiver Medizin „heilen“ zu wollen, nur abgeraten werden kann. Der seinerzeitige Geschäftsführer der bundesdeutschen IPPNW-Sektion, Till Bastian, brachte dies im Jahr 1984 treffend zur Sprache: Der Versuchung, als Ärzte quasi eine kranke Welt und unzurechnungsfähige Politiker therapieren zu wollen, sollten wir widerstehen. Sie wäre nicht weniger größenwahnsinnig als die Phantasie jener Standespolitiker, die glauben, auch nach dem nuklearen Bombenregen noch mit Notfallkoffer und Defibrillator helfend und heilend durch die verstrahlte Landschaft zu schreiten.12

Als Kontrast zu Bastians bemerkenswerter Aussage ist die bereits in Kapitel 3.1.2 problematisierte Sprache Horst-Eberhard Richters anzuführen, welcher die „Stärkepolitiker“ und „Technokraten“ als „ungesunde Träger einer ungesunden Politik“13 bezeichnete. Im Jahr 1986 hieß es in ähnlicher Manier an anderer Stelle: Damit wäre endgültig die Politik in die Medizin gekommen und nicht – wie eigentlich zu wünschen – die Politik durch die Medizin von einigen malignen Krankheiten erlöst.14

Es sei mein persönlicher Wunsch zum Ausdruck gebracht, dass die Politik in näherer Zukunft nicht „geheilt“ werde und das Politische seiner angedrohten „Erlösung“ – ob durch die Ärzteschaft oder sonstige wohlmeinende Gruppierungen – entgehen kann. Die professionelle jurisdiction in Sachen Demokratie haben das Parlament und letztlich die wählende Bevölkerung, welche inmitten des Systems der Professionen ihrerseits dazu aufgefordert ist, diese exklusive Zuständigkeit zu behaupten. Gleichwohl mögen die vorliegenden Untersuchungsergebnisse nachdenklich stimmen darüber, wie ubiquitär rein negative Darstellungen „der Politik“ über alle beruflichen und weltanschaulichen Lager hinweg verbreitet sind und wie wenig

12 Till Bastian, Medizin und Gewalt, S. 90. 13 Richter, Psychosoziale Medizin und Prävention von Militarisierungsbereitschaft, S. 97 14 Michael Steen, Keine Panikstimmung – Betroffenheit, in: klinikarzt 15/1986, S. 721.

Schluss

Wert man aus moralisierender Perspektive einer ihrer größten Leistungen beizumessen scheint: dem Interessenausgleich, notfalls auch über den „schmutzigen“ Kompromiss. Nicht ohne eine gewisse Ironie endet diese Arbeit, die eine Geschichte schwieriger berufsinterner Kompromissfindung vielleicht – wie viele historischen Narrative – allzu glatt erzählen musste, mit einem Plädoyer für eben dies: den Kompromiss, auch in Zeiten des Beleidigens und Beleidigt-Seins.

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Dank

Diesem Buch liegt meine Dissertation zugrunde, die im Sommersemester 2019 von der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln angenommen wurde. Zuallererst gilt mein Dank meinem Betreuer Prof. Ralph Jessen, der diese Arbeit über Jahre hinweg unterstützte und dessen konstruktive Kritik mir stets eine große Hilfe war. Bedanken möchte ich mich auch bei den weiteren Gutachtern, Prof. Jost Dülffer und Prof. Habbo Knoch, sowie bei allen Kolleginnen und Kollegen des Historischen Instituts der Universität zu Köln für zahlreiche Anregungen und ebenso willkommene Ablenkungen. Daneben danke ich der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die finanzielle Förderung sowie dem Kölner Gymnasial- und Stiftungsfond (Stiftung Prof. Dr. Anna Gisela Johnen) für die freundliche Unterstützung der abschließenden Publikation. Nur aufgrund einer breiten Quellenbasis konnte die vorliegende Untersuchung in der angemessenen Tiefe bearbeitet werden. Erfreulicherweise gewährten mir sämtliche angefragten ärztlichen Verbände die Einsicht in ihr Archivmaterial, allen voran die Bundesärztekammer, aber auch die Deutsche Sektion der IPPNW, das Deutsche Rote Kreuz, der Hartmannbund, die Deutsche Gesellschaft für Wehrmedizin und Wehrpharmazie sowie die Bayerische Landesärztekammer. Dafür danke ich ihnen ebenso wie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der von mir besuchten Archive, der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg sowie Billi Ryska von der Deutschen Gesellschaft für Katastrophenmedizin. Des Weiteren möchte ich mich bei denjenigen bedanken, die über vielfältige Gespräche und Kommentare zu dieser Arbeit beigetragen haben: Prof. Silvia Berger Ziauddin, Prof. Marie Cronqvist, Prof. Casper Sylvest und alle anderen Mitglieder der Arbeitsgruppe Transnational Histories of Civil Defense, Prof. Frank Biess, Dr. Nils Ellebrecht, Prof. Heiner Fangerau, Prof. Dominik Groß, Prof. Thomas Jäger, PD Dr. Claudia Kemper, Dr. Sebastian Rojek, Prof. Dietmar Süß sowie Dr. Dirk Freudenberg und Nikolaus Ziske vom Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe. Gesonderten Dank verdienen zudem Martin Schinken für die Beschaffung zusätzlicher Materialien, Dr. David Kröll für das Korrekturlesen des Manuskripts und Dr. Martin Diebel für unseren jahrelang andauernden, fruchtbaren Austausch. Die Arbeit an einer Dissertation kennt Höhen und Tiefen. Für ihre Unterstützung in beiden danke ich meiner Freundin, meinen Freunden und meiner Familie.

Abkürzungsverzeichnis

ABC a.D. AKW AMA ARD

Atomar, Biologisch, Chemisch außer Dienst Atomkraftwerk American Medical Association (USA) Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland ASB Arbeiter-Samariter-Bund e. V. BÄK Bundesärztekammer BArch Bundesarchiv BBK Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe BLÄK Bayerische Landesärztekammer BLSV Bundesluftschutzverband BMA Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung BMG Bundesministerium für Gesundheitswesen BMI Bundesministerium des Innern BMJFG Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit BMVg Bundesministerium der Verteidigung BRD Bundesrepublik Deutschland BSR Bundessicherheitsrat BVS Bundesverband für den Selbstschutz BzB Bundesamt für zivilen Bevölkerungsschutz BZS Bundesamt für Zivilschutz CDU Christlich Demokratische Union Deutschlands CSU Christlich-Soziale Union in Bayern DDR Deutsche Demokratische Republik DFG Deutsche Forschungsgemeinschaft DIFKM Deutsches Institut für Katastrophenmedizin DGKM Deutsche Gesellschaft für Katastrophenmedizin e. V. DGWMP Deutsche Gesellschaft für Wehrmedizin und Wehrpharmazie e. V. DM Deutsche Mark DPA Deutsche Presse-Agentur DRK Deutsches Rotes Kreuz e. V. EZSG Entwurf des Zivilschutzgesetzes FALLEX Fall Exercise (Herbstübung der NATO) FAZ Frankfurter Allgemeine Zeitung FCDA Federal Civil Defense Administration (USA)

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Abkürzungsverzeichnis

FDP FEMA FZH GesSG GG ICDO IfA IGFM IGKM INF InSan InspSan IPPNW JUH KatSErgG KatSG-68 KPdSU KT

Freie Demokratische Partei Federal Emergency Management Agency (USA) Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg Gesundheitssicherstellungsgesetz Grundgesetz International Civil Defense Organization Fraunhofer-Institut für Aerobiologie Internationale Gesellschaft für Menschenrechte Internationale Gesellschaft für Katastrophenmedizin Intermediate Range Nuclear Forces (Treaty) Inspektion des Sanitätswesens der Bundeswehr Inspekteur des Sanitätswesens der Bundeswehr International Physicians for the Prevention of Nuclear War Johanniter Unfallhilfe e. V. Katastrophenschutzergänzungsgesetz Katastrophenschutzgesetz von 1968 Kommunistische Partei der Sowjetunion Kilotonnen; nicht standardisierte Maßeinheit zur Angabe des sog. TNTÄquivalents an freigesetzter Energie bei einer Explosion KV Kassenärztliche Vereinigung LNA Leitender Notarzt MANV Massenanfall von Verletzten MdB Mitglied des Bundestages MHD Malteser Hilfsdienst e. V. NATO North Atlantic Treaty Organization NAV Verband der niedergelassenen Ärzte Deutschlands e. V. NS Nationalsozialismus, nationalsozialistisch NSDAP Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei PSR Physicians for Social Responsibility rem roentgen equivalent in man (Maßeinheit, veraltet) SA Sturmabteilung (NS) SACEUR Supreme Allied Commander Europe SanAkBw Sanitätsakademie der Bundeswehr SED Sozialistische Einheitspartei Deutschlands SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands SS Schutzstaffel (NS) START Strategic Arms Reduction Treaty Sv Sievert (Maßeinheit) SWF Südwestfunk THW Technisches Hilfswerk TU Technische Universität

Abkürzungsverzeichnis

UdSSR USA VDEW VdSO VS (-NfD)

Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, Sowjetunion United States of America Verband der Elektrizitätswirtschaft e. V. Vereinigung Deutscher Sanitätsoffiziere Verschlusssache (Geheimhaltungsstufen: NfD – Nur für den Dienstgebrauch, Vertraulich, Geheim, Streng Geheim) WDR Westdeutscher Rundfunk Köln WHO World Health Organisation WINTEX Winter Exercise (Winterübung der NATO) ZDF Zweites Deutsches Fernsehen ZDv Zentrale Dienstvorschrift ZSG Zivilschutzgesetz

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Quellen- und Literaturverzeichnis

Archivbestände Bestand der Bundesärztekammer (BArch, B 417). Bundesarchiv in Koblenz. Nutzung an die gewährte Erlaubnis der BÄK gebunden. Bestand des Bundesministeriums des Innern (BArch, B 106). Bundesarchiv in Koblenz. Bestand der Deutschen Gesellschaft für Wehrmedizin und Wehrpharmazie e. V. (DGWMP, BArch, BW 51). Bundesarchiv-Militärarchiv in Freiburg. Nutzung an die gewährte Erlaubnis der DGWMP gebunden. Bestand des Deutschen Roten Kreuzes (DRK). Generalsekretariat des DRK in Berlin. Nutzung an die gewährte Erlaubnis des DRK gebunden. Bestand des Hartmannbundes – Verband der Ärzte Deutschlands e. V. (BArch, B 389). Bundesarchiv in Koblenz. Nutzung an die gewährte Erlaubnis des Hartmannbundes gebunden. Bestand der Deutschen Sektion der IPPNW (FZH). Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg. Nutzung an die gewährte Erlaubnis der deutschen Sektion der IPPNW gebunden. Bestand der Sanitätsakademie der Bundeswehr (BArch-MA, BW 8–IV). BundesarchivMilitärarchiv in Freiburg. Bestand der Inspektion des Sanitätswesens der Bundeswehr (BArch-MA, BW 24). Bundesarchiv-Militärarchiv in Freiburg.

Periodika Eine individuelle Auflistung der Vielzahl verwendeter Artikel, insbesondere des Deutsches Ärzteblattes, wird im Folgenden aus Platzgründen unterlassen (vgl. hierfür die jeweiligen Angaben in den Anmerkungen). Aufgeführt werden lediglich die Zeitungs- und Zeitschriftentitel, auf deren Inhalte im Sinne historischer Quellen verwiesen wurde. Herausgeber wurden nur angegeben, sofern es sich dabei um Institutionen und Verbände handelt. Ärzte-Zeitung. Berlin u. a. 1982–. Ärztliche Mitteilungen. Hrsg. Bundesärztekammer und Kassenärztliche Bundesvereinigung. Köln 1949–1963. Fortgeführt als Deutsches Ärzteblatt. Arzt heute. München 1985–1986. Bayerisches Ärzteblatt. Hrsg. Bayerische Landesärztekammer. München 1946–.

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Bildnachweis

Abb. 1, 2:

Bilder aus: Nicholas Meyer (Regie), The Day After. ABC Circle Films 1983. Entnommen aus: Bill Geerhart, A Look Back at The Day After, 16.8.2010. Online unter: http://conelrad.blogspot.com/2010/08/nuclear-landscape-lookback-at-day.html (aufgerufen am 23.2.2019). Abb. 3: Rechercheresultat des Google Ngram-Viewers, online unter: https://books. google.com/ngrams (aufgerufen am 13.3.2019). Vgl. die Informationen im Text zur Erläuterung der verwendeten Suchkriterien. Abb. 4: Aufnahme von Ernst Rebentisch, Foto: SanAKBw. Der Internetseite der Gesellschaft für Geschichte der Wehrmedizin e. V. entnommen, online unter: http://ggwm.de/Website/Nachruf.php (aufgerufen am 13.3.2019). Abb. 5: Planübung an der SanAKBw, undatiert. BArch, BW 8–IV/14. Abb. 6: Tabelle 6.1., entnommen aus Otfried Messerschmidt, Auswirkungen atomarer Detonationen auf den Menschen: Ärztlicher Bericht über Hiroshima, Nagasaki und den Bikini-Fall-out. München 1960, S. 76. Abb. 7: Entwurf eines „Gemeinsamen Verletzten-Anhängers“. Anhang eines Statements von Heinz Contzen vom 16.2.1983. BArch, B 417/158. Abb. 8, 9, 10: Rechercheresultate des Google Ngram-Viewers, online unter: https://books. google.com/ngrams (aufgerufen am 13.3.2019). Vgl. die Informationen im Text zur Erläuterung der verwendeten Suchkriterien. Abb. 11: Ärzte-Initiativen und Kollegen (Hrsg.), Rundbrief: Ärzte warnen vor dem Atomkrieg 7/1983 (Cover). Abb. 12: Abb. 1 und 2 aus: Ernst Rebentisch, Handbuch der medizinischen Katastrophenhilfe. München-Gräfelfing 1988, S. 38. Abb. 13: Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (Hrsg.), Katastrophenmedizin: Leitfaden für die ärztliche Versorgung im Katastrophenfall. München 2010 (5. Auflage, 1. Auflage 1981). (Buchcover). Abb. 14: Aufnahme von Ernst Rebentisch. Entnommen aus: Ernst Rebentisch, The Combat History of the 23rd Panzer-Division in World War II. Mechanicsburg 2012, S. vii. Abb. 15: Aufnahme von Ernst Rebentisch. Entnommen aus: Ernst Rebentisch: Einsatz für die Katastrophenmedizin (Laudatio), in: Deutsches Ärzteblatt 21/2009, S. A 1059. Abb. 16: Aufnahme eines deutschen Sanitätsoffiziers im Zweiten Weltkrieg, Bildunterschrift im Original: „An unsung hero – A battalion physician at work“. Entnommen aus: Ernst Rebentisch, The Combat History of the 23rd PanzerDivision in World War II. Mechanicsburg 2012, S. 99.

Personenregister

A Ahnefeld, Friedrich Wilhelm 104 Ahrens, Wilhelm 153, 154, 159, 162, 252, 253, 256, 257 Ammermüller, Konrad 315 Aurand, Karl 151–153, 155 B Bastian, Gert 190 Bastian, Till 190, 199, 207, 214, 232, 237, 281, 291, 293, 296, 300, 342 Baum, Gerhart 163, 244 Bayer, Alfred 80, 83, 85, 118, 120 Bisa, Karl 75, 76 Bleker, Johanna 195 Bodi, Milan 157, 158 Bonhoeffer, Karl 212, 226, 288 Bourmer, Horst 141, 142 Brauer, Heinz-Peter 147, 168, 188, 278, 279 Brickenstein, Rudolph 172, 173, 178, 179 Britz, Herbert 130 C Chasov, Evgenij 186, 232–234, 237, 290, 291, 296, 298 D Degenhard, Bernhard 136 Deneke, J. F. Volrad 155, 156, 159–162, 166–168, 194, 195, 205, 224, 238, 251–254, 257, 306, 310 Domres, Bernd 219, 220, 223, 224, 310 Dörner, Fritz 97 Dörner, Klaus 333

E Eckel, Paul

128, 132, 150, 285

F Frey, Emil Karl 86, 87 Frey, Rudolf 155, 157, 172, 174, 177, 223, 226, 245, 253 Fromm, Ernst 50, 130 G Geiger, Jack 133 Glupe, Siegfried 77 Gorbačёv, Michail 183, 298, 302 Gottstein, Ulrich 187–189, 192–194, 199–202, 205, 207–209, 212–216, 219, 222, 225, 229, 235, 237–239, 242, 243, 252, 281, 291, 293–300, 309, 313, 315–317, 319, 320, 328–330, 338 Graul, Emil 150–154, 159, 160, 174, 250, 278, 279, 310 Groeschel, Kurt 62, 63, 65, 66, 68, 81, 87, 113, 123, 137, 138, 140, 152, 191, 248, 267, 305 Gross, Franz 127 Große-Ruyken, Franz-Josef 236, 239, 299, 300 H Haedenkamp, Karl 50 Hahn, Otto 129 Hanauske-Abel, Hartmut 202, 223, 326, 327 Heberer, Georg 240, 242 Heinemann, Gustav 123 Heisenberg, Werner 129 Heusinger, Adolf 64, 66, 67

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Personenregister

Hiatt, Howard 187, 188, 192 Hoppe, Jörg-Dietrich 51 Hövener, Barbara 190, 195, 204, 243 Huber, Antje 121, 149, 244 Huber, Ellis 231, 283, 285 Hübschmann, Wolfgang 157 J Joedicke, Theodor 66, 71 K Kahn, Herman 100, 101 Kater, Hermann 151–155, 161, 177, 220, 221, 253, 279, 330 Killian, Hans 64, 68, 71 Kirchhoff, Rainer 170, 171 Klepper, Odette 204, 237 Knuth, Peter 310 Koch, Helmut 199, 202, 205–207, 212–214, 219, 220, 234, 295, 297 Kohl, Helmut 182, 184, 262, 282 Kopelev, Lev 234 Koslowski, Leo 109, 125–127, 155, 156, 165, 169, 171–178, 219, 245, 246, 253, 310, 311 L Langendorff, Hanns 76, 99, 125 Linde, Hansjoachim 93, 169, 170, 212, 218, 227, 229, 253, 268 Lown, Bernard 134, 186, 189, 232, 290, 291, 298 M Mebel, Moritz 207 Messerschmidt, Otto 98–105, 107, 125, 141, 146, 155–157, 159, 162, 164, 165, 169, 171, 172, 174, 177, 178, 192, 216, 228, 245, 247, 280, 281, 310, 339 Mielke, Fred 50, 323 Milark, Paul 65

Mitscherlich, Alexander 50, 323, 324 Mitscherlich, Melitta 195 N Neuffer, Hans

59, 61, 63, 66–68, 191, 336

O Odenbach, Paul Erwin 145, 146, 148, 168, 172 Osterwald, Gustav 143, 168, 173, 174, 177, 216, 217, 227, 248, 278, 286, 287, 319, 320 Otto, Friedhelm 137, 152, 202 P Perksen, Niels 219 Peter, Klaus 240, 241 Pirkl, Fritz 170 Popović, Michael 202, 204, 209, 215, 227, 229, 230, 235, 236, 261, 310 Poppe, Hanno 154–156, 160, 161, 164–168, 174, 249, 250, 254 R Reagan, Ronald 182, 292, 302 Rebentisch, Ernst 70, 99, 113, 115–120, 122, 123, 141, 142, 147–149, 156, 159–161, 166–168, 172, 174, 177, 191, 192, 201, 202, 209, 223–231, 240–242, 246, 248–251, 253, 254, 256–258, 261, 264, 265, 267, 277, 280, 303–307, 309, 310, 312, 314–323, 325, 329, 338 Reber, Hans 172 Reichstein, Willy 134 Richter, Horst-Eberhard 190–193, 199, 202, 233, 235, 328, 338, 342 Röding, Hans 238, 286, 287 S Sácharov, Andréj 232–234 Schäfer, Friedrich 135 Schäuble, Wolfgang 313, 314

Personenregister

Schieferstein, Edith 218, 231, 286, 328, 330 Schily, Otto 190 Schmidt, Helmut 181, 182 Schultze, Reinhold 320, 332 Schweitzer, Albert 57, 130 Seelentag, [Vorname unbekannt] 161–165 Seidl, Aflred 122 Sewering, Hans Joachim 50, 51, 59, 170, 287, 295 Sidel, Victor 133 Sondermann, Gustav 59–62, 66, 87, 123, 139, 191, 267, 336 Sroka, Knut 199, 203, 219, 237 Stordeur, Kurt 246 Strauß, Josef 66

W Wachsmuth, Werner 251, 253 Wedel, Wilhelm 91, 114–116, 304 Weizsäcker, Carl Friedrich 80, 129, 291 Wolff, Hanns Peter 154, 160, 161, 168, 251, 253 Wörner, Manfred 149

T Trott, Klaus-Rüdiger

Z Zöllick, Horst

161, 162

V Vartanyan, Martan 234, 237 Vilmar, Karsten 51, 156, 168, 174, 188, 193, 196, 197, 209, 216, 217, 219, 220, 222, 228, 230, 236, 238, 276, 277, 280, 285, 287, 288, 294, 295, 303, 320, 326–331 Volf, Vladimir 162–164

146

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