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German Pages 223 [226] Year 2011
EDITION AKZENTE HANSER
978-3-446-23758-2
Denken, dem es
um
wirkliche Erkenntnis
geht, sucht die schwache Stelle der offiziel len Sprache. Der
Verdacht gegen das kon
venti onelle Argument
hält den Geist be
weglich. Karl Heinz Bohrer sucht am
Bei
spie l von Leitmotiven in Philosophie und Literatur das Originelle an ihnen zu entde cken. Der Verdacht gegen die führenden Ideen und den Begriff des Geistes ist der rote Faden seiner Abhandlungen und Vor lesungen der letztenJahre . Von den Außen seitern der mittelalterlichen Philosophie bis zum Diskurs der Modeme werden Denk konflikte als Machtkonflikte beobachtet. Aus dieser
Perspektive
fällt der Blick auch
auf ästhetische Phänomene, sei es der
George-Kreis, der Western oder Holocaust Phantasien.
..
Karl Heinz Bohrer, geb. 1932, ist Professor emeritus für Neuere deutsche Literaturge schichte an der Universität Bielefeld und seit 2003 Visiting Professor an der Stanford University. Seit 1984 ist er Herausgeber des MERKUR. Er lebt in London. Zuletzt ist er
schienen Das Tragische(2oog).
Unser gesamtes lieferbares Programm und viele andere Informationen finden Sie unter www.hanser-literarurverlage.de
ISBN 978·3-446· 23758·2
Edition Akzente Herausgegeben von Michael Krüger
Karl Heinz Bohrer Selbstdenker und Systemdenker Über agonales Denken
Carl Hanser Verlag
I
2
34
ISBN:
5
15
14 13 12 11
978-3-446-23758-2
Alle Rechte vorbehalten
© Carl Hanser Verlag München
20tl
Umschlag: Peter-Andreas Hassiepen, München, nach einem Reihenentwurfvon Klaus Detjen umer Venvendung des Gemäldes •Tod der Virginie• von Claudejoseph Vemet
(•714-1789). Eremitage, Petersburg
Satz: Memminger MedienCentrumAG, Memmingen Druck und Bindung: Friedrich Pustet. Regensburg Printed in Germany
Inhalt
Was heißt unabhängig denken?
7
Der Verdacht wider die Idee. Zum Konflikt zweier Modernen Moderne Diskontinuität. Der Moment als Funktion- der Moment als Substanz
55
Welche Macht hat die Philosophie heute noch?
69
Vernunft, Zeitlichkeit und Ästhetik. Aus Anlass vonjürgen Habermas' »Der philosophische Diskurs der Moderne«
8g
Agonales Denken. Über Kurt Flasch . . . . . . . . . . . . .
115
Kritik am Ende der Kulturkritik?
127
.. Deutscher Geist« als Sekte. Ulrich
Raulffs Stefan-George-Kreis
Sechs Szenen Achtundsechzig
. . . . . . . . . . . . . . . . .
149
Ritus und Geste. Die Begründung des Heldischen im Western
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
17 3
Eine Imagination des Bösen? . . . . . . . . . . . . . . . . . .
192
Nachweise
223
. . .. . . . .. . . .. . . . .. . . . . . . . . . . . . .
Was heißt unabhängig denken?
Die Formel »Unabhängigkeit des Denkens« ist ein e geläufig gewordene Qualifikation. Man ist geneigt, sofortsagen zu kön nen, was das ist- das Denken als Unabhängiges. Die Formel gehört z u jenen Attributen im intellektuellen Wertekanon, die wahrscheinlich jeder Intellektuelle gerne für sich selbst in Anspruch nimmt und die bei Laudationes das nächstlie gende Prädikat des zu Belobigenden ist: Was in Wirklichkeit ganz selten ist, wird gemeinhin als ganz kommun gehandelt. Wahrscheinlich liegt das daran, dass das Wort »unabhängig>logischer Wertur theile«, untergrabe, injenseits von
Gut undBöse ( 1886), w o die
erkenntniskritisch e Polemik gegen Kants Kritik deHeinen Ver
nunft und den nachfolgenden
deutschen Idealismus mit b e
sonders sardonischer Schärfe formuliert ist1 , gilt der Arg wohn der philosophischen Begründung der »MOral«.2 Ob >>Verdacht>Argwohn« - angekündigt wird das Projekt einer Entlarvung der Prätentionen der idealistischen Philoso phie der Letztbegründung, der Annahme, unsere morali schen und erkenntnishaften Urteile lägen in einem letzten Grunde. Es ist wohlverstanden eine »Hermeneutik des Ver dachts«, weil am Anfang von Nietzsches Verdacht-Terminolo gie das Ethos des Philologen, sein Interesse für die Genealo gie von Texten steht.3 Dies im Hintergrund, ist nun zurückzukommen auf die »Neue Mythologie>Wahrheitssinn des Künstlers« sei nur schwach ausgebildet, er habe »in Hinsicht auf das Erkennen der Wahr heiten eine schwächere Moralität, als der Denkerintellectualen Charakter>tiefsinni gen DeutungenNominalistVerkehrung systematischer Pläne« als Endphase einer »iro 2 nistischen Theorie« zu beglaubigen. Entscheidend ist auch wenn nicht alle Beispiele Rortys einleuchten -, dass der systematischen Philosophie abgesagt wird im Namen ei ner neuen Sprache des Denkens. Dabei machte Rorty zwi schen Dichtern und D enkern keinen Unterschied, insofern sie das Kriterium erfüllen: die Kapazität einer neuen Spra che. Dann geraten Nietzsche, Proust und Hege! in die glei che »literarische« Reihe. Denn die Phänomenologie des Geistes wird als ironistische Theorie verstanden, also als eine Über holung der kognitiv-metaphysischen Elemente der Philo sophie. Rorty hat unsere Frage klar beantwortet: »Der Aufstieg der Literaturkritik an die führende Stelle in der demokratischen .
1 Richard Rorty, Kontingenz, Ironie u.nd Solidarität, übersetzt von Christa
Krüger, Frankfurt a. M. 2 Aa.O., S.
207f.
1g8g, S. 203, Anm. 4·
Hochkultur - die allmähliche, nur halbbe\'rosste Übernahme der
kulntrellen Rolle, auf die vorher zuerst die Religion, da und dann die Philosophie An spruch erhoben hatten -ging mit dem Steigen des Anteils der nach die Naturwissenschaft
Ironikerinnen im Vergleich zu den Metaphysikern unter den
Intellektuellen einher.« 1 IsLdie Frage aber so zu beantworten? Alsjürgen Habermas zum Tode des Freundes in Stanford 2007 die Abschiedsrede hielt, ging er mit ,keinem Wort auf diese Frage ein. Warum sollte er auch? Er hatte ja buchstäblich das letzte Wort. Und das wird überall sehr gehört. Allerdings: vornehmlich und vor allem in Fällen der öffentlichen Moral und der Politik. Diese polirische Rede des Philosophen aber würde das zu Ein gang genannte Gesetz von Platons Siebtem Briefnicht überste hen. Bei unserer Frage nach der verlorengegangenen Macht der Philosophie spielte Nietzsche die zentrale Rolle. Haber mas h at dessen Denken und Argumente mehrfach scharf hin terfragt und gemeint Nietzsche außerhalb des relevanten Diskurses setzen zu können 2 Das muss ein anderer Grund da für sein, dass er zu Rorty als Leser Nietzsches njchrs sagen zu müssen glaubte und Rorty mehr oder weniger in der Reihe system atischen Denkens ansprach. Damit wich der systemati sche Philosoph Habermas der Infragestellung der systemati ,
.
schen Philosophie durch Rorty aber aus, wenn auch aus ei nem Anlass, der Takt und Konsens empfahl, nicht Kritik und Dissens. Die Frage nach der Relevanz der systematischen Phi losophie hat heute vom Fall der öffentlichen Verantwortlich
abzusehen, wilI sie nicht in die banale Se systematische Philosophen bezüglich ihres systematischen Denkens aber sonst ant:worten? Vielleicht träte bei dieser unbeantwortet gebliebenen Fra ge am Ende doch die amerikanisch e polirische Philosophie in keit der Philosophie
mantik der Tagespolitik geraten. Was könn ten
• A. a. 0., S. 141.
2 Hierzu S.
86
100 dieses Buches.
die Schranken: vor allemjohn Rawls und auch Charles Taylor, und sicherlich auch einige
justice ( 197 1 /75) könmen das
ihrer Schüler. Rawls' A Theory of
und Taylors
The Ethics ofAuthenticity ( 199 1 )
zu Anfang aufgestellte Gesetz des Siebten Brieft
Platons umstandslos
aufheben. Denn was ist es anderes, was
sie tun, als die aktuelle Politik und die einflussreiche Öffent lichkeit mit prinzipiellen Gedanken zu konfrontieren und dabei sogar gehört und verstanden zu werden? Das ist, so scheint es, etwas anderes, als wenn Karl Popper einen hoch intelligenten Bundeskanzler die Prinzipien der
Offenen Gesell schaft verstehen lässt. Poppers politische Kritik an Platons Staat war Kulturkritik, keine Philosophie. Taylors und vor allem Rawls' Werk hingegen ist von allerhöchster philoso phisch-theoretischer Relevanz und gleichzeitig von enormer öffentlicher Bedeutung im amerikanischen geistigen Kos mos. Weil sie Amerikaner sind und deshalb die Poli.teia ernster nehmen als ihre frivolen kontinentaleuropäischen Kollegen, hat man
ihrem Denken wohl doch das Attribut von Mächtig zuzugestehen. Aber: Ist es wirklich Philosophie oder nichtdoch eher »political science>moral agents« genommen werden können, muss für den modernen Zuschauer ein anderer Identifika tionsgrund da sein, der in einer Schwäche und nicht in einer Stärke liegt. Schon der homerische Held zeigt solche Schwä chen, und Siegfrieds Unattraktivität liegt in seiner Stärke. Was wäre diese Schwäche? Die Anto.vort ist in der Darstellungsform selbst zu suchen: Im Duell ist der Held, in welchem Kontext er vorher auch ge standen haben mochte, völlig allein und ohne Botschaft. Die se buchstäbliche Isolation ist zwar vielfältig gebrochen zu er kennen: In
High Noon steht die Frau
dem Bedrohten im letz
ten Augenblick zur Seite, am Ende des Duells in und
Stagecoach wird
Clementine
ein neues Leben in Aussicht gestellt -
nicht wesentlich für das Image des Helden ist also der tödli che Ausgang. Dazu gehört auch, dass das Prinzip der Fairness beim Duell nicht strikt eingehalten wird. Auszuschließen ist der Schuss in der Rücken, obwohl selbst dieser zweimal in Ri
ver ofNo Return gerechtfertigt wird. Aber es gibt doch noch an-
dere Möglichkeiten der Vorteilsbeschaffung. In El Dorado wird das sogar kommentiert: Der den Gegner überraschende, seinerseits verwundete Wayne antwortet auf dessen letzten Satz, warum er ihm denn keine Chance gegeben habe: »Dazu
bist du zu gut.>TraumSchreckens«. Die Poin te dabei ist nicht, dass die nationalsozialistisch vielseitig mo tivierten Täter aufgehoben werden sozusagen in einer ver antwortungsfreien Zone des generellen Zusammenbruchs menschlicher Humanität. Die Darstellung des Schreckens
203
zielt vielmehr auf die Porosität dieser Humanität, genauer auf eine unheimhche Unausdenkbarkeil ihrer Übertretung durch Menschen, die von Hause aus keine Sadisten oder Kriminelle sind. Das ist zweifellos eine anthropologische und
moralpsychologische Pointe, die der politisd1e Soziologe zurückweisen mag. Sie ist aber ein absolut zulässiges Argu ment des imaginativen Romangeistes, der es einmal, hierin vergleichbar den französischen Moralisten, unternimmt, her kömmliche Übereinstimmungen der moralischen Vernunft in Frage zu stellen. Zum andern aber wird die Unausdenkbar keit als das Imaginäre thematisiert. Deshalb - das hat als zentrale Einsicht in die Darstellung des Schreckens als Phantasma und nicht als Dokument zu gel ten - tritt der Schrecken nicht mimetisch-expressiv, sondern reflexiv-symbolisch auf. Schon die ersten Erwähnungen und Beschreibungen der Exekutionenjüdischer Einwohner oder die Hinrichtung zweier kommunistischer Funktionäre ent behrenjeder auskostenden Expressivität. Die erbarmungslo se Aufrufung der physisch und psychisch-moralisch Ekel pro vozierenden Details, sei es das im Tode noch e:iakulierende Glied eines Gehenken t oder die den Todesschützen ins Ge sicht spritzende Hirnmasse, sind als repräsentative Gesten ei nes Vorgangs genannt, den unser Alltagsbewusstsein nicht aufzunehmen bereit ist und der deshalb gemeinhin »mora lischvu.sstseins aus. Das steigert sich in der Darstellung der »großen Aktion>furchtbare(r) Hymnus zu Ehren des unentrinnbaren Schick sals und des unheilbaren Schmerzes«2, darauf verweisend, dass diese Malerei nur aus »Verwüstung, Gemetzel, Feuers brünsten« bestünde. Sie stellte ein Zeugnis dar von der »ewi gen und unverbesserlichen Barbarei des Menschen«. Nid1t jede malerische Darstellung von Krieg und Gemetzel ließe sich so charakterisieren. Rubens' allegorisches Bild DieFolgen
des Krieges enthalten die eindeutige Botschaft, dass der Krieg einen furchtbaren Zivilisationsbruch darstellt, der zu verhin dern wäre. Dass vor allem die Maler der Renaissance und des Barock gleichwohl qua Kriegsthematik ein für sie entschei dendes ästhetisches Prinzip, nämlich das der heftigen Bewe gung, verfolgten, ist im Zusammenhang von Delacroix' Stil festzuhalten. Schiller, der unverdächtige Kronzeuge Nietzsches für das Imaginative der Tragödienanschauung, hat in
Gedanken über
den Gebrauch des Gemeinen und Niedrigen in der Kunst für die äs thetische Lizenz der Darstellung des gemeinen »Bösen« so gar die Formel gefunden, die unser Problem noch unmittel barer erklärt: Das Niedrige im Schrecken könne durchaus dargestellt werden, müsse aber »ins Furchtbare übergehn«, 1
Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke in IJ Bänden, hrsg. von G. Colli und M. Montinari, München/Berlin/NewYork 1967-71, Bd. 1, S. 141;
2
Charles Baudelaire, Sämtliche Werke/Briefe in 8 Bänden, hrsg. von Fried helm Kemp und Ciaude Pichois, in Zusammenarbeit mit Wolfgang Dom, München 1992, Bd. 7, S. 289.
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um die >>augenblickliche Beleidigung des Geschmacks« durch die ••starke Beschäftigung des AffektsÄsthetik« und »das Böse