Karl Heinz Bohrer
 9783446237582

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EDITION AKZENTE HANSER

978-3-446-23758-2

Denken, dem es

um

wirkliche Erkenntnis

geht, sucht die schwache Stelle der offiziel­ len Sprache. Der

Verdacht gegen das kon­

venti onelle Argument

hält den Geist be­

weglich. Karl Heinz Bohrer sucht am

Bei­

spie l von Leitmotiven in Philosophie und Literatur das Originelle an ihnen zu entde­ cken. Der Verdacht gegen die führenden Ideen und den Begriff des Geistes ist der rote Faden seiner Abhandlungen und Vor­ lesungen der letztenJahre . Von den Außen­ seitern der mittelalterlichen Philosophie bis zum Diskurs der Modeme werden Denk­ konflikte als Machtkonflikte beobachtet. Aus dieser

Perspektive

fällt der Blick auch

auf ästhetische Phänomene, sei es der

George-Kreis, der Western oder Holocaust­ Phantasien.

..

Karl Heinz Bohrer, geb. 1932, ist Professor emeritus für Neuere deutsche Literaturge­ schichte an der Universität Bielefeld und seit 2003 Visiting Professor an der Stanford University. Seit 1984 ist er Herausgeber des MERKUR. Er lebt in London. Zuletzt ist er­

schienen Das Tragische(2oog).

Unser gesamtes lieferbares Programm und viele andere Informationen finden Sie unter www.hanser-literarurverlage.de

ISBN 978·3-446· 23758·2

Edition Akzente Herausgegeben von Michael Krüger

Karl Heinz Bohrer Selbstdenker und Systemdenker Über agonales Denken

Carl Hanser Verlag

I

2

34

ISBN:

5

15

14 13 12 11

978-3-446-23758-2

Alle Rechte vorbehalten

© Carl Hanser Verlag München

20tl

Umschlag: Peter-Andreas Hassiepen, München, nach einem Reihenentwurfvon Klaus Detjen umer Venvendung des Gemäldes •Tod der Virginie• von Claudejoseph Vemet

(•714-1789). Eremitage, Petersburg

Satz: Memminger MedienCentrumAG, Memmingen Druck und Bindung: Friedrich Pustet. Regensburg Printed in Germany

Inhalt

Was heißt unabhängig denken?

7

Der Verdacht wider die Idee. Zum Konflikt zweier Modernen Moderne Diskontinuität. Der Moment als Funktion- der Moment als Substanz

55

Welche Macht hat die Philosophie heute noch?

69

Vernunft, Zeitlichkeit und Ästhetik. Aus Anlass vonjürgen Habermas' »Der philosophische Diskurs der Moderne«

8g

Agonales Denken. Über Kurt Flasch . . . . . . . . . . . . .

115

Kritik am Ende der Kulturkritik?

127

.. Deutscher Geist« als Sekte. Ulrich

Raulffs Stefan-George-Kreis

Sechs Szenen Achtundsechzig

. . . . . . . . . . . . . . . . .

149

Ritus und Geste. Die Begründung des Heldischen im Western

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17 3

Eine Imagination des Bösen? . . . . . . . . . . . . . . . . . .

192

Nachweise

223

. . .. . . . .. . . .. . . . .. . . . . . . . . . . . . .

Was heißt unabhängig denken?

Die Formel »Unabhängigkeit des Denkens« ist ein e geläufig gewordene Qualifikation. Man ist geneigt, sofortsagen zu kön­ nen, was das ist- das Denken als Unabhängiges. Die Formel gehört z u jenen Attributen im intellektuellen Wertekanon, die wahrscheinlich jeder Intellektuelle gerne für sich selbst in Anspruch nimmt und die bei Laudationes das nächstlie­ gende Prädikat des zu Belobigenden ist: Was in Wirklichkeit ganz selten ist, wird gemeinhin als ganz kommun gehandelt. Wahrscheinlich liegt das daran, dass das Wort »unabhängig>logischer Wertur­ theile«, untergrabe, injenseits von

Gut undBöse ( 1886), w o die

erkenntniskritisch e Polemik gegen Kants Kritik deHeinen Ver­

nunft und den nachfolgenden

deutschen Idealismus mit b e­

sonders sardonischer Schärfe formuliert ist1 , gilt der Arg­ wohn der philosophischen Begründung der »MOral«.2 Ob >>Verdacht>Argwohn« - angekündigt wird das Projekt einer Entlarvung der Prätentionen der idealistischen Philoso­ phie der Letztbegründung, der Annahme, unsere morali­ schen und erkenntnishaften Urteile lägen in einem letzten Grunde. Es ist wohlverstanden eine »Hermeneutik des Ver­ dachts«, weil am Anfang von Nietzsches Verdacht-Terminolo­ gie das Ethos des Philologen, sein Interesse für die Genealo­ gie von Texten steht.3 Dies im Hintergrund, ist nun zurückzukommen auf die »Neue Mythologie>Wahrheitssinn des Künstlers« sei nur schwach ausgebildet, er habe »in Hinsicht auf das Erkennen der Wahr­ heiten eine schwächere Moralität, als der Denkerintellectualen Charakter>tiefsinni­ gen DeutungenNominalistVerkehrung systematischer Pläne« als Endphase einer »iro­ 2 nistischen Theorie« zu beglaubigen. Entscheidend ist auch wenn nicht alle Beispiele Rortys einleuchten -, dass der systematischen Philosophie abgesagt wird im Namen ei­ ner neuen Sprache des Denkens. Dabei machte Rorty zwi­ schen Dichtern und D enkern keinen Unterschied, insofern sie das Kriterium erfüllen: die Kapazität einer neuen Spra­ che. Dann geraten Nietzsche, Proust und Hege! in die glei­ che »literarische« Reihe. Denn die Phänomenologie des Geistes wird als ironistische Theorie verstanden, also als eine Über­ holung der kognitiv-metaphysischen Elemente der Philo­ sophie. Rorty hat unsere Frage klar beantwortet: »Der Aufstieg der Literaturkritik an die führende Stelle in der demokratischen .

1 Richard Rorty, Kontingenz, Ironie u.nd Solidarität, übersetzt von Christa

Krüger, Frankfurt a. M. 2 Aa.O., S.

207f.

1g8g, S. 203, Anm. 4·

Hochkultur - die allmähliche, nur halbbe\'rosste Übernahme der

kulntrellen Rolle, auf die vorher zuerst die Religion, da­ und dann die Philosophie An­ spruch erhoben hatten -ging mit dem Steigen des Anteils der nach die Naturwissenschaft

Ironikerinnen im Vergleich zu den Metaphysikern unter den

Intellektuellen einher.« 1 IsLdie Frage aber so zu beantworten? Alsjürgen Habermas zum Tode des Freundes in Stanford 2007 die Abschiedsrede hielt, ging er mit ,keinem Wort auf diese Frage ein. Warum sollte er auch? Er hatte ja buchstäblich das letzte Wort. Und das wird überall sehr gehört. Allerdings: vornehmlich und vor allem in Fällen der öffentlichen Moral und der Politik. Diese polirische Rede des Philosophen aber würde das zu Ein­ gang genannte Gesetz von Platons Siebtem Briefnicht überste­ hen. Bei unserer Frage nach der verlorengegangenen Macht der Philosophie spielte Nietzsche die zentrale Rolle. Haber­ mas h at dessen Denken und Argumente mehrfach scharf hin­ terfragt und gemeint Nietzsche außerhalb des relevanten Diskurses setzen zu können 2 Das muss ein anderer Grund da­ für sein, dass er zu Rorty als Leser Nietzsches njchrs sagen zu müssen glaubte und Rorty mehr oder weniger in der Reihe system atischen Denkens ansprach. Damit wich der systemati­ sche Philosoph Habermas der Infragestellung der systemati­ ,

.

schen Philosophie durch Rorty aber aus, wenn auch aus ei­ nem Anlass, der Takt und Konsens empfahl, nicht Kritik und Dissens. Die Frage nach der Relevanz der systematischen Phi­ losophie hat heute vom Fall der öffentlichen Verantwortlich­

abzusehen, wilI sie nicht in die banale Se­ systematische Philosophen bezüglich ihres systematischen Denkens aber sonst ant:worten? Vielleicht träte bei dieser unbeantwortet gebliebenen Fra­ ge am Ende doch die amerikanisch e polirische Philosophie in keit der Philosophie

mantik der Tagespolitik geraten. Was könn ten

• A. a. 0., S. 141.

2 Hierzu S.

86

100 dieses Buches.

die Schranken: vor allemjohn Rawls und auch Charles Taylor, und sicherlich auch einige

justice ( 197 1 /75) könmen das

ihrer Schüler. Rawls' A Theory of

und Taylors

The Ethics ofAuthenticity ( 199 1 )

zu Anfang aufgestellte Gesetz des Siebten Brieft

Platons umstandslos

aufheben. Denn was ist es anderes, was

sie tun, als die aktuelle Politik und die einflussreiche Öffent­ lichkeit mit prinzipiellen Gedanken zu konfrontieren und dabei sogar gehört und verstanden zu werden? Das ist, so scheint es, etwas anderes, als wenn Karl Popper einen hoch­ intelligenten Bundeskanzler die Prinzipien der

Offenen Gesell­ schaft verstehen lässt. Poppers politische Kritik an Platons Staat war Kulturkritik, keine Philosophie. Taylors und vor allem Rawls' Werk hingegen ist von allerhöchster philoso­ phisch-theoretischer Relevanz und gleichzeitig von enormer öffentlicher Bedeutung im amerikanischen geistigen Kos­ mos. Weil sie Amerikaner sind und deshalb die Poli.teia ernster nehmen als ihre frivolen kontinentaleuropäischen Kollegen, hat man

ihrem Denken wohl doch das Attribut von Mächtig­ zuzugestehen. Aber: Ist es wirklich Philosophie oder nichtdoch eher »political science>moral agents« genommen werden können, muss für den modernen Zuschauer ein anderer Identifika­ tionsgrund da sein, der in einer Schwäche und nicht in einer Stärke liegt. Schon der homerische Held zeigt solche Schwä­ chen, und Siegfrieds Unattraktivität liegt in seiner Stärke. Was wäre diese Schwäche? Die Anto.vort ist in der Darstellungsform selbst zu suchen: Im Duell ist der Held, in welchem Kontext er vorher auch ge­ standen haben mochte, völlig allein und ohne Botschaft. Die­ se buchstäbliche Isolation ist zwar vielfältig gebrochen zu er­ kennen: In

High Noon steht die Frau

dem Bedrohten im letz­

ten Augenblick zur Seite, am Ende des Duells in und

Stagecoach wird

Clementine

ein neues Leben in Aussicht gestellt -

nicht wesentlich für das Image des Helden ist also der tödli­ che Ausgang. Dazu gehört auch, dass das Prinzip der Fairness beim Duell nicht strikt eingehalten wird. Auszuschließen ist der Schuss in der Rücken, obwohl selbst dieser zweimal in Ri­

ver ofNo Return gerechtfertigt wird. Aber es gibt doch noch an-

dere Möglichkeiten der Vorteilsbeschaffung. In El Dorado wird das sogar kommentiert: Der den Gegner überraschende, seinerseits verwundete Wayne antwortet auf dessen letzten Satz, warum er ihm denn keine Chance gegeben habe: »Dazu

bist du zu gut.>TraumSchreckens«. Die Poin­ te dabei ist nicht, dass die nationalsozialistisch vielseitig mo­ tivierten Täter aufgehoben werden sozusagen in einer ver­ antwortungsfreien Zone des generellen Zusammenbruchs menschlicher Humanität. Die Darstellung des Schreckens

203

zielt vielmehr auf die Porosität dieser Humanität, genauer auf eine unheimhche Unausdenkbarkeil ihrer Übertretung durch Menschen, die von Hause aus keine Sadisten oder Kriminelle sind. Das ist zweifellos eine anthropologische und

moralpsychologische Pointe, die der politisd1e Soziologe zurückweisen mag. Sie ist aber ein absolut zulässiges Argu­ ment des imaginativen Romangeistes, der es einmal, hierin vergleichbar den französischen Moralisten, unternimmt, her­ kömmliche Übereinstimmungen der moralischen Vernunft in Frage zu stellen. Zum andern aber wird die Unausdenkbar­ keit als das Imaginäre thematisiert. Deshalb - das hat als zentrale Einsicht in die Darstellung des Schreckens als Phantasma und nicht als Dokument zu gel­ ten - tritt der Schrecken nicht mimetisch-expressiv, sondern reflexiv-symbolisch auf. Schon die ersten Erwähnungen und Beschreibungen der Exekutionenjüdischer Einwohner oder die Hinrichtung zweier kommunistischer Funktionäre ent­ behrenjeder auskostenden Expressivität. Die erbarmungslo­ se Aufrufung der physisch und psychisch-moralisch Ekel pro­ vozierenden Details, sei es das im Tode noch e:iakulierende Glied eines Gehenken t oder die den Todesschützen ins Ge­ sicht spritzende Hirnmasse, sind als repräsentative Gesten ei­ nes Vorgangs genannt, den unser Alltagsbewusstsein nicht aufzunehmen bereit ist und der deshalb gemeinhin »mora­ lischvu.sstseins aus. Das steigert sich in der Darstellung der »großen Aktion>furchtbare(r) Hymnus zu Ehren des unentrinnbaren Schick­ sals und des unheilbaren Schmerzes«2, darauf verweisend, dass diese Malerei nur aus »Verwüstung, Gemetzel, Feuers­ brünsten« bestünde. Sie stellte ein Zeugnis dar von der »ewi­ gen und unverbesserlichen Barbarei des Menschen«. Nid1t jede malerische Darstellung von Krieg und Gemetzel ließe sich so charakterisieren. Rubens' allegorisches Bild DieFolgen

des Krieges enthalten die eindeutige Botschaft, dass der Krieg einen furchtbaren Zivilisationsbruch darstellt, der zu verhin­ dern wäre. Dass vor allem die Maler der Renaissance und des Barock gleichwohl qua Kriegsthematik ein für sie entschei­ dendes ästhetisches Prinzip, nämlich das der heftigen Bewe­ gung, verfolgten, ist im Zusammenhang von Delacroix' Stil festzuhalten. Schiller, der unverdächtige Kronzeuge Nietzsches für das Imaginative der Tragödienanschauung, hat in

Gedanken über

den Gebrauch des Gemeinen und Niedrigen in der Kunst für die äs­ thetische Lizenz der Darstellung des gemeinen »Bösen« so­ gar die Formel gefunden, die unser Problem noch unmittel­ barer erklärt: Das Niedrige im Schrecken könne durchaus dargestellt werden, müsse aber »ins Furchtbare übergehn«, 1

Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke in IJ Bänden, hrsg. von G. Colli und M. Montinari, München/Berlin/NewYork 1967-71, Bd. 1, S. 141;

2

Charles Baudelaire, Sämtliche Werke/Briefe in 8 Bänden, hrsg. von Fried­ helm Kemp und Ciaude Pichois, in Zusammenarbeit mit Wolfgang Dom, München 1992, Bd. 7, S. 289.

145·

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um die >>augenblickliche Beleidigung des Geschmacks« durch die ••starke Beschäftigung des AffektsÄsthetik« und »das Böse