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German Pages 203 [208] Year 1987
Vilem Mudroch Kants Theorie der physikalischen Gesetze
W DE
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Kantstudien Ergänzungshefte im Auftrage der Kant-Gesellschaft in Verbindung mit Ingeborg Heidemann herausgegeben von Gerhard Funke und Rudolf Malter
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Walter de Gruyter · Berlin · New York
1987
Vilem Mudroch
Kants Theorie der physikalischen Gesetze
Walter de Gruyter · Berlin · New York
1987
CIP-Kur^titelaufnähme der Deutschen Bibliothek
Mudroch, Vilem: Kants Theorie der physikalischen Gesetze / Vilem Mudroch. Berlin ; New York : de Gruyter, 1987. (Kantstudien : Ergänzungshefte ; 119) ISBN 3-11-010808-9 NE: Kantstudien / Ergänzungshefte
Copyright 1987 by Walter de Gruyter & Co., Berlin 30 — Printed in Germany — Alle Rechte der Übersetzung, des Nachdrucks, der photomechanischen Wiedergabe und der Anfertigung von Mikrofilmen — auch auszugsweise — vorbehalten. Druck: Werner Hildebrand, Berlin 65 Bindearbeiten: Lüderitz & Bauer, Berlin 61
VORWORT Die vorliegende Arbeit wurde von der Philosophischen Fakultät I der Universität Zürich im Wintersemester 1983/ 4 auf Antrag von Herrn Prof. Dr. Helmut Holzhey als Dissertation angenommen. Für die Leitung und Förderung der Arbeit möchte ich Herrn Professor Holzhey meinen verbindlichen Dank aussprechen. Ebenfalls sehr dankbar bin ich Herrn Dr. Peter Schulthess für die wertvollen Hinweise, die ich von ihm bei der Ausarbeitung des ersten Kapitels erhielt, und Herrn Dr. Peter Schaber für seine Hilfe bei der Bereinigung des Manuskripts.
Baden/Schweiz, im Februar 19 7
Vilem Mudroch
INHALTSVERZEICHNIS
VORWORT
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EINLEITUNG
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1. DIE K.d.r.V.: ALLGEMEINE UND BESONDERE GESETZE. . . 1.1. Der Naturbegriff und das Problem der besonderen Gesetze 1.1.1. Der Naturbegriff im Geltungsbereich der Kategorien und der reinen Grundsätze 1. 1.2. Das Problem der besonderen Gesetze 1.2. Objektivität mittels Begriffen . „ 1.2.1. Der Kantische Objektivitätsbegriff 1.2.2. Der Stellenwert der 2. Analogie i n d e r Naturwissenschaft < > . . . 1.2.3. Inhaltliche Notwendigkeit 1. 3. Die Rolle der reinen Vernunft und der Urteilskraft in der Naturwissenschaft 1.3.1. Vernunft und Verstand 1.3.2. Die Vernunft und Urteilskraft als regulative Vermögen 1.3.3. Die Rolle der Vernunft und Urteilskraft in der Naturwissenschaft 2. ERKENNTNIS DURCH BEGRIFF UND ANSCHAUUNG: EINE UNTERSUCHUNG DER M.A
2. 1. Einleitung „ 2.2o Die Rolle der Mathematik in der Natur-
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5 10 13 13 21 26 30 32 35 42
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Inhaltsverzeichnis
Wissenschaft 56 2.2.1. Philosophie und Mathematik 56 2.2.2. Die Unentbehrlichkeit der Mathematik in der Naturwissenschaft 5B 2.2.2.1. Mathematik und die Klassifikation der Wissenschaften . . . o . . . 59 2.2.2.2. Angewiesenheit der Metaphysik auf die Mathematik 62 2.2.3. Die Rolle der Metaphysik in der Naturwissenschaft 6? 2.2.3.1. Anwendbarkeit der Mathematik 65 2.2.4. Mathematik als Instrument 67 2.2.4.1. Mathematik im O. p 67 2.2.4.2. Der Fall der Kreisbewegung 70 2.2.5. Schlußbemerkungen zur Rolle der Mathematik in der Naturwissenschaft 75 2.3. Zergliederung des Materiebegriffs 77 2.3.1. Einleitung 77 2.3.2. Phoronomie 81 2.3.3. Dynamik 86 2.3.4. Mechanik. . „ 10 2.4. Schlußbemerkungen 122 3. DER ÜBERGANG VON DEN METAPHYSISCHEN ANFANGSGRÜNDEN ZUR PHYSIK
3. 1. Einleitung 3.1.1. Das O. p. und die M. A 3.1.2. Der Übergang: Allgemeine Merkmale „ 3.2. Die Klassifikation der Verhältnisse der bewegenden Kräfte untereinander 3.2.1. Quantität 302.2. Qualität . „ 3.2.3. Relation 3.2.4. Modalität und der Wärmestoff 3.3. Die transzendentale Deduktion im O. p
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124 126 129 134 136 140 „ . . . 142 144 149
Inhaltsverzeichnis 3.3.1. Der Äther und die transzendentale Deduktion 3.3.2. Die bewegenden Kräfte und die transzendentale Deduktion 3.3.3. Das Subjekt 3.3. A. Das Apriori und Aposteriori 3.3.5. Objektivität 3.3.6. Der Erfahrungsbegriff im O. p 3.3.7. Vom Naturkörper zum menschlichen Leib. Einige Gedanken zu den interpretatorischen Ansätzen von Hübner und Hoppe 3.3.8. Die Physik 3.3.9. Schlußbemerkungen
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150 154 155 „ . 160 162 . 168
169 175 180
ABKÜRZUNGEN
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LITERATURVERZEICHNIS a) Quellen b) Interpretierende Literatur
186 186 187
EINLEITUNG
Obwohl die Kantische Naturwissenschaftstheorie schon mehrfach untersucht worden ist, bleibt immer noch eine beträchtliche Menge von ungelösten Problemen bestehen. Eine dieser Schwierigkeiten betrifft die Auseinandersetzung mit der Notwendigkeit der besonderen physikalischen Gesetze - eine Thematik, die in der Kantforschung bisher relativ wenig Beachtung gefunden hat. Dabei handelt es sich hier um eine zentrale Problematik der Transzendentalphilosophie, spielt doch die Frage der Apriorität und damit auch der Notwendigkeit eine Schlüsselrolle in den Kantischen Schriften. In der K.d.r. V. zeigt sich dies nur im Zusammenhang mit der Behandlung der allgemeinsten Begriffe der Kantischen Erkenntnistheorie; das Problem der besonderen Gesetze der Naturwissenschaft wird meist ausgeklammert (Kapitel 1). Die Begriffe und Grundsätze des reinen Verstandes, welche die Erfahrung überhaupt bestimmen sollen, erweisen sich zwar als notwendige, nicht aber als hinreichende Bedingungen der Möglichkeit der notwendigen besonderen Gesetze. Um diese Tatsache klar und deutlich zum Ausdruck zu bringen und um anschließend die Begriffe der M 0 A . und des O. p. analysieren zu können, führen wir die Unterscheidung zwischen necess/fas consequenf/ae und necessitas consequentis ein (Abschnitt 1.2.). Eine Lösung des Problems der besonderen Gesetze kann sich nur dadurch ergeben, daß man neben den allgemeinen, noch weitere, spezifischere Begriffe berücksichtigt. Kant führt zwei Arten solcher Begriffe ein, die einen in der K.d.r.V. im Kapitel "Anhang zur transzendentalen Dialektik" und in der Einleitung zur K. d.U., die anderen in den M. A. und im O.p. Wir wollen hier beide Gruppen von Begriffen untersuchen und bestimmen, inwieweit sie den physikalischen Gesetzen eine necessitas consequentis verleihen können. In Abschnitt 1.3 wird gezeigt, daß die ersteren, die für die Erfahrung nur "regulativ" gelten, einerseits eine entdeckende Funktion ausüben, die sich auf alle Gebiete der Naturwissenschaft, auch auf die Physik erstreckt, anderseits die mannigfaltigen Gesetze einiger Teile
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Einleitung
der Naturforschung, v. a. der Chemie oder Biologie ordnen können. Dadurch erweisen sich diese Begriffe zwar als unentbehrlich, leisten aber nichts für die Begründung einer necessitas consequents. Kapitel 2 ist den Ausführungen Kants in den M. A. gewidmet. Kant macht dort einen Schritt in Richtung auf die besonderen Gesetze, indem er den allgemeinen empirischen Begriff der Materie zugrundelegt, ihn nach der Kategorientafel zergliedert und auf diese Weise eine Metaphysik der besonderen Natur, deren Begriffe sich größtenteils mit den Grundlagen der Newtonschen Physik decken, zustandebringt. Es handelt sich dabei um ein mehr oder weniger geschlossenes System, das allerdings nur den allgemeinen Rahmen der Physik, oder wie es der Titel des Kantischen Werkes selbst sehr passend zum Ausdruck bringt - die Anfangsgründe der Naturwissenschaft -, darstellt. Im Vergleich zur K.d.r.V. kommt hier Kant einer necessitas consequents bedeutend näher, obwohl die Ausführungen der M. A. auch wieder nur als ein erster Schritt in dieser Richtung betrachtet werden dürfen. Im O.p., das im Kapitel 5 untersucht wird, werden sogenannte "Übergangsbegriffe von den metaphysischen Anfangsgründen zur Physik" thematisch. Kant bemüht sich dort um die Ausarbeitung einer Theorie, nicht nur der Newtonschen Physik, wie allgemein angenommen wird, sondern auch solcher Wissensgebiete wie der Chemie und Biologie. Hier wird schließlich auch klar, daß Kant keine endgültige Lösung unseres Problems ausarbeiten konnte - oder besser wollte -: Am Ende bleibt es bei einer unendlichen Menge von empirischen Gesetzen, die höchstens nach den regulativen Begriffen geordnet werden können und denen so bestenfalls eine "als ob1-Notwendigkeit zukommt. Die in der vorliegenden Arbeit zugrundegelegte Auslegung der Kantischen Theorie der Physik stützt sich in sehr wesentlichen Punkten auf das auf diesem Gebiet einschlägige Buch von J.Vuillemin, "La physique et mfetaphysique kantiennes". Vuillemin beschäftigt sich in seinem Werk nicht nur mit den historischen Quellen von Kants Ansichten und dem inneren Verhältnis der Kantischen Schriften, v. a. der M.A. und der K.d.r.V., zueinander, sondern gibt auch wichtige Hinweise auf die Relevanz von Kants Ausführungen im Lichte von späteren Entwicklungen der Naturwissenschaft. Außer diesem Werk wurden die folgenden, entweder mit den M.A. oder mit dem O.p. sich beschäftigenden Arbeiten besonders berücksichtigt: "Kants Metaphysik der Natur" von L. Srhäfer, "Kants
Einleitung Theorie der Naturwissenschaft" von P.Plaass, "Metaphysics and the Philosophy of Science" von G.G.Brittan, "Metaphysische und transzendentale Dynamik in Kants Opus postumum" von B.Tuschling, "Die Kantische Theorie der Naturwissenschaft" von K.Gloy und "Kants Theorie der Physik" von H.-G.Hoppe.
1. DIE K.d.r.V.: ALLGEMEINE UND BESONDERE GESETZE
1.1.
Der Naturbegriff und das Problem der besonderen Gesetze
Um die Problematik der vorliegenden Arbeit erläutern zu können (Abschnitt 1. 1.2), müssen wir zunächst die für das vorliegende Thema wichtigsten Hauptbegriffe klären. An erster Stelle soll der Naturbegriff untersucht werden; dank der Tatsache, daß sich alle physikalischen Gesetze auf die Natur beziehen, hängen die grundlegenden naturwissenschaftstheoretischen Thesen Kants mit diesem Begriff zusammen. Der Naturbegriff bei Kant ist mehrdeutig. Außer in einem teleologischen Sinn, mit dem wir uns gegenwärtig nicht befassen wollen, benutzt er den Begriff Im analytischen Teil seiner Werke in zwei Grundbedeutungen: einmal in einem untechnischen und 'unkritischen' Sinne, das andere Mal In einem spezifischeren Sinne, nämlich im Hinblick auf die reinen Verstandesbegriffe (Abschnitt 1.1.1). Der erste Sinn kommt hauptsächlich In der Vorrede zur zweiten Auflage der K.d.r.V., in welcher Kant u.a. das Verhältnis des Subjekts und der Natur ansprechen will, zum Tragen. Erstens macht er klar, daß es Gegenstände im Raum außer dem Subjekt gibt, die wir im Experiment zu erforschen haben. Die Natur darf etwas sagen und wir wollen "von ihr belehrt werden". Zweitens aber darf sich das Subjekt von der ihm durch die Natur zur Verfügung gestellten Information nicht blenden lassen, sondern die Vernunft muß die Natur nötigen, auf Ihre Fragen zu antworten, dadurch nämlich, daß sie "mit ihren Prinzipien, nach denen allein übereinstimmende Erscheinungen für Gesetze gelten können, in einer Hand und mit dem Experiment, das sie nach jenen ausdachte, in der anderen an die Natur gehen" muß (B xiii). Das Subjekt darf sich von der Natur allein nicht "am Leitbande gängeln lassen ..., denn sonst hängen zufällige, nach keinem vorher entworfenden Plane gemachte Beobachtungen gar nicht in einem notwendigen Gesetze zusammen" (ibid.). So muß das Subjekt, wie
Der Naturbegriff es Kant sagt, die Natur nicht in der Qualität eines Schülers, sondern eines bestallten Richters befragen. Diese Idee, daß sich unsere Erkenntnis nicht einfach nach den Gegenständen, sondern eher die Gegenstände nach unserer Erkenntnis richten sollen, von Kant auch die Kopernikanische Wende genannt, spielt eine Schlüsselrolle in seiner Naturwissenschaftstheorie. Er meint, daß nur mittels dieses Gedankens die Naturwissenschaft je wirklich wissenschaftlich sein kann: "So hat sogar Physik die so vorteilhafte Revolution ihrer Denkart lediglich dem Einfalle zu verdanken, demjenigen, was die Vernunft selbst in die Natur hineinlegt, gemäß dasjenige in ihr zu suchen (nicht ihr anzudichten), was sie von dieser lernen muß, und wovon sie für sich selbst nichts wissen würde" (B xiv). Der Plan, mit welchem das Subjekt an die Natur gehen muß, ist ein gestuftes System von mehr oder weniger apriorischen Begriffen, das mit den Kategorien ansetzt und weiter die Grundsätze des reinen Verstandes, die metaphysischen Anfangsgründe und schließlich die Begriffe des sogenannten Übergangs umfaßt. Kant beginnt mit der Erörterung dieses Systems hauptsächlich in der K.d.r.V., wo er die Kategorien und Grundsätze behandelt, führt dann aber seine Bemühungen in beinahe allen seinen kritischen, sich mit der theoretischen Vernunft befassenden Werken, bis zum O.p. hin, weiter. Es ist das Hauptziel dieser Arbeit, das begriffliche System Kants zu untersuchen und zu zeigen, wie es die Wissenschaftlichkeit der Naturforschung garantieren kann.
1. 1. 1. Der Naturbegriff Im Geltungsbereich der Kategorien und der reinen Grundsätze Wir wollen uns nur mit zwei Aspekten der in der K . d . r 0 V . und in den Prol. thematischen Begriffe auseinandersetzen. Zunächst wollen wir auf die Frage ihrer Angemessenheit hinsichtlich der Natur eingehen, dann wollen wir einen Hinweis auf die Reichweite ihrer Geltung geben, d. h. uns mit der Frage, was sie zur Wissenschaftlichkeit der Naturgesetze beizutragen vermögen, befassen (Abschnitt 1. 2). Da die Kategorien und Grundsätze völlig a priori sind, ist es nicht unmittelbar offensichtlich, warum sie auf die Natur anwendbar sein sollten. Kant selber sah diesen Punkt als erklärungsbedürftig an (B 122-3): "Die Kategorien des Verstandes ... stellen uns gar nicht die Bedingungen vor, unter denen
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Allgemeine und besondere Gesetze
Gegenstände in der Anschauung gegeben werden, mithin können uns allerdings Gegenstände erscheinen, ohne daß sie sich notwendig auf Funktionen des Verstandes beziehen müssen, und dieser also die Bedingungen derselben a priori enthielte". Kurz gesagt, ist es nicht ersichtlich, wie "subjektive Bedingungen des Denkens ... objektive Gültigkeit haben, d. i. Bedingungen der Möglichkeit aller Erkenntnis der Gegenstände abgeben ... 'O Kant erläutert dies am Beispiel des Begriffs der Ursache, unter dem er "eine besondere Art der Synthesis" versteht, in der "auf etwas A was ganz Verschiedenes B nach einer Regel gesetzt wird". Er gesteht, daß es a priori nicht klar ist, "warum Erscheinungen etwas dergleichen enthalten sollten ... und es ist daher a priori zweifelhaft, ob ein solcher Begriff nicht etwa gar leer sei und überall unter den Erscheinungen keinen Gegenstand antreffe". Schließlich erwägt er die folgende spekulative Möglichkeit: "Denn es könnten wohl allenfalls Erscheinungen so beschaffen sein, daß der Verstand sie den Bedingungen seiner Einheit gar nicht gemäß fände, und alles so in Verwirrung läge, daß z. B. in der Reihenfolge der Erscheinungen sich nichts darböte, was eine Regel der Synthesis an die Hand gäbe und also dem Begriffe der Ursache und Wirkung entspräche, so daß dieser Begriff also ganz leer, nichtig und ohne Bedeutung wäre". In einer Zwischenbemerkung sei darauf hingewiesen, daß sich das Anwendbarkeitsproblem nach Kants Meinung nur in einer "kritischen" Philosophie stellt. Denn nur hier darf die Natur zu Wort kommen und muß sie zugleich nach einem Plan, der apriorische Begriffe enthält, befragt werden. Bei seinen Vorgängern wäre dieses Problem nicht vorgekommen, denn sie leugneten entweder den einen oder den anderen Teil seiner erkenntnistheoretischen Ausgangslage. So beschuldigt Kant die Rationalisten, zu denen er hauptsächlich Leibniz, Wolff und ihre Anhänger zählt, daß sie die Quelle des Aposteriorischen, nämlich die Sinnlichkeit, nur als eine unvollkommene Tätigkeit des Verstandes auffassen und die Bedingungen der sinnlichen Anschauung nicht für ursprünglich ansehen. Kant behauptet von Leibniz, für ihn sei die innere Beschaffenheit der Dinge nur mit dem Verstande erkennbar und die Sinnlichkeit nur eine verworrene Vorstellungsart (A 270/B 326) . Wenn aber der Verstand bei 1
Wir stellen hier nicht den historischen Leibniz, Wolff bzw. Hunte vor, sondern lediglich Kants Verständnis dieser Philo-
Der Naturbegriff den Rationalisten alles erkennen kann, so wird es keine Natur geben, von der wir etwas zu lernen haben, und das Anwendbarkeitsproblem wird sich deswegen nicht stellen, weil die apriorischen Begriffe auf nichts anzuwenden sind. Bei den Empiristen dagegen sind alle Begriffe und Gesetze durch Verallgemeinerung aus Einzelereignissen der Erfahrung gewonnen, es gibt keine vom Verstand stammenden apriorischen Begriffe (B 127), und man kann über das Empirische überhaupt nicht hinausgehen (A 760/B 788)c So stellt sich das Anwendbarkeitsproblem auch hier nicht, denn die Angemessenheit der Begriffe und Gesetze für die Natur wird gerade durch ihren empirischen Ursprung garantiert. Anders gesagt, kennen weder die Rationalisten noch die Empiristen die Kopernikanische Wende, denn für die ersteren können sich die Gegestände nach unserer Erkenntnis deswegen nicht richten, weil es keine von der Erkenntnis unabhängigen Gegenstände gibt, während die zweiten den Leitgedanken der Kopernikanischen Wende nicht akzeptieren und dafür halten, daß sich Erkenntnis nach den Gegenständen richtet. Kant löst das Problem der Anwendbarkeit der Kategorien auf die Natur hauptsächlich mittels des im analytischen Teil seiner Werke vorkommenden Naturbegriffs in zweiter Bedeutung. Er macht dabei die Unterscheidung zwischen natura materialiter spectota, d. h. Natur als Inbegriff aller Erscheinungen, und natura formaliter spectota, d. h. Natur ihrer notwendigen Gesetzmäßigkeit nach (B 163-165). Der Inbegriff aller Erscheinungen ist durch keine Gesetzmäßigkeit gekennzeichnet, denn Gesetze existieren nicht in den Erscheinungen, sondern nur relativ auf das Subjekt, sofern es Verstand hat. Der Grund dafür liegt darin, daß das Ding an sich dem Subjekt unzugänglich ist und durch die Wahrnehmung sich kein notwendiger Zusammenhang oder Plan der Natur, wie sie an sich sophen, so wie dies in der K.d.r.V. vorzufinden ist. Wir wollen hier auf die Frage der Genauigkeit von Kants Interpretation nicht eingehen, möchten aber darauf hinweisen, daß Kants Verhältnis zu seinen Vorgängern nicht statisch zu sehen ist. So finden wir z. B. , daß nach der relativ guten Beziehung zu Leibniz während der vorkritischen Jahre die Leibniz-Polemik der K.d.r.V. folgte, die anschließend aber durch eine Versöhnung mit der Leibnizschen Philosophie ersetzt wurde, als Kant anerkannte, daß Leibniz etwas vom Unterschied zwischen analytischen und synthetischen Urteilen ahnte (vgl. die Schrift "Ueber eine Entdeckung nach der alle neue Kritik der reinen Vernunft durch eine ältere entbehrlich gemacht werden soll", VIII,185-252, besonders p . 2 4 7 f f . ) .
Allgemeine und besondere Gesetze ist, offenbart. Aber Erscheinungen stehen unter dem Gesetze der Verknüpfung, das vom Verstande kommt, und diese Verknüpfung steht unter den Kategorien, weswegen "alle Erscheinungen der Natur, ihrer Verbindung nach unter den Kategorien stehen, von welchen die Natur (bloß als Natur überhaupt betrachtet) als dem ursprünglichen Grunde ihrer notwendigen Gesetzmäßigkeit (als natura formaliter spectata) abhängt" (B 164-5). Anders gesagt, sind die Kategorien der Natur deswegen gemäß, weil sie a priori vorausgehen "als Bedingungen, unter denen allein etwas, wenn gleich nicht angeschaut, dennoch als Gegenstand überhaupt gedacht wird; denn alsdann ist alle empirische Erkenntnis der Gegenstände solchen Begriffen notwendigerweise gemäß, weil ohne deren Voraussetzung nichts als Objekt der Erfahrung möglich ist" (B 125-6). Ohne Kategorien gäbe es keine Gesetzmäßigkeit der Natur, denn der Verstand "ist selbst der Quell der Gesetze der Natur" (A 127), er ist ihre Gesetzgebung und ohne ihn "würde es überall nicht Natur, d. i. synthetische Einheit des Mannigfaltigen der Erscheinungen nach Regeln, geben" (A 126). Dank den Kategorien 1st die Natur "das Dasein der Dinge, sofern es nach allgemeinen Gesetzen bestimmt ist" (Prol. § 14) oder auch "die Ordnung und Regelmäßigkeit ... an den Erscheinungen", die der Verstand selbst hineinlegt (A 125). Die natura formaliter spectata ist das Produkt der Verstandestätigkeit des Subjekts, von dem sie konstituiert wird. Sie wird vom Naturwissenschaftler nicht befragt, sondern stellt einen Teil des Plans dar, mit dem er an die dem Verstand gegenüberstehende natura materialiter spectata geht. Die durch die Kategorien bestimmte und gesicherte natura formaliter spectata ist, wie schon der Ausdruck ahnen läßt, nur eine rein formale und allgemeine. Denn die Kategorien und die reinen Verstandesbegriffe selber gelten ebenfalls nur allgemein. So ist z. B. der an der oben zitierten Stelle B 122-3 benutzte Begriff der Ursache nichts als eine allgemeine Regel, die die Reihenfolge der Erscheinungen nur der Form nach bestimmt, indem sie garantiert, daß jedes Ereignis eine Ursache haben muß, ohne jedoch zu bestimmen, welches diese Ursache ist (vgl. Abschnitt 1.2). Die besondere Natur mit ihren besonderen Gesetzen steht zwar unter den reinen Verstandesbegriffen, kann durch sie aber nicht vollständig bestimmt werden: "Auf mehrere Gesetze aber als die, auf denen eine Natur überhaupt als Gesetzmäßigkeit der Erscheinungen in Raum und Zeit beruht, reicht auch das reine Verstandesvermögen nicht
Der Naturbegriff zu, durch bloße Kategorien den Erscheinungen a priori Gesetze vorzuschreiben. Besondere Gesetze, weil sie empirisch bestimmte Erscheinungen betreffen, können davon nicht vollständig abgeleitet werden, ob sie gleich alle unter jenen stehen. Es muß Erfahrung dazu kommen, um die letztere überhaupt kennen zu lernen ..." (B 165)2 . In Übereinstimmung mit der Stelle B xiii-xiv gilt auch hier, daß wir von der uns gegenüberstehenden Natur etwas zu lernen haben, denn mittels des Verstandes allein sind wir nicht imstande, das Ganze der Naturerkenntnis zu gewinnen. Was es genau heißt, daß die besonderen Gesetze unter den allgemeinen stehen, wird erst im Zusammenhang mit der Behandlung der sogenannten metaphysischen Anfangsgründe und der Übergangsbegriffe ersichtlich (vgl. Kapitel 2 und 3). Der allgemeine und formale Charakter der Kategorien wirkt sich auch auf den Erfahrungsbegriff in der K.d.r.V. aus. Dieser Begriff wird bei Kant in zwei verschiedenen Bedeutungen benutzt, einmal im Sinne von Wahrnehmung, das andere Mal im Sinne von empirischer Erkenntnis. Die durch Wahrnehmung gewonnene Information zeichnet sich dadurch aus, daß ihr keine strenge Notwendigkeit, Allgemeingültigkeit oder Objektivität zukommt. Kant benutzt hier sehr häufig den Ausdruck "aus der Erfahrung" (z. B. B l, B 117) und stellt fest, daß aus der Erfahrung und ihren Gesetzen nur Gewohnheit (A 765/B 793) oder durch öftere Assoziation in der Erfahrung nur eine subjektive Notwendigkeit (B 127) entspringt. Trotzdem ist Erfahrung im Sinne von Wahrnehmung in der kritischen Philosophie unentbehrlich, denn nur durch sie kommt die Natur zu Wort, weil allein in dieser Weise sich der Inbegriff aller Erscheinungen, die natura materialiter spectata, erschließen läßt. Erfahrung im Sinne von empirischer Erkenntnis (B 147, B 166) wird durch das Einbeziehen der Kategorien und der reinen Grundsätze ermöglicht (A 674/B 692), die als die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung fungieren (A 139/B 178, A 246/B 303). Die so verstandene Erfahrung bildet eine synthetische Einheit (A 15 / 197, A 180/B 222, A 1 3/ 226) und steht unter der apriorischen und damit auch streng notwendigen Aehnlich heißt es schon in der 1.Auflage, daß "empirische Gesetze als solche ihren Ursprung keineswegs vom reinen Verstande herleiten ...", doch sind "alle empirischen Gesetze ... nur besondere Bestimmungen der reinen Gesetze des Verstandes, unter welchen und nach deren Norm jene allererst möglich sind ..." (A 127-8).
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Allgemeine und besondere Gesetze
Gesetzmäßigkeit der Kategorien und der reinen Grundsätze. Kant empfindet die Zweideutigkeit des Erfahrungsbegriffs nicht als problematisch und verwendet seine zwei Bedeutungen oft unmittelbar nacheinander, so z. B. an der folgenden Stelle: "Unter Natur (im empirischen Verstande) verstehen wir den Zusammenhang der Erscheinungen ihrem Dasein nach nach notwendigen Regeln, d. i. nach Gesetzen. Es sind also gewisse Gesetze und zwar a priori, welche allererst eine Natur möglich machen; die empirischen können nur vermittelst der Erfahrung und zwar zufolge jener ursprünglichen Gesetze, nach welchen selbst Erfahrung allererst möglich wird, stattfinden und gefunden werden" (A 216/B 263). Weil die Kategorien und die reinen Grundsätze nur allgemein und formal gelten, ist auch die Gesetzmäßigkeit der Erfahrung im Sinne von empirischer Erkenntnis, genau wie diejenige der natura formaliter spectata, nur allgemein und formal (A 222/B 279). Aus diesem Grund spricht Kant in diesem Zusammenhang von einer Erfahrung überhaupt (B 165, A 223/B 271), die man auch als die Form der Erfahrung verstehen kann (A 220/B 267).
1.1.2.
Das Problem der besonderen Gesetze
Wir sind jetzt imstande, das Hauptthema dieser Arbeit anzusprechen. Da die Kategorien und die reinen Grundsätze nur eine allgemeine Gesetzmäßigkeit garantieren, in der Naturwissenschaft aber vornehmlich besondere, nicht allgemeine Gesetze vorkommen, muß man sich mit der Frage, was denn die Gesetzmäßigkeit dieser Gesetze sicherstellen kann, befassen. Kant selber sagt von den besonderen Gesetzen, daß sie notwendig sein sollten, ohne jedoch in der K.d. r. V. zu erklären, woher diese Notwendigkeit stammen könnte: "Selbst Naturgesetze, wenn sie als Grundsätze des empirischen Verstandesgebrauchs betrachtet werden, führen zugleich einen Ausdruck der Notwendigkeit, mithin wenigstens die Vermutung einer Bestimmung aus Gründen, die a priori und vor aller Erfahrung gültig sind, bei sich" (A 159/B 198). Es ist offensichtlich, daß uns hier die Begriffe der natura formaliter spectata und der natura materialiter spectata nicht behilflich sein können, der erstere nicht, weil er nur eine allgemeine, aber keine besondere Gesetzmäßigkeit betrifft, der zweite nicht, weil er zwar besondere Ereignisse umfaßt, dafür aber nicht ihre Gesetzmäßigkeit. Ahnlich ist der Begriff der Erfahrung über-
Das Problem der besonderen Gesetze haupt nur allgemein und formal, und aus der Erfahrung Im Sinne von Wahrnehmung kann, wie schon gesagt, keine strenge Notwendigkeit hervorgehen. Es ist erforderlich, Erfahrung im Sinne von empirischer Erkenntnis so zu bestimmen, daß sie auch besondere Gesetze enthält. Die Kategorien und reinen Grundsätze in der K.d.r.V. reichen für diese Aufgabe nicht aus. Deshalb müssen wir in dieser Arbeit hauptsächlich die M. A. und das O. p. untersuchen, um die Frage der Wissenschaftlichkeit der Naturwissenschaft innerhalb des Rahmens der kritischen Philosophie beantworten zu können. Bei unserer Untersuchung der Begriffe der M. A. und des 0. p. werden wir auf die Frage der Apriorität dieser Begriffe achten müssen, um zu sehen, inwieweit sie eine strenge Notwendigkeit garantieren können. Dabei werden wir uns auch mit der weiteren Frage, wie nämlich die Begriffe der M. A. und des O. p. der Natur angemessen sein können, befassen. Hier ist darauf hinzuweisen, daß sich das Problem der Notwendigkeit der Naturwissenschaft nicht mit allzu einfachen Mitteln lösen läßt, sollen gleichzeitig nicht die Grundsätze der Transzendentalphilosophie verletzt werden. So kann man z. B. nicht behaupten, die Naturwissenschaft sei deswegen objektiv, weil die Natur an sich völlig determiniert ist, auch wenn uns diese Determination mindestens zunächst unbekannt bleibt . Zwar wäre damit außer dem Notwendigkeitsproblem auch das Problem der Anwendbarkeit der besonderen Gesetze auf die Natur gelöst, denn man könnte dann sagen, daß die Gesetze der Naturwissenschaft auf die Natur anwendbar sind, weil sie mit der Natur eine Art Identität oder mindestens Ähnlichkeit aufweisen. Aber damit ginge auch der Sinn der Kantischen Philosophie verloren, denn dann würde sich Erkenntnis nach den Gegenständen richten. Auch sollte man nicht der Versuchung nachgeben, den diametral entgegengesetzten Ausweg zu wählen und zu sagen, die Naturwissenschaft sei objektiv und auf die Natur anwendbar, weil alle Ordnung und Regelmäßigkeit, von uns stammen. Ahnlich wie wir schon vorher bei Kants Darstellung der Empiristen und Rationalisten sahen, wären auch hier im ersten Falle die apriorischen, im zweiten die aposteriorischen Elemente zu stark unterdrückt. Die erste Lösung würde es unsinnig machen, an die Natur mit einem Plan heranzugehen, denn es wäre möglich, sich von ihr leiten zu lassen. Mit der zweiten Lösung Dies wird z. B. von K.Gloy (29-30) versucht.
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Allgemeine und besondere Gesetze
sähe man sich kaum gezwungen, der Natur Fragen zu stellen: Man hätte wenig Grund zu Experimenten.
1.2.
Objektivität mittels Begriffen
In diesem Abschnitt wollen wir die oben begonnene terminologische Klärung fortsetzen. Thematisch werden jetzt die voneinander untrennbaren Begriffe der Objektivität, Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit. Weiter sollen der von den Kategorien und reinen Verstandesbegriffen geleistete Beitrag zur Wissenschaftlichkeit der besonderen Gesetze untersucht (1.2.2) und die sich in der Folge ergebende Frage, welche zusätzlichen Schritte für die Sicherung der Objektivität der Naturwissenschaft erforderlich sind, angesprochen (1.2.3) werden. Diese Ziele wollen wir hauptsächlich mittels einer Analyse der 2. Analogie, d. h. des Kausalgesetzes, erreichen; hier kommt der volle Sinn des Kantischen Objektivitätsbegriffs deutlich zum Vorschein. Zudem hat das Kausalgesetz auch immer eine besonders wichtige Rolle innerhalb der Geschichte der Naturwissenschaftstheorie gespielt.
1.2.1.
Der Kantische Objektivitätsbegriff
Das wichtigste Merkmal des Kantischen Objektivitätsbegriffs ist seine Abhängigkeit von einer Verstandestätigkeit4. Bei Kant bedeutet "Objektivität" nicht einfach Erkenntnis der uns gegenüberstehenden Dinge, wie das z. B. in der Alltagssprache der Fall ist, sondern eher die gesetzEs scheint, daß diese Auffassung der Objektivität, nach der ein Verstandesbegriff erforderlich ist, schon bei Leibniz entwickelt war. So lesen wir in den "Nouveaux essais" (Livre II, Chapitre V I I I ) : "Je crois qu'on pourrait dire que lorsque la puissance est intelligible, et se peut expliquer distinctement, eile doit Stre comptee parmi les qualit&s premieres; mais lorsqu'elle n'est que sensible et ne donne qu'une idee confuse, il faudra la mettre parmi les qualites secondes". Die Kraft ist dann "intelligible", wenn ein Verstandesbegriff, der die Intelligibilität garantiert, vorhanden ist. Dann handelt es sich um eine primäre Qualität und also um etwas Objektives. Bei den sensiblen Kräften ist kein Verstandesbegriff anzutreffen und wir haben es dann nur mit sekundären Qualitäten zu tun.
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Allgemeine und besondere Gesetze
mäßige Verknüpfung von Vorstellungen, die Resultate von Affektionen sind. "Objektivität" geht auf eine Art subjektiver Konstitution zurück, und das trotz der Tatsache, daß Kant mit dem Ausdruck "objektiv" die Beziehung auf ein Objekt meint. Der Grund dafür liegt darin, daß auch dasjenige, was als Objekt gilt, ein Produkt der Verstandestätigkeit, also ein Objekt nur für Menschen ist, oder für solche Wesen, deren Verstand dem unseren genügend ähnelt. Damit hängt auch die Tatsache zusammen, daß Kant seinen Objektivitätsbegriff vom Ding an sich, das kein Erkenntnisobjekt sein kann, deutlich distanziert. So heißt es beispielsweise in der 2. Analogie, daß Objektivität nur im Bereich der Phänomene anzutreffen sei, denn das Ding an sich befinde sich gänzlich außer unserer Erkenntnissphäre (A 190-l/B 251-2). Da uns das Ding an sich nicht ermöglicht, objektive Aussagen zu machen, ist Objektivität nur mittels eines Begriffs des Verstandes, der als Regel oder Gesetz funktioniert, zu erzeugen. Mit anderen Worten: Der Verstand macht die Vorstellung des Gegenstandes (Objekts) nicht etwa nur deutlich, sondern bringt sie allererst hervor (A 199/ B 244-5). So schreibt Kant im Beweis der "Analogien der Erfahrung" in der 2.Auflage der K.d.r.V.: "Erfahrung ist ein empirisches Erkenntnis ... also eine Synthesis der Wahrnehmungen, die selbst nicht in der Wahrnehmung enthalten ist, sondern die synthetische Einheit des Mannigfaltigen derselben in einem Bewußtsein enthält, welche das Wesentliche einer Erkenntnis der Objekte der Sinne, d. i. der Erfahrung (nicht bloß der Anschauung, oder Empfindung der Sinne), ausmacht" (B 218). Wenn hier Kant sagt, daß die synthetische Einheit des Mannigfaltigen das Wesentliche einer Erkenntnis der Objekte ausmacht, so will er nichts weiter klarmachen, als daß ein Objekt durch den Verstand, d.h. nach denjenigen Prinzipien, die wir selber in die Erfahrung a priori hineinlegen, bestimmt wird. Damit hängt seine Feststellung zusammen, daß die Erkenntnis eines Objekts nicht aus der Wahrnehmung stammen kann, denn in der Wahrnehmung ist keine gesetzgebende Synthesis enthalten. Dies alles steht auch in völliger Übereinstimmung mit der Unterscheidung der Natur in eine noturo formaliter spectata, die ihre Gesetzmäßigkeit vom Verstand hat, und eine natura materialiter spectata, die dem Subjekt gegenübersteht und als solche keine Gesetze enthält. Deshalb bleibt auch die Affektion in Form der Wahrnehmung ohne
Der Kantische Objektivitätsbegriff
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jede Ordnung. Der Verstand muß die Gesetze und die Ordnung selber erbringen. Um genauer zu sehen, wie der Verstand ein Objekt bestimmt, wenden wir uns jetzt einer kurzen Analyse der 2. Analogie zu. Das Wichtigste bei Kants Besprechung des Kausalgesetzes in der Z.Analogie ist die Bestimmung der Ordnung des zeitlichen Ablaufs der Ereignisse. Wie Kant schon am Anfang seiner Diskussion deutlich macht, nehme ich zwar wahr, daß die Ereignisse aufeinander folgen, ohne damit jedoch das Bewußtsein des objektiven Verhältnisses der Erscheinungen zu haben. Denn Wahrnehmung allein läßt dieses Verhältnis offen, weil sie, wie wir soeben bemerkt haben, kein Objekt bestimmen kann. Damit nun das Verhältnis der Ereignisse als bestimmt erkannt wird, muß notwendig festgelegt werden, welcher der zwei Zustände vorher und welcher nachher vorkommt. "Der Begriff aber, der eine Notwendigkeit der synthetischen Einheit bei sich führt, kann nur ein reiner Verstandesbegriff sein, der nicht in der Wahrnehmung liegt; und das ist hier der Begriff des Vernä/tn/sses der Ursache und Wirkung, wovon die erstere die letztere in der Zeit als die Folge und nicht als etwas, was bloß in der Einbildung vorhergehen (oder gar überall nicht wahrgenommen sein) könnte, bestimmt" (B 233-4). Der Verstand ermöglicht also die Vorstellung eines Gegenstandes dadurch, daß er die Zeitordnung auf die Erscheinungen und deren Dasein überträgt, "indem er jeder derselben als Folge eine in Ansehung der vorhergehenden Erscheinungen a priori bestimmte Stelle in der Zeit zuerkennt" (A 199/B 245). Jetzt wird auch die Unterscheidung subjektiv-objektiv faßbar. Kant umschreibt das Subjektive mit dem Ausdruck "Vorstellungen der Apprehension", während er das Objektive als die Erscheinung, sofern "sie unter einer Regel steht, welche sie von jeder anderen Apprehension unterscheidet" - also z. B. A folgt B und nicht B folgt A - "und eine Art der Verbindung des Mannigfaltigen notwendig macht", definiert (A 19l/B 236)0 Weiterhin heißt es von der subjektiven Folge der Apprehension, daß sie von der objektiven Folge der Erscheinungen abgeleitet werden muß, weil sie sonst "gänzlich unbestimmt ist und keine Erscheinung von der anderen unterscheidet". Sie "beweist nichts von der Verknüpfung des Mannigfaltigen am Objekt, weil sie ganz beliebig ist". Dagegen wird die objektive Folge "in der Ordnung des Mannigfaltigen der Erscheinung bestehen, nach welcher die Apprehension des einen (was geschieht) auf die
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des anderen (das vorhergeht) noch einer Regel folgt ...". Diese Regel, genauer und vollständiger formuliert als das Prinzip der Z.Analogie, lautet: "Nach einer solchen Regel also muß in dem, was überhaupt vor einer Begebenheit vorhergeht, die Bedingung zu einer Regel liegen, nach welcher jederzeit und notwendigerweise diese Begebenheit folgt" (A 193/B 23 -9). Neben der Notwendigkeit bewirkt aber das Hinzukommen einer Regel des Verstandes noch ein weiteres Merkmal der Objektivität, nämlich Allgemeingültigkeit. So sagt Kant in § 19 der Prol.: "Es sind ... objektive Gültigkeit und notwendige Allgemeingültigkeit (für jedermann) Wechselbegriffe, und ob wir gleich das Objekt an sich nicht kennen, so ist doch, wenn wir ein Urteil als gemeingültig und mithin notwendig ansehen, eben darunter die objektive Gültigkeit verstanden ...". Wichtig für unsere weitere Besprechung des Problems der Notwendigkeit der besonderen Gesetze ist auch ein Vergleich der Kantischen Auffassung des Objektivitäts- bzw. Kausalitätsbegriffs mit der Meinung von Hume» Bekanntlich war Kant der Ansicht, daß Hume zu unserem Verständnis der Kausalität Wesentliches beigetragen hat; berühmt ist Kants Bemerkung in den Prol., daß ihm David Hume zuerst den dogmatischen Schlummer unterbrach (IV, 260). Hume teilte alles menschliche Wissen in zwei Gruppen auf, nämlich in Beziehungen der Ideen, d. h. alles, was intuitiv oder demonstrativ gewiß ist (z. B. Mathematik), und in empirische Tatsachen, die dadurch gekennzeichnet sind, daß ihr Gegenteil immer möglich ist und also keinen logischen Widerspruch beinhaltet . Aber eine kausale Beziehung kann nach Hume weder durch eine Analyse der Beziehungen der Ideen a priori entdeckt werden , noch kann uns die Erfahrung, also die empirischen Tatsachen, die notwendige Kausalverknüpfung liefern . Vermutlich stützt sich hier Kant auf die folgende Stelle in Humes "Enquiries" ( 2 5 , Section i v ) : "All the objects of human reason or enquiry may naturally be divided into two kinds, to wit, Relations of Ideas, and Matters of Fact. Of the first kind ... is every affirmation which is either intuitively or demonstratively certain ... The contrary of every matter of fact is still possible; because it can never imply a contradiction" Ibid. ( 2 7 ) : "I shall venture to affirm, as a general proposition, which admits of no exception, that the knowledge of the relation of Cause and Effect is not, in any instance, attained by reasonings a priori". Ibid. (78, Sect, v i i ) : "In all single instances of the operation of bodies or minds, there is nothing that produces any impres-
Der Kantische Objektivitätsbegriff Stattdessen erzeugt die Erfahrung in unserer Einbildungskraft durch Wiederholung von Ereignissen die Idee einer ständigen Verknüpfung, die g wir dann für die Kausalverknüpfung halten . Kant sah Humes Verlegenheit gerade in der Tatsache, daß Hume nicht erklären konnte, wie Begriffe, die an sich im Verstande nicht verbunden sind, im Gegenstande notwendig verbunden gedacht werden müssen. So sagt Kant, daß Hume nichts übrigblieb, als die Begriffe von der Erfahrung abzuleiten, "nämlich von einer durch öftere Assoziation in der Erfahrung entsprungenen subjektiven Notwendigkeit, welche zuletzt fälschlich für objektiv gehalten wird ..." (B 127). So kam Hume nie über subjektive Vorstellungen hinaus und konnte die Objektivität der Naturwissenschaft nicht erklären. Der Unterschied zwischen Hume und Kant liegt also gerade darin, daß Hume keinen ordnenden und gesetzgebenden Verstand kennt, der imstande wäre, apodiktische Gewißheit und auch Objektivität zu garantieren. Das zweite wichtige Merkmal des Kantischen Objektivitätsbegriffs ist seine naturwissenschaftliche Prägung. Zum einen ist die Tatsache auffällig, daß "Objektivität" und selbst sogar das Wort "Objekt" bei Kant eher eine Beziehung zweier Ereignisse als eine einfache Sache bezeichnen. Daraufhin läuft Kants Refl. 4635 aus, in der es heißt: "Nicht ein jedes Objekt ist eine Sache. Dasjenige an der Vorstellung, wodurch sie ihre eigentümliche Funktion hat, stellt das Objekt vor; ihre Funktion, wodurch sie eine Vielgültigkeit in Ansehung anderer Vorstellungen hat". Die Idee eines gesetzmäßigen Verhältnisses oder einer notwendigen Verknüpfung ist auch am Prinzip der Analogien sichtbar: "Alle Erscheinungen stehen ihrem Dasein nach a priori unter Regeln der Bestimmung ihres Verhältnisses unter einander in der Zeit" (A) bzw. "Erfahrung ist nur durch die Vorstellung einer notwendigen Verknüpfung derWahrnehmungen möglich" (B). In der 2. Analogie geht es, wie wir schon gesehen haben, immer um die Bestimmung der Reihenfolge der Vorstellungen, also um ein Verhältnis, daß dann als objektiv gilt, wenn eine Regel des Verstandes hinzukommt. Die Bedeutung der Idee einer gesetzmäßigen Beziehung der Ereignisse beim Objektbegriff kommt am besten im Kants sion, nor consequently can suggest any idea, of power or necessary connexion". Ibid.: "But when many uniform instances appear, and the same object is always followed by the same event; we then begin to entertain the notion of cause and connexion. We then feel a new sentiment ... a customary connexion".
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Beispiel zur Unterscheidung der subjektiven von der objektiven Reihenfolge zum Ausdruck. So sagt er, daß ich beim Anschauen eines Hauses unten oder oben, rechts oder links anfangen und dann welterfahren kann, wie ich will. Wenn ich aber ein den Strom herabtreibendes Schiff betrachte, so ist die Reihenfolge der Wahrnehmungen nicht mehr beliebig, sondern bestimmt (A 192/B 237). Die Anschauungen eines Hauses, die man in der Umgangssprache normalerweise ohne weiteres "objektiv" nennen würde, sind für Kant deswegen subjektiv, weil sie keine gesetzmäßige Verknüpfung der Ereignisse, sondern nur separate, in keinem Zusammenhang miteinander stehende Fakten, darstellen. Kant will dem Subjektiven zwar ein Objekt, das wissenschaftlich sein soll, aber nicht auch die g Sache, die nur unbestimmt ist, absprechen . Die naturwissenschaftliche Tendenz des Kantischen Objektivitätsbagriffs kommt zum Anderen zum Ausdruck, wo Farben, Geschmack usw. vom Objektivitätsanspruch ausgeschlossen werden. In der Transzendentalen Ästhetik ist von Vorstellungen die Rede, die "bloß zur subjektiven Beschaffenheit der Sinnesart gehören, z. B. des Gesichts, Gehörs, Gefühls, durch die Empfindungen der Farben, Töne und Wärme, die aber, weil sie bloß Empfindungen und nicht Anschauungen sind, an sich kein Objekt ... erkennen lassen ... Farben, Geschmack usw. [sind] nicht ... Beschaffenheiten der Dinge, sondern bloß ... Veränderungen unseres Subjekts, die sogar bei verschiedenen Menschen verschieden sein können ..." (B 44, A 29/B 45). Aufschlußreich ist an dieser Stelle ein Vergleich der Kantischen Auffassung von Farben, Geschmack usw. als subjektiver Sinnesqualitäten mit der Theorie Lockes. Trotz offensichtlicher Ähnlichkeiten treten hier nämlich auch unübersehbare Differenzen zutage. Locke macht die Unterscheidung zwischen den sogenannten primären und sekundären Qualitäten, wobei zu den ersteren meist quantifizierbare Eigenschaften wie Anzahl, Gestalt, Größe, Dichte und Beweglichkeit gehören, während man zu den sekundären z. B. Farbe, Geschmack oder Ton zu zählen hat» Im Falle der primären Qualitäten kommen wir laut Locke direkt in Kontakt mit dem Gegenstand, wie er an sich ist , und man könnte behaupten, daß 9 10
Kants Gebrauch der Begriffe Objekt, Gegenstand, Sache weist einige Schwankungen auf. Zum Unterschied Objekt/Gegenstand, vgl. H.Holzhey, Kants Erfahrungsbegriff (218). J.Locke (1,169, Bk. II, Ch. VIII, § 9) "The primary qualities
Der Kantische Objektivitätsbegriff wir es dann mit objektiven Aussagen zu tun haben; bei den sekundären Qualitäten handelt es sich nur um subjektive Vorstellungen, die zwar ihren Ursprung in der Sache an sich haben und von ihr verursacht sind, aber erst im Wahrnehmungsprozeß selber richtig Zustandekommen . Also ist z. B. Gestalt eine Qualität der Sache, Farbe aber nicht, sie existiert nur im wahrnehmenden Subjekt. Lockes sekundäre Qualitäten haben mit den Kantischen "bloß zur subjektiven Beschaffenheit der Sinnesart" gehörenden Vorstellungen dasjenige gemeinsam, daß sie beide nur eine Veränderung des Subjekts, nicht aber eine Beschaffenheit der Dinge darstellen. Anderseits unterscheiden sich Lockes primäre Qualitäten von Kants objektiven Eigenschaften darin, daß sie sensibel sind, während ein Objekt bei Kant, wie wir oben gezeigt haben, zu seiner Konstitution immer eines reinen Begriffs des Verstandes bedarf. Vom Standpunkt der Kantischen Philosophie her kann Locke der gleiche Vorwurf wie Hume gemacht werden: Objektivität und damit auch die Naturwissenschaft lassen sich mit dieser Theorie nicht begründen. (Auf Kants Auffassung von Farben, Geschmack usw. kommen wir noch in Abschnitt 1.2.3 zurück.) Der dritte Punkt, an dem die naturwissenschaftliche Orientierung des Kantischen Objektivitätsbegriffs deutlich wird kommt, betrifft die Verbindung des Objektivitätsbegriffs mit dem Begriff der Erfahrung im Sinne von empirischer Erkenntnis. Dies geschieht z. B. an der Stelle A 93/B 126, wo Kant sagt: "Die objektive Gültigkeit der Kategorien als Begriffe a priori [wird] darauf beruhen, daß durch sie allein Erfahrung (der Form des Denkens nach) möglich [ ist]» Denn alsdann beziehen sie sich notwendigerweise und a priori auf Gegenstände der Erfahrung, weil nur vermittelst ihrer überhaupt irgend ein Gegenstand der Erfahrung gedacht werden kann". Bei dieser Behauptung Kants, daß die Kategorien deswegen objektiv sind, weil sie sich auf alle Gegenstände der Erfahrung notwendigerweise beziehen, ist die Tatsache wichtig, daß ein Ge-
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... are utterly inseparable from the body, in what state soever it be". Ibid. ( 1 7 0 j § 10): "The secondary qualities ... are nothing in the objects themselves but powers to produce various sensations in us ...". Zusammenfassend sagt Locke (173, ibid., § 15): "The ideas of primary qualities of bodies are resemblances of them, and their patterns do really exist in the bodies themselves, but the ideas produced in us by these secondary qualities have no resemblance of them at all. There is nothing like our ideas, existing in the bodies themselves".
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genstand eben als Gegenstand der Erfahrung bestimmt wird. Die Objektivität der Kategorien läßt sich also nur dann aufrechterhalten, wenn sie nicht einfach irgendwelche Gegenstände, sondern gerade die Objekte 12 einer empirischen Erkenntnis bestimmen . Die Verbindung von Erfahrung und Objekt wird auch dort unterstrichen, wo Kant die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung mit den Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung identifiziert (A 158/B 197). Ein Gegenstand ist nämlich so zu verstehen, daß er schon immer "unter den notwendigen Bedingungen der synthetischen Einheit des Mannigfaltigen der Anschauung in einer möglichen Erfahrung" steht (ibid.). Am deutlichsten fällt die Verknüpfung von Erfahrung und Objektivität in den Prol. aus, denn dort macht Kant die Unterscheidung zwischen der objektiven und der subjektiven Reihenfolge der Vorstellungen mittels der Ausdrücke "Erfahrungsurteil" und "Wahrnehmungsurteil". In § 18 sagt er: "Empirische Urteile, sofern sie objektive Gültigkeit haben, sind Erfahrungsurteilei die aber, so nur subjektiv gültig sind, nenne ich bloße Wahrnehmungsurteile. Die letzteren bedürfen keines reinen Verstandesbegriffs, sondern nur der logischen Verknüpfung der Wahrnehmungen in einem denkenden Subjekt. Die ersteren erfordern jederzeit über die Vorstellungen der sinnlichen Anschauung noch besondere, im Verstande ursprünglich erzeugte Begriffe, welche es eben machen, daß das Erfahrungsurteil objektiv gültig ist". Hier dürfte zunächst die Terminologie stören, denn die Rede von einem "Wahrnehmungsurteil" tönt wie eine contradictio in adjecto. Ein Urteil soll ja das Resultat einer Verstandestätigkeit sein, und dies scheint ein Wahrnehmungsurteil gerade nicht zu sein. Erinnert man sich noch dazu an Kants Definition eines Urteils In der K . d . r . V . , wird seine Terminologie in den Prol. noch widersprüchlicher erscheinen, denn in B 141-2 bestimmt Kant, daß ein Urteil nichts anderes sei, "als die Art, gegebene Erkenntnisse zur objektiven Einheit der Apperzeption zu bringen". Weiter wird an dieser Stelle auch der Unterschied objektiv-subjektiv festgelegt: "Ein Urteil, d. i. ein Verhältnis, das objektiv gültig ist und sich von dem Ver12 Daß Erfahrung an dieser Stelle wirklich mit empirischer Erkenntnis gleichzusetzen ist, ist aus dem weiteren Zusammenhang ersichtlich, z. B. der Stelle B 128, wo Kant von der allgemeinen Naturwissenschaft redet.
Der Stellenwert der 2. Analogie hältnisse eben derselben Vorstellungen, worin bloß subjektive Gültigkeit wäre, z. B. nach Gesetzen der Assoziation, hinreichend unterscheidet". Kant bringt dazu ein Beispiel, das, wie wir im Abschnitt 1.2.2 sehen werden, einem Beispiel aus den Prol. sehr ähnlich ist: "Nach den letzteren [d. i. Gesetzen der Assoziation] würde ich nur sagen können: Wenn ich einen Körper trage, so fühle ich einen Druck der Schwere; aber nicht: Er, der Körper, ist schwer; welches so viel sagen will als: Diese beide Vorstellungen sind im Objekt, d. i. ohne Unterschied des Zustandes des Subjekts, verbunden und nicht bloß in der Wahrnehmung (so oft sie auch wiederholt sein mag) beisammen". "Urteil" wird also ganz deutlich mit "Objekt" verknüpft, mit der Folge, daß alles nur Subjektivgültige von der Bezeichnung "Urteil" ausgeschlossen wird. In den Prol. operiert Kant hingegen mit einer anderen, eher untechnischen Auffassung des Urteilsbegriffs, die gegenüber der Unterscheidung objektiv-subjektiv weitgehend neutral ist und ihm ermöglicht, den Ausdruck "Wahrnehmungsurteil" widerspruchslos zu benutzen. So heißt es in § 22, es sei die Sache des Denkens, Vostellungen in einem Bewußtsein zu vereinigen und diese Vereinigung entstehe entweder bloß relativ aufs Subjekt und sei dann zufällig und subjektiv, oder finde schlechthin statt und sei dann notwendig und objektiv. Ein Urteil wird dann als die "Vereinigung der Vorstellungen in einem Bewußtsein" definiert, so daß das Denken mit dem Urteilen gleichzusetzen ist. So kann Kant dann behaupten, daß Urteile entweder bloß subjektiv sind, "wenn Vorstellungen auf ein Bewußtsein in einem Subjekt allein bezogen und in ihm vereinigt werden", oder daß sie objektiv sind, "wenn sie in einem Bewußtsein überhaupt, d. i. darin notwendig, vereinigt werden". Also wird die Verknüpfung von Vorstellungen, die in den Wahrnehmungsurteilen stattfindet, als Denken oder Urteilen aufgefaßt und insofern findet der Ausdruck "Wahrnehmungsurteil" seine Rechtfertigung.
1.2.2.
Der Stellenwert der 2. Analogie in der Naturwissenschaft
Wir wollen jetzt das im Abschnitt 1.1.2 angesprochene Verhältnis der allgemeinen und besonderen Gesetze untersuchen, nämlich das Ausmaß der vom Kausalgesetz auf die besonderen Gesetze ausgeübten Bestimmung.
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Die 2. Analogie garantiert, daß sich das Kausalgesetz auf alle besonderen Ereignisse bzw. Gesetze bezieht. Dies wird schon in der ersten Formulierung der Regel am Anfang der 2. Analogie, die man auch deren Prinzip nennt, klargemacht: "Alles, was geschieht, setzt etwas voraus, worauf es nach einer Regel folgt" (A). Nun wird zwar das "etwas" nicht näher bestimmt, und man könnte unterstellen, daß hier nicht festgelegt wird, daß immer dieselbe Ursache immer dieselbe Wirkung hervorbringt. Dies wird übrigens auch in der B-Fassung noch im Zweifel gelassen: "Alle Veränderungen geschehen nach dem Gesetze der Verknüpfung der Ursache und Wirkung". Aber später folgen noch zwei weitere, präzisere Formulierungen der Regel, die festlegen, daß dieselbe Wirkung immer derselben Ursache folgt: "Diese Regel aber, etwas der Zeitfolge nach zu bestimmen, ist: Daß in dem, was vorhergeht, die Bedingung anzutreffen sei, unter welcher die Begebenheit jederzeit (d. i. notwendiger Weise) folgt" (A 200/B 246, auch A 193/B 238, oben zitiert). Nicht nur wird hier die Stetigkeit der Natur bekräftigt, es wird auch deutlich gemacht, daß die Natur durch und durch determiniert und auch völlig objektiv ist . Doch ist diese durch die 2. Analogie dargelegte durchgängige Bestimmung der Natur dem allgemeinen Charakter des Kausalgesetzes entsprechend rein allgemein und formal. Wir sehen dies an der folgenden Überlegung. Nehmen wir an, daß In einem besonderen Falle der Kausalverknüpfung die Ursache und die Wirkung mit Sicherheit bekannt sind, dann wäre es nach dem Vorhergehenden auch sicher, daß sich diese Folge immer genau gleich ereignen wird. D. h., jedesmal, wenn Ursache A vorkommt, folgt Wirkung B und Jedesmal, wenn Wirkung B auftritt, kann man mit Sicherheit daraus schließen, daß B durch Ursache A zustandegekommen ist. Nun vermag aber das Kausalgesetz die Annahme, daß man die besondere Ursache und die besondere Wirkung mit Sicherheit kennenlernen kann, nicht zu rechtfertigen. Dies ist eine Verknüpfung, die nicht a priori, sondern nur empirisch festgestellt werden kann, was den Anspruch auf apodiktische Gewißheit aufhebt. Darauf läuft auch Kants Bemerkung in A 206-7/B 252 hinaus: "Wie nun überhaupt etwas verändert werden könne; wie es möglich sei, daß auf einen Zustand in einem Zeitpunkte ein entgegengesetzter im anderen folgen könne; davon haben wir a 13 Vgl. L.W.Beck, "Ueber die Regelmässigkeit der Natur bei Kant" (48).
Der Stellenwert der Z.Analogie priori nicht den mindesten Begriff. Hierzu wird die Kenntnis wirklicher Kräfte erfordert, welche nur empirisch gegeben werden kann, z. B. der bewegenden Kräfte oder, welches einerlei ist, gewisser sukzessiven Erscheinungen (als Bewegungen), welche solche Kräfte anzeigen. Aber die Form einer jeden Veränderung, die Bedingung, unter welcher sie als ein Entstehen eines anderen Zustandes allein vorgehen kann (der Inhalt derselben, d. i. der Zustand, der verändert wird, mag sein, welcher er wolle), mithin die Sukzession der Zustände selbst (das Geschehene) kann doch nach dem Gesetze der Kausalität und den Bedingungen der Zeit a priori erwogen werden". Die besonderen kausalen Abläufe lassen sich nicht a priori aufzählen, man muß empirische Tatsachen kennenlernen. Der Schlüssel zum Verständnis der Rolle des Kausalgesetzes (und damit auch aller anderen allgemeinen Gesetze) in der Naturwissenschaft ist der schon im Abschnitt 1.1.1 bekräftigte Satz, daß uns die Z.Analogie zwar garantiert, daß jedes Ereignis eine Ursache haben muß, uns aber nicht sagt, welches diese Ursache ist. D. h., daß das Kausalgesetz, wie dies die soeben zitierte Stelle A 206-7/B Z5Z antönt, nur die Form, nicht aber den Inhalt eines Ereignisses bestimmt. Somit werden die formalen Charakteristika eines Urteils a priori, daß es notwendig, objektiv und allgemeingültig sein muß, nicht aber die inhaltlichen angesprochen, die zunächst nur empirisch und zufällig sind. Dieser Unterscheidung Form/Inhalt liegt eine scholastische zugrunde, nach der man necessitas consequentiae von necess/tos consequent/'s zu trennen hat 14 . Der erste Ausdruck besagt, daß die Folgerung zwar notwendig ist, das Gefolgerte jedoch nicht und entspricht also dem "daß" im unseren Ausgangsgedanken. Der zweite Ausdruck, der dem "welches" von oben entspricht, bedeutet, daß nicht nur die Folgerung, sondern auch das Gefolgerte notwendig ist. Anders formuliert, liefert die Z.Analogie nur die notwendigen, nicht aber die hinreichenden Bedingungen dafür, daß ein Urteil sowohl seiner Form, wie auch seinem Inhalte nach als ein notwendiges und allgemeingültiges betrachtet werden kann . 14 15
J.M.Bochenski ( 2 1 4 ) . Eine Untersuchung des Verhältnisses der 2.Analogie und der besonderen Gesetze findet sich, u. a., in G.Buchdahl, "Causality, Causal Laws and Scientific Theory in the Philosophy of Kant". Auch Buchdahl kommt zum Schluß, daß die allgemeinen Gesetze nur die Natur Oberhaupt, nicht aber die besondere Natur bestimmen. Er macht aber die hier eingeführte Unterscheidung der
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Wir wollen jetzt diese Unterscheidung an Hand einiger von Kant selber aufgeführten Beispiele erläutern. Das erste Beispiel, das wir besprechen wollen, kommt in den Prol. vor und lautet wie folgt: "Wenn die Sonne den Stein bescheint, wo wird er warm. Dieses Urteil ist ein bloßes Wahrnehmungsurteil und enthält keine Notwendigkeit ... die Wahrnehmungen finden sich nur gewöhnlich so verbunden. Sage ich aber: Die Sonne erwärmt den Stein, so kommt über die Wahrnehmung noch der Verstandesbegriff der Ursache hinzu, der mit dem Begriff des Sonnenscheins den der Wärme notwendig verknüpft, und das synthetische Urteil wird notwendig allgemeingültig, folglich objektiv, und aus einer Wahrnehmung in Erfahrung verwandelt" (§ 20, Anm.). Das Wahrnehmungsurteil in diesem Beispiel enthält deshalb keine Notwendigkeit, weil es nur besagt, daß in allen bisher untersuchten Fällen der Stein immer, wenn ihn die Sonne bescheint, warm wird. Aber es gibt keine Garantie für die Zukunft, daß sich die Sache wieder so ereignen wird. Das durch ein grammatikalisches Merkmal unterschiedene Erfahrungsurteil enthält neben seinem empirischen Bestandteil noch einen rein formalen, nämlich den Ursachebegriff, der dem Urteil seine Objektivität verleiht. Der Inhalt beider Urteile ist aber rein empirisch und damit zufällig, denn daß Sonnenschein Wärme produziert oder der Stein tatsächlich warm ist, ist nur ein Resultat der Erfahrung. Demzufolge müßte der mit gleicher grammatikalischer Form versehene Satz: "Der Mond erwärmt den Stein" auch als ein Erfahrungsurteil gelten, denn auch er beinhaltet den Ursachebegriff, doch würde es sich hier um einen dem empirischen Inhalte nach falschen Satz handeln, denn es ist eine empirische Tatsache, daß der Mond Steine nicht erwärmt. Der Satz "die Sonne erwärmt den Stein", so wie er jetzt formuliert ist, besitzt nur eine necessitas consequentiae, nicht aber eine necessitas consequentis. Die Anwesenheit des Ursachebegriffs in einem Erfahrungsurteil bewirkt nur, daß ich weiß, daß die Ereignisse notwendig nach einer Regel verbunden sind. Ich kenne aber diese Regel nur empirisch und nicht a priori und meine Bestimmung nach dieser Regel, die sich auf den Inhalt zwei Arten von Notwendigkeit nicht und kann sich mit Kants Aeußerungen aus den M . A . , die als ein Schritt in der Sicherstellung einer necessitas conseguentis aufzufassen sind, nicht zurechtfinden. Demzufolge kann ein solcher Ansatz keine Grundlage zur Lösung des Problems der Objektivität der Naturwissenschaft bieten.
Der Stellenwert der 2. Analogie des Satzes bezieht, kann nur zufällig sein. Dies wird durch einen weiteren Teil von Kants Hume-Polemik verdeutlicht: "Daß das Sonnenlicht, welches das Wachs beleuchtet, es zugleich schmelze, indessen es den Ton härtet, könne kein Verstand aus Begriffen, die wir vorher von diesen Dingen hatten, erraten, viel weniger gesetzmäßig schließen, und nur Erfahrung könne uns ein solches Gesetz lehren ... Wenn also vorher festgewesenes Wachs schmilzt, so kann ich a priori erkennen, daß etwas vorausgegangen sein müsse (z. B. Sonnenwärme), worauf dieses nach einem beständigen Gesetze gefolgt ist, ob ich zwar ohne Erfahrung aus der Wirkung weder die Ursache, noch aus der Ursache die Wirkung a priori und ohne Belehrung der Erfahrung bestimmt erkennen könnte" (A 766/B 794). Wenn man den Unterschied von Form und Inhalt im Auge behält, so wird man auch den Fehler Humes vermeiden, der nach Kant im Folgenden bestand: Hume "schloß also fälschlich aus der Zufälligkeit unserer Bestimmung nach dem Gesetze auf die Zufälligkeit des Gesetzes selbst" (ibid.). Ahnliches wie vom soeben angeführten Beispiel der Prol. und dem Wachsbeispiel könnte man auch von Kants Unterscheidung zwischen dem subjektiven Satz: "Wenn ich einen Körper trage, so fühle ich einen Druck der Schwere" und dem objektiven Urteil: "Er, der Körper, ist schwer" (B 142), sagen. Zunächst dürfte man meinen, daß das Urteil "alle Körper sind schwer" analytisch ist; es scheint nämlich, daß das Moment der Schwere im Begriff Körper enthalten ist. Schon aus rein historischen Gründen kann dies aber nicht Kants Auffassung gewesen sein, denn nachdem man lange Zeit geglaubt hatte, daß die Luft ohne Schwere sei, wurde diese Ansicht schon durch Experimente von Torricelli und Pascal mit der Quecksilbersäule widerlegt. So ist es eine im Experiment beweisbare Tatsache, daß alle Körper schwer sind und beim Satz: "Alle Körper sind schwer" kann es sich demzufolge nur um ein Erweiterungs- oder synthetisches Urteil handeln. Kant bezeichnet das Urteil deswegen als objektiv gültig, weil die Vorstellungen vermöge der 16 17
Torricelli führte solche Experimente als erster 1643 durch, vgl. Le Opere dei Discepoli di Galileo Galilei (101-105). Nachdem Pascal von den Experimenten Torricellis erfuhr, führte er sie in mehreren Varianten selber durch und berichtete davon in verschiedenen kurzen Schriften, z. B. "Experiences nouvelles touchant le vide" und "Pesanteur de la masse de l·air", vgl. Oeuvres completes (359-471).
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notwendigen Einheit der Apperzeption in der Synthesis der Anschauungen zueinander gehören. Somit handelt es sich aber auch hier um eine necess/tas consequentiae und keine necessitas consequents, denn die synthetische Einheit der Apperzeption gehört nur zu den Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt.
1.2.3.
Inhaltliche Notwendigkeit
Die Kategorien und reinen Grundsätze reichen nicht dazu aus, die Notwendigkeit des Inhalts eines Urteils zu garantieren, was aber bei besonderen Gesetzen erforderlich ist. Die allgemeinen Begriffe stellen zwar sicher, daß die Natur gesetzmäßig Ist, besagen aber nichts darüber, wie sie im Einzelnen gesetzmäßig ist. So kann z. B. das Kausalgesetz nur garantieren, daß eine Ursache einem Ereignis vorangegangen sein muß, ist aber nicht imstande, diese Ursache genau zu identifizieren und somit einem besonderen Gesetz Notwendigkeit zu verleihen. Man braucht noch zusätzliche Regeln, die die spezifische Ursache feststellen können und eine necessitas consequents beizubringen vermögen. Die 2. Analogie bleibt natürlich eine unentbehrliche Voraussetzung der Suche nach besonderen Ursachen, d. h. sie ist die notwendige Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt. Allein aber ist sie nicht hinreichend, und der Naturwissenschaftler muß noch weitere Gesetze, die sich auf die Reihenfolge der besonderen Ereignisse beziehen, zur Verfügung haben. Wir wollen die Rolle der zusätzlichen Regeln an Kants eigenem, von uns schon oben kurz besprochenen Beispiel aus der 2. Analogie veranschaulichen. Es geht um die Unterscheidung der subjektiven Reihenfolge der Wahrnehmungen eines Hauses von der objektiven Reihenfolge der Wahrnehmungen eines Schiffes. Die 2. Analogie kann nur garantieren, daß die objektive Reihenfolge notwendig bestimmt ist, und fordert die Suche nach zusätzlichen Regeln, die auch genau bestimmen, wie die Reihenfolge aussieht. Wenn also Kant behauptet, daß es notwendig festgesetzt ist, daß ich das Schiff, das ich zuerst an einer Stelle oberhalb im Fluß sehe, nachher an einer anderen Stelle unterhalb wahrnehmen muß, so sind hier neben dem Kausalgesetz weitere Regeln im Spiel. Diese zusätzlichen Regeln beträfen hier solche Angaben wie die Richtung des Stromes, die
Inhaltliche Notwendigkeit Tatsache, daß der Strom das Schiff mit sich führt, oder auch die Tatsache, daß das Schiff mit keinen Segeln oder Rudern ausgestattet ist, die dazu benutzt werden, ihm eine dem Strom entgegengesetzte Bewegung zu ermöglichen. Im Falle der Beobachtung eines Hauses gibt es keine vergleichbaren zusätzlichen Regeln, und so bleibt die Reihenfolge der Wahrnehmungen beliebig, unbestimmt und subjektiv. Das Schiffsbeispiel, so wie es in der 2. Analogie steht, ist für die Naturwissenschaft selbstverständlich nicht besonders interessant. Würde man aber vielleicht noch genaue Zeitangaben und Distanzen bereitstellen, so wäre das Beispiel auch für einen Naturwissenschaftler relevant, und die zusätzlichen Regeln, mit denen man den Fall beschreiben würde, wären möglicherweise Gesetze der Naturwissenschaft. Nun werden aber solche Gesetze in der K.d.r.V. nicht thematisch; wir werden sie erst bei unserer Untersuchung der M. A. und des O.p. antreffen. Im O. p. werden wir übrigens zwei von in diesem Kapitel diskutierten Beispielen wiederbegegnen, nämlich den Urteilen "Alle Körper sind schwer" und "Die Sonne erwärmt den Stein": Kant widmet sich im O. p. Problemen der Schwere und Wärmeerscheinungen. Die letzteren werden im Zusammenhang mit dem sogenannten Wärmestoff behandelt. Der Wärmestoff wird im O. p. als notwendig bewiesen, und man darf die Vermutung aussprechen, daß dies deshalb geschieht, weil man auf diese Weise verschiedene Urteile über Wärmeerscheinungen als völlig notwendig betrachten kann. Unsere beiden Beispielssätze könnten also unter Umständen nicht nur der Form, sondern auch dem Inhalte nach notwendig sein. Zum Schluß sei darauf hingewiesen, daß das Aufstellen der zusätzlichen Regeln und ihre Verknüpfung mit einer Aussage - mit dem Ziel eine necess/tas consequent/s zu erreichen - nicht nach Belieben erfolgen darf. Das folgende Beispiel aus dem CXp. erläutert diese Behauptung. Es gilt als a priori, daß jede Materie beim Starrwerden eine gewisse, ihr eigentümliche, Struktur annimmt (1,273,18-274,19), doch welche Struktur im Falle einer gegebenen Materie angetroffen wird, kann nur empirisch festgestellt werden. Stünden noch zusätzliche Regeln des Starrwerdens zur Verfügung, so könnte man die genaue Struktur der erstarrenden Materie a priori bestimmen und man hätte eine necessitas consequentis. Diese Regeln sind aber weder vorhanden noch lassen sie sich beliebig ausdenken; man stößt hier auf die Grenze der apriorischen Erkenntnis. Im allgemeinen erfolgt das Aufstellen und Hinzufügen der zusätzlichen
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Regeln, wie in den Kapiteln 2 und 3 ersichtlich wird, nach relativ strengen Vorschriften, und der freien menschlichen Willkür wird kein Spielraum eingeräumt. Ahnliches gilt übrigens auch schon vom Aufstellen und Hinzufügen reiner Verstandesbegriffe. Ihre Ableitung erfolgt systematisch aus der Urteilstafel und das Hinzufügen reiner Verstandesbegriffe zu einer Aussage, mit dem Ziel eine necessitas consequentiae zu erreichen, ist auch keineswegs beliebig. So sagt Kant z. B., daB es solche Wahrnehmungsurteile gibt, denen nie ein reiner Verstandesbegriff hinzugefügt werden kann, und die demzufolge nie zu Erfahrungsurteilen werden können. Als Beispiele nennt er im § 19 der Prol. solche Urteile wie "das Zimmer ist warm", "der Zucker süB", "der Wermuth widrig" und sagt von ihnen, daß sie bloß subjektiv sind, denn "sie drücken nur eine Beziehung zweier Empfindungen auf dasselbe Subjekt, nämlich mich selbst und auch nur in meinem diesmaligen Zustande der Wahrnehmung, aus und sollen daher auch nicht vom Objekte gelten". Hier wird übrigens auch unsere oben aufgestellte Behauptung nochmals bestätigt, daß der Begriff der Objektivität für diejenigen Urteile reserviert wird, die ins Gebiet der Naturwissenschaft fallen. Man kann hier auch die weitere Bemerkung machen, daß Kants Gebrauch von "Erfahrung" nicht mit demjenigen der Umgangssprache übereinstimmt, denn in der Sprache des Alltags würde man ohne weiteres sagen können, daß man erfährt, daß der "Wermuth widrig ist". Für Kant handelte es sich hier aber gar nicht um Erfahrung 18 . Aber auch solche Urteile, die im Gebiet der Naturwissenschaft liegen, lassen sich nicht willkürlich umwandeln. Ich kann nicht ein Wahrnehmungsurteil nehmen, z. B. "wenn die Sonne den Stein bescheint, wird er warm", und es zu einem Erfahrungsurteil durch das Hinzufügen eines 18 Wozu ein Mangel an Sensibilität gegenüber der Zweideutigkeit des Erfahrungsbegriffs führen kann, sieht man z. B. in W.H. Bossart, "Kant's 'Analytic· and the Two-Fold Nature of Time", wo das folgende Problem thematisch wird. Kants Unterscheidung einer subjektiven und einer objektiven Reihenfolge in der Zeit läßt sich nicht gut machen, meint Bossart, denn die Zeit ist die Form aller unserer Erfahrung und alle Erfahrung steht unter der Synthese der Kategorien. Folglich soll nicht nur die objektive, sondern auch die subjektive Reihenfolge von den Kategorien bestimmt sein. Wenn man aber einmal versteht, daß Erfahrung nur mit der objektiven Reihenfolge zu verknüpfen ist, wird sich die ganze Sache als ein Pseudoproblem und die raffinierte Lösung als unnötig erweisen.
Inhaltliche Notwendigkeit reinen Verstandesbegriffs machen, d. h. dadurch, daß ich die grammatikalische Struktur der Aussage verändere; es handelt sich hier nicht um eine Sache der freien menschlichen Willkür. Vielmehr ist das Vorhandensein eines allgemeinen Begriffs oder einer besonderen Regel ein Kriterium zur Unterscheidung objektiver und subjektiver Urteile; was aber als Objekt gilt, wird zwar vom Verstande bestimmt, nicht aber durch einen Akt des freien Willens.
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1.3. Die Rolle der reinen Vernunft und der Urteilskraft in der Naturwissenschaft
Die am Ende des letzten Abschnittes geforderten zusätzlichen Regeln können entweder vom Verstand stammen und sind dann für die Erfahrung konstitutiv, oder sie gehen von der reinen Vernunft bzw. reflektierenden Urteilskraft aus und sind dann nur regulativ. Bevor wir uns mit den konstitutiven Regeln im 2. und 3. Kapitel auseinandersetzen, wollen wir die regulativen Prinzipien untersuchen. Diese Prinzipien sind entweder das Produkt der reinen Vernunft oder der reflektierenden Urteilskraft. Obwohl diese zwei Vermögen miteinander keineswegs identifizierbar sind, fallen sie in einer ganz bestimmten Hinsicht, die gerade für unsere Zwecke (die Bestimmung der Rolle der reinen Vernunft und der Urteilskraft in der Naturwissenschaft) entscheidend ist, zusammen. Beide Vermögen haben dasjenige gemeinsam, daß sie auf den logischen Verstandesgebrauch, oder genauer: auf die kategoriale Synthesis, die eine Synthesis der bestimmenden Urteilskraft ist, reflektieren. Die bestimmende Urteilskraft zeigt den Fall der Anwendung eines Begriffs an und bestimmt somit unter dem Beistand des transzendentalen Schematismus das Objekt. Aus diesem Grund ist sie im Gegensatz zur reinen Vernunft oder reflektierenden Urteilskraft erfahrungskonstitutiv. Die genaue Aufgabe der beiden nur regulativ zu gebrauchenden Vermögen ist es, zum schon gegebenen Besonderen das Allgemeine zu finden. So lesen wir in der K.d.r.V.: "Wenn die Vernunft ein Vermögen ist, das Besondere aus dem Allgemeinen abzuleiten, so ist entweder das Allgemeine schon an sich gewiß und gegeben, und alsdann erfordert es nur [bestimmende] Urteilskraft zur Subsumtion, und das Besondere wird dadurch notwendig bestimmt. Dieses will ich den apodiktischen Gebrauch der Vernunft nennen. Oder das Allgemeine wird nur problematisch angenommen und ist eine bloße Idee; das Besondere ist gewiß, aber die Allgemeinheit der Regel zu dieser Folge ist noch ein Problem ... Diesen will ich den hypothetischen Gebrauch der Vernunft nennen" (A 646-7/B 674-5). Ahnlich heißt es in der K.d.U.: "Urteilskraft überhaupt ist das Vermögen, das Beson-
Rolle der reinen Vernunft und der Urteilskraft dere als enthalten unter dem Allgemeinen zu denken. Ist das Allgemeine (die Regel, das Prinzip, das Gesetz) gegeben, so ist die Urteilskraft, welche das Besondere darunter subsumiert ... bestimmend. Ist aber nur das Besondere gegeben, wozu sie das Allgemeine finden soll, so ist die Urteilskraft bloß reflektierend" (V, 179)19. 19 In der Literatur ist man sich über die enge Beziehung zwischen dem Anhang zur Transzendentalen Dialektik und der Einleitung zur K.d.U. im großen und ganzen einig. So heißt es bei Stadier ( 4 3 ) , daß der hypothetische Vernunftgebrauch mit dem Akt der reflektierenden Urteilskraft identisch ist, während Liedtke (109) zum Schluß kommt, daß die drei Vernunftideen in ihrem regulativen Gebrauch mit dem Prinzip der reflektierenden Urteilskraft in völliger Uebereinstimmung stehen. Diese Ansicht wird auch von Heimsoeth (584n.) geteilt, der das Gesetz der reflektierenden Urteilskraft lex continui in natura (V, 182) als ein aus einem späteren Text stammendes Beispiel des Vernunftgesetzes der Kontinuität betrachtet. Bartuschat ( 9 2 ) sieht zwischen dem regulativen Vernunftgebrauch und der reflektierenden Urteilskraft einen Unterschied darin, daß die Vernunft am Besonderen als solchen nicht interessiert ist. Martens ( 3 7 ) meint dazu, daß auch die Einleitung zur K . d . U . nur am Allgemeinen ein Interesse hat, und sieht den Unterschied der zwei Vermögen in ihrem unterschiedlichen Bezug auf das Empirische. Während sich die reine Vernunft auf das Sinnliche nur mittelbar über den Verstand bezieht, geht die reflektierende Urteilskraft direkt auf das konkret Gegebene. Allerdings wird diese Ansicht sehr stark durch die Stelle V, 183-4 in der K . d . U . in Zweifel gezogen, bezeichnet Kant doch dort das Besondere nicht als das Mannigfaltige der Sinnlichkeit, sondern als das Mannigfaltige der besonderen Gesetze, die eine vorhergehende VerStandestatigkeit voraussetzen. So wäre der Unterschied zwischen dem regulativen Vernunftgebrauch und der reflektierenden Urteilskraft wieder aufgehoben. Endlich meint Kohler (18) zum Verhältnis der reinen Vernunft und der reflektierenden Urteilskraft, daß das erstere Vermögen ein allgemeines architektonisches Interesse aufweist, nämlich die Vernunfteinheit aller Erkenntnis aufzustellen, und die reflektierende Urteilskraft nichts anderes als den Anspruch der Vernunft auf größtmögliche Vollkommenheit der Erkenntnis verwirklicht. So ist nach Kohler "das ständige Streben der reflektierenden Urteilskraft über die schon erreichte und fixierte Allgemeinheit hinaus zu kommen, aufzusteigen zum vollendeten System aller Erfahrung, ... das konkret gewordene 'architektonische Interesse1 der Vernunft selbst". Dies ist zweifellos richtig, wenn man Vernunft nur in ihrer größten Allgemeinheit betrachtet; berücksichtigt man jedoch die Vernunft als ein regulatives Vermögen, das die Prinzipien der Homogenität, Varietät und Kontinuität benutzt, so wird es der reflektierenden Urteilskraft nicht mehr übergeordnet, sondern gleichgestellt.
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Bevor wir den Beitrag der reinen Vernunft und der Urteilskraft zur Naturwissenschaft untersuchen können, müssen wir das Verhältnis des reflektierenden Vermögens zu demjenigen Vermögen, das der Gegenstand dieser Tätigkeit ist, klären. Dabei werden wir uns hauptsächlich auf die Beziehung Vernunft-Verstand konzentrieren, denn hier liegen einige sehr deutliche Äußerungen Kants vor (1.3.1). Anschließend wollen wir klarmachen, was unter dem Wort "regulativ" zu verstehen ist (1.3.2), denn nur so können wir zeigen, welche Leistungen von der reinen Vernunft und der reflektierenden Urteilskraft zu erwarten sind. Endlich (1.3.3) wollen wir darlegen, was die Vernunftideen bzw. Prinzipien der Urteilskraft zum Problem der necessitos consequents beizutragen vermögen. Kant geht dabei davon aus, daß eine größere Ordnung und Systematizität in der Natur auf eine necessitas consequent's hinführt. Die regulativen Prinzipien sind Bestimmungen der naturwissenschaftlichen Methode, die eben die Ordnung der Natur zu entdecken versucht. Am Schluß werden wir aber sehen, daß gerade der regulative Charakter der Vernunftideen und Prinzipien der Urteilskraft eine endgültige Lösung des Problems der necessitas consequents verunmöglicht.
1.3.1. Vernunft und Verstand "Die Vernunft bezieht sich niemals geradezu auf einen Gegenstand, sondern lediglich auf den Verstand und vermittelst desselben auf ihren eigenen empirischen Gebrauch, schafft also keine Begriffe (von Objekten), sondern ordnet sie nur ... Die Vernunft hat also eigentlich nur den Verstand und dessen zweckmäßige Anstellung zum Gegenstande" 20 (A 643-4/B 671-2). Das Verhältnis Vernunft- Verstand-Objekt sieht dann wie folgt aus: Wie der Verstand "das Mannigfaltige im Objekt durch Begriffe vereinigt", so vereinigt die Vernunft "ihrerseits das Mannigfaltige der Begriffe durch Ideen ..." (ibid.). Es liegt auf der Hand, daß sich die Vernunfttätigkeit nicht auf die Kategorien oder reinen Grundsätze des Verstandes bezieht, denn diese sind ja aufgrund ihrer systematischen Ableitung aus der Urteilstafel 20 Streng genommen handelt es sich hier eigentlich um gar keinen Gegenstand und man sollte lieber von einem Quasi-Gegenstand oder einer Richtung reden. Vgl. Zocher (49-50).
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vollständig. Sie machen ein systematisches Ganzes aus und sind auf eine ordnende Funktion der Vernunft nicht angewiesen. Die Handlungen der Vernunft gehen hauptsächlich auf die Wahrnehmungsurteile oder Folgen der Assoziation, die zwar als das Resultat einer Verstandestätigkeit entstehen, aber mannigfaltig und ungeordnet sind. Denn die Kategorien sind, wie wir im letzen Abschnitt gesehen haben, nicht imstande, für 21 die empirischen Gesetze überhaupt etwas zu leisten . Wir möchten an dieser Stelle nochmals betonen, daß die dem Subjekt gegenüberstehende Natur keine Form hat. Hoppe (10) behauptet das Gegenteil; er argumentiert dafür, daß eine Form der Natur unabhängig vom Verstand vorausgesetzt werden muß: "Wenn ich selber diese Form hervorbrächte, bedürfte ich zur Erfahrung ja auch keiner Wahrnehmung, oder ich hätte durch bloße Begriffe ohne Anschauung eine Erkenntnis, die aber nach allen Äußerungen Kants nur durch das Zusammenwirken von Dingen und Anschauung zustande kommen kann". Er stützt sich dabei auf Prol. § 7, wo Kant der Erfahrung die synthetische Erweiterung unserer Begriffe zuspricht, und auf die Stelle B 267, an der Kant empirische Begriffe so zu definieren scheint, daß sie eine sich in der Erfahrung findende Synthesis in sich fassen: "Die objektive Form der Erfahrung überhaupt enthält aber alle Synthesis, welche zur Erkenntnis der Objekte erfordert wird. Ein Begriff, der eine Synthesis in sich faßt, ist für leer zu halten und bezieht sich auf keinen Gegenstand, wenn diese Synthesis nicht zur Erfahrung gehört, entweder als von ihr erborgt, und dann heißt er ein empirischer Begriff, oder als eine solche, auf der als Bedingung a priori, Erfahrung überhaupt (die Form derselben) beruht, und dann ist es ein reiner Begriff ...". Doch macht Kant genügend klar, daß auch die empirischen Begriffe ohne eine Verstandeshandlung nicht Zustandekommen können. So sagt er in Prol. § 22, 21 Vgl. Cohen (654-5), der die Gültigkeit der Gesetze nur auf den Bereich der mathematischen Naturwissenschaft einschränkt und die Tätigkeit der Vernunftideen im Gebiete der Naturbeschreibung sieht: "Die zur Naturbeschreibung systematisch begrenzte Erfahrung kann auf solche Gesetze, die in den synthetischen Grundsätzen beruhen, keinen Anspruch machen". Allerdings läßt sich diese Trennung nicht ohne Vorbehalte akzeptieren, da den Vernunftideen neben der ordnenden auch noch eine entdeckende Funktion zukommen kann und die Ideen in diesem Falle auch eine beschränkte Rolle in der mathematischen Physik spielen können (siehe Abschnitt 1.3.3).
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daß ein Wahrnehmungsurteil das Resultat eines Urteilens oder Denkens ist, d. h. das Resultat einer vom Verstand bewirkten Tätigkeit. Die Sache verhält sich so, daß nach Kant die Wahrnehmung (als Empfindung) völlig unstrukturierte Materie liefert, die dann vom Verstand synthetisiert wird. So spielt dann auch die (empirische) Anschauung eine Rolle und Erkenntnis wird nur aufgrund des Zusammenwirkens von Denken und Anschauung möglich, wie es Kant fordert. Dem Subjekt steht die Möglichkeit offen, in der formlosen Natur etliche assoziative Zusammenhänge zu erkennen, die sich sogar auf denselben Tatbestand beziehen mögen. So kann ein wahres Gewühl von Regelmäßigkeiten der Natur entstehen, in dem sich das Subjekt nur mittels der reflektierenden Vermögen der reinen Vernunft und der Urteilskraft orientieren kann. Auf jeden Fall soll die Vernunft nicht Ordnung unter den vom Subjekt angeblich unabhängigen Formen der Natur schaffen; ebenso darf nicht unterstellt werden, daß die Vernunftprinzipien ihre mögliche Angemessenheit einer Übereinstimmung mit den Naturformen verdanken (siehe nächsten Abschnitt), denn solche Formen gibt es eben nicht22 . Da sich die Vernunft auf den Verstand bezieht, so muß eine Verstandestätigkeit vorhergehen. "Die Vernunft setzt die Verstandeserkenntnisse voraus, die zunächst auf Erfahrung angewandt werden, und sucht ihre Einheit nach Ideen, die viel weiter geht, als Erfahrung reichen kann" (A 662/B 690). Demzufolge verhält es sich mit der Naturwissenschaft so, daß man die Natur zunächst mit einem unter Aufsicht der Verstandesbegriffe stehenden Plan befragt und erst dann die so gewonnenen Erkenntnisse mittels der Vernunftideen weiter zu bearbeiten versucht. So stellt sich heraus, daß die Vernunft genau dort einsetzt, wo die 22
Hoppe hat seine früheren Ansichten in einem kürzlich erschienenen Aufsatz ("Ist alle Verbindung Verstandeshandlung?") etwas modifiziert. Hier sagt er zwar zunächst, daß die faktischen Verbindungen, die den empirischen Begriffen entsprechen, als gegeben vorausgesetzt werden sollen und das einzige Resultat der transzendentalen Synthesis die Tatsache ist, "daß solche empirischen und faktischen Einheiten auch Erkenntniswert haben". Ohne die kategoriale Verbindung würden wir also nicht erkennen, daß eine faktische Einheit mehr als ein Gewühl von Empfindungen ist ( 2 2 6 ) . Zusammenfassend erklärt Hoppe ( 2 2 7 ) , daß der Wirklichkeit kein Gesetz vorgeschrieben, sondern "nur die Möglichkeit gegeben wird , in dem, was sie an sich ist, sich zu erkennen zu geben". Insofern bleibt Hoppe bei seinen früheren Ansichten, gibt dann aber zu, daß Kant große Neigung zeigte, die faktischen Verbindungen als Verstandeshandlungen aufzufassen ( 2 2 8 ) .
Vernunft und Verstand Verstandestätigkeit aufhört. Die "Vernunfteinheit der mannigfaltigen Verstandeserkenntnis [ ist] ein logisches Prinzip ..., um da, wo der Verstand allein nicht zu Regeln hinlangt, ihm durch Ideen fortzuhelfen ..." (A 648/B 676) (Beispiele siehe unten).
1.3.2. Die Vernunft und Urteilskraft als regulative Vermögen Benutzt man die Vernunft als ein konstitutives Vermögen, verwickelt man sich in Widersprüche, denen man nicht entkommen kann. Dies ist die Pointe der Transzendentalen Dialektik, die vor dem unberechtigten Vernunftgebrauch warnen soll. Legitim können die Ideen der reinen Vernunft nur als regulative benutzt werden: "Ich behaupte demnach: Die transzendentalen Ideen sind niemals von konstitutivem Gebrauche, so daß dadurch Begriffe gewisser Gegenstände gegeben würden ... Dagegen aber haben sie einen vortrefflichen und unentbehrlich notwendigen regulativen Gebrauch, nämlich den Verstand zu einem gewissen Ziele zu richten, in Aussicht auf welches die Richtungslinien aller seiner Regeln in einen Punkt zusammenlaufen ... (focus imaginarius)" (A 644/B 672). Dasselbe gilt übrigens auch vom Prinzip der Urteilskraft, denn der Begriff der Zweckmäßigkeit ist "weder ein Naturbegriff, noch ein Freiheitsbegriff, weil er gar nichts dem Objekte (der Natur) beilegt, sondern nur die einzige Art, wie wir in der Reflexion über die Gegenstände der Natur in Absicht auf eine durchgängig zusammenhängende Erfahrung verfahren müssen, vorstellt, folglich ein subjektives Prinzip (Maxime) der Urteilskraft" ist (V, 184). D. h. als erstes, daß weder die reine Vernunft noch die reflektierende Urteilskraft für Objekte direkt bestimmend sind (V, 184-5) und zwar deswegen, weil ihren Ideen bzw. Prinzipien kein korrespondierendes Schema der Sinnlichkeit gegeben werden kann. Im Unterschied dazu sind die Verstandeshandlungen deswegen bestimmt, weil ihnen ein korrespondierendes Schema der Sinnlichkeit zukommt, und so kann sich der Verstand auf die Sinnlichkeit genauso beziehen, wie die Vernunft auf den Verstand. Wenn Verstandesbegriffe als regulativ bezeichnet werden, bezieht sich dies auf die Anschauung, dagegen sind die Vernunftideen im Verhältnis zur Erfahrung regulativ: "Wir haben in der transzendentalen Analytik unter den Grundsätzen des Verstandes die dynamische, als bloß
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regulative Prinzipien der Anschauung, von den mathematischen, die in Ansehung der letzteren konstitutiv sind, unterschieden. Diesen ungeachtet sind gedachte dynamische Gesetze allerdings konstitutiv in Ansehung der Erfahrung, indem sie die Begriffe, ohne welche keine Erfahrung stattfindet, a priori möglich machen. Prinzipien der reinen Vernunft können dagegen nicht einmal in Ansehung der empirischen Begriffe konstitutiv sein, weil ihnen kein korrespondierendes Schema der Sinnlichkeit gegeben werden kann ..." (A 664/B 692). Weil den Vernunftideen kein korrespondierendes Schema der Sinnlichkeit gegeben werden kann, ist die Vernunfteinheit "in Ansehung der Bedingungen, unter denen, und des Grades, wie weit der Verstand seine Begriffe systematisch verbinden soll, an sich selbst unbestimmt" (A 664-5/B 692-3). Man kann demzufolge das Ausmaß an vereinheitlichender Tätigkeit der Vernunft nie kennenlernen und man kann nie wissen, wie weit die Verstandesbegriffe zusammenlaufen können. Aber auch wenn die Vernunft für die Erfahrung nur regulativ ist, gilt sie doch vom Gegenstande der Erfahrung, obzwar nur indirekt. Das bedeutet nun weiter, daß die Grundsätze der reinen Vernunft auch in Ansehung des Gegenstandes der Erfahrung objektive Realität haben, nur "nicht um etwas an ihnen zu bestimmen, sondern nur um das Verfahren anzuzeigen, nach welchem der empirische und bestimmte Erfahrungsgebrauch des Verstandes mit sich selbst durchgängig zusammenstimmend werden kann, dadurch daß er mit dem Prinzip der durchgängigen Einheit so viel als möglich In Zusammenhang gebracht und davon abgeleitet wird" (A 665-6/B 693-4). Um nun den regulativen Charakter der Vernunft und ihre ordnende Tätigkeit zu verdeutlichen, wollen wir die Vernunftideen Im Einzelnen untersuchen. Kant stellt eine Dreiergruppe dieser Ideen vor: das Prinzip der Gleichartigkeit des Mannigfaltigen unter höheren Begriffen, auch Prinzip der Homogenität genannt, der Grundsatz der Varietät des Gleichartigen unter niederen Arten, oder Prinzip der Spezifikation und das Gesetz der Affinität aller Begriffe, oder Prinzip der Kontinuität, das dadurch entspringt, daß man, wie bei den Kantischen Dreiergruppen auch sonst üblich ist, die zwei ersten vereinigt. Zusammenfassend sagt Kant: "Das erste Gesetz also verhütet die Ausschweifung in die Mannigfaltigkeit verschiedener ursprünglichen Gattungen und empfiehlt die Gleichartigkeit; das zweite schränkt dagegen diese Neigung zur Einhelligkeit wiederum ein und gebietet Unterscheidung der Unterarten,
Vernunft und Urteilskraft bevor man sich mit seinem allgemeinen Begriffe zu den Individuen wende. Das dritte vereinigt jene beide, indem es bei der höchsten Mannigfaltigkeit dennoch die Gleichartigkeit durch den stufenartigen Übergang von einer Spezies zur anderen vorschreibt, welches eine Art von Verwandtschaft der verschiedenen Zweige anzeigt, in so fern sie insgesamt aus einem Stamme entsproßen sind" (A 660/B 68 ). Als Beispiel der Anwendung des Prinzips der Homogenität gibt Kant den Fall der Mannigfaltigkeit der Kräfte an. So sagt er in A 648-9/B 676-7, daß die verschiedenen Erscheinungen einer Substanz beim ersten Anblick so viel Ungleichartigkeit zeigen, daß man zunächst fast so viele Kräfte annimmt, als es Wirkungen gibt. Aber mittels des Prinzips der Vernunft, das nur eine logische Maxime ist, versucht man die Anzahl der verschiedenen Kräfte dadurch zu vermindern, "daß man durch Vergleichung die versteckte Identität entdecke". Man operiert dabei mit der Idee einer komparativen Grundkraft, deren Existenz zwar von Seite der Logik her nicht garantiert wird, die man aber rein problematisch annimmt und durch die man die Einheit der Kräfte so weit als möglich zustande zu bringen versucht. Weiter werden dann diese komparativen Grundkräfte untereinander verglichen, damit man näher zu einer absoluten Grundkraft gelangt 23 . Es sei darauf hingewiesen, daß auch in diesem Fall, obwohl es sich im Beispiel um empirisch gegebene Kräfte handelt, eine Verstandeshandlung zugrundeliegt. Kraft ist ein Einheitsbegriff des reinen Verstandes, nämlich einer der Prädikabilien (B 108), und demzufolge genügt bloße Wahrnehmung nicht, um Kraft als solche zu erkennen. Man muß sich auch immer darüber im klaren sein, daß diese VernunftO/ einheit bloß hypothetisch ist , und man von ihr demzufolge nicht behaupten kann, sie müsse in der Tat angetroffen werden. Vielmehr, wie Kant sagt, "daß man sie zu Gunsten der Vernunft, nämlich zu Errichtung 23 Kants Beispiel ist auch in der heutigen Physik höchst aktuell, wo man dem Problem der Vereinigung der verschiedenen Kräfte (hauptsächlich der starken und schwachen Kraft, der elektromagnetischen Kraft und der Gravitationskraft) seine Aufmerksamkeit widmet. 24 Wenn hier Kant vom hypothetischen Vernunftgebrauch spricht, heißt dies selbstverständlich nicht, daß die Vernunftideen Hypothesen im naturwissenschaftlichen Sinne des Wortes wären. Sie können durch empirische Data weder bestätigt noch falsifiziert werden.
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gewisser Prinzipien, für die mancherlei Regeln, die die Erfahrung an die Hand geben mag, suchen und, wo es sich tun läßt, auf solche Weise systematische Einheit ins Erkenntnis bringen müsse" (A 649-50/B 677- ). Wenn die Idee einer Grundkraft nur regulativ und hypothetisch ist, kann es keine Garantie dafür geben, daß sie der Natur angemessen ist. D. h., wenn z. B. unter den Kräften keine Ähnlicheit vorhanden ist, die es uns ermöglichte, sie unter eine komparative oder sogar absolute Grundkraft zu bringen, würde das Prinzip der Homogenität in diesem Fall nicht anwendbar sein. Kant beschäftigt sich mit dieser Schwierigkeit selber, wenn er in bezug auf das Kräftebeispiel schreibt: "Denn mit welcher Befugnis kann die Vernunft im logischen Gebrauche verlangen, die Mannigfaltigkeit der Kräfte, welche uns die Natur zu erkennen gibt, als eine bloß versteckte Einheit zu behandeln und sie aus irgend einer Grundkraft, so viel an ihr ist, abzuleiten, wenn es ihr freistände zuzugeben, daß es eben so wohl möglich sei, alle Kräfte wären ungleichartig, und die systematische Einheit ihrer Ableitung der Natur nicht gemäß?" (A 65l/B 679). Er verwirft die Idee, daß die Anwendbarkeit der Vernunftprinzipien durch eine vom Subjekt unabhängige Ordnung in der Natur ermöglicht wird, denn die Vernunft hat "von der zufälligen Beschaffenheit der Natur diese Einheit nach [ ihren] Prinzipien" nicht 25 übernommen (ibid.) . Statt nun die Sache liegen zu lassen, versucht Kant dieses Anwendbarkeitsproblem zu lösen, indem er feststellt, daß dem logischen Prinzip der Vernunfteinheit der Regeln ein transzendentales zugrundeliegt, "durch welches eine solche systematische Einheit, als den Objekten selbst anhängend, a priori als notwendig angenommen wird" (A 650/B 678) und ohne das "keine empirischen Begriffe, mithin keine Erfahrung möglich wäre" (A 645/B 682). Der hier zugrundeliegende Gebrauch des Terminus "transzendental" weicht von dem an den meisten übrigen Stellen der K.d.r.V. festzustel26 lenden in einigen wichtigen Merkmalen stark ab . Dies wird schon dar-
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Vgl. Gideon (133-4). So z. B. Gideon, der der hier thematischen Bedeutung ein separates Kapitel widmet (97-141). Auch Gerresheim, der eher für ein einheitliches Verständnis des Terminus "transzendetal" plädiert (7-8), gibt eine sich auf die Hauptabschnitte der Analytik und der Dialektik verteilende Zweideutigkeit des Terminus zu (143-144). Für ein Verzeichnis der vielen verschie-
Vernunft und Urteilskraft aus ersichtlich, daß Kant die in der Einleitung aufgestellte erste 27 "Hauptdefinition" transzendentaler Erkenntnis als diejenige Erkenntnis, die sich "nicht sowohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen, so fern diese a priori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt" (A11-12/B 25), im Bereich der Ideen der reinen Vernunft dadurch problematisch macht, daß er den Ideen ihre Verbindung mit Erkenntnis abspricht: "Besser würde man sich doch und mit weniger Gefahr des Mißverständnisses ausdrücken, wenn man sagte: Daß wir vom Objekt, welches einer Idee korrespondiert, keine Kenntnis, obzwar einen problematischen Begriff haben können"(A 339/ß 396-7). Dabei handelt es sich bei der Verknüpfung des Begriffs "transzendental" mit Erkenntnis um einen zentralen und kaum entbehrlichen Be28 standteil dieses Begriffs . Weiter würde man von einem transzendentalen Prinzip erwarten, daß es in einer transzendentalen oder objektiven Deduktion erweisbar ist, was man von den drei transzendentalen Ideen der Vernunft nicht sagen kann, denn sie lassen sich nur in einer subjektiven Deduktion aufweisen (A 336/B 393, A 664/B 692), die sich aber höchstens auf die Möglichkeit einer über die kategoriale Bestimmung hinausgehenden Ordnung der Natur, nicht aber auf die Möglichkeit der Natur selber bezieht. Auch eine transzendentale Erörterung, wie sie Kant von Raum und Zeit liefert, ist hier nicht denkbar, denn sie soll ja "die Erklärung eines Begriffs als eines Prinzips, woraus die Möglichkeit anderer synthetischer Erkenntnisse a priori eingesehen werden kann", sein (B 40). Doch wie wir noch sehen werden, entstehen aus den Vernunftideen keine bestimmten Erkenntnisse, so wie aus den Begriffen des Raumes und der Zeit die Geometrie und Arithmethik "herfließen" (ibid.). Auch kann es sich bei der Notwendigkeit, die Kant mit dem Terminus "transzendental" in Zusammenhang bringt (A 64 / 676), nicht um die Notwendigkeit der dritten Modalkategorie, sondern höchstens um eine
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denen Interpretationen von "transzendental" siehe Hinske, Kants Weg zur Transzendentalphilosophie (15-22). Hinske, Kants Weg zur Transzendentalphilosophie ( 2 2 ) . So heißt es z. B. bei Knittermeyer "Transszendent und Transszendental" ( 2 0 2 ) : "Der transszendentale Gesichtspunkt führt in die Gesetzlichkeit der Erkenntnis als Erkenntnis hinein
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subjektive Art von Notwendigkeit handeln, da hier ja keine Gesetzlichkeit im kategorialen Sinne vorhanden ist29. Die Folgen einer derart abweichenden Bedeutung des Ausdrucks "transzendental" werden im Zusammenhang mit Kants Verständnis der anderen
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Cohen ( 6 4 5 ) , Gideon (131-2). Es muß nicht stören, daß das Wort "transzendental" zwei- oder sogar mehrdeutig ist - dies ist bei den Schlüssel- begriffen der Kantischen Philosophie nichts Ungewöhnliches. Man kann sich aber wohl die kritische Frage stellen, ob Kant den Begriff nicht allzusehr strapaziert und damit auch, ob er wirklich das Recht hat, einem hypothetischen Prinzip ein transzendentales zugrundezulegen und einer bloß regulativ geltenden Idee die Ermöglichung der Erfahrung abzuverlangen. "Transzendental" im regulativen Sinne könnte höchstens heißen, daß man die Vernunftideen bzw. Prinzipien der reflektierenden Urteilskraft als Bestimmungen der naturwissenschaftlichen Methode voraussetzen muß, damit man unter den empirischen Gesetzen eine größere Ordnung findet (siehe 1 . 3 . 3 . ) . So hat offensichtlich Cohen (655) das Wort "transzendental" in diesem Kontext verstanden, wenn er schreibt: "Weil diese systematische Begrenzung notwendig ist, so sind die regulativen Prinzipien, wie die Ideen, von transzendentalen Charakter". Eine abweichende Auffassung vertritt Heimsoeth. Er meint nämlich, daß das Wort "transzendental" darin seine Rechtfertigung findet, daß die Vernunft, wenn sie uns etwas zu suchen heißt, ein mögliches Auffinden immer schon voraussetzt; die Ordnungszusammenhänge können demzufolge nicht als zufällig betrachtet werden (576). Somit leisten die Prinzipien der reinen Vernunft "für die 'Erweiterung1 unserer empirischen Kenntnisse und Fragestellungen unschätzbare Dienste", indem sie "für die Grundsätze des Verstandes immer neue und weitere Anwendung" nahelegen (593-4). Kaum haltbar scheint hingegen die Erklärung Gideons, daß die Ideen deshalb transzendental heißen, "weil sie in einer Untersuchung, welche auf die Möglichkeit apriorischer Erkenntnis gerichtet ist, entstehen". In der Tat richten sich die Vernunftideen gar nicht auf "apriorische Erkenntnis", sondern betreffen nur die Naturbeschreibung, was Gideon selber richtig erkennt (98,132) (siehe weiter unten). Wenn Kant also fordert, daß die Ideen für die Erfahrung nötig sind, so meint er nicht die mathematisch-physikalische Erfahrung, sondern Erfahrung als Naturbeschreibung (Vgl. Cohen, 655). Trotzdem sieht Kants Gebrauch des Wortes "transzendental" an dieser Stelle wie ein Ausrutscher aus, wollte er doch die Angemessenheit der Vernunftideen sichern, was sich aber mit ihrem regulativen Charakter nicht gut verträgt. Offensichtlich war Kant seiner Sache selber nicht völlig sicher, denn in A 339/ B 397 ergänzt er "transzendental" mit "subjektiv" (vgl.Gideon, 104-5) und in A 673/B 691 heißt es sogar, daß die Vernunftprinzipien nur transzendental zu sein scheinen. Durch den Verzicht auf diesen Gebrauch von "transzendental" ginge übrigens nicht viel verloren: man könnte immer noch fordern, daß die Ideen vorausge-
Vernunft und Urteilskraft Vernunftideen, bei denen die Unbestimmtheit des Anwendungsbereichs aller Vernunftprinzipien deutlich zum Vorschein kommt, sichtbar. So sagt Kant, daß dem Prinzip der Homogenität oder Gattungen ein anderes entgegensteht, nämlich das der Spezifikation oder Arten, "welches Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit der Dinge unerachtet ihrer Übereinstimmung unter derselben Gattung bedarf und es dem Verstande zur Vorschrift macht, auf diese nicht weniger als auf jene aufmerksam zu sein" (A 654/B 682). Dieses Gesetz fordert, daB keine Art als die unterste angesehen werde, "weil, da sie doch immer ein Begriff ist, der nur das, was verschiedenen Dingen gemein ist, in sich enthält, dieser nicht durchgängig bestimmt, mithin auch nicht zunächst auf ein Individuum bezogen sein könne, folglich jederzeit andere Begriffe, d. i. Unterarten, unter sich enthalten müsse" (A 655-6/B 683-4). Es ist nun aber klar, daß das Prinzip der Homogenität mit dem der Spezifikation im Konflikt steht und die zwei Gesetze sich gegenseitig beschränken, oder, wie Kant selber sagt, daß die Vernunft hier "ein doppeltes, einander widerstreitendes Interesse" zeigt (A 654/B 682). Diese Unstimmigkeit kommt in der Naturforschung darin zum Ausdruck, daß einige Forscher immer auf die Einheit der Gattung achtgeben, während die anderen "die Natur unaufhörlich in so viel Mannigfaltigkeit zu spalten suchen, daß man beinahe die Hoffnung aufgeben müßte, ihre Erscheinungen nach allgemeinen Prinzipien zu beurteilen" (A 655/B 683). D. h. aber, daß es mehr oder weniger beliebig ist, welches der zwei Prinzipien man anzuwenden gedenkt, denn es gibt keine Regel a priori, die ihren Anwendungsbereich festsetzen würde. Die Sache verhält sich so, obwohl auch dem logischen Prinzip der Spezifikation ein transzendentales zugrundeliegt, das die Anwendung auf die Natur sichert. Ahnliches wie von den Vernunftideen, kann man auch von den Maximen der Urteilskraft, die ihnen völlig entsprechen, nämlich der /ex parsimon/ae, der /ex continui in natura, und der Vorschrift principle praeter necessitatem non sunt multiplicanda, sagen. Der regulative Charakter des Prinzips der Urteilskraft zeigt sich gerade darin, daß es setzt werden müssen, würde sie aber nicht mittels eines transzendentalen Prinzips zu retten versuchen, wenn doch mit ihrer Hilfe nichts geleistet wird, d.h. wenn sie sich der Natur nicht als angemessen erweisen. Dieser Vorschlag stünde dann auch besser im Einklang mit dem tatsächlichen Gebrauch der drei Vernunftideen.
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schlußendlich unbestimmt Ist, ob wir bei "einer tieferen und ausgebreiteteren Kenntnis der Natur durch Beobachtung ... auf eine Mannigfaltigkeit von Gesetzen stoßen", oder ob wir ihre Prinzipien einfacher und trotz der scheinbaren Heterogenität ihrer empirischen Gesetze einhelliger finden würden (V, 188). Wie bei den regulativen Ideen der Vernunft weiß man auch hier nicht, ob man das Prinzip der Homogenität oder das der Varietät befolgen soll, d. h. die subjektiven Prinzipien erlauben keine Entscheidung darüber, ob man eine Einheit oder eine Vielheit in der Natur zu suchen hat.
1.3.3. Die Rolle der Vernunft und Urteilskraft in der Naturwissenschaft Die der reinen Vernunft und der reflektierenden Urteilskraft gesetzte Aufgabe ist keine andere als die Lösung des Problems der Notwendigkeit der besonderen Gesetze. Wir haben im Abschnitt 1.2 gesehen, daß die allgemeinen Gesetze, die a priori und notwendig sind, nicht dazu ausreichen, die besonderen Gesetze völlig zu bestimmen und ihnen Notwendigkeit zu verleihen. Deswegen versucht jetzt Kant, dieses Problem mittels der regulativen Begriffe zu behandeln: "Allein es sind so mannigfaltige Formen der Natur, gleichsam so viele Modifikationen der allgemeinen transzendentalen Naturbegriffe, die durch jene Gesetze, welche der reine Verstand a priori gibt, weil dieselben nur auf die Möglichkeit einer Natur (als Gegenstandes der Sinne) überhaupt gehen, unbestimmt gelassen werden, daß dafür doch auch Gesetze sein müssen, die zwar als empirische nach unserer Verstandeseinsicht zufällig sein mögen, die aber doch, wenn sie Gesetze heißen sollen (wie es auch der Begriff einer Natur erfordert), aus einem, wenn gleich uns unbekannten, Prinzip der Einheit des Mannigfaltigen als notwendig angesehen werden müssen" (V, 179-180). Aber nicht nur die Zufälligkeit der besonderen Gesetze bereitet Schwierigkeiten, auch die Natureinheit ist zufällig : 31 Hier sehen wir am deutlichsten, daß die Vernunfteinheit bzw. die Einheit der reflektierenden Urteilskraft mit der Einheit der Erfahrung keineswegs identisch ist. Die erstere ist nur ein nie erreichbares Ziel, während die zweite eine Tatsache ist, weil die reinen Verstandesbegriffe, die die Bedingungen
Rolle der Vernunft und der Urteilskraft In Ansehung der unendlich mannigfaltigen empirischen Gesetze "beurteilen wir die Natureinheit ... und die Möglichkeit der Einheit der Erfahrung (als Systems nach empirischen Gesetzen) als zufällig". Nun wird aber erfordert, daß genauso wie im Falle der einzelnen besonderen Gesetze, die als notwendig angesehen werden müssen, auch der Natureinheit Notwendigkeit zukommen muß: "Weil aber doch eine solche Einheit notwendig vorausgesetzt und angenommen werden muß, da sonst kein durchgängiger Zusammenhang empirischer Erkenntnisse zu einem Ganzen der Erfahrung Statt finden würde, indem die allgemeinen Naturgesetze zwar einen solchen Zusammenhang unter den Dingen ihrer Gattung nach, als Naturdingen überhaupt, aber nicht spezifisch, als solchen besonderen Naturwesen, an die Hand geben", so muß ein regulatives Vermögen, z. B. "die Urteilskraft für ihren eigenen Gebrauch es als Prinzip a priori annehmen, daß das für die menschliche Einheit Zufällige in den besonderen (empirischen) Naturgesetzen dennoch eine für uns zwar nicht zu ergründende, aber doch denkbare gesetzliche Einheit in der Verbindung ihres Mannigfaltigen zu einer an sich möglichen Erfahrung enthalte" (V, 183-4). Die hier geforderte Notwendigkeit erhält man dadurch, daß man die einzelnen besonderen empirischen Erkenntnisse in "ein nach notwendigen Gesetzen zusammenhängendes System" zu ordnen versucht, damit sie nicht nur "bloß ein zufälliges Aggregat" ausmachen (A 645/B 673). Der Naturwissenschaftler sollte es sich zum Ziel festsetzen, die systematische Einheit (oder Ordnung) aller Erkenntnis, oder deren Zusammenhang aus einem Prinzip zu erreichen. Die Idee eines solchen Systems ist "die von der Form eines Ganzen der Erkenntnis, welches vor der bestimmten Erkenntnis der Teile vorhergeht und die Bedingungen enthält, jedem Teile seine Stelle und Verhältnis zu den übrigen a priori zu bestimmen" (ibid.). Wichtig ist die Systematizität nach Kant deshalb, weil "die systematische Einheit der Verstandesbegriffe ... der Probierstein der Wahrheit der Regeln" ist (A 647/B 675) und weil wir ohne den zusammenhängenden Verstandesgebrauch, der durch die ordnende Tätigkeit der Vernunft entsteht, "kein zureichendes Merkmal empirischer Wahrheit haben der Möglichkeit der Erfahrung darstellen, ein vollständiges System ausmachen. Die im O.p. vorkommende "Einheit der Erfahrung" ist ein spezifischer, sich auf die besonderen Gegenstände der Natur beziehender Nachfolger der "Einheit der Erfahrung" aus der K.d.r.V., denn dort gründet die Einheit auf dem abgeschlossenen System der Uebergangsbegriffe.
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würden" (A 65l/B 679). Der Einbezug eines besonderen Gesetzes in ein System macht das Gesetz deswegen sicherer, weil noch weitere Gesetze von seiner Gültigkeit abhängen, die sich in dieser Weise gegenseitig bestätigen. Je vollständiger das System, desto notwendiger gelten die einzelnen Gesetze. Mit Hilfe der regulativen Vermögen gewinnen wir eine Ordnung in der Natur: Wir "befragen ... die Natur nach diesen Ideen und halten unsere Erkenntnis für mangelhaft, so lange sie denselben nicht adäquat ist" (A 645-6/ 673-4). So sagt Kant z. B. vom Gesetz der Spezifikation, daß es nicht von der Erfahrung entlehnt ist, denn "die empirische Spezifikation bleibt in der Unterscheidung des Mannigfaltigen bald stehen, wenn sie nicht durch das schon vorhandene transzendentale Gesetz der Spezifikation als ein Prinzip der Vernunft geleitet worden, solche zu suchen und sie noch immer zu vermuten, wenn sie sich gleich nicht den Sinnen offenbart" (A 657/B 685). Vom Gesetz der Kontinuität heißt es dann, daß "wir von diesem Gesetz gar keinen empirischen Gebrauch machen können, indem dadurch nicht das geringste Merkmal der Affinität angezeigt wird, nach welchem und wie weit wir die Gradfolge ihrer Verschiedenheit zu suchen, sondern nichts weiter als eine allgemeine Anzeige, daß wir sie zu suchen haben" (A 66l/B 6 9). Die drei Vernunftideen führen den Naturforscher also dazu, in der Natur nach Gleichartigkeit, Varietät und Affinität zu suchen, und zwar auch dann, wenn keine von diesen unmittelbar evident ist. Wenn der Wissenschaftler die Ereignisse unter eines der drei Prinzipien bringen kann, heißt das nur, daß er sich in der Mannigfaltigkeit der empirischen Data besser orientieren kann und mehr Ordnung in der Natur "entdeckt" hat. Wie ersichtlich, leiten die regulativen Begriffe die Naturforschung und sind für ihre Methode konstitutiv. Sie bestimmen dabei nichts am Gegenstand der Erfahrung selbst, sondern zeigen nur das Verfahren an, "nach welchem der empirische ... Erfahrungsgebrauch des Verstandes mit sich selbst durchgängig zusammenstimmend werden kann, dadurch daß er mit dem Prinzip der durchgängigen Einheit so viel als möglich in Zusammenhang gebracht und davon abgeleitet wird" (A 665-6/B 693-4). In diesem Sinne sollen wir auch Kant verstehen, wenn er sagt, daß wir "die systematische Einheit der Natur durchaus als objektiv gültig und notwendig voraussetzen müssen" (A 65 l/B 679).
Rolle der Vernunft und der Urteilskraft Wie die Vernunftideen das Verfahren der Naturwissenschaft bestimmen, zeigen wir an Hand eines Beispiels Kants, das der Astronomie entnommen wurde und die Umlaufbahnen der Planeten und Kometen betrifft. Zunächst erklärt Kant, offensichtlich in Anspielung auf Kepler, wie die Astronomen darauf kommen, daß die Planeten sich in Ellipsen und nicht in Kreisen bewegen: "Wenn uns z. B. durch eine (noch nicht völlig berichtigte) Erfahrung der Lauf der Planeten als kreisförmig gegeben ist, und wir finden Verschiedenheiten: So vermuten wir sie in demjenigen, was den Zirkel nach einem beständigen Gesetze durch alle unendliche Zwischengrade zu einem dieser abweichenden Umläufe abändern kann, d. i. die Bewegungen der Planeten, die nicht Zirkel sind, werden etwa dessen Eigenschaften mehr oder weniger nahe kommen, und fallen auf die Ellipse" (A 662/B 690). Hier sehen wir deutlich, was es heißt, die Natur nach einem Plan zu befragen. Wenn eine Hypothese, in unserem Falle die Theorie der kreisförmigen Umlaufbahnen der Planeten, durch empirische Beobachtung als ungenau erwiesen wird, leitet ein Vernunftprinzip, hier das der Kontinuität, den Astronomen dazu, eine neue Hypothese zu formulieren und sie empirisch zu überprüfen. Man sieht an diesem Beispiel auch ganz klar, daß die Vernunftideen nur für das Verfahren des Naturwissenschaftlers bestimmend sind, aber nichts über die Gegenstände der Naturwissenschaft selber aussagen. Kant kommt dann auf die Bewegungen der Kometen zu sprechen und macht dabei deutlich, was er sich unter dem oben erwähnten Ausdruck focus imaginarius vorstellt und wie man sich einer vollständigen systematischen Kenntnis nähern kann: "Die Kometen zeigen eine noch größere Verschiedenheit ihrer Bahnen, da sie (soweit Beobachtung reicht) nicht einmal im Kreise zurückkehren, allein wir raten auf einen parabolischen Lauf, der doch mit der Ellipsis verwandt ist und, wenn die lange Achse der letzteren sehr weit gestreckt ist, in allen unseren Beobachtungen von ihr nicht unterschieden werden kann. So kommen wir nach Anleitung jener Prinzipien auf Einheit der Gattungen dieser Bahnen in ihrer Gestalt, dadurch aber weiter auf Einheit der Ursache aller Gesetze ihrer Bewegung (die Gravitation); von da wir nachher unsere Eroberungen ausdehnen und auch alle Varietäten und scheinbare Abweichungen von jenen Regeln aus demselben Prinzip zu erklären suchen, endlich gar mehr hinzufügen, als Erfahrung jemals bestätigen kann, nämlich uns nach den Regeln der Verwandtschaft selbst hyperbolische Kometenbahnen zu denken, in welchen diese Körper ganz und
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gar unsere Sonnenwelt verlassen und, indem sie von Sonne zu Sonne gehen, die entfernteren Teile eines für uns unbegrenzten Weltsystems, das durch eine und dieselbe bewegende Kraft zusammenhängt, in ihrem Laufe vereinigen" (A 662-3/B 690-1). Man entdeckt mittels der Vernunftprinzipien eine größere Ordnung nicht nur in unserem Sonnensystem und den anderen von uns beobachtbaren Teilen des Weltalls, sondern auch in denjenigen Teilen des Kosmos, die völlig außerhalb des für uns sichtbaren Gebiets liegen. Neben den schon besprochenen Vernunftideen und Prinzipien der Urteilskraft steht dem Naturforscher noch die Idee der Zweckmäßigkeit zur Verfügung, die ebenfalls für Ordnung unter den besonderen empirischen Erkenntnissen sorgen soll. In diesem Sinne sagt Kant: "Die höchste formale Einheit, welche allein auf Vernunftbegriffen beruht, Ist die zweckmäßige Einheit der Dinge, und das speku/at/ve Interesse der Vernunft macht es notwendig, alle Anordnung in der Welt so anzusehen, als ob sie aus der Absicht einer allerhöchsten Vernunft entsprossen wäre. Ein solches Prinzip eröffnet nämlich unserer auf das Feld der Erfahrungen angewandten Vernunft ganz neue Aussichten, nach teleologischen Gesetzen die Dinge der Welt zu verknüpfen und dadurch zu der größten systematischen Einheit derselben zu gelangen ... Bleiben wir nur bei dieser Voraussetzung als einem bloß regulativen Prinzip, so kann selbst der Irrtum uns nicht schaden" (A 6 6-7/ 714-5, sehr ähnlich V, 1 -1). Die Idee der Zweckmäßigkeit eignet sich ausgezeichnet für die Physiologie: "Daher erweitert auch die Physiologie ihre sehr eingeschränkte empirische Kenntnis von den Zwecken des Gliederbaues eines organischen Körpers durch einen Grundsatz, welchen bloß reine Vernunft eingab, so weit, daß man darin ganz dreist und zugleich mit aller Verständigen Einstimmung annimmt, es habe alles an dem Tiere seinen Nutzen und gute Absicht ..." (A 68 / 716). Weiter kann die Idee der Zweckmäßigkeit dazu benutzt werden, um unter allen den besonderen Gesetzen Ordnung zu schaffen. So sagt Kant vom Prinzip der Urteilskraft, daß "es eben die Einheit aller empirischen Prinzipien unter gleichfalls empirischen, aber höheren Prinzipien und also die Möglichkeit der systematischen Unterordnung derselben unter einander begründen soll" (V, 180). Diese Begründung leistet das Prinzip der Urteilskraft gerade durch die Idee der Zweckmäßigkeit, so daß die besonderen Gesetze nach einer solchen Einheit betrachtet werden, "als ob gleichfalls ein
Rolle der Vernunft und der Urteilskraft Verstand (wenn gleich nicht der unsrige) sie zum Behuf unserer Erkenntnisvermögen, um ein System der Erfahrung nach besonderen Naturgesetzen 32 möglich zu machen, gegeben hätte" (ibid.) . Das System der besonderen Gesetze soll hier vermutlich genauso vollständig sein, wie es die Kategorien sind, denn auch hier sorgt ein Verstand für die Ordnung, auch wenn es nicht ein menschlicher Verstand ist. Die Idee der Zweckmäßigkeit zeigt uns aber zugleich die Grenze des Gebrauchs der Vemunftideen und der Prinzipien der Urteilskraft. Sie ist nur regulativ und eine allerhöchste Vernunft wird nur "als ob" angenommen. Aus diesem Grund ist der Anwendungsbereich völlig unbestimmt, und es kann durchaus vorkommen, daß wir an irgend einer Stelle in der Natur diese Idee gar nicht benützen können: "... Wo wir einen teleologischen Zusammenhang (nexus final is) erwarteten, ein bloß mechanischer oder physischer (nexus effect/Vus) angetroffen werde, wodurch wir in einem solchen Falle nur eine Einheit mehr vermissen ..." (A 687-8/B 715-6). Somit bleibt auch das System, daß mittels der Idee der Zweckmäßigkeit aufgestellt wurde, unvollständig und die Bestätigung, die das System einem besonderen Gesetz verleihen kann, kann keine endgültige Sicherheit verleihen. Das beste, was wir tun können, ist uns dem vollständigen System immer weiter zu nähern, es uns also als ein Ziel vor Augen zu setzen. Dies ist ja auch der volle Sinn des Ausdrucks focus imaginarius, denn genauso wie die Lichtstrahlen in einem Punkt hinter einem Spiegel außerhalb des Bereichs des Beobachters zusammenzulaufen scheinen, so ist auch die systematische Einheit aller Erkenntnis für den Menschen ein nie völlig erreichbares Ideal. Dies ist der erste Grund, warum auch die regulativen Vermögen keine necessiias consequent/s garantieren können. Der zweite Grund ist dann gerade ihr regulativer Charakter: Sie können keine Objekte direkt be32 Kants Gebrauch der Idee der Zweckmäßigkeit in der K.d.r.V. liegt zwar demjenigen in der K.d.U. sehr nahe, weist jedoch einen kleinen Unterschied auf. So wird in der K.d.r.V. diese Idee zunächst nur auf organische, später auch auf anorganische Bereiche angewandt, in der K.d.U. wird sie auf die Natur überhaupt erweitert. Vgl. Heimsoeth ( 6 2 4 ) . So bildet die Idee der Zweckmäßigkeit in der K.d.r.V. bloß ein zusätzliches Prinzip, das neben den Gesetzen der Homogenität, Varietät und Kontinuität auftritt, in der K.d.U. kann sie jedoch als Garantie für die Anwendbarkeit der drei Maximen der reflektierenden Urteilskraft dienen, denn sie stellt sicher, daß es in der Natur eine Ordnung gibt. Vgl. Kohler ( 1 1 ) .
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stimmen und leiten das Verfahren der Naturwissenschaft nur ganz allgemein. So sagt z. B. das Prinzip der Affinität nicht, welche zwei Zustände kontinuierlich sind, sondern nur, daß wir Kontinuität suchen sollen. Daher ermöglichen zwar die regulativen Begriffe das Entdecken von naturwissenschaftlichen Theorien, leisten jedoch nicht ihre Begründung oder Rechtfertigung. Unter Begründung oder Rechtfertigung wird hier ein Beweis der Wahrheit und eine Garantie für die Anwendbarkeit dieser Theorien auf die Natur verstanden. Selbstverständlich kann die Rechtfertigung nicht mehr empirisch geschehen, denn es genügt nicht, eine Theorie mit empirischen Tatsachen zu konfrontieren, um zu entscheiden, ob sie wahr und auf die Natur anwendbar ist oder nicht. So findet z. B. die Gravitationstheorie ihre Rechtfertigung nicht darin, daß man mit ihrer Hilfe weitere Umlaufbahnen der Planeten berechnen und auf diese Weise deren Stellungen voraussagen kann. Je mehr solche Erfolge man hätte, desto wahrscheinlicher wäre die Theorie. Es ist aber klar, daß man aufgrund eines solchen Verfahrens keine apodiktische Gewißheit gewinnen würde und damit auch keine endgültige Begründung der Gravitationstheorie; die Notwendigkeit und die Objektivität physikalischer Gesetze wären weiterhin nicht erwiesen. Aber auch die Vernunftideen können uns keine Rechtfertigung der Gravitationstheorie liefern, denn obgleich uns z. B. das Prinzip der Homogenität in der Suche nach Einheit der Ursachen der Planetenbewegungen leitet und obwohl seine Tätigkeit in der Aufstellung einer einheitlichen Theorie zum scheinbaren Erfolg führt, garantiert das Prinzip nicht, daß diese Theorie stimmt, da der Anwendungsbereich des Prinzips wegen seines regulativen Charakters unbestimmt bleibt. Und wir wissen letztlich nicht, ob unser Rückgriff auf dieses Prinzip berechtigt war. Im übrigen bringt Kants Terminologie im Anhang zur Transzendentalen Dialektik und in der Einleitung zur K. d. U. die Unfähigkeit der regulativen Begriffe, eine necessitas consequentis auszuweisen, klar zum Ausdruck. Es muß bereits aufgefallen sein, daß Kants Sprachweise hier sehr stark an die Biologie erinnert, und zwar nicht nur wegen des Begriffs der Zweckmäßigkeit, sondern auch wegen des Schemas von Gattung und Arten, mit dem die Mannigfaltigkeit der besonderen Gesetze geordnet werden soll. Vermutlich wählt sich hier Kant diese Terminologie deswegen, well die Biologie, wie die Vorrede zu den M. A. zeigt, keine strenge Wissenschaft ist und die regulative Vernunft und reflektierende
Rolle der Vernunft und der Urteilskraft Urteilskraft analogerweise keine strenge Wissenschaftlichkeit begründen können . Ein System kann nur dann vollständig sein, wenn es aufgrund einer Verstandestätigkeit entsteht, wie z. B. die Newtonsche Physik, die für Kant bekanntlich das Paradigma einer Wissenschaft war. Um also in der Frage der Objektivität der Physik Fortschritte zu machen, sind Verstandesberiffe erforderlich, denn ohne sie ist keine Erfahrung möglieh34. Doch auch wenn wesentliche Teile der Naturwissenschaft durch Verstandesbegriffe gesichert werden, bleiben immer noch weitere Gebiete, vom Verstand nur teilweise erschlossen, ungeordnet und offen für die Tätigkeit der regulativen Vermögen. So machen z. B. die Schlüsselbegriffe der M. A. ein System aus. Aber am Rande stehen noch weitere Erkenntnisse, die nur empirisch und zufällig sind, und auf die man die regulativen Begriffe gut anwenden könnte. Noch deutlicher zeigt sich dies Im O. p., wo Kant die Verhältnisse der bewegenden Kräfte zueinander a priori festzulegen versucht, die empirischen bewegenden Kräfte selber aber vielfältig bleiben und nur durch die regulative Tätigkeit der Vernunft oder Urteilskraft geordnet werden können (siehe Kapitel 3). So wird klar, daß die regulativen Prinzipien in anderen Gebieten der Naturwissenschaft unentbehrlich sind, auch wenn sie zur Newtonschen 33 Zu Unrecht kritisiert Hoppe ( 1 2 ) Kants Gebrauch des Wortes "Zweckmässigkeit" als unpassend. Kants Terminologie ist für das hier besprochene Material bestens geeignet. 34 Vgl. T.E.Wartenberg, "Order Through Reason". Wartenberg zeigt, daß Kant im Kapitel "Von dem regulativen Gebrauch der Ideen der reinen Vernunft" eine naturwissenschaftliche Methodologie entwickelt. Er meint, die Rationalität der Naturwissenschaft und ihre Angemessenheit an die Natur bestehen darin, daß die Natur als systematisch erwiesen wird, was wiederum dadurch garantiert ist, daß die Vernunftideen für die naturwissenschaftliche Methode konstitutiv sind. Soweit stimmt sein Ansatz mit dem vorliegenden überein; vollständigkeitshalber hätte Wartenberg aber die Angewiesenheit der Vernunft auf die Verstandestätigkeit auch berücksichtigen müssen und auf die wichtige Tatsache hinweisen sollen, daß der Anhang zur Transzendentalen Dialektik keine vollständige naturwissenschaftliche Methodologie liefern kann. 35 Passend ist hier Cohens Ausdruck "Naturbeschreibung" (655). Dasselbe Wort finden wir auch bei seinem Schüler Gideon(99), der die Bemerkung macht, daß wir es hier nicht mehr ausschließlich mit den "apriorischen Bedingungen der mathematisch-naturwissenschaftlichen Erfahrung" zu tun haben,
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Physik, außer ihrer möglichen Entdeckung, nichts beitragen können. Hier erkennen wir auch den vollen Sinn von Kants Behauptung, daß die Vernunft genau dort einsetzt, wo der Verstand aufhört. "sondern ... schon auf das Gebiet der Einzelerkenntnis, der empirischen Forschung ... übergegangen" sind.
2. ERKENNTNIS DURCH BEGRIFF UND ANSCHAUUNG: EINE UNTERSUCHUNG DER M . A . 1
2.1.
Einleitung
Im Abschnitt 1.2 haben wir ausgeführt, daß sowohl die Kategorien als auch die reinen Verstandesgrundsätze zwar notwendige, aber nicht hinreichende Bedingungen der Möglichkeit einer objektiven Naturerkenntnis im physikalischen Sinne darstellen. Der Grund dafür liegt darin, daß den Kategorien allein "nur logische Bedeutung der bloßen Einheit der Vorstellungen, ... aber kein Gegenstand, mithin auch keine Bedeutung gegeben wird, die einen Begriff vom Objekt abgeben könnte" (A 147/B 186). Die reinen Grundsätze betreffen dagegen zwar nicht nur die logische, sondern auch die reale Möglichkeit der Erfahrung, denn es sind Urteile, die aus den Kategorien unter den sinnlichen Bedingungen, unter denen die Kategorien allein gebraucht werden können, a priori "herfließen" (A 136/B 175), beziehen sich aber nur auf Objekte der Natur überhaupt. Um zu den - wie im Abschnitt 1.2 ausgeführt - benötigten zusätzlichen (besonderen) Regeln, die eine necess/tos consequent/s ermöglichten, zu gelangen, versucht Kant, in Übereinstimmung mit der Leitidee "Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind" (A 5l/B 75), den reinen Verstandesgrundsätzen noch eine weitere im Schematismus nicht enthaltene anschauliche Komponente beizu2 fügen . Sollen aber die zusätzlichen Regeln ihren Anspruch auf Notwendigkeit bewahren, dann darf diese hinzukommende Anschauung keine willkürlich gefundene, sondern muß genau gewählt sein. Käme eine gewöhnliIch werde im weiteren die Abkürzung M.A. für das Buch verwenden und mit dem Ausdruck "metaphysische Anfangsgründe" die dort vorkommenden Prinzipien bezeichnen. Diese weitere Komponente, nämlich der Materiebegriff, ist, wie unten noch ersichtlich wird, rein räumlichen Charakters. Warum die zeitlichen Schemata nur zu einer necessitas conseguentiae führen, während mit dem räumlichen Begriff der Materie ein wesentlicher Schritt in Richtung necessitas conseguentis erzielt wird, kann in dieser Arbeit nicht thematisch werden, denn dazu wäre eine eigene Untersuchung der Begriffe Raum und Zeit nötig.
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Erkenntnis durch Begriff und Anschauung
ehe empirische Anschauung zu den reinen Verstandesbegriffen hinzu, so wären die zusätzlichen Regeln zwar ihrer Form nach notwendig, d.h. es handelte sich bei ihnen um eine necess/tas consequent/oe, aber inhaltlich gesehen, wären die Regeln nur zufällig; es läge also keine necessitas consequentis vor. Kant setzt sich mit diesem Problem selbst auseinander, indem er sich die Frage stellt: "Wie kann ich eine Erkenntnis a priori, mithin Metaphysik von Gegenständen erwarten, sofern sie unseren Sinnen, mithin a posteriori gegeben sind?" Seine Antwort lautet: "Wir nehmen aus der Erfahrung nichts weiter, als was nötig ist, uns ein Objekt teils des äußeren, teils des inneren Sinnes zu geben. Jenes geschieht durch den bloßen Begriff Materie (undurchdringliche leblose Ausdehnung) , dieses durch den Begriff eines denkenden Wesens (in der empirischen inneren Vorstellung: Ich denke)" (A 47- / B 875-6). Ähnlich heißt es in den M.A., daß das System der zusätzlichen (besonderen) Regeln, das Kant die Metaphysik der Natur nennt, sich mit der besonderen Natur dieser oder jener Art Dinge beschäftigt, "von denen ein empirischer Begriff gegeben ist, doch so, daß außer dem, was in diesem Begriffe liegt, kein anderes empirisches Prinzip zur Erkenntnis derselben gebraucht wird (z. B. sie legt den empirischen Begriff einer Materie, oder eines denkenden Wesens zum Grunde und sucht den Umfang der Erkenntnis, deren die Vernunft über diese Gegenstände a priori fähig ist)" (IV, 470,1-7). Wenn also der erste Schritt zur Aufstellung der zusätzlichen (besonderen) Regeln der Naturwissenschaft das Herausheben des empirischen Begriffs der Materie ist, so muß in einem zweiten Schritt dieses empirische, auf Anschauung basierende Element, mit den reinen Verstandesbegriffen zusammengebracht werden. Kant versteht darunter eine "vollständige Zergliederung des Begriffs von einer Materie überhaupt" (IV, 472,5) nach der Kategorientafel (IV, 473-6); der so zergliederte Materiebegriff soll zugrundegelegt werden (IV, 472,6). Das erste, was bei Materie heißt an dieser Stelle der Stoff der Welt und muß einerseits vom Cartesianischen Ausdruck res extensa unterschieden werden, da dieser zusammen mit seinem Pendant res cog.itans ein Begriff a priori ist; anderseits darf dieser Materiebegriff nicht mit dem Reflexionsbegriff der Materie, der dem Formbegriff gegenübersteht, verwechselt werden. Beim Reflexionsbegriff handelt es sich auch um einen apriorischen Begriff, der für die philosophische Beschreibung der Erfahrung eine conditio sine qua non bildet.
Einleitung
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diesem Verfahren herauskommt, ist der Begriff der Bewegung, der deshalb eine enorme Rolle zu spielen hat, weil er "die Grundbestimmung eines Etwas, das ein Gegenstand äußerer Sinne sein soll", bildet; "denn dadurch allein können diese Sinne affiziert werden" (IV, 476,9-12). Die Schlüsselrolle der Begriffe der Materie und Bewegung zeigt sich darin, daß wir zur Erkenntnis einer besonderen Natur nur unter ihrer Mithilfe gelangen können; sie stellen gerade diejenige Anschauung, deren Einbezug den Begriffen der allgemeinen Metaphysik einen bestimmten Inhalt verschafft, dar. In dieser Weise können die Kategorien bzw. die reinen Verstandesgrundsätze mehr als leere Denkformen sein und mehr als nur eine Natur überhaupt bestimmen. So erklärt Kant, "daß wir, um die Möglichkeit der Dinge, zu Folge der Kategorien zu verstehen und also die objektive Realität der letzteren darzutun, nicht bloß Anschauungen, sondern sogar immer äußere Anschauungen bedürfen" (B 291). Die Abhängigkeit der Kategorien von äußeren Anschauungen verdeutlicht Kant am Beispiel der reinen Begriffe der Relation: "1) um dem Begriffe der Substanz korrespondierend etwas Beharrliches in der Anschauung zu geben (und dadurch die objektive Realität dieses Begriffs darzutun), [ bedürfen] wir einer Anschauung im Räume (der Materie) ..., weil der Raum allein beharrlich bestimmt ist, die Zeit aber, mithin alles, was im inneren Sinne ist, beständig fließt. 2) Um Veränderung, als die dem Begriffe der Kausalität korrespondierende Anschauung, darzustellen, müssen wir Bewegung, als Veränderung im Räume, zum Beispiele nehmen, ja sogar dadurch allein können wir uns Veränderungen, deren Möglichkeit kein reiner Verstand begreifen kann, anschaulich machen" (ibid.). Konkreter gesprochen, benötigt der Begriff der Kausalität deshalb äußere Anschauungen, weil die Möglichkeit, "daß aus einem gegebenen Zustande ein ihm entgegengesetzter desselben Dinges folge, kann nicht allein keine Vernunft sich ohne Beispiel begreiflich, sondern nicht einmal ohne Anschauung verständlich machen; und diese Anschauung ist die der Bewegung eines Punktes im Räume ..." (B 291-2). Ahnlich wird die Sache auch in den M.A. (IV, 47B,3-20) ausgedrückt; Kant verweist aber hier nicht nur auf die schon in der K. d. r. V. hervorgehobene Angewiesenheit der allgemeinen Metaphysik auf äußere Anschauungen, sondern auch auf das Verhältnis der Transzendentalphilosophie zur besonderen Metaphysik, die den Materiebegriff zugrundelegt. Indem sie der allgemeinen Metaphysik Beispiele aus der allgemeinen Körperlehre liefere, damit jene
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Erkenntnis durch Begriff und Anschauung
nicht "unter lauter sinnleeren Begriffen unstät und schwankend herum tappe", leiste "eine abgesonderte Metaphysik der körperlichen Natur der allgemeinen vortreffliche und unentbehrliche Dienste"; denn die Beispiele ermöglichen es, "die Begriffe und Lehrsätze der letzteren (eigentlich der Transzendentalphilosophie) zu realisieren, d. i. einer bloßen Gedankenform Sinn und Bedeutung unterzulegen". So sieht man, daß es gerade die Begriffe der Materie und Bewegung sind, die einerseits die allgemeine von der besonderen Metaphysik der Natur abheben , die anderseits zur Hoffnung berechtigen, daß man über die bloß formale Notwendigkeit, die der Bestimmung durch Verstandesbegriffe eignet, hinausgelangt. Das Hauptziel dieses Kapitels bildet eine Untersuchung der Frage, inwiefern die Begriffe der besonderen Metaphysik der Natur den Überschritt von einer necessitas consequentiae zu einer necessitas consequentis ermöglichen. Dabei werden zwei verschiedene Probleme thematisch. Erstens fällt die Tatsache, daß Kant den Bewegungsbegriff sehr häufig als die Bewegung eines Punktes präzisiert (wie z. B. an der soeben zitierten Stelle B 292), auf. Der Grund für die nähere Bestimmung der Bewegung als der Bewegung eines Punktes liegt wohl in der zentralen Rolle, die der Mathematik beigemessen wird: Bewegung wird am einfachsten dann zu einer mathematisierbarer Größe, wenn sie eben als die Bewegung eines Punktes verstanden wird. Wir wollen uns deshalb zunächst mit der Rolle der Mathematik in der Naturwissenschaft befassen (2.2); dabei werden wir einleitend den Unterschied von Mathematik und Metaphysik erörtern (2.2.1), dann die Bedeutung der Mathematik für die Metaphysik und die Naturwissenschaft beschreiben (2.2. 2) und anschließend den Primat der Metaphysik über die Mathematik zum Ausdruck bringen (2.2.3). Endlich werden wir zeigen, daß die Mathematik in der Naturwissenschaft zwar unentbehrlich ist, aber nur eine instrumentelle Funktion hat (2.2.4). Der Hauptzweck dieses Teils ist die Beantwortung der Frage, was die Mathematik zu einer necessitas consequents beiträgt. Es wird ersichtlich, daß ohne die Mathematik die Gesetze der Naturwissenschaft keine necessitas consequent's erreichen können; gleichzeitig stellt sie aber nur die notwendigen, nicht hinreichenden Bedingungen einer Inhaltsnotwendigkeit dar. 4
Vgl. Vuillemin ( 4 2 ) .
Einleitung Zweitens wollen wir auf die Resultate der Zergliederung des Materiebegriffs eingehen (2.3), denn der Begriff der Bewegung ist nur der erste Schritt in diesem Verfahren. Da Kant den Begriff der Materie als einen empirischen bezeichnet, stellt sich hier die Frage, ob die metaphysischen Anfangsgründe ihren Anspruch auf Notwendigkeit nicht einbüßen. Wir werden die einzelnen Prinzipien der M. A. untersuchen und uns dabei einerseits mit dem Problem ihrer Apriorität auseinandersetzen, anderseits dann überlegen, wie allgemein sie sind. Dabei wird sich zeigen, daß die metaphysischen Anfangsgründe, trotz einigen nicht zu übersehenden Elementen, vorwiegend apriorisch sind und der Anspruch auf ihre Notwendigkeit berechtigt ist. Sie sind aber immer noch relativ allgemein, so daß sie zwar wesentlich weiter in Richtung einer necessitas consequent/s führen, als die Begriffe der allgemeinen Metaphysik, jedoch hinsichtlich der meisten besonderen Gesetze der Naturwissenschaft wenig zum Nachweis ihrer Inhaltsnotwendigkeit beizutragen vermögen. 5
Wir werden also die Hauptstücke der M . A . , die Phoronomie, Dynamik, und Mechanik untersuchen. Die Phänomenologie werden wir nicht separat behandeln, weil dieser Abschnitt der H.A. keine eigentlichen Gesetze enthält.
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2.2. Die Rolle der Mathematik in der Naturwissenschaft
2.2. 1. Philosophie und Mathematik Der Unterschied zwischen Philosophie und Mathematik läßt sich nicht ohne Schwierigkeiten charakterisieren: Allem Anschein nach fällt das Verhältnis zwischen Mathematik und allgemeiner Metaphysik anders aus als das Verhältnis zwischen Mathematik und besonderer Metaphysik. Für die allgemeine Metaphysik läßt sich der Unterschied zwischen Philosophie und Mathematik kurz und einfach wie folgt ausdrücken: "Reine Vernunfterkenntnis aus bloßen Begriffen heißt reine Philosophie oder Metaphysik; dagegen wird die, welche nur auf Konstruktion der Begriffe vermittelst Darstellung des Gegenstandes in einer Anschauung a priori ihr Erkenntnis gründet, Mathematik genannt" (IV, 469,22-25). Dabei hat man die Konstruktion eines Begriffs als die Darstellung der ihm korrespondierenden Anschauung a priori zu verstehen (A 713/B 741). Dies gilt nicht nur von der Geometrie, deren anschaulicher Charakter und deren Angewiesenheit auf Konstruktion evident sind, sondern auch von der Arithmetik, wie die folgende Überlegung ersichtlich macht. Erstens nimmt man zur Summierung von kleinen Mengen, wie z. B. 7+5, die Anschauung der Finger zu Hilfe (B 15), zweitens wird der synthetische Charakter der Addition bei größeren Zahlen noch deutlicher (B 16): Die Summe wird nicht begrifflich erreicht, sondern errechnet. Das Rechnen wird aber auf dem Papier oder an der Tafel durchgeführt, was nicht zufällig ist, wie man an der Additionsforderung sieht: Man schreibe die zu addierenden Zahlen so untereinander, daß die Einer unter den Einern stehen, etc. Die Addition von Zahlen ist schon deswegen von räumlichen Vorstellungen abhängig, weil das Stellenprinzip einer dekadischen Zahl eine räumliche Anschauung voraussetzt . So spielt aber (die räumliche und also dreidimensionale) Anschauung auch bei der Arithmetik eine entscheidende Rolle. 6
G.Martin, Arithmetik und Kombinatorik bei Kant ( 1 1 3 ) .
Philosophie und Mathematik Weiter ergibt sich der Unterschied zwischen der allgemeinen Metaphysik und Mathematik nicht aus der unterschiedlichen Behandlung der Begriffe, sondern ist schon in den Begriffen selber angelegt. D. h. aus einem Begriff lassen sich nicht nach Belieben entweder philosophische oder mathematische Erkenntnisse gewinnen. Vielmehr ist es so, daß ein Begriff a priori entweder schon eine reine Anschauung in sich enthält, "und alsdann kann er konstruiert werden; oder nichts als die Synthesis möglicher Anschauungen, die a priori nicht gegeben sind, und alsdann kann man wohl durch ihn synthetisch und a priori urteilen, aber nur diskursiv, nach Begriffen, und niemals intuitiv, durch die Konstruktion des Begriffes" (A 719-20/B 747-8). Kant verdeutlicht dies an einer oft zitierten Stelle der M.A., an der er folgendes sagt: "Gesetze, d. i. Prinzipien der Notwendigkeit dessen, was zum Dasein eines Dinges gehört, beschäftigen sich mit einem Begriffe, der sich nicht konstruieren läßt, weil das Dasein in keiner Anschauung a priori dargestellt werden kann" (IV, 469,27-30). Wenn man also mathematische Erkenntnis haben will, muß man im Besitz solcher Begriffe sein, denen eine korrespondierende Anschauung a priori gegeben werden kann. Im Falle der Begriffe der besonderen Metaphysik läßt sich die Unterscheidung von Philosophie und Mathematik nicht mit gleicher Strenge aufrechterhalten. So ist z. B. der Begriff der Bewegung eines Punktes ein Begriff der besonderen Metaphysik, der sich trotzdem gut mathematisieren, d. h. in einer Anschauung a priori darstellen läßt. Dasselbe kann man auch von den anderen Begriffen der M. A. sagen. Daß sich die Begriffe der besonderen Metaphysik im Gegensatz zu den Begriffen der allgemeinen Metaphysik konstruieren lassen, leuchtet ein, wenn man bedenkt, daß die besondere Metaphysik eine in den Begriffen der allgemeinen Metaphysik nicht enthaltene anschauliche Komponente, nämlich den empirischen Begriff der Materie, besitzt. Wie wir aber noch in 2. 3 sehen werden, bleibt der Unterschied zwischen Mathematik und Philosophie auch in bezug auf die besondere Metaphysik bestehen. Man kann die metaphysischen Anfangsgründe allerdings zunächst als philosophische Begriffe betrachten und muß sich um Ihre Darstellung in einer Anschauung a priori erst nachträglich kümmern. So wäre z. B. die Bewegung eines Punktes metaphysisch gesehen ein philosophischer Begriff, mathe-
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matisch gesehen ein Punkt in der Zeit und im Räume, der eine gewisse Geschwindigkeit und Richtung hat .
2.2.2. Die Unentbehrlichkeit der Mathematik in der Naturwissenschaft Niemand wird bestreiten, daß die Mathematik in den M. A. eine Schlüsselrolle spielt. Dies macht die folgende gut bekannte und oft zitierte Stelle sehr deutlich: "Ich behaupte aber, daß in jeder besonderen Naturlehre nur so viel eigentliche Wissenschaft angetroffen werden könne, als darin Mathematik anzutreffen ist. Denn nach dem Vorhergehenden erfordert eigentliche Wissenschaft, vornehmlich der Natur, einen reinen Teil, der dem empirischen zum Grunde liegt, und der auf Erkenntnis der Naturdinge a priori beruht. Nun heißt etwas a priori erkennen, es aus seiner bloßen Möglichkeit erkennen. Die Möglichkeit bestimmter Naturdinge kann aber nicht aus ihren bloßen Begriffen erkannt werden; denn aus diesen kann zwar die Möglichkeit des Gedankens (daß er sich selbst nicht widerspreche), aber nicht des Objekts als Naturdinges erkannt werden, welches außer dem Gedanken (als existierend) gegeben werden kann. Also wird, um die Möglichkeit bestimmter Naturdinge, mithin um diese a priori zu erkennen, noch erfordert, daß die dem Begriffe korrespondierende Anschauung a priori gegeben werde, d. i. daß der Begriff Kants Ausdrucksweise an der Stelle IV, 469,27-30 ist ungenau und irreführend und läßt sich, streng genommen, mit dem Hauptteil der M . A . , vor allem aber mit der Dynamik, nicht vereinbaren. Wie die Folge von IV, 469,27-30 zeigt, unterscheidet hier Kant nicht zwischen dem Verhältnis von Mathematik zu allgemeiner Metaphysik einerseits und dem Verhältnis von Mathematik zu besonderer Metaphysik anderseits. Eine solche Differenzierung wäre jedoch angebracht, da sich die Begriffe der besonderen Metaphysik, wie z.B. Bewegung, raumerfüllende Materie etc. konstruieren lassen, was man von den Begriffen der allgemeinen Metaphysik nicht behaupten kann. Hoppes Darstellung kann einem Widerspruch zwischen der Behauptung der Konstruierbarkeit und der Behauptung der Nichtkonstruierbarkeit der Begriffe nicht entgehen, denn einerseits anerkennt er die Stelle IV,469,26-30, anderseits gibt er zu, daß sich die Begriffe konstruieren lassen (60). Der extreme Ausweg Tuschlings, daß Kant das Verhältnis von Mathematik und Philosophie verwirrt und die M.A. sich dadurch selbst aufheben ( 1 1 5 ) , ist viel zu radikal; er läßt sich weder hermeneutisch noch angesichts der großen Errungenschaften dieses Werks rechtfertigen.
Mathematik und die Klassifikation konstruiert werde. Nun ist die Naturerkenntnis durch Konstruktion der Begriffe mathematisch. Also mag zwar eine reine Philosophie der Natur überhaupt, d. i. diejenige, die nur das, was den Begriff einer Natur im Allgemeinen ausmacht, untersucht, auch ohne Mathematik möglich sein, aber eine reine Naturlehre über bestimmte Naturdinge (Körperlehre und Seelenlehre) ist nur vermittelst der Mathematik möglich ..." (IV, 470,13-32). Obwohl es sich hier um Erkenntnis a priori und nicht etwa darum, wie eine Sache als existierend gegeben wird, handelt, ist doch stillschweigend angenommen, daß Existierendes in einer empirischen Anschauung gegeben wird, z. B. Bewegung, und daß von dieser dann so abstrahiert wird, daß gerade nur das Mathematische übrig bleibt, z. B. die Bewegung eines Punktes, oder "Bewegung als ein reines Quantum" (IV, 477,4-5). Der Grund dafür, daß Kant die empirische Anschauung nicht erwähnt, dürfte wohl der sein, daß es ihm hauptsächlich um mathematische Erkenntnis geht, bei der die empirische Anschauung keine Rolle spielt. Um den Ausdruck "eigentlich so genannte Wissenschaft" besser zu verstehen und die Aufgabe der Mathematik anschaulicher zu machen, dürfte es jetzt hilfreich sein, uns der Frage zuzuwenden, wie denn eine uneigentliche Wissenschaft aussieht und was es heißt, daß einem Begriffe keine Anschauung a priori gegeben werden kann, daß er also nicht mathematisierbar ist. 2.2.2„ 1. Mathematik und die Klassifikation der Wissenschaften Kant teilt das Ganze der Naturlehre in zwei Teile auf, nämlich historische Naturlehre und Naturwissenschaft. Die erstere von diesen enthält "nichts als systematisch geordnete Fakta der Naturdinge". Sie besteht "wiederum aus Naturbeschreibung, als einem Klassensystem derselben nach Ähnlichkeiten, und Naturgeschichte, als einer systematischen Darstellung derselben in verschiedenen Zeiten und örtern" (IV,468,7-12). Damit ist offensichtlich die Linnaesche Biologie gemeint. Allerdings dürfte man sich hier die Frage stellen, warum der Linnaeschen Systematik eine untergeordnete Stelle in der naturwissenschaftlichen Hierarchie eingeräumt wird. Die Biologie erfüllte doch zu Kants Zeiten in einem ganz beträchtlichen Maße die Forderung der K.d.r.V., daß man an die Natur mit einem Plan herantreten muß. Vor Linnaeus hatte sich die Biologie weitgehend nur mit der Sammlung von Gegebenheiten und ihrer Beschrei-
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bung beschäftigt. Man hatte zwar versucht, die Gegebenheiten systematisch darzustellen, doch ohne großen Erfolg, weil man sich eben zuvor q keine klare und brauchbare Methode ausgedacht hatte . Linnaeus hingegen war es gelungen, eine Methode zu schaffen, die es ihm ermöglichte, alle schon existierenden Gegebenheiten systematisch zu präsentieren und neue g noch zu entdeckende Gegebenheiten in sein System mühelos einzuordnen . Doch fehlten auch der Linnaeschen Biologie klare grundsätzliche Prinzipien, und so mußte die Zuordnung zu einer systematischen Kategorie letztlich nach zufälligen Merkmalen erfolgen. Die Schwierigkeiten der damaligen Biologie bestanden gerade darin, daß es keine allgemeinen Regeln der Zuordnung gab, denn die Idee einer wesentlichen Ähnlichkeit genügte nicht. So war aber auch der Erfolg der Linnaeschen Biologie mehr empirisch als theoretisch - Kants niedrige Einstufung der Biologie wird damit verständlich . Wir können hier auch etwas deutlicher sehen, welche Eigenschaften ein System haben muß, damit es notwendige Erkenntnis liefern kann. Es darf nicht aufgrund von zufälligen empirischen Begriffen aufgestellt werden, sondern muß aus einem sicheren Prinzip folgen. Beziehen wir dies auf unsere im Abschnitt 1.2 gewonnenen Erkenntnisse, so können wir jetzt sagen, daß der Gegenstand der Biologie kein echtes Objekt ist, während der Gegenstand der Naturwissenschaft als Objekt bezeichnet werden darf. Ein weiteres Wissensgebiet, das den Namen einer eigentlichen Wissenschaft nicht verdient, ist die Chemie. Kant erkennt ihr Systematizität zu, und sogar Rationalität, denn die Verknüpfung der Erkenntnis im Sys8 9 10 11
Hall (277-295). Ibid. ( 2 9 7 ) . Ibid. ( 3 0 3 ) . Interessant ist, daß sich auch die heutige Biologie trotz sehr wesentlichen Fortschritten von diesen Schwierigkeiten nicht völlig befreit hat. So richtet sich die Systematik nach sogenannten charakteristischen Merkmalen oder Schlüsselmerkmalen (denn alle Merkmale zu untersuchen wäre zu umständlich), von denen man weiß, daß sie für viele andere repräsentativ sein können. Der Begriff eines Bauplans wird eingeführt, der den verschiedenen natürlichen Organismengruppen zugrundeliegt, und der sowohl geometrische Konstruktionspläne, als auch biologische Funktionspläne, umfaßt. Siehe z. B. Czihak (879-884). So wird die Willkür bei der Zuordnung stark eingeschränkt, nicht aber völlig eliminiert, wie man beim Vergleich verschiedener Lehrbücher feststellen kann, in denen dieselben Organismen verschieden eingeteilt werden.
Mathematik und die Klassifikation tem der Chemie bildet einen "Zusammenhang von Gründen und Folgen". Trotzdem ist Chemie keine strenge Wissenschaft, da "diese Gründe oder Prinzipien in ihr ... doch zuletzt bloß empirisch sind, und die Gesetze, aus denen die gegebenen Fakta durch die Vernunft erklärt werden, bloß Erfahrungsgesetze sind". Die chemischen Gesetze führen "kein Bewußtsein ihrer Notwendigkeit bei sich (sind nicht apodiktisch gewiß), und alsdann verdient das Ganze in strengem Sinne nicht den Namen einer Wissenschaft, und Chemie sollte daher eher systematische Kunst als Wissenschaft heißen" (IV,468,19-29). Die Chemie ist also deshalb keine eigentliche Wissenschaft, weil sie ihren Gegenstand nur nach Erfahrungsgesetzen statt nach Prinzipien a priori behandelt, weil sie über keinen reinen Teil verfügt, der seinerseits "die Prinzipien a priori aller übrigen Naturerklärungen enthält" (IV,469,2-3). Der Grund dafür, daß der Chemie ein reiner Teil fehlt, liegt darin, daß es bis zu Kants Zeit nicht gelungen war, für die chemischen Wechselwirkungen einen Begriff zu finden, der sich konstruieren ließe, d. h. kein Gesetz der Annäherung oder Entfernung der Teile, "nach welchem etwa in Proportion ihrer Dichtigkeiten u.d.g. ihre Bewegungen samt ihren Folgen sich im Räume a priori anschaulich machen und darstellen lassen" (IV,470, 36-471,4). D. h. die Chemie hat keinen Begriff, der dem physikalischen Bewegungsbegriff entsprechen würde, d. h. sich auf seine reinen mathematischen Komponenten reduzieren ließe. Letztlich kann auch die Psychologie zu keiner eigentlichen Wissenschaft werden. Die Mathematik ist hier auf die Phänomene des inneren Sinnes und deren Gesetze nicht anwendbar. Man könnnte höchstens "das Gesetz der Stetigkeit in dem Abflüsse der inneren Veränderungen desselben in Anschlag bringen wollen, welches aber eine Erweiterung der Erkenntnis sein würde, die sich zu der, welche die Mathematik der Körperlehre verschafft, ungefähr so verhalten würde, wie die Lehre von den Eigenschaften der geraden Linie zur ganzen Geometrie" (IV,471,11-19) 12 . Man kann hier übrigens auch besser verstehen, warum Kant in der zweiten Auflage der K. d.r.V., die ja kurz nach den M. A. erschienen ist, die Rolle der äußeren Anschauung so wesentlich hervorhob . Er selber wurde 12 13
Heute würde man natürlich noch einwenden, daß man bei der empirischen Psychologie nicht nur Gedanken, wie dies Kant tut, sondern auch Verhalten untersuchen kann. Vgl. Mischel (432-455). Dies geschieht hauptsächlich in der Widerlegung des Idealismus
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sich nämlich der Tatsache, daß wissenschaftliche Gesetze im strengen Sinne des Wortes nur bezüglich des Raumes möglich sind, bewußt, und so betonte er die äußere auf Kosten der inneren Anschauung. 2.2.2.2. Angewiesenheit der Metaphysik auf die Mathematik Wir haben in 2. l darauf hingewiesen, daß die allgemeine Metaphysik Anschauungen braucht, damit ihren Begriffen objektive Realität zukommt (B 291). Diese Anschauungen sind aber mathematisierbare Begriffe, so z. B. die Bewegung eines Punktes im Raum (B 292). Noch deutlicher kommt die Angewiesenheit der allgemeinen Metaphysik auf die Mathematik an der Stelle IV,478,3-8 zum Ausdruck: "Es ist ... in der Tat sehr merkwürdig ..., daß die allgemeine Metaphysik in allen Fällen, wo sie Beispiele (Anschauungen) bedarf, um ihren reinen Verstandesbegriffen Bedeutung zu verschaffen, diese jederzeit aus der allgemeinen Körperlehre, mithin von der Form und den Prinzipien der äußeren Anschauung hernehmen müsse ...". Da die Form und die Prinzipien der äußeren Anschauung nichts weiteres als die Geometrie sind, ist es klar, daß die Mathematik die allgemeine Metaphysik dadurch realisiert, daß sie den Gedanken einer Natursache konkretisiert - eine Leistung, die begrifflich allein nicht zu erbringen ist. So können wir mit Vuillemin (17) sagen, daß wir von der Möglichkeit der Erfahrung zu einer bestimmten Erfahrung übergehen; in dieser Weise schreiten wir auch in Richtung einer necessitos consequent /s fort .
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und der Allgemeinen Anmerkung zum System der Grundsätze, aber auch in der Transzendentalen Deduktion. Plaass behauptet, daß nicht die allgemeine, sondern die besondere Metaphysik auf die Mathematik angewiesen ist. Er geht dabei von der Stelle IV,470,13-35 aus, an deren Schluß Kant, seiner Ansicht nach, die besondere von der allgemeinen Metaphysik unterscheidet und angeblich behauptet, daß die Mathematik für die besondere Metaphysik notwendig ist, weil sie den Beweis der objektiven Realität der Begriffe der Metaphysik liefern muß. Hoppe weist darauf hin, daß Kant hier nicht von der besonderen Metaphysik, sondern von der Körper- und Seelenlehre redet und es gerade diese sind, die ohne Mathematik keine Wissenschaft werden können. So werden aber nicht allgemeine und besondere Metaphysik einander gegenübergestellt, wie Plaass behauptet; demzufolge stimmt es auch nicht, daß nach Kant die besondere Metaphysik die Mathematik nötig hat (59). Nun ist es zwar nicht völlig evident, daß Kant am Ende von IV,470,13-35 wirklich nicht besondere und
Die Rolle der Metaphysik
2.2.3. Die Rolle der Metaphysik in der Naturwissenschaft Aus dem soeben Gesagten sollte die enorme Wichtigkeit der Mathematik deutlich sein. Doch, wie man schon dem Beispiel der Biologie entnehmen konnte, darf auch das Begriffliche nicht vernachlässigt werden. In der Tat hängt die Wissenschaftlichkeit der Naturwissenschaft an erster Stelle von einer metaphysischen Grundlage ab; nur diese kann der Naturforschung die erwünschte Systematizität sichern und den Naturwissenschaftler vor dem Irrtum bewahren. In diesem Sinne sagt Kant, daß eine eigentlich so zu nennende Naturwissenschaft zuerst Metaphysik der Natur voraussetzt (IV,469,26-27), und die Mathematik gar nicht zum reinen Teil der Naturwissenschaft gehört: "Denn die Metaphysik der Natur sondert sich gänzlich von der Mathematik ab, hat auch bei weitem nicht so viel erweiternde Einsichten anzubieten, als diese ..." (A 47/ 875n.). Bei der Metaphysik kann man auf absolute Vollständigkeit hoffen, denn in der Metaphysik wird der Gegenstand "wie er bloß nach den allgemeinen Gesetzen des Denkens ... vorgestellt werden muß, betrachtet". In der allgemeine Metaphysik einander gegenüberstellt, da er die Ausdrücke Körperlehre und besondere Metaphysik an anderen Stellen synonym benutzt (z. B. IV,478,3-20). Dennoch dürfte Hoppe Recht haben. Denn wenn man den breiteren Kontext berücksichtigt, kann man zur Ueberzeugung gelangen, daß Kant wirklich nur die Angewiesenheit der Physik auf die Mathematik hervorhebt. Im folgenden werden Chemie und empirische Seelenlehre als Spezialfälle reiner nicht möglicher Naturlehren angeführt, weil die Mathematik in diesen Bereichen nicht vorkommt. Dazu muß man allerdings bemerken, daß die Mathematik auch die besondere Metaphysik irgendwie bestimmt und "realisiert", auch wenn das genaue Verhältnis dieser zwei Wissensgebiete sehr verwickelt ist, wie im Teil 2.3 noch ersichtlich wird. Hoppe bestreitet jede Angewiesenheit der besonderen Metaphysik auf die Mathematik. Er behauptet, daß die Begriffe der besonderen Metaphysik "ihre objektive Realität auf Denken", und nicht auf die dem Begriffe korrespondierende Anschauung a priori gründen (59-61). Im Gegensatz zu unserer Arbeit (und der von Plaass) geht es Hoppe an dieser Stelle nur um eine formale Objektivität, die mit der necessitas conseguentiae zu tun hat, nicht aber um eine inhaltliche Objektivität, die die necessitas consequentis betrifft. Für ihre formale Objektivität sind alle Begriffe der Metaphysik tatsächlich nur auf Denken angewiesen; in diesem Sinn sind sie objektiv gültig, weil sie die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung darstellen.
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Erkenntnis durch Begriff und Anschauung
Mathematik kann man hingegen keine Vollständigkeit erreichen, denn in ihr wird der Gegenstand, wie er nach Datis der reinen Anschauung vorgestellt werden muß, betrachtet, und da es eine "unendliche Mannigfaltigkeit von reinen Anschauungen" gibt, wird die Mathematik "ins Unendliche erweitert werden können" (IV,473,15-34). Soll also die Metaphysik der Natur vollständig sein, muß man sie von der Mathematik trennen. Ebenfalls von größter Bedeutung ist es, die metaphysischen Anfangsgründe explizit auszulegen und damit eine "Kritik des auf die Natur anzuwendenden reinen Verstandeserkenntnisses überhaupt" (A 47/ 875n.) zustandezubringen. Damit will Kant u.a. sein Projekt von dem Newtonschen abgrenzen. Dies wird schon aus dem Titel des Kantischen Werkes "Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft" ersichtlich; hier soll eine Korrektur des Vorhabens Newtons, mathematische Anfangsgründe der Naturwissenschaft darzulegen, vorgenommen werden. Wie Cohen anhand eines Manuskripts aus Kants Nachlaß ausführt, betrachtete Kant den Ausdruck "Mathematische Anfangsgründe der Naturwissenschaft" als einen Widerspruch, denn es kann überhaupt keine mathematische Prinzipien der Philosophie im Fache der Naturwissenschaft geben . Darüber hinaus führte die Unterlassung einer Kritik der begrifflichen Grundlagen der Naturwissenschaft dazu, daß "selbst Mathematiker [ d. h. Newtonianer], indem sie gewissen gemeinen, in der Tat doch metaphysischen Begriffen anhängen, die Naturlehre unvermerkt mit Hypothesen belästigt haben, welche bei einer Kritik dieser Prinzipien verschwinden, ohne dadurch doch dem Gebrauche der Mathematik in diesem Felde (der ganz unentbehrlich ist) im mindesten Abbruch zu tun" (A 847/B 75 .). Die "Naturphilosophen" wollten zwar mathematisch verfahren, haben sich aber unbewußt metaphysischer Prinzipien bedienen müssen, "wenn sie sich gleich sonst wider allen Anspruch der Metaphysik auf ihre Wissenschaft feierlich verwahrten" (IV,472,13-17). Ein Beispiel eines solchen metaphysischen Prinzips, das unbemerkt in die mathematische Naturwissenschaft gelangte, Ist der Begriff des leeren Raumes, der von den Naturwissenschaftlern stillschweigend angenommen wird und der Kant im Laufe der M. A. ausführlich beschäftigte (A 173-4/B 215-6, Allg. Anm. zur Dyn.).
15 Cohen (90-91), vgl. Waidhas ( 1 4 ) .
Anwendbarkeit der Mathematik
2.2. 3.1. Anwendbarkeit der Mathematik Weiter zeigt sich die Wichtigkeit der Metaphysik darin, daß die Mathematik metaphysische Begriffe zur Sicherung ihrer Anwendbarkeit auf die Natur benötigt. Bei Kant wird die seit dem Entstehen einer mathematischen Physik so häufig diskutierte Frage der Anwendbarkeit der Mathematik auf die Natur auf drei Ebenen thematisch. Erstens in der Transzendentalen Ästhetik, wo die Mathematik transzendental begründet wird und damit auch indirekt ihre Anwendbarkeit auf die Natur. Die Mathematik stellt die Verhältnisse im Raum und in der Zeit dar, und Raum und Zeit sind die reinen Anschauungsformen, ohne die auch keine empirische Anschauung möglich ist. Zweitens wird dieses Problem in Verbindung mit den "mathematischen Grundsätzen" des Verstandes behandelt. Diese Grundsätze machen keinen Teil der Mathematik aus, denn sie sind Sätze des reinen Verstandes. Die Sätze der Mathematik aber werden "nicht aus reinen Begriffen, sondern aus reinen Anschauungen (obgleich vermittelst des Verstandes) gezogen" (A 159/B 199). Sie rechtfertigen jedoch die Anwendung der Sätze der Mathematik auf Erfahrung; deren "objektive Gültigkeit, ja die Möglichkeit solcher synthetischen Erkenntnis a priori (die Deduktion derselben) beruht doch immer auf dem reinen Verstande. Daher werde ich unter meine Grundsätze die der Mathematik nicht mitzählen, aber wohl diejenigen, worauf sich dieser ihre Möglichkeit und objektive Gültigkeit a priori gründet ..." (A 160/B 199). Gegenüber der Lehre der Transzendentalen Ästhetik fällt den zwei mathematischen Grundsätzen eine neue Funktion zu. So sagt Kant im Beweis der "Axiome der Anschauung", daß die Erscheinungen alle Größen sind "und zwar extensive Größen, weil sie als Anschauungen im Räume oder der Zeit durch dieselbe Synthesis vorgestellt werden müssen, als wodurch Raum und Zeit überhaupt bestimmt werden" (B 203). Diese "sukzessive Synthesis der produktiven Einbildungskraft" (A 163/B 204) Ist gerade dasjenige Element, welches die Lehre von den mathematischen Grundsätzen von der Transzendentalen Ästhetik unterscheidet. In der Transzendentalen Ästhetik sind der Raum und die Zeit nur unbestimmte Größen, sie sind also nicht meßbar. Die Synthese der Axiome der Anschauung ermöglicht das Messen, denn jetzt kann man Räume bzw. Zeiten zueinanderfügen, und eine Bestimmung des Raumes und
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Erkenntnis durch Begriff und Anschauung
der Zeit wird durchführbar . Ahnlich unterscheidet sich die Lehre von den Antizipationen der Wahrnehmung dadurch von der Transzendentalen Ästhetik, daß sie allen Erscheinungen eine bestimmbare intensive Größe, d. h. einen Grad zuschreibt. Zudem handelt sie aber auch nicht von Bestimmungen des Raumes und der Zeit, sondern von den "Materien zu irgend einem Objekte überhaupt", d. h. vom Realen (B 207). Die dritte Ebene, auf der die Anwendung der Mathematik auf die Natur zum Thema wird, bilden die metaphysischen Anfangsgründe. Dies konnte man schon der oben erwähnten Bestimmung der Bewegung als der Bewegung eines Punktes entnehmen. Die M. A. leisten bei der Auflösung des Problems der Anwendung der Mathematik auf die Natur deshalb mehr als die mathematischen Grundsätze, weil sich, wie wir oben (1.1-1.2) schon deutlich gesehen haben, die reinen Verstandesbegriffe nur auf eine allgemeine Natur beziehen und die besondere Natur unbestimmt lassen. Und es ist gerade die Funktion der M.A., auch die besonderen Ereignisse zu bestimmen und die Anwendung der Mathematik auf besondere Objekte zu sichern. Während also Kant von den mathematischen Grundsätzen bemerkt, daß es merkwürdig ist, "daß wir an Größen überhaupt a priori nur eine einzige Qualität, nämlich die Kontinuität, an aller Qualität aber (dem realen der Erscheinungen) nichts weiter a priori, als die intensive Quantität derselben, nämlich daß sie einen Grad haben, erkennen können" (A 176/B 218), kann man von den M. A. sagen, daß sie die Anwendung der Mathematik auf die Resultate der Zergliederung des empirischen Begriffs der Materie garantieren können, z. B. auf Körper, die nur als die Bewegung eines Punktes betrachtet werden, oder auf raumerfüllende Materie, etc.17. 16
17
Die Idee, daß die Transzendentale Aesthetik den Raum und die Zeit unbestimmt läßt, während die mathematischen Grundsätze eine Bestimmung des Raumes und der Zeit herbeischaffen, findet sich bei Brittan ( 9 6 f f . ) . Hoppe meint dazu, daß die mathematischen Grundsätze nur auf die Anschauung der Erscheinugen, nicht aber auf die Verbindung der Erscheinugen ihrem Dasein nach, gehen und "die Untersuchung der Möglichkeit einer mathematischen Naturlehre, in der es nicht mehr nur um die Anschauung der Gegenstände, sondern wirklich um ihr Dasein geht" fehle ( 4 9 ) . Nun ist es zwar richtig, daß die mathematischen Grundsätze kein Objekt direkt bestimmen, sondern nur die subjektiven Bedingungen der Möglichkeit eines Objekts betreffen, denn gerade so unterscheiden sie sich von den dynamischen Grundsätzen, die das Dasein einer Erscheinung dadurch be-
Mathematik im O.p.
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Hier kommt die Unentbehrlichkeit der Metaphysik für die Sicherung der Anwendbarkeit der Mathematik sehr deutlich zum Vorschein. Die Mathematik wird nur dann auf die Körperlehre anwendbar, schreibt Kant, wenn "die Prinzipien der Konstruktion der Begriffe, welche zur Möglichkeit einer Materie überhaupt gehören, vorangeschickt werden; mithin wird eine vollständige Zergliederung des Begriffs von einer Materie überhaupt zum Grunde gelegt werden müssen, welches ein Geschäfte der reinen Philosophie ist" (IV,472,l-7).
2.2.4. Mathematik als Instrument Die genaue Stellung der Mathematik in der Naturwissenschaft kommt im O.p. etwas klarer zum Ausdruck als in den M.A. Kant redet im O.p. von der Mathematik als von einem Instrument, das zwar unentbehrlich ist, dennoch unter Aufsicht der metaphysischen Begriffe stehen muß18 . Wir wollen zunächst die sich mit der Rolle der Mathematik befassenden Stellen des O.p. untersuchen (2.2.4.1). Anschließend werden wir den Beitrag der Mathematik zur Naturwissenschaft an einem konkreten Fall erörtern (2.2.4.2). 2.2.4 0 lo Mathematik Im O.p. Mit seinen Bemerkungen über das Verhältnis der Mathematik und der besonderen Metaphysik knüpft Kant im O.p. an seine Äußerungen in den M. A. an. Dies ersehen wir aus der Unterscheidung von Mathematik 19 und
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stimmen, daß sie die Ordnung der Wahrnehmungen festlegen (A 160/B 199). Wie aber noch deutlich wird ( 2 . 3 ) , wäre es im besten Falle ungenau zu sagen, daß es in den M.A. um die Mathematisierung der dynamischen Grundsätze geht; zudem widerspricht Hoppe sich selbst, denn nur wenig später (59) zitiert er eine Stelle aus den M . A . , wo Kant sagt, daß sich das Dasein in keiner Anschauung a priori darstellen läßt (IV,469,29-30). Diese Idee taucht auch in dem von Cohen (91) aufgeführten Manuskript aus Kants handschriftlichem Nachlaß auf. Vgl. oben, Anm. 15. Im O.p. benutzt Kant häufig den Ausdruck "mathematische Anfangsgrande" , was aber auf dasselbe hinauskommt wie "Mathematik", denn in beiden Fällen handelt es sich um eine Erkenntnis aus der Konstruktion der Begriffe in der Anschauung a priori.
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Metaphysik, wobei die Metaphysik in der Naturwissenschaft vorausgesetzt werden muß. So heißt es einerseits, daß die Möglichkeiten der Anwendung der Mathematik auf einen Begriff der besonderen Metaphysik diesen Begriff noch lange nicht zu einem Bestandteil der Mathematik macht: "Einige bewegenden Kräfte qualifizieren sich zu einer ausgebreiteten Anwendung der Mathematik auf sie ..., aber darum sind es nicht mathematische Prinzipien" (11,168,16-169,4). Anderseits gibt es aber auch eine ganze Menge von Erscheinungen, die mit der Zergliederung des empirischen Begriffs der Materie nichts zu tun haben und die demzufolge auch nicht zur Erklärung der Materie gehören, die sich aber mathematisieren lassen. Will man die besondere Metaphysik als ein vollständiges Ganzes aufführen, so muß man die metaphysischen Grundsätze von allen anderen Begriffen, sei es den mathematischen oder den empirischen, absondern. Wir zeigen dies an Hand eines Beispiels. Im O. p. stellt Kant den metaphysischen Anfangsgründen, die er auch dynamische oder sogar physische Anfangsgründe nennt, sehr häufig die mathematischen Anfangsgründe gegenüber. Die ersteren allein sind Teil der Erklärung der Materie und sie enthalten in Übereinstimmung mit dem zweiten Hauptstück der M. A. zwei innere, ursprünglich bewegende Kräfte, nämlich die Anziehung und die AbstoBung. Dagegen gehören zu den mathematischen Anfangsgründen solche bewegenden Kräfte, "welche von der wirklichen Bewegung der Mateon rie herrühren" (1,479,3-7) . Als Beispiel nennt Kant häufig die kontinuierliche, vom Mittelpunkte sich entfernende Bewegung und die sie verursachende Kraft, d. h. die v/s centnfuga, die als eine Wirkung der Kreisbewegung entsteht (1,290,5-9). Es versteht sich von selbst, daß die ursprünglichen Kräfte als gegebene Kräfte der Materie zugrunde gelegt werden müssen, denn sie sind wesentliche Eigenschaften der Materie, während sich die mathematischen Anfangsgründe nur auf zufällige Zustände beziehen (1,165,23-27). Wenn beispielsweise ein Schleuderstein an einem Faden herumgeschwungen wird, so gründet sich der "Zusammenhang" des Fadens in den metaphysischen Prinzipien (auch wenn "Zusammenhang", streng genommen, keine ursprüngliche, sondern nur eine abgeleitete Kraft ist - Allg. Anm. zur Dynamik), die Zentrifugalkraft hingegen in den mathematischen Prinzipien, denn ohne Zusammenhang gäbe es keine Materie, während Materie auch ohne Zentrifugalkraft zu denken ist. Der 20 Siehe auch 1,528,11-13; 1,286,19-287,2; 1,165,23-27; 1,166,22-167,22.
Mathematik im O.p.
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für die Naturwissenschaft wichtigste Fall, wo die metaphysischen und mathematischen Anfangsgründe beide vorkommen, ist ohne Zweifel die Bewegung der Planeten um die Sonne oder die Bewegung des Mondes um die Erde. Da wird der Mond "durch die Gravitationsanziehung [also durch eine zu den metaphysischen Anfangsgründen gehörende Kraft] zum Erdmittelpunkte gezogen, zugleich aber auch nach der Tangente seines Kreises von jenem sich zu entfernen strebend, vorgestellt, wo dann die Bewegung vor der bewegenden Kraft [ die also zu den mathematischen Anfangsgründen gehört] als Ursache derselben vorhergeht" (11,165,6-9). Im übrigen muß man nach dem O.p. wie der K.d.r.V. und den M.A. die Metaphysik auch deshalb voraussetzen, weil es ein "Wahn" wäre, "ohne vorher gegründete metaphysiche Anfangsgründe, bloß etwa mit Mathematik ausgerüstet, ein philosophisches System zu Stande bringen" zu hoffen, könnte doch "auf die Art alles [ nur] fragmentarisch behandelt ... und nie daraus ein genugtuendes Ganze der Physik auch nur im Plane werden" (1,527,1-6). Der Vorteil der Mathematik, daß sie sich nämlich ins Unendliche erweitern läßt, wird so zu ihrem Nachteil, weil sie nie zu einem vollständigen System führen kann. Dies ist auch das Problem der mathematischen Prinzipien Newtons, die "nicht aus einem Prinzip systematisch aufgestellt, sondern empirisch und rhapsodisch aufgelesen werden mußten, folglich immer noch neue Zusätze erwarten ließen" (11,518, 21-25). Aber auch wenn die mathematischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft keinen Teil der Naturphilosophie ausmachen, sind sie doch ein unentbehrliches Instrument (1,161,7-14), das dazu dient, die Größe der Bewegung und der bewegenden Kräfte "zu schätzen und die Gesetze derselben für die Physik zu bestimmen" (1,482,4-15). Und es ist Kants feste Überzeugung, daß es ein besonderes Glück für die Physik ist, "wenn die Phänomene der bewegenden Kräfte der Materie (die Bewegungen) sich mathematisch behandeln lassen und Aufforderung der Vernunft allenfalls auch auf Gefahr der Unsicherheit einer angenommenen Hypothese, es auf eine solche Erklärungsart zu wagen, als sich bloß auf die empirische Nachforschung einzuschränken, weil die mathematische Behandlung, wo sie anwendbar ist, mit der anschaulichen Klarheit auch die größte Sicherheit in Bestimmung Ihrer Ursachen bei sich führt" (11,168,16-169,4). Hier wird übrigens auch die Stelle IV,470,13ff. klarer. Mathematik braucht man bei einer eigentlich so genannten Wissenschaft deswegen, weil sie allein fähig ist, die nötige Sicherheit herbeizubringen. In
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einer Lehre, wie z. B. der Chemie, deren Begriffe sich nicht in der Anschauung a priori darstellen lassen, erreicht man diese Sicherheit nie und kann demzufolge auch von keiner eigentlichen Wissenschaft sprechen. Wir werden jetzt das Verhältnis von Mathematik und Metaphysik anhand einer kurzen Untersuchung der geschichtlichen Entwicklung des beim Entstehen der Physik unentbehrlichen Verständnisses der Kreisbewegung weiter verdeutlichen. Dabei verfolgen wir zwei Ziele. Erstens wollen wir klarmachen, warum Kant die Zentrifugalkraft, im Gegensatz zur Gravitationskraft, zu den mathematischen und nicht zu den metaphysischen Anfangsgründen zählt. Zweitens wollen wir zeigen, warum die Mathematik, trotz ihres untergeordneten Charakters, noch aus einem weiteren Grund für den Gewißheitsanspruch unentbehrlich ist. 2.2.4.2. Der Fall der Kreisbewegung Der erste, der zur modernen Mechanik Wesentliches beigetragen hat, war ohne Zweifel Galilei; doch sein Verständnis der Kreisbewegung war mangelhaft und ermöglichte keine hinreichende Erklärung. Schuld daran waren gleich mehrere Auffassungen Galileis, die er zum Teil von seinen Vorgängern übernahm. Erstens lehnte er die Unterscheidung zwischen geradliniger und kreisförmiger Bewegung ab. Bewegung entlang einer horizontalen Linie, die keine Schiefe oder Steilheit besitzt, verstand er als Bewegung entlang von Punkten, die von einem Gravitationszentrum gleich weit entfernt sind, d. h. als Kreisbewegung um einen Mittelpunkt 21 . So nahm die Kreisbewegung die Gestalt einer Trägheitsbewegung an, die aus der Sicht der Dynamik dem Ruhestand gleichkam und die Galilei als eine "natürliche" Bewegung betrachtete. Er war der Auffassung, daß die Kreisbewegung allen Körpern auf der Erde nicht nachträglich oder zufälligerweise, sondern von der Natur her für alle Ewigkeit 2? zukommt . Damit eng verbunden ist die Ansicht, die schon den alten Griechen vertraut war, daß die Kreisbewegung allein mit einer geordneten Welt in Einklang steht. Eine beschleunigte Bewegung weist darauf hin, daß sich der Körper einem angestrebten Ziel nähert, eine verzöger21 Dialogo sopra i due massimi sietemi (53): "Ma il moto per la linea orizontale, ehe non decliva ne elevata, § moto circolare intorno al centro". Vgl. Westfall ( 4 , 1 1 ) . 22 Dialogo (180).
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te Bewegung tritt ein, wenn er sich von jenem Ziel entfernt. Nur bei der Kreisbewegung setzt sich der Körper von seinem Ziel ab und bewegt sich wieder zu ihm hin - Neigung und Abneigung sind einander gleich. Daraus ergibt sich weder eine verzögerte, noch eine beschleunigte, sondern eine gleichförmige Bewegung, die ewig fortdauern kann. Galilei schließt, "daB nur die Kreisbewegung von Natur aus den das Weltall zusammensetzenden Naturkörpern zukommen kann, sobald diese sich in vollkommener Ordnung befinden ... nur die Ruhe und die Kreisbewegung sind geeignet, die Ordnung aufrecht zu erhalten" 23.Trotz dieses Sachverhalts - man möchte fast sagen im Widerspruch dazu - machte der für seine praktischen Experimente und Beobachtungen berühmte Galilei auch den ersten kleinen Schritt in Richtung auf die von uns als richtig eingestufte Newtonsche Auffassung der Kreisbewegung. Er erkannte nämlich vermutlich als Resultat einfacher Beobachtungen -, daß rotierende Körper einen Antrieb nach außen besitzen , dem ein ebenso natürlicher 25 Hang sich dem Mittelpunkte der Erde zu nahem entgegensteht . Wir sollten hier allerdings diesen Antrieb (impeto) oder Hang (propension) 26 nicht als Newtonsche (und also auch als Kantische) Kräfte verstehen . Galilei kannte nicht das 2.Newtonsche Bewegungsgesetz, das den Zusam07 menhang zwischen Kraft und Beschleunigung formuliert , und man muß das folgende Galileische Argument eher als Ausdruck einer kinematischen als einer dynamischen Auffassung nehmen. Im Laufe seines Beweises, daß Körper von der Erde durch ihre Umdrehung nicht weggeschleudert werden, redet Galilei vor allem von den zwei hier in Betracht kommenden Bewegungen, nämlich einer Schleuderbewegung, die an der Berührungsstelle beginnt und sich entlang der Tangente fortsetzt, und einer Bewegung entlang der Sekante zum Mittelpunkt hin. Richtig formuliert ist seine Einsicht, daß die Schleuderbewegung nur dann verhindert wird, wenn der Antrieb entlang der Tangente gegenüber dem Hang, sich entlang der Se2B kante zu bewegen, überwiegt . Falsch hingegen ist seine nachfolgende 23 24 25 26 27 28
Dialog Ober die beiden hauptsächlichen Weltsysteme (33-4). Dialogo ( 2 1 6 ) : "La vertigine conferisce al mobile impeto verso la circonferenza". Ibid. ( 2 2 1 ) : "propension naturale die muoversi verso il centro ... della Terra". Vgl.Westfall (7-8). Ibid. ( 2 ) . Ibid. ( 2 2 2 ) .
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Behauptung, daß die Bewegung entlang der Tangente beliebig rasch und die entlang der Sekante beliebig langsam sein mag, ohne daß sich der 29 Körper von der Oberfläche entfernt . Auch sein (unrichtiger) :ige "geomet.30 rischer" Beweis offenbart seinen kinematischen Standpunkt^ Descartes war der erste, der in der Kreisbewegung die Wirkung von Kräften explizit erkannte. Seiner Auffassung nach war nur eine geradlinige Bewegung dem Ruhezustand gleich . Jeder Körper, der sich im Kreise bewegt, ist kontinuierlich bestrebt, sich vom Kreis zu entfernen. Wenn wir eine Schleuder herumdrehen, spüren wir, daß sich der Faden anspannt und der Stein zieht, um sich aus unserer Hand zu entfer32 nen . Es sieht so aus, daß Descartes neben einem Bestreben des Körpers, sich entlang der Tangente zu bewegen, noch ein zweites Bestreben feststellte, nämlich ein solches, das von der Mitte des Kreises nach außen hin gerichtet ist, also einen "conatus a centro". Er verglich dieses zweite Bestreben mit der Bewegung einer Ameise, die auf einem sich um ein Ende im Kreise drehenden Lineal nach außen läuft und deren Bewegung mit der Bewegung des Lineals so proportioniert ist, daß sie sich immer auf der Tangente des Kreises befindet . In einem zweiten Vergleich ist ein kleiner Ball in einem sich um ein Ende drehenden Rohr eingeschlossen; der Ball gelangt von der Mitte des vom Rohr umschriebenen Kreises nach und nach zum anderen Ende des Rohrs . Das Bestreben der Ameise und die Bewegung des Balles nach außen sind einem "conatus a centro" analog, d. h. sie stellen eine Zentrifugalkraft dar. Wichtig ist, daß Descartes' Analyse die Kreisbewegung nicht zu erklären vermag, 29 30
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Ibid. ( 2 2 3 ) . Ibid. ( 2 2 4 f f . ) . Galileis Beweis, modern ausgedrückt, lautet wie folgt. Die von der Trägheitskraft herrührende Bewegung ist ein unendlich Kleines von der zweiten Ordnung, die von der Anziehung der Erde stammende Bewegung ein unendlich Kleines erster Ordnung; die erstere Bewegung kann demzufolge vernachlässigt werden. Der Fehler liegt darin, daß Galilei unter der ersten "Bewegung" die zu durchlaufende Strecke, unter der zweiten "Bewegung" die erlangte Geschwindigkeit in Betracht zieht. Nimmt man in beiden Fällen entweder die Strecken oder die Geschwindigkeiten, so werden die unendlich kleinen Größen von gleicher Ordnung sein und die Trägheitskraft wird nicht ohne Einfluß bleiben. Vgl. Strauss, in: Dialog über die beiden hauptsächlichen Weltsysteme (530). Descartes, Principes (11,37-39). Ibid. (11,39). Ibid. (111,58). Ibid. ( 5 9 ) .
Mathematik im O.p. denn er redet nur von einer Kraft, die der Körper selber schafft, nicht aber von derjenigen Kraft, die den Körper in seiner Umlaufbahn halten könnte. Dennoch wurde Descartes' Verständnis der Kreisbewegung eine Zeitlang praktisch universal akzeptiert, so auch von Huyghens, dem eigentlichen Erfinder des Ausdrucks "vis centrifuga". Genau wie Descartes hielt Huyghens die Veränderung der Bewegungsrichtung eines Körpers nicht der Veränderung der Geschwindigkeit für gleichwertig, und demzufolge sah er nicht, daß eine Richtungsänderung eine Kraft braucht. So erkannte er aber auch nicht, daß die Kreisbewegung einer Kraft, die den Körper von seiner geradlinigen Bewegung ablenken würde, bedarf, sondern redete nur von der kraft, die von der Mitte des Kreises entflieht. Für unsere Zwecke entscheidend ist Jedoch die Tatsache, daß Huyghens die Kreisbewegung quantitativ erfaßte und daß er trotz seiner - von unserem Standpunkt aus völlig verfehlten - Auffassung, dieselben mathematischen Formeln aufstellte, die wir noch heute benutzen . Seine Formeln beziehen sich aber auf die Zentrifugalkraft, während wir heute mit den Formeln die Größe der Zentripetalkraft ausdrücken. Huyghens kam zu seinen Formeln nicht auf empirischem Weg, sondern erreichte sie durch eine Ableitung aus geometrischen Eigenschaften des Kreises. Jetzt wird auch leicht verständlich, warum Kant die Zentrifugalkraft nicht zu seinen metaphysischen Anfangsgründen zählen wollte. Trotz der mathematischen Form erklärt man aufgrund der Zentrifugalkraft die Kreisbewegung nicht; es ist zur Erklärung eben die begriffliche Struktur eines naturwissenschaflichen Gesetzes, in diesem Falle die Auffassung der Kreisbewegung als einer Ablenkung des Körpers von seiner geradlinigen Bewegung, nötig. Dieses Beispiel zeigt sehr deutlich, daß die Möglichkeit der Anwendung der Mathematik auf eine Erscheinung noch lange nicht dem so entstehenden Gesetz eine Notwendigkeit garantiert, denn die Mathematik ist doch nur ein Instrument, dem ein begriffliches Verständnis vorausgehen muß. Aber auch wenn begriffliche Klarheit conditio sine qua non für die Möglichkeit einer Physik ist und der Mathematik vorangehen muß, so ist doch die Darstellung der Begriffe in der Anschauung a priori ein unentbehrliches Instrument. Dies erkennt man deutlich, wenn man das Ver35 F = mv /r = mrw , Formeln, die wir hauptsächlich für die Zentripetalkraft benutzen.
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ständnis der Kreisbewegung bei Newton und Kant untersucht. In seinen Forschriften redet Newton immer noch von einem "conatus a centra" und versucht die Zentrifugalkraft quantitativ zu erfassen . In den "Principia" versteht er dann die Kreisbewegung als eine durch Zentripetalkraft abgelenkte geradlinige Bewegung38 . Das zeigen seine Erklärungen, wenn er z. B. bezüglich des Schleudersteins feststellt, daß dieser das Bestreben hat, sich aus der Hand zu entfernen und daß es eine Kraft geben muß, die ihn daran hindert. Dasselbe kann man dann auch von den 39 Planetenbewegungen sagen . Die Zentrifugalkraft wird an dieser Stelle von Newton nicht erwähnt, doch heißt dies noch nicht, daß er seinen Glauben an diese Kraft aufgegeben hätte. Denn er erklärt die Tatsache, daß die Achsen der Planeten kleiner sind als die Durchmesser ihrer Äquatoren und daß Schwere am Äquator geringer ist, gerade durch den Be) griff der Zentrifugalkraft . Bei Kant sieht die Situation ähnlich aus; im 0. p. redet er zwar sehr häufig von der Zentrifugalkraft, erklärt aber in den M. A. die Kreisbewegung als eine kontinuierliche Veränderung der geradlinigen Bewegung (Phän., Ls. 2) . Wenn man die Kreisbewegung 36 37 38
"On Circular Motion", in Herivel (192-198). Ibid. ( 7 ) . Diese Auffassung staunt nicht von Newton selber. Hook war der erste, der sich von der Cartesianischen Verwirrung befreite. Siehe Westfall (209-210). 39 Newton, Principia (22-23). 40 Ibid. (400-409, Buch 3). 41 Somit erweisen sich zwei Behauptungen Tuschlings (107) als verfehlt. Er sagt erstens, daß die Disjunktion zwischen der Bewegung des Körpers und der Bewegung des Raumes, die die Konklusion von Phän., Ls. 2 ermöglicht, nicht durchführbar ist, weil man Bewegung und bewegende Kraft nicht voneinander trennen kann. So führt nach Tuschling Phän., Ls. 2 nicht über die Phoronomie hinaus, bestimmt nicht die Modalität der Bewegung in Ansehung der Dynamik (IV,557,28f.) und zeigt nicht, daß die Kreisbewegung "mittelbar oder unmittelbar ursprüngliche Bewegkräfte der Materie beweist". Versteht man aber einmal, daß Kreisbewegung eine Ablenkung von geradliniger Bewegung ist, die nur durch Kraft geschehen kann, und daß geradlinige Bewegung keine Kraft erfordert, so wird man die Unterscheidung Bewegung/bewegende Kraft gar nicht bezweifeln können. Und da die Kraft, die die Planeten in ihren Umlaufbahnen hält, ein universales Prinzip ist, nennt sie Kant mit gutem Grund eine Grundkraft. Damit ist auch klar, warum Kant meint, daß Phän. Ls. 2 die Modalität der Bewegung in Ansehung der Dynamik bestimmt, denn die Kreisbewegung ist ohne eine bewegende Kraft nicht möglich und die Dynamik handelt von der universalen Anziehung. Zweitens wird hier auch Tuschlings Behauptung widerlegt, daß die Tatsache, daß Kant in den M.A. die
Schlußbemerkungen zur Rolle der Mathematik als eine Ablenkung von geradliniger Bewegung auffaßt, wird es gar nicht nötig sein, eine Zentrifugalkraft anzunehmen; diese erweist sich sogar /O als eine Illusion . Man muß sie erst dann ins Spiel bringen, wenn man, statt von einem inerten, von einem rotierenden Koordinatensystem ausgeht. In diesem verschwindet nämlich die geradlinige Bewegung, und man erklärt die Kreisbewegung durch die Idee eines Gleichgewichts zweier entgegengesetzter Kräfte, d. h. der Zentripetal- und der Zentrifugalkraft. Newton hatte vermutlich mindestens ein implizites Verständnis dieser Tatsache, denn er redete von einer Zentrifugalkraft immer nur in Verbindung mit rotierenden Körpern, also genau dann, wenn ein rotierendes Koordinatensystem mehr oder weniger schon vorhanden ist. Für unsere Zwecke ist die folgende Überlegung wichtig. Spricht man von inerten oder rotierenden Koordinatensystemen, hat man nichts mehr mit einer metaphysischen Grundlage zu schaffen, sondern befindet sich schon im Bereich der Mathematik. Ein Koordinatensystem ist kein philosophischer Begriff, sondern nur in Anschauung a priori darstellbar. Will man aber das Verhältnis der Zentripetal- und Zentrifugalkraft verstehen, muß man sie immer auf ein Koordinatensystem beziehen; die Kräfte sind nur vor dem Hintergrund eines mathematischen Gegebenen verständlich. Mathematik zeigt sich somit als ein unentbehrliches Instrument, ohne daß man auch keine begriffliche Klarheit erreichen kann. 2.2.5. Schlußbemerkungen zur Rolle der Mathematik in der Naturwissenschaft Eine necess/tos consequents in der Naturwissenschaft ist nur unter Beistand der Mathematik möglich. Einerseits schafft die Mathematik den Begriffen der Naturwissenschaft Klarheit, denn wie wir am Fall der Kreisbewegung deutlich gemacht haben, ist eine Darstellung der Begriffe in Anschauuung a priori oft notwendig. Anderseits ist es gerade die
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Kreisbewegung als Beweis für eine ursprüngliche Kraft angibt, während er dieselbe Bewegung im O.p. meist als einen Beweis für eine bloß abgeleitete Kraft aufführt, auf eine neue Auffassung der physikalischen Begriffe im O.p. zurückzuführen ist (ibid.). In den H.A. redet Kant von der Anziehung und also einer ursprünglichen Kraft, im O.p. handelt es sich meist um die Zentrifugalkraft, die Kant als abgeleitet betrachtet. Vermutlich deshalb ist die Zentrifugalkraft bei Kant nur eine abgeleitete Kraft.
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Mathematik, die den physikalischen Ausdrücken die benötigte Gewißheit sichern kann, ohne die eine eigentlich so genannte Wissenschaft nie realisierbar wäre. Zugleich haben wir gesehen, daß die Mathematik nur als eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung der Möglichkeit einer necess/tas consequent/s zu bezeichnen ist, da sie unter der Aufsicht eines vollständigen Systems von Begriffen der besonderen Metaphysik stehen muß. Somit können wir auch die Zielsetzung der M. A. besser verstehen. Dieses Werk hat eine doppelte Funktion: zum einen soll es die Anwendung der Mathematik auf die Natur erörtern und garantieren, zum anderen soll es die metaphysischen Annahmen der Naturwissenschaft aufdecken. Man sollte nicht die eine Aufgabe auf Kosten der anderen betonen 43 . So ist auch die Stelle IV, 473,6-10 zu verstehen, wo Kant sagt, daß im reinen Teil der Naturwissenschaft "metaphysische Begriffe und mathematische Konstruktionen durch einander zu laufen pflegen, die erstere und mit ihnen zugleich die Prinzipien der Konstruktion dieser Begriffe, also der Möglichkeit einer mathematischen Naturlehre selbst". 43 44
Koppe (53) tut dies, indem er behauptet, daß das Hauptgewicht der M.A. auf der Frage nach der Anwendbarkeit der Mathematik auf Naturerscheinungen liegt. Das Wort "Begriffe" steht nicht im Text, aber wie Hoppe erklärt, zeigt schon die grammatikalische Struktur des Satzes, daß Kant das Wort ausgelassen hat ( 5 7 ) . Frühere Kommentatoren redeten hier stets von einer "metaphysischen Konstruktion" und bekundeten mit diesem Ausdruck recht große Mühe (vgl. Plaass 7 4 f f . ) , oder ließen sich durch ihn irreführen, wie Schäfer, der sich durch den Ausdruck "metaphysische Konstruktion" dazu veranlaßt sieht, den Unterschied zwischen Philosophie und Mathematik zu minimalisieren (30-38). Es ist Hoppes großes Verdienst, diesen Ausdruck eliminiert zu haben.
2.3. Zergliederung des Materiebegriffs
2.3. 1. Einleitung Die Untersuchung der Frage, ob die zusätzlichen Regeln der M. A. eine necess/tas consequent/s garantieren können, zerlegt sich in zwei Fragen. Einerseits gilt es zu bestimmen, inwieweit den metaphysischen Anfangsgründen Apriorität und damit auch Notwendigkeit zugeschrieben werden kann, anderseits hat man sich mit dem Problem ihrer Allgemeinheit bzw. Spezifizität auseinanderzusetzen. Der Anspruch auf eine necessitas consequentis kann sich nur dann als berechtigt erweisen, wenn die in Frage stehenden Prinzipien sowohl a priori gültig, als auch auf spezifische Bereiche anwendbar sind. 1) Versucht man die erste Teilfrage aufgrund von allgemeinen Überlegungen bzw. Kants Äußerungen in der K.d.r.V. zu beantworten, wird man feststellen müssen, daß es sowohl gute Gründe gibt, die metaphysischen Anfangsgründe für a priori zu halten, als auch gute Gründe, sie eher als etwas Aposteriorisches anzuschauen. Für die Apriorität der metaphysischen Anfangsgründe spricht die Stelle B 17-1 , an der Kant behauptet, daß die Naturwissenschaft synthetische Urteile a priori als Prinzipien enthält. Als Beispiele nennt er den Satz, "daß in allen Veränderungen der körperlichen Welt die Quantität der Materie unverändert bleibe" und den Satz, daß "in aller Mitteilung der Bewegung Wirkung und Gegenwirkung jederzeit einander gleich sein müssen". Diese beiden Sätze bezeichnet Kant als notwendig. Und er sagt zusätzlich noch, daß alle anderen Sätze des reinen Teils der Naturwissenschaft auch synthetische Urteile a priori sind. Daß Kant dabei auch die metaphysischen Anfangsgründe im Auge hat, ist schon daraus ersichtlich, daß das zweite Beispiel identisch ist mit dem Ls. 4 aus der Mechanik. Ähnlich scheint auch Kants Identifizierung der metaphysischen Anfangsgründe mit dem reinen Teil der Naturwissenschaft, "auf dem allein sich die apodiktische Gewißheit ... gründen könne" (IV,469,13-14), den
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Gesetzen der M. A. einen hohen Grad an Notwendigkeit zuzuschreiben. Die Notwendigkeit der metaphysischen Anfangsgründe kann nicht dadurch beeinträchtigt werden, daß sie durch die Zergliederung eines empirischen Begriffs entstehen. Urteile a priori dürfen empirische Begriffe enthalten, wie z. B. der Satz: "Eine jede Veränderung hat ihre Ursache" (B 3). Der Begriff "Veränderung" ist aus der Erfahrung gezogen, aber das Urteil bleibt trotzdem a priori. Dabei muß man sich allerdings die Frage stellen, ob die M. A. wirklich auch rein sein können, wie dies die Bezeichnung "reiner Teil der Naturwissenschaft" zu fordern scheint. In der Tat schafft Kants Gebrauch des Wortes "rein" viel Unklarheit, denn einmal sagt er vom Satz "eine jede Veränderung hat ihre Ursache", daß er gerade wegen des Vorkommens eines empirischen Begriffs nicht rein sein kann (B 3), doch nur wenig später wird genau derselbe Satz als Beispiel eines reinen Urteils aufgeführt (B 4). Die Bezeichnung "reine Naturwissenschaft" in den Prol. scheint sich auf die Kategorien und die reinen Grundsätze des Verstandes zu beziehen. Sie muß also im Sinne von B 4 verstanden werden. Aber der Ausdruck "reiner Teil der Naturwissenschaft" in den M. A. scheint wegen des Zugrundelegens des empirischen Begriffs der Materie fehl am Platz zu sein. Vermutlich ist der Begriff "rein" in den M. A. nicht in demselben strengen Sinne zu verstehen wie in der K. d. r. V.. Denn hier geht es Kant wahrscheinlich in erster Linie darum, den Gegensatz, der zwischen der besonderen Metaphysik und der empirischen Physik besteht, hervorzuheben und die Unterscheidung des reinen Teils der Physik von ihrem empirischen Teil durchzuführen . Auch die Tatsache, das die Gesetze der M. A. größtenteils mit denjenigen der "Principia" Newtons identisch sind, die Newton wiederum keines45
Daß die Bezeichnung "rein" in den M.A. wirklich in einem weniger strengen Sinne zu verstehen ist als in der K.d.r.V., sieht man klar, wenn man sich die Unterscheidung rein/a priori verdeutlicht. Nützlich ist hier die von Holzhey (Kants Erfahrungsbegriff) eingeführte Unterscheidung zwischen Art der Erkenntnis (empirisch oder rein) und Ordnung der Erkenntnis (a posteriori oder a priori). Rein nennt man etwas, das "selbst von allen Eindrücken der Sinne unabhängig" ist, d. h. keine empirische Elemente enthält; a priori nennt man das, was den Eindrücken der Sinne vorgeordnet ist (206-207). Die metaphysischen Anfangsgründe kann man nur als a priori bezeichnen, weil sie vorausgesetzt werden müssen, und damit "vorgeordnet" sind. Wegen des Zugrundelegens des empirischen Begriffs der Materie aber können sie nicht rein sein; man darf sie nicht als "von allen Eindrücken der Sinne unabhängig" beschreiben.
Einleitung wegs als a priori betrachtete, tut der Möglichkeit der Apriorität der besonderen Metaphysik keinen Abbruch. In seinen "Regeln zur Erforschung der Natur" sagt Newton, daß die Eigenschaften der Körper nur durch Versuche bekannt werden und man von den Versuchen zu allgemeinen Gesetzen - durch eine für Newton nie problematische Verallgemeinerung gelangt. Denn diejenigen Eigenschafen der Körper, die weder verstärkt, noch vermindert werden können und die allen Körpern zukommen, mit denen man Versuche machen kann, müssen für allgemeine Eigenschaften der Körper gelten. Der empirische Charakter von Newtons Theorie der physikalischen Gesetze kommt am deutlichsten dort zum Vorschein, wo Newton zugibt, daß man in der Experimentalphysik die durch Induktion geschlossenen Sätze nur so lange entweder für wahr oder für sehr wahrscheinlich hält, bis andere Erscheinungen eintreten, durch die die Sätze entweder größere Genauigkeit erlangen oder Einschränkungen erfahren. Als Beispiel eines Gesetzes, wo keine Ausnahmen vorkommen, nennt Newton den Satz "alle Körper sind gegeneinander schwer". Wir kommen zu diesem Satz durch ein induktives Verfahren, nämlich so, daß wir zunächst feststellen, daß alle Körper in der Umgebung der Erde gegen die Erde schwer sind, dann aber auch merken, daß der Mond gegen die Erde und unser Meer gegen den Mond schwer ist, endlich noch erkennen, daß alle Planeten wechselseitig gegeneinander und die Kometen gegen die Sonne schwer 47 sind, woraus wir das allgemeine Gesetz schließen Kants Gesetzesverständnis entspricht nicht der Newtonschen Auffassung. Schwere ist für ihn z. B. eine Manifestation der Anziehung und die Anziehung eine ursprüngliche Grundkraft, die, wie wir noch bald sehen werden, gar nicht aus Erscheinungen abgeleitet ist, sondern zur Erklärung der Materie dient. So darf man trotz äußerer Ähnlichkeiten die Newtonschen und Kantischen Gesetze nicht für identisch halten. Zweitens muß man sich aber Gedanken darüber machen, ob Newton wirklich ein genauso brillianter Theoretiker der Physik wie Physiker war, denn es ist nicht bei allen seinen Sätzen unmittelbar evident, daß sie auf dem induktiven Weg entstanden sind. Man müßte sich auch die Frage stellen, ob dort, wo Newton sich auf Versuche stützt, die Experimente die Entdeckung bzw„ Erzeugung des Gesetzes ermöglichen oder das Gesetz nur 46 Principia (380-381). 47 Zu Newtons Theorie der physikalischen Gesetze vgl. Holzhey, op. cit. (79-82).
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bestätigen. Kants Antwort auf Newtons Position verdient an dieser Stelle wieder erwähnt zu werden: Jeder Physiker bedient sich immer schon metaphysischer Voraussetzungen. Einige Stellen der K.d.r.V. sprechen gegen eine Apriorität der metaphysischen Anfangsgründe. Als Beispiel sei A 17l/B 213 genannt, wo es heißt, daß wir "der allgemeinen Naturwissenschaft, welche auf gewisse Grunderfahrungen gebaut ist, nicht vorgreifen" können. Daß Kant dabei auch tatsächlich die metaphysischen Anfangsgründe im Sinne hat, sollte daraus ersichtlich sein, daß es sich einerseits nicht um die Begriffe der Transzendentalphilosophie handeln kann, denn dort muß "durchaus nichts Empirisches sein" (ibid.); anderseits kann aber auch nicht die empirische Physik gemeint sein, weil von einer allgemeinen Naturwissenschaft die Rede ist. Zweitens muß noch darauf Rücksicht genommen werden, daß man an die Natur mit einem Plan gehen soll, um von ihr etwas zu erfahren. Wären aber die Newtonschen Gesetze a priori, ließe sich der Einwand machen, daß es keinen Sinn hätte, Versuche anzustellen. Die Apriorität der transzendentalen Prinzipien hängt davon ab, daß sie die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt darstellen, handeln sie ja "ohne Beziehung auf irgend ein bestimmtes Erfahrungsobjekt, mithin unbestimmt in Ansehung der Natur dieses oder jenes Dinges der Sinnenwelt von den Gesetzen, die den Begriff einer Natur überhaupt möglich machen" (IV,469,34-37) . Bei den metaphysischen Anfangsgründen darf man hingegen einen Anspruch auf Apriorität nur deshalb erheben, weil sie "die Bedingung en] a priori [ vorstellen], unter [ denen] allein Objekte, deren Begriff empirisch gegeben sein muß, a priori weiter bestimmt werden können" (V, 1 1). D. h. also, daß die metaphysischen Anfangsgründe die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung der Materie darstellen. Da aber die durch die Zergliederung des empirischen Begriffs der Materie entstandenen Prinzipien verschiedene Eigenschaften 48 Anscheinend versteht Plaass auch die metaphysischen Anfangsründe in diesem Sinne, denn er sagt: "Wir würden die objektive Einheit der Apperzeption gar nicht durchhalten können angesichts äußerer Wahrnehmungen, wenn wir nicht das Trägheitsgesetz zugrundelegten" und ähnlich hinsichtlich der anderen Lehrsätze der M.A. Zutreffender scheint die an gleicher Stelle vorkommende Behauptung, daß es ein metaphysisches Argument ist zu sagen, daß wir Materie gar nicht erfahren könnten, ohne zugleich das Trägheitsgesetz zu setzen ( 1 0 0 ) .
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annehmen, die jeweils anders vorgestellt werden, kann man die Frage ihrer Apriorität nur durch eine genaue Untersuchung der einzelnen Hauptstücke der M. A. entscheiden. 2) Die Begriffe der Transzendentalphilosophie gelten nur ganz allgemein und formal und bestimmen nur eine Erfahrung überhaupt. Die zusätzlichen Regeln der M. A. sind hingegen spezifischer und beziehen sich auf eine besondere Natur. Wir werden sehen, daß die metaphysischen Anfangsgründe den Erfahrungsbegriff näher bestimmen, und zwar so, daß er als räumlich und naturwissenschaftlich verstanden werden muß. Dies zeigt sich hauptsächlich in der Mechanik (2.3.4), denn dort gewinnt der Materiebegriff größte Bestimmtheit, werden doch jetzt sowohl Raumerfüllung als auch Bewegung thematisch (also m 0, v ^ 0). Insofern bieten die metaphysischen Anfangsgründe einen Schritt in Richtung einer necess/tos consequentis an. Trotzdem gelten die Prinzipien der besonderen Metaphysik der Natur immer noch relativ allgemein, wie schon der Ausdruck "Anfangsgründe" ankündigt. Wir werden dies an verschiedenen Stellen der Dynamik und Mechanik zeigen, hauptsächlich aber in der Allgemeinen Anmerkung zur Dynamik, in der deutlich wird, daß die metaphysischen Anfangsgründe nur den allgemeinen Rahmen der Naturwissenschaft ausmachen. Dies erklärt auch, warum Kant im O. p. weiter nach einer necessitas consequent/s sucht.
2. 3.2. Phoronomie In Kants Phoronomie, die am ehesten der heutigen Kinematik entspricht, wird die Materie als das Bewegliche im Räume verstanden (Erkl. 1), dies jedoch mit zwei Einschränkungen. Die eine sichert die Selbständigkeit der Phoronomie gegenüber der Mechanik: Es darf nur geradlinige Bewegung in die Phoronomie einbezogen werden. Krummlinige Bewegung ist eine kontinuierliche Veränderung der geradlinigen Bewegung, für die eine Ursache angegeben werden muß (Ls., Anm„ 3), d. h» eine Kraft . 49 In Phän., Ls. 2, Anm. wird zwar gesagt, daß krummlinige Bewegung, nämlich die Kreisbewegung, "mittelbar oder unmittelbar,
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Die andere Einschränkung ist die schon oben erwähnte Auslegung der Bewegung eines Punktes: "Man abstrahiert in der Phoronomie von aller inneren Beschaffenheit, mithin auch der Größe des Beweglichen, und hat es nur mit der Bewegung und dem, was in dieser als Größe betrachtet werden kann (Geschwindigkeit und Richtung), zu tun" (Erkl. l, Anm. 1). Auch diese Einschränkung zielt darauf hin, die Phoronomie als ein selbständiges Glied der M.A. zu etablieren - nun in Abgrenzung gegenüber der Dynamik, in der zur Darstellung der Materie als einer Größe noch die Annahme von Kräften erforderlich ist . Diese Spezifizierung der Bewegung als der geradlinigen Bewegung eines Punktes, wo alle Kräfte ausgeschlossen werden können, ermöglicht es der Phoronomie eine privilegierte Sonderstellung innerhalb der M. A. einzunehmen. Welchen Stellenwert diese Spezifikation hat, zeigt die folgende Anmerkung Kants: "Daß, da die Beweglichkeit eines Gegenstandes im Räume a priori und ohne Belehrung durch Erfahrung nicht erkannt werden kann, sie von mir eben darum in der Kritik der r. V. auch nicht unter die reine Verstandesbegriffe gezählt werden konnte, und daß dieser Begriff als empirisch nur in einer Naturwissenschaft als angewandter Metaphysik, welche sich mit einem durch Erfahrung gegebenen Begriffe, obwohl nach Prinzipien a priori, beschäftigt, Platz finden könne" (Erkl. l, Anm. 2). Nur dank der einengenden Bestimmung der Materie kann die Phoronomie von einem empirischen Begriff ausgehen und trotzdem völlig nach Prinzipien a priori verfahren. Die Abstraktion von der Eigenschaft der Materie den Raum zu erfüllen, erlaubt der Phoronomie, schwerwiegende Probleme nicht nur begrifflichen, sondern auch konstruktionsbezogenen Charakters zu vermeiden. Mit diesen Schwierigkeiten wird sich erst die Dynamik auseinandersetzen müssen; in der Phoronomie ist es hingegen möglich, unbeschwert Gesetze a priori zu formulieren. Dank der Abstrak-
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ursprüngliche Bewegkrafte der Materie, es sei der Anziehung oder Zurückstoßung", beweist und daß Ls. 2 "die Modalität der Bewegung in Ansehung der Dynamik" bestimmt. Doch geht das Verständnis der Kreisbewegung in Phän., Ls. 2 von Mech., Ls. 3, d. h. vom Trägheitsgesetz, aus, und so ist die Einschränkung der Phoronom. auf geradlinige Bewegung eher als eine Abgrenzung gegenüber der Mechanik als gegenüber der Dynamik aufzufassen. Die heutige Kinematik sichert sich ihre Unabhängigkeit von der Statik und Dynamik nur durch die zweite der Kantischen Einschränkungen, sieht also von der Ursache der Bewegung ab und beschreibt neben der geradlinigen auch alle anderen Arten von Bewegung.
Phoronomie tion bleibt in der Phoronomie nichts übrig als Geschwindigkeit und Richtung, zwei Größen, die sich mühelos in Anschauung a priori darstellen lassen, so daß die apriorische Beschaffenheit der phoronomischen Gesetze gesichert ist51. Die strenge Einengung der Thematik und die daraus resultierende relative begriffliche Problemlosigkeit der Phoronomie erlauben es Kant, die Schwierigkeiten der Konstruierbarkeit ausführlicher zu behandeln und besser zu lösen, als dies in der Dynamik und der Mechanik möglich sein wird. So kam er z. B. von der Richtung sagen, daß sie sich zuletzt nur mathematisch ausdrücken läßt. Die Bestimmung der Richtung einer kreisförmigen Bewegung führt, analog zur Frage nach dem inneren "Unterschied der Schnecken, die sonst ähnlich und sogar gleich, aber davon eine Spezies rechts, die andere links gewunden ist", auf einen "Begriff, der sich zwar konstruieren, aber als Begriff für sich durch allgemeine Merkmale und in der diskursiven Erkenntnisart gar nicht deutlich machen läßt, und der in den Dingen selbst ... keinen erdenklichen Unterschied in den inneren Folgen geben kann und demnach ein wahrhafter mathematischer t e i Unterschied ist" (Erkl 2, Anm. 3)(H.v. V.). Ahnlich bei der zweiten Größe der Phoronomie, der Geschwindigkeit, die bloß in ihrer räumlichen Bedeutung verstanden wird und einerseits durch die Formel c = s/t, anderseits durch die Länge des sie repräsentierenden Vektors, mathematisch faßbar wird. Auch der Begriff der Ruhe wird so definiert, daß er sich mathematisch darstellen läßt: "Also kann die Ruhe nicht durch den Mangel der Bewegung, der sich als = 0 gar nicht konstruieren läßt, sondern muß durch die beharrliche Gegenwart an demselben Orte erklärt werden, da denn dieser Begriff auch durch die Vorstellung einer Bewegung mit unendlich kleiner Geschwindigkeit eine endliche Zeit hindurch kostruiert, mithin zu nachheriger Anwendung der Mathematik auf Naturwissenschaft genutzt werden kann" (Erkl. 3, Anm.). Von besonderer Bedeutung für die Physik ist auch die Möglichkeit, eine zusammengesetzte Bewegung zu konstruieren, d. h. "eine Bewegung, sofern sie aus zwei 51 Schäfer macht die Bemerkung, daß in der Phoron. "die Möglichkeit der Anwendung der Mathematik auf die Naturphänomene ... nur unzureichend verdeutlicht worden" ist ( 5 7 ) . Man sollte dies noch mit dem Hinweis ergänzen, daß sich die "Unzulänglichkeit" aus dem eigentümlichen aufgrund der Einschränkungen entstandenen Charakter der Phoron. ergibt und nicht als ein Mangel angesehen werden darf.
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oder mehreren gegebenen in einem Beweglichen vereinigt entspringt, a priori in der Anschauung darstellen" (Erkl. 4). Die Anmerkung zu Erklärung 4 läßt uns den mathematischen Charakter der Phoronomie und die Tatsache, daß diese Möglichkeit der Darstellung in Anschauung a priori nur dem ersten Hauptstück der M. A. eigentümlich ist, erkennen. "Zur Konstruktion der Begriffe wird erfordert: daß die Bedingung ihrer Darstellung nicht von der Erfahrung entlehnt sei, also auch nicht gewisse Kräfte voraussetze, deren Existenz nur von der Erfahrung abgeleitet werden kann, oder überhaupt, daß die Bedingung der Konstruktion nicht selbst ein Begriff sein müsse, der gar nicht a priori in der Anschauung gegeben werden kann, wie z. B. der von Ursache und Wirkung, Handlung und Widerstand, etc. ... die Regeln der Verknüpfung der Bewegungen durch physische Ursachen, d. i. Kräfte, lassen sich, ehe die Grundsätze ihrer Zusammensetzung überhaupt vorher rein mathematisch zum Grunde gelegt worden, niemals gründlich vortragen". Die Phoronomie mit ihrer völlig apriorischen Vektorenlehre dient als eine Grundlage für die weiteren Theoreme der H.A. und muß schon aus diesem Grund a priori sein; von der Kräftelehre fordert Kant nicht mehr strenge Apriorität, sondern nur gründlichen Vortrag 52 . Unter den deutschsprachigen Kommentatoren hat der Bewegungsbegriff heftige Auseinandersetzungen hervorgerufen, die aber m. E. größtenteils auf Mißverständnissen beruhen. Die Debatte wurde ausgelöst von Plaass, der den Bewegungsbegriff als einen abgeleiteten Begriff a priori charakterisierte, dessen objektive Realität empirisch gezeigt werden müsse. Demzufolge führte er die Unterscheidung zwischen der Inhaltsableitung der Bewegung, die a priori möglich ist, und dem Realitätsbeweis, der nur aposteriori erfolgen kann, ein (96). Einen ausdrücklichen Beleg für diese Auslegung gibt es zwar nicht, doch scheint sie plausibel: einerseits sind die Gesetze der Phoronomie a priori, anderseits wird die Forderung, daß Bewegung empirisch gegeben werden muß, von Kant unzählige Male wiederholt. Außerdem gibt es Stellen (wie z. B. Erkl. l, Anm. 2, oben zitiert), wo das Aposteriorische und das 52 Dies wäre natürlich nur ein sehr schwacher und ungenügender Beleg dafür, daß die Dynamik und Mechanik nicht völlig apriorische Gesetze enthalten. Kants Bemerkung hier soll eher als ein Hinweis auf das, was folgt, verstanden werden; weiteres wird erst bei einer Untersuchung der Dynamik und Mechanik selber ersichtlich.
Phoronomie Apriorische der Bewegung nebeneinander gestellt werden. Aus zwei Gründen kann man aber Plaass1 Unterscheidung doch nicht uneingeschränkt akzeptieren. Erstens gelten die apriorischen Gesetze der Phoronomie nicht für die Bewegung als solche, sondern nur eingeschränkt für die Bewegung eines Punktes. Danach ergibt sich für die Unterscheidung von Inhalt und Realität, daß sich der erstere nur auf die Bewegung eines Punktes, die Realität aber auf die Bewegung als solche bezieht, unter Einschluß freilich auch der Bewegung eines Punktes, die letztlich ebenfalls empirisch gegeben werden muß. Zweitens stellt sich die schwerwiegendere Frage, ob sich die Unterscheidung auch angesichts der weiteren Begriffe der M. A. und also für den gesamten Materiebegriff, wie dies Plaass (87) will, aufrechterhalten läßt. Plaass selber teilt diese Sorge kaum, seine Arbeit ist nur als eine Interpretation der "Vorrede" zu den M. A. gedacht, wobei deren zentralen Ausführungen leider zu wenig Beachtung finden. Wie wir aber bald sehen werden, läßt sich die ganze Dichotomie von apriorischem Inhalt und aposteriorischer Realität im Hauptteil der M. A. nicht durchgehend anwenden, weil hier empirische Begriffe auch unter den Gesetzen auftauchen, so daß nicht ohne Einschränkung von einem apriorischen Inhalt geredet werden kann. Hoppe (63) hält die Plaassche Unterscheidung in dem Zusammenhang, in welchem sie vorkommt, nicht für wichtig. Er meint, daß es nur darauf ankommt, "ob der inhaltlich wie auch immer zustande gekommene Begriff sich a priori auf Gegenstände bezieht oder nicht". Dazu zitiert er B 124-5, wo Kant sagt, daß die Beziehung von Gegenstand und Vorstellung empirisch Ist, wenn der erstere die letztere möglich macht. Hier wird aber wieder übersehen, daß es sich hier nicht um Begriffe der Transzendentalphilosophie handelt, die allein ihre Gegenstände möglich machen und die Beziehung zwischen synthetischer Vorstellung und Gegenstand a priori konstituieren können. Hoppes Kritik an Plaass ist schon deshalb nicht zutreffend, weil der Inhalt des Bewegungs- bzw. Materiebegriffs in den gerade zu untersuchenden besonderen Gesetzen der Physik besteht, für die die Untersuchung ihrer Apriorität wesentlich ist. Weiter beurteilt Hoppe Kants These, daß Bewegung empirisch gegeben werden muß, als eine große Schwäche seiner Philosophie (64), als eine vorkritische Theorie, die "kein Resultat der Kritik, sondern vielmehr ein von der Transzendentalphilosophie nicht bewältigtes Residuum der Tradition" ist. Nach ihm ist Kants Behauptung, daß allein Bewegung un-
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sere Sinne affizieren kann, nur eine Versicherung und kein Beweis dafür, daß es Bewegung geben muß (62). Diese unsichere Begründung des Bewegungsbegriffs habe erstens zur Folge, daß man nicht a priori bestimmen kann, was als ausgedehnter Gegenstand zu gelten hat, sondern dafür auf Erfahrung angewiesen ist, und verurteile zweitens das Ganze der M. A. zum Scheitern (65-66). Mit dem zweiten Vorwurf werden wir uns am Ende des Kapitels auseinandersetzen. Zum ersten bleibt nur zu sagen, daß der Einbezug eines bestimmten empirischen Elements kein schwacher Punkt sein muß, sondern von der Transzendentalphilosophie sogar gefordert wird. Will man keine empirischen Begriffe akzeptieren, so muß man auch eine der wesentlichen Thesen der Transzendentalphilosophie aufgeben, nämlich die Vorstellung von Erkenntnis als einem Zusammengesetzten aus Materie und Form, Gegebenem und Erzeugtem. Aber Hoppe ist bei weitem nicht der einzige, der diesem wichtigen Theorem der Kantischen Philosophie kein Gehör geben will. So hält z. B. Gloy (9-12) die Idee einer empirisch gegebenen Bewegung für völlig unerträglich, weil man so auf unbewegliche Materie stoßen könnte. Ihre ganze Arbeit ist dem Versuch gewidmet, den Realitätsbeweis des apriorischen Bewegungsbegriff zu erbringen. Daß eine solche Interpretation mit dem Kantischen Text sehr wenig zu tun hat, muß nicht betont werden; es darf aber darauf hingewiesen werden, daß solche Ansätze einem gründlichen Verständnis der Kantischen Theorie der Physik hinderlich sind, weil so wichtige Momente, wie z. B. die Reduktion von Bewegung auf die geradlinige Bewegung eines Punktes, völlig verkannt werden.
2.3.3. Dynamik Der Übergang von der Phoronomie zur Dynamik geschieht nach dem Schema der Vorrede: Zum Materiebegriff kommt in jedem Hauptstück eine neue Bestimmung hinzu (IV,476,7-9). Die Phoronomie wird in der Dynamik natürlich vorausgesetzt; die neue Eigenschaft, die der Dynamik ihre besondere Prägung verleiht, ist die Erfüllung des Raumes durch "das Vermögen, einer Bewegung innerhalb eines gewissen Raumes zu widerstehen" (Erkl. I, Anm.). Der Grund dafür, daß die Erfüllung des Raumes eine wesentliche Differenz zwischen der Phoronomie und Dynamik schafft, liegt darin, daß der Raum nicht durch die bloße Existenz der Materie, sondern
Dynamik
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"durch eine besondere bewegende Kraft" (Ls. 1), erfüllt wird. Der Beweis zu Ls. l zeigt dann deutlich, wie sich die Phoronomie von der Dynamik abhebt. Zunächst geht Kant von rein phoronomischen Betrachtungen aus: "Das Eindringen in einen Raum ... ist eine Bewegung. Der Widerstand gegen die Bewegung ist die Ursache der Verminderung, oder auch Veränderung derselben in Ruhe. Nun kann mit keiner Bewegung etwas verbunden werden, was sie vermindert oder aufhebt, als eine andere Bewegung eben desselben Beweglichen in entgegengesetzter Richtung (Phoron. Lehrs.)". Im weiteren wird aber nicht Bewegung - wie in der Phoronomie -, sondern ihre Ursache, nämlich Kraft, thematisch. "Also ist der Widerstand, den eine Materie in dem Raum, den sie erfüllt, allem Eindringen anderer leistet, eine Ursache der Bewegung der letzteren in entgegengesetzter Richtung. Die Ursache einer Bewegung heißt aber bewegende Kraft. Also erfüllt die Materie ihren Raum durch bewegende Kraft und nicht durch ihre bloße Existenz." Auch das Verhältnis der Dynamik zu den Antizipationen der Wahrnehmung in der K.d.r.V. ist durch das Vorkommen bewegender Kräfte in der Dynamik bestimmt. Daß übrigens die Dynamik, die ja diesem mathematischen und also keineswegs vom Dasein handelnden Grundsatz der Transzendentalphilosophie entspricht, trotzdem Kräfte, die Daseinsbestimmungen sind, enthält, erklärt sich dadurch, daß zur Dynamik ein empirisches Moment, nämlich der Begriff der Materie als des Beweglichen, sofern es einen Raum erfüllt, zukommt. Ganz allgemein ist es so, daß die Hauptstücke der M. A. jeweils um eine Ebene gegenüber den reinen Grundsätzen der K.d.r.V. verschoben sind, der Grund aber dieser 'Unstimmigkeit 1 gerade Im Einbezug des empirischen Begriffs der Materie zu suchen ist . 53 Vuillemin, der sich mit dem Problem des Verhältnisses der M.A. und der reinen Grundsätze der K.d.r.V. sehr ausführlich auseinandersetzt, schreibt: "C'est pourqoi la correspondence terme ä terme de la Deduction des principes et des Principes metaphysiques de la science de la nature est aussi bien une discordance, chaque principe de la metaphysique de la nature met en oeuvre le principe de la Critique qui lui est logiquement posterieur" (39). Tuschling hat hier das Wesentliche völlig verfehlt, wenn er den Beweis zu Ls.1 mit der Behauptung kommentiert, der Lehrsatz sei ein analytischer, über die Phoronomie nicht hinausführender Satz. Aehnlich äußert er sich auch zu IV,536,15-18, wo Kant sagt, daß "das Bewegliche durch seine Bewegung keine bewegende Kraft haben würde, wenn es nicht ursprünglich-bewegende Kräfte besäße, dadurch ... es wirksam ist"; Tuschling meint, daß
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Untersucht man die Dynamik auf die Apriorität bzw. Aposteriorität ihres Gehalts, so wird man zunächst den Eindruck gewinnen, daß Ls. l ein völlig apriorischer Satz sein muß, der aufgrund der Gesetze der Phoronomie und der hinzukommenden neuen Bestimmung der Materie als raumerfüllend, zustandegekommen ist. Doch wie wir noch zeigen werden, erweist sich Ls. l angesichts von Kants Einführung einer dynamischen und einer mechanischen Hypothese als bestenfalls hypothetisch notwendig. Anders verhält es sich mit Erkl. 2, wo Kant die zwei Grundkräfte der Dynamik unterscheidet: "Anziehungskraft ist diejenige bewegende Kraft, wodurch eine Materie die Ursache der Annäherung anderer zu ihr sein kann (oder, welches einerlei ist, dadurch sie der Entfernung anderer von ihr widersteht). Zurückstoßungskraft ist diejenige, wodurch eine Materie Ursache sein kann, andere von sich zu entfernen (oder, welches einerlei ist, die bewegenden Kräfte nicht aus der Bewegung und ihren Gesetzen abgeleitet werden können, wenn sie vor aller Bewegung gegeben sein sollen ( 9 7 ) . Da aber der Dynamik eine neue Bestimmung der Materie als der Erfüllung des Raumes, zugrundeliegt, kann nicht davon die Rede sein, daß die bewegenden Kräfte von der Bewegung abgeleitet werden oder daß die Verbindung der Dynamik zur Phoronomie analytisch ist. Auch Hoppe behauptet, daß die verschiedenen Bestimmungen des Materiebegriffs analytisch sind: "Die M.A. ziehen in der Tat analytisch und unter dem Gesichtspunkt der Kategorien das aus dem empirischen Begriff einer Materie heraus, was schon in ihm liegt, und was selber schließlich auch nur empirisch sein kann" ( 5 8 ) . Während aber Tuschling behauptet, daß in der Dynamik gegenüber der Phoronomie nichts Neues hinzukommt, betrachtet Hoppe nur die vier Bestimmungen des Materiebegriffs als im Materiebegriff schon immer enthalten und bestreitet nicht, daß jedem neuen Hauptstück eine neue Bestimmung zugefügt wird. M. E. ist aber auch Hoppes Meinung nicht zutreffend. Denn was ein empirischer Begriff beinhaltet, kann nie a priori festgelegt werden und demzufolge auch nicht aus ihm analytisch herausgezogen werden. Dazu Kant: "Definieren soll, wie es der Ausdruck selbst gibt, eigentlich nur so viel bedeuten, als den ausführlichen Begriff eines Dinges innerhalb seiner Grenzen ursprünglich darstellen. Nach einer solchen Forderung kann ein empirischer Begriff gar nicht definiert, sondern nur exp-Ziziert werden. Denn da wir an ihm nur einige Merkmale von einer gewissen Art Gegenstände der Sinne haben, so ist es niemals sicher, ob man unter dem Worte, das denselben Gegenstand bezeichnet, nicht einmal mehr, das andere mal weniger Merkmale desselben denke" (A 727-8/B 755-6). So muß also nicht nur der Uebergang von einem Hauptstück zum anderen, sondern auch die ganze Zergliederung des Materiebegriffs als synthetisch verstanden werden. Zum Problem der analytischen und synthetischen Urteile und Definitionen vgl. L.W.Beck, "Can Kant's Synthetic Judgements Be Made Analytic?" und "Kant's Theory of Definition".
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wodurch sie der Annäherung anderer zu ihr widersteht)". Im Zusatz zeigt sich, daß man a priori bestimmen kann, wieviele und welche bewegenden Kräfte es gibt: "Es lassen sich nur diese zwei bewegenden Kräfte der Materie denken. Denn alle Bewegung, die eine Materie einer anderen eindrücken kann, da in dieser Rücksicht jede derselben nur wie ein Punkt betrachtet wird, muß jederzeit als in der geraden Linie zwischen zwei Punkten erteilt angesehen werden. In dieser geraden Linie aber sind nur zweierlei Bewegungen möglich: die eine, dadurch sich jene Punkte von einander entfernen, die zweite, dadurch sie sich einander nähern. Die Kraft aber, die die Ursache der ersteren Bewegung ist, heißt Zurückstoßungs- und die der zweiten Anziehungskraft". Hier zeigt sich, wie die Dynamik auf der Phoronomie gegründet werden soll. Man nimmt die zwei Körper als zwei Punkte, genauso wie man es in der Phoronomie tat, und denkt diese geometrisch durch eine gerade Linie verbunden. So kommt man völlig a priori, durch das Betrachten geometrischer Eigenschaften der Verhältnisse zweier Körper zueinander, zur Einsicht, daß sich nur zwei bewegende Kräfte der Materie denken lassen. Aber die Apriorität von Erkl. 2 wird gerade dadurch gesichert, daß es sich hier eben nur um das Wesen der Kräfte handelt, ohne schon ihre reale Möglichkeit in Betracht zu ziehen: Es wird also gezeigt, wie die Kräfte gedacht werden müssen, nicht aber nachgewiesen, daß sie wirklich existieren. Die problemlose Sicherung der Apriorität von Erklärung 2 überträgt sich dann keineswegs auf das Ganze der Dynamik. Vielmehr lassen sich in ihr vier verschiedene Argumente finden, die die Apriorität Ihrer Gesetze mehr oder weniger stark in Zweifel ziehen und auf eine mindestens partielle Aposteriorität hindeuten. Das erste ist dem Umstand zu entnehmen, daß Kant die Grundkräfte als unbegreiflich bezeichnet, das zweite der schon oben erwähnten Einschränkung, daß die dynamische Theorie nur als Hypothese gelten soll; drittens tauchen bei der Konstruktion der Kräfte verschiedene Schwierigkeiten auf, und viertens werden viele Randerscheinungen von Kant in der Allgemeinen Anmerkung zur Dynamik als a posteriori eingestuft. Wir werden jetzt diese vier Probleme der Reihe nach untersuchen. 1) Von der Unbegreiflichkeit der Anziehung und Abstoßung redet Kant an mehreren Stellen der Dynamik. So heißt es Ls. 7, Anm. 1: "Daß man die Möglichkeit der Grundkräfte begreiflich machen sollte, ist eine ganz
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unmögliche Forderung; denn sie heißen eben darum Grundkräfte, weil sie von keiner anderen abgeleitet, d. i. gar nicht begriffen, werden können". Würde sich nun dieses Eingeständnis auf die Anziehung durch den leeren Raum allein beziehen, könnte man es als einen weiteren Angriff auf Newtons Begriff der Gravitationskraft, nämlich als eine Diffamierung der Kraft als qualitas occulta, verstehen. Daß dies aber überhaupt nicht Kants Anliegen ist, wird aus den folgenden zwei Überlegungen klar. Erstens bezeichnet Kant eine Anziehung durch den Stoß, die also nicht unmittelbar In die Ferne wirkte - wie sie von Newtons Kritikern anstelle der Gravitationskraft eingeführt wurde -, als Erklärung völlig nutzlos, weil sie, wie er meint, letztlich auch eine Anziehung in die Ferne voraussetzen müßte (Ls. 7, Anm.2) . Zweitens macht Kant unmißverständlich klar, daß "die ursprüngliche Anziehungskraft nicht im mindesten unbegreiflicher [ ist], als die ursprüngliche Zurückstoßung. Sie bietet sich nur nicht so unmittelbar den Sinnen dar, als die Undurchdringlichkeit, uns Begriffe von bestimmten Objekten im Räume zu liefern. Weil sie also nicht gefühlt, sondern nur geschlossen werden will, so hat sie sofern den Anschein einer abgeleiteten Kraft ..." (Ibid.). Den Sinnen bietet sich unmittelbar nur die Undurchdringlichkeit an, nicht aber die Abstoßungskraft, die sich durch Undurchdringlichkeit manifestiert. Wenn aber schon eine Abstoßungskraft angenommen wird, so ist auch die Annahme einer Anziehungskraft erforderlich, denn mit Ihr allein läßt sich der Zurückstoßung die Grenze setzen und so die Schlußfolgerung vermeiden, daß sich die Materie ins Unendliche verbreitet und der Raum letztendlich leer bleibt (Ls. 5, Beweis). Da aber weder die eine noch die andere Grundkraft den Sinnen gegeben Ist oder von einer anderen Kraft abgeleitet werden kann, da es auch in der Struktur der Materie nichts gibt, was als Ursache der zwei Kräfte gelten könnte, so sind beide unbegreiflich. 54 Dazu kommt noch, daß eine Anziehung durch den Stoß nicht mathematisierbar wäre. Vuillemin schreibt: " le concept de contact physique est, ä la difference de son rival i.e. le concept d'action ä distance , de peu d'utilitfe objective, dans la mesure il ne pennet aucune mesure. Lorsqu'on considSre comme reelle l'attraction a distance, eile permet ä la physique d'etablir des lois ... Une fois de plus, Kant choisit la ffeconditfe experimentale contre l'elegance intuitive" (154).
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Anziehung und Abstoßung heißen nicht Grundkräfte, weil sie a priori sind, sondern weil alle anderen Kräfte möglicherweise auf sie zurückgeführt werden können. Dies bestätigt Kant in der Allgemeinen Anmerkung zur Dynamik - einer Stelle, die sehr stark an K.d.r. V. A 649/B 677 erinnert (siehe Abschnitt 1.3): "Es ist überhaupt über den Gesichtskreis unserer Vernunft gelegen, ursprüngliche Kräfte a priori ihrer Möglichkeit nach einzusehen, vielmehr besteht alle Naturphilosophie in der Zurückführung gegebener, dem Anscheine nach verschiedener Kräfte auf eine geringere Zahl Kräfte und Vermögen, die zu Erklärung der Wirkungen der ersten zulangen, welche Reduktion aber nur bis zu Grundkräften fortgeht, über die unsere Vernunft nicht hinaus kann" (IV,534,20-26). Auch ohne eine explizite Einschätzung der dynamischen Theorie als Hypothese wird man hier den hypothetischen Charakter der Grundkräfte mindestens angedeutet finden. Aber im Unterschied zum Kapitel "Von dem regulativen Gebrauch der Ideen der reinen Vernunft" in der K.d.r.V. führt Kant hier kein transzendentales Prinzip der Vernunfteinheit ein, das uns erlauben würde, die Grundkräfte zu sichern und die bloße Hypothese in eine a priori erwiesene Tatsache umzuwandeln . In den M. A. bleibt Kant der Behauptung von K.d.r.V. A 207/ B 252 treu, wonach die Kenntnis wirklicher Kräfte empirisch gegeben werden muß. Was a priori gegeben werden kann, sind höchstens die Verhältnisse der Grundkräfte untereinander: Von der "Verknüpfung und Folgen können wir allenfalls noch wohl a priori urteilen, welche Verhältnisse derselben untereinander man sich, ohne sich selbst zu widersprechen, denken könne, aber sich darum doch nicht anmaßen, eine derselben als wirklich anzunehmen, weil zur Befugnis eine Hypothese zu errichten unnachlaßlich gefordert wird: Daß die Möglichkeit dessen, was man annimmt, völlig gewiß sei, bei Grundkräften aber die Möglichkeit derselben niemals eingesehen werden kann" 55 Streng genommen geht es in der K.d.r.V. bei der Einführung des transzendentalen Prinzips der Festlegung einer Grundkraft als a priori gegeben um etwas ganz anderes als in der M . A . , nämlich um die Möglichkeit, eine Mannigfaltigkeit verschiedener ungleichartiger Kräfte auf eine Grundkraft zu reduzieren. Nach K.d.r.V. A 649/B 677f. geht man von einer großen Anzahl von Kräften aus und sucht Aehnlichkeiten, um zu nur einer Grundkraft zu gelangen; nach den M.A. (IV,534,20-26) geht man hingegen von Grundkräften aus, die man unter Umständen als a priori gesichert sehen möchte. Ein transzendentales Prinzip zur Sicherung der Grundkräfte wird erst im O.p. thematisch.
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(IV,524,34-40). Die Unbegreiflichkeit der Grundkräfte sollte aber nicht als ein Mangel der Kantischen Theorie angesehen werden, sondern als ein Hinweis auf die Schranken der menschlichen Vernunft. Für den Physiker ist es ohnehin unwesentlich, ob die Kräfte a priori gegeben werden oder nicht, er muß sie nur postulieren und mathematisch behandeln. Die Unbegreiflichkeit der Kräfte bei Kant entspricht somit Newtons Weigerung, die Gravitationskraft ihrer Ursache nach zu erklären (Principia, p. 511), also dem berühmten Satz "Hypotheses non fingo" . Hier wird auch ersichtlich, in welchem Sinne Kants "Beweise" der zwei Grundkräfte (Ls. l, Ls.5) zu verstehen sind. Angesichts der Tatsache, daß sich sowohl Abstoßung wie auch Anziehung ihrer Möglichkeit nach als unbegreiflich erweisen, dürfen die Beweise der Lehrsätze nicht als Beweise im strengen Sinne des Wortes, also nicht a priori, wo alle Alternativen ausgeschlossen wären, sondern müssen eher als Erklärungen gedeutet werden. Es zeigt sich dabei, daß die mathematische Methode, die Kant deshalb benutzt, weil er hofft, daß die mathematischen Naturforscher so besser einsehen werden, daß die metaphysischen Anfangsgründe zur allgemeinen Physik gehören (IV, 478, 21-31), nicht gerade die passendste ist und leicht irreführend werden kann, indem sie den Anschein einer strengen Folgerung erzeugt, die es in der Tat gar nicht gibt . 2) Mit der Unbegreiflichkeit der Grundkräfte ist die Tatsache, daß Kant seine dynamische Theorie nur als eine Hypothese auffaßt, eng verbunden; wäre es möglich, den Dynamismus a priori zu sichern, so hätten die Grundkräfte eher die Chance, als a priori erweisbar zu sein. Bei 5 den dynamischen und mechanischen Theorien , so wie sie Kant benutzt, 56 Vuillemin ( 1 7 3 - 1 7 4 ) . 57 Tuschling, in seinem Bestreben die M.A. als gescheitert aufzuzeigen, nimmt Kants mathematische Methode wörtlich und kann so einen Widerspruch zwischen Ls. 1 und der Unbegreiflichkeit der Kräfte feststellen ( 9 6 ) . Dies ist eine gegenüber Kant äußerst unnachsichtige Interpretation. 58 Kant benutzt den Ausdruck "mechanisch" auf zwei verschiedene Weisen. Erstens im Zusammenhang mit Erklärungen der Materie, wo die mechanische Theorie (der Atomismus), die auf undurchdringlichen Atomen mit dazwischenliegenden leeren Räumen fußt, der dynamischen Hypothese gegenübergestellt wird (meist in der Dynamik). Der zweite Sinn von "mechanisch" bezieht sich auf das dritte Hauptstück der M . A . , die Mechanik, in der es sich um Materie, als das Bewegende, sofern es bewegende Kraft hat, handelt.
Dynamik geht es hauptsächlich um die Erklärung der Materie und ihrer verschie59 denen spezifischen Dichten . Die dynamische Theorie leistet diese Aufgabe dadurch, daß der Materie verschiedene Grade der repulsiven Kraft zugesprochen werden (!V,533,36f.). Die mechanische Theorie postuliert absolut undurchdringliche und weiter unteilbare Partikel, also Atome, zwischen denen sich ein absolut leerer Raum erstreckt. Die verschiedenen spezifischen Dichten werden dann mit dem Hinweis auf verschiedene Mengen von leerem Raum zwischen den Atomen erklärt. Wäre die dynamische Theorie keine bloße Hypothese, sondern besäße strenge Notwendigkeit, so könnte man die zwei Grundkräfte als zur Erklärung der Materie notwendig gehörige a priori beweisen. Kant redet einige Male so, als ob dies möglich wäre. Ich führe zwei Stellen an: "Diejenige Eigenschaft, auf welcher als Bedingung selbst die innere Möglichkeit eines Dinges beruht, ist ein wesentliches Stück derselben. Also gehört die Zurückstoßungskraft zum Wesen der Materie eben so wohl wie die Anziehungskraft, und keine kann von der anderen im Begriff der Materie getrennt werden" (Ls. 6, Zusatz); oder ähnlich: "[ Die Elastizität] und die Schwere machen die einzigen a priori einzusehenden allgemeinen Charaktere der Materie, jene innerlich, diese im äußeren Verhältnisse, aus; denn auf den Gründen beider beruht die Möglichkeit der Materie selbst" (Ls. , Zusatz 2). Da Elastizität bzw. Schwere die Wirkung von Zurückstoßungs- bzw. Anziehungskraft ist, so müßten die zwei Grundkräfte auch a priori gelten. Es handelte sich hier zwar um kein transzendentales Argument, aber um ein metaphysisches, wären doch die notwendigen Bedingungen der Möglichkeit nicht von Erfahrung, sondern von einem empirisch gegebenen Begriff, nämlich der Materie, angegeben. Da aber die Bedingungen der Möglichkeit der Materie, die in der dynamischen Theorie dargelegt werden, nicht notwendig sind, kann es sich hier um kein metaphysisches Argument handeln und die Grundkräfte bleiben unbewiesen. Wieweit man sich bei der Erzeugung der metaphysischen Anfangsgründe auf die Vernunft allein verlassen muß und darf, d. h. wieviel man mit59 Sonst können die zwei Theorien auch zu einer allgemeinen Erklärung aller physikalischen Erscheinungen benutzt werden, von Planetenbewegungen bis zu Wärmeproblemen. Da aber Kant die Unterscheidung der zwei Theorien im Rahmen seiner Dynamik thematisiert, dienen die Theorien hauptsächlich als Erklärungsmittel von Raumerfüllung.
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tels philosophischer Begriffe zustandebringt, wird bei einer Untersuchung der Gründe für den Vorzug der dynamischen vor der mechanischen Theorie ersichtlich. Der Mechanismus muß im Gegensatz zum Dynamismus zwei zweifelhafte Annahmen machen, nämlich die der absoluten Undurchdringlichkeit und die von absolut leeren Räumen. Im Falle der Undurchdringlichkeit unterscheidet Kant zwischen einer relativen, d. h. dynamischen Undurchdringlichkeit, die eben darauf beruht, daß alle Materie einen gewissen Grad an Repulsionskraft aufweist und die er als durchaus akzeptabel einstuft, und einer absoluten, d. h. mechanischen Undurchdringlichkeit, die gar nicht weiter erklärbar ist und deshalb von ihm als eine "qualitas occulta" bezeichnet wird (Erkl.4, Anm.2). Das Problem der leeren Räume liegt darin, daß ihre Wirklichkeit höchst zweifelhaft ist; deren Annahme "kann uns keine Erfahrung, oder Schluß aus derselben, oder notwendige Hypothesis sie zu erklären berechtigen. Denn alle Erfahrung gibt uns nur komparativ-leere Räume zu erkennen, ..." (IV,535,5-7). Die Metaphysik der Natur muß hier also vorausgeschickt werden, um begriffliche Vorarbeit zu leisten, durch die die metaphysischen Voraussetzungen der möglichen Materieerklärungen aufgezeigt werden. Eine solche metaphysische Aufklärung der Voraussetzungen bringt im Falle der Dynamik die drei folgenden Resultate. Erstens zeigt Kant, daß die mechanische und dynamische Theorie selbständig sind, d. h. daß sie nicht miteinander kombiniert werden können. "Denn wollte ein Monadist annehmen, die Materie bestände aus physischen Punkten, deren ein jeder zwar (eben darum) keine bewegliche Teile habe, aber dennoch durch bloße repulsive Kraft einen Raum erfüllte", so wäre dies ein Widerspruch in sich selbst. Denn da die Materie ins Unendliche teilbar ist, ist es klar, "daß in einem erfüllten Räume kein Punkt sein könne, der nicht selbst nach allen Seiten Zurückstoßung ausübte, so wie er zurückgestoßen wird ... und die Hypothese eines Punkts, der durch bloße treibende Kraft und nicht vermittelst anderer, gleichfalls zurückstoßenden Kräfte einen Raum erfüllte, gänzlich unmöglich sei" (Ls.4, Anm. 1). Zweitens zeigt die metaphysische Aufklärung der Voraussetzungen, daß man die mechanische Hypothese nur dann zu akzeptieren gezwungen wäre, wenn man die Materie ohne jede Berufung auf Kräfte erklären wollte. In einem solchen Falle könnte man beispielsweise gar nicht erklären, wieso Materie unter Druck ein kleineres Volumen einnimmt. Der Dynamist weist hier auf die Veränderung der Intensität der Abstoßungskraft hin, während der
Dynamik Mechanist von einer Verminderung des leeren Raumes zwischen den Atomen spricht. Die metaphysische Aufklärung zeigt, daß weitere Alternativen nicht vorhanden sind. Besinnt man sich auf diese Tatsache, sieht man sofort, daß eine Kritik wie die folgende unberechtigt ist: "Muß man sich in einer Mauer eine bewegende Kraft denken, weil man an der Mauer nicht weiter fortgehen kann? Es ist nicht einmal deutlich wie Phoron., die bloß Bewegung betrachtet, ohne an Kraft zu denken davon die Bewegung herrührt, auf bewegende Kraft führen könne " . Das dritte und wohl auch wichtigste Resultat der Aufklärung der metaphysischen Voraussetzungen der zwei Theorien ist gerade die dadurch begründete Bevorzugung der dynamischen vor der mechanischen Theorie. Denn damit, daß man absolute Undurchdringlichkeit und den absolut leeren Raum als notwendige Voraussetzungen der mechanischen Theorie aufzeigt, wird auch unmittelbar ersichtlich, daß ein mechanischer Materiebegriff, der auf zwei vom Standpunkte der Erfahrung leeren Annahmen basiert, die akute Gefahr läuft, gleichfalls leer zu werden. Diese Überlegung sollte eigentlich den Wert der dynamischen Theorie erhöhen, was wiederum bedeuten würde, daß man die Gründe doch noch als a priori, d. h. als Bedingungen der Möglichkeit des Materiebegriffs, erweisen könnte. Aber Kant zeigt sich in dieser Beziehung in der Dynamik der M. A. sehr bescheiden; er gibt sich hier damit zufrieden, die dynamische Theorie als eine mögliche Hypothese zu bestätigen und so zu zeigen, daß die mechanische Theorie nicht die einzige Möglichkeit zur Erklärung der Materie bietet und deshalb auch nicht notwendig ist, sondern ebenfalls nur auf den Wert einer Hypothese zurückzusetzen ist. Kants Zurückhaltung bei der Bewertung der dynamischen Theorie läßt sich aber sehr wohl damit erklären, daß nicht nur absolute Undurchdringlichkeit und ein absolut leerer Raum, sondern letztlich auch die Grundkräfte ihrer Möglichkeit nach unbegreiflich sind und daß ihr einziger Vorteil ihre Mathemati60 Aus einer Rezension der M.A. in den Göttingischen Anzeigen 1786. Kant war von dieser Kritik an den M.A. so fasziniert, daß er sie sich notierte: 1,415,13-17. Tuschling ( 4 4 ) macht übrigens denselben Einwand, wie der Rezensent aus Göttingen. 61 Man darf hier selbstverständlich nicht wie folgt argumentieren: Angenommen, daß Materie nur in der dynamischen oder mechanischen Weise erklärbar ist und daß die dynamische Theorie keine Hypothese ist, sondern bewiesene Theorie, weil die mechanische Theorie von unbegreiflichen Datis ausgeht, dann werden die Grundkräfte als Bedingungen der Möglichkeit der Materie a priori und
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sierbarkeit ist. So sagt Kant in Erklärung 4, Anmerkung 2, daß die Repulsionskraft, obwohl sie nicht weiter erklärbar ist, doch den Begriff von einer wirkenden Ursache und ihren Gesetzen hergibt. Vuillemin kommentiert hier mit der folgenden Bemerkung: "Un principe est valable et clair s'il donne une regle pour mesurer le phenomene - quelle que soit par ailleurs son obscurite apparente du point de vue de l1 intuition immediate. Inversement, un principe est obscure s'il laisse indetermine la quantitfe, ici intensive, de la chose, meme s'il a l'apparence de clarte que confere l'elegance d'une exposition more geometrico ... Ainsi, les grandeurs intensives, meme si pour les concevoir nous sommes obliges de renoncer ä l'evidence proprement geometrique de la genese du continu, peuvent servir d'instrument valable pour la Dynamique" (152). Die Vernunft hat also gezeigt, daß die dynamische Hypothese deshalb besser als die mechanische ist, weil sie erstens ohne die Annahmen absoluter Undurchdringlichkeit und eines absolut leeren Raumes auskommt, und weil sie zweitens die Anwendung der Mathematik ermöglicht. Damit ist nun die Rolle der Vernunft erschöpft: Sie muß zwar diese metaphysische Vorarbeit leisten, darf aber keineswegs mehr tun. So sagt Kant: "Außer diesem darf weder irgend ein Gesetz der anziehenden, noch zurückstoßenden Kraft auf Mutmaßungen a priori gewagt, sondern alles, selbst die allgemeine Attraktion als Ursache der Schweren muß samt ihrem Gesetze aus Datis der Erfahrung geschlossen werden ... so ist Nachforschung der Metaphysik hinter dem, was dem empirischen Begriffe der Materie zürn Grunde liegt, nur zu der Absicht nützlich, die Naturphilosophie, so weit als es immer möglich ist, auf die Erforschung der nicht mehr unbegreiflich sein. Sind aber die Grundkräfte einmal als a priori erwiesen, so muß die dynamische Theorie im Vergleich zur mechanischen als die deutlich überlegene gelten, denn sie geht von keinen unbegreifbaren Fakten aus und muß demzufolge als die einzige mögliche Materietheorie verstanden werden. Dies wäre ein Zirkel, mit dem sich ebensogut für die mechanische Theorie argumentieren ließe. Die Grundkräfte können nur auf zweierlei Weise als begreiflich erwiesen werden, entweder als Bedingungen der Möglichkeit der Materie oder als durch die Sinne gegeben. Wie soeben gezeigt, bereitet die erste Möglichkeit Schwierigkeiten und die zweite ist einfach nicht der Fall. So müßte der Dynamismus Hypothese bleiben, und der Versuch des O.p., den Mechanismus zu disqualifizieren und die dynamische Hypothese als die einzige Möglichkeit zu etablieren, müßte mit Bedauern als ein dogmatischer Schritt konstatiert werden, gäbe es nicht die im Text unmittelbar folgende Ueberlegung.
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dynamischen Erklärungsgründe zu leiten, weil diese allein bestimmte Gesetze, folglich wahren Vernunftzusammenhang der Erklärungen hoffen lassen" (IV.534,15-30). Die Philosophie schafft also nur den allgemeinen begrifflichen Rahmen, innerhalb dessen sich die Naturforschung abspielen darf, und mit dem man an die Natur gehen kann, um von ihr belehrt zu werden. 3) Einer der wichtigsten Gründe, warum Kant fordert, daß die Gesetze der Dynamik auf dem empirischen Weg zu erforschen sind, hat sicher mit den Schwierigkeiten bei der Anwendung der Mathematik zu tun. Denn a priori gilt nur, daß die dynamische Theorie mathematisierbar ist, weil die Kräfte als intensive Größen aufgefaßt werden können62 ; wie man aber bei der Konstruktion vorzugehen hat, kann nicht völlig a priori bestimmt werden und bereitet große Probleme. Zunächst untersuchen wir aber diejenigen Stellen, wo die Metaphysik bei der Konstruktion gerade deshalb nutzen kann, weil sie uns "auf die Erforschung der dynamischen Erklärungsgründe" leitet. Es zeigt sich, daß die Mathematik ohne Führung der Metaphysik oft sehr hilflos ist und unter ihrer Aufsicht bleiben muß. Ein Beispiel dafür ist die Konstruktion der Berührung zweier Teilchen im Zusammenhang mit der Abstoßungskraft: "Wenn Mathematiker die repulsiven Kräfte der Teile elastischer Materien bei größerer oder kleinerer Zusammendrückung derselben als nach einer gewissen Proportion ihrer Entfernungen voneinander abnehmend oder zunehmend sich vorstellen ..., so verfehlt man gänzlich ihren Sinn und mißdeutet ihre Sprache, wenn man das, was zum Verfahren der Konstruktion eines Begriffs notwendig gehört, dem Begriffe im Objekt selbst beilegt. Denn nach jenem kann eine jede Berührung als eine unendlich kleine Entfernung vorgestellt werden ... Bei einem ins Unendliche Teilbaren darf darum dennoch keine wirkliche Entfernung der Teile, die bei aller Erweiterung des Raums des Ganzen immer ein Kontinuum ausmachen, angenommen werden, obgleich die Möglichkeit dieser Erweiterung nur unter der Idee einer unendlich klei62 Vergleichsweise heißt es im O.p.: Um das Problem der wirkenden Ursache der Planetenbewegungen, die in den Keplerschen Gesetzen beschrieben werden, zu lösen, "schlug Newton eine Brücke von der Mathematik zur Physik, nämlich dem Prinzip einer Kraft, der alle Körper durchdringenden Anziehung durch den leeren Raum nach dem Gesetz des umgekehrten Verhältnisses der Quadrate der Entfernung" (11,516,17-24).
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nen Entfernung anschaulich gemacht werden kann" (l_s. 4, Anm. 1). Mit ändern Worten stellt sich die Mathematik zwecks Konstruktion eine unendlich kleine Entfernung gerade dort vor, wo es in der Tat gar keine Entfernung gibt, und es ist Sache der metaphysischen Aufklärung, hier mögliche Mißverständnisse zu verhindern. Will man von der mathematischen zur physikalischen Berührung übergehen, so muß man sich ebenfalls auf die Leitung der Metaphysik verlassen: "Die mathematische Berührung wird bei der physischen zum Grunde gelegt, aber sie macht sie allein noch nicht aus, zu ihr muß, damit die letztere daraus entspringe, noch ein dynamisches Verhältnis und zwar nicht der Anziehungskräfte, sondern der zurückstoßenden, d. i. der Undurchdringlichkeit, hinzugedacht werden" (Erkl. 6, Anm.). Hier wird eine mathematische Eigenschaft zugrundegelegt, doch braucht es - will man daraus noch auf eine physikalische Bestimmung schließen - noch einen metaphysischen Begriff. Ahnlich verhält es sich im Falle der Teilbarkeit der Materie ins Unendliche (Ls. 4). Auch hier wird die mathematische Teilbarkeit zugrundegelegt; will man aber zur physikalischen Teilbarkeit übergehen, muß der Philosoph zunächst beweisen, daß Materie kontinuierlich ist, d. h. daß jeder Teil abgesondert werden kann und als für sich beweglich existiert. Die reine Mathematik ist auf die Philosophie natürlich nicht angewiesen, doch mit einer mathematischen Physik verhält es sich ganz anders: "Die Mathematik kann zwar in ihrem inneren Gebrauche in Ansehung der Chicane einer verfehlten Metaphysik ganz gleichgültig sein und im sicheren Besitz ihrer evidenten Behauptungen von der unendlichen Teilbarkeit des Raumes beharren ... allein in der Anwendung ihrer Sätze, die vom Räume gelten, auf Substanz, die ihm erfüllt, muß sie sich doch auf Prüfung nach bloßen Begriffen, mithin auf Metaphysik einlassen" (Ls.4, Anm.2). Das wohl bekannteste Beispiel für eine solche Angewiesenheit der mathematischen Physik auf metaphysische Begriffe ist Newtons Anziehungskraft. "Man hält gemeiniglich dafür, Newton habe zu seinem System gar nicht nötig gefunden, eine unmittelbare Attraktion der Materien anzunehmen, sondern mit der strengsten Enthaltsamkeit der reinen Mathematik hierin den Physikern volle Freiheit gelassen, die Möglichkeit derselben zu erklären, wie sie es gut finden möchten, ohne seine Sätze mit ihrem Hypothesenspiel zu bemengen. Allein wie konnte er den Satz gründen, daß die allgemeine Anziehung der Körper, die sie in gleichen Entfernungen um sich ausüben, der Quantität ihrer Materie proportioniert sei, wenn
Dynamik er nicht annahm, daß alle Materie, mithin bloß als Materie und durch ihre wesentliche Eigenschaft diese Bewegungskraft ausübe?" (Ls. 7, Anm.2) 63 . Es ist klar, daß eine solche Angewiesenheit der mathematischen Physik auf die Philosophie die mögliche Apriorität der Gesetze der Dynamik nicht beeinträchtigt. Ganz im Gegenteil wird sichergestellt, daß die Mathematik nicht irreführt. Doch die Metaphysik kann nicht überall bei der Mathematisierung beistehen, denn - wie Kant von der Konstruktion des dynamischen Begriffs der Materie selber sagt - "Hierzu bedarf man eines Gesetzes des Verhältnisses sowohl der ursprünglichen Anziehung, als Zurückstoßung in verschiedenen Entfernungen der Materie und ihrer Teile voneinander, welches, da es nun lediglich auf dem Unterschiede der Richtung dieser beiden Kräfte (da ein Punkt getrieben wird, sich entweder ändern zu nähern, oder sich von ihnen zu entfernen) und auf der Größe des Raumes beruht, in den sich jede dieser Kräfte in verschiedenen Weiten verbreitet, eine reine mathematische Aufgabe 1st, die nicht mehr für die Metaphysik gehört, selbst nicht was die Verantwortung betrifft, wenn es etwa nicht gelingen sollte, den Begriff der Materie auf diese Art zu konstruieren. Denn sie verantwortet bloß die Richtigkeit der unserer Vernunfterkenntnis vergönnten Elemente der Konstruktion, die Unzulänglichkeit und die Schranken unserer Vernunft in der Ausführung verantwortet sie nicht" (Ls.ß, Zusatz). Die Metaphysik versorgt die Mathematik zwar mit den Elementen der Konstruktion, hier also mit den bewegenden Kräften der Anziehung und Abstoßung, kann aber bei der Konstruktion selber eben deswegen nicht behilflich sein, weil Mathematik und Philosophie bei Kant radikal verschieden sind. Doch auch wenn die Metaphysik das Aufstellen von mathematischen Gesetzen der Natur nicht vollständig garantieren kann, müßten diese Ge63 Uebrigens sagt hier Kant nicht, daß Newton ohne Annahme einer Kraft auszukommen versuchte, sondern er kritisiert diejenigen Naturphilosophen, die Newtons "Principia" als einen mathematischen Formalismus verstehen wollten - u. a. vermutlich auch Leibniz. Im O.p. macht er seine Meinung über Newtons "Principia" klar: Newton "begnügte sich also nicht mit den Erscheinungen, sondern brachte eine uranfängliche bewegende Kraft auf die Szene, welche einerseits allgemeine wechselseitige Gravitation bloß zu einander strebenden Kräfte nach Keplerschen Gesetzen, dann aber zuletzt diese in einer allgemeinen Attraktion der Körper und der Materie überhaupt, die den Weltraum erfüllt im unendlichen Raum darstelle ..." (11,516,25-517,2).
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setze nicht unbedingt zur Aposteriorität verurteilt sein; immerhin können die Sätze der reinen Mathematik als Grundlage für die physikalischen Gesetze benutzt werden. In der Tat geschieht dies in der Naturwissenschaft sehr häufig, und der Eindruck wäre sicher nicht unberechtigt, daß Kant selber ein solches Verfahren für die Anziehungskraft durchsetzen will. Sehr deutlich kommt dies in den Prol. § 38 zum Vorschein, wo Kant das folgende Argument entwickelt: "Betrachten [wir] den Zirkel als einen Kegelschnitt, der also mit anderen Kegelschnitten unter eben denselben Grundbedingungen der Konstruktion steht, so finden wir, daß alle Sehnen, die sich innerhalb der letzteren, der Ellipse, der Parabel und Hyperbel, schneiden, es jederzeit so tun, daß die Rectangel aus ihren Teilen zwar nicht gleich sind, aber doch Immer in gleichen Verhältnissen gegen einander stehen. Gehen wir von da noch weiter, nämlich zu den Grundlehren der physischen Astronomie, so zeigt sich ein über die ganze materielle Natur verbreitetes physisches Gesetz der wechselseitigen Attraktion, deren Regel ist, daß sie umgekehrt mit dem Quadrat der Entfernungen von jedem anziehenden Punkt eben so abnimmt, wie die Kugelflächen, in die sich diese Kraft verbreitet, zunehmen, welches als notwendig in der Natur der Dinge selbst zu liegen scheint und daher auch als a priori erkennbar vorgetragen zu werden pflegt. So einfach nun auch die Quellen dieses Gesetzes sind, indem sie bloß auf dem Verhältnisse der Kugelflächen von verschiedenen Halbmessern beruhen, so ist doch die Folge davon so vortrefflich In Ansehung der Mannigfaltigkeit ihrer Zusammenstimmung und Regelmäßigkeit derselben, daß nicht allein alle mögliche Bahnen der Himmelskörper in Kegelschnitten, sondern auch ein solches Verhältnis derselben unter einander erfolgt, daß kein anderes Gesetz der Attraktion als das des umgekehrten Quadratverhältnisses der Entfernungen zu einem Weltsystem als schicklich gedacht wird". Nicht nur wird hier ein Gesetz der Physik aufgrund von geometrischen Eigenschaften des Raumes, nämlich den Verhältnissen der Kugelflächen von verschiedenen Halbmessern, aufgestellt, sondern es werden dem Gesetz auch Apriorität und strenge Notwendigkeit zugeschrieben. Dieser Begriff eines physikalischen Gesetzes wird noch bestätigt und verstärkt, wenn sich Kant die Frage stellt: "Liegen diese Naturgesetze Im Räume, und lernt sie der Verstand, indem er den reichhaltigen Sinn, der in jenem Hegt, bloß zu erforschen sucht, oder liegen sie im Verstande und in der Art, wie dieser den Raum nach den Bedingungen der
Dynamik synthetischen Einheit, darauf seine Begriffe insgesamt auslaufen, bestimmt" (ibid.). Wäre das erste der Fall, so wäre das Anziehungskraftgesetz doch nur a posteriori, aber Kants Anwort scheint diese Möglichkeit völlig auszuschließen: "Die Einheit der Objekte wird doch lediglich durch den Verstand bestimmt und zwar nach Bedingungen, die in seiner eigenen Natur liegen; und so ist der Verstand der Ursprung der allgemeinen Ordnung der Natur, indem er alle Erscheinungen unter seine eigene Gesetze faßt und dadurch allererst Erfahrung (ihrer Form nach) a priori zu Stande bringt, vermöge deren alles, was nur durch Erfahrung erkannt werden soll, seinen Gesetzen notwendig unterworfen wird" (ibid.). Es dürfte der Eindruck entstehen, das Gravitationsgesetz gehöre sogar zu den allgemeinen Bedingungen der Erfahrung und wäre also als Explikation eines reinen Verstandesbegriffs aufzufassen. Doch der breitere Zusammenhang, besonders Prol. § 36, wo der Unterschied von Natur in materieller und in formaler Bedeutung nochmals aufgenommen wird, macht klar, daß Kant nur meinen kann, das Gravitationsgesetz müsse zwar gemäß den formalen Bedingungen der Erfahrung aufgestellt werden, nicht aber, daß es zu ihnen gehört. Im übrigen kann das Gesetz schon deshalb nicht zu den synthetischen Grundsätzen des reinen Verstandes gezählt werden, weil es selbst mathematischer Natur ist; bei den Begriffen und Grundsätzen der Transzendentalphilosophie muß der Unterschied zwischen der Mathematik und der Philosophie streng beachtet werden. Aber auch so bliebe das Gesetz das Produkt einer Verstandeshandlung, die zwar auf Konstruktion in reiner Anschauung bezogen ist, aber gerade deshalb a priori vollstreckt zu werden scheint. Um diese Illusion zu vertreiben, müssen wir den Beweis des Gravitationsgesetzes im einzelnen untersuchen. Kant tut dies zum Teil selber in den M.A., wo er trotz seiner Behauptung, das Aufstellen von mathematischen Gesetzen gehöre nicht in die Metaphysik, den Versuch einer vielleicht möglichen Konstruktion "doch nicht unterlassen" kann (Ls. , Anm. 1). Er beginnt mit der Annahme, daß eine jede Kraft immer ein gleiches Quantum ausmacht und der Grad ihrer Wirkung auf einen Punkt im Räume "jederzeit im umgekehrten Verhältnis des Raumes stehe, In welchen sie sich hat verbreiten müssen, um auf ihn wirken können" (ibid.). Dies nennt er das allgemeine Gesetz der Dynamik, das sowohl für die Anziehungs- als auch für die Abstoßungskraft gelten soll (IV,522,19-23). Akzeptiert man einmal diese Konstruktions-
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regel, so folgen daraus weitere Bestimmungen der Anziehungskraft sowie auch Hinweise auf eine mögliche räumliche Darstellung. Kant stützt sich dabei auf eine Analogie mit der Verbreitung von Licht und sagt, daß sich die Attraktion genau wie das Licht allerwärts in Kugelflächen ausbreitet, "die mit den Quadraten der Entfernung immer wachsen, und das Quantum der Erleuchtung ist in allen diesen ins Unendliche größeren Kugelflächen im Ganzen immer dasselbe, woraus aber folgt: Daß ein in dieser Kugelfläche angenommener gleicher Teil dem Grade nach desto weniger erleuchtet sein müsse, als jene Fläche der Verbreitung eben desselben Lichtquantum größer ist ..." (ibid.). Diese Darstellung der Anziehungskraft, die ja dem allgemeinen Konstruktionsgesetz der Dynamik folgen muß, ist genauer, als jene, bei der man "von einem Mittelpunkt auseinanderlaufende Zirkelstrahlen" zieht, die die Flächen, auf die sie treffen, nicht füllen. Dies könnte zu Mißverständnissen führen, denn man könnte dazu verleitet werden, nur die Strahlen als beleuchtet anzusehen und nicht dasjenige, was dazwischenliegt. Es müßten die Linien von der Kugelfläche zum Mittelpunkt laufen, "denn jene Größe der Fläche bestimmt allein die Menge der Linien, der Mittelpunkt läßt sie unbestimmt" (ibid.). An erster Stelle muß man sich natürlich fragen, wie die Annahme des allgemeinen Konstruktionsgesetzes der Dynamik zu rechtfertigen ist. Eigentlich ist das Gesetz so allgemein gefaßt, daß seine historischen Wurzeln, die in der neuzeitlichen Naturwissenschaft liegen, zum großen Teil verschleiert sind. Alles wird klar, wenn man Newtons Beweis der Anziehungskraft im umgekehrten Verhältnisse des Quadrats der Entfernungen untersucht. Wie es § 38 der Prol. will, geht dabei Newton von den geometrischen Eigenschaften des Kreises bzw. der Ellipse, nämlich vom Gesetz der Flächenverhältnisse, aus« In seinem ersten Beweis In "De Gravitatione" berücksichtigt er einen Körper, der zu einem der Brennpunkte einer Ellipse angezogen wird und der sich gerade an dem einen oder anderen Ende der Ellipse befindet, wo die Krümmungen einander gleich sind.
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Nach Keplers zweitem Gesetz sind die vom Radiusvektor in gleichen Zeiten überstrichenen Flächen AEF und CFD gleich groß. Sind die Bögen kurz genug, damit sie sich geraden Linien annähern, so gilt AF/FC = CD/AE. Ohne Anziehungskraft würden sich die Körper entlang der Tangenten AM und CN bewegen, aber die Kraft zieht sie von M nach E und von N nach D. So sind aber ME und ND der Anziehungskraft proportional und da die Krümmungen an den beiden Enden einander gleich sind, führt die Geometrie des Kreises direkt zum Schluß, daß die Anziehungskraft an diesen zwei Stellen im umgekehrten Verhältnis des Quadrats der Entfernung wirkt . Wichtig ist, daß dieser Beweis vom Verständnis der Kreisbewegung als einer durch eine Zentripetalkraft abgelenkten geradlinigen Bewegung ausgeht. Bei einer anderen Auffassung der Kreisbewegung, z. B. Unterzugrundelegung einer Zentrifugalkraft, wäre kein solcher Beweis möglich. Nun ist aber dieses Verständnis der Kreisbewegung seinerseits nur dadurch möglich, daß man weiß, daß sich die leichteren Planeten um die schwerere Sonne drehen und nicht umgekehrt. Denn gegeben, daß die Kraft zur Quantität der Materie direkt proportional ist, könnte man die Umlaufbahn der Sonne um einen Planeten aufgrund einer Anziehungskraft überhaupt nicht erklären, weil ein Planet nicht imstande ist, die Sonne von einer geradlinigen zu einer elliptischen Bewegung abzulenken. Die Hypothese aber, daß das heliozentrische System das richtige ist, kann nur durch Beobachtungen, d. h. empirisch, erwiesen werden. Da nun Kants allgemeines Konstruktionsgesetz der Dynamik nichts als eine dreidimensionale Version des zweidimensionalen Beweises von Newton ist, so muß es auch als empirisch gelten. Die Bemerkungen in den Prol. sollten demzufolge als eine Illustration, die den apriorischen Charakter der Begriffe der sich auf eine Natur überhaupt beziehender Transzendentalphilosophie zu veranschaulichen hat, verstanden werden . Die bei der Konstruktion der Zurückstoßungskraft auftretenden Schwierigkeiten sind gewichtigeren Charakters. Das schwerwiegendste Problem 64 Westfall ( 4 3 0 ) , siehe auch Principia ( 5 5 f f . ) . 65 Wichtige Elemente der obigen Erörterung des Anziehungsgesetzes finden sich bei Britten (140-2). Es fehlt dort allerdings der Hinweis auf die entscheidende Rolle des richtigen Verständnisses der Kreisbewegung, doch am Ende kommt Britten zu einem ähnlichen Schluß wie wir, daß nämlich die Feststellung der Umlaufbahnen der Planeten nur auf empirischem Weg erfolgen kann.
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ergibt sich dabei aus der Tatsache, daß die ursprüngliche Repulsion nur in der Berührung wirkt, was sich mit dem allgemeinen Konstruktionsgesetz der Dynamik schlecht verträgt. Dieses sagt ja, daß der Grad der Wirkung der Kraft "jederzeit im umgekehrten Verhältnis des Raumes stehe, in welchen sie sich hat verbreiten müssen ..." (Ls.8, Anm. 1). Deshalb muß man sich - wie oben schon erwähnt - bei der Darstellung der Zurückstoßung die Berührungen über unendlich kleine Entfernungen vorstellen. Doch auch dies reicht nicht aus, um die Probleme der Konstruktion der Abstoßungskraft zu überwinden. So ist hier z. B. die Hilfsvorstellung von Zurückstoßungsstrahlen aus einem repellierenden Punkte noch weniger nützlich als im Falle der Anziehungskraft, weil der Raum, in dem die Kraft verbreitet werden muß, ein körperlicher Raum ist, der als erfüllt gedacht werden soll. So muß Kant zugestehen, daß eine mathematische Darstellung dessen, wie ein Punkt durch bewegende Kraft einen Raum körperlich erfüllen könne, nicht möglich ist. Man würde wohl für die Schätzung des Grades der Zurückstoßung zweier Punkte davon ausgehen, daß er im umgekehrten Verhältnisse der körperlichen Räume, die jeder dieser Punkte dynamisch erfüllt, steht, mithin als Kubus von deren Entfernung zu bestimmen ist, "ohne [die Zurückstoßung] konstruieren zu können" (ibid.). Doch will Kant daraus, daß man weder die Erfüllung des Raumes noch die Zurückstoßung zweier Punkte mathematisch darstellen kann, keineswegs auf die Untauglichkeit des Begriffs der Abstoßung schließen. Der metaphysische Begriff bleibt sicher und sollte mit den "Streitigkeiten und Zweifeln" der mathematischen Konstruktion nicht belastet werden (Ls. , Anm.2). Diese Schwierigkeiten muß man bei der dynamischen Hypothese in Kauf nehmen und sie als einen Nachteil gegenüber der mechanischen Theorie akzeptieren, wo "die Möglichkeit der Gestalten sowohl als der leeren Zwischenräume sich mit mathematischer Evidenz dartun [ läßt]; dagegen wenn der Stoff selbst in Grundkräfte verwandelt wird (deren Gesetze a priori zu bestimmen, noch weniger aber eine Mannigfaltigkeit derselben, welche zu Erklärung der spezifischen Verschiedenheit der Materie zureiche, zuverlässig anzugeben, wir nicht im Stande sind), uns alle Mittel abgehen, diesen Begriff der Materie zu konstruieren und, was wir allgemein dachten, in der Anschauung als möglich darzustellen" (IV,525,5-12). Aber auch wenn man von diesem unlösbaren Problem der mathematischen Darstellung des Materiebegriffs innerhalb des Rahmens der dynamischen
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Theorie absieht, so bleibt immer das allgemeine Konstruktionsgesetz der Dynamik eine bloße Annahme, die nie a priori bewiesen, sondern nur empirisch überprüft werden kann. Es verwundert demzufolge gar nicht, wenn Kant die Behauptung aufstellt, daß auch die Anziehung aus Datis der Erfahrung geschlossen werden muß (IV,534,15-30, oben zitiert). Was Kant zusammenfassend am Schluß von Ls.8, Anm. l schreibt ("Also würde die ursprüngliche Anziehung der Materie in umgekehrtem Verhältnis der Quadrate der Entfernung in alle Weiten, die ursprüngliche Zurückstoßung in umgekehrtem Verhältnis der Würfel der unendlich kleinen Entfernungen wirken, und durch eine solche Wirkung und Gegenwirkung beider Grundkräfte würde Materie von einem bestimmten Grade der Erfüllung ihres Raumes möglich sein ...")» muß als Formulierung einer empirischen Hypothese aufgefaßt werden. Einige Kommentatoren wollen der Dynamik Kants und insbesondere dem Anziehungsgesetz Newtons viel mehr Apriorität zubilligen, als wir zugestanden haben
. Plaass geht hier von der Stelle B xiii-xiv aus und
sagt (118), daß es im Experiment unternommen werden muß, "demjenigen, was die Vernunft selbst in die Natur hineinlegt, gemäß, dasjenige in Ihr zu suchen (nicht ihr anzudichten), was sie von dieser lernen muß, und wovon sie für sich selbst nichts wissen würde". Ein solches Verständnis von B xiil-xlv ist natürlich einwandfrei, aber Plaass1 weitere Behauptung, daß nämlich dasjenige, wovon die Vernunft nichts wissen würde, nur die spezifischen Verschiedenheiten der Materie sind, ist nach unserer obigen Interpretation des Anziehungsgesetzes nicht zutreffend. Plaass ist der Auffassung, daß a priori bewiesen ist: Erstens, daß "jede Materie, als Gegenstand der äußeren Sinne überhaupt, eine ursprüngliche anziehende Kraft hat, die auf jede andere unmittelbar in die Ferne wirkt. Diese Kraft ist eine bewegende Kraft und damit auf den konstruierbaren Grundbegriff der Bewegung zurückführbar" (123). Dies läßt die uns schon bekannte Tatsache, daß die dynamische Theorie nur als Hypothese gilt und die weitere Tatsache, daß die mathematische Bestimmung der Anziehungskraft praktisch nichts von der Phoronomie übernimmt, außer acht. Zweitens behauptet Plaass, daß man aus den a priori feststellbaren Eigenschaften dieser Kraft, folgende weitere Eigenschaften mathematisch ableiten könne: 1. "Die Proportionalität der Kraft mit 66 Z. B. Popper ( 1 5 , 1 6 ) ; Plaass (118-126).
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den beiden Quantis der beteiligten Materien, also K^m.rru
und 2. Die
Abnahme der Kraft mit dem Quadrat des räumlichen Abstandes der betei2 ligten Materien, also K^m.nWr " (123). So hätte man zwar noch nicht das Gravitationsgesetz, sondern ein für verschiedene Kräfte geltendes Gesetz, müßte man noch die Gravitationskonstante kennenlernen, die aber nur experimentell ermittelt werden kann. Nun sieht Plaass durchaus, daß das Aufstellen des Proportionalitätsfaktors nicht ohne Schwierigkeiten vor sich geht, denn in einem Experiment wird immer nur eine Materie untersucht, was nicht dazu berechtigt auf die Eigenschaften anderer Materien zu schließen oder sogar zur Bestimmung von Materie als Materie zu gelangen (124). Aber das wesentliche an Plaass' Äußerungen Ist die Tatsache, daß er dem Vermögen der Kantischen Vernunft eine viel zu große Wirkungskraft zuschreibt und die Naturwissenschaft als allzuviel apriorisch versteht. In Wahrheit muß man viel früher, als dies Plaass 2 zugibt, zum Experiment greifen; schon die Formel K-^m.nru/r kann nicht a priori gewonnen werden. Mit der Vernunft allein kann man höchstens von einer Materie, die mit den bewegenden Kräften der Anziehung und Abstoßung versehen ist, ausgehen, aber auch dieser Materiebegriff ist nicht in strengstem Sinne, sondern höchstens hypothetisch notwendig; man könnte die Materie ja auch mittels Atome und leerer Räume erklären. Daß sich eine mechanische Materietheorie als viel weniger fruchtbar als die dynamische zeigt, daß man mittels ihrer also z. B. die Planetenbewegungen gar nicht ausreichend erfassen kann, ist wieder nur eine empirisch-heuristische Feststellung, genauso wie die Richtigkeit der Formel ,2
4) Empirische Elemente bringt auch derjenige Teil der "Allgemeinen Anmerkung" ins Spiel, In dem Kant verschiedene Einzelheiten der dynamischen Theorie behandelt (IV,525,20ff.). Er teilt das Material in vier Stücke auf, die man der Reihe nach Quantität der Qualität, Qualität der Qualität, Relation der Qualität und Modalität der Qualität nennen kön67 Man könnte dies aus LB.8, Zs.1 schließen, wo Kant sagt, daß die Anziehungskraft von aller Materie ausgeübt wird, woraus dann folgen müßte, daß sie in Proportion der Quantität der Materie wirkt. Doch scheint es, daß dieser Satz erst in der Mechanik bewiesen wird, und zwar dort, wo diese den Begriff der Quantität der Materie festlegt (Ls.1).
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nte . Im allgemeinen soll es darum gehen, die Momente, auf welche die spezifische Verschiedenheit der Materie "sich insgesamt a priori bringen (obgleich nicht eben so ihrer Möglichkeit nach begreifen) lassen muß, ... vollständig darf zu] stellen" (IV,525,22-24). Doch schon bei der Qualität der Qualität sieht man deutlich, daß man es hier nicht mit der Vernunft allein zu tun hat, denn das zweite Moment handelt vom "Zusammenhang", der als Anziehung, "sofern sie bloß als in der Berührung wirksam gedacht wird", definiert ist, und für dessen Bestimmung Erfahrung bzw. Experiment unerlässlich sind. So muß man auch die weiteren in der Qualität der Qualität folgenden Erklärungen als auf Erfahrung beruhende verstehen, wie die Definition starrer und flüssiger Körper und der Reibung. Ein gutes Beispiel dafür, wie sich Kant auf das Empirische verlassen muß, ist sein Beweis, daß Flüssigkeiten keine Reibung kennen. In einem verbundenen Gefäß mit einem breiten und einem schmalen Rohr steht die Flüssigkeit in beiden Schenkeln gleich hoch. Gäbe es Reibung, müßte man eine Höhe der Röhren finden können, bei der eine kleine Quantität von Flüssigkeit, in das engere Rohr gegossen, die Flüssigkeit im anderen nicht aus seiner Lage verschieben könnte. Somit würde die Flüssigkeitssäule im engeren Rohr höher stehen als im breiteren, weil das zusätzliche Gewicht des Flüssigen nicht mehr die Kraft hätte, die Flüssigkeit zu verschieben - "welches der Erfahrung und selbst dem Begriffe des Flüssigen zuwider ist" (!V,528,25-529,3). Die Wichtigkeit der Erfahrung belegt auch das Verhältnis der "Allgemeinen Anmerkung zur Dynamik" zum vorangehenden Teil des zweiten Hauptstückes der M. A. Die sieben Erklärungen und acht Lehrsätze sollen dazu dienen, den allgemeinen Rahmen einer Materietheorie a priori festzulegen, auch wenn letztlich die Notwendigkeit, die den so entstandenen Gesetzen zukommt, bestenfalls nur eine hypothetische ist. Die "Allgemeine Anmerkung" soll beweisen, daß Begriffe wie z. B. Dichte, Zusammenhang, flüssige und feste Materie, Reibung, Elastizität oder mechanische und chemische Wirkung alle innerhalb des Rahmens der dynamischen Theorie behandelt werden können, auch wenn sich dort freilich einige empirische Elemente einschleichen. Es ist von Bedeutung, daß Kant mit der "Allgemeinen Anmerkung zur Dynamik" noch nicht zu einem abschließenden Werk 68 Vuillemin (174-189).
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gelangt, denn er nimmt alle hier vorkommenden Themen im O.p. noch mehrmals auf, um sie neu zu bearbeiten.
2.3.4. Mechanik Kants Mechanik, die wir heute zu unserer Dynamik zählen würden, handelt von Materie als dem Beweglichen, sofern es bewegende Kraft hat (Erkl. 1). In der Dynamik ging es um bewegende Kräfte, die nur dazu dienten, die Materie als raumerfüllend zu ermöglichen, ohne daß die Dynamik diese als bewegt darstellen konnte. In der Mechanik wird hingegen "die Kraft einer in Bewegung gesetzten Materie betrachtet, um diese Bewegung einer anderen mitzuteilen" (Erkl. l, Anm.). Festzuhalten ist jedoch, daß die Mechanik die Dynamik voraussetzt. So sagt Kant, daß "das Bewegliche durch seine Bewegung keine bewegende Kraft haben würde, wenn es nicht ursprünglich bewegende Kräfte besäße, dadurch es vor aller eigener Bewegung in jedem Orte, da es sich befindet, wirksam ist, und daß keine Materie einer anderen, die ihrer Bewegung in der geraden Linie vor ihr im Wege liegt, gleichmäßige Bewegung eindrücken würde, wenn beide nicht ursprüngliche Gesetze der Zurückstoßung besäßen, noch daß sie eine andere durch ihre Bewegung nötigen könne in der geraden Linie ihr zu folgen ..., wenn beide nicht Anziehungskräfte besäßen" (ibid.). Eine Materie kann einer anderen nur dann Bewegung mitteilen, wenn beide Materien zuvor als raumerfüllend erwiesen worden sind, was nach der dynamischen Theorie bedeutet, daß die ursprünglich bewegenden Kräfte der Attraktion und Repulsion vorhanden sein müssen (ibid., IV,551,18-20). Man könnte jetzt meinen, daß die Mechanik von den verschiedenen Unsicherheitsfaktoren der Dynamik, etwa von den Schwierigkeiten bei der Konstruktion in Anschauung oder von der bloß hypothetischen Geltung der dynamischen Materieerklärung, mitbelastet sein müßte. Doch dies trifft nur teilweise zu. Die Dynamik spielt in der Mechanik nur bei der Bestimmung der Quantität der Materie und der Quantität der Bewegung eine unmittelbare Rolle (Erkl. 2, Ls. 1). Beim Aufstellen der drei Gesetze der Mechanik (Ls.2, 3, 4) wird die Dynamik nur dadurch indirekt hineingezogen, daß die drei Gesetze der Mechanik Erklärung l und Lehrsatz l voraussetzen. Deshalb gewinnt auch die Mechanik keine apodiktische Notwendigkeit, höchstens eine hypothetische. Denn eine Mechanik, die die me-
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chanische Erklärung der Materie zugrundelegte und wahrscheinlich ganz anders aussehen würde als die Kantische, ist immerhin als eine mögliche Alternative denkbar. Dafür wird die Mechanik von den anderen Problemen der Dynamik, v. a. der Unbegreiflichkeit der Grundkräfte und den Schwierigkeiten bei der Konstruktion, gar nicht betroffen. Dasjenige, was die Mechanik restlos von der Dynamik übernimmt, ist die Idee der Kontinuität der Materie, d. h. ihrer Teilbarkeit ins Unendliche. Dies wird ersichtlich, wenn man einmal Erklärung 2 untersucht. Sie lautet wie folgt: "Die Quantität der Materie ist die Menge des Beweglichen in einem bestimmten Raum. Dieselbe, sofern alle ihre Teile in ihrer Bewegung als zugleich wirkend (bewegend) betrachtet werden, heißt die Masse, und man sagt, eine Materie wirke in Masse, wenn alle ihre Teile, in einerlei Richtung bewegt, außer sich zugleich ihre bewegende Kraft ausüben. Eine Masse von bestimmter Gestalt heißt ein Körper (in mechanischer Bedeutung). Die Größe der Bewegung (mechanisch geschätzt) ist diejenige, die durch die Quantität der bewegten Materie und ihre Geschwindigkeit zugleich geschätzt wird; phoronomisch besteht sie bloß in dem Grade der Geschwindigkeit". Die Bedeutung dieser Definition der Quantität der Materie hängt natürlich davon ab, was man sich unter dem Ausdruck "Menge des Beweglichen" vorstellt. Im Lehrsatz l und dem dazugefügten Beweis macht Kant klar, daß dabei die dynamische Theorie zugrundegelegt werden muß. Nach Lehrsatz l kann "die Quantität der Materie 0 . . in Vergleichung mit jeder anderen nur durch die Quantität der Bewegung bei gegebener Geschwindigkeit geschätzt werden". Denn Materie ist nach der dynamischen Theorie ins Unendliche teilbar und man kann folglich ihre Quantität nicht durch die Menge ihrer Teile unmittelbar bestimmen. Deshalb kann man nicht von der Bewegung der Materie absehen, wobei die Geschwindigkeit als gleich angenommen wird (Ls. l, Beweis). Wenn man die Menge des Beweglichen als rn = rn. + m„ + m, + ... + m darstellt und die Quantität der Bewegung als das Produkt der Menge des Beweglichen und der Geschwindigkeit versteht, so ergibt sich die Formel für die Quantität der Bewegung als mv = m.v + m«v + m.,v + ... + m v, wobei v konstant ist. Eine Schätzung der Quantität der Materie aufgrund der mechanischen Hypothese (d. h. des Atomismus) wird von Kant in der anschließenden Anmerkung explizit abgelehnt; er stellt hier fest, daß Materie keine andere Größe hat als die, "welche in der Menge des Mannigfaltigen außer-
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halb einander besteht, folglich auch keinen Grad der bewegenden Kraft mit gegebener Geschwindigkeit, der von dieser Menge unabhängig wäre und bloß als intensive Größe betrachtet werden könnte, welches allerdings stattfinden würde, wenn die Materie aus Monaden bestände, deren Realität in aller Beziehung einen Grad haben muß, welcher größer oder kleiner sein kann, ohne von einer Menge der Teile außer einander abzuhängen" (Ls. l, Anm.) 69 . Aber auch wenn die Mechanik die Dynamik in diesem wichtigen Punkte voraussetzt, muß doch zur Möglichkeit der Schätzung der Quantität der Materie noch eine weitere, der Dynamik fremde Bestimmung des Materiebegriffs hinzukommen, nämlich die Bestimmung der Materie als des Beweglichen, sofern es bewegende Kraft hat. Die Quantität der Materie kann nicht durch die Größe einer ihrer Qualitäten, also der Zurückstoßung oder Anziehung ausgedrückt werden, denn nur die Menge des Bewegten kann bei derselben Geschwindigkeit einen Unterschied in der Quantität der Bewegung ergeben. Dies bedeutet, daß allein die bewegende Kraft, die eine Materie in ihrer eigenen Bewegung hat, für die Quantität der Materie einschlägig ist. Nur die eigene Bewegung der Materie gibt die Vielheit der bewegten Subjekte an (bei gleicher Geschwindigkeit auf gleiche Art). Die dynamischen Eigenschaften tun dies nicht, denn ihre Größe kann "auch die Größe der Wirkung von einem einzigen Subjekte sein ... (z. B. da ein Luftteilchen mehr oder weniger Elastizität haben kann)" (ibid.). Es könnte so aussehen, als ob die Anziehung, eine dynamische Größe, doch ein Maß der Quantität der Materie abgeben könnte, so beim Abwiegen. Aber da auch hier "die Wirkung einer Materie mit allen ihren Teilen unmittelbar auf alle Teile einer anderen geschieht und also ... der Menge der Teile proportioniert ist, der ziehende Körper sich dadurch auch selbst eine Geschwindigkeit der eigenen Bewegung erteilt ... 69 Es ist schwer verständlich, wie Tuschling (56-60) bei allem, was Kant von der Schätzung der Quantität der Materie sagt, noch behaupten kann, daß die Mechanik die Existenz materieller Punkte annimmt und somit mit der dynamischen Theorie in Konflikt gerät. Tuschling setzt völlig unerklärt und unbegründet den Ausdruck "Teile der Materie" mit materiellen Punkten gleich, trägt also die mechanische Materieerklärung ein und meint noch dazu, daß Kant im O.p. dieses "Versehen" korrigiert. Allerdings übersieht er dabei, daß Kant auch im O.p. sehr häufig von Teilen der Materie redet.
Mechanik so geschieht die Schätzung hier, obzwar nur indirekt, doch in der Tat mechanisch" (ibid.)70. Zwei Resultate folgen aus Kants Erörterungen der Begriffe "Quantität der Materie" und "Quantität der Bewegung". 1) Weil diese beiden Begriffe auf der dynamischen Auffassung der Materie unmittelbar gründen, kann man hier - wie oben angedeutet - von keiner apriorischen, sondern höchstens von einer hypothetischen Notwendigkeit reden. Daß die Materie ins Unendliche physikalisch teilbar und also kontinuierlich ist, wurde in der Dynamik nur als Hypothese angenommen, nicht aber a priori erwiesen. 2) Die der Mechanik eigene Bestimmung des Materiebegriffs, die die Begriffe der Quantität der Materie und Quantität der Bewegung mitbestimmt, fügt an und für sich dem reinen Teil der Naturwissenschaft keine weiteren empirischen Elemente hinzu. Die zwei Begriffe werden nur sehr allgemein festgelegt, d. h. es wird nur der allgemeine Rahmen für weitere möglichen Bestimmungen fixiert. Aber auch wenn man die recht plausible Unterstellung machte, daß Kant unter Quantität der Materie das Gewicht, also einen eher spezifischen, sich auf empirischen Größen gründenden Begriff versteht, würde dies noch zu keiner Beeinträchtigung der Apriorität des Begriffs "Quantität der Materie" führen. Das Gewicht wird zwar als das Produkt der Masse eines Körpers und der nur empirisch feststellbaren Fallbeschleunigung g definiert, man kann aber die Quantität der Materie indirekt, ohne Rücksicht auf die genaue Größe der 70 Interessant ist die Frage, wieweit hier Kant Newton folgt. In den "Principia" kommen zwei Definitionen von "Quantität der Materie" vor, nämlich "Die Größe der Materie wird durch ihre Dichtigkeit und ihr Volumen vereint gemessen" und "die Größe der Materie ... wird durch das Gewicht des jedesmaligen Körpers bekannt. Daß die Masse dem Gewichte proportional sei, habe ich durch sehr genau angestellte Pendelversuche gefunden" (21,Erkl. 1). Von der ersten Definition macht Kant keinen Gebrauch. Er sagt selber zwar nicht warum, man kann aber an die folgenden zwei Gründe denken. Erstens redet Kant immer von Gleichartigem, und die Definition von Newton erfordert den Vergleich von Ungleichartigem (Vuillemin 2 5 7 ) , zweitens kann Dichte nur als Masse/Volumen bestimmt werden, was aber zu einem Zirkel führt. Wenn man bei der zweiten Definition von jedem Zwang, das Verhältnis von Masse und Gewicht empirisch zu bestimmen, absieht, dann ist diese Definition der Quantität der Materie, wie Ls.1, Anm. zeigt, durchaus akzeptabel. Kants Definition der Quantität der Bewegung deckt sich mit der Newtonschen restlos, denn bei Newton (21, Erkl.2) lautet sie wie folgt: "Die Größe der Bewegung wird durch die Geschwindigkeit und die Größe der Materie gemessen", d. h. sie kann durch die Formel mv ausgedrückt werden.
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Fallbeschleunigung bestimmen. Man nimmt dabei die Masse eines Körpers als Masseneinheit und kann die folgenden zwei Gleichungen schreiben: Gewicht(Körper A) = Masse(A)xg Gewicht(B) = Masse(B)xg Es folgt jetzt Gewicht(A)/Gewicht(B) = Masse(A)/Masse(B), und setzt man Masse(B) als Einheit, so hat man ein Mittel, um die Masse(A) festzulegen71. In der Mechanik, der Krönung der M. A. gewinnen verschiedene Begriffe, sowohl der M. A. wie der K.d.r.V., an Bestimmtheit und Präzision. Es wird wiederum der Erfahrungsbegriff selber thematisch. So werden die phoronomischen Begriffe von Bewegung und Geschwindigkeit in der Mechanik genauer bestimmt. Der Unterschied von Phoronomie und Mechanik zeigt sich schon darin, daß in der Phoronomie stets von einer Zusammensetzung der Geschwindigkeiten geredet wird, also von v = v, + v2 + v, + . . . + v . Aber schon Erklärung 2 der Mechanik, wie oben gezeigt, handelt von einer anderen Zusammensetzung der Bewegung, nämlich von mv = m,v 1 + m 0Lv + m-, + ... + m v. In der Phoronomie ist Geschwindigkeit ein noch nicht völlig bestimmter Begriff, denn man kann die Bewegung entweder dem Punkt oder dem Raum zuschreiben; erst in der Mechanik wird der Begriff genau festgelegt. So heißt es im Ls. A, Beweis, daß Bewegung als bloß im absoluten Räume bestimmbar betrachtet 71 Siehe Vuillemin ( 2 5 9 ) . Wenn Kant von einer dynamischen und mechanischen Abschätzung der Quantität der Materie redet, so ist dies nicht als eine Unterscheidung der in der heutigen Physik gängigen Begriffe der schweren Masse (m ) und der trägen Masse (m ) zu verstehen. Schwere Masse wird durch das universelle Gravitationsgesetz (d. h. F = GMm/r ) definiert und drückt das Vermögen eines Körpers, Beschleunigung in einem anderen Körper zu bewirken, aus. Träge Masse wird durch das 1. und 2.Newtonsche Gesetz definiert (d. h. wenn m = konstant, F = 0, dann ist a = 0; F = ma) und drückt das Vermögen eines Körpers der eigenen Beschleunigung zu widerstehen, aus. Kant anerkennt offensichtlich nur den ersten Begriff, z. B. wenn er tote Kräfte, die zur Dynamik gehören sollen, als solche definiert, mit denen Materie in andere wirkt (IV,539,20-29), oder von der dynamischen Abschätzung der Materie meint, sie sei durch die Größe der ursprünglich bewegenden Kräfte zu bestimmen (IV,541,13-14). Den Begriff der trägen Masse kann er schon deshalb nicht gut akzeptieren, weil er das 2.Newtonsche Gesetz nicht aufführt und den Ausdruck Trägheitskraft als widersprüchlich und unnötig ablehnt. Seine "mechanische Abschätzung der Quantität der Materie" ist demzufolge als die Bestimmung des Gewichts zu verstellen, also F = mg. Dies wird auch durch Stellen im O.p. bestätigt (vgl. nächstes Kapitel).
Mechanik wird, und in der folgenden Anmerkung sagt Kant, daß es nicht mehr beliebig ist, "ob ich einem [ der] Körper, oder dem Räume eine entgegengesetzte Bewegung zueignen will", weil jetzt zur Geschwindigkeit noch die Quantität der Substanz hinzukommt. Gegenüber der Phoronomie tritt also noch die Idee einer kausalen Beziehung der zwei Körper und der Begriff der Kraft auf. So gewinnt der Begriff der Geschwindigkeit durch das Hinzukommen von weiteren Resultaten der Zergliederung des empirischen Begriffs der Materie an Bestimmtheit . Eine zweite Klärung der Begriffe der M.A., die aber auch weitgehende Folgen für unser Verständnis der Begriffe der K.d.r.V. haben muß, ist Kants wiederholte Betonung des räumlichen Charakters des durch diese Begriffe bezeichneten, oft auf Kosten des Moments der Zeit. Dies zeigt sich schon beim Begriff der Menge oder Masse, die als das Nebeneinander zu verstehen ist. Man sieht dies am deutlichsten dort, wo Kant von der Quantität der Materie bei Flüssigkeiten redet, die entweder in Masse oder im Flusse wirken können. Als Beispiel des ersteren gibt er die Wirkung von Wasser auf eine Waagschale an, als Beispiel des zweiten die Wirkung eines Mühlbachs auf die Schaufel eines Wasserrades (Ls. l,Anm.). So wird aber Masse als etwas Räumliches aufgefaßt, und Gleichzeitigkeit räumlich verstanden, nämlich als Nebeneinander, das dem zeitlichen Nacheinander gegenübergestellt ist . Die andere Stelle, an der sich die räumliche Natur des von den Begriffen der M. A. Gemeinten deutlich zeigt, findet sich bei Kants Diskussion der Formel der Erhaltung der Quantität der Bewegung. Es handelt sich um den Streit zwischen Descartes und seinen Anhängern, die mv für die richtige Schätzung hielten, und Leibniz und seinen Sympathisanten, die mv vorzogen . Bei dieser Auseinandersetzung ging es nicht nur um 72 Vgl. Vuillemin (265-267). Es scheint, daß hier Kant zu einem gewissen Grad Newton folgt, denn in den "Principia" heißt es, daß wahre Bewegung durch Kraft gekennzeichnet wird und relative Bewegung keine Kraft braucht ( 2 7 ) . Setzt man die relative mit der phoronomischen und die wahre mit der mechanischen Bewegung gleich, so ergibt sich hier zwischen Newton und Kant eine klar erkennbare Aehnlichkeit. 73 Vgl. Vuillemin ( 2 6 3 ) . 74 Zu diesem Streit hatte sich Kant schon in seiner ersten vorkritischen Schrift "Von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte" geäußert. Im Gegensatz zu den M.A. versuchte er im Jahre 1747, mit einem Kompromißvorschlag zwischen den beiden Parteien zu vermitteln (1,1-182).
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irgendeine mathematische Formel, sondern um den Ausdruck einer in der Welt immer konstant bleibenden Größe, oder - wie Vuillemin (199ff.) erkennt - um Substanz. Damit ist aber Kants Entscheid für die eine oder andere Formel nicht nur für die M.A., sondern auch für die K.d.r.V. von Bedeutung. Der Grund, warum Kant die Formel mv für die passende hält, wird am besten dann deutlich, wenn wir untersuchen, warum sich Leibniz für die andere Formel entschied. Wichtig ist hier die Meinung von Leibniz zu einem mathematischen Ausdruck, der die Erhaltung der bewegenden Kraft darstellt, nämlich aw + byy = axx + bzz. Leibniz schrieb: "Cette equation a cela d'excellent, que toutes les variations des signes qui ne peuvent venir que de la diverse direction des vitesses y,x,z,y, cessent, parce que toutes les lettres qui expriment ces vitesses montent ici au carre. Or -y et +y ont le meme carre +yy, de sorte que toutes ces differentes directions d'y font plus den. Et c'est aussi pour cela que cette equation donne quelque chose d'absolu, independent des vitesses respectives ou des progres d'un certain c te. II ne s'agit ici que d'estimer les masses et les vitesses, sans se mettre en peine de quel c t6 vont ces vitesses" . Vuillemin erfaßt die Bedeutung dieser Stelle mit den folgenden Worten: "La recherche de la substance, de l'absolu qui se conserve, ne peut aboutir pour Leibniz, que si I1 on depasse l'existence relative des mathematiques et si l'on decouvre une grandeur permanente scalaire et par consequent independente des definitions relatives propres aux deplacements geometriques" . D. h. also, daß die Formel mv keine geometrische Bedeutung hat, auch wenn Kant dem Ausdruck einen Sinn nicht absprechen will. Nur ist der Sinn ein ganz anderer als derjenige, den ihm Leibniz zuschrieb, denn für Kant gibt der Ausdruck mv nur die Wirkung eines Körpers in einem Moment an, was Kant auch wirkliche Bewegung nennt (Ls. l, Zusatz). Für Kant muß Substanz durch Vektoren ausgedrückt werden, so daß nur die Formel mv in Frage kommt, denn nur diese hat eine geometrische Bedeutung. Kant lehnt die lebendigen Kräfte von Leibniz deshalb ab, weil bei ihm jede Menge 75 Mathematische Schriften, (VI,227-8). 76 Vuillemin ( 2 2 5 ) .
Mechanik räumlich sein muß und man die Substanz nicht außerhalb der Erscheinungswelt suchen darf Wir werden den Wert dieser "Verräumlichung 1 der Begriffe in den M. A. erst dann richtig zu würdigen wissen, wenn wir die Tatsache berücksichtigen, daß die Mechanik dem Begriff der Erfahrung im Sinne von empirischer Erkenntnis eine genaue Bestimmung gibt. In der K. d. r. V„ werden nur die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt dargelegt, die als rein formale Anweisungen zu betrachten sind, denen es an Inhalt fehlt. Die Begriffe der M. A. setzen zwar die Begriffe der allgemeinen Metaphysik voraus, sind aber spezifischer und inhaltsreicher, so daß man sie zugleich als Anleitungen zur Interpretation der Begriffe der K. d.r. V. verstehen muß. In der Mechanik werden die Begriffe der allgemeinen Metaphysik objektiviert, d. h. es wird ihnen eine Anschauung als Beispiel hinzugefügt. Dies zeigt sich in den sogenannten drei Gesetzen der Mechanik, die wir jetzt der Reihe nach kurz vorstellen. Das erste Gesetz der Mechanik ist das Gesetz der Erhaltung der Quantität der Materie. Es lautet wie folgt: "Bei allen Veränderungen der körperlichen Natur bleibt die Quantität der Materie im Ganzen dieselbe, unvermehrt und unvermindert" (Ls. 2). Erstens ist klar, daß dieses Gesetz Erklärung 2 und Lehrsatz l voraussetzt, indem es sich auf die dort aufgestellte Definition der Quantität der Materie stützt. Zweitens basiert dieses Gesetz aber auch auf der I.Analogie, nämlich auf dem Satz, "daß bei allen Veränderungen der Natur keine Substanz weder entstehe noch vergehe" (Ls.2, Beweis). Dieser Satz der allgemeinen Metaphysik wird hier natürlich im Zusammenhang mit dem Begriff der Materie benutzt, so daß man aufklären muß, was in der Materie die Substanz ist. Kant setzt dabei die Quantität der Substanz der Menge des Beweglichen gleich; das Bewegliche ist "das letzte Subjekt aller der Materie inhärierenden Akzidenzen". So folgt, daß die Größe der Materie, der Substanz nach, nichts anderes ist als die Menge der Substanzen, aus welchen sie besteht. Da nun aber die Substanzen nicht entstehen oder vergehen, bleibt die Größe der Materie immer dieselbe (ibid.). Von großer Bedeutung ist die dem Lehrsatz beigefügte Anmerkung, in der Kant das erste Gesetz der Mechanik explizit auf räumliche Objekte beschränkt. Er setzt dort fest, daß die Substanz nur im Räume und somit 77 Vgl. Vuillemin (261).
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nur als Gegenstand äußerer Sinne möglich ist. Dann kann aber die Größe der Substanz weder vermehrt noch vermindert werden, weil die Größe eines bloß im Raum möglichen Objekts aus räumlich getrennten Teilen zusammengesetzt sein muß und diese Teile Substanzen sind. Somit knüpft Kant an seine Erörterungen im Lehrsatz l an und an sein Verständnis von Menge und Masse als einem räumlichen Nebeneinander. Die Konsequenz für das menschliche Wissen zeigt sich darin, daß sich die I.Analogie nur innerhalb der Körperlehre, nicht aber in der Psychologie anwenden läßt. Kants Argument dafür geht davon aus, daß der Gegenstand des inneren Sinnes zwar auch eine Größe hat, aber nicht aus räumlich getrennten Teilen und daher nicht aus Substanzen zusammengesetzt ist. So gilt aber das 1. Gesetz der Mechanik gar nicht in der Psychologie, oder in Kants eigenen Worten: "Das Ich ... [ ist] ein Ding von unbestimmter Bedeutung, ... also Substanz, von der man, was sie sei, durch diesen Ausdruck keinen Begriff hat ... aus ihm kann also auch gar nichts ... folglich auch nicht die Beharrlichkeit der Seele als Substanz gefolgert werden" (Ls. 2, Anm.). Das zweite Gesetz der Mechanik ist das in der klassischen Mechanik zentrale Trägheitsgesetz. Wie beinahe alles, was man in der Kantischen Naturwissenschaftstheorie als "Faktum der Wissenschaft" bezeichnet, ist auch dieses Gesetz das Ergebnis der neuzeitlichen Entwicklung der Naturwissenschaft. Dabei leistete Galilei die ersten Schritte auf dem Wege zur Ablösung der Aristotelischen Lehre, doch blieb sein Versuch letztlich unbefriedigend, da er Trägheits- mit der Kreisbewegung identifizierte (siehe 2.2.4.2). Descartes kam hier wesentlich weiter; bei ihm kommt ein Teil des Gesetzes als das erste Gesetz der Natur vor und lautet wie folgt: "Que chaque chose demeure en l'fetat qu'elle est, pendent que rien ne le change" 78 . D. h., befindet sich ein Körper im Ruhestand, wird er sich von selbst nicht in Bewegung setzen, ist aber der Körper einmal in Bewegung, so wird er sich weiter bewegen und von selbst nicht haltmachen. Die Ansicht des "gesunden Menschenverstandes" und der Tradition vor Descartes, daß alle Körper die Tendenz haben, sich in den Ruhestand zu setzen, nennt Descartes ein "faux prejuge" 79 . Den zweiten Teil des Trägheitsgesetzes, der für das Newtonsche, sowie 78 Principes (84; 79 Ibid.
11,37).
Mechanik
117
auch für das heutige Verständnis der Kreisbewegung unentbehrlich ist, nennt Descartes das zweite Gesetz der Natur: "Que tout corps qui se 80 meut, tend a continuer son mouvement en ligne droite" . Auch bei Newton spielt das Gesetz eine zentrale Rolle, und wie bei Descartes hat es auch bei Newton den Rang einer Voraussetzung, die ganz am Anfang der Physik zu stehen hat. Doch redet Newton von einer "Trägheitskraft11 und so lautet sein Trägheitsgesetz etwas anders als bei Descartes: "Die Materie besitzt das Vermögen (potentia) zu widerstehen; deshalb verharrt jeder Körper, soweit es an ihm ist, in einem Zustande der Ruhe oder der gleichförmigen geradlinigen Bewegung"Bl . Kants Fassung des Trägheitsgesetzes ist durch zwei Merkmale gekennzeichnet. Erstens will er von keinem "Vermögen zu widerstehen" reden, d. h. von keiner Trägheitskraft, denn diese ist einerseits ein selbstwidersprüchlicher Ausdruck (Ls. 3, Anm.), andererseits steht sie im Konflikt mit dem dritten Gesetz der Mechanik. Denn sie deutet irreführend an, daß es Ruhe und nicht Bewegung ist, die einem Körper widersteht, was aber Kant, wie wir noch bald sehen werden, um jeden Preis vermeiden will (Ls. 4, Anm. 2). Gegenüber der Newtonschen Auffassung liegt der Kantischen die Idee zugrunde, daß Kraft die Ursache der Veränderung der Geschwindigkeit und nicht der Bewegung ist 82 , und daß Bewegung somit keine Kraft benötigt. Zweitens ist die Kantische Fassung des Trägheitsgesetzes dadurch charakterisiert, daß Kant dort das Äußere ausdrücklich betont: "Alle Veränderung der Materie hat eine äußere Ursache. (Ein jeder Körper beharrt in seinem Zustand der Ruhe oder der Bewegung, in derselben Richtung und mit derselben Geschwindigkeit, wenn er nicht durch eine äußere Ursache genötigt wird, diesen Zustand zu verlassen" (Ls.3) (H.v.V.). Mit dem ersten Satz, dem die Formulierung des eigentlichen Gesetzes in Klammern folgt, stellt Kant den Zusammenhang mit der 2. Analogie der K.d.r.V. her: Dem 2. Gesetz der Mechanik wird der aus der allgemeinen Metaphysik stammende Satz, daß jede Veränderung eine Ursache hat, zugrundegelegt. Daß diesem Satz, wenn er auf den Begriff der Materie bezogen wird, noch die Einschränkung 'äußere1 hinzugefügt wird, ist in Kants Auffassung der Materie begründet. Materie ist leblos, sie kann sich von selbst nicht verändern, sondern benötigt eine äußere Ursache, um verändert zu werden. 80 Ibid. (85; 11,39). 81 Principle (21; Erkl.3). 82 Vuillemin ( 2 9 2 ) .
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Erkenntnis durch Begriff und Anschauung
Hier spielt der Raum gegenüber der K. d. r. V. wieder eine ganz zentrale Rolle; dies wird übrigens schon daran deutlich, daß es beim 2. Gesetz der Mechanik nicht mehr um die Unterscheidung einer objektiven von einer subjektiven Reihenfolge der Wahrnehmungen geht, sondern nur um räumliche Bestimmungen. Bemerkenswert ist nicht so sehr, daß Kant ein drittes Gesetz der Mechanik aufführt, sondern viel eher, wie er es tut. Ein Gesetz, das von Wirkung und Gegenwirkung handelt, läßt sich in der neuzeitlichen Naturwissenschaft in mehr oder weniger präzisen Form mindestens schon seit Hobbes nachweisen, wo es wie folgt formuliert ist: "Action and reaction proceed in the same line, but from opposite terms. For seeing reaction is nothing but endeavour in the patient to restore itself to that situation from which it was forced by the agent; the endeavour or motion both of the agent and patient or reagent wil be propagated between the same terms; yet so, as that in action the term, from which, is in reaction the term to which83 . Eine genaue Form erhält das Gesetz bei Newton, der auch das Verhältnis von Wirkung und Gegenwirkung festlegt: "Die Wirkung ist stets der Gegenwirkung gleich, oder die Wirkungen zweier Körper aufeinander sind stets gleich und von entgegengesetzter Richtung" 84 . Kants Fassung des Gesetzes unterscheidet sich von der Newtonschen kaum: "In aller Mitteilung der Bewegung sind Wirkung und Gegenwirkung einander jederzeit gleich" (Ls.4.). Dasjenige aber, was die Version des Gesetzes bei Kant von der ganzen Tradition und auch von Newton trennt, ist Kants Behauptung, daß man den Zusammenstoß zweier Körper, von denen sich einer in Ruhe befindet, nur dann richtig darstellen kann, wenn man sie sich beide als sich aufeinander zubewegend vorstellt. Im Beweis zu Lehrsatz 4 sagt Kant: "Keine Bewegung eines Körpers in Beziehung auf einen absolut ruhigen, der dadurch auch in Bewegung gesetzt werden soll, [ kann] gedacht werden, vielmehr muß dieser nur als relativ ruhig in Ansehung des Raumes, auf den man ihn bezieht, zusamt diesem Räume aber in entgegengesetzter Richtung als mit eben derselben Quantität der Bewegung im absoluten Räume bewegt vorgestellt werden, als der bewegte in eben demselben ge83 Concerning Body (348; 111,22); vgl. Westfall (113). 84 Principia (32; S.Gesetz).
Mechanik gen ihn hat"85 . Drei Elemente sind an Kants Verständnis des Gesetzes bemerkenswert. Erstens kommt hier wieder das enge Verhältnis von Philosophie und Mathematik zum Vorschein, denn es gereicht der Kantischen Auffassung des Gesetzes zum Vorteil, daß sie eine relativ einfache Konstruktion des Zusammenstoßes zweier Körper ermöglicht. Dies zeigt sich nicht nur im Beweis zu Lehrsatz 4, wo sich die Anleitungen zu einer möglichen mathematischen Darstellung finden, sondern schon in der vorkritischen Schrift "Neuer Lehrbegriff der Bewegung und Ruhe", wo er sogar mittels seiner Auffassung des Gesetzes einige praktische Beispiele aufschließt und die Resultate der Zusammenstöße verschiedener Körper berechnet (11,18). Anderseits ist die mögliche Mathematisierbarkeit nicht der wichtigste Grund für Kants Verständnis des Gesetzes, vielmehr ist hier eine philosophische Überlegung entscheidend. Will man nämlich einen ruhenden Körper als gegenwirkend darstellen, ohne daß man beim selbstwidersprüchlichen Begriff der Trägheitskraft Zuflucht nimmt, so hat man keine andere Wahl, als zur Vorstellung der Bewegtheit des ruhenden Körpers zu greifen. Andere Fassungen des Gesetzes ließen sich vielleicht auch konstruieren, sie gäben uns aber kein richtiges Verständnis des Gesetzes, weil sie den Forderungen der Begriffe von Wirkung und Gegenwirkung nicht gerecht würden. Zweitens wird hier die vektorielle Natur der Bewegung wieder betont. Damit zieht Kant den Schluß aus seinem Entscheid für die Formel mv als richtigen Ausdruck der Erhaltung der Quantität der Bewegung. Es wird hier nochmals bestätigt, daß jede Kenntnis der Erscheinungen die räumlichen Bestimmungen berücksichtigen muß, ohne die Erfahrung gar nicht möglich wäre 86 . Drittens zeigt sich aber, daß hier ein Fall vorliegt, wo Erfahrung im Sinne von Wahrnehmung und Erfahrung im Sinne von empirischer Er85 Diese Auffassung des Zusammenstoßes befindet sich übrigens schon in der vorkritischen Schrift "Neuer Lehrbegriff der Bewegung und Ruhe", wo Kant sich von Leibniz distanziert und der Newtonschen Physik beitritt. Dort heißt es: "Ein jeder Körper, in Ansehung dessen sich ein anderer bewegt, ist auch selber in Ansehung jenes in Bewegung, und es ist also unmöglich, daß ein Körper gegen einen anlaufen sollte, der in absoluter Ruhe ist" ( I I , 19). Von Bedeutung ist diese Tatsache deswegen, weil es hier klar wird, daß Kant schon mindestens seit 1758 von einem Beispiel wußte, wo Erfahrung im Sinne von Wahrnehmung und naturwissenschaftliche Erfahrung miteinander im scharfen Konflikt stehen. 86 Vuillemin ( 2 4 9 ) .
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120
Erkenntnis durch Begriff und Anschauung
kenntnis miteinander unverträglich sind. Durch Beobachtung stellen wir zwar fest, daß sich einer von zwei zusammenstoßenden Körpern vor dem Kontakt in Ruhe befindet. Naturwissenschaftliche Erfahrung fordert jedoch, daß wir auch diesen Körper als bewegt betrachten. Somit gewinnt der Erfahrungsbegriff auch an Bestimmung, nämlich durch die Abgrenzung gegenüber Wahrnehmung und alltäglicher Erfahrung. Eine solche Fokussierung der Kluft zwischen naturwissenschaftlicher und alltäglicher Erfahrung macht sich aber nicht nur beim 3. Gesetz der Mechanik, sondern bereits früher bemerkbar. Sowohl die Idee, von Bewegung so zu abstrahieren, daß nur die Bewegung eines Punktes berücksichtigt wird, als auch der Kraftbegriff, mit dem Zugeständnis, daß Kraft nicht durch die Sinne wahrgenommen werden kann, wie aber auch das unter normalen natürlichen Bedingungen nie durch Beobachtung feststellbare Trägheitsgesetz, zeugen alle vom spezifischen Charakter der naturwissenschaftlichen Erfahrung. Zum Schluß unserer Erörterungen des 3.Gesetzes der Mechanik wollen wir uns noch die Frage stellen, wieweit dieses Gesetz a priori ist. Wie Lehrsatz 4, Anmerkung l zeigt, hält Kant seine Fassung des Gesetzes für sehr wichtig. So kritisiert er z. B. Newton dafür, daß er sein Gesetz der Gleichheit der Wirkung und Gegenwirkung nur auf Erfahrung gründete und "sich gar nicht getraute, es a priori zu beweisen". Andere kritisiert er, weil sie sich auf Keplers Begriff der Trägheitskraft stützen und dabei das Gesetz ebenfalls von Erfahrung ableiten mußten. Auch die Vertreter der Hypothese der sogenannten Transfusion der Bewegung aus einem Körper in den anderen haben nach Kant das Gesetz grundsätzlich falsch aufgefaßt, denn sie mußten die Existenz absolut harter Körper leugnen, was in Kants Augen die Zufälligkeit des Gesetzes zugibt, weil es auf besonderen Qualitäten der Materie beruht und nicht von Materie als solcher handelt (Ls. 4, Anm.ln.). Das alles scheint die Behauptung zu implizieren, daß die Kantische Version des Gesetzes nicht nur alle Materie betrifft, sondern auch daß das Gesetz a priori ist. Dieser Eindruck wird von der folgenden Stelle verstärkt: "Man kann sich gar nicht denken, wie die Bewegung eines Körpers A mit der Bewegung eines anderen B notwendig verbunden sein müsse, als so, daß man sich Kräfte an beiden denkt, die ihnen (dynamisch) vor aller Bewegung zukommen, z. B. Zurückstoßung, und nun beweisen kann, daß die Bewegung des Körpers A durch Annäherung gegen B mit der Annäherung von B gegen A und, wenn B als ruhig angesehen wird, mit der Bewegung desselben zusamt seinem Räume ge-
Mechanik
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gen A notwendig verbunden sei, sofern die Körper mit ihren (ursprünglich) bewegenden Kräften bloß relativ auf einander in Bewegung betrachtet werden. Dieses letztere kann völlig prior/ dadurch eingesehen werden, daß, es mag nun der Körper B in Ansehung des empirisch kennbaren Raumes ruhig, oder bewegt sein, er doch in Ansehung des Körpers A notwendig als bewegt und zwar in entgegengesetzter Richtung als bewegt angesehen werden müsse: Weil sonst kein Einfluß desselben auf die repulsive Kraft beider stattfinden würde, ohne welchen ganz und gar keine mechanische Wirkung der Materien aufeinander, d. i. keine Mitteilung der Bewegung durch den Stoß, möglich ist" (Ls.4, Anm. l)(H.v. V.). Trotz der Tatsache, daß hier Kant dreimal von notwendig und einmal von a priori redet, kann es sich schon deshalb um nichts mehr als um eine hypothetische Notwendigkeit handeln, weil Kant unwiderruflich klarmacht, daß das 3. Gesetz der Mechanik die dynamische Hypothese notwendigerweise voraussetzt. Somit überträgt sich also auch der hypothetische Charakter der dynamischen Theorie auf das Gesetz der Gleichheit der Wirkung und Gegenwirkung. Es ist aber zugleich klar, daß weder der räumliche Charakter der Gesetze der Mechanik, noch die Tatsache, daß hier nur von einer Hypothese ausgegangen wird, es ermöglichen, der Mechanik einen hohen Grad an Notwendigkeit abzusprechen. In der Mechanik, im Unterschied etwa zum Anziehungsgesetz der Dynamik oder dem Beweis, daß Flüssigkeiten keine Reibung kennen, muß sich Kant gar nicht auf Erfahrung berufen, die in die Gesetze der Mechanik empirische Elemente hineinbringen würde. Denn die drei Gesetze der Mechanik, sowie auch diejenigen Teile der Dynamik, in welchen nur behauptet wird, daß Materie aufgrund von zwei Grundkräften erklärbar ist, schaffen einen ganz allgemeinen Rahmen für die Naturwissenschaft, oder wie Kant sagen will, stellen die metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft dar. Eine unendliche Fülle von Einzelheiten, die dem Rahmen weitere inhaltlichen Bestimmungen liefern können und müssen, sind nach dem Schema der M. A. auf dem empirischen Weg herauszufinden. Man geht also an die Natur, um von ihr belehrt zu werden und um eine vollständige Physik aufstellen zu können.
2.4. Schlußbemerkungen
Nach dem soeben Gesagten leuchtet ein, warum sich Kant mit den M. A. nicht zufrieden geben konnte und noch eine Übergangslehre von den M. A. zur Physik auszuarbeiten versuchte. Der Grund dafür liegt aber keineswegs darin, daß Kant die M. A. als ein gescheitertes Unternehmen, wie einige Kommentatoren meinen, auffaßt. Hoppe etwa geht davon aus, daß die bewegenden Kräfte der Dynamik nur zufällig sind und ihre Annahme bloß hypothetisch bleibt, weil Bewegung nur empirisch gegeben werden kann. Damit sei aber der Übergang von der Metaphysik zur mathematischer Naturwissenschaft von Seiten der Metaphysik verfehlt, die Metaphysik könne die bewegenden Kräfte nicht a priori sichern (65-6). Nun ist es erstens falsch, daß der hypothetische Charakter der Annahme bewegeder Kräfte durch die Aposteriorität des Bewegungsbegriffs verursacht ist. Der phoronomische Begriff der Bewegung ist, wie gezeigt wurde, vielmehr ein Begriff a priori. Die Annahme bewegender Kräfte ist nur deshalb hypothetisch, weil sie weder durch die Sinne gestützt wird noch den Bedingungen der Möglichkeit der Materie oder sogar der Erfahrung zugerechnet werden kann; man kann die Materie auch mittels der mechanischen Theorie erklären. Zweitens ist die Auffassung unzutreffend, daß die M. A. den Übergang von der Metaphysik zur mathematischen Naturwissenschaft schaffen sollen. Die M. A. sind ja nur die metaphysischen Anfongsgründe der Naturwissenschaft und können also nicht mehr als den allgemeinen Rahmen der Naturforschung darbieten. Hoppe hat schon eher Recht, wenn er sagt, daß die M. A. nur nach den notwendigen Bedingungen dafür, daß es eine Naturwissenschaft gibt, fragen, aber die Frage, wie der reine Teil die Wissenschaftlichkeit einer empirischen Naturlehre sichert, ganz unerledigt lassen (67). Es ist klar, daß die M. A. die inhaltliche Notwendigkeit eines jeden besonderen Gesetzes gar nicht garantieren können. Auch wenn sie wesentlich weiter in Richtung einer necessitas consequentis gehen als die reinen Verstandesbegriffe, stellen sie doch nur einen ersten Schritt in der Erfassung der natura materialiter spectata dar87 . Somit wird es auch verstand87 Die Idee, daß die M.A. nur den allgemeinen Rahmen der Naturwis-
Schlussbemerkungen
123
lieh, warum Kant Im O. p. die Verhältnisse der bewegenden Kräfte zueinander a priori festzulegen versucht: Er kann so auf eine mehr inhaltsgg gerichtete Notwendigkeit hoffen . Wir können hier noch bemerken, daß auch im O. p. die bewegenden Kräfte empirisch gegeben werden müssen; und man sieht nicht, warum Hoppe die Aposteriorität des Bewegungsbegriffs in den M. A. als eine Schwäche empfindet, wenn er das O. p. als eine erfolgreiche Lösung des Problems der Objektivität der besonderen Gesetze akzeptiert (siehe unten). Auf jeden Fall muß man die M. A. als eine großartige Arbeit bezeichnen, die auf die Voraussetzungen der Physik in einer hervorragenden Weise aufmerksam macht. Manche von den Problemen der M.A. bleiben noch in der heutigen klassischen Mechanik aktuell und ihre Erörterung kann zu einem besseren Verständnis der Physik beitragen 89 . senschaft formulieren, findet man in der Kant-Literatur öfters. Auch Stegmüllers Rekonstruktionsversuch fügt sich einem solchen Verständnis der M.A. ein. 88 Dies ist, ganz grob gesehen, auch die Ansicht von Plaass, wenn er meint, daß das O.p. für Einzelheiten zur Vervollständigung der M.A. verantwortlich ist. Nur hält Plaass zu viel von den M.A. für apriorisch (siehe oben), und es bliebe, folgt man seiner Auffassung, dem O.p. eine viel geringere Aufgabe übrig, als dies in Wirklichkeit der Fall ist. 89 Die Ansicht von Tuschling ( 4 4 ) , daß die Probleme der M.A. zur Zeit des O.p. nicht mehr aktuell waren, t r i f f t keineswegs zu. Die Newtonsche Mechanik blieb noch lange bis ins 19.Jahrhundert im Mittelpunkt der Physik und wird noch heute, wenn auch mit Einschränkungen, anerkannt.
3. DER ÜBERGANG VON DEN METAPHYSISCHEN
ANFANGSGRÜNDEN
ZUR PHYSIK
3. 1. Einleitung
Das vorwiegend apriorische System der metaphysischen Anfangsgründe ist zwar eher als das System der Kategorien imstande, eine necessitas consequents zu etablieren. Trotzdem können die M. A. keine Garantie einer vollständigen inhaltlichen Notwendigkeit liefern, sind sie doch nur als allgemeine Rahmenbedingungen der Physik zu verstehen. Nach der Beendigung der M. A. beschäftigte sich Kant zunächst gar nicht mit diesem Problem, sondern schrieb die K.d.p.V. und die K.d.U., in der er erklärte, daß er mit dieser Arbeit das ganze kritische Geschäft abschließe und zum doktrinalen ungesäumt fortschreiten werde (V, 170,20-22). Doch dann unternahm er, um die physikalischen Gesetze nicht nur ihrer Form, sondern auch ihrem Inhalt nach als notwendige zu erweisen, noch einen Versuch - im sogenannten Übergang von den metaphysischen Anfangsgründen zur Physik, den man in unvollendeter Form in Kants Nachlaßwerk, dem O.p., vorfindet. Wir wollen in diesem Kapitel den Ansatz des O. p. untersuchen, um genau zu sehen, wie weit Kant in der Sicherung der Objektivität der Physik Fortschritte erzielte. Man könnte das O.p. in zwei Teile zergliedern, von denen der erste einerseits eine Einführung In die Thematik des Übergangs, andererseits auch verschiedene naturwissenschaftstheoretische Überlegungen, die sich meist nach der Kategorientafel richten, vorlegt. Der zweite Teil, der sich hauptsächlich im X. und XI. Konvolut befindet, versucht eine transzendentale Deduktion der Übergangsbegriffe zustande zu bringen. Obwohl diese zwei Teile keine scharfe Trennung kennen und oft ineinandergreifen, werden wir sie separat behandeln, und zwar so, daß wir auf den ersten Teil in den Abschnitten 3.1.1 bis 3.2.4, auf den zweiten Teil in den Abschnitten 3.3.1 bis 3.3.8 eingehen. Dabei wollen wir zunächst auf das Verhältnis des Übergangs zu den
Einleitung
125
metaphysischen Anfangsgründen zu sprechen kommen (3. 1. 1), um zu zeigen, inwiefern Kants Nachlaßwerk eine Weiterführung seiner früheren Gedanken darstellt. Als nächstes werden wir uns mit Kants Rechtfertigung des Übergangs auseinandersetzen und auf die wichtigsten Merkmale dieses Unternehmens aufmerksam machen (3.1.2). In den Abschnitten 3.2.1 bis 3.2.4
sollen dann die Begriffe des Übergangs einzeln untersucht und da-
bei einige Hinweise auf ihre Bedeutung für Kants Theorie der Naturwissenschaft gegeben werden. In den sich mit der transzendentalen Deduktion auseinandersetzenden Abschnitten (3.3.1 bis 3.3. ) werden die im Rahmen der Kantischen Naturwissenschaftstheorie präzisierten Begriffe der Objektivität und Erfahrung sowie die Rolle des Subjekts und zum Schluß Kants Theorie der Physik thematisiert. Bevor wir mit der Untersuchung des O. p. beginnen, wollen wir noch auf einige besondere Schwierigkeiten bei der Interpretation dieses Werkes aufmerksam machen. Das O. p. ist keine vollendete Arbeit, sondern besteht nur aus Notizen oder besser Skizzen, in denen Kant das Material mehrmals zu verarbeiten versucht, ohne dabei zu einem endgültigen Resultat zu kommen. Skizzen, die sich mit demselben Thema auseinandersetzen, sind meist in Gruppen konzentriert. Doch es geschieht oft, daß Kant eine neue Thematik aufnimmt, um dann zu einer früheren zurückzukehren. So fehlt die berühmte Kantische Architektonik, die die Lektüre seiner veröffentlichten Werke beträchtlich erleichtert. Man kann sich im O.p. auf die Hilfe des Kontexts fast gar nicht verlassen, was bei Kant, angesichts seiner Gewohnheit, eine Sache nicht selten aus nur einem bestimmten Gesichtspunkt zu betrachten, ohne den Leser darüber zu verständigen, zu bedeutenden Mißverständnissen führen kann. Die Reihenfolge der "Skizzen" bereitet ebenfalls Schwierigkeiten. Wie Adickes (Kants Opus Postumum) nachgewiesen hat, verfaßte Kant die einzelnen Teile des O. p. in einer völlig anderen Sequenz als sie in den Bänden 21 und 22 der Akademieausgabe abgedruckt sind. Die Interpretation des O.p.
im vorliegenden Kapitel legt zwar Adickes' Rekonstruktion
der Abfolge zugrunde, doch kann es überhaupt nicht als sicher gelten, daß dieses Verfahren den Kantischen Absichten auch tatsächlich entspricht. Es ist sehr wohl denkbar, daß Kant die Einordnung der Teile im vollendeten Werk gar nicht unter Berücksichtigung ihrer Genese durchgeführt hätte.
126
Übergang zur Physik
Weiter bemüht sich Kant im O. p. wenig um eine präzise Terminologie, was schon in seinen früheren Werken Probleme bereitet, jetzt aber fast unüberwindliche Schwierigkeiten zu Folge hat, gerade wenn eine Berücksichtigung des Zusammenhangs nur wenig hilfreich sein kann. Schließlich zeigt sich Kant auch hinsichtlich der Grammatik völlig sorglos, so daß wir z. B. in den langen Sätzen nur selten ein Komma antreffen. All dies macht eine definitive Interpretation des Nachlaßwerks äußerst schwierig, wenn nicht ganz unmöglich, und das vorliegende Kapitel erhebt keineswegs den Anspruch, eine endgültige Auslegung des Textes zu liefern.
3.1.1. Das O. p. und die M. A. Eine erste Eigenschaft der im Übergang formulierten zusätzlichen Regeln ist es, daß sie die Begriffe der M. A. als allgemeine Rahmenbedingungen voraussetzen. Es fällt auf, daß Kant die meisten Hauptthesen der M. A. im O. p. unzählige Male wiederholt, wenn auch freilich so, daß es häufig nicht klar ist, was noch zur Thematik der M. A. und was schon zu der des Übergangs gehört . Als wichtigste Voraussetzung für den Übergang zeigt sich die Dynamik; wie wir noch sehen werden, beschäftigt sich Kant jetzt mit den Verhältnissen der bewegenden Kräfte, und es ist gerade die Dynamik, die den Begriff der bewegenden Kraft einführt. Genau aus diesem Grund soll es die Lehre des Übergangs "zuvörderst mit der vollkommenen Einteilung der bewegenden Kräfte der Materie ihrer Anziehung und Abstoßung nach, so wie sie a priori aufgestellt werden kann", zu tun haben (11,606,2ß-607,4). Die Grundbedeutung von Anziehung und Abstoßung zeigt sich schon darin, daß Materie als das Bewegliche im Raum einen Raum nur durch die zwei bewegenden Kräfte einnehmen kann (11,173,10-13). Wären die beiden bewegenden Kräfte nicht zugleich in der Materie anzutreffen, so wäre auch kein Raum erfüllt, denn durch die Anziehung allein würde - wie es schon Dynamik, Ls. 5 fordert - "alle Materie in einen Punkt zusammenfließend das Leere = 0, durch Abstoßung sich ins Unendliche auflösend und zerstreuend gleichfalls den leeren Raum = 0" abgeben (I,53ß,27-539,A)2. Weiter sind die 1 2
Vgl. Adickes, Kants Opus postumum (162-163n.). Vgl. 1,307,28-30; 1,310,3-6; 11,205,14-21; 1,302,20; 1,512,3-5;
Das O.p. und die M. A.
127
Anziehung und Abstoßung Im O.p., genau wie schon in den M. A. vires originariae, oder Grundkräfte, die nicht empirisch gegeben werden, sondern nur a priori denkbar sind und deren Begriffe a priori gegeben sein müssen, weil sich sonst auch nicht empirische Begriffe synthetisch bestimmen lassen (1,274,20-275,4). Als einen kleinen Schritt vorwärts in der Richtung auf die gesuchte necessitas consequentis können wir den Gebrauch auffassen, den Kant von den Grundkräften der Dynamik in der Theorie der Körperbildung macht. In den M.A. wird hauptsächlich von Materie geredet, aber im O.p. widmet sich Kant vermehrt dem in der Physik ganz zentralen Körperbegriff. So sollen jetzt die Anziehung und Abstoßung nicht nur die Materie, sondern auch Körper miterklären: "Ein physischer Körper ist ein Quantum von Materie, welches durch innere bewegenden Kräfte seine Figur mit einem Widerstande gegen andere äußere Kräfte, die sie zu verändern streben, erhält" (11,269,15-17; vgl. 1,484,23-24; 11,178,17-20). Auch wenn sich die zwei Grundkräfte auf den spezifischeren Körperbegriff beziehen, müssen sie "a priori aus unserem auf äußere Erscheinungen angewandten Verstande hervorgehen", und wir müssen sie gebrauchen, "um ... empirische Vorstellungen als Wahrnehmungen in Erfahrungen von der Beschaffenheit der Phänomene der Materie in Raum und Zeit zu verwandeln" (I,162,5-13)3. Eine Konsequenz der Annahme der zwei Grundkräfte und der darin implizierten dynamischen Erklärung der Materie ist - wie in den M. A. - Kants Abneigung gegenüber der mechanischen Hypothese, d. h. gegen den Atomismus. Ganz allgemein ausgedrückt soll das Ganze als Gegenstand möglicher Erfahrung dynamisch (durch Anziehung und Abstoßung) und nicht mechanisch begriffen werden (1,552,22-553,5), denn "ein jeder Teil der 11,173,10-13; 1,535,22-536,4; 1,550,19-21; 11,514,13-15. Hier finden wir eine Widerlegung der Behauptung Tuschlings, daß Kant die alten Positionen der Dynamik der M.A. im O.p. aufgab und aus den M.A. nur gerade die Phoronomie übernahm (die sogenannte Phoronomiekritik, p . 9 0 f f . ) . Man kann auch nicht sagen, daß Kant an den Sätzen der M.A. nur am Anfang seiner Arbeit am O.p. festhielt und sie später aufgab, denn ähnliche Stellen findet man durch das ganze O.p. verstreut, die letzte im Uebergang A-Z, der z.T. erst im Jahre 1800 entstand. Der Gedanke, daß Kant die M.A. im O.p. umdeutet, wird übrigens schon von Ritzel (4234) und Lehmann ( 2 7 7 ) , dem Tuschling vermutlich folgt, erwähnt, wird dort aber weder ausführlich beschrieben noch begründet noch weiter benutzt.
12
Übergang zur Physik
Materie ist ein Quantum, d. i. die Materie besteht nicht aus metaphysisch einfachen Teilen und der Ausdruck des De la Place von materiellen Punkten (welche als Teile der Materie angesehen werden sollten) buchstäblich verstanden, würde einen Widerspruch enthalten und soll nur eine Stelle, aus welcher ein Teil der Materie einen anderen außer ihr abstößt oder anzieht, bedeuten" (11,205,8-14, auch 11,163,6-11). Von einfachen Punkten darf man nur dann reden, wenn sie mathematische Punkte sind, aber zwei einander abstoßende oder anziehende Teilchen dürfen nicht als materielle nächste Punkte verstanden werden, "sondern zwischen jeden ist immer ein anderer Punkt und die Materie ist ein continuum" (1,411,9-11). Dementsprechend wird auch Dichte - die Erfüllung des Raumes mit mehr oder weniger Materie - nicht mit der Vorstellung von leeren Zwischenräumen erklärt. Denn dynamisch betrachtet gibt es im gegebenen Körper gar keine leeren Zwischenräume, da die Materie kontinuierlich erfüllt ist (1,339,5-14). Eine weitere Implikation der dynamischen Theorie ist die schon in der Mechanik der M.A. gemachte Behauptung, daß die Quantität der Materie weder durch die Menge der Teile noch durch Volumen (bei ungleichartigen Materien), sondern nur durch Gravitation geschätzt werden kann (1,406,22-25)4. Das eigentlich Neue an Kants Materieauffassung im O.p. ist seine völlige Ablehnung der mechanischen Theorie. Am Anfang der Arbeiten zum Übergang heißt es zwar immer noch, daß die dynamische Erklärung wegen der Unbegreiflichkeit der Grundkräfte ihrer Möglichkeit nach (11,206, 1-2) nur eine Hypothese ist, doch mit der Zeit wird die mechanische Theorie immer stärker kritisiert, bis sie schließlich völlig verworfen wird. Kants Argument läuft darauf hinaus, daß der leere Raum kein Objekt der Erfahrung ist, und daher "weder durch die innerliche noch die äußerliche Leere in der Materie irgend ein Phänomen erklärt werden kann". So wird aber die dynamische Erklärung Gewißheit, und die Existenz der bewegenden Kräfte der Materie und die gänzliche Erfüllung des Weltraums mit Materie muß a priori vorausgesetzt werden (11,192,14-17; vgl. 1,218,19-219,4; 1,535,17-18). Tuschling zitiert diese Stelle ( 5 9 ) und behauptet, daß sich Kant selber korrigiert, daß sein Angriff auf Laplace's materielle Punkte eigentlich als eine Korrektur der M.A. zu verstehen ist. Wie wir aber schon im letzten Kapitel gesehen haben, ist eine solche Interpretation völlig unbegründet.
Der Übergang: Allgemeine Merkmale
129
Diese im Vergleich mit den M. A. wesentlich entschlossenere Haltung Kants bezüglich der Materieerklärung hat man nicht nur als einen Hinweis auf die Unmöglichkeit einer sinnlichen Wahrnehmung des leeren Raumes zu verstehen, sondern sie soll vor allem die Unmöglichkeit einer naturwissenschaftlichen Behandlung des leeren Raumes zum Ausdruck bringen. Der Satz, der leere Raum ist kein Objekt der Erfahrung, heißt also nur soviel, daß man vom leeren Raum keine naturwissenschaftlichen Gesetze aufstellen kann, weil er keine fruchtbare Mathematisierung zuläßt. Von der dynamischen Theorie kann man genau das Gegenteil sagen: Wie schon das Beispiel der Newtonschen Physik deutlich macht, läßt sich das Universum mittels der Annahme bewegender Kräfte hervorragend mathematisch behandeln. Es darf demzufolge auch nicht verwundern, daß Kant den Newtonschen Begriff einer unmittelbaren Attraktion in die Ferne (oct/o immediate in distans) auch im O.p. sehr bereitwillig akzeptiert: "Anziehung der Körper in der Entfernung durch den leeren Raum ... bedeutet ... nichts weiter, als daß voneinander entfernte Körper aufeinander durch Anziehung ohne Vermittelung einer dazwischenliegenden Materie (obgleich wirklich eine solche zwischen ihnen liegt), also unmittelbar ohne sich zu berühren, aufeinander wirken können" (1,604,12-20; auch 1,228,28-32; 11,427,18-24)0
3.1.2. Der Übergang: Allgemeine Merkmale Wie wir schon oben angetönt haben, befaßt sich der Übergang mit den Verhältnissen der bewegenden Kräfte untereinander. In den M. A. wird zwar auch von bewegenden Kräften gehandelt, aber der Gesichtspunkt ist ein anderer. Die M. A. legen die Zergliederung des empirischen Begriffs der Materie zugrunde, und das erste Resultat dieses Verfahrens ist der Bewegungsbegriff. Diejenigen Stücke der M.A., in denen von bewegenden Kräften gehandelt wird (also Dynamik, Mechanik und Phänomenologie), setzen alle die Phoronomie und ihre Gesetze voraus. Dementsprechend wiederholt Kant im O.p. unzählige Male, daß Materie in den M.A. bloß als das Bewegliche im Raum, wie es a priori bestimmbar ist, behandelt wird; ähnlich sagt er von den metaphysischen Anfangsgründen als erstem Teil der Naturwissenschaft, daß sie "gänzlich auf Begriffen vom Ver-
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Übergang zur Physik
hältnisse der Bewegung und der Ruhe äußerer Gegenstände gegründet sind" (I,402,20-23)5. Die Notwendigkeit eines Übergangs ergibt sich einerseits daraus, daß uns die bewegenden Kräfte der Materie, mit Ausnahme der zwei Grundkräfte der Anziehung und Abstoßung, nicht vollständig bekannt sind und eine empirische Naturwissenschaft deshalb nie ein System, sondern nur ein fragmentarisches, immer wachsendes Aggregat ausmachen kann (1,474, 15-21). Anderseits sind die metaphysischen Anfangsgründe zu allgemein, um die Physik als System zu begründen: "Metaphysische Anfangsgründe d. N. W. geben zwar etwas gewisses und ein vollständiges System: Aber ihr Gebrauch, den man allein dabei beabsichtigen kann, ist doch die Physik, zu der sie uns keinen Stoff geben können. Es sind Fächer für den Begriff, welche man auszufüllen verlangt, und bloße Formen ohne einen ihnen untergelegten Stoff können eben so wenig wie ein reichlich hingeworfener Stoff ohne Formen ein Erfahrungssystem abgeben". Will also die Naturwissenschaft eine Vernunftwissenschaft sein, braucht man einen Übergang von den metaphysischen Anfangsgründen zur Physik (1,474,22475,2). Anders gesagt: Die zwei Territorien der Metaphysik der Natur und der Physik stoßen nicht unmittelbar zusammen, sondern zwischen den beiden besteht eine Kluft, über welche "die Philosophie eine Brücke schlagen muß" (1,475,7). So erfordert es auch schon das Gesetz der Stetigkeit; denn ohne den Übergang von den metaphysischen Anfangsgründen zur Physik gäbe es einen Sprung (1,617,20-24). Die Möglichkeit eines allmählichen Überschritte von den M. A. zur Physik wird durch eine Verwandtschaft zwischen den beiden Gebieten garantiert, dadurch nämlich, daß beiden bewegende Kräfte gemeinsam sind (1,478,16-25; auch 1,475,810; I,407,29-408,5)6. 5
6
Tuschling (62) zitiert diese Stelle und vertritt die Auffassung, daß sich z.B. die Dynamik mit dieser Charakterisierung der M.A. nicht vereinbaren läßt, daß Kant die M.A. im O.p. umdeute und nur gerade die Phoronomie übernähme (wieder die Phoronomiekritik, vgl. Anm.2). M. E. überinterpretiert Tuschling diese und ähnliche Stellen, denn Kant leugnet hier das Vorkommen von bewegenden Kräften in den M.A. überhaupt nicht, sondern weist nur darauf hin, daß die M.A. die Phoronomie voraussetzen. Auch Kants Ausdruck "Materie als das bloß Bewegliche" schließt das Vorhandensein bewegender Kräfte keineswegs aus. Tuschling übersieht (64) , daß die Idee einer Verwandtschaft, die von der Tatsache, daß die M.A. von den bewegenden Kräften handeln, ausgeht, sich mit seiner "Phoronomiekritik" überhaupt
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Im O. p. teilt sich also die Naturwissenschaft nicht mehr einfach in einen reinen und einen empirischen Teil auf, sondern besteht jetzt aus der Metaphysik der Natur, dem Übergang (oft auch "Topik" oder "Mittelbegriffe" genannt) und der Physik (1,286,15-18, 1,485,7-11). Die metaphysischen Anfangsgründe und der Übergang haben ihren bestimmten Umfang und Inhalt, die Physik aber nicht (1,475,13-16), da sie empirisch bleibt. Die bewegenden Kräfte, mit denen sich der "Übergang" beschäftigt, werden in der Physik empirisch gegeben, d. h. sie sind ihrem Inhalte nach nur durch Erscheinungen ihrer Wirkungen erkennbar (1,483, 30-484,2; 1,486,6-12). Ihrer Form nach lassen sich aber die bewegenden Kräfte a priori abzählen, d. h. ihre Verhältnisse zueinander, in die sie gesetzt werden müssen, um zu wirken, können nicht vor der empirischen Erfahrung festgelegt werden (ibid.; 1,387,1-14; 1,487,14-23)7. Anders gesagt: Die bewegenden Kräfte werden aus dem Verhältnis des Subjekts zum physikalischen Gegenstand ermittelt, Ihre Beziehungen zueinander sind aber rein subjektiver Abstammung (1,289,26-290,5; 11,264, 12-265,28). Skizzenhaft seien jetzt noch drei für den Übergang charakteristische Merkmale genannt, damit die Ausführungen des nächsten Abschnitts leichter verständlich sind. Die volle Bedeutung dieser drei Charakterlstika wird sich in den Abschnitten 3.3.1 bis 3.3.8 zeigen. Erstens Ist es eine wichtige Funktion des Übergangs, da8 der hier entwickelte Begriff des physikalischen Gegenstandes als Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung von der Physik vorausgesetzt werden muß, denn er "enthält Prinzipien a priori, [die Physik] anzustellen" (11,239,23240,2; vgl. 1,316,21-22). So heiBt es, daß man immer Begriffe von bewegenden Kräften a priori zum Grunde legen muß, "um [die Phänomene] darunter zu ordnen, weil diese das Formale der synthetischen Vorstellungen enthalten, unter dem selbst die Begriffe der Physik allein Erkenntnisse eines Objekts (durch den Verstand) abgeben können". Kant spricht in diesem SIme auch von den Mittelbegriffen als "bloßen Formen der Zusammensetzung der Kräfte ..., wo nicht das Zusammengesetzte durch Annicht vereinbaren läßt. Kant redet in ähnlichen Zusammenhängen öfters auch von Begriffen a priori der bewegenden Kräfte. Doch muß man diese Redeweise als eine Abkürzung des Ausdrucks "apriorische Begriffe von Verhältnissen zwischen bewegenden Kräften" verstehen. Vgl. Hoppe (89).
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schauung erkannt, sondern nur durchs Zusammensetzen erzeugt wird" (1,166,12-16). Zweitens besteht dank dem Voranstellen der Übergangsbegriffe vor die Erfahrung die Aussicht, daß man die Physik systematisch zu ordnen vermag. Wie es schon die Stelle B xiii in der K. d. r. V. fordert, darf sich der Naturforscher von der Natur nicht "am Leitbande gängeln lassen ..., denn sonst hängen zufällige, nach keinem vorher entworfenen Plane gemachte Beobachtungen gar nicht in einem notwendigen Gesetze zusammen, welches doch die Vernunft sucht und bedarf". Die empirischen Materialien befinden sich in unbegrenztem Wachstum, und man kann nie sicher sein, daß man alle Beobachtungen gemacht hat, die zur Erfahrung gehören. Ohne einen vor der Erfahrung ausgedachten Plan würde man nicht einmal wissen, wonach man in der Empirie suchen soll (1,167,23-168,15; 1,360,28-361,4). Man könnte die bewegenden Kräfte gar nicht aufsuchen (1,642,29-30), und auch die Richtigkeit der einzelnen gesammelten Sätze wäre unsicher und zweifelhaft (1,508,18-20). Kant spricht in diesem Zusammenhang von einer bloßen Stoppelung der empirischen Beobachtungen (1,640,4-641,12) oder von einem Aggregat, weiter auch von Farrago (z. B. 1,484,3-6). Das Voranstellen des Übergangs kann deshalb Ordnung in die Physik bringen, weil die Mittelbegriffe ein System darstellen (1,486,25-27) oder Prinzipien der Klassifikation sind (1,486,3-6), d. h. "ein Schema, das die physischen örter a priori vorzeichnet, die für das Empirische schon die möglichen örter in einer Tafel darstellen" (1,485,22-29). Der Übergang weist also den bewegenden Kräften ihren Ort (locus com munis) im System an und ermöglicht dadurch eine vernunftgeregelte Naturforschung (1,483,14-24). Die Vollständigkeit, die unter der Wirkung der Mittelbegriffe entsteht (1,478,11-26; 1,402,27-403,1), garantiert, daß es uns möglich wird, "alle möglichen Gegenstände der Erfahrung in ihrer Einheit [zu] betrachten" (11,193,8-12) und die Eigenschaften der Materie vor der Erfahrung vollständig aufzuzählen (1,477,15-20). Trotz der ordnenden Rolle der Übergangsbegriffe darf man nicht glauben, daß die empirische Physik zu einem System notwendiger Gesetze wird. Denn der Übergang ist im (ersten Teil des) O. p. Immer nur Skizze eines Systems oder Propädeutik. Die Physik selber bleibt unvollendet (1,487,24-28; siehe auch Abschnitt 3.3.8). Drittens und eng verbunden mit der Idee eines Systems Ist die Schematismusfunktion der Übergangsbegriffe. In der K.d.r.V. vermittelt der
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Schematismus zwischen reinen Begriffen und sinnlichen Anschauungen und sichert damit die Anwendbarkeit der Kategorien auf Erscheinungen (B 176). Im O.p. wird zwar auch Anwendbarkeit thematisch, nämlich diejenige der metaphysischen Anfangsgründe auf empirische Prinzipien (1,407, 29-408,5; vgl. 1,310,24-311,15)8, aber Schematismus bedeutet in Kants Nachlaßwerk eher die Möglichkeit, die bewegenden Kräfte in ein System zu bringen und a priori zu klassifizieren (11,263,10-13; vgl. 11,264, 12-265,28; 1,362,27-363,9). Trotzdem kann man auch hier von einer Vermittlerrolle sprechen; die Übergangsbegriffe sind einerseits a priori, anderseits haben sie aber eine klare Beziehung zum Empirischen, indem sie die empirisch gegebenen bewegenden Kräfte systematisch ordnen. Die Ermittlung der Mittelbegriffe bildet demzufolge den letzten Schritt, der die Gültigkeit von Vernunftprinzipien in der Empirie sichert; ohne ihn blieben alle anderen Begriffe nur leere Denkformen. Die Mittelbegriffe können diese Funktion deshalb übernehmen, weil sie nicht logische Prinzipien sind, sondern den empirischen Gegenstand (1,530,18-24), nämlich die Wirkungen der Materie (11,155,19-24), betreffen. Eine logische Entgegensetzung der bewegenden Kräfte wäre die von A und non-A, die reale hingegen, die bei den übergangsbegriffen anzutreffen ist, die von +A und -A = 0. Die reale Entgegensetzung drückt eine wechselseitige Gegenwirkung der bewegenden Kräfte aus, die logische tut dies nicht (I,530,26-532,5)9. Hoppe behauptet, daß der Schematismus der Uebergangsbegriffe jetzt nicht mehr die Gültigkeit der Kategorien für eine Erfahrung überhaupt, sondern ihre Gültigkeit für die bestimmte, empirische Erkenntnis von bewegenden Kräften erweisen soll ( 9 3 ) . Es ist sicher kein Zufall, daß hierfür ein Beleg fehlt, denn Kant spricht im O.p. nur wenig von Anwendbarkeit und wenn er es tut, dann von der Anwendbarkeit nicht der Kategorien, sondern der metaphysischen Anfangsgründe. Wie im nächsten Teil deutlich wird, werden die Kategorien bei der Klassifikation der bewegenden Kräfte benutzt, doch dienen sie nur als ein Leitfaden, und es geht Kant keineswegs darum, ihre Gültigkeit für eine bestimmte empirischen Erkenntnis von bewegenden Kräften nachzuweisen. Die Unterscheidung vom logischen und realen Gegensatz geht übrigens auf die vorkritische Schrift "Versuch den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen" (1763) zurück. Bd.II (165-204).
3.2. Die Klassifikation der Verhältnisse der bewegenden Kräfte untereinander
Die loci communes der bewegenden Kräfte, d. h. ihre ürter im System ihrer Verhältnisse, werden unter Beistand der Kategorientafel bestimmt: "Ich glaube in der Abfassung dieser Schrift die Vollständigkeit eines Systems nicht besser erreichen zu können, als wenn ich auch hier dem Leitfaden der Kategorien folge und die bewegenden Kräfte der Materie nach dieser ihrer Quantität, Qualität, Relation und Modalität nach einander ins Spiel setze ..." (1,311,16-20). Bei der Ausführung dieses Vorhabens hatte Kant allerdings die größte Mühe, was schon allein aus der Tatsache ersichtlich wird, daß er die Einteilung unzählige Male darzulegen versuchte und dabei häufig nicht über die Kategorie der Relation hinauskam. Ein einheitliches Verständnis der Kantischen Versuche wird noch dadurch erschwert, daß man zwei grundsätzlich verschiedene Typen von Einteilung vorfindet. Der erste Typ, der eigentlich der von Kant angekündigten Charakterisierung des Übergangs als einer Klassifikation der Verhältnisse der bewegenden Kräfte untereinander am besten entspricht, kommt auch meist unter dem Titel "Einteilung der bewegenden Kräfte" bzw. "die Formen der Verhältnisse der bewegenden Kräfte" vor. Dabei werden Paare von entgegengesetzten bewegenden Kräften in Vierergruppen - den vier Kategorien entsprechend - aufgelistet. Eine relativ häufig vorkommende Gruppe ist die folgende: 1. Richtung: Anziehung - Abstoßung 2. Grad: Moment der Bewegung - Bewegung mit einer endlichen Geschwindigkeit 3. Relation: Innere oder äußere Flächenkraft - Andere Materie innigst durchdringende Kraft 4. Modalität: Ursprünglich - Abgeleitet (1,356, sehr ähnlich 1,165,28-166,8). Man findet aber auch andere Einteilungen und überdies Paare bewegen10 Z. B. solche Gruppen, in denen unter 1. nicht "Richtung", son-
Die Klassifikation der Verhältnisse
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der Kräfte, die In keine Vierergruppe systematisch eingeordnet sind, z. B. tote - lebendige Kraft (11,169,6-170,16). Adickes, der sich mit den Schwankungen bei der Erstellung der Vierergruppen ausführlich befaßte, zählte insgesamt dreizehn Paare von bewegenden Kräften , die verschieden gruppiert werden. Es wird hier klar, daß die bewegenden Kräfte der Physik zu vielfältig sind, um unter die vier Kategorien subsumiert werden zu können. Oft besteht auch gar kein Verhältnis zwischen den Kategorien und den Paaren. Ein so konzipierter Übergang wäre also schon wegen seiner mangelnden Beziehung zu den metaphysischen Anfangsgründen, die ja nach dem Leitfaden der Kategorientafel aufgestellt wurden, völlig verfehlt. Man kann sich auch kaum vorstellen, daß eine gut ausgearbeitete Einteilung mit einem klaren Verhältnis zu den Kategorien den Anforderungen des Übergangs genügen könnte. Dieser soll alle physikalischen Erscheinungen in der Welt betreffen, auch wenn er natürlich nur diejenigen Eigenschaften, die für die Naturwissenschaft relevant sind, behandelt. Er kann zwar nicht alle Einzelheiten, die in der empirischen Physik vorkommen, umfassen, denn dann wäre auch er unvollendbar und würde kein System darstellen. Doch er soll als eine Skizze oder eine Propädeutik für die Physik dienen und muß deshalb Elemente enthalten, die es dem Naturforscher ermöglichen, jedes Phänomen irgendwo einzuordnen, d. h. einen locus communis dafür zu finden. Nun ist es aber trotz der unbestreitbaren Bedeutung des Kraftbegriffs in der Physik völlig unrealistisch, ein jedes Phänomen durch die Wirkung bewegender Kräfte erklären zu wollen; z. B. In der Optik wird man mit bewegenden Kräften nicht sehr weit kommen. So erweist sich die Idee, den Übergang ausschließlich mittels Begriffen bewegender Kräfte durchzuführen, als fragwürdig.
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dern "Ursprung: der Materie eigene - der Materie eingedrückte Kräfte" ( I , 1 7 0 f . ) steht und wo die anderen Paare dann verschoben sind und 4. von oben völlig wegfällt, oder andere Einteilungen, bei denen es heißt: "2. Ort: äußere Körper - ihre eigene Teile bewegende Kraft" (11,169,6-170,16). Unter Modalität steht fast jedesmal etwas anderes, z. B. "Der inneren Dauer nach: Unabänderlich, wie die Schwere - Perpetuierlich" (1,287,26-288,4), oder "Dem Umfange nach: Durch alle Räume verbreitete - durch innere Gegenwirkung ihren Wirkungsraum selbst beschränkende Kraft" (11,169,6-170,16). Kants Opus Postumum (208-209).
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Übergang zur Physik
3.2.1. Quantität Es sei daran erinnert, daß die Definition der Quantität der Materie in den M. A. eine ganz allgemeine ist; Materie wird nämlich als die Menge des Beweglichen in einem gegebenen Raum bestimmt (Mech., Frkl. 1). Im O. p. geht Kant genau von diesem Punkt aus und betont dabei, gleich wie in den M . A . , die entscheidende Rolle der Bewegung beim Abschätzen der Quantität der Materie: "Die Quantität der Materie kann ... nur mechanisch durch die Größe der bewegenden Kraft, welche ein Volumen von Materie In einer und derselben Richtung und Geschwindigkeit der Bewegung auf einen beweglichen Gegenstand ausübt", bestimmt werden (11,207, 19-24; ähnlich 11,206,19-23)12. Diese relativ formale Definition wird nun Im O. p. ergänzt und ihr so eine spezifische Bedeutung verschafft. Zunächst weist Kant darauf hin, daß die Quantität der Materie nicht geometrisch, also durch eine Abmessung des Volumens, bestimmt werden kann, denn Materie ist nicht gleichartig (1,267,9-11). Weiter stellt er fest, daß "das Mass [ der Quantität der Materie] ... das Gewicht [ ist], d. i. die bewegende Kraft eines Körpers durch das Moment des Fallens desselben im Anfangsaugenblicke, sofern dieses in gleichen Weiten vom Mittelpunkte der Erde allenthalben gleich ist"13 (1,267,6-9; ähnlich 11,257,14-21). "Die Gravitation, welche hier auch das Moment der Akzeleration genannt wird, bestimmt also die Quantität der Materie eines Körpers, wie auch sein Volumen beschaffen sein möge, durchs Gewicht" (1,312,29-313,3). Bei diesem Zwischenschritt wird die Dynamik aus den M. A. vorausgesetzt, nämlich das Gesetz der Attraktion nach dem umgekehrten Verhältnis des Quadrats der Entfernung. Denn nur so kommt Kant zu der Forderung, daß die Abschätzung der Quantität der Materie in gleichen Weiten vom Mittelpunkte der Erde durchgeführt wird . Nach 1 2 Wenn an dieser Stelle von einer "dynamischen" statt wie richtig von einer "mechanischen" Messung die Rede ist, dann muß es sich um ein Versehen handeln, denn es wird von Geschwindigkeit und Quantität der Bewegung geredet, Begriffen, die nur in der Mechanik einen Platz haben. 13 D. h. m = F /g 14 Das Gewicht wird ja als die Folge der Gravitation zwischen der Masse der Erde und der Masse des Körpers definiert. So setzt
Quantität
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unserer Auslegung des Gesetzes der Attraktion in den M. A. müßte der Übergangsbegriff der Quantität der Materie einiges an Empirischem enthalten, kann doch das Gesetz nicht völlig a priori gewonnen werden. Dies wird auch im O. p. bestätigt, an einer Stelle, die sehr stark an die "Princlpia" Newtons, Erkl. l erinnert: "In verschiedenen Entfernungen vom Mittelpunkte der Erde ist [das Moment der Akzeleration] verschieden, wie es die Schwenkungen der Perpendikel von derselben Länge, aber in unterschiedlichen Weiten ... gelehrt haben" (1,313,3-7). Die Tatsache, daß sich empirische Elemente in die Übergangslehre einschleichen, sollte nicht sonderlich stören, handelt es sich doch um Begriffe des Überschritts von den metaphysichen Anfangsgründen zur empirischen Physik. In einem nächsten Schritt wird klargemacht, wie das Gewicht zu bestimmen sei: "Das Wägen ist das einzige allgemeine ... Mittel der genauen Bestimmung der Quantität der Materie überhaupt, von welcher Art sie überhaupt sein mag" (11,208,6-8). Der Fortschritt gegenüber den M. A. zeigt sich darin, daß es dort, obwohl das Wägen erwähnt wurde, noch offen war, ob es nicht auch andere mögliche Bestimmungsweisen der Quantität der Materie gibt. Neu an den Äußerungen des O. p. ist also gerade die Präzisierung, daß das Wägen die einzige Möglichkeit zur Abschätzung der Quantität der Materie bildet. Kants These, daß die Quantität der Materie nur wägend bestimmt werden kann, hängt von zwei Voraussetzungen ab, deren Untersuchung den Fortschritt der Übergangsbegriffe zu einer necessitas consequents zeigt. Erstens muß gelten, daß alle Materie wägbar ist; sie darf z. B. mit ihrem Gewicht nicht durch die Waagschale fallen. Dies muß selbstverständlich a priori festgestellt werden, oder wie Kant selber sagt: "Der Satz, daß alle Materie wägbar sei, ist kein Erfahrungssatz" (1,295,22). Eine imponderable Materie kann es nicht geben, ihr Begriff ist sogar ein Widerspruch, "denn die Wägbarkeit macht den Begriff einer Materie, nämlich der Bewegbarkeit, aus" (1,337,1-3). Dies steht im völligen Einklang mit der Mechanik der M.A., wo - wie wir gesehen haben - die Begriffe der Bewegung und Quantität der Materie miteinander verknüpft sind. das Gewicht das universelle Gravitationsgesetz voraus.
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Übergang zur Physik
Ein Vergleich mit den entsprechenden Äußerungen der K.d.r. V. zeigt uns, wie die Übergangsbegriffe auf eine necessitas consequentis zielen. In der K.d.r.V. wird der Satz "Alle Körper sind schwer" zweimal in einer für uns interessanten Weise thematisch. Das erste Mal geschieht dies an der Stelle B 4, wo Kant den Satz als ein Beispiel empirischer Allgemeinheit anführt, bei der "nur eine willkürliche Steigerung der Gültigkeit von der, welche in den meisten Fällen, zu der, die in allen gilt", stattfindet. Das zweite Mal kommt der Satz in § 19 vor, wo er zunächst zwar ebenfalls als empirisch bezeichnet wird, dann aber in einer ähnlichen Version, nämlich "er, der Körper, ist schwer" als ein objektives Urteil. Da hier aber die Zugehörigkeit der Vorstellungen zueinander nur dank der notwendigen Einheit der Apperzeption In der Synthesis der Anschauungen garantiert wird, handelt es sich nur um eine bloS formale Objektivität, d. h. um eine necess/tos consequent/ae. Im O. p. wird aber einerseits nicht nur vom allgemeinen Begriff der Schwere, sondern auch vom spezifischeren Begriff der Wägbarkeit geredet; anderseits profitieren die Übergangsbegriffe von der in den M. A. durchgeführten Anwendung der Kategorien auf Anschauung, bei der zunächst die Begriffe Bewegbarkeit und Materie verknüpft werden (vgl. Kap. 2), um dann den Schluß auf die notwendige Wägbarkeit der Materie zu ermöglichen. Die zweite Voraussetzung, die bei Kants Behauptung, daß die Quantität der Materie nur durch das Wägen bestimmbar ist, gemacht wird, betrifft das Instrument des Wagens: "Aber der Begriff der Ponderabilität setzt doch ein Instrument der Messung dieser bewegenden Kraft (des Gewichts) an einem Hebelarm voraus, welchem Werkzeug man dann doch noch eine andere Kraft, nämlich die des Zusammenhanges seiner Teile unter einander, welche der Biegsamkeit wiedersteht, in Gedanken beilegen muß, ohne welche die Wägbarkeit ein Begriff von einem bloßen Gedankendinge sein würde" (11,138,1-8). Der Zusammenhang des Hebelarms "bedarf der Voraussetzung einer innerlich bewegten Materie, welche diese Unverrückbarkeit der sich berührenden Teile bewirkt, indem sie selbst innerhalb der Materie beweglich ist. Wir kennen aber keine Materie, der wir eine solche Eigenschaft beizulegen Ursache haben, als die Wärmematerie" (11,138, 19-23). Die Voraussetzung des Wärmestoffs ist deshalb unentbehrlich, "denn sonst würde die Bedingung derselben ins unendliche Immer weiter hinausgeschoben, mithin [wäre diese] gänzlich ohne Grund" (ibid.). Zu
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bemerken ist, daß sich die Notwendigkeit der Voraussetzung des Wärmestoffs nur im Kontext der Übergangsbegriffe bzw. der Physik, ergibt. Denn solange man den Begriff der Quantität der Materie nur ganz allgemein auffaßt und sich nicht mit der Frage der praktischen Ausführung ihrer Messung beschäftigt, muß man sich auch keine Gedanken über die Bedingungen der Funktionsfähigkeit einer Waage machen. Kant drückt dies in einer eher verwirrenden Weise aus, wenn er die dynamische bewegende Kraft der Anziehung als objektiv bezeichnet, während er das tatsächliche Wägen als mechanisch und subjektiv betrachtet. So heißt es: "Die objektive Wägbarkeit liegt schon im Begriff der Materie (im Verhältnis auf einen anziehenden Weltkörper). Aber die subjektive Wägbarkeit durch Instrumente bedarf noch besonderer bewegenden Kräfte, um die Instrumente zu machen, welche das Wägen möglich machen. Darunter Wärmestoff" (11,140,1-5; ähnlich 11,260,14-17). Da nun die sogenannte objektive Wägbarkeit eher zu den metaphysischen Anfangsgründen gehört, und die metaphysischen Anfangsgründe für die Übergangsbegriffe als Voraussetzung fungieren, kann es nicht überraschen, wenn Kant sagt, daß die Mechanik der bewegenden Kräfte unter Voraussetzung der dynamischen allein denkbar ist, und die objektive Wägbarkeit der subjektiven vorhergeht (II, 138,30-32). Wichtig ist hier, daß die spezifischere subjektive Wägbarkeit noch zusätzlicher Regeln bedarf, nämlich des Wärmestoffbegriffs. Daß der Wärmestoff, wie wir im weiteren noch sehen werden, häufig unter der Kategorie der Modalität auftaucht und die Modalität deshalb als Voraussetzung für die Qualität zu gelten hätte, bezeugt nur die schon angesprochene Verwirrung im O.p. Aber auch wenn die Übergangsbegriffe wesentlich spezifischer sind als die metaphysischen Anfangsgründe, so machen sie immer noch keinen Teil der Physik aus. Man kann sie z. B. nicht als Anweisungen zum Experiment verstehen, wie dies Hoppe (83ff.) will, denn dazu sind sie viel zu allgemein. Auch der unter dem Titel der Quantität stehende Begriff des Wagens kann nicht in dieser Weise aufgefaßt werden. Obwohl eine Abschätzung der Quantität der Materie in der Naturwissenschaft unentbehrlich ist, handelt es sich hier doch nur um einen ersten Schritt. Das Wägen oder ein entsprechendes Verfahren mögen zwar am Anfang vieler Experimente stehen, aber es bedarf noch vieler weiterer methodologischer Regeln, damit man die Naturwissenschaft auch tatsächlich betreiben kann. Man würde vielleicht erwarten, daß die unter den Titeln Qua-
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lität, Relation und Modalität vorkommenden Mittelbegriffe mehr zum experimentellen Verfahren beitragen, sieht sich aber hierin enttäuscht. Die weiteren Übergangsbegriffe dienen noch weit weniger als der Begriff der Wägbarkeit als Anweisungen zum Experiment .
3.2.2. Qualität Die Diskussion der Qualität im O. p. knüpft an die Grundlage der M. A. genauso an wie die Erörterungen zur Quantität, nur geht Kant diesmal von der Allgemeinen Anmerkung zur Dynamik aus. Die Quantität der Materie im O.p. ist entweder flüssig oder fest; dabei heißt es, ähnlich wie in den M. A. (IV,526,35f.), daß "das erstere ... ein inneres Verhältnis der Teile zueinander, sofern sie mit jeder noch so kleinen Kraft aneinander verschoben werden, d. i. ihre Berührung wechseln können, ohne getrennt (außer Berührung gesetzt) zu werden, [ ist]. Starre Körper sind die, welche diesem Wechsel widerstehen" (1,317,5-9; auch 1,377,23-25; 11,213.1-2; 1,269,23-270,3; 11,218). Einige Male versucht Kant, die feste und flüssige Beschaffenheit der Materie anders zu definieren, z. B. wie folgt: "Flüssige Materie ist die, welche ihre Gestalt nach der größten Berührung der Teile ihrer Oberfläche von selbst annimmt. Feste, welche ihre veränderte Gestalt nicht von selbst ändert" (1,380,15-17). Aber solche Stellen bleiben vereinzelt, und meist hält Kant an der Grunddefinition der M. A. fest. Auch seine Bemühungen, flüssige Materie in expansive bzw. elastische und attraktive und starre Materie in zerreibliche und streckbare einzuteilen (1,320,10-15; vgl. 1,377,26-31; 1,272,12-Iß), halten sich völlig im Rahmen der Allgemeinen Anmerkung zur Dynamik. Die Erörterungen der Qualität im O.p. bringen gegenüber den M 0 A. in zwei Hinsichten etwas Neues. Erstens versucht Kant relativ häufig, die Begriffe des Übergangs und diejenigen der empirischen Physik auseinanderzuhalten. So meint er, daß Flüssigkeit und Starrheit Begriffe a priori sind, "die wir uns selber machen, um sie empirischen 15 Hier zeigt sich auch eine der größten Schwächen der Interpretation von Hoppe. Er macht die Orientierung am Experiment zum Hauptthema seiner Arbeit, übersieht dabei aber, daß das Experiment erst in der empirischen Physik eine wesentliche Rolle zu spielen hat und nicht schon bei den Uebergangsbegriffen.
Qualität Gegenständen anzupassen" (11,231,12-13). Damit wird die Zugehörigkeit dieser Begriffe zum Übergang festgelegt. Hingegen zählen z. B. die Rigidität und ihre Grade, wie die Schleimigkeit (viscositas) oder die Sprödigkeit (frog/i/tas) (11,230,27- 331,5) oder auch der Zusammenhang und seine Grade schon zur Physik. Auch die Tatsache, daß einige flüssige Materien beim Starrwerden einen größeren (z. B. Gips, Schwefel, Eisen), andere (die meisten Metalle) einen kleineren Raum einnehmen, gehört zur Physik, denn sie kann nur durch empirische Beobachtung festgestellt werden. Hier wird klar, daß die Übergangsbegriffe den physikalischen Gesetzen nur eine begrenzte necess/tas consequenf/s garantieren können. Dies darf natürlich nicht überraschen, denn eine Einteilung der Materie in flüssige und starre ist immer noch sehr allgemein und kann der großen Vielfalt verschiedener Arten von Materie keineswegs gerecht werden. Man darf sich aber gegenüber Kants Verfahren nicht allzu kritisch stellen, war er doch auf den Stand der damaligen Naturwissenschaft angewiesen. Wir sollten demzufolge nicht so viel auf die Einzelheiten der Kantischen Lehre schauen, sondern eher sein methodologisches Vorgehen beurteilen. Hätte Kant seine Schriften in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verfaßt und hätte ihm das periodische System der Elemente zur Verfügung gestanden, so wäre seine Diskussion des Übergangsbegriffs der Qualität der Materie wesentlich fruchtbarer ausgefallen. Am Ende des 18. Jahrhunderts war jedoch eine systematische Einteilung der Elemente noch lange nicht in Sicht, und so fielen Kants Bemühungen recht unbefriedigend aus. Die andere Hinsicht, in der sich die Erörterungen der Qualität im O.p. von denjenigen der M. A. unterscheiden, betrifft, wie im Falle der Quantität, die Bezugnahme auf den Wärmestoff. Mittels des Wärmestoffs wird das Erstarren der Materie (z. B. 1,320-1; 1,382,12-16) und auch die Tatsache, daß starre Materie eine Textur hat, erklärt. Gerade die Erklärung der Textur ist für die Konzeption vieler Übergangsbegriffe wesentlich. Kant geht davon aus, daß in starrer Materie Heterogenität anzutreffen sein muß, die aber nicht durch chemische Analyse entdeckt, also nicht empirisch festgestellt werden kann. Die verschiedenen Teile der heterogenen Materie müssen in Schichten liegen, und zwar so, daß leichtere und schwerere Teile in unendlich kleinen Abständen voneinander aggregieren; die Schichtung wird durch "die erschütternde Bewegung
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der alles durchdringenden Weltmaterie bewirkt und erhalten". So kommt es vor, daß beim Starrwerden immer eine Textur und bei den meisten Materien sogar "eine gewisse eigentümlich jeder zukommenden Figur" anzutreffen ist (1,273,18-274,19). Dieses Argument ist ganz offensichtlich völlig spekulativ und kann empirisch weder bestätigt noch widerlegt werden. So ist es völlig a priori und kann demzufolge noch als ein Teil des Übergangs gelten. Wichtig ist, daß der Einbezug des Wärmestoffs den Bereich des Apriori erweitert, so daß auch spezifischere Vorgänge praeempirisch festgelegt werden können. In unserem Beispiel wird a priori garantiert, daß starre Materie eine Textur hat und der Begriff der Textur auf die Erscheinungswelt anwendbar ist. Aber natürlich hat auch die Annahme des Wärmestoffs ihre Grenzen, denn es bleibt immer noch unmöglich, a priori vorauszusagen, welche Textur diese oder jene Materie beim Erstarren einnehmen wird. Der Rückgriff auf den Wärmestoff erklärt auch, warum die Begriffe der Starrheit und Flüssigkeit zum Übergang und nicht schon zur empirischen Physik gehören. Kant schreibt: "Daß wir aber ohne in die Physik einzugreifen, bloß aus dem Begriffe von einer solchen Materie, als die der Wärme ist, die Möglichkeit der Flüssigkeit und Starrigkeit unter die Kategorie der Qualität a priori zu stellen befugt sind, beruht auf dem Begriffe der Unsperrbarkeit einer Materie überhaupt, welcher a priori, wenngleich auch nur problematisch, als zu einer Spezies der bewegenden Kräfte in der Natur gehörend, gedacht werden muß, und dem Übergange von den metaph. Anf. Gr. der N.W. zur Physik notwendig angehört" (11,234,11-18). Die Begriffe der Starrheit und Flüssigkeit gehören deshalb zum Übergang, weil sie nur mittels des apriorischen Wärmestoffbegriffs definiert werden können.
3.2.3. Relation Auch bei der dritten Kategorie knüpft Kant zunächst an seine Ausführungen in den M. A. an. Einmal heißt es sogar, unter dem Titel "Relation einer Materie gegen die andere (der Körper zu anderen Materien oder anderen Körpern)", daß Relation die Abstoßung und Anziehung der Materie als starrer Körper ist» Dabei Ist Abstoßung "die Gegenwirkung gegen die Annäherung und kommt aller Materie zu, sofern sie durch Undurchdring-
Relation
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lichkelt der anderen widersteht" (1,324,16-22). Da aber Abstoßung und Anziehung nur gerade die allgemeinsten Eigenschaften der Verhlltnisse von Materien bzw. Körper zueinander darstellen, gehören sie zu den metaphysischen Anfangsgründen; hingegen hat die relationale Bestimmung im Übergang weitere Merkmale. Kant geht bei ihrer Festlegung immer von der unter dem Titel Qualität festgelegten Einteilung der Materie in flüssige und feste aus und versucht anfänglich eine beide Arten der Materie umfassende Definition zu formulieren. Demnach gehört zur Kategorie der Relation "1. der Zusammenhang des Flüssigen mit dem Festen" hier erörtert Kant sehr häufig die Theorie der Haarröhrchen16 -, "2. der des Flüssigen untereinander", d. h. also die Hydraulik und "3. der des Starren mit dem Starren" (1,332,30-333,3). Später konzentriert Kant seine Bemühungen hauptsächlich auf feste Materien und versucht dabei, auch die bewegenden Kräfte einzubeziehen. So lautet der Titel einmal "Relation der Materie nach ihren bewegenden Kräften, sofern ihre Wirkung auf die Berührung eingeschränkt ist" (1,281,1-4), ein anderes Mal: "Von der Relation, d. i. dem äußeren Verhältnis der bewegenden Kräfte der Materie" (1,301,10-11). Es ist offensichtlich, daB hier die Kohärenz (auch Kohäsibilität bzw. Zusammenhang) gemeint wird. Damit scheint Kant wieder zu den M.A., nämlich zur Allgemeinen Anmerkung zur Dynamik, in der vom Zusammenhang die Rede ist, zurückgekehrt zu sein. Aber ähnlich wie bei der Kategorie der Quantität gibt Kant auch hier eine relativ spezifische praktische Anweisung zum quantitativen Erfassen des allgemeinen Begriffs. So ist das Mass der Kohäsibilität das Gewicht, "durch welches ... [ein Körper] vermöge seiner Schwere in einer gegebenen Durchschnittsfläche abreißen würde" (11,146,1-2; vgl. 11,221, 11-13). Auch bei Relationen soll der Wärmestoff eine Rolle spielen, diesmal jedoch nicht als ein Mittel zur Erzeugung weiterer und spezifischerer Regeln, wie es bei der Qualität der Fall war, sondern zur Erklärung der Kohäsibilität: "Die Kohäsibilität der Materien, als eine von den bewegenden Kräften derselben, beruht gleichfalls auf der allgemeinsten und ursprünglichen, nämlich der Wärmematerie, deren Konkussionen, als eines 16 Auch wenn einmal, nämlich im Entwurf - , die Haarröhrchentheorie unter dem Titel Qualität auftaucht. 17 Wie schon oben erwähnt, kommt Zusammenhang auch unter Qualität vor.
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unwägbaren und doch materiellen Stoffs, die wägbaren sich einander zu nähern und zu vereinigen treibt" (11,152,2-6).
3.2.4. Modalität und der Wärmestoff Mit der vierten Kategorie bekundet Kant große Mühe. In den früheren Entwürfen wird sie kaum erwähnt und tritt erst ab den Bogen a-c mit einiger Regelmäßigkeit in Erscheinung. In den Schriften vor dem O. p. kommt unter dem Titel Modalität meist die Beziehung des Objekts zum Erkenntnisvermögen zur Sprache, und an einigen Stellen des O.p. scheint Kant an diese Verwendungsweise anzuknüpfen. So lesen wir z. B. "Die Modalität besteht hier darin, ob Materie ein Gegenstand der Erfahrung sein kann". Doch schon der nächste Satz weist in eine etwas andere Richtung, die dann für die Diskussion der Kategorie der Modalität im O. p. bestimmend ist: "Wäre eine Materie unsperrbar, so würde sie durch jedes Hindernis durchgehen" (11,258,23-24). Nun ist diese unsperrbare Materie keine andere als der Wärmestoff, der zwar selber nicht wahrgenommen werden kann, der aber, wie wir gesehen haben, als eine notwendige Voraussetzung bei den ersten drei Kategorien im O.p. figuriert. Im Begriff der Notwendigkeit liegt auch der eigentliche Grund, warum der Wärmestoff unter dem Titel der Modalität vorkommt. Der Wärmestoff wird als notwendig bezeichnet, Notwendigkeit aber macht schon in der K.d.r. V. eine der Modalitäten aus. Im O.p. geht Kant meist von seiner Definition des Schemas der Notwendigkeit in der K.d.r.V. aus: "Dasein eines Gegenstandes zu aller Zeit" (B 184). Das Dasein eines Gegenstandes wird im O.p. mit den oszillatorischen Bewegungen des Wärmestoffs, die die bewegenden Kräfte in Bewegung setzen und erhalten (11,137,1-8), identifiziert. So ist Materie "der Modalität nach ... die Notwendigkeit und Ihre empirische Funktion, die Permanenz der bewegenden Kräfte, vermittelst des Wärmestoffs" (1,303,18-20) oder "Perpetuität der lebendigen Kraft - Notwendigkeit" (11,163,3). Eine vollständigere Definition der Modalität der Notwendigkeit kommt im Elementarsystem 1-6 vor und lautet wie folgt: "Die immerwährende Fortdauer (Perpetuität) einer Bewegung, insofern sie auf einem Grunde a priori beruht, ist die Notwendigkeit (perpetu/tas est necessitas phenomenon): Und sofern der Grad ihrer Bewegung durch die im Ganzen
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derselben nicht vermindert wird, ist die bewegende Kraft unerschöpflich. Da sie nicht Ortverändemd, sondern primitiv und innerlich bewegend ist, so ist ihr Anfang, weil sie reproduktiv ist, mit der Fortdauer von gleichem Grade, und diese alldurchdringende imponderable und incoercibele Materie ist dem Räume so wohl als der Zeit nach nur durch sich selbst beschränkt" (11,605,12-21)18. Von Bedeutung an Kants Erörterungen der Notwendigkeit im O. p. ist die Tatsache, daß jetzt nicht mehr nur zeitliche, sondern auch räumliche Permanenz als Maßstab gelten soll. Dies darf man als eine im Interesse der Naturwissenschaftstheorie gemachte Präzisierung der Auffassung der K.d.r. V. betrachten, denn der zeitlich und räumlich verstandene Wärmestoffbegriff ermöglicht die Aufstellung verschiedener naturwissenschaftlicher Regeln. Die Diskussion der vierten Kategorie im O. p. knüpft nicht nur bezüglich Notwendigkeit und Permanenz, sondern auch hinsichtlich des Wärmestoffs an frühere Schriften Kants an. In den vorkritischen Schriften lesen wir von einem Feuerelement bzw. Feuermaterie 19 , in den M. A. wird Wärme bzw. ihre Erschütterungen als eine andere Art von Abstoßungskraft neben der ursprünglichen erwähnt (Dyn., Ls. 8, Anm.2). In der Allgemeinen Anmerkung zur Dynamik wird einmal die Elastizität der Luft durch den Wärmestoff erklärt (IV,530,1-3), ein anderes Mal als Beispiel einer chemischen Durchdringung die Durchdringung der Körper durch den Wärmestoff genannt (IV,532,1-4). In der K.d.r.V. ist von einer ähnlichen nicht wahrnehmbaren, alle Körper durchdringenden Materie die Rede, nämlich von der magnetischen Materie (B 273), mittels deren man magnetisehe Erscheinungen erklären kann 20 . Aber diese Stellen sind in der 18 Tuschling erklärt, daß das Nebeneinanderstellen von Notwendigkeit und Permanenz Kants Absicht ausdrückt, den Inhalt des alten Substanzbegriffs - die Funktion der Beharrlichkeit - unter den Titel der Modalität zu subsumieren (141, 145-147). In Wahrheit komtit es gegenüber der K.d.r.V. zu keiner kategorialen Verschiebung, denn Notwendigkeit und Permanenz werden schon in der K.d.r.V. als sich korrespondierende Begriffe verstanden. 19 De igne: "Materia ignis non est nisi...materia elastica, quae corporum quorumlibet elementa, quibus intermessa est, colligat" (1,376). In den "Negativen Größen" wird das Feuerelement als ein subtiles und elastisches Flüssiges, das durch seinen Eintritt die Erkältung, durch seinen Austritt die Erwärmung eines Körpers bewirkt, beschrieben (11,185). 20 Die Tatsache, daß Kant von einer magnetischen Materie in der K.d.r.V. redet, zeigt, daß er auch den Warmestoff im Rahmen der K.d.r.V. akzeptiert hätte. Tuschling behauptet das Gegenteil,
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K.d.r.V. und den M. A recht vereinzelt. Zudem gibt es keinen Hinweis darauf, wie man den Wärmestoff, oder ähnliche Materien, einzuordnen hat. 21 Im O.p. wird der Wärmestoff oder Äther, wie er häufig genannt wird , nicht nur in der systematischen Einteilung unter die Modalität eingeordnet, sondern er bildet auch einen der zentralen Begriffe des Nachlaßwerks. Im Laufe von Kants Arbeit fallen ihm dann auch mehrere, z. T. recht unterschiedliche Aufgaben zu, die wir jetzt untersuchen werden. Neben den schon oben unter Quantität, Qualität und Relation aufgeführten Funktionen des Wärmestoffs ist im ersten Teil des O.p. diejenige sehr auffällig, die den Wärmestoff mit den ursprünglichen bewegenden Kräften der Anziehung und AbstoBung verbindet. Kant geht dabei davon aus, daß der Äther eine primitive Bewegung kontinuierlich ausübt, nämlich die Oszillation, die nicht ortsverändernd ist, "sondern nur in ihrem eigenen Platz durch Anziehung und Abstoßung ... beweglich und bewegend agitierend ist" (1,575,12-15; vgl. 11,605,25). Daraus lassen sich Konsequenzen ziehen. Erstens wird Dyn., Ls.5 der M. A. nicht nur bestätigt, sondern auch als a priori erweisbar dargestellt: "Wenn a priori eine unmittelbare Anziehung der Materie ist, ohne Berührung (graw'fat/o), so muß im Weltraum eine unmittelbare Abstoßung der Teile der Materie sein in der Berührung, nur von der Art, daß jeder an seiner Stelle sich bewegt, damit eine Bewegung der Oszillation der Materie in allen Punkten sei, denn sonst würde Materie sich notwendig gänzlich zerstreuen und der Raum bliebe leer" (1,233,16-21; vgl. 1,310,19-23; 1,561,7-11). Der sich innerlich bewegende Urstoff der Körperwelt garantiert also a priori durch seine Oszillation die ursprünglichen bewegenden Kräfte der Anziehung und Abstoßung. Damit wird aber auch besser
21
wenn er feststellt, daß der Aetherbegriff innerhalb der kritischen Theorie der Erkenntnis a priori nicht auftreten kann, denn die K.d.r.V. kenne nur reine Verstandesbegriffe und reine Vernunftbegriffe (Ideen), und sonst nichts (175-176). Diese Beobachtung läßt außer acht, daß die Kategorien und die Ideen wegen ihrer Allgemeinheit noch zusätzlicher Regeln bedürfen, die einen berechtigten Anspruch auf Apriorität haben. Die Apriorität des Wärmestoffs als eines Uebergangsbegriffs muß also durchaus nicht mit der Apriorität der Begriffe der K.d.r.V. in Konflikt stehen. Im Oktavenentwurf wird der Wärmestoff vom Aether einmal unterschieden, wobei der Aether als eine ursprüngliche, der Wärmestoff als eine nur abgeleitete, innerlich expansive Materie zu gelten hat (1,378,7-18).
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verständlich, warum Kant die mechanische Theorie im O. p. völlig verwirft und die dynamische Erklärung der Materie als die einzige mögliche betrachtet. Denn nicht nur ist der leere Raum der mechanischen Theorie kein Gegenstand der Erfahrung, sondern man kann mittels des Ätherbegriffs die bewegenden Kräfte der Anziehung und Abstoßung a priori beweisen. Da zweitens der Atherbegriff nicht umgangssprachlicher Natur ist, dürfte auch klar sein, daß sich Kants Diskussion der Materieerklärungen im O. p. ganz im Rahmen einer naturwissenschaftlicher Erfahrung bewegt. Drittens ist wichtig, daß der Übergangsbegriff Äther in diesem Falle den Fortschritt von einer bloßen Hypothese zu einer a priori erwiesenen Einsicht ermöglicht, d. h. eine necess/tos consequent/s garantiert. Eine weitere Konsequenz, die Kant aus der immer andauernden oszillatorischen Bewegung des Äthers zieht, ist das Sicherstellen der Stetigkeit der Welt, d. h. die Unmöglichkeit eines Weltuntergangs: "Weil nun außer dem Weltganzen nichts ist, womit man die Dauer zwischen Anfang und Ende vergleichen kann, mithin sie ein Gegenstand ohne Größe sein würde, so ist dieser Untergang oder auch nur die allmälige Annäherung zu demselben, eine anschauliche Vorstellung ohne Gegenstand und das Elementarsystem, ohne auf die veränderlichen Formen desselben zu sehen, muß was den Stoff, nämlich die bewegenden Kräfte desselben und das Quantum der Bewegung anlangt, im Ganzen unaufhörlich fortdauern: Welches eben so viel 1st, als seine ununterbrochene Fortdauer ist notwendig" (1,520,1-9). In der 2. Analogie wird auch die Stetigkeit der Welt garantiert, dadurch nämlich, daß jedes Ereignis in der Welt eine Ursache haben muß und nichts außerhalb der Kausalkette geschehen kann. Dabei handelt es sich selbstverständlich nur um eine ganz allgemeine Sicherung der Stetigkeit der Welt. Die im O.p» gegebene Garantie der Stetigkeit ist wesentlich spezifischer, denn einerseits wird von der Quantität der Bewegung, die seit der Mechanik der M. A. mathematisch erfaßbar ist, ausgegangen, anderseits sichert das ewige Bestehen der oszillatorischen Bewegung des Äthers auch das Andauern aller der hier zur Diskussion stehenden Funktionen des Äthers. Somit wird bei vielen naturwissenschaftlichen Ereignissen nicht nur bewiesen, daß sie eine Ursache haben müssen, sondern es wird zudem noch gezeigt, weiche diese Ursache ist.
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Außer den schon besprochenen Funktionen des Äthers, setzt Kant diesen Begriff noch zur Erklärung verschiedener naturwissenschaftlich relevanter Vorgänge bzw. Erscheinungen ein. So soll mittels des Äthers und seiner Erschütterungen der Zusammenhang des Flüssigen und die Auflösung von Salzen durch Flüssigkeiten vorstellig gemacht werden (1,424, 2-14), ferner soll der Äther Körperbildung verursachen (1,252,22253,7), Flüssigkeiten ermöglichen und Elastizität aller Materien bewirken (1,282,22-26; 1,255,21-27; 1,256,1-9). Auch Wärmeerscheinungen können durch den Äther und seine Erschütterungen erfaßt werden. Kant fragt sich: "Ist nicht vielleicht alle Wärme ein bloßer Zustand der Ausdehnung und wechselseitigen Anziehung durch Erschütterung?" (1,411, 29-412,1). Dies läßt die Hoffnung aufkommen, daß wir jetzt solche Sätze wie z. B. "Die Sonne erwärmt den Stein" nicht nur ihrer Form, sondern auch ihrem Inhalte nach als notwendig bezeichnen dürfen. Leider bleiben Kants Bemerkungen zur Erklärung der Wärme meist im Ansatz stehen; es finden sich auch eher banale Definitionen, z. B. Erwärmung ist Übergang der Wärme aus einem Körper in den anderen (11,213,20-21). Am vielversprechendsten scheint die Behauptung, daß Sonnenstrahlen den Wärmestoff nicht herbeiführen, sondern Ihn nur erregen (1,480,29-30), doch auch diese Idee bleibt unentwickelt, denn es fehlt jeder Hinweis auf den Zusammenhang zwischen Strahlung und Wärmestoff.
3.3. Die transzendentale Deduktion im O. p.
Man kann Kants Suche nach einer necess/tas consequent/s als ein progressives Eingreifen in das Empirische verstehen, deren Ziel es ist, das Empirische mittels des Apriorischen immer mehr zu bestimmen. Bei einem solchen Verfahren ergeben sich immer spezifischere Begriffe, d. h. diejenigen zusätzlichen Regeln der Naturwissenschaft, die zur Hoffnung, eine necessitas consequent/s zu erreichen, berechtigen. Die in der K.d.r.V. thematischen Begriffe sind selbstverständlich a priori, gelten aber nur für die rein formalen Eigenschaften einer Erfahrung überhaupt. Die metaphysischen Anfangsgründe sind im großen und ganzen zwar auch a priori, doch beziehen sie sich auf einen empirischen Begriff, nämlich den der Materie. Im ersten Teil des O. p. geht Kant weiter; hier wird die unübersehbare Menge der empirisch gegebenen bewegenden Kräfte zugrundegelegt und mittels der Begriffe der Verhältnisse der bewegenden Kräfte untereinander geordnet. Im zweiten Teil des O.p. macht Kant noch einen dritten (und letzten) Schritt ins Empirische, indem er jetzt Erfahrung hauptsächlich als Wahrnehmung deutet und sie mittels der Begriffe des Äthers und der Verhältnisse der bewegenden Kräfte theoretisch zu bestimmen versucht 22 . Man kann Kants Vorgehen auch wie folgt auffassen. Bezeichnet man die apriorischen Begriffe als das Formale, so gilt, daß die Begriffe der K.d.r.V. das Formale im Formalen, die metaphysischen Anfangsgründe und die Übergangsbegriffe hingegen das Formale im Materialen darstellen. Dabei hat man die metaphysischen Anfangsgründe als das Formale im empirischen Begriff der Materie, die Übergangsbegriffe im ersten Teil des O.p. als das Formale in den empirisch gegebenen bewegenden Kräften und 22
Lehmann schreibt, daß Kant in der Deduktion des O.p. "eine ganzheitlich fundierte Kategorienlehre der Wahrnehmungsregion intendiert", macht aber von dieser m. E. so wichtigen Idee in der Folge fast keinen Gebrauch (251 f f . ) .
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dieselben Übergangsbegriffe im zweiten Teil des O.p. als das Formale in der Wahrnehmung zu verstehen 23 . So gesehen verfolgt die hier zu untersuchende transzendentale Deduktion des O.p. zwei Ziele: Einerseits will hier Kant die Objektivität der Übergangsbegriffe beweisen, andererseits will er das Gebiet des Empirischen weiter einengen, das heißt das Formale noch mehr ins Materiale versetzen. Seine beiden Vorhaben versucht er durch den Nachweis, daß die Übergangsbegriffe die notwendigen Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung im Sinne von Wahrnehmung sind, zu verwirklichen (3. 3. l, 3.3.2, 3.3.4). Kants dritter Eingriff ins Feld des Empirischen bringt natürlich ein neues Verständnis verschiedener Begriffe mit sich. Es handelt sich dabei vor allem um die Rolle des Subjekts (3.3.3), das Verhältnis des Apriori und des Aposteriori (3.3.4) und die Begriffe der Objektivität (3.3.5) und der Erfahrung (3.3.6). Wichtig Ist aber auch, daß die transzendentale Deduktion des O.p. nicht das Ganze der Wahrnehmung apriorisch zu bestimmen versucht; so würde nämlich das gesamte Feld des Empirischen völlig verschwinden und Kant wäre absoluter Idealist. Am Schluß bleibt noch ein breiter Bereich des Unbestimmten, dessen Bedeutung für die Frage einer necessitas consequents im Abschnitt 3.3.8 untersucht werden soll.
3.3.1. Der Äther und die transzendentale Deduktion Das ganze O.p. hindurch wird der Äther als ein Gedankending bezeichnet, d. h. als ein Stoff, dessen Existenz sich durch keine empirischen Beweismittel belegen läßt. Wenn also Kant im ersten Teil des O.p. vom Äther als einem bloß hypothetischen Ding redet (I,253,B-9; 1,256,1-9), so handelt es sich nicht um eine naturwissenschaftliche Hypothese, die durch Experimente entweder bestätigt oder widerlegt werden kam, sondern um ein bloß begriffliches Hilfsmittel, das den Fortschritt zu einer necessitas consequeni/s ermöglichen soll. 23 Wie sich herausstellt, wird unter Wahrnehmung hauptsächlich Wahrnehmung von empirisch gegebenen bewegenden Kräften verstanden, so daß der Unterschied der zwei Teile des O.p. stellenweise wenig ins Gewicht fällt.
Der Äther und die transzendentale Deduktion Im zweiten Teil des O.p., besonders im Übergang 1-14, bleibt der Äther zwar ein bloßes Gedankending (11,606,23), verliert aber seinen hypothetischen Charakter und wird, wie alle anderen Übergangsbegriffe, als ein notwendiger und objektiv gültiger Begriff eingestuft (11,598, 10-13; 11,605,22-24). Dieser neuen Einstufung des Atherbegriffs liegt die sogenannte Atherdeduktion zugrunde, die von Kant als ein einzigartiger Beweis bezeichnet wird (1,540,17-23). Der Hauptzweck der Atherdeduktion ist die Festsetzung der Einheit der Erfahrung . Kant redet zwar von "einer Erfahrung" schon in der K.d.r.V. (A HOff.); dort geht es allerdings nur um eine Erfahrung überhaupt, deren Einheit sich auf der ursprünglichen Apperzeption (A 111) und den Kategorien (A 110) gründet. Die Erfahrung, um die es jetzt geht, Ist im Sinne von Wahrnehmung zu verstehen, auch wenn hier selbstverständlich die naturwissenschaftliche Orientierung des Erfahrungsbegriffs nicht außer Betracht gelassen werden darf, so daß eigentlich nur in der Naturwissenschaft relevante Wahrnehmung thematisch wird. Kants Argument ist zwar über das ganze O. p. verstreut, aber dennoch rekonstruierbar. Es hat die folgende Struktur. Erstens wird bewiesen, daß Wahrnehmung nur durch den Äther möglich ist. So heißt es zunächst, daß der leere Raum kein Objekt der Erfahrung sein kann; soll der Raum sensibel sein, so muß ein Elementarstoff, nämlich der Äther, durch den Raum verbreitet sein (1,216,12-14; 1,228,24-25). Raum Ist hier natürlich nicht als die Form der Anschauung zu verstehen, es handelt sich vielmehr - wie die Bezeichnung "sensibel" andeutet - um einen durch Materie kontinuierlich erfüllten Raum. Der Grund, warum der Äther die Wahrnehmbarkeit des Raumes und damit alle äußere Wahrnehmung ermöglicht, liegt im Vermögen des Äthers, in der Materie eine stetige Bewegung zu verursachen: "Nun setzt der Begriff des Ganzen äußerer Erfahrung ... eine stetige Bewegung aller Materie voraus, welche aufs Subjekt als Sinnengegenstand wirkt, denn ohne diese Bewegung, d. i. ohne Erregung der Sinnenorgane als jener ihre Wirkung, findet keine Wahrnehmung irgend eines Sinnenobjekts, mithin auch keine Erfahrung statt ..." (1,572,25-573,6). Da aber diese stetige Bewegung durch den Äther hervorgerufen wird, so muß der Äther als eine notwendige Bedingung der Möglichkeit der Wahrnehmung a priori vorausgesetzt werden. Dabei bleibt 24 Vgl. Lehmann (256-7).
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der Wärmestoff selber immer imperzeptibel, "weil die Organen der Wahrnehmung selbst auf [seinen] Kräften beruhen" (11,588,5-7). Der Atherbegriff ist also deshalb notwendig, weil er a priori die Erfahrung möglich macht (11,595,14-18). Denn nur durch den Äther "sind die bewegenden Kräfte vermögend ein System, d. i. objektiv ein solches Ganzes zu gründen, welches subjektiv zur Möglichkeit einer synthetisch allgemeinen Erfahrung zusammenstimmt" (1,541,1-4). Kant nennt diesen Beweis aus der Übereinstimmung des Ätherbegriffs mit den Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung einen indirekten Beweis, denn ein direkter Beweis würde schon in die Physik gehören (1,546,6-29). Ferner wird der Beweis als subjektiv bezeichnet (1,226,1-3). Doch hat man das Resultat des Beweises, nämlich den Ätherbegriff, von nun an als objektiv zu betrachten. So darf Kant auch sagen, daß sich der Äther in der Erfahrung bewährt, obzwar nur indirekt, d. h. mittelbar (1,537,15-17). Die Ähnlichkeit dieser Argumentation mit der Transzendentalen Deduktion in der K.d.r. V. ist auffallend, denn auch dort wird die objektive Gültigkeit subjektiver Begriffe durch den Hinweis auf die Notwendigkeit, sie a priori für die Möglichkeit der Erfahrung vorauszusetzen, bewiesen. Der zweite Schritt in Kants Argumentation erfolgt unter Bezugnahme auf die dynamische Theorie der Materie. Dadurch, daß Materie als die Wirkung von bewegenden Kräften und nicht etwa im Rückgriff auf verschiedenartige Atome erklärbar ist, kann sie als homogen angesehen werden. Da nun aber die bewegenden Kräfte der Materie auf dem Äther beruhen - stellt doch der Äther ein Elementarsystem der bewegenden Kräfte der Materie dar (1,539,5-9) - wird der Äther somit zur Bedingung der Möglichkeit der Homogenität der Materie. Und weil eine homogene Materie in einer einheitlichen Wahrnehmung erfaßbar ist, gilt der Äther als eine Bedingung der Möglichkeit der Einheit der Erfahrung. Der Ätherbegriff und der Begriff der Einheit der Erfahrung sind so eng verbunden, daß Kant meint, der Atherbegriff folge aus dem Begriff der Einheit der Erfahrung nach dem Prinzip der Identität (1,600,23-28). Anders gesagt, gehören alle Erfahrungen, d. h. Wahrnehmungen deshalb zu einer möglichen Erfahrung, weil ein Ganzes der Materie als äußeres Sinnenobjekt gegeben ist. So behauptet Kant: "Wir würden gar keine Einheit äußerer Erfahrung haben, wenn wir nicht die Existenz eines solchen Stoffs voraussetzten und implizit unserem Begriff von Erfahrung zu Grunde legten
Der Äther und die transzendentale Deduktion ..." (1,592,23-25). Der Begriff der Einheit der Erfahrung hat objektive Realität, denn er muß "vor allen Erfahrungen als formales Prinzip, d. i. a priori im Verstande vorhergehen ..., um die Verknüpfung derselben (der Erfahrungen), die eine Gesamtheit ist, möglich zu machen. Diese Basis liegt in dem Vorstellungsvermögen des Subjekts; weil dieses aber auf die Einheit des Ganzen möglicher Erfahrung überhaupt zuerst bezogen wird und die Erfahrungsvorstellungen nicht anders als in dieser Form ins Gemüt kommen können, so hat der Begriff von dieser Einheit (des Wärmestoffs als Basis der bewegenden Kräfte der Materie) auch objektive Realität ..." (1,574,21-575,5). Die Atherdeduktion steht mit den im ersten Teil des O. p. erreichten konkreten naturwissenschaftstheoretischen Ergebnissen in keiner besonderen Beziehung; diese werden weder bestätigt noch abgelehnt. Trotzdem wäre es völlig verfehlt zu meinen, daß Kant mit der Ätherdeduktion wenig Fortschritt in Richtung einer necessiios consequet/s macht, weil etwa jetzt der Äther zu einem bloß formalen Prinzip wird, das nur die Möglichkeit einer Erfahrung sichert. Der Atherbegriff dient zwar auch als bloß formaler Begriff, doch handelt es sich hier um eine andere Art der Formalität als in der K.d.r.V., nämlich um eine solche, die schon 25 Im Materialen vorliegt . Zum Schluß sollten wir noch bemerken, daß der Äther als eine naturwissenschaftliche Hypothese, die empirisch zu bestätigen wäre, aus der Naturwissenschaft im Laufe des 19. Jahrhunderts völlig verschwand, während Kants Gebrauch des Atherbegriffs, nach dem der Äther grundsätzlich nicht in der Empirie erweisbar ist und nur als ein naturwissenschafts25 Anscheinend übersieht Hoppe diese Tatsache, denn er will die Ätherdeduktion wegen ihrer Orientierung am Formalen der Erfahrung, nur als einen Durchgangspunkt gelten lassen. Er meint, daß Kant bei der Xtherdeduktion nicht nach dem fragt, "wie denn die Form der einigen Erfahrung mit der Möglichkeit einer objektiven empirischen Erkenntnis zusammenhängt" und demzufolge auch nicht sagen kann, "wie im einzelnen eine objektive empirische Erkenntnis möglich ist" ( 1 1 0 ) . Wenn man aber einmal versteht, daß Erfahrung im O.p. ganz anders aufgefaßt wird als in der K . d . r . V . , so wird man einsehen, daß die Xtherdeduktion kein Durchgangspunkt ist, sondern ein wichtiger Bestandteil der transzendentalen Deduktion des O.p. Ob letztlich die transzendentale Deduktion des O.p. die Notwendigkeit der einzelnen Erkenntnisse begründen kann, werden wir im Abschnitt 3.3.8 diskutieren.
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theoretisches Mittel benutzt werden kann, keine nennenswerte Anhänger und Nachfolger zu finden vermochte.
3.3.2. Die bewegenden Kräfte und die transzendentale Deduktion Die transzendentale Deduktion des O. p. stellen wir am besten durch einen Vergleich mit der transzendentalen Deduktion der K.d.r. V. dar. Zunächst gibt es einige sehr auffällige Ähnlichkeiten, wie z. B. die folgende: "Wir können auf keine andere Art die Verkettung der Dinge als Ursache und Wirkungen und die nach derselben geordnete Welt denken, als daß wir ein solches System uns selbst durch unsere eigene Vernunft konstruieren und dadurch allein ist es auch nur möglich, diese Verkettung als wirklich anzuerkennen" (1,146,15-19). Diese offensichtlich auf die Kategorie der Kausalität bezogene Stelle könnte man auch in der K.d.r.V. antreffen, doch für das O.p. ist sie eher untypisch. Während in der K.d.r.V. die Kategorien, als die allgemeinsten Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung bewiesen werden, handelt es sich im O. p. um die wesentlich spezifischeren, d. h. inhaltsreicheren Begriffe der Verhältnisse der bewegenden Kräfte zueinander, die außerdem nicht als die notwendigen Bedingungen der Erfahrung überhaupt, sondern als die notwendigen Bedingungen der Erfahrung im Sinne von Wahrnehmungen erwiesen werden sollen. Doch ist Kants Verfahren im O. p. demjenigen der transzendentalen Deduktion der K.d.r.V. ähnlich. In der K.d.r.V. spricht Kant von einer natura materialiter spectata als dem Inbegriff aller Erscheinungen, im O. p. wird etwas spezifischer von Wahrnehmungen als Wirkungen der bewegenden Kräfte der Materie die Rede sein (11,377,5-6). Um zur Erfahrung im Sinne von empirischer Erkenntnis zu gelangen, ist die Idee einer Vollständigkeit erforderlich, die nur In bezug auf ein System garantiert werden kann. In der K.d.r.V. sind die Kategorien vollständig, im O. p. muß es ein System der a priori gedachten bewegenden Kräfte geben (11,377,9-10). Sollen wir aber die bewegenden Kräfte sicher und vollständig erkennen und in einem System darstellen, so müssen wir selbst Urheber der Begriffe sein, die die bewegenden Kräfte als wirkende Ursachen enthalten (1,490,19-23). Kant redet in diesem Zusammenhang oft von einem Hineinlegen, denn "wir können die bewegenden Kräfte der Materie zum Behuf der Möglichkeit der Erfahrung ... nicht
Das Subjekt
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anders ausheben und analytisch einteilen, als nur insofern wir sie selbst hineingelegt haben und zwar als in einem System derselben ..." (11,345,9-12). Er benutzt dabei auch den auf die Zweideutigkeit des Erfahrungsbegriffs anspielenden Ausdruck "nicht aus der
Erfahrung, son-
dern für die Erfahrung und die Möglichkeit derselben in einem empirischen Ganzen als System der Physik hineinlegen" (11,317,1-3; vgl. II, 390,11-12). Ohne das Hineinlegen gäbe es nur "ein Aggregat der Wahrnehmungen (Objekte der empirischen Vorstellungen mit Bewußtsein)" (II, 390,5-6), denn die Materie hat keine Absichten, "als wozu der Verstand gehört" (1,186,20), und eine Erfahrung im Sinne von empirischer Erkenntnis kann nicht einfach der Inbegriff von Kräften sein (1,631,4-5) und auch nicht ein empirischer Begriff, der aus Wahrnehmungen erzeugt wird (11,364,28). Dasjenige, was hineingelegt wird, nennt Kant ganz allgemein die Form der Erfahrung (11,377,16; 11,390,10) oder das Formale der Verbindung der Erscheinungen zu einem Ganzen der Physik (11,309, 15-16). Wie schon erwähnt, geht es bei der From der Erfahrung im O. p. nicht um die Kategorien, wie in der K.d.r. V., sondern um einen "Akt des Gemüts ..., die Begriffe von den bewegenden Kräften der Materie in einem System zu verknüpfen" (1,631,7-B), oder genauer, um die Verhältnisse der bewegenden Kräfte untereinander (11,310,18-20).
3.3.3. Das Subjekt Wichtig bei der transzendentalen Deduktion im O. p. ist die Rolle des Subjekts, denn dieses bestimmt die Form der Erfahrung, d. h. die Verhältnisse der bewegenden Kräfte der Materie untereinander.
In diesem
Sinne beschreibt Kant den Übergang zur Physik als "die Vorherbestimmung der inneren aktiven Verhältnisse des die Wahrnehmungen als zur Einheit der Erfahrung zusammenstellenden Subjekts" (11,337,5-8). Am deutlichsten wird der subjektive Charakter der Begriffe der Verhältnisse der bewegenden Kräfte zueinander durch die Idee der Se/bstaff/z/erung zum Ausdruck gebracht. Dieser Begriff kommt schon zweimal in der K.d.r.V. vor, nämlich in der Transzendentalen Ästhetik und in der Transzendentalen Deduktion. An der ersten Stelle heißt es, daß sich das Subjekt durch die Form der Anschauung affiziert: "Die Form der Anschauung, welche, da sie nichts vorstellt, außer sofern etwas im Gemüte gesetzt
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wird, nichts anders sein kann als die Art, wie das Gemüt durch eigene Tätigkeit, nämlich dieses Setzen seiner Vorstellungen, mithin durch sich selbst affiziert wird, d. i. ein innerer Sinn seiner Form nach" (B 67-68). In der transzendentalen Deduktion bestimmt der Verstand den inneren Sinn: "[Er] übt unter der Benennung einer transzendentalen Synthesis der Einbildungskraft diejenige Handlung aufs passive Subjekt, dessen Vermögen er ist, aus, wovon wir mit Recht sagen, daß der innere Sinn dadurch affiziert werde" (B 153-4). Diese Art von Selbstaffizierung, nämlich die Bestimmung des inneren Sinnes durch den Verstand, ermöglicht es Kant u.a., zu erklären, warum das Subjekt sich selbst nicht erkennt, wie es an sich selbst ist, sondern nur wie es sich erscheint. Er geht dabei von der Analogie zwischen dem inneren und dem äußeren Sinn aus. Wenn wir zugeben, daß wir die Objekte im Raum nur insofern erkennen, "als wir äußerlich affiziert werden", so müssen wir auch vom inneren Sinn zugeben, "daß wir dadurch uns selbst nur so anschauen, wie wir innerlich von uns selbst affiziert werden". Demzufolge erkennen wir uns selbst nur als Erscheinung, nicht wie wir an uns selbst sind (B 156). Im O. p. nimmt Kant den Ausdruck "Selbstaffizierung" wieder auf, scheint ihn aber dabei, zumindest auf ersten Blick, in mehreren verschiedenen Weisen zu benutzen26 . Wir lassen uns hier auf keine längere Analyse dieses Begriffs ein, versuchen aber, den Zentralgedanken, der all den verschiedenen Gebrauchsweisen gemeinsam ist, herauszuheben. Anschließend wollen wir uns überlegen, welche Relevanz dieser Begriff für unser Thema hat. Als erstes bedeutet der Begriff der Selbstaffizierung, daß sich das Subjekt nur als Erscheinung, und nicht wie es an sich selbst ist, erkennt. Dies entspricht der transzendentalen Deduktion der K.d.r.V.; nur 26 In seinem Werk "Kants O.p." (248-297) findet Adickes, daß der Begriff der "Selbstaffektion" in dreifacher Bedeutung benutzt wird und zudem noch mit den "vom empirischen Ich im Gehirn hervorgerufenen Gegenbewegungen" verknüpft ist. Eine ausführliche Analyse der Arbeit von Adickes würde uns zu weit von unserem Thema wegführen. M. E. ist diese Interpretation unnötig kompliziert und analytisch, und es fehlt ein Versuch, die verschiedenen Bedeutungen von "Selbstaffektion" unter einen Oberbegriff zu bringen. Die späteren Kommentatoren, die sich mit dem Selbstaffizierungsbegriff auseinandersetzten (z. B. Hübner, Hoppe) erwähnen Adickes kaum - sicherlich nicht zu Unrecht.
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wird im 0. p. meist noch die zusammensetzende Tätigkeit des Subjekts zum Ausdruck gebracht. So sagt Kant, daB sich das zusammensetzende Subjekt selbst in der Zusammensetzung nach Prinzipien erscheint (11,368,1-2; 11,359,3-7) oder: "Das Subjekt affiziert sich selbst und wird ihm selbst Gegenstand in der Erscheinung in der Zusammensetzung der bewegenden Kräfte zur Begründung der Erfahrung als Bestimmung eines Objekts als durchgängig bestimmten ... Dinges" (11,364,4-27). Dabei ist wesentlich, daß sich das Subjekt in der Erfahrung im Sinne von Wahrnehmung erkennt. Mit dem Begriff der Selbstaffizierung will Kant gerade auf seinen dritten Schritt in den Bereich des Empirischen hinweisen. Jetzt ist das in der Wahrnehmung Gegebene durch die Tätigkeit des Subjekts, nämlich durch das Zusammensetzen der Begriffe der bewegenden Kräfte, bestimmt. Das Subjekt fällt sozusagen auf die eigene Tätigkeit zurück und wird von eigener Tätigkeit affiziert. Demnach sind Wahrnehmungen "Wirkungen, welche das Subjekt über sich selbst ... ausübt" (11,395,4-5). "Das Materiale der Sinnenvorstellung liegt in der Wahrnehmung, d. i. in dem Akt, wodurch das Subjekt sich selbst affiziert" (11,502,12-13); ferner heißt es, daß sich das Subjekt durch "empirische Data" (11,405,28-29), durch "empirisch gegebene Kräfte" (II, 390,22-24) affiziert. Wenn Kant schreibt: "Der Akt, durch welchen das Subjekt sich selbst in der Wahrnehmung affiziert, enthält das Prinzip der Möglichkeit der Erfahrung" (11,387,26-27), will er selbstverständlich nicht sagen, daß das Ganze der Wahrnehmung auf die Tätigkeit des Subjekts zurückführbar ist. Es sind vielmehr nur die Verhältnisse der bewegenden Kräfte untereinander, die vom Subjekt in die empirische Anschauung hineingelegt 27 werden . So heißt es: "Das Prinzip der Idealität der Gegenstände der 27 Hoppe sagt hier mit Recht, daß das Subjekt darauf angewiesen ist, daß ihm etwas Empirisches im Experiment gegeben wird, sonst brauchte es keine Experimente. Mit den soeben zitierten Stellen bekundet er aber große Mühe (und bestreitet ihre Bedeutung mit der Behauptung, sie seien in der Minderzahl), weil sie anzudeuten scheinen, daß das Ganze der Wahrnehmung vom Subjekt stammt ( 1 2 2 ) . Dabei übersieht er gerade, daß hier Kant mit Nachdruck darauf hiweist, daß das neue Formale im Materialen liegt. Im übrigen orientiert sich Hoppes Interpretation des Begriffs der Selbstaffizierung - wie schon sein ganzes Verständnis der Ubergangsbegriffe - sehr stark am Experiment. So meint er von Selbstaffizierung, daß sie das tatsächliche Hineinlegen der Form der Erfahrung und zwar vermittels des Experimentes sei. Weiter
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Sinne, als Erscheinungen, nach welchem wir die empirische Vorstellung selbst machen, nach welchem das Subjekt sich selbst affiziert und das wahrnimmt, was es selbst in der empirischen Anschauung (Wahrnehmung) hineingelegt hat und seiner Vorstellung Urheber ist" (11,477,20-24). Hier spricht Kant von einer Selbstaffizierung durch die Wahrnehmung. Zugleich sagt er aber, daß etwas - wohl die Verhältnisse der bewegenden Kräfte untereinander - in die Wahrnehmung hineingelegt wird. Dies bedeutet, daß nur die Form, nicht aber das Materiale der empirischen Anschauung vom Subjekt erzeugt wird 28 . An einer zweiten Stelle wird Kant vielleicht noch deutlicher, denn dort sagt er ausdrücklich, daß sich das Subjekt nicht durch Erfahrung im Sinne des Empirischen, sondern durch die Form der Erfahrung affiziert: "Die erste Frage der Physik ist: Was sind das für bewegende Kräfte der Materie, welche subjektiv die Wahrnehmungen ausmachen, die zur Möglichkeit der Erfahrung gehören? Sie sind die Akten der Autonomie, wodurch das Subjekt sich selbst affiziert in der empirischen Anschauung und der Zusammensetzung der Phänomene der Wahrnehmung seiner eigenen Handlung, gemäß einer Form, die a priori, also nicht durch Erfahrung, sondern für sie zum Behuf derselben von Ihm gegeben ist" (11,404,10-16). Hier wird auch klar, daß sich die Zweideutigkeit des Erfahrungsbegriffs, der wir in der K.d.r.V. begegnet sind, wegen der Verschiebung
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heißt es: "Durch das Experiment schafft das Subjekt sich nämlich erst die Möglichkeit, auf Objekte bezogene Wahrnehmungen zu erhalten, und von Selbstaffizierung kann hier deshalb die Rede sein, weil die äußere Affektion nicht bloß für sich allein die Erkenntnis eines Gegenstandes im Experiment hervorbringt, sondern weil diese Affektion mitbedingt ist durch die Form des Experiments, die selber aber eine Wirkung des Subjekts ist, und weil das Subjekt tatsächlich ein Experiment auch anstellen muß, d.h. sich zur Wahrnehmung erst bestimmen muß, bevor Wahrnehmungen ihm gegeben werden können" ( 1 2 5 ) . Nun gibt es zwar Stellen, an denen Kant tatsächlich Selbstaffizierung und Experiment in Verbindung bringt (z. B. "Sich selbst zu affixieren und so durch Observation und Experiment von dem Objekt Kenntnis zu erhalten" - 11,350,22-23), aber verglichen mit der großen Menge des über Selbstaffizierung Gesagten sind sie sehr selten und keineswegs repräsentativ. Hoppes Ueberbetonung des Experimentes verkennt, daß Hineinlegen und Selbstaffizierung auch im begrifflichen Teil der Naturwissenschaft eine wichtige Rolle zu spielen haben, macht doch das Experiment, auch wenn in der Naturwissenschaft unentbehrlich, nicht das Ganze der Naturwissenschaft aus (siehe auch 3.3.7). Vgl. Hübner (212-213).
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des Formalen ins Materiale jetzt auf den Wahrnehmungsbegriff überträgt. "Wahrnehmung" kann also entweder Form der Wahrnehmung, die wir selbst hineingelegt und von der wir affiziert werden, oder das empirisch Gegebene der Wahrnehmung, von dem wir ohne ein vorheriges Hineinlegen affiziert werden, heißen. Demzufolge sollte man diejenigen Stellen, an denen Kant von einer Selbstaffizierung durch die Wahrnehmung spricht, so verstehen, daß sich das Subjekt nur durch die Form der Wahrnehmung affiziert. Mit dieser Auslegung sind auch die anderen Gebrauchsweisen des Begriffs des Selbstaffizierung vereinbar. Mit einer zweiten Bedeutung von Selbstaffizierung knüpft Kant an seine Äußerungen in der Transzendentalen Ästhetik an, wobei es zu einer nicht unerwarteten Sinnverschiebung kommt. Während in der K.d.r. V. nur von einer Selbstaffizierung durch die Form des inneren Sinnes die Rede ist, affiziert sich das Subjekt im O. p. auch durch die Form des äußeren Sinnes: "Das Subjekt setzt sich selbst durch die synthetische Sätze a priori, durch die Formen sinnlicher Anschauung Raum und Zeit, da das Subjekt Kräfte ausübt, dadurch es sich selbst affiziert und es zu Erscheinungen bestimmt" (11,70,20-23, ähnlich 11,409,11-17; 11,411,24412,3; 11,413,11-20). Der Einbezug des Raumes überrascht deshalb nicht, weil der Raum seit den M.A. und der zweiten Auflage der K.d.r.V. eine Aufwertung erlebt, die im O. p. fortgesetzt wird29 . Weiter wird betont, daß sich das Subjekt noch durch den Verstand und seine Tätigkeit affiziert. Man kann dies auch so verstehen, daß der Verstand das Mannigfaltige synthetisiert, d. h. die Wahrnehmungen, die nicht gemacht, sondern gegeben werden (11,497,15-16), systematisch verbindet: "Die Wahrnehmung des Objekts ist das Bewußtsein der bewegenden Kraft des Subjekts selbst, nicht insofern es affiziert wird, sondern sich selbst affiziert, d. i. durch den Verstand das Mannigfaltige der Erscheinung unter ein Prinzip ihrer Zusammensetzung bringt, welches der Grund der Möglichkeit der Erfahrung, d. i. der systematischen Verbindung der Wahrnehmungen ist" (11,456,14-19, auch II,3ßO, 13-17). Selbstverständlich steht die Selbstaffizierung durch die reinen Anschauungsformen in keinem Widerspruch zur Selbstaffizierung durch den Verstand. Ganz im Gegenteil ergänzen sich diese zwei Arten von Selbstaffizierung und stellen gemeinsam die notwendigen Bedingungen der Mög29 Vgl. Hübner (213-214).
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lichkeit der Erfahrung dar. Kant sagt, daß sich das Subjekt ein Gegenstand einerseits der Anschauung (dabi/e), anderseits des Denkens ist (11,449,26-28). Demnach ist "der erste Akt des Vorstellungsvermögens, wodurch das Subjekt das Mannigfaltige seiner Anschauung setzt und sich selbst zum ... Gegenstande macht, ... eine synthetische Erkenntnis a priori des Gegebenen (dobi/e) ... als Formalen der Anschauung und des Gedachten in der Zusammensetzung dieses Mannigfaltigen (cogitobi/e), insofern es bloß als Erscheinung dem Formalen der Anschauung nach a priori vorstellbar ist" (11,452,1-7, auch 11,18,17-24; 11,119,10-15; 11,417,18-21). Die Ähnlichkeiten mit der K.d. r. V. sind offensichtlich, auch wenn die Funktion des Verstandes im O. p. eine andere ist als in Kants älterer Arbeit; statt der Kategorien legt der Verstand jetzt die Verhältnisse der bewegenden Kräfte untereinander in die Erfahrung hinein.
3.3.4. Das Apriori und Aposteriori In der transzendentalen Deduktion des O. p. wird das Verhältnis des Apriorischen und Aposteriorischen meist durch die Formulierung Erscheinung der Erscheinung zum Ausdruck gebracht. Eine Erscheinung kann nicht anders als durch Erfahrung gegeben werden, sie macht das Materiale der Physik aus und "betrifft das Mannigfaltige der Materie, deren Zusammenstellung zum Dasein eines Objekts der Sinnenvorstellung erfordert wird" (11,311,27-29; vgl. 11,401,28). Diejenigen Elemente, die nicht aus der Erfahrung, sondern für ihre Möglichkeit in sie hineingelegt werden, sind "die Begriffe a priori von der Einheit in der Zusammenstellung als dem Grunde der Möglichkeit eines Systems [der bewegenden] Kräfte" (II, 311,24-27; vgl. 11,401,29-30); Kant nennt sie die "Erscheinung der Erscheinung". Die einfache Erscheinung heißt auch direkte und ist physisch, die Erscheinung der Erscheinung ist indirekt und metaphysisch: "Der Gegenstand einer indirekten Erscheinung ist die Sache selbst, d. i. ein solcher, den wir nur insofern aus der Anschauung herausheben, als wir sie selbst hineingelegt haben, d. i. insofern sie unser eigenes Erkenntnisprodukt Ist" (11,340,25-341,2). Der Ausdruck "Erscheinung der Erscheinung" macht das Vorliegen des Formalen im Materialen sichtbar. In der K . d . r . V . heißt nur der Gegen-
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stand der Empfindung "Erscheinung" - im Gegensatz zu den apriorischen Begriffen. Jetzt versteht Kant unter Erscheinung auch "das subjektive Prinzip der Zusammensetzung empirischer Vorstellungen in einem Aggregat der bewegenden Kräfte der Materie des Körpers vor dem System derselben" (11,334,20-22), und zwar deshalb, weil wir dieses subjektive Prinzip (d. h. die Übergangsbegriffe) in die Wahrnehmung hineingelegt haben und es uns in der Wahrnehmung als Erscheinung affiziert. Weiter will Kant mit dem Ausdruck Erscheinung der Erscheinung klarmachen, daß sich die Verhältnisse der bewegenden Kräfte der Materie genau, wie die anderen apriorischen Begriffe - nicht in der dem Subjekt gegenüberstehenden Natur (natura materialiter spectata) vorfinden, sondern vom Subjekt hineingelegt werden müssen. Dies sieht man schon am engen Zusammenhang des Ausdrucks "Erscheinung der Erscheinung" mit dem Begriff der Selbstaffizierung , bei dem die Tätigkeit des Subjekts unverkennbar ist: Die Zusammenstellung, die die Erscheinung der Erscheinung Ist, ist zugleich auch die "Vorstellung des Formalen, wie das Subjekt sich selbst nach einem Prinzip affiziert und sich als selbsttätig Objekt ist, welches nicht wiederum empirische Vorstellung des Gegenstandes und Erscheinung, sondern Erkenntnis a priori des Sinnengegenstandes ist" (11,333,28-334,3; auch 11,326,5-11). Für den Physiker ist die Erscheinung der Erscheinung Sache an sich selbst und er stellt sie der Erscheinung gegenüber: "Was metaphysisch betrachtet bloß zu Erscheinungen gezählt werden muß, das ist in physischem Betracht Sache an sich selbst (Erscheinung der Erscheinung) und kann als bloßes Formale der Verknüpfung a priori erkannt werden. Der zur Physik gehörende Begriff von Erscheinungen (die noch vom Schein unterschieden werden müssen), sind die Data der Sinnenvorstellung, worauf die bewegenden Kräfte beruhen" (11,329,14-19). Für den Metaphysiker ist das Ding an sich, wie schon in der K.d.r.V., völlig unerreichbar und darf mit der vom Subjekt bewirkten synthetischen Tätigkeit nicht verwechselt werden. Um dieser Unterscheidung Nachdruck zu verleihen, macht Kant eine Amphibolie der Reflexionsbegriffe geltend, die darin besteht, daß man "das, was die Natur bewirkt, die Erscheinung Im Subjekt, für einerlei mit dem nimmt, was dieses Subjekt tut, d. i. die Verknüpfung der empirischen Vorstellungen zu einem Ganzen genommen mißdeutet und als Ding an sich nimmt, 30 Vgl. Hübner ( 2 1 3 ) .
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mithin das Formale der Erscheinung für das Materiale des Gegenstandes selbst, und was das Subjekt zum Behuf der Möglichkeit der Erfahrung hineinlegt, die Form, für das nimmt, was in dem Sinnenobjekt selbst angetroffen wird (die Materie)" (11,322,1-7)31. Der Ausdruck Erscheinung der Erscheinung soll auch zu Kants Klärung des Objektivitätsbegriffs, den wir jetzt erörtern werden, beitragen.
3.3.5. Objektivität Wie schon in der K.d.r.V., hat der Objektbegriff im O. p. zwei ganz verschiedene Bedeutungen. Einmal bezeichnet Kant untechnisch mit dem Wort "Objekt" Sachen außer uns, ähnlich wie wir dies in der vorphilosophischen Umgangssprache machen. Der Kommentator sähe es gern, wenn Kant hier das Wort "Gegenstand" benutzt hätte, doch liegt gerade hier eine Schrift vor, in der Kant keine große terminologische Konsequenz zeigt. So bezeichnet er einmal das Material zum System der bewegenden Kräfte, d. h. die empirischen bewegenden Kräfte selber als objektiv: "Naturforschung 1. subjektiv in unseren eigenen Begriffen a priori der Form nach, oder 2. objektiv zum System der bewegenden Kräfte material" (11,174, 13-15). Ein anderes Mal wird der durch die Sinne gegebene Inbegriff der Gegenstände der Erfahrung, was also der natura materialiter spectata der K.d.r.V. entsprechen dürfte, als "objektiv" bezeichnet: Das objektive Natursystem "enthält das Materiale der Erfahrung, das Objekt, d. 31 Hoppe (118-121) orientiert sich bei seiner Auslegung des Begriffs der Erscheinung der Erscheinung wieder am Experiment und sagt, daß die Erscheinung der Erscheinung der durch das Experiment erkannte Gegenstand ist ( 1 1 8 f . ) . "Die Einführung des Begriffs Erscheinung von der Erscheinung soll also auf die Unmöglichkeit, im Experiment ein Ding an sich zu erkennen, hinweisen ..." ( 1 2 1 ) . Er begründet dies damit, daß es unzulänglich wäre, einfach zu sagen, daß "erst das formale Prinzip der gedachten Verknüpfung der unmittelbar sinnlichen Erscheinung den Gegenstand konstituiert" ( 1 1 8 ) , denn damit wäre man über die K.d.r.V. nicht hinaus. Aber für Hoppes Interpretation des Begriffs der Erscheinung der Erscheinung gibt es keine einzige Stelle als Beleg, und zudem verkennt ein solcher Versuch die Tatsache, daß das formale Prinzip der Verknüpfung in der K.d.r.V. in den allgemeinen Kategorien besteht, während es sich im O.p. um die wesentlich spezifischeren Begriffe der Verhältnisse der bewegenden Kräfte untereinander handelt.
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1. den Inbegriff der Substanzen, welche als Gegenstände der Sinne schon in der Erfahrung gegeben sind, um sie bloS zu klassifizieren ..." (11,482,7-11; vgl. 11,479,23-24). Diesem Sinne von "objektiv" gegenüber heißt "subjektiv" - ganz im Gegensatz zur heutigen umgangssprachlichen Deutung - dasjenige, was vom Subjekt kommt, nicht aber von diesem oder jenem Subjekt, sondern aus dem transzendentalen Vermögen des Verstandes stammend. Damit ist "das Formale (was überhaupt ein Ding zum Gegenstande der Erfahrung macht)" (11,482,12-13; vgl. 11,243,27) gemeint, oder genauer: das System der Verhältnisse der bewegenden Kräfte zueinander (11,511,18-20). Wenn wir den Gegensatz objektiv-subjektiv in dieser Weise verstehen, dann muß, wie dies schon die Begriffe des Hineinlegens und der Selbstaffizlerung gezeigt haben, das Subjektive den Primat haben, damit die Möglichkeit einer Naturwissenschaft begründbar ist. Der andere Sinn, den der Begriff der Objektivität im O. p. hat, ist vom Gebrauch dieses Wortes in der Transzendentalen Deduktion und der 2. Analogie der K.d.r.V. her zu entschlüsseln. Er kommt viel häufiger vor und ist für unser Thema wesentlich wichtiger. Im Grunde genommen wird etwas als "objektiv" in dieser Bedeutung dann bezeichnet, wenn es nach einer Regel des Verstandes folgt. Ganz allgemein heißt es, schon vor der transzendentalen Deduktion des O.p., auf dem sogenannten losen Blatt 6: "Allen Erfahrungsurteilen und Begriffen liegt immer ein Begriff a priori zum Grunde unter den wir Erscheinungen subsumieren, wenn das Objekt unter eine Art von Dingen subsumiert werden soll" (1,476, 23-25) und spezifischer: "So vielerlei auch die Gegenstände der Physik sein mögen, deren Eigenschaften und Klasseneinteilung man durch Erfahrung (empirisch) kennen lernen muß ... so sind sie doch bloß Phänomene und man muß immer Begriffe von bewegenden Kräften a priori zum Grunde legen, um jene zu ordnen, weil diese das Formale der synthetischen Vorstellungen enthalten, unter dem selbst die Begriffe der Physik allein Erkenntnisse eines Objekts (durch den Verstand) abgeben können" (1,476, 30-477,6). Im zweiten Teil des O.p. werden nun diese Ideen zugespitzt und weiter entwickelt. In der transzendentalen Deduktion wird das Subjektive dem Objektiven in zwei verschiedenen Weisen gegenübergestellt; die Thematik richtet sich nach der Bedeutung des Subjektivitätsbegriffs. Einmal wird "subjektiv" In dem schon oben erwähnten Sinn benutzt, demzufolge es die Tätigkeit des transzendentalen Vermögens des Verstandes bezeichnet. Im
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Kontext der transzendentalen Deduktion des O. p. heißt dann "subjektiv" das Doktrinalsystem der Physik, d. h. die Begriffe der Subordination des Mannigfaltigen empirischer Vorstellungen unter ein Prinzip der Möglichkeit der Erfahrung (11,500,6-9); damit sind wiederum die Verhältnisse der bewegenden Kräfte zueinander gemeint. Das Problem, mit dem es Kant jetzt zu tun hat, steht in Analogie zur Aufgabe der transzendentalen Deduktion der K.d.r. V. Dort ging es darum, die objektive Gültigkeit der Kategorien zu erweisen, hier muß die Objektivität der Übergangsbegriffe bewiesen werden. Das Verfahren ist ähnlich; in beiden Fällen wird nämlich die objektive Gültigkeit der entsprechenden Begriffe durch den Hinweis auf ihre Notwendigkeit als Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung nachgewiesen. Da aber im O.p. unter Erfahrung etwas anderes verstanden wird als in der K.d.r. V., nämlich Wahrnehmung, und zwar hauptsächlich solche von empirischen bewegenden Kräften, heißt es jetzt: "Da wir aber, ohne [das Prinzip des Formalen der Vereinigung der bewegenden Kräfte der Materie] zum Grunde zu legen, keine Erfahrung über das Verhältnis der bewegenden Kräfte der Materie anstellen könnten, so ist ein solches System auch objektiv hinreichend gegründet ..." (11,196,3-6). Anders gesagt, haben die Übergangsbegriffe die Funktion der Synthesis des Mannigfaltigen der empirischen Vorstellungen und sind genau aus diesem Grund objektiv: "Das Formale einer solchen Verknüpfung des empirischen Mannigfaltigen unter dem Prinzip dieser Zusammensetzung macht das Subjektive derselben objektiv und a priori zu einem Ganzen derselben in der Erfahrung, well das Empirische derselben zu einem System der Wahrnehmungen unbedingt, mithin notwendig verbunden ist" (11,368,21-26). Wenn aber jetzt die Übergangsbegriffe wegen ihrer Apriorität als objektiv bezeichnet werden, so kann man dieser Bedeutung des Objektivitätsbegriffs eine andere Deutung von "subjektiv" gegenüberstellen, die an Kants Ausführungen in der 2.Analogie der K.d.r.V. direkt anknüpft. Dort heißt "objektiv" dasjenige, was nach einer Regel des Verstandes folgt; für das bloß Subjektive ist keine solche Regel vorhanden. In Kants Nachlaßwerk wird der Gegensatz objektiv-subjektiv erwartungsgemäß mittels der Begriffe von bewegenden Kräften spezifiziert: "Die objektiven Prinzipien der Gesetze für die bewegenden Kräfte der Materie sind die, welche a priori durch die Vernunfteinteilung aller solchen möglichen aktiven Verhältnisse dem Formalen nach gegeben sind. Die subjekti-
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ven sind die der [empirischen] Mechanik, nach welchen wir diese Kräfte in Bewegung setzen und empirischen Ursprungs, mithin für die Physik geeignet. Die ersteren für den Übergang von den metaphysischen Anfangsgründen zur Physik" (11,242,17-23). Die Abhängigkeit des Objektivitätsbegriffs von einer Tätigkeit des Verstandes wird durch die Idee des Hineinlegens in die Erfahrung unterstrichen: "Physik ist ... die empirische Erkenntnis als Wissenschaft und nur das, was wir in diesen comp/exus nach Begriffen hineinlegen (die Verbindung der Wahrnehmungen zu einem Ganzen der Erfahrung), ist ihr Objekt" (11,298,11-14; ähnlich 11,309,13-19). Ohne die Regel des Verstandes würden wir nur herumtappen und könnten keine Erfahrung zusammenstellen: "Wäre nicht das Objekt der Physik als System bewegender Kräfte gedacht, so würde in der Naturforschung ... nie bestimmt werden können, was und wie viel empirisch zusammengelesen werden müßte, um [ zur] Physik ... angemessen zu gelangen" (11,314,7-12). Weiter spielt die Idee des Voranstellen eines Verstandesbegriffs beim Objektivitätsbegriff eine Schlüsselrolle: "Vor der empirischen Erkenntnis des Zusammengesetzten als eines solchen geht der Begriff des Zusammensetzens, welcher a priori aus dem Verstand hervorgeht, voraus, und dadurch wird allein das Objekt bestimmt" (1,639,6-11). Übrigens zieht sich die Idee, daß ein Begriff benötigt wird, damit wir ein Objekt erkennen können, durch das Ganze der Kantischen Schriften. Die einfachste Formulierung finden wir in der Logik: "Sieht z. B. ein Wilder ein Haus aus der Ferne, dessen Gebrauch er nicht kennt: So hat er zwar eben dasselbe Objekt [untechnisch gebraucht] wie ein Anderer, der es bestimmt als eine für Menschen eingerichtete Wohnung kennt, in der Vorstellung vor siehe Aber der Form nach ist dieses Erkenntnis eines und desselben Objekts in beiden verschieden. Bei dem Einen ist es bloße Anschauung, bei dem Anderen Anschauung und Begriff zugleich" (IX, 33, 17-22). Im O. p. veranschaulicht Kant den Gedanken, daß ein Objekt nur dank einem vorangestellten Begriff erkennbar ist, in den zwei folgenden Beispielen: "Wir würden nämlich kein Bewußtsein von einem harten oder weichen, warmen oder kalten ... Körper als einem solchen haben, wenn wir nicht vorher uns den Begriff von diesen bewegenden Kräften der Materie (der Anziehung und Abstoßung, oder der diesen untergeordneten der Ausdehnung oder des Zusammenhängens) gemacht hätten und nun sagen können, daß eine oder die andere derselben unter diesen Begriff gehöre"
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(11,341,3-9). "So 1st z. B. der Bergkrystall In der Klassifikation der Minerallen eine Spezies von der Gattung der Steine, d. i. harter, spröder, vorher flüssiger, nun durchsichtiger und in eine gewisse Figur und Textur regelmäßig gebildeter Körper, dessen Erzeugung wir uns als auch aus einer Materie besonderer Art entstanden denken. Nun macht der Verstand durch die Beschreibung, welche doch nicht Erklärung ist ..., dennoch aus dem empirischen Stoff den Begriff von einem durch Anziehung verbundenen und durch Abstoßung der Veränderung der Figur kräftigen Widerstand leistenden durchsichtigen Körper: Und fügt zum Materialen der empirischen Anschauung das Formale der Erfahrung" (11,341,19-342,2). Damit 1st Kant jetzt auch bereit, das für ihn schwerwiegendste Problem der Physik, wie nämlich "das Subjektive der Wahrnehmung der bewegenden Kräfte zugleich als das Objektive der Verknüpfung derselben zur Gründung der Erfahrung" gelten kann (11,297,17-19), anzusprechen. In der Terminologie der Prol. geht es dabei um die Frage, wie man von Wahrnehmungs- zu Erfahrungsurteilen gelangen kann, d. h. wie das empirisch Gegebene an objektiver Gültigkeit gewinnen kann. Im Rahmen der K.d.r.V. und der Prol. erreicht man nur eine allgemeine Notwendigkeit, do h. eine necessitas consequentiae, Im O. p. besteht jetzt die Hoffnung, eine völlige inhaltliche Notwendigkeit, d. h. eine necessitas consequentis, zu erreichen. Wie weit die transzendentale Deduktion des O.p. diese Hoffnungen erfüllen vermag, zeigt die Stelle 11,384,1-18, an der wohl eine der am besten ausgearbeiteten Antworten des Nachlaßwerks auf die gestellte Frage zu finden ist. Kant geht dort davon aus, daß die Physik alle empirischen Vorstellungen In einem System nur dann vereinigen kann, wenn ihre Form, d. h. das Verhältnis der bewegenden Kräfte a priori, vom Subjekt in die empirische Anschauung a priori hineingelegt und diese somit "in der Erscheinung gegeben" wird. Die Form der Naturwissenschaft wird also empirisch vorgestellt ("die unmittelbare Sinnenvorstellung intuitus"), obwohl sie für streng wissenschaftlich gelten kann ("zum Erfahrungsobjekt gezählt werden könne"), weil sie ja "von dem Subjekt selbst gemacht (also mittelbar per conceptus) und a priori gedacht" wird. Kant stellt fest, daß "die Empfindung, welche die selbsteigene Wirkung des wahrnehmenden Subjekts ist, in der Tat nichts anderes, als die sich selbst zur Zusammensetzung bestimmende bewegende Kraft ist, und die Wahrnehmung äußerer Gegenstände nur die Erscheinung der Automatie der Zusammenfügung, der das Subjekt affizierenden bewe-
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gerieten Kräfte selbst ist". Eine ähnliche Lösung dieses Problems formuliert Kant auch im Zusammenhang mit dem Begriff der Erscheinung einer Erscheinung. Dieser ermöglicht die Umwandlung des Subjektiven ins Objektive dadurch, daß das Subjektive a priori vorgestellt wird: "Um das Empirische gleichwohl doch nach Prinzipien a priori, als einem System gehörend, aufzustellen und zu klassifizieren, müssen die Sinnengegenstände zuerst als in der Erscheinung nach dem Subjektiven der Form Ihrer in Raum und Zeit zusammenzustellenden Vorstellungen (phoenomena) gedacht werden; denn nur die Form der empirischen Anschauung kann a priori gegeben werden. Da Ist aber die Verknüpfung des Mannigfaltigen der Wahrnehmung selbst wiederum dem Subjekt bloß Erscheinung, dem Objekt nach aber Erscheinung von der Erscheinung und darum der Erfahrungsgegenstand selbst, woraus dann die Möglichkeit a priori des Übergangs von den metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft zur Physik mit den Wahrnehmungen der Gegenstände als zum System gehörend und die Möglichkeit einer Physik erklärt wird" (11,363,26-364,4). Der Fortschritt zu einer necess/tos consequent/s zeigt sich hier gerade darin, daB Kant nicht mehr die Bedingungen der Möglichkeit einer Erfahrung überhaupt aufzulisten versucht - so wäre er nämlich von den Gesetzen der Physik noch zu weit entfernt. Er befaßt sich jetzt mit eigentlichen Wahrnehmungen, die möglicherweise entweder schon als Gesetze der Naturwissenschaft fungieren oder zu solchen führen können, und versucht zu zeigen, daß ihnen schon apriorische Begriffe zugrunde liegen, die das Subjekt selbst in die Wahrnehmung hineingelegt hat, und die den Gesetzen der Naturwissenschaft ihre Objektivität zu verleihen vermögen. Ob nun der in dieser Weise begründete Übergang allen empirischen Gesetzen und Begriffen der Naturwissenschaft eine völlige necess/tos consequents tatsächlich auch garantieren kann, soll für jetzt als eine offene Frage gelten, mit der wir uns im letzten Abschnitt dieses Kapitels befassen werden. Auf jeden Fall werden wir im O. p. vergeblich nach einer weitergehenden Lösung des Problems der Objektivität der Physik suchen.
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3.3.6. Der Erfahrungsbegriff im O.p. Der Begriff der Erfahrung, der schon in den M. A. etwas genauer gefaßt wurde, gewinnt im O.p. noch an weiterer Bestimmung. Doch will Kant mit der K.d.r.V. keineswegs völlig brechen. Erfahrung im Sinne von empirischer Erkenntnis kann nur aufgrund von Gesetzen stattfinden (11,36, 21-23). Es gilt immer noch, daß die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung zugleich auch die Bedingungen der Möglichkeit des Objekts der Erfahrung sind (11,472,9-14), und auch Kants wiederholte Behauptung, daß wir Erfahrung ansteilen müssen, ist mit der Lehre der K.d.r.V. gut vereinbar. Dem O.p. eigentümlich sind zwei Dinge. Erstens brauchen wir nach der hier entwickelten Auffassung nicht nur die Kategorien, sondern auch die Verhältnisse a priori von bewegenden Kräften, um eine Erfahrung machen zu können (1,627,11-12). Zweitens ist jetzt "Erfahrung" im Sinne von Wahrnehmung zu verstehen. Dementsprechend verhält es sich mit der von Kant schon im Zusammenhang mit der Ätherdeduktion aufgestellten Forderung nach Einheit der Erfahrung, die im O.p. eine - vom Standpunkt der Naturwissenschaftstheorie betrachtet - weitaus genauere Bedeutung als in der K.d.r.V. gewinnt. Die Einheit der Erfahrung wird nach wie vor mit dem Systematischen verknüpft, das verhindern soll, daß wir bloß "isolierte Vorstellungen als gesetzloses Aggregat" erhalten (1,537, 1-2). Im O.p. handelt es sich aber beim Systematischen nicht mehr um die Kategorien, sondern um die Begriffe der Verhältnisse der bewegenden Kräfte untereinander, die nicht eine Erfahrung überhaupt, sondern die Wahrnehmung bestimmen sollen: "Nun ist die absolute Einheit möglicher Erfahrung zugleich die Einheit des gesamten Stoffs, mithin auch der die äußeren Sinne bewegenden Kräfte der Materie. Also liegt schon im Begriffe der Einheit der Erfahrung a priori (vor allem Empirischen als Aggregat der Wahrnehmungen) der Begriff eines Systems agitierender Kräfte der Materie als in die Erfahrung notwendig gehörend" (1,595, 19-596,4). Man kann also sagen, daß die "bewegenden Kräfte der Materie ... in allgemeiner aktiven Verbindung unter einander" stehen und "objektiv ein System derselben" darstellen (11,610,16-20), und das Ganze Einer Erfahrung als die Basis eben dieses Systems der bewegenden Kräfte gilt (1,597,4-10).
Vom Naturkörper zum menschlichen Leib
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Ebenso wie der Erfahrungsbegriff muß auch der Ausdruck "transzendental" im O. p. anders verstanden werden. Nach der Definition der K.d.r. V. heißt alle Erkenntnis transzendental, "die sich nicht sowohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen, sofern diese a priori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt" (A 11-12/B 25). Da nun die Erkenntnisart der Gegenstände im O. p. nicht nur durch die Kategorien, sondern auch durch die spezifischeren Begriffe der Verhältnisse der bewegenden Kräfte untereinander bestimmt wird, muß jetzt das Wort "transzendental" entsprechend spezifischer aufgefaßt, nämlich auf die Bedingungen der Möglichkeit der Wahrnehmung bezogen werden.
3.3.7. Vom Naturkörper zum menschlichen Leib. Einige Gedanken zu den interpretatorischen Ansätzen von Hübner und Hoppe Bevor wir zu unseren Schlußbemerkungen zu Kants Theorie der physikalischen Gesetze übergehen, wollen wir einige Äußerungen im O.p., die in eine andere Richtung deuten als das bereits untersuchte Material, und denen von einigen Kommentatoren große Bedeutung zugeschrieben wird, in Betracht ziehen. Die hier zu behandelnde Problematik geht von dem zur Physik gehörenden Körperbegriff aus, führt aber dann über die als Zwischenstufe dienenden Begriffe der Maschinen und organischen Körper bis 32 zum menschlichen Leib . Wir wollen in diesem Abschnitt zeigen, daß die hier vorkommenden Begriffe, vor allem der des menschlichen Leibs, einerseits als ein Ausdruck der Verschiebung des Formalen ins Materiale zu verstehen sind, da jetzt das Subjekt auch ein Teil des Materialen, ein physikalisches Wesen ist, daß sie anderseits die im 1. Konvolut zur Sprache gebrachten, wegen Kants Alter und Krankheit jedoch nicht mehr genügend ausgearbeiteten Ideen des Weltsystems und Gottes ankündigen . Wir wollen aber auch darauf aufmerksam machen, daß es sich hier, entgegen der Meinung von Hübner und Hoppe, kaum um einen zentralen Gedan32 Wir stellen das Material so vor, als ob es sich um ein kontinuierliches Argument handelte, bei dem jeder nachfolgende Schritt aus den vorhergehenden Prämissen gefolgert werden könnte. In der Tat sind die unten im Text untersuchten Stellen des O.p. durch das Nachlaßwerk verstreut. Man sollte unsere Bemühungen also eher als einen Rekonstruktionsversuch verstehen. 33 Vgl. Lehmann (321 f f . ) .
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kengang Kants handeln kann, sondern eher um isolierte Versuche, die zu keinen konkreten Ergebnissen führen können. Wir haben schon oben erwähnt, daß Kant im O.p. häufig nicht nur den allgemeinen Begriff der Materie, wie in den M.A., sondern auch den spezifischeren Körperbegriff berücksichtigt. Ermöglicht wird dies dadurch, daß Kant jetzt außer den zwei allgemeinsten bewegenden Kräften der Anziehung und Abstoßung auch weitere, bewegenden Kräfte anerkennt, "ohne die ... keine Körper (d. h. keine durch innere bewegende Kräfte sich selbst begrenzende Materie) gebildet" wären (1,512,5-7). Naturkörper zeichnen sich gerade dadurch aus, daß sie ihre Form in Figur und Textur durch eigene bewegende Kräfte bestimmen (1,565,19-24). Wichtig für die Weiterentwicklung der vorliegenden Thematik ist die Tatsache, daß die den Körper bestimmenden bewegenden Kräfte nicht wahllos zusammengestellt sind, sondern ein System ausmachen; 't Ein] jeder einzelner Körper [ist] schon für sich ein System bewegender Kräfte der Materie" (1,630,23-24). Warum es sich hier um ein System handelt und wie das System genau aussieht, wird zunächst nicht weiter erklärt, sondern erst in den Ausführungen zum Maschinenbegriff deutlicher gemacht. Eine Maschine kann als besonderes Beispiel eines durch ein System der bewegenden Kräfte bestimmten Körpers gelten, mit einem vermutlich höheren Grad von Ordnung. Nicht nur setzen Maschinen zu ihrer inneren Möglichkeit bewegende Kräfte der Materie voraus (II,229,22-24n.), sie werden zudem von Kant als organisierte Wesen bezeichnet, in denen "ein jeder Teil um des anderen willen da ist" (1,184,10-13). Da aber das Resultat dieser gegenseitigen Abhängigkeit der Teile voneinander ein funktionsfähiges Dasein ist, haben wir es schon bei den Maschinen mit Endursachen zu tun. Weil der Zweck jedes Teiles auch in der Maschine auf das Gesamte hinzielt, deutet Kant die Ausdrücke "Organisation" und "Organismus" als einander verwandt und subsumiert Maschinen unter den Oberbegriff des Organismus (1,186,1-6). Damit hängt auch zusammen, daß nur Körper und nicht Materie der Einteilung "organisch-unorganisch" unterzogen werden können (1,193,6-12), denn nur bei Körpern kann sinnvollerweise von einem abgegrenzten System sich gegenseitig unterstützender Teile die Rede sein. Der nächste Schritt führt Kant auf den Begriff des Leibs. Eigentlich sollte der Einbezug dieses Begriffs in den Übergang, angesichts der Tatsache, daß apriorische Begriffe nun zunehmend ins Materiale eingrei-
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fen, nicht überraschen. Wenn schon Wahrnehmung durch das neue Formale, d. h. durch die Begriffe der Verhältnisse der bewegenden Kräfte, bestimmt wird, dann muß es ebenfalls berechtigt sein, das körperliche Subjekt, das wahrnimmt, physikalisch zu thematisieren. So heißt es: "Physik ist Erfahrungswissenschaft von dem Inbegriff (comp/exus) der bewegenden Kräfte der Materie. Diese Kräfte affizieren auch das Subjekt, den Menschen und seine Organe, weil dieser auch ein körperliches Wesen ist. Die inneren, dadurch in ihm bewirkten Veränderungen mit Bewußtsein sind Wahrnehmungen: Die Reaktion auf die Materie und äußere Veränderung derselben ist Bewegung" (11,298,23-28). Kant knüpft damit an die Forderung der M. A. an, derzufolge durch Bewegung allein die Sinne affiziert werden können (IV,476,11-12). Jetzt sind es allerdings nicht nur die Sinne, sondern der ganze Körper; und das Subjekt erkennt auf diese Weise nicht nur Bewegung, sondern auch die empirisch gegebenen bewegenden Kräfte: "Wir würden die bewegenden Kräfte der Materie selbst nicht durch Erfahrung an Körpern erkennen, wenn wir nicht unserer Tätigkeit uns bewußt wären, die actus der Abstoßung, Annäherung, etc. selbst auszuüben, wodurch wir diese Erscheinungen apprehendieren" (1,490,24-27; ähnlich 11,326,30-327,2; bezüglich Schwere 1,55,1-6). Zu einer stärkeren Verbindung der Physik und des Körpers, analog zur Verflechtung der Physik und Wahrnehmung, kommt es allerdings nicht. Es bleibt seitens des Subjekts der Übergangsbegriffe beim Hineinlegen in die Wahrnehmung. Ein ähnliches Hineinlegen dieser Begriffe in die eigenen Körperhandlungen wird nicht thematisch. Daß Kant selber wahrscheinlich kein besonders klares Bild von der Rolle des Leibbegriffs hatte, bezeugt die folgende Stelle, an der er im Gegensatz zum soeben Zitierten - die implizite Annahme zu machen scheint, daß die durch Körperbewegung gewonnenen Erkenntnisse einen anderen Stellenwert einnehmen, als aus der Wahrnehmung stammende Erkenntnisse: 't Wir] können ... uns durch Bewegung, es sei der Betastung unseres eigenen Körpers, oder auch Hände, Bewegung im Räume um uns selbst zum Erfahrungsgegenstande und zwar diesen a priori machen, ohne seine Existenz von der Wahrnehmung zu entlehnen ..." (1,594,18-21n.). Daß wir beim Raum, was seine Form betrifft, nicht auf Wahrnehmung angewiesen sind, zeigte Kant schon in der Transzendentalen Ästhetik. Aber die Idee, daß hier Körperhandlungen ausschlaggebend sein sollten, die uns im Gegensatz zu Wahrnehmungen apriorische Erkenntnisse liefern
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könnten, ist befremdend. Die Handlungen unseres Körpers an anderen Körpern müßten ja schon deshalb als a posteriori gelten, weil wir mittels ihrer allein nie sicher sein könnten, daß die Resultate, die ein- oder auch mehrmals eingetroffen sind, auch in allen übrigen Fällen zu finden sein werden. Dies wäre nur dann möglich, wenn Körperbewegungen durch apriorische Begriffe fixiert wären, was jedoch - wie schon erwähnt nicht der Fall ist. Es sieht aber überhaupt so aus, daß der Leibbegriff auf einer völlig anderen Ebene liegt als die im Vorherigen untersuchten Übergangsbegriffe. Schon der Einbezug in die Physik von Maschinen und (anderen) Organismen mit ihren Endursachen, die jetzt als eine Art von bewegenden Kräften gelten, deutet dies an. Dasselbe zeigt auch die Tatsache, daß der Begriff der organischen Natur nur problematisch gilt (1,184,14-18), und daß wir seine Möglichkeit nicht denken könnten, "wenn nicht die Erfahrung dergleichen an die Hand gäbe" (11,401,12-15). Und es ist gerade das Beispiel des eigenen Körpers, an dem das Organische begreiflich wird: "Das Bewußtsein unserer eigenen Organisation als einer bewegenden Kraft der Materie macht uns den Begriff des organischen Stoffs und die Tendenz zur Physik als organischem System möglich" (1,190,1-3). Der Ausdruck "Tendenz zur Physik als (organischem) System" und der Gebrauch von "Endursachen" ruft eigentlich viel eher die Einleitung zur K. d. U. bzw. das Kapitel über den regulativen Gebrauch der Vernunft in der K.d.r. V. in Erinnerung; und die Vermutung liegt nahe, daß die Begriffe der Maschinen, der organischen Natur und des Leibs nur von regulativem Gebrauch sind. Dies wird auch an Kants Versuch sichtbar, Endursachen als bewegende Kräfte zu verstehen. Denn der Begriff der bewegenden Kräfte wird sonst nur in seinem physikalischen Sinne benutzt, nimmt jetzt aber eine ganz andere, nämlich eine außerphysikalische Bedeutung an. Kant selber war sich der Diskrepanz, die zwischen den hier thematischen und den anderen Übergangsbegriffen besteht, offensichtlich wohl bewußt. Er zögerte sehr lange, bis er sich endlich im Elementarsystem 1-6 entschloss, die organische Natur in den Übergang einzubeziehen. Zusätzlich muß noch betont werden, daß von den in diesem Abschnitt thematischen Begriffen nur gerade derjenige des Naturkörpers eine wichtige Rolle im O. p. spielt. Maschinen und organische Natur, so wie sie im Zusammenhang mit Endursachen vorkommen, werden weit weniger diskutiert, und der menschliche Leib wird im Ganzen des O.p. kaum mehr als
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ein dutzendmal erwähnt. Schon aus diesem Grund müssen wir die Interpretationen von Hübner und Hoppe, in denen dieses Randthema zum Zentralpunkt gemacht wir, mit etwas Skepsis betrachten. Wir werden jetzt die beiden Auslegungen etwas näher untersuchen. Hübner (205) sagt zunächst mit Recht, daß in der K.d.r.V. das Subjekt als Zuschauer vorgestellt wird und daß, obwohl Erscheinungen untereinander als notwendig kausalverknüpft verstanden werden, der Kausalzusammenhang zwischen Subjekt und Objekt nicht ausdrücklich erwähnt wird. Richtig ist auch, daß der Ursachebegriff in der K.d.r.V. nicht genau bestimmt ist und erst die 2. Auflage die Möglichkeit von Bewegung und damit auch bewegender Kräfte als Ursachen andeutet (206) . So kann das 0. p. als eine Fortsetzung einer in der K. d. r. V. bereits vorhandenen Tendenz gesehen werden. Fraglich wird Hübners Interpretation erst dort, wo er von einer transzendentalen Deduktion des Leibes als Organismus redet. Er meint, daß eine solche Deduktion durch den Beweis erfolgen würde, daß ein zweckmäßiges Handeln eine notwendige Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung ist. Hübner stellt sich die Deduktion wie folgt vor (217): Wir müssen deshalb Organe haben, weil sie uns die bewegenden Kräfte vermitteln, und das zweckmäßige Bewegen des Leibes ermöglicht Erfahrung. Planmäßig muß es deshalb vor sich gehen, weil sonst Wahrnehmungen wahllos einströmen würden. So ist unser Leib für Erfahrung zweckmäßig, und wir bewegen ihn notwendig nach Begriffen, was die Vorstellung des Leibes a priori als Organismus rechtfertigt. Mit der Betonung, daß Handeln nach Begriffen erfolgen muß, versucht Hübner den von uns oben angeführten Zweifeln an der Apriorität der Begriffe der körperlichen Tätigkeit zuvorzukommen. Allerdings scheint es hier bloß bei der schwer zu rechtfertigenden Behauptung zu bleiben. Es ist auch 34 Wenn Hübner schreibt, daß Kant in der K.d.r.V. bestritten hätte, daß der apriorische Begriff der Ursache zugleich eine räumlich bewegende Kraft sei, weil Bewegung empirisch sei, dann ist dies nicht ganz zutreffend. Da der Ursachebegriff den Begriff der Veränderung braucht, der ja auch empirisch ist, können wir Hübners Argument nur in der im Text vorkommenden abgeschwächten Form akzeptieren. 35 Hübner redet hier stets von der Widerlegung des Idealismus, als ob es die einzige Stelle in der 2.Aufläge der K.d.r.V. wäre, an der Kant die Bedeutung des Räumlichen hervorhebt. In der Tat geschieht dies auch schon in der revidierten Version der Transzendentalen Deduktion, vor allem aber in der Allgemeinen Anmerkung zum System der Grundsätze.
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zu berücksichtigen, daß sich praktisch alle Übergangsbegriffe nicht auf den menschlichen Leib oder seine Beziehung zu anderen Körpern, sondern ausschließlich auf die Natur um uns richten. So wäre aber für Hübner der größte Teil des O. p. völlig irrelevant. Im weiteren glaubt Hübner, daß Kant die Leibdeduktion an der folgenden Stelle vollzieht: "Das Doktrinale in der Naturforschung überhaupt setzt ein organisches Prinzip der bewegenden Kräfte in allgemeinen Prinzipien der Möglichkeit der Erfahrung im Subjekt voraus" (11,373,1-4). Man kann hier zweierlei einwenden. Erstens steht diese Stelle recht vereinzelt da, was ihren Wert, angesichts der Tatsache, daß Kant im O. p. alles Bedeutsame unzählige Male wiederholt, vermindert. Zweitens ist hier aber überhaupt nicht sicher, daß der Ausdruck "ein organisches Prinzip der bewegenden Kräfte ... im Subjekt" wirklich vom Leib handelt, statt einfach das System der Verhältnisse der bewegenden Kräfte untereinander zu bezeichnen. In diesem Falle sollte die Stelle eher unter dem Titel "Selbstaffizierung" stehen. Da es also an überzeugenden Belegen fehlt, können wir Hübners Interpretation, trotz ihrer Konsequenz und Eleganz, nicht akzeptieren. Wie schon verschiedentlich gesagt, orientiert sich Hoppe bei seiner Interpretation sehr stark an der Rolle des Experiments, das er letztlich mit dem Begriff des Leibes verknüpft. Er geht davon aus, daß Naturerkenntnis nur durch eine Wechselbeziehung des Subjekts und der Natur entstehen kann, denn das Subjekt soll, seiner Meinung nach, die Natur zu einer Agitation verursachen, die ihrerseits die Wahrnehmungen im Subjekt hervorruft. Das Subjekt übt diese Tätigkeit mit seinem Körper aus und zwar dadurch, daß es Experimente anstellt (129). Die Vollendung des Übergangs schildert Hoppe mit den folgenden Worten: "Daß wir, um Objekte zu erkennen, real auf die Natur einwirken, was wir durch das Experiment stets auch können, um deren bewegende Kräfte für die auf ein Objekt bezogene Wahrnehmung zu mobilisieren, stellt sich als die stets mögliche Realisierung der Forderung dar, daß die zunächst bloß gedachte Form des Objekts auch tatsächlich ein Objekt bestimmt ... Indem [ das Subjekt] die bewegenden Kräfte der Materie zur Agitation erregt, legt es vermittels des Experiments die Form des Gegenstandes in die Erfahrung hinein, und so, durch das Experiment, das selber die eigentliche Objektivierung der zusammensetzenden Tätigkeit des Subjekts darstellt, finden also die Formen des Subjekts ihre Realisierung, im Experiment selber erweist sich ihre Gültigkeit für die Erfahrung von empirischen
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Gegenständen" (132-133). Abgesehen von der Tatsache, daß sich weder die Hervorhebung der Rolle des Leibes, noch die Betonung des Experiments mit dem Großteil des O. p. vereinbaren lassen, kann in Hoppes Lösung nicht die Vollendung des Übergangs und eine Garantie für die Objektivität der Physik gesehen werden. Er läßt völlig außer acht, daß die vom Subjekt im Experiment hervorgerufene Agitation in der Natur nur die empirischen bewegenden Kräfte betrifft, das Objektive aber begrifflichen Charakters ist und Im Verstand des Subjekts seinen Ursprung hat. So bleibt aber erstens die Kluft zwischen dem Apriorischen und dem Aposteriorischen nach wie vor bestehen. Das Experiment allein gibt keine Sicherheit, daß die formalen Verhältnisse der bewegenden Kräfte untereinander auf das Empirische tatsächlich anwendbar sind. Zweitens ist in der Physik gerade nur dasjenige objektiv, was a priori aus dem Verstande stammt, nicht aber das empirisch Gegebene. Hoppe übersieht, daß das neue Formale im Materialen liegt, die Übergangsbegriffe jetzt die empirische Anschauung bestimmen, und wir demzufolge die Form des Gegenstandes nicht erst ins Experiment, sondern schon in die Wahrnehmung hineinlegen.
3.3.8. Die Physik Wie wir schon mehrmals angetönt haben, besteht die Physik im O. p. aus zwei Teilen, dem reinen oder formalen und dem empirischen oder materialen, die man besonders in der zweiten Hälfte des Nachlaßwerks deutlich zu unterscheiden hat. Der reine Teil besteht aus Übergangsbegriffen, durch die nicht das Ganze der Physik ein für alle Mal festgelegt, sondern nur die allgemeinen Bedingungen der Möglichkeit der empirischen Physik bestimmt werden sollen (11,309,6-10), die es uns dam erlauben, an die Natur heranzugehen und ihre Erscheinungen zu erfassen und einzuordnen . Der reine Teil kann vollständig entwickelt werden (1,486, 21-24), denn man folgt hier Begriffen a priori (11,496,19-28), die "die Verknüpfung [der bewegenden Kräfte] zu einem System" angeben (11,311, 1). Die Voraussetzung des reinen Teils liefert unter Beistand der oben besprochenen Begriffe der Selbstaffizierung, des Hineinlegens und Her36 Vgl. Hoppe (137).
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aushebens usw. die Erklärung, wie die Physik als Wissenschaft möglich ist: "Diese Frage, welche das Subjektive, nämlich den Gegenstand in der Erscheinung, wie das Subjekt affiziert wird, in das Objektive der Erfahrung, welche Einheit des Aggregats empirischer Vorstellungen in seinem Begriffe enthält, geht von dem Grundsatze aus: Daß der Verstand aus dem Aggregat der Wahrnehmungen als einem Ganzen der Erfahrung als System nicht mehr herausheben kann, als wie viel er selbst hineingelegt hat und wir die Erfahrung nach einem formalen Prinzip der Zusammensetzung der empirischen Vorstellungen selbst machen ..." (11,361,25362,3). Man wird hier wohl auch verstehen, warum Kant im zweiten Teil des 0. p. den Übergang nicht mehr als bloße Propädeutik, die nur regulativ wäre, sondern als ein "konstitutives formales a priori bestehendes Prinzip der Naturwissenschaft zu einem System" bezeichnete (11,240,2528; auch 11,178,30-31; 11,241,27-242,19). Der Übergang macht einen Teil der Physik aus und hat auf die physikalischen Gesetze einen unmittelbaren Einfluß. Als bloß regulativ eingestuft, könnte der Übergang höchstens methodische Anweisungen geben, mehr aber nicht. Der empirische Teil der Physik hat zwar auch Materie überhaupt, sofern sie bewegende Kraft hat, zum Gegenstand, doch ist er nur auf Erfahrung gegründet und seine Gesetze sind bloß empirisch (1,307,24-26). Dieser Teil der Physik kann nie ganz vollendet sein, sondern "[bleibt] im Fortschreiten durch Observation und Experiment" (11,298,3-5; vgl. 1,466,21-24; 11,496,19-28). Er ist kein System, sondern fragmentarisch (11,325,13-14; 11,326,24-26). Deshalb ist auch ein von der Erfahrung abgeleiteter Satz "mehr ein Experiment als Experienz und mehr Observation als sicheres Bewußtsein" (11,495,29-31). Sehr anschaulich wird die Unmöglichkeit einer sicheren Erkenntnis durch Erfahrung an der folgenden Stelle gemacht: "Aber ein Prinzip der Annäherung des Fortschrei tens 37 Hier liegt eine Stelle vor, an der sich Kant bezüglich seiner Terminologie sehr nachlässig zeigt. Er bezeichnet beide Teile oft nur mit dem Oberbegriff Physik; ob er den empirischen oder reinen Teil im Sinn hat, wird erst aus dem engeren Zusammenhang ersichtlich. Vermutlich war es gerade diese Verwirrung, die Adickes dazu verleitete, Kant als einen übertriebenen Rationalisten zu kritisieren. In "Kants O.p." ( 2 1 0 ) behauptet Adickes, daß Kant die Physik als vollendet verstand; in der Tat gilt dies nur vom reinen, nicht aber vom empirischen Teil der Physik. Daß man Kant mit einem gewissen Recht doch als "übertriebenen Rationalisten" bezeichnen kann, werden wir weiter unten zeigen, aber unsere Gründe sind andere als die von Adickes.
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zur Erfahrung durch unbestimmbar wieviel aufgesammelte Wahrnehmungen (vermittelst Observation und Experiment) in einem Aggregat, berechtigt noch nicht zum Ausspruch: 'Dies oder jenes lehrt die Erfahrung 1 (denn das empirische Urteil als ein solches kann doch nie als apodiktisch vorgestellt werden)". Als Beispiel nennt Kant die Untersuchung zehn verschiedener Mischungen, "die zum Niederschlag einer Auflösung nach chemischen Regeln gehören". Wenn man aber "das Experiment gleichsam schon zur Demonstration (um noch mehrere Versuche überflüssig zu machen) gediehen zu sein wähnt, so kann man im elften, wo z. B. etwa ein unbemerkt auf die Instrumente wirkender Einfluß der Luftelektrizität im Spiel ist, wegen des Erfolgs nicht immer die Gewähr leisten" (11,449,320). Im Laufe des O.p. bemüht sich Kant immer wieder um eine Festlegung dessen, was zum reinen und was zum empirischen Teil der Physik gehören soll. So dürfte z. B. das viel besprochene Starrwerden zum reinen Teil gehören, aber die Tatsache, daß dieses Geschehen eine "Mannigfaltigkeit des Gefüges und Gestalten" ergeben kann, ist nur empirisch feststellbar (11,232,11-20). Auch bezüglich der Gravitation wird angetönt, daß sie aus der Erfahrung stammt: "Gravitation, welche zwar aus der Erfahrung geschöpft, aber von der, daß sie Anziehung sei, wie Newton zuerst behauptete, doch nur problematisch war, wo doch ein so/fus gemacht werden mußte, nämlich zum Behuf eines Systems etwas anzunehmen ..." (11,454,26-455,2). Daß von einem empirischen Teil der Physik, der - anscheinend im Gegensatz zu Kants Ausführungen über die Physik in den M. A. (IV,470) keine eigentlich so genannte Wissenschaft sein kann, die Rede ist, hängt damit zusammen, daß Kant den Ausdruck "Physik" im O.p. wesentlich breiter auffaßt als in den M. A. Dies wird schon an der soeben zitierten Stelle 11,449,2-20 deutlich, als Kant die Chemie zum empirischen Teil der Physik zählt. Einmal sagt Kant "Physik (z. B. Beobachtungen der Chemie)" (1,363,3-4), ein anderes Mal soll sogar die ganze Chemie zur Physik gehören (1,288,5). Aber auch die Biologie wird vom empirischen Teil der Physik nicht mehr getrennt. Die Klasseneinteilung der Erfahrungsgegenstände, "wovon die methodische, aber empirische Zusammenstellung System der Natur heißt (z. B. nach dem Linnaeus)", wird gerade als Beispiel für den empirischen Teil der Physik genannt (11,496,19-28; II,500,6-16)o
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Wenn wir oben behauptet haben, daß man sich an der Rolle des Experiments in der Kantischen Naturwissenschaftstheorie nicht allzu stark orientieren darf, so heißt dies noch nicht, daß das Experiment zu vernachlässigen wäre. Die empirische Physik gründet sich zum großen Teil auf Experiment und Observation: "Die Physik ist ein System der empirischen Naturforschung, welche nicht anders als durch Observation oder Experiment geschehen, im ersten Fall, wo das Objekt den Physiker, im zweiten, wo der Physiker das Objekt bewegt und in einen anderen Zustand der Wahrnehmung versetzt" (11,299,1-4). Hier zeigt sich auch, in welchem Verhältnis der reine zum empirischen Teil der Physik steht. Im reinen Teil, der a priori sein muß, haben wir es mit den Verhältnissen der bewegenden Kräfte untereinander zu tun. Die Aufgabe des empirischen Teiles ist es, die bewegenden Kräfte selber mittels Observation und Experiment zu erforschen. Dabei muß der reine Teil vorangehen und den Naturforscher leiten; wie es die K.d.r.V. forderte, darf man sich nicht von der Natur am Leitbande gängeln lassen. Der reine Teil bestimmt, wie wir die Experimente anstellen und was wir zu beobachten haben, was relevant ist und als Objekt in Frage kommt und wie man es einordnen soll: "Ehe der Naturforscher die bewegenden Kräfte der Materie ... für die Physik hinstellt, muß er überlegen, wie er die Natur befragen solle, welches er nicht anders, als nach Prinzipien a priori verrichten kann, welche die Bedingungen angeben, unter denen ein Sinnenobjekt ein Gegenstand der Erfahrung, oder vielmehr der Wahrnehmung als Apprehension werden kann. Das Formale der Apprehension muß in der Naturforschung vorangehen" (11,507,19-25). Hoppe (83) behauptet, daß im Experiment "die Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung von Erscheinungen der Natur mit zuvor erdachten, zunächst bloß problematischen Begriffen" feststellbar wird. Zwar hatte Kant gegen den Gebrauch von Hypothesen in der Naturwissenschaft nichts einzuwenden, man muß sich aber darüber klar sein, daß die Übergangsbegriffe wegen ihrer Apriorität nicht als Hypothesen benutzt werden können, weil es sich so zeigen könnte, daß einer von ihnen mit den Erscheinungen nicht übereinstimmt und so keine Geltung hat. Hypothesen sind eine Sache des empirischen Teils der Physik, sie werden zwar unter Leitung der apriorischen Begriffe erdacht, erobern selber aber immer nur den Status von Sätzen a posteriori.
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Obwohl Experiment und Observation unter der Aufsicht der apriorischen Begriffe stehen und der empirische Teil der Physik durch den reinen in der im Abschnitt 3.1.2 angedeuteten Weise wissenschaftlicher wird, bleibt das auf diese Art entdeckte Material immer nur empirisch und damit letztlich fragmentarisch und unvollständig. Die Übergangsbegriffe sind zwar a priori und notwendig, dabei aber doch noch in einem gewissen Maß formal - sie können so eine volle necess/tas consequent/s nicht garantieren, auch wenn sie gegenüber den Begriffen der K.d.r. V. und den M. A. einen wesentlichen Fortschritt in der Richtung auf eine Inhaltsnotwendigkeit darstellen. In der empirischen Physik scheint also von unserer Forderung nach Inhaltsnotwendigkeit gerade nur übrig zu bleiben, daß sie inhaltliche Erkenntnis der Naturvorgänge liefert. Man sieht aber nicht, wie die besonderen Gesetze notwendig, d. h. allgemeingültig sein können. Kants Lösung ist seinen Ausführungen im Kapitel "Von dem regulativen Gebrauch der Ideen der reinen Vernunft" aus der 38 K. d. r. V. und der Vorrede zur K. d. U. verwandt . Obwohl die empirische Physik nie zu einem vollständigen System werden kann, können wir "die realen Gegenstände der Natur nach einem Prinzip [einteilen] und die empirische Naturkunde einem System immer näher ... bringen" (1,477,1113). Das vollständige System der empirischen bewegenden Kräfte bezeichnet Kant demnach als eine bloße Idee (problematischer Begriff), "deren Gegenstände zwar sich zu nähern von der Vernunft aufgefordert wird, sie aber vollständig zu erreichen nicht erwartet werden darf" (1,176,13-21; auch 11,309,27-310,1; 11,497,20-498,8). Die Sinnengegenstände der Physik können nicht a priori gegeben sein, müssen aber als Gegenstände möglicher Erfahrung gedacht werden (11,395,25-27); d. h. es wird ihnen "von der Vernunft eine subjektive Allgemeinheit zugestanden ..., weil, ob sie zwar nicht a priori gegeben sind, ohne die dahin führenden 38 Lehmann hat mit Recht auf den Zusammenhang des Nachlaßwerks mit der K.d.U. hingewiesen, doch seine Behauptung, daß das Elementarsystem der bewegenden Kräfte, der Sther als Strukturprinzip der Materie, die Ableitung der bewegenden Kräfte aus den Akten des wahrnehmenden Subjekts alle in der Linie der K.d.U. liegen ( 2 9 2 ) , geht zu weit. Nach unserem Verständnis des o.p. liegt erst derjenige Teil der empirischen Physik in der Linie der K.d.U., der von den Begriffen des Nachlaßwerks unbestimmt gelassen wird. Lehmann konzentriert sich bei seiner Interpretation allzusehr auf das I.Konvolut, das tatsächlich im Ideenkreis der K.d.U.liegt (vor allem 295-371).
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selbstgemachten Begriffe keine philosophische Naturwissenschaft möglich wäre" (1,177,10-13; vgl. 1,529,4-8). Wir sehen hier also, wie Kant an seine von uns im Abschnitt 1. 3 diskutierten Äußerungen anknüpft. Der Begriff der Notwendigkeit wird auf der Ebene der empirischen Gesetze zu einer regulativen Idee, die den Naturforscher dazu leitet, die empirischen bewegenden Kräfte weiter zu erforschen, damit das System möglichst vollständig wird. Man könnte hier von einer "transzendentalen" Regulation in demselben Sinne reden, wie es Kant in der Dialektik der K. d. r. V. tut, wo die Ideen nicht als konstitutiv, sondern als nur regulativ geltend ausgewiesen werden, d. h. als Anweisungen, die die Methode mitbestimmen und in einer indirekten Weise Ordnung in die Naturforschung bringen. Es wird hier auch klar, daß der Begriff der empirischen Physik nicht nur von der dem O. p. eigentümlichen Idee der Notwendigkeit, sondern auch von den in der Dialektik der K.d.r. V. eingeführten Ideen der Homogenität, Spezifikation und Kontinuität profitieren kann unter der Bedingung, daß diese Ideen als methodologische Hilfsmittel regulativen Charakters verstanden werden.
3.3.9. Schlußbemerkungen Wir wollen uns jetzt kurz überlegen, ob man Kants Suche nach einer necess/tas consequent/s in der Naturwissenschaft als erfolgreich einstufen kann. Es ist klar, daß das 0.p. gegenüber der K.d.r.V. und den M. A. große Fortschritte in der Begründung einer inhaltlichen Notwendigkeit erzielt. Die K.d.r.V. leistet für die besonderen Gesetze relativ wenig: Mit den Kategorien und den reinen Grundsätzen schafft sie nur einen allgemeinen Rahmen, innerhalb dessen die Gesetze formuliert werden dürfen. So kann der Naturwissenschaftler z. B. davon ausgehen, daß jede Suche nach Gesetzen, die einen akausalen Vorgang beinhalten, vergeblich und verfehlt ist. Im Anhang zur Transzendentalen Dialektik (und später noch in der Einleitung zur K. d. U.) wird dem Naturforscher aber noch ein zusätzliches Mittel, nämlich das MItttel der regulativ geltenden Ideen der reinen Vernunft, zur Verfügung gestellt, mit dem er die besonderen Gesetze systematisch ordnen und ihnen eine gewisse Sicherheit gewährleisten kann, auch wenn diese provisorisch bleibt und prinzipiell nicht vervollständigt werden kann. Dieses Mittel findet seinen
Schlussbemerkungen Wirkungsraum im Empirischen, und zwar überall dort, wo die konstitutiven Begriffe selber nicht gelten. In der K.d.r. V. bleibt dieses Gebiet noch recht groß, wird jedoch in den weiteren naturwissenschaftlichen Schriften immer weiter eingeengt. Die M. A. beziehen sich hauptsächlich auf die allgemeinen Voraussetzungen der Newtonschen Physik. Damit wird der Bereich des durch die apriorischen Begriffe unbestimmt Gelassenen zwar etwas eingeschränkt, umfaßt aber dennoch die meisten besonderen Gesetze der Naturwissenschaft. Wie wir in diesem Kapitel bereits gesehen haben, garantieren die z. T. schon recht spezifischen Übergangsbegriffe, vor allem dank der transzendentalen Deduktion, eine Fülle von apriorischen Gesetzen der Natur, die die Verhältnisse der bewegenden Kräfte untereinander festlegen. Damit wird das Empirische und zugleich auch der Geltungsbereich der regulativ zu benutzenden Begriffe weiter eingeschränkt, nicht aber völlig eliminiert. Daß das O. p. unvollendet ist, sieht man schon an der Lösung des Anwendbarkeitsproblems. Ausführlich beschäftigt sich Kant mit dieser Frage in seinem Nachlaßwerk kaum, doch kann man die folgenden Tendenzen festhalten. Die K.d.r.V. formuliert für das Anwendbarkeitsproblem zwei Gesichtspunkte. Einerseits wird die Anwendbarkeit der Kategorien durch die Transzendentale Deduktion garantiert, nach der die Kategorien deshalb auf die Natur anwendbar sind, weil sie als die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung dieser vorangehen. Anderseits kann den Kategorien nur unter der Voraussetzung objektive Realität zugesprochen werden, daß eine entsprechende Anschauung vorliegt (B 291, vgl. unsere Diskussion am Anfang des 2. Kapitels). Auch den Übergangsbegriffen wird ihre Anwendbarkeit, diesmal allerdings auf Wahrnehmung, in einer transzendentalen Deduktion garantiert; ob sie aber, damit sie zu Erkenntnis führen können, eine empirische Anschauung brauchen, ist nicht ganz klar. Einmal sagt Kant: "Der Übergang enthält bloß Begriffe von denkbaren bewegenden Kräften der Materie und Gesetzen derselben, deren objektive Realität noch unausgemacht gelassen wird und ein System von Begriffen der Form nach gründet, welchem man die Erfahrung anpassen kann" (1,309,17-20). Es scheint, daß im ersten Teil des O.p. die objektive Realität durch die Idee der Verwandtschaft garantiert wird, wonach die Übergangsbegriffe deshalb auf die Natur anwendbar sind, weil sie die Verhältnisse der bewegenden Kräfte untereinander bestimmen, die bewe-
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genden Kräfte aber selber empirisch gegeben werden. So bildeten dann die empirischen bewegenden Kräfte das erforderliche Analogon zur Anschauung, die in Verknüpfung mit den apriorischen Begriffen Erkenntnis liefert. Doch handelt es sich hier nicht um eine sorgfältig ausgewählte und klar geregelte Anschauung, wie es beim Bewegungsbegriff der Fall war; und man muß befürchten, daß in dieser Weise keine Erkenntnis entsteht. Der Grund dafür ist darin zu suchen, daß die Idee der Verwandtschaft allein keine Garantie gibt, daß die apriorischen Verhältnisse der bewegenden Kräfte untereinander allen schon vorhandenen und noch zu entdeckenden empirisch gegebenen bewegenden Kräften gerecht werden, d. h. sie wirklich ordnen können 39 . So muß man sich aber ernstlich die Frage stellen, ob nicht die Übergangsbegriffe, damit Ihnen eine korrespondierende Anschauung gegeben werden kann und sie zu Erkenntnis führen können, noch weiterer Übergangsbegriffe bedürfen, die zu ihnen im selben Verhältnis stehen würden, wie die metaphysischen Anfangsgründe zu den Kategorien der K.d.r.V. Vermutlich müßten sich dann die neuen Übergangsbegriffe auch auf die Begriffe der bewegenden Kräfte gründen, diesmal aber auf die empirischen, in denen eine anschauliche Komponente enthalten wäre. Weiter müßte das Anschauliche vorzüglicherweise noch auf reine Anschauung reduzierbar sein, damit es die Forderung der systematischen Ordnung erfüllen würde und leicht mathematisierbar wäre. Doch wäre es umgekehrt falsch, wenn man die Feststellung, daß Kant nicht das Ganze der Naturwissenschaft mit apriorischen Begriffen bestimmt, daß also immer etwas Empirisches übrigbleibt, als ein Zeichen der Schwäche oder sogar des Mißerfolgs deuten wollte. Mit dem Respekt, den Kant der Empirie erweist, bleibt er einem der Grundsätze der kritischen Philosophie, nämlich der Forderung, daß Erkenntnis aus Begriff und Anschauung bestehen muß, treu. Mit einer vollständigen Beseitigung des Empirischen wäre zwar die "Vollendung" des ganzen Ansatzes erreicht, aber nur auf Kosten des Sinnes der Transzendentalphilosophie: Man wäre nämlich gezwungen, einen von Kant stets abgelehnten Idealismus zu akzeptieren. 39 Es sei darauf hingewiesen, daß die transzendentale Deduktion die Idee der Verwandtschaft als Lösung des Anwendbarkeitsproblems überflüssig macht. Vermutlich aus diesem Grund erscheint diese Idee im zweiten Teil des O.p. nicht mehr.
Schlussbemerkungen Letztlich kann der Erfolg des Kantischen Unternehmens durch einen Vergleich mit dem tatsächlichen Stand der Naturwissenschaft bewertet werden. Dies kann unter zwei verschiedenen Gesichtspunkten geschehen. 1) Man untersucht die Funktionsfähigkeit der Kantischen Begriffe in der Physik. Es ist klar, daß sich z. B. die Begriffe der Verhältnisse der bewegenden Kräfte untereinander erst dann der unendlichen Menge der empirisch gegebenen bewegenden Kräfte als gerecht erweisen, wenn sie sich in der Leitung der naturwissenschaftlichen Forschung fruchtbar zeigen. Sollte dem nicht so sein, müßte man die Lehre von den Übergangsbegriffen neu überarbeiten, und das möglicherweise so gründlich, das sie nicht mehr auf die Verhältnisse der bewegenden Kräfte untereinander zu beziehen wäre. Dies läge allerdings dem Kantischen Denken recht fern; für dieses stand fest, daß die Übergangsbegriffe, als apriorische, der Natur des menschlichen Gemütes entsprossen sind und ein für alle Male gelten, ohne daß man sie je verbessern müßte oder könnte. In dieser Hinsicht kann man von einem "übertriebenen Rationalismus" Kants sprechen. 2) Wichtig ist die methodologisch anspruchsvollere Frage, ob die kritische Philosophie die Notwendigkeit naturwissenschaftlicher Gesetze zu erklären bzw. zu begründen vermag. Wie wir gezeigt haben, begründet die Transzendentalphilosophie wohl einige, nämlich die allgemeineren Gesetze in ihrer Notwendigkeit hinreichend, läßt aber die anderen teilweise unbestimmt. Damit bezieht Kant eine mittlere Position zwischen dem Humeschen Empirismus, nach dem physikalische Gesetze überhaupt nicht als objektiv notwendig erwiesen werden können, und einem extremen Idealismus, für den alle Gesetze notwendig sein müssen. Bei der Unübersichtlichkeit der heutigen Naturwissenschaft und der Zerstrittenheit der Theoretiker der Naturwissenschaft läßt sich nicht definitiv sagen, wieweit die Gesetze der Naturwissenschaft den Anspruch auf Notwendigkeit erheben. Doch scheint der Kantische Ansatz mindestens auf den ersten Blick plausibel und aktuell zu sein. So würden z. B. die Grundzüge der atomaren Physik in den Augen der meisten Physiker und vieler Theoretiker der Physik als notwendig gelten, nicht jedoch z. B. Sätze über verschiedene Partikel, die noch nicht völlig erforscht sind. Auch die Idee der ständigen, aber nie vollendbaren Annäherung an die Wahrheit, die Im Kantischen Denken eine so prominente Rolle spielt, findet heute wieder vermehrt Gehör. Somit dürfte der Kantische Ansatz von allen, die
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nicht gerade Anhänger von T. S. Kühn sind, als wertvoll empfunden werden.
ABKÜRZUNGEN
K.d.r.V. K.d.U. M. A. Prol. O. p. Ls. Erkl. Phoron. Dyn. Mech. Phän. Refl.
Kritik der reinen Vernunft Kritik der Urteilskraft Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik Opus postumum Lehrsatz Erklärung Phoronomie Dynamik Mechanik Phänomenologie Reflexion
Alle Zitate aus Kants Werken werden in der Akademieausgabe, hg. v. der (Königlich) Preußischen Akademie der Wissenschaften (ab Band 23 von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin), nachgewiesen. Die römische Zahl bezieht sich auf den entsprechenden Band, die zweite Zahl auf die Seite und die eventuelle dritte auf die Zeile. Die Bände XXI und XXII (das O.p.) werden abgekürzt mit I bzw. II bezeichnet; dort, wo die Zahlen I und II auf Kants vorkritische Schriften verweisen, wird dies ausdrücklich gesagt. Kants Schreibweise wurde modernisiert. Direkten und indirekten Zitaten aus anderen Werken als Kants sind die Seitenzahlen zwischen runden Klammern beigefügt. Dort, wo die Angabe immanenter Gliederungen sinnvoll erschien, wurden diese ebenfalls zwischen runden Klammern unmittelbar nach den Seitenzahlen aufgeführt.
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Von der Gestaltwerdung des Menschen Vorträge und Aufsätze zur Anthropologie und Ethik Herausgegeben von Christel Keller-Wentorf und Martin Repp Groß-Oktav. Ca. 320 Seiten. 1987. Ganzleinen ca. DM 120,ISBN 3 11 010912 3 (im Druck) Aus dem Inhalt: Das theologische Problem der Ethik in der Gegenwart — Naturrecht — Der Mensch in den Religionen und im Christentum — Agape — Freiheit des Christen — Zur theologischen Auffassung des Zeitproblems — Christliche Erwartung jenseits des Todes — Sinn des Lebens.
Wilhelm von Humboldt Vortragszyklus zum 150. Todestag Herausgegeben von Bernfried Schlerath Oktav. VIII, 315 Seiten, 4 Tafeln. 1986. Ganzleinen DM 82,ISBN 3 11 010987 6; Kartoniert DM 42,- (de Gruyter Studienbuch) Die Bedeutung Humboldts für Philosophie, Sprachwissenschaft, Pädagogik, Klassische Philologie und andere Gebiete wird untersucht. Beiträge von W. Knopp, H. Lübbe, H. Flashar, J. Simon u. a. — ferner Auseinandersetzung mit Humboldts Bildungspolitik im Hinblick auf aktuelle Probleme. Prcisändcrungen vorbehalten
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Mach I, Mach II Einstein und die Relativitätstheorie Eine Fälschung und ihre Folgen Goß-Oktav, XV, 474 Seiten. 1987. Ganzleinen DM 188,ISBN 3110108259 Einstein betrachtete Ernst Mach als einen der wichtigsten Wegbereiter der Relativitätstheorie. Deshalb überraschte es allgemein, als in posthumen Werken Machs barsche Ablehnungen der Relativitätstheorie auftauchten. Das Buch weist diese Texte anhand neu aufgefundener Dokumente als Fälschungen nach. Es liefert ferner eine Darstellung der Machschen Wissenschaftstheorie nebst einer Kritik von Machinterpretationen, die auf Machs angebliche Ablehnung der Relativitätstheorie aufbauen.
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Basis und Deduktion Studien zur Entstehung und Bedeutung der Theorie der axiomatischen Methode bei J. H. Lambert (1728—1777) Groß-Oktav. XIII, 194 Seiten. 1979. Ganzleinen DM 78,ISBN 3 11 007932 l (Quellen und Studien zur Philosophie, Band 15) Wissenschaftstheoretische Rekonstruktion des Lambertschen Vorschlags der Einbettung der „einfachen Begriffe" der philosophischen Tradition in Axiomensysteme exakter Wissenschaften. Rekonstruktion der syllogistischen Logikdiagramme Lamberts als eines quasi-mechanisch handhabbaren diagrammatischen Logikkalküls.
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