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German Pages 280 [281] Year 2022
KANT-FORSCHUNGEN
CHRISTIAN RÖSSNER
Kant als Mystiker?
Carl Arnold Wilmans’ »Dissertatio philosophica de simili tudine inter mysticismum purum et Kantianam religionis doctrinam«
Kant-Forschungen
KANT-FORSCHUNGEN Begründet von Reinhard Brandt und Werner Stark Band 28
FELIX MEINER VERLAG HAMBURG
Christian Rößner
Kant als Mystiker ? Carl Arnold Wilmans’ Dissertatio philosophica de similit u din e inter mysticismum purum et Kantianam religionis doctrinam
FELIX MEINER VERLAG HAMBURG
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹https://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-4266-2 ISBN eBook 978-3-7873-4325-6
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Österreichischen Forschungsgemeinschaft und des Bischöflichen Fonds zur Förderung der Katholischen Privat-Universität Linz
© Felix Meiner Verlag Hamburg 2022. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Ver-
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Inhalt Zitations- und Editionshinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Siglenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
Einleitung: Kant als Mystiker? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 I. Kontext: Historische Hintergründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
1. Der Verfasser: Carl Arnold Wilmans . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
2. Die Promotion in Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19
3. Die Korrespondenz mit Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21
4. Die Quellen: Quäker, Quietisten, radikale Reformatoren . . . . . . . . . . 25
5. Die Prüfung der These durch Jachmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 II. Text: Dokumentation von C. A. Wilmans’ Dissertation . . . . . . . . . . . . 57
Edition und Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60/61
Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136
III. Subtext: Systematische Zusammenfassung und Weiterführung . . . . . 199
1. Kants Kritik der Mystik: Das Unding einer übersinnlichen Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199
2. Kants Mystik der Kritik: Die verschleierte Göttin, das Faktum der Vernunft und das Wunder in der Menschennatur . . . . . . . . . . . . . . . 206
Beschluß: „est Deus in nobis“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220
Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279
Zitations- und Editionshinweise Kants Schriften werden unter Verwendung der nachfolgend angeführten, von der Redaktion der Kant-Studien vorgegebenen Siglen und mit Band- und Seitenangabe zitiert nach der von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften begonnenen Ausgabe („Akademie-Ausgabe“: AA), Berlin: De Gruyter 1900 ff.; zusätzlich wird jeweils die Originalpaginierung angeführt; sämtliche Hervorhebungen (auch Fettdruck und Sp e r r u n g e n) entstammen dem Original. Bücher der Bibel werden unter Verwendung der gebräuchlichen, für sich verständlichen Abkürzungen zitiert. Alle anderen Schriften werden bei der ersten Nennung vollständig, anschließend mit Kurztitel angeführt. Die Edition gibt den lateinischen Text von Wilmans’ Dissertatio philosophica nach ihrer ersten und bislang einzigen Druckausgabe (Halle 1797) wieder. (In der Bayer ischen Staatsbibliothek ist ein vollständiges Digitalisat des Textes unter der Adresse: https://reader.digitale-sammlungen.de/resolve/display/bsb10841387.html frei zugänglich.)1 An Stellen, wo aus sachlichen oder sprachlichen Gründen Druckfehler zu vermuten sind, wird die vom Herausgeber konjizierte Lesart als Primärtext präsentiert und die damals gedruckte Variante in einer Fußnote vermerkt. Die Paginierung der Originalausgabe wird am Rand in eckigen Klammern mitgeführt. Die inhaltliche Kommentierung erfolgt über die der Übersetzung als Endnoten beigefügten Anmerkungen.
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Aus dieser Quelle stammt das auf Seite 59 abgebildete Titelblatt.
Siglenverzeichnis Anth
Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (AA VII)
BDG
Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes (AA II)
Br Briefe (AA X - XIII) EaD
Das Ende aller Dinge (AA VIII)
FM
Welches sind die wirklichen Fortschritte, die die Metaphysik seit Leibnizens und Wolff’s Zeiten in Deutschland gemacht hat? (AA XX)
GMS
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (AA IV)
GSE
Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen (AA II)
HN
Handschriftlicher Nachlaß (AA XIV-XXIII)
KK
Versuch über die Krankheiten des Kopfes (AA II)
KpV
Kritik der praktischen Vernunft (AA V)
KrV
Kritik der reinen Vernunft (AA III / IV)
KU
Kritik der Urteilskraft (AA V)
Log
Logik (AA IX)
MAM Mutmaßlicher Anfang der Menschheitsgeschichte (AA VIII) MAN
Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaften (AA IV)
MpVT Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodicee (AA VIII) MS
Die Metaphysik der Sitten (AA VI)
RL Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre
TL Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre
NG
Versuch, den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen (AA II)
OP
Opus Postumum (AA XXI / XXII)
Päd
Pädagogik (AA IX)
Prol
Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik (AA IV)
Refl
Reflexion (AA XIV-XIX)
RGV
Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (AA VI)
SF
Der Streit der Fakultäten (AA VII)
TG
Träume eines Geistersehers, erläutert durch die Träume der Metaphysik (AA II)
TP
Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis (AA VIII)
ÜE
Über eine Entdeckung, nach der alle neue Kritik der reinen Vernunft durch eine ältere entbehrlich gemacht werden soll (AA VIII)
8 Siglenverzeichnis
V-Lo/Blomberg
Logik Blomberg (AA XXIV)
V-Lo/Busolt
Logik Busolt (AA XXIV)
V-Mo/Collins
Moralphilosophie Collins (AA XXVII)
V-Mo/Kaehler(Stark) Immanuel Kant: „Vorlesung zur Moralphilosophie“ (Ed. Werner Stark, Berlin/New York 2004) V-Mo/Mron
Moral Mrongovius (AA XXVII)
V-MP-K2/Heinze
Metaphysik K2 (Heinze) (AA XXVIII)
V-MP-L2/Pölitz
Metaphysik L2 (Pölitz, Original) (AA XXVIII)
V-MP/Mron
Metaphysik Mrongovius (AA XXIX)
V-PP/Powalski
Praktische Philosophie Powalski (AA XXVII)
V-Th/Baumbach
Danziger Rationaltheologie nach Baumbach (AA XXVIII)
V-Th/Pölitz
Religionslehre Pölitz (AA XXVIII)
V-Th/Volckmann
Natürliche Theologie Volckmann nach Baumbach (AA XXVIII)
VJP
Vorrede zu Reinhold Bernhard Jachmanns Prüfung der Kantischen Religionsphilosophie
VT
Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie (AA VIII)
WDO
Was heißt sich im Denken orientiren? (AA VIII)
ZeF
Zum ewigen Frieden (AA VIII)
Einleitung: Kant als Mystiker ?1 Die Frage, die sich mit der titelgebenden in eins stellt und stellen muß, ist sogleich die, ob jene Frage – Kant als Mystiker ? – überhaupt mehr sein kann als eine rein rhetorische. Denn die erste und keineswegs nur vorläufige Antwort auf diese Frage kann ja nur lauten: nein, natürlich nicht. So selbstverständlich ist dies, daß mancher Kantianer wohl allein schon die formulierte Frage als eine Form der Frechheit empfinden und die Chargaffsche Frage: „Ist das Mystik oder Mist, was Sie da reden ?“2 in entsprechendem Verweis auf die Koextensionalität beider Begriffe abschließend beantwortet sehen wird. Erinnert sei also besser gleich zu Beginn daran, was einer der ersten Biographen Kants über des Meisters persönliche Stellung zu allem, was man Mystik nennen oder mit ihr in Verbindung bringen mag, zu berichten weiß. Nachdem nach Kants Ableben 1804 in den Gothaischen Gelehrten Zeitungen in einem Nekrolog – warum auch immer – behauptet worden war, der Dahingegangene habe „einer gewissen feinern Mystik angehangen“,3 beeilt 1
Teile der Einleitung sind bereits publiziert worden im Rahmen der während eines Stipendiums für Aufklärungsforschung am Interdisziplinären Zentrum für die Erforschung der Europä ischen Aufklärung an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg entstandenen Vorstudie „Kant als Mystiker ? Zur These von Carl Arnold Wilmans’ dissertatio philosophica“ (erschienen in: Kantian Journal 37, 3 (2018), 7–30). 2 Erwin Chargaff: Vorläufiges Ende. Ein Dreiergespräch (Cotta’s Bibliothek der Moderne, Bd. 92), Stuttgart 1990, 12. 3 Reinhold Bernhard Jachmann: Immanuel Kant geschildert in Briefen an einen Freund, Königsberg 1804, 116 f.: „Daß ich in allen Werken Kants, welche sich auf Religion beziehen, auch nicht das Mindeste von mystischen Vorstellungen finde, davon habe ich in meiner ‚Prüfung der Kantischen Religionsphilosophie in Hinsicht auf die ihr beigelegte Aehnlichkeit mit dem reinen Mystizismus‘ der gelehrten Welt meine Ueberzeugung vorgelegt. Eben so wenig habe ich in den mündlichen Gesprächen Kants irgend eine mystische Vorstellung bemerkt, und noch weniger in seiner Pflichterfüllung und in allen Verhältnissen seines Lebens irgend ein mystisches Gefühl an ihm wahrgenommen. Ich muß daher dem Nekrolog in dem 19ten Stück der Gothaischen gelehrten Zeitung dieses Jahres, widersprechen, wenn er behauptet: ‚Kant habe einer gewissen feinern Mystik angehangen.‘ Mögen immerhin die Religionsübungen seiner frühern Jugend pietistisch und auch mystisch gewesen seyn, so war doch durch seine nachmaligen Speculationen davon jede Spur verwischt.“ In „Nekrolog. Immanuel Kant.“, in: Gothaische gelehrte Zeitungen auf das neunzehnte Jahrhundert. Neunzehntes Stück, den 7ten März 1804, 169–171: 171 heißt es wörtlich: „Schlicht und fromm war sein Wandel, und, ob er gleich, seinem System nach, derjenigen Mystik nicht huldigte und nicht huldigen konnte, die unmittelbare Berührungen mit der Gottheit für möglich hält, und er jeder Schwärmerei abgesagter Feind war, so neigte sich sein Herz doch zu der echten Mystik oder dem religiösen Sinn und zu einer gewissen Art von Pietismus.“ Vgl. dazu Horst Schröpfer: „Der ‚Nekrolog Immanuel Kant‘ von Schack Hermann Ewald in den Gothaischen gelehrten Zeitungen“,
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Einleitung: Kant als Mystiker ?
sich der getreue Reinhold Bernhard Jachmann (1767–1843) in seinem Immanuel Kant geschildert in Briefen an einen Freund, dieser Unterstellung sogleich mit aller Entschiedenheit entgegenzutreten: „Waren irgend eines Menschen Religionsmeinungen kalte Aussprüche der Vernunft; hat je ein Mensch Alles, was Gefühl heißt, von seinen religiösen Handlungen ausgeschlossen und alle fühlbare Gemeinschaft mit der Geisterwelt […] abgeleugnet; bestand je eines Menschen Gottesdienst blos in einem reinen Gehorsam gegen das Vernunftgesetz und in einer von allem Sinnlichen gereinigten und rein motivirten Pflichterfüllung, so war dies bei Kant der Fall. Will man also nicht mit Worten streiten, will man den Kantischen Ausdrücken […] nicht absichtlich einen andern Sinn unterlegen, als der Verfasser sich dabei dachte, und das aus Gefühlen herleiten, was er einzig und allein auf Vernunft gründete, so wird man auch weder in den Schriften noch in dem Leben Kants irgend etwas Mystisches entdecken. Kant hat sich hierüber auch gegen mich ganz unverholen erklärt und versichert, daß keines seiner Worte mystisch gedeutet werden müsse, daß er nie einen mystischen Sinn damit verbinde und daß er nichts weniger als ein Freund mystischer Gefühle sey. Bei der Gelegenheit tadelte er noch den Hang Hippels zur Mystik und erklärte überhaupt jede Neigung zur mystischen Schwärmerei für eine Folge und für ein Zeichen einer gewissen Verstandesschwäche.“4
Wem der Bericht des Biographen nicht genügt, kann ähnliches auch aus erster Hand erfahren und aus dem weiten Werk etwa einige von Kant brieflich an Ludwig Ernst Borowski (1740–1831) gerichtete Zeilen vom März 1790 herausgreifen, in denen er den „Hang zu der jezt so überhandnehmenden Schwärmerei“5 abhandelt, indem er jeden wie auch immer gearteten Mystizismus, Spiritualismus oder Supranaturalismus kurzerhand als „Unfug“6 abtut und die verträumten Adepten solch gemeingefährlicher Geisterseherei für philosophisch schlechterdings nicht satisfaktionsfähig erklärt: „Weitläufige Widerlegung ist hier wider die Würde der Vernunft und richtet auch nichts aus; verachtendes Stillschweigen ist einer solchen Art von Wahnsinn besser angemessen“.7 in: Robert Theis (Hg.): Themenschwerpunkt: Religion (Aufklärung. Interdisziplinäres Jahrbuch zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte, Bd. 21), Hamburg 2009, 279–285; Horst Schröpfer: Schack Hermann Ewald (1745–1822). Ein Kantianer in der thüringischen Residenzstadt Gotha (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen: Kleine Reihe, Bd. 43), Wien/Köln/Weimar 2015. Reinhard Brandt: Universität zwischen Selbst- und Fremdbestimmung. Kants „Streit der Fakultäten“ (Deutsche Zeitschrift für Philosophie: Sonderband 5), Berlin 2003, 68, Anm. weist, einen Hinweis H. Klemmes aufnehmend, darauf hin, daß schon Gottlob August Tittel: Ueber Herrn Kant’s Moralreform, Frankfurt/Leipzig 1786, 6 „die kantische Mystik“ in den Mund nimmt. 4 Jachmann: Immanuel Kant geschildert in Briefen an einen Freund, 117 ff. 5 Br (AA XI, 141). 6 Br (AA XI, 142). 7 Br (AA XI, 142 f.).
Einleitung: Kant als Mystiker ?
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Abseits der polemischen Distanzierung hat es Kant auch an argumentativer Ausführlichkeit in der Auseinandersetzung mit der Mystik bzw. dem Mystizismus nicht fehlen lassen und zudem an Deutlichkeit der Darstellung wenig zu wünschen übriggelassen. Der „ M y s t ic i s m der praktischen Vernunft“,8 so heißt es denn in der zweiten Kritik, mache das, was im Sinne des symbolischen Anthropomorphismus eben nur zum Symbol diene, fälschlich und unberechtigterweise zu einem Schema, lege damit der Anwendung der moralischen Begriffe also einerseits als wirklich angenommene, andererseits aber eben doch nicht sinnliche Anschauungen (etwa eines unsichtbaren Reichs Gottes) unter, und müsse dadurch unvermeidlich ins Überschwengliche 9 hinausschweifen,10 d. h. in jenes exaltierte „Paradies der Phantasten“11 sich verflüchtigen, zu dem kritische Philosophie und reine Vernunft Zugang weder haben noch zu erhalten wünschen. Im neuen Kant-Lexikon ist folgerichtig festgehalten, daß sowohl der Begriff der Mystik und des Mystischen als auch insbesondere jener des Mystizismus bei Kant in aller Regel „negativ konnotiert“12 und pejorativ gebraucht sei. Und selbst diese Feststellung scheint noch freundlicher formuliert, als es die Rede bei Kant selbst 8
KpV, A 125 (AA V, 70). Zum Begriff des Überschwenglichen vgl. Johannes Zachhuber: „‚Überschwenglich‘. Ein Begriff der Mystikersprache bei Immanuel Kant“, in: Archiv für Begriffsgeschichte 42 (2001), 139–154. 10 KpV, A 125 (AA V, 70 f.). 11 TG, A 3 (AA II, 317). 12 Georg Sans: „Mystik“, „Mystizismus“, in: Marcus Willaschek, Jürgen Stolzenberg, Georg Mohr u. Stefano Bacin (Hg.): Kant-Lexikon, Berlin/Boston 2015, Bd. II, 1625; vgl. auch Reinhard Brandt: „Der Gott in uns und für uns bei Kant“, in: Claudia Bickmann, Markus Wirtz u. Hermann-Josef Scheidgen (Hg.): Religion und Philosophie im Widerstreit ? (Studien zur interkulturellen Philosophie, Bd. 18), Nordhausen 2008, Bd. I, 285–311: 287, Anm.; vgl. Reiner Wimmer: Kants kritische Religionsphilosophie (Kantstudien: Ergänzungshefte, Bd. 124), Berlin/New York 1990, 212: „Für Kant sind die Worte ‚Mystik‘ und ‚mystische Erfahrung‘ mit derartigen Prätentionen einer unmittelbaren Anschauung des eigenen noumenalen Selbst oder Gottes verbunden, weshalb er Mystik und ihre Behauptung der Realität mystischer Erfahrung als ‚Mystizismus‘ apostrophiert und abwertet.“ Der von Yuichiro Yamane: „Mystik, Mystizismus und Kritizismus bei Kant“, in: Stefano Bacin, Alfredo Ferrarin, Claudio La Rocca u. Margit Ruffing (Hg.): Kant und die Philosophie in weltbürgerlicher Absicht. Akten des XI. Internationalen Kant-Kongresses, Berlin 2013, Bd. II, 987– 998 unternommene Versuch der „Herausarbeitung einer möglichen Differenz der Bedeutungs nuance der beiden scheinbar ähnlichen Begriffe ‚Mystik‘ und ‚Mystizismus‘“ (ebd., 994) vermag nicht recht zu überzeugen: für Yamane sind „wenigstens in der kritischen Periode die beiden verwandten Begriffe strukturell voneinander zu unterscheiden“ (ebd., 995), und zwar in dem Sinne, daß „also der ‚Mystizismus‘, anders als die ‚Mystik‘, noch eine […] nicht ganz negative Rolle als Vermittlung [spielt]“ (ebd., 995); dem steht die Einschätzung von Sans: „Mystizismus“, 1625 entgegen: „Mehr noch als der Ausdruck Mystik ist der Begriff des Mystizismus bei Kant negativ konnotiert“. Zu Kants Abweisung von Mystik und Mystizismus vgl. Hans Rust: Kant und das Erbe des Protestantismus. Ein Beitrag zu der Frage nach dem Verhältnis von Idealismus und Christentum, 9
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Einleitung: Kant als Mystiker ?
ist: „ M a hom e t s Paradies, oder der T he o s o phe n und M y s t i k e r schmelzende Vereinigung mit der Gottheit, so wie jedem sein Sinn steht, würden der Vernunft ihre Ungeheuer aufdringen, und es wäre eben so gut, gar keine zu haben, als sie auf solche Weise allen Träumereien preiszugeben“13 – so die Kritik der praktischen Vernunft. Und in der Religionsschrift heißt es kurz und bündig: „der schwärmerische Religionswahn [ist] der moralische Tod der Vernunft“.14 Damit scheint die Frage nach „Kant als Mystiker“15 bereits beantwortet, das Thema bereits erledigt zu sein, noch bevor sie recht eigentlich gestellt sind. Und was immer ein gewisser Carl Arnold Wilmans, der anno 1797 in Halle an der Saale mit einer Dissertatio philosophica de sim i l i t u d in e inter mysticismum purum et Kantianam religionis doctrinam zum Doktor und Magister der Philosophie promoviert worden ist, auch an Parallelitäten und Entsprechungen, Isomorphien und Gotha 1928, 47 f. und zusammenfassend auch Otto Langer: Christliche Mystik im Mittelalter. Mystik und Rationalisierung – Stationen eines Konflikts, Darmstadt 2004, 29 f. 13 KpV, A 217 f. (AA V, 120 f.). 14 RGV, B 268 / A 253 (AA VI, 175); zum „vernunfttödtenden M y s t i c i s m“ vgl. auch SF, A 94 (AA VII, 59). 15 Vgl. Eberhard Freiherr von Danckelmann: Kant als Mystiker ? ! Eine Studie, Leipzig 1897; Danckelmanns Studie ist gerichtet gegen Carl du Prel, der Kant verschiedentlich zu vereinnahmen versucht hat für einen Spiritismus im Sinne Swedenborgs: vgl. Carl du Prel: Kant als Mystiker, Gera 1888; ders.: Immanuel Kants Vorlesungen über Psychologie. Mit einer Einleitung: Kants mystische Weltanschauung, Leipzig 1889; ders.: „Kant und Swedenborg“, in: Die Zukunft 16 (1896), 404–417; dazu bzw. dagegen vgl. bereits Paul von Lind: „Kant’s mystische Weltanschauung“, ein Wahn der modernen Mystik. Eine Widerlegung der Dr. C. du Prel’schen Einleitung zu Kant’s Psychologie, München 1892; vgl. auch Robert Hoar: Der angebliche Mysticismus Kants, Brugg 1895; Theobald Hermann: „Immanuel Kant und die moderne Mystik“, in: Monatshefte der Comenius-Gesellschaft 10, 7/8 (1901), 231–243; zur Auseinandersetzung um Kant und den Spiritismus vgl. schon Robert Zimmermann: Kant und der Spiritismus, Wien 1879; zur weiteren Diskussion vgl. Gottlieb Florschütz: „Mystik und Aufklärung. Kant, Swedenborg und Fichte“, in: Hartmut Traub (Hg.): Fichte und seine Zeit. Beiträge zum vierten Kongress der Internationalen Johann-Gottlieb-Fichte-Gesellschaft in Berlin vom 03.–08. Oktober 2000 (Fichte-Studien, Bd. 21), Amsterdam/New York 2003, 89–107; Constantin Rauer: Wahn und Wahrheit. Kants Auseinandersetzung mit dem Irrationalen, Berlin 2007, 210 ff.; Hans-Olof Kvist: „Immanuel Kant über die Mystik und die Deutung von ihm als Mystiker“, in: Martin Tamcke (Hg.): Mystik – Metapher – Bild. Beiträge des VII. Makarios-Symposiums, Göttingen 2008, 101–120; Friedemann Stengel (Hg.): Kant und Swedenborg. Zugänge zu einem umstrittenen Verhältnis (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung, Bd. 38), Tübingen 2008; Friedemann Stengel: Aufklärung bis zum Himmel. Emanuel Swedenborg im Kontext der Theologie und Philosophie des 18. Jahrhunderts (Beiträge zur historischen Theologie, Bd. 161), Tübingen 2011, 636 ff.; Tinca Prunea-Bretonnet: „Kant et le mysticisme. La relecture des Rêves d’un visionnaire à la lumière des leçons kantiennes de métaphysique“, in: Robert Theis (Hg.): Kant. Théologie et religion, Paris 2013, 349–357; Tinca Prunea-Bretonnet: „From Mysticism to Metaphysics. Kant and His Critics in the Last Decades of the 19th Century“, in: Antonino Falduto u. Heiner F. Klemme (Hg.): Kant und seine Kritiker. Kant and His Critics (Studien und Materialien zur Geschichte der Philosophie, Bd. 94), Hildesheim/ Zürich/New York 2018, 243–255; Heiner Schwenke: „Swedenborg und Kant – zur Schwierigkeit, transzendente Erfahrung zu verstehen“, in: ders.: Jenseits des Vertrauten. Facetten transzendenter Erfahrungen, Freiburg/München 2018, 126–167.
Kontext: Historische Hintergründe
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Analogien oder anderweitigen Ähnlichkeiten zwischen Kants kritischer Philosophie der Religion und den Ansichten einiger separatistischen Sonderlinge, deren reiner Mystizismus vielleicht allenfalls etwas weniger schwärmerisch, etwas weniger überschwenglich, etwas weniger unvernünftig gewesen sein mag, eruiert haben wird, so dürfte diese im Titel seiner Dissertationsschrift gesperrt gedruckte s i m i l i t u d o doch eine solche nur sein, die, scholastisch gesprochen, stets von einer semper maior dissimilitudo unterlaufen und umfangen bliebe. Warum stellt sich also überhaupt die Frage nach Kant und der Mystik ? Warum wird immer noch und immer wieder in dieser Ferne eine klammheimlich-unheimliche Nähe vermutet ?16 Warum ist der Fall also vielleicht doch nicht so klar, wie er zu sein scheint ? Warum etwa kann – um vorerst nur ein prominentes Beispiel zu nennen – Robert Spaemann in seiner Fénelon gewidmeten Habilitationsschrift Reflexion und Spontaneität von 1963 en passant auf „die Nähe der kantischen Philosophie zur mystischen Tradition“17 hinweisen und dabei explizit verweisen auf diesen Carl Arnold Wilmans ?18 Wer war dieser Mann und was stand in seiner Dissertation ?
I. Kontext: Historische Hintergründe 1. Der Verfasser: Carl Arnold Wilmans Carl Arnold Wilmans wurde am 12. Mai 1772 als ältester Sohn des Bielefelder Leinenhändlers und späteren Senators Carl Friedrich Wil[l]man[n]s (1741–1818) geboren. Wie aus seinem eigenhändig und in lateinischer Sprache abgefaßten Lebenslauf hervorgeht, der mit den Promotionsakten im Universitätsarchiv der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg überliefert ist,19 besuchte Carl Arnold 16
Vgl. Jean-Claude Höfliger: „Vom Schweigen der Vernunft“, in: ders. (Hg.): Verflechtungen. Die Textlichkeit des Originären. Aufsätze zur Philosophie für Jean-Pierre Schobinger, Zürich 1997, 58–69: 61. 17 Robert Spaemann: Reflexion und Spontaneität. Studien über Fénelon, Stuttgart 1963, 233 f., Anm. 18 Aktuell affirmiert wird Wilmans’ These vornehmlich durch Stephen R. Palmquist: Kant and Mysticism. Critique as the Experience of Baring All in Reason’s Light, Lanham/Boulder/ New York/London 2019; vgl. dazu die Diskussionsbeiträge von Palmquist, Pasternack, Nelson, McQuillan, Medhananda und Firestone in: Kantian Review 26, 1 (2020), 99–162. 19 Universitätsarchiv der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (UAHW), Rep. 21, Nr. 426. Daneben verdanken sich die hier wiedergegebenen biographischen Informationen zu C. A. Wilmans maßgeblich den Forschungen von Herrn Wolfgang Schindler, dem für die großzügig gewährte Einsicht in seine für die Beiträge zur westfälischen Familienforschung vorgesehene, bis dato aber unveröffentlichte Darstellung „Reich durch Leinenhandel ? Die Bielefelder Kauf-
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Kontext: Historische Hintergründe
zunächst ab 1780 das Gymnasium seiner Heimatstadt Bielefeld, bevor dieses unter dem Rektorat von August Christian Borheck (1751–1815) an Reputation verlor und C. A. Wilmans darum 1781 für mehr als sechs Jahre auf das von Friedrich August Benzler (1752–1810) geleitete Gymnasium in Herford überwechselte. Wohl schon bevor der von der philanthropischen Reformpädagogik geprägte Benzler 1789 Herford verließ,20 war Wilmans wahrscheinlich 1787 auf das Gymnasium im westfälischen Lippstadt zum dortigen Schulleiter und Bildungsreformer Johann Gottfried Christian Nonne (1749–1821) gewechselt, wo er zwei Jahre blieb. Von 1789 an war Wilmans Schüler des Joachimsthaler Gymnasiums in Berlin, dessen renommiertem Rektor Johann Heinrich Ludwig Meierotto (1742–1800) Wilmans’ philosophische Dissertation gewidmet ist. Wilmans verbrachte zunächst zweieinhalb Jahre in Berlin und faßte 1791 den Entschluß, in der Hauptsache Medizin zu studieren, weshalb er noch in Berlin Anfang 1792 Lehrveranstaltungen von Johann Gottlieb Walter (1734–1818) im erst 1790 eröffneten Anatomischen Theater verfolgte. Zusammen mit dem gleichaltrigen und ebenfalls aus der Grafschaft Ravensberg stammenden angehenden Theologen Carl Friedrich Daniel Alemann (1772– 1849),21 der später als Hauptpastor der Altstädter Nicolaikirche in Bielefeld wirkte, immatrikulierte sich Wilmans am 10. Mai 1792 an der Universität in Halle an der Saale zum Studium der Medizin,22 das er bei Philipp Friedrich Theodor Meckel (1755–1803), Friedrich Albrecht Carl Gren (1760–1798), Johann Reinhold Forster (1729–1798), Matthias Christian Sprengel (1746–1803) und Johann Christian Reil (1759–1813) absolvierte, 23 in dessen „Archiv für die Physiologie“ ab 1799 auch eine Reihe von fachwissenschaftlichen Beiträgen aus Wilmans’ Feder erschienen ist.24 manns- und Ratsfamilien Willmanns, Woermann und von Laer“ sowie den instruktiven Austausch freundlich gedankt sei; sofern es sich um publiziertes Textmaterial handelt, werden dort zitierte Quellen auch hier direkt nachgewiesen, sofern es sich um einer Einsichtnahme nicht unmittelbar zugängliche Archivalien handelt, erfolgen Nachweise indirekt mit Verweis auf W. Schindlers Dokumentation. 20 Vgl. Nicolas Rügge: Im Dienst von Stadt und Staat. Der Rat der Stadt Herford und die preußische Zentralverwaltung im 18. Jahrhundert (Bürgertum, Bd. 15), Göttingen 2000, 227. 21 Zu C. F. D. Alemann vgl. Jahresbericht des Historischen Vereins für die Grafschaft Ravensberg zu Bielefeld XXXII (1918), 23 und Jahresbericht des Historischen Vereins für die Grafschaft Ravensberg zu Bielefeld XXXVII (1923), 4–5. 22 UAHW, Rep. 46, Nr. 7 [1792, May 10; Wilmans Nr. 266, Alemann Nr. 265]. 23 Vgl. Regina Meyer: „Die Kantsche Philosophie im Lehrbetrieb der Universität Halle am Ende des 18. Jahrhunderts“, in: Erich Donnert (Hg.): Europa in der Frühen Neuzeit. Festschrift für Günter Mühlpfordt, Bd. 6: Mittel-, Nord- und Osteuropa, Köln/Weimar/Wien 2002, 237–288: 267 f. 24 Die umfangreichste und wohl auch wichtigste Publikation ist der Text „Ueber medicinische Kunst und ihre Methodologie“, in: Archiv für die Physiologie 3, 2 (1799), 202–348; Dr. Wilmans’ Publikationsverzeichnis findet sich bei Adolph Carl Peter Callisen: Medicinisches Schriftsteller-Lexicon der jetzt lebenden Aerzte, Wundärzte, Geburtshelfer, Apotheker, und Naturforscher
Kontext: Historische Hintergründe
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An der Fridericiana hat Wilmans aber auch Philosophie durchaus studiert: studium hoc, quod vel per se mihi gratissimum est, heißt es in seinem Promotionsgesuch.25 Mit dem Kant-Schüler Jakob Siegmund Beck (1761–1840)26 war er befreundet,27 die Kantianer Ludwig Heinrich von Jakob (1759–1827)28 und Johann Christian Hoffbauer (1766–1827)29 zählte er zu seinen akademischen Lehrern;30 Wilmans hörte aber auch bei den Kant-Kritikern Johann August Eberhard (1739– 1809)31 und Georg Simon Klügel (1739–1812) und besuchte – in Romanorum Graecorumque eruditione delectatus32 – außerdem Lehrveranstaltungen der Altphilologen Friedrich August Wolf (1759–1824) und Rudolph Gotthold Rath (1755–1814).33 Wilmans wurde ab 11. Mai 1792, also mit Anbeginn seines Studiums, durch das Coch-Burggraffesche Stipendium unterstützt 34 und gehörte der Studentenverbindung der „Hallenser Westfalen“ (Corps Guestphalia Halle) an.35 Nachdem er dreieinhalb Jahre in Halle verbracht hatte, kehrte er zunächst gegen Ende 1795 in aller gebildeten Völker, Bd. 21, Copenhagen 1835, 221–222; für eine Würdigung von Wilmans als Mediziner vgl. Urban Wiesing: „Carl Arnold Wilmans: Medizin als empirische Kunst“, in: ders.: Kunst oder Wissenschaft ? Konzeptionen der Medizin in der deutschen Romantik, Stuttgart-Bad Cannstatt 1995, 92–103. 25 UAHW, Rep. 21, Nr. 426. 26 Zur Bedeutung Becks und seiner Lehrtätigkeit in Halle vgl. Meyer: „Die Kantsche Philosophie im Lehrbetrieb“, 253 ff.; Martin Bondeli: „§ 48. Kantianische Systemansätze“, in: Helmut Holzhey u. Vilem Mudroch (Hg.): Die Philosophie des 18. Jahrhunderts, Bd. 5: Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation. Schweiz. Nord- und Osteuropa (Grundriss der Geschichte der Philosophie, begründet v. F. Ueberweg, völlig neu bearbeitete Ausgabe hg. v. H. Holzhey), Basel 2014, 1152–1189: 1183–1189. 27 Vgl. Br (AA XII, 279–281: 280); vgl. auch Karl Rosenkranz: Geschichte der Kant’schen Philosophie, hg. v. S. Dietzsch, Berlin 1987, 529. 28 Vgl. Meyer: „Die Kantsche Philosophie im Lehrbetrieb“, 247 ff.; Alessandro Lazzari: „§ 45. Anhänger Kants“, in: Helmut Holzhey u. Vilem Mudroch (Hg.): Die Philosophie des 18. Jahrhunderts, Bd. 5: Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation. Schweiz. Nord- und Osteuropa (Grundriss der Geschichte der Philosophie, begründet v. F. Ueberweg, völlig neu bearbeitete Ausgabe hg. v. H. Holzhey), Basel 2014, 1084–1107: 1089–1092. 29 Hoffbauer stammte wie Wilmans aus Bielefeld; vgl. Meyer: „Die Kantsche Philosophie im Lehrbetrieb“, 260; Lazzari: „Anhänger Kants“, 1103–1106. 30 Vgl. Meyer: „Die Kantsche Philosophie im Lehrbetrieb“, 267 f. 31 Vgl. Alessandro Lazzari [u. Martin Bondeli]: „§ 47. Gegner Kants“, in: Helmut Holzhey u. Vilem Mudroch (Hg.): Die Philosophie des 18. Jahrhunderts, Bd. 5: Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation. Schweiz. Nord- und Osteuropa (Grundriss der Geschichte der Philosophie, begründet v. F. Ueberweg, völlig neu bearbeitete Ausgabe hg. v. H. Holzhey), Basel 2014, 1121–1151: 1124–1130. 32 UAHW, Rep. 21, Nr. 426. 33 Auch zu R. G. Rath vgl. Meyer: „Die Kantsche Philosophie im Lehrbetrieb“, 264; Rath wagte es am 08. September 1792, Kant „einen Entschluß von mir mitzutheilen, dessen Ausführung einer meiner innigsten Wünsche ist; den Entschluß, die Kritik der reinen Vernunft in das lateinische zu übersetzen“ (AA XI, 366–368: 366). 34 Beleg bei Schindler: Reich durch Leinenhandel ?, 80. 35 Vgl. Jürgen-Dietrich Bender: Corps Guestphalia Halle, Münster 1997, 66.
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seine Heimatstadt zurück, um sich dann wiederum in Berlin nach Abschluß der anatomischen Ausbildung in der praktischen Medizin zu spezialisieren. Am 21. November 1797 wurde Wilmans in Abwesenheit und unter Dispens vom Examen für seine Dissertatio philosophica de s i m i l i t u d i n e inter mysticismum purum et Kantianam religionis doctrinam an der Universität Halle zum Doktor und Magister der Philosophie promoviert.36 Ein Jahr später erfolgte am 22. Dezember 1798 ebendort unter dem Dekanat von Johann Christian Reil 37 die medizinische Promotion mit einer wiederum lateinischen Inauguraldissertation „Ueber die Normalgesetze und ihren Nutzen in der Arzneykunde“.38 Im gleichen Jahr 1798 trat Wilmans am 24. Juni in Halle als Freimaurer in die Loge zu den drei Degen ein.39 Er befreundete sich mit seinem Kommilitonen und Kompatrioten Christian Friedrich Nasse (1778–1851), der wie Wilmans aus Bielefeld stammte und später als Internist und Psychiater an die Universität Bonn berufen wurde. Auch mit dem späteren Schriftsteller und „Romantiker“ Carl Joachim Friedrich Ludwig „Achim“ von Arnim (1781–1831) stand Wilmans in freundschaftlicher Verbindung.40 Während des Winters 1798/1799 wurde C. A. Wilmans in Berlin approbiert41 und kehrte 1799 nach Bielefeld zurück, um sich dort als praktischer Arzt niederzulassen.42 Im Spätsommer 1799 verlobte er sich am 07. September mit der aus 36
UAHW, Rep. 3, Nr. 489 [Seite 104, Jahr 1797]. UAHW, Rep. 29, Nr. 40. 38 So der Titel eines im Archiv für die Physiologie 5, 1 (1801), 137–144 erschienen Beitrags, der durch die versuchte Anwendung der vier Urteilsfunktionen des Verstandes (Quantität, Qualität, Relation, Modalität) die kantische Prägung des Verfassers erkennen läßt. Wilmans’ Diss. inaug. med. erschien 1798 in Halle im Umfang von 38 Seiten unter dem Titel: An artis medicae commodo leges normales ? 39 Vgl. Friedrich August Eckstein: Geschichte der Freimaurer-Loge im Orient von Halle. Eine Festgabe zur Secularfeier der Loge zu den drei Degen, Halle 1844, 262 (Nr. 311). 40 Vgl. ein späteres Schreiben von Ch. F. Nasse aus Bielefeld an Achim von Arnim in Göttingen vom 08. Juli 1801: „O wie oft, lieber, guter Arnim, habe ich seit unsrer Trennung nicht an dich gedacht und an die schönen Stunden unsres Zusammenlebens in Halle und an alle die Lieben, die dort mit uns vereint waren ! Wie oft jene Tage, wo wir noch alle bei^einander waren, zurückgewünscht ! Daß Das nun alles schon vorbei ist, daß wir von einander gerißen, hierhin und dorthin verstreut sind, der eine als Wegemeßer figuriren, ein andrer die edle Viehzucht und den Ackerbau treiben und ein dritter gar in einem Westphälischen Städtchen dem Volcke den Puls fühlen muß ! o tempora ! […] Indeßen vors erste sitze ich hier von euch allen abgeschieden […] in dem allerliebsten Bielefeld. […] – Warum bist du nicht zu uns gekommen, zu mir und Willmans und hast deinem Freund ein paar goldne Tage mitgebracht, gleich einer Erscheinung aus einer beßern Welt ? […] Willmans denkt auch gern an dich und grüßet dich aufs herzlichste. Er lebt hier recht froh als glüklicher Ehemann – aber noch nicht Vater (auch nicht in spe). Er ist jezt ganz Kaufmann und kümmert sich den Henker mehr um das medic. Wesen und das Volk der med. Schreier“ (Achim von Arnim: Briefwechsel 1788–1801, hg. v. H. Härtl (Werke und Briefwechsel, hg. v. R. Burwick, Bd. 30), Tübingen 2000, 166–168; vgl. ebd., 544). 41 Beleg bei Schindler: Reich durch Leinenhandel ?, 81. 42 C. A. Wilmans schrieb am 04. Mai 1799 an Kant: „Ich bin jezt in B i e l e f e l d, wo ich als practischer Arzt lebe. Ich würde meine Medicin. Dissert. überschickt haben, wenn ich nicht 37
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einer sehr vermögenden Kaufmannsfamilie stammenden Juliana Antoinette Nottebohm (1781–1865) und heiratete sie am 06. Januar 1801.43 Wohl schon gegen Ende 1799 trat Wilmans in das damals von seinem Vater geführte Leinenhandelshaus A. O. Wilmans & Söhne und in das Bielefelder Kaufmannsamt ein. Den Leinenhandel betrieb er bis 1828, zeitweilig zusammen mit seinem jüngeren Bruder Gottlieb August (1775–1845). Parallel dazu praktizierte Dr. Wilmans und fungierte von 1807 bis 1831 unentgeltlich als Armenarzt. In dieser Funktion publizierte er gemeinsam mit seinem Studienfreund Ch. F. Nasse vielbeachtete Berichte.44 Sowohl als Kaufmann als auch als Arzt erwarb sich der hochgebildete Dr. Wilmans großes Ansehen.45 C. A. Wilmans pflegte zeitlebens intellektuelle Interessen. Er hatte die sämtlichen Schriften Schillers, Pestalozzis und anderer Autoren subskribiert und gehörte von 1820 bis 1833 neben wenigen weiteren hochrangigen Persönlichkeiten dem Scholarchat bzw. Kuratorium des Gymnasiums in Bielefeld an.46 Er pflegte auch in dieser Funktion Kontakte zu Quäkern, bei denen er und seine Frau „wegen ihrer Kenntnis mystischer Schriften geschätzt“47 waren. Seine „reiche Bibliothek“48 versammelte wissenschaftliche Schriften, historische Dokumente und schöne Literatur, anderthalb Jahrzehnte nach seinem Tod wurden daraus 200 Bände philosophischen und mathematischen Inhalts von seiner Witwe dem Bielefelder Gymnasium übergeben.49 Um 1830 scheint C. A. Wilmans aus ungeklärter Ursache in erhebliche ökonomische und finanzielle Schwierigkeiten geraten zu sein, 1831 mußte gar das von ihm bewohnte Vaterhaus und weiterer Grundbesitz versteigert werden.50 Nach den Erinnerungen seines Großneffen Theodor Adolf von Möller (1840–1925) verlor glauben müßte, daß sie, der damahls nöthigen Eile wegen, ein zu unreifes Product ist“ (AA XII, 279–281: 281). 43 Belege bei Schindler: Reich durch Leinenhandel ?, 83. 44 Christian Friedrich Nasse u. Carl Arnold Wilmans: Bericht an die hiesigen Einwohner über die hiesige Armenkrankenverpflegungsanstalt, Bielefeld 1810; dies.: Fortgesetzter Bericht über die hiesige Krankenverpflegungsanstalt für 1810, Bielefeld 1811; zur positiven Rezeption dieser Berichte vgl. Schindler: Reich durch Leinenhandel ?, 84. 45 Vgl. Schindler: Reich durch Leinenhandel ?, 83 f. 46 Vgl. ebd., 84 f. 47 Claus Bernet: Das Quäkertum in Deutschland. Von den ersten Anfängen bis zum Kaiserreich (Studien zur Geschichtsforschung der Neuzeit, Bd. 89), Hamburg 2016, 104. 48 Karl Möller: „Ist die Kunst der Herstellung feiner Bielefelder Leinen aus den Niederlanden in Bielefeld eingeführt ?“, in: Jahresbericht des Historischen Vereins für die Grafschaft Ravensberg zu Bielefeld XVI (1902), 20–24: 23 erwähnt, daß „Dr. Wilmans in Bielefeld […] eine reiche Bibliothek und historische Aufzeichnungen besaß“. 49 Vgl. Theodor Bertram: „Geschichte der Bibliothek des Bielefelder Gymnasiums“, in: Festschrift zum 350jährigen Jubiläum des Gymnasiums und Realgymnasiums zu Bielefeld am 5. und 6. August 1908, Bielefeld 1908, 111–125: 120. 50 Einzelheiten und Belege bei Schindler: Reich durch Leinenhandel ?, 83 f.
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Wilmans sein gesamtes Vermögen und lebte von da an nur mehr zur Miete und in finanzieller Abhängigkeit von der begüterten Familie seiner Frau.51 Während der Cholera-Pandemie, der 1831 auch Hegel zum Opfer fiel, suchte Wilmans in Berlin nach einer Anstellung, „um eine neue Heilmethode zu versuchen“,52 die der Seuche mit Ammonium beizukommen hoffte. Ab September 1831 war Dr. Wilmans in und bei Posen als Cholera-Arzt tätig, wobei seine neue Methode jedoch nicht den gewünschten Erfolg zeitigte. Teile seiner Verwandtschaft scheint dies nicht sonderlich überrascht zu haben, wurde C. A. Wilmans doch in deren Briefwechseln zu dieser Zeit als jemand beschrieben, „der schon manchen sonderbaren Einfall in seinem Leben gehabt hat“.53 Wann genau er in den 1830er Jahren in die Heimat zurückkehrte, ist unklar; der 1831 gegründeten Bielefelder Schützengesellschaft gehörte er jedenfalls als Mitglied an.54 Seine letzten Lebensjahre scheint er als Privatgelehrter und mit häufigen Spaziergängen zum Brackweder Kupferhammer verbracht zu haben, wo Angehörige seiner Frau ansässig waren.55 Im Jahre 1848 verstarb Carl Arnold Wilmans. Seinen 1864 geborenen Urenkel Max Weber56 sollte er nicht mehr kennenlernen.
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Vgl. Heidrun Walther (Hg.): Aus dem Leben von Theodor Adolf von Möller, Neustadt a. d. Aisch 1958, 34. 52 Am 01. Dezember 1831 schreibt Dr. Wilmans aus Fraustadt, „daß ich bereits im Junius (von B i e l e f e l d aus) bei der Preußischen Immediatcommission um Anstellung als Choleraarzt nachsuchte, um eine neue Heilmethode zu versuchen, die mir auch wissenschaftlich, aber mehr chemisch, desinficirend, wie pathologisch-therapeutisch entstanden war, (denn an wirkliche Heilung einer Krankheit glaubte ich schon damals nicht mehr, als ich die Cholera noch nicht selbst gesehen hatte,) indem ich das Choleragift aus Gründen für ein saures hielt“ („Antwort auf die ‚Wiederholte Bitte des Dr. Eisenmann zu Würzburg an Preußens Aerzte,‘ in der Preußischen Staatszeitung Nr. 329 vom 27. Nov., ihm doch in öffentlichen Blättern eine Anzeige über den Erfolg der Anwendung des in seinem Sendschreiben vom 29. Sept. gegen die Cholera empfohlenen ammonium zugehen zu lassen“, in: Allgemeine medizinische Zeitung mit Berücksichtigung des Neuesten und Interessantesten der allgemeinen Naturkunde, Nr. 5 vom 18. Januar 1832, 65–68: 65). 53 Brief vom 01. Dezember 1831 von Friederike Woermann (1808–1848) an Carl Woermann (1813–1880), zitiert nach Schindler: Reich durch Leinenhandel ?, 85. 54 Beleg ebd. 55 Vgl. ebd. 56 Vgl. Wolfgang Schindler: „Webers Erzählungen – Fiktion und Wirklichkeit. Zum familiären Hintergrund von Max Webers Unternehmerbild“, in: Westfälische Zeitschrift 169 (2019), 319– 356: 334; vgl. auch Dirk Kaesler: Max Weber. Preuße, Denker, Muttersohn. Eine Biographie, München 2014, 69; 72–73; 104; 107; 109; Eberhard Zwirner u. Gottfried Roesler: Ahnentafel des Soziologen und Nationalökonomen Max Weber, Leipzig 1937. Zu Max Webers Kenntnis mystischer Schriften vgl. Christopher Adair-Toteff: „Max Weber’s mysticism“, in: European Journal of Sociology / Archives Européennes de Sociologie / Europäisches Archiv für Soziologie 43, 3 (2002), 339–353.
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2. Die Promotion in Philosophie Mit seinem undatierten Lebenslauf und Promotionsansuchen übersandte Carl Arnold Wilmans im Herbst 1797 der Philosophischen Fakultät der Universität Halle als specimen und Ausweis seiner Fähigkeiten eine in lateinischer Sprache abgefaßte dissertatio philosophica, in der De sim i l i t u d in e inter mysticismum purum et Kantianam religionis doctrinam, und also „Über die Ä h n l ic h k e i t zwischen dem reinen Mystizismus und der Kantischen Religionslehre“ gehandelt wird. Da er als angehender Arzt von den akademischen Rechten und Privilegien eines promovierten Magisters Gebrauch machen weder könne noch wolle, ersuchte er die Fakultät zugleich, ihn von der Obligation und Pflicht zu dispensieren, sich persönlich vor dem Professorium einer feierlichen Promotionsprüfung zu unterziehen.57 Als Dekan der Philosophischen Fakultät Halle fungierte zum damaligen Zeitpunkt der berühmte Polyhistor, Naturforscher und Entdecker Johann Reinhold Forster (1729–1798), der mit seinem Sohn Georg (1754–1794)58 zusammen als offizieller wissenschaftlicher Begleiter an James Cooks zweiter Südseereise von 1772 bis 1775 teilgenommen hatte und vielgeehrtes Mitglied zahlreicher Akademien und Gelehrtengesellschaften war.59 Wilmans zählte ihn zu seinen Hallenser Lehrern. Mit einem Schreiben vom 19. November 1797 brachte Dekan Forster Wilmans’ Anliegen vor die Mitglieder der Fakultät: „Meine Allerseits Hochzuverehrende Herren. Aus der Beilage werden Sie ersehen, daß Herr Carl Arnold Wilmans ein ehemaliger Zögling unser Alma mater, aus Bilefeld in Westphalen willens ist, sich von unser Facultaet den Gradum Doctoris & Magistri Philosophiae zu erwerben, ehe er noch den Gradum Doctoris Medicinae sich erwerben wird. Herr Prof: Hoffbauer verspricht nicht nur alle die Jura sogleich, wenn Ordo Spectabilis sein Gesuch zugestehen wird, zu erlegen; sondern es soll die Beigehende philosophische Diss. sogleich sehr splendid gedruckt erscheinen – da die Geschicklichkeit des Herren Wilmans vielen von uns noch in frischem Andenken ist, auch seine Diss. und übrigen Gründe von der Art sind, daß wir beÿ diesem Hrn. Candidato Ehre einlegen und ihm also
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UAHW, Rep. 21, Nr. 426: „Eo itaque consilio specimen hoc Vobis misi, ut dignitatem hanc mihi tribuere velitis. Spero autem, cum juribus immunitatibusque Magistri academicis neque possim uti neque velim, Vos veniam illius legis esse daturos, qua candidatus se ipse coram Vobis offerre solemnique subjicere examini debet.“ 58 Vgl. Jürgen Goldstein: Georg Forster. Zwischen Freiheit und Naturgewalt, Berlin 2015. 59 Vgl. Anne Mariss: „‚Ehren die Menge, allein kein Brod !‘ Das Sammeln von Mitgliedschaften als Gelehrtenpraxis bei Johann Reinhold Forster“, in: Elisabeth Décultot, Jana Kittelmann, Andrea Thiele u. Ingo Uhlig (Hg.): Weltensammeln. Johann Reinhold Forster und Georg Forster, Göttingen 2020, 165–185: 185.
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ohne Schwierigkeit seine Bitte zugestehen können: so hoffe ich werden Erw: Wohlgeb: mich authorisiren, ihn zum Doctor und Magister zu creiren.“60
Dem Gesuch wurde sogleich stattgegeben. Den Antrag des Dekans unterschrieben, teilweise unter Hinzufügung von anmerkungsweise angebrachten Glückwünschen, folgende Professoren: der Theologe und Direktor der Franckschen Stiftungen Johann Ludwig Schulze (1734–1799), der Philosoph und Kameralwissenschaftler Johann Christian Foerster (1735–1798), der Philosoph und Historiker Johann Christoph Krause (1749–1799), der Leibniz-Wolffische Schulphilosoph Johann August Eberhard (1739–1809), der Wolffs Lehrstuhl von Georg Friedrich Meier (1718–1777) übernommen hatte, nachdem Kant dem Ruf nach Halle nicht gefolgt war; weiters entweder der Botaniker und Arzt Kurt Polycarp Joachim Sprengel (1766–1833) oder wahrscheinlicher der universalgelehrte Geograph Matthias Christian Sprengel (1746–1803), Direktor der Universitätsbibliothek und J. R. Forsters Schwiegersohn, zudem der Mathematiker Georg Simon Klügel (1739–1812), der Religionsphilosoph und Kantianer Johann Heinrich Tieftrunk (1760–1837),61 welcher der Wilmansschen Dissertation thematisch am nächsten gestanden haben dürfte, der Philologe Friedrich August Wolf (1759–1824), der Philosoph Ludwig Heinrich von Jakob (1759–1827) sowie der Kameral- und Sprachwissenschaftler Johann Christoph Christian Rüdiger (1751–1822). Schon zwei Tage später wurde Wilmans’ Promotion vollzogen und aktenkundig gemacht: „den 21ten November ist bey der Philosophischen Facultaet zum Magister gemacht, Herr Carl Arnold W i l m a n s aus Westphalen, Praes. H. Professor Forster“.62 Auch die „sehr splendid“ zu druckende Dissertation ist noch im gleichen Jahr 1797 im Verlag von Johann Friedrich August Grunert (Sohn) an Ort und Stelle erschienen.63 Ein Exemplar des Erstdrucks liegt der hier nachfolgenden Edition und Übersetzung zugrunde.
60
UAHW, Rep. 21, Nr. 426. – Für freundliche Hilfe bei der Transkription dieses Schreibens gebührt Dank Dr. Volker Rößner. 61 Zu J. H. Tieftrunk vgl. Meyer: „Die Kantsche Philosophie im Lehrbetrieb“, 257 ff.; Lazzari: „Anhänger Kants“, 1092–1094; Gustav Kertz: Die Religionsphilosophie Joh. Heinr. Tieftrunks. Ein Beitrag zur Geschichte der Kantischen Schule, Berlin 1907; Jean-Loup Seban: „Le primat de la raison pratique chez Johann Heinrich Tieftrunk“, in: Analecta Bruxellensia 1 (1996), 158–181; Giuseppe D’Alessandro: „Kant und Tieftrunk: Die Religion innerhalb der Grenzen der Vernunft – Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte der Religionsphilosophie Kants“, in: Volker Gerhardt, Rolf-Peter Horstmann u. Ralph Schumacher (Hg.): Kant und die Berliner Aufklärung. Akten des IX. Internationalen Kant-Kongresses, Berlin/New York 2001, Bd. III, 641–648; Ulrich L. Lehner (Hg.): Religion nach Kant. Ausgewählte Texte aus dem Werk Johann Heinrich Tieftrunks (Reli gionsgeschichte der frühen Neuzeit, Bd. 3), Nordhausen 2007. 62 UAHW, Rep. 3, Nr. 489 [Seite 104, Jahr 1797]. 63 Carolus Arnoldus Wilmans: Dissertatio philosophica de s i m i l i t u d i n e inter mysticismum purum et Kantianam religionis doctrinam, Halis Saxonum MDCCLXXXXVII.
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3. Die Korrespondenz mit Kant Daß Wilmans’ Dissertation über Kant noch nicht vollständig in Vergessenheit geraten ist, liegt in erster Linie: an Kant höchstselbst. Dieser sollte dem jungen Dr. Wilmans nämlich bald eine „ungewöhnliche Ehrung“ erweisen, die „Größeren begehrenswert erschienen wäre“ und die Kant nach Dieter Henrich wohl auch „keinem Autor gewährt“ hätte, „dessen Standpunkt ihm für die Kritik bedrohlich“ oder ernsthaft verdächtig vorgekommen wäre.64 Wohl noch nicht, wie von der Akademie-Ausgabe angenommen,65 im September 1797,66 sondern höchstwahrscheinlich erst nach Abschluß des Promotionsverfahrens und Publikation der Dissertation brachte Wilmans gegen Ende 1797, zumindest vermutlich vor dem 20. Januar 179867 seine Arbeit mit einem ausführ64
Dieter Henrich: „Zu Kants Begriff der Philosophie. Eine Edition und eine Fragestellung“, in: Friedrich Kaulbach u. Joachim Ritter (Hg.): Kritik und Metaphysik. Studien (FS H. Heimsoeth), Berlin 1966, 40–59: 55; es besteht also kein rechter Grund, Kants Anmerkung in SF, A 115, Anm. (AA VII, 69) mit Paul Bishop: Synchronicity and Intellectual Intuition in Kant, Swedenborg, and Jung (Problems in Contemporary Philosophy, Bd. 46), Lewiston/Queenston 2000, 225 als ironisch zu verstehen; auch Stengel: Aufklärung bis zum Himmel, 701 hält dies für „fraglich“; vgl. auch Stephen R. Palmquist: Kant’s Critical Religion: Volume Two of Kant’s System of Perspectives, Aldershot/ Burlington/Singapore/Sydney 2000, 306, Anm.: „Kant’s footnote contains no explicit hostility“. 65 Vgl. Br (AA XII, 204); vgl. auch Reinhard Brandt: „Zum ‚Streit der Fakultäten‘“, in: Reinhard Brandt u. Werner Stark (Hg.): Neue Autographen und Dokumente zu Kants Leben, Schriften und Vorlesungen (Kant-Forschungen, Bd. 1), Hamburg 1987, 31–72: 65: „Wann sich Kant entschlossen hat, den ‚Anhang Von einer reinen Mystik in der Religion‘ […] mit einem Text von Carl Arnold Wilmans seiner Abhandlung beizufügen, läßt sich kaum noch genau ermitteln. Terminus post quem ist nach XII 208 (Nr. 784b) und XIII 464 Mitte Oktober 1797.“ 66 Auf den 25. September 1797 ist die praefatio der Wilmansschen dissertatio datiert; da in diesem Vorwort der Verfasser seine wichtigsten Quellen nennt, ist mit Hans Leisegang: „Kant und die Mystik“, in: Philosophische Studien 1 (1949), 4–28: 26 f., Anm. davon auszugehen, daß die Vorrede integraler Bestandteil der Doktorarbeit und auch als solche „sicher der Philosophischen Fakultät der Universität Halle mit der ganzen Dissertation eingereicht“ worden ist: „Es liegt also zwischen dem Datum des Vorworts und der Sendung der Arbeit an Kant die ganze Promotion und die Drucklegung, so daß Kant die Arbeit unmöglich schon im September 1797 bekommen haben kann. Jedenfalls aber ist sie schon im Jahre 1797 erschienen, da dieses Jahr auf dem Titelblatt steht, und Kant kann sie auch noch in diesem Jahre erhalten haben“. 67 Aus einem erhaltenen späteren Briefentwurf Kants geht zwar hervor, daß Wilmans ihm offenbar an diesem Tag geschrieben hatte; da Kant aber Wilmans’ ersten Brief ausdrücklich „mit seiner Erlaubniß“ (SF, A 115, Anm. (AA VII, 69)) publiziert, wird Wilmans eben auch sein Einverständnis damit in einem eigenen Brief mitgeteilt haben müssen, der plausibel auf den 20. Januar 1798 datiert werden kann, wenn das erste Sendschreiben mit der dissertatio gegen Ende 1797 erfolgte; vgl. Br (AA XII, 281): „Verzeihen Sie es der Schwäche meines von Unpäßlichkeit gedrückt[en] Alters daß ich durch eine mir jetzt nicht ungewöhnliche Zerstreuung Ihren müsahm und weitläuftig ausgearbeiteten Brief vom 28 Octobr 1798 bis jetzt unbeantwordtet gelassen habe. Ich hatte mir zu Beendigung einer gewissen unter Händen habenden Arbeit eine Frist genommen und jenen Brief auf solange auf meinem Büreau zurück gelegt auf welchem zugleich der Brief vom 20sten Jan. 1798 sich befand aber unter andere Briefe unvorsichtiger
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lichen Begleitschreiben auf den Postweg zu Kant nach Königsberg. Die hohe Ehre, die Carl Arnold Wilmans nun widerfahren sollte, besteht nicht allein darin, daß der große Weltweise wenig später öffentlich und ausdrücklich von Wilmans als einem „jetzt der Arzneiwissenschaft sich widmenden jungen Mann“ spricht, „von dem sich auch in anderen Fächern der Wissenschaft viel erwarten läßt“;68 sondern Kant scheut sich noch nicht einmal, seinen Streit der Fakultäten um einen eigenen Anhang zum ersten Abschnitt zu erweitern, der nun – so die Überschrift – „Von einer reinen Mystik in der Religion“69 handelt, ja der erkennbar von Wilmans’ These nicht nur handelt, sondern das Thema in Wilmans’ Worten behandelt. Kant erlaubt es sich nämlich, Wilmans’ Begleitbrief – „mit seiner Erlaubniß und mit Weglassung der Einleitungs- und Schlußhöflichkeitsstellen“70 – Wort für Wort und in aller Ausführlichkeit wiederzugeben. Da darf man es genauso halten und Kant nun zitieren, wie er selbst also Wilmans zitiert und damit zugleich eine „kurze Zusammenfassung der Thesen von dessen Dissertation“71 liefert: „Ich habe aus der Kritik der reinen Vernunft gelernt, daß Philosophie nicht etwa eine Wissenschaft der Vorstellungen, Begriffe und Ideen, oder eine Wissenschaft aller Wissenschaften, oder sonst etwas Ähnliches sei; sondern eine Wissenschaft des Menschen, seines Vorstellens, Denkens und Handelns; – sie soll den Menschen nach allen seinen Bestandtheilen darstellen, wie er ist und sein soll, d. h. sowohl nach seinen Naturbestimmungen, als auch nach seinem Moralitäts- und Freiheitsverhältniß.“72 Weise geschoben worden so daß da ich nun an die Beantwortung des Ihrigen gehen wollte und Ihre Hand auf dem von 1798 sahe ohne das Datum desselben nachzusehen Ich annahm dieser sey die letztere an mich ergangene Zuschrift und ich müsse die Ihrige schon beantwortet haben: welcher Irrthum desto eher vorfallen konnte, da ich in der That in meiner Antwort, wie auch jetzt geschieht nichts Erhebliches hierauf zu antworten wußte: Durch meinen Freund Hrn. Doct. Med. Jachmann ward ich nach Erhaltung des Ihrigen von diesem Irrthum belehrt und indem ich die Unannehmlichkeit, die ich durch so lange Verzögerung Ihnen verursacht habe bedaure und abbitte, sehe mich überhaupt nicht im Stande eine Ihnen gnügende Antwort auf denselben zu ertheilen weil der Ge[gen]stand ihrer Wahl gantz ausserhalb meiner Sphäre gelegen ist“. 68 SF, A 115, Anm. (AA VII, 69). 69 SF, A 115 ff. (AA VII, 69 ff.); dieser Anhang zum ersten Abschnitt wird in der Forschung bezeichnenderweise häufig so zitiert, als wäre er aus Kants eigener Feder geflossen; das jüngste Beispiel dafür liefert Johann Kreuzer: „Transzendentaler Abgrund: Mystikbegeisterung und Mystikkritik in der Philosophie des Deutschen Idealismus“, in: Johannes Schaber u. Martin Thurner (Hg.): Philosophie und Mystik – Theorie oder Lebensform ?, Freiburg/München 2019, 215– 231: 216; vgl. auch Rauer: Wahn und Wahrheit, 210 und die Kritik von Stengel: Aufklärung bis zum Himmel, 638, Anm. 70 SF, A 115, Anm. (AA VII, 69). 71 Reiner Manstetten: „Kant und das Problem der Mystik“, in: Christel Fricke, Peter König u. Thomas Petersen (Hg.): Das Recht der Vernunft. Kant und Hegel über Denken, Erkennen und Handeln (Spekulation und Erfahrung: II, Bd. 37: FS H. F. Fulda), Stuttgart-Bad Cannstatt 1995, 33–60: 35. 72 SF, A 115 f. (AA VII, 69).
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Wilmans geht nun ausführlicher auf klassische Topoi des transzendental-kriti schen Idealismus ein, erörtert etwa Kants jeweilige Verhältnisbestimmungen von Verstand und Vernunft oder auch von theoretischer und praktischer Philosophie, um anschließend zu spezifisch religionsphilosophischen Problem- und Fragestellungen überzuleiten: „Der fernere Verlauf der kritischen Untersuchung der menschlichen Seelenvermögen stellte die natürliche Frage auf: hat die unvermeidliche und nicht zu unterdrückende Idee der Vernunft von einem Urheber des Weltalls und also unserer selbst und des moralischen Gesetzes auch wohl einen gültigen Grund, da jeder theoretische Grund seiner Natur nach untauglich zur Befestigung und Sicherstellung jener Idee ist ? Hieraus entstand der so schöne moralische Beweis für das Dasein Gottes, der jedem, auch wenn er nicht wollte, doch insgeheim auch deutlich und hinlänglich beweisend sein muß. Aus der durch ihn nun begründeten Idee von einem Weltschöpfer aber ging endlich die praktische Idee hervor von einem allgemeinen moralischen Gesetzgeber für alle unsere Pflichten, als Urheber des uns inwohnenden moralischen Gesetzes. Diese Idee bietet dem Menschen eine ganz neue Welt dar. Er fühlt sich für ein anderes Reich geschaffen, als für das Reich der Sinne und des Verstandes, – nämlich für ein moralisches Reich, für ein Reich Gottes. Er erkennt nun seine Pflichten zugleich als göttliche Gebote, und es entsteht in ihm ein neues Erkenntniß, ein neues Gefühl, nämlich Religion.“73
So weit Wilmans in seinem brieflichen Referat, das man bis hierhin ebenso als einigermaßen solide wie als einigermaßen unspektakulär empfinden mag. Das Bisherige war aber auch nur allgemeiner Auftakt und philosophisches praeludium, bis Wilmans nun zu einem unerhörten Paukenschlag ausholt, indem er sich endlich getraut, Kant mit gewissen Mystikern zu konfrontieren, zu denen ihm noch dazu eine gewisse Nähe, eine Art Familienähnlichkeit und Wahlverwandtschaft unterstellt wird: „So weit, ehrwürdiger Vater, war ich in dem Studio Ihrer Schriften gekommen, als ich eine Classe von Menschen kennen lernte, die man Separatisten nennt, die aber sich selbst M y s t i k e r nennen, bei welchen ich fast buchstäblich Ihre Lehre in Ausübung gebracht fand. Es hielt freilich anfangs schwer, diese in der mystischen Sprache dieser Leute wieder zu finden; aber es gelang mir nach anhaltendem Suchen. Es fiel mir auf, daß diese Menschen ganz ohne Gottesdienst lebten; alles verwarfen, was Gottes d ie n s t heißt und nicht in Erfüllung seiner Pflichten besteht; daß sie sich für religiöse Menschen, ja für Christen hielten und doch die Bibel nicht als ihr Gesetzbuch ansahen, sondern nur von einem inneren, von Ewigkeit her in uns einwohnenden Christenthum sprachen. – Ich forschte nach dem Lebenswandel dieser Leute und fand (räudige Schafe ausgenommen, die man in jeder Heerde ihres Eigennutzes wegen findet) bei ihnen reine moralische Gesinnungen und eine 73
SF, A 124 f. (AA VII, 73 f.).
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beinahe stoische Consequenz in ihren Handlungen. Ich untersuchte ihre Lehre und ihre Grundsätze und fand im Wesentlichen ganz Ihre Moral und Religionslehre wieder, jedoch immer mit dem Unterschiede, daß sie das innere Gesetz, wie sie es nennen, für eine innere Offenbarung und also bestimmt Gott für den Urheber desselben halten. Es ist wahr, sie halten die Bibel für ein Buch, welches auf irgend eine Art, worauf sie sich nicht weiter einlassen, göttlichen Ursprungs ist; aber wenn man genauer forscht, so findet man, daß sie diesen Ursprung der Bibel erst aus der Übereinstimmung der Bibel, der in ihr enthaltenen Lehren, mit ihrem inneren Gesetze schließen […]. Eben deswegen halten sie sie auch nicht für ihr Gesetzbuch, sondern nur für eine historische Bestätigung, worin sie das, was in ihnen selbst ursprünglich gegründet ist, wiederfinden. Mit einem Worte, diese Leute würden (verzeihen Sie mir den Ausdruck !) wahre Kantianer sein, wenn sie Philosophen wären. Aber sie sind größtentheils aus der Classe der Kaufleute, Handwerker und Landbauern; doch habe ich hin und wieder auch in höheren Ständen und unter den Gelehrten einige gefunden; aber nie einen Theologen, denen diese Leute ein wahrer Dorn im Auge sind, weil sie ihren Gottesdienst nicht von ihnen unterstützt sehen und ihnen doch wegen ihres exemplarischen Lebenswandels und Unterwerfung in jede bürgerliche Ordnung durchaus nichts anhaben können“.74
Man scheint es hier mit einer ganz besonderen Spezies zu tun zu haben: Mystiker, die keine Schwärmer sind, Christen, die keinen Gottesdienst feiern und denen die Bibel nicht Gesetzbuch ist, sondern historische Urkunde und Bestätigung einer rein innerlichen Religiosität. Fehlt diesen Leuten zum Kantianertum tatsächlich lediglich ein professionelles Philosophentum ? Wilmans läßt in seinem Sendschreiben leider unerwähnt, wo, wann und wie, unter welchen Umständen und in welchen Zusammenhängen er diese „Classe von Menschen“ kennengelernt hat; auch die Dissertation macht nur eine unspezifische Quellenangabe, in welcher weder Orte und Zeiten noch auch nur Namen genannt werden, sondern lediglich davon die Rede ist, daß Wilmans seine Kenntnisse der mystischen Denkungsart nicht allein aus Robert Barclays Apologie der wahren christlichen Gottesgelahrtheit,75 sondern zum Teil auch direkt „ex consuetudine cum mysticis“76 geschöpft haben will. – „Die Erforschung der mystischen Gruppen, die Wilmans […] konkret vor Augen hatte[…], ist ein Desiderat“.77 74
SF, A 125 ff. (AA VII, 74 f.). Robert Barclays Apologie. Oder Vertheidigungs-Schrift der wahren christlichen Gottesgelahrheit. Wie solche unter dem Volk, so man aus Spott Quaker, das ist, Zitterer nennet, vorgetragen und gelehret wird. […] Anjetzo nach der zweyten Lateinischen und neunten Englischen Heraus gebung ganz von neuen ins Deutsche übersetzt, Germantown: Gedruckt bei Christoph Saur dem Jüngeren, 1776. 76 Carolus Arnoldus Wilmans: Dissertatio philosophica de s i m i l i t u d i n e inter mysticismum purum et Kantianam religionis doctrinam, Halis Saxonum 1797, praefatio [vi]. 77 Stengel: Aufklärung bis zum Himmel, 702, Anm.; Leisegang: „Kant und die Mystik“, 23 gesteht in seiner noch immer äußerst instruktiven Studie ehrlicherweise ein: „Es ist mir nicht gelungen festzustellen, ob die Mystiker, die Wilmans persönlich kennenlernte, zu einer 75
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4. Die Quellen: Quäker, Quietisten, radikale Reformatoren Die inhaltlich vollumfängliche Aufnahme von Wilmans’ Sendschreiben in den Streit der Fakultäten überrascht nicht zuletzt deswegen, weil Kant sich wenige Seiten zuvor noch in aller Klarheit distanziert hat von der „Keckheit der Kraftgenies, welche diesem Leitbande des Kirchenglaubens sich jetzt schon entwachsen zu sein wähnen, sie mögen nun als Theophilanthropen in öffentlichen dazu errichteten Kirchen, oder als Mystiker bei der Lampe innerer Offenbarungen schwärmen“.78 Der Anhang „Von einer reinen Mystik in der Religion“79 akzentuiert also offenbar nicht generell die Mystik als solche, sondern speziell deren Reinheit, welche jede elitäre Esoterik ausschließt und ebenjenes vornehmen Tons nicht sich befleißigt, dessen die kryptophilen „Kraftmänner“80 allzu gern sich bedienen, die selbstgewiß und -gefällig spekulierend „ihr Licht beim Plato angezündet“81 zu haben meinen und darum nun „neuerdings mit Begeisterung eine Weisheit verkündigen, die ihnen keine Mühe macht, weil sie diese Göttin beim Zipfel ihres Gewandes erhascht und sich ihrer bemächtigt zu haben vorgeben“.82 Wilmans behauptet nun, daß es unter den Mystikern im weitesten und undifferenziertesten Sinne die kleine Teilmenge und wohlzuspezifizierende Sondergruppe einer nicht über die engen „Grenzen möglicher Erfahrung“83 und daraus legitimierter Erkenntnis hinaus schwärmenden, sondern sozusagen heilig-nüchtern84 gebliebenen „Classe von Menschen“85 gibt, die zwar „sich selbst M y s t i k e r bestimmten der vielen Sekten und mehr oder weniger geschlossenen Erweckungsgemeinschaften gehörten, die in der Umgegend seiner Heimatstadt Bielefeld seit mehr als hundert Jahren auftraten, zum Teil wieder verschwanden oder nur in der Verborgenheit fortlebten“. 78 SF, A 106 (AA VII, 65). 79 SF, A 115 ff. (AA VII, 69 ff.). 80 VT, A 414, Anm. (AA VIII, 401). 81 VT, A 424, Anm. (AA VIII, 405) 82 VT, A 414, Anm. (AA VIII, 401). 83 KrV, B 170 f. / A 131 (AA III, 131 / IV, 96); KrV, B 423 (AA III, 275); KrV, B 525 / A 496 (AA III, 342); KrV, B 563 / A 535 (AA III, 364); KrV, B 672 / A 644 (AA III, 428); KrV, B 739 / A 711 (AA III, 467); ZeF, B 52 / A 51 (AA VIII, 362); FM, A 168 (AA XX, 319). 84 Vgl. KrV, A 395 f. (AA IV, 247): „Nicht[s] als die Nüchternheit einer strengen, aber gerechten Kritik kann von diesem dogmatischen Blendwerke, das so viele durch eingebildete Glückseligkeit unter Theorien und Systemen hinhält, befreien und alle unsere speculative Ansprüche blos auf das Feld möglicher Erfahrung einschränken, nicht etwa durch schalen Spott über so oft fehlgeschlagene Versuche, oder fromme Seufzer über die Schranken unserer Vernunft, sondern vermittelst einer nach sicheren Grundsätzen vollzogenen Gränzbestimmung derselben, welche ihr nihil ulterius mit größter Zuverlässigkeit an die herculische Säulen heftet, die die Natur selbst aufgestellt hat, um die Fahrt unserer Vernunft nur so weit, als die stetig fortlaufende Küsten der Erfahrung reichen, fortzusetzen, die wir nicht verlassen können, ohne uns auf einen uferlosen Ocean zu wagen, der uns unter immer trüglichen Aussichten am Ende nöthigt, alle beschwer liche und langwierige Bemühung als hoffnungslos aufzugeben“. 85 SF, A 125 (AA VII, 74).
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nennen“,86 aber von Kants Mystik-Kritik ob ihrer intellektuellen Redlichkeit und gnoseologischen Contenance nicht getroffen werden, sondern vielmehr „gewiß zur Beruhigung und vielleicht auch moralischen Verbesserung vieler Menschen beitragen“87 können. Die bloße Möglichkeit dieser aparten Kombination von Mysti kern, die „wahre Kantianer sein [würden], wenn sie Philosophen wären“,88 kann Kant nicht für a priori ausgeschlossen gehalten haben, da andernfalls weder der weitgehend kommentarlose Abdruck von Wilmans’ Schreiben noch die später aufwendig in Auftrag gegebene Überprüfung seiner These durch Jachmann mehr sinnvoll motiviert wären. Zumindest „in dem erwähnten Anhang ‚Von einer reinen Mystik in der Religion‘ […], in dem er den Brief Wilmans’ an ihn wiedergibt, rechnet er [Kant] mit der Möglichkeit einer Mystik, die mit seiner praktisch-moralischen Religionsauffassung im Einklang steht. Eine in diesem Sinne reine Mystik wäre frei von unerweislichen positiven Offenbarungen, Jenseitserfahrungen und Erleuchtungserlebnissen“.89 Die von der Forschung bis dato ungelöste Frage ist, ob die bei Wilmans nicht namentlich genannten reinen Mystiker konkret situiert und einer der vielen spätpietistischen Splittergruppen und separatistischen Sekten zugeordnet werden können, die im Protestantismus des ausgehenden 18. Jahrhunderts zu einer veritablen „Vermannigfaltigung der Kirchen“90 geführt haben. Eine erste Annäherung kann indirekt erfolgen, indem man nämlich die bereits im ersten Satz der Wilmansschen Doktorarbeit Erwähnung findende Abhandlung Ueber die Aehnlichkeit des inneren Wortes einiger neueren Mystiker mit dem moralischen Worte der Kantischen Schriftauslegung hinzuzieht, die 1796 aus der Feder des Göttinger Theologen Christoph Friedrich Ammon (1766–1850)91 erschienen war,92 welcher einen selbsterklärten „Offenbarungsrationalismus“ vertrat und in
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Ebd. SF, A 123 (AA VII, 73). 88 SF, A 126 (AA VII, 74). 89 Wimmer: Kants kritische Religionsphilosophie, 213 f. 90 SF, A 78 (AA VII, 52); für Kant wäre es eine „Herculische und dabei undankbare Arbeit, nur blos die Secten des C h r i s t e n t hu m s, wenn man unter ihm den m e s s i a n i s c h e n G l a u b e n versteht, alle aufzuzählen“ (SF, A 71 (AA VII, 48)). 91 Vgl. Friedrich Wilhelm Bautz: „Ammon, Christoph Friedrich von“, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon I (1990), 148–149. 92 Christoph Friedrich Ammon: Ueber die Aehnlichkeit des inneren Wortes einiger neueren Mystiker mit dem moralischen Worte der Kantischen Schriftauslegung – als Ankündigung der ersten Vertheilung des neuen homiletischen Preißes für das Jahr 1796, Göttingen 1796; für ein Referat von Ammons Abhandlung vgl. Norbert Fischer: „Kants Idee ‚est Deus in nobis‘ und ihr Verhältnis zu Meister Eckhart. Zur Beziehung von Gott und Mensch in Kants kritischer Philosophie und bei Eckhart“, in: Wolfgang Erb u. Norbert Fischer (Hg.): Meister Eckhart als Denker (Meister-Eckhart-Jahrbuch: Beihefte, Bd. 4), Stuttgart 2018, 367–406: 374 ff.; vgl. auch Stengel: Aufklärung bis zum Himmel, 702 f. und schon Leisegang: „Kant und die Mystik“, 12 ff. 87
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den 1790er Jahren im Briefwechsel mit Kant stand,93 dessen moralische Bibelhermeneutik er auch praktizierte.94 Offenkundig hat Wilmans „den Titel seiner Dissertation diesem Muster nachgebildet“.95 Ammon nennt nun Namen und Quellen, kennt er doch „einige Mystiker des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts, die von einem inneren Worte Gottes in dem menschlichen Geiste, freylich oft einseitig und ungerecht gegen das äußere, aber doch mit einem Eifer und mit einer Wärme für die wahre moralische Religion sprachen, welche die Härte und Lästerungen gar nicht verdiente, die ihnen so oft von der Gegenparthey zu Theil wurden. An ihre Grundsätze reihen sich zwar seit Speners Zeiten auch die Pietisten und mehrere ascetische Theologen an; allein die Grenzen dieser Abhandlung erlauben es nicht, unsere Untersuchung auch auf sie auszudehnen, sondern nöthigen uns, sie auf eine Parallele dessen, was K a r l s t a d t, S c hwe n k fe l d, We i g e l, und B öh m von einem inneren Worte lehrten, mit dem moralischen Worte der neuesten Schriftauslegung einzuschränken“.96
Genannt sind damit „Querdenker“97 und „Außenseiter“98 einer radikalisierten Reformation 99 wie Andreas Bodenstein von Karlstadt (1486–1541), der sich im Zuge einer von Volker Leppin nachgezeichneten „mystische[n] Radikalisierung“100 der Wittenberger Theologie von Luther absetzte und im thüringischen Orlamünde den Versuch unternahm, „die Gesellschaft ganz und gar von der persönlichen Frömmigkeit her umzugestalten“:101 „Der Professor zog in die Provinz und lebte hier ein Gemeindemodell nach dem Priestertum aller Glaubenden. Der Pfarrer war der ‚Nachbar Andres‘ und bestellte seinen Acker selbst. Als Gleicher lebte er unter Gleichen, Orlamünde wurde zur idealen Stadt mystisch inspirierter Reformation, 93
Vgl. Br (AA XI, 493 f.; XII, 3; XII, 16 ff.; XII, 70; XII, 248; XII, 249 f.). Vgl. Stengel: Aufklärung bis zum Himmel, 702. 95 Leisegang: „Kant und die Mystik“, 13. 96 Ammon: Ueber die Aehnlichkeit des inneren Wortes einiger neueren Mystiker mit dem moralischen Worte der Kantischen Schriftauslegung, 6; gerade bei der Wichtigkeit des „inneren Wortes“ erstaunt es etwas, daß in dieser Namensreihe Sebastian Franck (1499–1542) nicht aufscheint; vgl. Patrick M. Hayden-Roy: The Inner Word and the Outer World. A Biography of Sebastian Franck (Renaissance and Baroque – Studies and Texts, Bd. 7), New York u. a. 1994. 97 Ulrich Bubenheimer u. Stefan Oehmig (Hg.): Querdenker der Reformation. Andreas Bodenstein von Karlstadt und seine frühe Wirkung, Würzburg 2001. 98 Gottfried Seebaß: Die Reformation und ihre Außenseiter. Gesammelte Aufsätze und Vorträge, hg. v. I. Dingel, Göttingen 1997. 99 Vgl. George H. Williams: The Radical Reformation, Philadelphia 1962; ders.: „The Radical Reformation Revisited“, in: Union Seminary Quarterly Review 39 (1984), 1–28; vgl. auch HansJürgen Goertz (Hg.): Radikale Reformatoren. 21 biographische Skizzen von Thomas Müntzer bis Paracelsus, München 1978. 100 Volker Leppin: Die fremde Reformation. Luthers mystische Wurzeln, München 22017, 192 ff. 101 Ebd., 193. 94
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fernab vom politischen Druck der Residenzstadt Wittenberg. Je stärker die Innerlichkeit betont wurde, desto mehr verloren die äußeren Formen an Gewicht“.102 Karlstadt oder der im Sinne seines visionären Chiliasmus agitierende Thomas Müntzer (1489–1525) sind prominente Beispiele für einen gewissen „Wildwuchs der Reformation“.103 Auch das von Kaspar Schwenckfeld von Ossig (1489–1561)104 gepredigte „innere Wort“ führte (hauptsächlich in Süddeutschland, Schlesien und später auch im amerikanischen Pennsylvania) zur Gründung informeller Konventikel und frommer Freundeskreise, deren individualistischer Separatismus und mystischer Spiritualismus unterschwellig wirkmächtig wurden und in ihrem Einfluß über die ebenfalls von Ammon angeführten Valentin Weigel (1533–1588)105 und Jakob Böhme (1575–1624)106 bis auf das Quäkertum sich erstrecken.107
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Ebd., 194. Franz Lau: Luther, Berlin 1959, 81; vgl. Leppin: Die fremde Reformation, 200. 104 Vgl. Gottfried Maron: Individualismus und Gemeinschaft bei Caspar von Schwenckfeld. Seine Theologie, dargestellt mit besonderer Ausrichtung auf seinen Kirchenbegriff (Beiheft zum Jahrbuch „Kirche im Osten“, Bd. II), Stuttgart 1961; Ulrich Bubenheimer: „Schwenckfeld von Ossig, Kaspar“, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon IX (1995), 1215–1235. 105 Vgl. Andrew Weeks: Valentin Weigel (1533–1588) – Ein Ketzer in neuer Perspektive. Zum Abschluß der Neuedition seiner „Sämtlichen Schriften“ (Abhandlungen der Geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz, Jahrgang 2017, Nr. 3), Mainz/Stuttgart 2017. 106 Zum „Schuster, der nicht bei seinem Leisten blieb“, vgl. Claudia Brink u. Lucinda Martin (Hg.): Jacob Böhme – Alles in Allem. Die Gedankenwelt des mystischen Philosophen. Denken, Kontext, Wirkung, Dresden 2017; dies. (Hg.): Jacob Böhme – Grund und Ungrund. Der Kosmos des mystischen Philosophen, Dresden 2017; speziell zu Böhmes „Einwirkung auf die Seitenbewegungen der pietistischen Zeit“ vgl. Emanuel Hirsch: Geschichte der neuern evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens, Gütersloh 31964, Bd. II, 208 ff. 107 Vgl. Rufus M. Jones: Geistige Reformatoren des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts, Berlin-Biesdorf 1925; Rudolf Windel: Mystische Gottsucher der nachreformatorischen Zeit, Halle (Saale) 1925; Heinrich Bornkamm: Mystik, Spiritualismus und die Anfänge des Pietismus im Luthertum, Gießen 1926; vgl. auch Horst Weigelt: Pietismus-Studien. I. Teil: Der spener-hallische Pietismus (Arbeiten zur Theologie: II, Bd. 4), Stuttgart 1965, 25 f.: „Der schwärmerische separatistische Pietismus“; Albrecht Ritschl: „Gemeindebildungen von Separatisten“, in: ders.: Geschichte des Pietismus, Bd. 2: Geschichte des Pietismus in der lutherischen Kirche des 17. und 18. Jahrhunderts. Erste Abtheilung, Bonn 1884, 359–382; Max Goebel: „Geschichte der wahren Inspirations-Gemeinden, von 1688 bis 1850. Als ein Beitrag zur Geschichte des christlichen Lebens, aus bisher unbenutzten Quellen bearbeitet“, in: Zeitschrift für die historische Theologie 24 (1854), 267–322 u. 377–438; 25 (1855), 94–160 u. 327–425; 27 (1857), 131–151; zum radikalen Pietismus vgl. Wolfgang Breul, Marcus Meier u. Lothar Vogel (Hg.): Der radikale Pietismus. Perspektiven der Forschung (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 55), Göttingen 22011; Hans Schneider: Gesammelte Aufsätze 1: Der radikale Pietismus, hg. v. W. Breul (Arbeiten zur Kirchenund Theologiegeschichte, Bd. 36), Leipzig 2011; zur „Mystik in der Radikalen Reformation“ vgl. Bernard McGinn: Die Mystik im Abendland. Band 6/1: Verzweigung. Protestantische Mystik (1500–1650), übers. v. B. Schellenberger, Freiburg/Basel/Wien 2017, 88 ff. 103
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Die „Ideen dieser Mystiker von einem inneren Worte Gottes in dem Menschen“ erhalten in Ammons Darstellung „dadurch ein neues Interesse, daß sie mit dem moralischen Worte der Kantischen Schriftauslegung in mehreren Rücksichten verglichen werden können“.108 Daß „diese Parallele noch von keinem […] gezogen worden ist“, hindert Ammon nicht, „die Aehnlichkeit beider Systeme“ festzuhalten: Denn wie „unsere Mystiker behaupten, daß unabhängig von aller Erfahrung, ein inneres Wort Gottes, eine himmlische Offenbarung, ein ins Herz geschriebenes Evangelium, ein inneres angebornes Licht vorhanden sey“, so „liegt [nach Kant, auf dessen Religionsschrift – RGV, B 161 / A 152 (AA VI, 112) – Ammon in diesem Zusammenhang direkt verweist] ein aller Erfahrung vorhergehendes, allgemeines, nothwendiges Sittengebot in den Tiefen unserer Vernunft; die lebendige Wirksamkeit dieses Moralgesetzes erzeugt in uns den Glauben an Gott, als die heiligste und mächtigste Vernunft; dieses allgemeine Pflichtgebot dringt sich uns als Wille der Gottheit auf, und wird dadurch auch Quelle der Religion; es ist der Geist, der uns in alle Wahrheit leitet“ [Joh 16, 13; vgl. RGV, B 161 / A 152 (AA VI, 112); RGV, B 220 / A 207, Anm. (AA VI, 145); SF, A 17 (AA VII, 24)].109 Zwar verkennt Ammon nicht, daß die Mystiker „sich nirgends deutlich über das innere Wort und Licht erklärt“ haben, „welches, als eine himmlische Offenbarung in ihren Seelen wohnen sollte“, und gemäß dem „eigentliche[n] Charakter des religiösen Schwärmers“ auch dazu neigten, „sinnliche Gefühle und Bilder ihrer Imagination für reelle Gegenstände und Wirkungen aus einer übersinnlichen Welt“ zu halten.110 Doch ist all „diesen Aeußerungen des Mysticismus […] durch die kritischen Untersuchungen über die Grenzen der menschlichen Vernunft für die Zukunft so sehr vorgebeugt worden, daß sie den Wahrheitsforscher unter keiner, auch noch so sehr veränderten Gestalt, mehr täuschen können“.111 Denn: „Die Feuerprobe der Kritik hat die frommen und andächtigen Gefühle des Mystikers bis zu den rein geistigen Begriffen ‚Sittengesetz, Pflicht und Tugend‘ geläutert, und die Wirksamkeit der sittlichen Vernunft von allem Einflusse der Einbildungskraft befreyet. Diese Kritik hat jeder erträumten sinnlichen Verbindung mit höheren Geistern den Weg auf immer abgeschnitten und die Träumereyen der Theosophen und Schwärmer als nichtige Phantome dargestellt. Sie hat die Vereinigung der Menschen mit dem höchsten aller Geister auf die Annäherung unseres Willens an die 108
Ammon: Ueber die Aehnlichkeit des inneren Wortes einiger neueren Mystiker mit dem moralischen Worte der Kantischen Schriftauslegung, 9 f. 109 Jeweils ebd., 10; vgl. ebd., 11: „unsere Mystiker wollen nicht nur das äußere Wort, sondern auch die ganze Theologie und Religion, auf das innere, himmlische Wort in dem Menschen zurückführen und mit demselben vereinigen. Kant, der das Moralgesetz als Quelle aller Religion und Theologie betrachtet, dringt auf eine durchgängige Deutung der äußeren Offenbarung zu einem Sinne, der mit den allgemeinen Vorschriften einer reinmoralischen Religion zusammenstimmt.“ 110 Jeweils ebd., 12. 111 Ebd., 13.
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Reinheit des göttlichen, und auf den moralischen Emporschwung unseres Herzens im Glauben zu der Weisheit und Heiligkeit Gottes eingeschränkt“.112
Es ist die moralis interpretatio,113 die Auslegung der Buchstaben der Schrift aus dem Geist der praktischen Vernunft, die es Ammon erlaubt, „[i]n der kritischen Moralphilosophie und Religionslehre […] demnach die ‚Kantianisierung‘ der mystischen Tradition durch ihre ‚Läuterung‘ und Konzentration auf den ‚wahren‘ Kern [zu erblicken]: das innere Wort der vernünftigen Offenbarung, das zur Moral führt und – wie bei Kant – Visionen und direkte Kontakte zur übersinnlichen Welt als subjektive Imagination interpretiert. Kant als Erfüller und Vollender des Mystizismus von Karlstadt bis Böhme !“114 Denn in Ammons Lesart hat Kants Kritik „zwar unmittelbare Offenbarungen Gottes durch die sittliche Verunft, und einen damit nothwendig zusammenhängenden Glauben eingeräumt, und räumt sie noch gegenwärtig ein; allein sie hat auch unwidersprechlich dargethan, daß kein positives Gebot unmittelbar von Gott seyn […] könne. Dabey hat sie die Bedürfnisse des sinnlichen Menschen, der erst allmählig zur Vernunft und moralischen Frey112
Ebd. Kant fordert „eine Auslegung der uns zu Händen gekommenen Offenbarung“ als „durchgängige Deutung derselben zu einem Sinn, der mit den allgemeinen praktischen Regeln einer reinen Vernunftreligion zusammenstimmt. Denn das Theoretische des Kirchenglaubens kann uns moralisch nicht interessiren, wenn es nicht zur Erfüllung aller Menschenpflichten als göttlicher Gebote (was das Wesentliche aller Religion ausmacht) hinwirkt. Diese Auslegung mag uns selbst in Ansehung des Texts (der Offenbarung) oft gezwungen scheinen, oft es auch wirklich sein, und doch muß sie, wenn es nur möglich ist, daß dieser sie annimmt, einer solchen buchstäblichen vorgezogen werden, die entweder schlechterdings nichts für die Moralität in sich enthält, oder dieser ihren Triebfedern wohl gar entgegen wirkt“ (RGV, B 158 / A 150 (AA VI, 110)). Von Seiten einer historisch-kritischen Bibelexegese wurde diese „Kantische A c c o m o d i r m e t h o d e“ (Christian Wilhelm Flügge: Versuch einer historisch-kritischen Darstellung des bisherigen Einflusses der Kantischen Philosophie auf alle Zweige der wissenschaftlichen und praktischen Theologie [1796], Hildesheim/New York 1982, 126), als deren Anhänger Ammon, aber auch Tieftrunk gelten (vgl. ebd., 168 f.), „mit der längst abrogirten mystisch-allegorischen Schriftdeutung in eine Klasse geworfen und moralische Schrifterklärung mit der mystischen vermengt“ (ebd., 129); gegen deren Vorwurf verwahrt Kant sich in SF, A 65 f. (AA VII, 46): „Was aber die vorgebliche Mystik der Vernunftauslegungen betrifft, wenn die Philosophie in Schriftstellen einen moralischen Sinn aufgespäht, ja gar ihn dem Texte aufdringt, so ist diese gerade das einzige Mittel, die Mystik (z. B. eines Swe d e n b o r g s) abzuhalten. Denn die Phantasie verläuft sich bei Religionsdingen unvermeidlich ins Überschwengliche, wenn sie das Übersinnliche (was in allem, was Religion heißt, gedacht werden muß) nicht an bestimmte Begriffe der Vernunft, dergleichen die moralische sind, knüpft, und führt zu einem Illuminatism innerer Offenbarungen, deren ein jeder alsdann seine eigene hat und kein öffentlicher Probirstein der Wahrheit mehr Statt findet.“ Vgl. Robert Theis: „Vorwort“, in: Reinhold Bernhard Jachmann: Prüfung der Kantischen Religionsphilosophie in Hinsicht auf die ihr beygelegte Aehnlichkeit mit dem reinen Mystizism. Mit einer Einleitung von Immanuel Kant, hg. v. R. Theis (Europaea memoria: II, Bd. 1), Hildesheim/ Zürich/New York 1999; vii–xxiv: xi ff. 114 Stengel: Aufklärung bis zum Himmel, 703. 113
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heit reift, und seine ebendeßwegen nothwendige Abhängigkeit von der Leitung einer historischen Religion und Offenbarung, keinesweges übersehen; aber sie will dieses äußere historische Wort moralisch gebeugt, moralisch gedeutet und angewendet wissen, weil nur auf diesem Wege Vernunft und Schrift, mittelbare und unmittelbare Offenbarung Gottes vereinigt, weil nur auf ihm die Menschen zur Wahrheit und Tugend geleitet und der große Plan der Vorsehung zur Veredelung und Beglückung freyer Wesen ausgeführt und vollendet werden kann“.115
Im Sinne der von ihm angeführten und unter Verweisen auf Gottfried Arnolds (1666–1714) Unparteiische Kirchen- und Ketzerhistorie116 zitierten Mystiker entfaltet Ammon seine These von der Kongruenz von Offenbarung und Vernunft, die nämlich davon ausgeht, „daß Gott sich dem Menschen innerlich offenbare“ (Karlstadt),117 indem „das Wort des Lebens und Glaubens durch den Finger Gottes von Gott selbst in die Tafeln des Herzens geschrieben“ (Schwenckfeld) werde,118 was wiederum nichts anderes sei als „das angeborene Licht in Jedem, daraus alle Erkenntnis fließt und ist in uns Allen“ (Weigel).119 Und wenn dieses unauslöschliche innere Licht und Wort mit Kants kategorischem Imperativ in Verbindung gebracht wird, dann kann Ammons Parallelisierung sich nicht ohne erste Plausibilität darauf berufen, daß auch Kant in der Tat von einem „Factum der Vernunft“120 115 Ammon: Ueber die Aehnlichkeit des inneren Wortes einiger neueren Mystiker mit dem moralischen Worte der Kantischen Schriftauslegung, 13 f. 116 Vgl. Dietrich Blaufuß u. Friedrich Niewöhner (Hg.): Gottfried Arnold (1666–1714). Mit einer Bibliographie der Arnold-Literatur ab 1714 (Wolfenbütteler Forschungen, Bd. 61), Wiesbaden 1995; Antje Mißfeldt (Hg.): Gottfried Arnold. Radikaler Pietist und Gelehrter. Jubiläumsgabe von und für D. Blaufuß und H. Marti, Köln/Weimar/Wien 2011. Auch zwei Anhänger Arnolds sind insbesondere in ihrer Konzentration auf das innere Wort und in ihrer Nähe zum Quäkertum von Relevanz, nämlich Johann Konrad Dippel (1673–1734) und Ernst Christoph Hochmann von Hochenau (1669/1670–1721): „Dippel kritisierte die Lehre von der Heiligen Schrift als ‚Bibliolatrie‘. Gegen die Gleichsetzung von Bibel und Wort Gottes, an der der Pietismus festhielt, betonte er den Unterschied zwischen beiden. […] Als Christus oder Wort Gottes verstand Dippel das innere Wort, durch das Gott Leben und Kraft unmittelbar im Menschenherzen wirkt. Der ‚Christus für uns‘ wurde ihm bedeutungslos gegenüber dem ‚Christus in uns‘. Dippel gelangte damit zu der – ähnlich bei den Quäkern begegnenden – Anschauung von der Universalität des Wortes Gottes […] In der Indifferenz gegenüber Kirche und Dogma und in der Ablehnung jeder Gemeindebildung mit Dippel einig, zeitweilig mit ihm in enger Kampfbereitschaft gegen die Orthodoxie streitend, hat Hochmann, der ‚Bahnbrecher des Separatismus‘ (H. Renkewitz), nicht nur beim Adel und beim Bürgertum, sondern bis in die unteren Schichten des Bauern- und Handwerkerstandes Anhänger gefunden. […] Wie Dippel ging es ihm um ein innerliches Geistchristentum“ (Johannes Wallmann: Der Pietismus, Göttingen 2005, 165 ff.). 117 Ammon: Ueber die Aehnlichkeit des inneren Wortes einiger neueren Mystiker mit dem moralischen Worte der Kantischen Schriftauslegung, 7. 118 Ebd., 8. 119 Ebd. 120 KpV, A 55 f. (AA V, 31): „Man kann das Bewußtsein dieses Grundgesetzes ein Factum der Vernunft nennen, weil man es nicht aus vorhergehenden Datis der Vernunft, z. B. dem Bewußt-
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spricht, das „für sich selbst fest[steht]“,121 „für sich selbst einleuchtet“122 und „von selbst im Gemüthe Eingang findet“,123 von einer „himmlischen Stimme“ des Gewissens,124 die „unvermindert in unserer Seele [erschallt]“125 und der endlichen Vernunftnatur „unüberschreibar“126 in den Ohren liegt, wodurch aller Menschen „Verstand schon durch die Vorstellung des Gesetzes ihrer Pflicht erleuchtet ist“.127 Es ist der unverderbliche „Keim des Guten, der in unserer Gattung liegt“,128 nämlich „ein praktisches Erkenntniß, das […] jedem, auch dem einfältigsten Menschen so nahe liegt, als ob es ihm buchstäblich ins Herz geschrieben wäre“129 und sein der Freiheit (denn dieses ist uns nicht vorher gegeben), herausvernünfteln kann, sondern weil es sich für sich selbst uns aufdringt als synthetischer Satz a priori, der auf keiner, weder reinen noch empirischen, Anschauung gegründet ist, ob er gleich analytisch sein würde, wenn man die Freiheit des Willens voraussetzte, wozu aber, als positivem Begriffe, eine intellectuelle Anschauung erfordert werden würde, die man hier gar nicht annehmen darf. Doch muß man, um dieses Gesetz ohne Mißdeutung als g e g e b e n anzusehen, wohl bemerken: daß es kein empirisches, sondern das einzige Factum der reinen Vernunft sei, die sich dadurch als ursprünglich gesetzgebend (sic volo, sic jubeo) ankündigt“; vgl. Christian Rößner: „Das Datum der Vernunft. Zur Rekonstruktion der Grundlegung von Kants praktischer Metaphysik im Ausgang von Emmanuel Levinas“, in: Inga Römer (Hg.): Subjektivität und Intersubjektivität in der Phänomenologie (Studien zur Phänomenologie und Praktischen Philosophie, Bd. 24), Würzburg 2011, 187–199; Christian Rößner: Der „Grenzgott der Moral“. Eine phänomenologische Relektüre von Immanuel Kants praktischer Metaphysik im Ausgang von Emmanuel Levinas (Phänomenologie: Kontexte, Bd. 26), Freiburg/München 2018, 189–303. 121 KpV, A 82 (AA V, 47). 122 RGV, B 77 / A 71 (AA VI, 62). 123 KpV, A 154 (AA V, 86); vgl. KpV, A 269 (AA V, 151). 124 KpV, A 62 (AA V, 35); zur „ehernen Stimme“ vgl. VT, A 417 (AA VIII, 402); zur „Stimme der Vernunft“ vgl. Rößner: Der „Grenzgott der Moral“, 304–422; Margit Ruffing: „Kants ‚Stimme der Vernunft‘ – Analyse einer unauffälligen Metapher“, in: Patricia Kauark-Leite, Giorgia Cecchinato, Virginia de Araujo Figueiredo, Margit Ruffing u. Alice Serra (Hg.): Kant and the Metaphors of Reason (Europaea memoria: I, Bd. 113), Hildesheim/Zürich/New York 2015, 195–204. 125 RGV, B 50 / A 46 (AA VI, 45). 126 KpV, A 62 (AA V, 35); vgl. OP (AA XXII, 65): „der categorische Imperativ der Pflicht, weicht keiner Macht die seiner Stimme wiederstehen könnte“. 127 EaD, A 520 (AA VIII, 338); zur „erleuchteten praktischen Vernunft“ vgl. auch EaD, A 515 (AA VIII, 336) bzw. die „die Seele moralisch erleuchtende[…] Vernunft“ in VT, A 410 (AA VIII, 399) und den „durchs heilige moralische Gesetz erleuchtete[n] […] gemeine[n] Mann“ in Refl 8101 (AA XIX, 644). 128 RGV, B 67 / A 61 (AA VI, 57); vgl. Christian Rößner: „Der gute Wille und das böse Herz. Kants ‚moralische Gesinnung im Kampfe‘“, in: Franz Fromholzer, Michael Preis u. Bettina Wisiorek (Hg.): Noch nie war das Böse so gut. Die Aktualität einer alten Differenz (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte, Bd. 295), Heidelberg 2011, 71–89. 129 RGV, B 280 / A 264 (AA VI, 181); vgl. die „Vorschriften der Pflicht, wie sie ursprünglich ins Herz des Menschen durch die Vernunft geschrieben sind“, in RGV, B 116 / A 107 (AA VI, 84); vgl. RGV, B 148 / A 140 (AA VI, 104): „die reine m o r a l i s c h e Gesetzgebung, dadurch der Wille Gottes ursprünglich in unser Herz geschrieben ist“; zu der „in aller Menschen Herz geschriebenen R e l i g i o n“ vgl. auch RGV, B 239 / A 225 (AA VI, 159); Topos und Metapher der Herzenseinschreibung sind Kant über Jean-Jacques Rousseau: Émile ou De l’éducation, IV (Œuvres complè-
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also immer schon „längst in aller Menschen Vernunft gewesen und ihrem Wesen einverleibt“130 ist. Bevor die damit nur angedeutete Parallele mit Ammon und Wilmans systema tisch weiter auszuarbeiten ist,131 gilt es mit Blick auf die Quellenfrage einerseits die große Bedeutung von Ammons kleiner Schrift für Wilmans’ dissertatio festzuhalten, andererseits aber auch zu konstatieren, daß unter Verweis auf die genannten mystischen Autoren des 16. und 17. Jahrhunderts die Frage natürlich noch nicht beantwortet ist, zu welchen Mystikern Wilmans im ausgehenden 18. Jahrhundert im persönlichen Kontakt einer consuetudo stand. Um hier einer möglichen Antwort näherzukommen, ist die von Wilmans nach und neben Ammon angeführte Apologie des Robert Barclay (1648–1690) von Relevanz, welche in ihrer Prägung durch die kabbalistische Mystik des „Christian Quaker“ George Keith (1638–1716)132 als eine Art summa theologica des Quäkertums gilt, von dem sich Wilmans’ mystische Separatisten in den Glaubensgrundsätzen ihrer Religion auch nicht unterscheiden: „Von den Quäkern unterscheiden sich diese Separatisten nicht in ihren Religionsg r u n d s ä t z e n, aber wohl in der Anwendung derselben aufs gemeine Leben. Denn sie kleiden sich z. B., wie es gerade Sitte ist, und bezahlen alle sowohl Staats- als kirchliche Abgaben. Bei dem gebildeten Theile derselben habe ich nie Schwärmerei gefunden, sondern freies, vorurtheilloses Räsonnement und Urtheil über religiöse Gegenstände“.133
Wilmans’ ostwestfälische Heimat hatte dadurch einen besonderen Bezug zum Quäkertum, daß Barclay bereits 1676 und 1677 von Nordschottland aus nach Holland und Deutschland gereist war, wo er den Kontakt zu seiner entfernten Verwandten Elisabeth von der Pfalz (1618–1680)134 suchte, die mit René Descartes tes, hg. v. B. Gagnebin u. M. Raymond, Bd. IV), Paris 1969, 594 vermittelt und gehen zurück auf Röm 2, 14 f. 130 KpV, A 188 (AA V, 105); vgl. MS TL, A 99 (AA VI, 438); in Anlehnung an Augustinus ließe sich das dem Menschenwesen von jeher „einverleibte“ Faktum reformulieren als eine „religio […] insita […] et medullitus implicata“ (Augustinus: Contra Academicos, II, 2, 5). 131 Während Theis: „Vorwort“, xvii, Anm. Ammons Schrift nicht als Quelle für Wilmans gelten lassen will, da diese „in ihrer allgemeinen Tendenz in die entgegengesetzte Richtung“ gehe, gibt es gute Gründe, mit Leisegang: „Kant und die Mystik“, 12 ff. daran festzuhalten, daß sowohl Wilmans als auch Ammon gemäß ihrer parallelen Titel auch beide in der Tat primär die Ähnlichkeit zwischen dem verbum morale Kants und dem verbum internum der Mystiker zu unterstreichen unternehmen; in der „praefatio“ [v] stellt Wilmans selbst sein prinzipielles Einverständnis mit Ammon heraus: „In Ammonis […] libello, quae proposita reperiebam, ea mihi verissima quidem videbantur firmissimaque“; so sieht auch Brandt: Universität zwischen Selbst- und Fremdbestimmung. Kants „Streit der Fakultäten“, 69, Anm. Wilmans in „Abhängigkeit von Ammon“. 132 Vgl. Claus Bernet: „Keith, George“, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon XXX (2009), 752–787. 133 SF, A 127 (AA VII, 75). 134 Vgl. Heinrich Otto: Pfalzgräfin Elisabeth, Fürstäbtissin von Herford, Bad Pyrmont 1940.
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(1596–1650) in einem bedeutsamen Briefwechsel135 gestanden hatte, auch mit dem Radikalpietisten und von Böhme tief beeinflußten Sophien-Mystiker Johann Georg Gichtel (1638–1710)136 korrespondierte137 und seit 1667 als Äbtissin der Fürstabtei Herford in der Grafschaft Ravensberg vorstand.138 Sie hatte schon 1670 den Labadisten Zuflucht gewährt, gestattete nun den Quäkern, in ihrem Frauenkonvent zu gottesdienstlichen Andachten zusammenzukommen, und setzte sich auch politisch engagiert für ihre Duldung ein.139 Was im Kern des Quäkerglaubens steht und ihn sowohl mit Ammons kantianisierendem Offenbarungsrationalismus als auch mit Wilmans’ Mystikern verbindet, ist die paradoxerweise noch deren Separatismus begründende universalistische Überzeugung von einem inneren Licht oder inneren Wort,140 das den Quäkern als „das von Gott in jedem Menschen“ gilt, als unmittelbare Offenbarung und „von Ewigkeit her in uns einwohnende[s] Christenthum“.141 Anschließend an Röm 10, 8 hält Barclays Apologie also fest: 135 René Descartes: Der Briefwechsel mit Elisabeth von der Pfalz. Französisch-Deutsch, hg. v. I. Wienand u. O. Ribordy, übers. v. I. Wienand, O. Ribordy u. B. Wirz, Hamburg 2015. 136 Vgl. Bernard Gorceix: Johann Georg Gichtel. Théosophe d’Amsterdam, Lausanne 1975; Sibylle Rusterholz: „§ 2. Jakob Böhme und Anhänger“, in: Helmut Holzhey u. Wilhelm SchmidtBiggemann (Hg.): Die Philosophie des 17. Jahrhunderts, Bd. 4: Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation. Schweiz. Nord- und Ostmitteleuropa (Grundriss der Geschichte der Philosophie, begründet v. F. Ueberweg, völlig neu bearbeitete Ausgabe hg. v. H. Holzhey), Basel 2001, 61–102: 96–102. 137 Vgl. Claus Bernet: „Das Innerste meines Hertzens mittheilen: Die Korrespondenz Johann Georg Gichtels an die Fürstäbtissin Elisabeth zu Herford“, in: Historisches Jahrbuch für den Kreis Herford 16 (2009), 203–220. 138 Vgl. Helge Bei der Wieden: „Ein Schloß auf dem Mond und eine Versorgung in Westfalen. Der Weg der Pfalzgräfin Elisabeth nach Herford“, in: Historisches Jahrbuch für den Kreis Herford 6 (1998), 7–38. 139 Vgl. dazu Sünne Juterczenka: Über Gott und die Welt. Endzeitvisionen, Reformdebatten und die europäische Quäkermission in der Frühen Neuzeit (Veröffentlichungen des Max-PlanckInstituts für Geschichte, Bd. 143), Göttingen 2008, 140–146. 140 Eine besonders prägnante Zusammenfassung der Inhalte des Quäkerglaubens liefert Carl Ludwig Sackreuter: Christliche Religions- und Kirchengeschichte dargestellt für gebildete Familien und Lehrer an Volksschulen zur Erweckung und Bewahrung evangelischer Glaubenstreue und Glaubensfreudigkeit, Bd. 2, Darmstadt 21843, 194: „Was die L e h r e n der Quäker betrifft, so beziehen sich solche hauptsächlich darauf, daß in der menschlichen Seele ein Funke des göttlichen Wesens, ein i n n e r e s L i c h t , vorhanden sei, welches aber durch den Körper verdunkelt und unterdrückt werde. Diesen innern göttlichen Funken nennen sie auch den C h r i s t u s i n u n s, d a s i n n e r e Wo r t , d i e h i m m l i s c h e S o p h i a . Das ä u ß e r e Wo r t Gottes, die heilige Schrift, führt den Menschen nicht zur Seligkeit, sondern gewährt ihm blos Anleitung, auf das innere Wort Gottes zu merken. Das innere Wort Gottes haben alle Menschen und dieses wirkt auch in Nichtchristen und führt sie zum Heile, und alle Menschen, welche auf dasselbe achten, sind Mitglieder der Kirche Christi, wenn sie auch äußerlich nicht dazu gehören; auf den inneren Christus allein kommt es an; dieser allein soll für uns Norm des Glaubens und Lebens sein. Die Geschichte Christi ist an sich entbehrlich, und blos als Abbild dessen anzusehen, was der innere Christus in uns wirkt. Der irdische Leib, als Quelle des Bösen, wird nicht wieder auferstehen“. 141 SF, A 125 (AA VII, 74).
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„Die fürnehmste Richtschnur der Christen unter dem Evangelio ist kein äusserlicher Buchstabe, noch auch ein äusserlich geschriebenes und überliefertes Gesetz; sondern ein innerliches geistliches Gesetz, d a s i n s He r z e i n g e g r a b e n i s t, d a s G e s e t z d e s G e i s t e s, d e r d a le b e n d i g m a c h e t, d a s Wo r t, s o n a h e i s t, i n d e m He r z e n u n d i n d e m M u n d e.“142
Charakteristisch für die allgemein als besonders sittenstreng143 geltenden Quäker ist eine Art Gewissensspiritualität,144 die für die einen resultiert aus einer 142
Robert Barclays Apologie. Oder Vertheidigungs-Schrift der wahren christlichen Gottesgelahrheit. Wie solche unter dem Volk, so man aus Spott Quaker, das ist, Zitterer nennet, vorgetragen und gelehret wird, Germantown 1776, 118. 143 Vgl. Sackreuter: Christliche Religions- und Kirchengeschichte, 195 f.; in quasi-kantischer Diktion spricht schon Johann Matthias Schröckh: Christliche Kirchengeschichte seit der Reformation, fortgesetzt v. H. G. Tzschirner, Bd. IX, Leipzig 1810, 368 von einem „moralischen Rigorismus der Secte“, der ihr wesentlich sei: „Das Princip des Quäkerthums war, obgleich roh und unentwickelt, schon da in dem Gemüthe des Georg Fox vorhanden, als er zu predigen begann; denn Fox rühmte nicht nur sich selbst unmittelbarer innerer Offenbarungen, sondern sprach auch von einem innern Lichte, welches jeden, der darauf achte, erleuchte, von einem innern Worte, welches jeder, der darauf merke, vernehme, von den unmittelbaren innern Offenbarungen, welche jedem, der den göttlichen Geist suche, zu Theil würden. Die Meinung aber, daß sich Gott jedem Menschen, wenn er nur des göttlichen Geistes harre, durch eine unmittelbare und innerliche Einwirkung auf das Gemüth offenbare, ist das Princip des Quäkerthums, mit welchem alle Eigenheiten der Secte, abgesehen von wenigen zufälligen Sitten und Gewohnheiten, näher oder entfernter zusammenhängen. In dieser Meinung lag der Grund des Tadels und der Verachtung der bestehenden Kirche, welche sich nur an das äussere Wort, nur an den todten Buchstaben halte, die Menschen gewöhnte, sich mit leeren Formeln und mit Cärimonieen zu begnügen und sie hindere, auf das innere und lebendige Wort, auf den Geist, welcher Zeugniß giebt dem Geiste, zu achten. […] In dieser Meinung lag der Grund von dem Tugendeifer, der Geistesstille, dem Ernste und dem moralischen Rigorismus der Secte; denn das Gefühl von der Nähe des Göttlichen, welches den Mystiker unablässig begleitet, und die lebendige Ueberzeugung von der Realität des Uebersinnlichen, welche nur die Erfahrungen, die ihm zu Theil werden, gewähren können, stärkt […] die sittlichen Motiven […] und erhält das Gemüth in der Richtung auf den letzten Zweck des Daseins“ (ebd., 367 f.). 144 Vgl. Walter Nigg: „Georg Fox: Die Vision vom inneren Licht“, in: ders.: Heimliche Weisheit. Mystisches Leben in der evangelischen Christenheit, Zürich/Stuttgart 1959, 274–296: 284: „Auffallend ist die enge Verbindung des inneren Lichtes mit den ethischen Forderungen. Das innere Licht und der kategorische Imperativ sind nicht identisch, aber sie stehen in einem unauflösbaren Zusammenhang. Das Gewissen ist nach Fox der Ort, wo das innere Licht sich offenbart. Es ist ganz der Welt des Unbedingten verhaftet und vermag allein den Hunger des Menschen nach dem Absoluten zu stillen. Das Gerede von der ethischen Indifferenz der Mystik löst sich angesichts der engen Verbindung vom inneren Licht und Gewissen wie eine Morgenwolke auf. Denkt man an die Unerbittlichkeit, mit der Fox die Pflicht zur unbedingten Wahrhaftigkeit geltend macht, so fällt der Anwurf von der sittlichen Neutralität des mystischen Lebens in ein Nichts zusammen. Das innere Licht vermittelt dem Menschen die ewigen Gebote als die Stimme Gottes, vor der es kein Ausweichen gibt; es verfügt über die gleiche Unerbittlichkeit, die dem ‚Du sollst‘ des Dekalogs innewohnt. Da sich das innere Licht vorwiegend im Gewissen manifestiert, ist es in jedem Menschen vorhanden. […] Wer menschliches Antlitz trägt, besitzt die innere Stimme, die mit aller Oberflächlichkeit, Raffgier und Betäubungssucht nicht zum Verstummen
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schwärmerischen Mystifizierung der Moral,145 doch in den Augen anderer in eine nüchterne Moralisierung der Mystik mündet – womöglich bis hin zu deren kantkompatibler Reinheit und Universalität gemäß Röm 2, 14 f. Noch gut ein Jahrhundert nach Barclays Besuchen, bei denen er auch Bücher in Herford hinterlassen hatte,146 kamen im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts Quäker aus dem angelsächsischen Ausland auf Missionsreisen insbesondere in die Gegend um Pyrmont, wo der aufgeklärte Fürst Friedrich Karl August von Waldeck-Pyrmont (1743–1812) religiösen Minderheiten gegenüber eine Politik der Toleranz praktizierte und 1792 gar „die erste und einzige geschlossene Siedlung der ‚Christlichen Gesellschaft der Freunde‘, wie sich die Quäker in Deutschland selbst nannten“,147 ermöglichte.
gebracht werden kann. Das Licht Christi im Menschen ist nicht auf wenige Auserwählte eingeschränkt. Es geht alle an, alle werden einbezogen, und gerade in dieser Universalität bekundet es seine Göttlichkeit. […] Die Vision vom inneren Licht ist weder mit dem Gewissen gleichzusetzen, obschon auch diese Stimme das über die Natur hinausgehende ist, noch mit der Vernunft in Parallele zu bringen, wenn sie auch eine Leuchte des Herrn ist, und trotzdem steht sie mit beiden in einer Verbindung. Sowohl Gewissen als Vernunft weisen den Menschen auf das innere Licht hin, das jedoch in seinem Wesen eine mystische Angelegenheit ist.“ 145 Mit Spott spart nicht Johann Christoph Adelung (1732–1806) in seiner Geschichte der menschlichen Narrheit, oder Lebensbeschreibungen berühmter Schwarzkünstler, Goldmacher, Teufelsbanner, Zeichen- und Liniendeuter, Schwärmer, Wahrsager, und anderer philosophischer Unholden. Zweyter Theil, Leipzig 1786, 81 f.: „Unter allen Schwärmern in der Religion (denn es gibt ihrer in allen Wissenschaften,) sind die Quaker eine der größten und plumpesten, weil sie nicht allein allen rechtmäßigen Gebrauch in Erforschung der Wahrheit, sondern auch jede nützliche Wissenschaft und gelehrte Kenntniß hassen und verachten, und ihre Einbildungskraft und Empfindungen für den einzigen und höchsten Erkenntnißgrund in der Religion ausgeben, nach welchem sogar die heil. Schrift erkläret und beurtheilet werden muß. Dieser Erkenntnißgrund ist nun ihr inneres Licht, das innere Wort, der heil. Geist, der Christus in uns, oder wie sie das Ding sonst nennen, welcher sich denn durch häufige Eingebungen, Offenbarungen, Erscheinungen und Träume bey ihnen äussert. Da Geisteskräfte, welche vorzüglich geübt werden, auch einen vorzüglichen Grad der Stärke erhalten, der Quaker aber seine Einbildungskraft und Empfindungen unaufhörlich auf die Folter spannet, um des innern Lichtes theilhaftig zu werden, so lassen sich die ausserordentlichen Verzuckungen, worein er zuweilen fällt, ganz natürlich erklären, ohne daß man sie eben für Betrug und Verstellung halten dürfte. Es ist daher die Mühe werth, das Leben eines Mannes kennen zu lernen, welcher die Welt, zur Schande der Vernunft mit einer so sonderbaren Secte beschenket hat, deren schnelle und große Ausbreitung aller ihrer Ungereimtheit ungeachtet, unbegreiflich seyn würde, wenn man nicht die große Macht der erhitzten Einbildungskraft selbst über Menschen besserer Art kennete“; Kant selbst läßt in einer auf die erste Hälfte der 1780er Jahre datierten Vorlesung die Bemerkung fallen: „Die größten Schwärmer sind die Quäker in Engelland“ (V-PP/Powalski (AA XXVII, 185)). 146 Vgl. Juterczenka: Über Gott und die Welt, 177. 147 Claus Bernet: „Die radikalpietistische Siedlung Friedensthal: Internationale Netzbeziehungen Deutschland – England – Nordamerika“, in: Jahrbuch für westfälische Kirchengeschichte 103 (2007), 131–155: 134; vgl. ders.: Das Quäkertum in Deutschland, 52 f.; 55.
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Dorthin machte sich 1794 John Pemberton (1727–1795)148 aus Philadelphia auf den Weg, der ihn auch über Herford und Bielefeld führte.149 Unterwegs erkrankte Pemberton und mußte im September 1794 einige Tage das Bett in Bielefeld hüten,150 bevor er Pyrmont schließlich noch erreichte, aber bald darauf am 31. Januar 1795 verstarb und als erster auf dem Friedhof der jungen Quäkerkolonie im „Friedensthal“ bestattet wurde.151 Pemberton stand nicht nur nachweislich in Verbindung zu Charlotte von Laer (1760–1824), „einer dem Quäkertum nahestehenden religiösen Schwärmerin“,152 die eine Kreuzcousine von Carl Arnold Wilmans war, sondern hat allem Anschein nach auch das Haus der Familie Wilmans in Bielefeld besucht, wo sich „Personen aufhielten, die dem Quäkertum nahestanden“.153 So ist es sehr wahrscheinlich, daß Pemberton in seinem Reisebericht eine kurze Charakterisierung eben der sogenannten Separatisten gibt, die Carl Arnold Wilmans drei Jahre später in seiner Dissertation als jene ihm persönlich bekannten,
148 Vgl. Rufus M. Jones: The Later Periods of Quakerism, London 1921, 25–30; Claus Bernet: „Pemberton, John“, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon XXVIII (2007), 1218–1222. 149 A Testimony of the Monthly Meeting of Friends, at Pyrmont in Westphalia, Germany, concerning John Pemberton, of Philadelphia in North America, with His Epistle to the Inhabitants of Amsterdam, Philadelphia 1798, 6: „he directed his course by way of Lingen, Oznaburg [sic], Herfood [sic], Bielefeld, &c. to Pyrmont, feeling an inward draught in his mind to these parts of Germany“; „Testimony of the Monthly Meeting of Philadelphia, concerning John Pemberton“, in: Memorials concerning Deceased Friends: Being a Selection from the Records of the Yearly Meeting for Pennsylvania, &c. from The Year 1788 to 1819 inclusive, Philadelphia/London 1821, 58–68: 64: „Finding his mind drawn to visit the few Friends settled at Pyrmont in Germany, he proceeded on the journey, and got to Hertford [sic] in Westphalia, the 27th of the Eighth-month. The next day, walking about five miles to see some religious people, and being caught in the rain, he took a heavy cold; the effect of which he never fully recovered. After being some time confined there, he was enabled to proceed Ufelen, Bielefield [sic], Lemgo, Barrenstrop, &c. to Pyrmont, where he arrived the 12th of the Ninth-month, having had meetings and acceptable service at all the before-mentioned places, and many others on his way from Amsterdam, particularly at Bielefield [sic], where he had a large public meeting, and many select opportunities, and also visited numbers of the principal inhabitants, being generally well received, and his religious labours appearing to be acceptable“. 150 A Testimony of the Monthly Meeting of Friends, at Pyrmont in Westphalia, Germany, concerning John Pemberton, of Philadelphia in North America, with His Epistle to the Inhabitants of Amsterdam, Philadelphia 1798, 7: „he was caught in a shower of rain, and his tender constitution being much weakened by age and travelling, it brought a severe cold on him, from which he never fully recovered afterwards, and his illness increasing upon him when at Bielefeld, it reduced him so much, that he was obliged to keep his bed and chamber for some time“; vgl. John McClintock u. James Strong: Cyclopædia of Biblical, Theological and Ecclesiastical Literature, Bd. VII, New York 1894, 883. 151 Vgl. Leonhard Friedrich: „Friends around Pyrmont in the early Nineteenth Century“, in: The Journal of the Friends’ Historical Society 48, 6 (1958), 260–266: 262. 152 Schindler: Reich durch Leinenhandel ?, 4; vgl. ausführlich ebd., 262 ff.; vgl. auch Claus Bernet: „Laer, Charlotte van [von]“, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon XXXV (2014), 831 f.; ders.: Das Quäkertum in Deutschland, 136–142. 153 Bernet: Das Quäkertum in Deutschland, 104.
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quasi-quäkerischen Mystiker vorstellen wird, die sich durch ihr „freies, vorur theilloses Räsonnement und Urtheil über religiöse Gegenstände“ auszeichnen und folglich „wahre Kantianer sein [würden], wenn sie Philosophen wären“:154 „Second-day [8. September 1794], in the afternoon, I paid visits to two families, in each of which we were favoured with counsel and instruction, and they manifested their affection at parting. These were people esteemed rich, and who have goodstirring in their minds, but are not yet brought to a willingness, without reserve, to confess Christ before men; and thus some of them are standing in the way of honest inquirers in a lower station; these saying, What does such a man say to this doctrine ? After supper several came to the inn, and we had a religious opportunity, the Lord condescending to open counsel, which reached the witness in their hearts. As L. Seebohm lodged at the house of one of them,155 he heard him in conversation saying, ‚this doctrine of the cross is the same which Sarah Grubb156 preached to me;‘ but they entered into arguments to evade the force of the testimony. Divers of these people have separated from the public worship; they read much, and being men of good parts, comprehend much in the head, and can reason and argue, but will not as yet bow to the lowly appearance of Christ, nor submit to confess him openly, by a subjection of the will, and obedience to the truth. I was much spent with these visits, and the labour in them, and had a fever all night; yet was favoured with peace; a full recompense“.157
154
SF, A 126 (AA VII, 74). Nach Bernet: Das Quäkertum in Deutschland, 104 wohnte L. Seebohm auch in späterer Zeit (1821–1822) „[v]ermutlich […] bei der Familie Willmann [sic], die schon im 18. Jahrhundert Kontakte zu englischen Quäkern hatte. Bereits John Pemberton hatte 1794 erwähnt, dass sich dort Personen aufhielten, die dem Quäkertum nahestanden. Später wohnte dort Charlotte van Laer, die dem Quäkertum auch nach ihrem Ausschluss verbunden und mit Seebohm bekannt war. Insbesondere der Leinenfabrikant Karl [Carl Arnold] Willmann [Wilmans] und seine Frau hatten Umgang mit Quäkern und waren wegen ihrer Kenntnis mystischer Schriften geschätzt“. 156 Sarah Grubb (1756–1790), quietistische Quäkerin und Pädagogin, nahm an vielen Missionsreisen teil, hatte Kontakt zu den Rintelner Separatisten um L. Seebohm (vgl. Jones: The Later Periods of Quakerism, 238 u. 889) und hielt sich auch längere Zeit in Friedensthal bei Pyrmont auf; vgl. Claus Bernet: „Grubb, Sarah“, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon XX (2002), 656–658; ders.: Das Quäkertum in Deutschland, 37 f.; 40 f. 157 „The Life and Travels of John Pemberton“, in: William Evans u. Thomas Evans (Hg.): The Friends’ Library: Comprising Journals, Doctrinal Treatises, and Other Writings of Members of the Religious Society of Friends, Bd. VI, Philadelphia 1842, 267–380: 370; in unmittelbarem Anschluß folgt die Schilderung der Begegnung mit Charlotte von Laer: „Third-day, very heavy rain the whole day. In the afternoon a friendly good spirited woman came about four miles to see us. She had been at several meetings, and said that the first time she saw us she felt great love, and would have been willing to entertain us and do her utmost for us, had we needed her help. She said, the people had strange notions respecting us. […] Sixth-day, […] We arrived at Pyrmont about three o’clock, and were visited by several of those called Friends here, and among them the young woman of Bielefeld, Charlotte Vanlaer“. 155
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Der in diesem Bericht namentliche Erwähnung findende Johann Georg Ludwig Seebohm (1757–1835)158 war von besonderer Bedeutung: als Kaufmann kam er 1789 nach London und dort in persönlichen Kontakt zu Quäkern; er bestellte mehrere grundlegende Schriften des Quäkertums und nahm so auch zwei Ausgaben von Barclays Apologie mit zurück nach Deutschland;159 L. Seebohm hatte sich bereits vor der Ankunft der ersten auswärtigen Quäker (1790) von der lutherischen Amtskirche durch eine außerkirchliche Heirat separiert und war in Rinteln in der Grafschaft Schaumburg an der Etablierung einer „Gesellschaft der Frommen“,160 eines eng an „Lehre und Lebenspraxis der Quäker“161 angelehnten Konventikels beteiligt gewesen. Die religiös motivierte Radikalität dieses Kreises (u. a. wurden Taufen, Sonntagsruhe, Schulunterricht und Abgaben verweigert, der Ehestand für sündig erklärt und die Einführung der Gütergemeinschaft angestrebt) führte Anfang der 1790er Jahre schließlich zur Ausweisung einer Reihe von Frömmigkeitsfanatikern, welche sich daraufhin mehrheitlich in das nahegelegene und tolerantere Pyrmont begaben. Dort trafen die Rintelner Separatisten – „etwa zwanzig Personen, die teilweise namentlich bekannt sind“162 – mit den Quäkern zusammen. Während nun ein Teil der Rintelner Gruppe auf äußeren Druck zum Luthertum rekonvertierte und andere nun mehr ausschließlich und allein der unsichtbaren Kirche anzugehören vorzogen,163 übernahm L. Seebohm, der nicht nur wichtige Quäkerschriften 158
Vgl. Claus Bernet: „Seebohm, Johann Georg Ludwig“, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon XXIII (2004), 1342–1361; ders.: „Ludwig Seebohm (1757–1835): Founder of Friedensthal“, in: The Friends Quarterly 34, 1 (2004), 20–30; ders.: Das Quäkertum in Deutschland, 87–109. 159 Bernet: Das Quäkertum in Deutschland, 39. 160 Ergänzungsblätter zur Allgemeinen Literatur-Zeitung 51 (29.04.1806), 407: „Im Jahr 1786 erschienen zu Rinteln drey Missionarien der Englischen Quäker, unter welchen sich auch eine Frauensperson befand. Sie versprachen sich daselbst eine desto günstigere Aufnahme, weil die Hessischen Kriegsvölker von den Quäkern, während des Kriegs in Amerika, viel Gutes erfahren hatten; und sie betrogen sich auch nicht in ihrer Erwartung. Allein besonders gewannen sie einige von der Gesellschaft der Frommen, einer Sekte von Separatisten, die sich in jenen Gegenden schon längst ausgezeichnet hatten“ [Referat nach F. C. E. Schmids Ursprung, Fortgang und Verfassung der Quäkergemeinde zu Pyrmont von 1805; s. u.]. 161 Bernet: Das Quäkertum in Deutschland, 37. 162 Ebd., 43: „In Pyrmont trafen die Quäker auf eine kleine radikalpietistische Gemeinschaft, die sich bereits von der lutherischen Kirche getrennt hatte und in Teilen gerade von außerhalb neu zugezogen war. […] Sie bestand aus etwa zwanzig Personen, die teilweise namentlich bekannt sind. Unter diesen befanden sich die Gebrüder Ludwig und Johann Christian Seebohm (geb. 1750), Heinrich Mundhenke, Ludwig Heydorn (1751–1832), Heinrich Meyer (1754–1819), Georg Dirtzel und Heinrich Lange“. 163 Vgl. ebd., 37: „Schüttemeier, Schöning und ein gewisser Rademacher waren die Hauptpersonen einer Gruppe von Radikalpietisten, die sich kurz vor 1790 in Hohenrode und Rinteln zusammengefunden hatte. […] Die Gruppe traf sich zu Andachten im Hause der Familie Johann Hermann und Christina Schüttemeier sowie im Hause eines Ehepaars Zähe (auch Zahe). Nach dem Tod ihres Ehemanns im März 1791 schloss sich seine Ehefrau später aber den Quäkern nicht
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übersetzt und kommentiert, sondern auch seine Glaubensgrundsätze schriftlich reflektiert und der Obrigkeit gegenüber dargelegt hatte,164 nicht zuletzt wegen seiner Kenntnisse der englischen Sprache eine entscheidende Führungs- und Vermittlungsrolle: „Unter Anleitung der Ausländer wurden die Treffen in einem Pyrmonter Wohnhaus wieder aufgenommen, jedoch nicht mehr als Konventikel, sondern als quäkerische Andachtsgruppe. […] Der Kreis war klein, die Hoffnungen und das Engagement groß“.165 Am 28. August 1792 erreichte L. Seebohm, daß ihm über die Duldung hinaus ein Stück Land am Fuße des nahe Pyrmont gelegenen Königsbergs geschenkt wurde, das zur Gründung der ersten deutschen Quäkersiedlung fruchtbar gemacht wurde.166 Deren baldige Bezeichnung als „Friedensthal“ ist durch den Dichter Matthias Claudius (1740–1815) belegt, der die Quäker bei Pyrmont früh und oft besuchte und brieflich von dort berichtete: „Ob Friede im Friedenstal sei, kann ich Dir nicht sagen. Er könnte da sein, wie er überall da sein kann, wo die Menschen ernstlich wollen“.167 Auch Kurgast Goethe, der sich im Sommer 1801 „nach dem damaligen Stärkungssystem […] für Pyrmont bestimmen“168 ließ, wußte, daß dort „mitten in der Weltwoge eine Stadt Gottes“169 entstanden war, von deren Andachten er sich jedoch wenig beeindruckt zeigte: „Ferner besuchten wir die hinter dem Königsberge von Quäkern angelegte wie auch betriebene Messerfabrik und fanden uns veranlaßt, ihrem ganz nah bei Pyrmont gehaltenen Gottesdienst mehrmals beizuwohnen, dessen nach langer Erwartung für improvisiert gelten sollende Rhetorik kaum jemand das erste Mal, geschweige denn bei wiederholtem Besuch für inspiriert anerkennen möchte. Es ist eine traurige Sache, daß ein reiner Kultus jeder Art, sobald er an Orte beschränkt und durch die Zeit bedingt ist, eine gewisse Heuchelei niemals ganz ablehnen kann.“170 an, da sie ‚jede äußere Form des Christentums, auch die quäkerische, ablehnte‘ [Margarethe Tinnappel-Becker: Die Quäker in Bad Pyrmont, Bad Pyrmont 1997, 18]“. 164 Vgl. L. Seebohms Verteidigungsschrift der Grundsätze der edlen Wahrheit gegen einige ungegründete Beschuldigungen der Rintelschen und Schaumburgischen Regierung, in: F. C. E. Schmid: Ursprung, Fortgang und Verfassung der Quäkergemeinde zu Pyrmont [1805], Bad Pyrmont 2017, 29–45; vgl. auch Seebohm, Ludwig: „Bemerkungen über verschiedene Gegenstände des Christentums“ [1794], in: Claus Bernet (Hg.): Deutsche Quäkerschriften des 18. Jahrhunderts (Deutsche Quäkerschriften, Bd. 2), Hildesheim/Zürich/New York 2007, 51–150. 165 Bernet: Das Quäkertum in Deutschland, 44. 166 Vgl. Claus Bernet: „Die Gründung von Friedensthal 1792“, in: Barbara Stambolis (Hg.): Konfessionelle Kulturen in Westfalen (Westfälische Forschungen, Bd. 56), Münster 2006, 117–141. 167 Matthias Claudius: Asmus und die Seinen. Briefe an die Familie (Briefe, hg. v. H. Jessen u. E. Schröder, Bd. 2), Berlin 1940, 32; vgl. Bernet: „Die Gründung von Friedensthal“, 122 f.; ders.: Das Quäkertum in Deutschland, 47 f. 168 Johann Wolfgang Goethe: „Annalen oder Tag- und Jahreshefte als Ergänzung meiner sonstigen Bekenntnisse von 1749 bis 1822“, in: Goethes sämtliche Werke. Neu durchgesehene und ergänzte Ausgabe in sechsunddreißig Bänden, Bd. 26, Stuttgart 1893, 7–250: 53. 169 Ebd., 59. 170 Ebd., 57; vgl. dazu Harry W. Pfund: „Goethe and the Quakers“, in: The Germanic Review
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In der zweiten Hälfte der 1790er Jahre kam es auch unter den ihren Prägungen durchaus heterogenen171 Quäkern zu zeitweiligen Abspaltungen, Wiedereingliederungen und definitiven Absonderungen, die auf einen Streit um den von John Pemberton propagierten Anschluß der Pyrmonter Quäker an die Londoner Jahresversammlung zurückzuführen sind.172 Ein radikaler Separatist namens Schüttemeier aus Hohenrode bei Rinteln wandte sich von den Pyrmonter „Freunden“ ab und später den Herrnhuter „Brüdern“ zu.173 Dieser Mann wird geschildert als „einer von den wenigen Menschen […], welche mitten unter einem kultivierten Volk sich öffentlich von jeder äußeren Religionspartei auf der ganzen Erde losgesagt haben; und dennoch hat er eine sehr vortreffliche Religion. […] Als ich ihn einst fragte, wenn irgendein Umstand eine öffentliche, etwa gerichtliche Erklärung, welcher Religionspartei er anhänge, nötig machen sollte, welche er dann angeben würde ? Antwortete er, dass er sich dann zu der unsichtbaren Kirche bekennen müsste, welche noch auf der Erde zerstreut wäre. Dem Quäkertum nähert er sich indes noch immer am meisten“.174 Auch Wilmans’ Cousine Charlotte von Laer gehörte der Quäkergemeinde ab 1799 nicht mehr offiziell an, unterstützte sie jedoch nicht zuletzt finanziell auch weiterhin.175 Der zitierte zeitgenössische Chronist, der selbst kein Quäker war, hielt den Vorwurf der Schwärmerei den Pyrmonter Quäkern gegenüber jedenfalls für unbegründet und stellte vielmehr ihren sittlichen Ernst, ja ihre geradezu „philosophische Geistesruhe“176 heraus. Von diesen unterschieden sich Wilmans’ Quasi-Kan14 (1939), 258–269; Walther Lampe: „Goethe und Pyrmont“, in: Archiv für Landes- und Volkskunde von Niedersachsen 6 (1941), 35–65; ders.: Goethe in Pyrmont, Bad Pyrmont 1949; Georg Schwedt: Goethe in Göttingen und zur Kur in Pyrmont, Göttingen 1999. 171 Vgl. Bernet: Das Quäkertum in Deutschland, 80: „Eine stark mystisch geprägte radikalpietistische Frömmigkeitspraxis zeichnete die ersten Jahre des Aufbaus von Friedensthal aus. Vorzugsweise solche Personen, die zuvor als Inspirierte oder Separatisten ein religiöses Sonderleben geführt hatten, fanden ihren Weg zu den Quäkern, was innerhalb der Gemeinschaft zu starken Spannungen führte“. 172 Vgl. Friedrich: „Friends around Pyrmont “, 262. 173 Vgl. Schmid: Ursprung, Fortgang und Verfassung der Quäkergemeinde zu Pyrmont, 50. 174 Ebd., 49. 175 Vgl. ebd., 50: „Ein sehr beredtes Frauenzimmer namens Charlotte von Laer, welches sich unter diesen fünf Getrennten befand, lebte jetzt in ihrer Vaterstadt Bielefeld, gleichfalls nach meistens quäkerischen Grundsätzen. Ein drittes Mitglied jener fünf war […] Schöning […]. Der vierte lebt zu Pyrmont, wie Schüttemeier nach seinen eigenen Religionsideen, die sich doch den quäkerischen am meisten nähern; und der fünfte wohnt zu Friedensthal, und ist Quäker geblieben, ohne an den bürgerlichen Versammlungen der Quäker teilzunehmen“. 176 Ebd., 81 ff.: „Und das ist nun die Sekte, welche man immer noch gern eine schwärmerische zu nennen beliebt. Ist Schwärmerei eine Überspannung der Gefühle, ein krankhafter Zustand der Einbildung, so ist etwas dergleichen hier längst nicht mehr zu finden. […] Das ganze Ansehn der Schwärmerei tragen zwar diese Leute noch; allein […] ihr wesentlicher Charakter ist vielmehr Kälte und ruhiges Wesen als Hitze und Ungestüm. Der Stifter war ein Schwärmer, und die Väter waren es. […] Aber der große Haufe handelt ohne Schwärmerei; er
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tianer, „die man Separatisten nennt, die aber sich selbst M y s t i k e r nennen“,177 nach seinen Angaben lediglich dadurch, daß sie alle Abgaben leisteten, keine Sonderrechte beanspruchten und auf äußere Erkennungszeichen wie die Nonkonformistenuniform der auffällig unauffälligen Kleidung der Quäker verzichteten. Da sie in den Grundsätzen mit diesen freilich übereinstimmten, wird man sie zwar wohl nur schwerlich mehr bei nachweisbaren Namen nennen können, aber doch recht präzise situieren dürfen als eine religiös-sittliche Elite von einzelnen „honest inquirers“,178 die im einzigen Vertrauen auf das ihnen ins Herz geschriebene Gesetz des Gewissens als reine Mystiker und individualistische Spiritualisten weder der Mehrheit der offiziellen Amtskirche noch der geduldeten Minderheit der Quäker samt ihrem „Staat im Staate“179 direkt angehörten, sondern als reine Kinder Gottes und Mitglieder der unsichtbaren Kirche mehr oder minder komfortabel zwischen allen Stühlen saßen:180 „these people have separated from the beobachtet zwar viele in und aus Schwärmerei gegebenen Vorschriften, aber mit aller Gleichmütigkeit, aus Gewohnheit und bedingtem Fürwahrhalten. […] Allein die edlern Menschen dieser Gesellschaft sind wirklich von ganzem Herzen, was sie scheinen. Wären sie Denker, so würde man das, was sie so glücklich in dieser Verbindung macht, philosophische Geistesruhe nennen; so aber ist es vielmehr die stille, frohe Hingebung in die Wege der Vorsehung, die gute Ordnung und das Gleichgewicht in den Neigungen, das heitere Bewusstsein persönlicher Würdigkeit. […] Wie unpassend sie alle nach ihrer Denkart Schwärmer genannt werden, so auch Sonderlinge nach ihren Gebräuchen“; vgl. aber auch ebd., 71: „Alle Philosophie betrachten sie als nutzlose und verführerische Klügelei“. 177 SF, A 125 (AA VII, 74). 178 „The Life and Travels of John Pemberton“, 370. 179 Ergänzungsblätter zur Allgemeinen Literatur-Zeitung 51 (29.04.1806), 407: „Eine neue Kirchenpartey, die gewissermaßen einen Staat im Staate bildet, erhält ihre gesetzmäßige Freyheit; und diese Quäker zu Pyrmont sind mit denen zu Preußisch-Minden die einzige Gesellschaft dieser Sekte, nicht nur in Deutschland, sondern auch auf dem ganzen festen Lande von Europa, Frankreich ausgenommen.“ 180 Mit einer von Ernst Troeltsch: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen (Gesammelte Schriften, Bd. I), Tübingen 21919 eingeführten Differenzierung, der als „die drei Haupttypen der soziologischen Selbstgestaltung der christlichen Idee: die Kirche, die Sekte und die Mystik“ (ebd., 967) unterscheidet, ließen sich Wilmans’ Separatisten also der reinen spiritualistischen „Mystik“ zuordnen und von der semi-spiritualistischen „Sekte“ der Quäker (zur Differenz von Täufertum und mystischem Spiritualismus vgl. ebd., 863 ff. und zum Quäkertum als deren präziser Synthese vgl. ebd., 911 ff.) absetzen: „Die Sekte ist die freie Vereinigung strenger und bewußter Christen, die als wahrhaft Widergeborene [sic] zusammentreten, von der Welt sich scheiden, auf kleine Kreise beschränkt bleiben, statt der Gnade das Gesetz betonen und in ihrem Kreise mit größerem oder geringerem Radikalismus die christliche Lebensordnung der Liebe aufrichten, alles zur Anbahnung und in Erwartung des kommenden Gottesreiches. Die Mystik ist die Verinnerlichung und Unmittelbarmachung der in Kult und Lehre verfestigten Ideenwelt zu einem rein persönlich-innerlichen Gemütsbesitz, wobei nur fließende und ganz persönlich bedingte Gruppenbildungen sich sammeln können, im übrigen Kultus, Dogma und Geschichtsbeziehung zur Verflüssigung neigen. Diese drei Formen sind schon in den Anfängen vorgebildet und treten bis heute auf jedem Konfessionsgebiet nebeneinander auf mit allerhand Verschlingungen und Uebergängen untereinander. Zu einer großen Massenwirkung sind nur
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public worship; they read much, and being men of good parts, comprehend much in the head, and can reason and argue“181 – wer, wenn nicht solche Leute, hätte Kantianer sein können, wenn sie Philosophen und nicht „Kaufleute, Handwerker und Landbauern“182 gewesen wären ?
die Kirchen befähigt. Die Sekten nähern im Fall der Massenausbreitung sich den Kirchen an. Die Mystik hat Wahlverwandtschaft zur Autonomie der Wissenschaft und bildet das Asyl für die Religiosität wissenschaftlich gebildeter Schichten“ (ebd., 967); zur Absetzung der Mystik von der Sekte vgl. auch ders.: „Epochen und Typen der Sozialphilosophie des Christentums“ [1911], in: Aufsätze zur Geistesgeschichte und Religionssoziologie, hg. v. H. Baron (Gesammelte Schriften, Bd. IV), Tübingen 1925, 122–156: 151 ff.: „Geschichtlich liegen die Grundlagen der Sekten im Evangelium, der Bergpredigt und der urchristlichen Reich-Gottes-Hoffnung. Die Urgemeinden müssen ihr vielfach sehr nahe gestanden haben. […] In der Reformationszeit brachen sie hervor als Wiedertäufer, die die Kindertaufe als Kennzeichen der Massenkirche verwarfen. Von den Täufern wiederum geht die Bewegung weiter zu den Mennoniten und den englischen Puritanern, die in der Cromwellschen Revolution stark unter den Einfluß des Täufertums und des Sektenmotives gerieten. Aber auch innerhalb der protestantischen Kirche selbst spielt das Sektenmotiv seine Rolle. […] Es liegt der Herausbildung der pietistischen Sondergruppen innerhalb des Calvinismus, dem Separatismus und in enger Verbindung mit kirchlichen Ideen dem kontinentalen Pietismus zugrunde bis heute. Ja es hat die ganze Kirche selbst verwandelt […] Die sozialen und politischen Wirkungen dieser Gruppen […] ist überall die religiöse Durchdringung des Mittelstandes und die Ausbildung eines arbeitsam geschäftlichen Geistes, verbunden mit demokratisch-liberalen Neigungen. […] Nicht zu verwechseln ist nun aber mit dieser Entwickelung des Sektentypus die der M y s t i k . Trotz vielfacher Verbindungen ist diese etwas anderes. Ihr Wesen ist das Dringen auf Unmittelbarkeit des gegenwärtigen religiösen Verhältnisses, die Gegenwart Christi im Geiste und die Immanenz Gottes in der Seele […] Hier ist von Gemeindebildung, Gemeindekultus, Gemeindebeamten überhaupt nicht die Rede. Es fehlt die geschichtliche Bindung, die für Gemeindebildung und Kult nötig ist. Die Bibel ist Autorität, aber nur durch Auslegung im Geiste, der in der Bibel sich selbst wiedererkennt und sie nach seinen inneren Erfahrungen deutet. Der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig. Eine solche Religiosität verzichtet nicht bloß auch noch auf das Maß von Gemeindebildung, das die Sekte hat, sondern auch auf den ganzen Gemeindegedanken überhaupt. Es gibt nur die unsichtbare Kirche der Gemeinschaft des Geistes Christi, deren Glieder sich im Einzelfalle erkennen, in der Gesamtheit aber nur Gott bekannt sind. Die Kirche ist Babel und Weltmasse, die Sekte künstliche Selbstgerechtigkeit und neuer, bloß härterer und äußerlicherer, buchstäblicherer Gemeinschaftszwang. Die Freiheit des Geistes und die Gemeinschaft der Gesinnung und der Liebe ist alles. Vom christlichen Naturgesetz ist hier nicht mehr die Rede. Es ist identisch mit dem Geist oder dem religiösen Untergrunde in der Vernunft. […] Von Gemeinschaft und Kult ist daher überhaupt nur die Rede als von einer Sache ganz persönlicher Verbundenheit. Hier blüht das Wesen der freien, fließenden Gruppenbildung, die Gottesfreundschaft und das Philadelphentum, die Wirkung von Seelenleitern, Seelenfreunden und Virtuosen, die einen mit ihrer Person wieder zerfallenden Kreis um sich sammeln. Besondere soziale Klassenzusammenhänge hat eine solche Geistesrichtung naturgemäß überhaupt nicht. Sie ist allerdings an eine gewisse Subjektivierung, Verinnerlichung und Differenzierung der Bildung überhaupt gebunden, […] blieb dann auch immer etwas mit der höheren geistigen Kultur Verbundenes, wo sie nicht in kümmerlichen Sentimentalitäten oder enthusiastischen Verworrenheiten stecken blieb“. 181 „The Life and Travels of John Pemberton“, 370. 182 SF, A 126 (AA VII, 75).
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„Einen gewissen Hang zum Pietismus und Separatismus, einen, obwohl nicht unruhigen und beleidigenden, aber doch auch nicht freundlichen und bescheidenen Geist des Glaubenseifers, der strengen Andächtigkeit und des geistlichen Hochmuts“183 bescheinigte der Chronist den Bewohnern von Pyrmont und der weiteren Umgebung als charaktertypische Eigenschaften. Es war offenbar kein Geheimnis, „dass an mehreren Orten teils ordentliche und ständige, teils von Zeit zu Zeit außerordentliche und gelegentliche Versammlungen der sogenannten Frommen oder Pietisten gehalten würden“.184 Schon vor Wilmans’ separatistischen Zeitgenossen war der kleine Pyrmonter Vorort und heutige Stadtteil Oesdorf, wo sich zeitweilig auch L. Seebohm, wenige hundert Schritte von Friedensthal entfernt, niedergelassen hatte,185 dadurch zu einem Zentrum quietistischer Mystik geworden, daß 1755 mit dem bekennenden Guyonisten186 und Begründer der „Gesellschaft der Kindheit Jesu-Genossen“ Johann Friedrich von Fleischbein (1700–1774)187 „[e]iner der führenden deutschen Quietisten“188 sich samt Gefolge hier angesiedelt hatte. „Nahe Pyrmont entstand hier ein quietistisches Zentrum mit weit reichenden Verbindungen bis in die Schweiz“,189 ohne daß Fleischbein freilich seinen Landsitz und Rückzugsort nochmals zu verlassen beliebt hätte.190 Mit ihm lebte in Oesdorf nicht allein seine Schwester Elisabeth Sophie Prueschenk von Lindenhofen (1703–1776), sondern zweitweilig auch ein gewisser Militärmusiker und ergebener Gefolgsmann namens Johann Gottlieb Moritz (1724–1788), dessen Sohn seines Vaters „Seelenführer“ bald in die literarische Unsterblichkeit mitnehmen sollte.191 Des Karl Phi183 Schmid: Ursprung, Fortgang und Verfassung der Quäkergemeinde zu Pyrmont, 14; vgl. auch Johann Matthias Schröckh: Christliche Kirchengeschichte seit der Reformation, fortgesetzt v. H. G. Tzschirner, Bd. IX, Leipzig 1810, 364. 184 Schmid: Ursprung, Fortgang und Verfassung der Quäkergemeinde zu Pyrmont, 14. 185 Vgl. Bernet: Das Quäkertum in Deutschland, 89. 186 Vgl. Hans-Jürgen Schrader: „Madame Guyon, Pietismus und deutschsprachige Literatur“, in: Hartmut Lehmann, Hans-Jürgen Schrader u. Heinz Schilling (Hg.): Jansenismus, Quietismus, Pietismus (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 42), Göttingen 2002, 189–225; Hans-Jürgen Schrader: Literatur und Sprache des Pietismus. Ausgewählte Studien, hg. v. M. Matthias u. U.-M. Schneider (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 63), Göttingen 2019, 419–456. 187 Vgl. Michael Knieriem u. Johannes Burkardt: Die Gesellschaft der Kindheit Jesu-Genossen auf Schloß Hayn. Aus dem Nachlaß des von Fleischbein und Korrespondenzen von de Marsay, Prueschenk von Lindenhofen und Tersteegen 1734 bis 1742. Ein Beitrag zur Geschichte des Radikalpietismus im Sieger- und Wittgensteiner Land, Hannover 2002, 55–77. 188 Bernet: Das Quäkertum in Deutschland, 53. 189 Ebd., 54. 190 Vgl. Christof Wingertszahn: Anton Reiser und die „Michelein“. Neue Funde zum Quietismus im 18. Jahrhundert, Hannover 2002, 65: „In den zwanzig Pyrmonter Jahren hat Fleischbein keinen Fuß mehr aus dem Ort gesetzt. Er lebte im ‚Verborgenen‘, spannte aber durch ausgedehnte Korrespondenzen seine weit verstreute Quietistengemeinde zusammen, als deren Oberhaupt er beträchtliche Zeit fungierte.“ 191 Vgl. Robert Minder: Glaube, Skepsis und Rationalismus. Dargestellt aufgrund der autobio-
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lipp Moritz (1756–1793) „psychologischer Roman“ Anton Reiser spielt in seinen ersten Zeilen offenkundig in Pyrmont: „In P., einem Orte, der wegen seines Gesundbrunnens berühmt ist, lebte noch im Jahre 1756 ein Edelmann auf seinem Gute, der das Haupt einer Sekte in Deutschland war, die unter dem Namen der Quietisten oder Separatisten bekannt ist, und deren Lehren vorzüglich in den Schriften der Mad. Guion, einer bekannten Schwärmerin, enthalten sind, die zu Fenelons Zeiten, mit dem sie auch Umgang hatte, in Frankreich lebte. Der Hr. v. F., so hieß dieser Edelmann, wohnte hier von allen übrigen Einwohnern des Orts, und ihrer Religion, Sitten, und Gebräuchen, eben so abgesondert, wie sein Haus von den ihrigen durch eine hohe Mauer geschieden war, die es von allen Seiten umgab. Dies Haus nun machte für sich eine kleine Republik aus, worin gewiß eine ganz andre Verfassung, als rund umher im ganzen Lande herrschte.“192
Als literarische, aber in der Sache wohl authentische193 Schilderung der dortigen Frömmigkeitspraxis darf gelten, was Anton Reiser über ein Form von Gottesdienst zu berichten weiß, in dem alles ausgerichtet war auf die Auslöschung und Abtötung auch noch des letzten kleinen Restes von kreatürlicher Selbstliebe oder egozentrischem Eigenwillen.194 Die praktizierenden Mystiker um Fleischbein „mußten sich täglich einmal in einem großen Zimmer des Hauses zu einer Art von Gottesdienst versammlen, den der Hr. v. F. selbst eingerichtet hatte, und welcher darin bestand, daß sie sich alle um einen Tisch setzten, und mit zugeschloßnen Augen, den Kopf auf den Tisch gelegt, eine halbe Stunde warteten, ob sie etwa die Stimme Gottes oder das innre Wort, in sich vernehmen würden. Wer dann etwas vernahm, der machte es den übrigen bekannt.“195 graphischen Schriften von Karl Philipp Moritz, Frankfurt am Main 1974; zu J. G. Moritz vgl. ebd., 57–71. 192 Karl Philipp Moritz: „Anton Reiser. Ein psychologischer Roman“, in: ders.: Dichtungen und Schriften zur Erfahrungsseelenkunde (Werke, hg. v. H. Hollmer u. A. Meier, Bd. 1), Frankfurt am Main 1999, 85–518: 87. 193 Vgl. Bernet: Das Quäkertum in Deutschland, 53 f.; vgl. schon Ritschl: Geschichte des Pietismus, Bd. 2, 381 f., Anm. 194 Vgl. Moritz: Anton Reiser, 87: „Die Lehren, welche in diesen Schriften enthalten sind, betreffen größtenteils jenes […] völlige Ausgehen aus sich selbst, und Eingehen in ein seliges Nichts, jene gänzliche Ertötung aller sogenannten Eigenheit oder Eigenliebe, und eine völlig uninteressierte Liebe zu Gott, worin sich auch kein Fünkchen Selbstliebe mehr mischen darf, wenn sie rein sein soll, woraus denn am Ende eine vollkommne, selige Ruhe entsteht, die das höchste Ziel aller dieser Bestrebungen ist.“ 195 Ebd.; vgl. Minder: Glaube, Skepsis und Rationalismus, 15: „In der berühmten Eingangsszene des ‚Anton Reiser‘, 1785, wird das halb feudale, halb demokratische Hauswesen des quietistischen Adligen mit fast voltairianisch trockenem Spott geschildert. Die ‚Wiederbringung‘ der Mystik besteht darin, daß in ‚Hartknopfs Predigerjahren‘, 1790, derselbe vornehme Gönner und bemühte Sinnierer Anlaß zu einer subtilen, die Eigenheiten belächelnden, und doch von Wohl-
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Die später in Pyrmont abgehaltenen Quäkerandachten dürften sich von diesen meditativen Versenkungsversuchen nicht sehr unterschieden haben, wie überhaupt festzustellen ist, daß „die Pyrmonter Quietisten […] den Quäkern derart ähnlich waren, dass beide Gruppierungen öfter miteinander verwechselt wurden“.196 Moritz stellt jene „trockne, metaphysische Schwärmerei“197, welche in ihrer Anwendung auf Anton Reiser freilich eine allzu wörtlich verstandene Form der Seelenvernichtung buchstäblich mit der (pseudo-)pädagogischen Brechstange ins Werk einer „quietistisch-pietistischen Dressur“198 zu setzen geruhte, bei aller Kri-
wollen durchwärmten Charakterstudie gibt“; Fleischbein erscheint dort nicht länger als „Herr von F.“, sondern nun als „Herr von G.“, der sich etwa über eine zeitgenössische „Schrift wider die Schwärmerei“ empört: „Folgende Stelle schien ihm besonders hart, und er konnte sie nie ohne Unwillen lesen: ‚Wer es auch sei, der euch von einem innern Worte, von höheren Offenbarungen spricht – hütet euch vor ihm, wie vor der Pest, die im Finstern schleicht – er ist ein bübischer Gleißner, oder ein intoleranter Dummkopf und in dem einen Fall so gefährlich wie in dem andern.‘ Nun war der Herr von G… weder ein Gleißner noch ein Dummkopf, und sprach doch auch von einem inneren Worte, und von etwas, das er für höhere Offenbarungen hielt – die Stelle in dem Buche würde ihm aber doch nicht so hart aufgefallen sein, wenn der ganze Geist des Buches wider die Schwärmerei ihn nicht schon gedrückt hätte. – Denn es war ihm immer unerklärbar, daß es irgend jemanden möglich gewesen sei, so zu schreiben – seine Zartheit des Denkens konnte jene Grobheit nicht übertragen, sondern erlag darunter. – Nun hatte er aber bei aller Ertötung der Eigenheit doch immer noch so viel Selbstgefühl, daß er wohl wußte, eine Denkkraft, welche die Sachen fein zu nehmen vermag, sei mehr als eine solche, die dies nicht vermag. Dies hob ihn selbst wieder in seinen Gedanken empor – und nährte den kleinen mystischen Übermut, der ihm zuweilen anwandelte. – Der Narr voll Gravität stand dann vor ihm, der in seine Worte ein Gewicht legen wollte, das seine Gedanken nicht hatten. Dies war die sonderbarste Mischung von Überlegenheit und Schwäche, die man sich denken kann – und eben daraus entstand das Disharmonische jenes unmerklichen Übermutes bei dem Herrn von G… welchen Hartknopf nicht ertragen, und seinen Spott darüber nicht zurückhalten konnte. Als ihm aber der Herr von G… die oben angeführte Stelle in dem Buche zeigte, welches broschürt auf dem Klavier lag; so wurde die Miene des Spottenden allmählich wieder sanft und gut. Ja, sagte Hartknopf, mir fällt immer jener lahme Schulmeister ein, der in seiner Schulstube saß, die Rute und den Stock ans Fenster gesteckt, und dazwischen durchsahe, wie die Jungens im Dorfe schwärmten. – Ach, wie sie schwärmen ! seufzte er – wenn ich sie wieder habe, wie will ich sie züchtigen. – Derr Herr von G… lächelte und sagte: die schwärmende Biene saugt den Honig ! Wohl ! erwiderte Hartknopf, aber sie wohnet und bauet den Honig in ihrem Korbe ! – Hiemit wünschte man sich einander gute Nacht“ (Karl Philipp Moritz: „Andreas Hartknopfs Predigerjahre“, in: ders.: Dichtungen und Schriften zur Erfahrungsseelenkunde (Werke, hg. v. H. Hollmer u. A. Meier, Bd. 1), Frankfurt am Main 1999, 603–666: 634 f.). 196 Bernet: Das Quäkertum in Deutschland, 53. 197 Moritz: Anton Reiser, 89. 198 Minder: Glaube, Skepsis und Rationalismus, 20; daß die Guyonsche Mystik nicht – oder zumindest nicht ohne Kurzschluß – als „Aufforderung zu simpler Prügelpädagogik“ zu verstehen ist, vermerkt Lothar Müller: Die kranke Seele und das Licht der Erkenntnis. Karl Philipp Moritz’ Anton Reiser, Frankfurt am Main 1987, 227.
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tik der „unglücklichen Bücher“199 der Madame Guyon, die seine „Seele […] zu einem Sammelplatze schwarzer Gedanken gemacht“,200 auch als „etwas Anziehendes“201 dar, „weil er wirklich begierig war, so etwas Wunderbares, als die Stimme Gottes, in sich zu hören“,202 ja „sich im eigentlichen Verstande mit Gott zu unterreden, und seine Stimme im Herzen, oder das eigentliche innre Wort, deutlich zu vernehmen“.203 Diese konsequent bis zur äußeren Absonderung betriebene Verinnerlichung des religiösen Lebens verbindet die Quietisten und Quäker von Pyrmont mit den freidenkenden Mystikern, wie sie in Carl Arnold Wilmans’ persönlichem Umfeld verkehrten. Zwar kann eine unmittelbare Anbindung der Oesdorfer Fleischbein-Jünger an die „Versammlungen der Separatisten Pyrmonts in den späten achtziger Jahren […] nicht nachgewiesen werden“, doch ist und bleibt eine solche „in einer Kleinstadt mit wenigen pietistisch gesinnten Familien im Bereich des Möglichen“.204 Fleischbeins internationale Korrespondenz mit Inspirierten kannte sogar nachweislich „in Bielefeld Angehörige der Leinenhändlerfamilie Woermann“,205 welche mit der Leinenhändlerfamilie Wilmans verwandt war.206 Als Quelle für Wilmans’ religionsphilosophische Dissertation dürfte der Einfluß der Quietisten aber allenfalls indirekt erfolgt und somit geringer zu veranschlagen sein als jener der Quäker und Quasi-Quäker seiner Zeit. Nicht nur chronologische Gründe sprechen dagegen, daß Wilmans Nachfolger „dieses vermeinten Himmelsgünstlings“207 von Fleischbein als Krypto-Kantianer tituliert 199
Moritz: Anton Reiser, 91. Ebd. 201 Ebd, 99. 202 Ebd, 100. 203 Ebd. 204 Bernet: Das Quäkertum in Deutschland, 55. 205 Knieriem u. Burkardt: Die Gesellschaft der Kindheit Jesu-Genossen auf Schloß Hayn, 72, Anm. 206 Und noch ein weiterer Bielefelder Leinenhändler mit zumindest indirekter Verbindung zu C. A. Wilmans hat hier Erwähnung zu finden: Johann Friedrich Delkeskamp (1731–1805). Er war nicht nur der Schwiegervater des Bruders der Charlotte von Laer und zudem mit L. Seebohm bekannt, sondern seit 1786 auch Korrespondent der Ravensberger Partikulargesellschaft der ursprünglich apologetisch ausgerichteten „Deutschen Christentumsgesellschaft“ (vgl. Bernet: Das Quäkertum in Deutschland, 34; 91; Schindler: Reich durch Leinenhandel ?, 262), die von Johann August Urlsperger (1728–1806) am 30. August 1780 in Basel gegründet worden war und der prominente Persönlichkeiten aus dem Umfeld des Spätpietismus und der entstehenden Erweckungsbewegung angehörten, etwa Johann Caspar Lavater (1741–1801), Johann Heinrich Jung-Stilling (1740–1817) oder Johann Friedrich Oberlin (1740–1826); vgl. Weigelt: Pietismus-Studien. I. Teil: Der spener-hallische Pietismus, 119–140; Manfred Jakubowski-Tiessen: „Die Gesellschaft der Frommen. Die Christentumsgesellschaft in Nordwestdeutschland“, in: Peter Albrecht, Hans Erich Bödeker u. Ernst Hinrichs (Hg.): Formen der Geselligkeit in Nordwestdeutschland 1750–1820 (Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung, Bd. 27), Tübingen 2003, 523–538. 207 RGV, B 313 f. / A 295 f. (AA VI, 201 f.): „Wenn der Wahn dieses vermeinten Himmelsgünst200
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hätte: Während nämlich die Quietisten – oder „Pseudo-Quietisten“,208 deren allzu intendierte Demut Gefahr läuft, von einer schwermütig-stolzen Sonderform hysterischen Größenwahns ununterscheidbar zu werden 209 – sich in einer gänzlich passivischen Ergebung dem inneren Licht selbst- und willenlos überlassen,210 trifft lings bis zur schwärmerischen Einbildung gefühlter besonderer Gnadenwirkungen in ihm steigt (bis sogar zur Anmaßung der Vertraulichkeit eines vermeinten verborgenen U m g a n g s mit Gott), so ekelt ihm gar endlich die Tugend an und wird ihm ein Gegenstand der Verachtung; daher es denn kein Wunder ist, wenn öffentlich geklagt wird: daß Religion noch immer so wenig zur Besserung der Menschen beiträgt, und das innere Licht (‚unter dem Scheffel‘) dieser Begnadigten nicht auch äußerlich durch gute Werke leuchten will, und zwar (wie man nach diesem ihrem Vorgeben wohl fordern könnte) vo r z ü g l i c h vor anderen natürlich-ehrlichen Menschen, welche die Religion nicht zur Ersetzung, sondern zur Beförderung der Tugendgesinnung, die in einem guten Lebenswandel thätig erscheint, kurz und gut in sich aufnehmen. Der Lehrer des Evangeliums hat gleichwohl diese äußere Beweisthümer äußerer Erfahrung selbst zum Probir stein an die Hand gegeben, woran als an ihren Früchten man sie und ein jeder sich selbst erkennen kann. Noch aber hat man nicht gesehen, daß jene ihrer Meinung nach außerordentlich Begünstigten (Auserwählten) es dem natürlichen ehrlichen Manne, auf den man im Umgange, in Geschäften und in Nöthen vertrauen kann, im mindesten zuvorthäten, daß sie vielmehr, im Ganzen genommen, die Vergleichung mit diesem kaum aushalten dürften; zum Beweise, daß es nicht der rechte Weg sei, von der Begnadigung zur Tugend, sondern vielmehr von der Tugend zur Begnadigung fortzuschreiten.“ Dieser berühmte Beschluß der Religionsschrift (vgl. auch RGV, B 241 f. / A 227 f. (AA VI, 160)) trifft sich mit der quäkerischen Glaubenslehre zumindest in der Berufung auf Mt 7, 16: „Ob wir es daher gleich, zur aufbewahrung der zeugnisse die uns anvertraut sind, und zur erhaltung des friedens und guter ordnung in der gesellschaft, für nö thig halten, daß die welche wir zu unseren mitgliedern aufnemen, vorläuffig von den lehren sollten überzeugt seyn, die wir für wesentlich halten; so fordern wir dennoch von ihnen kein förmliches unterschreiben irgend einiger art[i]kel, weder als einer bedingung unter welcher sie mitglieder werden, noch auch um sich zum dienste der kirche fähig zu machen. Wir urteilen daher lieber von den menschen nach ihren früchten“ (Joseph Gurney Bevan: „Abriss der Geschichte, der Lehre und der Zucht der Freunde“ [1792], in: Claus Bernet (Hg.): Deutsche Quäkerschriften des 18. Jahrhunderts (Deutsche Quäkerschriften, Bd. 2), Hildesheim/Zürich/New York 2007, 5–45: 30 f.). 208 Minder: Glaube, Skepsis und Rationalismus, 70; für Minder ist „die Auffassung, die der alte J. G. Moritz vom Quietismus hatte, nicht einfach eine etwas vergröberte Form davon, sondern schlechthin ein grobes Mißverständnis“, eine „Karikatur der Guyonischen Mystik“ (ebd., 62); dem widerspricht Wingertszahn: Anton Reiser und die „Michelein“, 76 ff.: „Diese Trennung zwischen der reinen Mystik der Guyon und der ihrer Adepten ist angesichts der Fakten eine künstliche“; für Müller: Die kranke Seele und das Licht der Erkenntnis, 230 ist die „Tendenz zur stichwortartigen Verknappung der religiösen Gehalte zugunsten des analytischen Blicks auf ihre profanen Funktionen“ charakteristisch für die Erzählhaltung des Anton Reiser: „Der Erzähler des Anton Reiser hat vielleicht weniger eine Verzerrung der guyonschen Lehre als ihre Reduktion auf wenige Stichworte vorgenommen“ (ebd., 224). 209 Vgl. Wingertszahn: Anton Reiser und die „Michelein“, 72. Auch sei erinnert an eine Einsicht von Michel de Montaigne: „Essais“, II, 37, in: ders.: Œuvres complètes, hg. v. A. Thibaudet u. M. Rat, Paris 1962, 741: „Il est certaine façon d’humilité subtile qui naist de la presomption“. Vgl. in diesem Sinne auch RGV, B 124 / A 116, Anm. (AA VI, 89). 210 Vgl. Wingertszahn: Anton Reiser und die „Michelein“, 70: „Madame Guyons Lehren überspitzten die schon von früheren Quietisten (Molinos, Petrucci) vorgetragenen Anschau-
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sich der Quäker Seebohm, für den das Reich Gottes wesentlich „in der K r a f t, – nemlich in der Kraft Christi, welche die Sünde überwindet, – in Ausübung der Gerechtigkeit“211 besteht und der „glaubt, dass die Religion ihm keine Sonderlingspflicht auferlegen dürfe, dass sie ihm vielmehr erlauben müsse, dies Leben auch von seiner freundlicheren und gefälligeren Seiten anzusehen und zu genießen“,212 mit dem Kantianer Ammon in dessen Überzeugung, „daß das innere Licht […] nur dann beim Menschen in seinem vollen Glanze aufgehen kann, wenn es durch eigene Thätigkeit angefacht, durch Erfahrung und äußeren Unterricht genährt und unterhalten wird“.213 Ob man diese Differenz mit Robert Minder noch als einen „Unterschied zwischen […] männlicher und femininer Empfindungsweise“214 beschreiben muß, mag offen bleiben, in der Sache aber ist eine Kluft zu konstatieren, welche Wilmans’ kantianisierende Mystiker im gleichen Maße dem resoluten Radikalpietismus annähert, in dem der quälerische Quietismus sentimentalistischer Schwärmer auf Abstand bleibt: „Hier: stille Selbstversenkung, schauerndes Aufsichnehmen einer Wanderung im Dunkeln, mit der Intuition als alleiniger Stütze. Dort: nach außen aktive ‚praxis pietatis‘ und in ihrem Dienst stets strenge Selbstprüfung, d. h. also Reflexion, und zielbewußter Wille“.215 Wenn es einen Weg gibt, der es Wilmans erlaubt, von einer latenten Familienähnlichkeit zwischen reinem Mystizismus und Kantischer Religionsphilosophie zu sprechen, dann führt er über den heterodoxen (und auch vom obskurantistischen ungen von einer Haltung der Passivität, die unter Verzicht auf jegliches eigene Wollen und Tun erstrebte Übergabe an Gott mit dem Ziel einer vollkommenen Ruhe in Gott. Damit sind traditionelle mystische Lehren radikalisiert. Die Furcht vor der Vermischung der Annäherung an Gott mit eigenen Wünschen wird bis zur angeblichen Interesselosigkeit am Schicksal der eigenen Seele getrieben. Die geforderte Passivität der frommen Seele wurde paradox zugespitzt bis zur These, daß im Zustand der ‚reinen Liebe‘ und völligen Hingabe an Gott die Seele selbst ihre eigene Verdammung akzeptieren solle. Die Annäherung an Gott sollte vor allem durch das innere Wort, durch eine Beschauung erreicht werden, in der der Quietist nach und nach alle Gedanken, Affekte, auch den Eigenwillen abtötet. Jede Reflexion auf den eigenen Zustand wird kategorisch abgelehnt“. Vgl. Müller: Die kranke Seele und das Licht der Erkenntnis, 219 ff.; vgl. auch Georg Eckert: „Madame Guyons Lehre: Praktizierte Selbstverleugnung“, in: ders.: „True, Noble, Christian Freethinking“. Leben und Werk Andrew Michael Ramsays (1686–1743), Münster 2009, 214–218. 211 Seebohm: „Bemerkungen über verschiedene Gegenstände des Christentums“ [34 f.], 92 f. 212 Schmid: Ursprung, Fortgang und Verfassung der Quäkergemeinde zu Pyrmont, 65. 213 Ammon: Ueber die Aehnlichkeit des inneren Wortes einiger neueren Mystiker mit dem moralischen Worte der Kantischen Schriftauslegung, 12 f.; daß „die Kritik der Vernunft […] dem Menschen in der Welt eine durchaus a c t i ve Existenz“ bestimmt, betont auch Wilmans in SF, A 116 (AA VII, 70); Kant selbst nennt in RGV, B 115 / A 106 (AA VI, 83) „vermeinte (bloß passive) innere Erleuchtungen“ „ s c hwä r m e r i s c h“ (und „ a b e r g l ä u b i s c h“ „Expiationen, die keine Sin nesänderung voraussetzen“): sie stehen „dem auf Selbstthätigkeit gegründeten Guten“ entgegen. 214 Minder: Glaube, Skepsis und Rationalismus, 124. 215 Ebd.
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Spiritismus der Geisterseher wohlzuunterscheidenden) Spiritualismus individualistisch-autonomer Separatisten, die in ihrer Denkungsart und Glaubensweise dem Friedensthal der Quäker und ihrer „Religion des tätigen Lebens“216 näherstanden als dem Oesdorfer Meditationszentrum von Fleischbeins Quietistenzirkel. Die Wilmans bekannte „Classe von Menschen“217 mögen fromme Mystiker gewesen sein, unreflektierte, unkritische, unterwürfige, ja „schrifttolle“218 Schwärmer, die einen allzu menschlichen „Seelenführer“ nötig hatten, waren sie jedoch nicht: „these people have separated from the public worship; they read much, and being men of good parts, comprehend much in the head, and can reason and argue, but will not as yet bow to the lowly appearance of Christ, nor submit to confess him openly, by a subjection of the will, and obedience to the truth“.219
5. Die Prüfung der These durch Jachmann Kants erste Reaktion auf die ihm von Wilmans übersandte Dissertation und ihre überraschende These von einer angeblichen Ähnlichkeit seiner kritischen Religionsphilosophie und der Ansichten einiger eigenwilliger Mystiker ist ihrerseits erstaun216
Rufus M. Jones: Die Lehre der Quäker. Eine Religion des tätigen Lebens, Berlin 1920. SF, A 125 (AA VII, 74). 218 Refl 504 (AA XV, 219): „Schwärmer und Mucker sind beyde schrifttoll. Herrenhuter und pietist. Böhm. Guyon“; vgl. Refl 487 (AA XV, 209); Refl 1486 (AA XV, 709); vgl. V-Th/Baumbach (AA XXVIII, 1269): „Durch Erfahrung erkennen wir bloß Erscheinungen, selbst mundum phaenomenon, aber nicht Dinge an sich selbst oder mundum noumenon. Will er die letzteren erkennen, so muß er entweder Urheber der Dinge selbst sein, oder er muß das höchste Wesen und seine Idee selbst anschauen können. Wer das letztere schon in diesem Leben zu tun glaubt, ist ein Schwärmer. Solche war Madame Guyon. Die tibetanische und indische Religion sind damit verwandt. Sie büßen immer, um alles Körperliche zu ertöten und seine Selbstheit immer mehr abzulegen; und wenn alles Körperliche abgelegt wäre, so würde man selbst das höchste Wesen und von diesem verschlungen. So ist auch eine Sekte in China der mystischen Selbstvernichtung“; vgl. auch Anth, BA 149 f. (AA VII, 217 f.): „Was aber das Ü b e r s t u d i r e n […] anlangt, so hat es damit wohl keine Noth, um junge Leute davor zu warnen. Es bedarf hier bei der Jugend eher der Spornen, als des Zügels. Selbst die heftigste und anhaltendste Anstrengung in diesem Punkt kann wohl das Gemüth e r m ü d e n, so daß der Mensch darüber gar der Wissenschaft gram wird, aber es nicht ve r s t i m m e n, wo es nicht vorher schon verschroben war und daher Geschmack an mystischen Büchern und an Offenbarungen fand, die über den gesunden Menschenverstand hinausgehen. Dahin gehört auch der Hang, sich dem Lesen der Bücher, die eine gewisse heilige Salbung erhalten haben, blos dieses Buchstabens halber, ohne das Moralische dabei zu beabsichtigen, ganz zu widmen, wofür ein gewisser Autor den Ausdruck: ‚Er ist schrifttoll‘ ausgefunden hat.“ Vgl. dazu Yamane: „Mystik, Mystizismus und Kritizismus bei Kant“, 988 ff.; Norbert Hinske: „Zur Verwendung der Wörter ‚schwärmen‘, ‚Schwärmer‘, ‚Schwärmerei‘, ‚schwärmerisch‘ im Kontext von Kants Anthropologiekolleg“, in: ders. (Hg.): Die Aufklärung und die Schwärmer (Aufklärung. Interdisziplinäre Halbjahresschrift zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte, Bd. 3, 1), Hamburg 1988, 73–81: 75. 219 „The Life and Travels of John Pemberton“, 370. 217
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lich: Kant überläßt Wilmans weitestgehend das Wort, publiziert dessen Sendschreiben in aller Ausführlichkeit sogar zwischen den Buchdeckeln seiner eigenen Autorschaft und fügt dem langen Zitat lediglich einen knappen Kommentar von gelassener Großzügigkeit hinzu, in dem sich freundliches Wohlwollen gegenüber einem (damals nicht so genannten) „Nachwuchswissenschaftler“ mit einer gewissen inhaltlichen Reserve verbindet, die aber weder polemisch noch ironisch artikuliert wird. Im unmittelbaren Anschluß an das konziliante Lob des jungen Verfassers als einer vielversprechenden wissenschaftlichen Begabung fügt Kant nämlich eine Einschränkung hinzu: „Wobei ich gleichwohl jene Ähnlichkeit meiner Vorstellungsart mit der seinigen unbedingt einzugestehen nicht gemeint bin“.220 Wie sich aus einem erhaltenen Briefentwurf Kants an Wilmans erschließen läßt, geht es bei der damit höflich, aber deutlich benannten Differenz jedoch noch nicht einmal um die Frage nach der Mystik:221 Thematisch wird an dieser Stelle vielmehr, daß nach Wilmans’ Lesart der Kantischen Kritiken „zwischen Vernunft und Verstand ein ganzlicher Unterschied der letztere aber ein blos materielles Wesen sey“,222 womit aber für Kant selbst ein Satz formuliert ist, „in dessen Sinn 220
SF, A 115, Anm. (AA VII, 69). Dies übersehen sowohl Palmquist: Kant’s Critical Religion, 306 als auch Fischer: „Kants Idee ‚est Deus in nobis‘, 367 u. 369. 222 Br (AA XII, 281); vgl. Wilmans in extenso in SF, A 117 ff. (AA VII, 70 ff.): „Was den Verstand betrifft, so ist dieser schon für sich durch seine Form auf diese Erdenwelt eingeschränkt; denn er besteht bloß aus Kategorien, d. h. Äußerungsarten, die bloß auf sinnliche Dinge sich beziehen können. Seine Gränzen sind ihm also scharf gesteckt. Wo die Kategorien aufhören, da hört auch der Verstand auf: weil sie ihn erst bilden und zusammensetzen. [Ein Beweis für die bloß irdische oder Naturbestimmung des Verstandes scheint mir auch dieses zu sein, daß wir in Rücksicht der Verstandeskräfte eine Stufenleiter in der Natur finden, vom klügsten Menschen bis zum dümmsten Thiere (indem wir doch den Instinct auch als eine Art von Verstand ansehen können, in sofern zum bloßen Verstande der freie Wille nicht gehört).] Aber nicht so in Rücksicht der Moralität, die da aufhört, wo die Menschheit aufhört, und die in allen Menschen ursprünglich dasselbe Ding ist. Der Verstand muß also bloß zur Natur gehören, und wenn der Mensch bloß Verstand hätte ohne Vernunft und freien Willen, oder ohne Moralität, so würde er sich in nichts von den Thieren unterscheiden und vielleicht bloß an der Spitze ihrer Stufenleiter stehen, da er hingegen jetzt, im Besitz der Moralität, als freies Wesen, durchaus und wesentlich von den Thieren verschieden ist, auch von dem klügsten (dessen Instinct oft deutlicher und bestimmter wirkt, als der Verstand der Menschen). […] Also muß die Triebfeder der Action des freien Willens etwas sein, was im innern Wesen des Menschen selbst gegründet und von der Freiheit des Willens selbst unzertrennlich ist. Dieses ist nun das moralische Gesetz, welches uns durchaus so aus der Natur herausreißt und über sie erhebt, daß wir als moralische Wesen die Naturdinge weder zu Ursachen und Triebfedern der Action des Willens bedürfen, noch sie als Gegenstände unseres Wollens ansehen können, in deren Stelle vielmehr nur die moralische Person der Menschheit tritt. Jenes Gesetz sichert uns also eine bloß dem Menschen eigenthümliche und ihn von allen übrigen Naturtheilen unterscheidende Eigenschaft, die Moralität, vermöge welcher wir unabhängige und freie Wesen sind, und die selbst wieder durch diese Freiheit begründet ist. – Diese Moralität und nicht der Verstand ist es also, was den Menschen erst zum Menschen macht. So sehr auch der Verstand ein völlig actives und in sofern selbstständiges Ver221
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und Behauptung ich schlechterdings mich nicht versetzen kann“.223 Die Annäherung an die reinen Mystiker dagegen läßt Kant sich gefallen, ohne auch nur mit einem Wort näher darauf einzugehen. Dies zeigt zumindest, „dass Kant sich nicht gegen Wilmans’ ‚Mystiker‘ wandte, sondern gegen ein Missverständnis seiner Lehre als Diastase zwischen der Vernunft und einem materiell und sinnlich aufgefassten Verstand durch Wilmans. Die von jenem dargestellten Mystiker scheint Kant in keine der beiden Fronten, gegen die sich der Streit der Fakultäten richtete, den ‚seelenlosen O r t ho dox i s m‘ [SF, A 93 f. (AA VII, 59)] und den ‚vernunfttödtenden M y s t ic i s m‘ [SF, A 94 (AA VII, 59)] (als Schwärmerei), […] eingeordnet zu haben. Aus welchem Grund hätte Kant das Schreiben auch abdrucken sollen, ohne sich in der Anmerkung von Wilmans und den ‚Separatisten‘ zu distanzieren ?“224 Nichts und niemand hätte Kant dazu nötigen können, Wilmans’ These in den Streit der Fakultäten zu integrieren, wenn nicht die Sache selbst. Wenn Kant zwischen allen Fronten und also gegen jede, sei es orthodoxistische, sei es mystizi stische Form von Schwärmerei „die biblische Glaubenslehre, so wie sie vermittelst mögen ist, so bedarf er doch zu seiner Action der Außendinge und ist auch zugleich auf sie eingeschränkt; da hingegen der freie Wille völlig unabhängig ist und einzig durch das innere Gesetz bestimmt werden soll: d. h. der Mensch bloß durch sich selbst, sofern er sich nur zu seiner ursprünglichen Würde und Unabhängigkeit von allem, was nicht das Gesetz ist, erhoben hat. Wenn also dieser unser Verstand ohne diese seine Außendinge nichts, wenigstens nicht d i e s e r Verstand sein würde, so bleiben Vernunft und freier Wille dieselben, ihr Wirkungskreis sei, welcher er wolle. (Sollte hier der freilich hyperphysische Schluß wohl mit einiger Wahrscheinlichkeit gemacht werden können: ‚daß mit dem Tode des Menschenkörpers auch dieser sein Verstand stirbt und verloren geht mit allen seinen irdischen Vorstellungen, Begriffen und Kenntnissen: weil doch dieser Verstand immer nur für irdische, sinnliche Dinge brauchbar ist, und, sobald der Mensch ins Übersinnliche sich versteigen will, hier sogleich aller Verstandesgebrauch aufhört, und der Vernunftgebrauch dagegen eintritt‘ ? Es ist dieses eine Idee, die ich nachher auch bei den Mystikern, aber nur dunkel gedacht, nicht behauptet gefunden habe, und die gewiß zur Beruhigung und vielleicht auch moralischen Verbesserung vieler Menschen beitragen würde. Der Verstand hängt so wenig wie der Körper vom Menschen selbst ab. Bei einem fehlerhaften Körperbau beruhigt man sich, weil man weiß, er ist nichts Wesentliches – ein gutgebaueter Körper hat nur hier auf der Erde seine Vorzüge. Gesetzt, die Idee würde allgemein, daß es mit dem Verstande eben so wäre, sollte das nicht für die Moralität der Menschen ersprießlich sein ? Die neuere Naturlehre des Menschen harmonirt sehr mit dieser Idee, indem sie den Verstand bloß als etwas vom Körper Abhängiges und als ein Product der Gehirnwirkung ansieht. S. Reils physiologische Schriften. Auch die ältern Meinungen von der Materialität der Seele ließen sich hierdurch auf etwas Reales zurückbringen.)“. 223 Br (AA XII, 281); vgl. dazu Philip Merlan: Monopsychism, Mysticism, Metaconsciousness. Problems of the Soul in the Neoaristotelian and Neoplatonic Tradition (International Archives of the History of Ideas, Bd. 2), The Hague 21969, 131 f.; Marco Sgarbi: „Immanuel Kant, Universal Understanding, and the Meaning of Averroism in the German Enlightenment“, in: Anna Akasoy u. Guido Giglioni (Hg.): Renaissance Averroism and Its Aftermath. Arabic Philosophy in Early Modern Europe (International Archives of the History of Ideas, Bd. 211), Dordrecht/Heidelberg/ New York/London 2013, 255–269: 268 f. 224 Stengel: Aufklärung bis zum Himmel, 701 f.
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der Vernunft aus uns selbst entwickelt werden kann“,225 situiert und diese als „die mit göttlicher Kraft auf aller Menschen Herzen zur gründlichen Besserung hinwirkende und sie in einer allgemeinen (obzwar unsichtbaren) Kirche vereinigende, auf dem K r i t i c i s m der praktischen Vernunft gegründete wahre Religionslehre“226 begreift, dann läßt sich ein „Widerspruch zu den ‚Mystikern‘ Wilmans’ mit ihrer inneren Offenbarung […] hieraus kaum konstruieren“227 und konsequenterweise folgende Frage kaum vermeiden: „Waren Wilmans’ ‚Separatisten‘ nach seinem [Kants] Urteil etwa ‚vernünftige‘ und nicht ‚vernunfttödtende‘ Mystiker ?“228 Bemerkenswert ist nicht nur, daß Kant selbst durch seine Publikationspraxis diese Frage als eine nicht rhetorische aufwirft, sondern auffällig ist auch die diplomatische Zurückhaltung, mit der er seine Antwort vorerst offenließ.229 Denn so wie Kant sich von Wilmans’ Überlegungen zum Verhältnis von Verstand und Vernunft bei allem Respekt und in aller Höflichkeit distanzieren konnte, hätte er sich natürlich die Annäherung an die Mystiker auch dann noch mühelos verbitten können, wenn er sie als immerhin interessante Kuriosität vielleicht bloß seinen Lesern nicht hätte vorenthalten wollen. Wie auch eine im Nachlaß erhaltene Notiz 230 belegt, welche mögliche Motive von Wilmans’ Argumentation zu eruieren sucht, können aber auch Gleichgültigkeit oder Desinteresse kein Grund für Kants Urteilsenthaltung gewesen sein. Kants provisorische Skepsis wird nur dadurch plausibel, daß Wilmans’ These offenbar eine für ihn tatsächlich offene Frage formulierte, die also auch entsprechend ergebnisoffen auf den Prüfstand der Kritik gestellt zu werden verdiente.231 225
SF, A 94 (AA VII, 59). Ebd.; vgl. Palmquist: Kant’s Critical Religion, 305 f. 227 Stengel: Aufklärung bis zum Himmel, 702; vgl. Palmquist: Kant’s Critical Religion, 306: „Kant reveals that he is not entirely antipathetic towards mysticism“; so auch Wimmer: Kants kritische Religionsphilosophie, 213 f. 228 Stengel: Aufklärung bis zum Himmel, 702. 229 Vgl. Leisegang: „Kant und die Mystik“, 8: „Man beachte, daß Kant hier mit seiner eigenen Ansicht zurückhält, keine Widerlegung, sondern nur eine sachliche Prüfung fordert“. 230 Refl 8105 (AA XIX, 647 f.): „Daß der Mensch thue, was das Gesetz [von] ihm gebietet, kann von ihm gefordert werden. Daß er es g e r n thue, nicht. Der Illuminatism vom Mysticism unterschieden. Von dem alten Streit über Natur und Gnade (Mystic). Verdienstliche und überverdienstliche Werke. – Von Menschen gegen Menschen. O curas hominum ! Eigentlich ist der Streit philosophisch und geht nicht von der Schwärmerey aus, sondern kann sie vielleicht herbey führen. Willmans konnte allenfalls zur Absicht haben, das eine so wie das andere Princip durch die Entgegensetzung zweyer Theorien – sich beyde zernichten zu lassen.“ 231 Theis: „Vorwort“, vii-xxiv argumentiert dafür, daß im Streit der Fakultäten „bereits die zentralen Thesen von Wilmans ex ante entkräftet worden sind“ und also „der als Anhang beigefügte Brief des letzteren ein bloßes Dokument im umfangreicheren Dossier ‚Mystizismus versus kritische Religionsphilosophie‘ bildet“ (ebd., x); aber gerade unter dieser Annahme erschließt sich die Notwendigkeit der aufwendigen, immerhin 173 Druckseiten einnehmenden gründlichen Überprüfung von Wilmans’ Thesen durch Jachmann nicht mehr, die dann eine bloße und als solche fragwürdige Fleißarbeit darstellte; wozu auch hätte Kant ein bloßes – beliebiges ? – Doku226
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Zum Prüfer bestellte Kant nicht sich selbst, sondern leitete – wohl noch vor Erscheinen des Streits der Fakultäten232 – die „Dissertation des Hr. Willmanns […] gewißer darinn vorkommender und einer öffentlichen Prüfung wohl würdiger Begriffe wegen“233 an seinen Schüler Reinhold Bernhard Jachmann (1767–1843) weiter, den in der Einleitung bereits zitierten späteren Biographen, um diesem zum damaligen Zeitpunkt anscheinend noch nicht einschlägig Ausgewiesenen „Veranlaßung zur Abfaßung einer Ihre Einsicht und Geschicklichkeit im philosophisch-theologischen Fach beweisenden Schrifft zu geben“.234 Das Ergebnis der durch Robert Theis im Jahr 1999 zu einer Neuedition verholfenen, ursprünglich 1800 in Königsberg bei Friedrich Nikolovius erschienenen Jachmannschen Prüfung der Kantischen Religionsphilosophie in Hinsicht auf die ihr beygelegte Aehnlichkeit mit dem reinen Mystizism235 fällt negativ aus. Schon Jachmanns „Vorrede“ bringt die spezifische Differenz zur Sprache, die zwischen ihn und Kant auf der einen und Wilmans und die Mystiker auf der anderen Seite tritt: „Herr Willmanns [sic], der in seiner Dissertation einige Sätze aus der Mystik und der Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft neben einander stellt, um ihre Aehnlichkeit zu beweisen, zeigt vorzüglich in seinem Briefe (S. Streit der ment in den Streit aufnehmen sollen, anstatt es einfach ad acta zu den anderen Dokumenten des Dossiers zu legen ? 232 Vgl. Leisegang: „Kant und die Mystik“, 26 f., Anm. 233 Br (AA XII, 273). 234 Ebd.; vgl. Reinhold Bernhard Jachmann: Prüfung der Kantischen Religionsphilosophie in Hinsicht auf die ihr beygelegte Aehnlichkeit mit dem reinen Mystizism. Mit einer Einleitung von Immanuel Kant, hg. v. R. Theis (Europaea memoria: II, Bd. 1), Hildesheim/Zürich/New York 1999, 9: „Im verwichenen Jahr [1798] schickte mir Herr Professor Kant die Dissertation des Herrn Doctor Willmanns [sic]: De similitudine inter Mysticismum purum et Kantianam religionis doctrinam nebst dem Briefe desselben an ihn, welcher nachmals in dem Streit der Facultäten abgedurckt worden ist, und forderte mich auf, die darin geäusserten Behauptungen zu prüfen und meine Gedanken darüber dem Publico mitzutheilen.“ 235 Reinhold Bernhard Jachmann: Prüfung der Kantischen Religionsphilosophie in Hinsicht auf die ihr beygelegte Aehnlichkeit mit dem reinen Mystizism. Mit einer Einleitung von Immanuel Kant, hg. v. R. Theis (Europaea memoria: II, Bd. 1), Hildesheim/Zürich/New York 1999; in seinem „Vorwort“ (ebd., vii–xxiv) betont R. Theis, daß hier „mehr auf dem Spiel stand als bloß die religionsphilosophische Problematik im engeren Sinn bzw. daß hier die grundsätzliche Frage nach der Identität des kritischen Philosophiebegriffs selber impliziert ist“ (ebd., ix); entsprechend grundsätzlich ist Jachmanns Abhandlung, die der Gliederung von Wilmans’ Dissertation und damit der Kantischen Religionsschrift vom zweiten Abschnitt an folgt, methodisch auch angelegt: „Zur gründlichen Prüfung der Aehnlichkeit des Mystizismus mit der Kantischen Religionslehre schien es mir nothwendig zu seyn, zuerst die aus der Critik der reinen und der practischen Vernunft gezogenen theoretischen und practischen Prinzipien mit den ersten Gründen des Erkennens und Handelns nach dem Mystizism zu vergleichen und von diesen zur Prüfung der hauptsächlichsten Lehrsätze beider Systeme überzugehen, weil die philosophische Reli gionslehre sich auf die Critik der reinen und practischen Vernunft gründet“ (Jachmann: Prüfung der Kantischen Religionsphilosophie in Hinsicht auf die ihr beygelegte Aehnlichkeit mit dem reinen Mystizism, 18 f.).
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Facultäten S. 115), daß er in den Geist der kritischen Philosophie eingedrungen und also wohl im Stande sey, diese Philosophie mit einem andern System zu vergleichen. Desto auffallender ist es aber, daß er zwischen dem Mystizism und der kritischen Philosophie so viele Übereinstimmungen finden konnte, da er selbst in seinem Briefe sagt: ‚ich fand unter den Mystikern im Wesentlichen die Kantische Moral und Religionslehre wieder, je do c h i m m e r m it de m Un te r s c h ie de, d a ß s ie d a s i n ne r e G e s e t z , w ie s ie e s ne n ne n, f ü r e i ne i n ne r e O f fe n b a r u n g u n d a l s o b e s t i m m t G o t t f ü r d e n U r h e b e r d e s s e l b e n h a l t e n .‘ Dies beweiset doch offenbar, daß Herr W. gerade im Wesentlichen die Kantische Moral und Religionslehre nicht bei den Mystikern wiederfand, sondern daß der Mystiker in seinen P r i n z i p i e n von der kritischen Philosophie gänzlich abweicht“.236
Kant selbst steuerte zur Schrift Jachmanns einen auf den 14. Januar 1800 datierten „Prospectus“ bei, in welchem er nicht nur die entscheidende, ihn von Wilmans’ Mystikern scheidende Frage formuliert, sondern diese auch sogleich in einer Weise beantwortet, die von der höflichen Zurückhaltung, mit der er der These von einem kantischen Krypto-Mystizismus bislang begegnet war, denkbar weit entfernt ist: „Ob nun Weisheit von oben herab dem Menschen (durch Inspiration) e i n g e g o s s e n, oder von unten hinauf durch innere Kraft seiner praktischen Vernunft e r k l i m m t werde, das ist die Frage. Der, welcher das erstere als passives Erkenntnißmittel behauptet, denkt sich das Unding der Möglichkeit einer ü b e r s i n n l i c h e n E r f a h r u n g , 237 welches im geraden Widerspruch mit sich selbst ist, (das Transscendente als immanent vorzustellen) und fußt sich auf eine gewisse Geheimlehre, Mystik genannt, welche das gerade Gegentheil aller Philosophie ist und doch eben darin, daß sie es ist, (wie der Alchemist) den großen Fund setzt, aller Arbeit vernünftiger, aber mühsamer Naturforschung überhoben, sich im süßen Zustande des Genießens selig zu träumen.“238
Nicht nur wird die Mystik nun als „das gerade Gegentheil aller Philosophie“239 bestimmt, sondern Kant versteigt sich einen Satz später sogar zu der einigermaßen 236
Jachmann: Prüfung der Kantischen Religionsphilosophie in Hinsicht auf die ihr beygelegte Aehnlichkeit mit dem reinen Mystizism, 10 ff. 237 Zum „sich selbst schon im Begriffe widersprechende[n] Unding […] einer Ü b e r s i n n l i c h e n E r f a h r u n g “ vgl. auch HN (AA XXIII, 467 f.): „Eine solche Bastartserzeugung des Erkenntnisprincips ist es was unter dem Namen der Mystik M y s t i k genannt werden müssen welche den Nahmen einer G e h e i m l e h r e (doctrina arcani) bey sich führt woran sie wenigstens darin wohl thut nur wenige wie es den Adepten zukommt mit gleichem Unsinn anzustecken.“ 238 VJP (AA VIII, 441); dagegen ist es Kant darum zu tun, „[d]iese After Philosophie (lapis philosophorum) wodurch man gleich als einen Zauberschlag auf einmal und ohne Mühe an Lebensweisheit reich wird nun außer Umlauf zu setzen und dem gesunden Menschenverstande sein Recht zu bewaren“ (HN (AA XXIII, 468)). 239 VJP (AA VIII, 441); vgl. auch HN (AA XXIII, 467): „Philosophie (in der eigentümlichen Bedeutung des Worts) als Weisheitslehre d. i. als einer Wissenschaft des Endzwecks der menschlichen Vernunft ist das gerade Wiederspiel [sic] der Philosophie die man unter dem Titel der Mystik aufstellt […]. Mystik ist der antipodische Standpunkt der Philosophie in welchem die
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Kontext: Historische Hintergründe
erbarmungslosen Forderung, „diese Afterphilosophie auszutilgen, oder, wo sie sich regt, nicht aufkommen zu lassen“.240 Vor dem Hintergrund, daß Jachmann an eine Differenz zwischen Kants Religionsphilosophie und auch dem reinsten Mystizismus erinnert, die Wilmans in seinem Brief an Kant selbst offen eingeräumt und ausgesprochen hatte, müssen der nun im „Prospectus“ von Kant angeschlagene polemische Ton und die schroffe Heftigkeit der Zurückweisung jeder Art von Annäherung an die Mystik verwundern. Abgesehen davon, daß Wilmans’ generelle These mit der benannten spezifischen Differenz nicht notwendigerweise konfligiert, da die behauptete Ähnlichkeit im Unterschied zu einer nicht behaupteten Identität auch partielle Unterschiede erlaubt, war doch für Kant selbst eigentlich „die Verwahrung vor dem E m p i r i s m der praktischen Vernunft viel wichtiger und anrathungswürdiger, weil der M y s t ic i s m sich doch noch mit der Reinigkeit und Erhabenheit des moralischen Gesetzes zusammen verträgt“.241 Der „Prospectus“ zur Jachmannschen Untersuchung, einer der allerletzten von Kant selbst publizierten Texte, erweckt dagegen den Eindruck, als habe sich Kants Allergie gegen das Schwärmertum schließlich bis zu einer pauschalen Unversöhnlichkeit auch gegenüber jenen Mystikern verschärft, die ihn bislang gerade darum interessieren konnten, weil bei ihnen „nie Schwärmerei […], sondern freies, vorurtheilloses Räsonnement und Urtheil über religiöse Gegenstände“242 zu finden war. Kant sympathisierte mit Jachmann und sein kurzes Vorwort „wollte blos das Siegel der Freundschaft gegen den Verfasser zum immerwährenden Andenken diesem Buche beifügen“.243 Kants „Prospectus“ zog, wohl auch aus Altersgründen, damit einen Schlußstrich unter eine Debatte, die Kant 1798 ebenso überraschend eröffnet hatte, wie er sie 1800 abrupt für beendet erklärte. Carl Arnold Wilmans und seine Dissertatio philosophica de sim i l i t u d in e inter mysticismum purum et Kantianam religionis doctrinam gerieten darüber in den Hintergrund und recht bald in weitgehende Vergessenheit. Sollte bis hierher jedoch zumindest einige Plausibilität für die Annahme gewonnen worden sein, daß die sachlichen Gründe, die Kant dazu bewegen konnten, Wilmans’ These nicht ohne anfängliches Wohlwollen vor das Publikum seiner Leserschaft zu bringen, „auch über Jachmanns kritische ‚Prüfung‘ hinaus wirksam geblieben sind“,244 so wäre ein Zwischenziel erreicht und die nachfolgende Edition und kommentierte Erstübersetzung der Wilmansschen Dissertation sinnvoll motiviert und hinreichend gerechtfertigt. Weisheitslehre sich um eine Achse dreht die selbst einer solchen bedarf und für sich selbst nichts haltbares enthält. […] Mystik ist das gerade Wiederspiel [sic] der Philosophie“. 240 VJP (AA VIII, 441). 241 KpV, A 125 (AA V, 71). 242 SF, A 127 (AA VII, 75). 243 VJP (AA VIII, 441). 244 Fischer: „Kants Idee ‚est Deus in nobis‘, 369.
II. Text: Dokumentation von C. A. Wilmans’ Dissertation Edition und Übersetzung Kommentar
DISSERTATIO PHILOSOPHICA DE
SIMILITUDINE IN T E R
MYSTICISMUM PURUM ET
K ANTIANA M RELIGIONIS DOCTRINA M ••••••••• QUA M AD
SUM MOS IN PHILOSOPHIA HONORES OBT IN E N DOS
EXAMINI A MPLISSIMI PHILOSOPHORUM ORDINIS IN ACA DE M I A H A L ENSI SU BM ISI T
AUC TOR CA ROLUS A RNOLDUS W IL M ANS BI E L E F E L DA – GU E ST PH A LUS
A A. L L. M AG. ET PHILOS. DOCTOR
••••••••••••••• HA LIS SA XON UM T Y PIS IO. F R ID. AUG. GRUN E RT I F IL II M DCCL X X X XV II
PHILOSOPHISCHE ABHANDLUNG Ü BER DIE
ÄHNLICHKEIT Z W ISCH E N DE M
REINEN MYSTIZISMUS U N D DE R
RELIGIONSLEHRE K ANTS ••••••••• W I E SI E, UM
DIE HÖCHSTEN W ÜRDEN IN DER PHILOSOPHIE Z U E R L A NGE N,
Z U R PRÜ F U NG DURCH DAS EHRW ÜRDIGSTE PHILOSOPHENKOLLEGIUM BEI DER H A L L ENSER A K A DE M IE E INGE R E ICH T H AT
D E R V E R FA S S E R CA RL A RNOLD W IL M ANS AUS BI E L E F E L D IN W E ST PH A L E N,
MAG. DER FREIEN KÜNSTE UND DOKTOR DER PHILOS.
••••••••••••••• HA LLE IN SACHSEN VERLAG VON JOH. FRIEDR. AUG. GRUNERT (SOHN) 1797
V IRO PERILLUSTRI AC CONSULTISSIMO
HENRICO LUDOVICO MEIEROTTO BORUSSORUM R EGI A CONSIL IIS R ERUM ECCL ESI AST ICA RUM ET SCHOL ASTICA RUM SU PR E M IS, GYMNASII IOACHI M ICI R EC TOR I, ACA DE M I A E SCIEN TI A RUM BEROL IN ENSIS SODA L I
PR A ECEPTOR I LONGE DILECTISSIMO PERQUE OMNE M V ITA M PIE COLENDO
DEM ANGESEHENSTEN UND GELEHRTESTEN
M ANNE
JOHANN HEINRICH LUDWIG MEIEROTTO 1 KÖN IGL ICH-PR EUSSISCHER K IRCHEN- UN D OBERSCH U L R AT, R EKTOR DES JOACHI MSTH A LSCHEN GYMNASI UMS, M ITGL IED DER BER L IN ER A K A DE M IE DER W ISSENSCH A F TEN,
DEM W EITAUS TEUERSTEN UND EIN LEBEN L ANG TR EU Z U V ER EHR ENDEN
LEHRER
HOCCE OPUSCULUM
D. D. D.
AUCTOR.
GIBT, SCHEN KT UN D W IDM ET
DIESES KLEINE W ERK
DER V ERFASSER.
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PRAEFATIO.
I
n Ammonis, theologi Gottingensis, libello, anno praeterlapso in vulgus edito, de similitudine inter verbum internum nonnullorum recentioris aetatis mysticorum, et verbum morale, de quo Kantius in sacris libris interpretandis disputat, expositum est. Quo in libello, quae proposita reperiebam, ea mihi verissima quidem videbantur firmissimaque, plene vero proposita non item. Quum mihi occasio data esset, nonnulla recentioris mysticismi placita accuratius cognoscendi perspiciendique penitius; utile quid, quodve multorum interesse possit, me suscipere arbitrabar, si pleniorem1 aliquando utriusque | modi, quo religio exponi queat, contentionem facerem communicaremque cum re publica eruditorum. Iam ante vero, cum, ad summos in philosophia honores obtinendos, specimen aliquod exhibendum mihi esset, occasione hac arrepta, suppedito in dissertatione hac, quae quasi προδρομος est, futurae comparationis principia. Quo libello si forte me peritiorem ad eam faciendam permoverim, lubenter ipse hoc labore supersedere potero. Id vero propositum habeo, non alios, qui de religionis philosophia exposuerunt, libros respicere, nisi Kantii illum: „Die Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft“ inscriptum. Mysticorum autem notiones ex fonte duplice haurientur: partim ex consuetudine cum mysticis, intelligentia huius rei exornatis, partim, idque potissimum, ex Rob. Barclaii: „Apologie der wahren christlichen Gottesgelahrt|heit.“ Aus dem Englischen. Germantown, bei Saur, 1776. 8. Mai. Ne vero longus sim, nullos plane ex hoc libro locos citabo, ideoque lectores, qui rem penitius perspicere cupiunt, ad ipsum delegare liceat librum; cuius materia, si forte eiusdem forma minus placuerit, lectores, arbitror, laborem pensare poterit. Reliquum est, ut disertis verbis observem, specimen hoc iis modo lectoribus, qui illum supra a me citatum Kantii librum et legerunt et intellexerunt, perspicuum fore, propterea quod tantum modo ex eo sum mutuatus, quantum ad propositum adsequendum sufficere videbatur; namque lineas modo nonnullas comparationis ducere volui, non rei perficere picturam. Unde etiam ratio rei tractandae haec erit, ut singula Kantiani libri capita persequar, eiusdemque notiones cum illis mysticorum comparem. |
1 pleniorem ] Erstdruck:
pleniorum
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VORREDE
D
ie im vergangenen Jahr veröffentlichte Schrift des Göttinger Theologen Ammon2 handelt von der Ähnlichkeit zwischen dem inneren Wort einiger Mystiker der jüngeren Zeit und dem moralischen Wort, von dem Kant in seiner Auslegung der Heiligen Schrift spricht. Was ich in dieser kleinen Schrift dargelegt fand, schien mir freilich ganz richtig und völlig zutreffend, ebenso vollständig schien mir die Darstellung aber nicht zu sein. Nachdem mir nun Gelegenheit gegeben war, einige Auffassungen des jüngeren Mystizismus näher kennenzulernen und eingehender zu durchdringen, meinte ich, daß ich etwas Nützliches und womöglich auch für viele Interessantes unternähme, wenn ich einmal einen vollständigeren Vergleich der beiden Weisen, wie die Religion ausgelegt werden kann, anstellte und der Gemeinschaft der Gelehrten mitteilte. Da ich aber vorher schon eine Qualifikationsschrift zur Erlangung der höchsten Würden in der Philosophie vorzulegen hatte, habe ich diese Gelegenheit ergriffen und liefere in dieser Abhandlung, die gewissermaßen ein Prodrom3 ist, die Grundsätze einer künftigen Auseinandersetzung. Wenn ich mich durch diese Schrift nur zu größerer Geschicklichkeit, einen solchen Vergleich anzustellen, bringen sollte, werde ich selbst mich dieser Mühe gern überheben können. Mein Vorhaben ist aber, von den Büchern, in denen die Philosophie der Religion zur Darstellung gekommen ist, ausschließlich jene Schrift Kants zu berücksichtigen, die den Titel trägt: „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“. Die Begriffe der Mystiker hingegen werden aus zweifacher Quelle geschöpft werden: zum einen Teil aus meinem persönlichen Umgang mit Mystikern, die sich durch ihr Verständnis dieser Zusammenhänge besonders auszeichnen, zum anderen Teil, und dies hauptsächlich, aus Robert Barclays „Apologie der wahren christlichen Gottesgelahrtheit.“ (Aus dem Englischen. Germantown, bei Saur, 1776. 8. Mai.) Um aber nicht zu ausführlich zu werden, werde ich freilich gar keine Stellen aus diesem Buch anführen und darf darum diejenigen Leser, die die Sache eingehender zu durchdringen wünschen, auf das Buch selbst verweisen; sollte dessen Form nicht recht gefallen, Leser, so wird sein Inhalt doch, wie ich meine, die Mühe aufwiegen können. Bleibt noch übrig, ausdrücklich zu bemerken, daß die hier zur Prüfung vorgelegte Dissertation nur jenen Lesern, die das oben von mir zitierte Buch Kants sowohl gelesen als auch verstanden haben, durchsichtig sein wird, und zwar deswegen, weil ich nur so viel aus ihm entlehnt habe, wie mir hinreichend schien, um mein Vorhaben umzusetzen; denn ich wollte nur einige Linien des Vergleichs anreißen und nicht das vollständige Bild der Sache ausmalen. Daher wird auch die Gliederung des abzuhandelnden Themas die sein, daß ich mich an Kants Schrift halte, sie Stück für Stück durchgehe und die Begriffe derselben mit jenen der Mystiker vergleiche.
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Edition und Übersetzung · Praefatio
Vel per se autem intelligitur, cum hac in comparatione haud mihi liceret meam proferre sententiam, quae breviter hic proposita leguntur, ea me historice modo tractata voluisse. Caeterum si forte specimen hoc lectori parum placuerit, rogo voluntatem potius quam vires viri iuvenis intueatur. Die XXV Septembr. MDCCLXXXXVII.
Edition und Übersetzung · Vorrede
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Da es mir bei diesem Vergleich kaum erlaubt war, meine eigene Meinung kundzutun, versteht es sich schon ganz von selbst, daß ich die Themen, die hier in aller Kürze dem Leser dargelegt sind, nur historisch habe abhandeln wollen. Sollte ansonsten diese Qualifikationsschrift dem Leser nicht recht gefallen, so bitte ich ihn, sein Augenmerk mehr auf das Wollen als auf das Können eines jungen Mannes zu r ichten.4 Am 25. September 1797
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CONSPECT US.
Prolegomena. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 Sectio I.
De inhabitatione mali principii iuxta bonum, seu de fixo et radicato humanae naturae malo. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 A. Kantii placita. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 B. Mysticismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88
Sectio II. De boni et mali principii inter se pugna ob principatum hominum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 A. Kantii placita. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 B. Mysticismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 Sectio III. De boni principii victoria ex malo deportata atque regno dei in terra stabilito. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 A. Kantii placita. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 B. Mysticismus. | . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 Sectio IV. De vero et falso cultu sub boni principii imperio, seu de vera et sacerdotali religione. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 A. De cultu dei in religione quacunque. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 a. De religione Christiana, quatenus naturalis est. . . . . . . . . 120 b. De religione Christiana, quatenus est res litteraria. . . . . . . 124 B. De falso dei cultu in religione statutaria, quam dicunt. . . . . . 126 Appendix. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132
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ÜBERSICHT
Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Abschnitt I. Von der Einwohnung des bösen Prinzips neben dem guten, oder: Über das der menschlichen Natur beständig eingewurzelte Böse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 A. Kants Lehren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 B. Mystizismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Abschnitt II. Vom Kampf zwischen dem guten und dem bösen Prinzip um die Herrschaft über den Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 A. Kants Lehren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 B. Mystizismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Abschnitt III. Vom Sieg, den das gute Prinzip über das böse davongetragen hat, und der Gründung eines Reichs Gottes auf Erden . . . . . 107 A. Kants Lehren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 B. Mystizismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Abschnitt IV. Vom Dienst und Afterdienst unter der Herrschaft des guten Prinzips, oder: Von wahrer Religion und Pfaffentum . . . . . . 119 A. Vom Dienst Gottes in einer Religion überhaupt . . . . . . . . 119 a. Von der christlichen Religion als natürlicher Religion . 121 b. Von der christlichen Religion als gelehrter Religion . . . 125 B. Vom Afterdienst Gottes in einer sogenannten statutarischen Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133
DE SIMILIT UDINE IN TER MYSTICISM UM PURUM ET K AN TI ANA M R ELIGIONIS DOCTR INA M.
ÜBER DIE Ä HNLICHK EIT ZW ISCHEN DE M R EINEN MYSTIZISM US UND DER R ELIGIONSLEHR E K AN TS
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PROLEGOMENA.
§. 1. am in huius libelli praefatione diximus, nos eo tendere, ut nonnullis, quae ad naturam atque indolem et Kantii et mysticorum religionis doctrinam pertinent, comparandis, in quo consentiant utrique, in quo dissentiant, ostendere propositum sit. Ad eum vero finem necessario faciendum videtur, primum, ut id, quod cuiusque doctrinae proprium, definiatur; deinde, ut discrimen unius et alterius ab aliorum placitis, unde utrique sua petierunt, exhibeatur; denique, quae sit similitudo, quae dissimilitudo, ostendatur. Quod utique longius requirit disputandi spatium, quam quod huic specimini dare possumus. In praesentia igitur sufficiat, hisce in prolegomenis brevibus de utraque religionis doctrina generatim exponere, deinde vero singularem, quamquam non minus brevem, utriusque facere comparationem. | §. 2. Praecipuum, quod philosophiam criticam inter ac dogmaticorum doctrinam intercedit, discrimen, sine ullo dubio in notione primitivi, i. e. eius, quod originem aliunde non ducit, nec altius petitur, positum esse videtur. Primitus cogitat homo, i. e. non extrinsecus irrumpunt in animos imagines, sed intrinsecus gignuntur, ita ut sibi ipse rerum sensibus subiectarum universitatem cogitando fingat. Pariter vero primitus agit homo, i. e. non licet extrinsecus ad agendum permoveri hominem, sed intrinsecus modo, imperante scilicet lege illa morali, quae in homine inest. Qualis igitur cunque homo est, aut malus aut bonus, talis non evadit, sed naturâ est, estque nulla experientiae ratione habita. Id vero etiam ipsum inter mysticismum et dogmaticorum de religione doctrinam potissimum interest, quod, ex huius sententia, sua cuique religio non aliunde discenda est, non ex sacro quopiam codice, non ex ulla disciplina, non ex ullo homine; sed duntaxat de proprio sumenda. Unde non licet, alienis praeceptis ad agendum impellatur, propterea quod codex primitivus quidam ei inest, cuius unice in agendo rationem censet habendam. |
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VOR BE MER KUNGEN
§ 1 ereits in der Vorrede dieser Schrift haben wir gesagt, daß wir darauf abzielen, daß wir durch den Vergleich einiger Punkte, die Natur und Wesen der Reli gionslehre sowohl Kants als auch der Mystiker betreffen, zu zeigen uns vorgenommen haben, worin beide übereinstimmen und worin beide nicht übereinstimmen. Zu diesem Zweck scheint es aber notwendig, daß, erstens, die Eigenheit bestimmt wird, welche die eine wie die andere Religionsauffassung jeweils ausmacht; zweitens ist darzustellen, worin sie sich beide von den Ansichten anderer unterscheiden, von denen her sie zu ihren eigenen Positionen gekommen sind; drittens und letztens soll gezeigt werden, worin ihre Ähnlichkeit und worin ihre Unähnlichkeit besteht. Dies zu erörtern erforderte allerdings einen größeren Umfang, als wir dieser Qualifikationsschrift einräumen können. Vorläufig mag es daher genügen, in diesen kurzen Vorbemerkungen ganz allgemein von beiden Religionsauffassungen zu handeln, sie anschließend aber im einzelnen, wenn auch nicht weniger knapp, zu vergleichen. § 2 Der vornehmlichste Unterschied, der zwischen die kritische Philosophie und die Schulmeinung der Dogmatiker tritt, scheint zweifelsohne im Begriff des Selbstursprünglichen, d. h. dessen, was seinen Anfang nicht anderswoher nimmt und nicht weiter hergeleitet werden kann, zu liegen. Der Mensch denkt selbstursprünglich, d. h. die anschaulichen Vorstellungen kommen ihm nicht von außen in den Sinn, sondern entstehen vielmehr von innen heraus, so daß der Mensch die Welt der sinnenfälligen Dinge sich im Denken selbst schafft.5 In gleicher Weise aber ist der Mensch im Handeln selbstursprünglich,6 d. h. es gebührt dem Menschen nicht, von außen zum Handeln bewegt zu werden, sondern nur von innen heraus, nämlich nach dem Diktat jenes moralischen Gesetzes, das dem Menschen innewohnt. Wie immer der Mensch also auch ist, ob nun böse oder gut, dazu wird er nicht, sondern so ist er von Natur aus und zwar unabhängig von aller Erfahrung.7 Genau darin besteht aber auch der Hauptunterschied zwischen dem Mystizismus und dem Religionsverständnis der Dogmatiker, daß sich nämlich, nach Ansicht des Mystikers, niemand seine Religion irgendwoher von außen anzueignen, niemand sie also zu lernen hat aus irgendeinem heiligen Buche oder aus irgendeiner Unterweisung oder überhaupt von einem anderen Menschen, sondern ein jeder sie einzig und allein in dem finden kann, was ihm zu eigen ist. Daher steht es dem Menschen nicht an, sich durch äußerliche Vorschriften zum Handeln bewegen zu lassen, weil ihm nämlich gleichsam ein inneres Gesetzbuch originär eingeschrieben ist, von dem der Mystiker meint, daß es als einziges beim Handeln zu berücksichtigen ist.
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Edition und Übersetzung · Prolegomena
§. 3. Praecipua igitur utriusque doctrinae consensio ea est, ut una et altera omnem omnino et cogitandi et agendi rationem in intimo hominis animo positam velit, et, quod ad id, quod unice hoc loco spectatur, ad actionem et intermissionem, omnes agendi rationes praeceptaque, cum legislator, qui de nostris decernat actionibus, nobis ipsis inhabitet, non ex alio fonte nisi ex ipso hominis animo haurienda esse obtineat. Utrorumque igitur sententiâ leges morales, cum ab unico humanae mentis codice originem trahant, neque ab experientia primitus duci queunt, neque ab aliis hominibus addisci. §. 4. Ad alterum consensus locum pervenio, ad originem interni huius codicis. Utrique, Kantius et mystici, illum obtinent rerum universitatis creatorem, humani animi gnarum, particulam hanc divinam naturae humanae ab origine inseruisse, eaque re mortalibus dedisse facultatem, sponte libereque et ad arbitrium agendi, vel probe vel male agatur, et ita hominem legi huic internae moralem debere libertatem, ita tamen, ut modi quo nulla plane ratio reddi queat. | §. 5. In eodem autem ipso huius consensus loco praecipuum latet discrimen, quod inter utrosque est. Indidem enim quaestio exoritur, utrum hoc legislatore interno freti, remoto divino numine, libere agere possimus ac debeamus, nec ne? Dicam aliter: Quaeritur, utrum morali illa libertate, qua divinus rerum omnium auctor exornavit mortales, ita uti debeamus, ut nostrae duntaxat legis simus, nec a deo pendamus; an nobis vetitum sit, humanis iisque unicis fidere viribus, atque ad moralem illam perfectionem, quo tenditur, sine ullo accedere duce? Quid, si ob virium imbecillitatem divina ope opus sit, si libertas ad voluntatem tantummodo, non ad facultatem rei cuiuspiam ad exitum perducendae, valeat? §. 6. Qua quidem in re Kantius obtinet, Ethicam seu nostrorum officiorum cognitionem Religione, – quippe quae humana officia a lege divina ducat, – suppleri nullâ; fieri autem necessario, ut viâ ethicâ ad religionem ducamur. Quae igitur vox indicat,
Edition und Übersetzung · Vorbemerkungen
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§ 3 Die vornehmlichste Übereinstimmung der kantischen und der mystischen Religionsauffassung besteht also darin, daß beide das Prinzip sowohl allen Denkens als auch allen Handelns gänzlich im Innersten des Menschen verorten und im Blick auf das, was an dieser Stelle einzig in Betracht gezogen wird, nämlich Tun und Unterlassen, behaupten, daß alle Handlungsgründe und -gebote aus keiner anderen Quelle als eben dem Inneren des Menschen zu schöpfen sind, da der Gesetzgeber, der über unsere Handlungen befindet, uns selbst innewohnt. Nach ihrer beider Ansicht also können die moralischen Gesetze, da diese ihren Ursprung einzig und allein im Gesetzbuche des menschlichen Geistes haben, weder originär aus Erfahrung abgeleitet noch durch Lehrer vermittelt werden. § 4 Damit komme ich zu einem weiteren Punkt der Übereinstimmung, nämlich zum Ursprung dieses inneren Gesetzbuches. Kant und die Mystiker behaupten beide,8 daß Er, der Schöpfer aller Dinge ist und das Herz des Menschen kennt,9 dieses Gesetz von jeher der Menschennatur als Anteil am Göttlichen einverleibt10 und dadurch den Sterblichen die Fähigkeit gegeben hat, von sich aus und frei, nach eigenem Willen zu handeln, sei es recht oder schlecht, und der Mensch so diesem inneren Gesetz die sittliche Freiheit verdankt,11 doch so, daß für die Art und Weise, wie gar kein Grund angegeben werden kann.12 § 5 Gerade in genau diesem Punkt der Übereinstimmung liegt aber auch der Haupt unterschied verborgen, der zwischen beiden besteht. Von ebendaher wirft sich nämlich die Frage auf, ob wir, wenn wir uns bloß auf diesen innerlichen Gesetzgeber verlassen und Gottes Beistand uns entzogen ist, frei handeln können und müssen oder nicht. Anders gesagt: Es fragt sich, ob wir Sterblichen jene sittliche Freiheit, mit deren göttlicher Zier der Schöpfer aller Dinge uns versehen hat, so zu gebrauchen haben, daß wir lediglich unserem Gesetz gehören und von Gott unabhängig sind, oder ob wir uns dem, was der Mensch, und nur der Mensch vermag, nicht gänzlich anvertrauen dürfen und uns jener moralischen Vollkommenheit, auf die hin wir angelegt sind, ohne Geleit nicht annähern können. Was, wenn wir ob der Schwachheit unserer Kräfte der Hilfe Gottes bedürfen, wenn sich das Vermögen der Freiheit nur auf unser Wollen erstreckt, nicht aber auf unser Können und seinen faktischen Erfolg ? § 6 In dieser Frage behauptet Kant freilich, daß die Sittenlehre oder die Erkenntnis unserer Pflichten keiner Religion bedarf,13 da letztere ja die Pflichten des Menschen von Gottes Gesetz ableitet, daß wir auf dem Wege der Moral aber mit Notwendigkeit zur Religion geführt werden.14 Dies besagt also, daß die Menschen,
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Edition und Übersetzung · Prolegomena
homines, ut ethices praeceptis satisfaciant, et, quod ad moralitatem attinet, boni evadant, nulla divinitatis indigere idea, nec igitur eiusdem ope. | Aliter mystici: Nos nobis, inquiunt, legum moralium una ut divinorum praeceptorum conscii sumus. Stat igitur religio sine fulcro, fundamentumque et quasi solum omnium nostrarum actionum esse debet. Genuina veraque ethica constare sine religione nequit, atque illa in hac vertitur, non contra; unde animum religione pietateque plenum moralitas necessario comitatur. Nec fieri potest, ut sine divinitatis idea, sine eiusdem ope existamus boni deoque placeamus. Deus perfecta quidem libertate exornavit homines, sed ad nihil valet ea, nisi ad illorum voluntatem, an boni evadere velint, opeque uti divina atque eidem confidere. Utrum hominibus ad vitae probitatem praeter voluntatem vires etiam suppetant, si experientiam ducem sequimur, plane ignoramus. §. 7. At vero haec repugnantia, si rem ipsam spectas, opinata modo est, non vera. Namque ex Kantii sententia lex moralis ita humano animo impressa est, ut ne altius sit petenda, et inde moralem aliquem legislatorem, seu deum esse colligit. Mystici vero, deus, aiunt, suam humano cordi ita inseruit legem, ut illius, tamquam divini praecepti, originem pro | x ime a deo trahentis, nobis conscii simus. Discrimen igitur utrorumque nec in re ipsa est, nec in fonte aut origine legis; sed, quod ad eandem legem, aliter Kantius, aliter mystici deum ad homines referri volunt. Utrique enim, ut infra patebit, revelationem internam quandam statuunt; mystico deus semetipse proxime lege sua patefecit, Kantio contra proxime lex moralis patefacta est, eiusque ope deus. Mystico itaque sibi dei una cum lege conscio, Kantius ex lege ista deum legis moralis latorem esse colligit. Nota. Eadem differentia, ut infra patebit, in ope divina locum habet. H ominem enim, ob virium imbecillitatem, non posse semetipsum e pravitate mentis retrahere, utrique fatentur. Unde Kantius, e concluso, deum esse, de ope etiam divina argumentatur. Mysticus autem eiusdem auxilii una cum lege, absolute imperante, sibi est conscius.
Edition und Übersetzung · Vorbemerkungen
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um den Geboten der Sittlichkeit Genüge zu tun und moralisch gut zu werden, keiner Vorstellung einer Gottheit bedürfen und also auch nicht deren Hilfe. Anders die Mystiker: Wie sie sagen, sind wir uns der moralischen Gesetze in eins mit den göttlichen Geboten bewußt. Die Religion bedarf also keiner Stütze, um zu stehen; sie muß das Fundament und gewissermaßen der Grund und Boden all unseres Handelns sein. Die eigentliche und wahre Sittenlehre kann nicht ohne Religion bestehen, und jene beruht auf dieser, aber nicht umgekehrt. Mit Sittlichkeit gehen darum unausweichlich Religion und ein Gemüt voll Frömmigkeit einher. Und es kann nicht geschehen, daß wir ohne eine Vorstellung des Göttlichen und ohne Gottes Hilfe gut und gottgefällig werden. Zwar hat Gott die Menschen mit vollkommener Freiheit ausgezeichnet, doch reicht diese in ihrem Vermögen nicht hinaus über deren Willen, ob sie gute Menschen werden wollen und sich vom göttlichen Beistand helfen lassen und sich demselben anvertrauen. Ob die Menschen außer dem guten Willen auch über die Kraft für ein rechtschaffenes Leben verfügen, wissen wir, wenn wir uns an die Erfahrung halten, überhaupt nicht. § 7 Doch wenn man die Sache selbst betrachtet, ist dieser Widerstreit nur ein vermeintlicher und kein wirklicher. Denn nach Kants Ansicht ist das Sittengesetz dem Menschen so eingeprägt, daß es nicht weiter hergeleitet werden kann, und daraus schließt er, daß ein moralischer Gesetzgeber oder Gott existiert.15 Wie aber die Mystiker sagen, hat Gott sein Gesetz dem Menschen so ins Herz geschrieben,16 daß wir uns dessen als eines göttlichen Gebotes bewußt sind, das unmittelbar von Gott herrührt. In der Sache selbst besteht zwischen beiden also kein Unterschied, auch nicht hinsichtlich der Quelle oder des Ursprungs des Gesetzes; sondern die Differenz liegt darin, daß Kant und die Mystiker, im Blick auf ein und dasselbe Gesetz, unterschiedlich darüber denken, wie Gott sich auf den Menschen bezieht. Denn, wie später noch klar werden wird, nehmen beide eine Art innerer Offenbarung an;17 für den Mystiker hat Gott selbst sich in seinem Gesetz unmittelbar geoffenbart, für Kant hingegen ist zunächst das Sittengesetz offenbar geworden und Gott nur indirekt, vermittelt über dieses. Während daher der Mystiker sich Gottes in eins mit dem Gesetz bewußt ist, folgert Kant aus diesem moralischen Gesetz, daß Gott es ist, der es eingebracht hat. Anmerkung. Wie wir noch sehen werden, kommt die nämliche Differenz auch wieder zum Tragen, wenn es um den göttlichen Beistand geht. Beide sagen nämlich, daß der Mensch ob der Schwachheit seiner Kräfte sich nicht selbst wieder aus der Verkehrtheit seiner Denkungsart heraushelfen kann. Kants Argument für die Existenz Gottes hat daher auch bei der Frage nach dem göttlichen Beistand die Form eines Schlußes. Der Mystiker hingegen ist sich der Hilfe Gottes in eins mit dem unbedingt gebietenden Gesetz unmittelbar bewußt.
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Edition und Übersetzung · Prolegomena
§. 8. Qua cum sententia, id, quod Ammon l. c. ostentum ivit, cuique potissimum animos attenderunt theologi, arctissime est coniunctum, similis illa sacrorum librorum interpretandorum ratio ab utrisque adhibita. Haec necessario ex eo colligitur, quod utrique legem moralem, primitus imperantem, quae omnibus libris, religionem atque ethicam con | t inentibus, fundamento sit, inesse homini obtinent. Unde mysticus biblia sacrum quidem habet codicem, non vero codicem legum, ex quo, quid faciendum sit, quidve intermittendum, addiscat: namque qui id imperat codex, is iam primitus est animo impressus. Neque religionem suam, si ex hominibus addiscenda esset, vel ex libro, qui multis ne notus quidem est, adeo necessariam habere ad omnesque valentem posset. Imo eandem multo tutiorem et securiorem habere sedem in hominis animo arbitratur, unde eam quisque novisse possit. Sacer igitur codex nihil est, nisi exemplar aliquod interni codicis, vel etiam collectio praeceptorum et legum, quas, quod ad earum naturam, in se quisque invenire poterit, vel potius ex se recipere. At vero necesse etiam est, ut sacrorum librorum leges, priusquam ratas esse et in se valere iudicat, fidem sibi faciant, quod quidem fit, vel si eas cum legibus quasi tabularum suarum comparat, vel si easdem veluti divinas iam ante agnovit. Contraque sacer codex mystico quasi lapis Lydius cum cogitationum tum actionum est, vel liber quoque praeceptivus, (eo sensu, quo Socrates de eiusmodi notionibus disputare solebat,) qui, quod in intimo latet animo, patefaciendo tantum explicandoque accuratius inseruit. Quodsi | mystico biblia sacri ac divini libri dicuntur, non ideo fit, quasi legum codex sint, sed ea tantum parte, quatenus librorum illorum ac sui animi legis lationis eundem esse auctorem, hinc utrumque unum idemque esse arbitratur, vel ea etiam parte, quatenus, quod deus animo humano impressit, id ipsum sacer codex confirmat ratumque facit. Qua ex re clarum sit, quomodo sacrorum librorum interpretatio internae tantum legis ope locum habere possit, praetereaque in promtu est, Kantium hac in re plane cum mysticis consentire. §. 9. Quibus generatim praemissis1, iam ad singulorum locorum progredior comparationem, quam ita sum facturus, ut primum Kantii placita, brevibus quidem, sed quantum fieri poterit, Kantianis verbis proferam; deinde genuinum mysticum,
1 praemissis ] Erstdruck:
praemissus
Edition und Übersetzung · Vorbemerkungen
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§ 8 Mit dieser Positionsnahme ist das, was Ammon18 an angeführter Stelle zu zeigen unternommen hat und worauf die Theologen die größte Aufmerksamkeit gerichtet haben, engstens verbunden, nämlich daß beide bei der Auslegung der Heiligen Schrift einer ähnlichen Hermeneutik folgen. Dies folgt mit Notwendigkeit daraus, daß beide behaupten, daß das unableitbar gebietende Sittgengesetz, das allen Büchern, die Religion und Moral zum Inhalt haben, zur Grundlage gereicht, dem Menschen innewohnt. Daher hält der Mystiker die Bibel zwar für eine heilige Schrift, aber nicht für ein Gesetzbuch, aus dem er ablesen und lernen könne, was er zu tun oder was er zu lassen habe: denn dasjenige Gesetzbuch, das ihm dies befiehlt, das steht ihm immer schon ins Herz geschrieben.19 Und ob er sich seine Religion nun über die Lehre anderer Menschen anzueignen hätte oder aus einer Schrift, die vielen nicht einmal bekannt ist: für notwendig und allgemeingültig könnte er sie ganz und gar nicht halten. Vielmehr hält er dafür, daß sie in des Menschen Herz viel verlässlicher und sicherer aufgehoben ist, wo ein jeder um sie wissen kann. Die Heilige Schrift ist also nichts anderes als ein bloßer Abdruck des inneren Buches, oder auch der Sammlung von Geboten und Gesetzen, die, was ihre Natur angeht, ein jeder in sich finden oder vielmehr von sich aus annehmen kann. Bevor man urteilt, daß die Gesetze der Heiligen Schrift in Geltung und in sich gültig sind, ist es aber doch auch notwendig, daß diese ihre Legitimation ausweisen, was freilich geschieht, sei es, wenn man sie sozusagen mit den eigenen Gesetzestafeln vergleicht,20 sei es, wenn man sie schon vorher als göttlich anerkannt hat. Und so ist die Heilige Schrift für den Mystiker vielmehr eine Art Probierstein 21 sowohl der Gedanken als auch der Handlungen oder auch ein Buch der Mahnung (in dem Sinne wie Sokrates über derartige Begriffe zu disputieren gewohnt war),22 das lediglich einprägsamer ausgeführt hat, was im Inneren des Menschen verborgen liegt, indem es dies offenbar und explizit gemacht hat. Wenn nun die Bibel vom Mystiker als heilige und göttliche Schrift bezeichnet wird, so geschieht dies nicht aus dem Grund, daß sie ein Gesetzbuch wäre, sondern nur insofern er der Ansicht ist, daß der Urheber der Gesetzgebung seines Herzens und der Urheber der Gesetzgebung der Heiligen Schrift ein und derselbe ist, oder auch insofern als die Heilige Schrift bestätigt und ratifiziert, was Gott dem Menschen ins Herz geschrieben hat.23 Von daher sollte klar sein, wie die Auslegung der Heiligen Schrift nur mit Hilfe des inneren Gesetzes statthaben kann, und in Folge dessen liegt auch auf der Hand, daß Kant in dieser Frage vollständig mit den Mystikern übereinstimmt. § 9 Nach diesen allgemeinen Vorbemerkungen gehe ich schon dazu über, einzelne Punkte zu vergleichen. Ich werde diesen Vergleich so anstellen, daß ich zunächst Kants Lehren in zwar kurzen, aber nach Möglichkeit Kantischen Worten referie-
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Edition und Übersetzung · Prolegomena
talem qualem cognovi, inducam, remotaque sermonis mystici obscuritate solemnibus verbis utar. Ad Kantianam vero religionis doctrinam quod attinet, in partes divisa est quatuor; eandem divisionem ducem sequemur.
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Edition und Übersetzung · Vorbemerkungen
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ren werde, um im Anschluß daran einen genuinen Mystiker, so wie ich ihn kenne, zu Sprache kommen zu lassen, wobei ich mich von der Dunkelheit der mystischen Ausdrucksweise fernzuhalten und mich allgemeinverständlicher Begrifflichkeiten zu bedienen gedenke. Was aber Kants Religionsschrift angeht, so ist diese in vier Abschnitte unterteilt und an diese Gliederung wollen wir uns halten.
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SECTIO I.
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DE IN H A BITATION E M A L I PR INCIPII I U XTA BON UM SEU
DE F I XO ET R A DICATO H UM A NA E NAT U R A E M A LO.
••••••• A. Kantii Placita. §. 10. onum ac malum, quod ad mores pertinet, non nisi a libertate ductum cogitari potest. Utriusque igitur ratio neque propensione aliqua niti potest, nec aliquo naturae impetu, sed in regulis potius, iisque primitivis, posita esse debet. Namque homo, ut primitus cogitat, ita ut primitus agere debet, i. e. non extrinsecus ad actiones morales permoveri debet, sed duntaxat intrinsecus, ipsa lege morali. Qualis igitur cunque est homo, aut bonus aut malus, si rationem principii habes, talis non fit, sed est naturâ seu necessario, remoto omnis omnino experientiae respectu. Quoniam vero sensus moralis simul libertate continetur, actusque est liberi arbitrii; humanae naturae et innatus et acquisitus simul est, i. e. neque tem | poris neque experientiae habet ortum. Est igitur ille humani generis naturâ proprius, ob libertatem vero acquisitus. Iam vero in homine materia primitiva quaedam cum boni tum mali latet; altera facit, ut magni aestimetur colaturque ab homine lex moralis, altera vero proclivitas potius dicenda est: haec enim materia non innata solum est, sed acquisita etiam, estque, cui factum intelligibile, vel per se moraliter mala. Quae quidem ad malum proclivitas hominem naturâ malum reddit, quia, ut sibi legis moralis conscius sit, tamen occasione data ab illa decedere in rationes agendi recepit. Quod non id sibi vult, quasi a priori intelligatur, hominem esse malum; sed illud modo, quod pravitas haec, experientia consulta, in omnes homines convenit.
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A BSCHNIT T I VON DER EIN WOHN UNG DES BÖSEN PR INZIPS N EBEN DE M GU TEN ODE R:
Ü BER DAS DER M ENSCHL ICHEN NAT U R BESTÄ N DIG E INGEW U R ZELTE BÖSE
••••••• A. Kants Lehren § 10 as moralisch Gute und das moralisch Schlechte kann nur als Produkt der Freiheit gedacht werden.24 Ihr Grund kann also jeweils weder auf irgendeiner Neigung noch auf irgendeinem naturalen Antrieb beruhen, sondern muß vielmehr in den normativen Prinzipien angesetzt werden.25 Denn so wie der Mensch im Denken selbstursprünglich ist, so muß er auch selbstursprünglich handeln, d. h. sich zu moralischen Handlungen nicht von außen bewegen lassen, sondern ausschließlich von innen, eben durch das moralische Gesetz. Wie immer der Mensch also auch ist, ob nun gut oder böse, dazu wird er, wenn man das Prinzip berücksichtigt, nicht, sondern so ist er von Natur aus oder mit Notwendigkeit, ohne daß Erfahrung hier irgend in Betracht kommt.26 Da aber ja die moralische Gesinnung zugleich ein Actus der Freiheit ist und freien Willens hervorgebracht wird,27 so ist sie gleichzeitig sowohl der menschlichen Natur angeboren 28 als auch selbst erworben, d. h. weder zeitlichen noch empirischen Ursprungs.29 Der Charakter der moralischen Gesinnung ist einem also von der Natur des Menschengeschlechts aus eigen, der Freiheit wegen aber selbsterworben.30 Im Menschen liegt aber schon eine Art ursprünglicher Anlage sowohl zum Guten als auch zum Bösen verborgen; erstere bewirkt, daß das Sittengesetz vom Menschen hochgeschätzt und für heilig gehalten wird, letztere hingegen ist eher als Hang zu bezeichnen: denn dieser Hang zum Bösen ist nicht nur angeboren, sondern auch selbsterworben, und er ist als intelligible Tat 31 schon an sich moralisch böse. Dieser Hang zum Bösen macht den Menschen allerdings von Natur aus böse, weil er, obwohl er sich des Sittengesetzes bewußt ist, dennoch die gelegentliche Abweichung von diesem in seine Handlungsgründe aufgenommen hat.32 Daß a priori eingesehen werden könnte, daß der Mensch böse sei, will dies nicht besagen, sondern nur dies, daß diese Bösartigkeit allen Menschen, wie man sie aus Erfahrung kennt, zukommt.33
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§. 11. Haec proclivitas imputationis est capax, nec igitur mali modo semen homini insertum. Est vero eadem omnium communis, eaque mente malum homini radicatum seu innatum dicenda; quod malum, quia ex libertate pendet, ac moralitatis attingit naturam, ceu culpa ab ipso homine contracta, censendum est. Cuius vero ad malum proclivitatis caussa neque est in sensualitate quaerenda: nititur enim rationi | bus; neque in ratione practica, quam dicunt: repugnat enim eiusdem rationis indoli atque naturae. Eruenda est igitur ea ex ipsa mali notione: Legi morali amoris sui, (Selbstliebe,) principium oppositum est. Homo autem, ut vere dicamus, utrique deditus est. Unde, si materiam spectas, malus et bonus simul est, quod est absonum. Hinc forma est spectanda, seu videndum, quemadmodum unum alteri sit subiectum, vel utrum alterius sit conditio? Atqui homo, ut experientia edocti scimus, amorem sui moralitatis conditionem constituit; ergo pervertendo caussarum ad agendum impellentium, (ἐλατηρων,) ordine malus est, proclivitasque ad pervertendum naturalis quaedam est proclivitas ad malum, quae igitur non malitia dicenda est, sed perversitas. Huius mali ortus non ita cogitari potest, ut temporis conditioni sit subiectus, sed illi rationis, propterea quod morale est malum, hominemque eum novimus in statu praesenti, in quo una cum humanitate malum appareat. §. 12. Non dubium est, quin fieri possit, ut, hac ad malum proclivitate remotâ, boni materies restituatur. Nam vel in pravissimo homine lex moralis permanet, hinc germen aliquod boni, | cuius ne particula quidem perit, quod vero cognitionem desiderat atque excitationem. Haec cognitio eaque, quae inde pendet, morum commutatio non a morum emendatione, sed a rationis seu sensus permutatione incipere potest. Ad illam igitur restitutionem quasi revolutio sensus requiritur seu regeneratio, i. e. subitum et constans legi morali obediendi consilium, ut ita demum sensim ad meliorem redeatur frugem. Hoc autem nullo alio modo, nisi illâ morum materie, quae ab origine in homine inest, quasi divina illa scintilla, quae supra naturam hominem tollit, fieri potest. Quod, etiamsi, si vires spectamus,
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§ 11 Dieser Hang ist etwas, was dem Menschen zugerechnet werden kann, und also nicht nur ein ihm eingepflanzter Keim des Bösen. Dieser Hang ist aber allen Menschen gemein und in diesem Sinne muß man ihn ein dem Menschen eingewurzeltes oder angeborenes Böses nennen;34 da dieses Böse auf Freiheit beruht und das Wesen der Moralität betrifft, ist es als eine Schuld anzusehen, die der Mensch sich selbst zugezogen hat.35 Der Grund dieses Hangs zum Bösen darf aber nicht in der Sinnlichkeit gesucht werden,36 denn es beruht auf Vernunftgründen; er darf aber auch nicht in der sogenannten praktischen Vernunft gesucht werden, denn es widerstreitet der Natur und dem Wesen eben dieser Vernunft.37 Er ist also aus dem Begriff des Bösen selbst zu ermitteln:38 Das Prinzip der Selbstliebe ist dem Sittengesetz entgegengesetzt. Der Mensch, um die Wahrheit zu sagen, folgt aber beiden Prinzipien. Material betrachtet ist er daher gleichzeitig gut und böse, was ungereimt ist. Folglich muß man die Form in Betracht ziehen und darauf achten, wie das eine Prinzip dem anderen untergeordnet oder welches von beiden zur Bedingung des anderen gemacht wird. Nun macht der Mensch, wie ihn uns die Erfahrung kennen läßt, aber die Selbstliebe zur Bedingung der Moralität; also ist er dadurch böse, daß er die Ordnung der Triebfedern (ἐλατέρες) seines Handelns verkehrt,39 und der Hang zu dieser Verkehrung ist eine Art natürlicher Hang zum Bösen, der also nicht Bosheit zu nennen ist, sondern Verkehrtheit.40 Der Ursprung dieses Bösen kann nicht so gedacht werden, als wäre er einer Zeitbedingung unterworfen, sondern das Böse kann nur einen Vernunftursprung haben,41 und zwar weil es moralisch ist; und so wie wir den Menschen im Stand seines gegenwärtigen Lebens vor Augen haben, zeigt sich das Böse bei ausnahmslos allen Menschen.42 § 12 Es besteht kein Zweifel, daß es möglich ist, daß dieser Hang zum Bösen überwunden und die Anlage zum Guten wiederhergestellt wird.43 Denn noch im verkommensten Menschen bleibt das moralische Gesetz bestehen, folglich ein Keim des Guten, von dem nicht das Geringste verdirbt,44 der aber Achtung heischt und kultiviert werden will. Doch diese Achtung und die Änderung der Sitten, die daraus resultiert, kann nicht in der Besserung der Sitten ihren Anfang nehmen, sondern nur in der Umwandlung der Denkungs- oder Sinnesart.45 Für jene Wiederherstellung ist also eine Art Revolution der Gesinnung vonnöten oder eine Wiedergeburt,46 d. h. eine unmittelbare und unwandelbare Entschließung, dem moralischen Gesetz Gehorsam zu leisten, so daß man erst wieder auf dem rechten Weg der allmählichen Besserung fortschreiten kann.47 Doch dies kann auf keine andere Weise geschehen als durch die Anlage zur Sittlichkeit, die dem Menschen von jeher innewohnt wie jener göttlicher Funke, der den Menschen über die Natur erhebt.48 Auch wenn dies in Anbetracht unserer Kräfte unbegreiflich ist, ist es
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Edition und Übersetzung · Sectio I
comprehendi nequeat, esse tamen poterit; ex lege enim debemus ad meliorem redire frugem, ergo et poterimus redire.
B. Mysticismus.
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§. 13. Iam ad mysticismum pervenimus. In eo disseritur de peccato hereditario, (Erbsünde,) quae vox ita sumenda est, ut mysticus genuinus eam explicare solet. Non enim est peccatum hereditatis seu hereditate relictum, sed vitiositas potius, seu pravitas omnium omnino hominum communis. Dicitur vero peccatum | hereditarium, propterea quod, una cum stirpe humani generis propagata, propagatur etiam necessario illa ad malum proclivitas. Est igitur morbus quidem hereditarius, non vero singulorum hominum, sed humanitatis seu hominum universorum omnium. At ne hereditarius quidem morbus ex sententia mysticismi puri dici potest, sed morbus potius popularis, (ἐνδημιος,) ita comparatus, cui, cum illius caussa universitatis sit, nemo se subtrahere queat. Male etiam peccatum hereditarium ita interpretantur, ut certum aliquod ac definitum significet peccatum; haec enim dictio notam potius, quae in quovis reperitur homine, significat, caussamque notat, quare ab omnibus peccetur. §. 14. Si hactenus utrorumque comparaveris doctrinam, magnam inveneris similitudinem, vel fundamentum respicias, vel modum, quo sua quisque placita tractare conatur. Utraque enim doctrina omnem hac in re rationem speculatricem repudiat, nullaque re, nisi experientia ac fide, nititur; utraque boni et mali principium in humano animo primitus positum vult; neutra vero modum quo accuratius definit. Mysticismi autem de inhabitatione mali principii iuxta bonum doctrina haec potis-
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simum est. |
§. 15. Si animum ad nos ipsi acriter intenderimus, duo sibi repugnantia principia in nobis reperiemus, quorum alterum absolute imperat, et quid faciendum, quidve intermittendum sit, edicit; alterum vero priori oppositum nos nostrum ipsorum admonere, nobisque persuadere non desinit: non, quid facere debeamus, sed quid
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dennoch möglich: Dem Gesetze nach sollen wir uns nämlich zum Besseren bekehren, also müssen wir es auch können.49
B. Mystizismus § 13 Damit sind wir schon beim Mystizismus. In diesem wird die Erbsünde Thema, welcher Begriff so aufgefaßt werden muß, wie ein genuiner Mystiker ihn zu explizieren gewohnt ist. Denn sie ist keine angeerbte oder durch Vererbung hinterlassene Sünde, sondern eher eine Fehlerhaftigkeit oder Bösartigkeit, die allen Menschen ausnahmslos gemein ist. Sie heißt aber Erbsünde, weil sich dadurch, daß sie sich gemeinsam mit der Wurzel des Menschengeschlechts fortgepflanzt hat, mit Notwendigkeit auch jener Hang zum Bösen fortpflanzt. Also ist sie zwar eine Erbkrankheit, aber nicht des jeweils einzelnen Menschen, sondern der Menschheit oder ausnahmslos aller Menschen. Doch nach Ansicht des reinen Mystizismus kann sie noch nicht einmal als eine Erbkrankheit bezeichnet werden, sondern eher als eine endemische Krankheit, die so beschaffen ist, daß sich ihr, weil ihre Ursache eine allumfassende ist, niemand entziehen kann. Die Erbsünde ist auch schlecht verstanden, wenn sie eine bestimmte konkrete Sünde bezeichnen soll; denn mit dem Begriff der Erbsünde wird eher der faule Fleck und Makel, der in jedem beliebigen Menschen anzufinden ist, bezeichnet und der Grund angegeben, warum alle Sünder sind. § 14 Vergleicht man bis hierher die Religionsauffassungen Kants und des reinen Mystizismus, dürfte man eine große Ähnlichkeit finden, sowohl im Blick auf die Grundlagen als auch auf die Art und Weise, wie beide ihre Lehren abzuhandeln suchen. Denn beide Auffassungen weisen in dieser Frage der Religion die spekulative Vernunft gänzlich zurück und stützen sich ausschließlich auf die Erfahrung und den Glauben; beide behaupten, daß das Prinzip des Guten und des Bösen originär im Inneren des Menschen gelegen ist, bestimmen aber nicht näher die Art und Weise, wie.50 Die Auffassung des Mystizismus über die Einwohnung des bösen Prinzips neben dem guten ist aber im Wesentlichen die folgende:
§ 15 Wenn wir unser Augenmerk kritisch auf uns selbst richten, werden wir in uns zwei einander widerstreitende Prinzipien finden, von denen das eine kategorisch befiehlt und bestimmt, sowohl was zu tun als auch was zu lassen ist; aber das zweite Prinzip, das dem ersten entgegengesetzt ist, hört nicht auf, uns an uns selber denken zu lassen und uns einzureden, wir hätten nicht darum uns zu
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utile sit, quid prudentiae consentaneum, curare. Illa vero, in nobis imperante lege, observata facile animadvertimus, principii huius originem non ex humana pendere natura, sed ab illo potius, cui nostrum ortum debemus, esse profectum. Unde consequens est, ut principium posterius, priori repugnans, consilio creationis invito vim suam exserat: inde malum est, et, quia in omnem exserit hominem, sequitur, ut malum quid sit humanitatis commune, cuius elementa in humana natura ab origine ut inserta lateant. – Haec hactenus experientia. Haec vero quemadmodum cohaerent? Lex illa in nobis imperans, nobis persuadet, nos primitus a natura haud pendere, nosque plane liberos esse pronuntiat; nihilo tamen minus naturae obtemperamus. Id quod humana mente comprehendi nequit. Unde libri sacri initium aberrationis a lege per imaginem | lapsus significat: A prima origine condiderat hominem deus bonum divinoque tantum spiritu plenum. Is finis erat propositus, ut homo et deus totum essent, et sic duo efficerentur: primum propria hominis felicitas per similitudinem cum deo, seu per perfectionem moralem; deinde creatoris illustratio gloriaque per obtemperationem legibus. Sed primus ille homo, i. e. homo ille rerum terrestrium studiosus, lege hac violata, regulam, quam sibi ipse constituerat, sequebatur, rationem illam amoris sui: „Proximus sum egomet mihi.“ Itaque conabatur legem divinam suae subiicere, vel suam utilitatem, qualemcumque esse, conditionem volebat, sub qua legibus divinis obtemperaret. Ita homo, non praeter meritum, suam perdidit divinitatem; ita exortum est peccatum hereditarium, i. e. quisque rerum terrestrium studiosus est, et, si primi hominis loco esset atque illi spectationi subiiceretur, lege divina violata, laberetur. – Dicam aliter. Naturâ malus est homo, ita, ut, quae in eo est ad malum proclivitas, imputari possit, unde illa innata et acquisita simul est. De modo autem, quo qualitas haec in homine sit exorta, sacri libri tacent; hoc tantummodo addunt, hominem, lege divina neglecta, se ipsum fecisse metam et ita contra creationis finem restitisse. |
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kümmern, was wir tun sollen, sondern für das Nützliche und mit der Klugheit Vereinbare Sorge zu tragen. Wenn wir aber Acht haben auf jenes Gesetz, das in uns gebietet, werden wir leicht dessen gewahr, daß der Ursprung dieses Prinzips sich nicht auf die menschliche Natur zurückführen läßt,51 sondern vielmehr von jenem ausgeht, dem wir unser Sein und Werden verdanken.52 Daher ist es folgerichtig, daß das letztere Prinzip, das dem ersteren widerstreitet, gegen den Plan der Schöpfung seine Kraft entfaltet: Darum ist es böse, und weil es sich auf jeden Menschen erstreckt, folgt daraus, daß der Menschheit ein Böses gemein ist, dessen Keim in der Natur des Menschen von jeher wie einverleibt verborgen liegt. – Soweit diese Beobachtung. Doch wie hängt dies zusammen ? Jenes in uns gebietende Gesetz überzeugt uns, daß wir ursprünglich gar nicht von der Natur abhängig sind, und proklamiert, daß wir vollkommen frei sind; doch nichtsdestoweniger gehorchen wir der Natur. Das ist es, was mit menschlichem Verstand nicht begriffen werden kann.53 Daher versinnbildlicht die Heilige Schrift die erste Abweichung vom Gesetz, indem sie von einem Fall spricht:54 Ursprünglich hatte Gott den Menschen gut geschaffen, ganz erfüllt vom Geiste Gottes. Dies zu dem Ziel und Zweck, daß der Mensch und Gott ein Ganzes seien und so zweierlei bewirkt werde: zum einen das dem Menschen wesentliche Glück durch die Ähnlichkeit mit Gott oder durch die moralische Vollkommenheit, zum anderen die rühmende Verherrlichung des Schöpfers durch die Einhaltung seiner Gebote.55 Doch der erste Mensch, d. h. der Mensch, dem es um die irdischen Dinge zu tun war, verletzte dieses Gesetz und folgte der Regel, die er sich selbst gesetzt hatte, jenem Grundsatz der Selbstliebe: „Ich bin mir selbst der Nächste.“ Daher suchte er das Gesetz Gottes seinem eigenen unterzuordnen, und wollte sein worin auch immer gesetztes Eigeninteresse zur Bedingung dafür machen, Gottes Geboten Gefolgschaft zu leisten. So hat der Mensch nicht unverschuldet seine Göttlichkeit verloren; und so ist die Erbsünde entstanden, d. h., einem jeden ist es um die irdischen Dinge zu tun, und wenn er an der Stelle des ersten Menschen wäre und auf die gleiche Probe gestellt würde, so würde auch er fallen und Gottes Gesetz verletzen. – Anders gesagt: Der Mensch ist von Natur aus böse, aber so, daß der Hang zum Bösen, der in ihm ist, ihm zugerechnet werden kann, weshalb dieser zugleich angeboren und selbsterworben ist.56 Über die Art und Weise aber, wie diese Beschaffenheit im Menschen entstanden ist, schweigt die Heilige Schrift; nur dies fügt sie hinzu, daß der Mensch, unter Mißachtung von Gottes Gesetz, sich selbst in den Mittelpunkt gestellt und dadurch dem Sinn der Schöpfung sich widersetzt habe.
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§. 16. Quid igitur est, quod peccatum hereditarium proprie significet? Mystica huius quaestionis explicatio plane eadem est ac illa Kantii. Scilicet peccatum hoc neque sensualitate continetur: nititur enim ratione quadam, (amore sui;) neque ab animo legislatore originem ducit, id enim huius naturam tolleret. Eius natura potius haec est, ut homo dei propositum, quod legibus tantum divinis obtemperando consequi potest, negligat, sibimet ipsi pro lubitu proque viribus propriis leges laturus, quibus suum ipsius propositum teneat. Destinatum vero, quod homo petit, ad duo spectat potissimum: partim ad satisfaciendum cupiditati; felicitatem enim in rebus vanis quaeritans, immemor est sublimioris, qua natus est, conditionis: partim ad satisfaciendum superbiae; maior enim esse vult homo, quam esse debet; non legibus divinis obedire, sed sui ipsius legislator esse vult, suamque modo voluntatem ducem sequi; non cogitans, suas leges, ex divinis vel moralibus haud oriundas, nihil nisi leges esse naturae, quae, quo ad verum accedamus scopum, qui ex divinis modo legibus a nobis potest cognosci, nihil plane conferre possunt. Voluntas igitur, partim cupiditati, partim superbiae satisfaciendi, ab amo | re sui originem trahit, unde illa exoritur ratio, qua homo legi divinae ea obedire vult conditione, si, quod sibi ipse destinaverit, id obedientia hac adsequatur. Hinc peccatum hereditarium, quod dicunt, ex amore sui proficiscitur, estque ea humani animi perversitas, qua, quod conditioni adstrictum est, id ipsum conditio ponitur, quare homo auctoritatem sibi arrogat, se ipsum finem summumque proponendi. Tantum igitur abest, ut homo deo permittat, cui ab eo sit destinatus, indicare sibi, et legem interdum divinam attendat, eique pareat; ut sibi potius ipse, prout libet, proponat finem, seque ipsum duntaxat spectans suis ad eum pervenire viribus conetur; id quod, cum finis ille naturae sit, naturalibus modo viribus fieri potest. §. 17. Ad restituendam primitivam boni materiem quod attinet, obtinet mysticus: non solum posse restitui, sed etiam internam eius fidem habere locum, eaque re credendi nobis potestatem datam esse, eam, si modo velimus, restitutum iri. Homo vel pravissimus, si animum ad se ipse attendit, praeter proclivitatem ad malum in se reperiet, quod ad viam, quam iniit, relinquendam impellat, obligetque |
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§ 16 Was also ist mit der Erbsünde eigentlich gemeint ? Was der Mystiker zu dieser Frage erklärt, ist nichts anderes, als was auch Kant sagt: Die Erbsünde besteht nicht in der Sinnlichkeit,57 denn sie beruht auf einem bestimmten Vernunftgrund (der Selbstliebe); sie stammt aber auch nicht von dem Gesetzgeber in uns, denn dies würde sie als Sünde aufheben.58 Ihr Wesen besteht vielmehr darin, daß der Mensch die Absicht Gottes, die er nur dadurch verwirklichen kann, daß er Gottes Gesetzen gehorcht,59 mißachtet, um sich selbst nach Belieben und den eigenen Kräften entsprechend Gesetze zu geben, mit denen er seine eigenen Absichten durchsetzen will. Das Ziel, nach dem der Mensch strebt, hat hauptsächlich zwei Aspekte: einesteils die Befriedigung seines Begehrens – indem er sein Glück nämlich in eitlen Dingen sucht, vergißt er seine höhere Bestimmung, zu der er geboren ist – andernteils die Befriedigung seines Stolzes – größer nämlich will der Mensch sein, als es ihm gebührt; nicht Gottes Gesetzen will er gehorchen, sondern sein eigener Gesetzgeber sein und nur seinem eigenen Willen Gefolgschaft leisten; dabei bedenkt er nicht, daß seine Gesetze, wenn sie nicht zurückgehen auf die Gesetze Gottes oder jene der Moral, lediglich Gesetze der Natur sind, die zum Erreichen unserer wahren Zweckbestimmung, die wir einzig und allein aus Gottes Gesetzen erkennen können, gar nichts beizutragen vermögen. Der Wille, einesteils seinem Begehren, andernteils seinem Stolz Genüge zu tun, resultiert also aus der Selbstliebe, woraus jener Grundsatz hervorgeht, nach welchem der Mensch dem göttlichen Gesetz unter der Bedingung gehorchen will, daß er durch diesen Gehorsam erreicht, was er sich selbst vorgenommen hat. Folglich entsteht die sogenannte Erbsünde aus der Selbstliebe und stellt diese Verkehrtheit des menschlichen Herzens dar, wodurch das, was an eine Bedingung geknüpft ist, selbst als Bedingung gesetzt wird,60 weshalb sich der Mensch das Recht anmaßt, sich selbst zum Ziel und höchsten Zweck zu machen. Weit davon entfernt, daß der Mensch zulasse, daß Gott ihm anzeige, wozu er von ihm bestimmt worden sei, und unterdessen auf das göttliche Gesetz aufmerke und diesem gehorche, setzt er sich lieber selbst nach Belieben sein Ziel und sucht es lediglich auf sich selbst schauend aus eigener Kraft zu erreichen; wozu, da dieses Ziel ein naturaler Zweck ist, auch nicht mehr erforderlich ist als bloß das Vermögen der Natur. § 17 Was die Wiederherstellung der ursprünglichen Anlage zum Guten angeht, so behauptet der Mystiker: daß sie nicht nur wiederhergestellt werden kann, sondern es dafür auch eine innere Gewißheit gibt und wir dadurch zu glauben befugt werden, daß sie, wenn wir nur wollen, wiederhergestellt werden wird. Selbst der verkommenste Mensch wird, wenn er sein Augenmerk auf sich selbst richtet, neben dem Hang zum Bösen etwas in sich finden, das ihn bewegt, den Weg, den er beschritten hat, zu verlassen, und ihn auf das Sittengesetz verpflichtet,61 welches
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ad legem moralem, quae vult, ut homo hominem non minus quam se, et deum maxime amet. Quibus vero verbis haec vox interna simul significat, homini, si modo velit, i. e. si legi huic obtemperet, datam esse, ad meliorem redeundi frugem, potestatem. Haec vero lex vel in pravissimo homine totam vim suam habere non desinit. Hominem ergo credere modo oportet, falsâ se incedere viâ, eamque esse veram, quae per legem significatur; ita animadvertet, se parum esse aptum ad finem sibi pro arbitrio proponendum. Conscientia libertatis, – hominem imperio naturae legum exsolventis, – in animo excitabitur, legemque divinam suam ipsius esse intelliget. Unde materies boni revolutione, (subita immutatione,) animi restituitur, quae una cum consilio coniuncta est, amori sui renuntiandi, ac legi internae obediendi. Indidem patet, regenerationem hanc non a reditu ad meliorem frugem initium capere posse, non ab emendatione morum; sed haec illam potius animi revolutionem sequi modo potest, estque necesse, ut prius credamus, et cognoscamus, nos in naturali quadam versari pravitate et perversitate, illamque immutationem non alia quapiam re, nisi legi divinae, quae in nobis est, obediendo, fieri posse. | §. 18. At vero, etiamsi restitutionis ideam in nobis ipsis fundatam veramque esse videmus: numquam tamen comprehendi poterit modus, quo illa boni materies restitui possit. Namque vires hominis propriae ad hanc rem non sufficiunt, imo ne proclives quidem sunt ad eam perficiendam, quia, si spem in nobis ipsis repositam habere velimus, illam ad malum proclivitatem seu amorem nostri denuo superiorem decedere videmus. Hoc loco est, quo Kantius dicit: „Debemus, unde consequens est, ut possimus.“ Quae vero facultas quum ad vires naturales referri nequeat, illud modo haec verba denotabunt, quod nobis, internae legis caussa, credendum sit, id modo quopiam, qui a nobis fortasse intelligi nequit, factum iri. Mysticorum sententia, si rem ipsam spectas, est una atque eadem: Illa immutatio ex propriis viribus, quia ad naturalem modo finem sufficiunt, locum non habet: naturalibus vero legibus plane soluti esse debemus, quare lex interna longe aliam nobis assignat civitatem, in qua cives esse iubemur. Itaque haec eadem lex, si modo sequi eam velimus, viae verae nobis indicem esse futuram promittit, nosque semper ad suum ablegat auctorem, ad mortalium creatorem. Hic igitur ipse pro nostro est legisla | tore habendus, id quod, sensu certe morali, idem est, ac si dica-
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will, daß der Mensch den Mitmenschen nicht weniger liebt als sich selbst und Gott über alles.62 Mit diesen Worten gibt die innere Stimme aber zugleich zu erkennen, daß der Mensch, wenn er nur will, d. h. wenn er diesem Gesetz gehorchte, auch befähigt ist, sich zum Besseren zu bekehren. Dieses Gesetz bleibt aber noch im verkommensten Menschen mit aller Wirkmacht bestehen.63 Der Mensch braucht also nur glauben, daß er auf dem falschen Weg einherschreite und derjenige der rechte sei, der ihm durch das Gesetz gewiesen werde; so wird er dessen gewahr werden, daß er nicht gut genug geeignet sei, sich selbst nach Gutdünken das Ziel vorzugeben. Das Bewußtsein seiner Freiheit – die den Menschen der Herrschaft der Naturgesetze entbindet – wird in ihm wach werden und er wird einsehen, daß das göttliche Gesetz sein eigenes ist.64 Daher wird die Anlage zum Guten durch eine Revolution (eine unvermittelte Änderung) der Gesinnung wiederhergestellt, die mit dem Entschluß zusammenfällt, der Selbstliebe zu entsagen und dem inneren Gesetz Gehorsam zu leisten. Von eben daher ist es offenkundig, daß diese Wiedergeburt nicht von einer allmählichen Besserung, nicht von einer Reform der Sitten ihren Ausgang nehmen kann; sondern diese kann vielmehr nur auf jene Revolution der Gesinnung folgen und es ist nötig, daß wir zuvor einsehen und anerkennen, daß wir uns von Natur aus in einer gewissen Bösartigkeit und Verkehrtheit befinden und daß diese Änderung durch nichts anderes geschehen kann als dadurch, daß wir dem göttlichen Gesetz, das in uns ist, gehorchen. § 18 Aber auch wenn wir sehen, daß die Vorstellung der Wiederherstellung in uns selbst begründet und zutreffend ist, werden wir dennoch die Art und Weise niemals verstehen können, wie jene Anlage zum Guten wiederhergestellt werden kann.65 Denn die dem Menschen eigenen Kräfte sind dafür nicht zureichend,66 ja sie tendieren noch nicht einmal zu deren Vervollkommnung, weil wir, wenn wir die Hoffnung auf uns selbst setzen wollen, sehen, daß am Ende wieder jener Hang zum Bösen oder die Selbstliebe die Oberhand behält. An dieser Stelle sagt Kant: Wir sollen, und daraus folgt, daß wir auch können.67 Da sich dieses Können aber nicht auf die natürlichen Kräfte beziehen kann, werden diese Worte nur besagen, daß wir des inneren Gesetzes wegen glauben müssen, daß dies auf irgendeine Weise geschehen wird, die von uns wohl kaum eingesehen werden kann.68 Die Ansicht der Mystiker ist, wenn man die Sache selbst betrachtet, ein und dieselbe: Jene Änderung findet nicht aus eigenen Kräften statt, weil diese lediglich für ein natürliches Ziel zureichen; der Naturgesetze aber müssen wir völlig entbunden werden, und darum läßt uns das innere Gesetz einem ganz anderen Reich angehören, in dem wir Bürger sein sollen.69 Daher verheißt eben genau dieses Gesetz, wenn wir ihm nur folgen wollen, daß es uns des rechten Weges Weiser sein wird, und verweist uns immer auf seinen Urheber, den Schöpfer der Sterblichen. Dieser ist also selbst als unser Gesetzgeber anzusehen, was, zumindest im moralischen
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tur: legislatorem nostrum in nobis ipsis inesse. Atqui nostra uti libertate, nostrae nos legi internae subiicere est; ergo praeter voluntatem legislator requirit nihil. Qua quidem posita; sperandum est fore, ut nobis auxilium ferat: quia vero homines nati sumus, ipse auxilii modus numquam a nobis comprehendi poterit.
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Sinn, dasselbe ist, wie wenn man sagt, daß unser Gesetzgeber inwendig in uns selbst ist. Doch in unserer Unterwerfung unter das innere Gesetz besteht die Verwirklichung unserer Freiheit;70 also fordert der Gesetzgeber nichts außer unser Wollen. Unter dieser Annahme muß man hoffen, daß es geschehen wird, daß er uns zu Hilfe kommt: Weil wir aber als Menschen geboren sind, werden wir eben die Art und Weise seines Beistands niemals begreifen können.71
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SECTIO II.
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DE BON I ET M A L I PR INCIPII IN TER SE PUGNA OB PR INCIPAT UM HOM IN UM.
••••••• A. Kantii placita. §. 19. t, qua mores bonus sis, non necesse solum est, ut germen boni explicetur sine ullo impedimento, sed ut malum etiam impugnetur. Virtus ergo est sine certamine nulla. Iam vero, cum et bonum et malum principium hominum principatum iure sibi posse vindicare contendat, pugna inter utrumque exoritur. Idea boni principii, quasi personae fictae, seu homo ille deo solus acceptus ab omni est aeternitate, atque eatenus dei filius unigenitus. Non nisi propius ad eum accedendo sperare poteris fore, ut filius dei existas. Tuum igitur est, tollere te ad illud ethicae perfectionis exemplar, quod quasi splendore maiestatis exutum de coelo ad nos descendit, ut, ceu idea humanitatis pro hominibus apud deum intercederet, eique, quod iustitia postulat, satisfaceret. Qui huic dei filio fidem actionibus probatam praebet, is sperare potest, deo se fore acceptum. | Idea haec, a parte practica considerata, vera est: debemus enim convenienter ei vivere. Indidem omnes tolluntur difficultates, quae, re tantum theoretice considerata, exoriuntur. Primum enim, nisi coram deo iudice animus sensusque hominis pro facto valeret, numquam ille responderet ideae. Deinde si quaeritur, utrum certo de huius sensus constantia nobis persuaderi possit; eum constantem firmumque semper esse futurum, obtineri quidem nequit, sed licet, sensu quidem practico, poni credique, progressione ad virtutem facta, pariter vim boni auctum iri. Denique quod ad peccata commissa attinet, quae pro debito habenda sunt, quod solvi nequit, et pro malo in moribus: verum quidem est, personae culpam non posse tolli; sed cum deus de animo iudicet, iste vero animus, emendatione
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A BSCHNIT T II VOM K A M PF Z W ISCHEN DE M GU TEN UN D DE M BÖSEN PR INZIP UM DIE HER RSCH A F T Ü BER DEN M ENSCHEN
••••••• A. Kants Lehren § 19 m ein moralisch guter Mensch zu sein, muß nicht nur der Keim des Guten sich ungehindert entfalten, sondern auch das Böse bekämpft werden.72 Ohne Streit gibt es darum keine Tugend.73 Und da sowohl das gute als auch das böse Prinzip Anspruch auf die Herrschaft über den Menschen erheben und durchs Recht für sich erstreiten wollen, kommt es schließlich gar zum Kampf zwischen beiden. Die Idee des guten Prinzips, vorgestellt in einer Person, oder jener allein Gott wohlgefällige Mensch ist von aller Ewigkeit her, und insofern Gottes eingeborener Sohn.74 Nur in der fortgesetzten Annäherung an ihn wird man hoffen können, Kind Gottes zu werden.75 Es ist also Pflicht, sich zu diesem Urbild der moralischen Vollkommenheit zu erheben, das den Glanz seiner Herrlichkeit abgelegt hat und so gleichsam vom Himmel hoch zu uns herabgekommen ist,76 um als das Ideal der Menschheit bei Gott für die Menschen einzutreten und den Forderungen seiner Gerechtigkeit Genüge zu tun. Wer dem Sohn Gottes die Treue hält, indem er seinen Glauben durch seinen Lebenswandel beweist, der darf hoffen, daß er Gott wohlgefällig sein werde.77 In praktischer Perspektive ist diese Idee wahr: denn wir sollen ihr gemäß leben.78 Von eben daher heben sich auch alle Schwierigkeiten auf, die entstehen, wenn man die Frage nur theoretisch betrachtet. Erstens nämlich würde der Mensch niemals der Idee entsprechen, würde vor dem Gericht Gottes nicht seine Gesinnung für die Tat gelten.79 Zweitens kann, wenn gefragt wird, ob wir von der Unveränderlichkeit einer solchen Gesinnung fest versichert sein können, freilich nicht behauptet werden, daß sie immer unveränderlich und beständig sein werde, doch darf man, obzwar nur in praktischer Rücksicht, annehmen und glauben, daß im gleichen Maße, wie man auf der tugendhaften Bahn der Besserung fortgeschritten ist, auch die Kraft zum Guten weiter wachsen wird.80 Drittens schließlich stimmt es im Blick auf begangene Verfehlungen, die als eine Verschuldung, die nicht abgetragen werden kann, angesehen werden müssen und als ein moralisch Böses, zwar, daß die persönliche Sündenschuld nicht aufgehoben werden kann, aber da Gott über die allgemeine Gesinnung richtet und diese nach erfolgter
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morum facta, bonus ponatur, poena necessaria, quasi inter reditum ad meliorem frugem soluta cogitari potest. Namque homo renatus, dum correctionis opus vitamque huic convenientem init, et una longam laborum seriem suscipit, etiamsi physice poena non minus dignus sit, moraliter tamen plane alius est, propterea quod dei filius, servator hominumque patronus, culpam illius in se recepit. | §. 20. Illa mali principii vindicatio eo nititur, quod cum humano genere rem contraxit, ex qua homini, si a bono deficiat principio, rerum terrestrium possessio promissa est. Hac ratione mali principii regnum in terra fundatum una cum dei cultu constabat. Iam Christo homine, qui in illa re, inter homines et malum principium contracta, comprehensus non erat, adveniente, mali principii regnum in periculum incidit. Pugna itaque inter utrumque exorta, malum principium physice quidem superius decessit, non autem legitime, quia Christus illius vim fregit, seque coram legislatore esse intercessurum pollicitus est, et pollicitationem hanc morte sancitam confirmavit. Qua re una exhibuit humanitatis ideam, atque exemplum, quod unusquisque imitari possit: id quod in eo regno, in quo principiorum valet potestas, maximum perpetuumque non potest non habere momentum. Christus igitur libertatis ianuam iterum patefecit hominibus, eodemque viam indicavit.
B. Mysticismus.
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§. 21. Non modo non probus bonusque homo est, sed una etiam in eo malum aliquod cer | t um, (positivum,) reperitur. Naturalis igitur pravitas hominum non in defectu solum continetur ac declinatione a bono principio; sed his non minus nititur, quam eo, quod homo vere malum recepit principium, ex quo illa amoris sui ratio in humano animo est exorta. Quodsi iterum deo acceptus esse velis, consilium non sufficit, legis internae audiendae, sed tibi etiam intelligendum est, malo te servire principio, capiendumque consilium, contra illud omnibus, quibus poteris, viribus pugnandi, amorisque tui rationi renuntiandi. Quae pugna proprias, quae in nobis sunt, vires multo quidem superaret, (§. 17, 18;) sed nobis conscii sumus,
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moralischer Besserung für gut gilt, kann die notwendige Strafe sozusagen als im Zwischenzustand der Sinnesänderung bezahlt betrachtet werden.81 Denn in dem Moment, wo er die Besserung ins Werk setzt und ein ihr entsprechendes Leben beginnt, in eins damit aber auch eine lange Reihe von Übeln auf sich nimmt, ist der neue Mensch, auch wenn er physisch nicht weniger derselbe strafwürdige Mensch ist, doch moralisch ein ganz anderer, und zwar deswegen, weil seine Sündenschuld auf sich genommen hat Gottes Sohn, der Erlöser und Sachverwalter der Menschen.82 § 20 Der Rechtsanspruch des bösen Prinzips stützt sich darauf, daß es mit dem Menschengeschlecht einen Pakt geschlossen hat, wonach es dem Menschen, wenn er vom guten Prinzip abfällt, versprochen ist, alle Güter dieser Welt zu besitzen.83 Aus diesem Grund dauerte das auf Erden errichtete Reich des Bösen an, auch wenn es Gottesdienst gab.84 Als nun in Christus ein Mensch erschien, der in jenem Pakt, den die Menschen mit dem bösen Prinzip eingegangen waren, nicht mit einbegriffen war, geriet die Herrschaft des bösen Prinzips in Gefahr.85 Daher kam es zwischen beiden zum Kampf, aus dem das böse Prinzip zwar in physischer Hinsicht als Sieger hervorging, aber nicht in rechtlicher Hinsicht, da Christus seine Macht gebrochen und versprochen hat,86 er werde vor Gottes Gericht für uns eintreten, und diese Zusage durch seinen Tod bekräftigt und unverbrüchlich gemacht hat.87 Dadurch hat er zugleich die Idee der Menschheit dargestellt und ein Beispiel abgegeben, dem ein jeder nachfolgen kann, was in dem Reich, in dem Prinzipien machthabend sind, nicht ohne größten und dauerhaftesten Einfluß bleiben kann.88 Christus hat also die Pforte der Freiheit den Menschen wieder eröffnet und den Weg eben dorthin gewiesen.89
B. Mystizismus § 21 Der Mensch ist nicht nur nicht rechtschaffen und gut, sondern es findet sich in ihm sogar ein gewisses positives Böses.90 Die natürliche Bösartigkeit der Menschen besteht nicht nur in einem Defizit und einer Abweichung vom guten Prinzip, sondern beruht ebensosehr darauf, daß der Mensch das böse Prinzip in der Tat in seine Gesinnung aufgenommen hat, woraus jener Grundsatz der Selbstliebe in ihm hervorgegangen ist. Wenn man aber wieder Gott wohlgefällig sein will, ist der Entschluß, auf das innere Gesetz zu hören, nicht hinreichend, sondern man muß auch einsehen, daß man einem bösen Prinzip anhänge, und den Vorsatz fassen, dagegen mit allen nur möglichen Kräften anzukämpfen und dem Grundsatz der Selbstliebe zu entsagen. Dieser Kampf ginge freilich bei weitem über die eigenen Kräfte in uns (§ 17, 18), doch sind wir uns dessen bewußt, daß eine höhere
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superiorem aliquam potentiam voluntati nostrae, quovis modo, auxilium esse laturam. De quo sacri libri ita: Illa humanitatis idea, quae ab omni aeternitate in dei intellectu exstitit, ceu eiusdem unigenitus filius, homo factus est denuo, humanitatis lapsae vicem coram eo gesturus, pro eaque pugnam cum malo principio initurus, ita ut legislator, amore ideae humanitatis ductus, voluntatis humanae pro re ipsa probandae, quasi nancisceretur facultatem. Illam igitur pugnam pro pugna boni principii, quod ceu persona ficta sive dei filius cogitatur, cum malo principio, quod idem cogitatur ceu persona ficta sive spiri | t us malitiosus, i. e. diabolus, habere poterimus. Qua re bonum principium legitimum sibi hominum principatum vindicat: namque fiducia in dei filio posita, vel eiusdem animo probato sperare possumus, deo nos acceptos fore. Est igitur uniuscuiusque, eum admittere intercedentem, eaque ipsa re iungere se exemplari illi, quod, divinae iustitiae satisfactum, de coelo descendit. Sperare igitur possumus, quin etiam credere nostrum est, nos, illo coram deo intercedente, nosque a mali principii potestate liberante, iterum ad civitatem in regno dei aptos fuisse factos; ita, ut nunc res in voluntate tantum hominis posita sit, utrum se boni principii potestati subiicere velit, nec ne? Primum enim divinae iustitiae vel eo est satisfactum, quod unus omnium purissimus homo, quem res illa cum malo principio contracta haud complectebatur, culpa in se translata, contraque malum principium pugna pugnata, invictus vitam finivit. Deinde, vi mali principii fracta, primitiva hominis libertas restituta est. Denique divina hominis perfecti idea ad effectum perducta, effectum est, ut humanitas deo propius accedere possit iterum. Unde iam nobis credere licet, deum, propter humanitatis ideam, singuli hominis voluntatem pro re ipsa esse probaturum, atque, etiamsi culpa | nostra numquam solvi possit, eamque ipsam ob caussam aeterna poena digna sit, attamen, propter meliorem animum, amorem nostri oppressum pro poena idonea esse habiturum. Nota. Quo accuratius, quod mysticismi proprium est, hic describatur, id animadvertendum est, quod mysticus externam Christi praesentiam hominibus necessariam quidem putat, sed tantummodo, quatenus liberatio salusque eorum spectatur, sed non aeque necessariam esse singulis hominibus huius rei cognitionem historicam arbitratur. Namque et is, qui illius adventus ignarus est, in partem fructus
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Macht unserem Willen, auf welche Weise auch immer, zu Hilfe kommen wird. Darüber ist in der Heiligen Schrift folgendes gesagt: Jene Idee der Menschheit, wie sie von aller Ewigkeit her in Gottes Geiste existiert als sein eingeborener Sohn, ist wiederum Mensch geworden und wird vor ihm die Stelle der gefallenen Menschheit vertreten und an ihrer statt den Kampf mit dem bösen Prinzip bestreiten, so daß der göttliche Richter aus Liebe zum Ideal der Menschheit dahin gebracht und gewissermaßen in die Lage versetzt wird, das Wollen der Menschen als ihr eigentliches Tun anzuerkennen. Wir werden also jenen Kampf für den Kampf des guten Prinzips, vorgestellt als eine Person oder als der Sohn Gottes gedacht, mit dem bösen Prinzip, gleichfalls vorgestellt als eine Person oder als böser Geist, d. h. als der Teufel gedacht, halten dürfen.91 Daher beansprucht das gute Prinzip zu Recht die Herrschaft über den Menschen für sich: Wenn wir nämlich unser Vertrauen auf den Sohn Gottes gesetzt und dessen Gesinnung übernommen haben, dürfen wir hoffen, daß wir Gott wohlgefällig sein werden. Es ist also eines jeden Pflicht, seine Fürsprache anzunehmen und gerade deswegen sich jenem Urbild anzuschließen, das vom Himmel herabgekommen ist, um der göttlichen Gerechtigkeit Genüge zu tun. Wir dürfen also hoffen, ja wir müssen sogar glauben, daß er bei Gott für uns eintreten und uns von der Herrschaft des bösen Prinzips befreien wird, so daß wir dadurch wieder würdig gemacht sein werden, dem Reiche Gottes anzugehören. Einstweilen kommt es also ausschließlich auf den Willen des Menschen an: ob er sich der Herrschaft des guten Prinzips unterwerfen will oder aber nicht, das ist die Frage. Erstens nämlich ist der göttlichen Gerechtigkeit auch dadurch schon Genüge getan, daß von allen Menschen ein einziger, der gänzlich ohne Fehler und von jenem mit dem bösen Prinzip geschlossenen Pakt nicht berührt war, alle Schuld auf sich genommen, den Kampf gegen das böse Prinzip gekämpft und unbesiegt sein Leben beschlossen hat. Zweitens ist, wenn die Macht des bösen Prinzips gebrochen ist, die ursprüngliche Freiheit des Menschen wiederhergestellt. Und drittens ist dadurch, daß die göttliche Idee der vollkommenen Menschheit wirklich geworden ist, es auch möglich geworden, daß die Menschheit sich Gott wieder annähert. Daher dürfen wir schon glauben, daß Gott, um der Idee der Menschheit willen, den Willen des einzelnen Menschen als sein eigentliches Tun anerkennen wird und, auch wenn unsere Schuld niemals ausgelöscht werden kann und gerade aus diesem Grund ewige Strafen verdient hätte, dennoch, um der gebesserten Gesinnung willen, die Überwindung der Selbstliebe als angemessene Strafe ansehen werde. Anmerkung. Um an dieser Stelle noch genauer zu beschreiben, was den Mystizismus ausmacht, so ist zu bemerken, daß der Mystiker zwar die äußere Präsenz Christi als für die Menschen notwendig erachtet, jedoch nur insofern, als ihre Erlösung und ihr Heil in Betracht kommt, und er also nicht der Ansicht ist, daß die historische Kenntnis in dieser Frage für den einzelnen Menschen in gleicher Weise notwendig sei. Denn auch wer nichts von Christi Ankunft weiß, wird des
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inde redeuntis venit. Hanc esse mystici sententiam, vel inde patet, quod obtinet, id quod satisfactionis et redemtionis Christi proprium sit, ceteris omnibus, quae ad locum modo pertineant et tempus exceptis, unumquemque interna lege seu spiritu divino ductum, si se ipse attendat noveritque, ita posse in se reperire, ut externae revelationis haud indigeat. Hanc igitur quidem egregie adiuvare humanam imbecillitatem, eaque in religione docenda esse utendum, sed cavendum etiam esse, ne fides revelationi tributa, cum vera fide, quae sit religioni internae habenda, confundatur, cum una alteri modo inserviat. Magna est, opinor, huius doctrinae cum Kantiana convenientia, id quod statim infra multo magis elucebit.
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von dort ausgehenden Segens teilhaftig. Daß dies die Ansicht des Mystikers ist, erhellt auch von daher, daß er behauptet, daß ein jeder, der vom inneren Gesetz oder dem Geist Gottes geleitet ist, das Wesentliche der Rechtfertigung und Erlösung durch Christus (alle Umstände, die sich nur auf Raum und Zeit beziehen, ausgenommen), wenn er seine Aufmerksamkeit auf sich selbst richtet, so in sich finden kann, daß er der äußeren Offenbarung überhaupt nicht bedarf. Letztere sei also ein hervorragendes Hilfsmittel für die menschliche Schwachheit und müsse bei der Religionsvermittlung Verwendung finden, doch müsse man sich hüten, den einer Offenbarung gezollten Glauben mit dem eigentlichen Glauben, wie er der innerlichen Religion zu schenken sei, zu verwechseln, wenn der eine Mittel zum Zwecke des anderen sei. Groß ist in meinen Augen die Übereinstimmung dieser Lehre mit der Kantischen, was im folgenden gleich noch einleuchtender werden wird.
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DE BON I PR INCIPII V ICTOR I A E X M A LO DEPORTATA, DEQU E R EGNO DEI IN TER R A STA BIL ITO.
••••••• A. Kantii placita. §. 22. mnis contra malum pugna liberos nos tantummodo reddit a mali imperio, non item securos ab eiusdem sollicitationibus. Ipse vero homo facit, ut sua conditio semper cum periculo sit coniuncta; suum igitur est, semper pugnare. Quum vero per se quisque in periculo sit, ne ad malum recidat, necesse est, ut legibus ethicis convenienter ineatur societas, quae solummodo ad virtutem tendat conservandam, societas ethica. Quae nisi fiat ex legibus, in unumquemque valentibus, nisi ex auctoritate publica, erit quasi naturae status ethicus, in quo sibi quisque leges feret. Parum inde capi poterit utilitatis: pugna enim erit contra malum unicuique pugnanda. Hominum igitur est erga semetipsos officium, universalem ethicam civitatem seu regnum virtutis condere, et sta | t um naturae ethicum derelinquere. Quod quidem officium singulare quid secum habet, namque vox interna cum haud dicat, nos debere, dubitari possit, utrum eiusmodi civitas a nobis fundari queat? Posito igitur hoc officio, alia ponenda est idea summi moralisque numinis, quod, cum eiusmodi civitas non iuridica esse, sed ethica possit, i. e. talis, in qua leges internam actionum moralitatem spectant, non iuri tantum externo conveniunt, una legislator habetur. Itaque leges ethicae cogendi vim non habent, sed officia potius sunt in voluntate posita. Inde necesse est, ut legislator animorum sit gnarus, et respublica ethica pro regno dei, seu pro ecclesia invisibili in terra habeatur. Quae cum numquam possit esse res experientiae, et tamen in ea condenda occupati esse debeamus; nobis illa exemplar modo erit, ex quo ecclesiam visibilem exstruere possimus, universalitate fundatam, puritate, libertate, veritate.
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A BSCHNIT T III VOM SIEG, DEN DAS GU TE PR INZIP Ü BER DAS BÖSE DAVONGETR AGEN H AT, UN D DER G RÜN DUNG EIN ES R EICHS GOT TES AU F ER DEN
••••••• A. Kants Lehren § 22 ller Kampf gegen das Böse befreit uns lediglich von seiner Herrschaft, kann uns aber nicht vor seinen Anfechtungen schützen.92 Es ist aber des Menschen eigene Schuld, daß seine Lage immer mit dieser Gefahr verbunden bleibt: Es ist also auch seine Pflicht, diesen Kampf niemals aufzugeben.93 Da für sich allein aber jeder gefährdet ist, einen Rückfall zu erleiden und dem Bösen wieder zu erliegen, ist es nötig, eine Gesellschaft nach Tugendgesetzen zu begründen, die bloß auf Erhaltung der Moralität abzweckt, ein ethisches Gemeinwesen.94 Wenn dessen Begründung weder auf Gesetzen, die für einen jeden verbindlich sind, noch auf einer öffentlichen machthabenden Autorität beruht, wird gewissermaßen der ethische Naturzustand herrschen, worin ein jeder sich selbst Gesetze gibt.95 Daraus wird nur wenig Nutzen gezogen werden können: denn dann wird jeder den Kampf gegen das Böse für sich allein kämpfen müssen. Es ist also eine Pflicht des Menschengeschlechts gegenüber sich selbst, einen universellen 96 ethischen Staat oder ein Reich der Tugend97 zu gründen und den ethischen Naturzustand zu verlassen.98 Dies bringt freilich eine Pflicht eigener Art mit sich, denn da die innere Stimme der Vernunft hier nicht sagt, daß wir sollen, kann man in Zweifel ziehen, ob ein solcher Staat von uns begründet werden könne.99 Wenn man also diese Pflicht annimmt, so ist in der Folge auch die Idee eines höchsten moralischen Wesens anzunehmen, das, da ein solcher Staat kein rechtlichbürgerlicher, sondern nur ein ethisch-bürgerlicher, d. h. ein solcher sein kann, in dem die Gesetze die innere Moralität der Handlungen betreffen und nicht unter das äußere Recht allein fallen, zugleich als Gesetzgeber gilt.100 Daher haben die Tugendgesetze keine Zwangsgewalt, sondern sind vielmehr Pflichten, die dem freien Wollen obliegen.101 Daher muß der Gesetzgeber ein Herzenskündiger sein und die ethische Republik als Reich Gottes oder unsichtbare Kirche auf Erden gelten.102 Da diese niemals Gegenstand möglicher Erfahrung ist und wir dennoch auf ihre Gründung wirken sollen, so wird sie uns nur das Vor- und Urbild sein, nach dem wir die sichtbare Kirche errichten können, welche gegründet ist auf Allgemeinheit, auf Lauterkeit, Freiheit, Wahrheit.103
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§. 23. Religio itaque ea est, ut deum, omnium nostrorum respectu officiorum, legislatorem censeamus. Cuius vero leges partim plane morales sunt, partim statutae ad arbitrium. Ut illae ex ratione cognosci possunt, ita hae ex | revelatione aliqua externa, suntque ita comparatae, ut illis modo inserviant. Quoniam vero homines cum religionis notione notionem externi cultus dei coniungere solent, necessario faciendum videtur, ut leges statutae adiuvent morales. Et ita, humanae naturae convenienter, fides ecclesiastica fidem moralem praecedere solet. §. 24. Quodsi semel fide ecclesiastica opus sit, revelatio, qua illa nititur, non per tradi tiones, sed per litteras conservanda est. Scripta enim revelatio sancta manet, suamque semper retinet auctoritatem, etiamsi traditio in dudum oblivioni sit data. Quum vero eiusmodi codex, progrediente tempore orationeque et moribus hominum obsolescentibus, multum perspicuitatis pristinae non possit non amittere; opus est cum argumenti tum orationis interpretibus. Hanc quidem explicare non aliorum esse potest, nisi eruditorum. Argumenti vero, quod omnibus temporibus locisque unum idemque esse debet, unus idemque esse debet interpres. Quia autem fides ecclesiastica morali nitatur necesse est, atque inde interpretationem ethicam requirit; non nisi pura religionis fides vel ipsa lex moralis, quae in unum quemque valet, | pro summo prioris interprete haberi potest. Religio enim curat, ut homo ad meliorem redeat frugem, eademque est spiritus ille divinus, qui ad veritatem ducit, qui edocet, qui ad virtutem excitat hominem. Theologus itaque seu sacrorum librorum interpres interpretem ethicum tantummodo adiuvat, vel locus quispiam documentis probandus sit, vel omnino exponendus. – Qua in re tertium quid, scilicet sensus internus, locum non habet: iste enim ad legem moralem semper referendus foret. Atque etiamsi in iis, qui sacrorum librorum praeceptis obtemperant, probus sit ac iustus; tamen, cum singulorum modo sit, postulari nequit, ut pro aliorum valeat lege ac norma. §. 25. Fides vero historica seu ecclesiastica per se vera esse nequit, cum enim in experientia versetur, eiusque definitio alia atque alia esse possit, nec universalis esse potest, nec necessaria. At vero illa, veram religionis fidem, felicitatis aeternae
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§ 23 Die Religion besteht also darin, daß wir Gott im Blick auf alle unsere Pflichten als Gesetzgeber erachten.104 Aber seine Gesetze sind zum einen Teil rein moralisch und zum anderen Teil willkürlich festgesetzt.105 Wie erstere aus reiner Vernunft erkannt werden können, so letztere aus irgendeiner äußeren Offenbarung; und ihr Verhältnis ist so beschaffen, daß letztere lediglich Mittel zum Zwecke ersterer sind.106 Weil aber die Menschen mit dem Begriff der Religion den Begriff eines äußeren Gottesdienstes zu verbinden gewohnt sind,107 scheint es mit Notwendigkeit dazu zu kommen, daß die statutarischen Gesetze die moralischen unterstützen. Und so pflegt, wie es der menschlichen Natur entspricht, der Kirchenglaube dem moralischen Glauben vorherzugehen.108 § 24 Wenn es nun einmal eines Kirchenglaubens bedarf, ist die Offenbarung, auf die er sich stützt, nicht durch Tradition, sondern durch Schrift zu bewahren.109 Denn die Schrift bleibt heilige Offenbarung und behält immer deren Autorität, auch wenn die Überlieferung längst schon der Vergessenheit anheimgegeben ist. Da aber ein solches Buch im Laufe der Zeit, mit dem Wandel der Ausdrucksweise und Menschensitte, viel von seiner einstigen Durchsichtigkeit unvermeidlich verlieren muß, bedürfen sowohl der Inhalt als auch die sprachliche Form der Deutung. Letztere zu erklären kann freilich allein die Aufgabe der Schriftgelehrten sein. Doch für den gedanklichen Gehalt, der zu allen Zeiten und an allen Orten ein und derselbe sein muß, kann es auch nur einen einzigen Ausleger geben. Weil aber der Kirchenglaube notwendigerweise auf dem moralischen Glauben beruht und daher eine moralische Auslegung erfordert, kann einzig und allein der reine Religionsglaube oder das Sittengesetz selbst, das für einen jeden verbindlich ist, als oberster Ausleger des ersteren gelten.110 Sinn und Zweck der Religion ist nämlich die moralische Besserung des Menschen und so ist sie nichts anderes als der Geist Gottes, der den Menschen zur Wahrheit leitet, der ihn belehrt und belebt zu tugendhaftem Tun.111 Darum unterstützt der Theologe oder Schriftgelehrte lediglich den moralischen Ausleger,112 ob nun irgendeine bestimmte Stelle der Urkunde zu erläutern oder diese als ganze zu erörtern ist. – Ein dritter Kandidat, nämlich ein inneres Gefühl, hat hier keinen Platz: denn dieses wäre immer auf das Sittengesetz zurückzubeziehen. Und auch wenn es bei denjenigen, die den Geboten der Heiligen Schrift gehorchen, wohlanständig und gerechtfertigt ist, so kann, da Gefühl jeder nur für sich hat, nicht gefordert werden, daß es für andere als Gesetz und Maßstab gelte.113 § 25 Der Geschichts- oder Kirchenglaube kann aber nicht aus sich selbst heraus wahr sein, da er nämlich auf Erfahrung beruht und so oder auch anders bestimmt sein kann, aber weder allgemeingültig noch notwendig.114 Doch wenn er den wahren
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caussam, adiuvans, vera nuncupari potest, quatenus quis sibi eius, qua talis, conscius est, non quatenus quis eâ utitur tanquam serva et mercenaria fide. Duae autem sunt religiosae fidei conditiones primariae: qua | r um altera est, ut credas cum liberationi ab eo, quod commissum est, tum reconciliationi gratiae divinae; altera, ut credas, te, si probam honestamque vitam egeris, acceptum deo fore. Iam vero ἀντινομια rationis exoritur. Utrumque enim fidei genus totum aliquod est, quod ita est comparatum, ut una alteram gignat necessario. Quaeritur itaque, utra prior sit et quasi alterius conditio? 1. Qui fieri potest, ut homo poena dignus ponere possit, solam fidem redemtioni tributam, in se posse honestam efficere vitam? Concedendum ei erit, si redemtionis beneficium sibi prodesse velit, vita honesta praecedat necesse esse. 2. Quomodo autem homo naturâ pravus vitaeque male actae sibi conscius honestam vitam suapte vi incipere poterit, cui quidem rei in se facultatem reperit nullam, nisi alieno promerito credat, eaque ipsa fide se quasi recens natum intueatur? Concedendum ei erit, fidem redemtioni tributam non posse non evalescere1.
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Haec repugnantia tolli potest, non theoretice, sed practice: practice enim quaeritur modo, quid fit, quo, quod ad liberum arbitrium, priore uti debeamus? Facile vero patet, hominis esse officium, ut ante omnia me | liore et probiore animo dignum se reddat redemtione. – Ex priore principio hominis fides vitae probae tributa in officii loco ponitur, et fides redemtioni habita pro gratia cedit; contra ex posteriore fides, quae habetur redemtioni, in officii ponitur loco, altera vero, quae vitae probae adiungitur, cedit pro gratia, siquidem de historica quaeritur fide, quae filio dei, inter homines versato, habetur. Quodsi curatius idque practice fides redemtioni adiuncta spectatur, eandem esse ac fidem vitae probae, nec unam ab altera separari posse, reperietur.
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evalescere] Erstdruck: evanescere
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Religionsglauben, den Grund der ewigen Glückseligkeit, befördert, kann auch er selbst der wahre heißen, aber bloß insofern man sich seiner als eines solchen bewußt ist und nicht insofern man ihn als Fron- und Lohnglauben praktiziert.115 Es gibt aber zwei hauptsächliche Bedingungen des Religionsglaubens: die erste besteht im Glauben sowohl an die Lossprechung von dem, was man begangen hat, als auch an die Versöhnung mit der Gnade Gottes; die zweite besteht im Glauben daran, daß man Gott durch einen rechtschaffenen und ehrbaren Lebenswandel wohlgefällig werden wird.116 Hier aber entsteht eine Antinomie der Vernunft: Beide Bedingungen machen nämlich nur einen einzigen Glauben aus und verhalten sich so zueinander, daß sie mit Notwendigkeit auseinander hervorgehen. Die Frage ist also, welche Bedingung früher und der anderen vorgeordnet ist:117 1. Wie soll es möglich sein, daß der strafwürdige Mensch annehmen könne, daß der bloße Glaube an die Erlösung genug sei, um in ihm einen guten Lebenswandel zu bewirken ? Er wird zugeben müssen, daß es, wenn die Wohltat der Begnadigung ihm zu Gute kommen soll, notwendig sei, daß ihr der gute Lebenswandel vorausgehe.118 2. Wie aber soll ein von Natur aus verderbter Mensch im Bewußtsein der Verfehlungen seines Lebens allein aus eigener Kraft einen guten Lebenswandel antreten können, wozu er doch in sich überhaupt kein Vermögen findet, wenn er nicht an ein Verdienst glaubt, das nicht sein eigenes ist, und er eben durch diesen Glauben sich selbst gleichsam als neugeboren ansieht ? Er wird zugeben müssen, daß es notwendig sei, daß der Glaube an die Erlösung erstarke.119 Dieser Widerstreit kann nicht theoretisch, sondern nur praktisch aufgehoben werden: denn praktisch stellt sich nur die Frage, was getan wird und welche von den beiden Bedingungen für den Gebrauch unserer freien Willkür die frühere sein soll. Es ist aber leicht einzusehen, daß es des Menschen Pflicht ist, sich vor allem durch einen gebesserten und geläuterten Sinn der Erlösung würdig zu machen.120 – Nach dem vorrangigen Prinzip wird der Glaube des guten Lebenswandels dem Menschen zur Pflicht gemacht und der Glaube an die Erlösung ihm zur Gnade angerechnet; dagegen wird nach dem nachgeordneten Prinzip der Glaube an die stellvertretende Genugtuung zur Pflicht gemacht und der Glaube, der sich mit dem guten Lebenswandel verbindet, zur Gnade gerechnet, soweit es sich hier um den historischen Glauben an den Sohn Gottes handelt, der unter den Menschen gewohnt hat.121 Wenn man den Glauben an die stellvertretende Erlösung aber genauer und in praktischer Rücksicht betrachtet, so wird sich erweisen, daß er kein anderer sei als jener des guten Lebenswandels und beide voneinander nicht zu trennen.122
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B. Mysticismus.
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§. 26. Praecipuum, quod mysticus obtinet, hoc est: Regnum dei in Vobis intus est, i. e. qui vitam legibus divinis congruentem agit, in eo collocaturus est domicilium suum spiritus divinus; vel aliis verbis: homo, si modo velit, spiritum divinum, hinc id etiam, in quo dei cultus vertitur, intus in se reperire potest. Dei igitur voluntatem, interna legislatione revelatam, attendendo, eidemque convenienter vivendo atque agendo, optime summum divinitatis numen colet. Hoc est, quod mysticus | obtineat, verum dei cultum non esse externum, sed internum potius, externumque, qualis esse solet, non tam prodesse, quam obesse. Contraque idem obtinet, societatem verorum Christianorum, si genuinis religionis legibus convenienter ineatur, perutilem esse, hinc et necessariam institutionem. Specimini ecclesiae ita institutae, commune illud Amicorum, quos Quaker vocant, esse potest. Ecclesiae huic, ab origine mysticis fultae principiis, cum commentorum nihil attinentium nihilque, nisi res externas, spectantium nimia multitudo ita immisceretur, ut pro necessariis haberentur praeceptis, eaque ipsa re alius modo cultus externus in loco pristini reponeretur, factum est, ut reliquis genuinis mysticis ceu ecclesia parum placeret, atque ut, cum sectam separatam aliquam institueret, non ecclesiam universalem et visibilem, a primario aberraret proposito. §. 27. Mystici igitur non omnes omnino ecclesias spernunt, sed praesentium modo conditionem. Quin etiam confidenter illud tempus exspectant, quo vera Christianorum ecclesia, purae religionis praeceptis fulta, universalis futura sit. Hanc contendunt, non solum communionem fore, quae in principiis fortuito congruat, | sed societatem, quae regulis convenienter constet, ubi cultus dei non in ceremoniis versetur, sed in vitae probitate, ad divinas leges accommodata, inque communi studio, docendo, excitandoque atque impellendo propositi consequendi. Cui quoque consilio religiosam aliquam, publice factam, legislationem in sacris libris convenientem ducunt; non ea mente, quasi eam unicam ac primitivam legem suam intueantur, – ipsae enim leges, in quibus omnis res vertitur, uniuscuiusque animo impressae sunt, – sed eam potius documentum publicum habent, quod cum quoque communicari, et ex quo suum quisque animum explorare possit. Ex
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B. Mystizismus § 26 Die wichtigste Behauptung des Mystikers ist die folgende: Das Reich Gottes ist inwendig in Euch,123 d. h., wer ein Leben in Übereinstimmung mit Gottes Gesetzen führt, in dem wird der Geist Gottes Wohnung nehmen. Mit anderen Worten: Der Mensch kann, wenn er nur will, den Geist Gottes und daher auch das, worin der Gottesdienst besteht, in sich selbst finden. Indem man also auf Gottes Willen, wie er durch die innere Gesetzgebung offenbar wird, hört und ihm entsprechend lebt und handelt, wird Gottes eigentliches Wesen am besten verehrt. Dies ist der Grund, weshalb der Mystiker behauptet, daß der wahre Gottesdienst kein äußerl icher, sondern vielmehr ein innerlicher sei und der äußerliche, so wie er üblicherweise ist, weniger nützlich sei als vielmehr schädlich. Er behauptet aber auch, daß die Gemeinschaft wahrer Christen, wenn sie entsprechend den ursprüngl ichen Gesetzen der Religion eingegangen wird, sehr nützlich und daher auch eine notwendige Einrichtung sei. Als Muster einer so eingerichteten Kirche kann jene Gemeinde der Freunde gelten, die Quäker heißen. Da dieser Kirche, die ursprünglich auf mystischen Grundsätzen errichtet worden war, eine allzu große Menge unmaßgeblicher und nur Äußerlichkeiten berührender Neuerungen beigemischt wurde, als wären es notwendige Gebote, und so also lediglich ein anderer äußerer Kultus an die Stelle des früheren gesetzt wurde, kam es dazu, daß diese Art Kirche den verbliebenen originären Mystikern mißfiel und sie ihren eigentlichen Zweck verfehlte, da sie nicht die allgemeine Kirche sichtbar verkörperte, sondern nur mehr irgendeine Sekte und Abspaltung. § 27 Die Mystiker lehnen also nicht gänzlich jede Form von Kirche ab, sondern weisen lediglich deren gegenwärtigen Zustand zurück. Ja, sie harren sogar voll Zuversicht jener Zeit, in der die wahre Kirche der Christenheit auf die Gebote der reinen Religion gestützt und als allgemeine errichtet werden wird. Sie halten dafür, daß diese künftige Vergemeinschaftung nicht eine solche sei, die mit ihren Grundsätzen zufällig übereinstimme, sondern eine Gemeinschaft, die auf diesen Bestimmungen fest gegründet sei, wo der Gottesdienst nicht in Zeremonien bestehe, sondern in der an Gottes Gesetzen ausgerichteten Rechtschaffenheit des Lebenswandels und in der gegenseitigen Bemühung, Belehrung, Ermahnung und Ermunterung, dieses Ziel zu erreichen. Dieser Absicht halten sie auch eine in heiligen Schriften öffentlich gemachte religiöse Gesetzgebung für angemessen; nicht in dem Sinn, als ob sie dieses als ihr einziges und ursprüngliches Gesetz ansähen – denn eben die Gesetze, um die sich alles dreht, sind jedem einzelnen ins Herz geschrieben124 –, sondern sie sehen darin eher eine öffentliche Urkunde, die alle miteinander teilen und anhand derer ein jeder seine Gesinnung überprüfen kann. In ihren Augen
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eorum sententia sacer codex partim notam reddit redemtionem iam perfectam et satisfactionem, (§. 21,) partim id confirmat, quod in nobis ipsis invenire est, nosque ad legem internam observandam excitat atque impellit. Hinc, si detraxeris doctrinam, quam historice continent sacri libri, nihil novi in iis reperies.
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§. 28. Unde etiam clarum sit, cur lex haec interna legitimus et is unicus sacrorum librorum interpres esse possit. Sacer enim codex ab eodem manavit spiritu, qui in nobis ipsis regnat. | Interna igitur legislatio et illa sacrorum librorum eiusdem est originis. Est autem omnis liber, quantum fieri potest, ex se explicandus, unde et sacer codex ex se exponetur, si, interna lege duce, eum interpreteris, quia ita necessario fit, ut historica fides cum pura religionis fide optime consentiat. Illa enim est, si ad actiones utilis esse debet, ad hanc referenda, nec potest aliunde intelligi nisi ex hac, est igitur etiam ex hac explicanda. Eandem vero etiam Christi esse sententiam, vel ex eo luculenter apparet, quod, „qui meae“, ait, „doctrinae convenienter agit, is animadvertet, illius auctorem deum esse“; et alio loco: „regnum dei“, i. e. religio et fructus, qui inde capitur, „intus est in vobis“. §. 29. De ecclesiastica autem fide mysticus ita disputat: Nostra, inquit, religio, si ex codice aliquo haurienda esset, male quidem saluti hominum, quae ea nititur, esset consultum, eaque plane incerta foret ac dubia. Primum enim, quis sit, qui de narrationis veritate respondeat? Deinde, qui fieri possit, ut rectus inveniatur modus, quo res sit consideranda? eoque invento, quomodo omnibus universis hominibus, quibus neque eaedem sunt animi fa | c ultates, neque eadem rei cuius piam intuendae ratio, quomodo igitur unicus hic modus commendetur? Alius, ut alium erueret sensum, operam daret, ut experientia edocti scimus; vel inter plures, probitate animi ductos, conveniret de sensu: cuius generis conventionis exempla nobis Pietistae praebent, Herrenhuthiani, Lutherani, Catholici omnesque omnino sectae dogmaticae. Denique, quid facilius fieri potest, quam ut totae gentes eiusmodi codicem plane ignorent? His ergo vera religio esset nulla. Unde sequitur, ut vera religio ex nobis ipsis modo hauriri queat. – Verae autem huius religionis fidei duas profert Kantius conditiones, altera fides redemtioni
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gibt die Heilige Schrift einerseits Kunde von der bereits geschehenen Erlösung und Rechtfertigung (§ 21) und bestätigt andererseits, was in uns zu finden ist, und ermahnt und ermuntert uns, dem inneren Gesetz Folge zu leisten. Zieht man daher ab, was die Lehre der Heiligen Schrift an Historischem enthält, so wird man in ihr nichts neues finden. § 28 Daher sei auch klar, warum das innere Gesetz der einzig legitime Ausleger der Heiligen Schrift sein könne. Denn die Heilige Schrift, die Bibel stammt vom selben Geist, der in uns herrscht. Die Gesetzgebung des eigenen Inneren und jene der Heiligen Schrift haben also ein und denselben Ursprung. Ein jedes Buch ist aber weitestmöglich aus sich heraus zu erklären, so daß auch die Bibel aus sich heraus erläutert werden wird, wenn man sie vom inneren Gesetz geleitet auslegt, weil es so mit Notwendigkeit dazu kommt, daß der Geschichtsglaube mit dem reinen Religionsglauben bestens übereinstimmt. Wenn ersterer unserem Tun dienlich sein soll, muß er nämlich auf letzteren bezogen werden: ersterer kann ausschließlich von letzterem her verstanden werden und muß also auch von letzterem her erklärt werden. Daß auch Christus so darüber denkt, leuchtet klar und deutlich ein, wenn er sagt: „Wer meiner Lehre gemäß lebt, wird erkennen, daß sie von Gott kommt.“125 Und an anderer Stelle: „Das Reich Gottes“, d. h. die Religion und der Segen, den sie mit sich bringt, „ist inwendig in Euch.“126 § 29 Im Blick auf den Kirchenglauben argumentiert der Mystiker aber wie folgt: Wenn, sagt er, unsere Religion aus irgendeinem Buche geschöpft werden müßte, so wäre es um das Heil der Menschen, das sich darauf gründete, schlecht bestellt und diese Religion vollkommen ungewiß und zweifelhaft. Denn erstens, welcher Mensch könnte sich für die Wahrheit ihrer Erzählung verbürgen ? Zweitens, wie wäre es möglich, die rechte Art und Weise zu finden, wie die Sache zu betrachten wäre ? Und selbst wenn sie gefunden würde, wie sollte diese einzige Sichtweise ausnahmslos allen Menschen, die ja nicht alle über die gleichen Geisteskräfte und die gleiche Einsichtsfähigkeit, alles mögliche zu durchschauen, verfügen, anempfohlen werden ? Wie wir aus Erfahrung wissen, würde jeder einen anderen Sinn herauszulesen sich anstrengen; oder man verständigte sich unter mehreren, die guten Willens sind, auf einen Sinn: Beispiele einer Verständigung solcher Art bieten uns die Pietisten, die Herrnhuter, Lutheraner, Katholiken und überhaupt alle dogmatischen Parteien. Und was wäre drittens und letztens wahrscheinlicher, als daß ganze Völker von solch einem Buch überhaupt gar keine Kenntnis hätten ? Für diese gäbe es dann also gar keine wahre Religion. Daraus folgt, daß die wahre Religion ausschließlich aus uns selbst geschöpft werden kann. – Für diesen wahren Religionsglauben führt Kant aber zwei Bedingungen an: einerseits der Glaube an die stellvertretende Genugtuung, andererseits
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habita, altera fiducia divinae benevolentiae ac gratiae, quam quis sibi vita probe et bene agenda comparare possit. In quaestione autem, utra prior esse debeat, antinomiam rationis esse arbitratur. (§. 25.) Mysticus, qui idem locum hunc difficultate laborantem videt, ita fere nodum expedit: Tota res in modo posita est, quo consideratur et spectatur. De fide quidem theoretica quaeri non potest, ergo de practica tantum fide, ex qua, quod vel eius conceptus indicat, bona proficiscitur vita. Verus dei cultus in ea hominis voluntate coërcenda, cuius | dux comesque φιλαυτια est, ita verti debet, ut humana haec voluntas divinae, ex lege interna nobis notae, subiiciatur; in fide ergo, quae ad probae vitae rationem ducit, versari debet, et hoc divinae legis caussa. Quum vero homo naturâ pravus sit, nec sibi suapte vi possit consulare, pravitas haec nostrae naturae atque impotentia nostra a nobis noscatur necesse est. Qua quidem cognita lex interna nos ducit ad divinam opem, iubetque credere, deum, ob humanitatis ideam seu filii sui caussa, quidquid commissum sit, id nobis non esse imputaturum, si huic ideae seu legi convenienter vivendi ceperimus consilium, atque desint vires, tamen voluntatem nostram probaturum esse, ac pro facto accepturum. Omnis igitur res nostra in sola voluntate posita est: unde, re practice sumta, necesse est, ut consilium legi divinae obediendi praeeat; contra, quod ad facultatem rei ad exitum perducendae attinet, probe vita fidem consequi poterit, qua freti et spe secundi exitus, ab illa vita incipere poterimus. Utrum fides redemtioni habita illam probae vitae praeire debeat, an contra, si rem practice sumseris, perinde erit, utrumque enim arctissime coniunctum est, neque unum sine altero locum habet.
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das Vertrauen auf Gottes Wohlwollen und Gnade, wie man es durch einen frommen und guten Lebenswandel gewinnen kann. Bei der Frage aber, welche Bedingung grundlegender sei, gibt es für Kant eine Antinomie der Vernunft (§ 25). Der Mystiker, der an dieser Stelle ebenfalls ein schwieriges Problem bemerkt, löst den Knoten in etwa so: Es ist alles eine Frage des Blickwinkels und der Perspektive. Ein theoretischer Glauben kann freilich nicht in Frage kommen, sondern ausschließlich ein praktischer, aus dem, wie es auch sein Begriff anzeigt, ein gutes Leben resultiert. Der wahre Gottesdienst besteht darin, jenen Willen zu bezwingen, der von der Selbstliebe (φιλαυτία)127 gelenkt und geleitet wird, und soll sich darum drehen, daß der menschliche Wille dem göttlichen untergeordnet werde, wie er uns vom inneren Gesetz her bekannt ist; er soll also in dem Glauben bestehen, der zum Grundsatz des guten Lebenswandels führt, und zwar um Gottes Gesetzes willen. Da der Mensch aber von Natur aus verderbt ist und sich selbst aus eigener Kraft nicht zu helfen weiß, muß uns diese Verderbtheit unserer Natur und unser Unvermögen bewußt sein. Sind wir uns dessen bewußt, führt uns das innere Gesetz zu Gottes Beistand und heißt uns glauben, daß Gott wegen der Idee der Menschheit oder um seines Sohnes willen uns nicht anrechnen wird, was immer wir begangen, wenn wir nur den festen Vorsatz gefaßt haben, in Übereinstimmung mit dieser Idee oder dem Gesetze gemäß zu leben; und daß, mögen uns die Kräfte auch fehlen,128 Gott unseren guten Willen dennoch anerkennen und an Stelle der Tat gelten lassen wird. Für uns liegt also alles allein an unserem Willen: daher muß in praktischer Perspektive der feste Entschluß, Gottes Gesetz zu gehorchen, an erster Stelle stehen; im Blick auf das Vermögen der Vollendung darf dagegen der gute Lebenswandel dem Glauben nachfolgen, auf den vertrauend und auf einen glücklichen Ausgang hoffend wir den Weg des guten Lebenswandels antreten können. In praktischer Rücksicht macht es also keinen Unterschied, ob nun der Glaube an die stellvertretende Erlösung jenem des guten Lebenswandels vorhergeht oder umgekehrt, denn beides ist engstens miteinander verknüpft und das eine gibt es nicht ohne das andere.
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SECTIO IV.
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DE V ERO ET FA LSO CU LT U SU B BON I PR INCIPII I M PER IO SEU
DE V ER A ET SACER DOTA L I R EL IGION E.
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P
riusquam progrediar, pauca haec praemonita velim. Quae hucusque exposita sunt, fere ostendent, arbitror, quemadmodum Kantianam religionis doctrinam intelligam. Hoc itaque capite, ne dissertatio iusto longior sit, desinam Kantii librum in epitomen cogere. Posita illius argumenti notitia, mysticas notiones cum eo comparaturus ita tradam, ut hic, quemadmodum ante factum est, ordinem Kantiani libri ducem sequar, perque singula eam.
A. De cultu dei in religione quacunque.
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§. 30. Religio officiorum nostrorum tamquam divinorum praeceptorum est cognitio. Quod ad eius originem, vel revelata est, vel naturalis; in illa officia ut divina prae cepta, in hac divina praecepta ut officia iam ante cognita ponun | t ur. Qui solam religionem naturalem necessariam ducit, fidem vero, quae revelationi habetur, in medio relinquit, rationalista dicitur purus; qui vero hanc fidem ad communem religionem necessariam putat, supernaturalista purus nuncupatur. Mysticus neutrius disciplinae est. Revelata enim religio et naturalis esse potest, si ita est comparata, ut solius rationis practicae ope eam detegere et potueris et debueris, ita ergo comparata, ut, etiamsi revelatio scripta interiret, tamen ex sola ratione erui posset. Huius generis religio Christiana est ex mysticorum definitione. Idem discernit plane revelationem internam ab externa, atque illam modo non hanc ad religionem omnium communem necessariam putat; namque ad humanitatis salutem res quidem externae revelationis, quae est adventus Christi, plane
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A BSCHNIT T IV VOM DIENST UN D A F TER DIENST UN TER DER HER RSCH A F T DES GU TEN PR INZIPS, ODE R:
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B
evor ich fortfahre, möchte ich einiges wenige vorausschicken: Was bis hierher dargestellt worden ist, scheint mir im Großen und Ganzen zu zeigen, wie ich Kants Religionslehre auffasse. Um die Abhandlung nicht über Gebühr in die Länge zu ziehen, werde ich daher in diesem Kapitel davon absehen, Kants Schrift noch in Auszügen zusammenzufassen. Ich setze deren Inhalt vielmehr als bekannt voraus und werde die Begriffe der Mystiker zu den Zwecken des Vergleichs wie gehabt so referieren, daß ich mich weiterhin an die Gliederung von Kants Religionsschrift halte und Schritt für Schritt vorgehe.
A. Vom Dienst Gottes in einer Religion überhaupt § 30 Religion ist die Erkenntnis unserer Pflichten als göttlicher Gebote.129 Was ihren Ursprung angeht, so ist sie entweder geoffenbart oder natürlich; in ersterer wird angenommen, daß Pflichten schon im voraus als göttliche Gebote erkannt sind, in letzterer, daß göttliche Gebote schon im voraus als Pflichten erkannt sind.130 Wer allein die natürliche Religion für notwendig hält, den Glauben an die Offenbarung aber als unentscheidbar dahingestellt sein läßt, wird ein reiner Rationalist genannt; hält er aber diesen Offenbarungsglauben für notwendig zur allgemeinen Religion, so heißt er der reine Supernaturalist.131 Der Mystiker gehört weder zu der einen noch zu der anderen Partei. Denn die geoffenbarte Religion kann auch natürlich sein, wenn sie so beschaffen ist, daß man sie durch den bloßen Gebrauch der praktischen Vernunft hätte entdecken können und sollen, also so beschaffen, daß man auch dann, wenn die in der Heiligen Schrift überlieferte Offenbarung verloren ginge, dennoch durch bloße Vernunft auf sie kommen könnte.132 Solcher Art ist die christliche Religion nach dem Verständnis der Mystiker. Der Mystiker scheidet die innere Offenbarung gänzlich von der äußeren und hält nur erstere, aber nicht letztere für notwendig zur allgemeinen Religion; denn für das Heil der Menschheit war die äußere Offenbarung, die Christi Ankunft darstellt, freilich durchaus notwendig; doch die Erzählung dieser Geschichte war nicht ebenso
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necessaria fuit; huius rei autem narratio ad religionem hominum non item: haec enim religio, priusquam per litteras tradita est, in hominum animo iam fuit fundata, et hoc interna revelatione, quae nihil aliud est nisi primitiva legislatio. Ex mystici ergo sententia fides modo, quae revelationi internae habetur, ad communem religionem absolute est necessaria, et haec, ut Kantii verbis utar, illa fides est, quae legis moralis praesentiae seu existentiae tribuitur; de | externa autem revelatione obtinet, hominem, ad quem pervenerit, et qui simul conscius sit sibi internae legislationis, per se fidem ei esse adiuncturum, quoniam utramque inter se consentire oporteat, nec, nisi ita sit, alius eam cum alio communicare possit. Fac enim aliter esse, quis tandem narrationem adeo miram credere? quis libro, qui simpliciter se ut divinum indicat, fidere posset, nisi in se ipso huius argumenti interpretationem legeret? De religione communicanda sic habeto: Si naturalis est, de eius veritate quis que sibi ipse, nulla ope adiutus, persuadere poterit; sin res litteraria, ad eam communicandam doctrina et eruditione opus erit.
a. De religione Christiana, quatenus naturalis religio est.
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§. 31. Religionem Christianam et naturalem et una revelatam mysticus spectatam vult. Est enim religio nostrorum officiorum, ut divinarum legum, notitia: divina autem legislatio nostro impressa est primitus animo; cuius igitur ope nostra cognoscere poterimus officia, ut non sit, quod ea, ceu divina praecepta, ex sacro codice depro mamus, (hoc | ipsum maxime interest inter mysticismum et pietismum, quod hic sacros libros unicum legis codicem habet, itaque externam revelationem ad communem religionem necessariam censet.) Nos autem nobis eorum conscii sumus, ut legum divinarum, quoniam interna legislatio vel per se naturalem respicit revelationem. Qua de caussa religio Christiana ita est comparata, ut homines, vel sola ratione practica usi, nullaque adiuti revelatione externa, eo pervenire potuerint: namque Christiana doctrina, ut religio, nihil continet, nisi quod vel ante in nobis reperire est, eaque mente plane naturalis est religio. Sed quatenus id fuisse factum indicat, quo interna religio nostra iam ante respicit, quatenus historicum aliquod
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notwendig für die allgemeine Menschenreligion: denn diese Religion stand den Menschen, schon bevor sie schriftlich überliefert wurde, ins Herz geschrieben,133 nämlich durch die innere Offenbarung, die nichts anderes ist als die ursprüngliche Gesetzgebung. Nach Meinung des Mystikers ist also nur der Glaube an die innere Offenbarung absolut notwendig für die allgemeine Religion und dieser Glaube ist, mit Kant zu sprechen, jener, welcher der Gegenwart oder Anwesenheit des moralischen Gesetzes in uns gezollt wird;134 von der äußeren Offenbarung aber behauptet der Mystiker, daß der Mensch, zu dem sie gekommen ist und der sich zugleich der inneren Gesetzgebung bewußt ist, sie von sich aus in seinen Glauben aufnehmen wird, da die äußere ja mit der inneren Offenbarung übereinstimmen muß und nur unter dieser Voraussetzung von Mensch zu Mensch mitgeteilt werden kann. Denn laß es anders sein: Wer könnte dann noch an eine so wundersame Geschichte glauben ?135 Wer könnte einem Buch, das sich einfach als göttlich ausgibt, trauen, wenn er nicht in sich selbst die Auslegung seines Inhalts lesen könnte ? Mit der Vermittlung der Religion soll es sich wie folgt verhalten: Im Falle der natürlichen Religion wird sich ein jeder selbst ohne fremde Hilfe von ihrer Wahrheit überzeugen können; im andern Fall der gelehrten Religion werden zu ihrer Vermittlung Wissenschaft und Bildung nötig werden.
a. Die christliche Religion als natürliche Religion § 31 Der Mystiker sieht in der christlichen Religion sowohl die natürliche als auch zugleich eine geoffenbarte. Religion besteht nämlich in der Kenntnis unserer Pflichten als göttlicher Gesetze:136 Gottes Gesetzgebung aber steht uns ursprünglich ins Herz geschrieben;137 dank dessen also können wir unsere Pflichten erkennen, so daß es keinen Grund gibt, daß wir diese einem heiligen Buche entnähmen, als stünden darin göttliche Gebote (eben darin liegt der größte Unterschied zwischen dem Mystizismus und dem Pietismus, daß letzterer die Heilige Schrift für das einzige Gesetzbuch hält und daher die äußere Offenbarung als für die allgemeine Religion notwendig erachtet). Wir hingegen sind uns dieser als göttlicher Gesetze bewußt, weil die innere Gesetzgebung ja schon von sich aus die natürliche Offenbarung berücksichtigt. Aus diesem Grunde ist die christliche Religion so beschaffen, daß die Menschen durch den bloßen Gebrauch ihrer praktischen Vernunft und ohne die geringste Unterstützung durch eine äußere Offenbarung dahin gelangen könnten; denn als Religion enthält die christliche Lehre nichts, was nicht auch zuvor in uns zu finden ist, und in diesem Sinn ist sie eine durchaus natürliche Religion. Aber insofern sie verkündet, daß dasjenige Tatsache geworden ist, worauf unsere innere Religion schon vorher Rücksicht nimmt, insofern
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testimonium continet, continet una religionis doctrinam extrinsecus revelatam, quae ei, ad quem notitia haec pervenit, nihil quidem novi, si rei naturam spectas, exponit, eam vero ipsam ob caussam eiusdem hominis fide digna est, quia promissum, quod sibi servatum iri quasi speravit, vere sibi esse factum enarrat. Haec nuntiatio proprie non continet satisfactionis et redemtionis doctrinam, sed edocet tantum, utrumque esse factum, quod, ut perficiatur, humana potissimum indiget voluntate. Qua ex re intelligitur, fidem, quae habetur revelatio | n i externae, non ad communem religionem, sed ad Christianam esse necessariam, quatenus quidem haec illam redemtionis doctrinâ historica amplificat. Religio igitur omnium communis, et Christiana religio historico tantum testimonio differunt, quod in hac, non item in illa reperitur; unde patet, religionem Christianam esse naturalem et una extrinsecus revelatam. §. 32. Ratione eius habita, quod ad veram opus est ecclesiam, Christiana religio sic definita prius obtinet, i. e. vindicat sibi auctoritatem in omnes valentem, idque eo, quod sua principia et praecepta ut omnium animis impressa proponit, quodque, mysteriorum suorum ratione habita, nullius requirit intelligentiam, sed fidem potius practicam, i. e. talem, quae vitâ fidei huic consentaneâ, in eademque nixâ et se indicat et ius auctoritatemque suam probat. Unde non externa ecclesiae requiruntur officia, sed mens pura, quae in agendo intermittendove versatur, non in ritibus, non in ceremoniis. Quod igitur Christianae doctrinae proprium et essentiale est, id duo haec indicant praecepta: Deum maxime amato, et homines non minus quam te ipsum. Qua in | re probe notandum est, illud: „Deum maxime amato“, prius esse praeceptum: eo enim primaria omnium nostrarum actionum caussa, qualis nempe esse debet, exprimitur. Scilicet non aliud propositum habere debemus in agendo, nisi ut legem, quae deum legislatorem amari iubet, magni aestimemus. Iubemur ergo, legis seu dei caussa, quemvis hominem aeque ac nos amare, i. e. ita erga quemque ut erga nosmetipsos agere. Nostrum igitur est, derelinquere amorem nostri, reiicere utilitatem propriam, res terrenas habere pro talibus, quales vere sunt, pro rebus humanis, quae ex temporibus pendent, contraque maxime et unice curare, ut sensum moralem firmemus, ut facultas nobis sit, quidquid agamus, id amore legis seu dei agendi, non autem praemii caussa, de quo
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sie also ein historisches Zeugnis enthält, enthält sie zugleich auch eine von außen geoffenbarte Religionslehre, die demjenigen, der von ihr Kunde erlangt, mit Blick auf die Natur der Sache freilich nichts Neues sagt, aber aus eben dem Grund von diesem Menschen geglaubt zu werden verdient, weil sie vermeldet, daß ihm die Verheißung, von der er gehofft hat, daß sie ihm bewahrt sein werde, in Wahrheit geschehen ist. Diese Botschaft enthält eigentlich keine Lehre der Rechtfertigung oder Genugtuung, sondern lehrt nur, daß beides geschehen ist, was zur Vervollkommnung hauptsächlich des menschlichen Wollens bedarf. Daraus wird einsichtig, daß der Glaube an die äußere Offenbarung nicht für die allgemeine Religion, sondern für das Christentum notwendig ist, insofern dieses jene freilich um die Geschichtslehre der Erlösung erweitert.138 Die allgemeine Menschenreligion und das Christentum unterscheiden sich also lediglich durch das historische Zeugnis voneinander, welches zwar in letzterem, aber nicht auch in ersterer zu finden ist; daher ist klar, daß die christliche Religion sowohl die natürliche als auch zugleich eine extrinsezistisch offenbarte ist. § 32 Im Hinblick auf das, was zur wahren Kirche nötig ist, behauptet die so bestimmte christliche Religion das vorige, d. h., sie beansprucht für sich eine allgemein und für alle gültige Autorität, und zwar deswegen, weil sie ihre Grundsätze und Gebote darstellt als allen ins Herz geschrieben139 und, im Hinblick auf ihre heiligen Geheimnisse, von niemandem deren theoretische Erkenntnis fordert, sondern vielmehr einen praktischen Glauben, d. h. einen solchen, der sowohl sich durch ein diesem Glauben entsprechendes, auf ihm beruhendes Leben zu erkennen gibt als auch dadurch sein Recht und seine Autorität beweist. Daher werden keine äußerlichen Kirchenpflichten eingefordert, sondern die reine Herzensgesinnung, die sich im Tun oder Lassen zeigt, nicht in Riten, nicht in Zeremonien.140 Was also die christliche Lehre eigentlich und wesentlich ausmacht, geben diese beiden Gebote an: Du sollst Gott über alles lieben und die Menschen nicht weniger als Dich selbst.141 Dabei ist wohl zu bemerken, daß „Du sollst Gott über alles lieben“ das erste Gebot ist. Denn darin drückt sich die oberste Maxime all unseres Handelns aus, wie sie nämlich sein soll. Sprich: Wir sollen im Tun keinem anderen Vorsatz folgen, als daß wir das Gesetz, das Gott als Gesetzgeber zu lieben heißt, hochschätzen. Wir sind also geheißen, um des Gesetzes oder Gottes willen jedweden Menschen so zu lieben wie uns selbst, d. h. einem jeden gegenüber so zu handeln, wie wir uns selbst behandeln. Es ist also unsere Pflicht, unsere Eigenliebe zu überwinden, den Eigennutz zurückzuweisen,142 die irdischen Dinge für das zu nehmen, was sie in Wahrheit sind, nämlich Menschenwerk, das vor der Ewigkeit vergeht, und dagegen einzig und allein Sorge dafür zu tragen, daß wir unseren moralischen Sinn stärken, um so dahin zu kommen, alles, was wir auch tun, aus Liebe zu Gott und seinem Gesetz tun zu können, aber nicht um einer Belohnung
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nil constat neque ex interna neque ex revelatione externa; sed curare potius, ut, quia de officii dignitate nobis persuasum est, aut ducti amore dei legislatoris, unde omnia proficiscuntur, officia agamus. Mysticis dicam verbis: Uniuscuiusque est, terrenis emori rebus, deoque tantum divinaeque vivere legi et hoc ex dei amore. |
b. De religione Christiana, quatenus est res litteraria.
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§. 33. Mysticus Christianae religionis doctrinam non ut rem litterariam spectatam vult, suamque primam eo firmat opinionem, quod huius religionis praecepta ab omnibus hominibus necessario comprehendi possint; deinde eo, quod huius doctrinae capita ita sint comparata, ut ex natura et ratione hominis ipsa explicari queant. Docet nos, mysticus ait, Christianorum codex: omnes homines natura esse pravos, nec ulli facultatem esse tributam, ex hac exeundi pravitate, unumquemque igitur ope indigere divina, deumque hinc, amore ideae humanitatis ductum, hanc opem volenti offerre, vereque exhibita in homine quodam idea illa, suae satisfacere legi, et cuique, qui velit se a mali principii imperio liberatum, libertatis aperire ianuam. Praeterea idem codex leges nobiscum communicat, quae, quemadmodum voluntati divinae convenienter vivendum sit, edocent. – At vero huic, qui se ipse noscit, omnia haec nil exponunt, quod vere novum dici possit; eadem enim homo, si modo velit, in se ipse reperire poterit. Qua in re experientiam quoque quotidianam habebit adiutricem, | ea magis magisque hominem suae pravitatis convincere poterit, lege vero interna, longe aliam ei conditionem indicante, conscius sibi erit, se ipsum ad renuntiandum huic naturae deficere quidem vires, a se ipso autem pendere, utrum superiorem illam opem et sperare velit et accipere. Praecepta vero, quibus et quomodo id adsequatur, plane in se ipso reperit, si modo legem illam universalem in se imperantem attendat. – Ergo non eruditione opus est, ut hanc religionem capiamus, ipsum enim dogma mysteriorum tam plenum de satis factione et redemtione, si modo illud cum hoc comparare velimus, quod primitus in ratione practica latet, intellectu facillimum est, simplicissimum, saluberrimum; probe vero nota, de practico rationis tantum usu disputari, non de theoretico ratio-
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willen, über die weder aus der inneren noch aus der äußeren Offenbarung etwas mit Gewißheit auszumachen ist; sondern vielmehr dafür Sorge zu tragen, daß wir unsere Pflicht tun, weil wir von ihrer Würde überzeugt oder geleitet sind von der Liebe zu Gottes Gesetzgebung, woraus alles geschaffen ist. Um es in der Sprache der Mystiker zu sagen: Es ist die Pflicht eines jeden einzelnen, den irdischen Dingen abzusterben und nur Gott und seinem göttlichen Gesetz zu leben, und dies aus Gottesliebe.143
b. Die christliche Religion als gelehrte Religion § 33 Der Mystiker will die christliche Religion nicht als eine gelehrte Religion betrachtet wissen und begründet seine Ansicht erstens damit, daß die Gebote dieser Religion von allen Menschen mit Notwendigkeit begriffen werden können; zweitens damit, daß die Hauptpunkte dieser Lehre so beschaffen sind, daß sie aus der Natur und der bloßen Vernunft des Menschen erklärt werden können. Die christliche Bibel, so sagt der Mystiker, lehrt uns folgendes: Alle Menschen seien von Natur aus verderbt und niemand sei im Stande, diese Verderbtheit hinter sich zu lassen, so daß also ein jeder göttlichen Beistands bedürfe und Gott daher aus Liebe zur Idee der Menschheit diesen Beistand jedem, der nur wolle, leiste und jedem, der von der Herrschaft des bösen Prinzips befreit sein wolle, die Pforte der Freiheit eröffne, nachdem jene Idee, seinem Gesetz Genüge zu tun, in einem Menschen in Wahrheit wirklich geworden ist. Außerdem teilt uns die Bibel die Gesetze mit, die uns darüber belehren, wie wir zu leben haben, um Gottes Willen zu entsprechen. – Doch all dies stellt für denjenigen, der sich selbst kennt, nichts dar, was wirklich neu genannt werden könnte; ebendies nämlich wird der Mensch, wenn er nur will, in sich selbst finden können. Auch die alltägliche Erfahrung wird ihm hier zur Hilfe kommen und den Menschen mehr und mehr seiner Verderbtheit überführen können, wobei ihn aber das innere Gesetz auf eine gänzlich andere Bestimmung hinweist, so daß er sich bewußt werden wird, daß ihm selbst zwar die Kräfte fehlen, dieser Natur zu entsagen, es aber von ihm allein abhängt, ob er jenen höheren Beistand erhoffen und annehmen will. Die Gebote aber, wie und wodurch dies erreicht werde, findet er vollständig in sich selbst, wenn er nur auf das allgemeine Gesetz aufmerksam wird, das in ihm herrscht. – Also bedarf es keiner Gelehrsamkeit, um diese Religion zu erfassen,144 und gerade das Dogma von der Rechtfertigung und Erlösung, das so voller heiliger Geheimnisse ist, wird für uns, wenn wir es nur mit dem vergleichen wollen, was ursprünglich in der praktischen Vernunft angelegt ist, ganz leicht verständlich, ganz einfach und sehr heilsam; man darf aber nicht vergessen, daß hier ausschließlich vom praktischen Vernunftgebrauch die Rede ist, nicht von ihrem theoretischen Brüten.145 –
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nis meditabundae. – Christianus igitur non nisi homo est religiosus, seu is, qui legi divinae convenienter vivit, atque aliquam religionis doctrinam profitetur, cuius obiectum pro confirmatione tantum habet, historicaque amplificatione religionis communis, iam ante in animo suo fundatae. |
B. De falso cultu dei in religione statutaria, quam dicunt.
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§. 34. Veri mysticismi est, nulla statuta nullosque ritus ecclesiasticos, qua tales, ducere necessarios ad religionem, sed ad summum iis modo hominibus utiles, qui in veram religionem intraturi iis indigent. Contra ea, quod religionem non extra se positam arbitratur, sed in semetipso, quodque ei persuasum est, veram dei notionem ea ipsa interna legislatione in se exoriri; eas modo leges necessarias putat, quarum necessitatem in se ipso fundatam intelligit. Repudiat itaque omnem operam pro deo datam, quae inde non proxime ducta sit, propterea quod deum colere nihil sit, nisi ex amore erga legislatorem divinis obtemperare legibus. Caetera igitur omnia, quibus homo, praeter vitam legibus divinis convenientem, de deo per se ipse promereri censet, falsum dei cultum, vanamque opinionem et errorem fanaticum esse arbitratur. Religionem mysticus omnibus adeo necessariam ducit, ut ex ipsius sententia, hominem quemvis, ubicunque terrarum, quocunque tempore vivat, eam non ignorare, eiusdem legibus obedire oporteat. Unde necesse est, ut religio in ipso | hominum animo sit fundata, nec quidquam, quod in hoc non reperitur, quod potius peculiari legislatione scripta indiget, ad religionem necessario pertinere potest. Idem vero internam legislationem adeo plenam habet, ut non sit, quod extra eius terminos vagentur homines, in argutationibus additamentum aliquod quaesituri: ipsa enim interna religio satis superque hominem edocet, creatorem et legislatorem, quopiam modo, dummodo velit homo ipse, id, ad quod vires haud sufficiant, esse suppleturum. Sibi, pro re nata, alium fingere velle deum ac quem in suo quisque invenit animo, ut supplementi ratio, prout lubet, definiri queat, fanatismum, qui ad idolatriam aperiat aditum, redolere arbitratur. Pariter illae operae deo dicatae, cum ad lubidinem constituantur, nec in obtemperando
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Der Christ ist also einfach ein religiöser Mensch oder derjenige, der in Übereinstimmung mit Gottes Gesetz lebt und sich zu einer Religionslehre bekennt, deren Gegenstand er lediglich als Bestärkung ansieht und als historische Erweiterung146 der allgemeinen Religion, die schon zuvor in ihm begründet war.
B. Vom Afterdienst Gottes in einer sogenannten statutarischen Religion § 34 Der wahre Mystizismus zeichnet sich dadurch aus, daß er weder Statuten und noch kirchliche Riten als solche für zur Religion notwendig erachtet, sondern höchstens als lediglich für diejenigen Menschen nützlich, die ihrer bedürfen, um in die wahre Religion eingeführt zu werden.147 Dagegen hält er, weil er glaubt, daß die Religion nicht außerhalb, sondern nur innerhalb seiner selbst verortet werden kann, und weil er überzeugt ist, daß Gottes eigentlicher Begriff eben aus dieser inneren Gesetzgebung in ihm hervorgehe, nur diejenigen Gesetze für notwendig, deren Notwendigkeit er als in sich selbst begründet einsieht. Er lehnt daher jedes Gott dargebrachte Opfer ab,148 das nicht aus tiefstem Inneren komme, weil Gott zu dienen nichts anderes ist als aus Liebe gegen den Gesetzgeber Gottes Gesetzen zu gehorchen.149 Auch alles andere, was über das Leben in Übereinstimmung mit Gottes Gesetzen hinausgeht und womit der Mensch glaubt, sich von sich aus um Gott verdient machen zu können, hält er für verfehlten Gottesdienst, leere Meinung und fanatischen Wahn.150 Für den Mystiker ist Religion allen Menschen in solchem Maße notwendig, daß seiner Meinung nach jedweder Mensch, egal wo auf der Welt er lebt und zu welcher Zeit, mit ihr vertraut sein und ihren Gesetzen Gefolgschaft leisten müsse. Daher kann es nicht anders sein, als daß die Religion im Innern des Menschenherzens begründet ist; und etwas, was sich nicht darin findet, was vielmehr auf eine gesonderte schriftliche Gesetzgebung angewiesen ist, kann nicht notwendiger Bestandteil von Religion sein. Für den Mystiker ist aber die innere Gesetzgebung in solchem Maße vollständig, daß kein Grund besteht, weshalb die Menschen über deren Grenzen hinausschweifen sollten, um irgendein Geschwätz hinzuzudichten: denn eben die innere Religion belehrt den Menschen mehr als hinreichend, daß der Schöpfer und Gesetzgeber uns irgendwie, solange nur der Mensch selbst guten Willens ist, entgegenkommen wird, wo unsere Kräfte nicht mehr weiter reichen. Will man sich je nach Bedarf einen anderen Gott ausdenken als jenen, den ein jeder im Herzen findet, um so sein Entgegenkommen nach Belieben auf den Begriff bringen und begründen zu können, wittert der Mystiker darin einen Fanatismus, wie er der Idolatrie Tür und Tor öffnet.151 So scheinen ihm auch die Gott gewidmeten Werke und Opfer, wenn sie nämlich etwas Beliebiges haben und nicht im Gehorsam gegenüber Gottes
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legibus divinis versentur, a superstitione tantum videntur proficisci. Verus autem dei cultus in obtemperando divinis constat legibus, quas, nullâ exceptâ, in nobis ipsis investigare possumus. §. 35. Differentia vero naturae et gratiae facile ex iis, quae supra dicta sunt, explicari poterit. Quidquid homo, suam in se imbecillitatem | sentiens sua ipsius opera deo placendi, ad gratiam divinam propriis intellectus seu suae naturae viribus, praeter obtemperationem legibus divinis, conferre posse censet, id mysticus naturalium virium intentionem, ad hunc finem parum aptam, esse iudicat. Quidquid vero homo, quia proprias suas exsuperat vires, dei benignitati auxilioque permittit, id ab eo exspectat tanquam gratiam divinam. Eoque sensu mysticus aliquam favoris divini efficientiam esse obtinet, non ita tamen, ut, quae et qualis sit, definiat, nec ita, ut eam alia re, ac vita deo grata acceptaque efficere posse censeat. Tantum abest, ut se velle alia re, nisi appetenda vitae probitate, hinc perfecta legis divinae observantia, non ritibus solemnibus, non ecclesiastico dei cultu, illam adsequi posse gratiam credat, ut haec potius omnia, quoniam sunt praescripta humana, non internae legislationis, spernat ac reiiciat. Ritibus vero solemnibus quibusdam, quae vitae probitatem suppleant, deum quasi corrumpere velle, est, ex mystici sententia, blasphemantis: namque ad hoc deus fingendus esset, qui plane non talis foret, qualem in se quisque reperit. | §. 36. Unde vero etiam mysticus omnem dei cultum, externa tantum revelatione nixum, repudiat. Princeps enim illius ratio est, ut religionem in omnes valere necesse sit, praescriptaque eiusmodi, ut omnibus omnes parere queant. Unumquemque igitur, quin etiam eum, qui externam revelationem Christique adventum ignoret, primaria dei cultus negotia peragere posse oporteat; id quod indicat, hominem, quae hanc ad rem requirantur praecepta, in se ipso reperire posse. Hicce enim liber, interna nempe legislatio, unicus est, qui ubique terrarum ac gentium reperitur, unicus est, quem sibi quisque exponere potest. Hinc non alius quis dei cultus requiritur necessario, nisi obtemperatio legibus divinis, ita ut vel imperitissimus
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Gesetzen bestehen, nur ein Ausfluß des Aberglaubens zu sein. Der wahre Gottesdienst aber besteht im Gehorsam gegenüber Gottes Gesetzen, die wir, ohne alle Ausnahme, in uns selbst aufspüren können. § 35 Die Differenz zwischen Natur und Gnade kann vor dem Hintergrund dessen, was oben bereits gesagt wurde, leicht verdeutlicht werden. Was auch immer der Mensch, der in sich seine Schwäche spürt, durch sein eigenes Tun Gott zu gefallen, über den Gehorsam gegenüber Gottes Gesetzen hinaus noch aus eigenen Verstandeskräften oder vermöge seiner Natur zur göttlichen Gnade beitragen zu können glaubt, das ist, nach dem Urteil des Mystikers, das Bestreben seines natürlichen Vermögens und diesem Ziel kaum angemessen. Was auch immer aber der Mensch, weil es über seine eigenen Kräfte geht, der Huld und Hilfe Gottes überläßt, das erwartet er von ihm wie eine göttliche Gnade.152 In diesem Sinn behauptet der Mystiker, daß es ein Wirken von Gottes Gunst und Güte gibt, doch ohne daß er bestimmte, was es sei oder worin es bestehe, und ohne daß er dieses Wirken wiederum durch irgendetwas bewirken zu können vermeinte, es sei denn durch einen annehmbaren und Gott gefälligen Lebenswandel.153 Er ist so weit davon entfernt zu glauben, daß er Gottes Gnade erlangen könne durch irgendetwas anderes als das Streben nach einem guten Lebenswandel, folglich durch v ollkommenen Gehorsam gegenüber Gottes Gesetz und nicht durch feierliche Riten, nicht durch k irchlichen Gottesdienst, daß er vielmehr all dies, da es ja nur menschliche Sat z ung ist und nicht vom inneren Gesetze geboten, zurückweist und verschmäht. Den guten Lebenswandel durch ritualisierte Feiern zu ersetzen und Gott dadurch fast schon bestechen zu wollen, ist in den Augen des Mystikers eine Form von Got teslästerung:154 denn dazu müßte ein Gott erfunden werden, der nichts von dem hätte, den ein jeder in sich findet. § 36 Daher weist der Mystiker aber auch jeden Gottesdienst zurück, der sich nur auf die äußere Offenbarung stützt.155 Sein oberster Grundsatz ist nämlich, daß die Religion für alle Menschen gelten muß und ihre Gebote sämtlich von solcher Art sein müssen, daß sie sich bei allen Menschen Gehör verschaffen können. Also muß ein jeder, und auch der, der die äußere Offenbarung von Christi Ankunft gar nicht kennt, die wesentlichen Verrichtungen des Gottesdienstes vollziehen können; was darauf deutet, daß der Mensch die dafür erforderlichen Vorschriften in seinem eigenen Inneren finden kann. Denn dieses Buch, also die innere Gesetzgebung, ist das einzige, das sich in allen Ländern und Völkern der Welt findet, das einzige, das sich ein jeder selbst erschließen kann. Es macht keine andere Form von Gottesdienst notwendig oder erforderlich als den Gehorsam gegenüber Gottes Gesetzen, so daß auch der Ahnungsloseste von sich aus den
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vera dei colendi ratione per se possit defungi. – Indidem patet, quare mysticus purus contendat, notitiam historiae Christi ad religionem non necessario requiri: unusquisque enim, quin etiam is, qui eam ignorat, beneficii, a Christi adventu profecti, particeps fieri potest. Occasionem ergo, comparandae sibi historicae doctrinae cognitionis, utile quidem censet, necessarium non item, eumque, qui, quoniam occasio non data erat, eam ignorat, nihil inde detrimenti capturum arbitratur. | In docenda igitur religione a pura religionis fide ita incipere, ut historica, cum illa religionis communis fide consentiens eandemque confirmans, subsequatur, non solum opus esse, sed officium etiam suum censet, ut peculiaris utriusque differentia penitus perspiciatur, illamque solam salutis ethicae summam esse conditionem, hanc vero per se vividam fidem et efficacem excitare non posse, intelligatur. ••••••• |
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wahren Sinn von Gottesdienst ins Werk setzen kann. – Von daher leuchtet auch ein, weshalb der reine Mystiker die These verficht, daß es für die Religion nicht mit Notwendigkeit erforderlich ist, von Christi Geschichte Kenntnis zu haben: Ein jeder nämlich, ja sogar der, der nichts von ihr weiß, kann der von Christi Ankunft ausgehenden Heilstat teilhaftig werden. Freilich hält es der Mystiker für nützlich, aber eben nicht für gleichermaßen notwendig, sich bei Gelegenheit Kenntnis der Geschichtslehre zu verschaffen, und ist also der Meinung, daß derjenige, der sie nicht kennt, weil ihm keine Gelegenheit dazu gegeben war, keinen Nachteil davontragen wird. Bei der Vermittlung der Religion also vom reinen Religionsglauben auszugehen, so daß sich der Geschichtsglaube, der mit dem Glauben der allgemeinen Menschenreligion übereinstimme und diesen bestätige, anschließen könne,156 hält der Mystiker nicht nur für nötig, sondern auch für seine Pflicht, damit die spezifische Differenz beider völlig durchschaut und eingesehen werde, daß jener reine Religionsglaube allein die oberste Bedingung157 einer moralischen Seligkeit sei, der Geschichtsglaube aber nicht von sich aus einen lebendigen und tatkräftigen Glauben erwecken könne.158
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A PPENDI X.
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§. 37. el ex eo, quod ante dictum est, intelligitur, mysticum admittere, quod ad dei gratiam ducat, nihil, siquidem eiusmodi auxilia gratiae per caussas explicantur intermedias, in potestate nostra positas, quibus propositum quoddam adsequi possumus. Quae si ita explicarentur, res modo naturales forent, cum potius, si admittendae essent, in stadio illo acri, divinis legibus, quantum fieri potest, obtemperandi, versarentur. At vero cum in adhibendis illis rebus, quae ad dei gratiam ducere hominem censentur, quales sensu priori ponebamus, dei cultus plerumque versari soleat; intelligi potest, quare mysticus consuetum dei cultum inutilem habeat, quin etiam, – ratione veri cultus, qui animo peragitur, habita, – noxium. Etenim plerumque, dum illum adhibent, hunc negligunt, et saepius fore sperant, ut eiusmodi rebus religiosis divinam sibi concilient gratiam.
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§. 38. Ut vero aliqua Christianorum inter se societas cum ineatur tum conservetur, omnium, quantum fieri potest, virtuti consultum, ve | r umque dei cultum, quem conspicere non est, re quapiam, quae conspici potest, exhibitum; mystici externum aliquem dei cultum aut religionis potius exercitationem perutile esse censent ac necessarium. Pariter itaque, ubi satis multi sunt in societate, ibi ecclesiam legitimam formant, cuius fundamentum ad tria, quae observanda ducuntur officia, referri potest: Primum ad solemnem receptionem in communionem ecclesiae, ad quam vero rem neque baptismo neque sacra coena utuntur, propterea quod ritus hi plerumque pro liberationibus culpae haberi solent, quodque in iis adhibendis plerique cogitant, Christum vel Christi spiritum in hominem quasi transire, id quod nulla re, nisi pura mente effici potest. Deinde ad preces privatas, quibus mentis nostrae religiositas confirmetur. Precium vero indoles ea est, ut ne tam in deum, quam in nosmetipsos vim suam exserant. Itaque eatenus modo viam, ad gratiam dei ducentem, aperiunt, quatenus earum ope pura illa mens in nobis efficitur.
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ANH ANG
§ 37 uch aus dem zuvor Gesagten wird einsichtig, daß der Mystiker nichts ann immt, was zu Gottes Gnade führen könnte, wenn man denn unter derartigen Gnadenmitteln Zwischenursachen versteht, die in unserer Gewalt liegen und mittels derer wir ein gesetzes Ziel erreichen können. Würde man sie so verstehen, so wären die Gnadenmittel nämlich lediglich eine Sache der Natur, während sie, dürfte man sie annehmen, eher am Platze wären auf dem steinigen Weg, Gottes Gesetzen Gefolgschaft zu leisten, so weit es nur geht. Doch da der Gottesdienst zumeist nicht ohne Hinzuziehung jener Hilfsmittel abgehalten zu werden pflegt, von denen man meint, sie könnten so, wie wir sie im obigen Sinne aufgefasst haben, den Menschen zu Gottes Gnade führen, wird nachvollziehbar, weshalb der Mystiker den üblicherwiese praktizierten Gottesdienst für unnütz, ja mit Blick auf den wahren Gottesdienst, der im Herzen vollzogen wird, sogar für nachteilig hält. Denn dieser wird meistens vernachlässigt, wenn jener gehalten wird, und nicht selten hoffen die Menschen darauf, durch religiöse Verrichtungen solcher Art Gottes Gnade für sich zu gewinnen.159 § 38 Damit aber eine gewisse Gemeinschaft der Christen untereinander sowohl eingegangen als auch gewahrt werde, halten die Mystiker zur größtmöglichen Beförderung der Tugend aller und zur Darstellung des wahren unsichtbaren Gottesdienstes in irgendeiner sichtbaren Sache eine Art von äußerem Gottesdienst oder vielmehr eine Religionsübung für ganz nützlich und notwendig.160 Daher bilden sie auch, wo sie in der Gesellschaft hinreichend viele sind, eine rechtmäßige Kirche, deren Grundlage auf drei Pflichten zurückgeführt werden kann, die für verbindlich gelten:161
A
Erstens die zeremonielle Aufnahme in die Gemeinschaft der Kirche, wozu jedoch weder Taufe noch Abendmahl gebraucht werden, weil diese Riten nämlich meistens für entsühnend gehalten zu werden pflegen und die meisten denken, daß in ihrem Vollzug Christus oder der Geist Christi gewissermaßen auf den Menschen übergehe, was aber ausschließlich durch die Lauterkeit der Gesinnung bewirkt werden kann.162 Zweitens das persönliche Gebet, wodurch die Andacht unseres Geistes gestärkt werden soll. Die Eigenheit des Gebets besteht aber darin, daß es nicht so sehr auf Gott als vielmehr auf uns selbst seine Wirkung tut. Daher eröffnet es nur insofern den Weg, der zu Gottes Gnade führt, als es jene Lauterkeit der Gesinnung in uns zu bewirken hilft.163
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Edition und Übersetzung · Appendix
Denique ad frequentationem ecclesiae, ut statis diebus in conventione publica, pieta | te religionisque doctrina mutuo communicanda, Christi doctrina magis magisque propagetur. Haec vero frequentatio non pro re praemio digna, sed pro officio ducenda est, quo partim nosmetipsos, partim alios ad pietatem excitemus. Itaque mysticus requirit, ut religio non in praeceptorum divinorum cultu, in quo quiescat homo, sed potius in obtemperando iisdem praeceptis versetur, habetque omnes omnino actiones religiosas, quae modo ad dei cultum pertinent, non ad ethicam hominis ipsius emendationem, pro vera suimet fraude.
••••••• In fine huius speciminis illud addo, quod fortasse a veritate non abhorreat: purum mysticismum Christianae religioni id esse potuisse, quod Kantii doctrina philosophiae. Mysticismus enim ad veterem orthodoxiam in religionis systemate vel Catholicorum vel Protestantium ita refertur, ut critica doctrina ad orthodoxiam in philosophia Dogmaticorum. Namque mysticus propriam religionis sedem ita ex sacris libris in animo collocat, ut criticismus propriam philosophiae sedem in intellectu hu|[56]mano: ut nempe homo mundum naturae rerum conceptionem sibi ipse fingit formatque, seu ex intellectu primitivo depromit; ita mysticus leges, quae regnum dei spectant, seu civitatem ethicam, in se ipso investigat, neque eas e codice quopiam, neque a doctrina aliqua mutuatur.
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Edition und Übersetzung · Anhang
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Drittens der Kirchenbesuch, damit zu festgesetzten Zeiten in öffentlicher Zusammenkunft die Botschaft Christi immer weiter verbreitet werde, indem man die Frömmigkeit miteinander teilt und die Religionslehre einander mitteilt. Solcher Kirchenbesuch darf aber nicht für etwas gehalten werden, was eine Belohnung verdient, sondern muß für eine Pflicht gelten, durch die wir einerseits uns selbst, andererseits aber auch andere zu einem frommen Leben ermuntern sollen.164 Daher fordert der Mystiker, daß die Religion nicht in einem verehrenden Kultus von Gottes Geboten, bei dem der Mensch untätig bleiben kann, sondern vielmehr in der tätigen Befolgung dieser Gebote bestehen soll, und hält überhaupt alle religiösen Handlungen, die lediglich für den kultischen Gottesdienst von Belang sind, mit der moralischen Besserung des Menschen selbst aber nichts zu tun haben, für eigentlichen Selbstbetrug.165
••••••• Zum Beschluß dieser Dissertation füge ich noch etwas an, was von der Wahrheit vielleicht nicht allzu weit entfernt ist, nämlich daß der reine Mystizismus zur christlichen Religion im gleichen Verhältnis steht wie Kants Lehre zur Philosophie. Sowohl im katholischen als auch im protestantischen Religionssystem bedeutet der Mystizismus für die Orthodoxie der Überlieferung nämlich das gleiche wie der Kritizismus für die Orthodoxie der dogmatischen Philosophen. Denn der Mystiker verlegt den eigentlichen Sitz der Religion aus der Heiligen Schrift ins Innere des Menschen so wie Kant den eigentlichen Sitz der Philosophie in das menschliche Vernunftvermögen: Wie also der Mensch die Welt der Natur sich selbst schafft oder aus seinem ursprünglichen Vernunftvermögen hervorbringt und den Begriff der Dinge bildet,166 so spürt der Mystiker die Gesetze, die das Reich Gottes oder die moralische Republik betreffen, in sich selbst auf und entlehnt sie weder irgendeinem Buch noch irgendeiner Lehre.
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Kommentar Die Kommentierung erfolgt in Form von Endnoten zur Übersetzung. Widmung
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1 Johann Heinrich Ludwig Meierotto (1742 – 1800) war Pädagoge, Philologe,
Theologe, Bildungsreformer und seit 1771 Professor bzw. seit 1775 Direktor des Königl. Joachimsthalschen Gymnasiums in Berlin-Wilmersdorf, wo er von 1760 bis 1762 selbst „Alumnus“ gewesen war; unter seiner Ägide wurde die Schule zum führenden Gymnasium in Preußen und Meierotto selbst „zu einem der wichtigsten Pädagogen im Kontext der Berliner Aufklärung“ (Matthias Wolfes: „Meierotto, Johann Heinrich Ludwig“, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon XXVII (2007), 936 – 945); er prägte die Schullandschaft des späten 18. Jahrhunderts, indem er schülergerechte Neuerungen einführte und veraltet erscheinende Unterrichtsstoffe (wie angeblich auch Metaphysik und Naturrecht) abschaffte. Meierotto wurde in diverse schul- und bildungspolitische Ämter berufen und wirkte maßgeblich an der Einführung der allgemeinen gymnasialen Reifeprüfung des „Abiturientenexamens“ mit; er wurde als Mitglied in die Königlich-Preußische Akademie der Wissenschaften und in die Akademie der Künste und mechanischen Wissenschaften berufen, war 1790 an der theologischen Examensprüfung Schleiermachers in leitender Funktion beteiligt und besuchte 1792 Kant in Königsberg; als sein Hauptwerk gilt die Studie „Ueber Sitten und Lebensart der Römer in verschiednen Zeiten der Republik“ (1776 in zwei Teilen), er publizierte aber auch „Gedanken über die Entstehung der Baltischen Länder“ (1790), gab eine lateinische Grammatik und ein mehrfach übersetztes (von Georg Forster rezensiertes) „Exempelbuch für Seefahrer und Strandbewohner zu Rath und Hülfe in Gefahr und mannichfaltigen Fällen“ (1790) heraus und machte schließlich 1795 – 1797 in drei Vorlesungen vor der Akademie der Wissenschaften den „Vorschlag einer neuen allgemeinen Sprache der Gelehrten“, die ihr Maß und Muster am attischen Griechisch finden sollte. In seinem Lebenslauf von 1797 spricht Carl Arnold Wilmans davon, daß sein Schulwechsel von Lippstadt nach Berlin Meierottos wegen erfolgt sei, er in den fünf Semestern (1789 – 1792) an dessen Schule alle bisherigen Bildungslücken habe schließen können und er seine Schulbildung samt weiterem wissenschaftlichen Weg meistenteils der Mühe Meierottos verdanke: „Duobus post annis Lipstadio abii et fama celebritateque Meierottonis ductus Berolinum me contuli, virum hunc celeberrimum doctissimumque auditurus. Quidquid in scholis a me frequentatis praetermiseram aut neglexeram, eius in illustri illo
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gymnasio Joachimico supplendi addiscendique facultas erat data. Si quid in me est studiorum scholasticorum, id me fateor maximam partem huius viri egregii debere operae. Versatus in hac urbe per duos annos et semestre“ (UAHW, Rep. 21, Nr. 426).
Vorrede
S. 67
2 Christoph Friedrich Ammon: Ueber die Aehnlichkeit des inneren Wortes einiger
neueren Mystiker mit dem moralischen Worte der Kantischen Schriftauslegung – als Ankündigung der ersten Vertheilung des neuen homiletischen Preißes für das Jahr 1796, Göttingen 1796; zu Ammon s. o. S. 26 ff. 3 Wilmans bedient sich hier einer medizinischen Metaphorik: prodromus heißt „Vorläufer“ und bezeichnet ein frühes Symptom oder erstes Indiz, ein der eigentlichen Erkrankung vorausgehendes Vorstadium. 4 Mit diesem Wortspiel von den „vires viri“ dürfte sich Wilmans auch eine augenzwinkernde Anspielung auf eine sprichwörtlich gewordene Stelle aus den Ovidischen Schwarzmeerbriefen erlaubt haben: „Ut desint vires, tamen est laudanda voluntas“ (Ov. Pont. 3, 4, 79) – Mögen die Kräfte auch fehlen, bleibt doch der gute Wille zu loben.
Vorbemerkungen
S. 75
5 Auch in seinem Sendschreiben betont Wilmans nachdrücklich die schöpferi-
sche Aktivität des Verstandes: Der „Verstand aber ist ein gänzlich actives Vermögen des Menschen; alle seine Vorstellungen und Begriffe sind bloß s e i ne Geschöpfe, der Mensch denkt mit seinem Verstande ursprünglich, und er schafft sich also s e i n e Welt. Die Außendinge sind nur Gelegenheitsursachen der Wirkung des Verstandes, sie reizen ihn zur Action, und das Product dieser Action sind Vorstellungen und Begriffe. Die Dinge also, worauf sich diese Vorstellungen und Begriffe beziehen, können nicht das sein, was unser Verstand vorstellt; denn der Verstand kann nur Vorstellungen und s e i n e Gegenstände, nicht aber wirkliche Dinge schaffen, d. h. die Dinge können unmöglich durch diese Vorstellungen und Begriffe vom Verstande als solche, wie sie an sich sein mögen, erkannt werden; die Dinge, die unsere Sinne und unser Verstand darstellen, sind vielmehr an sich nur Erscheinungen, d. i. Gegenstände unserer Sinne und unseres Verstandes, die das Product aus dem Zusammentreffen der Gelegenheitsursachen und der Wirkung des Verstandes sind, die aber deswegen doch nicht Schein sind, sondern die wir im praktischen Leben für uns als wirkliche Dinge und Gegenstände unserer Vorstellungen ansehen können; eben weil wir die wirklichen Dinge als jene Gelegenheitsursachen supponiren müssen. Ein Beispiel giebt die Naturwissenschaft. Außendinge wirken auf einen actionsfähigen Körper und reizen diesen dadurch zur Action; das Product hievon ist Leben. – Was ist aber Leben ? Physisches Anerkennen seiner Existenz in der Welt und seines Ver-
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hältnisses zu den Außendingen; der Körper lebt dadurch, daß er auf die Außendinge reagirt, sie als seine Welt ansieht und sie zu seinem Zweck gebraucht, ohne sich weiter um ihr Wesen zu bekümmern. Ohne Außendinge wäre dieser Körper kein lebender Körper, und ohne Actionsfähigkeit des Körpers wären die Außendinge nicht seine Welt. Eben so mit dem Verstande. Erst durch sein Zusammentreffen mit den Außendingen entsteht diese seine Welt; ohne Außendinge wäre er todt, – ohne Verstand aber wären keine Vorstellungen, ohne Vorstellungen keine Gegenstände und ohne diese nicht diese seine Welt; so wie mit einem anderen Verstande auch eine andere Welt da sein würde, welches durch das Beispiel von Wahnsinnigen klar wird. Also der Verstand ist Schöpfer seiner Gegenstände und der Welt, die aus ihnen besteht; aber so, daß wirkliche Dinge die Gelegenheitsursachen seiner Action und also der Vorstellungen sind“ (SF, A 118 ff. (AA V II, 71 f.)). 6 Vgl. SF, A 116 (AA V II, 70): „Der Mensch selbst ist ursprünglich Schöpfer aller seiner Vorstellungen und Begriffe und soll einziger Urheber aller seiner Handlungen sein“. 7 Wilmans folgt damit der „rigoristischen Entscheidungsart“ (RGV, BA 10 (AA V I, 23)) Kants, für welche die Frage nach dem entweder Guten oder Bösen empirisch nicht entscheidbar ist: „Wenn wir also sagen: der Mensch ist von Natur gut, oder: er ist von Natur böse, so bedeutet dieses nur so viel als: er enthält einen (uns unerforschlichen) ersten Grund […] der Annehmung guter, oder der Annehmung böser (gesetzwidriger) Maximen; und zwar allgemein als Mensch, mithin so, daß er durch dieselbe zugleich den Charakter seiner Gattung ausdrückt. Wir werden also von einem dieser Charaktere (der Unterscheidung des Menschen von andern möglichen vernünftigen Wesen) sagen: er ist ihm a n g e b o r e n, und doch dabei uns immer bescheiden, daß nicht die Natur die Schuld derselben (wenn er böse ist), oder das Verdienst (wenn er gut ist) trage, sondern daß der Mensch selbst Urheber desselben sei. Weil aber der erste Grund der Annehmung unsrer Maximen, der selbst immer wiederum in der freien Willkür liegen muß, kein Factum sein kann, das in der Erfahrung gegeben werden könnte: so heißt das Gute oder Böse im Menschen (als der subjective erste Grund der Annehmung dieser oder jener Maxime in Ansehung des moralischen Gesetzes) bloß in dem Sinne angeboren, als es vor allem in der Erfahrung gegebenen Gebrauche der Freiheit (in der frühesten Jugend bis zur Geburt zurück) zum Grunde gelegt wird und so als mit der Geburt zugleich im Menschen vorhanden vorgestellt wird: nicht daß die Geburt eben die Ursache davon sei“ (RGV, BA 7 f. (AA V I, 21 f.). Vgl. dazu im Kontext Christian Rößner: „Der gute Wille und das böse Herz. Kants ‚moralische Gesinnung im Kampfe‘“, in: Franz Fromholzer, Bettina Wisiorek u. Michael Preis (Hg.): Noch nie war das Böse so gut. Die Aktualität einer alten Differenz (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte, Bd. 295), Heidelberg 2012, 71 – 89. 8 Wilmans drückt an dieser Stelle sehr verkürzt aus, daß Kants Prinzip der Autonomie den Gedanken an Gott als Gesetzgeber nicht ausschließt. Es wäre jedoch
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noch näher zu differenzieren zwischen legislator und autor: „G e s e t z (ein moralisch praktisches) ist ein Satz, der einen kategorischen Imperativ (Gebot) enthält. Der Gebietende (imperans) durch ein Gesetz ist der G e s e t z g e b e r (legislator). Er ist Urheber (autor) der Verbindlichkeit nach dem Gesetze, aber nicht immer Urheber des Gesetzes. Im letzteren Fall würde das Gesetz positiv (zufällig) und willkürlich sein. Das Gesetz, was uns a priori und unbedingt durch unsere eigene Vernunft verbindet, kann auch als aus dem Willen eines höchsten Gesetzgebers, d. i. eines solchen, der lauter Rechte und keine Pflichten hat, (mithin dem göttlichen Willen) hervorgehend ausgedrückt werden, welches aber nur die Idee von einem moralischen Wesen bedeutet, dessen Wille für alle Gesetz ist, ohne ihn doch als Urheber desselben zu denken“ (MS RL, AB 29 f. (AA V I, 227)); vgl. auch Päd, A 133 (AA IX, 494). Vgl. dazu Gerhard Krüger: Philosophie und Moral in der Kantischen Kritik, Tübingen 21967, 108; vgl. auch Christian Rößner: Der „Grenzgott der Moral“. Eine phänomenologische Relektüre von Immanuel Kants praktischer Metaphysik im Ausgang von Emmanuel Levinas (Phänomenologie: Kontexte, Bd. 26), Freiburg/München 2018, 296 f. 9 Zum scrutator cordium und „Herzenskündiger“ vgl. RGV, B 85 / A 79 (AA V I, 67); RGV, B 139 / A 131 (AA V I, 99); MS TL, A 86 (AA V I, 430); MS TL, A 101 (AA V I, 439); MS TL, A 105 (AA V I, 441); SF, A xxii (AA V II, 10); MpVT (AA V III, 269); OP (AA X XI, 65); OP (AA X XI, 141); OP (AA X XI, 147); OP (AA X II, 64); vgl. dazu auch Rudolf Langthaler: „‚Moralische Selbsterkenntnis‘ – die Idee des ‚völligen Bewußtseins seiner selbst‘ – der ‚Herzenskündiger‘: Aspekte des Themas ‚Endlichkeit und Transzendenz‘ in Kants Religionsphilosophie“, in: Jakub Sirovátka (Hg.): Endlichkeit und Transzendenz. Perspektiven einer Grundbeziehung, Hamburg 2012, 95 – 118. 10 Zu dieser Einverleibung vgl. KpV, A 188 (AA V, 105): „Also blieb nichts übrig, als daß etwa ein unwidersprechlicher und zwar objectiver Grundsatz der Causalität, welcher alle sinnliche Bedingung von ihrer Bestimmung ausschließt, d. i. ein Grundsatz, in welchem die Vernunft sich nicht weiter auf etwas A n de r e s als Bestimmungsgrund in Ansehung der Causalität beruft, sondern den sie durch jenen Grundsatz schon selbst enthält, und wo sie also als r e i n e Ve r nu n f t selbst praktisch ist, gefunden werde. Dieser Grundsatz aber bedarf keines Suchens und keiner Erfindung; er ist längst in aller Menschen Vernunft gewesen und ihrem Wesen einverleibt und ist der Grundsatz der Si t t l ic h k e i t “; vgl. auch MS TL, A 99 (AA V I, 438): „Jeder Mensch hat Gewissen und findet sich durch einen inneren Richter beobachtet, bedroht und überhaupt im Respect (mit Furcht verbundener Achtung) gehalten, und diese über die Gesetze in ihm wachende Gewalt ist nicht etwas, was er sich selbst (willkürlich) m a c h t, sondern es ist seinem Wesen einverleibt“; dazu, daß es „die strikt parallel formulierte Wendung von einem dem Menschenwesen ‚einverleibten‘, ihm von Anfang an angeborenen und eben nicht in schöpferischer Spontaneität generierten, sondern normativ vorgegebenen Anspruch“ erlaubt, „auf die Identität von Vernunftfaktum und Gewissensstimme zu schließen“, vgl. Rößner: Der „Grenzgott der Moral“, 257 ff., Anm.; vgl. auch ebd., 228; 272 f., Anm.;
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316 f.; 328 f., Anm.; 335; 456 f., Anm. u. 483. In Anlehnung an Augustinus ließe sich das dem Menschenwesen von jeher „einverleibte“ Faktum reformulieren als eine „religio […] insita […] et medullitus implicata“ (Augustinus: Contra Academicos, II, 2, 5). 11 Dazu, daß „Sittlichkeit uns zuerst den Begriff der Freiheit entdecke“ vgl. KpV, A 53 f. (AA V, 30): „man [würde] niemals zu dem Wagstücke gekommen sein […], Freiheit in die Wissenschaft einzuführen, wäre nicht das Sittengesetz und mit ihm praktische Vernunft dazu gekommen und hätte uns diesen Begriff nicht aufgedrungen. Aber auch die Erfahrung bestätigt diese Ordnung der Begriffe in uns. Setzet, daß jemand von seiner wollüstigen Neigung vorgiebt, sie sei, wenn ihm der beliebte Gegenstand und die Gelegenheit dazu vorkämen, für ihn ganz unwiderstehlich: ob, wenn ein Galgen vor dem Hause, da er diese Gelegenheit trifft, aufgerichtet wäre, um ihn sogleich nach genossener Wollust daran zu knüpfen, er alsdann nicht seine Neigung bezwingen würde. Man darf nicht lange rathen, was er antworten würde. Fragt ihn aber, ob, wenn sein Fürst ihm unter Androhung derselben unverzögerten Todesstrafe zumuthete, ein falsches Zeugniß wider einen ehrlichen Mann, den er gerne unter scheinbaren Vorwänden verderben möchte, abzulegen, ob er da, so groß auch seine Liebe zum Leben sein mag, sie wohl zu überwinden für möglich halte. Ob er es thun würde, oder nicht, wird er vielleicht sich nicht getrauen zu versichern; daß es ihm aber möglich sei, muß er ohne Bedenken einräumen. Er urtheilt also, daß er etwas kann, darum weil er sich bewußt ist, daß er es soll, und erkennt in sich die Freiheit, die ihm sonst ohne das moralische Gesetz unbekannt geblieben wäre“; zum moralischen Gesetz als „ratio cognoscendi der Freiheit“ vgl. KpV, A 5, Anm. (AA V, 4); dazu, „[d]aß der Begriff der Freiheit der Willkür nicht vor dem Bewußtsein des moralischen Gesetzes in uns vorhergehe, sondern nur aus der Bestimmbarkeit unserer Willkür durch dieses, als ein unbedingtes Gebot, geschlossen werde“, vgl. RGV, B 58 / A 54, Anm. (AA V I, 49); vgl. auch Refl 8105 (AA X IX, 647): „Weil nichts die Freyheit beweiset als das moralische Gesetz in mir durch den categorischen Imperativ“. 12 Nach Kant „kann [man] das Bewußtsein dieses Grundgesetzes ein Factum der Vernunft nennen, weil man es nicht aus vorhergehenden Datis der Vernunft, z. B. dem Bewußtsein der Freiheit (denn dieses ist uns nicht vorher gegeben), herausvernünfteln kann, sondern weil es sich für sich selbst uns aufdringt als synthetischer Satz a priori, der auf keiner, weder reinen noch empirischen, Anschauung gegründet ist, ob er gleich analytisch sein würde, wenn man die Freiheit des Willens voraussetzte, wozu aber, als positivem Begriffe, eine intellectuelle Anschauung erfordert werden würde, die man hier gar nicht annehmen darf. Doch muß man, um dieses Gesetz ohne Mißdeutung als g e g e b e n anzusehen, wohl bemerken: daß es kein empirisches, sondern das einzige Factum der reinen Vernunft sei, die sich dadurch als ursprünglich gesetzgebend (sic volo, sic jubeo) ankündigt“ (KpV, A 55 f. (AA V, 31)); das Factum der Vernunft ist darum „ein Factum, das vor allem Vernünfteln über seine Möglichkeit und allen Folgerungen, die daraus zu ziehen sein möchten,
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vorhergeht“ (KpV, A 163 (AA V, 91)). Jean Paul nennt es „das erhabene Rätsel unserer moralischen Freiheit“ (Johann Paul Friedrich Richter: „Das Kampaner Tal“, in: ders.: Kleinere erzählende Schriften 1796 – 1801 (Sämtliche Werke, hg. v. N. Miller, Bd. I.4), Darmstadt 2000, 589, Anm.). Zur Interpretation des einzigen Factums der reinen Vernunft als des einzig reinen (nicht-empirischen) Datums der Vernunft vgl. Christian Rößner: „Das Datum der Vernunft. Zur Rekonstruktion der Grundlegung von Kants praktischer Metaphysik im Ausgang von Emmanuel Levinas“, in: Inga Römer (Hg.): Subjektivität und Intersubjektivität in der Phänomenologie (Studien zur Phänomenologie und Praktischen Philosophie, Bd. 24), Würzburg 2011, 187 – 199; Rößner: Der „Grenzgott der Moral“, 189 – 303. 13 Dies stellen schon die ersten Sätze der „Vorrede“ der Religionsschrift klar: „Die Moral, so fern sie auf dem Begriffe des Menschen als eines freien, eben darum aber auch sich selbst durch seine Vernunft an unbedingte Gesetze bindenden Wesens gegründet ist, bedarf weder der Idee eines andern Wesens über ihm, um seine Pflicht zu erkennen, noch einer andern Triebfeder als des Gesetzes selbst, um sie zu beobachten. Wenigstens ist es seine eigene Schuld, wenn sich ein solches Bedürfniß an ihm vorfindet, dem aber alsdann auch durch nichts anders abgeholfen werden kann: weil, was nicht aus ihm selbst und seiner Freiheit entspringt, keinen Ersatz für den Mangel seiner Moralität abgiebt. – Sie bedarf also zum Behuf ihrer selbst (sowohl objectiv, was das Wollen, als subjectiv, was das Können betrifft) keinesweges der Religion, sondern vermöge der reinen praktischen Vernunft ist sie sich selbst genug“ (RGV, BA iii f. (AA V I, 3). 14 Vgl. RGV, BA ix (AA V I, 6): „Moral also führt unumgänglich zur Religion, wodurch sie sich zur Idee eines machthabenden moralischen Gesetzgebers außer dem Menschen erweitert“; vgl. RGV, BA xiii, Anm. (AA V I, 7 f.): „Wenn nun aber die strengste Beobachtung der moralischen Gesetze als Ursache der Herbeiführung des höchsten Guts (als Zwecks) gedacht werden soll: so muß, weil das Menschenvermögen dazu nicht hinreicht, die Glückseligkeit in der Welt einstimmig mit der Würdigkeit glücklich zu sein zu bewirken, ein allvermögendes moralisches Wesen als Weltherrscher angenommen werden, unter dessen Vorsorge dieses geschieht, d. i. die Moral führt unausbleiblich zur Religion.“ 15 Zur „Unbegreiflichkeit dieser eine göttliche Abkunft verkündigenden Anlage“ vgl. RGV, B 58 f. / A 54 f., Anm. (AA V I, 50); Reiner Wimmer: Kants kritische Religionsphilosophie (Kantstudien: Ergänzungshefte, Bd. 124), Berlin/New York 1990, 144 f. kommentiert diesen „moralisch-religiösen Enthusiasmus“ Kants: „Kant spricht […] von der Unbegreiflichkeit der moralischen Anlage in uns und von ihrer göttlichen Abkunft. Ihre Unbegreiflichkeit besteht unter anderem in ihrer Ursprünglichkeit, d. h. Unableitbarkeit aus Sachverhalten, die der sinnlich-empirischen Welt angehören […]. Diese Anlage kann nicht unter Rekurs auf Gegebenheiten unserer sinnlichen Natur erklärt werden, sondern zeigt den Bestand einer sie schlechthin transzendierenden, völlig anders gearteten Natur an. Diese Natur trägt die Idee der
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Heiligkeit, d. h. der moralischen Vollkommenheit, und damit die Idee Gottes in sich. Dieser Zug und die Tatsache, daß der Mensch die moralische Anlage in sich vorfindet und sie sogar als den Kern seiner Persönlichkeit und als das unübersehbare Richtmaß und den unüberhörbaren Richtspruch seines Lebens erkennt, lassen Kant […] ihre göttliche Abkunft empfinden. Diese religiöse Empfindung ist eng mit dem Gefühl der Achtung und Ehrfurcht vor dieser Anlage verwandt, […] das nun auch in seiner religiösen Bedeutsamkeit deutlich wird“; vgl. dazu auch Gerhard Stamer: „Kant. Der intelligible Charakter und die übersinnliche Natur“, in: ders. (Hg.): Die Realität des Inneren. Der Einfluß der deutschen Mystik auf die deutsche Philosophie, Amsterdam/New York 2001, 121 – 140: 136 f.; Rößner: Der „Grenzgott der Moral“, 295 f. 16 Kant sagt nichts anderes in RGV, B 280 / A 264 (AA V I, 181 f.): „Nun giebt es aber ein praktisches Erkenntniß, das, ob es gleich lediglich auf Vernunft beruht und keiner Geschichtslehre bedarf, doch jedem, auch dem einfältigsten Menschen so nahe liegt, als ob es ihm buchstäblich ins Herz geschrieben wäre: ein Gesetz, was man nur nennen darf, um sich über sein Ansehen mit jedem sofort einzuverstehen, und welches in jedermanns Bewußtsein u n b e d i n g t e Verbindlichkeit bei sich führt, nämlich das der Moralität; und was noch mehr ist, dieses Erkenntniß führt entweder schon für sich allein auf den Glauben an Gott, oder bestimmt wenigstens allein seinen Begriff als den eines moralischen Gesetzgebers, mithin leitet es zu einem reinen Religionsglauben, der jedem Menschen nicht allein begreiflich, sondern auch im höchsten Grade ehrwürdig ist; ja es führt dahin so natürlich, daß, wenn man den Versuch machen will, man finden wird, daß er jedem Menschen, ohne ihm etwas davon gelehrt zu haben, ganz und gar abgefragt werden kann“; vgl. die „Vorschriften der Pflicht, wie sie ursprünglich ins Herz des Menschen durch die Vernunft geschrieben sind“, in RGV, B 116 / A 107 (AA V I, 84); vgl. auch RGV, B 148 / A 140 (AA V I, 104): „die reine moralische Gesetzgebung, dadurch der Wille Gottes ursprünglich in unser Herz geschrieben ist“; zu der „in aller Menschen Herz geschriebenen Re l i g i on“ vgl. auch RGV, B 239 / A 225 (AA V I, 159); für Kant steht der „Begriff der Pflicht in seiner ganzen Reinigkeit […] mit der gröbsten und leserlichsten Schrift in der Seele des Menschen geschrieben“ (TP, A 226 ff. (AA V III, 286 f.)); damit steht Kant in der Tradition sowohl von Röm 2, 14 f. als auch von Rousseaus Émile: „il me reste à chercher quelles maximes […] et quelles règles je dois me prescrire pour remplir ma destination sur la terre selon l’intention de celui qui m’y a placé. […] je les trouve inscrites au fond de mon cœur écrites par la nature en caractères inéfaçables“ (Jean-Jacques Rousseau: Émile ou De l’éducation, IV (Œuvres complètes, hg. v. B. Gagnebin u. M. Raymond, Bd. IV), Paris 1969, 594). 17 Im Zusammenhang der „uns durch unsre eigne Vernunft geoffenbarte[n] Geheimnisse“ (RGV, B 215 / A 202 (AA V I, 142)) spricht Kant unumwunden aus, daß „Gott […] durchs moralische Gesetz in uns seinen Willen offenbart hat“ (RGV, B 218 / A 205 (AA V I, 144)); vgl. auch RGV, B 255 / A 240 (AA V I, 167 f.): „Die wahre,
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alleinige Religion enthält nichts als Gesetze, d. i. solche praktische Principien, deren unbedingter Nothwendigkeit wir uns bewußt werden können, die wir also als durch reine Vernunft (nicht empirisch) offenbart anerkennen“; zu „dem Princip der reinen Vernunftreligion, als einer an alle Menschen beständig geschehenden göttlichen (obzwar nicht empirischen) Offenbarung“ vgl. RGV, B 180 / A 171 (AA V I, 122), dazu aber auch die „in jedem Menschen innerlich […] continuirlich fortdauernde […] Offenbarung“ in RGV, B 234 / A 220 (AA V I, 156); vgl. auch V-Th/Baumbach (AA X XVIII, 1317 f.): „Der Autor redet von der Offenbarung als einer Bekanntmachung des göttlichen Willens. Offenbart sich Gott nicht durchs moralische Gesetz ? Allerdings! […] Das ist die erste Überzeugung, das Fundament der göttlichen inneren Offenbarung, und das sagt uns das Gewissen, die praktische Vernunft“; vgl. weiterhin OP (AA X XI, 92): „Ob ein Gott in der Natur sey (gleichsam als Weltseele) kann nicht gefragt werden denn dieser Begriff ist contradictorisch; aber in der moralisch// practischen Vernunft und dem categorischen Imperativ offenbart er sich“; zu dieser Stelle vgl. Aloysius Winter: „‚Es ist ein Gott denn es ist ein categ. Imperativ‘ [OP (AA X XII, 106); vgl. OP (AA X XII, 108)]. Versteckte Ansätze zur Gottesfrage in der Kritik der praktischen Vernunft“, in: Norbert Fischer u. Maximilian Forschner (Hg.): Die Gottesfrage in der Philosophie Immanuel Kants, Freiburg/Basel/Wien 2010, 85 – 108: 94 f. Zum kantischen Offenbarungsbegriff vgl. Thomas Hanke: Die Offenbarung innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Eine Studie zu Kants philosophischem Begriff der Offenbarung, Berlin 2009; vgl. auch ders.: „Kein Wunder und keine Instruktion. Kants Umgang mit dem Offenbarungsbegriff vor und in der Religionsschrift als Beitrag zu dessen diskreter Transformation“, in: Norbert Fischer, Jakub Sirovátka u. David Voprˇada (Hg.): Kant und die biblische Offenbarungsreligion – Kant a biblické zjevené náboženství, Praha 2013, 15 – 28; vgl. ausführlicher auch Rößner: Der „Grenzgott der Moral“, 252 f., Anm. 18 Zu Ammon s. o. S. 26 ff. 19 S. o. Anm. 16. 20 Vgl. GMS, BA 29 (AA IV, 408): „Selbst der Heilige des Evangelii muß zuvor mit unserm Ideal der sittlichen Vollkommenheit verglichen werden, ehe man ihn dafür erkennt“. 21 Der lapis Lydius wird auch Goldstein genannt und zur Bestimmung des Reinheitsgrades von Edelmetallen verwendet. 22 Anspielung auf das sokratische δαιμóνιον, eine innere Stimme göttlichen Ursprungs, die nach der platonischen Überlieferung dem Sokrates keine positiven Ratschläge gab, sondern ihm Mahnung und Warnung davor war, das Falsche zu tun. 23 S. o. Anm. 16. 24 Vgl. RGV, B 48 / A 45 (AA V I, 44): „Was der Mensch im moralischen Sinne ist oder werden soll, gut oder böse, dazu muß er s ic h s e l b s t machen oder gemacht haben. Beides muß eine Wirkung seiner freien Willkür sein; denn sonst könnte es
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ihm nicht zugerechnet werden, folglich er weder m o r a l i s c h gut noch böse sein.“ In diesem Imputabilitätsprinzip liegt die Differenz zwischen der moralkonstitutiven, da freiheitsgenerierten Differenz von Gut und Böse einerseits und der moralindifferenten Differenz von Wohl und Wehe andererseits begründet; vgl. dazu KpV, A 104 ff. (AA V, 59 ff.) und auch Rößner: „Der gute Wille und das böse Herz“, 75: „Das moralisch Böse ist genau dadurch von einem physischen oder metaphysischen Übel zu unterscheiden, […] dass es einem willentlich handelnden Subjekt zu geschrieben werden kann. Unter die moralkonstitutive Differenz von Gut und Böse fällt (nur) das, wofür jemand etwas kann – und was deshalb aber immer auch anders sein könnte, als es ist, weil es eben innerhalb der Einflussgrenzen eines freien und darum zurechnungsfähigen Subjekts gelegen ist, dem das von ihm bewirkte bonum oder malum dann auch entsprechend zu Ruhm und Ehre oder Schimpf und Schande gereicht. Was dahingegen wohl oder übel ist, wie es ist, und insofern nicht geändert werden kann, als es nicht dem Willen eines moralisch haftbar zu machenden Subjekts gehorcht, das ist dann auch einfach nur, was es ist, nämlich ein Wohl oder ein Übel. Wenn Kant folglich vom Bösen spricht und diese Rede terminologisch auf das moralisch Böse fixiert ist, dann muss das malum morale Resultat der Freiheit der subjektiven Willensbestimmung sein, da es andernfalls auch nicht und niemandem zugeschrieben und somit nur als adiaphoron morale definiert werden könnte.“
Abschnitt I
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25 Vgl. RGV, BA 7 (AA V I, 21): „Mithin kann in keinem die Willkür durch Nei-
gung b e s t i m m e n de n Objecte, in keinem Naturtriebe, sondern nur in einer Regel, die die Willkür sich selbst für den Gebrauch ihrer Freiheit macht, d. i. in einer Maxime, der Grund des Bösen liegen. Von dieser muß nun nicht weiter gefragt werden können, was der subjective Grund ihrer Annehmung und nicht vielmehr der entgegengesetzten Maxime im Menschen sei. Denn wenn dieser Grund zuletzt selbst keine Maxime mehr, sondern ein bloßer Naturtrieb wäre, so würde der Gebrauch der Freiheit ganz auf Bestimmung durch Naturursachen zurückgeführt werden können: welches ihr aber widerspricht.“ Vgl. RGV, B 25 / A 22 (AA V I, 31): „Nun ist aber nichts sittlich- (d. i. zurechnungsfähig-) böse, als was unsere eigene T h a t ist.“ 26 S. o. Anm. 6. 27 Der „subjective Grund des Gebrauchs seiner [des Menschen] Freiheit überhaupt (unter objectiven moralischen Gesetzen), der vor aller in die Sinne fallenden That vorhergeht, […] muß aber immer wiederum selbst ein Actus der Freiheit sein (denn sonst könnte der Gebrauch oder Mißbrauch der Willkür des Menschen in Ansehung des sittlichen Gesetzes ihm nicht zugerechnet werden und das Gute oder Böse in ihm nicht moralisch heißen)“ (RGV, BA 6 f. (AA V I, 21)). Vgl. RGV, B 14 / A 12 (AA V I, 25): „Die eine oder die andere Gesinnung als angeborne Beschaffenheit von
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Natur haben, bedeutet hier auch nicht, daß sie von dem Menschen, der sie hegt, gar nicht erworben, d. i. er nicht Urheber sei; sondern daß sie nur nicht in der Zeit erworben sei (daß er eines oder das andere von Ju g e n d au f s e i i m m e r d a r). Die Gesinnung, d. i. der erste subjective Grund der Annehmung der Maximen, kann nur eine einzige sein und geht allgemein auf den ganzen Gebrauch der Freiheit. Sie selbst aber muß auch durch freie Willkür angenommen worden sein, denn sonst könnte sie nicht zugerechnet werden.“ 28 Vgl. RGV, BA 7 f. (AA V I, 21 f.): „Wenn wir also sagen: der Mensch ist von Natur gut, oder: er ist von Natur böse, so bedeutet dieses nur so viel als: er enthält einen (uns unerforschlichen) ersten Grund […] der Annehmung guter, oder der Annehmung böser (gesetzwidriger) Maximen; und zwar allgemein als Mensch, mithin so, daß er durch dieselbe zugleich den Charakter seiner Gattung ausdrückt. Wir werden also von einem dieser Charaktere (der Unterscheidung des Menschen von andern möglichen vernünftigen Wesen) sagen: er ist ihm a n g e b o r e n, und doch dabei uns immer bescheiden, daß nicht die Natur die Schuld derselben (wenn er böse ist), oder das Verdienst (wenn er gut ist) trage, sondern daß der Mensch selbst Urheber desselben sei. Weil aber der erste Grund der Annehmung unsrer Maximen, der selbst immer wiederum in der freien Willkür liegen muß, kein Factum sein kann, das in der Erfahrung gegeben werden könnte: so heißt das Gute oder Böse im Menschen (als der subjective erste Grund der Annehmung dieser oder jener Maxime in Ansehung des moralischen Gesetzes) bloß in dem Sinne angeboren, als es vor allem in der Erfahrung gegebenen Gebrauche der Freiheit (in der frühesten Jugend bis zur Geburt zurück) zum Grunde gelegt wird und so als mit der Geburt zugleich im Menschen vorhanden vorgestellt wird: nicht daß die Geburt eben die Ursache davon sei.“ Vor diesem Hintergrund wäre also die Annahme einer empirisch-natural tradierten Erbsünde in ihrem Widerspruch zu Kants Imputabilitätsprinzip als spezifischem Kriterium möglicher Moralität als „biologistischer Fehlschluß“ (Rößner: „Der gute Wille und das böse Herz“, 79, Anm.; vgl. dazu RGV, B 40 ff. / A 37 f. (AA V I, 40) und auch MAM, A 27 (AA V III, 123)) zu bezeichnen. In Anlehnung an KrV, B 1 (AA III, 27) könnte man entsprechend formulieren, daß das radikal Böse mit der Geburt anheben mag, ohne doch darum aus dieser zu entspringen. 29 Vgl. RGV, B 14 / A 12 f. (AA V I, 25): „Weil wir also diese Gesinnung, oder vielmehr ihren obersten Grund nicht von irgend einem ersten Zeit-Actus der Willkür ableiten können, so nennen wir sie eine Beschaffenheit der Willkür, die ihr (ob sie gleich in der That in der Freiheit gegründet ist) von Natur zukommt.“ Vgl. auch RGV, B 40 / A 37 (AA V I, 40): „Von den freien Handlungen als solchen den Zeitursprung (gleich als von Naturwirkungen) zu suchen, ist also ein Widerspruch; mithin auch von der moralischen Beschaffenheit des Menschen, sofern sie als zufällig betrachtet wird, weil diese den Grund des G e b r auc h s der Freiheit bedeutet, welcher (so wie der Bestimmungsgrund der freien Willkür überhaupt) lediglich in Vernunftvorstellungen gesucht werden muß“; RGV, B 43 / A 40 (AA V I, 41): „Wir können also nicht
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nach dem Zeitursprunge, sondern müssen bloß nach dem Vernunftursprunge dieser That fragen, um darnach den Hang, d. i. den subjectiven allgemeinen Grund der Aufnehmung einer Übertretung in unsere Maxime, wenn ein solcher ist, zu bestimmen und wo möglich zu erklären.“ 30 Zu diesem „paradoxe[n] Spannungsverhältnis zwischen der individuellen Verantwortung für diese zwar apriorische, aber akzidentelle Annehmung guter oder böser Maximen und der unterschiedslosen Universalität ihrer Folgen, zwischen nicht-notwendiger Selbstverschuldung und allgemeiner Angeborenheit, zwischen moralischer Zurechenbarkeit einerseits und gattungsgeschichtlicher Unvermeidbarkeit andererseits“ vgl. Rößner: „Der gute Wille und das böse Herz“, 80. 31 Zur Absetzung der intelligiblen Tat vom factum phaenomenon vgl. RGV, B 24 ff. / A 22 ff. (AA V I, 31 f.): „Aller Hang ist entweder physisch, d. i. er gehört zur Willkür des Menschen als Naturwesens; oder er ist moralisch, d. i. zur Willkür desselben als moralischen Wesens gehörig. – Im ersteren Sinne giebt es keinen Hang zum moralisch Bösen, denn dieses muß aus der Freiheit entspringen; und ein physischer Hang (der auf sinnliche Antriebe gegründet ist) zu irgend einem Gebrauche der Freiheit, es sei zum Guten oder Bösen, ist ein Widerspruch. Also kann ein Hang zum Bösen nur dem moralischen Vermögen der Willkür ankleben. Nun ist aber nichts sittlich- (d. i. zurechnungsfähig-) böse, als was unsere eigene T h a t ist. Dagegen versteht man unter dem Begriffe eines Hanges einen subjectiven Bestimmungsgrund der Willkür, der vo r j e de r T h a t vo r he r g e h t, mithin selbst noch nicht That ist; da denn in dem Begriffe eines bloßen Hanges zum Bösen ein Widerspruch sein würde, wenn dieser Ausdruck nicht etwa in zweierlei verschiedener Bedeutung, die sich beide doch mit dem Begriffe der Freiheit vereinigen lassen, genommen werden könnte. Es kann aber der Ausdruck von einer That überhaupt sowohl von demjenigen Gebrauch der Freiheit gelten, wodurch die oberste Maxime (dem Gesetze gemäß oder zuwider) in die Willkür aufgenommen, als auch von demjenigen, da die Handlungen selbst (ihrer Materie nach, d. i. die Objecte der Willkür betreffend) jener Maxime gemäß ausgeübt werden. Der Hang zum Bösen ist nun That in der ersten Bedeutung (peccatum originarium) und zugleich der formale Grund aller gesetzwidrigen That im zweiten Sinne genommen, welche der Materie nach demselben widerstreitet und Laster (peccatum derivativum) genannt wird; und die erste Verschuldung bleibt, wenn gleich die zweite (aus Triebfedern, die nicht im Gesetz selber bestehen) vielfältig vermieden würde. Jene ist intelligibele That, bloß durch Vernunft ohne alle Zeitbedingung erkennbar; diese sensibel, empirisch, in der Zeit gegeben (factum phaenomenon). Die erste heißt nun vornehmlich in Vergleichung mit der zweiten ein bloßer Hang und angeboren, weil er nicht ausgerottet werden kann (als wozu die oberste Maxime die des Guten sein müßte, welche aber in jenem Hange selbst als böse angenommen wird); vornehmlich aber, weil wir davon, warum in uns das Böse gerade die oberste Maxime verderbt habe, obgleich dieses unsere eigene That ist, eben so wenig weiter eine Ursache angeben
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können, als von einer Grundeigenschaft, die zu unserer Natur gehört.“ Auch in RGV, B 39 / A 35 f., Anm. (AA V I, 39) wird in diesem Sinne die „ i n t e l l i g i b e le T h a t “ von der „ s e n s i ble[n] T h a t “ unterschieden. 32 Vgl. RGV, B 26 f. / A 24 (AA V I, 32): „Der Satz: der Mensch ist b ö s e, kann nach dem obigen nichts anders sagen wollen als: er ist sich des moralischen Gesetzes bewußt und hat doch die (gelegenheitliche) Abweichung von demselben in seine Maxime aufgenommen. Er ist von Na t u r böse, heißt soviel als: dieses gilt von ihm in seiner Gattung betrachtet; nicht als ob solche Qualität aus seinem Gattungsbegriffe (dem eines Menschen überhaupt) könne gefolgert werden (denn alsdann wäre sie nothwendig), sondern er kann nach dem, wie man ihn durch Erfahrung kennt, nicht anders beurtheilt werden, oder man kann es als subjectiv nothwendig in jedem, auch dem besten Menschen voraussetzen.“ Vgl. RGV, B 14 f. / A 13 (AA V I, 25): „Daß wir aber unter dem Menschen, von dem wir sagen, er sei von Natur gut oder böse, nicht den einzelnen verstehen (da alsdann einer als von Natur gut, der andere als böse angenommen werden könnte), sondern die ganze Gattung zu verstehen befugt sind: kann nur weiterhin bewiesen werden, wenn es sich in der anthropologischen Nachforschung zeigt, daß die Gründe, die uns berechtigen, einem Menschen einen von beiden Charaktern als angeboren beizulegen, so beschaffen sind, daß kein Grund ist, einen Menschen davon auszunehmen, und er also von der Gattung gelte.“ In RGV, B 39 / A 35 (AA V I, 39) sagt Kant darum mit Röm 3, 10 u. 23: „‚Es ist hier kein Unterschied, sie sind allzumal Sünder – es ist Keiner, der Gutes thue (nach dem Geiste des Gesetzes), auch nicht einer.‘“ Vgl. in diesem Sinne auch schon das Zitat von Lk 18, 19 in GMS, BA 29 (AA IV, 408). 33 Freilich bleibt der Hang zum Bösen qua „peccatum originarium“ (RGV, B 25 / A 23 (AA V I, 31)) eine „intelligibele That“ (RGV, B 26 / A 23 (AA V I, 31)), d. h. „der formale Grund aller gesetzwidrigen That“ (RGV, B 25 / A 23 (AA V I, 31)), und ist „bloß durch Vernunft ohne alle Zeitbedingung erkennbar“ (RGV, B 26 / A 23 (AA V I, 31)). Neben diesem apriorischen Aspekt bezieht sich Kant „in der anthropologischen Nachforschung“ (RGV, B 15 / A 13 (AA V I, 25)) aber auch auf „den Menschen i n de r E r s c he i nu n g , d. i. wie ihn uns die Erfahrung kennen läßt“ (RGV, B 14 / A 12, Anm. (AA V I, 25); vgl. RGV, B 39 / A 36, Anm. (AA V I, 39)), und will gar „uns bei der Menge schreiender Beispiele, welche uns die Erfahrung a n de n T h a t e n der Menschen vor Augen stellt, den förmlichen Beweis ersparen“ (RGV, B 27 f. / A 25 (AA V I, 32 f.)). Diese Parallelität läßt sich mit Hans-Martin Rieger: „Das radikal Böse. Der Zugang zur menschlichen Selbstverkehrung bei Kant und bei Luther“, in: Theologie und Philosophie 82 (2007), 65 – 96: 81 und unter weiterem Verweis auf RGV, B 13 / A 11 f. (AA V I, 24 f.), RGV, B 32 f. / A 29 (AA V I, 35) und RGV, B 39 / A 35 f., Anm. (AA V I, 39) dahingehend plausibilisieren, daß in einem ersten Argumentationsschritt der „noumenal-begriffliche Zugriff auf das Böse hinsichtlich seiner Beschaffenheit und seines Grundes […] einen Möglichkeitsbeweis von nur zwei möglichen moralischen Hängen [liefert]“ und in einem zweiten Schritt „die bereits begrifflich präferierte
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Option der universalen Bosheit [i. S. v. Bösartigkeit] durch Erfahrung“ bestätigt wird. Zu den unterschiedlichen Perspektiven empirisch-anthropologischer und begrifflich-apriorischer Erklärung vgl. auch die differenzierte Darstellung von Maximilian Forschner: „Über die verschiedenen Bedeutungen des ‚Hangs zum Bösen‘“, in: Immanuel Kant: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, hg. v. O. Höffe (Klassiker Auslegen, Bd. 41), Berlin 2011, 71 – 90; diese Anmerkung folgt Rößner: „Der gute Wille und das böse Herz“, 78 f., Anm.; vgl. zusammenfassend RGV, B 32 f. / A 29 (AA V I, 35). 34 Wilmans paraphrasiert damit Kants zusammenfassendes Zwischenfazit in RGV, B 27 / A 25 (AA V I, 32): RGV, B 27 / A 24 f. (AA V I, 32): „Da dieser Hang nun selbst als moralisch böse, mithin nicht als Naturanlage, sondern als etwas, was dem Menschen zugerechnet werden kann, betrachtet werden, folglich in gesetzwidrigen Maximen der Willkür bestehen muß; diese aber der Freiheit wegen für sich als zufällig angesehen werden müssen, welches mit der Allgemeinheit dieses Bösen sich wiederum nicht zusammen reimen will, wenn nicht der subjective oberste Grund aller Maximen mit der Menschheit selbst, es sei wodurch es wolle, verwebt und darin gleichsam gewurzelt ist: so werden wir diesen einen natürlichen Hang zum Bösen, und da er doch immer selbstverschuldet sein muß, ihn selbst ein r a d ic a le s, angebornes, (nichts destoweniger aber uns von uns selbst zugezogenes) B ö s e in der menschlichen Natur nennen können.“ 35 Vgl. RGV, B 36 f. / A 33 (AA V I, 38): „Diese a n geb or ne Schuld (reatus), welche so genannt wird, weil sie sich so früh, als sich nur immer der Gebrauch der Freiheit im Menschen äußert, wahrnehmen läßt und nichts destoweniger doch aus der Freiheit entsprungen sein muß und daher zugerechnet werden kann“. 36 Vgl. RGV, B 69 f. / A 63 f. (AA V I, 58). Der Grund des Bösen in der menschlichen Natur kann nicht in der als solcher schuldlosen Sinnlichkeit und ihren natürlichen Neigungen situiert werden, sondern liegt vielmehr darin, daß das Spannungsverhältnis, das zwischen dem unbedingt Guten des apodiktisch gebietenden und kategorisch verpflichtenden Grundgesetzes der reinen praktischen Vernunft und den nur bedingt, da nur im Rahmen dieser Vernunftordnung guten Neigungen besteht, zur falschen Seite hin aufgelöst wird (vgl. RGV, B 31 f. / A 27 ff. (AA V I, 34 f.); RGV, B 115 / A 105 f. (AA V I, 83)). Es ist dies der Versuch, wider die Vernunft zu vernünfteln (vgl. RGV, B 4 4 f. / A 41 (AA V I, 42); GMS, BA 23 (AA IV, 405)). Die schlichte Sinnlichkeit als solche steht sozusagen diesseits von gut und böse, sie „enthält […] zu wenig“ (RGV, B 32 / A 28 (AA V I, 35)), um (Vernunft)Grund des Bösen sein zu können; vgl. Rößner: „Der gute Wille und das böse Herz“, 82 f. 37 Der Grund des Bösen in der menschlichen Natur kann aber auch „nicht in einer Ve r de r b n i ß der moralisch-gesetzgebenden Vernunft gesetzt werden“ (RGV, B 31 / A 28 (AA V I, 35), denn eine „gleichsam b o s h a f t e Ve r nu n f t (ein schlechthin böser Wille) enthält […] zu viel, weil dadurch der Widerstreit gegen das Gesetz selbst zur Triebfeder […] erhoben und so das Subject zu einem t e u f l i s c he n Wesen
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gemacht werden würde“ (RGV, B 32 / A 28 f. (AA V I, 35)), das „auf das moralische Gesetz […] gleichsam rebellischerweise (mit Aufkündigung des Gehorsams) Verzicht“ (RGV, B 33 / A 29 (AA V I, 36)) leistete, was „selbst der ärgste Bösewicht“ (GMS, BA 112 (AA IV, 454)) nach Kant nicht vermag (vgl. dazu Rößner: Der „Grenzgott der Moral“, 305 f., Anm. u. 323 ff., Anm.), da selbst dieser als moralisch überhaupt satisfaktionsfähig „bei einem verderbten Herzen doch immer noch einen guten Willen hat“ (RGV, B 48 / A 4 4 (AA V I, 44); vgl. Rößner: „Der gute Wille und das böse Herz“, 83). Wenn das radikale Böse also auch „den Grund aller Maximen verdirbt; zugleich auch als natürlicher Hang durch menschliche Kräfte nicht zu ve r t i l g e n“ (RGV, B 35 / A 32 (AA V I, 37)) ist, so ist doch vielmehr reine praktische Vernunft wie Unkraut: Sie verdirbt nicht. 38 Vgl. RGV, B 32 f. / A 29 (AA V I, 35): „Wenn nun aber gleich das Dasein dieses Hanges zum Bösen in der menschlichen Natur durch Erfahrungsbeweise des in der Zeit wirklichen Widerstreits der menschlichen Willkür gegen das Gesetz dargethan werden kann, so lehren uns diese doch nicht die eigentliche Beschaffenheit desselben und den Grund dieses Widerstreits; sondern diese, weil sie eine Beziehung der freien Willkür (also einer solchen, deren Begriff nicht empirisch ist) auf das moralische Gesetz als Triebfeder (wovon der Begriff gleichfalls rein intellectuell ist) betrifft, muß aus dem Begriffe des Bösen, sofern es nach Gesetzen der Freiheit (der Verbindlichkeit und Zurechnungsfähigkeit) möglich ist, a priori erkannt werden.“ 39 Die ganze Passage ist eine einzige Paraphrase von RGV, B 33 f. / A 30 f. (AA V I, 36): „Der Mensch […] hängt aber doch auch vermöge seiner gleichfalls schuldlosen Naturanlage an den Triebfedern der Sinnlichkeit und nimmt sie (nach dem subjectiven Princip der Selbstliebe) auch in seine Maxime auf. Wenn er diese aber, a l s f ü r s i c h a l l e i n h i n r e i c h e n d zur Bestimmung der Willkür, in seine Maxime aufnähme, ohne sich ans moralische Gesetz (welches er doch in sich hat) zu kehren, so würde er moralisch böse sein. Da er nun natürlicherweise beide in dieselbe aufnimmt, da er auch jede für sich, wenn sie allein wäre, zur Willensbestimmung hinreichend finden würde: so würde er, wenn der Unterschied der Maximen blos auf den Unterschied der Triebfedern (der Materie der Maximen), nämlich ob das Gesetz, oder der Sinnenantrieb eine solche abgeben, ankäme, moralisch gut und böse zugleich sein; welches sich […] widerspricht. Also muß der Unterschied, ob der Mensch gut oder böse sei, nicht in dem Unterschiede der Triebfedern, die er in seine Maxime aufnimmt (nicht in dieser ihrer Materie), sondern in der Un t e r o r d n u n g (der Form derselben) liegen: we l c h e vo n b e i d e n e r z u r B e d i n g u n g de r a n de r n m a c h t . Folglich ist der Mensch (auch der Beste) nur dadurch böse, daß er die sittliche Ordnung der Triebfedern in der Aufnehmung derselben in seine Maximen umkehrt: das moralische Gesetz zwar neben dem der Selbstliebe in dieselbe aufnimmt, da er aber inne wird, daß eines neben dem andern nicht bestehen kann, sondern eines dem andern als seiner obersten Bedingung untergeordnet werden müsse, er die Triebfeder der Selbstliebe und ihre Neigungen zur Bedingung
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der Befolgung des moralischen Gesetzes macht, da das letztere vielmehr als die o b e r s t e B e d i n g u n g der Befriedigung der ersteren in die allgemeine Maxime der Willkür als alleinige Triebfeder aufgenommen werden sollte.“ Diese „Umkehrung der Triebfedern durch seine Maxime wider die sittliche Ordnung“ (ebd.) beschreibt die Bösartigkeit, Verderbtheit oder Verkehrtheit des menschlichen Herzens also als eine „Inversion im motivationalen Implikationsverhältnis der in der Maxime eines endlichen Vernunftwesens unvermeidlich coexistierenden Triebfedern von Sinnlichkeit und Sittlichkeit“ (Rößner: „Der gute Wille und das böse Herz“, 81). 40 Vgl. RGV, B 35 f. / A 32 (AA V I, 37): „Die Bösartigkeit der menschlichen Natur ist also nicht sowohl B o she it, wenn man dieses Wort in strenger Bedeutung nimmt, nämlich als eine Gesinnung (subjectives P r i n c i p der Maximen), das Böse a l s B ö s e s zur Triebfeder in seine Maxime aufzunehmen (denn die ist teuflisch), sondern vielmehr Ve r k e h r t he i t des Herzens, welches nun der Folge wegen auch ein b ö s e s He r z heißt, zu nennen. Dieses kann mit einem im Allgemeinen guten Willen zusammen bestehen und entspringt aus der Gebrechlichkeit der menschlichen Natur, zu Befolgung seiner genommenen Grundsätze nicht stark genug zu sein, mit der Unlauterkeit verbunden, die Triebfedern (selbst gut beabsichtigter Handlungen) nicht nach moralischer Richtschnur von einander abzusondern und daher zuletzt, wenn es hoch kommt, nur auf die Gemäßheit derselben mit dem Gesetz und nicht auf die Ableitung von demselben, d. i. auf dieses als die alleinige Triebfeder, zu sehen.“ 41 Vgl. RGV, B 42 / A 38 f. (AA V I, 41): „Eine jede böse Handlung muß, wenn man den Vernunftursprung derselben sucht, so betrachtet werden, als ob der Mensch unmittelbar aus dem Stande der Unschuld in sie gerathen wäre. Denn: wie auch sein voriges Verhalten gewesen sein mag, und welcherlei auch die auf ihn einfließenden Naturursachen sein mögen, imgleichen ob sie in oder außer ihm anzutreffen sind: so ist seine Handlung doch frei und durch keine dieser Ursachen bestimmt, kann also und muß immer als ein u r s p r ü n g l ic he r Gebrauch seiner Willkür beurtheilt werden. Er sollte sie unterlassen haben, in welchen Zeitumständen und Verbindungen er auch immer gewesen sein mag; denn durch keine Ursache in der Welt kann er aufhören, ein frei handelndes Wesen zu sein.“ 42 Zu dieser Doppelung von apriorischem und anthropologischem Ansatz s. o. Anm. 33. 43 Der natürliche Hang zum Bösen „muß […] zu ü b e r w ie g e n möglich sein, weil er in dem Menschen als frei handelndem Wesen angetroffen wird“ (RGV, B 35 / A 32 (AA V I, 37). 44 S. o. Anm. 37 u. vgl. auch RGV, B 52 / A 48 (AA V I, 46): „Die Wiederherstellung der ursprünglichen Anlage zum Guten in uns ist also nicht Erwerbung einer ve r l o r n e n Triebfeder zum Guten; denn diese, die in der Achtung fürs moralische Gesetz besteht, haben wir nie verlieren können, und wäre das letztere möglich, so würden wir sie auch nie wieder erwerben.“
Kommentar 151 45 Dazu, „daß die moralische Bildung des Menschen nicht von der Besserung
der Sitten, sondern von der Umwandlung der Denkungsart und von Gründung eines Charakters anfangen müsse“, vgl. RGV, B 55 / A 52 (AA V I, 48). 46 Vgl. RGV, B 54 / A 50 (AA V I, 47): „Daß aber jemand nicht bloß ein g e s e t z l ic h, sondern ein m o r a l i s c h guter (Gott wohlgefälliger) Mensch, d. i. tugendhaft nach dem intelligiblen Charakter (virtus Noumenon), werde, welcher, wenn er etwas als Pflicht erkennt, keiner andern Triebfeder weiter bedarf, als dieser Vorstellung der Pflicht selbst: das kann nicht durch allmählige Re fo r m, so lange die Grundlage der Maximen unlauter bleibt, sondern muß durch eine Re vol u t i on in der Gesinnung im Menschen (einen Übergang zur Maxime der Heiligkeit derselben) bewirkt werden; und er kann ein neuer Mensch nur durch eine Art von Wiedergeburt gleich als durch eine neue Schöpfung (Ev. Joh. III, 5; verglichen mit 1. Mose I, 2) und Änderung des Herzens werden.“ 47 Vgl. RGV, B 54 f. / A50 f. (AA V I, 47 f.): „Wenn der Mensch aber im Grunde seiner Maximen verderbt ist, wie ist es möglich, daß er durch eigene Kräfte diese Revolution zu Stande bringe und von selbst ein guter Mensch werde ? Und doch gebietet die Pflicht es zu sein, sie gebietet uns aber nichts, als was uns thunlich ist. Dieses ist nicht anders zu vereinigen, als daß die Revolution für die Denkungsart, die allmählige Reform aber für die Sinnesart (welche jener Hindernisse entgegenstellt) nothwendig und daher auch dem Menschen möglich sein muß. Das ist: wenn er den obersten Grund seiner Maximen, wodurch er ein böser Mensch war, durch eine einzige unwandelbare Entschließung umkehrt (und hiemit einen neuen Menschen anzieht): so ist er so fern dem Princip und der Denkungsart nach ein fürs Gute empfängliches Subject; aber nur in continuirlichem Wirken und Werden ein guter Mensch: d. i. er kann hoffen, daß er bei einer solchen Reinigkeit des Princips, welches er sich zur obersten Maxime seiner Willkür genommen hat, und der Festigkeit desselben sich auf dem guten (obwohl schmalen) Wege eines beständigen Fo r t s c h r e i t e n s vom Schlechten zum Bessern befinde.“ 48 Vgl. RGV, B 57 ff. / A 53 ff. (AA V I, 49 f.): „Aber eines ist in unsrer Seele, welches, wenn wir es gehörig ins Auge fassen, wir nicht aufhören können, mit der höchsten Verwunderung zu betrachten, und wo die Bewunderung rechtmäßig, zugleich auch seelenerhebend ist; und das ist: die ursprüngliche moralische Anlage in uns überhaupt. – Was ist das (kann man sich selbst fragen) in uns, wodurch wir von der Natur durch so viel Bedürfnisse beständig abhängige Wesen doch zugleich über diese in der Idee einer ursprünglichen Anlage (in uns) so weit erhoben werden, daß wir sie insgesammt für nichts und uns selbst des Daseins für unwürdig halten, wenn wir ihrem Genusse, der uns doch das Leben allein wünschenswerth machen kann, einem Gesetze zuwider nachhängen sollten, durch welches unsere Vernunft mächtig gebietet, ohne doch dabei weder etwas zu verheißen noch zu drohen ? Das Gewicht dieser Frage muß ein jeder Mensch von der gemeinsten Fähigkeit, der vorher von der Heiligkeit, die in der Idee der Pflicht liegt, belehrt worden, der sich aber
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nicht bis zur Nachforschung des Begriffes der Freiheit, welcher allererst aus diesem Gesetze hervorgeht, […] versteigt, innigst fühlen; und selbst die Unbegreiflichkeit dieser eine göttliche Abkunft verkündigenden Anlage muß auf das Gemüth bis zur Begeisterung wirken und es zu den Aufopferungen stärken, welche ihm die Achtung für seine Pflicht nur auferlegen mag.“ Als Parallelstellen vgl. SF, A 91 f. (AA V II, 58): „Es ist nämlich etwas in uns, was zu bewundern wir niemals aufhören können, wenn wir es einmal ins Auge gefaßt haben, und dieses ist zugleich dasjenige, was die M e n s c h he i t in der Idee zu einer Würde erhebt, die man am M e n s c he n als Gegenstande der Erfahrung nicht vermuthen sollte“; VT, A 418 (AA V III, 402): „Nun stelle ich den Menschen auf, wie er sich selbst fragt: Was ist das in mir, welches macht, daß ich die innigsten Anlockungen meiner Triebe und alle Wünsche, die aus meiner Natur hervorgehen, einem Gesetze aufopfern kann, welches mir keinen Vortheil zum Ersatz verspricht und keinen Verlust bei Übertretung desselben androht; ja das ich nur um desto inniglicher verehre, je strenger es gebietet und je weniger es dafür anbietet ?“. Was aber ist dies ? – „Etwas, was über die Speculation hinzukommt, aber doch nur in ihr, der Vernunft, selbst liegt u. was wir zwar (mit dem Nahmen der Freyheit, einem übersinnlichen Vermögen der Causalität in uns) zu benennen, aber nicht zu begreifen wissen“ (Br (AA X I, 76)). Vgl. Rößner: Der „Grenzgott der Moral“, 295 f. 49 Vgl. RGV, B 60 / A 55 f. (AA V I, 50): „Denn wenn das moralische Gesetz gebietet: wir s ol le n jetzt bessere Menschen sein, so folgt unumgänglich: wir müssen es auch k ön ne n“; vgl. RGV, B 43 / A 39 (AA V I, 41); SF, A 92 (AA V II, 58); RGV, B 76 / A 70 (AA V I, 62); RGV, B 50 / A 4 6 (AA V I, 45); RGV, B 58 / A 54 (AA V I, 49); KpV, A 283 (AA V, 159); vgl. auch TP, A 229 (AA V III, 287): „Daß der Mensch sich bewußt ist, er könne dieses, weil er es soll“; OP (AA X XI, 16): „Wenn ich etwas thun s ol l so muß ich es auch k ön n e n und was mir unerlaßlich obliegt muß mir auch möglich seyn zu verrichten“. Diese Implikation des Könnens im Sollen basiert auf dem römischen Rechtsgrundsatz: ultra posse nemo obligatur (vgl. nur z. B. ZeF, B 71 / A 66 (AA V III, 370); Anth, BA 38 (AA V II, 148); RGV, B 54 / A 51 (AA V I, 47)). 50 Vgl. RGV, BA 7, Anm. (AA V I, 21): „Daß der erste subjective Grund der Annehmung moralischer Maximen unerforschlich sei, ist daraus schon vorläufig zu ersehen: daß, da diese Annehmung frei ist, der Grund derselben (warum ich z. B. eine böse und nicht vielmehr eine gute Maxime angenommen habe) in keiner Triebfeder der Natur, sondern immer wiederum in einer Maxime gesucht werden muß; und, da auch diese eben so wohl ihren Grund haben muß, außer der Maxime aber kein B e s t i m mu n g s g r u n d der freien Willkür angeführt werden soll und kann, man in der Reihe der subjectiven Bestimmungsgründe ins Unendliche immer weiter zurück gewiesen wird, ohne auf den ersten Grund kommen zu können.“ 51 S. o. Anm. 48; dazu, daß das „Ideal der moralischen Vollkommenheit, d. i. [das] Urbild[…] der sittlichen Gesinnung in ihrer ganzen Lauterkeit, […] [von dem] wir […] nicht die Urheber sind, […] in dem Menschen Platz genommen hat, ohne
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daß wir begreifen, wie die menschliche Natur [dafür] auch nur habe empfänglich sein können“, vgl. RGV, B 74 / A 68 (AA V I, 61) und dazu Rößner: Der „Grenzgott der Moral“, 261 u. 457, Anm. 52 „[D]enn es ist nicht eben sowohl möglich, sich vorzustellen, wie der von Natur b ö s e Mensch das Böse von selbst ablege und sich zum Ideal der Heiligkeit e r he b e, als daß das Letztere die M e n s c h he it (die für sich nicht böse ist) annehme und sich zu ihr he ra bl a s s e“ (RGV, B 74 / A 68 (AA V I, 61)). Daß „Kant sich damit auf den Weg der Unterscheidung zwischen katabatischer und anabatischer Christologie [begibt]“, notiert Norbert Fischer: „Zu Kants ‚moralisch-bestimmtem Monotheismus‘“, in: Reinhard Hiltscher u. Stefan Klingner (Hg.): Kant und die Religion – Die Religionen und Kant, Hildesheim/Zürich/New York 2012, 193 – 212: 211; vgl. dazu ausführlich Rößner: Der „Grenzgott der Moral“, 261 f., Anm. u. 454 – 487; s. u. Anm. 73. 53 Vgl. RGV, B 43 ff. / A 4 0 ff. (AA V I, 41 ff.); MAM, A 12 f. (AA V III, 115). 54 Vgl. RGV, B 45 f. / A 42 f. (AA V I, 42 f.): „Daß wir […] ‚in Adam alle gesündigt haben‘ und noch sündigen, ist aus dem obigen klar; nur daß bei uns schon ein angeborner Hang zur Übertretung, in dem ersten Menschen aber kein solcher, sondern Unschuld der Zeit nach vorausgesetzt wird, mithin die Übertretung bei diesem ein Sü n de n f a l l heißt: statt daß sie bei uns als aus der schon angebornen Bösartigkeit unserer Natur erfolgend vorgestellt wird. Dieser Hang aber bedeutet nichts weiter, als daß, wenn wir uns auf die Erklärung des Bösen seinem Z e i t a n f a n g e nach einlassen wollen, wir bei jeder vorsetzlichen Übertretung die Ursachen in einer vorigen Zeit unsers Lebens bis zurück in diejenige, wo der Vernunftgebrauch noch nicht entwickelt war, mithin bis zu einem Hange (als natürliche Grundlage) zum Bösen, welcher darum angeboren heißt, die Quelle des Bösen verfolgen müßten: welches bei dem ersten Menschen, der schon mit völligem Vermögen seines Vernunftgebrauchs vorgestellt wird, nicht nöthig, auch nicht thunlich ist, weil sonst jene Grundlage (der böse Hang) gar anerschaffen gewesen sein müßte, daher seine Sünde unmittelbar als aus der Unschuld erzeugt aufgeführt wird. – Wir müssen aber von einer moralischen Beschaffenheit, die uns soll zugerechnet werden, keinen Zeitursprung suchen; so unvermeidlich dieses auch ist, wenn wir ihr zufälliges Dasein e r k l ä r e n wollen (daher ihn auch die Schrift dieser unserer Schwäche gemäß so vorstellig gemacht haben mag).“ 55 Vgl. 1 Joh 5, 3; Joh 14, 15; Joh 14, 23 f. und dazu Refl 6154 (AA X VIII, 470): „Also giebt es keinen unmittelbaren Gottesdienst, sondern nur […] dadurch, daß wir seine Befehle in der Welt verrichten und dadurch selbst 1. gut, 2. der […] Güte Gottes würdig werden.“ 56 Vgl. RGV, B 4 6 ff. / A 43 f. (AA V I, 43 f.): „Der Vernunftursprung aber dieser Verstimmung unserer Willkür in Ansehung der Art, subordinirte Triebfedern zu oberst in ihre Maximen aufzunehmen, d. i. dieses Hanges zum Bösen, bleibt uns unerforschlich, weil er selbst uns zugerechnet werden muß, folglich jener oberste
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Grund aller Maximen wiederum die Annehmung einer bösen Maxime erfordern würde. Das Böse hat nur aus dem Moralisch-Bösen (nicht den bloßen Schranken unserer Natur) entspringen können; und doch ist die ursprüngliche Anlage (die auch kein anderer als der Mensch selbst verderben konnte, wenn diese Corruption ihm soll zugerechnet werden) eine Anlage zum Guten; für uns ist also kein begreiflicher Grund da, woher das moralische Böse in uns zuerst gekommen sein könne. – Diese Unbegreiflichkeit zusammt der näheren Bestimmung der Bösartigkeit unserer Gattung drückt die Schrift in der Geschichtserzählung […] dadurch aus, daß sie das Böse zwar im Weltanfange, doch noch nicht im Menschen, sondern in einem G e i s te von ursprünglich erhabnerer Bestimmung voranschickt: wodurch also der e r s t e Anfang alles Bösen überhaupt als für uns unbegreiflich (denn woher bei jenem Geiste das Böse ?), der Mensch aber nur als d u r c h Ve r f ü h r u n g ins Böse gefallen, also n ic h t von G r u n d au s (selbst der ersten Anlage zum Guten nach) verderbt, sondern als noch einer Besserung fähig im Gegensatze mit einem verführenden G e i s t e , d. i. einem solchen Wesen, dem die Versuchung des Fleisches nicht zur Milderung seiner Schuld angerechnet werden kann, vorgestellt und so dem ersteren, der bei einem verderbten Herzen doch immer noch einen guten Willen hat, Hoffnung einer Wiederkehr zu dem Guten, von dem er abgewichen ist, übrig gelassen wird.“ 57 S. o. Anm. 36. 58 S. o. Anm. 37. 59 S. o. Anm. 55. 60 S. o. Anm. 39. 61 Vgl. GMS, BA 112 f. (AA IV, 454 f.): „Es ist niemand, selbst der ärgste Bösewicht, wenn er nur sonst Vernunft zu brauchen gewohnt ist, der nicht, wenn man ihm Beispiele der Redlichkeit in Absichten, der Standhaftigkeit in Befolgung guter Maximen, der Theilnehmung und des allgemeinen Wohlwollens (und noch dazu mit großen Aufopferungen von Vortheilen und Gemächlichkeit verbunden) vorlegt, nicht wünsche, daß er auch so gesinnt sein möchte. Er kann es aber nur wegen seiner Neigungen und Antriebe nicht wohl in sich zu Stande bringen, wobei er dennoch zugleich wünscht, von solchen ihm selbst lästigen Neigungen frei zu sein. Er beweiset hiedurch also, daß er mit einem Willen, der von Antrieben der Sinnlichkeit frei ist, sich in Gedanken in eine ganz andere Ordnung der Dinge versetze, als die seiner Begierden im Felde der Sinnlichkeit, weil er von jenem Wunsche keine Vergnügung der Begierden, mithin keinen für irgend eine seiner wirklichen oder sonst erdenklichen Neigungen befriedigenden Zustand (denn dadurch würde selbst die Idee, welche ihm den Wunsch ablockt, ihre Vorzüglichkeit einbüßen), sondern nur einen größeren inneren Werth seiner Person erwarten kann. Diese bessere Person glaubt er aber zu sein, wenn er sich in den Standpunkt eines Gliedes der Verstandeswelt versetzt, dazu die Idee der Freiheit, d. i. Unabhängigkeit von b e s t i m m e n de n Ursachen der Sinnenwelt, ihn unwillkürlich nöthigt, und in welchem er sich eines guten Willens bewußt ist, der für seinen bösen Willen als Gliedes der Sinnenwelt
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nach seinem eigenen Geständnisse das Gesetz ausmacht, dessen Ansehen er kennt, indem er es übertritt.“ Vgl. Rößner: „Der gute Wille und das böse Herz“, 88: „Noch der bewusste Widerspruch zur moralischen Ordnung vermag sich als mangelhaftes Moralitätsbewusstsein jenes imperativen Anspruchs nicht gänzlich zu entledigen, dem zu entsprechen er sich weigert.“ 62 Aus Dtn 6, 5 und Lev 19, 18 ergibt sich das Doppelgebot der Liebe in Lk 10, 27; vgl. RGV, B 242 / A 228 (AA V I, 160 f.). 63 S. o. Anm. 36 u. vgl. auch RGV, B 50 f. / A 46 f. (AA V I, 45): „Freilich muß hiebei vorausgesetzt werden, daß ein Keim des Guten in seiner ganzen Reinigkeit übrig geblieben, nicht vertilgt oder verderbt werden konnte, welcher gewiß nicht die Selbstliebe […] sein kann, die, als Princip aller unserer Maximen angenommen, gerade die Quelle alles Bösen ist.“ 64 Dazu, daß Kants Prinzip der Autonomie mit einer divine command theory nicht unverträglich ist, vgl. John E. Hare: God’s Call. Moral Realism, God’s Commands, and Human Autonomy, Grand Rapids/Cambridge 2001, 96: „This is how we are lawgivers; we declare a correspondence of our wills with the law (which we do not create). For me to will the law autonomously is to declare it my law. A good word here is appropriation, which comes from the Latin ad proprium, to make one’s own. Autonomy on this reading is more nearly a kind of submission than a kind of creation“; zur Autonomie als nachträglicher Aneignung und unbedingter Anerkenntnis eines absoluten, anderweitig gegebenen, unvordenklichen Anspruchs vgl. auch Krüger: Philosophie und Moral in der Kantischen Kritik, 101: „Indem die Vernunft als reine praktische Vernunft sich zur ausführenden Gewalt des Gesetzes konstituiert, zwingt sie sich selbst als empirisch-bedingte, d. h. als menschliche praktische Vernunft. Sie macht sich zum Anwalt des Gesetzes, will es von sich aus zur Geltung bringen; d. h. aber: die Vernunft proklamiert das Gesetz von sich aus, als wäre sie der Gesetzgeber dieses Gesetzes. Sie macht sich das Gesetz als ihren eigenen Entwurf zu eigen, und eben das ist es, wozu sie vom Gesetz genötigt wird“; vgl. ebd., 105; vgl. auch ebd., 230: „freies, selbst-bewußtes Sich-Zueigenmachen der innerlich überwältigenden Gesetzgebung Gottes“; vgl. Rößner: Der „Grenzgott der Moral“, 285 f., Anm. u. 394. 65 Vgl. RGV, B 49 f. / A 46 (AA V I, 44 f.): „Wie es nun möglich sei, daß ein natürlicherweise böser Mensch sich selbst zum guten Menschen mache, das übersteigt alle unsere Begriffe; denn wie kann ein böser Baum gute Früchte bringen ? Da aber doch nach dem vorher abgelegten Geständnisse ein ursprünglich (der Anlage nach) guter Baum arge Früchte hervorgebracht hat […] und der Verfall vom Guten ins Böse (wenn man wohl bedenkt, daß dieses aus der Freiheit entspringt) nicht begreiflicher ist, als das Wiederaufstehen aus dem Bösen zum Guten: so kann die Möglichkeit des letztern nicht bestritten werden.“ 66 Vgl. RGV, B 62 f. / A 57 f. (AA V I, 51 f.): „wenn es mit dem bloßen Wunsch ausgerichtet wäre, so würde jeder Mensch gut sein. Nach der moralischen Religion
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aber […] ist es ein Grundsatz: daß ein jeder so viel, als in seinen Kräften ist, thun müsse, um ein besserer Mensch zu werden; und nur alsdann, wenn er sein angebornes Pfund nicht vergraben (Lucä XIX, 12 – 16), wenn er die ursprüngliche Anlage zum Guten benutzt hat, um ein besserer Mensch zu werden, er hoffen könne, was nicht in seinem Vermögen ist, werde durch höhere Mitwirkung ergänzt werden. Auch ist es nicht schlechterdings nothwendig, daß der Mensch wisse, worin diese bestehe; vielleicht gar unvermeidlich, daß, wenn die Art, wie sie geschieht, zu einer gewissen Zeit offenbart worden, verschiedene Menschen zu einer andern Zeit sich verschiedene Begriffe und zwar mit aller Aufrichtigkeit davon machen würden. Aber alsdann gilt auch der Grundsatz: ‚Es ist nicht wesentlich und also nicht jedermann nothwendig zu wissen, was Gott zu seiner Seligkeit thue, oder gethan habe;‘ aber wohl, wa s e r s e l b s t z u t hu n h a b e, um dieses Beistandes würdig zu werden.“ (Mit dem letzten Satz (vgl. auch RGV, B 172 / A 163 (AA V I, 118) und RGV, B 261 / A 245 (AA V I, 170 f.)) steht Kant noch Pate bei der Antrittsrede John F. Kennedys am 20.01.1961: ask not what your country can do for you – ask what you can do for your country.) In einer in der zweiten Auflage nachfolgenden ergänzenden Anmerkung (RGV, B 63 f., Anm. (AA V I, 52 f.)) zum ersten Parergon der Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft zieht Kant sehr fein die schmale Grenze und spezifische Differenz, die den reflektierenden Glauben seiner kritischen Religionsphilosophie trennt vom dogmatischen Glauben derer, die Kant (in Blick auf die Gnadenwirkungen) der Schwärmerei oder (im Blick auf göttliche Geheimnisse) des Illuminatism bezichtigt: „Die Vernunft im Bewußtsein ihres Unvermögens, ihrem moralischen Bedürfniß ein Genüge zu thun, dehnt sich bis zu überschwenglichen Ideen aus, die jenen Mangel ergänzen könnten, ohne sie doch als einen erweiterten Besitz sich zuzueignen. Sie bestreitet nicht die Möglichkeit oder Wirklichkeit der Gegenstände derselben, aber kann sie nur nicht in ihre Maximen zu denken und zu handeln aufnehmen. Sie rechnet sogar darauf, daß, wenn in dem unerforschlichen Felde des Übernatürlichen noch etwas mehr ist, als sie sich verständlich machen kann, was aber doch zu Ergänzung des moralischen Unvermögens nothwendig wäre, dieses ihrem guten Willen auch unerkannt zu statten kommen werde, mit einem Glauben, den man den (über die Möglichkeit desselben) r e f l e c t i r e n d e n nennen könnte, weil der do g m a t i s c he, der sich als ein Wissen ankündigt, ihr unaufrichtig oder vermessen vorkommt“; solche „Verirrungen einer über ihre Schranken hinausgehenden Vernunft“ erfolgen nur „in vermeintlich moralischer (gottgefälliger) Absicht“, denn „die Voraussetzung […] einer p r a k t i s c he n Benutzung dieser Idee [der Gnadenwirkungen] ist ganz sich selbst widersprechend. Denn als Benutzung würde sie eine Regel von dem voraussetzen, was wir (in gewisser Absicht) Gutes selbst zu t hu n haben, um etwas zu erlangen; eine Gnadenwirkung aber zu erwarten bedeutet gerade das Gegentheil, nämlich daß das Gute (das Moralische) nicht unsere, sondern die That eines andern Wesens sein werde, wir also sie durch N ic h t s t hu n allein e r we r b e n
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können, welches sich widerspricht. Wir können sie also als etwas Unbegreifliches einräumen, aber sie weder zum theoretischen noch praktischen Gebrauch in unsere Maxime aufnehmen.“ Wie in VT, A 390 (AA V III, 390) steht also „die herculische Arbeit […] von unten hinauf“ der „nichts kostende[n] Apotheose von oben herab“ entgegen (vgl. dazu Rößner: Der „Grenzgott der Moral“, 407 f., Anm) – oder: „Ob nun Weisheit von oben herab dem Menschen (durch Inspiration) e i n g e g o s s e n, oder von unten hinauf durch innere Kraft seiner praktischen Vernunft e r k l i m m t werde, das ist die Frage“ (VJP (AA V III, 441)). Keine Frage aber ist, daß auch diese Kantische Insistenz auf der aktiven Eigenleistung des sittlichen Subjekts eine Offenheit aufweist für das, was weder gemacht noch gewußt, sondern in einem „ Zwe i f e l g l a u b e[n]“ (KU, B 4 64 / A 458 (AA V, 472); vgl. KU, B 425, Anm. (AA V, 450); vgl. dazu Rudolf Langthaler: „Der Ort des ‚Zweifelglaubens‘ innerhalb einer differenzierten Idee der kantischen Ethikotheologie. Anmerkungen zu Bernd Dörflingers Interpretation eines wichtigen kantischen Lehrstückes“, in: Dieter Hüning, Stefan Klingner u. Carsten Olk (Hg.): Das Leben der Vernunft. Beiträge zur Philosophie Kants (FS B. Dörflinger), Berlin/Boston 2013, 564 – 592) lediglich postuliert, d. h. gehofft werden kann: „Denn, man mag so s c hwe r g l äu b i g sein, wie man will, so muß man doch, wo es schlechterdings unmöglich ist, den Erfolg aus gewissen nach aller menschlichen Weisheit (die, wenn sie ihren Namen verdienen soll, lediglich auf das Moralische gehen muß) genommenen Mitteln mit Gewißheit voraus zu sehn, eine Concurrenz göttlicher Weisheit zum Laufe der Natur auf praktische Art glauben, wenn man seinen Endzweck nicht lieber gar aufgeben will“ (EaD, A 516 (AA V III, 337); zum „göttlichen concursus“ vgl. auch ZeF, BA 50 f., Anm (AA V III, 362)); durch den „unverfügbaren Widerfahrnischarakter“ (Maximilian Forschner: „Immanuel Kant über Vernunftglaube und Handlungsmotivation“, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 59 (2005), 327 – 344: 330) dessen, was „nicht in unserer Gewalt ist“ (KpV, A 215 (AA V, 119); vgl. auch KU, B 461 / A 455 (AA V, 470 f.); RGV, BA vii (AA V I, 5); RGV, B 136 / A 128 (AA V I, 97 f.); RGV, B 240 / A 226, Anm. (AA V I, 159); RGV, B 298 / A 280 (AA V I, 192); TP, A 211 (AA V III, 279); VT, A 405 ff., Anm. (AA V III, 397); Br (AA X, 178; 180); FM, A 105 (AA X X, 294); FM, A 139 (AA X X, 305 ff.); Refl 6107 (AA XVIII, 455 f.); Refl 6451 (AA XVIII, 723); HN (AA X XIII, 385 f.; 392); V-Mo/Collins (AA X XVII, 320 f.); V-Mo/ Mron (AA X XVII, 1463 f.); V-Mo/Kaehler(Stark), 139; vgl. dazu Claudia-Cristina S˛erban: „Le possible pratique selon Kant – qu’est-ce qui est ‚en mon pouvoir (in meiner Gewalt)‘ et qu’est-ce qui ne l’est pas?“, in: Stefano Bacin, Alfredo Ferrarin, Claudio La Rocca u. Margit Ruffing (Hg.): Kant und die Philosophie in weltbürgerlicher Absicht. Akten des XI. Internationalen Kant-Kongresses, Berlin 2013, Bd. III, 645 – 656), ist die Religionslehre Kants mit dem reinen Mystizismus also unter der Voraussetzung kompatibel, daß letzterer die erhoffte Gnadenwirkung nicht ex ante für sich gepachtet zu haben meint und zum unkritisch-übernatürlichen Vorwand einer mehr
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oder minder „quietistischen“ Bequemlichkeit nimmt, deren Demut in dem Augenblick in Arroganz umschlägt, wo sie sich der „herculischen“ Klimmzüge und Kraftanstrengung überhoben wähnt. (Sich mit Kant dagegen zu verwahren, verpflichtet im übrigen auch nicht auf „Werkgerechtigkeit“.) „– Überhaupt, wenn wir statt der c on s t i t u t i ve n Principien der Erkenntniß übersinnlicher Objecte, deren Einsicht uns doch unmöglich ist, unser Urtheil auf die r e g u l a t i ve, sich an dem möglichen praktischen Gebrauch derselben begnügende Principien einschränkten, so würde es in gar vielen Stücken mit der menschlichen Weisheit besser stehen und nicht vermeintliches Wissen dessen, wovon man im Grunde nichts weiß, grundlose, obzwar eine Zeit lang schimmernde Vernünftelei zum endlich sich doch einmal daraus hervorfindenden Nachtheil der Moralität ausbrüten“ (RGV, B 92 f. / 86, Anm. (AA V I, 71); vgl. in diesem Sinne auch den berühmten Beschluß in RGV, B 313 f. / A 295 f. (AA V I, 201 f.)). 67 S. o. Anm. 49. 68 Vgl. RGV, B 59 f. / A 55 (AA V I, 50): „Aber dieser Wiederherstellung durch eigene Kraftanwendung steht ja der Satz von der angebornen Verderbtheit der Menschen für alles Gute gerade entgegen ? Allerdings, was die Begreiflichkeit, d. i. unsere E i n s ic h t von der Möglichkeit derselben, betrifft, wie alles dessen, was als Begebenheit in der Zeit (Veränderung) und so fern nach Naturgesetzen als nothwendig und dessen Gegentheil doch zugleich unter moralischen Gesetzen als durch Freiheit möglich vorgestellt werden soll; aber der Möglichkeit dieser Wiederherstellung selbst ist er nicht entgegen.“ 69 Wilmans greift hier vor auf Kants Begriff der unsichtbaren Kirche: „In der That ist es auch ein widersinnischer Ausdruck, daß M e n s c he n ein Reich Gottes s t i f t e n sollten (so wie man von ihnen wohl sagen mag, daß sie ein Reich eines menschlichen Monarchen errichten können); Gott muß selbst der Urheber seines Reichs sein. Allein da wir nicht wissen, was Gott unmittelbar thue, um die Idee seines Reichs, in welchem Bürger und Unterthanen zu sein wir die moralische Bestimmung in uns finden, in der Wirklichkeit darzustellen, aber wohl, was wir zu thun haben, um uns zu Gliedern desselben tauglich zu machen, so wird diese Idee, sie mag nun durch Vernunft oder durch Schrift im menschlichen Geschlecht erweckt und öf fe n t l ic h geworden sein, uns doch zur Anordnung einer Kirche verbinden, von welcher im letzteren Fall Gott selbst als Stifter der Urheber der C on s t i t u t i on, Menschen aber doch als Glieder und freie Bürger dieses Reichs in allen Fällen die Urheber der O r g a n i s a t i on sind; da denn diejenigen unter ihnen, welche der letztern gemäß die öffentlichen Geschäfte derselben verwalten, die A d m i n i s t r a t i on derselben, als Diener der Kirche, so wie alle übrige eine ihren Gesetzen unterworfene Mitgenossenschaft, die G e me i n de, ausmachen. Da eine reine Vernunftreligion als öffentlicher Religionsglaube nur die bloße Idee von einer Kirche (nämlich einer unsichtbaren) verstattet, und die sichtbare, die auf Satzungen gegründet ist, allein einer Organisation durch Menschen bedürftig und fähig ist: so wird der Dienst unter
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der Herrschaft des guten Princips in der ersten nicht als Kirchendienst angesehen werden können, und jene Religion hat keine gesetzliche Diener, als B e a m t e eines ethischen gemeinen Wesens; ein jedes Glied desselben empfängt unmittelbar von dem höchsten Gesetzgeber seine Befehle. Da wir aber gleichwohl in Ansehung aller unserer Pflichten (die wir insgesammt zugleich als göttliche Gebote anzusehen haben) jederzeit im Dienste Gottes stehen, so wird die r e i n e Ve r nu n f t r e l i g i on alle wohldenkenden Menschen zu ihren D i e n e r n (doch ohne B e a m t e zu sein) haben; nur werden sie so fern nicht Diener einer Kirche (einer sichtbaren nämlich, von der allein hier die Rede ist) heißen können“ (RGV, B 226 ff. / A 212 ff. (AA V I, 152 f.)). 70 Gegen ein notorisches Mißverständnis von Kants Autonomie-Begriff wurde dieser Aspekt v. a. von Krüger: Philosophie und Moral in der Kantischen Kritik, 103 akzentuiert: „Bei Kant drückt der Begriff der Autonomie nichts als die unbedingte Vorbehaltlosigkeit der Unterwerfung aus. Das ‚Selbst‘ im Begriff der Selbstgesetzgebung meint nicht die unbedingte, nur sich selbst gehorchende ‚schöpferische‘ Freiheit, die sich selbst nach einem Gesetze treu sein will, sondern die unbedingte Verantwortlichkeit gegen das Gesetz, der sich gerade die Freiheit selbst nicht entziehen darf“. Nachdrückliche Zustimmung erfährt Krüger u. a. von Jean-Luc Nancy: „Dies irae“, in: La faculté de juger, Paris 1985, 9 – 54: 43 f.; vgl. auch Rößner: Der „Grenzgott der Moral“, 229 f., Anm.; zu den von W. Hamacher sowie J. Rogozinski und G. Basterra geprägten Begriffen der Heterautonomie oder Auto-Heteronomie vgl. ebd., 275 ff.; zur vornehmlich von E. Levinas, B. Waldenfels und J.-L. Marion inspirierten responsiven Relektüre der Kantischen „Autonomie als Antwort“ vgl. ebd., 161 – 422. 71 S. o. Anm. 65 u. 68.
Abschnitt II
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72 Dazu, „[d]aß, um ein moralisch guter Mensch zu werden, es nicht genug sei,
den Keim des Guten, der in unserer Gattung liegt, sich bloß ungehindert entwickeln zu lassen, sondern auch eine in uns befindliche entgegenwirkende Ursache des Bösen zu bekämpfen sei“, vgl. RGV, B 67 / A 61 (AA V I, 57). 73 „Tu g e n d, d. i. moralische Gesinnung i m K a m pfe“ (KpV, A 151 (AA V, 84)); vgl. KpV, A 264 f. (AA V, 147); RGV, B 69 / A 63, Anm. (AA V I, 58); RGV, B 70 f. / A 6 4 f. (AA V I, 59); MS TL, A 3 f. (AA V I, 379 f.); MS TL, A 46 f. (AA V I, 405 f.); vgl. dazu Rößner: „Der gute Wille und das böse Herz. Kants ‚moralische Gesinnung im Kampfe‘“. 74 Vgl. RGV, B 73 / A 67 (AA V I, 60): „Das, was allein eine Welt zum Gegenstande des göttlichen Rathschlusses und zum Zwecke der Schöpfung machen kann, ist die M e n s c h h e i t (das vernünftige Weltwesen überhaupt) i n i h r e r m o r a l i s c h e n, g a n z e n Vol l k om m e n he i t, wovon als oberster Bedingung die Glückseligkeit die unmittelbare Folge in dem Willen des höchsten Wesens ist. – Dieser allein Gott wohlgefällige Mensch ‚ist in ihm von Ewigkeit her‘; die Idee desselben geht von
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seinem Wesen aus; er ist sofern kein erschaffenes Ding, sondern sein eingeborner Sohn“. 75 Vgl. RGV, B 74 / A 68 (AA V I, 60 f.): „nur in ihm und durch Annehmung seiner Gesinnungen können wir hoffen ‚Kinder Gottes zu werden‘“. 76 Vgl. RGV, B 74 f. / A 68 f. (AA V I, 61): „Zu diesem Ideal der moralischen Vollkommenheit, d. i. dem Urbilde der sittlichen Gesinnung in ihrer ganzen Lauterkeit, uns zu e r he b e n, ist nun allgemeine Menschenpflicht, wozu uns auch diese Idee selbst, welche von der Vernunft uns zur Nachstrebung vorgelegt wird, Kraft geben kann. Eben darum aber, weil wir von ihr nicht die Urheber sind, sondern sie in dem Menschen Platz genommen hat, ohne daß wir begreifen, wie die menschliche Natur für sie auch nur habe empfänglich sein können, kann man besser sagen: daß jenes Urbild vom Himmel zu uns he r a b g e k om m e n sei, daß es die Menschheit angenommen habe (denn es ist nicht eben sowohl möglich, sich vorzustellen, wie der von Natur b ö s e M e n s c h das Böse von selbst ablege und sich zum Ideal der Heiligkeit e r he b e, als daß das Letztere die M e n s c h he it (die für sich nicht böse ist) annehme und sich zu ihr he r a bl a s s e). Diese Vereinigung mit uns kann also als ein Stand der E r n ie d r i g u n g des Sohnes Gottes angesehen werden, wenn wir uns jenen göttlich gesinnten Menschen als Urbild für uns so vorstellen, wie er, obzwar selbst heilig und als solcher zu keiner Erduldung von Leiden verhaftet, diese gleichwohl im größten Maße übernimmt, um das Weltbeste zu befördern; dagegen der Mensch, der nie von Schuld frei ist, wenn er auch dieselbe Gesinnung angenommen hat, die Leiden, die ihn, auf welchem Wege es auch sei, treffen mögen, doch als von ihm verschuldet ansehen kann, mithin sich der Vereinigung seiner Gesinnung mit einer solchen Idee, obzwar sie ihm zum Urbilde dient, unwürdig halten muß.“ Der letzte Satz liest sich wie eine kantische Version des Demutswortes, das der Hauptmann von Kafarnaum (Mt 8, 8) und mit ihm die Gläubigen als Gebet vor der Kommunion sprechen: Herr, ich bin nicht würdig, daß Du eingehst unter mein Dach, aber sprich nur ein Wort … Zu der damit von Kant aufgenommenen „Unterscheidung zwischen katabatischer und anabatischer Christologie“ vgl. nochmals Fischer: „Zu Kants ‚moralischbestimmtem Monotheismus‘“, 211; indem Kants philosophische Christologie eine Kenosis ohne Inkarnation zu denken sucht, vertritt er eine im Kern arianische Position (vgl. Jean-Louis Bruch: La philosophie religieuse de Kant (Analyse et raisons, Bd. 11), Paris 1968, 109), die sich als Christologie ohne Jesus beschreiben läßt; vgl. ausführlich Rößner: Der „Grenzgott der Moral“, 261 f., Anm. u. 454 – 487: 457, Anm.; s. o. Anm. 52. 77 Zum „p r a k t i s c h e n G l au b e n a n d ie s e n S oh n G o t te s“ vgl. RGV, B 76 / A 69 f. (AA V I, 62): „Im p r a k t i s c h e n G l au b e n a n d ie s e n S oh n G o t t e s (sofern er vorgestellt wird, als habe er die menschliche Natur angenommen) kann nun der Mensch hoffen, Gott wohlgefällig (dadurch auch selig) zu werden; d. i. der, welcher sich einer solchen moralischen Gesinnung bewußt ist, daß er g l a u b e n und auf
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sich gegründetes Vertrauen setzen kann, er würde unter ähnlichen Versuchungen und Leiden (so wie sie zum Probirstein jener Idee gemacht werden) dem Urbilde der Menschheit unwandelbar anhängig und seinem Beispiele in treuer Nachfolge ähnlich bleiben, ein solcher Mensch und auch nur der allein ist befugt, sich für denjenigen zu halten, der ein des göttlichen Wohlgefallens nicht unwürdiger Gegenstand ist.“ 78 Vgl. RGV, B 76 / A 70 (AA V I, 62): „Diese Idee hat ihre Realität in praktischer Beziehung vollständig in sich selbst. Denn sie liegt in unserer moralisch gesetzgebenden Vernunft. Wir s o l l e n ihr gemäß sein, und wir müssen es daher auch k ön n e n .“ 79 Wilmans referiert und resümiert hier RGV, B 8 4 ff. / A 78 ff. (AA V I, 66 f.): „Die e r s t e Schwierigkeit, welche die Erreichbarkeit jener Idee der Gott wohlgefälligen Menschheit in uns in Beziehung auf die He i l i g k e i t des Gesetzgebers bei dem Mangel unserer eigenen Gerechtigkeit zweifelhaft macht, ist folgende. Das Gesetz sagt: ‚Seid heilig (in eurem Lebenswandel), wie euer Vater im Himmel heilig ist!‘ denn das ist das Ideal des Sohnes Gottes, welches uns zum Vorbilde aufgestellt ist. Die Entfernung aber des Guten, was wir in uns bewirken sollen, von dem Bösen, wovon wir ausgehen, ist unendlich und sofern, was die That, d. i. die Angemessenheit des Lebenswandels zur Heiligkeit des Gesetzes, betrifft, in keiner Zeit erreichbar. Gleichwohl soll die sittliche Beschaffenheit des Menschen mit ihr übereinstimmen. Sie muß also in der Gesinnung, in der allgemeinen und lautern Maxime der Übereinstimmung des Verhaltens mit demselben, als dem Keime, woraus alles Gute entwickelt werden soll, gesetzt werden, die von einem heiligen Princip ausgeht, welches der Mensch in seine oberste Maxime aufgenommen hat: eine Sinnesänderung, die auch möglich sein muß, weil sie Pflicht ist. – Nun besteht die Schwierigkeit darin, wie die Gesinnung für die That, welche je de r z e i t (nicht überhaupt, sondern in jedem Zeitpunkte) mangelhaft ist, gelten könne. Die Auflösung derselben aber beruht darauf: daß die letztere als ein continuirlicher Fortschritt von mangelhaftem Guten zum Besseren ins Unendliche nach unserer Schätzung, die wir in den Begriffen des Verhältnisses der Ursache und Wirkungen unvermeidlich auf Zeitbedingungen eingeschränkt sind, immer mangelhaft bleibt; so daß wir das Gute in der Erscheinung, d. i. der T h a t nach, in uns je de r z e it als unzulänglich für ein heiliges Gesetz ansehen müssen; seinen Fortschritt aber ins Unendliche zur Angemessenheit mit dem letzteren wegen der G e s i n nu n g , daraus er abgeleitet wird, die übersinnlich ist, von einem Herzenskündiger in seiner reinen intellectuellen Anschauung als ein vollendetes Ganze auch der That (dem Lebenswandel) nach beurtheilt denken können […], und so der Mensch unerachtet seiner beständigen Mangelhaftigkeit doch überhaupt Gott wohlgefällig zu sein erwarten könne, in welchem Zeitpunkte auch sein Dasein abgebrochen werden möge.“ 80 Wilmans referiert und resümiert hier RGV, 86 ff. / A 80 ff. (AA V I, 67 ff.): „Die z we i t e Schwierigkeit, welche sich hervorthut, wenn man den zum Guten streben-
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den Menschen in Ansehung dieses moralischen Guten selbst in Beziehung auf die göttliche Gü t i g k e i t betrachtet, betrifft die m o r a l i s c h e G l ü c k s e l i g k e i t , worunter hier nicht die Versicherung eines immerwährenden Besitzes der Zufriedenheit mit seinem p hy s i s c he n Zu s t a n de (Befreiung von Übeln und Genuß immer wachsender Vergnügen), als der p hy s i s c he n G l üc k s e l i g k e i t, sondern von der Wirklichkeit und B e h a r r l ic h k e it einer im Guten immer fortrückenden (nie daraus fallenden) Gesinnung verstanden wird; denn das beständige ‚Trachten nach dem Reiche Gottes‘, we n n m a n nu r von de r Unve r ä n de r l ic h k e i t e i n e r s olc he n G e s i n nu n g fe s t ve r s ic he r t wä r e, würde eben so viel sein, als sich schon im Besitz dieses Reichs zu wissen, da denn der so gesinnte Mensch schon von selbst vertrauen würde, daß ihm ‚das Übrige alles (was physische Glückseligkeit betrifft) zufallen werde‘. […] Die gute und lautere Gesinnung (die man einen guten uns regierenden Geist nennen kann), deren man sich bewußt ist, führt also auch das Zutrauen zu ihrer Beharrlichkeit und Festigkeit, obzwar nur mittelbar, bei sich und ist der Tröster (Paraklet), wenn uns unsere Fehltritte wegen ihrer Beharrlichkeit besorgt machen. Gewißheit in Ansehung derselben ist dem Menschen weder möglich, noch, so viel wir einsehen, moralisch zuträglich. Denn (was wohl zu merken ist) wir können dieses Zutrauen nicht auf ein unmittelbares Bewußtsein der Unveränderlichkeit unserer Gesinnungen gründen, weil wir diese nicht durchschauen können, sondern wir müssen allenfalls nur aus den Folgen derselben im Lebenswandel auf sie schließen, welcher Schluß aber, weil er nur aus Wahrnehmungen als Erscheinungen der guten und bösen Gesinnung gezogen worden, vornehmlich die St ä r k e derselben niemals mit Sicherheit zu erkennen giebt“. 81 Wilmans referiert und resümiert hier RGV, B 94 ff. / A 87 ff. (AA V I, 71 ff.): „Die d r i t t e und dem Anscheine nach größte Schwierigkeit, welche jeden Menschen, selbst nachdem er den Weg des Guten eingeschlagen hat, doch in der Aburtheilung seines ganzen Lebenswandels vor einer göttlichen G e r e c h t i g k e i t als verwerflich vorstellt, ist folgende. – Wie es auch mit der Annehmung einer guten Gesinnung an ihm zugegangen sein mag und sogar, wie beharrlich er auch darin in einem ihr gemäßen Lebenswandel fortfahre, s o f i n g e r d o c h vo m B ö s e n a n, und diese Verschuldung ist ihm nie auszulöschen möglich. Daß er nach seiner Herzensänderung keine neue Schulden mehr macht, kann er nicht dafür ansehen, als ob er dadurch die alten bezahlt habe. Auch kann er in einem fernerhin geführten guten Lebenswandel keinen Überschuß über das, was er jedesmal an sich zu thun schuldig ist, herausbringen; denn es ist jederzeit seine Pflicht, alles Gute zu thun, was in seinem Vermögen steht. – Diese ursprüngliche, oder überhaupt vor jedem Guten, was er immer thun mag, vorhergehende Schuld, die auch dasjenige ist, was, und nichts mehr, wir unter dem r a d ic a le n Bösen verstanden (S. das erste Stück), kann aber auch, so viel wir nach unserem Vernunftrecht einsehen, nicht von einem andern getilgt werden; denn sie ist keine t r a n s m i s s i ble Verbindlichkeit, die etwa wie eine Geldschuld (bei der es dem Gläubiger einerlei ist, ob der Schuldner selbst
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oder ein anderer für ihn bezahlt) auf einen andern übertragen werden kann, sondern die a l le r p e r s ön l ic h s t e, nämlich eine Sündenschuld, die nur der Strafbare, nicht der Unschuldige, er mag auch noch so großmüthig sein, sie für jenen übernehmen zu wollen, tragen kann. – Da nun das Sittlich-Böse (Übertretung des moralischen Gesetzes als g ö t t l ic he n G e b o t e s, Sü n de genannt) nicht sowohl wegen der Un e n d l ic h k e i t des höchsten Gesetzgebers, dessen Autorität dadurch verletzt worden (von welchem überschwenglichen Verhältnisse des Menschen zum höchsten Wesen wir nichts verstehen), sondern als ein Böses in der G e s i n nu n g und den Maximen überhaupt (wie a l l g e m e i n e G r u n d s ä t z e vergleichungsweise gegen einzelne Übertretungen) eine U n e n d l i c h k e i t von Verletzungen des Gesetzes, mithin der Schuld bei sich führt (welches vor einem menschlichen Gerichtshofe, der nur das einzelne Verbrechen, mithin nur die That und darauf bezogene, nicht aber die allgemeine Gesinnung in Betrachtung zieht, anders ist), so würde jeder Mensch sich einer u n e n d l ic he n St r a fe und Verstoßung aus dem Reiche Gottes zu gewärtigen haben. Die Auflösung dieser Schwierigkeit beruht auf folgendem: Der Richterausspruch eines Herzenskündigers muß als ein solcher gedacht werden, der aus der allgemeinen Gesinnung des Angeklagten, nicht aus den Erscheinungen derselben, den vom Gesetz abweichenden oder damit zusammenstimmenden Handlungen, gezogen worden. Nun wird hier aber in dem Menschen eine über das in ihm vorher mächtige böse Princip die Oberhand habende gute Gesinnung vorausgesetzt, und es ist nun die Frage: ob die moralische Folge der ersteren, die Strafe, (mit andern Worten: die Wirkung des Mißfallens Gottes an dem Subject) auch auf seinen Zustand in der gebesserten Gesinnung könne gezogen werden, in der er schon ein Gegenstand des göttlichen Wohlgefallens ist. Da hier die Frage nicht ist: ob auch vo r der Sinnesänderung die über ihn verhängte Strafe mit der göttlichen Gerechtigkeit zusammenstimmen würde (als woran niemand zweifelt), so s ol l sie (in dieser Untersuchung) nicht als vor der Besserung an ihm vollzogen gedacht werden. Sie kann aber auch nicht a l s n a c h de r s e l b e n, da der Mensch schon im neuen Leben wandelt und moralisch ein anderer Mensch ist, dieser seiner neuen Qualität (eines Gott wohlgefälligen Menschen) angemessen angenommen werden, gleichwohl aber muß der höchsten Gerechtigkeit, vor der ein Strafbarer nie straflos sein kann, ein Genüge geschehen. Da sie also weder vo r noch n a c h der Sinnesänderung der göttlichen Weisheit gemäß und doch nothwendig ist: so würde sie als in dem Zustande der Sinnesänderung selbst ihr angemessen und ausgeübt gedacht werden müssen. Wir müssen also sehen, ob in diesem letzteren schon durch den Begriff einer moralischen Sinnesänderung diejenigen Übel als enthalten gedacht werden können, die der neue, gutgesinnte Mensch als von ihm (in andrer Beziehung) verschuldete und als solche S t r a fe n ansehen kann, […] wodurch der göttlichen Gerechtigkeit ein Genüge geschieht.“ 82 Vgl. RGV, B 98 ff. / A 91 ff. (AA V I, 74 f.): „Die Sinnesänderung ist […] ein Ausgang vom Bösen und ein Eintritt ins Gute, das Ablegen des alten und das Anziehen
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des neuen Menschen, da das Subject der Sünde (mithin auch allen Neigungen, sofern sie dazu verleiten) abstirbt, um der Gerechtigkeit zu leben. In ihr aber als intellectueller Bestimmung sind nicht zwei durch eine Zwischenzeit getrennte moralische Actus enthalten, sondern sie ist nur ein einiger, weil die Verlassung des Bösen nur durch die gute Gesinnung, welche den Eingang ins Gute bewirkt, möglich ist, und so umgekehrt. Das gute Princip ist also in der Verlassung der bösen eben sowohl, als in der Annehmung der guten Gesinnung enthalten, und der Schmerz, der die erste rechtmäßig begleitet, entspringt gänzlich aus der zweiten. Der Ausgang aus der verderbten Gesinnung in die gute ist (als ‚das Absterben am alten Menschen‘, ‚Kreuzigung des Fleisches‘) an sich schon Aufopferung und Antretung einer langen Reihe von Übeln des Lebens, die der neue Mensch in der Gesinnung des Sohnes Gottes, nämlich bloß um des Guten willen, übernimmt; die aber doch eigentlich einem andern, nämlich dem alten (denn dieser ist moralisch ein anderer), als St ra fe gebührten. – Ob er also gleich p hy s i s c h (seinem empirischen Charakter als Sinnenwesen nach betrachtet) eben derselbe strafbare Mensch ist und als ein solcher vor einem moralischen Gerichtshofe, mithin auch von ihm selbst gerichtet werden muß, so ist er doch in seiner neuen Gesinnung (als intelligibles Wesen) vor einem göttlichen Richter, vor welchem diese die That vertritt, m o r a l i s c h ein anderer, und diese in ihrer Reinigkeit, wie die des Sohnes Gottes, welche er in sich aufgenommen hat, oder (wenn wir diese Idee personificiren) dieser selbst trägt für ihn und so auch für alle, die an ihn (praktisch) glauben, als St e l l ve r t r e t e r die Sündenschuld, thut durch Leiden und Tod der höchsten Gerechtigkeit als E r l ö s e r genug und macht als S a c hve r wa l t e r, daß sie hoffen können, vor ihrem Richter als gerechtfertigt zu erscheinen, nur daß (in dieser Vorstellungsart) jenes Leiden, was der neue Mensch, indem er dem alten abstirbt, im Leben fortwährend übernehmen muß […], an dem Repräsentanten der Menschheit als ein für allemal erlittener Tod vorgestellt wird.“ 83 Vgl. RGV, B 106 ff. / A 99 ff. (AA V I, 78 f.). 84 Vgl. RGV, B 106 f. / A 100 f. (AA V I, 79): „die Beherrschung und Regierung der höchsten Weisheit über vernünftige Wesen verfährt mit ihnen nach dem Princip ihrer Freiheit, und was sie Gutes oder Böses treffen soll, das sollen sie sich selbst zuzuschreiben haben. Hier war also dem guten Princip zum Trotz ein Reich des Bösen errichtet, welchem alle von Adam (natürlicherweise) abstammende Menschen unterwürfig wurden und zwar mit ihrer eignen Einwilligung, weil das Blendwerk der Güter dieser Welt ihre Blicke von dem Abgrunde des Verderbens abzog, für das sie aufgespart wurden. Zwar verwahrte sich das gute Princip wegen seines Rechtsanspruchs an der Herrschaft über den Menschen durch die Errichtung der Form einer Regierung, die bloß auf öffentliche alleinige Verehrung seines Namens angeordnet war (in der j ü d i s c he n Theokratie); da aber die Gemüther der Unterthanen in derselben für keine andere Triebfedern als die Güter dieser Welt gestimmt blieben, und sie also auch nicht anders als durch Belohnungen und Strafen in diesem Leben
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regiert sein wollten, dafür aber auch keiner andern Gesetze fähig waren als solcher, welche theils lästige Ceremonien und Gebräuche auferlegten, theils zwar sittliche, aber nur solche, wobei ein äußerer Zwang statt fand, also nur bürgerliche waren, wobei das Innere der moralischen Gesinnung gar nicht in Betrachtung kam: so that diese Anordnung dem Reiche der Finsterniß keinen wesentlichen Abbruch, sondern diente nur dazu, um das unauslöschliche Recht des ersten Eigenthümers immer im Andenken zu erhalten.“ 85 Vgl. RGV, B 108 ff. / A 101 ff. (AA V I, 79 ff.): „Nun erschien in eben demselben Volke zu einer Zeit, da es alle Übel einer hierarchischen Verfassung im vollen Maße fühlte, und das sowohl dadurch, als vielleicht durch die den Sklavensinn erschütternden moralischen Freiheitslehren der griechischen Weltweisen, die auf dasselbe allmählig Einfluß bekommen hatten, großentheils zum Besinnen gebracht, mithin zu einer Revolution reif war, auf einmal eine Person, deren Weisheit noch reiner als die der bisherigen Philosophen, wie vom Himmel herabgekommen war, und die sich auch selbst, was ihre Lehren und Beispiel betraf, zwar als wahren Menschen, aber doch als einen Gesandten solchen Ursprungs ankündigte, der in ursprünglicher Unschuld in dem Vertrage, den das übrige Menschengeschlecht durch seinen Repräsentanten, den ersten Stammvater, mit dem bösen Princip eingegangen, nicht mitbegriffen war, […] und ‚an dem der Fürst dieser Welt also keinen Theil hatte‘. Hierdurch war des letztern Herrschaft in Gefahr gesetzt. Denn widerstand dieser Gott wohlgefällige Mensch seinen Versuchungen, jenem Contract auch beizutreten, nahmen andere Menschen auch dieselbe Gesinnung gläubig an, so büßte er eben soviel Unterthanen ein, und sein Reich lief Gefahr, gänzlich zerstört zu werden. Dieser bot ihm also an, ihn zum Lehnsträger seines ganzen Reichs zu machen, wenn er ihm nur als Eigenthümer desselben huldigen wollte. Da dieser Versuch nicht gelang, so entzog er nicht allein diesem Fremdlinge auf seinem Boden alles, was ihm sein Erdenleben angenehm machen konnte (bis zur größten Armuth), sondern erregte gegen ihn alle Verfolgungen, wodurch böse Menschen es verbittern können, Leiden, die nur der Wohlgesinnte recht tief fühlt, Verleumdung der lautern Absicht seiner Lehren (um ihm allen Anhang zu entziehen) und verfolgte ihn bis zum schmählichsten Tode, ohne gleichwohl durch diese Bestürmung seiner Standhaftigkeit und Freimüthigkeit in Lehre und Beispiel für das Beste von lauter Unwürdigen im mindesten etwas gegen ihn auszurichten.“ 86 Vgl. RGV, B 111 ff. / A 103 ff. (AA V I, 81 ff.): „Und nun der Ausgang dieses Kampfs! Der Ausschlag desselben kann als ein r e c h t l i c h e r, oder auch als ein p hy s i s c he r betrachtet werden. Wenn man den letztern ansieht (der in die Sinne fällt), so ist das gute Princip der unterliegende Theil; er mußte in diesem Streite nach vielen erlittenen Leiden sein Leben hingeben, […] weil er in einer fremden Herrschaft (die Gewalt hat) einen Aufstand erregte. […] Also ist der moralische Ausgang dieses Streits auf Seiten des Helden dieser Geschichte (bis zum Tode desselben) eigentlich nicht die Besiegung des bösen Princips; denn sein Reich währt noch,
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und es muß allenfalls noch eine neue Epoche eintreten, in der es zerstört werden soll, – sondern nur Brechung seiner Gewalt, die, welche ihm so lange unterthan gewesen sind, nicht wider ihren Willen zu halten, indem ihnen eine andere moralische Herrschaft (denn unter irgend einer muß der Mensch stehen) als Freistatt eröffnet wird, in der sie Schutz für ihre Moralität finden können, wenn sie die alte verlassen wollen. Übrigens wird das böse Princip noch immer der Fürst dieser Welt genannt, in welcher die, so dem guten Princip anhängen, sich immer auf physische Leiden, Aufopferungen, Kränkungen der Selbstliebe, welche hier als Verfolgungen des bösen Princips vorgestellt werden, gefaßt machen mögen, weil er nur für die, so das Erdenwohl zu ihrer Endabsicht gemacht haben, Belohnungen in seinem Reiche hat. Man sieht leicht: daß, wenn man diese lebhafte und wahrscheinlich für ihre Zeit auch einzige p o p u l ä r e Vorstellungsart von ihrer mystischen Hülle entkleidet, sie (ihr Geist und Vernunftsinn) für alle Welt, zu aller Zeit praktisch gültig und verbindlich gewesen, weil sie jedem Menschen nahe genug liegt, um hierüber seine Pflicht zu erkennen. Dieser Sinn besteht darin, daß es schlechterdings kein Heil für die Menschen gebe, als in innigster Aufnehmung ächter sittlicher Grundsätze in ihre Gesinnung: daß dieser Aufnahme nicht etwa die so oft beschuldigte Sinnlichkeit, sondern eine gewisse selbst verschuldete Verkehrtheit, oder wie man diese Bösartigkeit noch sonst nennen will, Betrug (fausseté, Satanslist, wodurch das Böse in die Welt gekommen) entgegen wirkt, eine Verderbtheit, welche in allen Menschen liegt und durch nichts überwältigt werden kann, als durch die Idee des Sittlichguten in seiner ganzen Reinigkeit mit dem Bewußtsein, daß sie wirklich zu unserer ursprünglichen Anlage gehöre, und man nur beflissen sein müsse, sie von aller unlauteren Beimischung frei zu erhalten und sie tief in unsere Gesinnung aufzunehmen, um durch die Wirkung, die sie allmählig aufs Gemüth thut, überzeugt zu werden, daß die gefürchteten Mächte des Bösen dagegen nichts ausrichten (‚die Pforten der Hölle sie nicht überwältigen‘) können, und daß, damit wir nicht etwa den Mangel dieses Zutrauens a b e r g l ä u b i s c h durch Expiationen, die keine Sinnesänderung voraussetzen, oder s c hwä r m e r i s c h durch vermeinte (bloß passive) innere Erleuchtungen ergänzen und so von dem auf Selbstthätigkeit gegründeten Guten immer entfernt gehalten werden, wir ihm kein anderes Merkmal, als das eines wohlgeführten Lebenswandels unterlegen sollen.“ 87 Vgl. RGV, B 191 ff. / A 181 ff. (AA V I, 128 f.): „Der Lehrer des Evangeliums kündigte sich als einen vom Himmel gesandten, indem er zugleich als einer solchen Sendung würdig den Frohnglauben (an gottesdienstliche Tage, Bekenntnisse und Gebräuche) für an sich nichtig, den moralischen dagegen, der allein die Menschen heiligt, ‚wie ihr Vater im Himmel heilig ist‘, und durch den guten Lebenswandel seine Ächtheit beweist, für den alleinseligmachenden erklärte, nachdem er aber durch Lehre und Leiden bis zum unverschuldeten und zugleich verdienstlichen Tode […] an seiner Person ein dem Urbilde der allein Gott wohlgefälligen Menschheit gemäßes Beispiel gegeben hatte, als zum Himmel, aus dem er gekommen war,
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wieder zurückkehrend vorgestellt wird, indem er seinen letzten Willen (gleich als in einem Testamente) mündlich zurückließ und, was die Kraft der Erinnerung an sein Verdienst, Lehre und Beispiel betrifft, doch sagen konnte, ‚er (das Ideal der Gott wohlgefälligen Menschheit) bleibe nichts destoweniger bei seinen Lehrjüngern bis an der Welt Ende‘.“ Vgl. dazu Rößner: Der „Grenzgott der Moral“, 466 f. 88 Vgl. RGV, B 112 f. / A 103 (AA V I, 82): „Da aber das Reich, in welchem P r i n c i p ie n machthabend sind (sie mögen nun gut oder böse sein), nicht ein Reich der Natur, sondern der Freiheit ist, d. i. ein solches, in welchem man über die Sachen nur in sofern disponiren kann, als man über die Gemüther herrscht, in welchem also niemand Sklave (Leibeigner) ist als der – und solange er es sein will: so war eben dieser Tod (die höchste Stufe der Leiden eines Menschen) die Darstellung des guten Princips, nämlich der Menschheit, in ihrer moralischen Vollkommenheit, als Beispiel der Nachfolge für Jedermann. Die Vorstellung desselben sollte und konnte auch für seine, ja sie kann für jede Zeit vom größten Einflusse auf menschliche Gemüther sein, indem es die Freiheit der Kinder des Himmels und die Knechtschaft eines bloßen Erdensohns in dem allerauffallendsten Contraste sehen läßt.“ 89 Vgl. RGV, B 113 / A 103 f. (AA V I, 82): „Das gute Princip aber ist nicht bloß zu einer gewissen Zeit, sondern von dem Ursprunge des menschlichen Geschlechts an unsichtbarerweise vom Himmel in die Menschheit herabgekommen gewesen (wie ein jeder, der auf seine Heiligkeit und zugleich die Unbegreiflichkeit der Verbindung derselben mit der sinnlichen Natur des Menschen in der moralischen Anlage Acht hat, gestehen muß) und hat in ihr rechtlicherweise seinen ersten Wohnsitz. Da es also in einem wirklichen Menschen als einem Beispiele für alle andere erschien, ‚so kam er in sein Eigenthum, und die Seinen nahmen ihn nicht auf, denen aber, die ihn aufnahmen, hat er Macht gegeben, Gottes Kinder zu heißen, die an seinen Namen glauben‘; d. i. durch das Beispiel desselben (in der moralischen Idee) eröffnet er die Pforte der Freiheit für jedermann, die eben so wie er Allem dem absterben wollen, was sie zum Nachtheil der Sittlichkeit an das Erdenleben gefesselt hält“. 90 In Absetzung von augustinisch-neuplatonischen Theorien der Tradition sucht auch Kant das Böse als negative Position, d. h. als „eine reale Entgegensetzung und nicht bloß [als] ein[en] Mangel“ (NG, A 27 (AA II, 183)) zu denken; vgl. dazu Bernd Dörflinger: „Kant über das Böse“, in: Manfred Kugelstadt (Hg.): Kant-Lektionen. Zur Philosophie Kants und zu Aspekten ihrer Wirkungsgeschichte, Würzburg 2008, 81 – 107: 91 f.; zur Realrepugnanz von gut und böse vgl. auch RGV, BA 9 f., Anm. (AA V I, 22 f.); RGV, B 70 f. / A 6 4 f. (AA V I, 59); MS TL, A 10 (AA V I, 384); vgl. Rößner: „Der gute Wille und das böse Herz“, 76, Anm. u. 85. 91 Vgl. RGV, B 106 / A 99 (AA V I, 78): „Die heilige Schrift (christlichen Antheils) trägt dieses intelligible moralische Verhältniß in der Form einer Geschichte vor, da zwei wie Himmel und Hölle einander entgegengesetzte Principien im Menschen, als Personen außer ihm vorgestellt, nicht bloß ihre Macht gegen einander versuchen,
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sondern auch (der eine Theil als Ankläger, der andere als Sachwalter des Menschen) ihre Ansprüche gleichsam vor einem höchsten Richter d u r c h s Re c ht gelten machen wollen.“ Vgl. auch RGV, B 72 / A 66, Anm. (AA V I, 60): „Es ist eine Eigenthümlichkeit der christlichen Moral: das Sittlich-Gute vom Sittlich-Bösen nicht wie den Himmel von der E r de, sondern wie den Himmel von der Höl le unterschieden vorzustellen; eine Vorstellung, die zwar bildlich und als solche empörend, nichts destoweniger aber ihrem Sinn nach philosophisch richtig ist.“
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92 Vgl. RGV, B 127 / A 119 (AA V I, 93): „Der Kampf, den ein jeder moralisch wohl-
gesinnte Mensch unter der Anführung des guten Princips gegen die Anfechtungen des bösen in diesem Leben bestehen muß, kann ihm, wie sehr er sich auch bemüht, doch keinen größern Vortheil verschaffen, als die Befreiung von der He r r s c h a f t des letztern. Daß er f r e i, daß er ‚der Knechtschaft unter dem Sündengesetz entschlagen wird, um der Gerechtigkeit zu leben‘, das ist der höchste Gewinn, den er erringen kann. Den Angriffen des letztern bleibt er nichts destoweniger noch immer ausgesetzt; und seine Freiheit, die beständig angefochten wird, zu behaupten, muß er forthin immer zum Kampfe gerüstet bleiben.“ 93 Vgl. RGV, B 128 / A 120 (AA V I, 93): „In diesem gefahrvollen Zustande ist der Mensch gleichwohl durch seine eigene Schuld; folglich ist er ve r b u n de n, soviel er vermag, wenigstens Kraft anzuwenden, um sich aus demselben herauszuarbeiten.“ 94 Vgl. RGV, B 128 ff. / A 120 ff. (AA V I, 94): „Wenn nun keine Mittel ausgefunden werden könnten, eine ganz eigentlich auf die Verhütung dieses Bösen und zu Beförderung des Guten im Menschen abzweckende Vereinigung als eine bestehende und sich immer ausbreitende, bloß auf die Erhaltung der Moralität angelegte Gesellschaft zu errichten, welche mit vereinigten Kräften dem Bösen entgegenwirkte, so würde dieses, so viel der einzelne Mensch auch gethan haben möchte, um sich der Herrschaft desselben zu entziehen, ihn doch unabläßlich in der Gefahr des Rückfalls unter dieselbe erhalten. – Die Herrschaft des guten Princips, so fern Menschen dazu hinwirken können, ist also, so viel wir einsehen, nicht anders erreichbar, als durch Errichtung und Ausbreitung einer Gesellschaft nach Tugendgesetzen und zum Behuf derselben; einer Gesellschaft, die dem ganzen Menschengeschlecht in ihrem Umfange sie zu beschließen durch die Vernunft zur Aufgabe und zur Pflicht gemacht wird. – Denn so allein kann für das gute Princip über das Böse ein Sieg gehofft werden. Es ist von der moralisch-gesetzgebenden Vernunft außer den Gesetzen, die sie jedem Einzelnen vorschreibt, noch überdem eine Fahne der Tugend als Vereinigungspunkt für alle, die das Gute lieben, ausgesteckt, um sich darunter zu versammeln und so allererst über das sie rastlos anfechtende Böse die Oberhand zu bekommen. Man kann eine Verbindung der Menschen unter bloßen Tugendgesetzen nach Vorschrift dieser Idee eine e t h i s c he, und sofern diese Gesetze öffentlich
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sind, eine e t h i s c h - b ü r g e r l ic h e (im Gegensatz der r e c h t l ic h - b ü r g e r l ic h e n) Gesellschaft, oder ein e t h i s c he s g e m e i n e s We s e n nennen.“ 95 Vgl. RGV, B 131 f. / A 123 f. (AA V I, 95): „Ein r e c ht l ic h- bü r ge r l ic he r (politischer) Zu s t a n d ist das Verhältniß der Menschen untereinander, so fern sie gemeinschaftlich unter öf fe n t l ic he n Re c h t s g e s e t z e n (die insgesammt Zwangsgesetze sind) stehen. Ein e t h i s c h - b ü r g e r l ic he r Zustand ist der, da sie unter dergleichen zwangsfreien, d. i. bloßen Tu g e n d g e s e t z e n vereinigt sind. So wie nun dem ersteren der rechtliche (darum aber nicht immer rechtmäßige), d. i. der j u r i d i s c h e Na t u r z u s t a n d entgegengesetzt wird, so wird von dem letzteren der e t h i s c h e Na t u r z u s t a n d unterschieden. In beiden giebt ein jeder sich selbst das Gesetz, und es ist kein äußeres, dem er sich sammt allen andern unterworfen erkennte. In beiden ist ein jeder sein eigner Richter, und es ist keine öf fe n t l ic he machthabende Autorität da, die nach Gesetzen, was in vorkommenden Fällen eines jeden Pflicht sei, rechtskräftig bestimme und jene in allgemeine Ausübung bringe.“ 96 Vgl. RGV, B 133 f. / A 125 f. (AA V I, 96): „Übrigens, weil die Tugendpflichten das ganze menschliche Geschlecht angehen, so ist der Begriff eines ethischen gemeinen Wesens immer auf das Ideal eines Ganzen aller Menschen bezogen, und darin unterscheidet es sich von dem eines politischen. Daher kann eine Menge in jener Absicht vereinigter Menschen noch nicht das ethische gemeine Wesen selbst, sondern nur eine besondere Gesellschaft heißen, die zur Einhelligkeit mit allen Menschen (ja aller endlichen vernünftigen Wesen) hinstrebt, um ein absolutes ethisches Ganze zu errichten, wovon jede partiale Gesellschaft nur eine Vorstellung oder ein Schema ist, weil eine jede selbst wiederum im Verhältniß auf andere dieser Art als im ethischen Naturzustande sammt allen Unvollkommenheiten desselben befindlich vorgestellt werden kann (wie es auch mit verschiedenen politischen Staaten, die in keiner Verbindung durch ein öffentliches Völkerrecht stehen, eben so bewandt ist).“ 97 Vgl. RGV, B 130 / A 122 (AA V I, 94 f.): „ein e t h i s c he r St a a t, d. i. ein Re ic h der Tugend“. 98 Vgl. RGV, B 134 f. / A 126 f. (AA V I, 96 f.): „So wie der juridische Naturzustand ein Zustand des Krieges von jedermann gegen jedermann ist, so ist auch der ethische Naturzustand ein Zustand der unaufhörlichen Befehdung des guten Princips, das in jedem Menschen liegt, durch das Böse, welches in ihm und zugleich in jedem andern angetroffen wird, die sich (wie oben bemerkt worden) einander wechselseitig ihre moralische Anlage verderben und selbst bei dem guten Willen jedes einzelnen durch den Mangel eines sie vereinigenden Princips sich, gleich als ob sie We r k z e u ge de s B ö s e n wären, durch ihre Mißhelligkeiten von dem gemeinschaftlichen Zweck des Guten entfernen und einander in Gefahr bringen, seiner Herrschaft wiederum in die Hände zu fallen. So wie nun ferner der Zustand einer gesetzlosen äußeren (brutalen) Freiheit und Unabhängigkeit von Zwangsgesetzen ein Zustand der Ungerechtigkeit und des Krieges von jedermann gegen jedermann ist, aus welchem der Mensch herausgehen soll, um in einen politisch-bürgerlichen zu treten […]: so ist der ethische
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Naturzustand eine ö f f e n t l i c h e wechselseitige Befehdung der Tugendprincipien und ein Zustand der innern Sittenlosigkeit, aus welchem der natürliche Mensch so bald wie möglich herauszukommen sich befleißigen soll.“ 99 Vgl. RGV, B 135 f. / A 127 f. (AA V I, 97 f.): „Hier haben wir nun eine Pflicht von ihrer eignen Art nicht der Menschen gegen Menschen, sondern des menschlichen Geschlechts gegen sich selbst. Jede Gattung vernünftiger Wesen ist nämlich objectiv, in der Idee der Vernunft, zu einem gemeinschaftlichen Zwecke, nämlich der Beförderung des höchsten als eines gemeinschaftlichen Guts, bestimmt. Weil aber das höchste sittliche Gut durch die Bestrebung der einzelnen Person zu ihrer eigenen moralischen Vollkommenheit allein nicht bewirkt wird, sondern eine Vereinigung derselben in ein Ganzes zu eben demselben Zwecke zu einem System wohlgesinnter Menschen erfordert, in welchem und durch dessen Einheit es allein zu Stande kommen kann, die Idee aber von einem solchen Ganzen, als einer allgemeinen Republik nach Tugendgesetzen, eine von allen moralischen Gesetzen (die das betreffen, wovon wir wissen, daß es in unserer Gewalt stehe) ganz unterschiedene Idee ist, nämlich auf ein Ganzes hinzuwirken, wovon wir nicht wissen können, ob es als ein solches auch in unserer Gewalt stehe: so ist die Pflicht der Art und dem Princip nach von allen andern unterschieden.“ 100 Vgl. RGV, B 136 ff. / A 128 ff. (AA V I, 97 ff.): „Man wird schon zum voraus vermuthen, daß diese Pflicht der Voraussetzung einer andern Idee, nämlich der eines höhern moralischen Wesens, bedürfen werde, durch dessen allgemeine Veranstaltung die für sich unzulänglichen Kräfte der Einzelnen zu einer gemeinsamen Wirkung vereinigt werden. Allein wir müssen allererst dem Leitfaden jenes sittlichen Bedürfnisses überhaupt nachgehen und sehen, worauf uns dieses führen werde. Wenn ein ethisches gemeines Wesen zu Stande kommen soll, so müssen alle Einzelne einer öffentlichen Gesetzgebung unterworfen werden, und alle Gesetze, welche jene verbinden, müssen als Gebote eines gemeinschaftlichen Gesetzgebers angesehen werden können. […] Denn in einem solchen gemeinen Wesen sind alle Gesetze ganz eigentlich darauf gestellt, die M o r a l i t ä t der Handlungen (welche etwas I n n e r l i c h e s ist, mithin nicht unter öffentlichen menschlichen Gesetzen stehen kann) zu befördern, da im Gegentheil die letzteren, welches ein juridisches gemeines Wesen ausmachen würde, nur auf die L e g a l i t ä t der Handlungen, die in die Augen fällt, gestellt sind und nicht auf die (innere) Moralität, von der hier allein die Rede ist.“ 101 Vgl. RGV, B 132 f. / A 124 f. (AA V I, 95 f.): „In einem schon bestehenden politischen gemeinen Wesen befinden sich alle politische Bürger als solche doch im e t h i s c he n Na t u r z u s t a n de und sind berechtigt, auch darin zu bleiben; denn daß jenes seine Bürger zwingen sollte, in ein ethisches gemeines Wesen zu treten, wäre ein Widerspruch (in adjecto), weil das letztere schon in seinem Begriffe die Zwangsfreiheit bei sich führt. Wünschen kann es wohl jedes politische gemeine Wesen, daß in ihm auch eine Herrschaft über die Gemüther nach Tugendgesetzen angetroffen
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werde; denn wo jener ihre Zwangsmittel nicht hinlangen, weil der menschliche Richter das Innere anderer Menschen nicht durchschauen kann, da würden die Tugendgesinnungen das Verlangte bewirken. Weh aber dem Gesetzgeber, der eine auf ethische Zwecke gerichtete Verfassung durch Zwang bewirken wollte! Denn er würde dadurch nicht allein gerade das Gegentheil der ethischen bewirken, sondern auch seine politische untergraben und unsicher machen. – Der Bürger des politischen gemeinen Wesens bleibt also, was die gesetzgebende Befugniß des letztern betrifft, völlig frei: ob er mit andern Mitbürgern überdem auch in eine ethische Vereinigung treten, oder lieber im Naturzustande dieser Art bleiben wolle. Nur so fern ein ethisches gemeines Wesen doch auf öf fe n t l ic he n Gesetzen beruhen und eine darauf sich gründende Verfassung enthalten muß, werden diejenigen, die sich freiwillig verbinden, in diesen Zustand zu treten, sich von der politischen Macht nicht, wie sie solche innerlich einrichten oder nicht einrichten sollen, befehlen, aber wohl Einschränkungen gefallen lassen müssen, nämlich auf die Bedingung, daß darin nichts sei, was der Pflicht ihrer Glieder als St a a t s b ü r g e r widerstreite; wiewohl, wenn die erstere Verbindung ächter Art ist, das letztere ohnedem nicht zu besorgen ist.“ 102 Vgl. RGV, B 138 f. / A 130 f. (AA V I, 99): „Gleichwohl können ethische Gesetze auch nicht als bloß von dem Willen dieses Obern u r s p r ü n g l ic h ausgehend (als Statute, die etwa, ohne daß sein Befehl vorher ergangen, nicht verbindend sein würden) gedacht werden, weil sie alsdann keine ethische Gesetze und die ihnen gemäße Pflicht nicht freie Tugend, sondern zwangsfähige Rechtspflicht sein würde. Also kann nur ein solcher als oberster Gesetzgeber eines ethischen gemeinen Wesens gedacht werden, in Ansehung dessen alle wa h r e n P f l i c h t e n, mithin auch die ethischen […], z u g le ic h als seine Gebote vorgestellt werden müssen; welcher daher auch ein Herzenskündiger sein muß, um auch das Innerste der Gesinnungen eines jeden zu durchschauen und, wie es in jedem gemeinen Wesen sein muß, jedem, was seine Thaten werth sind, zukommen zu lassen. Dieses ist aber der Begriff von Gott als einem moralischen Weltherrscher. Also ist ein ethisches gemeines Wesen nur als ein Volk unter göttlichen Geboten, d. i. als ein Vol k G o t t e s, und zwar n a c h Tu g e n d g e s e t z e n, zu denken möglich.“ 103 Vgl. RGV, B 142 ff. / A 134 ff. (AA V I, 101 f.): „Ein ethisches gemeines Wesen unter der göttlichen moralischen Gesetzgebung ist eine K i r c he, welche, so fern sie kein Gegenstand möglicher Erfahrung ist, die u n s i c h t b a r e K i r c h e heißt (eine bloße Idee von der Vereinigung aller Rechtschaffenen unter der göttlichen unmittelbaren, aber moralischen Weltregierung, wie sie jeder von Menschen zu stiftenden zum Urbilde dient). Die s i c h t b a r e ist die wirkliche Vereinigung der Menschen zu einem Ganzen, das mit jenem Ideal zusammenstimmt. […] Die wahre (sichtbare) Kirche ist diejenige, welche das (moralische) Reich Gottes auf Erden, so viel es durch Menschen geschehen kann, darstellt. Die Erfordernisse, mithin auch die Kennzeichen der wahren Kirche sind folgende: 1. Die A l l g e m e i n h e i t , folglich
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numerische E i n h e i t derselben; wozu sie die Anlage in sich enthalten muß: daß nämlich, ob sie zwar in zufällige Meinungen getheilt und uneins, doch in Ansehung der wesentlichen Absicht auf solche Grundsätze errichtet ist, welche sie nothwendig zur allgemeinen Vereinigung in eine einzige Kirche führen müssen (also keine Sektenspaltung). 2. Die B e s c h a f f e n h e i t (Qualität) derselben; d. i. die L a u t e r k e i t, die Vereinigung unter keinen andern als m o r a l i s c he n Triebfedern (gereinigt vom Blödsinn des Aberglaubens und dem Wahnsinn der Schwärmerei). 3. Das Ve r h ä l t n i ß unter dem Princip der F r e i he i t ; sowohl das innere Verhältniß ihrer Glieder untereinander, als auch das äußere der Kirche zur politischen Macht, beides in einem F r e i s t a a t (also weder H ie r a r c h ie, noch I l l u m i n a t i s m, eine Art von D e m ok r a t ie durch besondere Eingebungen, die nach jedes seinem Kopfe von andrer ihrer verschieden sein können). 4. Die M o d a l i t ä t derselben, die Unve r ä n de r l ic h k e i t ihrer C on s t i t u t i on nach, doch mit dem Vorbehalt der nach Zeit und Umständen abzuändernden, bloß die A d m i n i s t r a t i on derselben betreffenden zufälligen Anordnungen, wozu sie doch auch die sichern Grundsätze schon in sich selbst (in der Idee ihres Zwecks) a priori enthalten muß (also unter ursprünglichen, einmal gleich als durch ein Gesetzbuch öffentlich zur Vorschrift gemachten Gesetzen, nicht willkürlichen Symbolen, die, weil ihnen die Authenticität mangelt, zufällig, dem Widerspruche ausgesetzt und veränderlich sind).“ 104 Dazu, daß „alle Religion darin besteht: daß wir Gott für alle unsere Pflichten als den allgemein zu verehrenden Gesetzgeber ansehen“, vgl. RGV, B 147 / A 139 (AA V I, 103). Im Hintergrund steht Kants Religionsdefinition als „Inbegriff […] aller unserer Pflichten überhaupt als göttlicher G e b o t e“ (SF, A 4 4 f. (AA V II, 36)); vgl. KpV, A 233 (AA V, 129); KU, B 477 / A 471 (AA V, 481); RGV, B 116 / A 107 (AA V I, 84); RGV, B 158 / A 150 (AA V I, 110); RGV, B 229 / A 215 (AA V I, 153); RGV, B 286, Anm. (AA V I, 185); MS TL, A 108 (AA V I, 443); OP (AA X XI, 12; 17; 20; 22; 30; 50; 74; 79); OP (AA X XII, 51 f.; 53; 56 f.; 108; 117; 122; 125; 127 f.); HN (AA X XIII, 170); V-MS/ Vigil (AA X XVII, 713); vgl. dazu Magnus Striet: „‚Erkenntnis aller Pflichten als göttlicher Gebote‘. Bleibende Relevanz und Grenzen von Kants Religionsphilosophie“, in: Georg Essen u. Magnus Striet (Hg.): Kant und die Theologie, Darmstadt 2005, 162 – 186; John E. Hare: „On Recognizing our Duties as God’s Commands“, in: Heiner F. Klemme, Manfred Kühn u. Dieter Schönecker (Hg.): Moralische Motivation. Kant und die Alternativen (Kant-Forschungen, Bd. 16), Hamburg 2006, 275 – 285. 105 Vgl. RGV, B 147 f. / A 139 f. (AA V I, 104): „Ein göttlicher gesetzgebender Wille aber gebietet entweder durch an sich bloß s t a t ut a r i s c he, oder durch r e i n mora l i s c he Gesetze. In Ansehung der letztern kann ein jeder aus sich selbst durch seine eigene Vernunft den Willen Gottes, der seiner Religion zum Grunde liegt, erkennen; denn eigentlich entspringt der Begriff von der Gottheit nur aus dem Bewußtsein dieser Gesetze und dem Vernunftbedürfnisse, eine Macht anzunehmen, welche diesen den ganzen in einer Welt möglichen, zum sittlichen Endzweck zusammenstimmenden Effect verschaffen kann. Der Begriff eines nach bloßen rein moralischen Geset-
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zen bestimmten göttlichen Willens läßt uns, wie nur e i n e n Gott, also auch nur e i n e Religion denken, die rein moralisch ist. Wenn wir aber statutarische Gesetze desselben annehmen und in unserer Befolgung derselben die Religion setzen, so ist die Kenntniß derselben nicht durch unsere eigene bloße Vernunft, sondern nur durch Offenbarung möglich, welche, sie mag nun jedem einzelnen ingeheim oder öffentlich gegeben werden, um durch Tradition oder Schrift unter Menschen fortgepflanzt zu werden, ein h i s t o r i s c he r, nicht ein r e i n e r Ve r nu n f t g l au b e sein würde.“ Vgl. SF, A 73 (AA V II, 49): „Glaubenssätze, welche zugleich als göttliche Gebote gedacht werden sollen, sind nun entweder blos s t a t u t a r i s c h, mithin für uns zufällig und Offenbarungslehren, oder m o r a l i s c h, mithin mit dem Bewußtsein ihrer Nothwendigkeit verbunden und a priori erkennbar, d. i. Ve r nu n f t le h r e n des Glaubens. Der Inbegriff der ersteren Lehren macht den K i r c he n -, der anderen aber den reinen Re l i g i on s g l au b e n aus“. 106 Vgl. RGV, B 148 / A 140 (AA V I, 104): „Es mögen nun aber auch statutarische göttliche Gesetze (die sich nicht von selbst als verpflichtend, sondern nur als geoffenbarter göttlicher Wille für solche erkennen lassen) angenommen werden: so ist doch die reine m o r a l i s c he Gesetzgebung, dadurch der Wille Gottes ursprünglich in unser Herz geschrieben ist, nicht allein die unumgängliche Bedingung aller wahren Religion überhaupt, sondern sie ist auch das, was diese selbst eigentlich ausmacht, und wozu die statutarische nur das Mittel ihrer Beförderung und Ausbreitung enthalten kann.“ 107 Vgl. RGV, B 145 ff. / A 137 ff. (AA V I, 103): „Allein es ist eine besondere Schwäche der menschlichen Natur daran Schuld, daß auf jenen reinen Glauben niemals so viel gerechnet werden kann, als er wohl verdient, nämlich eine Kirche auf ihn allein zu gründen. Die Menschen, ihres Unvermögens in Erkenntniß übersinnlicher Dinge sich bewußt, ob sie zwar jenem Glauben (als welcher im Allgemeinen für sie überzeugend sein muß) alle Ehre widerfahren lassen, sind doch nicht leicht zu überzeugen: daß die standhafte Beflissenheit zu einem moralisch-guten Lebenswandel alles sei, was Gott von Menschen fordert, um ihm wohlgefällige Unterthanen in seinem Reiche zu sein. Sie können sich ihre Verpflichtung nicht wohl anders, als zu irgend einem D ie n s t denken, den sie Gott zu leisten haben; wo es nicht sowohl auf den innern moralischen Werth der Handlungen, als vielmehr darauf ankommt, daß sie Gott geleistet werden, um, so moralisch indifferent sie auch an sich selbst sein möchten, doch wenigstens durch passiven Gehorsam Gott zu gefallen. Daß sie, wenn sie ihre Pflichten gegen Menschen (sich selbst und andere) erfüllen, eben dadurch auch göttliche Gebote ausrichten, mithin in allem ihrem Thun und Lassen, sofern es Beziehung auf Sittlichkeit hat, b e s t ä n d i g i m D ie n s te G o t te s sind, und daß es auch schlechterdings unmöglich sei, Gott auf andere Weise näher zu dienen (weil sie doch auf keine andern, als blos auf Weltwesen, nicht aber auf Gott wirken und Einfluß haben können), will ihnen nicht in den Kopf. Weil ein jeder große Herr der Welt ein besonderes Bedürfniß hat, von seinen Unterthanen g e e h r t und durch
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Unterwürfigkeitsbezeigungen g e p r ie s e n zu werden, ohne welches er nicht so viel Folgsamkeit gegen seine Befehle, als er wohl nöthig hat, um sie beherrschen zu können, von ihnen erwarten kann; überdem auch der Mensch, so vernunftvoll er auch sein mag, an Ehrenbezeugungen doch immer ein unmittelbares Wohlgefallen findet: so behandelt man die Pflicht, so fern sie zugleich göttliches Gebot ist, als Betreibung einer A n g e l e g e n h e i t Gottes, nicht des Menschen, und so entspringt der Begriff einer g o t t e s d ie n s t l ic he n statt des Begriffs einer reinen moralischen Religion.“ 108 Vgl. RGV, B 151 f. / A 142 ff. (AA V I, 106): „In der Zweifelhaftigkeit dieser Aufgabe nun, ob Gott oder die Menschen selbst eine Kirche gründen sollen, beweist sich nun der Hang der letztern zu einer g o t t e s d ie n s t l ic he n Re l i g i on (cultus) und, weil diese auf willkürlichen Vorschriften beruht, zum Glauben an statutarische göttliche Gesetze unter der Voraussetzung, daß über dem besten Lebenswandel (den der Mensch nach Vorschrift der rein moralischen Religion immer einschlagen mag) doch noch eine durch Vernunft nicht erkennbare, sondern eine der Offenbarung bedürftige göttliche Gesetzgebung hinzukommen müsse; womit es unmittelbar auf Verehrung des höchsten Wesens (nicht vermittelst der durch Vernunft uns schon vorgeschriebenen Befolgung seiner Gebote) angesehen ist. Hierdurch geschieht es nun, daß Menschen die Vereinigung zu einer Kirche und die Einigung in Ansehung der ihr zu gebenden Form, imgleichen öf fe n t l ic he Veranstaltungen zur Beförderung des Moralischen in der Religion niemals für an sich nothwendig halten werden; sondern nur um durch Feierlichkeiten, Glaubensbekenntnisse geoffenbarter Gesetze und Beobachtung der zur Form der Kirche (die doch selbst bloß Mittel ist) gehörigen Vorschriften, wie sie sagen, ihrem Gott zu dienen; obgleich alle diese Observanzen im Grunde moralisch-indifferente Handlungen sind, eben darum aber, weil sie bloß um seinetwillen geschehen sollen, für ihm desto gefälliger gehalten werden. Der Kirchenglaube geht also in der Bearbeitung der Menschen zu einem ethischen gemeinen Wesen natürlicherweise […] vor dem reinen Religionsglauben vorher, und Te m p e l (dem öffentlichen Gottesdienste geweihte Gebäude) waren eher als K i r c he n (Versammlungsörter zur Belehrung und Belebung in moralischen Gesinnungen), P r ie s t e r (geweihte Verwalter frommer Gebräuche) eher als G e i s tl ic he (Lehrer der rein moralischen Religion) und sind es mehrentheils auch noch im Range und Werthe, den ihnen die große Menge zugesteht.“ 109 Vgl. RGV, B 152 f. / A 144 f. (AA V I, 106 f.): „Wenn es nun also einmal nicht zu ändern steht, daß nicht ein statutarischer K i r c h e n g l a u b e dem reinen Reli gionsglauben als Vehikel und Mittel der öffentlichen Vereinigung der Menschen zur Beförderung des Letztern beigegeben werde, so muß man auch eingestehen, daß die unveränderliche Aufbehaltung desselben, die allgemeine einförmige Ausbreitung und selbst die Achtung für die in ihm angenommene Offenbarung schwerlich durch Tr a d i t i on, sondern nur durch S c h r i f t, die selbst wiederum als Offenbarung für Zeitgenossen und Nachkommenschaft ein Gegenstand der Hochachtung
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sein muß, hinreichend gesorgt werden kann; denn das fordert das Bedürfniß der Menschen, um ihrer gottesdienstlichen Pflicht gewiß zu sein. Ein heiliges Buch erwirbt sich selbst bei denen (und gerade bei diesen am meisten), die es nicht lesen, wenigstens sich daraus keinen zusammenhängenden Religionsbegriff machen können, die größte Achtung, und alles Vernünfteln verschlägt nichts wider den alle Einwürfe niederschlagenden Machtspruch: d a s t e h t s g e s c h r ie b e n .“ Vgl. auch RGV, B 162 / A 153 (AA V I, 112): „Das Ansehen der Schrift, als des würdigsten und jetzt in dem aufgeklärtesten Welttheile einzigen Instruments der Vereinigung aller Menschen in eine Kirche, macht den Kirchenglauben aus, der als Volksglaube nicht vernachlässigt werden kann, weil dem Volke keine Lehre zu einer unveränderlichen Norm tauglich zu sein scheint, die auf bloße Vernunft gegründet ist, und es göttliche Offenbarung, mithin auch eine historische Beglaubigung ihres Ansehens durch die Deduction ihres Ursprungs fordert.“ 110 Vgl. SF, A 54 (AA V II, 40 f.): „In der Auslegung der Schriftstellen, in welchen der Ausdruck unserm Vernunftbegriff von der göttlichen Natur und seinem Willen widerstreitet, haben biblische Theologen sich längst zur Regel gemacht, daß, was menschlicherweise (ανθρωποπαθως) ausgedrückt ist, nach einem gottwürdigen Sinne (θεοπρεπως) müsse au s g e le g t werden; wodurch sie dann ganz deutlich das Bekenntniß ablegten, die Vernunft sei in Religionssachen die oberste Auslegerin der Schrift.“ 111 Vgl. RGV, B 161 f. / A 152 f. (AA V I, 111 f.): „Denn selbst das Lesen dieser heiligen Schriften, oder die Erkundigung nach ihrem Inhalt hat zur Endabsicht, bessere Menschen zu machen; das Historische aber, was dazu nichts beiträgt, ist etwas an sich ganz Gleichgültiges, mit dem man es halten kann, wie man will. – (Der Geschichtsglaube ist ‚todt an ihm selber‘, d. i. für sich, als Bekenntniß betrachtet, enthält er nichts, führt auch auf nichts, was einen moralischen Werth für uns hätte). Wenn also gleich eine Schrift als göttliche Offenbarung angenommen worden, so wird doch das oberste Kriterium derselben als einer solchen sein: ‚Alle Schrift, von Gott eingegeben, ist nützlich zur Lehre, zur Strafe, zur Besserung u.s.w.‘; und da das letztere, nämlich die moralische Besserung des Menschen, den eigentlichen Zweck aller Vernunftreligion ausmacht, so wird diese auch das oberste Princip aller Schriftauslegung enthalten. Diese Religion ist ‚der Geist Gottes, der uns in alle Wahrheit leitet‘ [Joh 16, 13; vgl. RGV, B 220 / A 207, Anm. (AA V I, 145); SF, A 17 (AA V II, 24)]. Dieser aber ist derjenige, der, indem er uns b e le h r t, auch zugleich mit Grundsätzen zu Handlungen b e le b t, und er bezieht alles, was die Schrift für den historischen Glauben noch enthalten mag, gänzlich auf die Regeln und Triebfedern des reinen moralischen Glaubens, der allein in jedem Kirchenglauben dasjenige ausmacht, was darin eigentliche Religion ist. Alles Forschen und Auslegen der Schrift muß von dem Princip ausgehen, diesen Geist darin zu suchen, und ‚man kann das ewige Leben darin nur finden, sofern sie von diesem Princip zeuget‘.“
176 Kommentar 112 Vgl. RGV, B 162 / A 153 (AA V I, 112): „Diesem Schriftausleger [dem reinen
moralischen Glauben resp. der Vernunft] ist nun noch ein anderer beigesellt, aber untergeordnet, nämlich der S c h r i f t g e le h r t e.“ 113 Vgl. RGV, B 164 ff. / A 155 f. (AA V I, 113 f.): „Aber es tritt noch ein dritter Prätendent zum Amte eines Auslegers auf, welcher weder Vernunft, noch Gelehrsamkeit, sondern nur ein inneres G e f ü h l bedarf, um den wahren Sinn der Schrift und zugleich ihren göttlichen Ursprung zu erkennen. Nun kann man freilich nicht in Abrede ziehen, daß, ‚wer ihrer Lehre folgt, und das t hu t, was sie vorschreibt, allerdings finden wird, daß sie von Gott sei‘, und daß selbst der Antrieb zu guten Handlungen und zur Rechtschaffenheit im Lebenswandel, den der Mensch, der sie liest oder ihren Vortrag hört, fühlen muß, ihn von der Göttlichkeit derselben überführen müsse: weil er nichts anders, als die Wirkung von dem den Menschen mit inniglicher Achtung erfüllenden moralischen Gesetze ist, welches darum auch als göttliches Gebot angesehen zu werden verdient. Aber so wenig wie aus irgend einem Gefühl Erkenntniß der Gesetze, und daß diese moralisch sind, eben so wenig und noch weniger kann durch ein Gefühl das sichere Merkmal eines unmittelbaren göttlichen Einflusses gefolgert und ausgemittelt werden: weil zu derselben Wirkung mehr als eine Ursache statt finden kann, in diesem Falle aber die bloße Moralität des Gesetzes (und der Lehre), durch die Vernunft erkannt, die Ursache derselben ist, und selbst in dem Falle der bloßen Möglichkeit dieses Ursprungs es Pflicht ist, ihm die letztere Deutung zu geben, wenn man nicht aller Schwärmerei Thür und Thor öffnen und nicht selbst das unzweideutige moralische Gefühl durch die Verwandtschaft mit jedem andern phantastischen um seine Würde bringen will. – Gefühl, wenn das Gesetz, woraus oder auch wornach es erfolgt, vorher bekannt ist, hat jeder nur für sich und kann es andern nicht zumuthen, also auch nicht als einen Probirstein der Ächtheit einer Offenbarung anpreisen, denn es lehrt schlechterdings nichts, sondern enthält nur die Art, wie das Subject in Ansehung seiner Lust oder Unlust afficirt wird, worauf gar keine Erkenntniß gegründet werden kann.“ 114 Vgl. RGV, B 167 / A 157 f. (AA V I, 115): „Das Kennzeichen der wahren Kirche ist ihre A l l g e m e i n h e i t ; hievon aber ist wiederum das Merkmal ihre Nothwendigkeit und ihre nur auf eine einzige Art mögliche Bestimmbarkeit. Nun hat der historische Glaube (der auf Offenbarung als Erfahrung gegründet ist) nur particuläre Gültigkeit, für die nämlich, an welche die Geschichte gelangt ist, worauf er beruht, und enthält wie alle Erfahrungserkenntniß nicht das Bewußtsein, daß der geglaubte Gegenstand so und nicht anders sein mü s s e, sondern nur, daß er so sei, in sich; mithin enthält er zugleich das Bewußtsein seiner Zufälligkeit. Also kann er zwar zum Kirchenglauben (deren es mehrere geben kann) zulangen, aber nur der reine Religionsglaube, der sich gänzlich auf Vernunft gründet, kann als nothwendig, mithin für den einzigen erkannt werden, der die wa h r e Kirche auszeichnet.“ 115 Vgl. RGV, B 167 f. / A 158 f. (AA V I, 115 f.): „Wenn also gleich (der unvermeidlichen Einschränkung der menschlichen Vernunft gemäß) ein historischer Glaube
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als Leitmittel die reine Religion afficirt, doch mit dem Bewußtsein, daß er bloß ein solches sei, und dieser als Kirchenglaube ein Princip bei sich führe, dem reinen Religionsglauben sich continuirlich zu nähern, um jenes Leitmittel endlich entbehren zu können, so kann eine solche Kirche immer die wa h r e heißen, da aber über historische Glaubenslehren der Streit nie vermieden werden kann, nur die s t r e i t e n de Kirche genannt werden; doch mit der Aussicht, endlich in die unveränderliche und alles vereinigende t r i u m p h i r e n de auszuschlagen! Man nennt den Glauben jedes einzelnen, der die moralische Empfänglichkeit (Würdigkeit) mit sich führt, ewig glückselig zu sein, den s e l i g m a c h e n d e n Glauben. Dieser kann also auch nur ein einziger sein und bei aller Verschiedenheit des Kirchenglaubens doch in jedem angetroffen werden, in welchem er, sich auf sein Ziel, den reinen Religionsglauben, beziehend, praktisch ist. Der Glaube einer gottesdienstlichen Religion ist dagegen ein F r oh n - und Lohnglaube (fides mercennaria, servilis) und kann nicht für den seligmachenden angesehen werden, weil er nicht moralisch ist. Denn dieser muß ein freier, auf lautere Herzensgesinnungen gegründeter Glaube (fides ingenua) sein. Der erstere wähnt durch Handlungen (des cultus), welche (obzwar mühsam) doch für sich keinen moralischen Werth haben, mithin nur durch Furcht oder Hoffnung abgenöthigte Handlungen sind, die auch ein böser Mensch ausüben kann, Gott wohlgefällig zu werden, anstatt daß der letztere dazu eine moralisch gute Gesinnung als nothwendig voraussetzt.“ 116 Vgl. RGV, B 168 f. / A 159 f. (AA V I, 116): „Der seligmachende Glaube enthält zwei Bedingungen seiner Hoffnung der Seligkeit: die eine in Ansehung dessen, was er selbst nicht thun kann, nämlich seine geschehene Handlungen rechtlich (vor einem göttlichen Richter) ungeschehen zu machen, die andere in Ansehung dessen, was er selbst thun kann und soll, nämlich in einem neuen, seiner Pflicht gemäßen Leben zu wandeln. Der erstere Glaube ist der an eine Genugthuung (Bezahlung für seine Schuld, Erlösung, Versöhnung mit Gott), der zweite ist der Glaube in einem ferner zu führenden guten Lebenswandel Gott wohlgefällig werden zu können.“ 117 Vgl. RGV, B 169 f. / A 160 (AA V I, 116): „Beide Bedingungen machen nur einen Glauben aus und gehören nothwendig zusammen. Man kann aber die Nothwendigkeit einer Verbindung nicht anders einsehen, als wenn man annimmt, es lasse sich eine von der andern ableiten, also daß entweder der Glaube an die Lossprechung von der auf uns liegenden Schuld den guten Lebenswandel, oder daß die wahrhafte und thätige Gesinnung eines jederzeit zu führenden guten Lebenswandels den Glauben an jene Lossprechung nach dem Gesetze moralisch wirkender Ursachen hervorbringe. Hier zeigt sich nun eine merkwürdige Antinomie der menschlichen Vernunft mit ihr selbst, deren Auflösung, oder, wenn diese nicht möglich sein sollte, wenigstens Beilegung es allein ausmachen kann, ob ein historischer (Kirchen-) Glaube jederzeit als wesentliches Stück des seligmachenden über den reinen Religionsglauben hinzukommen müsse, oder ob er als bloßes Leitmittel endlich, wie fern diese Zukunft auch sei, in den reinen Religionsglauben übergehen könne.“
178 Kommentar 118 Vgl. RGV, B 170 f. / A 160 ff. (AA V I, 116 f.): „Vorausgesetzt, daß für die Sünden
des Menschen eine Genugthuung geschehen sei, so ist zwar wohl begreiflich, wie ein jeder Sünder sie gern auf sich beziehen möchte und, wenn es bloß aufs G l au b e n ankommt (welches soviel als Erklärung bedeutet, er wolle, sie sollte auch für ihn geschehen sein), deshalb nicht einen Augenblick Bedenken tragen würde. Allein es ist gar nicht einzusehen, wie ein vernünftiger Mensch, der sich strafschuldig weiß, im Ernst glauben könne, er habe nur nöthig, die Botschaft von einer für ihn geleisteten Genugthuung zu glauben und sie (wie die Juristen sagen) utiliter anzunehmen, um seine Schuld als getilgt anzusehen, und zwar dermaßen (mit der Wurzel sogar), daß auch fürs künftige ein guter Lebenswandel, um den er sich bisher nicht die mindeste Mühe gegeben hat, von diesem Glauben und der Acceptation der angebotenen Wohlthat die unausbleibliche Folge sein werde. Diesen Glauben kann kein überlegender Mensch, so sehr auch die Selbstliebe öfters den bloßen Wunsch eines Gutes, wozu man nichts thut oder thun kann, in Hoffnung verwandelt, als werde sein Gegenstand, durch die bloße Sehnsucht gelockt, von selbst kommen, in sich zuwege bringen. Man kann dieses sich nicht anders möglich denken, als daß der Mensch sich diesen Glauben selbst als ihm himmlisch eingegeben und so als etwas, worüber er seiner Vernunft weiter keine Rechenschaft zu geben nöthig hat, betrachte. Wenn er dies nicht kann, oder noch zu aufrichtig ist, ein solches Vertrauen als bloßes Einschmeichelungsmittel in sich zu erkünsteln, so wird er bei aller Achtung für eine solche überschwengliche Genugthuung, bei allem Wunsche, daß eine solche auch für ihn offen stehen möge, doch nicht umhin können, sie nur als bedingt anzusehen, nämlich daß sein, soviel in seinem Vermögen ist, gebesserter Lebenswandel vorhergehen müsse, um auch nur den mindesten Grund zur Hoffnung zu geben, ein solches höheres Verdienst könne ihm zu Gute kommen. – Wenn also das historische Erkenntniß von dem letztern zum Kirchenglauben, der erstere aber als Bedingung zum reinen moralischen Glauben gehört, s o w i r d d ie s e r vo r je n e m vo r he r g e h e n mü s s e n .“ 119 Vgl. RGV, B 171 f. / A 162 f. (AA V I, 117): „Wenn aber der Mensch von Natur verderbt ist, wie kann er glauben, aus sich, er mag sich auch bestreben, wie er wolle, einen neuen, Gott wohlgefälligen Menschen zu machen, wenn er – sich der Vergehungen, deren er sich bisher schuldig gemacht hat, bewußt – noch unter der Macht des bösen Princips steht und in sich kein hinreichendes Vermögen antrifft, es künftighin besser zu machen ? Wenn er nicht die Gerechtigkeit, die er selbst wider sich erregt hat, durch fremde Genugthuung als versöhnt, sich selbst aber durch diesen Glauben gleichsam als neugeboren ansehen und so allererst einen neuen Lebenswandel antreten kann, der alsdann die Folge von dem mit ihm vereinigten guten Princip sein würde, worauf will er seine Hoffnung ein Gott gefälliger Mensch zu werden gründen ? – Also muß der Glaube an ein Verdienst, das nicht das seinige ist, und wodurch er mit Gott versöhnt wird, vor aller Bestrebung zu guten Werken vorhergehen; welches dem vorigen Satze widerstreitet.“
Kommentar 179 120 Vgl. RGV, B 172 f. / A 163 f. (AA V I, 117 f.): „Dieser Streit kann nicht durch
Einsicht in die Causalbestimmung der Freiheit des menschlichen Wesens, d. i. der Ursachen, welche machen, daß ein Mensch gut oder böse wird, also nicht theoretisch ausgeglichen werden: denn diese Frage übersteigt das ganze Speculationsvermögen unserer Vernunft. Aber fürs Praktische, wo nämlich nicht gefragt wird, was physisch, sondern was moralisch für den Gebrauch unserer freien Willkür das erste sei, wovon wir nämlich den Anfang machen sollen, ob vom Glauben an das, was Gott unsertwegen gethan hat, oder von dem, was wir thun sollen, um dessen (es mag auch bestehen, worin es wolle) würdig zu werden, ist kein Bedenken, für das Letztere zu entscheiden. Denn die Annehmung des ersten Requisits zur Selig machung, nämlich des Glaubens an eine stellvertretende Genugthuung, ist allenfalls bloß für den theoretischen Begriff nothwendig; wir können die Entsündigung uns nicht anders b e g r e i f l ic h m a c he n . Dagegen ist die Nothwendigkeit des zweiten Princips praktisch und zwar rein moralisch: wir können sicher nicht anders hoffen, der Zueignung selbst eines fremden genugthuenden Verdienstes und so der Seligkeit theilhaftig zu werden, als wenn wir uns dazu durch unsere Bestrebung in Befolgung jeder Menschenpflicht qualificiren, welche letztere die Wirkung unserer eignen Bearbeitung und nicht wiederum ein fremder Einfluß sein muß, dabei wir passiv sind. Denn da das letztere Gebot unbedingt ist, so ist es auch nothwendig, daß der Mensch es seinem Glauben als Maxime unterlege, daß er nämlich von der Besserung des Lebens anfange, als der obersten Bedingung, unter der allein ein seligmachender Glaube statt finden kann. Der Kirchenglaube, als ein historischer, fängt mit Recht von dem erstern an; da er aber nur das Vehikel für den reinen Religionsglauben enthält (in welchem der eigentliche Zweck liegt), so muß das, was in diesem als einem praktischen die Bedingung ist, nämlich die Maxime des T hu n s, den Anfang machen und die des W i s s e n s oder theoretischen Glaubens nur die Befestigung und Vollendung der erstern bewirken.“ 121 Vgl. RGV, B 173 f. / A 164 f. (AA V I, 118 f.): „Hiebei kann noch angemerkt werden: daß nach dem ersten Princip der Glaube (nämlich der an eine stellvertretende Genugthuung) dem Menschen zur Pflicht, dagegen der Glaube des guten Lebenswandels, als durch höhern Einfluß gewirkt, ihm zur Gnade angerechnet werden würde. – Nach dem zweiten Princip aber ist es umgekehrt. Denn nach diesem ist der g u t e L e b e n s wa n de l, als oberste Bedingung der Gnade, unbedingte P f l ic h t, dagegen die höhere Genugthuung eine bloße G n a de n s a c he. – Dem erstern wirft man (oft nicht mit Unrecht) den got te s d ie n s t l ic he n A b e r g l au b e n vor, der einen sträflichen Lebenswandel doch mit der Religion zu vereinigen weiß; dem zweiten den n a t u r a l i s t i s c he n Un g l au b e n, welcher mit einem sonst vielleicht auch wohl exemplarischen Lebenswandel Gleichgültigkeit, oder wohl gar Widersetzlichkeit gegen alle Offenbarung verbindet.“ 122 Vgl. RGV, B 174 ff. / A 165 f. (AA V I, 119 f.): „Das wäre aber den Knoten (durch eine praktische Maxime) zerhauen, anstatt ihn (theoretisch) aufzulösen, welches
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auch allerdings in Religionsfragen erlaubt ist. – Zur Befriedigung des letzteren Ansinnens kann indessen folgendes dienen. – Der lebendige Glaube an das Urbild der Gott wohlgefälligen Menschheit (den Sohn Gottes) a n s ic h s e l b s t ist auf eine moralische Vernunftidee bezogen, sofern diese uns nicht allein zur Richtschnur, sondern auch zur Triebfeder dient, und also einerlei, ob ich von ihm, als r a t i o n a le m Glauben, oder vom Princip des guten Lebenswandels anfange. Dagegen ist der Glaube an eben dasselbe Urbild in der E r s c he i nu n g (an den Gottmenschen), als e m p i r i s c he r (historischer) Glaube, nicht einerlei mit dem Princip des guten Lebenswandels (welches ganz rational sein muß), und es wäre ganz etwas anders, von einem solchen […] anfangen und daraus den guten Lebenswandel ableiten zu wollen. Sofern wäre also ein Widerstreit zwischen den obigen zwei Sätzen. Allein in der Erscheinung des Gottmenschen ist nicht das, was von ihm in die Sinne fällt, oder durch Erfahrung erkannt werden kann, sondern das in unsrer Vernunft liegende Urbild, welches wir dem letztern unterlegen (weil, so viel sich an seinem Beispiel wahrnehmen läßt, er jenem gemäß befunden wird), eigentlich das Object des seligmachenden Glaubens, und ein solcher Glaube ist einerlei mit dem Princip eines Gott wohlgefälligen Lebenswandels. – Also sind hier nicht zwei an sich verschiedene Principien, von deren einem oder dem andern anzufangen, entgegengesetzte Wege einzuschlagen wären, sondern nur eine und dieselbe praktische Idee, von der wir ausgehen, einmal, so fern sie das Urbild als in Gott befindlich und von ihm ausgehend, ein andermal, sofern sie es als in uns befindlich, beidemal aber sofern sie es als Richtmaß unsers Lebenswandels vorstellt; und die Antinomie ist also nur scheinbar: weil sie eben dieselbe praktische Idee, nur in verschiedener Beziehung genommen, durch einen Mißverstand für zwei verschiedene Principien ansieht. – Wollte man aber den Geschichtsglauben an die Wirklichkeit einer solchen einmal in der Welt vorgekommenen Erscheinung zur Bedingung des allein seligmachenden Glaubens machen, so wären es allerdings zwei ganz verschiedene Principien (das eine empirisch, das andere rational), über die, ob man von einem oder dem andern ausgehen und anfangen müßte, ein wahrer Widerstreit der Maximen eintreten würde, den aber auch keine Vernunft je würde schlichten können.“ 123 Lk 17, 21; vgl. RGV, B 205 f. / A 196 (AA V I, 136). 124 S. o. Anm. 16. 125 Vgl. 1 Joh 2, 3; s. o. Anm. 55 u. 113. 126 Lk 17, 21; s. o. Anm. 123. 127 Vgl. Friedo Ricken: „Kant über Selbstliebe: ‚Anlage zum Guten‘ oder ‚Quelle alles Bösen‘ ?“, in: Philosophisches Jahrbuch 108 (2001), 245 – 258. 128 S. o. Anm. 4.
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Abschnitt IV
S. 119
129 Vgl. RGV, B 229 / A 215 (AA V I, 153): „ Re l i g ion ist (subjectiv betrachtet) das
Erkenntniß aller unserer Pflichten als göttlicher Gebote“; s. o. Anm. 104. 130 Vgl. RGV, B 229 ff. / A 215 f. (AA V I, 153 f.): „Diejenige, in welcher ich vorher wissen muß, daß etwas ein göttliches Gebot sei, um es als meine Pflicht anzuerkennen, ist die g e of fe n b a r t e (oder einer Offenbarung benöthigte) Religion: dagegen diejenige, in der ich zuvor wissen muß, daß etwas Pflicht sei, ehe ich es für ein göttliches Gebot anerkennen kann, ist die n a t ü r l ic he Re l i g i on .“ 131 Vgl. RGV, B 231 f. / A 216 ff. (AA V I, 154 f.): „Der, welcher bloß die natürliche Religion für moralisch-nothwendig, d. i. für Pflicht, erklärt, kann auch der R a t i o n a l i s t (in Glaubenssachen) genannt werden. Wenn dieser die Wirklichkeit aller übernatürlichen göttlichen Offenbarung verneint, so heißt er Na t u r a l i s t ; läßt er nun diese zwar zu, behauptet aber, daß sie zu kennen und für wirklich anzunehmen zur Religion nicht nothwendig erfordert wird, so würde er ein r e i n e r R a t i on a l i s t genannt werden können; hält er aber den Glauben an dieselbe zur allgemeinen Religion für nothwendig, so würde er der reine Su p e r n a t u r a l i s t in Glaubenssachen heißen können.“ 132 Vgl. RGV, B 233 f. / A 219 f. (AA V I, 155 f.): „Es kann demnach eine Religion die n a t ü r l ic he, gleichwohl aber auch g e of fe n b a r t sein, wenn sie so beschaffen ist, daß die Menschen durch den bloßen Gebrauch ihrer Vernunft auf sie von selbst h ä t te n k om m e n k ön n e n und s ol le n, ob sie zwar nicht so früh, oder in so weiter Ausbreitung, als verlangt wird, auf dieselbe gekommen sein w ü r de n, mithin eine Offenbarung derselben zu einer gewissen Zeit und an einem gewissen Ort weise und für das menschliche Geschlecht sehr ersprießlich sein konnte, so doch, daß, wenn die dadurch eingeführte Religion einmal da ist und öffentlich bekannt gemacht worden, forthin jedermann sich von dieser ihrer Wahrheit durch sich selbst und seine eigene Vernunft überzeugen kann. In diesem Falle ist die Religion o b j e c t i v eine natürliche, obwohl s u b j e c t i v eine geoffenbarte; weshalb ihr auch der erstere Namen eigentlich gebührt. Denn es könnte in der Folge allenfalls gänzlich in Vergessenheit kommen, daß eine solche übernatürliche Offenbarung je vorgegangen sei, ohne daß dabei jene Religion doch das mindeste weder an ihrer Faßlichkeit, noch an Gewißheit, noch an ihrer Kraft über die Gemüther verlöre. Mit der Religion aber, die ihrer innern Beschaffenheit wegen nur als geoffenbart angesehen werden kann, ist es anders bewandt. Wenn sie nicht in einer ganz sichern Tradition oder in heiligen Büchern als Urkunden aufbehalten würde, so würde sie aus der Welt verschwinden, und es müßte entweder eine von Zeit zu Zeit öffentlich wiederholte, oder in jedem Menschen innerlich eine continuirlich fortdauernde übernatürliche Offenbarung vorgehen, ohne welche die Ausbreitung und Fortpflanzung eines solchen Glaubens nicht möglich sein würde. Aber einem Theile nach wenigstens muß jede, selbst die geoffenbarte Religion doch auch gewisse Principien der natürlichen enthalten. Denn
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Offenbarung kann zum Begriff einer Re l i g i on nur durch die Vernunft hinzugedacht werden, weil dieser Begriff selbst, als von einer Verbindlichkeit unter dem Willen eines m o r a l i s c he n Gesetzgebers abgeleitet, ein reiner Vernunftbegriff ist. Also werden wir selbst eine geoffenbarte Religion einerseits noch als n a t ü r l ic he, andererseits aber als g e le h r t e Religion betrachten, prüfen und, was oder wie viel ihr von der einen oder der andern Quelle zustehe, unterscheiden können.“ 133 S. o. Anm. 16. 134 S. o. Anm. 15, 17 u. 48. 135 Vgl. RGV, B 261 f. / A 245 f. (AA V I, 171): „Aber wenn die Kirche ein solches Geheimniß etwa als offenbart verkündigen sollte, so wird doch die Meinung, daß diese Offenbarung, wie sie uns die heilige Geschichte erzählt, zu g l a u b e n und sie (es sei innerlich oder äußerlich) zu b e k e n n e n an sich etwas sei, dadurch wir uns Gott wohlgefällig machen, ein gefährlicher Religionswahn sein. Denn dieses Glauben ist als inneres Bekenntniß seines festen Fürwahrhaltens so wahrhaftig ein Thun, das durch Furcht abgezwungen wird, daß ein aufrichtiger Mensch eher jede andere Bedingung als diese eingehen möchte, weil er bei allen andern Frohndiensten allenfalls nur etwas Überflüssiges, hier aber etwas dem Gewissen in einer Declaration, von deren Wahrheit er nicht überzeugt ist, Widerstreitendes thun würde. Das Bekenntniß also, wovon er sich überredet, daß es für sich selbst (als Annahme eines ihm angebotenen Guten) ihn Gott wohlgefällig machen könne, ist etwas, was er noch über den guten Lebenswandel in Befolgung der in der Welt auszuübenden moralischen Gesetze thun zu können vermeint, indem er sich mit seinem Dienst geradezu an Gott wendet.“ 136 S. o. Anm. 104 u. 129. 137 S. o. Anm. 16. 138 Dies trifft sich mit Kants Bestimmung einer Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, die nicht notwendig eine Religion aus bloßer Vernunft (vgl. dazu SF, A viii, Anm. (AA V II, 6); SF, A 62 f. (AA V II, 44 f.); MS TL, A 182 f. (AA V I, 488)) sein muß; in der Vorrede zur zweiten Auflage der Religionsschrift versucht Kant diese Teilmengenrelation mit dem Bild zweier konzentrischer Kreise zu veranschaulichen: „Da O f fe n b a r u n g doch auch reine Ve r nu n f t r e l i g i on in sich wenigstens begreifen kann, aber nicht umgekehrt diese das Historische der ersteren, so werde ich jene als eine we i t e r e Sphäre des Glaubens, welche die letztere als eine e n g e r e in sich beschließt, (nicht als zwei außer einander befindliche, sondern als concentrische Kreise) betrachten können, innerhalb deren letzterem der Philosoph sich als reiner Vernunftlehrer (aus bloßen Principien a priori) halten, hiebei also von aller Erfahrung abstrahiren muß. Aus diesem Standpunkte kann ich nun auch den zweiten Versuch machen, nämlich von irgend einer dafür gehaltenen Offenbarung auszugehen, und, indem ich von der reinen Vernunftreligion (so fern sie ein für sich bestehendes System ausmacht) abstrahire, die Offenbarung als h i s t o r i s c he s Sy s t e m an moralische Begriffe bloß fragmentarisch halten und sehen, ob dieses
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nicht zu demselben reinen Ve r nu n f t s y s t e m der Religion zurück führe, welches […] in moralisch-praktischer Absicht selbstständig und für eigentliche Religion, die als Vernunftbegriff a priori (der nach Weglassung alles Empirischen übrig bleibt) nur in dieser Beziehung statt findet, hinreichend sei. Wenn dieses zutrifft, so wird man sagen können, daß zwischen Vernunft und Schrift nicht blos Verträglichkeit, sondern auch Einigkeit anzutreffen sei, so daß, wer der einen (unter Leitung der moralischen Begriffe) folgt, nicht ermangeln wird auch mit der anderen zusammen zu treffen“. Vgl. dazu Norbert Fischer: „Zum Problem der Geschichtlichkeit in der Philosophie Kants. Eine Auslegung zum Bild der ‚konzentrischen Kreise‘ in Kants Religionsschrift“, in: Norbert Fischer, Jakub Sirovátka u. David Voprˇada (Hg.): Kant und die biblische Offenbarungsreligion – Kant a biblické zjevené náboženství, Praha 2013, 45 – 57; Rößner: Der „Grenzgott der Moral“, 427 f. 139 S. o. Anm. 16. 140 Vgl. RGV, B 239 ff. / A 225 ff. (AA V I, 159 f.): „Zuerst will er [„die Person […], die zwar nicht als St i f t e r der von allen Satzungen reinen in aller Menschen Herz geschriebenen Religion (denn die ist nicht vom willkürlichen Ursprunge), aber doch der ersten wahren K i r c he verehrt werden kann“ (RGV, B 239 / A 225 (AA V I, 159))], daß nicht die Beobachtung äußerer bürgerlicher oder statutarischer Kirchenpflichten, sondern nur die reine moralische Herzensgesinnung den Menschen Gott wohlgefällig machen könne (Matth. V, 20 – 48); daß Sünde in Gedanken vor Gott der That gleich geachtet werde (V. 28) und überhaupt Heiligkeit das Ziel sei, wohin er streben soll (V. 48); daß z. B. im Herzen hassen so viel sei als tödten (V. 22); daß ein dem Nächsten zugefügtes Unrecht nur durch Genugthuung an ihm selbst, nicht durch gottesdienstliche Handlungen könne vergütet werden (V. 24), und im Punkte der Wahrhaftigkeit das bürgerliche Erpressungsmittel […], der Eid, der Achtung für die Wahrheit selbst Abbruch thue (V. 34 – 37); – daß der natürliche, aber böse Hang des menschlichen Herzens ganz umgekehrt werden solle, das süße Gefühl der Rache in Duldsamkeit (V. 39. 40) und der Haß seiner Feinde in Wohlthätigkeit (V. 44) übergehen müsse. So, sagt er, sei er gemeint, dem jüdischen Gesetze völlig Genüge zu thun (V. 17), wobei aber sichtbarlich nicht Schriftgelehrsamkeit, sondern reine Vernunftreligion die Auslegerin desselben sein muß; denn nach dem Buchstaben genommen, erlaubte es gerade das Gegentheil von diesem Allem. – Er läßt überdem doch auch unter den Benennungen der engen Pforte und des schmalen Weges die Mißdeutung des Gesetzes nicht unbemerkt, welche sich die Menschen erlauben, um ihre wahre moralische Pflicht vorbeizugehen und sich dafür durch Erfüllung der Kirchenpflicht schadlos zu halten (VII, 13) […]. Von diesen reinen Gesinnungen fordert er gleichwohl, daß sie sich auch in T h a t e n beweisen sollen (V. 16), und spricht dagegen denen ihre hinterlistige Hoffnung ab, die den Mangel derselben durch Anrufung und Hochpreisung des höchsten Gesetzgebers in der Person seines Gesandten zu ersetzen und sich Gunst zu erschmeicheln meinen (V. 21). Von diesen Werken will er, daß sie um des Beispiels willen zur Nachfolge auch öffentlich
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geschehen sollen (V, 16) und zwar in fröhlicher Gemüthsstimmung, nicht als knechtisch abgedrungene Handlungen (VI, 16), und daß so von einem kleinen Anfange der Mittheilung und Ausbreitung solcher Gesinnungen, als einem Samenkorne in gutem Acker oder einem Ferment des Guten, sich die Religion durch innere Kraft allmählich zu einem Reiche Gottes vermehren würde (XIII, 31. 32. 33).“ 141 Vgl. RGV, B 242 f. / A 228 f. (AA V I, 160 f.): „Endlich faßt er alle Pflichten 1) in einer a l l g e m e i n e n Regel zusammen (welche sowohl das innere, als das äußere moralische Verhältniß der Menschen in sich begreift), nämlich: thue deine Pflicht aus keiner andern Triebfeder, als der unmittelbaren Werthschätzung derselben, d. i. liebe Gott (den Gesetzgeber aller Pflichten) über alles; 2) einer b e s on de r e n Regel, nämlich die das äußere Verhältniß zu andern Menschen als allgemeine Pflicht betrifft: liebe einen jeden als dich selbst, d. i. befördere ihr Wohl aus unmittelbarem, nicht von eigennützigen Triebfedern abgeleitetem Wohlwollen; welche Gebote nicht bloß Tugendgesetze, sondern Vorschriften der He i l i g ke it sind, der wir nachstreben sollen, in Ansehung deren aber die bloße Nachstrebung Tu g e n d heißt. – Denen also, die dieses moralische Gute mit der Hand im Schooße, als eine himmlische Gabe von oben herab, ganz passiv zu erwarten meinen, spricht er alle Hoffnung dazu ab. Wer die natürliche Anlage zum Guten, die in der menschlichen Natur (als ein ihm anvertrautes Pfund) liegt, unbenutzt läßt, im faulen Vertrauen, ein höherer moralischer Einfluß werde wohl die ihm mangelnde sittliche Beschaffenheit und Vollkommenheit sonst ergänzen, dem droht er an, daß selbst das Gute, was er aus natürlicher Anlage möchte gethan haben, um dieser Verabsäumung willen ihm nicht zu statten kommen solle (XXV, 29).“ S. o. Anm. 62. 142 Vgl. RGV, B 243 ff. / A 229 ff. (AA V I, 161 f.): „Was nun die dem Menschen sehr natürliche Erwartung eines dem sittlichen Verhalten des Menschen angemessenen Looses in Ansehung der Glückseligkeit betrifft, vornehmlich bei so manchen Aufopferungen der letzteren, die des ersteren wegen haben übernommen werden müssen, so verheißt er (V, 11.12) dafür Belohnung einer künftigen Welt; aber nach Verschiedenheit der Gesinnungen bei diesem Verhalten denen, die ihre Pflicht u m de r B e l oh nu n g (oder auch Lossprechung von einer verschuldeten Strafe) w i l le n thaten, auf andere Art als den besseren Menschen, die sie bloß um ihrer selbst willen ausübten. Der, welchen der Eigennutz, der Gott dieser Welt, beherrscht, wird, wenn er, ohne sich von ihm loszusagen, ihn nur durch Vernunft verfeinert und über die enge Grenze des Gegenwärtigen ausdehnt, als ein solcher (Luc. XVI, 3 – 9) vorgestellt, der jenen seinen Herrn durch sich selbst betrügt und ihm Aufopferungen zum Behuf der Pflicht abgewinnt. Denn wenn er es in Gedanken faßt, daß er doch einmal, vielleicht bald die Welt werde verlassen müssen, daß er von dem, was er hier besaß, in die andre nichts mitnehmen könne, so entschließt er sich wohl, das, was er oder sein Herr, der Eigennutz, hier an dürftigen Menschen gesetzmäßig zu fordern hatte, von seiner Rechnung abzuschreiben und sich gleichsam dafür Anweisungen, zahlbar in einer andern Welt, anzuschaffen; wodurch er zwar mehr k l ü g l ic h als
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s i t t l ic h, was die Triebfeder solcher wohlthätigen Handlungen betrifft, aber doch dem sittlichen Gesetze, wenigstens dem Buchstaben nach, gemäß verfährt und hoffen darf, daß auch dieses ihm in der Zukunft nicht unvergolten bleiben dürfe […]. Wenn man hiermit vergleicht, was von der Wohlthätigkeit an Dürftigen aus bloßen Bewegungsgründen der Pflicht (Matth. XXV, 35 – 40) gesagt wird, da der Weltrichter diejenigen, welche den Nothleidenden Hülfe leisteten, ohne sich auch nur in Gedanken kommen zu lassen, daß so etwas noch einer Belohnung werth sei, und sie etwa dadurch gleichsam den Himmel zur Belohnung verbänden, gerade eben darum, weil sie es ohne Rücksicht auf Belohnung thaten, für die eigentlichen Auserwählten zu seinem Reich erklärt: so sieht man wohl, daß der Lehrer des Evangeliums, wenn er von der Belohnung in der künftigen Welt spricht, sie dadurch nicht zur Trieb feder der Handlungen, sondern nur (als seelenerhebende Vorstellung der Vollendung der göttlichen Güte und Weisheit in Führung des menschlichen Geschlechts) zum Object der reinsten Verehrung und des größten moralischen Wohlgefallens für eine die Bestimmung des Menschen im Ganzen beurtheilende Vernunft habe machen wollen.“ Auch vor diesem Hintergrund erweist sich der gegen Kants Postulatenlehre immer wieder erhobene Vorwurf, durch sie werde Gott zum „Zahlmeister des Lohns der Tugend“ (Hermann Schmitz: Was wollte Kant ?, Bonn 1989, 87; vgl. schon Wilhelm Bender: „Über Kants Religionsbegriff. Eine kritische Studie“, in: Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik 61 (1872), 39 – 69 u. 157 – 191: 55) degradiert, als unberechtigt; ausführlich dazu Rößner: Der „Grenzgott der Moral“, 503 – 549. 143 Vgl. Röm 6. 144 Vgl. RGV, B 245 f. / A 231 f. (AA V I, 162 f.): „Hier ist nun eine vollständige Religion, die allen Menschen durch ihre eigene Vernunft faßlich und überzeugend vorgelegt werden kann, die über das an einem Beispiele, dessen Möglichkeit und sogar Nothwendigkeit, für uns Urbild der Nachfolge zu sein (so viel Menschen dessen fähig sind), anschaulich gemacht worden, ohne daß weder die Wahrheit jener Lehren, noch das Ansehen und die Würde des Lehrers irgend einer andern Beglaubigung (dazu Gelehrsamkeit oder Wunder, die nicht jedermanns Sache sind, erfordert würde) bedürfte. Wenn darin Berufungen auf ältere (mosaische) Gesetzgebung und Vorbildung, als ob sie ihm zur Bestätigung dienen sollten, vorkommen, so sind diese nicht für die Wahrheit der gedachten Lehren selbst, sondern nur zur Introduction unter Leuten, die gänzlich und blind am Alten hingen, gegeben worden, welches unter Menschen, deren Köpfe, mit statutarischen Glaubenssätzen angefüllt, für die Vernunftreligion beinahe unempfänglich geworden, allezeit viel schwerer sein muß, als wenn sie an die Vernunft unbelehrter, aber auch unverdorbener Menschen hätte gebracht werden sollen. Um deswillen darf es auch niemand befremden, wenn er einen den damaligen Vorurtheilen sich bequemenden Vortrag für die jetzige Zeit räthselhaft und einer sorgfältigen Auslegung bedürftig findet: ob er zwar allerwärts eine Religionslehre durchscheinen läßt und zugleich öfters darauf ausdrücklich
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hinweiset, die jedem Menschen verständlich und ohne allen Aufwand von Gelehrsamkeit überzeugend sein muß.“ 145 Vgl. RGV, B 262 f. / A 246 ff. (AA V I, 171 f.): „Die Vernunft läßt uns […] in Ansehung des Mangels eigener Gerechtigkeit (die vor Gott gilt) nicht ganz ohne Trost. Sie sagt: daß, wer in einer wahrhaften der Pflicht ergebenen Gesinnung so viel, als in seinem Vermögen steht, thut, um (wenigstens in einer beständigen Annäherung zur vollständigen Angemessenheit mit dem Gesetze) seiner Verbindlichkeit ein Genüge zu leisten, hoffen dürfe, was nicht in seinem Vermögen steht, das werde von der höchsten Weisheit au f i r g e n d e i n e We i s e (welche die Gesinnung dieser beständigen Annäherung unwandelbar machen kann) ergänzt werden, ohne daß sie sich doch anmaßt, die Art zu bestimmen und zu wissen, worin sie bestehe, welche vielleicht so geheimnißvoll sein kann, daß Gott sie uns höchstens in einer symbolischen Vorstellung, worin das Praktische allein für uns verständlich ist, offenbaren könnte, indessen daß wir theoretisch, was dieses Verhältniß Gottes zum Menschen an sich sei, gar nicht fassen und Begriffe damit verbinden könnten, wenn er uns ein solches Geheimniß auch entdecken wollte. – Gesetzt nun, eine gewisse Kirche behaupte, die Art, wie Gott jenen moralischen Mangel am menschlichen Geschlecht ergänzt, bestimmt zu wissen, und verurtheile zugleich alle Menschen, die jenes der Vernunft natürlicher Weise unbekannte Mittel der Rechtfertigung nicht wissen, darum also auch nicht zum Religionsgrundsatze aufnehmen und bekennen, zur ewigen Verwerfung: wer ist alsdann hier wohl der Ungläubige ? der, welcher vertrauet, ohne zu wissen, wie das, was er hofft, zugehe, oder der, welcher diese Art der Erlösung des Menschen vom Bösen durchaus wissen will, widrigenfalls er alle Hoffnung auf dieselbe aufgiebt ? – Im Grunde ist dem Letzteren am Wissen dieses Geheimnisses so viel eben nicht gelegen (denn das lehrt ihn schon seine Vernunft, daß etwas zu wissen, wozu er doch nichts thun kann, ihm ganz unnütz sei); sondern er will es nur wissen, um sich (wenn es auch nur innerlich geschehe) aus dem G l a u b e n , der Annahme, dem Bekenntnisse und der Hochpreisung alles dieses Offenbarten einen Gottesdienst machen zu können, der ihm die Gunst des Himmels vor allem Aufwande seiner eigenen Kräfte zu einem guten Lebenswandel, also ganz umsonst erwerben, den letzteren wohl gar übernatürlicher Weise hervorbringen, oder, wo ihm etwa zuwider gehandelt würde, wenigstens die Übertretung vergüten könne.“ 146 S. o. Anm. 138. 147 Der historische Kirchenglaube ist und bleibt nach Kant gegenüber der rein moralischen Religionslehre sekundär, dadurch aber indirekt als eine religion provisoire (vgl. RGV, B 270 / A 254 (AA V I, 176)) gerechtfertigt, daß er als das „höchst schätzbare“ (RGV, B 250 / A 236 (AA V I, 165)) „Hülfsmittel“ (RGV, B 117 / A 108 (AA V I, 84); RGV, B 158 / A 150 (AA V I, 110)) „zur Introduction der wahren Religion“ (RGV, B 232 / A 218 (AA V I, 155); vgl. RGV, B 197 / A 187 (AA V I, 131); RGV, B 246 / A 232 (AA V I, 162); vgl. auch Refl 430 (AA XV, 173); Refl 6195 (AA XVIII, 486);
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HN (AA X XIII, 443)) immerhin einen protreptisch-propädeutischen Nutzen, wenn eben auch keinen echten Eigenwert hat; dienen die geschichtlichen Glaubensgesetze und Statuten nicht lediglich als „Vehikel“ (vgl. RGV, B 152 ff. / A 144 ff. (AA V I, 106 f.); RGV, B 173 / A 164 (AA V I, 118); RGV, B 182, Anm. / A 172, Anm. (AA V I, 123); RGV, B 205, Anm. (AA V I, 135); SF, A 45 ff. (AA V II, 37); SF, A 58 (AA V II, 42); SF, A 62 ff. (AA V II, 44 f.); SF, A 71 (AA V II, 48); SF, A 75 (AA V II, 50); SF, A 78 ff. (AA V II, 51 ff.); SF, A 103 (AA V II, 64); ZeF, B 6 4, Anm. / A 63, Anm. (AA V III, 367); vgl. auch MS TL, A 173 (AA V I, 482); Log, A 59 (AA IX, 43); KrV, B 399 / A 341 (AA III, 263 / IV, 216); KrV, B 4 06 / A 348 (AA III, 266 / IV, 219)) zur Einführung des von allen außermoralischen Observanzen geläuterten reinen Religionsglaubens, droht „eine gewisse B e i m i s c h u n g vo n H e i d e n t h u m ; denn dieses besteht darin, das Äußerliche (Außerwesentliche) der Religion für wesentlich auszugeben. Diese Beimischung kann gradweise so weit gehen, daß die ganze Religion darüber in einen bloßen Kirchenglauben, Gebräuche für Gesetze auszugeben, übergeht und alsdann baares Heidenthum wird, […] wider welchen Schimpfnamen es nichts verschlägt zu sagen, daß jene Lehren doch göttliche Offenbarungen seien“ (SF, A 74 f. (AA V II, 50)); vgl. Rößner: Der „Grenzgott der Moral“, 429 f.; 451 f. 148 Vgl. 1. Sam 15, 22; Mt 9, 13; Mt 12, 7. 149 Vgl. RGV, B 230 f. / A 217, Anm. (AA VI, 154): „Es giebt keine besondere Pflichten gegen Gott in einer allgemeinen Religion; denn Gott kann von uns nichts empfangen; wir können auf und für ihn nicht wirken. Wollte man die schuldige Ehrfurcht gegen ihn zu einer solchen Pflicht machen, so bedenkt man nicht, daß diese nicht eine besondere Handlung der Religion, sondern die religiöse Gesinnung bei allen unsern pflichtmäßigen Handlungen überhaupt sei. Wenn es auch heißt: ‚Man soll Gott mehr gehorchen als den Menschen‘, so bedeutet das nichts anders als: wenn statutarische Gebote, in Ansehung deren Menschen Gesetzgeber und Richter sein können, mit Pflichten, die die Vernunft unbedingt vorschreibt, und über deren Befolgung oder Übertretung Gott allein Richter sein kann, in Streit kommen, so muß jener ihr Ansehn diesen weichen. Wollte man aber unter dem, worin Gott mehr als dem Menschen gehorcht werden muß, die statutarischen, von einer Kirche dafür ausgegebenen Gebote Gottes verstehen: so würde jener Grundsatz leichtlich das mehrmals gehörte Feldgeschrei heuchlerischer und herrschsüchtiger Pfaffen zum Aufruhr wider ihre bürgerliche Obrigkeit werden können. Denn das Erlaubte, was die letztere gebietet, ist gewiß Pflicht: ob aber etwas zwar an sich Erlaubtes, aber nur durch göttliche Offenbarung für uns Erkennbares wirklich von Gott geboten sei, ist (wenigstens größtentheils) höchst ungewiß.“ 150 Es ist „eine u n g e r e i m t e Vermessenheit […], Dinge gleichsam durch Zauberworte wirklich zu machen, die doch nicht in unserer Gewalt sind“ (RGV, B 240 / A 226, Anm. (AA V I, 159)). Darum gilt: „ a l l e s, wa s a u ß e r d e m g u t e n L e b e n s wa n d e l d e r M e n s c h n o c h t hu n z u k ö n n e n ve r m e i n t , u m G o t t wo h l g e f ä l l i g z u we r d e n , i s t b l o ß e r R e l i g i o n s wa h n u n d A f t e r d i e n s t
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G o t te s“ (RGV, B 260 f. / A 245 (AA V I, 170)). Vgl. auch RGV, B 273 ff. / A 256 ff. (AA V I, 177 f.): „Der Mensch nun, welcher Handlungen, die für sich selbst nichts Gott Wohlgefälliges (Moralisches) enthalten, doch als Mittel braucht, das göttliche unmittelbare Wohlgefallen an ihm und hiemit die Erfüllung seiner Wünsche zu erwerben, steht in dem Wahn des Besitzes einer Kunst, durch ganz natürliche Mittel eine übernatürliche Wirkung zuwege zu bringen; dergleichen Versuche man das Z au b e r n zu nennen pflegt, welches Wort wir aber (da es den Nebenbegriff einer Gemeinschaft mit dem bösen Princip bei sich führt, dagegen jene Versuche doch auch als übrigens in guter moralischer Absicht aus Mißverstande unternommen gedacht werden können) gegen das sonst bekannte Wort des Fe t i s c h m a c h e n s austauschen wollen. Eine übernatürliche Wirkung aber eines Menschen würde diejenige sein, die nur dadurch in seinen Gedanken möglich ist, daß er vermeintlich auf Gott wirkt und sich desselben als Mittels bedient, um eine Wirkung in der Welt hervorzubringen, dazu seine Kräfte, ja nicht einmal seine Einsicht, ob sie auch Gott wohlgefällig sein möchte, für sich nicht zulangen; welches schon in seinem Begriffe eine Ungereimtheit enthält. Wenn der Mensch aber, außerdem daß er durch das, was ihn unmittelbar zum Gegenstande des göttlichen Wohlgefallens macht, (durch die thätige Gesinnung eines guten Lebenswandels) sich noch überdem vermittelst gewisser Förmlichkeiten der Ergänzung seines Unvermögens durch einen übernatürlichen Beistand w ü r d i g zu machen sucht und in dieser Absicht durch Observanzen, die zwar keinen unmittelbaren Werth haben, aber doch zur Beförderung jener moralischen Gesinnung als Mittel dienen, sich für die Erreichung des Objects seiner guten, moralischen Wünsche blos e m p f ä n g l i c h zu machen meint, so rechnet er zwar zur Ergänzung seines natürlichen Unvermögens auf etwas Ü b e r n a t ü r l i c h e s , aber doch nicht als auf etwas vom M e n s c h e n (durch Einfluß auf den göttlichen Willen) G e w i r k t e s, sondern Empfangenes, was er hoffen, aber nicht hervorbringen kann. – Wenn ihm aber Handlungen, die an sich, so viel wir einsehen, nichts Moralisches, Gott Wohlgefälliges enthalten, gleichwohl seiner Meinung nach zu einem Mittel, ja zur Bedingung dienen sollen, die Erhaltung seiner Wünsche unmittelbar von Gott zu erwarten: so muß er in dem Wahne stehen, daß, ob er gleich für dieses Übernatürliche weder ein physisches Vermögen, noch eine moralische Empfänglichkeit hat, er es doch durch n a t ü r l ic he, an sich aber mit der Moralität gar nicht verwandte Handlungen (welche auszuüben es keiner Gott wohlgefälligen Gesinnung bedarf, die der ärgste Mensch also eben sowohl, als der beste ausüben kann), durch Formeln der Anrufung, durch Bekenntnisse eines Lohnglaubens, durch kirchliche Observanzen u. dgl., bewirken und so den Beistand der Gottheit gleichsam he r b e i z au b e r n könne; denn es ist zwischen bloß physischen Mitteln und einer moralisch wirkenden Ursache gar keine Verknüpfung nach irgend einem Gesetze, welches sich die Vernunft denken kann, nach welchem die letztere durch die erstere zu gewissen Wirkungen als bestimmbar vorgestellt werden könnte.“
Kommentar 189 151 Vgl. RGV, B 257, Anm. (AA V I, 169): „Aus bloßer Offenbarung, ohne jenen
Begriff vo r he r in seiner Reinigkeit, als Probirstein, zum Grunde zu legen, kann es also keine Religion geben, und alle Gottesverehrung würde Idol ol a t r ie sein“. Im Blick auf das Verhältnis von Vernunft und Offenbarung formuliert Kant damit eine Bedingung, die für ihn so selbstverständlich ist, wie sie mit einem offenbarungszentrierten Selbstverständnis christlicher Theologie in letzter Konsequenz unvereinbar bleibt, welche letztere die potentielle Idolatrie wohl eher erblicken würde in Kants impliziter Annahme, daß reine Vernunft das Kriterium für die Annehmbarkeit von Gottes Selbstmitteilung in der Geschichte sein soll und nicht vielmehr umgekehrt. Unter den Prämissen einer reinen Vernunftreligion kann Kant trotz seiner ireni schen Hermeneutik einer schiedlich-friedlichen Koexistenz von Schrift und Vernunft (vgl. nur deren „beste Harmonie“ in RGV, B 153 / A 145 (AA V I, 107)) in der Sache gar nicht anders, als eine „radikale Demontage des Christentums“ (Bettina Stangneth: Kultur der Aufrichtigkeit. Zum systematischen Ort von Kants „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“, Würzburg 2000, 240) zu betreiben: Denn wenn es die Vernunft ist, die insofern selbst absolut ist, als sie bestimmen und Gott vorschreiben kann, „was zu dem Charakteristischen einer Gottheit erforderlich ist“ (WDO, A 321 (AA V III, 142)), und somit in letzter Instanz darüber zu befinden hat, was „für Gott anständig“ (SF, A 66 (AA V II, 46)) ist, dann kann dieser Gott von Gnaden der Vernunft nicht der Gott sein, der sich selbst von sich selbst her (Jean-Luc Marion: „Mystik – oder: Was die Theologie sehen lassen kann“, übers. v. Ch. Rößner, in: Michael Hofer u. Rudolf Langthaler (Hg.): Das Heilige. Eine grundlegende Kategorie der Religionsphilosophie (Wiener Jahrbuch für Philosophie, Bd. XLIX/2017), Wien 2018, 73 – 94; vgl. dazu Christian Rößner: „Mysticism instead of Metaphysics: Marion’s Phenomenology of Revelation“, in: Bogoslovni vestnik. Theological Quarterly. Ephemerides theologicae 79, 2 (2019), 357 – 365) als absolutes Faktum zu einer epiphanischen Erscheinung bringt, die insofern un-bedingt und un-möglich ist, als sie eben nicht den von der Vernunft vorgeschriebenen Bedingungen ihrer Möglichkeit gehorcht. Kants Rede von einer „Offenbarung desjenigen […], was für Menschen durch ihre eigene Schuld bis dahin Geheimniß war“ (RGV, B 213 / A 201 (AA V I, 141)), ist der Sache nach nichts als eine contradictio in adiecto. Eine Offenbarung, die nil novi bringt, ist keine und kann keine sein; vgl. ausführlich Rößner: Der „Grenzgott der Moral“, 430 f., Anm. 152 Vgl. RGV, B 266 f. / A 250 f. (AA V I, 173 f.): „Es ist überdem ein (wenigstens kirchlicher) Gebrauch, das, was vermöge des Tugendprincips von Menschen gethan werden kann, Na t u r, was aber nur den Mangel alles seines moralischen Vermögens zu ergänzen dient und, weil dessen Zulänglichkeit auch für uns Pflicht ist, nur gewünscht oder auch gehofft und erbeten werden kann, G n a d e zu nennen, beide zusammen als wirkende Ursachen einer zum Gott wohlgefälligen Lebenswandel zureichenden Gesinnung anzusehen, sie aber auch nicht bloß von einander
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zu unterscheiden, sondern einander wohl gar entgegen zu setzen. Die Überredung, Wirkungen der Gnade von denen der Natur (der Tugend) unterscheiden, oder sie wohl gar in sich hervorbringen zu können, ist S c hwä r m e r e i; denn wir können weder einen übersinnlichen Gegenstand in der Erfahrung irgend woran kennen, noch weniger auf ihn Einfluß haben, um ihn zu uns herabzuziehen, wenn gleich sich im Gemüth bisweilen aufs Moralische hinwirkende Bewegungen ereignen, die man sich nicht erklären kann, und von denen unsere Unwissenheit zu gestehen genöthigt ist: ‚Der Wind wehet, wohin er will, aber du weißt nicht, woher er kömmt u.s.w.‘ [Joh 3, 8; vgl. Rößner: „Das Datum der Vernunft“, 199] Himmlische Einflüsse in sich wa h r n e h m e n zu wollen, ist eine Art Wahnsinn, in welchem wohl gar auch Methode sein kann (weil sich jene vermeinte innere Offenbarungen doch immer an moralische, mithin an Vernunftideen anschließen müssen), der aber immer doch eine der Religion nachtheilige Selbsttäuschung bleibt.“ 153 Vgl. RGV, B 267 / A 251 f. (AA V I, 174): „Zu glauben, daß es Gnadenwirkungen geben könne und vielleicht zur Ergänzung der Unvollkommenheit unserer Tugendbestrebung auch geben müsse, ist alles, was wir davon sagen können; übrigens sind wir unvermögend, etwas in Ansehung ihrer Kennzeichen zu bestimmen, noch mehr aber zur Hervorbringung derselben etwas zu thun.“ Vgl. RGV, B 122 / A 113 (AA V I, 88): „Eben so ist die moralische Besserung des Menschen ein ihm obliegendes Geschäfte, und nun mögen noch immer himmlische Einflüsse dazu mitwirken, oder zu Erklärung der Möglichkeit derselben für nöthig gehalten werden; er versteht sich nicht darauf, weder sie sicher von den natürlichen zu unterscheiden, noch sie und so gleichsam den Himmel zu sich herabzuziehen; da er also mit ihnen unmittelbar nichts anzufangen weiß, so s t a t u i r t […] er in diesem Falle keine Wunder, sondern wenn er der Vorschrift der Vernunft Gehör giebt, so verfährt er so, als ob alle Sinnesänderung und Besserung lediglich von seiner eignen angewandten Bearbeitung abhinge. Aber daß man durch die Gabe recht fe s t an Wunder theoretisch zu glauben sie auch wohl gar selbst bewirken und so den Himmel bestürmen könne, geht zu weit aus den Schranken der Vernunft hinaus, um sich bei einem solchen sinnlosen Einfalle lange zu verweilen.“ 154 Vgl. RGV, B 267 ff. / A 252 f. (AA V I, 174 f.): „Der Wahn, durch religiöse Handlungen des Cultus etwas in Ansehung der Rechtfertigung vor Gott auszurichten, ist der religiöse A b e r g l au b e; so wie der Wahn, dieses durch Bestrebung zu einem vermeintlichen Umgange mit Gott bewirken zu wollen, die religiöse S c hwä r me r e i. – Es ist abergläubischer Wahn, durch Handlungen, die ein jeder Mensch thun kann, ohne daß er eben ein guter Mensch sein darf, Gott wohlgefällig werden zu wollen (z. B. durch Bekenntniß statutarischer Glaubenssätze, durch Beobachtung kirchlicher Observanz und Zucht u. d. g.). Er wird aber darum abergläubisch genannt, weil er sich bloße Naturmittel (nicht moralische) wählt, die zu dem, was nicht Natur ist, (d. i. dem sittlich Guten) für sich schlechterdings nichts wirken können. – Ein Wahn aber heißt schwärmerisch, wo sogar das eingebildete Mittel, als übersinnlich, nicht
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in dem Vermögen des Menschen ist, ohne noch auf die Unerreichbarkeit des dadurch beabsichtigten übersinnlichen Zwecks zu sehen; denn dieses Gefühl der unmittelbaren Gegenwart des höchsten Wesens und die Unterscheidung desselben von jedem andern, selbst dem moralischen Gefühl wäre eine Empfänglichkeit einer Anschauung, für die in der menschlichen Natur kein Sinn ist. – Der abergläubische Wahn, weil er ein an sich für manches Subject taugliches und diesem zugleich mögliches Mittel, wenigstens den Hindernissen einer Gott wohlgefälligen Gesinnung entgegen zu wirken, enthält, ist doch mit der Vernunft so fern verwandt und nur zufälliger Weise dadurch, daß er das, was bloß Mittel sein kann, zum unmittelbar Gott wohlgefälligen Gegenstande macht, verwerflich; dagegen ist der schwärmerische Religionswahn der moralische Tod der Vernunft, ohne die doch gar keine Religion, als welche wie alle Moralität überhaupt auf Grundsätze gegründet werden muß, statt finden kann. Der allem Religionswahn abhelfende oder vorbeugende Grundsatz eines Kirchenglaubens ist also: daß dieser neben den statutarischen Sätzen, deren er vorjetzt nicht gänzlich entbehren kann, doch zugleich ein Princip in sich enthalten müsse, die Religion des guten Lebenswandels als das eigentliche Ziel, um jener dereinst gar entbehren zu können, herbeizuführen.“ 155 Vgl. RGV, B 264 ff. / A 248 ff. (AA V I, 172 f.): „wenn man einmal zur Maxime eines vermeintlich Gott für sich selbst wohlgefälligen, ihn auch nöthigenfalls versöhnenden, aber nicht rein moralischen Dienstes übergegangen ist, so ist in der Art, ihm gleichsam mechanisch zu dienen, kein wesentlicher Unterschied, welcher der einen vor der andern einen Vorzug gebe. Sie sind alle dem Werth (oder vielmehr Unwerth) nach einerlei, und es ist bloße Ziererei, sich durch fe i n e r e Abweichung vom alleinigen intellectuellen Princip der ächten Gottesverehrung für auserlesener zu halten als die, welche sich eine vorgeblich g r ö b e r e Herabsetzung zur Sinnlichkeit zu Schulden kommen lassen. Ob der Andächtler seinen statutenmäßigen Gang zur K i r c he, oder ob er eine Wallfahrt nach den Heiligthümern in L o r e t t o oder Palästina anstellt, ob er seine Gebetsformeln mit den L ipp e n, oder wie der Tibetaner (welcher glaubt, daß diese Wünsche, auch schriftlich aufgesetzt, wenn sie nur durch irgend etwas, z. B. auf Flaggen geschrieben durch den Wind, oder in einer Büchse eingeschlossen als eine Schwungmaschine mit der Hand, b e we g t werden, ihren Zweck eben so gut erreichen) es durch ein G e b e t- R a d an die himmlische Behörde bringt, oder was für ein Surrogat des moralischen Dienstes Gottes es auch immer sein mag, das ist alles einerlei und von gleichem Werth. – Es kommt hier nicht sowohl auf den Unterschied in der äußern Form, sondern alles auf die Annehmung oder Verlassung des alleinigen Princips an, Gott entweder nur durch moralische Gesinnung, so fern sie sich in Handlungen als ihrer Erscheinung als lebendig darstellt, oder durch frommes Spielwerk und Nichtsthuerei wohlgefällig zu werden […]. Giebt es aber nicht etwa auch einen sich über die Grenzen des menschlichen Vermögens erhebenden schwindligen Tu g e n d wa h n, der wohl mit dem kriechenden Religionswahn in die allgemeine Klasse der Selbsttäuschungen gezählt werden könnte ? Nein, die
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Tugendgesinnung beschäftigt sich mit etwas W i r k l ic he m, was für sich selbst Gott wohlgefällig ist und zum Weltbesten zusammenstimmt. Zwar kann sich dazu ein Wahn des Eigendünkels gesellen, der Idee seiner heiligen Pflicht sich für adäquat zu halten; das ist aber nur zufällig. In ihr aber den höchsten Werth zu setzen, ist kein Wahn, wie etwa der in kirchlichen Andachtübungen, sondern baarer zum Weltbesten hinwirkender Beitrag.“ Im gleichen Sinne RGV, B 270 ff. / A 254 ff. (AA V I, 176 f.): „Von einem tungusischen S c h a m a n bis zu dem Kirche und Staat zugleich regierenden europäischen P r ä l a t e n, oder (wollen wir statt der Häupter und Anführer nur auf die Glaubensanhänger nach ihrer eignen Vorstellungsart sehen) zwischen dem ganz sinnlichen Wo g u l i t z e n, der die Tatze von einem Bärenfell sich des Morgens auf sein Haupt legt mit dem kurzen Gebet: ‚Schlag mich nicht todt!‘ bis zum sublimirten P u r i t a n e r und Independenten in C on n e c t ic u t ist zwar ein mächtiger Abstand in der M a n ie r, aber nicht im P r i n c i p zu glauben; denn was dieses betrifft, so gehören sie insgesammt zu einer und derselben Klasse, derer nämlich, die in dem, was an sich keinen bessern Menschen ausmacht, (im Glauben gewisser statutarischer Sätze, oder Begehen gewisser willkürlicher Observanzen) ihren Gottesdienst setzen. Diejenigen allein, die ihn lediglich in der Gesinnung eines guten Lebenswandels zu finden gemeint sind, unterscheiden sich von jenen durch den Überschritt zu einem ganz andern und über das erste weit erhabenen Princip, demjenigen nämlich, wodurch sie sich zu einer (unsichtbaren) Kirche bekennen, die alle Wohldenkende in sich befaßt und ihrer wesentlichen Beschaffenheit nach allein die wahre allgemeine sein kann. Die unsichtbare Macht, welche über das Schicksal der Menschen gebietet, zu ihrem Vortheil zu lenken, ist eine Absicht, die sie alle haben; nur wie das anzufangen sei, darüber denken sie verschieden. Wenn sie jene Macht für ein verständiges Wesen halten und ihr also einen Willen beilegen, von dem sie ihr Loos erwarten, so kann ihr Bestreben nur in der Auswahl der Art bestehen, wie sie als seinem Willen unterworfene Wesen durch ihr Thun und Lassen ihm gefällig werden können. Wenn sie es als moralisches Wesen denken, so überzeugen sie sich leicht durch ihre eigene Vernunft, daß die Bedingung, sein Wohlgefallen zu erwerben, ihr moralisch guter Lebenswandel, vornehmlich die reine Gesinnung als das subjective Princip desselben sein müsse. Aber das höchste Wesen kann doch auch vielleicht noch überdem auf eine Art gedient sein wollen, die uns durch bloße Vernunft nicht bekannt werden kann, nämlich durch Handlungen, denen für sich selbst wir zwar nichts Moralisches ansehen, die aber doch entweder als von ihm geboten, oder auch nur, um unsere Unterwürfigkeit gegen ihn zu bezeugen, willkürlich von uns unternommen werden; in welchen beiden Verfahrungsarten, wenn sie ein Ganzes systematisch geordneter Beschäftigungen ausmachen, sie also überhaupt einen D ie n s t Gottes setzen. – Wenn nun beide verbunden sein sollen, so wird entweder jede als unmittelbar, oder eine von beiden nur als Mittel zu der andern, als dem eigentlichen Dienste Gottes, für die Art angenommen werden müssen, Gott wohl zu gefallen. Daß der moralische Dienst Gottes (officium liberum) ihm unmittelbar
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gefalle, leuchtet von selbst ein. Er kann aber nicht für die oberste Bedingung alles Wohlgefallens am Menschen anerkannt werden (welches auch schon im Begriff der Moralität liegt), wenn der Lohndienst (officium mercennarium) als f ü r s ic h a l le i n Gott wohlgefällig betrachtet werden könnte; denn alsdann würde Niemand wissen, welcher Dienst in einem vorkommenden Falle vorzüglicher wäre, um das Urtheil über seine Pflicht darnach einzurichten, oder wie sie sich einander ergänzten. Also werden Handlungen, die an sich keinen moralischen Werth haben, nur so fern sie als Mittel zur Beförderung dessen, was an Handlungen unmittelbar gut ist, (zur Moralität) dienen, d. i. um de s m o r a l i s c he n D ie n s te s G o t te s w i l le n, als ihm wohlgefällig angenommen werden müssen.“ 156 Vgl. RGV, B 280 f. / A 264 f. (AA V I, 182): „Es ist also nicht allein klüglich gehandelt, von diesem [reinen Religionsglauben] anzufangen und den Geschichtsglauben, der damit harmonirt, auf ihn folgen zu lassen, sondern es ist auch Pflicht, ihn zur obersten Bedingung zu machen, unter der wir allein hoffen können, des Heils theilhaftig zu werden, was uns ein Geschichtsglaube immer verheißen mag, und zwar dergestalt, daß wir diesen nur nach der Auslegung, welche der reine Religionsglaube ihm giebt, für allgemein verbindlich können oder dürfen gelten lassen (weil dieser allgemein gültige Lehre enthält), indessen daß der Moralisch-Gläubige doch auch für den Geschichtsglauben offen ist, sofern er ihn zur Belebung seiner reinen Religionsgesinnung zuträglich findet, welcher Glaube auf diese Art allein einen reinen moralischen Werth hat, weil er frei und durch keine Bedrohung (wobei er nie aufrichtig sein kann) abgedrungen ist.“ 157 Vgl. RGV, B 286 f. / A 269 f. (AA V I, 185): „Es kommt in dem, was die moralische Gesinnung betrifft, alles auf den obersten Begriff an, dem man seine Pflichten unterordnet. Wenn die Verehrung Gottes das Erste ist, der man also die Tugend unterordnet, so ist dieser Gegenstand ein Idol, d. i. er wird als ein Wesen gedacht, dem wir nicht durch sittliches Wohlverhalten in der Welt, sondern durch Anbetung und Einschmeichelung zu gefallen hoffen dürften; die Religion aber ist alsdann Idololatrie. Gottseligkeit ist also nicht ein Surrogat der Tugend, um sie zu entbehren, sondern die Vollendung derselben, um mit der Hoffnung der endlichen Gelingung aller unserer guten Zwecke bekrönt werden zu können.“ Vgl. auch RGV, B 238 f. / A 224 f. (AA V I, 158): „Wenn wir nun einen Lehrer annehmen, von dem eine Geschichte (oder wenigstens die allgemeine, nicht gründlich zu bestreitende Meinung) sagt, daß er eine reine, aller Welt faßliche (natürliche) und eindringende Religion, deren Lehren als uns aufbehalten wir desfalls selbst prüfen können, zuerst öffentlich und sogar zum Trotz eines lästigen, zur moralischen Absicht nicht abzweckenden herrschenden Kirchenglaubens (dessen Frohndienst zum Beispiel jedes andern in der Hauptsache bloß statutarischen Glaubens, dergleichen in der Welt zu derselben Zeit allgemein war, dienen kann) vorgetragen habe; wenn wir finden, daß er jene allgemeine Vernunftreligion zur obersten unnachläßlichen Bedingung eines jeden Religionsglaubens gemacht habe und nun gewisse Statuta hinzugefügt habe, wel-
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che Formen und Observanzen enthalten, die zu Mitteln dienen sollen, eine auf jene Principien zu gründende Kirche zu Stande zu bringen: so kann man unerachtet der Zufälligkeit und des Willkürlichen seiner hierauf abzweckenden Anordnungen der letzteren doch den Namen der wahren allgemeinen Kirche, ihm selbst aber das Ansehen nicht streitig machen, die Menschen zur Vereinigung in dieselbe berufen zu haben, ohne den Glauben mit neuen belästigenden Anordnungen eben vermehren, oder auch aus den von ihm zuerst getroffenen besondere heilige und für sich selbst als Religionsstücke verpflichtende Handlungen machen zu wollen.“ 158 Vgl. dazu RGV, B 275 ff. / A 259 ff. (AA V I, 178 ff.): „Wer also die Beobachtung statutarischer einer Offenbarung bedürfenden Gesetze als zur Religion nothwendig und zwar nicht bloß als Mittel für die moralische Gesinnung, sondern als die objective Bedingung, Gott dadurch unmittelbar wohlgefällig zu werden, voranschickt und diesem Geschichtsglauben die Bestrebung zum guten Lebenswandel nachsetzt (anstatt daß die erstere als etwas, was nur b e d i n g t e r we i s e Gott wohlgefällig sein kann, sich nach dem letzteren, was ihm allein s c h le c h t h i n wohlgefällt, richten muß), der verwandelt den Dienst Gottes in ein bloßes Fetischmachen und übt einen Afterdienst aus, der alle Bearbeitung zur wahren Religion rückgängig macht. So viel liegt, wenn man zwei gute Sachen verbinden will, an der Ordnung, in der man sie verbindet! – In dieser Unterscheidung aber besteht die wahre Au f k l ä r u n g ; der Dienst Gottes wird dadurch allererst ein freier, mithin moralischer Dienst. Wenn man aber davon abgeht, so wird statt der Freiheit der Kinder Gottes dem Menschen vielmehr das Joch eines Gesetzes (des statutarischen) auferlegt, welches dadurch, daß es als unbedingte Nöthigung etwas zu glauben, was nur historisch erkannt werden und darum nicht für jedermann überzeugend sein kann, ein für gewissenhafte Menschen noch weit schwereres Joch ist […], als der ganze Kram frommer auferlegter Observanzen immer sein mag, bei denen es genug ist, daß man sie begeht, um mit einem eingerichteten kirchlichen gemeinen Wesen zusammen zu passen, ohne daß jemand innerlich oder äußerlich das Bekenntniß seines Glaubens ablegen darf, daß er es für eine von G o t t g e s t i f t e t e Anordnung halte: denn durch dieses wird eigentlich das Gewissen belästigt. Das P f a f fe n t hu m ist also die Verfassung einer Kirche, sofern in ihr ein Fe t i s c h d ie n s t regiert, welches allemal da anzutreffen ist, wo nicht Principien der Sittlichkeit, sondern statutarische Gebote, Glaubensregeln und Observanzen die Grundlage und das Wesentliche derselben ausmachen. Nun giebt es zwar manche Kirchenformen, in denen das Fetischmachen so mannigfaltig und so mechanisch ist, daß es beinahe alle Moralität, mithin auch Religion zu verdrängen und ihre Stelle vertreten zu sollen scheint und so ans Heidenthum sehr nahe angränzt; allein auf das Mehr oder Weniger kommt es hier nicht eben an, wo der Werth oder Unwerth auf der Beschaffenheit des z u o b e r s t verbindenden Princips beruht. Wenn dieses die gehorsame Unterwerfung unter eine Satzung als Frohndienst, nicht aber die freie Huldigung auferlegt, die dem moralischen Gesetze zu oberst geleistet werden soll: so mögen der auferlegten Observanzen noch so wenig
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sein; genug, wenn sie für unbedingt nothwendig erklärt werden, so ist das immer ein Fetischglauben, durch den die Menge regiert und durch den Gehorsam unter eine Kirche (nicht der Religion) ihrer moralischen Freiheit beraubt wird.“
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159 Vgl. RGV, B 298 f. / A 280 f. (AA V I, 192): „Nun sind M i t t e l alle Zwischen
ursachen, die der Mensch i n s e i ne r G e wa lt h at, um dadurch eine gewisse Absicht zu bewirken, und da giebts, um des himmlischen Beistandes würdig zu werden, nichts anders (und kann auch kein anderes geben), als ernstliche Bestrebung seine sittliche Beschaffenheit nach aller Möglichkeit zu bessern und sich dadurch der Vollendung ihrer Angemessenheit zum göttlichen Wohlgefallen, die nicht in seiner Gewalt ist, empfänglich zu machen, weil jener göttliche Beistand, den er erwartet, selbst eigentlich doch nur seine Sittlichkeit zur Absicht hat. Daß aber der unlautere Mensch ihn da nicht suchen werde, sondern lieber in gewissen sinnlichen Veranstaltungen (die er freilich in seiner Gewalt hat, die aber auch für sich keinen bessern Menschen machen können und nun doch übernatürlicher Weise dieses bewirken sollen), war wohl schon a priori zu erwarten, und so findet es sich auch in der That. Der Begriff eines sogenannten G n a de n m i t t e l s, ob er zwar (nach dem, was eben gesagt worden) in sich selbst widersprechend ist, dient hier doch zum Mittel einer Selbsttäuschung, welche eben so gemein als der wahren Religion nachtheilig ist. Der wahre (moralische) Dienst Gottes, den Gläubige als zu seinem Reich gehörige Unterthanen, nicht minder aber auch (unter Freiheitsgesetzen) als Bürger desselben zu leisten haben, ist zwar so wie dieses selbst unsichtbar, d. i. ein D ie n s t de r He r z e n (im Geist und in der Wahrheit) und kann nur in der Gesinnung, der Beobachtung aller wahren Pflichten als göttlicher Gebote, nicht in ausschließlich für Gott bestimmten Handlungen bestehen.“ 160 Vgl. RGV, B 299 / A 281 (AA V I, 192): „Allein das Unsichtbare bedarf doch beim Menschen durch etwas Sichtbares (Sinnliches) repräsentirt, ja, was noch mehr ist, durch dieses zum Behuf des Praktischen begleitet und, obzwar es intellectuell ist, gleichsam (nach einer gewissen Analogie) anschaulich gemacht zu werden; welches, obzwar ein nicht wohl entbehrliches, doch zugleich der Gefahr der Mißdeutung gar sehr unterworfenes Mittel ist, uns unsere Pflicht im Dienste Gottes nur vorstellig zu machen, durch einen uns überschleichenden Wa h n doch leichtlich für den G o t t e s d ie n s t selbst gehalten und auch gemeiniglich so benannt wird.“ 161 Erstaunlicherweise weicht Wilmans rein numerisch nun von Kant ab, der in RGV, B 299 f. / A 281 f. (AA V I, 192 f.) nämlich „vier Pflichtbeobachtungen“ unterscheidet: „Dieser angebliche Dienst Gottes, auf seinen Geist und seine wahre Bedeutung, nämlich eine dem Reich Gottes in uns und außer uns sich weihende Gesinnung, zurückgeführt, kann selbst durch die Vernunft in vier Pflichtbeobachtungen eingetheilt werden, denen aber gewisse Förmlichkeiten, die mit jenen nicht in nothwen-
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diger Verbindung stehen, correspondirend beigeordnet worden sind: weil sie jenen zum Schema zu dienen und so unsere Aufmerksamkeit auf den wahren Dienst Gottes zu erwecken und zu unterhalten von Alters her für gute sinnliche Mittel befunden sind. Sie gründen sich insgesammt auf die Absicht, das Sittlich-Gute zu befördern: 1) Es i n u n s s e l b s t fest zu gründen und die Gesinnung desselben wiederholentlich im Gemüth zu erwecken (das Privatgebet). 2) Die äu ß e r e Au s b r e i t u n g desselben durch öffentliche Zusammenkunft an dazu gesetzlich geweihten Tagen, um daselbst religiöse Lehren und Wünsche (und hiemit dergleichen Gesinnungen) laut werden zu lassen und sie so durchgängig mitzutheilen (das Kirchengehen). 3) Die Fo r t pf l a n z u n g desselben auf die Nachkommenschaft durch Aufnahme der neueintretenden Glieder in die Gemeinschaft des Glaubens, als Pflicht, sie darin auch zu belehren (in der christlichen Religion die Taufe). 4) Die E r h a l t u n g d i e s e r G e m e i n s c h a f t durch eine wiederholte öffentliche Förmlichkeit, welche die Vereinigung dieser Glieder zu einem ethischen Körper und zwar nach dem Princip der Gleichheit ihrer Rechte unter sich und des Antheils an allen Früchten des MoralischGuten fortdaurend macht (die Communion).“ Entscheidend für Kant wie für Wilmans’ reine Mystiker ist, daß diese „Förmlichkeiten“ und „Gebräuche“, auf welche der „sinnliche Mensch“ nicht leicht verzichten können mag, jedenfalls keine Mittel sind, über deren Abkürzung man sich Gottes Gnade erschleichen könnte: „Alles Beginnen in Religionssachen, wenn man es nicht blos moralisch nimmt und doch für ein a n s ic h Gott wohlgefällig machendes, mithin durch ihn alle unsere Wünsche befriedigendes Mittel ergreift, ist ein Fe t i s c h g l au b e, welcher eine Überredung ist: daß, was weder nach Na t u r - noch nach moralischen Vernunftgesetzen irgend etwas wirken kann, doch dadurch allein schon das Gewünschte wirken werde, wenn man nur festiglich glaubt, es werde dergleichen wirken, und dann mit diesem Glauben gewisse Förmlichkeiten verbindet. Selbst, wo die Überzeugung, daß alles hier auf das Sittlich-Gute, welches nur aus dem Thun entspringen kann, ankomme, schon durchgedrungen ist, sucht sich der sinnliche Mensch doch noch einen Schleichweg, jene beschwerliche Bedingung zu umgehen, nämlich daß, wenn er nur d ie We i s e (die Förmlichkeit) begeht, Gott das wohl für die That selbst annehmen würde; welches denn freilich eine überschwengliche Gnade desselben genannt werden müßte, wenn es nicht vielmehr eine im faulen Vertrauen erträumte Gnade, oder wohl gar ein erheucheltes Vertrauen selbst wäre. Und so hat sich der Mensch in allen öffentlichen Glaubensarten gewisse Gebräuche als G n a de n m i t t e l ausgedacht, ob sie gleich sich nicht in allen, so wie in der christlichen auf praktische Vernunftbegriffe und ihnen gemäße Gesinnungen beziehen (als z. B. in der muhammedanischen von den fünf großen Geboten, das Waschen, das Beten, das Fasten, das Almosengeben, die Wallfahrt nach Mekka; wovon das Almosengeben allein ausgenommen zu werden verdienen würde, wenn es aus wahrer tugendhafter und zugleich religiöser Gesinnung für Menschenpflicht geschähe und so auch wohl wirklich für ein Gnadenmittel gehalten zu werden
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verdienen würde: da es hingegen, weil es nach diesem Glauben gar wohl mit der Erpressung dessen, was man in der Person der Armen Gott zum Opfer darbietet, von Andern zusammen bestehen kann, nicht ausgenommen zu werden verdient).“ 162 Vgl. RGV, B 310 f. / A 292 f. (AA V I, 199 f.). 163 Vgl. RGV, B 302 ff. / A 284 ff. (AA V I, 194 ff.). 164 Vgl. RGV, B 308 ff. / A 290 ff. (AA V I, 198 f.). 165 Vgl. RGV, B 311 ff. / A 293 ff. (AA V I, 200 f.): „Alle dergleichen erkünstelte Selbsttäuschungen in Religionssachen haben einen gemeinschaftlichen Grund. Der Mensch wendet sich gewöhnlicher Weise unter allen göttlichen moralischen Eigenschaften, der Heiligkeit, der Gnade und der Gerechtigkeit, unmittelbar an die zweite, um so die abschreckende Bedingung, den Forderungen der ersteren gemäß zu sein, zu umgehen. Es ist mühsam, ein guter D ie n e r zu sein (man hört da immer nur von Pflichten sprechen); er möchte daher lieber ein Favo r i t sein, wo ihm vieles nachgesehen, oder, wenn ja zu gröblich gegen Pflicht verstoßen worden, alles durch Vermittelung irgend eines im höchsten Grade Begünstigten wiederum gut gemacht wird, indessen daß er immer der lose Knecht bleibt, der er war. Um sich aber auch wegen der Thunlichkeit dieser seiner Absicht mit einigem Scheine zu befriedigen, trägt er seinen Begriff von einem Menschen (zusammt seinen Fehlern) wie gewöhnlich auf die Gottheit über; und so wie auch an den besten O b e r e n von u n s e r e r Ga t t u n g die gesetzgebende Strenge, die wohlthätige Gnade und die pünktliche Gerechtigkeit nicht (wie es sein sollte) jede abgesondert und für sich zum moralischen Effect der Handlungen des Unterthans hinwirken, sondern sich in der Denkungsart des menschlichen Oberherrn bei Fassung seiner Rathschlüsse ve r m i s c he n, man also nur der einen dieser Eigenschaften, der gebrechlichen Weisheit des menschlichen Willens, beizukommen suchen darf, um die beiden andern zur Nachgiebigkeit zu bestimmen: so hofft er dieses auch dadurch bei Gott auszurichten, indem er sich bloß an seine G n a de wendet. (Daher war es auch eine für die Religion wichtige Absonderung der gedachten Eigenschaften, oder vielmehr Verhältnisse Gottes zum Menschen, durch die Idee einer dreifachen Persönlichkeit, welcher analogisch jene gedacht werden soll, jede besonders kenntlich zu machen.) Zu diesem Ende befleißigt er sich aller erdenklichen Förmlichkeiten, wodurch angezeigt werden soll, wie sehr er die göttlichen Gebote ve r e h r e, um nicht nöthig zu haben, sie zu b e o b a c h t e n ; und damit seine thatlosen Wünsche auch zur Vergütung der Übertretung derselben dienen mögen, ruft er: ‚Herr! Herr!‘ um nur nicht nöthig zu haben, ‚den Willen des himmlischen Vaters zu thun‘ [Mt 7, 21; vgl. Röm 2, 13; Jak 1, 22], und so macht er sich von den Feierlichkeiten im Gebrauch gewisser Mittel zur Belebung wahrhaft praktischer Gesinnungen den Begriff, als von Gnadenmitteln an sich selbst; giebt sogar den Glauben, daß sie es sind, selbst für ein wesentliches Stück der Religion (der gemeine Mann gar für das Ganze derselben) aus und überläßt es der allgütigen Vorsorge, aus ihm einen bessern Menschen zu machen, indem er sich der F r ö m m i g k e i t (einer passiven Verehrung des göttlichen Gesetzes) statt
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der Tu g e n d (der Anwendung eigener Kräfte zur Beobachtung der von ihm verehrten Pflicht) befleißigt, welche letztere doch mit de r e r s t e r e n ve r b u n de n, allein die Idee ausmachen kann, die man unter dem Worte G o t t s e l i g k e i t (wahre Re l i g ion s g e s i n nu n g ) versteht.“ 166 S. o. Anm. 5.
III. Subtext: Systematische Zusammenfassung und Weiterführung 1. Kants Kritik der Mystik: Das Unding einer übersinnlichen Erfahrung Der Text von Wilmans’ Dissertation hält sich auch in der oben dokumentierten Darstellung der Positionen des reinen Mystizismus so eng an Kants Religionsschrift, daß dessen anfänglich wohlwollende Aufnahme der These von ihrer latenten inhaltlichen Ähnlichkeit nun weit weniger überrascht, als es vielmehr verwunderlich gewesen wäre, wenn Kant mit Wilmans’ rein moralischen Mystikern auch zentrale Annahmen und Argumente seiner eigenen Religionsphilosophie pauschal hätte zurückweisen wollen. Vor dem Hintergrund der von Wilmans dargelegten generischen Gemeinsamkeit einer beiderseits ganz um das Sittengesetz der reinen praktischen Vernunft zentrierten Religion des guten Lebenswandels1 hält Kant in seiner Vorrede zu Jachmanns Prüfschrift dennoch und nicht ohne einen gewissen polemischen Nachdruck an einer von seinem Schüler herausgestellten, 2 von Wilmans selbst aber auch nicht abgestrittenen spezifischen Differenz fest, die er zu der bereits zitierten Frage zuspitzt, ob nun „Weisheit von oben herab dem Menschen (durch Inspiration) e i n g e g o s s e n , oder von unten hinauf durch innere Kraft seiner praktischen Vernunft e r k l i m m t werde“.3
1
Vgl. nur z. B. RGV, B 148 / A 140 (AA V I, 104): „Es mögen nun aber auch statutarische göttliche Gesetze (die sich nicht von selbst als verpflichtend, sondern nur als geoffenbarter göttlicher Wille für solche erkennen lassen) angenommen werden: so ist doch die reine m o r a l i s c h e Gesetzgebung, dadurch der Wille Gottes ursprünglich in unser Herz geschrieben ist, nicht allein die unumgängliche Bedingung aller wahren Religion überhaupt, sondern sie ist auch das, was diese selbst eigentlich ausmacht, und wozu die statutarische nur das Mittel ihrer Beförderung und Ausbreitung enthalten kann.“ 2 Vgl. Reinhold Bernhard Jachmann: Prüfung der Kantischen Religionsphilosophie in Hinsicht auf die ihr beygelegte Aehnlichkeit mit dem reinen Mystizism. Mit einer Einleitung von Immanuel Kant, hg. v. R. Theis (Europaea memoria: II, Bd. 1), Hildesheim/Zürich/New York 1999, 10 ff.; vgl. SF, A 126 (AA V II, 74). 3 VJP (AA V III, 441); dem entspricht die Alternative in RGV, B 208 / A 196 (AA V I, 137 f.): „Der Glaube an etwas, was wir doch zugleich als heiliges Geheimniß betrachten sollen, kann nun entweder für einen g ö t t l i c h e i n g e g e b e n e n, oder einen r e i n e n Ve r n u n f t g l a u b e n gehalten werden“; vgl. dazu Christian Rößner: Der „Grenzgott der Moral“. Eine phänomenologische Relektüre von Immanuel Kants praktischer Metaphysik im Ausgang von Emmanuel Levinas (Phänomenologie: Kontexte, Bd. 26), Freiburg/München 2018, 392 f., Anm.
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Subtext: Systematische Zusammenfassung und Weiterführung
Mit dieser dichotomischen Alternative von alpinistischer Ambition („Bottomup“-Philosophie) und inspirierter Infiltration („Top-down“-Mystizismus) schreibt Kant der Mystik ein lediglich „passives Erkenntnißmittel“4 zu, um sich im gleichen Zuge vom offenen Selbstwiderspruch einer solchen „ü b e r s i n n l i c h e n E r f a h r u n g “,5 die „das Transscendente als immanent vorzustellen“6 pflegt, dezidiert abzusetzen. Kants Haupteinwand gegen die Möglichkeit einer Mystik aus dem Geist der kritischen Philosophie läuft damit letztlich auf den Generalvorwurf der (sowohl ethischen als auch epistemischen) Arroganz7 hinaus: Mit der verweigerten „herculische[n] Arbeit“8 am Begriff geht nach Kant nämlich nicht nur eine Form von quasi-quietistischer Faulheit einher, die das sozusagen sündenstolze Bewußtsein von einem radikal Bösen in der menschlichen Natur und der damit unaufhebbar verbundenen Angewiesenheit auf die von keinem Herkules zu erzwingende Gabe der Gnade zum melancholisch-verträumten Vorwand nimmt, jede Eigeninitiative und Anstrengung lieber gleich ganz sein und bleiben
4
VJP (AA V III, 441). zum „sich selbst schon im Begriffe widersprechende[n] Unding […] einer Ü b e r s i n n l i c h e n E r f a h r u n g “ vgl. auch HN (AA X XIII, 468): „Eine solche Bastartserzeugung des Erkenntnisprincips ist es was unter dem Namen der Mystik M y s t i k genannt werden müssen welche den Nahmen einer G e h e i m l e h r e (doctrina arcani) bey sich führt woran sie wenigstens darin wohl thut nur wenige wie es den Adepten zukommt mit gleichem Unsinn anzustecken.“ 6 VJP (AA V III, 441). 7 Vgl. Refl 6053 (AA X VIII, 439): „Die abergläubische religion gründet sich auf einem Princip der Unterwerfung der Vernunft unter den Wahn der Warnehmungen. Der Mensch erhebt sich in der Schwarmerey über der Menschheit.“ Vgl. dazu Reiner Manstetten: „Kant und das Problem der Mystik“, in: Christel Fricke, Peter König u. Thomas Petersen (Hg.): Das Recht der Vernunft. Kant und Hegel über Denken, Erkennen und Handeln (Spekulation und Erfahrung: II, Bd. 37: FS H. F. Fulda), Stuttgart-Bad Cannstatt 1995, 33 – 60: 38 ff. 8 VT, A 390 (AA V III, 390); „die herculische Arbeit des Selbsterkenntnisses […] von unten hinauf“ steht der „nichts kostende[n] Apotheose von oben herab“ entgegen; letzere wird vom faul-verwöhnten „Philosophen der Anschauung“ (VT, A 390 (AA V III, 390)) in Anspruch genommen, wenn er es nicht nötig zu haben glaubt, „viele Arbeit zu der Auflösung und wiederum der Zusammensetzung seiner Begriffe nach Principien [zu] verwenden und viele Stufen mühsam [zu] besteigen, um im Erkenntniß Fortschritte zu thun“, sondern immer schon alles „unmittelbar und auf einmal“ (VT, A 388 (AA V III, 389); vgl. VT, A 390 (AA V III, 390): „durch einen einzigen Scharfblick auf [sein] Inneres“; vgl. HN (AA X XIII, 468) „gleich als einen Zauberschlag auf einmal und ohne Mühe“) überblickt und eingesehen zu haben meint; solche Geisterseherei betreiben die „Intellectualphilosophen“ (vgl. KrV, B 881 / A 853 (AA I II, 550 f.); KrV, B 323 / A 267 (AA I II, 219 / IV, 173); Refl 4894 (AA X VIII, 21)) mit ihrer „vorgebliche[n] Philosophie, bei der man nicht arbeiten, sondern nur das Orakel in sich selbst anhören und genießen“ (VT, A 389 f. (AA V III, 390)) braucht und „aller Arbeit […] überhoben“ (VJP (AA V III, 441)) ist; dagegen steht ein kantisches Arbeitsethos, das dem „ehrlichen Candide“ (TG, A 128 (AA I I, 373)) bei der Gartenarbeit zu helfen und fleißig den Boden der Begriffe zu bestellen sich nicht scheut. Vgl. auch Rößner: Der „Grenzgott der Moral, 407 f., Anm. 5 Ebd.;
Subtext: Systematische Zusammenfassung und Weiterführung
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zu lassen,9 sondern diese übermäßige Passivität scheint mit einem gerade von den Mystikern und anderen (pseudo-)platonischen10 „Gefühlsphilosoph[en]“11 neuerdings erhobenen vornehmen Ton einherzugehen, gegen den Kant bereits in der gleichlautenden kleinen Schrift von 1796 argumentiert und polemisiert hatte.12
9
Zur „Trägheit […], das, was wir in uns selbst suchen sollten, von oben herab in passiver Muße zu erwarten“, vgl. RGV, B 298 / A 280 (AA V I, 191); vgl. die „im faulen Vertrauen erträumte Gnade“ in RGV, B 301 / A 283 (AA V I, 193); vgl. auch RGV, B 243 / A 229 (AA V I, 161): „Denen also, die dieses moralische Gute mit der Hand im Schooße, als eine himmlische Gabe von oben herab, ganz passiv zu erwarten meinen, spricht er [der Lehrer des Evangeliums] alle Hoffnung dazu ab. Wer die natürliche Anlage zum Guten, die in der menschlichen Natur (als ein ihm anvertrautes Pfund) liegt, unbenutzt läßt, im faulen Vertrauen, ein höherer moralischer Einfluß werde wohl die ihm mangelnde sittliche Beschaffenheit und Vollkommenheit sonst ergänzen, dem droht er an, daß selbst das Gute, was er aus natürlicher Anlage möchte gethan haben, um dieser Verabsäumung willen ihm nicht zu statten kommen solle“; RGV, B 263 / A 247 f. (AA V I, 172): „wer ist alsdann hier wohl der Ungläubige ? der, welcher vertrauet, ohne zu wissen, wie das, was er hofft, zugehe, oder der, welcher diese Art der Erlösung des Menschen vom Bösen durchaus wissen will, widrigenfalls er alle Hoffnung auf dieselbe aufgiebt ? – Im Grunde ist dem Letzteren am Wissen dieses Geheimnisses so viel eben nicht gelegen (denn das lehrt ihn schon seine Vernunft, daß etwas zu wissen, wozu er doch nichts thun kann, ihm ganz unnütz sei); sondern er will es nur wissen, um sich (wenn es auch nur innerlich geschehe) aus dem G l a u b e n, der Annahme, dem Bekenntnisse und der Hochpreisung alles dieses Offenbarten einen Gottesdienst machen zu können, der ihm die Gunst des Himmels vor allem Aufwande seiner eigenen Kräfte zu einem guten Lebenswandel, also ganz umsonst erwerben, den letzteren wohl gar übernatürlicher Weise hervorbringen, oder, wo ihm etwa zuwider gehandelt würde, wenigstens die Übertretung vergüten könne“; RGV, B 284 ff. / A 268 f. (AA V I, 183 ff.): „Dieser Muth, auf eigenen Füßen zu stehen, wird nun selbst durch die darauf folgende Versöhnungslehre gestärkt, indem sie, was nicht zu ändern ist, als abgethan vorstellt und nun den Pfad zu einem neuen Lebenswandel für uns eröffnet, anstatt daß, wenn diese Lehre den Anfang macht, die leere Bestrebung, das Geschehene ungeschehen zu machen (die Expiation), die Furcht wegen der Zueignung derselben, die Vorstellung unseres gänzlichen Unvermögens zum Guten und die Ängstlichkeit wegen des Rückfalls ins Böse dem Menschen den Muth benehmen […] und ihn in einen ächzenden moralisch-passiven Zustand, der nichts Großes und Gutes unternimmt, sondern alles vom Wünschen erwartet, versetzen muß.“ Vgl. auch SF, A 60 (AA V II, 43): „Die Schriftstellen also, die eine blos passive Ergebung an eine äußere in uns Heiligkeit wirkende Macht zu enthalten scheinen, müssen so ausgelegt werden, daß daraus erhelle, wir müssen an der Entwickelung jener moralischen Anlage in uns s e l b s t a r b e i t e n, ob sie zwar selber eine Göttlichkeit eines Ursprungs beweiset, der höher ist als alle Vernunft (in der theoretischen Nachforschung der Ursache), und daher, sie besitzen, nicht Verdienst, sondern Gnade ist.“ 10 Die Ambivalenz der für Kant sowohl vorbildlichen als auch verderblichen Rolle Platons wurde von Jacques Derrida: D’un ton apocalyptique adopté naguère en philosophie, Paris 2005, 38 f. herausgestellt; vgl. dazu Rößner: Der „Grenzgott der Moral“, 403, Anm. 11 VT, A 410 (AA V III, 399). 12 Vgl. dazu in aller Ausführlichkeit Christian Rößner: „Kant als Mystiker ? Zur These von Carl Arnold Wilmans’ dissertatio philosophica“, in: Kantian Journal 37, 3 (2018), 7 – 30: 17 ff.; ders.: Der „Grenzgott der Moral“, 403 ff.
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Subtext: Systematische Zusammenfassung und Weiterführung
Hier wie dort gilt Kants Kritik den „Kraftgenies“13 und „Kraftmännern“,14 die nämlich „nicht de n k e n können“ und darum „selbst in dem, was bloß auf allgemeine Gesetze ankommt, sich durchs F ü h le n auszuhelfen glauben“.15 Anstatt „d u r c h s G e f ü h l z u ph i l o s o ph i r e n“, ist es nach Kant aber lediglich legitim, „d u r c h Ph i l o s o ph ie das sittliche G e f ü h l in Bewegung und K r a f t z u ve r s e t z e n“.16 Während die von den Schwärmern in ihrer elitären Esoterik je für sich reklamierte „T he o ph a n ie […] aus der Idee des Plato ein Idol [macht], welches nicht anders als abergläubisch verehrt werden kann“,17 stellt die „T he olo g ie, die von Begriffen unsrer eigenen Vernunft ausgeht, ein Ide a l auf […], welches uns Anbetung abzwingt, da es selbst aus den heiligsten von der Theologie unabhängigen Pflichten entspringt“.18 Wenn der „Philosoph der V i s i on“19 ein „Geheimnisgefühl“20 exklusiv für sich gepachtet zu haben glaubt, das sich öffentlich-intersubjektiver Nachprüfbarkeit entzieht, riskiert er den „Tod aller Philosophie“.21 Um dieser Gefahr zu wehren, beharrt Kant auf einem Gottesbegriff, „der aus unserer Vernunft hervorgehen muß, von uns selbst gemacht sein“22 muß. Kant verwei13
SF, A 106 (AA V II, 65): „Die Keckheit der Kraftgenies, welche diesem Leitbande des Kirchenglaubens sich jetzt schon entwachsen zu sein wähnen, sie mögen nun als Theophilanthropen in öffentlichen dazu errichteten Kirchen, oder als Mystiker bei der Lampe innerer Offenbarungen schwärmen, würde die Regierung bald ihre Nachsicht bedauren machen, jenes große Stiftungs- und Leitungsmittel der bürgerlichen Ordnung und Ruhe vernachlässigt und leichtsinnigen Händen überlassen zu haben“. 14 VT, A 414, Anm. (AA V III, 401). 15 GMS, BA 91 (AA I V, 442). 16 VT, A 416 (AA V III, 401). 17 VT, A 415, Anm. (AA V III, 401); vgl. auch MS TL, A 97 (AA V I, 436 f.): „ihr demüthigt euch alsdann nicht unter einem I d e a l, das euch eure eigene Vernunft vorstellt, sondern unter einem I d o l, was euer eigenes Gemächsel ist“; zur „Idololatrie“ vgl. VT, A 413, Anm. (AA V III, 400); vgl. auch RGV, B 257, Anm. (AA V I, 168 f.); RGV, B 286 / A 270 (AA V I, 185); RGV, B 309 / A 291 (AA V I, 199); KU, B 440 / A 434 f. (AA V, 459); HN (AA X XIII, 122; 445); OP (AA X XI, 150); OP (AA X XII, 113). 18 VT, A 415, Anm. (AA V III, 401); vgl. VT, A 414, Anm. (AA V III, 401): „Aus dem moralischen Gesetz, welches uns unsere eigene Vernunft mit Autorität vorschreibt, nicht aus der Theorie der Natur der Dinge an sich selbst geht nun der Begriff von Gott hervor, welchen uns s e l b s t z u m a c h e n die praktische reine Vernunft nöthigt“. 19 VT, A 420 (AA V III, 403); zum „Philosophen der A n s c h a u u n g “ vgl. VT, A 390 (AA V III, 390); vgl. schon KK, A 26 (AA I I, 267): der „ Fa n a t i k e r ( V i s i o n ä r, S c hwä r m e r) […] ist eigentlich ein Verrückter von einer vermeinten unmittelbaren Eingebung und einer großen Vertraulichkeit mit den Mächten des Himmels. Die menschliche Natur kennt kein gefährlicheres Blendwerk“. 20 VT, A 416 (AA V III, 402); vgl. SF, A 65 f. (AA V II, 46): „die Phantasie verläuft sich bei Religionsdingen unvermeidlich ins Überschwengliche, wenn sie das Übersinnliche (was in allem, was Religion heißt, gedacht werden muß) nicht an bestimmte Begriffe der Vernunft, dergleichen die moralische sind, knüpft, und führt zu einem Illuminatism innerer Offenbarungen, deren ein jeder alsdann seine eigene hat und kein öffentlicher Probirstein der Wahrheit mehr Statt findet“. 21 VT, A 407 (AA V III, 398); VT, A 424 (AA V III, 405); vgl. VT, A 399, Anm. (AA V III, 394). 22 VT, A 415, Anm. (AA V III, 401); vgl. RGV, B 257, Anm. (AA V I, 168 f.): „Es klingt zwar
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gert den kühnen „Übersprung“, der aus dem Stand einen „salto mortale […] von Begriffen zum Undenkbaren“ schlägt,23 und läßt an seine Stelle einen „langsame[n], schwerfällige[n]“24 „Übergang […] zum Übersinnlichen“25 treten, der auch „nur in moralisch-praktischer Rücksicht“26 erfolgen kann. Kant akzeptiert keine „übernatürliche Mittheilung (mystische Erleuchtung)“, 27 aber eine Art Analogon, insofern nämlich aller Menschen „Verstand schon durch die Vorstellung des Gesetzes ihrer Pflicht erleuchtet ist“:28 „Zwar in die Sonne (das Übersinnliche)29 hinein sehen, ohne zu erblinden, ist nicht möglich; aber sie in der Reflexe (der die Seele moralisch erleuchtenden Vernunft) und selbst in praktischer Absicht hinreichend zu sehen, wie der ältere Plato that, ist ganz thunlich: wogegen die Neuplatoniker ‚uns sicher nur eine Theatersonne geben,‘ weil sie uns durch Gefühle (Ahnungen), d. i. bloß das Subjective, was gar bedenklich, ist aber keinesweges verwerflich, zu sagen: daß ein jeder Mensch sich einen G o t t m a c h e , ja nach moralischen Begriffen (begleitet mit den unendlich-großen Eigenschaften, die zu dem Vermögen gehören, an der Welt einen jenen angemessenen Gegenstand darzustellen) sich einen solchen selbst machen müsse, um an ihm den, d e r i h n g e m a c h t h a t , zu verehren. Denn auf welcherlei Art auch ein Wesen als G o t t von einem anderen bekannt gemacht und beschrieben worden, ja ihm ein solches auch (wenn das möglich ist) selbst erscheinen möchte, so muß er diese Vorstellung doch allererst mit seinem Ideal zusammen halten, um zu urtheilen, ob er befugt sei, es für eine Gottheit zu halten und zu verehren. Aus bloßer Offenbarung, ohne jenen Begriff vo r h e r in seiner Reinigkeit, als Probirstein, zum Grunde zu legen, kann es also keine Religion geben, und alle Gottesverehrung würde I d o l o l a t r i e sein“. 23 VT, A 407 (AA V III, 398); zum „gefährlichen Sprung“ vgl. VT, A 397 (AA V III, 393); zum „Verzweifelungssprung (salto mortale)“ vgl. auch TP, A 269 f. (AA V III, 306); RGV, B 178 / A 169 (AA V I, 121); OP (AA X XII, 279; 512); vgl. dazu Norbert Fischer (Hg.): Die Gnadenlehre als „salto mortale“ der Vernunft ? Natur, Freiheit und Gnade im Spannungsfeld von Augustinus und Kant, Freiburg/München 2012. 24 WDO, A 327 (AA V III, 145). 25 VT, A 421 (AA V III, 404). 26 Ebd. 27 VT, A 407 (AA V III, 398); vgl. WDO, A 327 (AA V III, 145): „Die alsdann angenommene Maxime der Ungültigkeit einer zu oberst gesetzgebenden Vernunft nennen wir gemeine Menschen Schwärmerei; jene Günstlinge der gütigen Natur aber E r l e u c h t u n g “. 28 EaD, A 520 (AA V III, 338); zur „erleuchteten praktischen Vernunft“ vgl. auch EaD, A 515 (AA V III, 336) bzw. die „die Seele moralisch erleuchtende […] Vernunft“ in VT, A 410 (AA V III, 399) und den „durchs heilige moralische Gesetz erleuchtete[n] […] gemeine[n] Mann“ in Refl 8101 (AA X IX, 644); zur Absetzung dieser inneren Erleuchtung durch das übersinnliche (nicht: übernatürliche; zu dieser Differenz vgl. SF, A 82 ff. (AA V II, 54 f.)) Sittengesetz von der Äußerlichkeit sinnlich erfahrbarer Offenbarung in der Geschichte vgl. auch aus einem Briefentwurf an Lavater: „Vorausgesetzt: daß kein Buch von welcher Autoritaet es auch sey ja sogar eine meinen eigenen Sinnen geschehene Offenbarung mir etwas zur Religion (der Gesinnungen) auferlegen kan was nicht schon durch das heilige Gesetz in mir wornach ich vor alles Rechenschaft geben muß mir zur Pflicht geworden ist“ (Br (AA X, 179)). Vgl. auch Rößner: Der „Grenzgott der Moral“, 106, Anm.; 252 f., Anm. 29 Vgl. Anselm Model: „Zu Bedeutung und Ursprung von ‚übersinnlich‘ bei Immanuel Kant“, in: Archiv für Begriffsgeschichte 30 (1986/87), 183 – 191.
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keinen Begriff von dem Gegenstande giebt, täuschen wollen, um uns mit dem Wahn einer Kenntniß des Objectiven hinzuhalten, was aufs Überschwengliche30 angelegt ist.“31
Die spezifische Differenz zur mystischen Schwärmerei, d. h. die entscheidende Eigenheit „dieses wahren Geheimnisses“, 32 „welches nur nach langsamer Ent wickelung der Begriffe des Verstandes und sorgfältig geprüften Grundsätzen, also nur durch Arbeit, f ü h l b a r werden kann“,33 besteht darin, daß es „nicht empirisch (der Vernunft zur Auflösung aufgestellt), sondern a priori (als wirkliche Einsicht innerhalb der Gränze unserer Vernunft) gegeben [ist]“ und darum „sogar das Vernunfterkenntniß, aber nur in praktischer Rücksicht, bis zum Übersinnlichen [erweitert]“.34 Kants scheint damit einerseits auf der spezifischen Differenz seiner Religionslehre auch noch zum reinsten Mystizismus zu beharren, den Mystikern andererseits in irenischem Entgegenkommen und dialektischer Diplomatie einen wenn nicht ewigen Frieden, so doch zumindest dauerhaften Waffenstillstand der argumentativen Auseinandersetzung anzubieten. Denn wozu, so fragt nun schließlich Kants Konzilianz, wozu „aller dieser Streit zwischen zwei Parteien, die im Grunde eine und dieselbe gute Absicht haben, nämlich die Menschen weise und rechtschaffen zu machen […] – Es ist ein Lärm um nichts, Veruneinigung aus Mißverstande, bei der es keiner Aussöhnung, sondern nur einer wechselseitigen Erklärung bedarf“.35 Letztere lautet: „Die verschleierte Göttin,36 vor der wir beiderseits unsere Kniee beugen, ist das moralische Gesetz in uns in seiner unverletzlichen Majestät. Wir vernehmen zwar 30
Vgl. Johannes Zachhuber: „‚Überschwenglich‘. Ein Begriff der Mystikersprache bei Immanuel Kant“, in: Archiv für Begriffsgeschichte 42 (2001), 139 – 154. 31 VT, A 410 (AA V III, 399); vgl. die „sehr dunkele und zweideutige Aussicht“ in KpV, A 266 (AA V, 147), wo „der Weltregierer uns sein Dasein und seine Herrlichkeit nur muthmaßen, nicht erblicken, oder klar beweisen läßt, dagegen das moralische Gesetz in uns, ohne uns etwas mit Sicherheit zu verheißen, oder zu drohen, von uns uneigennützige Achtung fordert, übrigens aber, wenn diese Achtung thätig und herrschend geworden, allererst alsdann und nur dadurch Aussichten ins Reich des Übersinnlichen, aber auch nur mit schwachen Blicken erlaubt“. 32 VT, A 419 (AA V III, 403). 33 Ebd. 34 Ebd.; vgl. VT, A 388 (AA V III, 389): „ein Erkenntniß des Übersinnlichen (das in theoretischer Absicht allein ein wahres Geheimniß ist) […], welches zu enthüllen in praktischer Absicht dem menschlichen Verstande allerdings möglich ist“; vgl. auch FM, A 148 f. (AA X X, 310). 35 VT, A 422 f. (AA V III, 405). 36 Mit der Allegorie der verschleierten Isis greift Kant das zentrale Mythologoumenon des ägyptisierenden Mysterienkultes auf, wie er gegen Ende des 18. Jahrhunderts vornehmlich durch Schillers 1795 in den Horen publizierte Ballade „Das verschleierte Bild zu Sais“ eine gewisse Breitenwirkung erlangte. Die saitische Inschrift zitiert Kant in KU, B 197 / A 194 f., Anm. (AA V, 316): „Vielleicht ist nie etwas Erhabneres gesagt, oder ein Gedanke erhabener ausgedrückt worden, als in jener Aufschrift über dem Tempel der I s i s (der Mutter Na t u r): ‚Ich bin
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ihre Stimme und verstehen auch gar wohl ihr Gebot; sind aber beim Anhören im Zweifel, ob sie von dem Menschen aus der Machtvollkommenheit seiner eigenen Vernunft selbst, oder ob sie von einem Anderen, dessen Wesen ihm unbekannt ist, und welches zum Menschen durch diese seine eigene Vernunft spricht, herkomme. Im Grunde thäten wir vielleicht besser uns dieser Nachforschung gar zu über heben, da sie bloß speculativ ist, und, was uns zu thun obliegt (objectiv), immer dasselbe bleibt, man mag eines oder das andere Princip zum Grunde legen: nur daß das didaktische Verfahren, das moralische Gesetz in uns auf deutliche Begriffe nach logischer Lehrart zu bringen, eigentlich allein p h i l o s o p h i s c h, dasjenige aber, jenes Gesetz zu personificiren und aus der moralisch gebietenden Vernunft eine verschleierte Isis zu machen (ob wir dieser gleich keine andere Eigenschaften beilegen, als die nach jener Methode gefunden werden), eine ä s t he t i s c he Vorstellungsart eben desselben Gegenstandes ist; deren man sich wohl hinten nach, wenn durch erstere die Principien schon ins Reine gebracht worden, bedienen kann, um durch sinnliche, obzwar nur analogische, Darstellung jene Ideen zu beleben, doch immer mit einiger Gefahr in schwärmerische Vision zu gerathen, die der Tod aller Philosophie ist“.37
Kants Haltung zur Mystik ließe sich seinem Selbstverständnis entsprechend demnach dahingehend zusammenfassen,38 daß in der Mystik, insofern es auch ihr um „Weisheit“39 zu tun ist, zwar kein anderes Ziel verfolgt wird als in der Philosophie, doch der Weg dorthin in direkt entgegengesetzter Richtung beschritten, das Bedingungsgefüge von rein-philosophischen und ästhetisch-affektiven Anteilen
alles, was da ist, was da war, und was da sein wird, und meinen Schleier hat kein Sterblicher aufgedeckt.‘“ Ausführlicher dazu Rößner: Der „Grenzgott der Moral“, 393, Anm. 37 VT, A 423 f. (AA V III, 405); vgl. Rößner: Der „Grenzgott der Moral“, 393 ff. 38 Manstetten: „Kant und das Problem der Mystik“, 37 ff. rekapituliert präzise Kants Kritik der Mystik, indem er einen formalen und zwei inhaltliche Kritikpunkte benennt (und späterhin erläutert): „Formal ist die Mystik abzulehnen aufgrund ihrer mangelnden Allgemeinheit. Als ‚Geheimlehre‘ entzieht sie sich dem Diskurs der Denkenden; im Gegensatz zur Allgemeinheit des moralischen Gesetzes setzt sie besondere Kenntnisse in Form von ‚Inspiration‘ voraus, die nicht Sache von jedermann sein können [vgl. RGV, B 246 / A 232 (AA V I, 162) und dazu Bernd Dörflinger: „Offenbarung – nicht jedermanns Sache. Kants Kritik der historischen Religionen“, in: Bernd Dörflinger, Gerhard Krieger u. Manfred Scheuer (Hg.): Wozu Offenbarung ? Zur philosophischen und theologischen Begründung von Religion, Paderborn/München/Wien/Zürich 2006, 141 – 164]. Infolgedessen kann mystische Einsicht keine intersubjektive Geltung beanspruchen. Inhaltlich ist die Mystik aus einem moralischen und einem erkenntnistheoretischen Motiv abzulehnen. In moralischer Hinsicht […] richtet sich die Mystik nicht auf die Gründung eines guten Willens […], sondern auf ein privates Ziel, nämlich Glückseligkeit. In erkenntnistheoretischer Hinsicht machen die Mystiker einen unzulässigen Gebrauch vom Begriff ‚Erfahrung‘, insofern sie annehmen, es gebe Erfahrung von nicht-sinnlichen Gegenständen. Diese Annahme ist die Voraussetzung dafür, daß sie das Übersinnliche für etwas halten, was ihnen, gleich den Gegenständen sinnlicher Erfahrung, in einer passiven Erkenntnishaltung anschaulich gegeben werde.“ 39 VJP (AA V III, 441); VT, A 410 (AA V III, 399).
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also in gegenteiliger Weise konzipiert wird: Während für den reinen Vernunftglauben Gefühl (und auch Geschichte) ausschließlich unter der einschränkenden Voraussetzung tolerabel oder gar indirekt zu begrüßen sind, daß sie dem ganz um das moralische Gesetz als dem innersten Kern aller Religion zentrierten praktischvernünftigen Glauben zu leichterer Faßlichkeit oder größerer Wirkmächtigkeit zu verhelfen vermögen, unterstellt Kant der Mystik, das in seiner Sicht solchermaßen Sekundäre fälschlicherweise zur Bedingung des eigentlich Primären zu machen. In dieser Inversion des Implikationsverhältnisses ist die kantische Allergie gegen das Mystische begründet, denn dieses droht das moralische Herz der Religion um seine Reinheit zu bringen. Darum kann die als sentimentalisierende „Schwärmerei“ diskreditierte Mystik in Kants Augen eine nachgerade „tödliche“ Gefahr für die Philosophie darstellen, deren Abwehr alle Anstrengung seines Gedankens gilt. In diesem Sinne konnte „der Kritischen Philosophie nichts übleres widerfahren […], als wenn man ihr mystische Begriffe unterlegte, weil Mystik der Tod aller Philosophie ist“.40
2. Kants Mystik der Kritik: Die verschleierte Göttin, das Faktum der Vernunft und das Wunder in der Menschennatur Neben der damit von Jachmann vertretenen, durch Kant selbst autorisierten und dadurch offiziellen Lesart sind Kants moral- und religionsphilosophische Schriften jedoch auch von einem Subtext41 durchzogen, der in einem gewissen, von Wilmans selbst nicht vermerkten Sinne bei aller kantischen Kritik der Mystik auch 40 Jachmann: Prüfung der Kantischen Religionsphilosophie in Hinsicht auf die ihr beygelegte Aehnlichkeit mit dem reinen Mystizism, 10; zum „Tod aller Philosophie“ vgl. VT, A 407 (AA V III, 398); VT, A 424 (AA V III, 405); vgl. VT, A 399, Anm. (AA V III, 394): „Und so macht […] der vornehme Mann dadurch den Philosophen, daß er allem ferneren Philosophiren durch Obscuriren ein Ende macht“; vgl. KpV, A 217 f. (AA V, 120 f.): „ M a h o m e t s Paradies, oder der T h e o s o p h e n und M y s t i k e r schmelzende Vereinigung mit der Gottheit, so wie jedem sein Sinn steht, würden der Vernunft ihre Ungeheuer aufdringen, und es wäre eben so gut, gar keine zu haben, als sie auf solche Weise allen Träumereien preiszugeben“; RGV, B 268 / A 253 (AA V I, 175): „der schwärmerische Religionswahn [ist] der moralische Tod der Vernunft“; zum „vernunfttödtenden M y s t i c i s m“ vgl. SF, A 94 (AA V II, 59). Obwohl Kant den ganzen „Streit“ damit also zum bloßen großen „Lärm um nichts“ (VT, A 422 (AA VIII, 405)) erklärt, geht es bei diesem „nichts“ für Kant eigentlich um alles oder nichts, eben um Leben und „Tod aller Philosophie“; wenn die Mystiker Gefahr laufen, „alle Moral [zu] vertilgen“ (VT, A 401, Anm. (AA V III, 395)), kann Kant im Gegenzug kaum anders, als wiederum zu versuchen, deren „Afterphilosophie auszutilgen“ (VJP (AA V III, 441)); vgl. dazu Rößner: Der „Grenzgott der Moral“, 405, Anm. und auch Walter Gartler: Das Sittengesetz. Kants verschleierte Göttin (Schriftenreihe zur Unzeit im Denken, Bd. 5/6), Maria Enzersdorf 2002, 64 – 66. 41 Vgl. Rößner: Der „Grenzgott der Moral“, 328 f., Anm. u. 554 – 556.
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von einer nicht unkantischen Mystik der Kritik zu sprechen erlaubt.42 Wenn Kant an zuletzt zitierter Stelle den Streit zwischen einem ästhetisierenden Mystizismus und einer ihrem Anspruch nach ausschließlich argumentativen Philosophie schiedlich-friedlich zu schlichten und deren Dichotomie in der beiderseitig erfolgenden Verehrung der „verschleierten Göttin“43 harmonisch aufzuheben sucht, so scheint er seinerseits zu verschleiern, daß auch sein eigenes Denken in dessen Berufung auf eine ethische Erfahrung sui generis quasi-ästhetische Anteile aufweist, die das Reinheitsgebot der prätendierten „logische[n] Lehrart“44 unter minieren. Spätestens seit der von Bernd Ludwig akribisch nachgezeichneten „konsequentkritischen“45 Kehre, mit der Kant in Form der sogenannten Faktumslehre der Kritik der praktischen Vernunft auf das eingestandene Scheitern des in der Grundle42
Vgl. ebd., 419 ff.; et passim. Diese hier thetisch komprimierte Lesart wird dort in aller Ausführlichkeit entwickelt. Die „Beobachtung, daß Kants Philosophie selbst mystische Züge enthält“, macht auch Man stetten: „Kant und das Problem der Mystik“, 38; insbesondere zu seiner „gleichsam ‚mystischen Auffassung‘ vom moralischen Gesetz, ‚dadurch der Wille Gottes ursprünglich in unser Herz geschrieben ist‘ [RGV, B 148 / A 140 (AA V I, 104)]“, vgl. ebd., 42; und auch für Hans Leisegang: „Kant und die Mystik“, in: Philosophische Studien 1 (1949), 4 – 28: 17 ist es „ganz richtig gesehen, daß Kant im innersten Kern seiner Religionsphilosophie mit der Lehre der echten Mystik übereinstimmt“; zur These, daß Kants „gesamte Transzendentalphilosophie […] auch einen großangelegten Versuch der Säkularisierung der Mystik“ darstellt, vgl. Gerhard Stamer: „Kant. Der intelligible Charakter und die übersinnliche Natur“, in: ders. (Hg.): Die Realität des Inneren. Der Einfluß der deutschen Mystik auf die deutsche Philosophie (Philosophie & Repräsentation, Bd. 8), Amsterdam/New York 2001, 121 – 140: 124. 43 VT, A 423 (AA V III, 405): „Die verschleierte Göttin, vor der wir beiderseits unsere Kniee beugen, ist das moralische Gesetz in uns in seiner unverletzlichen Majestät.“ 44 Ebd. 45 Vgl. Bernd Ludwig: „Die ‚consequente Denkungsart der speculativen Kritik‘. Kants radikale Umgestaltung seiner Freiheitslehre im Jahre 1786 und die Folgen für die Kritische Philosophie als Ganze“, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 58 (2010), 595 – 628; ders.: „Was weiß ich vom Ich ? Kants Lehre vom Faktum der reinen praktischen Vernunft, seine Neufassung der Paralogismen und die verborgenen Fortschritte der Kritischen Metaphysik im Jahre 1786“, in: Mario Brandhorst, Andree Hahmann u. Bernd Ludwig (Hg.): Sind wir Bürger zweier Welten ? Freiheit und moralische Verantwortung im transzendentalen Idealismus (Kant-Forschungen, Bd. 20), Hamburg 2012, 155 – 194; Bernd Ludwig: „Kants Bruch mit der schulphilosophischen Freiheitslehre im Jahre 1786 und die ‚consequente Denkungsart der speculativen Kritik‘“, in: Stefano Bacin, Alfredo Ferrarin, Claudio La Rocca u. Margit Ruffing (Hg.): Kant und die Philosophie in weltbürgerlicher Absicht. Akten des XI. Internationalen Kant-Kongresses, Berlin 2013, Bd. III, 371 – 384; Bernd Ludwig: „‚Ohne alles moralische Gefühl ist kein Mensch …‘ – lebendige, vernünftige und sittliche Weltwesen bei Kant“, in: Inga Römer (Hg.): Affektivität und Ethik bei Kant und in der Phänomenologie, Berlin/Boston 2014, 117 – 142; Bernd Ludwig: „Die Freiheit des Willens und die Freiheit zum Bösen. Inhaltliche Inversionen und terminologische Ausdifferenzierungen in Kants Moralphilosophie zwischen 1781 und 1797“, in: Heiko Puls (Hg.): Kants Rechtfertigung des Sittengesetzes in Grundlegung III. Deduktion oder Faktum ?, Berlin/München/ Boston 2014, 227 – 268; Bernd Ludwig: „Kants Fortschritte auf dem langen Weg zur konsequentkritischen Metaphysik“, in: Andree Hahmann u. Bernd Ludwig (Hg.): Über die Fortschritte der
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gung zur Metaphysik der Sitten noch unternommenen Versuches, das Sittengesetz aus transzendentaler Freiheit zu deduzieren, reagiert,46 kreist auch Kants Denken selbst gleichfalls um ein paradoxes „Unding“,47 welches seinem Vorwurf nach die Mystiker „das Transscendente als immanent“48 vorstellen läßt.49 „Kants Ethik, brüchig in sich“,50 nimmt ihrerseits eine „hybride Argumentationsform“ in Anspruch, die als ein „phänomenologische[r] Intuitionismus aus der Perspektive endlicher praktischer Vernunft“ ausgewiesen werden kann.51 Diese Denkungsart ist keine rein rationalistische52 und von der den Mystikern unterstellten „Bastartserzeugung des Erkenntnisprincips“53 weniger weit entfernt, als Kants Selbstverständnis suggeriert.54 Nimmt man nämlich sein spätes Eingeständnis, daß man schon „Achtung vor dem Gesetz in sich selbst haben [muß], um sich nur eine Pflicht überhaupt denken zu können“,55 wörtlich und ernst, dann ist nicht allein „ein solches Gefühl […] unzertrennlich mit der Vorstellung des moralischen Gesetzes in jedem endlichen vernünftigen Wesen verbunden“,56 sondern dann erweist sich das moralische Gefühl der Achtung „am Ende auch [als] die einzige und eigenständige epistemische Basis unseres (subjektiven) Freikritischen Metaphysik. Beiträge zu System und Architektonik der kantischen Philosophie (KantForschungen, Bd. 22), Hamburg 2017, 79 – 118. 46 Zu dieser „Konsequenz der Kritik“ vgl. Rößner: Der „Grenzgott der Moral“, 161 – 188. 47 VJP (AA V III, 441); HN (AA X XIII, 468); Refl 5448 (AA X VIII, 185); vgl. dazu William W. Sokoloff: „Kant and the Paradox of Respect“, in: American Journal of Political Science 45 (2001), 768 – 779: 768: „a crisis in the center of his [Kant’s] practical philosophy“; dazu detailliert Röß ner: Der „Grenzgott der Moral“, 313 f., Anm. 48 VJP (AA V III, 441). 49 Vgl. dazu Theodor W. Adorno: Negative Dialektik (Gesammelte Schriften, hg. v. R. Tiedemann, Bd. 6), Frankfurt am Main 2003, 285: Kant „muß verzweifelt um das sich bemühen, was der Grundriß des Systems verhindert“; zur Erläuterung vgl. Rößner: Der „Grenzgott der Moral“, 328 f., Anm. 50 Adorno: Negative Dialektik, 257. 51 Rößner: Der „Grenzgott der Moral“, 410. 52 Vgl. Stephan Zimmermann: „Faktum statt Deduktion. Kants Lehre von der praktischen Selbstrechtfertigung des Sittengesetzes“, in: Heiko Puls (Hg.): Kants Rechtfertigung des Sittengesetzes in Grundlegung III. Deduktion oder Faktum ?, Berlin/München/Boston 2014, 103 – 131: 125: „Die Festsetzung des obersten Sittenprinzips ist […] im Falle endlicher vernünftiger Wesen keine rein rational zu erledigende Angelegenheit“; auch Bernhard Milz: „Moral und Gefühl – Konstellationen von Rationalität und Emotionalität in Kants Moralphilosophie“, in: Mario Egger (Hg.): Philosophie nach Kant. Neue Wege zum Verständnis von Kants Transzendental- und Moralphilosophie, Berlin/Boston 2014, 223 – 250: 247 f. sieht hier „eine dunkle Stelle, die sich, wie Kant selbst eingesteht, nicht mehr rational aufhellen lässt“; vgl. auch Rößner: Der „Grenzgott der Moral“, 410, Anm. 53 HN (AA X XIII, 468). 54 Zu einer solchen „unheimlichen Nähe“ vgl. Jean-Claude Höfliger: „Vom Schweigen der Vernunft“, in: ders. (Hg.): Verflechtungen. Die Textlichkeit des Originären. Aufsätze zur Philosophie für Jean-Pierre Schobinger, Zürich 1997, 58 – 69: 61. 55 MS TL, A 42 (AA V I, 403). 56 KpV, A 142 (AA V, 80).
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heitsbewusstseins“.57 Wenn aber auch „dieses Nötigende – dass man wirklich seine Maximen als universale wählen soll – ohne das Gefühl der Achtung schlechterdings nicht erfahren (also erkannt) wird“,58 dann ist und bleibt Kants verzweifelter Versuch, Freiheit zu „retten“,59 unabdingbar verwiesen auf das Paradox eines „geistigen Gefühl[s]“,60 das als „ratio cognoscendi der Freiheit“61 eben nicht nur als principium executionis vorstellig wird, sondern darüber hinaus auch über kognitive Kompetenz verfügt. Mit dieser epistemologischen Rehabilitierung des moralischen Gefühls der Achtung geht ebenjenes Paradox einher, das Kant in offensichtlich oxymoronischer62 Diktion von einem „Faktum der Vernunft“ sprechen läßt. Dadurch daß reine praktische Vernunft sich als „ursprünglich gesetzgebend (sic volo, sic jubeo)“63 ankündigt und die Wirklichkeit des Sittengesetzes als eines synthetischen Satzes a priori stets schon festgeschrieben hat, noch bevor dieses als ein der Vernunft „fremdes Angebot“64 von Seiten des Subjekts konstituiert werden könnte, ist das Faktum der Vernunft ein solches, das „allem Vernünfteln über seine Möglichkeit und allen Folgerungen, die daraus zu ziehen sein möchten, vorhergeht“65 und als 57
Ludwig: „‚Ohne alles moralische Gefühl ist kein Mensch …‘ – lebendige, vernünftige und sittliche Weltwesen bei Kant“, 124. 58 Schönecker, Dieter: „Das gefühlte Faktum der Vernunft. Skizze einer Interpretation und Verteidigung“, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 61 (2013), 91–107: 104; vgl. Gabriela Basterra: The Subject of Freedom. Kant, Levinas, New York 2015, 9: „The existence of freedom is attested to, in sum, by the effect the moral law has on the beings it obligates“. 59 Von Kants „Begierde des Rettens“ spricht nicht allein Adorno: Negative Dialektik, 378 (vgl. auch ebd., 250; 283), sondern auch Kant selbst sagt, daß er die Freiheit „retten will“ (KpV, A 170 (AA V, 95); vgl. KrV, B 564 / A 536 (AA I II, 365); Prol, A 155 (AA I V, 346); KpV, A 4 (AA V, 3); KpV, A 73 (AA V, 42 f.); KpV, A 94 (AA V, 54); KpV, A 181 (AA V, 101); TP, A 225, Anm. (AA V III, 285)); vgl. dazu Rößner: Der „Grenzgott der Moral“, 93 f., Anm.; 506 f., Anm. 60 KU, B 229 / A 226 (AA V, 335); zu Kants oxymoronischer Rede von einem geistigen Gefühl – das in Refl 5448 (AA X VIII, 185) wörtlich als „ein Unding“ bezeichnet wird – und der parallelen Paradoxie eines Faktums der Vernunft vgl. die zahlreichen Stellenbelege und Literaturverweise bei Rößner: Der „Grenzgott der Moral“, 313 f., Anm. 61 KpV, A 5, Anm. (AA V, 4). 62 Eine hochgradig „paradoxe Terminologie“ erkennt im Faktum der Vernunft auch Harald Schöndorf: „Setzt Kants Philosophie die Existenz Gottes voraus ?“, in: Kant-Studien 86 (1995), 175 – 195: 184; von einem begrifflichen „Monster“ spricht auch schon Lucien Lévy-Bruhl: La morale et la science des mœurs, Paris 1903, 58: „Kant a appelé ‚fait de la raison‘ l’obligation qu’il saisissait dans la conscience, et il a édifié sa théorie morale sur ce fait. Mais un ‚fait de la raison‘ est un véritable monstre dans une philosophie comme la sienne, où tout ce qui est ‚fait‘ appartient au monde des phénomènes, et tout ce qui est ‚raison‘ au monde intelligible. Le caractère hybride de l’impératif catégorique trahit l’artifice de la conception“; vgl. dazu auch Dieter Henrich: „Der Begriff der sittlichen Einsicht und Kants Lehre vom Faktum der Vernunft“, in: Gerold Prauss (Hg.): Kant. Zur Deutung seiner Theorie von Erkennen und Handeln, Köln 1973, 223 – 254: 235; dazu mit weiteren Literaturangaben Rößner: Der „Grenzgott der Moral“, 199 f., Anm. 63 KpV, A 56 (AA V, 31). 64 KpV, A 218 (AA V, 121). 65 KpV, A 163 (AA V, 91).
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Grundsatz der Sittlichkeit auch „keines Suchens und keiner Erfindung“66 bedarf: Denn dieser ist immer schon „längst in aller Menschen Vernunft gewesen und ihrem Wesen einverleibt“.67 Daraus, daß das Bewußtsein des Grundgesetzes der reinen praktischen Vernunft also gerade deswegen ein Faktum der Vernunft zu nennen ist, „weil man es nicht aus vorhergehenden Datis der Vernunft, z. B. dem Bewußtsein der Freiheit (denn dieses ist uns nicht vorher gegeben), herausvernünfteln kann, sondern weil es sich für sich selbst uns aufdringt“,68 folgert Kant, daß „dieses Gesetz ohne Mißdeutung als g e g e b e n anzusehen“69 ist. Auch wenn das Sittengesetz in seiner erhabenen Majestät70 weder einer empirischen noch einer intellektuellen Anschauung zugänglich werden kann,71 da jene das strenge Reinheitsgebot des kantischen Moralprinzips verletzte und diese der kritischen 66
KpV, A 188 (AA V, 105). Ebd.; vgl. MS TL, A 99 (AA V I, 438); im Rückgriff auf Augustinus ließe sich das dem Menschenwesen von jeher „einverleibte“ Faktum reformulieren als eine „religio […] insita […] et medullitus implicata“ (Augustinus: Contra Academicos, II, 2, 5). Vgl. dazu Norbert Fischer: „Augustinische Motive in der Philosophie Immanuel Kants (1724 – 1804)“, in: ders. (Hg.): Augu stinus. Spuren und Spiegelungen seines Denkens, Hamburg 2009, Bd. II, 89 – 110; ders.: „Augustinus und Kant“, in: Guntram Förster, Andreas E. J. Grote u. Christof Müller (Hg.): Spiritus et Littera. Beiträge zur Augustinus-Forschung (FS C. Mayer), Würzburg 2010, 577 – 596; Norbert Fischer: „Natur, Freiheit und Gnade. Systematische Überlegungen im Anschluss an Augustinus und Kant“, in: Hanns-Gregor Nissing (Hg.): Natur. Ein philosophischer Grundbegriff, Darmstadt 2010, 67 – 82. 68 KpV, A 56 (AA V, 31); zu dieser Aufdringlichkeit vgl. auch KpV, A 54 (AA V, 30) 69 KpV, A 56 (AA V, 31); vgl. KpV, A 81 (AA V, 47); KpV, A 96 (AA V, 55). 70 Vgl. KU, B 124 f. / A 123 f. (AA V, 274): „Vielleicht giebt es keine erhabenere Stelle im Gesetzbuche der Juden, als das Gebot: Du sollst dir kein Bildniß machen, noch irgend ein Gleichniß, weder dessen, was im Himmel, noch auf der Erden, noch unter der Erden ist u. s. w. Dieses Gebot allein kann den Enthusiasm erklären, den das jüdische Volk in seiner gesitteten Epoche für seine Religion fühlte, wenn es sich mit andern Völkern verglich, oder denjenigen Stolz, den der Mohammedanism einflößt. Eben dasselbe gilt auch von der Vorstellung des moralischen Gesetzes und der Anlage zur Moralität in uns. Es ist eine ganz irrige Besorgniß, daß, wenn man sie alles dessen beraubt, was sie den Sinnen empfehlen kann, sie alsdann keine andere als kalte, leblose Billigung und keine bewegende Kraft oder Rührung bei sich führen würde. Es ist gerade umgekehrt; denn da, wo nun die Sinne nichts mehr vor sich sehen, und die unverkennliche und unauslöschliche Idee der Sittlichkeit dennoch übrig bleibt, würde es eher nöthig sein, den Schwung einer unbegränzten Einbildungskraft zu mäßigen, um ihn nicht bis zum Enthusiasm steigen zu lassen, als aus Furcht vor Kraftlosigkeit dieser Ideen für sie in Bildern und kindischem Apparat Hülfe zu suchen.“ Vgl. auch RGV, B 189 / A 179 (AA V I, 127) und dazu Rößner: Der „Grenzgott der Moral“, 306 ff., Anm. u. 450 ff. 71 Zu diesem Bilderverbot vgl. KU, B 125 / A 124 (AA V, 275): „Diese reine, seelenerhebende, bloß negative Darstellung der Sittlichkeit bringt […] keine Gefahr der S c hwä r m e r e i, welche e i n Wa h n i s t , ü b e r a l l e G r ä n z e d e r S i n n l i c h k e i t h i n a u s e t wa s s e h e n, d. i. nach Grundsätzen träumen (mit Vernunft rasen), zu wo l l e n ; eben darum weil die Darstellung bei jener bloß negativ ist. Denn d i e U n e r f o r s c h l i c h k e i t d e r I d e e d e r F r e i h e i t schneidet aller positiven Darstellung gänzlich den Weg ab: das moralische Gesetz aber ist an sich selbst in uns hinreichend und ursprünglich bestimmend, so daß es nicht einmal erlaubt, uns nach einem Bestimmungsgrunde außer demselben umzusehen.“ 67
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Philosophie ohnehin nicht zur Verfügung steht, so ist dennoch – diesseits aller Deduktionsmöglichkeiten, jenseits jeglichen Datenmaterials – ein kontrafaktisches Urfaktum als gegeben anzunehmen. Dieses „einzige Factum der reinen Vernunft“72 ist das einzig reine Datum der Vernunft:73 „Wäre dieses Gesetz nicht in uns gegeben, wir würden es als ein solches durch keine Vernunft herausklügeln, oder der Willkür anschwatzen: und doch ist dieses Gesetz das einzige, was uns […] unsrer Freiheit […] bewußt macht.“74 Dieses Datum sui generis, das wir in seiner „unbedingte[n] Nothwendigkeit […] als durch reine Vernunft (nicht empirisch) offenbart anerkennen“,75 ist nicht als Gegenstand möglicher Erfahrung gegeben, sondern drängt – „unwiderstehlich“76 und „unleugbar“77 – sich von sich selbst her quasi-ästhetisch auf als ein „Analogon der Anschauung“:78 cognitio Legis quasi experimentalis. Die sich auto-manifestativ zur Erscheinung bringende und sich selbst bewahrheitende79 Faktizität reiner praktischer Vernunft artikuliert sich somit als eine Erfahrung, die keine Erfahrung wie jede mögliche andere, wie jede andere mögliche ist, sondern vielmehr ein „Widerfahrnis“80 des uns insofern Unmöglichen, als das wahrhaft Unbedingte81 Bedingungen seiner Möglichkeit nicht sich vorschreiben läßt.82
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KpV, A 56 (AA V, 31). Christian Rößner: „Das Datum der Vernunft. Zur Rekonstruktion der Grundlegung von Kants praktischer Metaphysik im Ausgang von Emmanuel Levinas“, in: Inga Römer (Hg.): Subjektivität und Intersubjektivität in der Phänomenologie (Studien zur Phänomenologie und Praktischen Philosophie, Bd. 24), Würzburg 2011, 187 – 199: 191; der vorhergehende Absatz übernimmt partiell Passagen aus dieser Vorstudie zum „Datum der Vernunft“; zur „Gabe des Gesetzes“ in aller Ausführlichkeit vgl. auch Rößner: Der „Grenzgott der Moral“, 189 – 303. 74 RGV, B 16 / A 14, Anm. (AA V I, 26); vgl. Refl 8105 (AA X IX, 647): „Weil nichts die Freyheit beweiset als das moralische Gesetz in mir durch den categorischen Imperativ“. 75 RGV, B 255 / A 240 (AA V I, 167 f.). 76 RGV, B 33 / A 29 (AA V I, 36). 77 KpV, A 56 (AA V, 32). 78 Gerhard Krüger: „Kant und die Theologie der Krisis“, in: Theologische Blätter 3 (1924), 97 – 105 u. 121 – 128: 125. 79 Vgl. KpV, A 81 f. (AA V, 47); KpV, A 218 (AA V, 121). 80 Ludwig: „‚Ohne alles moralische Gefühl ist kein Mensch …‘ – lebendige, vernünftige und sittliche Weltwesen bei Kant“, 139. 81 Zu der damit einhergehenden „Inversion der Aktivität“, die das Unbedingte als das nicht zu Konditionierende, dem Menschen Un-Mögliche auszeichnet, vgl. Norbert Fischer: „Kants kritische Metaphysik und ihre Beziehung zum Anderen“, in: Norbert Fischer u. Dieter Hattrup: Metaphysik aus dem Anspruch des Anderen. Kant und Levinas, Paderborn/München/Wien/ Zürich 1999, 47 – 230: 119; 147; 159; 204 f.; vgl. dazu auch (mit weiteren Verweisen u. a. auf Ricœur und Levinas) Rößner: Der „Grenzgott der Moral“, 220 f., Anm. 82 Zu dieser „Gegen-Erfahrung“ vgl. Jean-Luc Marion: „Mystik – oder: Was die Theologie sehen lassen kann“, übers. v. Ch. Rößner, in: Michael Hofer u. Rudolf Langthaler (Hg.): Das Heilige. Eine grundlegende Kategorie der Religionsphilosophie (Wiener Jahrbuch für Philosophie, Bd. XLIX/2017), Wien 2018, 73 – 94: 86; vgl. auch Jean-Luc Marion: Étant donné. Essai d’une 73
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Mit dem transzendental nicht auszudenkenden „Einbruch des Gesetzes“83 verbindet sich in Kants Tugendlehre eine konstitutiv-originäre, wiederum und weiterhin nicht-empirische, da nämlich prä-pathologische „Empfänglichkeit des Gemüths für Pflichtbegriffe überhaupt“.84 Ohne diese primordial-prädispositive „Passibilität“, 85 ohne diese quasi-ästhetische „ E m p f ä n g l i c h k e i t der freien Willkür für die Bewegung derselben durch praktische reine Vernunft (und ihr Gesetz)“86 wären wir überhaupt nicht in der Lage, Pflicht auch nur denken zu können.87 Als Faktum der Vernunft88 ist das moralische Gefühl der Achtung (wie auch das Gewissen) in seinem „Ursprung moralisch“, d. h. apriorisch, objektiv und vernünftig, aber eben „der Wirkung nach physisch“, d. h. aposteriorisch, sub-
phénoménologie de la donation, Paris 32005, 200 ff.; 386 ff; vgl. dazu Rößner: „Das Datum der Vernunft“, 191; ders.: Der „Grenzgott der Moral“, 411 ff., Anm. 83 Bernhard Waldenfels: Bruchlinien der Erfahrung. Phänomenologie, Psychoanalyse, Phänomenotechnik, Frankfurt am Main 2002, 47. 84 MS TL, A 35 ff. (AA V I, 399 ff.); zu dieser eigentlich erst von der jüngeren Kant-Forschung adäquat als Explikation des Faktums der Vernunft gewürdigten Lehre von den „Ästhetische[n] Vorbegriffe[n] der Empfänglichkeit des Gemüths für Pflichtbegriffe überhaupt“ qua vor-moralischen Prädispositionen zur Moralität vgl. Dieter Schönecker: „Kant über Menschenliebe als moralische Gemütsanlage“, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 92 (2010), 133 – 175; ders.: „Das gefühlte Faktum der Vernunft. Skizze einer Interpretation und Verteidigung“, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 61 (2013), 91 – 107; ders.: „Kant’s Moral Intuitionism: The Fact of Reason and Moral Predispositions“, in: Kant Studies Online (2013), 1 – 38; vgl. Manfred Baum: „Kant über die Empfänglichkeit des Gemüts für Pflichtbegriffe überhaupt“, in: Inga Römer (Hg.): Affektivität und Ethik bei Kant und in der Phänomenologie, Berlin/Boston 2014, 101 – 116; Antonino Falduto: The Faculties of Human Mind and the Case of Moral Feeling in Kant’s Philosophy (Kantstudien: Ergänzungshefte, Bd. 177), Berlin/Boston 2014, 232 – 238; vgl. auch Olivier Dekens: „Les droits du cœur. Réceptivité de la raison et application de la loi morale chez Kant“, in: Giornale di Metafisica 22 (2000), 497 – 517 sowie nicht zuletzt Bernhard Waldenfels: Schattenrisse der Moral, Frankfurt am Main 2006, 37, Anm. u. 222 ff.; vgl. mit weiteren Literaturverweisen auch Rößner: Der „Grenzgott der Moral“, 318 f. 85 Vgl. Lyotard, Jean-François: Le différend, Paris 1983, 166; vgl. auch Dekens: „Les droits du cœur“, 511; vgl. dazu Rößner: Der „Grenzgott der Moral“, 273 f., Anm.; 319 f., Anm.; 333; 417. 86 MS TL, A 37 (AA V I, 400). 87 Vgl. MS TL, A 42 (AA V I, 403). 88 Auch für Reinhard Loock: Idee und Reflexion bei Kant (Schriften zur Transzendentalphilosophie, Bd. 12), Hamburg 1998, 75 „ist die Achtung das Faktum selbst, wie es sich in die Sinnlichkeit und damit Einzelheit des Subjekts eingesenkt hat“; vgl. Zimmermann: „Faktum statt Deduktion. Kants Lehre von der praktischen Selbstrechtfertigung des Sittengesetzes“, 125 – 128: „Das moralische Gefühl ist für ein endliches Wesen wie den Menschen die genuin praktische Gegebenheitsweise des Sittengesetzes als für mich verbindlich. […] Das aber heißt: Das moralische Gefühl ist selber essenzieller Bestandteil jenes Faktums der Vernunft“; vgl. schon Dieter Henrich: „Der Begriff der sittlichen Einsicht und Kants Lehre vom Faktum der Vernunft“, 249; zur Identifikation der Faktizität reiner praktischer Vernunft und ihrer „Selbstversinnlichung“ (Loock: Idee und Reflexion bei Kant, 75 – 77) im moralischen Gefühl vgl. auch Rößner: Der „Grenzgott der Moral“, 330, Anm.
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jektiv und faktisch.89 Ohne das solchermaßen paradoxe Schwellenphänomen 90 einer sich im moralischen Gefühl oder als Gewissen selbst versinnlichenden Vernunft, die sich zum Faktum macht, indem sie sich aus der reinen Intelligibilität ins Gemüt „herabläßt“,91 kann Kant eine andernfalls unerkennbare Freiheit nicht retten. Aber mit der Annahme eines Faktums, das die endliche Subjektivität nicht selbst fabriziert haben kann – es „ist nicht etwas, was er [der Mensch] sich selbst (willkürlich) m a c h t “ 92 –, kann Kant die „logische […] Lehrart“,93 die er als „allein ph i l o s o ph i s c h“94 gegen die auf Gefühl sich berufenden Mystiker in Stellung bringt, selbst nicht in der prätendierten Reinheit verwirklichen. Denn zwar will Kant das Faktum der Vernunft, d. h. die unhinterfragbare Gegebenheit 89
MS TL, A 27 (AA VI, 394): „Der Schmerz, den ein Mensch von Gewissensbissen fühlt, obzwar sein Ursprung moralisch ist, ist doch der Wirkung nach physisch“. Insofern ist auch und gerade das Gewissen „mitten inne zwischen seinem Princip a priori, welches formell ist, und zwischen seiner Triebfeder a posteriori, welche materiell ist, gleichsam auf einem Scheidewege“ (GMS, BA 14 (AA I V, 400)). 90 Vgl. Henri Lauener: „Der systematische Stellenwert des Gefühls der Achtung in Kants Ethik“, in: Dialectica 35 (1981), 243 – 264: 243; vgl. ebd., 261 f.; zum Doppelaspekt der Achtung vgl. Jean Nabert: Éléments pour une éthique, Paris 1943, 106 f.; vgl. auch Jörg U. Noller: „Die Natur des Menschen als Achtung der Vernunft. Zum Verhältnis von Natur und Freiheit in Kants kritischem Begriff der Achtung“, in: Myriam Gerhard u. Christine Zunke (Hg.): Die Natur des Menschen. Aspekte und Perspektiven der Naturphilosophie (Studien zur Naturphilosophie, Bd. 2), Würzburg 2012, 205 – 224: 213 u. 218; Jörg U. Noller: „Das Gefühl der Vernunft. Zur Grenzbestimmung und Grenzüberschreitung von Sinnlichkeit und Verstand in Kants Theorie des sittlichen Bewusstseins“, in: Alfred Dunshirn, Elisabeth Nemeth u. Gerhard Unterthurner (Hg.): Crossing Borders. Grenzen (über)denken. Thinking (across) Boundaries. Beiträge zum 9. Kongress der Œsterreichischen Gesellschaft für Philosophie, Wien 2012, 877 – 886: 879; vgl. Rößner: Der „Grenzgott der Moral“, 329 f., Anm.; 340 f., Anm. 91 Vgl. RGV, B 74 / A 68 (AA V I, 61): „Eben darum aber, weil wir von ihr [dieser Idee, d. h. dem „Ideal der moralischen Vollkommenheit“ als „dem Urbilde der sittlichen Gesinnung“] nicht die Urheber sind, sondern sie in dem Menschen Platz genommen hat, ohne daß wir begreifen, wie die menschliche Natur für sie auch nur habe empfänglich sein können, kann man besser sagen: daß jenes Urbild vom Himmel zu uns h e r a b g e k o m m e n sei, daß es die Menschheit angenommen habe (denn es ist nicht eben sowohl möglich, sich vorzustellen, wie der von Natur b ö s e M e n s c h das Böse von selbst ablege und sich zum Ideal der Heiligkeit e r h e b e , als daß das Letztere die M e n s c h h e i t (die für sich nicht böse ist) annehme und sich zu ihr h e r a b l a s s e).“ Vgl. auch RGV, B 109 / A 102 (AA V I, 80); RGV, B 113 / A 103 f. (AA V I, 82). Daß „Kant sich damit auf den Weg der Unterscheidung zwischen katabatischer und anabatischer Christologie [begibt]“, bemerkt Norbert Fischer: „Zu Kants ‚moralisch-bestimmtem Monotheismus‘“, in: Reinhard Hiltscher u. Stefan Klingner (Hg.): Kant und die Religion – Die Religionen und Kant, Hildesheim/Zürich/New York 2012, 193 – 212: 211; auch Loock: Idee und Reflexion bei Kant, 82, Anm. entdeckt diese „überraschende Perspektive“; vgl. dazu ausführlich Rößner: Der „Grenzgott der Moral“, 261 f., Anm.; 329 f., Anm.; u. v. a. 454 – 4 87, wo Kants philosophische Christologie eingehend erörtert wird. 92 MS TL, A 99 (AA V I, 438); vgl. dazu Rößner: „Das Datum der Vernunft“, 193 mit weiteren Belegen. 93 VT, A 423 (AA V III, 405). 94 Ebd.
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des moralisch-geistigen Gefühls der Achtung, dadurch von allen empirisch-pathologischen Fakten und Affekten unterschieden wissen,95 daß ersteres einzig und allein als praktischer Effekt der reinen Vernunft zu deuten ist.96 Allein: „Zu sagen, dass die reine Vernunft selbst das moralische Gefühl der Achtung hervorbringt, ist bereits eine Deutung des sittlichen Bewusstseins, kein Wissen, das die intuitive Basis überschreiten könnte. Im Bewusstsein selbst liegt nicht evidenterweise die Abhängigkeit des moralischen Gefühls von der Vernunft. Wer dies unterstellt, sitzt einem intellektualistischen Missverständnis seiner Erfahrung auf: Er verwechselt das Phänomen des sittlichen Bewusstseins mit seiner Deutung und rationalistischen Erklärung. […] Dass ein Gefühl, das ganz auf die unbedingte Wertschätzung des moralischen Gesetzes der reinen Vernunft ausgerichtet ist und alles Interesse der Sinnlichkeit ‚niederschlägt‘ [KpV, A 130 (AA V, 73); KpV, A 136 (AA V, 77); KpV, A 156 (AA V, 87)], nicht aus der Sinnlichkeit stammt, sondern eine ‚intellectuelle[...] Ursache‘ [KpV, A 140 (AA V, 79)] hat, nämlich ebendiese Vernunft, ist im Rahmen der kantischen Einteilung der Seelenvermögen eine plausible Deutung, aber schon hier nicht zwingend. Den cartesischen Zweifelstest klarer und deutlicher Erkenntnis würde die Deutung nicht bestehen, weil wir gar keine Erkenntnis (geschweige denn eine klare und deutliche) haben, wie das Gefühl der Achtung nach einer notwendigen Regel aus der Kognition des moralischen Gesetzes folgt“.97
Mit der Einsicht in das Ende aller möglichen rationalistischen „ E r k l ä r u n g “ folgt Kant einer phänomenologisch-intuitionistischen Strategie der „Ve r t he i d i g u n g “,98 die im aufzeigenden Verweis auf die offenbarungsanaloge 99 Evidenz 95
Vgl. Jacob Rogozinski: Le don de la Loi. Kant et l’énigme de l’éthique, Paris 1999, 203: „En vérité, le respect n’est pas l’effet mais l’affect de la Loi, c’est-à-dire la Loi elle-même en tant qu’elle se donne affectivement“; dazu, daß „sich die Affektion des Faktums aus phänomenologischer Perspektive diagnostizieren [läßt] als ein Infekt, der zum Defekt der transzendentalen Apperzeption führt“, vgl. Rößner: Der „Grenzgott der Moral“, 243 f. 96 Vgl. RGV, B 164 f. / A 155 f. (AA V I, 113 f.): „Nun kann man freilich nicht in Abrede ziehen, daß [das innere Gefühl] nichts anders, als die Wirkung von dem den Menschen mit inniglicher Achtung erfüllenden moralischen Gesetze ist, welches darum auch als göttliches Gebot angesehen zu werden verdient. Aber so wenig wie aus irgend einem Gefühl Erkenntniß der Gesetze, und daß diese moralisch sind, eben so wenig und noch weniger kann durch ein Gefühl das sichere Merkmal eines unmittelbaren göttlichen Einflusses gefolgert und ausgemittelt werden: weil zu derselben Wirkung mehr als eine Ursache statt finden kann, in diesem Falle aber die bloße Moralität des Gesetzes (und der Lehre), durch die Vernunft erkannt, die Ursache derselben ist, und selbst in dem Falle der bloßen Möglichkeit dieses Ursprungs es Pflicht ist, ihm die letztere Deutung zu geben, wenn man nicht aller Schwärmerei Thür und Thor öffnen und nicht selbst das unzweideutige moralische Gefühl durch die Verwandtschaft mit jedem andern phantastischen um seine Würde bringen will“. 97 Milz: „Moral und Gefühl – Konstellationen von Rationalität und Emotionalität in Kants Moralphilosophie“, 247 f. 98 KpV, A 62 (AA V, 35). 99 Zur „Quasi-Offenbarung des Übersinnlichen qua moralisch Unbedingten“ vgl. Rößner: Der „Grenzgott der Moral“, 413, Anm.
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des sich von sich selbst her unvermeidlich und unweigerlich einstellenden Sollens ihren letzten Rückhalt findet. Für das Gewissen kann es aus genau diesem Grund auch kein anderweitiges Argument mehr geben als allein seine eigene Faktizität. Als Faktum der Vernunft ist es „eine unausbleibliche Thatsache“100 und die Pflicht zu seiner Kultivierung besteht dementsprechend auch in nichts anderem als in der „Bewunderung seines unerforschlichen Ursprungs“.101 Sein Anspruch verschafft sich als „Stimme der Vernunft […] unüberschreibar“102 Gehör und Geltung, da diese Stimme, die Kant als gleichermaßen „himmlisch“103 wie „furchtbar“104 apostrophiert, zwar freilich überhört, aber nicht gar nicht gehört werden kann. Kein Mensch ist „so ganz Thier, um gegen alles, was Vernunft für sich selbst sagt, gleichgültig zu sein“,105 d. h.: „Jeder Mensch hat Gewissen und findet sich durch einen inneren Richter beobachtet, bedroht und überhaupt im Respect (mit Furcht verbundener Achtung) gehalten, und diese über die Gesetze in ihm wachende Gewalt ist nicht etwas, was er sich selbst (willkürlich) m a c h t, sondern es ist seinem Wesen einverleibt. Es folgt ihm wie sein Schatten, wenn er zu entfliehen gedenkt. Er kann sich zwar durch Lüste und Zerstreuungen betäuben oder in Schlaf bringen, aber nicht vermeiden dann und wann zu sich selbst zu kommen oder zu erwachen, wo er alsbald die furchtbare Stimme desselben vernimmt. Er kann es in seiner äußersten Verworfenheit allenfalls dahin bringen, sich daran gar nicht mehr zu kehren, aber sie zu h ö r e n, kann er doch nicht vermeiden.“106
Kants „eherne[…] Stimme“107 der Vernunft hat ob der Universalität des Gewissens nichts esoterisch Verschwärmtes. Mit der „Stimme der Vernunft (dictamen 100
MS TL, A 38 (AA V I, 400). MS TL, A 36 (AA V I, 399 f.). 102 KpV, A 62 (AA V, 35); vgl. auch KpV, A 142 (AA V, 80); KU, B 91 / A 90 (AA V, 254); RGV, B 50 / A 46 (AA V I, 45); MS TL, A 99 (AA V I, 438); VT, A 417 (AA V III, 402); VT, A 424 (AA V III, 405); Refl, 6314 (AA XVIII, 617); V-MS/Vigil (AA X XVII, 664); OP (AA X XI, 149); OP (AA X XII, 64 f.; 290); vgl. dazu Margit Ruffing: „Kants ‚Stimme der Vernunft‘ – Analyse einer unauffälligen Metapher“, in: Patricia Kauark-Leite, Giorgia Cecchinato, Virginia de Araujo Figueiredo, Margit Ruffing u. Alice Serra (Hg.): Kant and the Metaphors of Reason (Europaea memoria: I, Bd. 113), Hildesheim/Zürich/New York 2015, 195 – 204; Raphaël Ehrsam: „La conscience morale comme voix. Une élucidation kantienne“, in: Stefano Bacin, Alfredo Ferrarin, Claudio La Rocca u. Margit Ruffing (Hg.): Kant und die Philosophie in weltbürgerlicher Absicht. Akten des XI. Internationalen Kant-Kongresses, Berlin 2013, Bd. III, 135 – 146; zur „Stimme der Vernunft“ vgl. auch in aller Ausführlichkeit Rößner: Der „Grenzgott der Moral“, 304 – 422: 403 ff. 103 KpV, A 62 (AA V, 35): „himmlische Stimme“. 104 MS TL, A 99 (AA V I, 438): „furchtbare Stimme“. 105 KpV, A 108 (AA V, 61). 106 MS TL, A 99 (AA V I, 438); vgl. zu dieser Stelle den ausführlichen Kommentar bei Rößner: Der „Grenzgott der Moral“, 257 ff., Anm. 107 VT, A 417 (AA V III, 402): „Nun findet jeder Mensch in seiner Vernunft die Idee der Pflicht und zittert beim Anhören ihrer ehernen Stimme, wenn sich in ihm Neigungen regen, die ihn 101
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rationis), die zu Jedermann deutlich spricht“,108 appelliert Kant an „ein Factum, über dessen Wirklichkeit man alle Menschen zu Zeugen rufen kann“,109 und das von „dem innern Licht, welches sich jeder Laie auch anmaßen kann“,110 nur mehr dadurch zu unterscheiden ist, daß Kant die optisch-visuelle Metaphorik der Mystiker – sach- und phänomengerecht – durch eine auditiv-akustische ersetzt: „Der moralische Imperativ kann also als die Stimme Gottes angesehen werden“.111 Obwohl Kant die von Seiten des Subjekts nicht kontrollierbare „Eingebung“112 einer übernatürlichen Offenbarung113 dezidiert zurückweist, bleibt er in Form der zum Ungehorsam gegen sie versuchen. Er ist überzeugt: daß, wenn auch die letztern insgesammt vereinigt sich gegen jene verschwören, die Majestät des Gesetzes, welches ihm seine eigene Vernunft vorschreibt, sie doch alle unbedenklich überwiegen müsse, und sein Wille also auch dazu vermögend sei“. 108 VT, A 417 (AA V III, 402). 109 Refl 8077 (AA X IX, 612). 110 RGV, B 255 / A 240 (AA VI, 167); vgl. „das innere Licht der Schwärmer“ in Refl 6916 (AA X IX, 206). 111 OP (AA X XII, 64); vgl. OP (AA X XI, 149): „Der marternde Vorwurf des Gewissens ist die Stimme Gottes in der p r a k t i s c h e n Vernunft“; zu dieser „machthabenden praktischen Vernunft, die, so wie sie ohne weitere Gründe im Gesetzgeben schlechthin gebietend ist, als die […] Stimme Gottes angesehen werden kann“, vgl. MpVT, A 213 (AA V III, 264). 112 WDO, A 321 (AA V III, 142): „Der B e g r i f f von Gott und selbst die Überzeugung von seinem D a s e i n kann nur allein in der Vernunft angetroffen werden, von ihr allein ausgehen und weder durch Eingebung, noch durch eine ertheilte Nachricht von noch so großer Autorität zuerst in uns kommen“; vgl. RGV, B 218, Anm. (AA V I, 144); TG, A 73 (AA I I, 348); KK, A 26 (AA I I, 267); GSE, A 98 (AA I I, 251); V-PP/Powalski (AA X XVII, 166). 113 Vgl. SF, A 90 (AA V II, 57 f.): „der Mensch müßte beweisen, daß in ihm eine übernatürliche Erfahrung, die an sich selbst ein Widerspruch ist, vorgegangen sei. Es könnte allenfalls eingeräumt werden, daß der Mensch in sich eine Erfahrung (z. B. von neuen und besseren Willensbestimmungen) gemacht hätte, von einer Veränderung, die er sich nicht anders als durch ein Wunder zu erklären weiß, also von etwas Übernatürlichem. Aber eine Erfahrung, von der er sich sogar nicht einmal, daß sie in der That Erfahrung sei, überführen kann, weil sie (als übernatürlich) auf keine Regel der Natur unseres Verstandes zurückgeführt und dadurch bewährt werden kann, ist eine Ausdeutung gewisser Empfindungen, von denen man nicht weiß, was man aus ihnen machen soll, ob sie als zum Erkenntniß gehörig einen wirklichen Gegenstand haben, oder bloße Träumereien sein mögen. Den unmittelbaren Einfluß der Gottheit als einer solchen fühlen wollen, ist, weil die Idee von dieser blos in der Vernunft liegt, eine sich selbst widersprechende Anmaßung“; vgl. WDO, A 322 (AA V III, 143): „Vom Dasein des höchsten Wesens kann also niemand durch irgend eine Anschauung zuerst überzeugt werden; der Vernunftglaube muß vorhergehen, und alsdann könnten allenfalls gewisse Erscheinungen oder Eröffnungen Anlaß zur Untersuchung geben, ob wir das, was zu uns spricht oder sich uns darstellt, wohl befugt sind für eine Gottheit zu halten, und nach Befinden jenen Glauben bestät igen“. Entsprechend ist Offenbarung bei Kant immer „Offenbarung für die menschliche Fassungskraft“ (RGV, B 215 / A 202 (AA V I, 142)): „Nur das, was man zwar in praktischer Beziehung ganz wohl verstehen und einsehen kann, was aber in theoretischer Absicht (zur Bestimmung der Natur des Objects an sich) alle unsre Begriffe übersteigt, ist Geheimniß (in einer Beziehung) und kann doch (in einer andern) geoffenbart werden“ (ibid.); anderweitig „hat uns Gott nichts offenbart und kann uns auch nichts offenbaren, weil wir es doch nicht ve r s t e h e n […] würden“ (RGV, B 217 f. / A 205 (AA V I, 144)); denn selbst „wenn Gott zum Menschen wirklich spräche, so
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Faktumslehre seinerseits selbst unabdingbar verwiesen zwar nicht auf eine nach wie vor unmögliche „übersinnliche Erfahrung“,114 aber auf das auch nicht transzendental zu antizipierende „Widerfahrnis“115 des Übersinnlichen als des praktisch Unbedingten und dessen „Auto-Phänomenalisierung“116 im moralischen Gefühl. Das eine reine Datum der Vernunft gibt es nämlich nur dadurch, daß es sich selbst von sich selbst her117 gibt. Wenn in den ordinär-empirischen „datis der Erfahrung“118 ein Verweis auf „das Geheimnis des Ursprungs unserer Sinnlichkeit“119 verborgen liegt, dann lassen die „praktische[n] Data“120 das Geheimnis des Ursprungs unserer Sittlichkeit „fühlbar“121 werden. So „bleibt es doch ein Factum: ‚Die Philosophie hat ihre f ü h l b a r e n Geheimnisse‘“.122 Es ist diese letzte „Unbegreiflichkeit dieser eine göttliche Abkunft verkündigenden [moralischen] Anlage“,123 in der jene von Kant stellenweise selbst geahnte „Verwandtschaft“124 seiner Moral- und Religionsphilosophie zu jener reinen Mystik begründet liegt, die Carl Arnold Wilmans in seiner Dissertatio philosophica de s i m i l i t u d i n e inter mysticismum purum et Kantianam religionis doctrinam kann dieser doch niemals w i s s e n, daß es Gott sei, der zu ihm spricht. Es ist schlechterdings unmöglich, daß der Mensch durch seine Sinne den Unendlichen fassen, ihn von Sinnenwesen unterscheiden und ihn woran k e n n e n s o l l e“ (SF, A 102 (AA V II, 63)), d. h.: „der Gott in uns ist selbst der Ausleger [der heiligen Schriften], weil wir niemand verstehen als den, der durch unsern eigenen Verstand und unsere eigene Vernunft mit uns redet, die Göttlichkeit einer an uns ergangenen Lehre also durch nichts, als durch Begriffe u n s e r e r Vernunft, so fern sie reinmoralisch und hiemit untrüglich sind, erkannt werden kann“ (SF, A 70 (AA V II, 48)); vgl. dazu die kritische Diskussion bei Rößner: Der „Grenzgott der Moral“, 411 ff., Anm. 114 Vgl. VJP (AA V III, 441); HN (AA X XIII, 468); vgl. dazu Rößner: Der „Grenzgott der Moral“, 420 f., Anm. 115 Ludwig: „‚Ohne alles moralische Gefühl ist kein Mensch …‘ – lebendige, vernünftige und sittliche Weltwesen bei Kant“, 139. 116 Rößner: Der „Grenzgott der Moral“, 330, Anm.; 382; 398; 412; 413, Anm. nach Loock: Idee und Reflexion bei Kant, 75 – 77. 117 Vgl. Marion: „Mystik – oder: Was die Theologie sehen lassen kann“; vgl. dazu Christian Rößner: „Mysticism instead of Metaphysics: Marion’s Phenomenology of Revelation“, in: Bogoslovni vestnik. Theological Quarterly. Ephemerides theologicae 79, 2 (2019), 357 – 365. 118 KrV, B 323 / A 267 (AA III, 219 / IV, 173); vgl. KrV, B 58 / A 41 (AA III, 64 / IV, 42); KrV, B 298 / A 239 (AA I II, 204 / IV, 157); KrV, A 377 (AA I V, 236); KU, B 404 / A 399 (AA V, 438); KU, B 432 / A 427 (AA V, 454); BDG, A 23 f. (AA I I, 80); MAN, A 104 (AA I V, 534); Br (AA X, 72); Refl 3951 (AA X VII, 362); Refl 4573 (AA X VII, 598); OP (AA X XII, 459); V-Lo/Blomberg (AA X XIV, 91); V-Lo/Busolt (AA X XIV, 657); V-MP-L2/Pölitz (AA X XVIII, 531); V-MP/Mron (AA X XIX, 794). 119 KrV, B 334 / A 278 (AA I II, 225 / IV, 179). 120 KrV, B xxii (AA I II, 14); vgl. KrV, B xxviii (AA I II, 18); KU, B 456 / A 450 (AA V, 468); WDO, A 318 f. (AA V III, 141); sensu stricto handelt es sich bei diesen praktischen Daten um ein einziges Datum, um das einzige Faktum der reinen Vernunft. 121 VT, A 401 (AA V III, 395); zu dieser „Fühlbarkeit“ vgl. auch VT, A 402 (AA V III, 396); VT, A 419 (AA V III, 403). 122 VT, A 401 (AA V III, 395); vgl. EaD, A 513 (AA V III, 335). 123 RGV, B 58 f. / A 54 f., Anm. (AA V I, 50); vgl. SF, A 91 f. (AA V II, 58); VT, A 418 (AA V III, 402). 124 RGV, B 165 / A 156 (AA V I, 114).
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behauptet hat: Nach Dieter Henrich „waren die nicht ganz ohne Recht, welche vermuteten, daß Kants Bibelexegese aus praktischer Vernunft einer ‚Mystik‘ nahesteht. Sie gewahrten in Kants Lehre vom Faktum der Vernunft in der Gestalt des Moralgesetzes die Möglichkeit jener Versuchung, in die Kant selbst einst geraten war“.125 An zwar nicht im Druck publizierter, aber öffentlich vorgetragener Stelle scheut sich Kant nicht einmal mehr, das moralische Gesetz in uns ob seiner Unableitbarkeit nicht nur als Faktum der Vernunft, sondern schließlich gar als „ein Wunder in der Menschennatur“126 zu bezeichnen: „Wenn Wunder das ist was wir bewundern müssen und was uns keine Demonstration aus der Vernunft […] erklären kan so haben wir das vor uns liegend nämlich des moralischen Gesetzes in uns“.127 „Mit diesem Wunder eines ‚Gefühls a priori‘,128 das im Rahmen der kantischen Philosophie eigentlich gar nicht gedacht werden kann und dennoch von der GesetzesGebung nicht zu trennen ist, findet also die äquivoke Wendung ‚Faktum der reinen Vernunft‘ zu ihrer genau bestimmten Bedeutung und ihrem Sinn. Denn da es zugleich Gefühl für das Gemüt und Triebfeder für die Willkür ist, legt es uns diese verpflichtende Offenbarung ans Herz, diese ursprüngliche ethische Einsicht, wo unser Empfangen des Gesetzes nichts anderes ist als unsere Unterwerfung unter das Gesetz: Es wäre die Wahrheit des Gesetzes, das Gesetz, wie es sich in Wahrheit gibt in der alles entscheidenden Evidenz des Gefühls. Die Gesetzesethik stellte sich derart dar als eine ‚sentimentale‘ Ethik, als eine Pathethik.“129
Die Rede von einer kantischen Path-Ethik hätte sich Kant wohl ebenso als allzu vornehm im Ton verbeten, wie er der auf Carl Arnold Wilmans zurückgehenden, von Robert Spaemann130 in Erinnerung gerufenen und gegenwärtig vornehmlich von Stephen R. Palmquist131 vertretenen These nicht unbedingt beizustim125
Dieter Henrich: „Zu Kants Begriff der Philosophie. Eine Edition und eine Fragestellung“, in: Friedrich Kaulbach u. Joachim Ritter (Hg.): Kritik und Metaphysik. Studien (FS H. Heim soeth), Berlin 1966, 40 – 59: 54. 126 V-MP-K2/Heinze (AA X XVIII, 745): „Der kategorische Imperativ sei geradezu ein Wunder in der Menschennatur“. 127 HN (AA X XIII, 107 f.). 128 Zur „Merveille d’une présentation quasi-intuitive de cette Loi supra-sensible dans le sensible“ vgl. Jacob Rogozinski: „Sous le voile d’Isis (du sublime)“, in: ders.: Kanten. Esquisses kantiennes, Paris 1996, 113 – 145: 121; zur „paradoxe[n] Antiökonomie dieses Wunders“ vgl. auch Gartler: Das Sittengesetz, 78 f. 129 Rogozinski: Le don de la Loi, 202 f.; Übers. v. Verf. (Rößner: Der „Grenzgott der Moral“, 384 f.). 130 Robert Spaemann: Reflexion und Spontaneität. Studien über Fénelon, Stuttgart 1963, 233 f., Anm. 131 Stephen R. Palmquist: Kant and Mysticism. Critique as the Experience of Baring All in Reason’s Light, Lanham/Boulder/New York/London 2019; ders.: „Responses to Critics: What Makes Mysticism Critical ? (Or, What Makes Critique Mystical ?)“, in: Kantian Review 26, 1 (2020), 137 – 162; vgl. die kritische Auseinandersetzung mit Palmquists These in den Diskussionsbeiträ-
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men geneigt gewesen wäre, „that Kant himself develops a special Critical type of mysticism“.132 Diejenige Mystik, der Kants Religionslehre nicht unähnlich ist, ist keine enthusiastisch-esoterische Schwärmerei, sondern eine aufgeklärte und in diesem Sinne „taghelle Mystik“ (R. Musil),133 die man abschließend charakterisieren kann als eine Gewissensspiritualität aus dem Geist des moralischen Rigorismus, als die religiöse Dimension kantischen Pflichtbewußtseins, als das Innewerden der „göttlichen Abkunft“134 des moralischen Gesetzes, das „ i n m i r “135 ist, indem es nicht aus mir kommt und darum mich über mich hinausführt: „Es ist ein Gott denn es ist ein categ. Imperativ“.136 gen von Firestone, Medhananda, McQuillan, Nelson und Pasternack, in: Kantian Review 26, 1 (2020), 99 – 135. 132 Stephen R. Palmquist: Kant’s Critical Religion: Volume Two of Kant’s System of Perspectives, Aldershot/Burlington/Singapore/Sydney 2000, 298; vgl. ebd., 300: „a mystical feeling lies at the very heart of the Critical philosophy“; für weitere „evidence that could be used to support Wilmans’ astute observations“ vgl. ebd., 307 ff. 133 Vgl. Martina Wagner-Egelhaaf: „Musil und die Mystik der Moderne“, in: Wolfgang Braungart, Gotthard Fuchs u. Manfred Koch (Hg.): Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden. II: um 1900, Paderborn/München/Wien/Zürich 1998, 195 – 215. 134 RGV, B 58 / A 55 (AA VI, 50); vgl. auch KpV, A 154 (AA V, 86) und dazu Rößner: Der „Grenzgott der Moral“, 391 f. 135 KpV, A 288 (AA V, 161); vgl. dazu Rößner: Der „Grenzgott der Moral“, 247 ff., Anm.; 293 ff. 136 OP (AA X XII, 106): „Die Vernunft verfahrt nach dem categor. Imperativ, und der Gesetzgeber ist Gott. – Es ist ein Gott denn es ist ein categ. Imperativ“; vgl. OP (AA X XII, 108 f.): „Der Begriff von Gott ist die Idee von einem über alle Weltwesen physisch und moralisch machthabenden Wesen (das also nur Eines seyn kann welches für sich selbst nicht in Raumes und Zeitverhältnissen bestimmbar gedacht werden kan). Daß ein solches Wesen sey zeigt die moralisch// practische Vernunft im c a t e g o r i s c h e n I m p e r a t i v in der Freyheit unter Gesetzen in der Erkentnis aller Pflichten als göttlicher Gebote. Diese Idee ist das Gefühl der Gegenwart der Gottheit im Menschen. Wir würden ein solches Pflichtgefühl nicht haben ohne Imperativ […] Freyheit unter dem Gesetz ist moralisch// practische Vernunft des Menschen. Die welche der Freyheit gesetzgebend ist die hochste V. und der welcher durch den categorischen Imperativ allein zum Ausspruche desselben für alle Vernunftige Wesen berechtigt ist, ist G o t t ; denn der muß alle Gewalt zur Bewirkung seiner Zwecke und zugleich den Willen haben diese über alle Naturwesen der Weisheit gemäß geltend zu machen. Die bloße Idee von Gott ist zugleich ein Postulat seines Daseyns. Ihn sich denken und zu glauben ist ein identischer Satz. Das Rechtsprincip im categorischen Imperativ macht das All nothwendig als absolute Einheit nicht nach der Transc: Philos. sondern der transscendenten“; vgl. OP (AA X XI, 64): „Es ist ein Gott. – Denn es ist ein categorischer Pflichtimperativ vor dem sich alle Knie beugen die im Himmel auf Erden etc. sind und dessen Nahme heilig ist ohne daß eine Substanz angenommen werden darf welche dieses Wesen für die Sinne repräsentirte – ohne wie Spinoza als repräsentativ von dieser Idee anzunehmen als welches Schwärmerey seyn würde“; vgl. OP (AA X XI, 92): „Ob ein Gott in der Natur sey (gleichsam als Weltseele) kann nicht gefragt werden denn dieser Begriff ist contradictorisch; aber in der moralisch// practischen Vernunft und dem categorischen Imperativ offenbart er sich“; zu dieser Stelle vgl. Karl Bornhausen: „Der Primat der praktischen Vernunft in der Religionsphilosophie. Zur 200. Wiederkehr des Geburtstags Immanuel Kants 22. April 1724“, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 5 (1924), 85 – 103: 102; Aloysius Winter: „‚Es ist ein Gott denn
Beschluß: „est Deus in nobis“137 Mit Carl Arnold Wilmans läßt sich Kant als reiner Mystiker malgré lui verstehen, wenn auch damit eben nicht so verstehen, wie er sich selbst verstand und verstanden wissen wollte. Doch wäre diese Differenz zu Kants Selbstverständnis zugleich die tiefere Treue zu ihm, ist es doch nach Kant „gar nichts Ungewöhnliches“, einen Verfasser „sogar besser zu verstehen, als er sich selbst verstand“.138 Nichts ist kantischer, als mit Kant gegen Kant und über Kant hinaus zu denken. Rekapituliert man die zentralen Kritikpunkte, die Kant einer schwärmerischen Mystik vorzuhalten pflegt,139 so zeigt sich, daß Wilmans’ reine Mystiker von diesen nur bedingt getroffen werden: es ist ein categ. Imperativ‘. Versteckte Ansätze zur Gottesfrage in der Kritik der praktischen Vernunft“, in: Norbert Fischer u. Maximilian Forschner (Hg.): Die Gottesfrage in der Philosophie Immanuel Kants (Forschungen zur europäischen Geistesgeschichte, Bd. 10), Freiburg/Basel/ Wien 2010, 85 – 108: 94 f.; vgl. auch Robert Theis: „‚Es ist ein Gott‘. Kants Weg vom Wissen zum Glauben“, in: Christoph Böhr (Hg.): Zum Grund des Seins. Metaphysik und Anthropologie nach dem Ende der Postmoderne (FS R. Brague), Wiesbaden 2017, 163 – 188; die „These vom religiösen Charakter des sittlichen Bewusstseins“ wurde auch schon von Walter Reinhard: Ueber das Verhältnis von Sittlichkeit und Religion bei Kant unter besonderer Berücksichtigung des Opus postumum und der Vorlesung über Ethik, Bern 1927, 16 – 29 vertreten: „Der Hinweis der sittlichen Gebote auf Gott vermöge ihres kategorischen Charakters ist ein Sichoffenbaren Gottes im kategorischen Charakter der sittlichen Gebote. […] Was er [Kant] uns bietet, ist nicht ein Gottesbeweis, sondern eine Lehre vom Sicherweisen Gottes“ (ebd., 26 f.); dazu, daß „Kant uns im Kontext des Gewissens einen praktischen Gottesbeweis präsentiert“, vgl. nun auch Elke Elisabeth Schmidt u. Dieter Schönecker: „Über einen (unentdeckten) Gottesbeweis in Kants Philosophie des Gewissens“, in: Saša Josifovic´ u. Arthur Kok (Hg.): Der „innere Gerichtshof“ der Vernunft. Normativität, Rationalität und Gewissen in der Philosophie Immanuel Kants und im Deutschen Idealismus (Critical Studies in German Idealism, Bd. 18), Leiden/Boston 2016, 115 – 153: 138. vgl. ausführlicher auch Rößner: Der „Grenzgott der Moral“, 252 f., Anm.; 300 f., Anm.; 344, Anm. 137 OP (AA X XII, 129 f.): „Das Subject des categorischen Imperativs in mir ist ein Gegenstand dem Gehorsam geleistet zu werden verdient: ein Gegenstand der Anbetung (adoration) Dieses ist ein identischer Satz Die Eigenschaft eines moralischen Wesens das über die Natur des Menschen categorisch gebieten kann ist die Gottlichkeit desselben Seine Gesetze müssen gleich als göttliche Gebote befolgt werden. – Ob Religion ohne Voraussetzung des Daseyns Gottes möglich ist. est Deus in nobis.“ Vgl. zu dieser Stelle Bornhausen: „Der Primat der praktischen Vernunft in der Religionsphilosophie“, 99; vgl. den „Gott in uns“ in SF, A 70 (AA V III, 48); OP (AA X XII, 310); HN (AA X XIII, 108); V-MP-K2/Heinze (AA X XVIII, 775); vgl. auch OP (AA X XI, 144 f.); OP (AA X XII, 120); vgl. dazu Rößner: Der „Grenzgott der Moral“, 247 ff., Anm. 138 Vgl. KrV, B 370 / A 314 (AA I II, 246 / IV, 200): „Ich merke nur an, daß es gar nichts Ungewöhnliches sei, sowohl im gemeinen Gespräche als in Schriften durch die Vergleichung der Gedanken, welche ein Verfasser über seinen Gegenstand äußert, ihn sogar besser zu verstehen, als er sich selbst verstand, indem er seinen Begriff nicht genugsam bestimmte und dadurch bisweilen seiner eigenen Absicht entgegen redete oder auch dachte“. 139 Nochmals nach Manstetten: „Kant und das Problem der Mystik“, 37 ff.
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1. Der formale Einwand fehlender Allgemeinheit trifft insofern nicht, als es gerade keine beliebig-kriterienlose Privat-Erleuchtung, sondern die Universalität des „inneren Wortes“ ist, die von den separatistischen Mystikern ins Feld geführt wird gegen jede institutionelle Verengung zu einer sich gegenüber anderen Glaubensgemeinschaften verschließenden sichtbaren Kirche. So wie nach Kant jeder Mensch, „er mag wollen oder nicht“,140 die Vernunftstimme des Gewissensrufes vernimmt, so ist nach der im Umfeld des Quäkertums praktizierten Mystik ein „inneres Licht“ in jedem einzelnen Menschen, unabhängig von seiner etwaigen Zugehörigkeit zu einer bestimmten religiösen oder gesellschaftlichen Gruppe. Wilmans’ Mystiker teilen also den catholicismus rationalis141 des einen reinen Religionsglaubens. 2.1 Auch der erste inhaltliche, d. h. moralische Einwand gegen einen vermeintlichen Heilsegoismus und -eudämonismus der Mystik kann gegen jene Leute, die „wahre Kantianer sein [würden], wenn sie Philosophen wären“,142 kaum geltend gemacht werden, denn die innere Offenbarung, auf die sie sich berufen, enthält zunächst nichts als die sittliche Sollforderung eines guten Lebenswandels; die daraus resultierende Religion ist und bleibt bei Kant wie bei den Mystikern von einer „Religion […] der G u n s t b e we r b u n g “143 wohlunterschieden. Mit der Verpflichtung, nach Kräften einer gleichwohl unverfügbar bleibenden göttlichen Gnade durch gute Werke gewissermaßen entgegenzukommen, entgehen die reinen Mystiker auch dem kantischen Vorwurf einer alle Eigeninitiative vermissen lassenden Passivität. Umgekehrt enthält Kants 140
WDO, A 328 (AA V III, 146); V-PP/Powalski (AA X XVII, 197); vgl. KpV, A 136 (AA V, 77). SF, A 73 f. (AA V II, 49 f.): „ A l l g e m e i n h e i t für einen Kirchenglauben zu fordern (catholicismus hierarchicus) ist ein Widerspruch, weil unbedingte Allgemeinheit Nothwendigkeit voraus setzt, die nur da Statt findet, wo die Vernunft selbst die Glaubenssätze hinreichend begründet, mithin diese nicht bloße Statute sind. Dagegen hat der reine Religionsglaube rechtmäßigen Anspruch auf Allgemeingültigkeit (catholicismus rationalis). Die Sectirerei in Glaubenssachen wird also bei dem letztern nie Statt finden, und wo sie angetroffen wird, da entspringt sie immer aus einem Fehler des Kirchenglaubens“. 142 SF, A 126 (AA V II, 74). 143 RGV, B 61 f. / A 57 (AA V I, 51): „Man kann aber alle Religionen in die der G u n s t b e we r b u n g (des bloßen Cultus) und die m o r a l i s c h e , d. i. die Religion des g u t e n L e b e n s wa n d e l s , eintheilen. Nach der erstern schmeichelt sich entweder der Mensch: Gott könne ihn wohl ewig glücklich machen, ohne daß er eben nöthig habe, e i n b e s s e r e r M e n s c h z u we r d e n (durch Erlassung seiner Verschuldungen); oder auch, wenn ihm dieses nicht möglich zu sein scheint: G o t t könne ihn wohl z u m b e s s e r e n M e n s c h e n m a c h e n, ohne daß er selbst etwas mehr dabei zu thun habe, als darum zu b i t t e n ; welches, da es vor einem allsehenden Wesen nichts weiter ist als w ü n s c h e n, eigentlich nichts gethan sein würde: denn wenn es mit dem bloßen Wunsch ausgerichtet wäre, so würde jeder Mensch gut sein.“ Vgl. auch RGV, B 269 / A 253 (AA V I, 175); RGV, B 286, Anm. (AA V I, 185); KU, B 109 / A 108 (AA V, 264); KU, B 123 / A 121 (AA V, 273); SF, A 72 f. (AA V II, 49); MpVT, A 217 (AA V III, 267); Päd, A 132 (AA IX, 494); Br (AA X, 192 f.); Refl 370 (AA X V, 145); Refl 1518 (AA X V, 871); Refl 1531 (AA X V, 959); Refl 6308 (AA X VIII, 602); Refl 8087 (AA X IX, 630 f.); HN (AA X XIII, 170; 434); V-Mo/Kaehler(Stark), 156 f. 141
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Religionsphilosophie bei aller Akzentuierung der vom Subjekt selbst zu leistenden Anstrengung und Arbeit auch ein nicht ausschließlich aktivistisch zu denkendes Element der „ E m p f ä n g l i c h k e i t der freien Willkür für die Bewegung derselben durch praktische reine Vernunft (und ihr Gesetz)“.144 2.2 Diese nicht-empirische, aber quasi-ästhetische Komponente spielt auch eine entscheidende Rolle im Blick auf den zweiten inhaltlichen, d. h. epistemologischen Einwand Kants gegen die Mystik, nämlich die mit einer rein „logische[n] Lehrart“145 unverträgliche Berufung auf Erfahrung. In diesem Punkt sind nun weniger die Mystiker auszunehmen als vielmehr Kant selbst einzuschließen. Kants „konsequent-kritischer“ Rekurs auf ein Faktum der Vernunft impliziert einen argumentativen Rückgriff auf eine originäre, nicht-empirische Erfahrung des Ethischen, die über den engen Erfahrungsbegriff der theoretischen Vernunftkritik hinausgeht und Kants praktische Philosophie lesbar macht als eine „Phänomenologie der moralischen Erfahrung“,146 wo das Unbedingte offenbar und sinnenfällig wird als eine himmlische Stimme der Vernunft (dictamen rationis), die in der Apodiktizität ihres An-, Ein- und Widerspruchs gegen alles, „was auch die Neigung dazwischen sprechen mag“,147 mehr und anderes ist als „ein bloßes Echo aus der reinen Egologie des Selbstbewusstseins“.148 Abschließend läßt sich Kants entfernte Nähe zur Mystik vielleicht am besten in Form einer dialogischen Szene illustrieren, die weder Kant selbst noch Carl Arnold Wilmans, sondern Friedrich W. J. Schelling literarisch ausgestaltet hat. In Schellings Clara wird der Zusammenhang der Natur mit der Geisterwelt zum Gegenstand eines Gesprächs, das ein als Ich-Erzähler fungierender Pfarrer mit der titelgebenden Hauptfigur führt, die sich als junge Witwe am Allerseelentag in ein Kloster begibt und dort einer romantischen Neigung zu sehnsüchtig schwärmender Spekulation nachgibt. In den Dialog schaltet sich der Bibliothekar des Klosters ein, ein „junger, wohlgebildeter Geistlicher“, der nicht allein „Lehrer der philosophischen Wissenschaften“ ist,149 sondern in seiner Figur „unbestreit144
MS TL, A 37 (AA V I, 400). VT, A 423 (AA V III, 405). 146 Andreas Noordraven: Kants moralische Ontologie. Historischer Ursprung und systematische Bedeutung (Epistemata: Philosophie, Bd. 468), Würzburg 2009, 194 f.; vgl. auch Benjamin Lipscomb: „Moral Imperfection and Moral Phenomenology in Kant“, in: Benjamin J. Bruxvoort Lipscomb u. James Krueger (Hg.): Kant’s Moral Metaphysics. God, Freedom, and Immortality, Berlin/New York 2010, 49 – 79; Miguel Gonzalez Vallejos: Die Wende im Begriff der praktischen Gesetze bei Kant, Konstanz 2011, 118; 133 – 151; weitere Belege und Forschungsbericht bei Rößner: Der „Grenzgott der Moral“, 164 ff., Anm. 147 KpV, A 56 (AA V, 32). 148 Rößner: „Das Datum der Vernunft“, 193. 149 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Clara oder Zusammenhang der Natur mit der Geister145
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bar“150 die literarische Reinkarnation Immanuel Kants. Religiös unmusikalisch ist er als solcher durchaus nicht, aber gegenüber Claras „heißer Sehnsucht“ nüchtern und prosaisch genug, um deren allzu hochfliegende Töne auf die „Einsylbigkeit“ einer konsequent-kritischen Denkungsart „herabzustimmen“.151 Für den reinen Mystiker, der sich der durch Vernunftkritik gezogenen „Grenzen möglicher Erfahrung“152 bewußt ist und bleibt, gibt es einen, aber eben nur einen neuralgisch wunden Punkt, eine einzige offene Stelle, wo dem Denken Gott einfällt: „Dennoch, erwiederte er, müssen wir diese alten Grenzen in Ehren halten. Nur mit Bedauern könnte der Vernünftige sehen, wie sie verrückt würden, daß dann alles ohne Unterscheidung ineinander flösse, und wir bald weder mehr in der einen noch in der andern Welt recht zu Hause wären. […] Bei einer so gänzlichen Geschiedenheit, erwiederte ich, müßten Sie auch jeden Begriff von einer höheren Welt verwerfen. So ist es auch, antwortete er: jeden Begriff, den der Verstand oder die Vernunft sich bilden wollten. Wir haben in uns einen einzigen offenen Punkt, durch den der Himmel hereinscheint. Dieser ist unser Herz oder, richtiger zu reden, unser Gewissen. Wir finden in diesem ein Gesetz und eine Bestimmung, die nicht von dieser Welt seyn kann, mit der sie vielmehr gewöhnlich im Kampf ist, und so dient es uns zu dem Unterpfand einer höheren Welt, und erhebt den, der ihm folgen gelernt hat, zu dem trostreichen Gedanken der Unsterblichkeit. Und zu nichts mehr ? versetzte Clara. Dieses Wort Unsterblichkeit ist mir viel zu schwach für meine Empfindung. Was sollen der heißen Sehnsucht die kalten Worte und die bloß verneinenden Begriffe ? […] Der Glaube ist einsylbig, antwortete er, wie die Pflicht, aus der er kommt.“153
Es ist diese „Einsylbigkeit“, die Wilmans’ reine Mystiker von den vielen vorneh men Tönen der Schwärmer und Schwätzer unterscheidet. In Kants sich jeder hyperphysischen Spekulation verweigernder Ethikotheologie beruht alle Theowelt. Ein Gespräch, Stuttgart 21865, 4; die zitierte Stelle auch bei Rößner: Der „Grenzgott der Moral“, 421 f. 150 Alexander Grau: „Clara. Über Schellings gleichnamiges Fragment“, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 51 (1997), 590 – 610: 597: „unbestreitbar, daß Schelling hier Kant einen kurzen Auftritt zugesteht“. 151 Vgl. KrV, B 652 f. / A 624 f. (AA I II, 416): „es kann der guten Sache keinesweges schaden, die dogmatische Sprache eines hohnsprechenden Vernünftlers auf den Ton der Mäßigung und Bescheidenheit eines zur Beruhigung hinreichenden, obgleich eben nicht unbedingte Unterwerfung gebietenden Glaubens herabzustimmen“; vgl. auch KrV, B 777 / A 749 (AA I II, 490). 152 KrV, B 170 f. / A 131 (AA I II, 131 / IV, 96); KrV, B 423 (AA I II, 275); KrV, B 525 / A 496 (AA I II, 342); KrV, B 563 / A 535 (AA I II, 364); KrV, B 672 / A 644 (AA I II, 428); KrV, B 739 / A 711 (AA I II, 467); ZeF, B 52 / A 51 (AA V III, 362); FM, A 168 (AA X X, 319); vgl. KrV, B xix (AA I II, 13); KrV, B xxi (AA I II, 14); KrV, B 121 / A 89 (AA I II, 102 / IV, 71); KrV, B 809 / A 781 (AA I II, 509); Prol, A 45 (AA I V, 278); ÜE, BA 25 (AA V III, 198); FM, A 193 (AA X X, 329). 153 Schelling: Clara, 11 – 13.
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logie auf einer Ethik der Pflicht, in der sich reine Vernunft als praktisch beweist und die in der rigorosen Unbedingtheit ihres imperativischen Anspruchs einen Verheißungsvermerk154 impliziert, der weder die Autonomie der Vernunft noch die Reinheit der aus ihr resultierenden Religion beschädigt, sondern Kant selbst zu einer Form von genuin Kritischer Mystik finden läßt, deren tiefster Glaubensgrund sich an einer Stelle der Religionsschrift, an der buchstäblich „der Himmel hereinscheint“, geradezu gebethaft artikuliert: „Daß der Mensch durchs moralische Gesetz zum guten Lebenswandel berufen sei, daß er durch unauslöschliche Achtung für dasselbe, die in ihm liegt, auch zum Zutrauen gegen diesen guten Geist und zur Hoffnung, ihm, wie es auch zugehe, genug thun zu können, Verheißung in sich finde, endlich, daß er, die letztere Erwartung mit dem strengen Gebot des erstern zusammenhaltend, sich als zur Rechenschaft vor einen Richter gefordert beständig prüfen müsse: darüber belehren und dahin treiben zugleich Vernunft, Herz und Gewissen.“155
154
Vgl. Johann Baptist Metz: „Theologie als Theodizee ?“, in: Willi Oelmüller (Hg.): Theo dizee – Gott vor Gericht ?, München 1990, 103 – 118: 118; zum „not-wendigen […] postulatorisch verankerten ‚Verheißungsvermerk‘“ im kantischen Kontext vgl. Rudolf Langthaler: Geschichte, Ethik und Religion im Anschluss an Kant. Philosophische Perspektiven „zwischen skeptischer Hoffnungslosigkeit und dogmatischem Trotz“ (Deutsche Zeitschrift für Philosophie: Sonderbände 19), Berlin 2014, Bd. 2, 594 f.; vgl. dazu auch Rößner: Der „Grenzgott der Moral“, 546. 155 RGV, B 219 / A 205 f. (AA V I, 144 f.); vgl. Rößner: Der „Grenzgott der Moral“, 552.
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Nachwort In einer erst vor vier Jahren publizierten dissertatio philosophica war abschließend behauptet worden, Kants Metaphysik der Grenze münde in eine Mystik des Gesetzes.1 Diese dort systematisch erarbeitete These findet in der hier nun vorgelegten Studie eine philosophiehistorische Entsprechung, indem die Annäherung von Kantianismus und Mystizismus anhand jener Dissertation nachvollzogen wird, in welcher Carl Arnold Wilmans 1797 eine latente Familienähnlichkeit zwischen der kantischen Religionsphilosophie und einer separatistischen Sonderform von reiner Mystik zu erweisen suchte. Mit deren kommentierter und kontextualisierter Veröffentlichung in den KantForschungen verbindet sich die Hoffnung, daß der gegenwärtige Diskurs der religionsphilosophischen Kantforschung dadurch angeregt und bereichert werden kann, daß er mit einer in ihrem systematischen Potential bislang unzureichend abgeschöpften Quelle konfrontiert wird, die hier nun neu ediert, ausführlich annotiert und erstmals in deutscher Übersetzung zugänglich ist. Das vorliegende Buch stellt die überarbeitete Fassung einer Lizentiatsarbeit dar, die ich im Nachsommer 2020 an der Theologischen Fakultät der Katholischen Privat-Universität Linz eingereicht und am 14. Dezember 2020 ebendort verteidigt habe. Mein Dank gilt den Gutachtern dieser Qualifikationsschrift, Professor Dr. Michael Hofer und Professorin Dr. Dr. Isabella Guanzini, aber auch den weiteren Mitgliedern der Prüfungskommission, Professorin Dr. Ines Weber und Rektor Professor Dr. Christoph Niemand. Für sein inhaltliches Interesse möchte ich auch Professor Dr. Stephan Grotz danken. Die Arbeit an dieser Studie wurde wesentlich gefördert durch das Stipendium für Aufklärungsforschung, das mir 2017 vom Interdisziplinären Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung der Martin-Luther-Universität HalleWittenberg zugesprochen worden war. Ich danke Professor Dr. Jürgen Stolzenberg, allen Kolleginnen und Kollegen am IZEA und denke gern an die beiden Forschungsaufenthalte in den Franckeschen Stiftungen zurück. Professor Dr. Clemens Schwaiger SDB möchte ich für sein Interesse an meiner Forschungsfrage und die guten Gespräche danken. Professor Dr. Heiner F. Klemme und dem ImmanuelKant-Forum bin ich dankbar für die konstruktiv-kritische Diskussion meines Sti1
Christian Rößner: Der „Grenzgott der Moral“. Eine phänomenologische Relektüre von Immanuel Kants praktischer Metaphysik im Ausgang von Emmanuel Levinas (Phänomenologie: Kontexte, Bd. 26), Freiburg/München 2018, 557; zu Wilmans vgl. ebd., 239 f.; 325 u. 419–422.
280 Nachwort
pendiatenvortrags. Daß dieser zwischenzeitlich in der zweisprachigen Zeitschrift Kantovskii Sbornik erscheinen konnte, 2 verdanke ich der Direktorin der Academia Kantiana (Immanuel Kant Baltic Federal University), Professorin Dr. Nina A. Dmitrieva, aber auch dem Übersetzer Andrey S. Zilber. Danken möchte ich auch Professorin Dr. Dr. Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz und der Arbeitsgemeinschaft Religionsphilosophie Dresden, in deren Seminarreihe ich Wilmans’ These zur Diskussion zu stellen eingeladen war. Zu Dank verpflichtet weiß ich mich Wolfgang Schindler, der mir im Blick auf die Lebens- und Familiengeschichte von Carl Arnold Wilmans viele Erkenntnisse vermittelt und auch in noch unveröffentlichte Forschungsarbeiten freundlichen Einblick gewährt hat. Für fachlichen Rat und hilfreiche Hinweise im kantischen Kontext habe ich weiterhin zu danken: Professor Dr. Jakub Sirovátka, Professor Dr. Norbert Fischer, Professor Dr. Maximilian Forschner, Professor Dr. Dr. Rudolf Langthaler und Professor Dr. Michael Hofer. Bei letzterem habe ich mich an erster Stelle zu bedanken: für das Miteinander am Institut für Theoretische Philosophie der KU Linz und die großzügigen Freiräume, meinen Forschungsinteressen nachzugehen, für die beständige Begleitung und unbedingte Unterstützung nicht nur dieses Vorhabens. Marcel Simon-Gadhof danke ich für die Aufnahme meiner Arbeit in das Verlagsprogramm von Felix Meiner und die gute Zusammenarbeit im Vorfeld der Veröffentlichung, Hannah Schey für die Sorgfalt und Mühe des abschließenden Korrektorats. Für die Übernahme der Druckkosten schulde ich Dank sowohl der Österreichischen Forschungsgemeinschaft als auch dem Bischöflichen Fonds zur Förderung der Katholischen Privat-Universität Linz. Ruhm und Dank den alten Meistern: StD Klaus Herta, StD Reinhold Prell. Linz an der Donau, den 12. Mai 2022
2
ChR
Christian Rößner: „Kant als Mystiker? Zur These von Carl Arnold Wilmans’ dissertatio philosophica“, in: Kantian Journal 37, 3 (2018), 7–30.