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German Pages 516 Year 2014
Sylvia Karl Kampf um Rehumanisierung
Sylvia Karl (Dr. phil.) lehrt Kultur- und Sozialanthropologie an der PhilippsUniversität Marburg. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Konfliktanthropologie Lateinamerikas.
Sylvia Karl
Kampf um Rehumanisierung Die Verschwundenen des Schmutzigen Krieges in Mexiko
Dissertation an der Philipps-Universität Marburg, 2013
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Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Sylvia Karl, Atoyac/Mexiko, 2012 Lektorat & Satz: Sylvia Karl Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-2827-2 PDF-ISBN 978-3-8394-2827-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Danksagung | 11 Prolog | 13 Einleitung | 15
Ausgangslagen | 15 Ziele der vorliegenden Arbeit | 28 Zugang zum Feld, Methode und ethnographische Forschung in Konfliktregionen | 39 Verschwindenlassen: Zirkulation einer Gewaltpraxis über Raum und Zeit | 51
I. DEHUMANISIERUNG
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1. Schmutziger Krieg in Mexiko (1968 – 1982): Der Staat ist die Revolution! | 59
1.1 Kalter Krieg in Mexiko: Das Militär als Hüter der Revolution | 63 1.2 Gewalträume: Agrarismo, Kaziken und Guerilla | 71 1.3 Massaker von Tlatelolco und Corpus Christi: Halconesund Brigadas Blancas | 76 1.4 Kontinuitäten: Postkoloniale Figuren der Macht – Caudillos und Kaziken | 81 2. Schmutziger Krieg in Guerrero (1967 – 1974): Kaziken und Pobrismo | 87
2.1 Sierra de Atoyac: Kleinbauern und Kontinuitäten ruraler Rebellionen | 89 2.2 Lucio Cabañas und die Partei der Armen | 97 2.2.1 Arme gegen Reiche: Der Diskurs des Pobrismo von Lucio Cabañas | 103 2.2.2 Die Armen folgen Lucio Cabañas | 108
2.3 Die schlimmen Zeiten: Militärische Operationen Telaraña, Amistad, Rastrilleo | 111 2.3.1 Kontrolle der Bewegungen, Kontrolle der Nahrung | 121 2.3.2 Verwandtschaft: Grund zum Verschwindenlassen | 129 2.3.3 Bombardierung, Flucht, Verlust: Wir haben alles verloren! | 131 2.3.4 Die Soldaten und der Missbrauch | 134 2.3.5 Verschwindenlassen von und (sexuelle) Gewalt an Frauen | 139 2.3.6 Die zurückgekehrten Verschwundenen: Folter und Verhöre – Wo ist Lucio? | 145 2.4 Der Tod von Lucio Cabañas | 158 2.5 Von Tätern, Mittätern und Opfern: Schuld und Verzeihung | 160 2.6 Orte der Verschleppung, Orte des Terrors | 165 2.7 Rituale, Verweigerungen und Transformationen | 171 2.7.1 Totenrituale in Mexiko und Guerrero | 173 2.7.2 Vier Verweigerungen: Permanenz in der Liminalität | 175 2.7.3 Physische, psychische und soziale Auswirkungen der Verweigerungen | 182 Zwischenfazit: Dehumanisierung | 191
II. REHUMANISIERUNG: KAMPF UM DIE RÜCKKEHR DER VERSCHWUNDENEN | 201 3. Akteure und Praktiken der Rehumanisierung | 203
3.1 Ohne Angehörige keine Verschwundenen | 203 3.2 Individuelle Suche: Ich ging fort, um ihn zu suchen! | 207 3.3 Kollektive Suche und Protest: Konstruktionen sozialer Erinnerungsgruppen | 220 3.3.1 Lokale Vernetzungen: AFADEM | 220 3.3.2 Nationale Vernetzungen: &RPLWp(XUHND | 224 3.3.3 Transnationale Vernetzungen | 234 3.4 Testimonios: So ist es geschehen! | 240
3.5 Kontaktaufnahme mit ExpertInnen und Menschenrechtsorganisationen | 243
III.
RE-DEHUMANISIERUNG: TRANSITIONAL FRICTIONS STATT TRANSITIONAL J USTICE ? | 247
4. Aufarbeitung der Gewalt als Konflikt im Postkonflikt | 249
4.1 Friktionen: PRI und CNDH – Untersuchung der eigenen Taten? | 254 4.2 Friktionen: Kontinuitäten der Aufstandsbekämpfung | 262 4.3 Friktionen: Fox, Transition und Instrumentalisierung von Menschenrechten | 266 4.3.1 Der Bericht der CNDH: Divergierende Interpretationen | 270 4.3.2 Die Lösung DODPH[LFDQD: FEMOSPP statt Wahrheitskommission | 275 4.3.3 Die Person Carrillo Prieto: Zwischen Aufklärung und Blockierung | 279 4.3.4 Archiv des Terrors: Das $UFKLYR*HQHUDOGHOD1DFLyQ | 281 4.3.5 Die FEMOSPP aus lokaler Perspektive: (VZDUHLQH3DQWRPLPH | 284 4.3.6 Prozesse gegen die Täter: Schuld und Unschuld | 289 4.3.7 Exhumierungen in der Sierra de Atoyac: Tierknochen? | 299 4.3.8 Der Fall Zacarías Barrientos: Opfer – Mittäter – Opfer? | 301 4.3.9 Der Bericht der FEMOSPP: Umkämpfte Wörter und Geschichten | 306 4.3.10 Die Revolutionäre Familie: Der Einfluss des Militärs | 310 4.4 Friktionen: Calderón und das Militär – YHUVFKZXQGHQH Dokumente | 317 4.4.1 Erneute Datensammlung: 6LHKDEHQGRFKVFKRQDOOHV | 320 4.4.2 Rückgabe sterblicher Überreste: +LHUVLQGVLH | 323 4.4.3 Fälle der FEMOSPP geschlossen | 325 Zwischenfazit: Re-Dehumanisierung | 327
IV.
KONTINUITÄTEN DER REHUMANISIERUNG: WEDER VERGESSEN, NOCH VERZEIHEN, NOCH VERSÖHNEN ! | 331
5. Kontinuitäten alter, Aufnahme neuer Praktiken | 333
5.1 Soziale Verurteilungen: Escraches von H.I.J.O.S. und Comité Eureka | 335 5.1.1 Vor dem Obersten Gerichtshof: £3UHVHQWH | 336 5.1.2 Rituelle Integrationen: 'LH9HUVFKZXQGHQHQIHKOHQXQVDOOHQ | 340 5.2 Politisches rituelles Handeln: Neuordnung der Welt | 342 5.2.1 Repräsentationen der Verschwundenen: Symbole und Beweise | 342 5.2.2 Spontane Schreine | 343 5.2.3 Verweigerte Rituale – transformierte Rituale | 345 5.2.4 Rückgabe von Vitalität: Verschwundene mit transzendenter Identität | 350 5.3 Transnationale Kämpfe um Gerechtigkeit | 354 5.3.1 Der Fall Rosendo Radilla vor der CoIDH | 354 5.3.2 Der Fall Aleida Gallangos vor der CIDH: Verschleppte Eltern, verschleppte Kinder | 360 5.4 Transgenerationale Verpflichtungen: 6LHVWDUERKQHLKQZLHGHU JHVHKHQ]XKDEHQ | 362 5.5 Erinnerungsorte in Atoyac de Álvarez | 367 5.5.1 Die Sekundärbestattung von Lucio Cabañas | 367 5.5.2 Orte der Erinnerung an Lucio Cabañas | 370 5.6 Erinnerungsorte in Mexiko-Stadt | 374 5.6.1 Das Memorial del 68 | 374 5.6.2 Casa de la Memoria Indómita | 375 6. Angehörige von Verschwundenen: Heterogene Gruppen, Differenzierungen und Konflikte | 379
6.1 Heterogene Opfergruppen | 381 6.1.1 Sprechen/Schweigen über Verschwundene | 382 6.1.2 Vernetzung/Nicht-Vernetzung mit Anderen | 387 6.1.3 Sichtbarkeit/Unsichtbarkeit im öffentlichen Raum | 387 6.1.4 Politisches rituelles Handeln/Kein politisches Handeln | 389
6.2 Friktionen: Transitional Justice und Konflikte unter den Angehörigen | 391 6.2.1 Die Toten essen und von den Toten leben | 394 6.2.2 Der Fall Rosendo Radilla aus lokaler Perspektive | 398 6.2.3 Repräsentationen: Wer sind die wahren Angehörigen? | 400 6.2.4 Schweigen über die Vergangenheit | 402 6.2.5 Globale Diskurse/lokale Perspektiven: Kontakt mit der UNO | 405 Zwischenfazit: Rehumanisierung | 409
V. KONTINUITÄTEN VON DEHUMANISIERUNG UND REHUMANISIERUNG | 413 7. Neue Schmutzige Kriege: Drogen, Narcos und interne FeindInnen | 415
7.1 Friktionen: Neue Fälle von Verschwundenen – OHYDQWDGRV statt GHVDSDUHFLGRV | 418 7.2 Das Gespenst der nationalen Sicherheit | 422 7.3 Die Karawane des Friedens und der Gerechtigkeit | 425 7.4 Wahrheitskommission und Reparationszahlungen: Gefahren statt Erfolge? | 429 Fazit: Rehumanisierung als symbolische Umkehrung von Dehumanisierung | 439 Literatur | 459 Abbildungsanhang | 487
Danksagung
Eine Arbeit kann nie ohne eine Vielzahl von unterstützenden Menschen durchgeführt und zu Ende gebracht werden. Viele Menschen dies- und jenseits des Atlantiks haben mir dabei geholfen. In Mexiko möchte ich zuallererst meinem compañero José Antonio Guerrero Fonseca danken. Durch seine profunden Einblicke in die sicht- und unsichtbaren Geschichten Mexikos und unsere langjährige gemeinsame Projektarbeit habe ich mich dem Feld dieser Arbeit erst nähern können. Viele Forschungssituationen waren von langen anregenden Diskussionen begleitet, die mir halfen, scheinbar kleine Details in größere Zusammenhänge zu stellen. Gedankt sei auch Cecilia Fonseca Guerrero für ihre Unterstützung in guten und in schlechten Zeiten, die jahrelange herzliche Gastfreundschaft und vor allem das gute Essen. Danken möchte ich auch ganz besonders María Felix Blanco und José Luis Arroyo Castro aus Atoyac de Álvarez, unermüdliche und widerständige KämpferInnen für die Menschenrechte, durch deren Arbeit ich viele Angehörige von Verschwundenen kennengelernt habe. Besonders José Luis Arroyo Castro sei gedankt, dass er als Angehöriger von Verschwundenen zudem großes Interesse zeigte, gemeinsam mit mir Interviews mit anderen Angehörigen zu führen. Er wurde so zu einem wichtigen Forschungspartner vor Ort. Ein besonderer Dank geht an Elvira Patiño Leyva aus der comunidad Los Llanos de Santiago. Sie hat mir vor allem zu Beginn meiner Forschungen wertvolle Einblicke, Informationen und Kontakte in der Sierra de Atoyac vermittelt. Leider konnte sie das Ergebnis dieser Arbeit, zu der sie viele Beiträge geleistet hat, nicht mehr sehen. Elvira ist im Jahr 2012 verstorben, sie hat den jahrelangen Kampf um ihre beiden verschwundenen Geschwister nicht mehr weiterführen können. Danken möchte ich auch Don Mario aus der comunidad San Martín de las Flores, der mir vor allem zu Beginn der Forschung durch viele Erzählungen das weitreichende Panorama der historischer Ereignisse in der Sierra de Atoyac eröffnet hat. Mein großer Dank ist an alle Angehörigen von Verschwundenen gerichtet, die in vielen Fällen nicht namentlich genannt werden wollen. Viele haben über ihre Erinnerungen,
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ihren Schmerz, ihren Kampf gesprochen und nur durch diese testimonios meine Forschung ermöglicht. Von der Universidad Autónoma de Guerrero in Chilpancingo bedanke ich mich bei Ricardo Infante Padilla und Mario Martínez Rescalvo, die mir sowohl institutionelle als auch in Gesprächen wertvolle Informationen zugänglich gemacht haben. Den beiden engagierten Soziologinnen, Evangelina Sánchez Serrano von der Universidad Autónoma de la Ciudad de México und Claudia Rangel Lozano von der Universidad Autónoma de Guerrero bin ich dankbar für die interessanten Diskussionen und die Einblicke in ihre Arbeiten über die Verschwundenen in Mexiko. Diesseits des Atlantiks möchte ich mich bei Prof. Dr. Elke Mader vom Institut für Kultur-und Sozialanthropologie der Universität Wien bedanken, die vor einigen Jahren meine ersten Gedanken und Entwürfe zum Dissertationsthema konstruktiv und motivierend unterstützt hat. Besonderer Dank geht an Prof. Dr. Ernst Halbmayer, meinen Betreuer vom Fachgebiet Kultur- und Sozialanthropologie der Philipps-Universität Marburg. Er hat es in vielen Gesprächen geschafft, mich immer wieder aus den thematischen Sackgassen und den zahlreichen Verzweigungen zu holen, um schließlich den „roten Faden“ dieser Arbeit zu finden. Für die wertvollen fachlichen Ratschläge und die stets motivierenden Worte danke ich ihm sehr. Auch meiner Zweitbetreuerin, Prof. Dr. Anika Oettler vom Institut für Soziologie der Philipps-Universität Marburg, gilt ein besonderer Dank. Ihre umfassende Kenntnis von lateinamerikanischen (Post-)Konfliktgesellschaften half mir, meinen untersuchten Fall in einen größeren Kontext einzuordnen. Viele motivierende fachliche Empfehlungen unterstützten auch die Fertigstellung dieser Arbeit. Besonders wertvoll für die Weiterentwicklung des Themas dieser Arbeit und die Anknüpfung an einen breiteren Transitional-Justice-Diskurs waren die anregenden Diskussionen in der ForscherInnengruppe zu Transitional Justice nach massiver Gewalt an der Marburg University Research Academy. Ich danke Prof. Dr. Anika Oettler und Prof. Dr. Susanne Buckley-Zistel, diesen fruchtbringenden Diskussionsrahmen ermöglicht zu haben, sowie den DoktorandInnenkollegInnen aus dieser Gruppe, Daniel Bonnard, Christian Braun, Annika Henrizi, Johanna Kirchhoff, Friederike Mieth, Eva Ottendörfer, Dominik Pfeiffer, Carla Schraml, Sarah Sott und Julia Viebach für die kritischen Reflexionen und Gespräche. Schließlich sei allen FreundInnen, nah und fern, für die Geduld und die Unterstützung gedankt. Eine ethnographische Forschung stellt meist einen jahrelangen Prozess vieler Erkundungen in der Ferne dar. Daher danke ich besonders meinen Eltern – meine Wurzeln, meine Pfeiler, mein Ruhepol –, deren stetige moralische Unterstützung vieles einfacher machte. Ihnen, Eveline und Johann, sei diese Arbeit gewidmet. Möget ihr noch lange an meiner Seite stehen. Marburg, im Februar 2013
Sylvia Karl
Prolog „Du wirst kommen, von irgendeinem Ort, irgendwo, um mich zu empfangen und zu umarmen, und in dieser Umarmung werde ich all die Sonnen zurückbekommen, die sie mir gestohlen haben.“1 (Mexikanisches Gedicht, anonym)
Dieses Gedicht nimmt die Perspektive eines/r Verschwundenen des mexikanischen Schmutzigen Krieges ein. Die Zeilen sind im Kontext des Kampfes der Angehörigen von Verschwundenen in Mexiko um ihre Rückkehr – tot oder lebend – entstanden. Die Zeilen symbolisieren die kontinuierliche Verbindung, Kommunikation und das reziproke Verhältnis der lebenden Angehörigen mit den toten/lebenden Verschwundenen. Die Verbindung der Lebenden mit den Toten stellt dabei ein wichtiges Element im soziokulturellen Kontext Mexikos dar. Die Zeilen zeigen auch, dass die Verschwundenen – obwohl sie nicht mehr physisch präsent sind – doch nicht als Tote gedacht und gefühlt werden. Sie bleiben, auch wenn sie im körperlichen Sinne tot sein könnten, kontinuierlicher Teil der Welt der Lebenden, denn es gibt keinen Beweis für ihren Tod. Sie manifestieren die Präsenz der Abwesenheit für die Angehörigen, das zentrale Element im Kampf um die Verschwundenen. Das Gedicht weist auch auf die Hoffnung der Angehörigen hin. Sollen die Verschwundenen doch ihre verlorene Zeit, ihre verlorenen Tage und Jahre, ihre geraubten Sonnen wiederfinden. Die Mutter eines im Jahr 1974 vom Militär verschleppten und bis heute verschwundenen Sohnes bezieht sich auf dieses Gedicht: „Hoffentlich machen die Kämpfe um unsere Rechte, die wir damals begonnen haben, eine andere Sehnsucht möglich, eine schönere, stärkere. Das ist, unsere Verschwundenen wiederzubekommen und die Worte Realität lassen zu werden, die wir vor langer Zeit in einem
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„Saldrás de cualquier lugar, en cualquier parte, A recibirme y abrazarme, Y recuperaré en ese abrazo, Todos los soles que me han robado.“ (Gedicht, anonym zit. in: Ibarra 2007a: 1). Siehe auch Abb. 27.
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Gedicht gelesen haben und die ein Verschwundener sagen würde, wenn er seine ersehnte Freiheit zurückbekommt.“2 (Ibarra 2007a: 1) Um die geraubten Sonnen, die entrissene Freiheit, den Kampf der Angehörigen und die Beziehung zwischen Macht und Ohnmacht, Repression und Rebellion – darum geht es in dieser Arbeit.
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„Ojalá las batallas que iniciemos desde ahi por nuestros derechos, hagan posible el otro anhelo, el más bello, el más fuerte, recuperar a nuestros desaparecidos y hacer realidad las palabras de un poema que leímos hace mucho tiempo y que expresa lo que diría un desaparecido al recuperar su ansiada libertad.“ (Ibarra 2007a: 1)
Einleitung „Der Krieg ist nicht einfach. Er benötigt viel Zeit der Kalkulation. Er hat einen pazifistischen Diskurs und eine sorgfältige moralische Rechtfertigung. Nie sagt er: ich bin der Krieg. Er sagt andere Dinge. Die Ereignisse alleine reichen nicht aus, um ihn zu identifizieren und zu verstehen. Es ist notwendig, ein komplexes Netz an politischen oder ökonomischen oder manchmal auch an religiösen und kulturellen Versionen zu durchqueren und zu evaluieren. Oftmals widersprechen sich diese Versionen und streiten darum, sich als einzige Wahrheit durchzusetzen. Deshalb verschleiern die Diskurse der Macht oder jene der KombatanttInnen die Natur des Krieges, dessen Entwicklung, Motivation, die Züge seiner Mobilität. Dieser diskursive Schleier bedeckt jeden Schritt des Krieges, jedes einzelne seiner Ereignisse.“1 (Montemayor 2007: 9)
AUSGANGSLAGEN Am 26. Januar 2012 starb Miguel Nazar Haro mit 87 Jahren in Mexiko-Stadt. Angehörige von Verschwundenen reagierten mit Wut und Enttäuschung auf seinen Tod. Als ehemaliger Direktor der mexikanischen Geheimpolizei Dirección Federal de Seguridad (DFS) war er eine der zentralen Täterfiguren des Schmutzigen Krieges der 1960er und 1970er Jahre und mitverantwortlich für politische Verfolgung,
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Alle Übersetzungen aus dem Spanischen stammen von der Autorin. „La guerra no es simple. Exige mucho tiempo de cálculo. Tiene un discurso pacífico y una esmerada justificación moral. Nunca dice ,yo soy la guerra‘. Dice otras cosas. No son suficientes los hechos para identificarla o comprenderla. Se requiere atravesar y evaluar una compleja red de versiones políticas o ecónomicas, o en ocasiones religiosas y culturales, que a menudo se contraponen entre sí y pugnan por imponerse como la única verdad de las cosas. Por ello los discursos del Poder o de los combatientes van oscureciendo su naturaleza, su desenvolvimiento, su motivación, los rastros de su movilidad. Este velo discursivo cubre cada paso de la guerra, cada uno de sus hechos.“ (Montemayor 2007: 9)
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Folter, extralegale Hinrichtungen und das Verschwindenlassen von Menschen. Angehörige von Verschwundenen reagierten wütend auf seinen Tod, da er nie für seine Taten zur Verantwortung gezogen wurde und einen ruhigen Lebensabend verbringen durfte.2 Die Reaktionen machen deutlich, dass auch nach mehr als 40 Jahren für die Opfer dieses Krieges die Gewalt immer noch präsent ist, während sie für die Täter in einer scheinbar längst vergangenen Zeit liegt. Einige Monate zuvor zeigte ein anderes Ereignis die heutige Präsenz des vermeintlich vergessenen Schmutzigen Krieges. Am 3. Juli 2011 feuerten unbekannte Täter mehrere Schüsse auf Isabel Ayala Nava und ihre Schwester Reyna ab. Es war ein Sonntag, Isabel Ayala Nava und ihre Schwester Reyna verkauften Essen vor der Kirche ihrer comunidadXaltianguis im mexikanischen Bundesstaat Guerrero, als unbekannte Täter aus einem Auto auf sie schossen und dann flohen. Nach diesem Attentat erhielt auch die Tochter von Isabel, Micaela Cabañas Ayala, Morddrohungen per Anruf vom Mobiltelefon der Mutter, das die Täter mitgenommen hatten.3 Was hat nun dieses Ereignis im Jahr 2011 mit dem Schmutzigen Krieg und den Verschwundenen der 1970er Jahre zu tun? Die ermordete Isabel Nava war Mitglied der Guerilla Partei der Armen und sie war die Witwe von Lucio Cabañas, dem Gründer der Partei der Armen, der 1974 vom Militär getötet wurde. Isabel Nava wurde im selben Jahr zusammen mit ihrer neugeborenen Tochter Micaela vom Militär verschleppt und war zwei Jahre lang im Geheimgefängnis Campo Militar Nr. 1 (Militärlager Nr. 1) in Mexiko-Stadt inhaftiert. Dort wurde sie von General Acosta Chaparro gefoltert und vom damaligen Gouverneur von Guerrero Ruben Figueroa vergewaltigt. Im Jahr 1976 ließ man sie unter der Bedingung frei, nie über diese Gewalterfahrungen zu sprechen (vgl. Fierro Santiago 2006). Nach fast 30 Jahren tat sie es dennoch. Im Jahr 2003 sprach sie erstmals darüber, wurde daraufhin bedroht und verließ das Land. Sie ging in die USA undnach ihrer Rückkehr im Jahr 2008 engagierte sie sich gemeinsam mit ihrer Tochter in der Angehörigenorganisation von Kindern Verschwundener und Opfern des Schmutzigen Krieges Nacidos en la Tempestad (Im Sturm geboren). Im Jahr 2010 versprach der Kandidat für die Gouverneurswahlen in Guerrero, Angel Aguirre, den Angehörigen von Verschwundenen eine Wahrheitskommission zur Aufklärung der Verbrechen der Vergangenheit. Er gewann die Wahlen und plante die Einsetzung der Wahrheitskommission im Jahr 2011. Isabel Ayala Nava
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Für nähere Informationen zur Biographie von Nazar Haro vgl. Torres (2008). Zur Berichterstattung über seinen Tod und die Reaktionen darauf vgl. Becerril 2012a, Castillo García 2012a, Taniguchi 2012.
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„Acribillan en Xaltianguis a la última esposa de Lucio Cabañas“, La Jornada Guerrero vom 4.7.2011. Unter: http://www.lajornadaguerrero.com.mx/2011/07/04/ (Letzter Zugriff 30.04.2014).
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sollte dabei aufgrund ihres Wissens über Geheimgefängnisse, Massengräber von Verschwundenen und über die Täter eine der wichtigsten Zeug/-innen sein (vgl. Giles/Valadéz 2011a). Doch dazu sollte es nicht mehr kommen. Eine Woche vor der geplanten Abstimmung über die Wahrheitskommission im Kongress wurde sie ermordet. Das Verbrechen wurde nie aufgeklärt, die Täter nie gefasst. Stattdessen kursierten Gerüchte, dass es sich um ein Verbrechen des organisierten Drogenhandels gehandelt haben könnte, der in dieser Region präsent ist.4 Dieses Ereignis zeigt die machtpolitischen Konflikte in der Gegenwart auch nach dem Konflikt in der Vergangenheit. Und es zeigt, wie öffentlich gemachte Erinnerungen an politische Gewalt immer noch eine Grenze zwischen Leben und Tod in Mexiko bedeuten können. Denken wir an politische Gewalt und Schmutzige Kriegein Lateinamerika, so denken wir zunächst meist nicht an Mexiko. Aber ebenso wie in zahlreichen anderen Ländern Lateinamerikas (vgl. Oettler 2004; Robben 2005; Jelin 2003; Koonings/Kruijt 1999) wurde diese Art von Konflikten auch in Mexiko ausgetragen. Die Gewaltakte wurden im Gegensatz zu anderen lateinamerikanischen Militärdiktaturen sehr selektiv, fokussiert und nicht generalisierend auf die gesamte Bevölkerung durchgeführt (vgl. Rangel 2011). Dies hatte auch zur Folge, dass die staatliche Repression großteils ohne das Wissen einer breiten mexikanischen und internationalen Öffentlichkeit realisiert wurde. Denn Mexiko war offiziell ein demokratischer Rechtsstaat, international gepriesen durch die sozialen Errungenschaften der Mexikanischen Revolution vom Anfang des 20. Jahrhunderts. Militärdiktaturen waren nicht Teil der Geschichte Mexikos zur Zeit des Kalten Krieges. Doch wie in dieser Arbeit zu sehen sein wird, war die Außenwahrnehmung nicht gleich den inneren politischen Realitäten des Landes. Demokratisch gewählte mexikanische Regierungen reagierten ebenso mit Repression auf unliebsame GegnerInnen und versuchten national und international stets den Mantel des Schweigens über das Thema der politischen Gewalt und der Verschwundenen zu legen. Doch früher oder später würde auch der mexikanische Staat sich um Antworten über den Verbleib dieser Menschen bemühen müssen. Denn die eliminierten Verdächtigen hinterließen Familien und soziale Netzwerke und daher war eine Auslöschung von Personen trotz kontinuierlicher Leugnungen durch staatliche Akteure unmöglich. Der Begriff Schmutziger Krieg ist die Übersetzung des in Lateinamerika verwendeten Begriffes guerra sucia als Bezeichnung für die politische Gewalt im Zu-
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Vgl. Protest der lokalen Menschenrechtsorganisation La Red Guerrerense de Organismos Civiles de Derechos Humanos gegen die offizielle Version, dass Drogenkartelle und nicht staatliche Akteure für dieses Verbrechen verantwortlich sind: „Guerrero: guerra contra el narco, pantalla para reprimir luchas“. Unter: http://regeneracion.mx/derechos-humanos/ guerrero-guerra-contra-el-narco-pantalla-para-reprimir-luchas/ (Letzter Zugriff 30.04.2014).
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ge von Aufstandsbekämpfungsoperationen von Militär und Polizei. Der Begriff bezieht sich dabei auf einen gewalttätigen innerstaatlichen Konflikt, in dem Akteure des Staates gegen als interne Feind/-innen deklarierte Personen aus politischen Motiven unter Missachtung der Abkommen der Genfer Konvention und des Völkerrechts vorgehen. Auf diese Missachtung legitimer Handlungen innerhalb einer Konfliktsituation, die im internationalen Kriegsrecht (ius in bellum) festgelegt sind, bezieht sich der Begriff schmutzig. Die schmutzigen Methoden in diesem Schmutzigen Krieg, ausgeführt von staatlichen und parastaatlichen Akteuren, sind dabei die als Verbrechen gegen die Menschlichkeit deklarierten Praktiken der extralegalen Hinrichtungen, der Folter oder des Verschwindenlassens von Personen (vgl. Art. 7 des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs). Einige Angehörige von Verschwundenen in Mexiko lehnen den Begriff Schmutziger Krieg jedoch ab, da dieser Terminus suggerieren würde, dass es sich um eine bewaffnete Konfrontation zwischen zwei Kriegsparteien gehandelt hätte. Dem sei jedoch nicht so, denn die politischen, sozialen und bewaffneten Bewegungen Mexikos haben dem mexikanischen Staat nie den Krieg erklärt, sondern der mexikanische Staat verfolgte diese Bewegungen und verweigerte deren Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit mit illegitimen, repressiven Methoden. Auch die mexikanische Soziologin Rangel Lozano (2011) merkt an, dass die Verwendung des Begriffes Schmutziger Krieg eine Unsichtbarmachung der Praktiken der Gewalt und der Verantwortung des Staates für diese Gewalt mit sich ziehen würde. Sie, ebenso wie eine Gruppe von Angehörigen, findet daher die Verwendung des Begriffes Staatsterrorismus, der die staatliche Anordnung eines Ausnahmezustandes implizierte und jegliche legale Ordnung außer Kraft setzte, weitaus angemessener für die Bezeichnung dieser Gewaltpraktiken. Auch wenn es in Mexiko Debatten rund um die Verwendung dieses Begriffes gibt, soll in dieser Arbeit dennoch der Terminus Schmutziger Krieg verwendet werden, da dies der allgemein gebräuchliche Begriff in der Alltagssprache der Angehörigen der Verschwundenen in der Sierra de Atoyac und in der Literatur über die Repression dieser Zeit ist. In Mexiko zirkulieren Geschichten der Erinnerung an den Schmutzigen Krieg und die Gewalt. Vor allem in den Bergen der Sierra Madre del Sur im Bezirk Atoyac de Álvarez im südlichen Bundesstaat Guerrero sind diese Erinnerungen sehr präsent. Einige BewohnerInnen begannen auch mir davon zu erzählen. So erfahre ich, dass eine verleugnete und scheinbar vergessene Geschichte von Gewalt in der alltäglichen Lebenswelt auch hier noch Teil der Gegenwart ist. Wenn die Menschen erzählen, ist eine dieser Geschichten für sie besonders unfassbar: Es ist die Geschichte von Soldaten, die an einem entfernten Ort vielleicht auch ihre verschwundenen Angehörigen gefangen hielten. An diesem Ort wurden die zuvor gefolterten Gefangenen, die der Mitgliedschaft der Guerilla Partei der Armen beschuldigt wurden, mit dem Schwert der Gerechtigkeit ermordet. Als Schwert der Gerechtigkeit wurde von den Generälen Acosta Chaparro und Quirós Hermosillo die Pistolen be-
E INLEITUNG
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zeichnet, mit denen die Inhaftierten durch einen Genickschuss getötet wurden. Die richtende Pistole stellte aus ihrer Perspektive das Mittel zur Gerechtigkeit im Sinne der nationalen Sicherheit Mexikos dar. Danach wurden die Leichen in Säcke platziert und in ein Flugzeug geladen. Die Flugzeuge starteten von der Militärbase Pie de la Cuesta, einem kleinen Strandort einige Kilometer nördlich von Acapulco gelegen, im Bundesstaat Guerrero.5 Der Pilot flog das Flugzeug mehrere hundert Kilometer südwärts vor die Küste des Bundesstaates Oaxaca. Über dem offenen Pazifik wurden anschließend die Säcke in das Meer geworfen (vgl. Miranda 2006; Reveles 2007; FEMOSPP 2006). Einige Opfer sollen laut Aussagen von ehemaligen Piloten noch gelebt haben. Manche Leichen wurden wieder an Land gespült und Bewohner/-innen der Küstendörfer waren verängstigt ob der grausamen Funde. Sie wurden jedoch von Soldaten angewiesen, kein Wort darüber zu verlieren, da sonst auch sie ein derartiges Schicksal erleiden würden.6 Die Generäle änderten daraufhin die Strategie, die Soldaten sollten den Säcken mit den toten Körpern auch Steine hinzufügen oder die Beine in Zement einbetonieren, sodass die Leichen nicht mehr vom Meeresboden an die Oberfläche treiben konnten. Die Praxis der Todesflüge, die auch Merkmal des Staatsterrorismus in Argentinien war, ist in Mexiko bis heute wenig bekannt. Die drei kurz skizzierten Ereignisse – der Tod von Nazar Haro, die Ermordung von Isabel Ayala Nava und die Narrationen über die Todesflüge – deuten auf Fragmente hin, die in dieser Arbeit beschrieben werden. Die vorliegende Fallstudie beschreibt den Kampf um die Anerkennung von Erinnerungen der Opfer des Schmutzigen Krieges und stellt die divergierenden Interpretationen über die Ereignisse in diesem Krieg dar. Der Fokus liegt auf der Perspektive der Angehörigen von Verschwundenen und ihrem Kampf um Wahrheit und Gerechtigkeit in einem politischen System, das sich bis heute durch Straflosigkeit für die Taten von Mitgliedern des mexikanischen Militärs gegenüber der Zivilbevölkerung auszeichnet. Die Erinnerungen der Menschen, die von den Ereignissen des Schmutzigen Krieges verändert und geprägt wurden und in der Arbeit beschrieben werden, umspannen einen Zeitraum von mehr als vier Jahrzehnten. Im Zentrum steht ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit: das erzwungene Verschwindenlassen von Menschen als Teil einer Strategie psychologischer Kriegsführung staatlicher Akteure. Psychologische Kriegsführung ist ein wichtiges Element militärischer Strategien. Diese bedeutet, die auserkorenen FeindInnen nicht nur physisch, sondern auch psychisch durch die Einbeziehung der Zivilbevölkerung, insbesondere der familiä-
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Vgl. Zeugenaussage des Soldaten Gustavo Tarín Chávez in: Reveles 2007: 9. Vgl. die Erzählungen im historischen Roman des mexikanischen Schriftstellers Carlos Montemayor Guerra en el Paraiso (1991), der auf testimonios aus der Sierra de Atoyac basiert.
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ren Netzwerke, zu schwächen. Psychologische Kriegsführung heißt, die zu internen FeindInnen deklarierten Menschen – politische und/oder bewaffnete Oppositionsgruppen und die mit ihnen sympathisierende Zivilbevölkerung – durch Methoden der Verbreitung von Angst, Terror, und Unsicherheit zu eliminieren. Also über Herzen und Köpfe (Sluka 1989, 2000) mit dem Ziel der Annihilierung von Differenz (Hinton 2002). Wenn der Fokus der Arbeit auf erzwungenem Verschwindenlassen und den Auswirkungen dieses Verbrechens auf die Angehörigen liegt, stellt sich zunächst die Frage, was nun konkret mit erzwungenem Verschwindenlassen im Gegensatz etwa zu vermissten Personen gemeint ist? Vermisste Personen in einer Kriegssituation sind „Verschwundene“, die als kämpfende Kriegsparteien verschwunden gemeldet werden. Die Gründe hierfür können zum Beispiel sein, dass ein/e SoldatIn oder KombattantIn in einer Kampfhandlung stirbt, jedoch der Leichnam nicht aufgefunden wird. Bereits in der Genfer Konvention (IV) von 1949 wurde in Artikel 26 festgelegt, dass die Konfliktparteien den Anfragen von Familienangehörigen vermisster Personen nachgehen sollen: „Each Party to the conflict shall facilitate enquiries made by members of families dispersed owing to the war, with the object of renewing contact with one another and of meeting, if possible. It shall encourage, in particular, the work of organizations engaged on this task provided they are acceptable to it and conform to its security regulations.“7
Beim erzwungenen Verschwindenlassen hingegen handelt es sich um ein absichtlich durchgeführtes Verbrechen. Die Unterscheidung zwischen Vermissten und Verschwundenen wird im Zuge der Aufarbeitungsprozesse in Mexiko noch von Bedeutung sein. Wichtigstes Unterscheidungsmerkmal zwischen vermissten Personen und Verschwundenen ist die Beteiligung staatlicher Akteure und das absichtliche Zurückhalten von Informationen über den Verbleib der verschwundenen Person an die Angehörigen. Der Bericht der UN Arbeitsgruppe für Erzwungenes Verschwindenlassen aus dem Jahr 2013nennt eine Zahl von 42.889 unaufgeklärten Fällen von Verschwundenen in 84 Staaten, die sie derzeit bearbeitet.8 Erzwungenes Verschwindenlassen wird oft als das „perfekte Verbrechen“ (vgl. Citroni und Scovazzi 2007) bezeichnet, ist doch das Charakteristikum dieser Praxis die Unsichtbar-
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Vgl. Convention (IV) relative to the Protection of Civilian Persons in Time of War. Geneva, 12 August 1949. Unter: http://www.icrc.org/ihl.nsf/WebART/380-600030?Open Document (Letzter Zugriff 30.04.2014).
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Vgl. Report of the Working Group on Enforced or Involuntary Disappearances, A/HRC/22/45, 28.01.2013 unter: http://www.ohchr.org/Documents/HRBodies/HRCouncil/RegularSession /Session22/A.HRC.22.45_English.pdf (Letzter Zugriff 30.06.2014).
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keit, das Geheime und die weitgehende Straflosigkeit. Die Definition für erzwungenes Verschwindenlassen ist laut dem Internationalen Übereinkommen zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen der Vereinten Nationen von 2006 folgende: „Im Sinne dieses Übereinkommens bedeutet ,Verschwindenlassen‘ die Festnahme, den Entzug der Freiheit, die Entführung oder jede andere Form der Freiheitsberaubung durch Bedienstete des Staates oder durch Personen oder Personengruppen, die mit Ermächtigung, Unterstützung oder Duldung des Staates handeln, gefolgt von der Weigerung, diese Freiheitsberaubung anzuerkennen, oder der Verschleierung des Schicksals oder des Verbleibs der verschwundenen Person, wodurch sie dem Schutz des Gesetzes entzogen wird.“ (Art. 2)
Festgelegt wurde in dieser Konvention auch, dass keine „außergewöhnlichen Umstände gleich welcher Art, sei es Krieg oder Kriegsgefahr, innenpolitische Instabilität oder ein sonstiger öffentlicher Notstand, [...] als Rechtfertigung für das Verschwindenlassen geltend gemacht werden“ (Art. 1, 2) können. Wichtig ist die Definition dessen, was bei diesem Gewaltphänomen die Kategorie Opfer darstellt. Die weit gefasste Kategorie Opfer deutet dabei auf die bereits angesprochenen Auswirkungen für soziale Netzwerke im Zusammenhang mit diesem Verbrechen hin. Opfer sind laut UN Konvention: „Im Sinne dieses Übereinkommens bezeichnet ,Opfer‘ die verschwundene Person sowie jede natürliche Person, die als unmittelbare Folge eines Verschwindenlassens geschädigt worden ist.“ (Art. 24, 1) Als Opfer gelten daher auch die Angehörigen der Verschwundenen und nicht nur die Verschwundenen selbst. Aufgrund der schwerwiegenden Folgen dieses Verbrechens hat die Konvention auch festgelegt, dass die Straftat nicht verjähren soll und auf Dauer ist (Art. 8). Zudem wird für die Angehörigen ein Recht auf Wahrheit festgelegt: „Jedes Opfer hat das Recht, die Wahrheit über die Umstände des Verschwindenlassens, den Verlauf und die Ergebnisse der Untersuchung und das Schicksal der verschwundenen Person zu erfahren.“(Art. 24, 2) Auch wird festgelegt, dass die Vertragsstaaten den Angehörigen im Falle des Todes der Verschwundenen, die sterblichen Überresten übergeben (Art. 24, 3) und für das Recht auf Wiedergutmachtung in Form eines Ersatzes des materiellen und immateriellen Schadens sorgen müssen (Art. 24, 4). Der Kampf um diese Rechte, die Suche der mexikanischen Angehörigen nach der Wahrheit über das Schicksal ihrer Verschwundenen und die Auswirkungen dieses Gewaltphänomens auf ihre Lebenswelten werden in der vorliegenden Arbeit beschrieben. Die Zahl der mexikanischen Verschwundenen ist im Gegensatz zu anderen Ländern Lateinamerikas, wie Argentinien, Chile, Guatemala oder Peru wesentlich
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geringer.9 Die traumatischen Folgen für die Angehörigen sind jedoch ähnlich. Die genauen Zahlen sind in Mexiko unklar, da vermutet wird, dass nicht alle Fälle von den Angehörigen angezeigt und registriert wurden. Die Schätzungen von Angehörigenorganisationen gehen von ca. 1.350 Fällen aus. Die offizielle Zahl der mexikanischen staatlichen Menschenrechtskommission CNDH liegt bei 532 Verschwundenen.10 Der Großteil aller Verschwundenen in Mexiko aus den 1970er und 1980er Jahren, so schätzt die UN-Arbeitsgruppe gegen erzwungenes Verschwindenlassen WGEID11, kommt aus Guerrero (ca. 600 Fälle), insbesondere aus der Sierra de Atoyac. Auf die Angehörigen dieser Region fokussiert diese Arbeit. Auch hier gibt es unterschiedliche Zahlen, die UN-Arbeitsgruppe gegen erzwungenes Verschwindenlassen nennt ca. 450 Fälle12, während der unveröffentlichte Bericht der staatlichen Untersuchungskommission FEMOSPP13 551 Fälle anführt, die von Angehöri-
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Zahlen von Verschwundenen können immer nur Annäherungen an die Realität sein. Eine genaue Zahl kann in den meisten Konflikten nicht festgelegt werden, da vermutet wird, dass nicht alle Fälle angezeigt werden und an die Öffentlichkeit kommen. Für Argentinien sind es 8.963 Fälle von Verschwundenen, die die Wahrheitskommission CONADEP festgelegt hat (CONADEP 1984/1996, Robben 2012), Angehörigenorganisationen wie die Madres de la Plaza de Mayo sprechen jedoch von ca. 30.000 Fällen. In Guatemala sind es laut Wahrheitskommission REHMI ca. 200.000 Tote und Verschwundene (Oettler 2004), in Peru gibt es 4.414 registrierte Fälle von Verschwundenen (CVR Peru), wobei das Team peruanischer forensischer AnthropologInnen EPAF von ca. 15.000 Fällen spricht (vgl. www.epafperu.org) und in Chile dokumentierte die Rettig-Kommission 2.950 Fälle von Verschwundenen. Vgl. auch die Homepage von Menschenrechtsorganisationen mit Daten zum Verschwindenlassenin verschiedenen Ländern: www. desaparecidos.org.
10 Vgl. Bericht der CNDH (2001): Informe Especial sobre las Quejas en Materia de Desapariciones Forzadas Ocurridas en la Década de los 70 y Principios de los 80. Unter: http://www.cndh.org.mx/Informes_Especiales (Letzter Zugriff: 30.04.2014). 11 Working Group on Enforced or Involuntary Disappearances. Unter: http://www. ohchr.org/EN/Issues/Disappearances/Pages/DisappearancesIndex.aspx (Letzter Zugriff: 30.04.2014). 12 Vgl. Report of the Working Group on Enforced or Involuntary Disappearances. Mission to Mexico. A/HRC/19/58/Add.2. 20.12.2011. Unter: http://www.ohchr.org/Documents/ HRBodies/HRCouncil/RegularSession/Session19/A-HRC-19-58-Add2_en.pdf
(Letzter
Zugriff: 30.04.2014). 13 Fiscalía Especializada para Movimientos Sociales y Políticos del Pasado (Sonderstaatsanwalt für Soziale und Politische Bewegungen der Vergangenheit). Unveröffentlichter Bericht der FEMOSPP zugänglich auf der homepage des National Security Archive:
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gen aus Atoyac registriert wurden. Von diesen untersuchten Fällen wurden 260 akkreditiert, das heißt, es gibt für die FEMOSPP genügend Beweismaterial und Information über das Verschwindenlassen der jeweiligen Person. Im Jahr 2002 legte die Sonderstaatsanwaltschaft FEMOSPP (vgl. Kap. 4.3.2) den Zeitraum des mexikanischen Schmutzigen Krieges fest. Er umfasste die Regierungszeiten von drei Präsidenten der PRI14 Partei: Gustavo Díaz Ordaz (1964 – 1970), Luis Echeverría (1970 – 1976) und López Portillo (1976 – 1982). Jene, die zu dieser Zeit mit Todesflügen ins Meer geworfen wurden, stufte man als gefährlich für die nationale Sicherheit ein. Es waren Kleinbauernund -bäuerinnen, LehrerInnen, HandwerkerInnen oder StudentInnen, die zu internen FeindInnen konstruiert wurden, weil sie mit sozialen oder bewaffneten aufständischen Bewegungen, die sich ab den 1960er Jahren in Mexiko bildeten, sympathisierten, an diesen teilnahmen oder der Teilnahme verdächtigt wurden. Die Verdächtigen wurden jedoch nicht nur durch Todesflüge im Pazifik eliminiert, sondern auch in Massengräbern verscharrt, in Erdschächte geworfen oder auf unbestimmte Zeit in Geheimgefängnissen weggesperrt. Es waren Menschen, die zu entmenschlichten Elementen und entrechteten Körpern degradiert wurden und so aus der Gesellschaft eliminiert werden sollten. Die Gesamtheit der Methoden staatsterroristischer Praxis, die auf die Degradierung und Eliminierung von Menschen abzielen und die darauffolgende Leugnung dieser Taten sollen in der folgenden Arbeit unter dem Konzept der Dehumanisierung zusammengefasst werden. Wo und wie können nun die Konsequenzen dieses vergangenen Konfliktes fassbar gemacht werden? Wie drückt sich das Leiden nach einem Krieg aus? Diese Frage stellen auch Didier Fassin und Richard Rechtman: „How are the consequences of the horror or war to be treated when those subjected to it suffer less from visible wounds than from the ,wounds of the soulұ left by the experience and spectacle of violence? How can the ,silent painұ of the protagonists of contemporary conflict be brought into the public arena?“ (Fassin/Rechtman 2009: 160) Auch die Angehörigen der Verschwundenen weisen keine sichtbaren Wunden auf. Es sind jedoch gerade die unsichtbaren Verletzungen, die viele versuchen in die Öffentlichkeit zu transportieren und so sichtbar zu machen. Die unsichtbaren Wunden drücken sich im Fortwirken des Verbrechens des Verschwindenlassens bei den Angehörigen aus und haben mit jenen spezifischen Gewaltphänomenen zu tun, die die-
http://www.gwu.edu/~nsarchiv/NSAEBB/NSAEBB180/index2.htm
(Letzter
30.04.2014). 14 Partido Revolucionario Institucional - Partei der Institutionalisierten Revolution.
Zugriff
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ses Verbrechen heute in internationalen Menschenrechtskonventionen15 zu einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit machen. Was ist nun also – abgesehen vom Gewaltakt an dem/der Verdächtigen selbst – das darüber hinaus wirkende Grausame, Unfassbare, Unbegreifliche? Die Verschwundenen wurden aus sozialen Netzwerken gewaltsam entfernt und in diese nicht mehr re-inkorporiert. Es ist das Nicht-Wissen über die Tat, das Fehlen von Informationen, von Körpern, von Beweisen für die Angehörigen, welches das Grausame an diesen Verbrechen ausmacht. „Was haben sie mit ihm gemacht? Wo ist er? Lebt er noch?“, fragt sich Apolinar Castro Román aus Atoyac unaufhörlich seit dem Jahr 1974, als die Polizei ihren Mann verschleppt hat. Sie benennt mit diesen unbeantwortet gebliebenen Fragen das, was im Zentrum dieses Gewaltphänomens steht: das quälendste Element des Verbrechens des Verschwindenlassens für die Opfer ist die Ungewissheit, die die kontinuierliche Präsenz der Abwesenheit ausmacht. Die Auswirkungen dieser Ungewissheit werden meist als ebenso gravierend dargestellt wie physische Folter. So sagte beispielsweise Navi Pillay, UNHochkommissarin für Menschenrechte, angesichts des Inkrafttretens der UNKonvention gegen das Verschwindenlassen von Personen am 22. Dezember 2010: „Das Verschwindenlassen ist eines der schlimmsten Verbrechen der Welt. (…) Die Ungewissheit ist für Angehörige wie Folter.“ (Pillay zit. in: Herbermann 2010) Santiago Yañez, der Mann von Apolinar Castro Román wurde im August 1974 verschleppt. Sie sitzt vor ihrem Haus und erzählt von damals. Es war an einem Septembertag im Jahr 1974, zur Zeit des Schmutzigen Krieges, als sie mit ihrem Mann zum Markt in der Bezirksstadt Atoyac ging, um Lebensmittel einzukaufen. Sie war schwanger und erwartete ihr erstes Kind. Ein Auto hielt neben ihnen, bewaffnete Männer stiegen aus, schossen ihren Mann an und zerrten ihn in das Auto. Doña Apolinar wollte es verhindern, versuchte ihrem Mann zu helfen, wurde dabei aber von den Männern zusammengeschlagen. Das Auto fuhr los, ihr Mann wurde verschleppt und sie blieb alleine zurück. Aufgrund der Schläge verlor sie ihr Kind.Eine unaufhörliche Suche in Polizeistationen, Militärlagern und Regierungsbüros nach ihrem Mann begann. Nie hat sie erfahren, wohin er gebracht wurde, ob er eingesperrt wurde, ob er an den Folgen dieses Schusses gestorben ist oder vielleicht doch noch lebt. Er ist seit 1974 verschwunden und steht auf der Liste der Verschwundenen, die von Angehörigenorganisationen erstellt wurde. Diesem Gewaltakt folgten Transformationen auf individueller, aber auch kollektiver Ebene. Gewalterfahrungen, psychische Traumata, aber auch ökonomische Verluste führten bei vielen Angehörigen von Verschwundenen zu politischem Handeln. Die Beschreibung von
15 Vgl. UN International Convention for the Protection of All Persons from Enforced Disappearance, 2006. Unter: http://www.ohchr.org/EN/HRBodies/CED/Pages/Convention CED.aspx (Letzter Zugriff: 30.04.2014).
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Apolinar Castro Román, ihre Forderung, ihre Erzählung und Erinnerung steht einleitend und repräsentativ für viele Angehörige von verschwundenen Personen in Mexiko: „[I]ch fühle, dass ich erst dann beruhigt sein kann, wenn man mir sagt, Apolinar, das ist die Person, die du suchst. Und um mich zum Schweigen zu bringen, (...) will ich Papier in Form einer Sterbeurkunde. Damit bringen sie mich zum Schweigen und, in dem sie mir, egal in welcher Form, seine Reste übergeben. (…) Aber solange das Papier nicht spricht, indem ich dort seinen Namen sehe, werde ich nicht schweigen. Ich kann nicht schweigen, denn ich trage es hier drinnen, mein Problem trage ich hier tief in der Brust und wie kann ich da schweigen! (…) Und ich denke, wenn dass das ist was ich will, denken die compañeros, die im Kampf sind, auch dasselbe. (…) Und sie sollen uns sagen, okay gut, hier ist er! Ab da sehen wir dann, was wir machen. Aber wie sollen wir schweigen, wenn wir gar nicht wissen, wo er ist! (…) Ich würde das gerne wissen, weil ich denke, dass ich ruhig werden würde und ihn endlich an einem Ort beerdigen könnte. Aber mit einem Papier, das etwas aussagt. Solange aber dieses Papier nicht spricht, wie soll ich mich trösten? Ich habe doch hier die Wunde, die mich schmerzt und schmerzt.“16 (Apolinar Castro Román, Colonia 18 de Mayo, 2009)
Apolinar Castro Román hat keine Informationen über seinen Verbleib. Sie hat an zahlreichen Orten gefragt, in Militärlagern, Polizeistationen und Regierungsbüros, um ihn zu finden oder zu erfahren, was passiert ist. Schmerzhafte Erinnerungen quälen sie, Ungewissheiten, Ohnmacht und Angst seit diesem Vorfall. Sie kommt nicht zur Ruhe, das Gefühl des Verlustes ist permanent, die Wunde will sich nicht schließen. Es ist als wäre es gestern gewesen und doch ist es schon so lange her. Die Präsenz der Abwesenheit quält und veranlasst sie, trotz der gefühlten politi-
16 „[Y]o siento que yo voy a descansar hasta que a mi me digan, Apolinar, esta es la persona que tu buscas. Y a mi para callarme, (...) quiero que el papelito diga con un acta de defunción. Con eso me van a callar y que me entreguen, no me importa como, sus restos. (…) Pero mientras a mi el papelito no hable, que ahí vea yo el nombre de el, no me voy a callar. No me puedo callar porque aquí lo traigo, mi problema aquí lo traigo, le digo, atravesado en el pecho, le digo, como me callo! (...) Y yo pienso, si eso es lo que yo quiero, los compañeros, me imagino que piensan lo mismo, los que andamos en la lucha. (…). Y que nos digan, ahora si, aquí esta! Ya de ahí nosotros veremos que hacemos. Pero como nos callan, de que manera nos callan, si no sabemos donde está! (...) Yo si quisiera saber, yo pienso que de esa manera me quedaría yo tranquila, que ahora si, ya lo voy a sepultar en tal lado, pero con el papelito que hable. Mientras este papelito no hable, como me consuelo? Que ahí tengo la herida que me lastimo y me lastimo.“ (Apolinar Castro Román, Colonia 18 de Mayo, 2009)
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schen Machtlosigkeit und der wenigen ihnen zur Verfügung stehenden Mittel, um ihren verschwundenen Mann weiter zu kämpfen: „[W]as sollen wir machen, uns mit der Regierung anlegen? Das ist unmöglich, sie nehmen uns fest und zerdrücken uns wie Kakerlaken. Wir werden uns nicht mit ihnen anlegen. Wir können es nicht machen, sondern halt einfach hier bleiben. Aber ich sage, die Hoffnung stirbt zuletzt. Wir werden kämpfen bis zum Schluss, solange, bis sie uns nicht mehr betrügen.“17 (Apolinar Castro Román, Colonia 18 de Mayo, 2009)
Die Präsenz der Abwesenheit führte dazu, dass Angehörige von Verschwundenen, vor allem Frauen, zu Akteuren einer politischen Praxis wurden, aus denen sich die ersten Menschenrechtsbewegungen Mexikos entwickelten. Es soll im Laufe der vorliegenden Arbeit argumentiert werden, wie diese politische Praxis der Angehörigen aus der Verweigerung von zentralen sozio-kulturellen Ritualen rund um Körper und Tod entstanden ist. Die Gesamtheit der Elemente und Handlungsstrategien, die Angehörige ab dem Zeitpunkt des Verschwindenlassens eines Familienmitglieds einsetzten, um die Verschwundenen in das soziale und kulturelle Netzwerk zu reintegrieren, werden im Kontext der vorliegenden Arbeit als Praktiken der Rehumanisierung zusammengefasst. Dehumanisierung und Rehumanisierung sind analytische Kategorien, mit denen das Thema der Verschwundenen in Mexiko im Kontext dieser Untersuchung betrachtet und eingerahmt wird. Es sind jedoch keinesfalls emische Kategorien, die aus dem Diskurs der Angehörigen selbst stammen. Die politische Praxis der Angehörigen der Verschwundenen wurde in Mexiko Bestandteil eines Prozesses der konfliktiven Konfrontation mit staatlichen Akteuren, da die Taten stets geleugnet wurden. Als Beispiel des staatlichen Diskurses der Distanzierung zu den Verbrechen soll die eigenwillige Aussage von Ex-Präsident Díaz Ordaz (1964 –1970), verantwortlich für das Massaker von Tlatelolco und die ersten Fälle von Verschwundenen in Mexiko, dienen. In seinem Kommentar im Jahr 1977 zur Praxis des Verschwindenlassens in Mexiko werden Elemente der Delegitimierung der Anliegen von Angehörigen von Verschwundenen und die Anschuldigungen der Lügen deutlich. Er verwendet als Beweis dafür, dass es keine Verschwundenen in Mexiko geben kann, die Metapher der Leere bzw.eines Loches, das ein Verschwundener hinterlassen würde:
17 „[Y]a que quieren que hagamos, ponernos con el gobierno, es imposible, nos agarran y nos aplastan como cucarachas. No nos vamos a poner con ellos. Pues no lo podemos hacer, sino quedarnos aquí pues. Pero yo digo, la esperanza muere al último. Vamos a luchar hasta el final hasta de plano ya no nos engañen.“ (Apolinar Castro Román, Colonia 18 de Mayo, 2009)
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„Wie so oft, könnten sie sagen, dass die Leichname verschwinden gelassen, dass sie geheim verscharrt, dass sie verbrannt wurden. Das ist einfach, aber es ist nicht einfach, es straflos zu machen. Menschen können nicht verschwinden; und wenn es einen Namen gibt, dann sollen sie ihn auf eine Liste stellen. Dieser Name korrespondiert mit einem Mann, mit einem Menschen, der ein Loch in einer Familie hinterlässt; es gibt eine Freundin ohne Freund, eine Mutter ohne Sohn, einen Bruder ohne seinen Bruder, einen Vater ohne einen Sohn, es bleibt ein Stuhl in der Schule leer, in der Werkstatt, in der Fabrik, auf dem Feld. Ah, aber wenn sie eine Liste machen, werde ich nicht dulden, dass sie eine Liste mit erfundenen Namen machen und einfach zwei oder drei Seiten eines Telefonbuches hernehmen. Wir werden diese Namen überprüfen, zu welchem Mann er gehört und wo das Loch ist. Dieses Loch kann nicht zerstört werden. Wenn man ein derartiges Loch zerstören will, dann wird es größer; denn damit ein solches Loch nicht weiter existiert, müsste man die Familie eliminieren.“ (Ex-Präsident Gustavo Díaz Ordaz 1977 zit. in: Gamiño Muñoz 2008: 6)18
Ausgehend von diesen ersten einführenden Worten zum Kontext Schmutziger Krieg und erzwungenes Verschwindenlassen und der kurz skizzierten konfliktiven Wechselwirkung zwischen Prozessen der Dehumanisierung und Rehumanisierung werden im Folgenden die Ziele der Arbeit und die theoretische Einordnung beschrieben.
18 „Podrán decir como en otras ocasiones, que se hicieron desaparecer los cadáveres, que se sepultaron clandestinamente, que se incineraron. Eso es fácil, no es fácil hacerlo impunemente. Los hombres no se pueden desaparecer; y si hay un nombre que lo pongan en la lista. Ese nombre cuando desaparece correspondió a un hombre, a un ser humano que dejó un hueco en una familia; hay una novia sin novio, una madre sin su hijo, un hermano sin su hermano, un padre sin un hijo, hay un banco en la escuela que quedó vacío, hay un lugar en el taller, en la fábrica, en el campo que quedó vacío. ¡Ah! Pero si hacen la lista no voy a admitir que hagan la lista con nombres inventados, que cojan dos o tres páginas del directorio telefónico. Vamos a comprobar ese nombre a qué hombre correspondió y dónde está el hueco. El hueco no se puede destruir. Cuando se trata de destruir un hueco de esos se agranda; porque para que no quede el hueco en una familia habría que acabar con la familia.“ (Ex-Präsident Gustavo Díaz Ordaz 1977 zit. in Gamiño Muñoz 2008: 6). Aus dem Zeitungsartikel: „Díaz Ordaz se va con las manos limpias de sangres a España“, La Prensa, 13. April 1977. Ex-Präsident Díaz Ordaz war nach seiner Amtszeit Botschafter in Spanien.
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Z IELE
DER VORLIEGENDEN
ARBEIT
Die vorliegende Arbeit setzt sich vier Ziele und ist in folgende thematische und theoretische Forschungsfelder mit jeweils gegenseitigen Vernetzungen eingebettet: 1)
Ethnographien politischer Gewalt
Die Arbeit will einen Beitrag leisten zum Feld der Ethnographien politischer Gewalt innerhalb des compassionate turn (Robben/Sluka 2009) in der Kultur- und Sozialanthropologie. Die empirische Studie zu Mexiko will dabei eine Forschungslücke schließen, da bisher im lateinamerikanischen Kontext die Entwicklungen des Schmutzigen Krieges in dieser Region weitgehend außer Acht gelassen wurden. Eine Ethnographie der politischen Gewalt beschreibt die lokalen Erfahrungswelten der Betroffenen von Gewalt und die Art und Weise, wie sie erinnert, erzählt und durch soziale Praxis externalisiert und repräsentiert wird. Der Fokus liegt auf der Darstellung des Gewaltphänomens erzwungenen Verschwindenlassens durch die Narrationen der Angehörigen und ZeitzeugInnen. Die vorliegende Ethnographie der politischen Gewalt in Mexiko will jedoch – trotz einer Analyse eines spezifischen lokalen Konflikts – auch dem Ansatz einer Public Anthropology19 (Borofsky 2000, 2011) folgen.Diese tritt entgegen einer zunehmenden Fragmentierung und Spezialisierung der Disziplin für eine holistische und komparative Analyse ein. Die Frage dabei ist, „(h)ow we can move anthropology toward more holistic analyses – changing the narrow (and narrowing) ways we speak across our specilizations, bringing back comparison, and addressing general questions in ways that foster broad conversations.“ (Borofsky 2000: 9) Borofsky, der das Konzept der Public Anthropology in die anthropologische Debatte brachte, gibt die Antwort wie folgend: „Public Anthropology is theoretically-oriented in its sensitivity to hegemonies; practically oriented in addressing real social problems.“(ebd.). In diesem Sinne – in dem die Arbeit hegemoniale Diskurse und soziale bzw. machtpolitische Probleme anspricht – will die vorliegende Studie einen Diskussionsbeitrag in zwei Richtungen liefern: einerseits zur Weiterentwicklung einer Theorie des politischen rituellen Handelns im Kontext von (Post-) Konfliktgesellschaften in Bezug auf erzwungenes Verschwindenlassen. Und andererseits stehen die hier vorgelegten theoretischen Überlegungen zur Wechselwirkung von Dehumanisierungs- und Rehumanisierungsprozessen zur Debatte.
19 Vgl. Ansatz und Ziele auf der Seite des Center for a Public Anthropology: http://www. publicanthropology.org (Letzter Zugriff: 30.04.2014).
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Studie zu erzwungenem Verschwindenlassen
Anknüpfend an Punkt 1) will die Arbeit einen Beitrag leisten zur Analyse des erzwungenen Verschwindenlassens als Methode staatsterroristischer Praxis. Die Prozesse rund um diese Praxis werden in dieser Arbeit unter dem Konzept Dehumanisierung zusammengefasst. Die Forschungsfragen, mit denen in dieser Arbeit an das Phänomen des erzwungenen Verschwindenlassens herangegangen werden, sind folgende: Welche Auswirkungen hat diese Methode für betroffene Individuen und soziale Netzwerke? Welche Handlungen, Diskurse und Transformationen bilden sich durch diesen Gewaltakt? Wie findet im individuellen Erinnerungsprozess an die verschwundenen Angehörigen eine Vernetzung von individueller und sozialer Erinnerung statt? Wie entwickelt sich individuelles Handeln zu kollektivem Handeln? Welche Erinnerungsorte und Erinnerungspraktiken entstehen? Wie führt das Verschwindenlassen von Menschen (einer Familie, in einem Dorf, in einer Region) zu einer globalen Vernetzung und zur Konstruktion einer transnationalen Erinnerungsgemeinschaft von Angehörigen? Entgegen der oftmaligen Darstellungen von Angehörigen Verschwundener als homogenes Opferkollektiv, soll in dieser Arbeit auch auf die Heterogenität und die Differenzierungen innerhalb dieser Gruppe eingegangen werden. In der Beschreibung dieses Gewaltphänomens soll des Weiteren deutlich werden, dass diese Methode besonders schwerwiegend ist, weil sie in universale kulturelle Rituale jeder Gesellschaft eingreift: in die Verweigerung von Totenritualen. Erzwungenes Verschwindenlassen wird in dieser Studie also auch mit Aspekten von Ritualtheorien analysiert (Van Gennep 1909; Turner 1967, 1982/[1969]; Bloch 1986; Kertzer 2008). Die Arbeit argumentiert dabei, dass sich aus dieser Verweigerung eine erzwungene Permanenz der Angehörigen Verschwundener in einer liminalen Phase, einer Übergangs- oder Schwellenphase ergibt. Aus diesem Zustand resultieren bestimmte Handlungen, die in dieser Studie als Rehumanisierungspraktiken bezeichnet werden. Diese Praktiken stellen den Gegenpol zur staatlichen Praxis der Dehumanisierung dar. Die Wechselwirkungen zwischen Prozessen von Dehumanisierung und Rehumanisierung werden in der vorliegenden Arbeit nachgezeichnet. Da in der vorliegenden Arbeit auch der Frage nachgegangen wird, wie Prozesse von sozialer Erinnerung konstruiert werden, wie also versucht werden kann, die Vernetzung von individuellen Erinnerungen der Angehörigen zu sozialen Erinnerungsformationen nachzuvollziehen, sollen Repräsentationen und kulturelle Ausdrucksformen der Angehörigen analysiert werden. Cheryl Natzmer stellt dazu Folgendes fest: „The ownership of memory is a question of power. Individuals and groups struggle over who has the right to represent the past and whose memories will become institucionalized. Creative expression is an arena where that struggle takes place and where it can be observed.“(Natzmer 2002: 161) Kreative Aus-
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drucksformen und Repräsentationen sind ein wichtiger Ausdruck von Erinnerung. Wo und wie drückt sich aber Erinnerung aus? Wo findet der Prozess der Vernetzung von individueller und sozialer Erinnerung statt? Wie vernetzen sich Angehörige und wie transformiert sich in der Folge ihr Handeln? Durch welche Dynamiken, welche Prozesse findet dies statt und wie ist es vor allem beobachtbar und greifbar für die Analyse? Einige wichtige Elemente der Ausdrucksformen von Erinnerung nennt Cheryl Natzmer „Through the stories that people tell, the images they create, the social dramas they enact, and the institutions they embrace and resist, the events of the past are interpreted and transformed into social realities. Memories are given physical substance (…).“ (Ebd.). Erinnern ist nach Jacob Climo und Maria Cattell (2002) in Anlehnung an Maurice Halbwachs (1925/1985) jedoch nicht ein einfaches Abrufen der Vergangenheit, sondern ist Selektion, Verhandlung, Vergessen und ständiges Anpassen im Licht der Gegenwart und in Hinblick auf die Zukunft. Orte der Erinnerung und des Aushandelns kann man an verschiedenen symbolischen Ausdrucksformen festmachen, an kulturellen Repräsentationen von Erinnerung oder wie Natzmer es formuliert, an kreativen kulturellen Ausdrucksformen. Dazu zählen neben den Narrationen, den testimonios, auch Akte der symbolischen, politischen Kommunikation in Form von öffentlicher Performanz, Demonstrationen oder dem Öffentlichmachen von Repräsentationen der Verschwundenen durch die Angehörigen. Diese Ausdrucksformen sollen in dieser Studie beschrieben werden. 3)
Anthropologische Konfliktforschung: Prozesse von Konfliktdynamiken und Transformationen
Die Arbeit wird des Weiteren in einem chronologischen Aufbau einen Prozess von Konfliktdynamiken und Transformationen basierend auf Erfahrungen und Narrativen von Überlebenden von Gewalt darstellen. Fokussierend auf den Ereignissen in der Forschungsregion der Sierra de Atoyac im Bundesstaat Guerrero werden die Entwicklungen hin zum Schmutzigen Krieg über die Erfahrungen Überlebender während des Schmutzigen Krieges, so wie sie heute erinnert werden, zur ersten Phase der Rehumanisierungspraktiken der Angehörigen Verschwundener bis zum Einsetzen von staatlichen Transitional-Justice-Mechanismen dargestellt. Darauf folgt die Beschreibung der zweiten Phase der Rehumanisierungspraktiken und der Auswirkungen des Transitional-Justice-Prozesses, deren Dynamiken und Konflikte auf lokaler Ebene. Es wird versucht, die Makro– und Mikroperspektive in allen Teilen dieser Darstellung zu vernetzen, da Entwicklungen auf der Makroebene (der nationalen/globalen Arena) rückwirken auf die Mikroebene (lokale Arena) und diese wiederum Rückwirkungen auf die Makroebene haben. Diese Herangehensweise entspricht dem Ansatz der anthropologischen Konfliktforschung, der Wechselwirkungen und Dynamiken zwischen beiden Perspektiven analysiert. Oder um es mit
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den Worten von Peteet zu beschreiben: „[O]ur strength has rested on our exploring how global processes are interpreted and reinscribed locally and the way local events can reverbate globally.“(Peteet 2010: 84) Die Phänomenologie und Dynamiken von Gewalt, der Fokus auf die Betroffenen von Gewalt und deren Handeln, deren Erfahrungen und Perspektiven sind es, die im Zentrum einer anthropologischen Konfliktforschung stehen. Es stellt dies auch eine neuere Entwicklung in der soziologischen Konfliktforschung dar, die nach der Kälte der Kausalanalyse (Höpken/Riekenberg 2000: XII) und der Strukturlastigkeit bei der Erklärung von Gewalt zunehmend eine Anthropologisierung des soziologischen Diskurses unternimmt (vgl. Koehler/Heyer 1998). Dessen ungeachtet, soll es jedoch nicht darum gehen, gänzlich die vor allem soziologische oder politikwissenschaftliche Konflikt- und Gewaltforschung, die strukturelle Merkmale, Ursachen und Bedingungen von Konflikten herausgearbeitet hat, durch eine anthropologische Perspektive zu ersetzen. Vielmehr sollen beide, also Mikround Makroperspektiven verbunden werden. Diese Arbeit verfolgt diesen Ansatz der Vernetzung beider Perspektiven. So ist für die anthropologische Perspektive auf lokale Konflikte das Verhältnis von Staat, Gewaltdynamiken und globalen, historischen Entwicklungen ebenso wichtig, wie die Erfahrungen, Handlungen und Erinnerungen der Menschen auf einer lokalen Ebene empirisch zu untersuchen. Lokale Räume werden so zu komplexen Orten, wo sich verschiedene nationale und transnationale Perspektiven verdichten, wie im Fall des erzwungenen Verschwindenlassens im Kontext des mexikanischen Schmutzigen Krieges deutlich werden wird. 4)
Transitional-Justice-Studien
Die Studie will auch einen Beitrag leisten zum Feld von Transitional-JusticeStudien aus einer sozialanthropologischen Perspektive. Dabei werden – einem Konzept von Alexander Hinton (2010) folgend – insbesondere die Transitional Frictions dargestellt. Hinton übernimmt das Konzept der Friktionen von Anna Tsing (2005) und wendet es auf Transitional-Justice-Prozesse an. Unter Friktionen sind in diesem Zusammenhang die Diskrepanzen gemeint, die sich aus dem Zusammenwirken von globalen Normen und spezifischen Lokalitäten, also lokalen sozialen und politischen Praxen und Lebenswelten ergeben. Es geht in der vorliegenden Studie auch um eine Lokalisierung von Transitional Justice im Sinne von Rosalind Shaw, Lars Waldorf und Pierre Hazan (2010) und um Transitional Justice from Below (McEvoy/McGregor 2008). Hinton sieht den anthropologischen Zugang, der diese Lokalitäten analysiert, als einen Weg, die Verortung dieser Friktionen auszumachen. Transitional-Justice-Prozesse können dabei aus anthropologischer Sicht mit einem Übergangsritus (Van Gennep 2005/[1909]) auf einer gesamtgesellschaftlichen Ebene verglichen werden (Hinton 2010). Also als eine Zwischen-, Übergangs- und liminale Phase einer Gesellschaft von Krieg und Konflikt hin zu Frie-
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den. Warum diese letzte Phase jedoch meist nicht vollständig erreicht wird, soll anhand des Fallbeispiels Mexiko und den dort auftretenden Friktionen dargestellt werden. Es stellen sich für den Transitional-Justice -Prozessin Mexiko nun folgende Fragen: Wie haben sich globale Diskurse in das lokale sozio-politische System eingebettet und wie wurden diese globalen Instrumente lokal transformiert? Wie sehen diese Friktionen, Ungereimtheiten, Unvereinbarkeiten auf lokaler Ebene aus? An welchen Orten, in welchen Dynamiken und Prozessen können diese festgestellt werden? Wie in der folgenden Arbeit gezeigt wird, führt die aus machtpolitischen Friktionen rührende Permanenz in einer liminalen Phase von Transitional Justice auf staatlicher Ebene auch zur weiterbestehenden liminalen Phase der Angehörigen der Verschwundenen auf lokaler Ebene. In der vorliegenden Arbeit wird auch gezeigt werden, dass es im mexikanischen Fall keine klare Trennung von Konflikt und (Post-)Konfliktphase gibt. Der Zusatz „(Post-)“ soll andeuten, dass es zwar politische Transformationsprozesse nach dem historischen Schmutzigen Krieg gab, dass also Transitional-JusticeMechanismeneingesetzt wurden, dass aber für das Verbrechen des erzwungenen Verschwindenlassens bisher keine für die Angehörigen positiven Aufarbeitungsprozesse stattfanden. Des Weiteren soll der Zusatz „(Post-)“ darauf hinweisen, dass auch unter der PAN-Regierung20 der demokratischen Veränderung die Praxis des erzwungenen Verschwindenlassens weiterhin angewendet wird. Die hohe Militärpräsenz in zahlreichen Regionen des Landes, die Existenz mehrerer bewaffneter Guerillabewegungen im ruralen und urbanen Mexiko und die Bekämpfung dieser mit militärischen Methoden der Aufstandsbekämpfung lassen nicht auf eine demokratische Transition schließen. Im Laufe der Arbeit wird vielmehr deutlich werden, dass es sich im mexikanischen Fall vielmehr um eine Kontinuität Schmutziger Kriege von den 1960er Jahren bis in die Gegenwart handelt, wenn auch unter anderen politischen Vorzeichen. Besonders der von Präsident Calderón im Jahr 2006 deklarierte Krieg gegen Drogen lässt eine Verstrickung alter und neuer Täter in polizeilichen, militärischen und politischen Institutionen erkennen. Die erstarkte Rolle des Militärs rückt dabei eine Aufklärung der Verbrechen der Vergangenheit in weite Ferne. In der vorliegenden Arbeit sind daher beide Zeitperioden von Bedeutung. Beide Phasen sind ineinander verwoben und können nicht getrennt voneinander gedacht werden. Es sind dies einerseits die Ereignisse von Krieg und Gewalt in der Erinnerung der Opfer aus der Zeit des Schmutzigen Krieges und andererseits die Aufarbeitung seit der politischen Transition ab dem Jahr 2000, die sich aber mit den Dynamiken des aktuellen Konfliktes vermengen. Die Konflikte während der Transitional-Justice-Phasekönnen also nicht ohne die Entwicklungen des rezenten Schmut-
20 Die rechtskonservative Partei der Nationalen Aktion (Partido de Acción Nacional).
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zigen Krieges im Zusammenhang mit dem Krieg gegen Drogen, der Rolle des Militärs und der erneuten Militarisierung vor allem ruraler Gebiete Mexikos – darunter auch der Bundesstaat Guerrero und der Forschungsregion Atoyac de Álvarez – betrachtet werden. Forschung zu erzwungenem Verschwindenlassen Erzwungenes Verschwindenlassen als eine Praxis politischer Gewalt wurde bisher kaum in eigenständiger Analyse betrachtet, sondern stets als Unterthema staatsterroristischer Praxis. Zu staatlichem Terror gab es innerhalb der anthropologischen Gewalt- und Konfliktforschung vor allem ab den späten 1980er Jahren und 1990er Jahren zahlreiche empirische Fallstudien und theoretische Analysen (vgl. Carmack 1988; Feldman 1991; Nordstrom 1992, 1997; Koehler/Heyer 1998; Sluka 2000; Hinton 2002; Das/Poole 2004; Scheper-Hughes/Bourgois 2004; Eckert 2005; Richards 2005; Strathern/Stewart/Whitehead 2006; Goodale/Engle Merry 2007; Sanford/Angel-Ajani 2008; Robben 2005, 2010). Der anthropologische Fokus auf dieses Phänomen wurde, im Gegensatz zur Makroperspektive der Politikwissenschaft, Soziologie oder Zeitgeschichte, vor allem auf die Mikroperspektive der von Gewalt Betroffenen gelegt. Gewalt wird dabei in einem breiten Kontext von struktureller, direkter, indirekter, psychischer, epistemischer und symbolischer Gewalt betrachtet. Der anthropologische Zugang betrachtet zunächst die Bedeutung von Gewalt in einem spezifischen regionalen und sozio-kulturellen Kontext und fragt darüber hinaus, welche Ausformungen und kulturellen Kodierungen Gewalt haben kann, welche Transformationen von sozialen Gefügen durch Gewalt entstehen, wie mit Erfahrungen von Gewalt umgegangen wird und wie diese erinnert wird (vgl. SixHohenbalken/Weiss 2011; Argenti/Schramm 2010; Waterston 2009). Cynthia Mahmood hat den anthropologischen Beitrag zu Konflikten und Gewalt auch als einen konzeptionellen Zugang zu Demütigung und Wut bezeichnet: „[W]hen one grapples with the grassroots experience of these conflicts one has to conceptualize not politics but humiliation and rage.“ (Mahmood 2000: 78). Innerhalb der Analyse von Praktiken des Staatsterrorismus haben sich unter anderem folgende AutorInnen spezifisch mit erzwungenem Verschwindenlassen auseinandergesetzt: Marcelo Súarez-Orozco (1987), der Verschwindenlassen in Argentinien mit dem Fokus der Zwangsadoptationen und der verschwundenen Kinder betrachtet; Antonius Robben (2005), der Verschwindenlassen als das kollektive Trauma der argentinischen Gesellschaft begreift und das Konzept der damit zusammenhängenden Dehumanisierung und Desozialisierung analysiert. In vergleichender Perspektive analysiert Robben (2010) auch die unterschiedlichen Transitional-JusticeProzesse Argentiniens und Chiles und die Aufklärung der Verschwundenen in beiden Ländern. Ian Guest (1990) betrachtet die Rolle der internationalen Gemeinschaft hinsichtlich von erzwungenem Verschwindenlassen in Argentinien. Die Be-
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ziehung zwischen Verschwindenlassen und Kommunikationsmedien in Argentinien analysiert Estela Schindel (2005), Verschwundene als Katastrophe der Identität beschreibt Gabriel Gatti (2008), während Katja Seidel (2011) die argentinische Protestform der escraches der Angehörigenorganisation H.I.J.O.S. untersucht. Verschwindenlassen in Chile untersucht Elizabeth Lira (2007) und María Paz Rojas Baeza (2009); während Macarena Gómez-Barris (2009) die kulturellen und visuellen Aufarbeitungsformen beschreibt. Die Thematik der Verschwundenen in Venezuela bearbeitet Agustín Arzola Castellanos (2005) und für Kolumbien Victoria Díaz Facio Lince (2003)sowie Ralph Rozema (2011). Die Aufarbeitung der FrancoDiktatur in Spanien und die Exhumierungen von Massengräbern analysiert Francisco Ferrándiz (2009, 2010), Ferrándiz und Baer (2008), Carlos Jerez-Farrán und Samuel Amago (2010) sowie Ignacio Fernández de Mata (2010). Zum Verschwindenlassen von Personen in Zypern sind die Arbeiten von Paul Sant Cassia (2007) und Iosif Kovras und Neophytos Loizides (2009) zu nennen. In Bosnien hat sich Sarah Wagner (2008) mit der Problematik der Verschwundenen auseinandergesetzt, in Sri Lanka Patricia Lawrence (2000), für Indien Pettigrew (2000) oder Keppley Mahmood (2000), für Nepal Simon Robins (2011) oder für Südafrika Aronson (2011). Die genannten Werke stellen eine Auswahl zum Thema des erzwungenen Verschwindenlassens dar, in der unterschiedliche Perspektiven, aber auch Gemeinsamkeiten in den verschiedenen regionalen Kontexten deutlich werden. Forschung über den Schmutzigen Krieg und die Verschwundenen in Mexiko Zum Thema der Aufarbeitung des Schmutzigen Krieges und insbesondere des erzwungenen Verschwindenlassens in Mexiko gibt es bisher wenig wissenschaftliche Forschung. Mit der Darstellung des Aufarbeitungsprozesses in Mexiko soll daher auch ein Beitrag zu einem bisher wenig beachteten Feld innerhalb der Literatur zu (Post-)Konfliktgesellschaften und Transitional-Justice-Dynamikengeleistet werden. Hinsichtlich der wissenschaftlichen Literatur zu Lateinamerika in diesem Kontext ist es auffallend, dass bis in die Gegenwart vor allem auf drei Länder fokussiert wird, wo es Aufarbeitungsprozesse mit der Implementierung von Wahrheitskommissionen mit großer internationaler und medialer Aufmerksamkeit gab: Argentinien (vgl. Robben 2005, 2012; Suárez-Orozco 1992), Chile (vgl. Jelin 2003) und Guatemala (vgl. Oettler 2004, 2012; Manz 2004). Andere Länder, wo es in weiterer Folge auch Aufarbeitungsprozesse und die Implementierung von TransitionalJustice-Instrumenten wie Wahrheits- oder Untersuchungskommissionen gab, treten dabei eher in den Hintergrund, obwohl die politischen Konflikte und Debatten rund um die Anerkennung der Opfer, die Bestrafung der Täter, um Wahrheit und Ge-
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rechtigkeit ähnliche sind. Der zeitliche Aspekt und das Ausmaß der Opferzahlen spielen in der stärkeren Fokussierung auf diese drei Länder sicherlich eine Rolle.21 Immer noch gibt es also zum Verschwindenlassen in Mexiko im Vergleich zu anderen lateinamerikanischen Ländern mit ähnlichen Gewaltprozessen im Zuge Schmutziger Kriege weniger wissenschaftliche Publikationen. Seit dem Jahr 2000, der politischen Transition, in der die PRI abgewählt wurde, lässt sich jedoch eine steigende Zahl an Publikationen zu diesem Thema beobachten. Die Arbeiten folgender AutorInnen sind hier zu nennen: die mexikanische Psychologin Elizabeth Maier (2001), die die Geschichte der Angehörigenorganisiation Comité Eureka betrachtet und den Fokus auf Gender und die Rolle der Frauen und Mütter, die zum politischen Subjekt werden, legt. Die mexikanische Psychologin Antillón Najlis (2008) beschäftigt sich mit dem Fokus auf psychosoziale Konsequenzen des Verschwindenlassens mit den Angehörigen des Verschwundenen Rosendo Radilla der Angehörigenorganisation AFADEM. Die mexikanische Soziologin Claudia Rangel Lozano (2011) analysiert staatsterroristische Praktiken in der Sierra de Atoyac wie Geheimgefängnisse und Foltermethoden und beschäftigt sich mit Genderfragen, vor allem mit der agency von Frauen in Atoyac zur Zeit des Schmutzigen Krieges. Evangelina Sánchez Serrano (2011) und Claudia Rangel Lozano (2011), mexikanische Soziologinnen, untersuchen die politischen Entwicklungen des Transitional Justice Prozesses in Mexiko und die Initiativen der Angehörigenorganisation AFADEM. Anne Becker und Olga Burkert (2008) haben die Protestform der escraches der argentinischen und mexikanischen Organisationen H.I.J.O.S verglichen. Des Weiteren sind zum Thema des Verschwindenlassens die Arbeit der mexikanischen Soziologin Andrea Radilla (2002) und jene des Juristen Juan Carlos Gutiérrez Contreras (2009) zu nennen. Zu betonen ist, dass es bisher kaum eine umfassende Analyse der Differenzierungsprozesse, der unterschiedlichen Aufarbeitungstrategien und Mechanismen, die durch das Verschwindenlassen von Personen bei den Angehörigen ausgelöst werden, gibt.22 Wird in der wissenschaftlichen Literatur über Verschwundene und Angehörigenorganisationen gesprochen, werden diese
21 So wurden die ersten Wahrheitskommissionen Lateinamerikas im Jahr 1982 in Bolivien, 1983 in Argentinien, in Chile 1991, in El Salvador 1992 und in Guatemala 1994 eingesetzt (vgl. Oettler 2004; Hayner 2001). Andere Länder haben erst in späteren Jahren diese Instrumentarien implementiert, wie zum Beispiel die Wahrheitskommission in Peru 2001 (vgl. Weissert 2012, Ramírez Castillo 2012), in Ecuador 2007 (vgl. Lauer Pérez 2012) oder in Brasilien 2011. 22 Wichtige Informationen zu Verschwundenen für die jeweiligen lokalen Kontexte liefern die Publikationen der Wahrheitskommissionen, wie zum Beispiel der Bericht der argentinischen Wahrheitskommission Nunca Más (1986), der chilenische Informe Rettig (1991) oder der guatemaltekische Bericht Memoria del Silencio (1999).
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meist als homogene Opfergruppe dargestellt und es wird wenig differenziert hinsichtlich unterschiedlicher Zugänge, Perspektiven, Dynamiken und Konflikte innerhalb der Angehörigengruppen. Die vorliegende Arbeit möchte auch hier die Heterogenität dieser Opfergruppen beschreiben und zeigen, dass sich trotz ähnlicher Erfahrungen von Gewalt sich dennoch auch unterschiedliche Formen des Umgangs mit dieser entwickeln. Innerhalb der Publikationen zum mexikanischen Schmutzigen Krieg nimmt die Literatur zum Massaker von 1968 am Platz von Tlatelolco seit der Erschließung der deklassifzierten Geheimdienstberichte in den USA im Jahr 1998 den größten Raum ein (vgl. Scherer García/Monsivaís 2004; Monsiváis 2008; Montemayor 2010; Poniatowska 1971/1993, 1999; Valle 2008). Publikationen erschienen auch zum Massaker von Corpus Christi im Jahr 1971 (Jiménez Vázquez 2008; Martín del Campo 2011). Mit der literarischen und künstlerischen Aufarbeitung des Massakers beschäftigte sich vor allem die memory-theatre-Bewegung (vgl. Bixler 2002). Seit der Öffnung der mexikanischen Archive im Jahr 2002 entstanden des Weiteren Publikationen über die Rolle der Geheimdienste zur Zeit des Schmutzigen Krieges (vgl. Aguayo 2001), dem Transitional-Justice-Prozess (vgl. Acosta/Ennelin 2006; Aguayo/Treviño 2007; Seils 2004), über Erinnerung und Gerechtigkeit (vgl. Ruíz Guerra 2005) und über die Präsidenten zur Zeit des Schmutzigen Krieges Gustavo Díaz Ordaz (Mejía Madrid 2011) und Luis Echeverría (Cárdenas Estandía 2008). Ein weiteres Thema der neueren mexikanischen Literatur ist die Geschichte der urbanen und ruralen23 bewaffneten Guerillabewegungen in Mexiko (Ibarra Chávez 2006; Laura Castellanos 2007; Oikión Solano/García Ugarte 2006; Bellingeri 2003; Montemayor 2007). Die ruralen campesino und Guerillabewegungen speziell in Guerrero wurden von Armando Bartra (2000, 1996) und Baloy Mayo (1980) analysiert. Die Rolle des mexikanischen Militärs haben Ledesma Arronte und Castro Soto (2000) dargestellt. Den Prozess der Öffnung der Archive und die Rolle der Medien zur Zeit des Schmutzigen Krieges analysierte der mexikanische Kommunikationswissenschaftler Rodríguez Munguía (2007). Ein weiteres Feld ist die literarische und journalistische Aufarbeitung des Schmutzigen Krieges (vgl. Poniatowska 1980; Montemayor 1998; González Ruiz 2003; Solís Téllez 2009; 2010, Cardona Galindo 2010; Cárdenas Estandía 2008) und die publizierten Erzählungen in Form von testimonios ehemaliger Guerilleros, politischer Gefangener und Folteropfer (vgl. López de la Torre 2001; Gallegos Nájera 2004, 2009; Cilia Olmos/González Ruíz 2006; Borbolla 2007;). Die Soziologin Claudia Rangel von der Universidad Autónoma de Guerrero, die zum mexikanischen Schmutzigen Krieg forscht, bemerkte in einem Gespräch
23 Zu historischen campesino-Bewegungen in Mexiko seit dem 16.Jahrhundert vgl. die Analysen von Katz 1990.
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im Jahr 2009, dass sich trotz stärkerer Verbreitung des Themas in der Öffentlichkeit seit der Transition im Jahr 2000 nur wenige mexikanische WissenschaftlerInnen mit diesem Thema beschäftigen. Empirische Forschung, Recherche und Publikation dazu werden von vielen immer noch als gefährlich betrachtet: „Du bist doch verrückt, dass du dich mit diesem Thema beschäftigst“24, hätten schon viele ihrer FachkollegInnen zu ihr gesagt. Rangel bemerkte auch, dass etwa die Tatsache, dass es beim Internationalen AmerikanistInnenkongress im Jahr 2009 in Mexiko-Stadt unter ca. 3000 Vorträgen nur drei von MexikanerInnen zum Thema des Schmutzigen Krieges gab, bezeichned für dieses Nicht-Vorhandensein des Themas in der mexikanischen wissenschaftlichen Gemeinschaft sei. Es bestehe, so Rangel, immer noch die Angst, dass AgentInnen des mexikanischen Geheimdienstes CISEN (Centro de Investigación y Seguridad Nacional) bei Konferenzen und Tagungen präsent seien. WissenschaftlerInnen, die zu diesen Themen arbeiten, werden, so die Vermutung, immer noch von staatlichen Akteuren identifiziert und deren Forschungen beobachtet. Verschwundene in Mexiko – auch heute? Obwohl sich die Arbeit vornehmlich mit der Aufarbeitung der Fälle der Verschwundenen aus der Vergangenheit beschäftigt, soll dennoch betont werden, dass diese Praxis weiterhin besteht und als staatsterroristische Methode gegen politische GegnerInnen in Mexiko angewandt wird. Verstärkt ist dies seit dem Amtsantritt von Präsident Felipe Calderón (2006 – 2012) zu beobachten, dessen Legitimationsgrundlage für Staatsterrorismus und Straflosigkeit der aktuelle Krieg gegen Drogen (guerra contra el narcotráfico)25 darstellt. Die Strategie der Bekämpfung des Drogenhandels mit militarischen Mitteln wird auch von seinem Nachfolger Präsident Enrique Peña Nieto (2012 – ) fortgeführt. In diesem aktuellen Konflikt ist deutlich zu beobachten, dass das Klima der Angst und der Straflosigkeit nicht auf die Vergangenheit beschränkt ist (vgl. Karl 2012). In den letzten Jahren, trotz des politischen Diskurses der demokratischen Transition und des cambio (Veränderung) ist eine neue Welle der Militarisierung mit einer neuerlichen Ausbreitung von Terror
24 Rangel im Gespräch mit der Autorin beim 53. Internationalen AmerikanistInnenkongress in Mexiko-Stadt im Juli 2009. 25 Für Analysen zu den Entwicklungen des Krieges gegen die Drogenkartelle, die Struktur und Geschichte derselben und die Verwicklungen einzelner politischer und wirtschaftlicher Sektoren der mexikanischen Gesellschaft mit den transnational operierenden kriminellen Netzwerken vgl. die Publikationen: Malkin 2001; Beith 2010; Cruz Jiménez 2010; Grayson 2010; Hernández 2010; Reveles 2010; Rodríguez Castañeda 2009; Páez Varela 2009; Scherer García 2008; Ravelo 2011; Turati 2011a; Ronquillo 2011; Valdés Castellanos 2013.
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und Repression zu beobachten, die ebenso wie zu Zeiten der Schmutziger Krieg der 1960er und 1970er Jahre soziale Bewegungen kriminalisiert. So hat auch im März 2012 die UN Arbeitsgruppe zu erzwungenem Verschwindenlassen (Working Group on Enforced or Involuntary Disappearances) auf das verstärkte Vorkommen von erzwungenem Verschwindenlassen und der damit einhergehenden Straflosigkeit für Täter in Mexiko hingewiesen.26 Die Zahlen der Opfer in diesem Krieg sind schwer zu fassen und variieren je nach Quelle. So spricht die Plattform Movimiento por la Paz con Justicia y Dignidad (Bewegung für den Frieden mit Gerechtigkeit und Würde), die gegen die Situation der Gewalt protestiert und an der sich diverse soziale Bewegungen und Opferorganisationen beteiligen, bis 2012 von rund 20.000 aktuellen Fällen von Verschwundenen, 70.000 Toten und 120.000 Vertriebenen.27 Die mexikanische Organisation Propuesta Civica hat eine Datenbank erstellt, in der 20.851 Fälle von Verschwundenen von 2006 – 2012 aufgelistet werden.28 Das mexikanische Innenministerium spricht bis November 2012 von 26,121 Fällen von Verschwundenen.29 und von einer Zahl von 121,683 Toten bis Juli 2013 (Proceso 2013). Diese neuen Entwicklungen sollen im letzten Kapitel beleuchtet werden, da ein Verständnis der Aufarbeitungsprozesse des Schmutzigen Krieges der Vergangenheit nicht losgelöst vom aktuellen Krieg gegen Drogen – hier vielmehr als neuer Schmutziger Krieg bezeichnet – verstanden werden kann.
26 Vgl. UN-Bericht vom 14.03.2012: Experts express concern for impunity in cases of enforced disappearances in Mexico. Unter: http://www.ohchr.org/EN/NewsEvents/ Pages/DisplayNews.aspx?NewsID=11963&LangID=E (Lezter Zugriff: 30.04.2014). 27 Siehe unter: http://movimientoporlapaz.mx/ (Letzter Zugriff 30.04.2014). 28 Siehe unter: http://propuestacivica.org.mx/trabajo/derechos-humanos/desaparecidos-enmexico/ (Letzter Zugriff 30.04.2014). 29 See:
http://aristeguinoticias.com/2602/mexico/lia-limon-da-a-conocer-lista-de-26000-
desaparecidos/ (Letzter Zugriff 30.06.2014).
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Z UGANG ZUM F ELD , M ETHODE UND ETHNOGRAPHISCHE F ORSCHUNG IN K ONFLIKTREGIONEN „But, the least we can do here is what we as anthropologists do best: listen, observe, teach, and write about people living very different lives with compassion, honesty, respect, and courage. It is a limited project, but one that faces us with a certain urgency as shots continue to be fired across the borders of the communities we once so confidently described, and as the people we study and learn from continue to bleed.“ (Keppley Mahmood 2000: 87f.)
Um meine Positionierung in diesem Forschungsfeld deutlich zu machen, möchte ich mit einigen Worten meinen persönlichen Zugang zum Feld Mexiko skizzieren. Den Beginn der Beschäftigung mit dem Thema politische Gewalt in Mexiko stellten dabei meine Erfahrungen im Jahr 1999 und 2000 als Menschenrechtsbeobachterin des Centro de Derechos Humanos Fray Bartolomé de las Casas in den indigenen comunidades der tzeltal und tzotzil der Zapatistas, des Ejército Zapatista de Liberación Nacional (EZLN), in der Konfliktregion Chiapas dar. Daraus entwickelte sich auch unter dem Titel des Aufrufs des Congreso Nacional Indígena (CNI) – Niemals wieder ein Mexiko ohne uns – die Forschung zu meiner Diplomarbeit zu indigenen Bewegungen in Mexiko. Im Zuge der Menschenrechtsarbeit in Chiapas entstand der Kontakt zur mexikanischen NGO Unión de Trabajo Autogestivo mit Sitz in Mexiko-Stadt, die Bildungsprojekte in urbanen und ruralen Regionen Mexikos durchführt. In dieser NGO begann ich im Jahr 2001 zu arbeiten. Der Zugang zum Feld der vorliegenden Forschungsregion Guerrero erfolgte dann auch über diese Rolle als NGO-Mitarbeiterin. Seit 2005 arbeite ich in verschiedenen comunidades derSierra de Atoyacim Bundesstaat Guerrero in Schulprojekten. Der erste Kontakt zu dieser marginalisierten Region mestizischer Kleinbauern im Süden Mexikos stellt in der Retrospektive betrachtet eine Vernetzung und Verkettung von Ereignissen dar, die schließlich zum Forschungsprozess der vorliegenden Arbeit führten. Dieser Prozess begann im Jahr 2004 in Mexiko-Stadt. Dort fand eine informelle Versammlung von mexikanischen Intellektuellen, MenschenrechtsaktivistInnen und Familienangehörigen von Lucio Cabañas – dem 1974 ermordeten Guerilleroaus Atoyac – in dem Kulturzentrum der Unión de Trabajo Autogestivo statt. Dabei kam es zu Gesprächen mit David Cabañas30, Halbbruder
30 Sein eigentlicher Name ist Alejandro Barrientos Gervasio. Lucio Cabañas und er haben diesselbe Mutter, Rafaela Gervasio Barrientos, aber unterschiedliche Väter. Er verwendet
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von Lucio Cabañas, ehemaliges Mitglied der Partei der Armen und ehemaliger politischer Gefangener. Er ist während des Schmutzigen Krieges aus der Sierra de Atoyac in die Hauptstadt geflüchtet und wohnt seither dort. Während seiner Haft gründete er gemeinsam mit anderen Gefangenen ein Komitee, das sich für politische Häftlinge in Mexiko einsetzt. David Cabañas lud meinen compañero Jose Antonio Guerrero Fonseca und mich Ende 2004 ein, die comunidad San Martin de las Flores in der der Sierra de Atoyac kennenzulernen, aus der er kommt. Er betonte, ähnlich wie viele andere, die in der Zeit des Schmutzigen Krieges nach MexikoStadt oder andere Städte geflüchtet seien, dass er kaum in seine comunidad zurückfahre, da er immer noch Angst vor Repression hätte. Wir begannen die 10-stündige Reise in die Sierra de Atoyac mit seinem kleinen, aber äußerst robusten vocho (VW Käfer), der auch die letzte Strecke hinauf in die Berge über sich in Kurven schlängelnde, steinige und staubige Erdstraßen meisterte. Der Besuch in seiner comunidad stellte für David Cabañas eine Erinnerungsreise dar, die er mit uns teilen wollte. Wir wohnten bei einer verwandten Familie von Kleinbauern, die Angehörige von Verschwundenen sind. David Cabañas erzählte viel, zeigte uns den Ort, wo sein ermordeter Halbbruderzur Schule ging, wo er Lehrer war, erzählte Geschichten aus der gemeinsamen Zeit in der bewaffneten Bewegung der Partei der Armen (Partido de los Pobres), von der Repressionund von seiner Haft im Gefängnis in MexikoStadt. Nach zahlreichen Gesprächen mit BewohnerInnen von San Martín de las Flores wurden wir eingeladen, in ihrer comunidad ein Schulprojekt zu starten. Gemeinsam begannen wir zu planen und konstruierten schließlich Anfang 2005 ein Haus aus adobe (Lehmziegel), das eine Escuela Rural beherbegen sollte. Durch meinen Wohnort in der Schule und die Arbeit mit den Menschen, den Kindern und Jugendlichen und dem schrittweisen Prozess der Vertrauensbildung wurden mir im Laufe der Zeit Geschichten über die Vergangenheit der comunidad erzählt.Schnell wurde mir jedoch durch diese Erzählungen auch klar, dass die comunidad in ihren Ansichten und Positionen geteilt war: Bei einigen Familien war das Thema des Schmutzigen Krieges und das Schicksal ihrer verschwundenen Angehörigen sehr präsent. Auch Anekdoten rund um ihren als Helden verehrtenLucio Cabañas wurden oft erzählt. Ich wurde jedoch auch darauf hingewiesen, nicht mit allen in der comunidad und in der Region über diese Themen zu sprechen. Diese Gespräche gab es also nur immer in einem Kreis von Vertrauten. Die Angst, darüber zu sprechen, war immer noch sehr spürbar und viele BewohnerInnen der comunidad wollten nichts über diese Zeit erzählen. Über diese zu Beginn fragmentierten Erzählungen einzelner BewohnerInnen bekam ich einen ersten Einblick in deren Erfahrungen und deren jah-
jedoch den Namen David Cabañas in der Öffentlichkeit in Gedenken an seinen ermordeten Halbbruder Lucio, wie er im Gespräch betonte.
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relangen Kampf um Anerkennung ihrer Forderungen. Aus diesen Fragmenten entwickelten sich das Thema und die systematische Forschungsaktivität für die vorliegende Arbeit. Multi-Sited Ethnography und Testimonios Die Darstellung des Gewaltphänomens des erzwungenen Verschwindenlassens erfolgt durch eine narrative Ethnographie der politischen Gewalt. Oder wie Michael Taussig es nannte: „the mediation of the culture of terror through narration“ (Taussig 1984: 467). Der Forschungsprozess entsprach der Komplexität des Aufarbeitungsprozesses der Gewalt im Zusammenhang mit den Verschwundenen. Dem Thema wurde sich daher mit einer multi-sited ethnography (Marcus 1995) genähert, die von 2006 bis 2011 durch ein kontinuierliches Eintauchen in das Feld und Verlassen des Feldes (Yo-Yo Fieldwork), der periodischen Nähe und Distanz, erfolgte. Folgend dem Ansatz von George Marcus der multi-sited ethnographyführte ich im Sinne von Following the Plot/Story, Following the People, Following the Life/Biography (Marcus 1995) die Forschung an mehreren Orten durch. Für das Untersuchungsfeld des erzwungenen Verschwindenlassens wurde der qualitative, induktive und zirkuläre Forschungsansatz der Grounded Theory (Strauss/Corbin 1997; Charmaz 2006) gewählt, in der Datensammlung, Datenanalyse und Theoriebildung in einer reziproken Beziehung stehen. Sowohl text-data wie Transkripte der testimonios, Feldnotizen, Dokumente, Zeitungsartikel, als auch nicht-explizite textdata wie Handlungen, Objekte, Filme wurden der Analyse mittels Kodierung, Kategorisierung und Konzeptualisierung durch die Methode der Grounded Theory unterzogen. Der wichtigste methodische Zugang zum Feld der Angehörigen der Verschwundenen bildete die ethnographische Forschung mit teilnehmender Beobachtung in comunidades der Sierra de Atoyac, die von staatlicher Repression zur Zeit des Schmutzigen Krieges betroffen waren. Ich habe 43 digitalisierte problemzentrierte und narrative Interviews in Form von testimonios (vgl. nächster Abschnitt) mit Angehörigen und Folteropfern (die in diesem Kontext als zurückgekehrte Verschwundene bezeichnet werden) aus zwölf comunidades der Sierra de Atoyac und auszwei marginalisierten colonias der Bezirkshauptstadt Atoyac de Álvarez – colonia 18 de Mayo und colonia María Isabel Gómez – durchgeführt. In diesen beiden colonias leben vorwiegend Menschen aus den comunidades der Sierra de Atoyac, die sich dort während oder nach dem Schmutzigen Krieg angesiedelt haben. Die comunidades der Sierra de Atoyac, in denen Forschung durchgeführt wurde, sind: San Martín de las Flores, San Vicente de Jesús, San Vicente de Benítez, Rincón de las Parotas, El Nanchal, El Escorpión, Los Llanos de Santiago, Rio Santiago, El Quemado, El Ticui, Los Valles und San Juan de las Flores (vgl. Abb. 3). Zwei testimonios außerhalb der Sierra de Atoyac wurden in Cocula und Chilpancingo in
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Guerrero durchgeführt. Zusätzlich wurden die aufgezeichneten testimonios begleitet von informellen Gesprächen mit Kleinbauern und Kleinbäuerinnen31 sowie Angehörigen von Verschwundenen, die in vielen Fällen jedoch keinen digitalen Gesprächsmittschnitt wollten. Ich habe des Weiteren teilnehmende Beobachtungen insbesondere bei Versammlungen der Angehörigen der Organisation Comisión para el Esclarecimiento de los años 70 a 74 (Komission für die Aufklärung von 1970 bis 1974) in Atoyacdurchgeführt. In Mexiko-Stadt nahm ich drei Interviews mit Angehörigen vom Comité Eureka und H.I.J.O.S. México auf und nahm an den monatlich stattfindenden Protestaktionen von Comité Eureka und H.I.J.O.S. in Mexiko-Stadt teil. Ferner habe ich historisch bedeutungstragende Orte und Räume für die Opfer (Plätze, Statuen, Fotos, Dokumente) analysiert. Bibliotheksrecherchen wurden darüber hinaus in Chilpancingo (Hauptstadt von Guerrero) an der Universidad Autónoma de Guerrero (UAG) gemacht und Gespräche mit dortigen WissenschaftlerInnen zum Thema des Schmutzgien Krieges geführt. In Mexiko-Stadt wurde eine Archivrecherche im Archivo General de la Nación (AGN) in den Beständen der 2002 erstmals geöffneten Akten des mexikanischen Innenministeriums aus den Jahren des Schmutzigen Krieges und themenbezogene Literaturrecherche in der Biblioteca Central de la Universidad Nacional Autonóma de Mexico (UNAM) durchgeführt. Ein Experteninterview führte ich mit dem verantwortlichen Rechtsanwalt der Menschenrechtsorganisation CMPDDH (Comisión Mexicana para la Promoción y Defensa de los Derechos Humanos), der den ersten Fall eines mexikanischen Verschwundenen (Rosendo Radilla) vor den Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte (CoIDH) gebracht hatte. Ein weiteres Experteninterview führte ich mit einer Psychologin von CMPDDH, die im Bereich der psychosozialen Betreuung von Opfern der Organisation AFADEM arbeitet. Datenmaterial liefern auch die seit dem Jahr 2000 erschienenen Dokumentarfilme von Comité Eureka, über den Fall Rosendo Radilla und über Lucio Cabañas. Darüber hinaus wurden Internetauftritte der Angehörigenorganisationen Comité Eureka, AFADEM und H.I.J.O.S. analysiert, wo Ziele, Handlungen, Bilder, Fotos und Dokumente zugänglich gemacht werden. Einen weiteren Datenkomplex bilden Artikel in mexikanischen Zeitschriften und Zeitungen. Weitere Quellen waren die beiden Berichte der Nationalen Menschenrechtskommission CNDH von 1992 und 2001. Eine wertvolle, jedoch bisher von der mexikanischen Regierung unautorisierte Quelle stellt der Entwurf des Abschlussberichtes der Untersuchungskommission FEMOSPP aus dem Jahr 2006 dar.
31 Im Folgenden soll zur besseren Lesbarkeit nur die männliche Form „Kleinbauer“ verwendet werden; es sind jedoch immer sowohl männliche als auch weibliche Kleinbauern gemeint.
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In der Sierra von Atoyac gibt es zahlreiche Narrative über die Konflikte der Vergangenheit. Viele, längst nicht alle, wurden mir erzählt. Die Erzählungen der Menschen über den Konflikt der Vergangenheit waren dabei unterschiedlich, manchmal sehr ausführlich und detailreich, verschiedene Aspekte beleuchtend, manchmal aber auch nur sehr kurz, fragmentarisch, selektiv und anekdotenhaft. Die Erinnerungen an selbst erlebte Ereignisse vermischten sich dabei in den Narrativen mit den Erzählungen anderer, mit den Erzählungen von Familienangehörigen, NachbarInnen, Bekannten aus anderen Dörfern. Sie vermischten sich aber auch mit Berichten aus den Medien, aus Zeitschriften, Radiosendungen, mit Kommentaren von RegierungsbeamtInnen oder SchriftstellerInnen. Die nach außen getragenen und erzählten Erinnerungen verändern sich also je nach sozialen und politischen Rahmenbedingungen und Informationsflüssen, nach dem, was gesagt werden darf und was verschwiegen werden soll. Die Geschichten über den Schmutzigen Krieg überziehen die gesamte Sierra, zirkulieren von einem Dorf ins nächste, von der Bezirkshauptstadt Atoyac in die Dörfer und zurück. Träger der Kommunikation sind dabei die Menschen mit ihren individuellen Erinnerungen an bestimmte Ereignisse, die sich mit jenen anderer vernetzen. Unterschiedliche Wahrnehmungen, Selektionen, Interpretationen und der Fokus auf bestimmte Elemente lassen ein Bild der Vergangenheit entstehen, das die soziale Realität der Vergangenheit, aber auch der Gegenwart sowie die Hoffnungen für die Zukunft enthält. Denn bestimmte Ereignisse aus den Erinnerungen werden auch hinsichtlich der Forderungen und Wünsche für die Zukunft erzählt. Der anthropologische Zugang zu Erinnerung im Kontext von Konflikten versucht dabei durch ihren Fokus auf die regionalen, lokalen Perspektiven und Wahrnehmungen auf Konflikte die sozialen Lebenswelten zu rekonstruieren. Julie Peteet formuliert dies folgendermaßen: „Anthropology can offer insights about history, memory, and resistance as well as their regional, comparative aspects and remind us of the need to think regionally about narratives of conflict and past.“ (Peteet 2010: 86). In der bereits bestehenden Flut an Literatur zu Erinnerung und Gedächtnis aus verschiedensten Disziplinen (vgl. Halbwachs 1925/1985; Welzer 2005; Brockmeier 2002a, 2002b; Assmann 2006, 2007) lehnt sich diese Arbeit an die anthropologischen Zugänge zu sozialer Erinnerung an, ein Begriff, der hier gleichbedeutend wie soziales Gedächtnis verwendet werden soll. Studien zu Erinnerung sind dabei jedoch stets als transdisziplinäre Unternehmungen (vgl. Pethes/Ruchatz 2001) zu sehen, die von unterschiedlichen Perspektiven der Gedächtnisforschung aus psychologischer (vgl. Schacter 2001, Parkin 1996), pädagogischer (Anderson 1995), neurobiologischer (Rosenfield 1988; Markowitsch 1996) oder philosophischer (Ricoeur 1998; Harth 1991) Sicht zusammengesetzt sind. Eines der zentralen Werke, auf der auch der anthropologische Zugang zu Gedächtnis und Erinnerung aufbaut, sind dabei die Analysen des Soziologen Maurice Halbwachs (1925/1985), der die Bedeutung der Vernetzung des individuellen mit dem sozialen, kollektiven Gedächtnis geprägt hat und auf dessen Theorien die weitere kultur- und sozialwis-
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senschaftliche Erinnerungsforschung aufbaut. Aleida Assmann bezieht sich auf die grundlegende Forschung von Halbwachs, wenn sie die Verbindung des individuellen zum sozialen Gedächtnis beschreibt: „Zu einem sozialen Gedächtnis kommt man unweigerlich dadurch, dass man geboren wird und in eine menschliche Gemeinschaft hineinwächst. In dem Maße, wie wir sprechen lernen, lernen wir auch die Interaktionsform bzw. den Sprechakt des ,memory talk’ oder ,conversational remembering’; es sind dies ganz wesentlich diese Bezüge und Bindungen, die, wie Maurice Halbwachs gezeigt hat, die Voraussetzung dafür sind, dass wir überhaupt ein Gedächtnis aufbauen können.“ (Assmann 2006: 206)
In der anthropologischen Forschung zu sozialer Erinnerung, an denen sich die Arbeit anlehnt, sind vor allem die Ansätze von Fentress und Wickham (1992), Antze und Lambek (1996), Climo und Catell (2002), Connerton (1989) und Fabian (2007) zu nennen. Erinnerung wird dabei nicht im individuellen psychologischen Bedeutungszusammenhang, sondern als kultureller und historischer Prozess betrachtet. Im Laufe der Erinnerungsforschung haben sich unterschiedliche Begrifflichkeiten herausgebildet, so wird zum Beispiel von kulturellem, kollektivem, historischem, kommunikativem Gedächtnis gesprochen. Allen Termini ist dabei jedoch eines gemeinsam: die Unmöglichkeit der Existenz von individueller Erinnerung. Erinnerung wird also stets in Kommunikation mit anderen gebildet und ist daher immer soziale und kollektive Erinnerung. Der methodische Zugang beruht auf der in Gewalt- und Aufarbeitungsprozessen bekannten Aufzeichnung von testimonios der Opfer. Diese testimonios stehen im Zentrum der Datensammlung und -analyse. Wichtig für das Verständnis der Methode der testimonios sind die psychosozialen und politischen Implikationen dieser Methode. Testimonio, so dieBedeutung des Wortes im Spanischen, heißt: Zeugnis ablegen von etwas. Beverley definiert testimonio folgendermaßen: „The Spanish word testimonio translates literally as ,testimonyދ, as in the act of testifying or bearing witness in a legal or religious sense. This connotation is important because it distinguishes testimonio from recorded participant narrative, as in the case of ,oral historyދ. In oral history it is the intentionality of the recorder – usually a social scientist – that is dominant, and the resulting text is in some sense ,dataދ. In testimonio, by contrast, it is the intentionality of the narrator that is paramount.“ (Beverley 2004: 32)
Die Versuche der Aufarbeitung des Schmutzigen Krieges in Mexiko, das heißt vor allem die Forderung nach Wahrheit, haben als zentralen Inhalt die von Gewalt bestimmten Inhalte der testimonios der Opfer und der Angehörigen der Verschwundenen. Testimonios können dabei zum weiter gefassten Bereich der oral history gezählt werden und sind in einem machtpolitischen Feld umkämpfter sozialer Erinne-
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rung von wesentlicher Bedeutung. Geschichtsproduktion im Sinne von Paul Thompson (1988) ist letztendlich immer von ihrem sozialen Zweck, den diese verfolgt, abhängig und daher ist oral history – hier vor allem als Gegen-Geschichte (Radstone 2000) verstanden – ein wichtiger und notwendiger Aufarbeitungsprozess historischer Praktiken von Gewalt, da oral history entgegen dem konstruierten homogenen Geschichtskonzept der Nation (Anderson 1983) die Stimmen der anderen Geschichterekonstruiert und somit eine Herausforderung für die akzeptierten Mythen der nationalen Geschichte(n) und deren autoritärer Urteile darstellt. GegenGeschichte will so aus der Sicht der Erzählenden ein Mittel zur radikalen Veränderung der sozialen Bedeutung von offizieller Geschichte bieten. Michel Foucault bezeichnete diese Gegen-Geschichten als Gegen-Erinnerung, die gegen ein Wahrheitsregime antreten (Foucault 2005/[1994]). In vielen oral history-Projekten geht es in diesem Sinne um „empowerment of individuals or social groups through the process of remembering and reinterpreting the past.“ (Perks/Thomson 1998: ix). Folgend dem Ansatz der Popular Memory Group des Centre for Contemporary Cultural Studies, die Erinnerungsforschung und oral history verbindet, müssen alle Arten, in denen ein Sinn von Vergangenheit in der Gesellschaft konstruiert wird, in der öffentlichen Geschichtsproduktion inkludiert werden. Das heißt, nicht nur öffentliche Repräsentationen der dominanten Erinnerung – die meist durch Kontrolle und der Auswahl und Umformung des Feldes von Geschichte, das am besten dem Mythos der Nation entspricht, geformt wird –, sondern auch individuelle Erinnerungen, die gleichzeitig kollektiv sind, aber meist in der Öffentlichkeit zurückgedrängt und durch Schweigen bestimmt sind. Schreiben von Geschichte soll also nicht nur schriftliche Quellen als Fragmente der angenommenen historischen Fakten zur Erklärung historischer Realitäten heranziehen, sondern Handlungsräume der Vergangenheit auch durch die Diversität individueller Erinnerungsprozesse einzelner Akteure und sozialer Gruppen in der Gegenwart rekonstruieren. Die Geschichte(n) der Verschwundenen durch die Narrative der Angehörigen im privaten und öffentlichen Raum stellen dabei Teil einer derartigen Rekonstruktion von Handlungsräumen der Vergangenheit in Mexiko dar. „The situation of narration of testimonio has to involve an urgency to communicate, a problem of repression, poverty, subalternity, imprisonment, struggle for survival, implicated in the act of narration itself.“ (Ebd.). Das Narrativ wird rund um dieses Ereignis gebildet. Orte, Personen, Gefühle, Entwicklungen, die zum Ereignis geführt hatten, Akteure und Konsequenzen des Ereignisses werden in einem unstrukturierten Erzählfluss mit Fragen gebildet. Das für diese Arbeit relevante und zentrale Ereignis bildeten stets die Umstände des Verschwindenlassens und die daraus folgenden Konsequenzen, Handlungen und Dynamiken für die zurückbleibenden Opfer (Familienangehörige). Testimonios dienen dabei jedoch nicht nur der Aufzeichnung von Geschichte, wie im Fall der oral-history-Methode, sondern haben sowohl (1) einen psychosozialen Zweck im Sinne der Verarbeitung von trau-
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matischen Ereignissen als auch (2) ein politisches Ziel, indem die ErzählerInnen von testimonios mit ihrem Bericht ein konkretes Ziel verfolgen, nämlich der zukünftigen Veränderung ihrer Situation (vgl. Beverley 2004; Robben/Sluka 2009). Dies bedeutet im Fall der testimonios über die Verschwundenen die Hoffnung auf Aufklärung, auf Entschädigungs- oder Reparationszahlungen und auf die Öffentlichmachung ihrer Version der Ereignisse. Ethnographische Forschung in Konfliktregionen Durch die meist traumatischen Erfahrungen der Betroffenen von Gewalt und einer allgemeinen Situation von Unsicherheit, Angst und Misstrauen der Bevölkerung in einer Konfliktregion, ist ethnographische Forschung in diesem Kontext oft von schwierigen Feldzugängen geprägt (vgl. Nordstrom/Robben 1996; Robben/Sluka 2009). Während des gesamten Forschungsprozesses der Sammlung von testimonios in der Sierra de Atoyac gab es Situationen, in denen Angst, Unsicherheit und starke Emotionen der InterviewpartnerInnen zum Ausdruck kamen. So etwa in der comunidad El Escorpión. Beim Aufzeichnen des testimonio von Margarito Mesino beobachteten wir, dass ein schwarzes Auto ohne Nummernschilder und mit verdunkelten Fenstern 20 Meter vor seinem Haus parkte. Niemand stieg aus dem Auto und die Insassen des Autos waren nicht zu sehen. Die Familie von Don Margarito wurde nervös und meinte, dass dies öfter vorkomme. Sie wüssten jedoch nicht, ob es Zufall sei oder systematische Beobachtung der comunidad durch jemand Unbekannten und ob es (para-)staatliche Akteure oder narcos (Drogenhändler) seien, die dieses Auto fuhren. Ein anderer Fall war Don Alfredo aus San Vicente de Benítez, der Mitglied der Partei der Armen von Lucio Cabañas war und 35 Jahre über seine Erfahrungen während des Schmutzigen Krieges geschwiegenhatte. Lange hat er überlegt, ob er nun sprechen sollte. Er wollte jedoch seine Geschichte aufzeichnen, da er zu dieser Zeit bereits schwer krank war und seine Geschichte noch vor seinem Tod aufnehmen wollte. Beim ersten Interview sprach er mit zittriger, sehr leiser Stimme, die kaum hörbar war. Der starke Regen, der auf das Wellblechdach schlug und die Löcher im Dach, durch die das Wasser in sein kleines Lehmziegelhaus tröpfelte, lies uns das Interview abbrechen und verschieben. Ein weiterer Gesprächstermin für die Videoaufzeichnung wurde vereinbart. Don Alfredo bat mich dann, seine Erzählungen erst nach seinem Tod öffentlich zu machen. Er betonte immer wieder, dass er die Konsequenzen seiner Aussagen – die Personen und Ereignisse, die er nennen würde – nicht abschätzen könne. Kommunikation über gewisse Themen ist also sowohl während aber auch lange nach dem Konflikt immer noch eingeschränkt. Bestimmte Themen werden verschwiegen, andere nicht mit allen Menschen besprochen.
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So meinte Doña Bartola aus der comunidad Rio Santiago, die über die Ereignisse des Schmutzigen Krieges in ihrer comunidad erzählte und deren Freundin verschleppt worden war, sie wolle nicht in ihrem Haus, vor ihrer Familie darüber sprechen, sondern lieber einen öffentlichen und neutralen Ort aufsuchen. Einen Ort, wo keine orejas (Ohren) seien, also Menschen, die bestimmte Informationen an staatliche Akteure weiterleiten könnten. Die Wahl fiel auf eine Sitzbank vor einem kleinen Lebensmittelgeschäft neben der Hauptstraße der comunidad, wo sie niemand ihrer Familie hören konnte: „Ich will nicht, dass sie hören, was ich darüber sage. Sie sind nicht einverstanden, dass ich mit Anderen darüber spreche.“ (Doña Bartola, Rio Santiago, 2007)32. Mit darüber meinte sie die Ereignisse aus der Zeit des Schmutzigen Krieges. Lokales Wissen über politisch brisante Themen, über bestimmte Akteure, bestimmte Ereignisse im Konflikt werden oft nicht weitergegeben und bleiben innerhalb des Kreises lokaler sozialer Netzwerke, wie bestimmten vertrauten Menschen einer comunidad. So wurde auch ich oft mit einer lokalen Kommunikationspraxis der Geheimhaltung konfrontiert. „Ich weiß, sie wollen nicht darüber reden. Aber ich frage sie und sage dir dann Bescheid.“ (Don Mario, San Vicente de Jesús, 2009)33 Don Mario, dessen Vater verschwinden gelassen wurde, erzählte von fünf weiteren Angehörigen Verschwundener seiner comunidad. Einer dieser Angehörigen war Doña Fernanda, die ihr testimonio aufzeichnen wollte. Zuvor wollte siejedoch mit ihrer Familie beraten und das Für und Wider dieser Aufzeichnung abwägen. In einer anderen comunidad, in San Martín de las Flores, erzählte Don Mariano in informellen Gesprächen über längere Zeiträume vieles über die Zeit im Schmutzigen Krieg und seine beiden verschwundenen Brüder, er wollte jedoch aus Angst vor Repression nie eine digitale Aufzeichnung seiner Geschichte machen lassen. Diese selektive Auswahl an Fällen soll zeigen, dass die erwähnte empirische Forschung im Zusammenhang mit Gewalt und Konflikten einen anderen Kontext darstellt als jene, wo diese für die Erfahrungen der GesprächspartnerInnen nicht konstituierend sind. Forschung in Konfliktregionen unterscheidet sich von Forschung in Nicht-Konfliktgebieten. Denn Konflikt, Krieg und Gewalt erzeugen Angst, die auch eine Kultur des Schweigens und der Geheimhaltung zur Folge hat (vgl. Feldman 1991). Geheimhaltung, welche für die Menschen in Konfliktregionen die Grenze zwischen Leben und Tod bestimmen kann, stellt für den Forschungsprozess ein Element der Unsicherheit über Wahrheit und Unwahrheit der Informationen dar. Angst als eine Form des Lebens (Green 1994) und eine Kultur des Terrors
32 „No quiero que oigan lo que digo sobre eso. No están de acuerdo que yo hable con otros sobre eso.“ (Doña Bartola, Rio Santiago, 2007) 33 „Yo sé que no quieren hablar de eso. Pero les voy a preguntar y te aviso después.“ (Don Mario, San Vicente de Jesús, 2009)
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(Taussig 1984) bilden einen Teil der soziokulturellen Realität in von Gewalt, Krieg und Konflikten charkterisierten Regionen. Gerüchte und Misstrauen kennzeichnen das Feld: Angst vor Repression, Angst vor unidentifizierbaren Ereignissen, Angst vor Konsequenzen des Sprechens über gewisse Ereignisse, Phänomene, Vorstellungen, Interpretationen. Diese Faktoren beeinflussen die ethnographische Forschung und den Zugang zum Feld und den Menschen. Kommunikation wird durch Gewalt und Konflikt transformiert und der Werkzeugkasten der Kommunikation (Löfving 2005) verändert sich: „Lying, misinformation and direct silence adhere to the communication tool kit of people in politically unstable circumstances. This is partly the reason why ,the truthұ is so contested in war and why the successful interpretation of storytelling requires a sensitive ethnographic approach.“ (Löfving 2005: 89) Staffan Löfving hat drei Faktoren ausgewiesen, die ethnographische Forschung beeinflussen: „[T]he role of rumours when facts are difficult to come by, and the second the role and identity of the listener. The third has to do with lying, conceptualized here as a silence in the context of distrust.“ (Ebd.) Auch Schweigen spielt somit in diesen Forschungskontexten eine bedeutende Rolle, wie Castillejo Cuéllar feststellt: „I respected their silence and soon I understood that it was this silence, and the forms it takes, what constitutes the texture of memory [...].“ (Castillejo Cuéllar 2005: 162) Was Castillejo Cuéllar über die ethnographische Forschung mit Überlebenden von Gewalt in Südafrika beschreibt, das Schweigen über bestimmte Ereignisse der Vergangenheit, konnte auch ich bei der Feldforschung in Mexiko, vor allem in den comunidades der Sierra de Atoyac in Guerrero wahrnehmen. Schweigen und dennoch Erinnern durch dieses Schweigen ist bei vielen Angehörigen Teil des internalisierten Terrors, der internalisierten Gewalt geworden. Viele Stimmen und Perspektiven, die im mexikanischen Aufarbeitungsprozess gehört werden sollten, sind deswegen hier nicht aufgezeichnet, das schweigende Erinnern wurde respektiert und muss als wesentlicher Teil der Dynamiken von Konflikt und Gewalt festgehalten werden.Im Kontext der kontinuierlichen politischen Gewalt in der Region werden daher auch bei Zitaten nur jene InterviewpartnerInnen mit vollständigem Namen angeführt, die auch die Zustimmung dazu gegeben haben. Alle anderen werden, ihren Wunsch nach Anonymität respektierend, mit der Bezeichnung Don oder Doña gefolgt von einem geänderten Vornamen aufgeführt. Persönliche Inklusionen/Exklusionen im Forschungsfeld Der Zugang zum Feld der Angehörigen der Verschwundenen in der Sierrade Atoyac erfolgte in einem fortlaufenden Prozess der Bekanntschaften von einigen Angehörigen in einer comunidad zu anderen Angehörigen anderer comunidades. Dieser Vermittlungsprozess war zentral im Forschungsverlauf, da es ansonsten sehr schwierig ist, Wissen über und Zugang zu den wenig vernetzten und marginalisier-
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ten Angehörigen der Sierra zu bekommen. Ich wurde also von den Angehörigen selbst mit anderen Angehörigen ihrer Wahl bekannt gemacht. Schnell kristallisierte sich heraus, dass meine ersten GesprächspartnerInnen alle derselben lokalen Angehörigenorganisation angehörten, nämlich jener Gruppe, die auf einer nationalen Ebene – wie sich zu einem späteren Zeitpunkt der Forschung herausstellte – zu der im öffentlichen Diskurs am wenigsten „sichtbaren“ Angehörigenorganisation Mexikos zählt. Die Inklusion in die Erfahrungen, Handlungen und Geschichten dieser Angehörigen führte jedoch gleichzeitig zur Exklusion aus anderen Feldern. Dieser Prozess der Inklusion/Exklusion ist aus den Konflikten zwischen den Angehörigenorganisationen, auf die in Kapitel 6 näher eingegangen werden soll, zu erklären. Mir wurden diese Konflikte in Gesprächs- und Interviewsituationen offen vermittelt. Oft wurde negativ über die anderen Angehörigenorganisationen berichtet und mir vom falschen Handeln dieser berichtet, die von Bereicherungsvermutungen bis hin zur Komplizenschaft mit der Regierung reichten. Mir wurde auch gleichzeitig angedeutet, dass eine Annäherung an ihre Geschichten – die auch gleichbedeutend mit einer unausgesprochenen Solidarisierung mit ihren Anliegen ist – eine Annäherung zu den Anderen ausschließt. Dies war auch mit der Angst begründet, dass ich nun mit Informationen über sie ausgestattet zu den anderen Angehörigen gehen und ihnen diese Informationen weitergeben könnte. Die Leiterin der Angehörigenorganisation der Comisión para el Esclarecimiento de los años 70 a 74, Eleazar Peralta Santiago, hat dies in einer ersten Begegnung deutlich gemacht. Im Jahr 2007 bei einer Versammlung, zu der ich von einigen Angehörigen eingeladen wurde, kam sie zu Beginn auf mich zu und fragte etwas misstrauisch: „Du bist doch eine von Tita, oder?“34 Sie bezog sich auf Tita Radilla, die Vorsitzende von AFADEM, die oftmals in Begleitung von gueros, also Weißen der NGO Peace Brigades International war. Ein Jahr später machte Peralta Santiago in einem Gespräch nochmals deutlich: „Ich möchte eines klarstellen. Wenn ich dir etwas sage, will ich nicht, dass du das den anderen sagst. Du weißt ja, wie sie sind, alles verwenden sie gegen mich.“ (Eleazar Peralta Santiago, 2008)35 Eine andere Situation mit einer Angehörigen zeigte dies nochmals. Sie erzählte von zwei Angehörigen in ihrer comunidad und auf die Frage hin, ob ich auch mit diesen sprechen könnte, meinte sie: „Nein, ich glaube nicht, dass sie mit dir sprechen wollen, weil sie mit Tita (organisiert) sind.“ (Doña Elvira, Los Llanos de Santiago, 2008)36 Sie implizierte dabei bereits das Wissen in der comunidad, dass ich mit den Anderen identifiziert werde. Sie
34 „Andas tu con Tita, verdad?“ (Eleazar Peralta Santiago, Atoyac, 2007) 35 „Quiero dejarlo algo claro, si yo te digo algo, no quiero que se lo digas a los demás. Tu sabes como son, todo lo usan contra mí.“ (Eleazar Peralta Santiago, Atoyac, 2008) 36 „No, no creo que quieran hablar contigo, porque están con Tita.“ (Doña Elvira, Los Llanos de Santiago, 2008)
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meinte, sie könnte sie trotzdem fragen und würde mir dann die Reaktion mitteilen. Eine Aussage, der – wie so oft in ähnlichen Situationen – keine weitere Information über die tatsächliche Befragung und Reaktion folgte. Die mit spezifischen Codes markierte Kultur des Schweigens der Menschen der Sierra sollte in diesem Kontext des Konfliktes auch respektiert werden. Ich habe es also in der Sierra zunächst unterlassen, mich den anderen Angehörigen zu nähern. Zumal in einem Feld wie den comunidades der Sierra, in der faceto-face und orale Wissens-und Informationsvermittlung ein wichtiges Kommunikationsmedium sind, meine Annäherung an die anderen Angehörigen schnell zu den Augen und Ohren meiner Vertrauenspersonen gelangt wäre und mir dies in weiterer Folge den Zugang zu ihnen erschwert hätte. Ein ähnliches Problem aus der umgekehrten Perspektive schilderte die mexikanische Soziologin Claudia Rangel, die mit AFADEM, also den anderen Angehörigen in Atoyac arbeitet und wiederum den Diskurs dieser über die Comisión de Esclarecimiento kennt. Sie meinte, auf die Gefahren hinweisend: „Dort musst du dich mit Bleifüßen bewegen, es ist nicht möglich, mit beiden zu sein.“ (Rangel, Mexiko-Stadt, 2009)37 Ich hatte dann jedoch ab dem Jahr 2009 durch die Vermittlung von José Luis Arroyo Castro aus Atoyac, Sohn eines Folteropfers, Neffe eines Verschwundenen und Verwandter von Lucio Cabañas vom Consejo Civico Comunitario Lucio Cabañas Barrientos, der auch selbst in AFADEM organisiert war, die Möglichkeit mit AFADEM-Angehörigen zu sprechen. José Luis Arroyo Castro wurde in weiterer Folge zu einem wichtigen Forschungspartner in der Region, hatte doch auch er großes Interesse, testimonios anderer Angehöriger von Verschwundenen aufzuzeichnen mit dem Ziel des Aufbaus eines Archivs und Erinnerungsmuseums in Atoyac (vgl. S. 377; vgl. Abb. 15, 16). Es soll an dieser Stelle betont werden, dass eine Forschung in einer Konfliktregion immer mit Exklusionen und Inklusionen, mit Gerüchten, Schweigen und Misstrauen konfrontiert ist, deshalb viele Stimmen und Perspektiven nicht einbezogen werden können. Eine Ethnographie politischer Gewalt kann also trotz eines erkenntnisgeleiteten Anspruchs auf Vielstimmigkeit und Multiperspektivität schlussendlich nur einen Ausschnitt eines komplexen und von Macht geprägten Feldes zeigen.
37 „Ahí, tienes que andar con pies de plomo, no es posible estar con los dos.“(Rangel, Mexiko-Stadt, 2009)
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V ERSCHWINDENLASSEN : Z IRKULATION EINER G EWALTPRAXIS ÜBER R AUM UND Z EIT „Such disappearances blur the boundaries between life and death, feeding the uncanny: are all the vanished dead or are they alive? What goes on behind closed doors at night in government houses?“ (Suárez-Orozco 1990: 365)
Das Verschwindenlassen von Menschen ist kein regional isoliertes Phänomen staatsterroristischer Praxis in Lateinamerika. Es ist vielmehr eine militärische Praxis, die durch bestimmte Akteure eine zeitliche und räumliche Ausbreitung über mehrere Jahrzehnte und Kontinente hinweg erfuhr. Es ist nicht klar festzulegen, wo und wann diese Methode zuerst in systematischer Form zur Eliminierung politischer GegnerInnen angewandt wurde. Bekannt ist, dass das totalitäre Regime Stalins tausende RegimegegnerInnen in Lagern verschwinden ließ, dass General Franco im Spanischen Bürgerkrieg und der darauf folgenden Diktatur anordnete, zehntausende RepublikanerInnen zu erschießen und geheim in Massengräbern zu verscharren (vgl. Ferrándiz 2009; Capdepón 2012). Gemeinhin wird jedoch als Beginn einer systematischen Durchführung dieser Praxis der nationalsozialistische Terror während des Zweiten Weltkrieges angeführt (vgl. Schindel 2005; Oettler 2004; Robben 2005; Elsemann 2010). Es war vor allem in den westlichen Besatzungszonen, als das erste Mal diese Methode zur Anwendung kam, um widerständige Gruppen zu schwächen: „[Eine] vielgestaltige, Millonen von Menschen umfassende Widerstandsbewegung [stand] auf den Beinen [...], welche die Besatzungstruppen in Griechenland, Jugoslawien, Norwegen, Dänemark, Holland, Belgien und Frankreich in einen irregulären Krieg an endloser, doch schwer sichtbarer Front verwickelten. Seit Napoleon war kein Okkupant mehr einer so engmaschigen, zähen, feindseligen Guerilla begegnet.“ (Friedrich 1995: 336)
Die deutschen Besatzungsmächte standen einem Feind gegenüber, der jenseits der Haager Landkriegsordnung, die die legale Kriegsführung reglementierte, agierte. Die engmaschige, zähe und feindselige Widerstandsbewegung sollte zerschlagen werden. Die deutsche Kriegsstrafverfahrensordnung von 1938 sah in diesen Fällen jedoch vor, dass Ausländer und Freischärler, „die sich strafbarer Handlungen gegen die deutschen Truppen schuldig gemacht haben, nicht ohne gerichtliches Verfahren bestraft werden dürfen“ (Paragraph I, 4 zit. in Friedrich 1995: 337). Jedoch führten Verurteilungen vor Militärgerichten und Erschießungen nicht zur Schwächung der Widerstandsgruppen. Hitler implementierte eine neue Methode, die ef-
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fektiv den Widerstand gegen die Besatzer auflösen sollte und im Nacht und Nebel38 Dekret ihren rechtlichen Widerhall fand. „Wie gewöhnlich wickelte die deutsche Behörde die Rechtslosigkeit auf dem Rechtsweg ab.“ (Ebd: 342) Lehmann fasste den Führerwillen in Richtlinien und Durchführungsverordnungen und Wilhelm Keitel erließ das Dekret. Der Präzedenzfall war eine Frau in Frankreich, die Teil der Widerstandsbewegung war. Hitler behielt sich in manchen Fällen das Recht vor, persönlich ein Urteil zu sprechen und so kam es, dass bei diesem Fall das erste Mal das Verschwindenlassen, die Vernebelung angewandt wurde. Die Frau, so der Befehl Hitlers, sollte geheim nach Deutschland transportiert werden, es sollten keine Informationen an Angehörige gegeben werden. Der Fall sollte im Geheimen abgehandelt werden denn: „Das Leben Zehntausender Verschleppter mit ungewissem Verbleib im Reich ängstigt ein Kulturvolk mehr aus Zehntausende von Todesurteilen.“ (Ebd.: 339) Folgend dieser Logik hieß es dann im Nacht-und-Nebel-Dekret: „Die abschreckende Wirkung dieser Massnahmen liegt a) darin, dass über ihren Verbleib und ihr Schicksal keinerlei Auskunft gegeben werden darf.“ (OKW 570/1.42)39 Bekannt wurde das Nacht-und-Nebel-Dekret und somit auch das Verschwindenlassen von Personen als militärische Strategie durch die Nürnberger Prozesse (Gellately 2007, Gruchmann 1981). Zur Zeit des Kalten Krieges bildeten dann die kolonialen Kriege des französischen Militärs in Indochina und Algerien die Grundlage neuer Kriegsführungsmethoden. Hier wurden vor allem die Analysen und Anweisungen des französischen Offiziers Roger Trinquier und sein Handbuch zur modernen Kriegsführung(Trinquier 1964) in der Bekämpfung interner Feinde bei der Ausbildung des Militärs angewandt. Zentrale Strategien der Aufstandsbekämpfung wie der Einsatz von Todesschwadronen, Folter (vgl. Einolf 2007), extralegale Hinrichtungen oder Verschwindenlassen wurden in der Folge durch Kooperationen mit der Französischen Schule40 auch von US-amerikanischen und lateinamerikanischen
38 „Nacht und Nebel“ ging vermutlich auf Hitlers Liebe zu den Opern von Wagner zurück. In einem Ausschnitt der Wagner-Oper des Nibelungenringes lässt sich der Zwerg Alberich von seinem Bruder, der Schmied ist, einen Tarnhelm erstellen. Damit macht sich Alberich unsichtbar und sagt: ,Nacht und Nebel – niemand gleich!‘ Der Bruder erwidert: ,Wo bist du? Ich sehe dich nicht.‘ Diese Szene aus der Wagner-Oper ,Das Rheingold‘ diente vermutlich Adolf Hitler als Vorlage für den folgenreichen Nacht-und-Nebel-Erlass (auch Keitel-Erlass genannt) (vgl. Konieczny 1993). 39 OKW Oberkommando der Wehrmacht (1942): Dokument 570/1.42g/Nacht und Nebel Erlass. In: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof. Nürnberg 1945/1946, Band XXXVII, S. 575. 40 Siehe auch den Dokumentarfilm von Marie-Monique Robin: Les escadrons de la mort: L'école française. Frankreich. 2003.
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Militärs übernommen und kamen in Vietnam41 und in den Militärdiktaturen Lateinamerikas zum Einsatz (vgl. Elsemann 2010). In Mexiko fanden zudem einige Nationalsozialisten nach dem Zweiten Weltkrieg „Unterschlupf“, die auch mit der mexikanischen Regierung kooperierten und ihr Wissen in staatsterroristischer Praxis zum Einsatz brachten (vgl. Cedillo 2010). Die Legitimationsgrundlage für den Einsatz des Verschwindenlassens als Methode war dabei stets die Doktrin der Nationalen Sicherheit, die durch Methoden der Aufstandsbekämpfung verteidigt werden musste. Diese geht von der Idee eines internen Feindes aus und stellt KombattantInnen und Nicht-KombattantInnen entgegen des Kriegsrechts außerhalb eines gesetzlichen Rahmes: „Konzipiert und eingesetzt vor allem vom französischen Militär in Asien und Afrika, legt die Doktrin der Aufstandsbekämpfung fest, den Gefangenen ausserhalb des gesetzlichen Rahmens zu stellen.“42 (Lázara zit. in: Schindel 2005: 5) Ein weiterer Aspekt für die Anwendung dieser Praxis lag auch in der Angst der Militärs vor den Aufständischen. Antonius Robben erfährt von einem argentinischen Admiral auf die Frage, warum Subversive nicht öffentlich hingerichtet wurden, Folgendes: „If one would have done what you are asking, the reason why, then there would have been immediate revenge, not only on the executioner or those who presided the trial but also on their families. That is to say, the terror had also infused terror among the Armed Forces, and they responded with terror. This is the tremendous problem, the tremendous tragedy of this war.“ (Rear Admiral Eduardo Davion zit. in: Robben 2005: 278)
Die Methode des erzwungenen Verschwindenlassens durch staatliche Akteure dient mehreren Zwecken und hat verschiedene Dimensionen. Robben (2005) macht eine analytische Unterscheidung und führt neun Gründe für den Einsatz dieser Praxis unter: (1) operational, (2) rechtlich, (3) politisch, (4) symbolisch, (5) ökonomisch, (6) historisch, (7) pädagogisch, (8) psychologisch sowie (9) sozial. Der erste operationale Grund liegt darin, dass das Verschwindenlassen als militärische Strategie
41 US-amerikanische SozialpsychologInnen und KulturanthropologInnen, die sich mit der Praxis des Verschwindenlassens der US-amerikanischen Streitkräfte im Vietnamkrieg beschäftigten fanden heraus, dass ein zentraler Aspekt der Unterminierung der militärischen Moral der Gegner war, dass sie ihre traditionellen Trauerzeremonien nicht durchführen konnten. Dadurch wurde die sensible symbolische Beziehung zwischen Lebenden und Sterbenden durchbrochen und zentrale rituelle und kulturelle Ordnungen zerstört. Diese Taktik wurde daher auch almas errabundas genannt (Maier 2001: 161). 42 „Concebida y empleada en primer lugar por los militares franceses en Asia y África, la doctrina de la contrainsurgencia supone apartar al prisionero del marco legal.“ (Lázara zit. in: Schindel 2005: 5).
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gegen die subversiven bewaffneten Gruppen eine höhere Effizienz hat als Tötung oder Inhaftierung. lässt man Guerilleros verschwinden, führt dies zu einer Konfusion unter den anderen Einheiten der Guerilla, da sie nicht wissen können, ob er/sie festgenommen wurde, tot ist, verhört wurde oder Militär oder Polizei Namen und Aktionen der Guerilla mitgeteilt hat etc. Dies führt zu einer Schwächung der restlichen Gruppe. Von einem rechtlichen Standpunkt gibt es bei einem Verschwindenlassen keine Beweise. Spuren können nicht verfolgt, die EntführerInnen in den meisten Fällen nicht erkannt werden und die Autoritäten auf allen Ebenen negieren die Existenz der gesuchten Person. Die politische Dimension beinhaltet eine Verhinderung von nationalem und internationalem Protest. Das Verbrechen kann nicht bewiesen werden, die Regierung negiert jegliche Schuld bzw. Information und Proteste haben daher keine politische Legitimation. Auf einer symbolischen Ebene verhindert das Verschwindenlassen der Körper das Auftreten von MärtyrInnen, da keine Grab- oder Pilgerstätten für die AnhängerInnen gemacht werden können. Auf wirtschaftlicher Ebene ist diese Praxis im Gegensatz zu offener Repression ebenfalls von strategischem Vorteil, denn ohne internationale Kenntnis gibt es auch keinen Protest und kein Risiko für ausländische Investoren und Kredite. Der historische Aspekt beinhaltet die Bewahrung des Ansehens des Militärs als Institution und den wichtigen Einfluss, den dieses auf Politik und Gesellschaft vor allem in Lateinamerika hat. Der pädagogische Aspekt gilt der Erziehung aus der Perspektive des Militärs. Sie wollten mit dem Verschwindenlassen von jungen Menschen zeigen, dass die Eltern der Verschwundenen ihren Kindern keine angemessene Erziehung gegeben haben, da es ihnen sowohl an patriotischen und christlichen Werten als auch am Respekt vor Autorität mangelte. Diese Eltern hätten kein Recht, ihre Toten zu begraben. Die psychologische Ebene umfasst die Ebene der Erfolgssicherung für das Militär. Die Eliminierung der Körper gibt das Gefühl der Macht über einen Feind, der als unsichtbar, schwer greifbar und indoktriniert durch ausländische Mächte charakterisiert wurde. Die Körper der Verschwunden wurden zur Achillesferse und ihr Schicksal markierte den Übergang von Krieg zu Sieg. Auf einer sozialen Ebene hatte die Methode des Verschwindenlassens das Ziel, sowohl die Verschwundenen selbst als auch die Angehörigen und die gesamte Gesellschaft zu traumatisieren. Diese Traumatisierung zeigt sich auf einer gesellschaftlichen Ebene als eine Kultur der Angst durch die Ausübung von Terror. Die Terrorisierung der Menschen in totalitären Regimen erzeugt dabei Hannah Arendt (1993/[1951]), 1970) zufolge Einsamkeit. Mit Einsamkeit in Arendts Sinne ist die staatlich erzeugte Isolation unter Menschen gemeint, denn Terror erzeugt Angst, und Angst erzeugt Misstrauen gegenüber anderen. Menschen ohne soziale Kontakte sind machtlos, denn Einsamkeit kommt einem Verlassenwerden gleich, wie Robben (2005) es formulierte.
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Auch in Mexiko war Einsamkeit der Angehörigen Folge von staatlichem Terror, denn Menschen distanzieren sich aus Angst vor Repression meist von Opfern politischer Gewalt. Hatte also eine Familie einen Verschwundenen zu beklagen, so war dies auch ein Zeichen dafür, dass diese im Visier staatlicher Beobachtung stand und sich andere von diesen fernhielten. So blieb den Angehörigen meist nur die Vernetzung untereinander. „Now the searching relatives had only each other to construct a sense of community, and they did so with remarkable strength. They overcame their initial posttraumatic paralysis and began searching actively for the disappeared (…).“ (Robben 2005: 281) Die Bildung solcher Netzwerke der Angehörigen wird in Kapitel 3 dargestellt. Zuvor jedoch werden im Folgenden die Konflikte der Vergangenheit, die in den einleitenden Fragmenten von Doña Andrea und Luis Echeverría angesprochen wurden, dargestellt. Die Entwicklungen hin zum Schmutzigen Krieg sind dabei ebenso wichtig wie die Ereignisse während desselben, da sie Kontinuitäten von Gewalt in Mexiko zeigen. Es werden dabei zunächst jene nationalen Ereignisse skizziert, die auch für den lokalen Kontext des Schmutzigen Krieges in Guerrero wichtig sind. Aufbau der Arbeit Der Aufbau der Arbeit folgt dem Konfliktverlauf des Schmutzigen Krieges und dessen Aufarbeitungsphasen. Es werden dabei in einem chronologischen Ablauf jeweils zwei Dimensionen abwechselnd dargestellt: zum einen die staatliche Praxis der Dehumanisierung und zum anderen die soziale, politische Praxis der Angehörigen der Verschwundenen, die hier als Prozess der Rehumanisierung definiert wird. In einem ersten Schritt werden die Ereignisse politischer Gewalt in Mexiko und die staatsterroristische Praxis unter dem Konzept der Dehumanisierung zusammengefasst. In einem zweiten Schritt werden dann Prozesse der Rehumanisierung in der (Post-)Konfliktphase beschrieben. Diese Rehumanisierungsprozesse umfassen all jene Strategien und Elemente, die Angehörige von Verschwundenen einsetzen, um den zuvor beschriebenen Dehumanisierungmethoden durch die Täter zu entgegnen. Es wird dabei deutlich, wie sich Erfahrungen von Gewalt und Traumatisierungsprozesse bei vielen Angehörigen zu politischem Handeln transformiert haben. Ich zeige, dass sich bei vielen Angehörigen aus den Verweigerungen sozio-kultureller Rituale Transformationsprozesse entwickelten, aus denen sich (transnationale) soziale Erinnerungsgruppen gebildet haben. In einem dritten Schritt werden dann die staatlichen Aufarbeitungsprozesse und die in Mexiko eingesetzten Transitional-JusticeMechanismen beleuchtet. Entgegen den Erwartungen und Hoffnungen haben diese Mechanismen zu keiner Aufklärung der Verbrechen und daher zu keiner Rehumanisierung der Verschwundenen geführt. Ich beschreibe daher diese Prozesse als ReDehumanisierung, eine weitere Form der Dehumanisierung. Es sind dies jene Prozesse staatlicher Praxis, die die zuvor beschriebenen Auswirkungen politischer Ge-
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walt aufrechterhalten. Das heißt die Nicht-Anerkennung der Forderungen der Opfer, die fehlende Aufklärung der Verbrechen der Vergangenheit und so die Unmöglichkeit der Rehumanisierung der Verschwundenen. In einem vierten Schritt der Rehumanisierung werden weitere Reaktionen und Praktiken der Angehörigen beschrieben. In einem fünften und letzten Schritt wird auf aktuelle Dehumanisierungsprozesse in Mexiko im Zusammenhang mit den Verschwundenen im Kontext des Drogenkrieges eingegangen.
I. DEHUMANISIERUNG
„Since 1945, state-sponsored violence toward ethnic and political groups has caused more deaths, injuries, and general human suffering than ,all other forms of deadly conflict, including international wars and colonial and civil wars‘.“ (Nagengast 1994: 126)
1. Schmutziger Krieg in Mexiko (1968 – 1982): Der Staat ist die Revolution! „Ich habe gespürt, was es heißt, jemandem das Leben zu nehmen, und ich bin stolz sagen zu können, dass meine Hände nicht gezittert haben. Es flößt mir auch keine Angst ein, Folter einzusetzen, da ich weiß, dass die Ziele, die ich verfolge, höhere sind: die Fortdauer des Systems, in dem wir jegliches denkbare Gemeinwohl erreichen können.“1 (General Acosta Chaparro aus einem Interview mit González Ruíz zit. in: Solís Téllez 2010)
Gewalt, die von staatlichen Akteuren gegen die eigene Bevölkerung gerichtet ist, ist ein weltweit verbreitetes Phänomen. Diese Form der Gewalt geht meist einher mit Prozessen der Dehumanisierung. Kann nun das Konzept der Dehumanisierung auch auf vergangene und aktuelle Konflikte in Mexiko angewandt werden? Was ist damit gemeint und wie sehen die konkreten Phänomene aus, die mit Dehumanisierung in Mexiko umschrieben werden können? Die Beschreibung dieser Phänomene wird Teil des ersten Abschnittes sein, in dem die Entwicklungen des Schmutzigen Krieges betrachtet werden. Mit Dehumanisierung werden sozialpsychologischen und anthropologischen Ansätzen folgend allgemein all jene Praktiken und Diskurse definiert, die das Absprechen von Menschlichkeit anderer Personen zum Ziel haben. Es sind dies Prozesse von Strategien und Methoden der Entmenschlichung und
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„He experimentado lo que significa quitar la vida a alguién, y tengo el orgullo de decir que mis manos no temblaron. Tampoco me arredra aplicar tormento, porque sé que los fines que busco son superiores: la permanencia del sistema, donde podemos alcanzar todos los bienes posibles.“ (General Acosta Chaparro aus einem Interview mit González Ruíz zit. in Solís Téllez 2010)
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Entwürdigung von als FeindInnen konstruierten Individuen durch die Ausübung physischer, psychischer, symbolischer oder/und struktureller Gewalt (vgl. Hinton 2002; Esmeir 2006; Maoz/McCauley 2008; Heitmeyer/Hagan 2002; Lang 2010; Tileagã 2007; Haslam 2006). Prozesse von Dehumanisierung werden für den spezifischen Fall des erzwungenen Verschwindenlassens in dieser Arbeit auf Formen politisch motivierter Gewalt und staatsterroristische Praxis angewandt. Mit Dehumanisierung werden hier all jene Praktiken und Diskurse staatlicher und parastaatlicher Akteure umschrieben, die durch Strategien des Othering Marginalisierung, Desozialisierung, Entwürdigung und Eliminierung interner FeindInnen zum Ziel haben und diese Prozesse auch nach Beendigung des Konfliktes fortdauern lassen. In den Ereignissen vor, während und nach dem Schmutzigen Krieg werden diese Aspekte der Dehumanisierung deutlich, wie im Folgenden zu sehen sein wird. Als ich im Dezember 2010 Andrea Baltazar Vázquez in der comunidad Rincón de las Parotas in den Bergen Atoyacs im südlichen Bundesstaat Guerrero gegenübersitze, wird mir das, was die Anthropologinnen Veena Das und Deborah Poole mit staatlicher Biopolitik beschreiben, deutlich: „After all, sovereign power exercised by the state is not only about territories; it is also about bodies. In fact, one may contend that the production of a biopolitical body is the originary activity of sovereign power. Many anthropologists have used the notion of biopower to track the way power spreads its tentacles into thecapillary branches of the social.“ (Das/Poole 2004: 10)
Politische Kontrolle über Körper ist Ausdruck staatlicher Macht, und staatliche Macht wird nicht nur über Territorien, sondern auch über Menschen und Körper ausgeübt. Dabei wirkt staatliche Macht bis in die letzten Verzweigungen der entlegensten Punkte eines Territoriums und deren sozialer Lebenswelten. Diese Praxis wird mir deutlich vor Augen geführt, als Doña Andrea zu erzählen beginnt. Sie ist 78 Jahre alt. Ihr Mann wurde 1974 von Soldaten verschleppt und seither hat sie nichts mehr über sein weiteres Schicksal erfahren. Sie weiß nicht, wo sie ihn hingebracht haben, ob er tot ist oder vielleicht doch noch lebt, irgendwo? Gemeinsam mit José Luis Arroyo Castro, dem Sohn eines Folteropfers und Neffen eines Verschwundenen möchte ich ihre Geschichte hören. Wir haben sie aufgesucht, da sie eine der ersten Frauen war, die in den 1970er Jahren gemeinsam mit anderen aus ihrem kleinen entlegenen Dorf in die Hauptstadt gezogen ist, um gegen das staatliche Unrecht zu protestieren. Sie ist jedoch wütend und will nicht mehr darüber sprechen. Einige waren es schon, die in den letzten Jahren in ihr Haus gekommen seien, sie nach den Ereignissen der Vergangenheit gefragt und sich ihre Geschichte mitgenommen haben. Immer wieder hat sie die Geschichte erzählt, von der Militarisierung ihres kleinen Dorfes, ihrem Leiden und der
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Angst, den finanziellen Schwierigkeiten die Kinder alleine aufziehen zu müssen und gleichzeitig ihren Mann zu suchen, und wie sie sich mit anderen Frauen organisiert hat, um zu protestieren. Und es war bisher vergeblich. All die Geschichten, all die Informationen, die sie der Regierung über ihren Mann gegeben hat Ȃund nie bekam sie eine Antwort. Sie ist müde und sie will nicht mehr sprechen: „Ich bin alt und arm und ich will nicht mehr darüber sprechen, obwohl ich viel weiß und noch viel zu erzählen hätte!“2, sagt sie bestimmt. Ihre Aussage und ihr darauffolgendes Schweigen klingen wie ein stiller, doch wütender Akt des Widerstands nach all den Jahren des Betrugs. Sie fühlt sich betrogen von den Regierungen, vom für sie undefinierbar abstrakten Agieren des Staates, der zwar weit weg scheint, jedoch bis in ihre lokale Lebenswelt eindringt. So wie Andrea Baltazar Vázquez treffe ich viele Angehörigen von Verschwunden in den marginalisierten comunidades der Sierra de Atoyac, die am stärksten betroffene Region der politischen Gewalt der 1970er Jahre. Nach über 30 Jahren der Ungewissheit, des politischen Aktivismus um ihre Verschwundenen sind viele heute resigniert, gebrochen, fühlen sich betrogen von RegierungsfunktionärInnen und staatlichen Menschenrechtsorganisationen, die gekommen sind, um ihnen Hoffnung zu geben und doch wieder gegangen sind, um sie, marginalisiert und in Armut lebend, mit ihrem Leid alleine zu lassen. Auf die wiederholt gestellten Fragen nach dem Schicksal ihrer Männer, Söhne, Töchter oder Väter haben sie bisher keine Antworten bekommen. Eine Erklärung, warum es auch nach so langer Zeit keine Antworten gibt, haben sie nicht: „Ich verstehe nicht, warum die Regierung uns nichts sagen will. Sie wissen doch alles, sie haben doch alle Aufzeichnungen in ihren Archiven. Ich kann es nicht verstehen! Warum sagen sie nichts? Was ist das Problem?“3, fragtAndrea Baltazar Vázquez. Ihre wiederholt gestellten und nie beantworteten Fragen stehen im Zentrum des gesamten Aufarbeitungsprozesses der Verschwundenen und beschäftigen mexikanische Angehörige, Menschenrechtsorganisationen, JournalistInnen und ForscherInnen. Antworten kann auch die vorliegende Arbeit nicht liefern. Vielmehr werden Prozesse nachgezeichnet, die zur Entstehung des Gewaltphänomens des Verschwindenlassens und den daraus resultierenden sozialen und politischen Konsequenzen für den spezifisch mexikanischen Fall geführt haben. Die Phänomene sind eingebettet in den Kontext der Ausübung staatlicher Macht über Individuen und soziale Gruppen. Die Mechanismen staatlicher Macht, wie gezeigt werden wird,
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„Soy vieja y pobre y ya no quiero hablar de eso, aunque sé mucho ¡y podría contarles un montón!“ (Andrea Baltazar Vázquez, Rincón de las Parotas, 2010).
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„No entiendo porque el gobierno no quiere decirnos nada. Si ellos saben todo, tienen todos los documentos en sus archivos. ¡No lo puedo entender! ¿Por qué no dicen nada? ¿Cuál es el problema?“ (Andrea Baltazar Vázquez, Rincón de las Parotas, 2010).
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kommen dann zum Einsatz, wenn die Handlungen bestimmter Gruppen der Idee einer spezifischen Staatsräson – in diesem Fall der mexikanischen Staatsidee – zuwiderlaufen. Oder um es mit Foucault auszudrücken: „Jahrhundertelang war der Staat eine der bemerkenswertesten und auch eine der fürchterlichsten, menschlichen Regierungsformen. (…) Dem Staat das Individuum und seine Interessen entgegenzusetzen, ist genauso gefährlich, wie ihm die Gemeinschaft und ihre Ansprüche entgegenzusetzen.“ (Foucault 2005/[1994]: 219) Der Schmutzige Krieg in Mexiko ist ein hinsichtlich des Gründungsmythos des staatlichen Systems Mexikos widersprüchlicher Prozess. Dieser Widerspruch hängt mit der Diskrepanz staatlicher Diskurse über tote Helden und der staatlichen Praxis gegenüber deren lebenden NachfolgerInnen zusammen. Emiliano Zapata, der Held der Mexikanischen Revolution (1910 – 1917), der für Land und Freiheit (tierra y libertad) der verarmten Kleinbauern kämpfte, ist Teil des Gründungsmythos des mexikanischen Staates. Er wird vom mexikanischen Militär bis in die Gegenwart als Vorbild gefeiert, die staatlichen Schulbücher berichten über seinen sozialen Kampf, sein Abbild war bei den offiziellen Feiern zum 100. Jahrestag des Beginns der Mexikanischen Revolution während des Jahres 2010 omnipräsent, seine Bronzestatuen zieren öffentliche Plätze und im Museum der Mexikanischen Revolution in Mexiko-Stadt werden alle Facetten seines Lebens und Wirkens dargestellt. Der Tote, ermordet von seinen politischen Gegnern im Jahr 1919, wird als Mythos am Leben erhalten. Seine NachfolgerInnen, die den sozialen Kampf für Land und Freiheit weiterführten, wurden verfolgt und ermordet. Die mexikanische Schriftstellerin Elena Poniatowska beschreibt dies in bildlicher Sprache: „Obwohl der Emiliano Zapata von 1910 Bronzestatuen zu seinen Ehren in vielen Bundesstaaten der Republik hat, werden die Zapatas der 40er, 50er, 60er und 70er Jahre oder jeder, der einen vergleichbaren Kampf aufnimmt, wie ein streunender Hund verfolgt. Ihr einzig tolerierter Zustand ist jener des Todes. Tot wird er für lebend erklärt, denn man sagt, dass er immer noch durch die Berge reitet und man die Hufe seines weißen Pferdes in den kühlen und duftenden Nächten hört. Lebendig jedoch ist das einzige, was ihn erwartet, ein Kugelhagel aus einem Maschinengewehr.“4 (Poniatowska 1980: 144)
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„Aunque el Emiliano Zapata de 1910 tiene su estatua fundida en bronce en muchos estados de la Republica, a los Zapatas de los cuarentas, de los cincuentas, de los sesentas, de los setentas o a cualquiera que pretenda una lucha semejante, se le persigue para abatirlo como perro del mal. Su única condición tolerable es la de la muerte. Muerto se le declara vivo, se dice que aún cabalga por la sierra, que se pueden escuchar en las noches frescas y olorosas los cascos de su yegua blanca. Vivo, lo único que lo espera es una ráfaga de ametralladora.“ (Poniatowska 1980: 144)
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Diese eigenwillige Diskrepanz des politischen Systems Mexikos zwischen staatlichem Diskurs und staatlicher Praxis gegenüber politischer Opposition soll in den folgenden Kapiteln dargestellt werden. Es wird dabei der Fokus auf die historischen, strukturellen und politischen Prozesse gelegt, die den spezifischen nationalen und globalen Kontext des mexikanischen Schmutzigen Krieges ausmachen. Für ein Verständnis der Entwicklungen hin zum Schmutzigen Krieg und der gegenwärtigen politischen Aufarbeitungsprozesse ist es wichtig, zunächst einen Blick auf einzelne historische Prozesse in Mexiko zu werfen, vor allem auf die Beziehungen zwischen den urbanen politischen Zentren und den ruralen Dorfgemeinschaften. Die repressiven staatlichen Praktiken während des Schmutzigen Krieges können dabei nur eingebettet in einen breiteren historischen Kontext sowohl der lateinamerikanischen Kolonial- als auch postkolonialen Nationalgeschichte verstanden werden. Denn wie auch Robben im Falle des argentinischen Schmutzigen Krieges meinte: „[T]he dirty war did not come about all of a sudden“ (Robben 2005: xi). Es werdenaus dieser komplexen Geschichte der Entwicklung des mexikanischen politischen Systems nur jene Aspekte herausgegriffen, die für das Verständnis und die nachfolgende Analyse des Schmutzigen Krieges auf der lokalen Ebene in Atoyac de Álvarez im Bundesstaat Guerrero von Bedeutung sind.
1.1 K ALTER K RIEG IN M EXIKO : D AS M ILITÄR H ÜTER DER R EVOLUTION
ALS
„Was der Schmutzige Krieg war? Sie nehmen Menschen fest, aber sie führen sie nicht vor. Warum? Weil es ein hochmütiges Land ist, arrogant, die Macht macht sie so, despotisch und arrogant. Und jeglichen sozialen Protest müssen sie niederschlagen!“5 (Doña Angelica, Angehörige eines Verschwundenen, Mexiko-Stadt, 2009)
In Mexiko wurden durch die globalen Dynamiken des KaIten Krieges bestehende lokale Konflikte verstärkt oder wie Löfving es audrückt: „It put fuel and not lids on local conflicts.“ (Löfving 2005: 77) Seit den 1960er Jahren bildeten sich soziale
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„Lo que era la guerra sucia, apresan a la gente, pero no la presentan. ¿Por qué? Porque es un pais soberbio, ensoberdecido y el poder los hace así, déspotas y ensoberbercidos. ¡Y ellos tienen que reprimir toda aquella protesta social!“ (Doña Angelica, Mexiko-Stadt, 2009)
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Bewegungen in ruralen und urbanen Sektoren, die die wirtschaftliche Entwicklung des vor allem von der Regierung Gustavo Díaz Ordaz (1962 – 1970) beschworenen mexikanischen Wirtschaftswunders (milagro mexicano) infrage stellten und den staatlichen Autoritarismus anklagten. Die Kluft zwischen dem Imaginären und dem Profunden Mexiko (Bonfil Batalla 1987) wurde in dieser Zeit besonders deutlich und die internen Dynamiken mit dem globalen Kontext verbunden. Der Kalte Krieg bildet den politischen Bezugsrahmen der Ereignisse des Schmutzigen Krieges auch in Mexiko. Die Aufteilung der Welt in eine von den USA dominierte Einflusszone und eine sowjetische Einflusszone hatte die Doktrin der Nationalen Sicherheit in den USA und in Lateinamerika zur Folge (vgl. Hobsbawm 1998). Das Konzept des internen Feindes stand dabei im Zentrum dieser Logik. US-Präsident John F. Kennedy meinte in diesem Kontext: „[E]s muss der Expansion der kommunistischen Welt Einhalt geboten werden. Wir werden jeden Preis zahlen, jede Last tragen, jeder Schwierigkeit ins Auge sehen, jeden Freund unterstützen und uns gegen jeden Feind stellen, um das Überleben und den Sieg der Freiheit zu sichern.“6 (Kennedy zit. in: Gamiño Muñoz 2008: 30) Im Gegensatz zu anderen lateinamerikanischen Staaten, wo die Einflusszonen einer eindeutigeren Linie folgten und sich Militärdiktaturen bildeten, die von den USA unterstützt und oppositionelle und bewaffnete Bewegungen von der ehemaligen Sowjetunion unterstützt wurden, ging Mexiko einen anderen Weg. Die Eigenart des politischen Systems Mexikos ist dabei auch wichtig für das Verständnis der gegenwärtigen Aufarbeitungsprozesse, da die Positionen der mexikanischen Regierung während der Zeit des Schmutzigen Krieges auch in der Gegenwart fortbestehen. Eine der zentralen Unterschiede Mexikos zu anderen lateinamerikanischen Staaten, wo Schmutzige Kriege und erzwungenes Verschwindenlassen eingesetzt wurden, ist, dass Mexiko keine Militärdiktatur war. Das politische System Mexikos zeichnete sich seit der Mexikanischen Revolution (1910 – 1919) als eine repräsentative Demokratie mit einer liberalen Verfassung aus. Nichtsdestotrotz regierte eine einzige Partei 71 Jahre lang das Land. Die PRI (Partido Revolucionario Institucional), die aus der Mexikanischen Revolution hervorging, stellte die Präsidenten von 1919 bis 2000. Es war ein autokratischer Einparteienstaat, der die Präsidenten trotz freier demokratischer Wahlen stets selbst bestimmte. Die Methode, mit der die PRI den nächsten Präsidenten aus ihren eigenen Reihen auswählte, wurde dedazo (Fingerzeig) genannt. Der mexikanische Staat wurde als ein korporativistisch klientelistisches System (Langston 2002, Huffschmied 2004) regiert. Oft wird daher auch
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„[S]e debe contener la expansión del mundo comunista. Pagaremos cualquier precio, soportaremos cualquier carga, enfrentaremos cualquier dificultad, apoyaremos a cualquier amigo y nos opondremos a cualquier enemigo para asegurar la sobrevivencia y triunfo de la libertad.“ (Kennedy zit. in: GamiñoMuñoz 2008: 30)
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davon gesprochen, dass das Land von einer Familie, der Revolutionären PRIFamilie geführt wurde. Zu dieser Familie zählte auch das Militär in seiner besonderen Rolle als Teil des Gründungsmythos des mexikanischen postrevolutionären Nationalstaates. Die Ausformung dieser spezifischen Identitätskonstruktion ist auch für das Verständnis der Aufarbeitungsphase des Schmutzigen Krieges ab dem Jahr 2000 von Bedeutung (vgl. Kap 4). Im Folgenden sollen daher einige Aspekte der Rolle des mexikanischen Militärs aufgeführt werden. Hüter der Revolution: Das mexikanische Militär „All along history, the Mexican people have stood up in arms when it was necessary to defend their autonomy and their rights, which were on occasions threatened by external pressures and in others by the aggression of internal enemies. (…) [The Mexican military] is fighting for the most noble principles of liberty, autonomy and social justice.“ (Verteidigungsministerium, 2010)7
Für die Entwicklung der Ereignisse zum Schmutzigen Krieg ist ein Blick auf die politischen und ideologischen Strukturen Mexikos nach der Mexikanischen Revolution (1910 – 1919)8 ebenso wie auf das daraus folgende Projekt der Utopie einer nationalen revolutionären Einheit auf staatlicher und gesellschaftlicher Ebene hilfreich. Von Bedeutung ist vor allem die Rolle und Identität des mexikanischen Militärs im postrevolutionären Staat: „Wer hat die alten Porfiristen an der Macht ersetzt? Zu Beginn, die Generäle und Führer der revolutionären Armeen.“9 (Bonfil 1987: 162) Die revolutionären Kräfte, die den Diktator Porfirio Díaz (1871 – 1911) stürzten, wurden im neuen Staat in den mexikanischen Streitkräften institutionalisiert. Die historische Verbundenheit, die kollektive Identität des Soldaten als Teil einer Familie, deren Wurzeln auf die Mexikanische Revolution zurückgeht, wird im Diskurs des mexikanischen Militärs bis in die Gegenwart betont (vgl. Nunn 1992; Serrano 1995). In der Revista del Ejército y Fuerza Aérea Mexicanos (Zeitschrift dermexikanischen Armee und der Luftstreitkräfte) heißt es dazu: „[Die Soldaten] gehören zu einem gemeinsamen Stamm, zu einer großen Familie, einer geeinten
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Mexikanisches Verteidiungsministerium Secretaria de la Defensa Nacional unter: http://www.sedena.gob.mx/index.php/conoce-la-sedena/antecedentes-historicos (Letzter Zugriff: 30.04.2014).
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Für eine detaillierte Darstellung des komplexen Verlaufs der Mexikanischen Revolution
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„Quienes sustituyeron en el poder a los antiguos porfiristas? En un primer momento, los
vgl. Gilly 2003 und Garcíadiego 2003. generales y jefes de los ejércitos revolucionarios.“ (Bonfil Batalla 1987: 162)
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und starken Familie und…warum soll es nicht gesagt werden, einer mächtigen, der mexikanischen Militärfamilie“10 (1992: 63). In der Zeitschrift des mexikanischen Militärs wird auch auf den revolutionären Helden Emiliano Zapata zurückgegriffen. Zapata wurde im Jahr 1919 von der Regierung Venustiano Carranza ermordet und ist seither Held und Symbol auch vieler politischer Bewegungen der Gegenwart.11 Das mexikanische Militär sah sich selbst stets als Hüterin der Revolution. Infolgedessen mussten auch all jene, die kontrarevolutionär agierten, eliminiert werden. Es ist ein Spezifikum des mexikanischen Kontextes, dass sich die Militärs ebenso wie deren FeindInnen als revolutionär deklarieren und diesselben Helden aus der Vergangenheit feiern. Das Bild von Zapata auf der Titelseits der Zeitschrift des mexikanischen Militärs veranschaulicht dies.12 Aber „das siegreiche Projekt, das das Programm der Mexikanischen Revolution bestimmte, war nicht das bäuerliche Projekt von Zapata und anderer Gruppen, die sich aus denselben Gründen und Zielen in verschiedenen Regionen des Landes erhoben.“13 (Bonfil Batalla 1987: 165) Die postrevolutionären Regierungen waren vielmehr von wirtschaftlichen und politischen PRI-Eliten getragen und schlugen jeglichen sozialen Protest von Kleinbauern und anderen sozialen Gruppen nieder. Die Figur Zapata ist wichtig für das kollektive Imaginäre und das kollektive Gedächtnis auch der Kleinbauern in Guerrero. Zapata kämpfte für Land und Freiheit, für die Rechte der unterdrückten Kleinbauern und wurde von der an die Macht gekommenen Regierung der Mexikanischen Revolution ermordet. Er gilt innerhalb der indigenen und mestizischen Bevölkerung als die Identifikationsfigur eines heroischen Kampfes.14 In dieser Tradition wurde auch Lucio Cabañas in den 1960er Jahren, der Guerillero der Partei der Armen (vgl. Kap. 2.2), von den Kleinbauern der Sierra de Atoyac in Guerrero als Nachfolger von Zapata gesehen. Hatte doch
10 „[P]ertenecen a un tronco común, a una gran familia, una gran familia unida, fuerte y…porqué no decirlo, poderosa, la familia militar mexicana.“ (1992:63). 11 Die EZLN, die Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung in Chiapas, bezieht sich mit ihrem Namen auf Emiliano Zapata. 12 Titelbild von Zapata mit dem Untertitel: Deceso del caudillo Emiliano Zapata (Ableben des Caudillo Emiliano Zapata) auf der Zeitschrift der mexikanischen Streitkräfte Revista del Ejército y Fuerza Àerea Mexicanos, April 1992. 13 „[E]l proyecto triunfante, el que definió el programa de la Revolución Mexicana, no fue el proyecto campesino de Zapata y otros grupos que se sublevaron por las mismas razones y con los mismos propósitos en diversas regiones del país.“ (Bonfil Batalla 1987: 165) 14 Vgl. zur zapatistischen Bewegung Díaz-Polanco 1997; Harvey 2000; Huffschmid 2004; Karl 2001.
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schon sein Großvater Pablo Cabañas zur Zeit der Mexikanischen Revolution in den Reihen von Emiliano Zapata gekämpft. Dies wird auch deutlich in den Erzählungen der Kleinbauern der Sierra de Atoyac. Lucio Cabañas wurde von jenen, die noch die Zeit der Mexikanischen Revolution erlebt hatten, gefragt, als er um ihre Unterstützung bat, unter welchem General sie nun kämpfen würden (vgl. Montemayor 1998). Mit „General“ war ein Anführer einer Armee zur Zeit der Mexikanischen Revolution gemeint. Zapata war also sowohl für die subalterne Bevölkerung als auch für den Staat und das Militär Teil eines mythischen Narrativs. Ab 1940 setzte die politische Elite unter dem Staatspräsidenten Camacho auf ein nationales Projekt der Einheit von Entwicklung und Fortschritt. Bonfil Batalla beschreibt dies dermaßen: „Die Zusammensetzung der revolutionären Kräfte kommt zu einem Ende und es wird ein Entwicklungsmodell implementiert, in dem das profunde Mexiko, kleinbäuerlich und volkstümlich, nicht mehr das Ziel ist, sondern nur eine Quelle, aus der die Ressourcen extrahiert werden, um das Wachstum des anderen Mexiko möglich zu machen: dieses definiert sich als industriell, modern, urban und kosmopolitisch.“15 (Bonfil Batalla 1987: 176f.)
Die Modernisierungsprozesse auch im Agrarbereich führten in weiterer Folge zu Protesten und Aufständen der Kleinbauern im ruralen Mexiko und ab den 1960er Jahren zur Zuspitzung der sozialen Konflikte im urbanen Raum (vgl. Massaker von Tlatelolco Kap. 2.3). Der historische Prozess der nationalstaatlichen Bildung Mexikos, der in Verfassung und politischem Diskurs die homogene Einheit des mexikanischen (mestizischen) Volkes hat, existierte jedoch in der realen Welt nicht. Vielmehr war die Beziehung zwischen dem imaginierten und dem profunden Mexiko immer von Gewalt geprägt, wie Bonfil Batalla meinte: „Weder die Unabhängigkeit, (…) noch die Revolution haben erreicht, dass die Beziehung zwischen dem imaginierten Mexiko und dem profunden Mexiko nicht von Zeichen der Gewalt dominiert wären. Reale, blutige Gewalt, die zum Tod führt, gut ausgeführt von Horden von Viehdieben, Banden von Auftragsmördern oder durch reguläre Streitkräfte.“16 (Bonfil Batalla 1987: 182)
15 „El acomódo de las fuerzas revolucionarias llega a su termino y se impone un modelo de desarrollo en el que el Mexico profundo, agrario y popular, no es la meta sino tan solo una fuente de la que se sustraen recursos para hacer posible el crecimiento del otro Mexico, que se perfila industrial, moderno, urbano y cosmopolita.“ (Bonfil Batalla 1987: 176f.). 16 „Ni la Independencia, (…) ni la Revolución, han conducido a que la relación entre el Mexico imaginario y el Mexico profundo deje de estar presidida por el signo de la vi-
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Die systemimmanente Gewalt, von der Bonfil Batalla spricht, und die Eigenart des mexikanischen politischen Systems zeigten sich auch zur Zeit des Kalten Krieges. Ausgangspunkt dafür war ein ausgeprägter Nationalismus, der sich seit der Mexikanischen Revolution und dem Sturz der Diktatur von Porfirio Díaz ausgebildet hatte. Dieser Nationalismus zeigte sich besonders deutlich in der Bekämpfung jeglicher ausländischer Interventionsversuche, eine Tatsache, die sich auch aus der Geschichte der europäischen und US-amerikanischen Interventionen seit der mexikanischenUnabhängigkeit (1810) erklären lässt.17Zur Zeit des Kalten Krieges gab es nach Friedrich Katz (2006) fünf Charakteristika Mexikos, die es von anderen lateinamerikanischen Staaten unterschied und gleichzeitig ein besonderes Licht auf die innenpolitischen Ereignisse während des Schmutzigen Krieges werfen. Die Unterschiede zu anderen Staaten Lateinamerikas waren: (1) die offizielle Ideologie des Staates, die sich als revolutionär, nationalistisch und antiimperialistisch auf den Grundlagen der Verfassung von 1917 definierte; der revolutionäre Diskurs der Staatspartei PRI zeigt sich auch in deren Mitgliedschaft in der Sozialistischen Internationale; (2) die Wirschaftspolitik, die sich durch eine starke Reglementierung von US-amerikanischen Investitionen und der Nationalisierung der mexikanischen Erdölindustrie auszeichnete; (3) die Außenpolitik, die sich oft gegen die USA richtete. So war Mexiko auch das einzige Land Lateinamerikas, das diplomatische und kommerzielle Beziehungen zu Kuba unter Fidel Castro aufrechterhielt. Kuba unterstützte im Gegenzug nie bewaffnete Bewegungen innerhalb Mexikos (Aguayo 2006). Das PRI-Regime wollte das revolutionäre Selbstbild, welches es nach der Mexikanischen Revolution als nationale Ideologie konstruierte, auch nach außen tragen; (4) die Asylpolitik, deren Grundsatz es war, politisch Verfolgte aus anderen Staaten aufzunehmen. So gab Mexiko tausenden von linken politischen Flüchtlin-
olencia. Violencia real, sangrienta, de muerte, bien sea ejercida por gavillas de abigeos, pro bandas de matones a sueldo o por cuerpos armados regulares.“ (Bonfil Batalla 1987: 182) 17 Als Beispiele für diese historischen ausländischen Interventionen seit der Unabhängigkeit Mexikos (1810) sollen hier nur drei genannt werden: die Annexion der Hälfte des mexikanischen Territoriums durch die USA im Krieg 1846 – 1848 (die heutigen Bundesstaaten Kalifornien, Arizona, Texas waren davor mexikanisches Territorium), die französische Invasion und die Einsetzung des Habsburger Kaisers Maximilian (1864 – 1867) und die Diktatur von Porfiirio Díaz (1887 – 1910), die von den USA unterstützt wurde. Die USA wollten den beginnenden mexikanischen Nationalismus nach der Mexikanischen Revolution (1910 – 1917) verhindern und versuchten, den ersten postrevolutionären Präsidenten Francisco I. Madero zu stürzen (vgl. Katz 2006).
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gen aus lateinamerikanischen Militärdiktaturen18 Asyl und ließ diese in Mexiko weiterhin politisch für ihre Anliegen agieren (nicht aber in der mexikanischen Innenpoltik)19. Gutierrez Barrios etwa, der während des Schmutzigen Krieges Direktor der Dirección Federal de Seguridad DFS (mexikanischer Geheimdienst) war, unterstützte zuvor Fidel Castro, als dieser in den 1950er Jahren im mexikanischen Exil gemeinsam mit Ernesto Che Guevara die Kubanische Revolution vorbereitete. Oder Präsident Luis Echeverría, der politischen Flüchtlingen aus Chile nach dem Putsch durch General PinochetAsyl gewährte: „[W]ir gaben ihnen politisches Asyl, da der Militärputsch die Verfolgung vieler Menschen zur Folge hatte. Ich glaube, es sind in den Tagen nach dem Putsch und danach an die 2.500 Asylanten nach Mexiko gekommen.“ (Echeverría zit. in: Cárdenas Estandía 2008: 112)20 (5) Die politische Stabilität, die sich von anderen Staaten Lateinamerikas dahingehend unterschied, als dass in Mexiko keine Regierung gestürzt wurde und es keine Militärputsche gab. Politische Stabilität gab es auch deswegen, weil keine der beiden Großmächte des Kalten Krieges Interesse an einer Instabilität in Mexiko hatte. Politische Instabilität hätte aufgrund der geografischen Nähe auch für die USA Konsequenzen gehabt, etwa in Form von Flüchtlingsbewegungen. Auch die Sowjetunion hatte Interesse an guten Beziehungen zu Mexiko. Sie hatte wichtige kommerzielle Beziehungen zu Mexiko und hatte darüberhinaus auch ihr wichtigtstes Spionagezentrum für den gesamten amerikanischen Kontinent in diesem Land. Auf internationaler Ebene trat die mexikanische Regierung als demokratisches Land auf, das alle UNO- und OAS-Menschenrechtskonventionen ratifizierte, das für Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität aller Länder des Südens kämpfte.21 Trotz dieser relativ unabhängigen politischen Entwicklung Mexikos zur Zeit des Kalten Krieges, die sich von anderen lateinamerikanischen Staaten unterschied, gibt es
18 Diese Tatsache führte auch zu einem gewissen Widerstand im überregionalen lateinamerikanischen Netzwerk der Angehörigen von Verschwundenen FEDEFAM, die mexikanischen Angehörigen der Verschwundenen aufzunehmen. Die Bedenken waren, dass wenn sie auch für die mexikanischen Verschwundenen kämpfen würden, gegebenenfalls die Option auf politisches Asyl in Mexiko gefährdet sein könnte. 19 So zum Beispiel Mercedes Hortensia Bussi Soto de Allende, Witwe des ermordeten chilenischen Präsidenten Salvador Allende oder der Journalist Carlos Quijano, politischer Flüchtling aus Uruguay, der vom mexikanischen Exil aus gegen die südamerikanischen Militärdiktaturen protestierte (vgl. Calloni 2001). 20 „[L]es dimos asilo político porque el golpe militar ocasionó la persecución de mucha gente. Yo creo que entraron unos 2.500 asilados, desde los días del golpe y después.“ (Echeverría zit. in: Cárdenas Estandía 2008: 112) 21 Vgl. zum Beispiel die revolutionäre Rede von Staatspräsident Luis Echeverría im Treffen des Club of Rome in Salzburg/Österreich im Jahr 1974.
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dennoch einige Parallelen zu diesen. Denn das mexikanische politische System der PRI-Regierung agierte mit doppelten Diskursen, wie Miranda feststellt: „Heute können wir bestätigen, dass die mexikanische Regierung nicht nur durch Personal von CIA und FBI beraten wurde, um Verbrechen gegen die Menschlichkeit auszuführen, sondern dass sogar Luís Echeverría Echeverría, so wie es der Ex CIA Agent Philip Agee versichert, rekrutiert wurde und in der Liste dieser Behörde auftaucht.“22 (Miranda 2006: 228)
Die Parallelen zu anderen lateinamerikanischen Staaten zeigen sich also in einer partiellen Kooperation mit den USA: zum einen in der Innenpolitik Mexikos im Umgang mit politischen Oppositionsbewegungen und zum anderen in der Rolle des Militärs. Die mexikanische Regierung klassifizierte in der globalen binären Logik von Freund-Feind politische GegnerInnen ebenso als interne Feinde. Dies zeigte sich zum Beispiel bereits 1959 in der Niederschlagung von Arbeiterstreiks23 oder ab dem Jahr 1960 in der Inhaftierung von linken Intellektuellen und Mitgliedern der Kommunistischen Partei24 (Castellanos 2007). Die von der Regierung kontrollierte Presse spielte in der Bildung der öffentlichen Meinung dabei eine wichtige Rolle. So argumentierte etwa im Jahr 1959 die Zeitung Excélsior: „Gegen jene, die das Gesetz brechen, gegen die Saboteure der patriotischen Interessen und des Gemeinwohls müssen die Behörden mit Entschiedenheit auftreten. Ohne Willkür, aber doch ohne jegliche Rücksichtnahme, denn so fordert es die Gesundheit Mexikos. Die illegitimen Streiks und Arbeitsniederlegungen sind revolutionäre Aktionen, die subversiv gegen den inneren Frieden gerichtet sind. Und man weiß bereits, dass die Ereignisse, die wir meinen, die bevorzugte taktische Waffe jener sind, die im Dienste von Ideen und Interessen stehen, die nicht den nationalen entsprechen.“25 (Excélsior vom 28. März 1959 zit. in: Gamiño Muñoz 2008: 34).
22 „Hoy podemos comprobar que el gobierno mexicano no sólo estuvo siendo asesorado por personal de la CIA y la FBI, para consumar los crímenes de lesa humanidad sino que el propio Luís Echeverría Echeverría según lo aseguró el ex agente de inteligencia Philip Agee fue reclutado y aparecía su nombre en la lista de esa agencia.“ (Miranda 2006: 228) 23 Wie etwa der Streik der Eisenbahnergewerkschaft 1959. 24 Wie etwa der kommunistische Schriftsteller José Revueltas. 25 „Contra los que violan la Ley, contra los saboteadores de los intereses patrios y del bien común, las autoridades deben actuar con certeza, sin modos arbitrarios, pero sin contemplaciones de ninguna índole, porque la salud de México así lo exige. Las huelgas y los paros ilegítimos son actos revolucionarios, de subversión de la paz doméstica, y ya es verdad sabida que los hechos a que nos referimos, son el arma táctica favorita de los que
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Die Gefahr von außen als Gefahr gegen die nationale Gesundheit war demzufolge Legitimationsgrundlage für die Niederschlagung oppositioneller Bewegungen. Den Staat als krank oder gesund zu definieren, deutet hier auch auf die Konzeption des Staatsgefüges als biopolitischen Körper hin, von dem man jegliche Krankheit (Subversive) fernhalten muss. Die von der mexikanischen Regierung als Krankheit und Gefahr für den politischen Körper Mexikos eingestuften Menschen und Bewegungen sollen im Folgenden skizziert werden.
1.2 G EWALTRÄUME : AGRARISMO , K AZIKEN
UND
G UERILLA
„Unser Kampf richtet sich nicht gegen das Militär, sondern gegen die Kaziken (…).“ (Gámiz und Gaytán zit. in: Castellanos 2007: 65) „What becomes most important is to wander off the path to examine spaces of violence wherever they occur as aspects of interpenetrating social fields, many of which are increasingly transnational even as they are locally and intimately experienced.“ (Warren 2000: 241)
Kay Warren (2000) spricht von Gewalträumen als soziale Felder, die lokal aber auch transnational vernetzt sind. Wie in den vorangegangen Kapiteln dargestellt wurde, hatte der globale Kalte Krieg auch politische Auswirkungen auf lokale Felder in Mexiko und umgekehrt. Ein transnationales Feld, das Einfluss auf lokale Gegebenheiten in Mexiko hatte, bildete hier die Kubanische Revolution von 1959. Unter deren Einfluss bildeten sich wie in anderen Ländern Lateinamerikas auch in Mexiko mehrere Guerillabewegungen. Che Guevara und Fidel Castro spielten auch angesichts der Tatsache, dass die Revolution auf mexikanischem Territorium geplant und mit der Überfahrt der Revolutionäre von Mexiko nach Kuba auf dem Schiff Granma startete, eine wichtige Rolle für die lokalen Bewegungen. So meinte Arturo Gámiz, Anführer der ersten Guerilla Mexikos: „Nichts hat den Unterdrückten Amerikas mehr Hoffnung und Vertrauen in die Zukunft und in die Gewissheit des Sieges gegeben, als die kubanische Revolution.“ (Gámiz zit. in: Castellanos 2007: 69) Guerrilla wird allgemein definiert als kleiner Krieg. Es wird dabei eine asymmetrische Kriegsführung nicht staatlicher bewaffneter Gruppen bezeichnet, die militärische Operationen gegen ein in militärischer Stärke überlegenes, etabliertes Regime führen. Oftmals werden sie auch als Partisanen, Widerstandsgruppen oder Freiheitskämpfer bezeichnet (vgl. Kruijt 2008). James Joes betont, dass Guerillakrieg unabhängig von dem Wer und Wo zuallerst durch das Wie der Strategie defi-
están al servicio de ideas e intereses ajenos a los nacionales.“(„La agitación comunizante“, Excélsior vom 28. März 1959 zit. in: Gamiño Muñoz 2008: 34).
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niert wird: „Guerrilla war is not the hallmark of any particular ideology, century, or culture. What defines guerrillas is not why they fight, nor where, but how: guerrilla war is a set of tactics […]. Their first duty is to survive. Their second duty is to alter the odds.“ (Joes zit. in: Bellingeri 2003: 9). Zentraler Motivationsmoment von Guerillakampf ist also immer, den Status quo eines bestehenden politischen Systems zu verändern – ein Element, welches in Mexiko und dann vor allem auch in Guerrero hinsichtlich der Situation der Kleinbauern von Bedeutung sein wird. Denn die bewaffneten Bewegungen Mexikos entwickelten sich bereits vor den 1960er Jahren aus der langen Tradition der Agrarismo-Bewegung der Mexikanischen Revolution. Als agrarismo wird in Mexiko der mestizische und indigene Kampf der Kleinbauern um die gerechte Verteilung von Land beschrieben. Als soziale Errungenschaft der Mexikanischen Revolution wurde zwar die Aufhebung des Großgrundbesitzes und die verfassungsrechtliche Aufteilung des Agrarlandes an die Kleinbauern in Form von Gemeindeland (Ejidos) festgelegt, das heißt jeder Kleinbauer Mexikos hatte ein Recht auf ein Stück Staatsland. Die Aufteilung durch die postrevolutionären mexikanischen Regierungen wurde aber nur unvollständig und schleppend durchgeführt und begünstigte in vielen Regionen abermals Großgrundbesitzer.26 Die bewaffneten Bewegungen entwickelten sich also zunächst aufgrund sozialer Ungerechtigkeiten in der Landfrage in ruralen Gebieten und hatten meist sehr konkrete lokale Ziele. Die Forderungen umfassten die Verbesserung lokaler Missstände, wie ein Ende der Ausbeutung durch bestimmte, namentlich bekannte Kaziken und eine gerechte Verteilung von Land für die Kleinbauern. Ein Ereignis, welches die aufständischen Bewegungen in diesem Zusammenhang besonders markierte, war die Ermordung von Ruben Jaramillo und seiner Familie im Jahr 1962. Jaramillo kämpfte für Agrarreformen zugunsten der Kleinbauern im Bundesstaat Morelos und war als Jugendlicher zur Zeit der Mexikanischen Revolution (1910 – 1917) Teil des Ejército Libertador del Sur (Befreiungsarmee des Südens) unter Emiliano Zapata. Jaramillo wurde von den Kleinbauern und -bäuerinnen und politischen AktivistInnen der Zeit als Nachfolger des Helden von Land und Freiheit betrachtet, der sich mit einer breiten Volksbewegung für deren Rechte einsetzte. Er verband kommunistische Ideologie als Mitglied der Kommunistischen Partei Mexikos (PCM) mit christlichen religiösen Überzeugungen von Gleichheit und Gerechtigkeit. Die Ermordung der Familie prägte auch jene, die später selbst zu den Waffen griffen, wie Genaro Vázquez und Lucio Cabañas in Guerrero (Padilla 2006; Castellanos 2007).
26 Zum Ejido-System und der Entwicklung der Aufteilung des Staatslandes an die Kleinbauern vgl. Perramond 2008.
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Den Beginn der bewaffneten ruralen Guerillabewegungen in Mexiko stellt der Überfall auf das Militärlager Moncada im nördlichen Bundesstaat Chihuahua am 23. September 1965 dar. Inspiriert durch das von Che Guevara im Jahr 1960 publizierte Buch Guerra de Guerrillas (Guerillakrieg) und seiner Fokus-Theorie versuchten 13 junge Kleinbauern, Lehrer und Studenten unter der Führung des Lehrers Arturo Gámiz eine erste Aktion zu setzen. Sie folgten der Annahme von Che Guevaras Fokustheorie, die besagt, dass auch kleine Gruppen gegen eine reguläre Armee ankämpfen können und sich mit einer Aktion, einem Fokus, die Bedingungen für eine breiter angelegte soziale Revolution formieren können. Zudem sollten die revolutionären Kräfte in Lateinamerika von den marginalisierten ruralen Gebieten ausgehen (vgl. Guevara 1968/[1969]). Ziel der Aktion der Gruppe in Chihuahua war die Aneignung der Waffen des Militärlagers, in dem 120 Soldaten stationiert waren, die Enteignung der lokalen Bank und die Sendung einer revolutionärer Nachricht über das Radio. Auch hier ging die primäre Forderung gegen die lokalen politischen und ökonomischen Eliten, die Kaziken. Fünfzehn Tage vor dem Überfall sendete die Gruppe in der lokalen Zeitung Indice folgende Nachricht, die ausführlich zitiert wird, da sie in ihrem Diskurs bezeichnend für viele rurale bewaffneten Bewegungen Mexikos (bis in die Gegenwart) und so auch der in Kapitel 2 beschriebenen Guerilla von Lucio Cabañas in Guerrero ähnlich ist: „Wir haben uns in Waffen erhoben, um den Kaziken José Ibarra und Tomás Vega zu bekämpften, nachdem wir alle legalen Mittel ausgeschöpft haben und die bundesstaatliche Regierung diese bedingungslos unterstützt. Während Jahrzehnten haben diese wie Bestien straflos die Kleinbauern ausgebeutet, haben sie gedemütigt, ermordet, ihre Häuser in Brand gesetzt, ihr Vieh gestohlen und ihre Frauen vergewaltigt. Wir haben einige Male erklärt, dass wir die Waffen niederlegen unter der Bedingung, dass sich die Kaziken, wie Ibarra, dem Gesetz und der Ordnung fügen und dass das Land verteilt wird, das sie mittels Vertreibungen angehäuft haben. Ihre Antwort war die Aussendung von 2000 Soldaten, um uns zu eliminieren und Banden von bekannten Mördern zu gründen, die uns mit aller Härte verfolgen. Wir haben es bereits gesagt und wir wiederholen es: Wir wollen keine Soldaten töten, wir haben nichts gegen sie, solange sie die Familien respektieren. Wir betrachten sie als arme und ausgebeutete Klasse, die nur aus Notwendigkeit diesen Dienst leisten und den Despotismus und den Missbrauch ihrer Vorgesetzten ertragen müssen. Unser Kampf richtet sich nicht gegen das Militär, sondern gegen die Kaziken (…). Wir wiederholen es jetzt: treten sie [Gouverneur von Chihuahua und Großgrundbesitzer] zurück und verlassen sie den Bundesstaat oder wir holen sie mit Gewalt, koste es was es wolle und fließe das Blut, das fließen muss.“27 (Arturo Gámiz und Salomón Gaytán zit. in: Castellanos 2007: 65)
27 „Nos hemos levantado en armas para hacer frente a los cacicazgos, como el de José Ibarra y Tomás Vega, una vez que agotamos los medios legales sin fruto alguno, una vez que
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Die Forderung ist in diesem Fall nicht ein Umsturz des politischen Systems, sondern die Einhaltung der Ordnung und die rechtmäßige Anwendung bestehender Gesetze gegenüber der Willkür der lokalen Kaziken. Der angesprochene Gouverneur von Chihuahua, Práxedes Giner Duran, war einer der mächtigsten Großgrundbesitzer und nur ein Beispiel der eingangs beschriebenen politischen und ökonomischen Machtfiguren von Kaziken und Caudillos der Zeit. Der gesamte Bundesstaat war aufgeteilt auf einige wenige Großgrundbesitzer mit extensiver Viehwirtschaft und auf nationale und internationale Holzfirmen.28 Der Aufstand, der sich gegen die ökonomische Ausbeutung dieser Gruppen richtete, wurde – angeordnet durch den Gouverneur und den Präsident Díaz Ordaz – vom Militär niedergeschlagen. Acht Aufständische, darunter auch Arturo Gámiz, wurden dabei getötet und die Übrigen inhaftiert. In Gedenken an die Getöteten des 23. September und den Beginn der mexikanischen Guerillabewegung mit diesem Ereignis gründete sich dann im Jahr 1973 die Liga Comunista 23 de Septiembre (Kommunistische Liga 23. September), die größte urbane Guerilla Mexikos. Aus dieser Bewegung entwickelten sich auch andere rurale bewaffnete Gruppen wie das Movimiento Espartaquista Revolucionario (Revolutionäre Spartakus Bewegung) in Monterrey oder die Frente Democrático Campesino del Estado de Nuevo Leon (Demokratische Front der Kleinbauern des Bundestaates Nuevo León).29 Die ersten urbanen Guerillabewegungen entstan-
nuestros esfuerzos fracasaron en virtud del apoyo incondicional que el gobierno del estado proporciona a los caciques que por décadas se han dedicado impunemente a explotar como bestias a los campesinos, a humillarlos, a asesinarlos, a quemarles sus ranchos, robarles su ganado y violar sus mujeres. Hemos declarado varias veces que estamos dispuestos a dejar las armas a condición de que se someta al orden y a la ley a los caciques, como Ibarra, y se repartan las tierras que mediante despojos y asesinatos han acaparado. La respuesta suya ha sido enviar más de dos mil soldados a liquidarnos y armar bandas de conocidos asesinos que nos persiguen con saña. Hemos dicho y los repetimos: no queremos matar soldados, nada tenemos contra ellos siempre y cuando respeten a las familias. Los consideramos de clase pobre y explotados que están al servicio únicamente por necesidad, teniendo que soportar el despotimo y los abusos de sus superiores. Nuestra lucha no va dirigida contra el ejército sino contra los caciques (…). Se lo repetimos ahora: renuncie y váyase del estado o lo sacaremos a la fuerza cueste lo que cueste y corra la sangre que corra.“ (Arturo Gámiz und Salomón Gaytán zit. in: Castellanos 2007: 65) 28 Die Rinderzucht und Viehwirtschaft produzierte vor allem für den hohen Bedarf an Fleisch auf dem US-amerikanischen Markt. Für eine detailliertere Beschreibung der ökonomischen Bedingungen vgl. Castellanos 2007. 29 Vgl. für eine weitere Analyse der verschiedenen bewaffneten Bewegungen, die sich ab den 1960er Jahren in Mexiko gründeten, Oikión Solano/García Ugarte 2006; Castellanos 2007.
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den ab dem Ende der 1960er Jahre, wie zum Beispiel Movimiento de Acción Revolucionaria (Bewegung der Revolutionären Aktion) oder Fuerzas de Liberación Nacional (Nationale Befreiungskräfte) (Castellanos 2007; Montemayor 2007, 2010).30 Die Parallelen mit anderen lateinamerikanischen Staaten zeigen sich auch in der Rolle des mexikanischen Militärs, das maßgeblich für die Entwicklungen des Schmutzigen Krieges verantwortlich war. Mexiko war zur Zeit des Kalten Krieges auch Teil des staatsterroristischen Netzwerkes der südamerikanischen Militärdiktaturen Operación Condor (vgl. Calloni 2001) zur Abwehr der „Gefahr des internationalen Kommunismus“ und kooperierte dabei mit der US-amerikanischen Regierung und dessen Ausbildungsprogrammen zur Aufstandsbekämpfung für lateinamerikanische Generäle in der School of the Americas. Es stellt sich jedoch die Frage, ob die eher geringe Anzahl von MexikanerInnen, die zu den Waffen griffen, wirklich eine Bedrohung für die nationale Sicherheit darstellte (vgl. Aguayo 2006). Aus einem Manuskript von General Acosta Chaparro31, der mittels Geheimdienstberichten eine Aufstellung aller Namen von vermuteten Mitgliedern bewaffneter Bewegungen erstellte, geht hervor, dass es circa 1.860 Personen aufgeteilt in 29 Gruppen waren. Die KombattantInnen waren also vielmehr ein irritierendes Element staatlicher Machtansprüche, stellten aber nie ein ernstes Sicherheitsrisiko für das Regime dar. Dennoch wurden sie mit Methoden niedergeschlagen, die jeglichen legalen und moralischen Prinzipien zuwiderliefen (vgl. Aguayo/Treviño 2007). Der mexikanische Staat zeigte angesichts der pazifistischen und bewaffneten Proteste sein repressives Potenzial, um den sozialen Körper der Nationzu heilen, wie Gamiño Muñoz (2008) es ausdrückt. Dieses Vorgehen war jedoch für die Mehrheit der Bevölkerung nicht sichtbar: „Die Techniken der Repression und der
30 Urbane Guerillabewegungen waren zum Beispiel auch: Comando Carlos Lamarca, el Comando Pablo Alvarado, el Movimiento de Izquierda Revolucionaria, el Ejército Insurgente Revolucionario, el Partido Revolucionario del Proletariado Mexicano, el Frente Urbano Zapatista, Brigada LacanDoña, el Frente Armado Revolucionario del Pueblo, Los Procesos, el Movimiento 23 de septiembre, Los Enfermos de Sinaloa, el Grupo Comunista de Chihuahua, el Grupo Oaxaca, los Comandos Armados de Pueblo, el Frente Estudiantil Revolucionario, el Movimiento Estudiantil Profesional, los Comandos Urbanos del Comité Estudiantil Revolucionario, Los Macias y Los Guajiros (vgl. GamiñoMuñoz 2008). 31 Das Manuskript „El movimiento subversivo en Mexico“ war die Abschlussarbeit von Acosta Chaparro, um den Rang als Coronel im Jahr 1990 zu erhalten (Miranda 2006). Die Arbeit wurde nie publiziert, gelangte jedoch in wissenschaftliche und journalistiche Kreise, wie Sergio Aguayo meint. Die Quellen von General Acosta Chaparro waren die Dirección Federal de Seguridad (DFS), der mexikanische Geheimdienst (vgl. Aguayo 2006).
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Eliminierung, die durch den Staat eingesetzt wurden, operierten fokussiert, mit niedriger Intensität und halböffentlich. Das Ziel war die Infiltrierung, Lähmung und Fragmentierung der bewaffneten Gruppen.“32 (Gamiño Muñoz 2008: 48) Die Presse fokussierte dabei auf eine fragmentierte Darstellung der Bewegungen, die den sozialen Kontext der Proteste und deren Forderungen, die in Verbindung mit struktureller Gewalt von Armut und Marginalisierung großer Bevölkerungsteile vor allem in ruralen Gebieten stand, ausblendete. Stattdessen wurden nur die Aktionen der bewaffneten Bewegungen beschrieben, diese dann als Verbrecher dargestellt und so Argumentationsgrundlagen für eine gewaltsame und militärische Beendigung der Konflikte gelegt (Mendoza García zit. in Gamiño Muñoz 2008: 52). Der Pakt, den die Presse mit der mexikanischen Regierung einging, war darauf ausgerichtet, jegliche Bewegungen, die Inkonformität ausdrückten, als Subversive, Kriminelle und von außen gesteuerte zu delegitimieren. Gewaltsame Repressionen gegen diese Personen waren in der Presse zu verheimlichen. Die Existenz von Guerillabewegungen auf mexikanischem Territorium wurde nicht erwähnt (Gamiño Muñoz 2008). Unter diesen politischen Rahmenbedingungen ereigneten sich auch die beiden größten Massaker des Schmutzigen Krieges: Tlatelolco und Corpus Christi.
1.3 M ASSAKER VON T LATELOLCO UND C ORPUS C HRISTI : H ALCONES UND B RIGADAS B LANCAS „In dieser Nacht, in einem dringenden Telefongespräch warnte michder Innenminister [Echeverría], dass in Tlatelolco vor allem Soldaten gefallen seien. Bevor er auflegte, blieb ein drohender Satz in der Luft: ,Das ist doch klar, oder?“ދ33 (Scherer García 2007: 9)
Das Massaker von Tlatelolco in Mexiko-Stadt wird heute von vielen als das kulturelle Trauma Mexikos bezeichnet und als politische Zäsur und Bruch in der Geschichte des postrevolutionären Mexikos verstanden (Montemayor 2010; Monsiváis 2008; Scherer García/Monsiváis 2004). Obwohl, wie bereits erwähnt, es auch davor repressive Maßnahmen gegen oppositionelle Bewegungen gab, war das Ausmaß der
32 „Las técnicas de represión y exterminio implementadas por el Estado operaron focalizada, de baja intensidad y semipúblicamente. El objetivo fue la infiltración, paralización y fragmentación de los grupos armados.“ (Gamiño Muñoz 2008: 48). 33 „Aquella noche, en un telefonema urgente me había advertido el secretario de Gobernación [Echeverría] que en Tlatelolco caían sobre todo soldados y a punto de colgar el teléfono había dejado en el aire la frase amenazadora: ,¿queda claro, no?‘“ (Scherer García 2007: 9)
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staatlichen Gewalt gegen demonstrierende Studierende am 2. Oktober 1968 am Platz der Drei Kulturen in Tlatelolco noch nie zuvor so massiv. Der Platz selbst symbolisiert einen Ort der Geschichte Mexikos. Es ist ein Erinnerungsort, der bereits vor 1968 mit Gewalt in Verbindung gebracht wurde. An diesem Ort ermordeten am 13. August 1521 die spanischen Invasoren unter der Führung von Hernán Cortés den letzten Herrscher des Aztekenreiches Cuauhtémoc. Eine Plakette dort erinnert an dieses Ereignis in Tenochtitlán, der damaligen Hauptstadt des Reiches, dem heutigen Mexiko-Stadt. Das Ereignis ist Teil des Gründungsmythos Mexikos. Denn durch diesen Akt der Gewalt wurde die Geburt des heutigen Mexikos als Volk von Mestizen, als NachfahrInnen von Siegern und Besiegten zugleich besiegelt (Huffschmid 2010a). 500 Jahre später ermordeten an diesem symbolträchtigen Ort militärische Einheiten und die paramilitärische Gruppe Brigada Blanca34 Hunderte von demonstrierenden Studierenden. Die gewaltsame Niederschlagung einer Demonstration von etwa zehntausend Studierenden und Sympathisierenden wurde von Präsident Gustavo Díaz Ordaz für notwendig erachtet, seien diese doch „unpatriotisch, zersetzend, kommunistisch und Feinde der Familie und der Religion“35 (zit. in: Monsiváis 2008) gewesen. Die StudentInnen forderten bereits seit Monaten, ähnlich wie im Kontext anderer StudentInnenproteste des Jahres 1968 in Paris, Prag oder Berlin, ein Aufbrechen autoritärer sozialer und politischer Strukturen, Meinungsfreiheit, Pressefreiheit und freie Bildung. „Sie wussten nicht, wie ein Problem des Volkes zu regeln war, eine Petition des Volkes. Und so kam es zum Massaker von 68“36, erinnert Doña Angelica, Schwester eines Verschwundenen vom Comité Eureka in einem Gespräch im Jahr 2009. Bei der Demonstration am 2. Oktober in Mexiko war die Protestbewegung auf Zehntausende angestiegen. Auch andere gesellschaftliche Sektoren solidarisierten sich mit den Studierenden. Einen Protest in diesem Ausmaß wollte sich die mexikanische Regierung angesichts der Tatsache, dass zehn Tage später die Olympischen Spiele in Mexiko-Stadt beginnen sollten, politisch nicht leisten.
34 Die Brigada Blanca setzte sich aus der Direktion folgender Einheiten zusammen: Judicial aus Mexiko-Stadt, Salomón Tanús; Geheimdienst, Francisco Sahagún Baca; Militär, Francisco Quiroz Hermosillo; Judicial Militar, Mario Arturo Acosta Chaparro und Dirección Federal de Seguridad, Luis de la Barreda Moreno und Miguel Nazar Haro. (vgl. Castillo García 2012b). 35 „[A]pátridas, disolventes, comunistas, enemigos de la familia y la religión“ (zit. in Monsivais 2008) 36 „No supieron arreglar un problema del pueblo, una petición del pueblo, entonces se llegó la matanza del 68“ (Doña Angelica, Mexiko-Stadt, 2009).
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Lange Zeit war die Zahl der Ermordeten, Inhaftierten und Verschwundenen nicht bekannt, die PRI-Regierung sprach stets von „nur“ circa 30 Toten. Die heute dokumentierte offizielle Opferzahl ist jedoch 1548 (Huffschmid 2010a). AugenzeugInnenberichten zufolge fuhren Lastkraftwagen beladen mit Leichen vom Platz und Putzeinheiten säuberten noch in derselben Nacht den Platz von Blutspuren und Kleidungsstücken. Die Olympischen Spiele konnten ohne Zwischenfälle stattfinden, die mexikanischen Medien berichteten nicht darüber und internationale JournalistInnen, die im Land waren, erhielten kaum Informationen über das Massaker. Der Zeitzeugenbericht des bekannten mexikanischen Karikaturisten Eduardo del Rio ließ öffentlich werden, dass der in der Nähe von Mexiko-Stadt gelegene erloschene Vulkan von Toluca ein Ort von Massengräbern Verschwundener des Massakers von 1968 ist. Er selbst wurde aufgrund seiner Nähe zu linken Intellektuellen und einer publizierten Kritik am Präsidenten Díaz Ordaz und am mexikanischen Militär 1969 von Agenten der Geheimpolizei Dirección Federal de Seguridad (DFS) in der Hauptstadt verschleppt und an den Vulkanberg gebracht. Vor einem ausgehobenen Erdloch stehend wurde er in einem Akt simulierter Erschießung mit auf ihn gerichteter Waffe verhört und unter anderem auch nach seinen Verbindungen zur Guerilla von Genaro Vázquez und Lucio Cabañas befragt. Dann sagte man ihm: „Wenn sie weiterhin den Herrn Präsidenten und das Militär belästigen, werden wir sie und ihre Familie verschwinden lassen. Wir können diese Beleidigungen nicht zulassen.“37 (Del Rio zit. in Aranda 2002). Er wurde aufgrund seiner Verwandtschaft zu General Lazaro Cárdenas del Rio freigelassen, erfuhr jedoch von den DFS-Agenten: „dass die Militärs richtige Mörder wären, (…) dass auf einem Grundstück beim Vulkan von Toluca einige mit Kreuzen markierte Bäume seien. Unter diesen Bäumen wären einige der Verschwundnenen von 68 vergraben.“38 (Del Rio zit. in Aranda 2002). Ein Element, das im Zentrum des Verschwindenlassens von Personen steht und diese Methode von anderen Praktiken des Staates gegenüber der Bevölkerung unterscheidet, ist die Geheimhaltung jeglicher Informationen über den Aufenthaltsort der Festgenommenen. Geheimhaltung ist das zentrale Charakteristikum, welches diese Methode zu einer besonders schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung für die Betroffenen macht. Verschwindenlassen von Menschen steht auch im Zusammenhang mit Folter, die der Informationsgewinnung über die als Staatsfeinde dek-
37 „Si usted insiste en seguir molestando al señor presidente y al Ejército, lo vamos [a] desaparecer con toda la familia. No podemos permitir estos desacatos.“ (Del Rio zit. in Aranda 2002). 38 „[Q]ue los militares eran unos verdaderos asesinos, uno hijos de la chingada, que en un paraje del Nevado de Toluca había unos árboles marcados con cruces, debajo de los cuales estaban enterrados algunos de los desaparecidos del 68.“ (Del Rio zit. in Aranda 2002).
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larierten Menschen dient. Talal Asad sieht einen Zusammenhang zwischen Folter, Geheimhaltung und staatlicher Politik: „Public rituals of torture are no longer deemed to be necessary to the mainenance of sovereign power [...]. On the contrary, precisely because torture carried out in secret is intimately connected with the extraction of information, it is an aspect of policing.“ (Asad 1996: 114) Überwachung und Kontrolle ist laut Asad eine Regierungsaktivität, die das Interesse der Gesellschaft verteidigt, nämlich: die Sicherheit des Staates und dessen BürgerInnen (Ebd.). Folter als Teil der Kontrolle eines Staates bleibt – im Gegensatz zu legitimer öffentlicher Folter und Hinrichtung in früheren historischen Epochen Europas (vgl. Foucault 1977) – heute geheim. Diese Praktiken von Gewalt wurden zwar im Laufe der Entwicklung der Bürgerrechte per Gesetz verboten, da sie als unzivilisiert, barbarisch und die menschliche Würde zerstörend betrachtet wurden. Dennoch werden diese dehumanisierenden Praktiken – also jene, die Personen ent-menschlichen und entwürdigen – weiterhin ausgeübt. Es ist gerade die Geheimhaltung, die deren Effektivität für den Staat ausmacht. Geheimhaltung hängt eng mit Macht, Kontrolle und Überwachung zusammen, wie Asad feststellt. Überwachung ist also auch „an institution in which knowledge and power depend upon each other, and where power [...] circulates in secrecy.“ (Asad 1996: 114). Im Zusammenhang mit Folter und Verschwindenlassen besteht die Kombination Wissen und Macht der staatlichen Akteure darin, dass es einerseits für den durchgeführten Akt der Folter, der illegitimen Informationsgewinnung und des Verschwindenlassens scheinbar keinen Beweis gibt, es somit also keine Sanktionen für die Ausführenden geben kann. Und dass andererseits gerade die Geheimhaltung über diesen Akt es ist, die für die Aufrechterhaltung der Ordnung sorgt und der sozialen Kontrolle der Bevölkerung dient. Geheimhaltung schürt Angst und Unsicherheit in der betroffenen Bevölkerung – bei den Angehörigen der Verschwundenen – und ist somit ein Mittel staatlicher Kontrolle. Die soziale Kontrolle der Bevölkerung, um es mit Pierre Clastres auszudrücken, begründet sich gleichzeitig auch auf der Angst der RepräsentantInnen des Staates: „Man stößt somit auf dem Grund des Staates auf die in Ausübung begriffene Macht des Einen, auf die Ablehnung der Vielfalt als deren Neigung, auf die Furcht und den Schrecken vor der Unterschiedenheit.“ (Clastres 2008/[1980]: 15) Differenz, Diversität und Heterogenität sollen also dem einen politisch homogenen Konzept des Nationalstaates im Sinne einer imaginierten Gemeinschaft (Anderson 1983) weichen. Dieses Konzept muss verteidigt werden gegenüber all jenen internen FeindInnen, die diese Ordnung herausfordern. Die Akteure dieser Verteidigung werden dafür mit gesetzlich zwar illegitimer, jedoch im Sinne staatlicher Politik legitimer Macht ausgestattet, Gewalt gegen interne FeindInnen anzuwenden. So wurde in Mexiko zwei Jahre nach dem Massaker von Tlatelolco, über das von offizieller Seite fortan geschwiegen wurde, eine weitere geheime paramilitäri-
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sche Gruppe konstituiert, die gegen interne FeindInnen vorgehen sollte. Luis Echeverría wurde im Jahr 1970 mit seiner politischen Botschaft der demokratischen Öffnung des Landes zum Präsidenten gewählt. Angesichts der Legitimationskrise der PRI nach dem Massaker von 1968 bediente sich Echeverría eines demokratischrevolutionären Diskurses. Er investierte zum Beispiel in die Universitäten und förderte linke Intellektuelle und diverse Kulturinstitutionen. Dennoch führte er die repressive Politik von Gustavo Díaz Ordaz weiter. Unter Díaz Ordaz war er als Innenminister maßgeblich an den Ereignissen in Tlatelolco beteiligt. Echeverría ordnete am 10. Juni 1971 an, einen weiteren Protest von Studierenden in Mexiko-Stadt niederzuschlagen. Eine paramilitärische Gruppe, die später als Los Halcones (die Adler) bekannt wurde, schlug auf eine demonstrierende Gruppe von Studierenden am Hauptplatz von Mexiko-Stadt ein und ermordete 120 von ihnen.39 Da der 10. Juni der Fronleichnamstag war, wurde dieses Massaker fortan als das Massaker von Corpus Christi bezeichnet. Echeverría sollte im Jahr 2006 dafür vor Gericht gestellt werden (vgl. Kap. 4.3.6). Durch Dokumente des US-amerikanischen Botschafters in Mexiko, Robert McBride, und das Buch des ehemaligen CIA-Agenten Philipp Agee (1975) wurde bekannt, dass sowohl Präsident Díaz Ordaz als auch Echeverría enger Verbündeter der Politik der nationalen Sicherheit und die Mexikaner der Gruppe Halcones an der internationalen Polizeiakademie in Washington in Aufstandsbekämpfungsmethoden ausgebildet wurden (vgl. Lissardy 2002). McBride schrieb im Jahr 1969, kurz vor Beginn der Präsidentschaft von Echeverría an US-Präsident Nixon: „[Echeverría] sagte, dass Mexiko auf sich aufpassen würde und dass die USA, sobald er Präsident sein würde, keinerlei Furcht vor einer kommunistischen Bedrohung an der südlichen Flanke haben müssen.“40 (McBride zit. in: Lissardy 2002: 8) US-Präsident Nixon bezeichnete die Zusammenarbeit mit Echeverría daher auch als sehr erfolgreich und zufriedenstellend (Ebd.). Im Folgenden sollen einige Aspekte der lokalen Machtgefüge in Mexiko skizziert werden, die für ein Verständnis des spezifischen Kontextes des Schmutzigen Krieges in der Sierra de Atoyac in Guerrero wichtig sind.
39 Vgl. den Dokumentarfilm von Carlos Mendoza: Halcones. Terrorismo de Estado. Canal Seis de Julio. Mexiko, 2006. 40 „[Echeverría] le dijo que Mexico se cuidaría a si mismo y que, en tanto él fuera presidente, Estados Unidos no debia temer de cualquier amenaza comunista en su flanco sur.“ (McBride zit. in: Lissardy 2002: 8)
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1.4 K ONTINUITÄTEN : P OSTKOLONIALE F IGUREN DER M ACHT - C AUDILLOS UND K AZIKEN „Er war es, der unseren Kaffee kaufte, er lebte von uns wie ein Parasit. (…) Und so war es 41
auch eine Gesellschaft nur von ihnen, nur für sie.“ (Don Mario, San Vicente de Jesús, 2007)
Don Mario, Sohn eines Verschwundenen, verweist im obigen Zitat auf einen lokalen Kaffeehändler, der politische und ökonomische Macht in der Region ausübte. Die Dynamiken während des Schmutzigen Krieges in Atoyac de Álvarez im Bundesstaat Guerrero weisen Aspekte der jahrhundertelangen strukturellen Gewalt und Marginalisierung der ruralen Bevölkerung Mexikos auf. Will man die lokalen Machtbeziehungen im ruralen Mexiko verstehen, in denen sich Kleinbauern bewegen, stößt man immer wieder sowohl in den Narrativen der Menschen als auch in den Analysen aus der Literatur auf die Figur des Kaziken (cacique). So erzählt José Luis Arroyo Castro aus Atoyac, Sohn eines Folteropfers und Neffe eines Verschwundenen: „Es waren die Kaziken, gegen die mein Vater sich schon seit den 1950er Jahren hier im Dorf San Vicente auflehnte. Der Kazike hier hat alles kontrolliert und regiert, er hat die Kleinbauern schikaniert, hat sie ausgebeutet. Mein Vater wurde verfolgt von dessen Handlangern, er musste sich verstecken. Und dann, auch Lucio Cabañas hat gegen die Kaziken gekämpft. Sie waren das wahre Problem in unseren Dörfern hier.“42 (José Luis Arroyo Castro, Atoyac, 2008)
Gewalt und Repression, die vom mexikanischen Militär während des Schmutzigen Krieges der 1970er Jahre ausgeübt wurden, waren also nicht kurzfristige Aktionen staatsterroristischer Methoden. Vielmehr waren es Konsequenz und Fortführung historischer Prozesse und Spannungen, die sich in dichotomen und mit Gewalt verbundenen Konstruktionen von reich/arm, Herr/Knecht, Freund/Feind ausdrücken. Der mexikanische Anthropologe Bonfil Batalla beschreibt in seiner Analyse México
41 „Ese era el que compraba el café de nosotros, ese vivía de nosotros como un parasito. (…) Entonces era una sociedad de ellos, que solamente ellos pues.“ (Don Mario, San Vicente de Jesús, 2007) 42 „Fueron los caciques contra los que se rebelaba mi papá ya desde los años 50s, aquí en San Vicente. El cacique controlaba todo, dominaba todo, molestaba a los campesinos, los explotaba. A mi papá lo persiguieron su gente y se tuvo que esconder. Y después, también Lucio Cabañas luchaba contra los caciques. Ellos eran aquí el verdadero problema en nuestras comunidades.“ (José Luis Arroyo Castro, Atoyac, 2008)
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Profundo (1987) die Geschichte der Beziehung des kolonialen und postkolonialen dominanten urbanen Zentrums (das Imaginäre Mexiko) zur ruralen Peripherie der indigenen und „de-indigenisierten“, also mestizischen kleinbäuerlichen Gemeinschaften (das Profunde Mexiko). Dabei geht es vor allem um eine Beziehung ökonomischer und politischer Kontrolle. Eric Wolf stellte dazu fest: „[F]rom the beginning of Spanish rule in Mexico, we confront a society riven by group conflicts for economic and political control.“ (Wolf 1956: 1067) Der Ursprung der heutigen comunidades, der Dorfgemeinschaften, auch in Guerrero, liegt in der Zeit der Konflikte um die Kontrolle der Bevölkerung in der spanischen Kolonialzeit: „[T]he Crown encouraged the organization of the Indian population into compact communities with self-rule over their own affairs, subject to supervision and interference at the hands of royal officials.“ (Wolf 1956: 1067) Die Figur des Caudillo ist dabei eine spezifische Form der Macht und Kontrolle in den politischen Systemen Lateinamerikas und auch Mexikos, die ihren Ursprung in der spanischen Kolonialzeit hat. Der Begriff Caudillo bezeichnete ursprünglich einen Heerführer im spanischen Mittelalter zur Zeit der Reconquista und wurde dann mit der Eroberung des amerikanischen Kontinents auch in Lateinamerika als Bezeichnung für die militärischen Führer verwendet (vgl. Hamill 1992). Nach der Unabhängigkeit Mexikos wurde der Begriff für die männlichen Präsidenten verwendet, die mit autoritärem Führungsstil regierten (vgl. Wolf/Hansen 1967; Brading 1980; Krauze 1994). Der Caudillo ist zugleich Präsident und Patriarch, ist Diktator, General und Tyrann. Er regiert und herrscht mit uneingeschränkter Macht und Willkür und ist unantastbar. Caudillos bestimmen über Leben und Tod ihrer Untertanen und ihrer politischen GegnerInnen und weben ein Kontrollnetz von korporativistischen Beziehungen um sich. Dafür haben sie auf einer lokalen Ebene in den ruralen Gebieten der Dorfgemeinschaften, aber auch in den Kleinstädten, ihre politischen und ökonomischen Handlanger der sozialen Kontrolle – die Kaziken. Ursprünglich waren Kaziken die indigenen Führer vor der spanischen Kolonialzeit, die nach der Eroberung indigener Territorien als Kontrollinstanz des spanischen Herrschaftssystems eingesetzt wurden. Nach der Unabhängigkeit Mexikos im Jahr 1821, waren die Kaziken im mexikanischen Nationalstaat weiterhin die politischen und wirtschaflichen Despoten auf lokaler Ebene. Zur Zeit des mexikanischen Caudillo und Diktators Porfirio Díaz (1876 – 1910) wurde über die Unterdrückung der Kleinbauern und das Übel des Caciquismo in den ländlichen Regionen Mexikos geklagt. „Es ist das grausame Kazikentum, welches das Volk mit schwerer Last erdrückt und ihnen jeglichen Frieden verweigert.“43 (Turner 1911: 135) zitiert John K. Turner im Jahr 1909 aus der mexikanischen Zeitung El Pais. Dieses autoritäre
43 „Es el feroz caciquismo que oprime al pueblo con pesado yugo y que lo ha privado de todos los beneficios de la paz.“ (Turner 1911: 135)
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Regime konnte nur aufgrund bestimmter Elemente bestehen. Turner schrieb darüber in seinem Buch México Bárbaro (1911): „Die Autokratie kann sich nicht aus dem Nichts erschaffen. (…) es wird eine militärische Organisation benötigt, die bis auf die Zähne bewaffnet ist; es braucht Polizisten und Spione; es braucht Enteignungen und Verhaftungen aus politischen Gründen; und morden..., kontinuierliches Morden! Keine Autokratie kann ohne Ermordungen existieren. Sie nährt sich erst dadurch.“ (Turner 1911: 124f.)
Diese von Turner beschriebenen Aspekte sind von Bedeutung, da Porfirio Díaz ein politisches System entwickelte, welches bis in das gegenwärtige Mexiko Gültigkeit hat. Es zeichnete sich durch einen komplexen militärischen und polizeilichen Apparat der Repression aus. Militärlager wurden in jeder Stadt aufgebaut und rurale Polizeieinheiten, politische Polizei und Geheimpolizeieinheiten sorgten für die umfassende Kontrolle jeglicher Oppositionsbewegung gegenüber dem Diktator. Die Opposition setzte sich zu dieser Zeit vor allem aus der Bewegung der Partido Liberal Mexicano (Liberale Partei Mexikos) der Brüder Flores Magónzusammen, die demokratische Wahlen und ein Ende von feudalen Ausbeutungsverhältnissen von Kleinbauern und Indigenen auf den Großgrundbesitzen forderten. Die Großgrundbesitzer waren die Kaziken, die neben der wirtschaftlichen Macht einer Region auch die politische Macht über die lokale Bevölkerung ausübten. Die Brüder Flores Magon44 waren dabei einer der politischen Oppositionsfiguren, die gegen diese strukturelle Gewalt ankämpften und die Forderung tierra y libertad (Land und Freiheit) prägten. Diese Forderung sollte einige Jahre später in der Mexikanischen Revolution und mit der Figur EmilianoZapata sowie in den 1990er Jahren in der Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) in Chiapas zentral werden (Díaz-Polanco 1997; Harvey 2000; Karl 2001). Innerhalb des politischen Kontrollsystems von Porfirio Díaz fanden sich auf lokaler Ebene auch die acordados, eine geheime paramilitärische Truppe, die dem jeweiligen Gouverneur eines Bundesstaates unterstand. „Die acordada eliminiert üblicherweise die persönlichen Feinde des Gouverneurs oder der politischen Führer (…). Die Beamten geben die Namen der Opfer weiter und die Mitglieder dieser Gruppe werden auf Befehl geschickt, um diese leise und ohne Skandal zu ermor-
44 Die Brüder Flores Magon gründeten die Liberale Partei Mexikos, einer der ideologischen Vorreiter der Mexikanischen Revolution. In Mexiko politisch verfolgt, flohen sie 1904 in die USA. Sie wurden dort im Jahr 1905 inhaftiert und dann ermordet. Aus den USA publizierten sie weiter die Zeitschrift Regeneración, die für die mexikanische Opposition der Díaz-Diktatur von politischer Bedeutung war (vgl. Gilly 2003).
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den.“45 (Turner 1911: 130) Es gibt Berichte, wonach in der Zeit der Diktatur von Porfirio Díaz, diese acordados auch dafür zuständig waren, Menschen verschwinden zu lassen. Turner beschreibt ein solches Ereignis: „Einige Liberale (…) haben mir von Freunden erzählt, die plötzlich verschwunden sind und von denen man nichts mehr hörte; man glaubt, dass viele von ihnen von der acordada eliminiert wurden.“46 (Ebd.: 131) Politische Häftlinge der Díaz-Diktatur wurden in Gefängnisse wie jenes von San Juan de Ulua vor der Küste von Veracruz gebracht, wo ihnen jeglicher Kontakt zur Außenwelt verwehrt wurde und niemand je wieder Informationen über sie bekam: „[S]ie verschwinden hinter grauen Mauern und das ist alles. Ihre Freunde erfahren weder, wie es ihnen geht, noch wann sie gestorben sind und woran.“47 (Ebd.: 135) Porfirio Díaz errichtete im Jahr 1900 auch das damals als modernste Haftanstalt Lateinamerikas gefeierte Gefängnis von Lecumberri im Panopticon-Stil von Jeremy Bentham (1791). In diesem Gefängnis in MexikoStadt, genannt der Schwarze Palast (Palacio Negro), wurden in den darauffolgenden Jahrzehnten zahlreiche politische GegnerInnen inhaftiert, darunter auch jene während des Schmutzigen Krieges der 1960er und 1970er Jahre.48 Das autoritäre Regime von Porfirio Díaz führte auch zu seinem Sturz. Im Jahr 1910 ließ sich Díaz wiederwählen. Er wurde jedoch von der Opposition gestürzt und der zuvor inhaftierte Francisco Madero wurde Provisorischer Präsident. Díaz floh ins Exil nach Frankreich. Dieses Ereigniss war der Beginn der komplexen und ereignisreichen Mexikanischen Revolution (1910 – 1919), die schließlich zum Beginn der PRI-Herrschaft (Partei der Institutionalisierten Revolution) führte. Auch die Präsidenten der PRI wurden während ihrer 71 Jahre dauernden autoritären Herrschaft als Caudillos bezeichnet, da sie trotz des Anspruchs eines sozialrevolutionären gerechten Gesellschaftssystems mit uneingeschränkter Macht, Willkür und Straflosigkeit regierten. Die Figur des Caudillo ist dabei jedoch nicht beschränkt auf die PRI-Herrschaft. Wie im Laufe der Arbeit noch gezeigt werden wird, regie-
45 „La acordada suele eliminar a los enemigos personales del gobernador o de los jefes politicos (…). Los oficiales proporcionan los nombres de las victimas, y los miembros de ese cuerpo son mandados con ordenes de matar silenciosamente, sin escandalo.“ (Turner 1911: 130) 46 „Algunos liberales (…) me han hablado de amigos que desaparecieron repentinamente y no se supo más de ellos; se piensa que muchos fueron eliminados por la acordada.“ (Ebd.: 131) 47 „[D]esaparecen dentro de los muros grises y eso es todo. Sus amigos nunca saben como la pasan, ni cuando mueren, ni de qué.“ (Ebd.: 135). 48 In der Aufarbeitung des Schmutzigen Krieges wird dieses ehemalige Gefängnis eine andere Bedeutung erhalten. Das Gebäude beherbegt heute das Nationalarchiv und unter anderem die Dokumente zum Schmutzigen Krieg (vgl. Kap. 7.3.4).
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ren auch die nachfolgenden Präsidenten der PAN (Partei der Nationalen Aktion) ab dem Jahr 2000 im politischen Stil von Caudillos. Im Kontext dieser Figuren der Macht ist auch der Schmutzige Krieg in Mexiko zu sehen. Caudillos und Kaziken waren verantwortlich für Gewalt und Repression im vergangenen Konflikt des Schmutzigen Krieges. So betonte auch Präsident Díaz Ordaz (1964 – 1970), dass das Teilen der Macht mit den Kaziken notwendig war, um die Kleinbauern lokal zu kontrollieren und soziale Aufstände zu verhindern (vgl. Glockner 2008).49 „Zwischen Land und Stadt waren die Beziehungen nie auf gleicher Augenhöhe, sondern immer von der Unterwerfung des indigenen-Ruralen gegenüber dem urbanen-Spanischen geprägt. Diese Identifikation ist bis heute gültig (…). Es ist eine Identifikation gestützt durch die Herrschaft, die das urbane Mexiko über das rurale Mexiko ausübt.“
50
(Bonfil Batalla
1987: 81)
Bonfil Batalla zeigt wichtige historische und strukturelle Gewalt- und Konfliktdynamiken Mexikos auf, die auch für die Analyse des Schmutzigen Krieges im Kontext des ruralen Guerrero von Bedeutung sind. In der Dichotomie zwischen dem México Profundo und dem México Imaginario, also dem urbanen Machtzentrum und der ruralen Peripherie befindet sich die Figur des Kazikenin einer Zwischenposition. Er übt die politische, ökonomische und soziale Kontrolle über Kleinbauern aus und wurde von diesen stets als der „lange Arm“ der reichen Eliten aus der Stadt gesehen. Er ist Großgrundbesitzer, Inhaber von zumeist agroindustriellen Unternehmen und beschäftigt Kleinbauern als billige Arbeitskräfte oder Tagelöhner auf seinem Landbesitz oder Unternehmen. Er war und ist das Bindeglied zu den urbanen politischen Zentren, ist Alliierter der regierenden politischen Parteien, der Polizei und des Militärs. Immer noch haben die heutigen mexikanischen Eliten eine „koloniale Mentalität, die auf einer hierarchischen Ordnung beruht, die ihnen dient.“51 (Ebd.: 106) Die Art und Weise, wie politische Prozesse in Mexiko ablaufen, charakterisieren sich stets durch klientelistischen Beziehungen und Netzwerke mit ihren spezifischen sozio-kulturellen Codes. Das System des Caciquismo ist demnach zentral für ein Verständnis mexikanischer Politik (vgl. Knight/Pansters
49 Interview mit Fritz Glockner im Dokumentarfilm: „El crimen de Zacarías Barrientos“, 2008, von Ludovic Bonleux. 50 „Entre campo y ciudad las relaciones nunca fueron de igual a igual, sino de sometimiento de lo indo-rural a lo urbano-español. Esta identificación perdura hasta hoy (…). Es una identificación respaldada por el dominio que ejerce el Mexico urbano sobre el Mexico rural.“ (Bonfil Batalla 1987: 81) 51 „[M]entalidad colonizada, sustentada en un orden de dominacion que los beneficia (…)“ (Bonfil Batalla 1987: 106).
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2005, Lomnitz-Adler 1992). Diese spezifischen Machtverhältnisse zeigen sich auch auf lokaler Ebene im Bundesstaat Guerrero. In den folgenden Kapiteln wird der Konflikt in der Sierra de Atoyac beleuchtet, der eingebettet in den nationalen und globalen Kontext zu sehen ist, aber dennoch spezifische lokale Ausprägungen hat.
2. Schmutziger Krieg in Guerrero (1967 – 1974): Kaziken und Pobrismo „Es ist nicht ein Bundesstaat Guerrero, es sind drei Staaten in einem. Der luxuriöse, der Acapulco und Ixtapa als Orte der Ausschweifungen hat und zu denen Touristen aus aller Welt Zugang haben (…). Jener der Magnaten, die sich pathologisch bereichern, indem sie mit Land, Drogen und Seelen handeln. Und jener der Kleinbauern, die immer mehr in Armut versinken.“1 (Zepeda 1996: 1) „Vor vielen Jahren hat auf diesem Boden die perverse Praktik des Verschwindenlassens begonnen. In meinem Archiv bewahre ich den Namen des ersten Opfers: Epifanio Avilés Rojas, Lehrer, wie soviele, die die Soldaten (‚auf höheren Befehl )ދin das Militärlager Nummer 1 verschleppten.“2 (Ibarra 2009b: 10)
Der erste offizielle bekannt gewordene Fall eines politisch Verschwundenen in Mexiko aus dem Jahr 1969 kommt aus dem Bundesstaat Guerrero, wie sich Rosario Ibarra (2009b) erinnert. Der Fokus der ethnographischen Studie liegt auf den Entwicklungen in der Region dieses Bundesstaates, in der die Bevölkerung zur Zeit des mexikanischen Schmutzigen Krieges am meisten von politischer Gewalt betroffen war: in den comunidades der Sierra de Atoyac. In der Darstellung dieser Prozesse
1
„No es un estado de Guerrero, son tres estados en uno. El oropelesco, que tiene a Acapulco e Ixtapa como escaparates, al que tienen acceso turistas de todo el mundo (…). El de los magnates que se enriquecen patológicamente comerciando terrenos, drogas y almas. Y el de los campesinos, cada vez más empantanados en su miseria (…).“ (Zepeda 1996: 1)
2
„Desde hace muchos años inició en ese suelo la práctica perversa de las desapariciones. En mi archivo guardo el nombre de la primera víctima: Epifanio Avilés Rojas, maestro, como lo fueron también muchos de los que los ,guachos‘ se llevaron (,por órdenes superiores‘) al Campo Militar Número Uno.“ (Ibarra 2009b: 10)
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wird dabei besonderes Augenmerk auf jene Ereignisse gelegt, die in der Erinnerung der Angehörigen von Verschwundenen, Folteropfern und Überlebenden präsent sind. Es sind dies insbesondere die Ereignisse im Zeitraum von 1967 (dem Massaker in Atoyac de Alvárez) bis 1974 (dem Tod von Lucio Cabañas Barrientos). Obwohl es auch vor und nach diesem Zeitraum politische Repression in dieser Region gab und gibt, wird von der lokalen Bevölkerung besonders dieser Zeitraum als die schlimme Zeit des Schmutzigen Krieges umschrieben. Es war die Zeit der massivsten Militärpräsenzund der systematischen politischen Verfolgung der Bevölkerung. Es stellen sich in diesem Kontext die Fragen: Welche historischen Entwicklungen führten zum Konflikt? Wer ließ wen aus welchen Motiven und zu welchem Zweck verschwinden? Wer sind die Opfer, wer die Täter und gibt es dabei Grauzonen (vgl. Levi 1988) zwischen Opfern und Tätern? Was sind die Auswirkungen für die Betroffenen und welche Prozesse und Dynamiken entwickeln sich aus diesem Gewaltphänomen? Es werden die lokalen Erfahrungen und Perspektiven der Angehörigen von Verschwundenen, Folteropfern und Überlebenden nachgezeichnet und eine Kontinuität zwischen Dehumanisierungsprozessen und den im zweiten Teil der Arbeit beschriebenen Rehumanisierungsprozessen dargestellt werden. Viele Teile der folgenden Kapitel basieren auf den Narrativen aus der Erinnerung von Angehörigen Verschwundener. Zunächst folgt jedoch ein kurzer Abriss der Geschichte der Sierra de Atoyac, in dem gezeigt wird, dass der Schmutzige Krieg in Guerrero kein historisch isoliertes Phänomen war. Vielmehr soll gezeigt werden, dass die Konflikte in dieser Region eine zyklische Abfolge von Repressionen und Rebellionen darstellen und Ausdruck struktureller Gewalt sind. Das Wissen um das Leid der davon betroffenen Bevölkerung drückt sich auch in emotionalen Narrativen aus, auch von Menschen, die selbst nicht aus diesem Bundesstaat kommen. So sagte etwa Rosario Ibarra, Mutter eines Verschwundenen des Comité Eureka: „Ach, Guerrero, wie leidet dein Volk!“3 (Ibarra 2009b: 10). Doña Angelica, Schwester eines Verschwundenen, der Mitglied der Liga Comunista 23 de Septiembre war, meinte zu den Gründen, warum die mexikanische Regierung Menschen verschwinden ließ, anstatt sie zu inhaftieren und dies der Familie bekannt zu geben: „Ich glaube, es soll eine Art Vorzeigeeffekt dem Volk gegenüber haben, dass sie auch genauso bestraft werden können, wenn sie sich erheben, wenn sie protestieren. Es wirkt wie ein Beispiel. Aber es ist ein grausames Beispiel und in der Verfassung steht nicht, dass sie das mit unseren Familienangehörigen, mit den Bürgern machen dürfen. Es gibt keinen Grund,
3
„¡Ay, Guerrero, cuánto sufre tu pueblo!“ (Ibarra 2009b: 10)
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dass sie foltern, verschwinden lassen, dass es Geheimgefängnisse gibt!“ (Doña Angelica, Mexiko-Stadt, 2009)
Doña Angelica spricht wichtige Aspekte an. Sie spricht von Macht, von Regierung und Despotismus, von sozialem Protest, Repression, Strafe und Illegitimität. Diese Aspekte bilden den Rahmen, in dem das Verschwindenlassen als Methode analysiert werden muss. Die Aussage von Doña Angelica muss dabei in einen breiteren Kontext gestellt werden. Wie kam es zum Einsetzten des Verschwindenlassens als Methode in Mexiko? Welche politischen Konflikte führten dazu und welche Diskurse entwickelten sich dabei? Wie erlebte die Bevölkerung in den comunidades der Sierra de Atoyac die politische Gewalt? Welche Auswirkungen hatte das Verschwindenlassen von Menschen auf soziale Netzwerke auf einer lokalen Ebene. Diesen Fragen soll in den folgenden Kapiteln nachgegangen werden.
2.1 S IERRA DE ATOYAC : K LEINBAUERN UND K ONTINUITÄTEN RURALER R EBELLIONEN „Was in der Geschichte Guerreros verwundern sollte, ist nicht die immer wiederkehrende Gegengewalt, sondern die sameriterhafte Geduld, mit der sich die Bevölkerung immer wieder organisiert, um mit friedlichen Mitteln ihre Forderungen zu stellen. Aber die Antwort der Regierenden und der Kaziken auf diese pazifistischen Bewegungen ist immer das Eisen und das Feuer. Und angesichts der verschlossenen Türen erheben die chronisch Zurückgewiesenen die Stimme, den Stein, die Machete (…).“5 (Bartra 2000: 17)
Die BewohnerInnen von Guerrero und besonders die Kleinbauern der Sierra de Atoyac werden im nationalen Imaginären oft als Menschen einer kriegerischen und rebellischen Kultur betrachtet. Wie Bartra im obigen Zitat beschreibt, richtet sich
4
„Yo creo que es como una demonstración hacía el pueblo de que pueden ser castigados de la misma forma si se levantan, si protestan. Es como un ejemplo. Pero es un ejemplo aberrante que en la constitución no está plasmado que deben de hacer eso con nuestros familiares, con los ciudadanos. ¡No tienen porque torturar, porque desaparecer, porque haber carceles clandestinas!“ (Doña Angelica, Mexiko-Stadt, 2009)
5
„En la historia de Guerrero lo que debiera extrañar no es la recurrente violencia contestataria, sino la paciencia samaritana con que la pobacion se organiza una y otra vez para gestionar de buen modo sus reclamos. Pero la respuesta de gobernantes y caciques a estos movimientos pacíficos es siempre el hierro y el fuego, y ante las puertas cerradas los rechazados crónicos levantan la voz, la piedra, el machete (...).“ (Bartra 2000: 17)
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dabei die sich kontinuierlich wiederholende Gewalt der chronisch zurückgewiesenen Kleinbauern gegen die Unterdrückung der Kazikenund Regierenden. Miranda Ramírez, Ex-Guerillero der Asociación Civica Nacional Revolucionaria und heute Wissenschaftler an der Universidad Autónoma de Guerrero beschreibt dies als eineSpirale von Repression – Rebellion – Repression, in der „sich die Identifikation des Ausgangspunktes, an dem dieser lange Prozess begonnen hat, in Zeit und Raum verliert“6 (Miranda Ramírez 2006: 2). Der Beginn der Spirale Repression – Rebellion – Repression ist schwer zu markieren, es sollen jedoch im Folgenden einige Aspekte der Geschichte der Sierra de Atoyac beschrieben werden, um den spezifischen lokalen Kontext des Schmutzigen Krieges einzubetten. Der Großteil der Verschwundenen in Mexiko sind Kleinbauern aus den comunidades der Sierra von Atoyac. Es war das am meisten militarisierte Gebiet zur Zeit des Schmutzigen Krieges. Aus diesem Gebiet kommen von den offiziell registrierten 532 Fällen von Verschwundenen ca. 400. Angehörigenorganisationen wie AFADEDM und Comité Eureka sprechen jedoch von 1.200 Fällen, die es auf nationaler Ebene gibt und von ca. 600 Fällen, die aus Atoyac stammen. Eine genaue Zahl gibt es jedoch aufgrund der Schwierigkeiten des Zugangs zu den Daten nicht. Die Zahl hängt auch davon ab, ob das Verschwindenlassen eines Familienmitglieds von Angehörigen angezeigt wurde, denn, so Erzählungen von lokalen BewohnerInnen, nicht alle Angehörigen, die Verschwundene in ihren Familien haben, haben diese auch öffentlich gemacht. Im Folgenden werden einige Aspekte der comunidades von Atoyac beschrieben, aus denen die Verschwundenen und die Angehörigen kommen, um die Konsequenzen des erzwungenen Verschwindenlassens für das lokale soziale, ökonomische und kulturelle Gefüge zu verstehen. Der Name des Bezirkes Atoyac de Álvarez und der Sierra de Atoyac hat seinen Ursprung aus den beiden nahuatl-Wörtern atl und toyahuí, was corriente de agua (Wasserstrom) oder lugar del rio (Ort des Flusses) bedeutet (vgl. Galeana Laurel 2008). Der Bezirk Atoyac hat eine territoriale Ausbreitung von 1.638,4 km² (2,6% des Bundesstaates). Es besteht im nördlichen Teil aus der Sierra Madre Occidental, wo die höchste Erhebung der Cerro de Teotepec oder Montaña de Dios ist, der höchste des Bundesstaates Guerrero mit einer Höhe von 3.705 m. Die Verteilung der einzelnen comunidades in dem bergigen Gelände der Sierra hatte auch für die Entwicklung und Ausbreitung der bewaffneten Bewegung, der Guerilla von Lucio Cabañas und der Aufstandsbekämpfung des mexikanischen Militärs eine Bedeutung. Die Bevölkerung besteht laut Zensus (2005) aus 58.452 EinwohnerInnen, die zum Großteil mestizische Kleinbauern sind. Etwa ein Prozent der Bevökerung sind
6
„[P]erdiéndose en el tiempo y el espacio la identificación del punto de partida en que tuvo su origen ese largo proceso“ (Miranda Ramírez 2006: 2).
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indigene Kleinbauern, vor allem der Sprachgruppen der tlapaneco und náhuatl. Die mestizischen Kleinbauern bezeichnet Bonfil Batalla (1987: 77) als die deindingenisierten (deindianizados) Kleinbauern Mexikos, die zwar keine indigene Sprache mehr sprechen, sich selbst auch nicht als Indigene bezeichnen, aber dennoch in ihrer Sozialstruktur und Lebensweise zentrale Aspekte der mesoamerikanischen Kulturen aufweisen.7 Es werden etwa viele indigene Wörter für verschiedene Objekte und Nahrungsmittel des campesino-Lebens verwendet. So ist eines der zentralen sozio-ökonomischen Elemente sowohl der indigenen als auch der mestizischen Kleinbauern die milpa, das Maisfeld (mil-pa, nahuatl „hingehen“). In der milpa werden vorwiegend in Subsistenzwirtschaft neben Mais die drei Elemente des traditionellen mesoamerikanischen Agrarsystems angebaut: Chili, Tomaten und Bohnen in einem zyklischen Brandrodungsfeldbau. Für die tägliche Arbeit auf der milpa wird vor allem die machete als wichtigstes Arbeitsgerät eingesetzt. Das Leben der Kleinbauern ist bestimmt vom agrarischen Jahreszyklus rund um den Mais. Mit Mais werden von den Frauen tortillas, das Hauptnahrungsmittel, auf dem fogón (Feuerstelle) und comal (Tonplatte) zubereitet. Andere Nahrungsmittel aus Mais mit indigenen Bezeichnungen sind zum Beispiel atole (Maisgetränk), tamal (gefüllte Mais- oder Bananenblätter), pozole (Maiseintopf) oder huitlacoche (Pilz der Maispflanze). Ebenso ist die Praxis eines synkretistischen Katholizismus vermischt mit Elementen der mesoamerikanischen Glaubenselemente weit verbreitet. Dazu gehört der Glaube an übernatürliche Geister in der Natur, die eine Wirkung auf das Leben der comunidad, der Familien und der Individuen haben. So etwa die chaneques, die als kleine spirituelle Wesen der Unterwelt beschrieben werden, die Beschützer der Pflanzen und Tiere sind aber auch verantwortlich für Krankheiten und Tod sein können. Oder auch das Konzept des susto, welches die körperlichen und psychischen Konsequenzen von Angst und eines Erschreckens über etwas beschreibt. Susto wird sowohl von mestizischen als auch indigenen HeilerInnen in den comunidades der Sierra de Atoyac durch verschiedene Zeremonien mit Hilfe von Kräutern, Kerzen, Rauch, Alkohol, Mais, Bohnen und anderen Elementen behandelt. Von susto wird auch in Verbindung mit Erfahrungen von Gewalt gesprochen. Viele ZeitzeugInnen sprechen vom susto in den comunidades zur Zeit der Militarisierung und der Übergriffe der Soldaten. Die körperlichen Auswirkungen von susto können dabei vielfältig sein, wie Schlaflosigkeit, Schwindel, Depression, Magenschmerzen oder Kopfschmerzen, wie von BewohnerInnen der comunidades erzählt wird.8
7
Vgl. zu Geschichte und Entwicklung der kleinbäuerlichen indigenen und mestizischen comunidades in Mexiko auch Tejera Gaona 1993.
8
Vgl. dazu auch die Ausführungen zu susto bei Gewalterfahrungen in Maya-comunidades im Zusammenhang mit dem Bürgerkrieg in Guatemala in Green 1994.
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Der Bezirk besteht aus 152 comunidades, die in Ejidos strukturiert sind. Ejidos sind Territorien in Staatsbesitz, die an Kleinbauernverteilt wurden und auf die Agrargesetzgebung nach der Mexikanischen Revolution (1910 – 1919) zurückgehen. Eric Wolf definierte das mexikanische Ejido folgendermaßen: „In Mexico, most of the land expropiated after the Revolution was granted to communities of cultivators, constituted as corporate units, or ejidos. Each ejido in turn was to consist of inalienable plots granted to particular families.“ (Wolf 1966: 58) Die Ejidos waren bis zu einer Gesetzesänderung im Zuge neoliberaler Reformen im Jahr 1992 unter dem Präsidenten Salinas de Gortari (PRI) nicht veräußerbar.9 Die höchsten politischen Ämter in jeder comunidad besetzen der comisario und der comisariado. Der comisario wird für ein Jahr von der Dorfversammlung gewählt und ist für die internen Angelegenheiten der comunidad, wie zum Beispiel für Streitregelungen, Konfliktschlichtungen und allgemeine Belange zuständig. Er ist auch der/die RepräsentantIn der comunidad nach außen im Bezirk Atoyac. Der comisariado ist zuständig für das Ejido, also für Belange rund um Agrarangelegenheiten. Er/sie wird für drei Jahre gewählt. Comisariados sind wichtige InteressenvertreterInnen nach außen, wenn es um Zuteilung von Landressourcen, Agrarsubventionen oder Förderprogramme fürKleinbauernvon Seiten der Regierung geht. Zur Geschichte10 von Atoyac ist die wichtige Rolle hervorzuheben, die einzelne historische Akteure von Atoyac in den Unabhängigkeitskriegen (1810 – 1821) gegen Spanien spielten. So zum Beispiel Juán Álvarez, der Namensgeber des Bezirkes Atoyac de Álvarez, der an der Seite des aufständischen Heeres und Vicente Guerrero (des Namensgebers des Bundestaates) im Unabhängigkeitskrieg gegen die Truppen der spanischen Kolonialmacht kämpfte. Bis in die Gegenwart wird daher in der mexikanischen cultura popular von den guerrerenses als einem kriegerischen
9
Diese Gesetzesänderung, die die Privatisierung und den Kauf von Ejido-Land ermöglichte und Eingriffe in die Rechte der indigenen und mestizischen Kleinbauern darstellte, war unter anderem Teil der Proteste und des Aufstandes des Ejército Zapatista de Liberación Nacional EZLN ab dem Jahr 1994.
10 Über die Geschichte der Region von Atoyac in vorkolonialer Zeit gibt es wenige Informationen. Archäologische Funde deuten jedoch darauf hin, dass das Gebiet im Einfluss von Olmeken, von Teotihuacán, von Mexicas und von Kulturen der Mezcala stand. In der spanischen Kolonialzeit, im Jahr 1498, wurde Santa María de la Concepción Atoyac (das heutige Atoyac) gegründet und 1514 die BewohnerInnen des nahe gelegenen Mezcaltepec von der Kolonialverwaltung dorthin umgesiedelt. Während des Unabhängigkeitskrieges Anfang des 19. Jahrhunderts war Atoyac Territorium des aufständischen Heeres unter José María Morelos und später unter Agustín de Itubirde. Unter: http://guerrero.gob.mx/ municipios/costa-grande/atoyac-de-alvarez/ (Letzter Zugriff: 30.04.2014).
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(guerra/guerrero – Krieg/Krieger), also widerständigen und rebellischen Menschen gesprochen. So wichtig diese Rolle der Krieger aus Guerrero für die Konstitituierung des unabhängigen mexikanischen Nationalstaates war und ist (es werden immer noch in den jährlich stattfindenden Unabhängigkeitsfeierlichkeiten die Nationalhelden wie Vicente Guerrero oder Juan Álvarez gefeiert), so tragisch war die Transformation dieses Bildes für die Bevölkerung der Sierra de Atoyac zur Zeit des Schmutzigen Krieges: Das positiv besetzte Bild der BewohnerInnen von Guerrero als rebellierende heldenhafte Krieger gegen das spanische Kolonialreichwurde transformiert zum Bild der bösen Guerilleros, der VerbrecherInnen und FeindInnen, die den revolutionären PRI-Staat verraten hatten. Die sozialen Konflikte, die zur Entwicklung des Schmutzigen Krieges in dieser Region führten, reichen zurück in das 19. Jahrhundert. Es war Ende des 19. Jahrhunderts, als sich die heutigen comunidades der Sierra de Atoyac gründeten und zwar vor allem mit der Einführung von Kaffeepflanzen durch den Großgrundbesitzer und Bezirkspräsidenten von Atoyac Gabino G. Pino. Im Jahr 1891 brachte er von einer Reise in den südlichen Bundesstaat Chiapas die ersten Kaffeepflanzen nach Atoyac. Das Klima, die Böden und die Höhe der Sierra de Atoyac waren jenen von Chiapas ähnlich und so begann Pino auf seiner Hacienda La Soledad mit dem Kaffeeanbau. Weitere Großgrundbesitzer eigneten sich Land an und holten Arbeitskräfte aus verschiedenen Regionen Guerreros auf ihre Haciendas. Mit der Besiedlung der Sierra de Atoyac im 19. Jahrhundert durch Großgrundbesitzer und den Beginn der Produktion von Kaffee wurde der Grundstein des über Generationen hinweg laufenden Interessenkonfliktes zwischen den Großgrundbesitzern, den Kaziken, und den Kleinbauern gelegt. Durch die Mexikanische Revolution (1910 – 1919) haben sich die Interessen polarisiert und sich Allianzen der lokalen Kaziken mit der mexikanischen Regierung einerseits und Allianzen der Kleinbauernauf lokaler Ebene andererseits gebildet, die in die Zeit des Schmutzigen Krieges und bis in die Gegenwart reichen. So hat sich die Familie des Kaziken Romulo Figueroa während der Mexikanischen Revolution mit den Truppen der nationalen Armee verbündet, die die Interessen der Großgrundbesitzer vertrat, während sich die Kleinbauern und Tagelöhner der Haciendas dem Kampf der agraristas um Emiliano Zapata anschlossen (vgl. Bericht FEMOSPP 2006, Kap. 6. 2). Figueroa wird dann sowohl zur Zeit des Schmutzigen Krieges als auch danach eine zentrale Rolle als einer der mächtigsten (auch gegenwärtigen) Kazikenfamilien in Guerrero spielen. Nach der Mexikanischen Revolution und der Implementierung des Revolutionären Nationalprojektes der PRI gründete Präsident Lázaro Cardenas (1936 – 1940), der Agrarreform und Landverteilung zugunsten der Kleinbauern durchführte, die Defensas Rurales (rurale Verteidigungstruppen). In Guerrero und auch in Chiapas hießen diese ruralen Verteidigungstruppen der lokalen Bevölkerung Guardias Rojas (Rote Garden). Cárdenas definierte das Ziel der Defensas Rurales als eines der Ver-
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teidigung der Revolution:„Ich werde den Kleinbauern die Mauserpistole geben, mit der sie die Revolution gemacht haben, damit sie sie verteidigen, damit sie das Gemeindeland und die Schule verteidigen.“11 (Cárdenas 2002 zit. in: Bericht FEMOSPP 2006: Kap. 6. 3) Bereits zuvor zeigte sich jedoch das staatliche revolutionäre Projekt auf der einen Seite, welches die Kleinbauern als staatstragende Akteure für das Nationalprojekt12 definierte und die Diskrepanz in Guerrero mit den lokalen Machthabern der Kaziken: „Feliciano Radilla hat seine Roten Garden in der Region von Atoyac 1933 formiert [...]. Währenddessen haben die ,lokalen patrones‘ ihre Anti-Guerillaeinheiten von Weißen Garden gegründet, wie die Freiwilligentruppe der Händler Urioste und Ludwig aus Atoyac.“13 (FEMOSPP 2006: Kap. 6. 3) Es wird also bereits hier die Formierung von paramilitärischen Truppen der lokalen ökonomischen Elite sichtbar, die auch in der Zeit des Schmutzigen Krieges eine wichtige Rolle spielen wird. Ein anderes Beispiel bietet die Familie Galeana, die von den Kleinbauernals einer der mächtigen Familien von Kaziken der Sierra de Atoyac beschrieben wird. Als Nachkommen einer spanischen Familie kontrollierten und dominierten sie in der Sierra de Atoyac den Anbau, die Verarbeitung und den Handel von Kaffee (vgl. Radilla 1998). Die Kleinbauern organisierten sich angesichts dieser Situation und gründeten im Jahr 194614 die Unidad Agraria de la Sierra Cafetalera de Atoyac de Álvarez (UASCAA), die ebenso eine bewaffnete Verteidigungstruppe gegen die paramilitärischen Gruppen der Kaziken und das Militär ausbildete (FEMOSPP 2006: Kap. 6. 4). Viele Kleinbauern der comunidades der Sierra de Atoyac berichten von den machtpolitischen Auswüchsen und der Gewalt der Kaziken. José Luis Arroyo Castro erzählte, dass sein Vater aus der comunidad San Vicente de Benítez seit den 1950er Jahren gegen die Unterdrückung der Kleinbauern durch den lokalen Kazi-
11 „Les daría a los campesinos el máuser con el que hicieron la Revolución para que la defiendan, para que defiendan el ejido y la escuela“ (Cárdenas 2002 in: Bericht FEMOSPP 2006: Kap. 6. 3). 12 Die Kleinbauern waren auch im PRI-Regime korporativistisch in der Confederación Campesina Mexicana (CCM) in das Staatssystem integriert. 13 „Feliciano Radilla formó sus Guardias Rojas en la región de Atoyac en 1933 [...] mientras que los ,patrones lugareños ދformaron sus guardias blancas antiguerrilleras, como el Cuerpo de Voluntarios formado por los comerciantes Urioste y Ludwig, de Atoyac.“ (FEMOSPP 2006: Kap. 6. 3). 14 Andere Quellen sprechen von der Gründung im Jahr 1940: „Durante los más de 27 años que transcurren desde la creación de la UASCAA – el 40/01/04 – y el levantamiento guerrillero de Lucio Cabañas – el 67/05/18 -, las contradicciones se agudizaron a tal grado que la rebelión estalló en esa región en la que se avizoraba un mayor bienestar.“ (FEMOSPP 2006: Kap. 6. 5)
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ken Cabañas (ein Verwandter von Lucio Cabañas) protestiert hatte. Er wurde mehrmals bedroht und musste aus der comunidad flüchten. Don Florentino erzählte davon, wie der lokale Kazike Cabañas die Kleinbauernmisshandelte und ausbeutete. Es zirkulieren in den comunidades auch zahlreiche Erzählungen über Ermordungen von sich auflehnenden oder protestierenden Kleinbauern durch die Verteidigungsgruppen der Kaziken. Gewalt prägt also die Beziehung zwischen den Kleinbauern und den Kaziken, die gleichzeitig auch Handlanger der urbanen Machtzentren waren und sind. Die PRI übte durch die ruralen lokalen Eliten politische, soziale und ökonomische Kontrolle über die rurale Peripherie aus. Konflikte in der Sierra de Atoyac entzündeten sich also nicht primär gegen die urbanen Zentren, sondern gegen die greifbare lokale Machtelite der Kaziken. Sie waren und sind für die rurale Bevölkerung das Symbol der Willkür, der direkten und indirekten Gewalt und der Kultur der Straflosigkeit. „Gegen das profunde Mexiko, gibt es immer als letztes Mittel die Ermordung, das Gefängnis, den Brand und die Folter. Mit dem Gesetz oder außerhalb des Gesetzes.“15 (Bonfil Batalla 1987: 182) Auch zur Zeit des Schmutzigen Krieges waren die Kaziken Teil der lokalen politischen Elite, die mit dem Militär zusammenarbeitete und unliebsame GegnerInnen verhaften ließ. Kaziken waren neben Militär und Polizei also auch Täter und Mittäter im Schmutzigen Krieg. Eines der zentralen ökonomischen Probleme des Kazikentums für die Bevölkerung der Sierra de Atoyac war und ist seit der Agrarreform und der Landverteilung im Jahr 1940, dass es zwar ab diesem Zeitpunkt weniger große Latifundien gab, aber die Kaziken nun auf die Kontrolle des Marktes der Produkte der Kleinbauernfokussierten. Im Zentrum der Kontrolle der Kaziken stand nicht mehr die Hacienda, sondern die Kontrolle über den Handel und die Lagerung von landwirtschaftlichen Produkten der Kleinbauern (FEMOSPP 2006: Kap. 6. 5). Seit dem Zweiten Weltkrieg und einer steigenden Nachfrage auf dem Weltmarkt, hat sich die Produktion von copra (getrocknete Kokos) und Kaffee sowie die Abholzung der Waldbestände für die Holzindustrie vor allem in der Costa Grande von Guerrero (von der Atoyac ein Teil ist) verstärkt. Den lokalen Markt dieser Produkte kontrollierten die Familien der Kaziken. Die Ausbeutung der Kleinbauern und die Kontrolle ihrer Produkte zeigte sich in dem System der Schuldknechtschaft (vgl. Taussig 1986) „durch jene, die vor der Ernte kauften, die Kleinbauern verschuldeten, den Preis kontrollierten und die Produktion vereinnahmten“16 (FEMOSPP 2006: Kap. 6. 5). Seit den 1950er Jahren haben die Kleinbauern dagegen protestiert und Copra-, Kaffeeorganisatio-
15 „Contra el México profundo, siempre está el recurso final del asesinato, la cárcel, el incendio y la tortura. Con la ley o fuera de la ley.“ (Bonfil Batalla 1987: 182). 16 „[D]e quienes compraban al tiempo, endeudando al campesinado, controlando el precio del producto y acaparando la producción.“ (FEMOSPP 2006: Kap. 6. 5)
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nen und Organisationen gegen die Abholzung der Wälder gegründet, um ihre Interessen gegenüber den Kaziken effektiver zu vertreten. Diese Entwicklungen in der Beziehung zwischen den lokalen Kaziken und den Kleinbauern um den Konfliktgegenstand Land und die agrarwirtschaftlichen Produkte – die beiden zentralen überlebensnotwendigen Elemente der Kleinbauern – sind zentral für das Verständnis der Formierung der ruralen Guerilla der Partei der Armen (Partido de los Pobres), der breiten Unterstützung der Kleinbauern in der Sierra de Atoyac für diese Bewegung und die Entwicklungen des Schmutzigen Krieges auf lokaler Ebene. Der Schmutzige Krieg in Guerrero setzt früher ein als auf nationaler Ebene. Als einen politischen Bruch, in der die massive staatliche Repression gegenüber politischen GegnerInnen im Bundesstaat begann, nennt Miranda Ramírez (2006) die Regierungsperiode von Guerreros PRI-Gouverneur General Raul Caballero Aburto von 1956 bis 1962. Bereits in dieser Zeit wurden in Guerrero Praktiken wie illegale Hinrichtungen, Folter und Verschwindenlassen von lokalen paramilitärischen Einheiten durchgeführt und Angst und Terror in der Bevölkerung geschürt. Politische GegnerInnen wurden bereits zu dieser Zeit verschleppt, in Erdschächte wie den Pozo Meléndez in der Nähe von Iguala (vgl. Kap. 2. 6) oder die Frente del Diablo in der Nähe von Acapulco geworfen und blieben seither verschwunden. In den comunidades der Sierra de Atoyac gab es seit den 1950er Jahren Militärpräsenz. Schon vor dem Beginn der eigentlichen schlimmen Zeiten, wie die Zeiten der Repression während des Schmutzigen Krieges von der lokalen Bevölkerung genannt werden, waren Soldaten in den comunidades stationiert. Der Grund der Präsenz war der Bevölkerung unklar, wie oftmals betont wird. Die Zahl der Soldaten war jedoch gering und die Bevölkerung hatte, wie Rosa Castro Velázquez aus San Vicente de Benítez erzählt, zunächst ein gutes Verhältnis zu ihnen. Viele fühlten sich beschützt und sicher, die Menschen wurden vom Militär mit Respekt behandelt. Die lokal stationierten Soldaten bezahlten für alle Dienstleistungen, es wurde zum Beispiel für sie gekocht, geputzt oder gewaschen und sie kauften in den kleinen von lokalen Familien betriebenen Geschäften ein. Rosa Castro Velázquez, dessen Mann neben seiner Tätigkeit als campesino auch Schneider war, erzählt, dass die Soldaten auch immer wieder in ihr Haus kamen: „Vorher [vor dem Schmutzigen Krieg] waren die Soldaten auch hier. Ungefähr seit den 50er Jahren. Der Oberleutnant Joel hat dieses Zimmer hier gemietet. (…) Wir haben immer mit den Soldaten kooperiert. So waren die Leute hier, wir waren zufrieden, weil sie da waren, weil wir glaubten, dass wir so sicher waren. (…) Wir wussten nicht, warum sie hier waren (…). Wir waren zufrieden, weil man mit ihnen mehr Geld sah. Sie haben für sie Wäsche gewaschen (…) und sie haben gezahlt und es gab Leute, die hatten ein Geschäft und haben ih-
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nen Sachen verkauft. Wir haben für sie genäht, für sie und ihre Ehefrauen, wir haben ihre 17
Uniformen ausgebessert.“ (Rosa Castro Velázquez, San Vicente de Benítez, 2009)
Die Militärpräsenz vor dem Schmutzigen Krieg hatte also eine eher positive Konnotation und stellte einen ökonomischen Faktor für Teile der Bevölkerung dar, „wir waren zufrieden, weil man durch sie mehr Geld sah“, wie Rosa Castro Velázquez betonte. Die respektvolle und als positiv empfundene Koexistenz mit einer geringen Anzahl von Soldaten in einigen comunidades sollte sich jedoch einige Jahre später mit der massiven Militarisierung der Region und der repressiven Praxis gegenüber der Bevölkerung ändern. Im Folgenden wird die Entwicklung hin zu dieser Zeit des Schmutzigen Krieges beschrieben. Zentral ist dabei die Gründung der Partei der Armen durch Lucio Cabañas Barrientos und dessen Einbettung in den lokalen sozialen Kontext der Kleinbauern der Sierra de Atoyac.
2.2 L UCIO C ABAÑAS
UND DIE
P ARTEI
DER
ARMEN
Der Schmutzige Krieg in Guerrero und besonders im Bezirk Atoyac ist eng verbunden mit der Person Lucio Cabañas Barrientos (vgl. Abb. 7, 8, 9). Er war es, der die öffentlichen Protestkundgebungen gegen die sozialen Ungleichheiten in Atoyac anführte und dann die Guerilla Partei der Armen (Partido de los Pobres) gründete. Lucio Cabañas wurde im Jahr 1938 in der comunidad El Porvenir in der Sierra de Atoyac als Sohn von Kleinbauern geboren. Er absolvierte die Lehrerausbildung in der Normal Rural de Ayotzinapa, wo er mit sozialistischen Ideen in Berührung kam und Mitglied des Movimiento Revolucionario del Magisterio wurde. Er beteiligte sich im Jahr 1960 gemeinsam mit Genaro Vázquez, dem Anführer der Asociación Cívica Guerrerense (ACG), an der Protestbewegung gegen die repressive Politik des Gouverneurs von Guerrero, General Caballero Aburto. Im Jahr 1962 wurde er Vorsitzender der Federación de Estudiantes Campesinos Socialistas de México (FECSM, Föderation Bäuerlicher Sozialistischer Studenten) (vgl. Mayo 1980, Bartra 2000). Lucio Cabañas bekam nach seiner Ausbildung eine Stelle als Lehrer in der
17 „Antes [de la guerra sucia] estaban los soldados aquí también. Desde los años 50, más o menos. El teniente Joel rentaba ese cuarto. (…) Nosotros siempre cooperábamos con los soldados. Así era la gente aquí, estábamos contentos porque ellos estaban aquí, que creíamos pues que estábamos seguros. (…) No sabíamos que traía ellos aquí, pues. (…) Estabamos contentos porque se veía mas el dinero con ellos. Les lavaban (…) y les pagaban y había gente que tenia su comercio y les vendían. Nosotros les cosíamos, a ellos y a sus esposas, les arreglábamos los uniformes.“ (Rosa Castro Velázquez, San Vicente de Benítez, 2009)
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Volksschule Modesto Alarcón in Atoyac. Im Jahr 1964 gründete er dort gemeinsam mit anderen die lokale Sektion der Partido Comunista Mexicano (PCM). Zusammen mit weiteren LehrerInnen startete er eine Protestbewegung gegen die lokale Schulbehörde und gegen jegliche Sektoren, die auf die Ausbeutung der Kleinbauern abzielten. Mit den Worten von Lucio Cabañas waren ihre Ziele folgende: „[E]s sollen keine Schulgebühren verlangt werden, keine Pflicht zum Tragen von Schuluniformen, weil Bildung nicht von der Kleidung abhängen soll; keine Pflicht zum Tragen von Schuhen, sondern es muss möglich sein, dass die Kinder sogar barfuß in die Schule kommen, sie sollen nur sauber sein, wie es eben dem Kind möglich ist. So begann die Bewegung, aber zusätzlich haben wir den Eltern gesagt, dass dies eine Art der Orientierung sein soll, damit die Eltern verstehen, dass es Lehrer des Volkes gibt, die bereit sind, die Kinder zu führen, nicht nur in der Schulerziehung, sondern in ihrem Kampf als Teil des Volkes. (...) Und wir haben uns gegen die Holzfirmen gerichtet, gegen die Bezirksregierung, gegen die Ausbeutung, die die Reichen hier in Atoyac durchführen und so hat sich die Bewegung gegründet.“
18
(Lucio
Cabañas zit. in: Suárez 1976: 52)
Mit diesen kämpferischen Aussagen richtete sich die Protestbewegung um Lucio Cabañas gegen alle lokalen Missstände, wie die niedrigen Preise, die die Kaziken für die Produkte der Kleinbauern zahlten, gegen die hohen Preise ihrer Produkte am Markt von Atoyac, die Abholzung der Wälder durch die Holzfirmen sowie gegen die Ermordung von Arbeiterführern in einer lokalen Textilfabrik. „Und die Leute sind ihm gefolgt, sie sind aus den Bergen gekommen. Viele sind gekommen um mit ihm zu reden und hier hat er seine Versammlungen gemacht“19, erinnert sich Doña Florentina in einem Gespräch im Jahr 2007. Ihr Mann Antonio Barrientos, der 1972 verschleppt wurde, war verwandt mit Lucio Cabañas. In ihrem Haus in Atoyac hielt Lucio Cabañas oft Versammlungen mit anderen Mitgliedern der Bewegung ab. Nach zahlreichen Protesten gegen die lokalen Kaziken und steigender Unterstüt-
18 „[D]e no cobrar cuotas en las escuelas, de no pedir uniformes y los niños, porque no con buena ropita se va a educar, y no exigir solamente calzado, sindo dejarlos hasta descalzos que vayan a las escuelas, nada mas que vayan limpios, como pueda ir el niño. Asi empezó el movimiento, pero junto a eso dijimos a los padres de familia de que eso era una orientación para que ellos comprendieran que había maestros del pueblo que estamos dispuestos a orientar, no solo en la educación, sino en su lucha como partes del pueblo. (…) Y nos metimos con los problemas contra las companias madereras, contra el Ayuntamiento, contra la explotación de los ricos allí en Atoyac, y se creó el movimiento.“ (Lucio Cabañas zit. in: Suárez 1976: 52) 19 „Y luego le seguía la gente, venían de la sierra, y venían muchos a platicar con el. Aquí hacia sus juntas.“ (Doña Florentina, Atoyac, 2007)
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zung der lokalen Bevölkerung, vor allem der Kleinbauern, wurde er von der Schulbehörde gemeinsam mit seinem Lehrerkollegen Serafín Nuñez in eine Schule im nördlichen Bundesstaat Durango versetzt. Die Bevölkerung von Atoyac forderte jedoch deren Rückkehr und besetzte zeitweise das Schulgebäude. Lucio Cabañas und Serafin Nunez konnten daraufhin wieder nach Atoyac zurückkehren. Die ehemalige Lehrerkollegin von Lucio Cabañas, Teresa Martínez, erinnert sich an diese Zeit und die Versuche der Schulbehörde, einen potenziellen politischen Einfluss von Lucio Cabañas auf die Kinder zu verhindern: „[I]ch erinnere mich, dass sie ihm immer die untersten Schulstufen gegeben haben, einfach deshalb, damit er mit seiner kämpferischen Ideologie nicht die Schüler der fünften oder sechsten Klasse beeinflussen konnte.“20 (Teresa Martínez zit. in: La Jornada Guerrero, 6. Juni 2010). Die Angst der Schulbehörden und der lokalen PolitikerInnen war stets der mögliche Verlust der sozialen und politischen Kontrolle über die Kleinbauern und so stellte die für sie wahrgenommene Indoktrinierung und Manipulation der Bauernkinder durch den Lehrer Lucio Cabañas eine potenzielle Gefahr für ihren lokalen Machtanspruch dar. Teresa Martínez erinnert sich: „Mein Kollege hatte die Fähigkeit, die Kleinen zu animieren, die Wahrheit zu suchen. Das war zu dieser Zeit nicht etwas, was in den Schulbüchern stand. Und so wurde den Heranwachsenden die Realität der Zeit bewusster.“21 (Teresa Martínez zit. in: ebd.) Die Verbreitung der Wahrheit bestand für Lucio Cabañas und seine SympathisantInnen darin, die soziale Ungerechtigkeit nicht als naturgegeben zu verstehen, sondern den Menschen bewusst zu machen, dass diese durch den sozialen Kampf beseitigt werden könnte. Der Diskurs war dabei jener einer unüberbrückbaren Dichotomie zwischen Arm und Reich, wie auch Don Mario, Kleinbauer aus San Vicente de Jesús zu diesem Konflikt in der Schule meinte: „Das Problem begann in der Schule Modesto Alarcón, wo Lucio die armen Leute gegen die Reichen unterstützte.“22 (Don Mario, San Vicente de Jesús, 2007). An einem Ereignis in Atoyac sollte sich dann der politische Konflikt zuspitzen und sich im kollektiven Gedächtnis der lokalen Bevölkerung festschreiben.
20 „[R]ecuerdo que siempre le asignaron los grupos de los primeros niveles, precisamente, para que no fuera portavoz de su ideología de lucha en los alumnos de sexto o quinto año.“ (Teresa Martínez zit. in Jornada 2010) 21 „[M]i compañero tuvo la virtud de orientar a los menores a conocer la verdad, que en aquel tiempo era algo que no se indicaba en los libros oficiales, y de esa manera, los jovenes al crecer se iban dando cuenta de la realidad actual de esa época.“ (Teresa Martínez zit. in ebd.) 22 „El problema se dio como le digo, por el problema en la escuela Modesto Alarcón y Lucio pues apoyaba a la gente pobre en contra de los ricos“ (Don Mario, San Vicente de Jesús, 2007).
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Am 18. Mai 1967 gab es eine öffentliche Protestkundgebung am zentralen Platz von Atoyac. Es versammelten sich Eltern der Schulkinder, LehrerkollegInnen und AnhängerInnen von Lucio Cabañas. Er hielt eine Rede und sprach sich abermals gegen die Missstände an den Schulen, die Benachteiligung der Kinder der Kleinbauern und für die Absetzung der Schuldirektorin Julia Paco Pizá aus. Der soziale Konflikt spitzte sich mit diesem Ereignis zu, die Angst eines möglichen Verlustes an Macht der lokalen Kaziken zeigte sich durch das Ausmaß der Gewaltanwendung. Die Policia Judicial (Kriminalpolizei) des Bundesstaates Guerrero unter der Leitung des capitans Enrique Arellano Castro positionierte sich auf den Dächern der umliegenden Häuser und schoss in die Menge (Fierro Santiago 2006). Fünf Menschen wurden getötet23 und zahlreiche verletzt. Doña Florentina kam kurz nach dem Massaker zum Platz. Sie suchte ihre Tochter, die Lucio Cabañas zur Protestkundgebung begleitet hatte: „Ich war hier [im Haus] und mein Mann auch (…), als wir die Schüsse hörten, die losgingen. Wahnsinn! Jetzt wird es ernst, jetzt ist es soweit! Und jetzt? Sie [ihre Tochter] ist doch dorthin gegangen. Oh mein Gott!“24 (Doña Florentina, Atoyac, 2007) Als sie die Schüsse hörten, sagte ihr Mann, sie solle nicht hinausgehen. Doña Florentina lief jedoch gemeinsam mit einer Nachbarin los, um ihre 15 jährige Tochter zu suchen. Sie erinnert sich an die Bilder, die sich ihr auf dem Platz boten: „Überall sind wir umhergelaufen, als wir die Polizei an der Brücke sahen. Und dort war ein verletzter Polizist, sie haben ihn wohl angeschossen, wer weiß. (…) Als wir hinsahen [zum Hauptplatz], lagen da die Toten, das Blut. Die Toten lagen da und eine der Toten war schwanger. Und ich bin gelaufen und gelaufen und habe niemanden gesehen, als ich dann zum Geschäft lief, ist sie [die Tochter] dort rausgelaufen. Ach, sagte ich zu ihr, wo bist du nur, mein Kind! Hier bin ich, Mama. Und er [Lucio Cabañas], wo ist er? Ihn haben sie nicht mehr gesehen, weil er mit Umhängen bedeckt wurde, ein Haufen Frauen hat ihn rausge25
holt.“ (Doña Florentina, Atoyac, 2007)
23 Die Toten waren: Regino Rosales de la Rosa, Feliciano Castro Gudiño, Arcadio Martínez, Prisciliano Téllez, María Isabel Gómez Mesino (Miranda Ramírez 2006, Fierro Santiago 2006). 24 „Yo estaba aquí [en la casa] y mi marido también (…) cuando oímos la balacera que se soltó. ¡Híjole! ¡Se desplegó la cosa, ahora sí! ¿Y ahora? Y aquella mujer ahí andaba. ¡Ay Dios mío!“ (Doña Florentina, Atoyac, 2007) 25 „Corriendo por allí y por allá cuando nos topamos con la judicial allá en el puente y había un judicial herido pues, lo han de haber tirado allá, sepa pues. (…) Cuando vimos allá, muertos tirados, la sangre. Estaban tirados los muertos y una difunta allá, estaba embarazada. ...y corre y corre y no vi a nadie, cuando corría hacia la tienda, sale [la hija] corriendo de ahí. Ay le digo, ¿muchacha donde estás? Aqui estoy mamá. ¿Y aquél [Lucio
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Lucio Cabañas wurde zu Beginn der Schießerei von einigen Frauen mit ihren Umhängen zugedeckt und im nahe gelegenen Haus der Lehrerin Hilda Flores versteckt. Er flüchtete kurz darauf in die Sierra. Es war der Beginn der Klandestinität von Lucio Cabañas und der Formierung der Partei der Armen (vgl. Bellingeri 2003; Batra 2000; Castellanos 2007). Viele ZeitzeugInnen sind sich einig, dass es dieses Ereignis war, das den Beginn der schlimmen Zeiten (tiempos feos), den Beginn des Schmutzigen Krieges in Atoyac ausmachte, wie auch Doña Florentina meinte: „Da kam die Rebellion von Lucio.“26 Der 18. Mai 1967 ist im kollektiven Gedächtnis der lokalen Bevölkerung als Beginn der schlimmen Zeiten der Repression markiert. Rosendo Radilla Pachecho, der 1974 verschleppt wurde (vgl. Kap. 5. 3. 1), komponierte ein corrido (populäres Lied) über das Massaker von Atoyac: „Es war ein 18. Mai, ungefähr um 11 Uhr, am Hauptplatz von Atoyac. Alle Menschen liefen, um ihre Kameraden zu suchen, von denen einer nach dem anderen fiel.“27 Viele BewohnerInnen der Sierra de Atoyac meinen heute, dass die nachfolgenden Ereignisse des Schmutzigen Krieges durch Dialog und Konsensfindung zur Lösung des Bildungskonfliktes verhindert werden hätte können. Andere Menschen in der Sierra de Atoyac meinen jedoch, dass die historische Kluft zwischen kazikalem Machtanspruch und dem Unwillen, den sozialen und politischen Anliegen der Kleinbauern der Region nachzugehen, zu tief war, um in einen Dialog zu treten. Die Gewalt auf dem Hauptplatz von Atoyac war schließlich Ausdruck für diese unüberbrückbare Kluft. Auch die Bewegung um Lucio Cabañas hatte angesichts der nicht erfüllten Forderungen bereits zuvor geplant, in die Sierra zu gehen und zu den Waffen zu greifen: „Wir waren es müde, einen pazifistischen Kampf zu führen, ohne etwas zu erreichen. Deswegen haben wir gesagt: wir gehen in die Berge.“28 (Lucio Cabañas zit. in: Suárez 1976: 57) Das Massaker war der Auslöser für diesen Schritt. Cabañas interpretierte mit einem Diskurs, der sich gegen abstrakte revolutionäre Theorien wandte, die Ereignisse vom 18. Mai 1967 sowie den Beginn der bewaffneten Bewegung folgendermaßen: „Das von 1967 in Atoyac war keine Bewegung, wo es nur um die Schule ging. (…) Wir waren es schon gewohnt, zu kämpfen, und so nahmen wir uns allen Problemen an, die wir hatten. Es war nicht nur das kleine Problem mit der Schule, nicht wahr? Aber was stimmt, ist, dass
Cabañas] dónde está? El ya no lo vieron porque lo taparon con los rebozos, el montón de mujeres lo sacaron.“ (Doña Florentina, Atoyac, 2007) 26 „Ahi vino la revoltura de Lucio“ (Doña Florentina, Atoyac, 2007) 27 „Era un 18 de mayo/como a las 11 sería/en la plaza de Atoyac/ toda la gente corría,/de ver a sus camaradas/que uno tras otro caían.“ 28 „Estabamos cansados de la lucha pacifica sin lograr nada. Por eso dijimos: nos vamos a la Sierra.“ (Lucio Cabañas zit. in Suárez 1976: 57)
102 | K AMPF UM R EHUMANISIERUNG wir mit einem Massaker auf kein zweites mehr warten wollten. (…) Die Theoretiker haben gesagt, dass man für eine Revolution zuerst eine umfassende Analyse der Realität, in der man lebt, machen muss. Beim Anblick der toten compañeros war es offensichtlich, dass wir keine Analyse brauchen. Wenn wir es gewohnt sind, uns unter compañeroswie Geschwister zu sehen, und wir fünf compañerosunbewaffnet und tot liegen sehen, dann ist es doch klar, dass man rebellieren will. Wir brauchen keine Untersuchung, keine umfassende Analyse, und all diesen Blödsinn. Wir müssen zu den Waffen greifen und die Polizisten töten, die waren es, die gemordet haben; das Militär hat getötet, wir greifen auch zu den Waffen und entgegnen 29
ihnen.“ (Lucio Cabañas zit. in Suárez 1976: 54f.)
Die hier beschriebene Entschiedenheit, mit der die Protestbewegung um Lucio Cabañas zu den Waffen griff, folgte einer Sichtweise, die viele Kleinbauern teilten. im Folgenden soll der Pobrismo, das ideologische Konzept der Bewegung von Lucio Cabañas, skizziert werden. Der Pobrismo (von pobre, arm) ist eingebettet in die lokalen sozialen Bedingungen der Kleinbauern der Sierra von Atoyac und reflektiert deren Perspektive auf soziale Ungleichheiten zwischen zwei dichotomen Fronten: den Armen und den Reichen.
29 „El de 1967 en Atoyac no era un movimiento puramente escolar. (…) Ya estábamos acostumbrados a luchar, así que abordamos todos los problemas que teníamos. No era un problemita allá de escuela, ¿verdad? Pero lo que sí es cierto, es que con una matanza nos decidimos a no esperar otra. (…) Entonces, esos señores [die Theoretiker] han dicho que para hacer una revolución se tiene que hacer primero un análisis exhaustivo de la realidad en que se vive. Cuando vimos a los compañeros tirados, es natural que nosotros no necesitamos ningúnexámen. Cuando entre los compañeros nos acostumbramos a ver como hermanos y vemos cinco compañeros tirados y desarmados, pues dan ganas de rebelarse. Que exámen, que análisis exhaustivo, ni que la fregada. Hay que agarrar las armas y matar judiciales, que son los que han matado; el ejército mató, hay que agarrar las armas y contestarles.“ (Lucio Cabañas zit. in Suárez 1976: 54f.)
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2.2.1 Arme gegen Reiche: Der Diskurs des Pobrismo von Lucio Cabañas „[G]ehen wir gemeinsam in den Kampf gegen die Reichen.“
30
(Lucio Cabañas zit. in Suárez
1976: 108)
Die Argumentation des Pobrismovon Lucio Cabañas war ein Diskurs, der bis heute in der Sierra von Atoyac und, wie später noch zu sehen wird, auch im aktuellen Diskurs der Angehörigen der Verschwundenen (vgl. Kap. 6) weiter besteht. Er war Ausdruck der gelebten Erfahrung von sozialer Ungleichheit und struktureller Gewalt im Leben der Kleinbauern, von Klassenunterschieden und der Entwicklung dichotomer Identitäten von arm/reich und Freund/Feind. Diese diskursiven Dichotomonien spiegeln auch das von Bonfil Batalla (1987) beschriebene profunde und imaginäre Mexiko wider. Die lokalen reichen Kaziken als Gegenpol zu den armen Kleinbauern sind dabei zentrales Element im Pobrismo-Diskurs. Wenn Lucio Cabañas zu den Kleinbauern sprach, betonte er stets die Unterschiede zwischen den Armen und den Reichen: „Weil ihr die Armen seid und ihr (…) jene seid, die die Reichen unterhalten, damit sie gut leben können. Und seht doch klar die Unterschiede, die es zwischen Reichen und Armen gibt, seht den großen Unterschied, den es zum Beispiel zwischen dem Sohn des Kaziken, des Reichen, des Millionärs gibt, der im neuesten Auto fährt. Und seht zum Beispiel eines eurer Kinder, dreckig, barfuß, und ihr habt nicht mal was, damit sie in die Schule gehen können. (…) Die Armen werden diese ganze Situation nicht aushalten.“
31
(Lucio Cabañas zit. in: Suárez
1976: 108)
Da dieser Diskurs die Erfahrungen und Lebenswelt der Kleinbauern und Marginalisierten der Sierra de Atoyac widerspiegelte war die Identifikation in der Bevölkerung mit seiner Bewegung groß. In der Erinnerung der Opfer des Schmutzigen Krieges, der Angehörigen der Verschwundenen und der Folteropfer kann daher ein
30 „[M]archemos juntos a la lucha contra los ricos.“ (Lucio Cabañas zit. in Suárez 1976: 108) 31 „Porque ustedes son los pobres y ustedes [...], son aquellos que están sosteniendo a las clases ricas para que vivan en comodidad. Y vean pues, con claridad, las diferencias que hay entre ricos y pobres, vean la gran diferencia que hay, por ejemplo, en el hijo del cacique, del rico, del millonario que anda en un coche ultimo modelo. Y vean, por ejemplo, uno de sus hijos como anda sucio, descalzo y que no tienen ni para echarlo a la escuela. (…) los pobres no van a aguantar toda esta situación.“ (Lucio Cabañas zit. in: Suárez 1976: 108)
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gemeinsames Element beobachtet werden: die Zustimmung zu den Handlungen und Zielen von Lucio Cabañas. Trotz der erlebten Repression und der Tatsache, dass der staatliche Terror erst mit massiver Gewalt einsetzte, als die militärischen Aktionen der aufständischen Bewegung von Lucio Cabañas ab dem Jahr 1972 und mit dem Überfall auf einen Militärkonvoi begannen, geben die Opfer nicht der Bewegung von Lucio Cabañas die Schuld an der Gewalt. Vielmehr wird die Schuld der Regierung zugewiesen, die mit den Interessen der Reichen gleichgesetzt wird. Die Identifikation der Opfer gilt nach wie vor Lucio Cabañas, hat er doch für sie, die Armen, gekämpft. Für viele gab es trotz der Repression auch Veränderungen, die bis in die Gegenwart zu sehen sind. Doña Virginia, deren Sohn verschleppt, gefoltert und drei Jahre lang in einem Geheimgefängnis inhaftiert und verschwinden gelassen wurde, drückt dies so aus: „Was Lucio Cabañas gemacht hat, ich werde es ehrlich sagen, das war gut, denn zu dieser Zeit wollten die Reichen in Atoyac nicht, dass es für die Armen Schulbildung gab. Sie durften nur schön hergerichtet und gut angezogen kommen, und wenn nicht, wenn die Armen barfuß oder mit zerrissener Kleidung kamen, dann haben sie sie nicht in der Schule aufgenommen. Und deswegen sage ich, dass Lucio verziehen werden sollte, weil es ein Warum gab und weil es jetzt eine Schule für die Armen gibt, früher nicht. (…) Und wenn er also leben sollte, soll ihm Gott verzeihen und wenn er lebt, wie ich manchmal höre, dann soll Gott ihn beschützen, wo immer er auch sei, denn es war eine Tatsache, dass er was für die Armen gemacht hat. Er hat die Armen sehr gemocht, denn er war selbst Kleinbauer.“
32
(Doña Virginia, Colonia 18
de Mayo, 2009)
Einige Fragmente aus den Gesprächen von Lucio Cabañas mit den Kleinbauern sollen im Folgenden den Diskurs des Pobrismo zeigen, der bis in die Gegenwart in der Sierra de Atoyac Bedeutung hat. Eines der wenigen Dokumente über Lucio Cabañas, die erhalten geblieben sind, sind die Aufzeichnungen des katalanischen
32 „Realmente lo que hizo Lucio Cabañas, lo voy a decir derecho, estuvo bien que hizo eso porque en ese tiempo los ricos de Atoyac no querían que hubiera escuela para los pobres. Solamente que fueran bien arreglados, bien entapatados, si no los pobres se iban descalzos o rompidos, no los recibían adentro de la escuela y por eso yo digo que haiga perdon para Lucio porque hay un porque, que ahora hay escuela para los pobres, antes no había escuela. (…). Asi que si esta vivo, que Dios lo perdone y que si vive como yo oigo por ahi que Dios lo cuide, dondequiera que este, porque fue un hecho que el hizo para la gente pobre. El quiso mucho a la gente pobre, porque fue campesino.“ (Doña Virginia, Colonia 18 de Mayo, 2009)
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Journalisten und Autors Luis Suárez33, der die Gruppe von Lucio Cabañas teilweise begleitete und derenGespräche aufnahm. Er fasste diese 1976 in einem Buch zusammen. Obwohl die Partei der Armen von Cabañas eine bewaffnete Guerillabewegung war – beeinflusst durch den historischen Kontext des kubanischen Guerillakampfes –, beinhaltete der Diskurs von Lucio Cabañas wenig abstrakte Terminologie marxistisch-leninistischer Prägung.34 Es wurden stattdessen Begriffe verwendet, die die unmittelbaren Feinde der realen Lebenssituation der Kleinbauern abbildeten. Dies waren vor allem die Reichen, womit die lokalen Kaziken und die Regierung gemeint waren. Ein Witz, der angeblich auf einem realen Kommentar von Cabañas beruht, kursiert bis in die Gegenwart unter den Kleinbauern der Sierra. Lucio Cabañas fragte in einer Versammlung seine Leute, was denn der Staat für sie bedeute. Die Antwort der Kleinbauern war: Der Staat ist der miserable Zustand, in dem wir uns befinden! („El estado es el estado miserable en que nos encontramos“ – im Spanischen bedeutet das Wort Staat auch Zustand). Diese Antwort zeigt die Unmittelbarkeit der Bedürfnisse der Kleinbauern, die auf Hunger, Ausbeutung, Unterdrückung und Schuldknechtschaft zurückzuführen sind und Gründe für ihre Teilnahme an der Bewegung des Pobrismo waren. Die Dichotomie des Klassenkampfes wurde von Lucio Cabañas so dargestellt: „Solange es zwei geteilte Klassen gibt: die Armen hier und die Reichen dort, wird es Konflikte geben, wird es Kampf geben. Und dieser Kampf wird als Klassenkampf bezeichnet, weil es der Kampf der armen Klasse gegen die reiche Klasse ist.“35 (Cabañas zit. in: Suárez 1976: 328) Das zentrale Element der Identifikation von Cabañas mit den Anliegen der Armen und die Grundvoraussetzung im Kampf der Armen für die Armen drückten sich im Leitspruch des pobrismo aus: „Volk sein, mit dem Volk sein, mit dem Volk gehen“.36 Volk war hier gleichgestellt mit Armut im Gegensatz zu den Reichen und dessen Unterstützern, den lokalen Kaziken. Lucio Cabañas „hat dafür gekämpft, das Volk aus der Armut zu befreien und ihm gleiche Lebenschancen zu geben. Das wurde von den Bewohnern der comunidades ak-
33 Luis Suárez dokumentierte auch andere bewaffnete Bewegungen der 1960er und 1970er Jahre, so zum Beispiel in der Dominikanischen Republik, Indien, Kuba, Bolivien oder Vietnam. 34 Daher trafen auch urbane Guerillabewegungen wie die Liga Comunista 23 de Septiembre, die ebenfalls in die comunidades der Sierra de Atoyac kamen, mit ihrem Diskurs auf wenig Zustimmung der Kleinbauern der Partei der Armen (vgl. Montemayor 1991). 35 „Mientras haya dos clases divididas: los pobres para aca y los ricos para alla, habra pleitos, habra lucha. Y esa lucha es la que se llama lucha de clases, porque es la lucha de la clase pobre contra la clase rica.“ (Cabañas zit. in: Suárez 1976: 328) 36 „Ser pueblo, estar con el pueblo, andar con el pueblo“.
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zeptiert, geteilt und unterstützt“,37 sagen die Ex-Guerilleros Bello López und Fuentes. Die Motivation vieler Kleinbauern, sich der Gruppe von Lucio Cabañas anzuschließen, war oftmals die eigene Erfahrung mit Gewalt und sozialer Ungerechtigkeit. So beschreibt Bello, der als junger Mann Mitglied der Partei der Armen wurde, sein Motiv: „[I]ch komme aus bescheidenen Verhältnissen und mein Vater, der die Rechte der Kleinbauern vertrat, wurde von den Kaziken ermordet.“38 Die Kaziken waren die lokalen Herrscher, die über Leben und Tod der Kleinbauern willkürlich und unter völliger Straflosigkeit entscheiden konnten. Sie waren nicht Teil der Identifikationsgruppe des bescheidenenVolkes (pueblo humilde), ein Terminus, der in der Sierra oft anstatt des Begriffes arm verwendet wird. Lucio Cabañas hingegegen war Teil des bescheidenen Volkes und war deswegen legitimiert, für die Anliegen der Armen zu kämpfen. Da die lokalen Kaziken einen Teil des strukturellen Problems der politischen und ökonomischen Ausbeutung und Abhängigkeiten der Kleinbauern darstellten, waren diese auch Ziel von Entführungen der Partei der Armen. Ein Kleinbauer aus San Vicente de Jesús spricht von den Kaziken in der Sierra und warum Lucio Cabañas einen ihrer Söhne entführte: „In der ganzen Sierra haben sie alles aufgekauft, sie und die Familie Quiñones, Raul Galeana, José Navarrete und sie alle. (…) Sie sind von dort, (…) von Atoyac, und so war es, dass sie begannen, dort einige Häuser zu kaufen, es war ein großes Geschäft, und sie einigten sich, machten den Preis. Es ist dann egal, wo man hingeht, immer war es derselbe Preis. Und dann sagt der Kleinbauer, hör mal Carmelo, hör mal José, hör mal Raúl, ich habe kein Geld, um mit der Arbeit zu beginnen und[der Kazike sagte], sag mir wieviel du willst, hier hast du, er war ja schließlich der Chef. (…) Und so hat der Bauer geerntet und sie haben sich alles [von der Ernte] geholt. All diese Sachen hat man hier erlebt. (…) Und so, mit Lucio hat sich alles entzündet, er hat den Sohn eines Kaziken entführt, der Carmelo García hieß und sein Sohn 39
Cuaúhtemoc (…).“ (Don Mario, San Vicente de Jesús, 2007)
37 „[L]uchó por liberar al pueblo de la pobreza y entregarle condiciones iguales de vida, lo que era aceptado, compartido y apoyado por los habitantes de las comunidades“ (Bello und Fuentes zit. in: La Jornada Guerrero vom 29. Mai 2009). 38 „ [Y]o vengo de un origen humilde, y mi padre en su condición de campesino era un líder que murió a manos de los caciques.“ (Bello zit. in: La Jornada Guerrero vom 29. Mai 2009) 39 „Casi de toda la sierra, ellos acaparaban, ellos y la familia Quiñones, Raul Galeana, José Navarrete y todos. (…) Ellos pues, [...] son de alli, de Atoyac, entonces lo que pasa que ellos empezaron por ahí, a comprar unas casas y es como todo un comercio, no, y se ponen de acuerdo, hacen el precio. Si va allá, lo mismo, si va allá, lo mismo, el precio que ponían ellos. Así que ya el campesino luego dice, oyes Carmelo, oye José, en fin, oyes
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Lucio Cabañas und seine AnhängerInnen waren sich bewusst, dass ihre Aktionen die Repression der Kleinbauern zur Folge haben würde. Cabañas sagte: „[S]ie werden uns schlagen, das Militär ist mächtig, sie haben Panzer, sie kommen von der Straße her, diese Panzer oder Panzerwagen, oder Flugzeuge, oder Hubschrauber, was immer. Und sie werden uns niederschlagen, immer schlagen sie die Kleinbauern nieder, und die Kleinbauern haben nichts, um sich zu verteidigen“40 (Cabañas zit. in: Suárez 1976: 107).
Der Diskurs des Kampfes der Armen gegen die Reichen zeigt zwei Lebenswelten, die im kollektiven Imaginären der Kleinbauern stets unvereinbar waren. Das Wort fregar (zermalmen, niederschlagen) drückt dies aus. Es ist ein umgangssprachlicher Ausdruck der Kleinbauern für jeglichen Akt eines mit direkter oder indirekter Gewalt verbundenen Übergriffes. In diesem Fall deutet es auf die vergangenen und zukünftigen Übergriffe der Reichen, repräsentiert durch die Regierung und das Militär, hin. Es gab also das Bewusstsein der Kleinbauern, dass sie im Falle einer erneuten Rebellion wieder mit gewalttätigen Konfrontationen mit dem Militär zu rechnen haben. Dass es jedoch in diesem neuen Krieg Verschwundene geben sollte, das war neu. Der Diskurs des Pobrismo war auch stark mit dem Katholizismus der Kleinbauern der Sierra verbunden. Lucio Cabañas wendet sich in seinen Reden an die Kleinbauern dabei jedoch gegen jene Teile der katholischen Kirche, die sagen „man soll keine Waffen gebrauchen, und auch nicht kämpfen, nichts. Sie sagen: Gott wird uns eine Welt voller Glück bringen.“41 (Ebd.: 326) Er hingegen betonte die Kontinuität zu historischen Figuren des mexikanischen Unabhängigkeitskrieges, die katholische Priester waren, wie Hidalgo und Morelos, und auch zu den Waffen griffen: „[I]hr werdet lange niedergekniet warten, bis zu eurem Tod und Gott wird nie Gerechtigkeit bringen, wenn wir es nicht machen. Und das, das sage ich? Nein, ich sage das nicht. Es sagt Hidalgo, und deswegen hat er zu den Waffen gegriffen und
Raul, no tengo dinero para lo del principio de mi trabajo, tu dime cuanto quieres, aquí hay, era el patron. (…) Así que llegaba el hombre y cosechaba y luego a acaparar. [...] Todas esas cuestiones asi se vivió. (…) Entonces, este, en cuestión de Lucio, se emprendió el asunto, secuestró a un hijo de un cacique ahí que se llamaba Carmelo García y su hijo se llamaba Cuauhtemoc y lo secuestró.“ (Don Mario, San Vicente de Jesús, 2007) 40 „[N]os van a fregar luego, el ejército es poderoso, tiene tanques, se vienen por la carretera esos tanques o tanquetas, o aviones, o helicópteros, en fin. Y nos van a fregar, siempre friegan a los campesinos, y los campesinos no tienen con qué defenderse (…).“ (Cabañas zit. in Suárez 1976: 107). 41 „[N]o hay que usar las armas, ni hay que pelear, ni nada. Dicen: Dios vendrá a ponernos esemundo de felicidad.“ (Ebd.: 326)
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er war Pfarrer; es hat Morelos gesagt und er war Pfarrer (…).“42 (Ebd.: 326) Es gab auch den Aufruf an die Kleinbauern, „Freunde des Vertrauens überzeugen, ihnen sagen, dass es eine gute Sache ist (…), dass der Kampf gegen die Reichen ist, um die Armen zu schützen.“43 (Ebd.: 108). Dem Aufruf, sich dem Kampf für die Armen anzuschließen, gingen viele in der Sierra de Atoyac nach.
2.2.2 Die Armen folgen Lucio Cabañas „Und ab da ist er in die Berge gegangen! (…) Oh Gott, wie hat er dort gelitten, in den Bergen war er unterwegs, aber ziemlich viele sind ihm gefolgt.“ 44 (Doña Florentina, Atoyac 2008)
Laut den Aufzeichnungen des Generals Acosta Chaparro und des mexikanischen Geheimdienstes hatte die Partei der Armen 347 bewaffnete Mitglieder. Sie war damit die zweitgrößte bewaffnete Bewegung Mexikos nach der Liga Comunista 23 de Septiembre mit 392 KombattantInnen (Aguayo 2006). Nachdem Lucio Cabañas geflohen war und sich in der Sierra de Atoyac versteckte, begannen Kleinbauern und LehrerInnen der Region, sich ihm anzuschließen. So erzählte Doña Carmela, Frau eines ehemaligen Guerillero: „[A]ls mein Mann erfahren hat, dass der Lehrer Lucio in den Bergen war, hat er versucht, ihn zu suchen, um mit ihm zu reden.“45 (Doña Carmela, Chilpancingo 2008) Zu Beginn habe sie nicht gewusst, dass ihr Mann Teil der Bewegung von Lucio Cabañas war. Sie erinnerte sich, dass er aus Vorsicht ihr gegenüber nichts gesagt hatte: „Er war sehr reserviert was das anbelangt, er hat mir nur gesagt, weißt du, ich werde gehen. Falls jemand kommt und nach mir fragt, sage ihnen, dass ich nach Atoyac bin, um Lebensmittel zu holen. Aber in Wirklichkeit, nach einer Zeit bin ich drauf gekommen, ist er zu den Absprachen mit dem Lehrer Lucio Cabañas gegangen.“46 (Ebd.)
42 „[U]stedes se van a pasar hincados o hincadas hasta que se mueran y Dios nunca va a traer justicia, si no la agarramos. Y esto ¿se lo digo yo? No, no lo digo yo. Lo dice Hidalgo, por eso se levantó en armas y era cura; lo dijo Morelos, y era cura.“ (Ebd.: 326) 43 „[O]rientar al amigo de confianza, decirles que esto es bueno (…) que la lucha es contra los ricos para proteger a los pobres.“ (Ebd.: 108) 44 „¡Y desde entonces se fue para la sierra! (…) Ay Dios, como sufrió allá, en las montañas anduvo, pero lo siguieron bastantes.“ (Doña Florentina, Atoyac 2008) 45 „[M]i esposo al enterarse que el maestro Lucio andaba en la sierra el trató de buscarlo para tener una plática con él.“ (Doña Carmela, Chilpancingo 2008) 46 „El era muy reservado para hablarme de eso, nada más me decía, sabes que, voy a salir. En caso de que vengan a preguntar por mí, diles que fui a Atoyac a traer viveres, traer
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Lucio Cabañas Barrientos war aufgrund seines politischen Aktivismus, seiner Tätigkeit als Volksschullehrer und auch, weil die Verwandtschaftsbande der Familie Cabañas und Barrientos in jede comunidad reichten, in der gesamten Sierra bekannt. Er machte Versammlungen in den comunidades, sprach über seine Ziele und rief die Kleinbauern auf, sich seinem Kampf anzuschließen. Verwandtschaft war dabei ein wichtiger Aspekt der Unterstützung, wie sich seine Tante Guadalupe Gervacio Rios aus der comunidad El Paso erinnert: „Immer wenn er kam, habe ich ihm Reis, Bohnen, Eier, Kaffee gegeben, was ich eben im Haus hatte, damit er es seinen Leuten brachte. Wie sollte ich ihm nichts geben, er war doch mein Neffe.“47 (Gervacio Rios zit. in Leticia Díaz 2001) Für die Bevölkerung der Sierra wurde er zu einem revolutionären Held wie einst Emiliano Zapata. Dies bezeugen auch die corridos, die ihm zu Ehren komponiert wurden. Corridos sind populäre Lieder, die oft einen subalternen Kontext haben. Sie erzählen von Heldenmut, von tragischen Ereignissen und vor allem von Kämpfen gegen die Reichen, die Regierung, die Polizei oder das Militär. So gibt es die berühmten corridos der Mexikanischen Revolution zu Emiliano Zapata oder Pancho Villa, aber dann auch zu Cabañas mit dem Titel La rebeldía de Cabañas (Die Rebellion von Cabañas): „Kriegspanzer und Flugzeuge /überziehen diese Berge, /um Lucio Cabañas zu suchen, /der mit der Regierung Schluss macht. /Lucio hat seine Motive /und wird vom Volk unterstützt. /Er ruft ihnen zu: /Ich werde euch den Kampf ansagen! /Ich fürchte die Regierung nicht, /ich habe auch gute Waffen. /Ich repräsentiere Genaro [Vázquez] /und muss in der Schusslinie sterben.“48
Einen corrido über Lucio Cabañas zu singen oder zu komponieren, war Grund für eine Festnahme in den Jahren des Schmutzigen Krieges. So ist der mittlerweile international bekannteste Fall eines Verschwundenen aus Atoyac, Rosendo Radilla Pachecho (vgl. Kap. 5.3.1) aufgrund der Komposition von corridos über Lucio Ca-
comestibles. Pero en realidad, después con el tiempo me di cuenta, que a donde el se iba era el contrato con el maestro Lucio Cabañas.“ (Ebd.) 47 „Cuando venía le daba arroz, frijol, huevos, café, lo que tenía en la casa para que se lo llevara a su gente. Cómo no le iba a dar de comer si era mi sobrino.“ (Gervacio Rios zit. in: Díaz 2001) 48 „Tanques de guerra y aviones / se encumbran por esa sierra, / buscando a Lucio Cabañas, / que está acabando al gobierno. / Lucio tiene sus motivos / y está apoyado en el pueblo. Les grita Lucio Cabañas: / ¡voy a darles la batalla! / Yo no le temo al gobierno, / también traigo buenas armas. / Yo represento a Genaro / y he de morir en la raya.“ (Lied aus CD: Un Hombre llamado...Comandante: Lucio Cabañas Barrientos. Mexiko. Discos Pueblo Rebelde).
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bañas festgenommen und verschwinden gelassen worden. Cabañas hatte auch eine besondere Beziehung zu den Indigenen der Sierra de Atoyac. Unter seinen AnhängerInnen waren indigene und mestizische Kleinbauern der comunidades, aber auch peones (Tagelöhner), die zu den Kaffeeerntezeiten in die Sierra kamen. Weit verbreitet bis in die Gegenwart ist ein latenter Rassismus der mestizischen Kleinbauern gegenüber den Indigenen. Oft wird behauptet, dass die als chantes bezeichneten Indigenen – vor allem zapotecos und nahuas, die zur Saisonarbeit der Kaffeeernte meist aus der Region der Montaña von Guerrero kamen – unzivilisierter seien als die mestizistschen Kleinbauern, dass sie chueco („schief“) sprechen würden, dass man sie also nicht verstehe, wenn sie untereinander sprechen würden. Lucio Cabañas rief die mestizischen Kleinbauern auf, die Indigenen gut zu behandeln, sie als gleichwertige Menschen zu betrachten, sie auch am selben Tisch wie sie selbst essen zu lassen. Weit verbreitet war, dass die indigenen Tagelöhner bei den mestizischen Kleinbauern gleich Tieren das Essen am Boden serviert bekamen. Cabañas hat sich oft als Indigener gekleidet, um nicht erkannt zu werden (Gespräch mit José Luis Arroyo Castro, 2009). Auch Frauen waren Teil der Partei der Armen, die genaue Zahl ist jedoch nicht bekannt. Isabel Ayala Nava, alias Carmelita, die auch Ehefrau von Lucio Cabañas wurde, ist eine bekannte Guerillera. Sie musste jedoch im August 1974 aufgrund ihrer Schwangerschaft die Sierra verlassen (Fierro Santiago 2006: 168f.). Das Ausmaß der Gewalt und der politischen Repression bekam sie aufgrund ihrer Zugehörigkeit in der Partei der Armen jedoch in den darauffolgenden Jahren zu spüren (vgl. Kap. 7). Im Folgenden wird der Beginn der Militarisierung und der Repression in der Sierra de Atoyac beschrieben. Doña Florentina gibt aus ihrer Perspektive den Grund an, warum die Regierung begann, gegen Lucio Cabañas vorzugehen: „Weil er für die Armen sprach, das war die Wut, die sie hatten, dass er für die Armen sprach!“49 (Doña Florentina, Atoyac 2008)
49 „Porque el hablaba por los pobres, era el coraje que les daba, que el hablaba por los pobres.“ (Doña Florentina, Atoyac 2008).
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2.3 D IE SCHLIMMEN Z EITEN : M ILITÄRISCHE O PERATIONEN T ELARAÑA , AMISTAD , R ASTRILLEO „Wir waren umzingelt!“50 (Don Margarito, El Escorpión, 2010) „Man hat keine anderen Leute auf der Straße gesehen, nur Soldaten!“51 (Rosa Castro Velázquez, San Vicente de Benítez, 2009) „Sie haben niemanden rausgelassen!“52 (Don Simon, El Nanchal, 2010)
Der Beginn der Repression hat für viele Menschen der Sierra ein konkretes Ereignis zum Anlass, welches sich im lokalen kollektiven Gedächtnis ebenso wie das Massaker vom 18. Mai 1967 eingeschrieben hat. Am 25. Juni 1972 führte der bewaffnete Teil der Partei der Armen, die Brigada Campesina de Ajusticiamiento del Partido de los Pobres (Kleinbäuerliche Hinrichtungsbrigade der Partei der Armen) den ersten Überfall auf einen Militärkonvoi auf der Straße zwischen Atoyac und San Vicente de Benítez durch. Es wurden zehn Soldaten getötet, zwei verletzt und ihnen Waffen und Munition abgenommen. Laut Angaben des Verteidigungsministeriums transportierte das Militärfahrzeug Kleidung, Medizin und Lebensmittel nach San Vicente de Benítez (Suárez 1978: 79). Am Ort des Überfalls wird ein Kommuniqué gefunden, welches am 17. August 1972 in der Zeitschrift Por qué publiziert wird und in dem sich die Partei der Armen für den Überfall verantwortlich zeigt. Darin heißt es: „Die Bundesarmee hat an verschiedenen Attentaten, Verbrechen und Verfolgungen von Arbeitern und vor allem von Kleinbauern teilgenommen. (…) 12 Kampagnen der Verfolgung gegen die bewaffneten Gruppen seit dem Jahr 1967, inklusive vier ,Kampagnen der sozialen Wohlfahrt’. Die Verfolgungskampagnen verursachten eine hohe Zahl an Toten, Verschwundenen, unschuldig Gefangenen, Entführten und Gefolterten; einige Häuser wurden niedergebrannt und Bombardierungen gegen die Kleinbauern von Hubschraubern aus durchgeführt. (…) Diese Attacke ist die Antwort (…). Für die Brigada Campesina de Ajusticiamiento del Partido de los Pobres: Lucio Cabañas B., Isidro Castro Fuentes, Enrique Velazquez.“53 (zit. in: Suárez 1976: 81 f.)
50 „¡Estábamos sitiados!“ (Don Margarito, El Escorpión, 2010) 51 „¡No veía uno otra gente en la calle, puros soldados!“ (Rosa Castro Velázquez, San Vicente de Benítez, 2009) 52 „¡No dejaban salir a nadie!“ (Don Simon, El Nanchal, 2010) 53 „El Ejército Federal ha participado en diversos atentados, crimenes y persecuciones entre los trabajadores, en particular contra los campesinos. (…) 12 de campañas de persecución
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Ziel der Brigada Campesina de Ajusticiamiento war die Vergeltung der Repression der Kleinbauern durch das Militär und die Eliminierung der Feinde der Armen, um soziale Gerechtigkeit zu schaffen. Luis León Mendiola, der beim Überfall auf den Militärkonvoi dabei war, erinnert sich, dass ein gefangengenommener Mayor des Militärs zu ihnen sagte, sie würden keine Kleinbauern töten, und dass er, Lucio Cabañas, besser die Reichen suchen solle statt arme Soldaten, die nichts damit zu tun hätten, seien sie doch erst aufgrund eines Befehls aus dem entfernten Oaxaca in die Sierra de Atoyac geschickt worden. Lucio Cabañas sagte zu den gefangenen Soldaten: „Wir wollen euch bewusst machen, dass ihr im Dienste der Reichen steht, die annehmlich und luxuriös leben und gleichzeitig euch schicken, um die Menschen zu unterdrücken. Aber ihr sollt verstehen, dass ihr genauso arme und ausgebeutete Menschen seid wie wir.“54 (León Mendiola zit. in: Fierro Santiago 2006: 181) León Mendiola erinnerte sich, dass nach dieser Rede ein Soldat seinen Helm Lucio Cabañas geschenkt habe (vgl. ebd.). Cabañas versuchte, auch die Soldaten von ihrer ähnlichen Kondition als arme ausgebeutete Klasse zu überzeugen und sie auf seine Seite zu bringen. Aus manchen Erzählungen in der Sierra geht hervor, dass dies in manchen Fällen gelang, Soldaten desertierten und sich der Partei der Armen anschlossen. Wie aus den Akten nach der Öffnung der Archive ab dem Jahr 2000 bekannt wurde, schrieben nach dem Überfall auf den Militärkonvoi vier Agenten der Geheimpolizei Dirección Federal de Seguridad (DFS) einen Bericht an deren Direktor. Die DFS, die im Innenministerium angesiedelt war, hatte die Aufgabe, alle Ereignisse, die im Zusammenhang mit der Sicherheit der Nation standen zu beobachten, zu analysieren und darüber zu informieren.55 Ein vor einigen Jahren veröffentlichtes internes „Werbevideo“ des ehemaligen Geheimdienstes DFS zeigt deren Leitspruch und vergleicht die Agenten mit Tigern:
contra los grupos armados desde el año 1967, incluyendo cuatro „campañas de asistencia social.“ Las campañas de persecución se han distinguido por el gran número de muertos, desaparecidos, inocentes presos, secuestrados y torturados; por la quema de algunas casas y bombardeos de los helicópteros sobre los campesinos. (…) este ataque es la contestación (…). Por la Brigada Campesina de Ajusticiamientos del Partido de los Pobres: Lucio Cabañas B., Isidro Castro Fuentes, Enrique Velazquez.“ (zit. in: Suárez 1976: 81 f.) 54 „Haciéndolos conscientes que estaban al servicio de los ricos, los cuales mientras vivían cómoda y lujosamente, los enviaban a reprimir a los pueblos, pero que debían de entender que eran gente tan pobre y explotada como cualquiera de nosotros.“ (León Mendiola zit. in: Fierro Santiago 2006: 181) 55 Vgl. über die Geschichte und Entwicklung der Geheimdienste in Mexiko die Analysen von Aguayo 2001.
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„Unser Leitspruch: Der Tiger ist ein mächtiges Tier, der sich der Gefahr stellt, von vorne angreift, es vorzieht im Stillen zu agieren und zu beobachten, was andere Wesen nicht sehen können. Er ist intutiv und intelligent, schnell und sicher, vorsichtig und listig. (…) So soll der Agent der Bundessicherheitsdirektion sein.“56
Die Agenten der DFS berichten nach dem Überfall über die identifizierte Anzahl der Kombattanten der Guerilla in der Sierra de Atoyac, die Schwierigkeiten der Soldaten vor Ort und fordern die Unterstützung des Militärs aus anderen Regionen an: „Durch das Attentat, das von besagter Gruppe am 25. Juni 1972 durchgeführt wurde, haben sich Einheiten des Verteidigungsministeriums, genauer der 27. Militärzone, hervorgehoben, die Operationen zur Lokalisierung, Festnahme und Eliminierung dieser GUERILLA zu realisieren. Gegenwärtig operieren in der kritischen Zone im Durchschnitt 360 Männer, mittels kleiner Gruppen, die nicht größer als 33 Mann stark sind und 9 Gruppen umfassen, die sich GRUPPIERUNG nennen und je von einem Mann kommandiert werden. Aufgrund der Charakteristik des Gebietes und dem Mangel an Kommunikation haben die Einheiten gewisse Schwierigkeiten, sich mit Nahrung zu versorgen, was sie zu großen physischen Anstrengungen unter moralischer Anspannung zwingt. Es ist daher notwendig, diese durch neue Truppen abzulösen, die es im Territorium der 27. Militärzone nicht gibt. Deswegen ist es wichtig, diese Einheiten mit Truppen aus anderen Teilen der Republik zu unterstützen.“57 (Bericht DFS zit. in: CNDH 2001, Kap. 2, S. 10f.) 58
56 Das Video heißt „Así es la Dirección Federal de Seguridad“ („So ist die Bundesdirektion für Sicherheit“): „Nuestro emblema: El tigre es un animal poderoso que no rehuye al peligro, ataca de frente, prefiere de actuar en silencio y observa lo que otros seres no alcanzan a ver. Es intuitivo e inteligente, rápido y seguro, cauto y astuto. [...]. Así debe ser el agente de la Dirección Federal de Seguridad.“ Das Video ist aufrufbar unter: http://www.youtube.com/watch?v=USr-CFgmRtc (letzter Zugriff 13.11.2012). 57 „A raíz de atentado llevado a cabo por dicho grupo el 25 de junio del 1972, se destacaron por parte de la Secretaría de la Defensa Nacional, a través de la 27a. Zona militar, fuerzas que llevan a cabo operaciones para localización, captura o exterminio de esta GUERRILLA, para el efecto, se encuentran actualmente operando en el area crítica, un promedio de 360 hombres, a base de pequeños grupos con efectivos no mayores de 33 hombres, constituyendo 9 grupos denominados AGRUPAMIENTO, al mando de un oficial cada uno. Por las caracteristicas del area, y la falta de comunicaciones, han encontrado ciertas dificultades para sus abastecimientos, lo que los obliga a desarrollar grandes esfuerzos fisicos y sometidos a una tension moral, lo que obligara a relevarlos con tropas de refresco que no hay en el mando territorial de la 27a. Zona militar, por lo que sera necesario reforzar a
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Im selben Bericht legen diese Agenten auch das Ziel der Aktion fest – die totale moralische und materielle Zerstörung der Partei der Armen: „Es ist notwendig, um den Aktivitäten dieser Gruppen im urbanen und ruralen Bereich zu entgegnen, dieselben Techniken wie sie anzuwenden. Stoßtruppen einzusetzen, die in klandestiner Form direkt gegen die bereits identifizierten und lokalisierten Mitglieder vorgehen, um sie moralisch und materiell zu brechen, bis ihre totale Zestörung erreicht wird. Um dies zu erreichen, wird die materielle und moralische Unterstützung auf Seiten der Behörden auf allen Ebenen benötigt.“ 59 (DFS zit. in: CNDH 2001, Kap. 2, S. 10 f.)
Die moralische und materielle Unterstützung, die von den Agenten der DFS gefordert wurde, hat die Regierung Echeverría auch gewährt. Circa 25.000 Soldaten aus anderen Militärzonen des Landes wurden in die Sierra de Atoyac zur Eliminierung der Partei der Armen durch Aktionen der Aufständsbekämpfung geschickt. Diese Zahl machte ungefähr ein Viertel der gesamten mexikanischen Armee zu dieser Zeit aus. Gab es auch auch schon vor 1972 Militärpräsenz in der Sierra de Atoyac, die seit dem Jahr 1969 AnhängerInnen der Guerillabewegung Asociación Civica Nacional Revolucionaria (ACNR) von Genaro Vázquez (vgl. Miranda 2006) verfolgten, wurde jedoch ab diesem Zeitpunkt die militärische Operation systematisiert. Die Zivilbevölkerung bekam die darauffolgende Militarisierung der comunidades und den damit einhergehenden Terror zu spüren. Rosa Castro Velázquez aus San Vicente de Benítez erinnert sich, dass ab dem Überfall auf den Militärkonvoi Soldaten die comunidades zu belagern begannen. Einzelne Häuser der BewohnerInnen und Schulgebäude wurden als Militärlager besetzt und Soldaten installierten
dicho mando, con tropas procedentes de otras partes de la República.“ (Bericht DFS zit. in: CNDH 2001, Kap. 2, S. 10f.) 58 Im Bericht der Nationalen Menschenrechtskommission (CNDH) von 2001 werden die Namen der Agenten nicht erwähnt. Das Dokument wurde von der CNDH im Archiv der ehemaligen DFS, welches heute von der Nachfolgeinstitution Centro de Investigación y Seguridad Nacional (CISEN) verwaltet wird, gefunden. Einsicht in den Bericht der CNDH von 2001 unter: http://www.cndh.org.mx/Informes_Especiales (Letzter Zugriff 30.04.2014). 59 „Es necesario, para poder contrarrestar las actividades que desarrolla este grupo, en el medio urbano y rural, emplear las mismas tecnicas que ellos, utilizando fuerzas de golpeo que en forma clandestina actuan directamente en contra de los miembros ya identificados y ubicados, para quebrantarlos moral y materialmente, hasta lograr su total destruccion. Se requiere, para lograr lo anterior, el apoyo material y moral, por parte de las autoridades en todos los niveles.“ (Bericht DFS zit. in: CNDH 2001, Kap.2, S.10f.)
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sich in Zelten rund um die comunidades. Der Beginn der Militarisierung der comunidades bedeutete auch die Kontrolle über die Bewegungsfreiheit der Bevölkerung: „Ich konnte hier keine Bewegung machen. Wenn ich rausging, haben sie mich angeschrien, was ich denn da reden würde. Sie haben nicht zugelassen, dass mich jemand besuchte. Sie haben mich nicht mal rausgehen lassen, um den Müll wegzuwerfen. Und in der Nacht haben sie uns erschreckt, sie haben die Gewehrläufe da durchgesteckt [durch die Häuser].“60 (Rosa Castro Velázquez, San Vicente de Benítez, 2009)
Der militärische Einsatz zur Eliminierung der Guerilla von Lucio Cabañas trug den Namen Operación Telaraña (Operation Spinnennetz) und stand unter dem Oberbefehl des Verteidigungsministers General Hermenegildo Cuenca Díaz. Der Name symbolisierte den Aufbau von strategisch wichtigen militärischen Überwachungspunkten und deren Vernetzung in der gesamten Sierra de Atoyac und im Bundesstaat Guerrero. Die Bevölkerung war also in einer Art Spinnennetz militärischer Kontrolle gefangen. Wie die Spinne ihr gewobenes Netz, überwachte das Militär jegliche Bewegung der Bevölkerung in diesem Gebiet.Dokumente der Dirección Federal de Seguridad berichten dabei auch von der Gründung der paramilitärischen Einheit Grupo Sangre (Gruppe Blut), die dem Kommandanten der 27. Militärzone, General Salvador Rangel Medina, unterstanden und in der die Generäle Francisco Quirós Hermosillo und Arturo Acosta Chaparro Escapite beteiligt waren. Diese Gruppe setzte sich aus Militär und Polizeieinheiten zusammen (Miranda 2006, Castillo García 2003). General Acosta Chaparro war auch Teil der paramilitärischen Einheit der Brigadas Blancas (vgl. Kap. 1.3) und in Guerrero oberster Befehlshaber aller Polizeieinheiten (vgl. Castillo García 2012a, 2012b). Die Comisión Nacional de Derechos Humanos (CNDH) stieß auf ein Dokument der DFS, dessen Inhalt deutlich machte, was Verteidigungsminister Cuenca Díaz im September 1972 plante, nämlich: „die Gefolgschaft des Guerillero Lucio Cabañas zu ,eliminieren‘ und nur seine engsten Kollaborateure festzunehmen. Das Dokument zeigt die Befehlskette zwischen den Offizieren der 27.Militärzone und legt fest, dass während der Suche und Festnahme von Guerilleros in den comunidades ohne Strom, Trinkwasser und Infrastruktur soziale Wohlfahrtskampagnen
60 „Aquí yo no podía hacer ningún movimiento. Si salía me pegaban el grito, que que cosa estaba yo platicando. No me dejaban que me visitara nadie. No me dejaban salir para allá fuera, ni a tirar mi basura. Y en lo noche nos espantaban, nos metían las trompetillas por allí [por las casas].“ (Rosa Castro Velázquez, San Vicente de Benítez, 2009)
116 | K AMPF UM R EHUMANISIERUNG durchgeführt werden sollen, um dem schlechten Image der Streitkräfte zu begegnen.“61 (Bericht DFS zit. in: CNDH 2001, Kap. 2, S. 10 f.)
Die Militarisierung der Sierra de Atoyac durch die Operation Telaraña ging, wie im Zitat erwähnt, mit einer sozialen Kampagne einher, der Operation Amistad (Freundschaft). Diese soziale Operation hatte das Ziel, die Infrastruktur der Sierra und ihrer comunidades auszubauen. Nachdem Militärkonvois auf den unzugänglichen Wegen von der Partei der Armen überfallen worden waren, wurde die schmale Verbindungsstraße zwischen der Bezirkshauptstadt Atoyac und einigen comunidades der Sierra bis nach El Paraiso (vgl. Abb. 3) zu einer breiten Straße ausgebaut. Auch wurden im Rahmen von als sozialen Kampagnen des Militärs getarnten Aufstandsbekämpfungsoperationen in allen comunidades Schulen ausgebaut und Basketballplätze eingerichtet, die jedoch primär als Hubschrauberlandeplätze fungierten. In diesem Zusammenhang sagen bis heute viele BewohnerInnen der Sierra mit ironischem Lachen, dass sie die ausgebaute große Straße und die vielen Basketballplätze eigentlich Lucio Cabañas zu verdanken hätten. Mit den sozialen Kampagnen wurden auch Friseure und Ärzte in die comunidades geschickt, deren primäres Ziel es war, die BewohnerInnen beim Haareschneiden oder den ärztlichen Behandlungsgesprächen auch über die Situation in der comunidad zu befragen und so Informationen über SympathisantInnen der Partei der Armen zu sammeln (Miranda 2006; Montemayor 1991). Die dritte Operation hieß Operation Rastrilleo (Durchforsten, Abgrasen) und hatte zum Ziel, die Sierra und ihre comunidades nach Verdächtigen zu durchsuchen. Soldaten erhielten den Befehl, nachts, mit Hilfe von guías (Führern) und madrinas (Patinnen) – lokale Kleinbauern, die freiwillig oder zur Kollaboration gezwungen – jene aufzuspüren und festzunehmen, die von Kaziken oder anderen DenunziantInnen der Sympathie zur Partei der Armenbeschuldigt wurden. Auch wurden in der Bevölkerung bekannte Kriminelle und Kopfgeldjäger der lokalen Kaziken eingesetzt, um Verdächtige zu suchen (Miranda 2006). Von Allianzen zwischen Militär und Drogenhändlern, um die bewaffneten Guerillabewegungen effektiver zu bekämpfen, berichtet auch der unveröffentlichte Bericht der FEMOSPP (2006, Kap. 8: S. 29). Der mexikanische Autor Diego Enrique Osorno (2009), der die Geschichte des mächtigen Sinaloa Drogenkartells analysierte, schrieb ebenso über den politi-
61 „,[E]xterminar ދa los seguidores del guerrillero Lucio Cabañas y detener sólo a sus más cercanos colaboradores.El oficio da cuenta de la transmisión de órdenes entre los mandos de la 27 Zona Militar, y precisa que al tiempo que se realizaría la búsqueda y detención de guerrilleros, se harían obras de beneficio social entre las comunidades sin electricidad, agua potable y servicios, para contrarrestar la mala imagen de las fuerzas armadas.“ (Bericht DFS zit. in: CNDH 2001, Kap. 2, S. 10 f.).
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schen Einsatz der Drogenhändler in der Bekämpfung aufständischer Bewegungen. Ein Beispiel eines Kopfgeldjägers eines lokalen Kaziken nennt Lucio Cabañas. Er sagte über seinen Cousin, der für das Militär arbeitete: „Sie haben die Verbrecherbande auf uns gehetzt. (…) Sie haben Israel Chávez auf uns angesetzt, einer meiner Cousins, der fünf oder vier andere dabei hatte, um uns zu suchen. Sie haben auch einen gewissen ,Mezcalillo ދauf uns angesetzt (er war ein Kopfgeldjäger der Kaziken aus Atoyac, der sich als Mezcal Verkäufer verkleidete und in den comunidades der Sierra unterwegs war, um Information über die Guerilleros zu sammeln und diese dann an das Militär weiterzugeben), der uns mit circa sieben Männern sucht, hier, in der Umgebung der Sierra de la Florida, denn es war so, dass der von dort war, glaube ich. Und er ist Kopfgeldjäger des Kaziken Carmelos García (einer der Verantwortlichen des Massakers von Atoyac am 18. Mai 1967).“62 (Lucio Cabañas zit. in: Suárez 1976: 72)
Das Militär führte eine selektive Repressionsstrategie durch, auch um das mittlerweile negative Bild des Militärs in der Bevölkerung zu verbessern. So hieß der Befehl für die Operation, nur den engsten Kreis um Lucio Cabañas festzunehmen. Diese wurden von der Regierung als malhechores (Gauner) bezeichnet: „[W]eitgehend zu vermeiden ist die Festnahme von Personen, die nicht Teil der Hauptgruppe oder des Kerns von Lucio Cabañas sind, mit dem festen Ziel, die Unzufriedenheit der Bevölkerung, die in der Nähe der 27. Militärzone lebt, zu beenden. Denn es gibt keinen Grund, warum sie sich von einer Gruppe von Gaunern betrügen lassen sollten. Die Mission der Truppe wird sein: A) die Suche nach Information weiterzuführen und die notwendigen Operationen zur Festnahme und Eliminierung von Lucio Cabañas (den sie mit dem Code BM identifizieren) und der ihn begleitenden Gruppe von Kriminellen durchzuführen; B) die Suche nach Waffen, die die Gauner gestohlen haben, weiterzuführen.“63 (Dokument DFS zit. in: Castillo García 2003)
62 „Nos echaron la gavilla. (…) Nos echaron a Israel Chávez, un primo mío que cargaba 5 con él, ó 4, para que nos buscara. También nos echaron a un mentado ,Mezcalillo( ދera un pistolero de los caciques de Atoyac que se disfrazaba de vendedor de mezcal en las comunidades de la sierra, para recabar información relacionada con los guerrilleros y luego trasmitirla al ejército) que nos buscaba con unos 7 hombres, aquí, por la Sierra de La Florida, es que ese señor era de por allí, creo, y es pistolero del cacique Carmelo García (uno de los responsables de la matanza de Atoyac del 18 de mayo de 1967).“ (Lucio Cabañas zit. in: Suárez 1976: 72) 63 „[E]vitar en lo posible la detención de personas que no formen parte precisamente del grupo o núcleo principal de Lucio Cabañas, con el firme propósito de terminar con el descontento de los pobladores de pueblos aledaños a la 27 Zona Militar, a fin de que no
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Die festgenommenen Personen wurden in den Berichten der Dirección General de Investigaciones Políticas y Sociales (DGIPS) des Innenministeriums als paquetes (Pakete) bezeichnet, um die Tatsache der Verschleppung zu verschleiern (vgl. Castillo García 2003). Doña Angelica vom Comité Eureka erzählte, dass in von ihnen gesichteten DFS-Dokumenten auch von der Umschreibung pertenencias (Besitztümer) anstelle von Gefangenen die Rede war: „Dort in den Dokumenten heißt es, dass ihre Besitztümer in das Militärcamp Nummer 1 transferiert wurden, aber danach haben wir erfahren, dass Besitztümer ein Code für die Verschwundenen war.“64 (Doña Angelica, Mexiko-Stadt, 2009). Über den Fortschritt der Operation Telaraña haben die Agenten der DFS täglich das Verteidigungsministerum, das Innenministerium und den Präsidenten informiert (vgl. Castillo García 2003). In einem Dokument der DFS, unterzeichnet vom Agenten Isaac Tapia Segura, schreibt dieser in seinem Bericht über den Befehl und die Tötungsmethode der festgenommenen Personen: „[S]ie wurden festgenommen auf Befehl des Divisionsgenerals der Präsidentschaftsgarde, Salvador Rangel Medina, Kommandant der 27. Militärzone mit Sitz in Acapulco, denen, nachdem sie gezwungen wurden Informationen zu sagen, die sie zu den Gruppen und Bewegungen von Lucio Cabañas Barrientos hatten, Benzin zu trinken gegeben wurde. Dann hat man sie angezündet und an einem entlegenen Ort zurückgelassen, wo sie durch den Effekt des Feuers entstellt wurden, unabhängig davon, dass man auf sie geschossen hat.“65 (Dokument DFS zit. in: Castillo García 2003).
existan razones para que se dejen engañar por grupos de malhechores.La misión de las tropas será: A) continuar la búsqueda de información y realizar las operaciones necesarias para capturar o exterminar a Lucio Cabañas (a quien identifican con la clave BM) y el grupo de maleantes que lo acompaña.B) continuar la búsqueda del armamento que se robaron los maleantes.“ (Dokument DFS zit. in: Castillo García 2003) 64 „Ahí en los documentos dicen que sus pertenencias fueron trasladados al Campo Militar Número 1. pero despues supimos que las pertenencias fue una clave para los desaparecidos.“ (Doña Angelica, Mexiko-Stadt, 2009) 65 „[S]on detenidos por órdenes expresas del general de división del Estado Mayor Presidencial, Salvador Rangel Medina, Comandante de la 27 Zona Militar con base en Acapulco, a quienes después de obligarlos a decir la información que tienen respecto a los grupos y movimientos de Lucio Cabañas Barrientos, les dan a tomar gasolina prendiéndoles fuego y abandonándolos en lugares solitarios donde aparecen desfigurados por los efectos del fuego independientemente de dispararles sus balazos.“ (Dokument DFS zit. in: Castillo García 2003)
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Aus diesen Berichten wird deutlich, welche Art der Gewalt gegen die Verschleppten angewandt wurde. Gefangene wurden, nachdem sie zum Informationsgewinn gefoltert wurden, gezwungen, Benzin zu trinken, erschossen, verbrannt und die Körper an verlassenen Orten entsorgt. Es waren diesPraktiken der Dehumanisierung, von denen zu jener Zeit die Menschen der comunidades noch nichts wussten. Die Menschen in der Sierra de Atoyac verwenden nicht den Begriff Schmutziger Krieg, wenn sie über die vergangene Repression sprechen. Vielmehr beschreiben sie diese Zeit als die schlimmen, die hässlichen Zeiten (los tiempos feos) oder umschreiben sie mit „als die Zeiten schlimm wurden“ (cuando los tiempos se pusieron feos). Erfahrungen von Gewalt und Ungerechtigkeit und die Erzählungen darüber sind Ausgangspunkt der Bildung von sozialen Erinnerungsgruppen der Angehörigen. Diese geteilten Erfahrungen über die schlimmen Zeiten des Schmutzigen Krieges lassen sich aus einer Mikroperspektive fassbar machen. So gibt das Beispiel von Rosa Castro Velázquez Einblick in die Erfahrungen und Handlungsweisen der Menschen in einer comunidad während des Schmutzigen Krieges.Wie bereits erwähnt, gab es in den comunidades der Sierra bereits seit den 1950er Jahren Miltärpräsenz. Es war eine für die Bevölkerung ruhige und teils sogar positiv empfundene Koexistenz mit den Soldaten. Die Soldaten bezahlten für Dienstleistungen wie Essen oder Wäschewaschen und es gab keine Übergriffe gegen die Dorfbevölkerung. Die Situation veränderte sich jedoch im Jahre 1972, als es den ersten bewaffneten Überfall der Guerilla von Lucio Cabañas gab und die im Dorf von Rosa Castro Velázquez stationierten Soldaten, die sich auf dem Weg nach Atoyac befanden, getötet wurden. Der Ehemann von Rosa Castro Velázquez war einer der ersten Männer, die daraufhin in ihrer comunidad festgenommen wurden. Sie erzählte von diesem Tag und wie sie Informationen über den Verbleib ihres Mannes erhielt: „Ich habe zu meinem Mann gesagt, ich komme gleich wieder, ich gehe schnell rüber, um Chate die Injektion zu geben. (…) Und er blieb im Korridor vor dem Haus auf einer Bank sitzen, die wir dort hatten. Ich bin weg, habe die Injektion gegeben und zu meinen beiden Töchtern, Olga und Estela, gesagt, kommt, wir gehen. Wir sind zurück und ich habe gerufen, wo er denn sei. Und ich habe ihn nicht mehr gefunden. Wir sind im Korridor geblieben, als eine comadre, die Berta heißt, vorbeikommt (…) und mir sagt: comadre, stell dir vor, Juanito haben sie über die ganze Straße geschleppt. Juanito war der Bürgermeister und mit uns verwandt. Und ich sagte zu ihr, stell dir vor, Alejandro habe ich auch gerade alleine gelassen und jetzt ist er nicht mehr da. Und sie sagt: schau, als ich runterkam, haben zwei Soldaten meinen compadre[Alejandro, Rosas Ehemann] zum Militärlager gebracht. Dort haben sie ihn dir hin-
120 | K AMPF UM R EHUMANISIERUNG gebracht! Und ich sage, gut, dann wird er wiederkommen.“66 (Rosa Castro Velázquez, San Vicente de Benítez, 2009)
Ihr Mann kam jedoch nicht wieder zurück und so beschloss sie, selbst zum Militärlager zu gehen. Dort wurde sie entgegen des früheren freundlichen Umgangs, den die Offiziere und Soldaten mit der Bevölkerung hatten, nun gedemütigt und beschimpft: „Wir warteten, es wurde 10 Uhr, 11 Uhr und nichts. Und als wir sahen, dass sie sie wegbringen wollten [ihren Mann und Schwiegervater], habe ich 30 Pesos genommen und zwei Jacken, um es ihnen zu bringen. Meine zwei Töchter sind mitgegangen und als ich hinkam, war der Oberleutnant Centinela dort und er kam auf mich zu und sagte: Wo gehen sie hin, Chefin? Ich sage ihm: Ich habe gesehen, dass sie meinen Mann schon wegbringen und na ja, sie haben sie einfach so mitgenommen. Er sagt: Ah! Und da kommt ein anderer raus und sagt ziemlich grob: Was wollen sie? Was wollen sie, scheiß Alte! Verschwindet, sonst werde ich euch wegprügeln!“67 (Doña Rosa, San Vicente de Benítez, 2009)
Doña Carmela, die Frau eines ehemaligen Mitglieds der Partei der Armen erinnert sich an die Hexenjagd, die der PRI-Senator von Guerrero Rubén Figueroa gegen Lucio Cabañas und dessen SympathisantInnen startete, während die lokale Bevölkerung in den comunidades Lucio Cabañas unterstützte und mit Lebensmitteln versorgte:
66 „Le dije yo a mi esposo, ahorita vengo, voy a inyectar a Chate. (…) Y yo lo dejo sentado en la banca ahí en el corredor, ahí en un asiento que teníamos ahí. Y me fui, ya le puse la inyection y le dije a mis niñas, a Olga a Estela, vámonos [...]. Nos venimos y empecé a hablar yo, que donde estaba. Y ya no lo encontré. Y nos quedábamos alla en el corredor cuando pasa una comadre que se llama Berta [...] y me dice: comadre, dice, fijate que llevan a Juanito por toda la carretera. Ahora, Juanito era el comisario y era familiar de nosotros. Y le digo, fijese, a Alejando también lo acaba de dejar y ya no lo encontré y ya medice ella: mire, cuando yo bajaba, a mi compadre lo llevaban adelante dos soldados al cuartel. ¡Allá te lo llevaron! Y digo, bueno, va a llegar.“ (Rosa Castro Velázquez, San Vicente deBenítez, 2009) 67 „Estuvimos esperando, se hicieron las diez, las once, y no. Ya cuando vimos que ya se los iban a llevar [a su esposo y su suegro], agarré 30 pesos y dos chamarras para írselos a alcanzar y ya se fueron mis dos hijas conmigo y ya cuando llegué ahí, estaba el [teniente] Centinela así y se viene y dice: ¿para dónde va, jefa? Le digo, es que veo que ya se van a llevar a mi esposo y pues, se los trajeron así no más. Dice, ah! Y en eso, sale otro, bien grosero: que quería? Dice, y usted que quiere, ¡hija de su pinche madre! ¡Retírense porque si no, los voy a retirar a culetazos!“ (Doña Rosa, San Vicente de Benítez, 2009)
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„Und mit der Zeit habe ich erfahren, dass der damalige Gouverneur Rubén Figueroa Figueroa eine Hexenjagd gegen Lucio Cabañas und alle, die ihn unterstützten, begann. Es gab Leute in den comunidades, die, wenn wir erfuhren, dass der Lehrer Lucio in der Nähe war, sich gefreut haben und ihm Lebensmittel und Essen schickten.“68 (Doña Carmela, Chilpancingo, 2008)
Die Tatsache, dass viele Menschen der Sierra de Atoyac Lucio Cabañas folgten und ihn mit Lebensmitteln und Informationen versorgten, führte zu einer immer stärker werdenden sozialen Kontrolle der gesamten Region. Das Militär und die Polizei kontrollierten Wege, Straßen und die Menschen bei deren alltäglichen Aktivitäten. Im Folgenden sollen einige Überlegungen zu Staatsterrorismus skizziert werden, vor dessen Hintergrund die militärischen Praktiken während des Schmutzigen Krieges in der Region zu betrachten sind.
2.3.1 Kontrolle der Bewegungen, Kontrolle der Nahrung „Alles, was wir hier gekauft haben, haben sie uns weggenommen!“69 (Sofía Tabares Vázquez, Atoyac, 2006)
Zur Zeit des Schmutzigen Krieges wurden in der gesamten Sierra von Atoyac stationäre und mobile Militärkontrollposten installiert. Diese waren Symbol von Angst und Unsicherheit für die lokale Bevölkerung, die sich von einem Ort zu einem anderen bewegen wollte. Jeder und jede konnte Ziel eines willkürlichen Aktes der staatlichen Akteure werden. Die Soldaten hatten an diesen Kontrollpunkten die Aufgabe, verdächtige Personen, also jene, die Kontakt mit der aufständischen Bewegung von Lucio Cabañas hatten, aus den Fahrzeugen zu holen. Dazu gingen sie nach Listen vor oder setzten sogenannte madrinas (Paten) ein. Madrinas waren Menschen aus den comunidades der Sierra von Atoyac, die vom Militär festgenommen und gezwungen wurden, mit dem Militär zu kooperieren, um verdächtige Personen zu identifizieren. Oder es handelte sich um Personen, die freiwillig als madrinas mit dem Militär kooperierten.
68 „Y al paso del tiempo me enteré que el gobernador en turno que era Rubén Figueroa Figueroa inició una cacería de brujas en contra de Lucio Cabañas y todo aquel que le apoyaba. Habia gente de las comunidades que cuando nos enterabamos, (…) anda cerca el maestro Lucio, la gente se le daba gusto y lo que hacían era hacerle llegar viveres y comida.“ (Doña Carmela, Chilpancingo, 2008) 69 „Todo lo que comprábamos aqui, nos lo quitaron!“ (Sofía Tabares Vázquez, Atoyac, 2006)
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Die Kriterien, um auf solchen Listen aufgeführt zu werden, waren der Bevölkerung unbekannt, Grund genug für die Verbreitung von Angst und Terror bei der Bewegung von einem Ort zum nächsten. Die Kontrollposten des Militärs wurden für die Bevölkerung zu einer „location of violence in the lived world“ (Jeganathan 2004: 69). Kontrollposten gab es nicht nur auf den Straßen, sondern auch auf kleinen unbefestigten Wegen zwischen den comunidades, auf den Wegen zur milpa, im Wald oder auf dem Weg zum Fluss. Darüber hinaus gab es mobile Kontrollposten, indem sich Soldaten einmal an einem Ort, dann an einem anderen aufstellten. Ein nahe gelegener Kontrollposten stellte für viele BewohnerInnen der Sierra eine konkrete Gefahr dar, das nächste Opfer einer willkürlichen Festnahme zu werden. Viele der Verschwundenen wurden bei solchen Kontrollposten von ihren Familienangehörigen oder Bekannten das letzte Mal gesehen. Ein Fingerzeig, ein Name auf der Liste, die Aussage einer madrina in Begleitung eines Soldaten reichte für eine Isolierung vom Rest der Gruppe. Auch Don Domitilo aus San Martín de las Flores sah so seinen Bruder im Jahr 1974 das letzte Mal. Er saß gemeinsam mit seinem Bruder in einem Bus, als Soldaten bei einem Kontrollpunkt in den Bus stiegen und einige Personen herausholten. Sein Bruder war einer davon. Er wurde festgenommen und gilt seither als verschwunden. Don Domitilo hat es nicht gewagt, ebensowenig wie andere Menschen im Bus, etwas dagegen zu sagen, zu protestieren. Still und schweigend, sich selbst und den Rest der Familie schützend, sich nicht als Familienangehörige zu erkennen gebend, konnte man doch der nächste Verhaftete sein. Eine Kultur der Angst (vgl. Green 1994), die das Verhalten der Bevölkerung prägte, verbreitetete sich in der Sierra de Atoyac aufgrund des Terrors, den das Militär ausübte. So fuhren die Busse mit verängstigten Passagieren nach jedem Kontrollposten in diesen Landschaften der Gewalt weiter bis zum nächsten Kontrollpunkt, wo die unkalkulierbare Machtdemonstration der Soldaten von Neuem begann. Deborah Poole und Veena Das verglichen diese Interaktionen der Identitätsbestimmung an den Kontrollposten für den Konflikt in Peru zur Zeit der Aufstandsbekämpfung der 1980er Jahre als Rituale: „[T]his mysterious ritual of ,reading‘ the lists carried with it not only all the ominous uncertainty of the war but also all the tangible familiarity of fluttering, unread, arbitrary, and shifting forms of paperwork that mark the material or lived geography of a state whose form [...] is never fixed or stable.“ (Das/Poole 2004: 36)
Für die lokale Bevölkerung der Sierra bedeuteten die Kontrollpunkte eine Einschränkung der Bewegungsräume: „Wir konnten nicht rausgehen, (…) denn überall
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waren Soldaten“,70 erinnert sich Rosa Castro Velázquez (2008). Zusätzlich zur Suche nach AnhängerInnen der aufständischen Bewegung bestand eine andere Funktion der Kontrollposten auch in der Rationierung von Nahrungsmitteln. Personen, die vom Markt in der Bezirkshauptstadt Atoyac zurück in die comunidades fuhren, durften nur eine kontrollierte Menge an Lebensmitteln in ihre comunidades bringen. Der Hintergrund war, dass einige Kleinbauern und -bäuerinnen der comunidades die Aufständischen mit Lebensmitteln versorgten. Diese Nahrungsmittelzufuhr an die Guerillos sollte unterbunden und die als bastimenteros (bastimento-Nahrung) bezeichneten Verdächtigen festgenommen werden. Nahrungsmittel, die über die vom Militär festgelegten Mengen für den Konsum einer Familie hinausgingen, wurden konfisziert. Es war eine Strategie des Aushungerns (Bericht FEMOSPP 2006) der Bevölkerung, einer Methode der Aufstandsbekämpfung, die „dem Fisch das Wasser entziehen“ sollte. Doña Virginia aus Atoyac erinnert sich an den Hunger, den diese militärische Strategie auslöste: „Nein, ich will mich gar nicht an diese Momente erinnern, weil wir ziemlich gelitten haben! Wir haben nicht gegessen, haben manchmal nur Bananen gegessen, die da waren, und wenn keine da waren, hatten wir gar nichts. Denn meiner Tochter haben sie die Hühnchen, die sie [vom Markt] bringen sollte, auf halbem Weg weggenommen.“71 (Doña Virginia, Colonia 18 de Mayo, 2009)
Auch Sofía Tabares Vázquez erinnert sich: „Wir sind vom Einkaufen zurückgekommen und da dort ein Kontrollposten war, dort bei Chichalaco (…), haben sie uns dort alles weggenommen, alles haben sie uns weggenommen. Wenn wir eine Packung Kekse dabei hatten, haben sie sie uns weggenommen, Bohnen, alles, alles, was wir gekauft hatten!“72 (Sofía Tabares Vázquez, Atoyac, 2006)
70 „No podíamos salir, [...] pues por dondequiera había soldados“ (Rosa Castro Velázquez, San Vicente de Benítez, 2008). 71 „¡No, no he de querer acordarme de esos momentos porque como sufrimos bastante nosotros! Hasta ni comíamos, comíamos puro platano a veces que había, y a veces que no había nos pasabamos sin comer, porque mi hija que encargabamos el mentado pollo, se la quitaban a medio camino.“ (Doña Virginia, Colonia 18 de Mayo, 2009) 72 „Veníamos a comprar nosotros y como estaba un retén, por ahí por el Chichalaco (…), ahí nos quitaban todo, si llevabamos un paquetito de galletas, nos quitaban todo, todo nos quitaban, frijol, todo, ¡todo lo que comprábamos aquí [...]!“ (Sofía Tabares Vázquez, Atoyac, 2006)
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Der Beschreibung des Verlustes wird aber auch teilweise mit Witz begegnet. Sofía Tabares Vázquez lachte, als sie beschrieb, was aufgrund des Verlustes aller Lebensmittel die Überlebensstrategie in ihrem Dorf war: „Was haben wir also gemacht? Wir haben nur Shrimps gegessen, weil es nichts anderes gab!“73 Sie aßen Shrimps, üblicherweise ein teures Lebensmittel am Markt für Kleinbauern.74 In einigen comunidades der Sierra, dort wo es Flüsse gibt, haben die Kleinbauern während der Militarisierung als Ersatz für die fehlende Nahrung Flussschrimps gefangen und gegessen. Denn, wie sich ein Kleinbauer aus Tres Pasos im Gespräch mit der Journalistin Leticia Díaz erinnert, auch die tägliche Arbeit der Kleinbauern in der milpa (Maisfeld) wurde kontrolliert: „Sie haben uns zwei Stunden zum Arbeiten gegeben, wir durften nicht eine tortilla mitnehmen und wenn wir ernteten, haben die Soldaten alles genommen und es am Dorfplatz gelagert und beaufsichtigt. Jede Woche hat sich dann jedes Familienoberhaupt ein Kilo Mais geholt, ein weiteres Kilo Bohnen, ein Kilo Kaffee und einen Liter Öl. Aber das war nicht genug, weil die Familien mindestens zehn Personen umfassten. Wir sind vor Hunger gestorben.“75 (zit. in: Díaz 2001)
Das Ritual der Machtdemonstration mit Namenslisten wurde zur Zeit des Schmutzigen Krieges nicht nur an den Kontrollpunkten vollzogen, sondern auch in den comunidades selbst. Alle InterviewpartnerInnen erzählen immer wieder von dem sich stetig wiederholenden Zusammenrufen aller BewohnerInnen der comunidad zum zentralen Platz, meist dem Basketballplatz. Dort wurden von den anwesenden Soldaten die Namen aller Mitglieder des Dorfes zur Kontrolle, ob alle DorfbewohnerInnen präsent waren, anhand einer Liste vorgelesen. Fehlte ein Mitglied, machte dieses sich so verdächtig, Teil der Bewegung von Lucio Cabañas zu sein. Ebenso gab es Listen mit Namen, die bereits verdächtig und aufgerufen wurden. So erinnert sich Angel Blanco an seine Festnahme. Er ist einer der zurückgekehrten Verschwundenen, der heute in Atoyac lebt. Er war damals gemeinsam mit seinem Bruder an einem Samstag in der comunidad San Franciso del Tibor bei seinem Onkel,
73 „¿Qué es lo que hacíamos? Comer puros camarones, porque no había de otra!“ (Sofía Tabares Vázquez, Atoyac, 2006) 74 Der hohe Preis für Shrimps drückt sich auch in der umgangssprachlichen Bezeichnung Shrimps (camarón) für Geld aus. 75 „Nos daban dos horas para trabajar, no podíamos llevar ni una tortilla, y cuando cosechábamos, los soldados se llevaban todo y lo tenían en la cancha vigilado. Cada semana cada jefe de familia iba por un kilo de maíz, otro de frijol, uno más de café y un litro de aceite, pero no era suficiente porque las familias eran por lo menos de 10 personas. Nos moríamos de hambre.“ (zit. in: Díaz 2001)
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als die Soldaten kamen und auch seinen Namen auf einer Liste führten. Die Situation der Festnahme und der Abtransport der Gefangenen sollen im Folgenden anhand seiner Erinnerungen ausführlich beschrieben werden. Die Erinnerungen von Angel Blanco zeigen die Systematik in der Vorgangsweise des Militärs und machen in der Art und Weise der Behandlung der Gefangenen Elemente der Dehumanisierung deutlich: „Es war noch nicht hell, als die Militärs kamen, ein Haufen Militär, viele! So um 7 Uhr früh waren alle Soldaten verteilt in den Häusern und haben die Leute rausgeholt. Und die Militärs waren schnell, haben alle Leute aufgeweckt, einige nur in Shorts und die Frauen in ihren Nachthemden (…). Ich bin rausgegangen und als sie mich sahen, haben sie gleich zu mir gesagt: Ey! Komm her! Und ich sage: Ja? Sind da noch mehr Leute drin? Und ich sage: Ja. Und dann haben sie meinen Bruder und meinen Onkel rausgeholt (…) und sie mitgenommen. Als ich das alles sah, dachte ich, dass es nichts weiter wäre, weil wir ja keinen Kontakt zu niemandem hatten, zu bewaffneten Leuten also (…). Und dann als wir zum Dorfplatz kamen, waren da vier Tische aufgebaut, wo jeder seine Aussagen machen musste (…). Der Platz war voller Leute und es begannen die Untersuchungen, an jeden Tisch haben sie sie geholt, den Namen zu sagen, die Aussage. (…) Dann kamen sie zu uns. (…) Als ich zum ersten Tisch kam, war jemand mit einer Liste dort (…). Und dort gab es einen Namen, der mit meinem übereinstimmte und den sie suchten und das war der Grund, dass sie mich und meinen Bruder separat aufstellten. (…) Die, die sie mitnehmen würden, haben sie in einer Reihe aufgestellt inmitten (…) von zwei Linien von Soldaten. Und da sind meine Cousinen gekommen und sagen, Angel, hier hast du Kaffee. Aber sie haben sie nicht durchgelassen. Keinen Kaffee! Geht zurück, haben sie gesagt, sie werden ohnehin gleich wiederkommen! Los, weg hier!“76 (Angel Blanco, Atoyac, 2007)
76 „Todavia no amanecía bien cuando llegaron los militares, ¡pero cantidad de militares, muchos! Ya como a las 7 de la mañana, todos los soldados estaban repartidos en las casas, levantando a la gente. Y andaban movidos los militares, levantándolos así rápido y unos se levantaban en puros shorts y las señoras en batas (…). Yo me salí hacía afuera cuando vi que ahi venían unos y me vieron que me salía hacia afuera y luego me hablaron y dicen: ¡Ey! ¡Ven para acá! Y le digo: ¿Si? ¿Hay más gente adentro? Y le digo, si. Y ya, sacan a mi hermano y sacan a mi tio (…) y los llevan (…). Yo al ver ese movimiento, pensaba que era algo sencillo porque sabia que no teníamos contacto con nadie, pues, con gente armada, no con nadie. (…) Entonces cuando nosotros llegamos a la cancha, estaban cuatro mesas instaladas donde uno iba a dar sus declaraciones (…). Ya estaba llena la cancha de gente y empiezan las investigaciones, en cada mesa los llevaban, a dar su nombre, su declaración. (…) Después pasan por nostros. (…) Cuando yo llegué a la primer mesilla, había alguien que estaba con una lista (…). Entonces mi nombre coincidía con uno que ellos buscaban y ese fue el motivo que nos pusieron aparte con mi hermano. (…)
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Oft wollten die Frauen den Gefangenen noch Essen, Kaffee oder Kleidungsstücke mitgeben, wurden aber von den Soldaten immer zurückgewiesen. Angel Blanco erzählt weiter, wie sie den Fußmarsch zwischen zwei Reihen von Soldaten begannen, wie sie wie Tiere aneinandergebunden abmarschieren mussten und dann auf einen Militärlastwagen geworfen und durch eine Plastikplane zugedeckt, versteckt abtransportiert wurden: „Und der Vorgesetzte gab dann den Befehl: Abmarsch! Und die Soldaten sind losmarschiert und alle ihrem Schritt nach. (…) Wir sind am Ende des Dorfes stehengeblieben und sie haben uns mit einem Seil festgebunden, ein Kabel um die Hüfte und einen halben Meter Platz zwischen einem und dem anderen lassend (…). Wir waren 22 Festgenommene, ein paar aus San Francisco und andere, die sie schon aus La Remonta brachten (…). Und von da mussten wir zum nächsten Dorf gehen, nach San Vicente de Jesús, von dort sind wir weitergegangen bis San Vicente de Benítez. (…) Dort am Eingang war schon ein Militärlastwagen, diese großen Lastwägen, die auch Bänke drin haben (…). Als wir also dort ankamen, haben die Soldaten schon auf uns gewartet (…). Schnell haben sie uns losgebunden und den ersten haben sie gepackt und rein geworfen [in den Lastwagen] und die Soldaten, die drinnen waren, haben den Festgenommen gepackt und ihn bis ans Ende des Innenraums gebracht und dort haben sie ihn auf dem Boden mit dem Gesicht nach unten quer hingelegt. Und so haben sie es mit allen gemacht bis der Wagen voll war, die erste Schicht mit dem Gesicht nach unten, und (…) da noch mehr Gefangene da waren, haben sie begonnen, die anderen oben drauf zu werfen. (…) Ich musste keinen mehr über mir haben, weil ich ganz am Schluss lag, aber meinem Bruder haben sie einen dickeren Mann draufgeworfen (…), der Ifrain hieß (…). Und dann, als wir alle mit dem Gesicht nach unten da lagen, haben sie eine Plastikplane über uns geworfen, um ganz bedeckt zu sein (…). Und ich habe mir gesagt, was soll ich jetzt nur tun, um wenigstens zu wissen, wo sie mich hinbringen! (…) Ich werde meinen Kopf benutzen und darauf achten, ob sie mich nach Atoyac oder nach El Paraíso bringen (…).“77 (Angel Blanco, Atoyac, 2007)
A los que se iban a llevar, nos formaron en una valla en medio de dos lineas (…) de militares. Y en eso llegan mis primas y dicen, Angel, aqui te llevamos cafe. Pero no las dejaban pasar. ¡Nada de café! Dicen, ¡regrésense! ¡Ellos ahorita regresan! ¡Váyanse, pero movidas!“ (Angel Blanco, Atoyac, 2007) 77 „Y ya el jefe dio órdenes: ¡Vámonos! Ya empezaron a caminar los militares y todos al paso de ellos. (…) Hicimos un alto a la salida del pueblo y nos amarraron con riata, un cable en la cintura, dándonos como espacio como medio metro de distancia [...]. De los que detuvieron fuimos 22, unos pocos de ahí de San Francisco y otros que ya traían de La Remonta (…). Y de ahí nos llevan caminando hasta el pueblo que se llama San Vicente de Jesús, de ahi seguimos caminando, caminando hasta San Vicente de Benítez. (…) Ya ahí en la entrada estaba un convoi militar, esos convois que son grandes y que tienen bancas (…). Así que al llegar ahí, ya nos estaban esperando los militares (…). Rápido, que
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Angel Blanco konnte, obwohl er nichts sah, durch die Bewegungen des Lastwagens und die Kurven nachvollziehen, auf welcher Straße sie fuhren und dass es bergab nach Atoyac ging und nicht weiter hinauf in die Sierra nach El Paraíso. Die vom dortigen Militär erwartete Ankunft der Gefangenen im Militärlager in Atoyac erinnerte er so: „Wir sind dann im Militärlager angekommen und dort war schon Personal, das auf uns gewartet hat. Rückwärts ist der Lastwagen reingefahren (…) und sie hatten schon das Material bereit, um uns die Augen zu verbinden, das aus demselben Stoff war, wie die Militärkleidung (…) und dann hatten sie einen Haufen von Baumwolle (…), schon vorbereitet in Kügelchen. Mit einem, zwei haben sie uns die Augen bedeckt (…), aber ziemlich hart und fest! Es war schrecklich! Und dann haben sie uns mit verbundenen Augen im Lager hingesetzt.“78 (Angel Blanco, Atoyac, 2007)
In vielen Fällen waren es die madrinas der jeweiligen Dörfer, die zu DenunziantInnen wurden und Informationen an das Militär weitergaben. So meinen BewohnerInnen der comunidad Tres Pasos etwa, Davíd Baltazar habe als madrina mindestens zehn Personen der comunidad ausgeliefert. Umschrieben wird dieser Akt des Verrats oder der Denunziation mit poner el dedo, denFinger auf jemanden legen. Danach, so die BewohnerInnen, habe David Baltazar als Polizist in Chilpancingo gearbeitet.Sieben der Personen sind bis in die Gegenwart verschwunden, darunter auch Marquina Reyes, die damals 13-jährige Tochter eines ebenfalls Verschwundenen aus Tres Pasos (Leticia Díaz 2001). Die Machtrituale der Namenslisten waren ebenso wie die Kontrollposten mit Unsicherheit, Angst und Terror verbunden.
nos estaban desatando y al primero lo agarraban y lo tiraban así adentro y ya los militares que estaban adentro que estaban para agarrar al detenido y se lo llevaban hasta el fondo y allá lo pasaron boca abajo atravesado. Y así todos, se llenó el carro, la primer tendida boca abajo y (…) como sobraban detenidos empezaron a echarlos encima de otro. (…) Yo ya no alcance a cargar otro porque iba hasta atras, pero mi hermano si cargo a un gordito de ahi (…) que se llama Ifrain (…). Y ya que estábamos todos boca abajo tendieron la lona encima de nosotros que veniamos bien tapaditos (…). Y dije, ¡ahora qué voy a hacer, si quiera para saber a dónde me llevan! (…) Voy a usar bien la mente si me llevan para Atoyac o para El Paraíso (…).“ (Angel Blanco, Atoyac, 2007) 78 „Y ya llegamos al cuártel y ya habia personal que nos estaban esperando. Se metió el convoi así de reversa y (…) ya tenían el material preparado para vendarnos, de la misma ropa de la tela de los militares (…) y luego tenían montones de algodón (…) en bolitas preparadas. Una, dos tapan los ojos (…) ¡bien fuerte y apretado! ¡Una cosa horrible! Y ahí nos llevaron en el mismo cuártel, nos sentaron pero ya tapados.“ (Angel Blanco, Atoyac, 2007)
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Wurde ein Name der Liste mit Verdächtigen aufgerufen, mussten diese, sofern sie anwesend waren, vortreten und wurden festgenommen. Es folgte der Abtransport, die folgende Haft, Verhöre, Folter und das Verschwindenlassen. „Borders and checkpoints [...] are spaces in which sovereignty, as the right over life and death, is experienced in the mode of potentiality – thus creating affects of panic and a sense of danger even if ,nothing happens‘.“ (Das/Poole 2004: 19) Durch ein Netz von militärischen Kontrollpunkten ausgestattet mit madrinas und Repräsentanten des Staates, die zu bestimmten Praktiken befugt sind, demonstriert der Staat dessen Präsenz und Macht über Bewegungen und Menschen an den Rändern des Staates, die als schwer regierbar gelten. Es werden dadurch Landschaften des Terrors (vgl. Ferrándiz 2009) konstruiert, in denen die darin lebende Bevölkerung zum Ziel willkürlicher und unvorhersehbarer Handlungen wird. „Targets are marked by ,checkpoints‘“ wie Pradeep Jeganathan (2004: 68) für den Konflikt in Sri Lanka beschreibt oder Victoria Sanford für den Fall Kolumbien: „On the one hand, these spaces are set up presumably to protect citizens against threats of terror, but on the other hand, the military or paramilitary personnel at these checkpoints may unleash violence on people they consider ,suspectұ (…)“ (Sanford 2004: 254). Die Gefangenen der Sierra de Atoyac wurden ab dem Zeitpunkt der Verhaftung zu dehumanisierten Objekten. Die Dehumanisierung, die Ent-menschlichung und Objektwerdung der Verhafteten zeigt sich in den Erzählungen und dem Empfinden der Angehörigen. Vergleiche mit Tieren werden verwendet, vor allem mit Schweinen und Hunden, wenn sie über die menschenunwürdige Behandlung der Gefangenen erzählen. Dies drückt sich in den testimonios der Angehörigen durch die stets wiederkehrenden Ausdrücke aus, wie: lo amarraron como un marrano (sie haben ihn wie ein Schwein festgebunden), los echaron al carro (sie haben sie auf den Wagen geworfen), los tiraron como perros (sie haben sie wie Hunde runtergeworfen), los corretearon como marranos (sie haben sie wie Schweine verfolgt). Doña Fernanda aus San Vicente de Jesús beschreibt es folgendermaßen, wenn sie über die Verschleppung ihres Mann gemeinsam mit vier anderen Männern der comunidad erzählt: „Und dort haben sie sie festgenommen, und von da an hat er nie wieder das Tageslicht gesehen, sie haben ihre Augen verbunden, ihnen die Hände zusammengebunden und (…) sie haben ihn wie ein Schwein festgebunden und auf den Wagen geworfen.“79 (Doña Fernanda, San Vicente de Jesús, 2009) Ein weiteres Beispiel für diese Behandlung als dehumanisierte Objekte ist auch die Verweigerung der Aushändigung von Leichen bei tödlich endenden Konfrontationen. Es gab bei Erschießungen in comunidades Fälle, wo das Militär den Angehörigen verweigerte,
79 „Y ahí los agarraron, y ya de ahí el nunca vio la luz del dia, los vendaron, los maniaron de aquí, y (…) lo amarraron como un marrano y lo echaron al carro.“ (Doña Fernanda, San Vicente de Jesús, 2009)
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die Körper der Toten zu holen. So erinnert sich Don Simon aus der comunidad El Nanchal an eine tödlich endende bewaffnete Konfrontation zwischen Soldaten und Guerilla in der comunidad San Andrés de la Cruz. Die Militärs verweigerten der comunidad, die toten Guerilleros zu bestatten: „Die Regierung war sehr aggressiv. Sie haben nicht zugelassen, dass man sie begräbt. Sie haben gesagt, die Hunde sollten sie dort fressen!“80 (Don Simon, El Nanchal, 2010) Die Hunde sollten die Leichname fressen und den Toten als auch den Angehörigen ein adequates Begräbnisritual verweigert werden. Ein Akt, der auf die Dehumanisierung und Desozialisierung der Toten abzielte.
2.3.2 Verwandtschaft: Grund zum Verschwindenlassen „Mein Vater war im Kampf gemeinsam mit meinen Brüdern, weil Lucio ja ein Cousin von uns war. Lucio Cabañas Barrientos war der Neffe meines Vaters (…).“81 (Sofía Tabares Vázquez, Atoyac, 2006)
Nicht nur der Verdacht, der Bewegung von Lucio Cabañas anzugehören, war ein Grund zur Festnahme durch das Militär. Auch eine verwandtschaftliche Beziehung zu Lucio Cabañas Barrientos war in den schlimmen Zeiten ein Grund festgenommen zu werden. Die Familie Cabañas Barrientos hatte und hat weitreichende Verwandtschaftsbande in sehr vielen comunidades der Sierra, und viele Verwandte folgten Lucio Cabañas auch. Daher wird auch immer wieder von BewohnerInnen der Region angemerkt, dass die Partei der Armen eine bewaffnete Bewegung war, die großteils aus familiären sozialen Netzwerken bestand. Dabei ist anzumerken, dass in der Sierra auch die Onkel/Tanten und Cousins/Cousinen 2. Grades als Onkel/Tanten und Cousins/Cousinen 1. Grades betrachtet werden. Es ist also auch ein Großonkel oder Großcousin, ein tio (Onkel) oder primo (Cousin). Die primos/primas 1. und 2. Grades werden darüber hinaus auch als primo-hermano (Bruder Cousin) oder prima-hermana (Schwester Cousine) bezeichnet. Dies wird als nahes Verwandtschaftsverhältnis betrachtet, so als wären sie Brüder oder Schwestern. Sofía Tabares erzählt wie viele andere, dass ihr Vater und ihre Brüder in der Guerilla von Lucio Cabañas Barrientos waren. Sie waren verwandt mit ihm, der Vater war der Onkel von Lucio Cabañas und daher war Lucio ihr Cousin.
80 „El gobierno estaba muy agresivo. No dejaba que los enterraran. ¡Dice que se lo comieran los perros ahí!“ (Don Simon, El Nanchal, 2010). 81 „(…) Mi papá anduvo en la lucha con mis hermanos porque (...) Lucio pues era primo de nosotros, pues, mi papá, era su sobrino Lucio Cabañas Barrientos (…).“ (Sofía Tabares Vázquez, Atoyac, 2006)
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Die Schwestern berichten von vielen Verwandten, die das Militär verschwinden ließ: „Ziemlich viele! Es gab ganze Familien. Zum Beispiel in [der comunidad] Espinalillo haben sie eine ganze Familie geholt. Es waren Kinder von Inés Cabañas, sie haben ihren Mann geholt und ihre sechs Kinder.“82 (Sofía Tabares Vázquez, Atoyac, 2006) Bei der Festnahme des Mannes und der Söhne war Frau Cabañas dabei. Dieses Ereignis hatte schwere psychische Folgen für sie. Psychische Störungen aufgrund traumatischer Erfahrungen werden von den Menschen der Sierra oft auch umschrieben mit quedar mal (schlecht zurückbleiben) und quedar débil del cerebro (im Gehirn schwach zurückbleiben), wie Doña Sofía über Inés Cabañas sagte: „Sie ist schlecht zurückgeblieben, sie ist im Gehirn ein bisschen schwach geworden, da sie ihnen nachgerannt ist, als der Wagen sie abgeholt hat und das hat sie traumatisiert und so ist sie im Kopf halb geschädigt.“83 (Sofía Tabares Vázquez, Atoyac, 2006) Menschen mit verwandtschaftlichen Beziehungen zu Lucio Cabañas Barrientos wurden zur Zielscheibe des Staates. Es wurden aber nicht alle gleichzeitig festgenommen: „Es waren viele [der Familie Cabañas], aber sie haben sie nicht alle auf einmal geholt. An einem Tag einen, drei Tage später einen anderen und so weiter, aber es waren viele, die sie von den Cabañas verschwinden ließen.“84 (Sofía Tabares Vázquez, Atoyac, 2006) Dieser kontinuierliche Prozess der Festnahmen von immer mehr Verwandten schürte Terror und Angst unter der Bevölkerung der Sierra. Viele haben daraufhin ihre Nachnamen verändert oder sind aus ihren comunidades in die Stadt geflüchtet und haben andere Namen angenommen. So erzählte José Luis Arroyo Castro, Neffe von Lucio Cabañas, der nach vielen Jahren in MexikoStadt wieder in die Sierra zurückgekehrt ist: „Wir hatten Angst und haben unsere Nachnamen geändert. Wir konnten nicht sagen, dass wir Cabañas waren.“85 (José Luis Arroyo Castro, Atoyac, 2010) Auch außerhalb der comunidades der Sierra, also auch in den Städten Mexikos suchte der mexikanische Geheimdienst nach Verwandten von Cabañas und bespitzelte sie. Doña Florentina, deren Mann Cousin von
82 „¡Bastantes! Hubo familias enteras. Por ejemplo en [la comunidad] Espinalillo, llevaron, este, una familia entera. hijos de Ines Cabañas, ellos se llevaron a su esposo y sus 6 hijos.“ (Sofía Tabares Vázquez, Atoyac, 2006) 83 „Ella quedó mala, quedó un poco debil del cerebro de que ella se los siguió corriendo, el carro cuando los llevaban y como que ella se traumó y quedó medio mal de la cabeza.“ (Sofía Tabares Vázquez, Atoyac, 2006) 84 „Fueron muchos [de la familia Cabañas], pero no los agarraron juntos, un día agarraron uno, a los tres dias otro y así, pero fue mucha gente la que desaparecieron de los Cabañas.“ (Sofía Tabares Vázquez, Atoyac, 2006) 85 „Teníamos miedo y cambiamos nuestros apellidos. No podíamos decir que eramos Cabañas.“ (José Luis Arroyo Castro, Atoyac, 2010)
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Lucio Cabañas war, flüchtete während des Schmutzigen Krieges gemeinsam mit ihren Kindern in den Norden, wo sie ebenfalls unter falschem Namen lebte und auf einer landwirtschaftlichen Plantage arbeitete. Trotz der Repression haben jedoch nicht alle die Nachnamen verändert, da für viele der Name Cabañas auch mit Stolz verbunden war: „Es war eine schlimme Zeit für uns, die wir diesen Nachnamen hatten, aber wir haben ihn nicht abgelegt, denn wir sind ja Cabañas!“86 (Sofía Tabares Vázquez, Atoyac, 2006) Das Wissen der mexikanischen Regierung um die Sympathie vieler Kleinbauern in der Sierra de Atoyac zu Cabañas führte auch zu anderen militärischen Operationen, etwa die Bombardierung einzelner comunidades aus der Luft, wie im Folgenden beschrieben wird.
2.3.3 Bombardierung, Flucht, Verlust: Wir haben alles verloren! „Under occupation, critical events (e.g. arrests, (…) confront the cultural norms and social standards that traditionally sketch the parameters of ´identity´ on both individual and collective levels. When one´s internal and social continuity is challenged by a real or perceived lifethreatening event, the relationship between individual and environment is severely disrupted, compelling the survivor to probe deeper into definitions of self and agency in an effort to reclaim a sense of identity and control.“ (Pitcher 1998: 16)
Eine dieser kritischen Ereignisse für die Bevölkerung der Sierra de Atoyac, von denen Pitcher im obigen Zitat spricht, war die Bombardierung einzelner comunidades. Im Jahr 1974 bombardierte das Militär aus der Luft, um Terror zu schüren und die Guerilla und deren zivile Unterstützungsbasen zu schwächen. So etwa auch die Umgebung des Dorfes Rio Chiquito. Rodrigo Álvarez, damals sieben Jahre alt und Sohn eines Verschwundenen aus Rio Chiquito erinnert sich, dass aufgrund der Annahme, Lucio Cabañas hielte sich in den Hügeln rund um das Dorf auf, bombardiert wurde: „Sie haben, weil angeblich Lucio Cabañas dort unterwegs war (…) begonnen zu bombardieren. Und die Menschen haben vor Angst die Häuser verlassen und sind weggegangen. In alle Richtungen sind sie gelaufen. (…) Alles blieb verlassen zurück. Einfach so, die Regierung hat Häuser niedergerissen, alles einfach, Kleiderschränke, Bett, alles haben sie niedergerissen. All das haben sie niedergebrannt. In meinem Haus waren einige Kokospalmen, so an die drei
86 „Estaba feo para nosotros que teníamos el apellido, pero no nos lo quitábamos, ¡porque de hecho somos Cabañas!“ (Sofía Tabares Vázquez, Atoyac, 2006)
132 | K AMPF UM R EHUMANISIERUNG Kokospalmen, die haben sie auch gefällt. Und so haben sie es mit allen Häusern gemacht. Sie haben alles niedergebrannt, alles niedergerissen.“87 (Rodrigo Álvarez, El Ticui, 2010)
Seine Großmutter, Romana Bello Cabañas, die heute in El Ticui lebt, erinnert sich an alles, was sie damals verloren haben, als die ca. 50 Familien aus dem Dorf fliehen mussten: „Ja, sie haben uns vertrieben, ganz schnell. Sie haben bombardiert und ich bin weg, mit den Kindern, der ganzen Familie. Und alles war verloren! Ich hatte Maultiere, Enten, Schweine, Hühner, einfach alles. Das Haus haben sie mir niedergerissen. (…) Wir haben so gelitten! Und jetzt, jetzt habe ich nicht mal mehr Lust irgendwohin zu gehen. (…) Wir sind alle zu Fuß weggegangen und jeder ist woanders hin, einige sind hier runtergekommen [Atoyac], andere sind in andere Bundesstaaten und so haben sich viele auch im Bundesstaat Guerrero verteilt, wo sie Familien hatten (…).“88 (Romana Bello Cabañas, El Ticui, 2010)
Neben dem Verschwindenlassen von Familienangehörigen haben die BewohnerInnen der Sierra also auch massive materielle Verluste in Form von Land, Häusern und Vieh erlitten. Das immer wieder in den Narrativen beschriebene Leid bezieht sich so nicht nur auf den Verlust der geliebten Personen, sondern auch auf den Verlust eines Teils oder in manchen Fällen der gesamten Lebensgrundlage, wenn Familien aus ihren comunidades flüchten mussten. Romana Bello Cabañas floh aus ihrer comunidad mit ihren Kindern und Enkeln nach El Ticui in der Nähe der Bezirkshauptstadt Atoyac, wo sie Verwandte hatte. Dort aber begann ebenso die Militarisierung. Soldaten kamen ins Dorf, die Männer, die sie auf den Namenslisten hatten, wurden verschleppt. Carmelo Juarez Cabañas, der Sohn von Romana Bello Ca-
87 „Ahí supuestamente porque andaba Lucio Cabañas (…) empezaron a bombardear. Y a la gente por miedo abandonaron las casas y se fueron. Se salieron para todos los lugares. (…) Quedó abandonado todo. Así pues, el gobierno, tumbó casas, todo pues, ropero, cama, tiraron todo, hicieron una tirazón. Quemaron, todo eso lo quemaron. En mi casa había unas palmas de coco, quedaron como tres palmas de coco, las tumbaron. Y así lo hicieron con todas las casas. Quemaron todo, tiraron todo.“ (Rodrigo Álvarez, El Ticui, 2010) 88 „Pues, nos sacaban pues luego luego. Echaron a tirar y me salí, con los chamacos, toda la familia. Y todo perdido! Tenia bestias mulares, patos, marranos, gallinas, bueno, todo. La casa me la tumbaron. (…) ¡Sufrimos bastante! Y ahora pues, ya ni tengo ganas de salir a ninguna parte. (…) Nos venimos todos caminando, nos salimos, nos venimos caminando y cada quien agarró sus diferentes lugares, unos se vinieron para acá para abajo, otros se fueron a otros estados, y asi se dispersaron en todo el estado de Guerrero donde tenían familia [...].“ (Romana Bello Cabañas, EL Ticui, 2010)
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bañas, war unter jenen, die man verhaften und verschwinden ließ. Rodrigo Álvarez (El Ticui, 2011) sagt, dass sein Vater von madrinas verraten worden sei: „Sie haben den ganzen Ort hier umzingelt und alle Leute haben sie dort am Dorfplatz versammelt. Meinen Vater, da er aus der Sierra kam, den haben sie denunziert. (…) Es waren diesselben Leute, die die Regierung aus dem Dorf oben rekrutiert hat. Sie waren wie madrinas.“89 Auch die BewohnerInnen der comunidad Los Piloncillos leben mit einer traumatischen Erfahrung. Am 24. April 1973 kamen etwa hundert Soldaten und in Zivil gekleidete Mitglieder der paramilitärischen Einheit Brigadas Blancas in ihr Dorf. Auf dem Basketballplatz töten sie sechs Kleinbauern, die sie der Anhängerschaft der Partei der Armen beschuldigten. Während des Massakers überflog ein Hubschrauber das Dorf. An Bord war einer der vermuteten Befehlshaber dieser Gewalttat: General Acosta Chaparro. Nach dieser Operation wurde der Direktor der DFS, Luis de la Barreda Moreno, informiert: „Ich gebe ihnen bekannt, dass die Kommandantur der 27. Militärzone (Acapulco, Guerrero) dieses Ministerium informiert hat, dass heute, während der Operationen, die in einem Ort namens Los Piloncillos, Guerrero, stattfinden, es ein Zusammentreffen zwischen Personal dieser Institution und der Verbrecherbande, die in diesem Ort tätig ist, gab. Das Resultat ist der Tod des Rädelsführers sowie der Verbrecher (…), sowie das Aufsammeln von fünf Waffen mit unterschiedlichem Kaliber. Man weiß, dass der Rädelsführer Juventino Sánchez, Anführer der Bande, Lucio Cabañas Barrientos Unterstützung leistete.“90 (zit. in Castillo García 2012c)
Dieses Massaker, das für die BewohnerInnen der comunidad El Piloncillo bis heute ein traumatisches Ereignis darstellt, war für die Befehlshaber reine militärische Routine, wie die Informationsberichte der zuständigen Agenten zeigen. Das Gefühl des unwiederbringlichen Verlustes für die Betroffenen der Gewalt drückt sich auch
89 „Sitiaron todo el lugar de aquí y a toda la gente la reunieron ahí en la cancha y nosotros, mi papa como era de la sierra [...], lo denunciaron. Fue la misma gente que traía el gobierno del poblado de allá. (…) Fueron como madrinas.“ (Rodrigo Álvarez, El Ticui, 2011). 90 „[H]ago del conocimiento de usted, que la comandancia de la 27 Zona Militar (Acapulco, Guerrero) informó a esta secretaría que el día de hoy, durante las operaciones que se están llevando a cabo en el lugar denominado Los Piloncillos, Guerrero, se efectuó un encuentro entre personal de esta jurisdicción y la gavilla que opera en ese lugar, resultando muertos el cabecilla, así como los maleantes [...], habiendo recogido cinco armas de diversos calibres. Se tiene conocimiento que el cabecilla Juventino Sánchez, jefe de la gavilla, ha proporcionado ayuda a Lucio Cabañas Barrientos.“ (zit. in Castillo García 2012c)
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in der Wortwahl für die Verschwundenen aus. Die Menschen der Sierra de Atoyac verwenden meist nicht den Begriff Verschwindenlassen (desaparecer), wenn sie von den Verschwundenen sprechen, sondernsprechenvon lo perdieron, sie haben ihn verloren gemacht, wie zum Beispiel Sofía Tabares Vázquez über ihren verschwundenen Vater sagt: „Und dann haben sie ihn verloren gemacht, man hat mir gesagt, dass sie ihn in Tecpan hatten und ihn dann nach Acapulco gebracht haben.“91 (Sofía Tabares Vázquez, Atoyac 2006) Eine anderer Begriff, der oft verwendet wird, lautet: sie haben ihn mir weggenommen (me lo quitaron), wie es etwa Romana Bello Cabañas hinsichtlich ihres verschwundenen Sohnes ausdrückt: „Mir schmerzt das Herz, wenn ich daran denke, wie sie mir meinen Sohn weggenommen haben.“92 (Romana Bello Cabañas, El Ticui, 2010) Der illegitime Akt des Verschwindenlassens in der Sierra wird also mit jemanden verloren machen oder jemanden wegnehmen umschrieben. Der Verlust in Form eines Aktes des Verlierens und des Wegnehmens stellt sich dabei als unrechtmäßig dar, da unverschuldet. Akteure dieser unrechtmäßigen Gewaltakte waren neben Polizeieinheiten meist Soldaten.
2.3.4 Die Soldaten und der Missbrauch „Hier war ihr Militärlager, hier. Und all das hier, alles war von ihnen! Hier war ein Haus einer meiner Tanten, es war abgesperrt. Und sie sind rein, haben es aufgebrochen und es zum Militärlager gemacht. Und alles haben sie gestohlen!“93 (Rosa Castro Velázquez, San Vicente de Benítez, 2009)
Vor dem Schmutzigen Krieg wurden Soldaten von vielen Kleinbauern und bäuerinnen der Sierra als Menschen betrachtet, die die Bevölkerung mit Respekt behandelten. Diese Sichtweise veränderte sich mit Beginn der Repression. Das Verhalten der Soldaten begann respektlos gegenüber der lokalen Bevölkerung zu werden. Sie missbrauchten ihre Machtposition. Dieses Verhalten wird von den BewohnerInnen der comunidades oft mit dem Wort abusivo (ausnützend, missbrauchend) umschrieben. Wie Rosa Castro Velázquez im obigen Zitat bei einem Rund-
91 „Entonces lo perdieron, me decía que lo tenían en Tecpan y luego que lo pasaron a Acapulco (…).“ (Sofía Tabares, Atoyac 2006) 92 „A mi me duele el corazón de pensar que a mi hijo me lo quitaron.“ (Romana Bello Cabañas, El Ticui, 2010) 93 „Aquí era el cuártel de ellos, aquí. Y todo esto aquí, era puro ellos. Aquí había una casa de una tía mía y estaba cerrada. ¡Y se metieron, la abrieron y la hicieron cuartel y se robaron todo!“ (Rosa Castro Velázquez, San Vicente de Benítez, 2009)
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gang durch ihre comunidad beschreibt, meint es die Tatsache, dass die Soldaten nicht mehr – wie zuvor – um Erlaubnis fragten, wenn sie ein Haus betraten, oder für Lebensmittel oder Dienstleistungen nicht mehr bezahlten. Die Häuser wurden besetzt und als Lager genutzt, der spärliche Besitz der Kleinbauern und-bäuerinnen beschlagnahmt und das Vieh als Nahrung für die Soldaten geschlachtet. Rosa Castro Velázquez erinnert sich weiter: „Auf diesem Dach waren vier Schützenpositionen, die sie gemacht haben, um sich zu verstecken und mit geladenen Waffen bereit zu sein. Und das haben sie ohne Zustimmung des Hausbesitzers gemacht, einfach so, was sie machen wollten, haben sie gemacht, ohne um Erlaubnis zu fragen. Sie haben alles missbraucht!“94 (Rosa Castro Velázquez, San Vicente de Benítez 2009)
Auf die massive Militärpräsenz in ihrem Dorf hinweisend, sagt sie: „Hier war alles wie tapeziert mit Soldaten!“95, und zeigt auf die Mauer vor dem Haus, das als Militärlager benutzt wurde. Auch Panzer seien gekommen: „Hier auf der ganzen Straße waren Kriegspanzer!“96 Die Soldaten kamen in die Dörfer und suchten nach AnhängerInnenn von Lucio Cabañas. Auch Doña Carlota, Frau eines ExKombattanten der Partei der Armen, erinnert sich als die Soldaten in ihr Haus in der comunidad El Porvenir kamen und nach ihrem Mann fragten: „Ich war alleine im Haus, weil mein Mann früh weg war und sie haben mich gefragt, wo mein Mann sei. Ich sagte ihnen, dass er nach Atoyac runter sei um Lebensmittel zu holen. Und einige Male, die letzten beiden Male, als sie mich alleine antrafen, sagten sie mir, dass es doch ziemlicher Zufall sei, dass sie mich immer alleine antreffen würden und das nächste Mal, wo das so sein sollte, würden sie mich festnehmen und runter nach Atoyac mitnehmen, bis ich meinen Mann verraten würde, da sie erfahren hätten, wer er sei. Denn wahrscheinlich hatten sie den Verdacht, dass er mit Leuten von Lucio unterwegs war.“97 (Doña Carlota, Chilpancingo 2007)
94 „En esta azotea estaban 4 trincheras que hicieron ellos para esconderse ahí y estar con las armas preparadas y las hicieron sin el consentimiento del dueño de la casa, no más, lo que ellos querían hacer, lo hacían sin pedir permiso. Eran muy abusivos!“ (Rosa Castro Velázquez, San Vicente de Benítez 2009). 95 „¡Aquí todo estaba tapizado de soldados!“ (ebd.) 96 „¡Aquí toda la calle, tanques de guerra!“ (ebd.) 97 „Yo estaba sola en la casa porque mi esposo se salía muy temprano y me preguntaban que dónde estaba mi esposo. Yo les decía que había bajado a Atoyac a traer viveres y algunas veces, las dos últimas veces que me encontraron sola me dijeron que era mucha casualidad que siempre me encontraran sola, si para otra ocasión me encontraron sola me
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Daraufhin beschloss ihre Familie und ihr Mann, dass sie aus Sicherheitsgründen das Dorf verlassen und nach Acapulco ziehen sollte, was sie dann auch tat. Viele, die mit der Bewegung von Lucio Cabañas in Verbindung standen, sind aus den comunidades geflohen. Ihr Mann wurde 1972 verhaftet und in das Gefängnis von Acapulco gebracht. Im Gegensatz zu anderen Gefangenen, deren Aufenthaltsort geheim blieb, wurde jener ihres Mannes der Familie bekannt gegeben. In der Bevölkerung der Sierra herrschte eine permante Angst vor dem Militär und einer möglichen Gefangennahme. So beschrieb Doña Andrea aus San Vicente de Jesús ihre Situation: „Immer wenn ich einen Soldaten gesehen habe, begannen meine Beine zu zittern [...], vor Angst! Vor Angst! Erinnerst du dich, als sie sie aus den Häusern rausgeholt haben und sie sie zum Dorfplatz gebracht haben, alle Männer.“98 (Doña Andrea zu ihrer Freundin, San Vicente de Jesús, 2009). Die Erinnerung an diese Zeit ist schmerzhaft und wird von den Angehörigen immer wieder mit sufrimiento (Leid) umschrieben. Das Leid wurde durch verschiedene Praktiken erzeugt, nicht nur durch die willkürlichen Akte der Festnahmen, sondern auch durch den Diebstahl von Eigentum der Kleinbauern und -bäuerinnen und den Entzug ihrer ökonomischen Lebensgrundlage. Materielle Dinge des Hauses und Vieh, wie Doña Virginia beschreibt, wurden ihnen weggenommen: „Ich sage ihnen, dass ich mich am liebsten gar nicht an diese Momente erinnern würde, weil wir die ,Straße der Bitterkeit‘ erlitten haben. Weil ich nichts mehr von dem auffand, was ich in meinem Haus zurücklassen musste. Die Türen waren offen und nicht eine Kralle dort, alles, alles, alles, alles haben sie mitgenommen!“99 (Doña Virginia, Colonia 18 de Mayo, 2009).
Doña Virginia umschreibt diese Situation nicht nur als relativen Verlust, sondern ein Nichts, vor dem sie stand: „Ich hatte keine Haus mehr, ich war ohne alles. Nichts, nichts! Sogar meine Kleidung haben sie mitgenommen, stellen sie sich
iban a bajar a Atoyac, me iban a llevar [...] presa hasta que yo [...] entregara mi marido porque supieron quien era mi esposo. Porque a lo mejor ellos sospechaban que el andaba con la gente de Lucio.“ (Doña Carlota, Chilpancingo 2007) 98 „Cuando yo vi a un soldado, mira, me temblaban las piernas (...), ¡del miedo! ¡Del miedo! Te acuerdas cuando se los sacaron de las casas y los traían aquí a la cancha, a todos los varones.“ (Doña Andrea, San Vicente de Jesús, 2009) 99 „Le digo que yo no quisiera recordarme de esos momentos porque sufrimos la calle de la amargura porque yo, todo lo que quedó en mi casa, nada hallé despues que volví. Las puertas abiertas y ni una garra, ¡todo, todo, todo, todo se llevaron!“ (Doña Virginia, Colonia 18 de Mayo, 2009)
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vor!“100 (Ebd.) Die Soldaten hätten – wie immer wieder betont wird – kein Herz gehabt bei der Entwendung und dem Verzehr von Gütern der Kleinbauern und bäuerinnen, die sie selbst mit harter Arbeit erwirtschaftet hatten. Kleinbauern definieren ihr Hab und Gut immer auch in Verbindung mit und als Produkt von mühseliger Arbeit. Wird ihnen Materielles in einem ungerechtfertigten Akt weggenommen, wird ihnen nicht nur das materielle Gut entwendet, sondern dieser Verlust definiert sich gleichzeitig auch im symbolischen Diebstahl ihrer Arbeitskraft und ihrer Arbeitszeit. Virginia erzählt von einer Frau, der von den Soldaten ihr Hab und Gut gestohlen und von diesen auch das wichtigste Nahrungsmittel in der Sierra, der Mais, aufgegessen wurde: „Ihre Kuh, ihr Schwein, ihr Truthhahn, ihr Huhn, sie sagte, dass sie das im Hof hatte und einen Haufen Mais. Wie viel sie das gekostet hat, stellen sie sich vor! Und sie haben sich benommen wie sie wollten, weil es ja nicht ihres war, war es ihnen ja auch egal. Sie haben sogar Sachen angezündet und Hühner und Truthähne und ein Kuh, die die Frau hatte, geschlachtet. (…) Und sie haben den Haufen Mais aufgegessen, sie haben ja nicht dafür gearbeitet. Sie sind ungerecht!“101 (Doña Virginia, Colonia 18 de Mayo, 2009)
Auch Apolinar Ramón, Frau eines Verschwundenen, weist daraufhin hin, dass sie alles verloren hätten: „Wir haben viel verloren, wir haben Land verloren, Ernten verloren, Tiere, Haus und wir haben unsere liebsten Menschen verloren. Was noch!“102 (Apolinar Castro Román, Colonia 18 de Mayo, 2009) In der späteren Forderung nach Entschädigungszahlungen sind es also nicht nur die emotionalen Verluste der Angehörigen, sondern auch eine Entschädigung für die materiellen Dinge. Doña Virginia bittet dabei um Mitgefühl: „Ich bitte Gott, dass es Erfolg gibt und dass die Menschen Mitleid haben, dass sie uns helfen, weil wir arm sind.“103
100 „Me quedé sin casa, me quedé sin nada. ¡Nada, nada! ¡Hasta mis trapos se llevaron, fíjese!“ (Doña Virginia, Colonia 18 de Mayo, 2009) 101 „Su vaca, su cuche, (…) su gallina, decía que tenía en el patio y una llenadera de maíz. ¡Como no le debería haber costado, imagínese! Y estuvieron como ellos quisieron como no eran de ellos que les importaba que hicieron ni siquiera, hasta pusieron la lumbrada y mataban gallinas, totoles hasta vaca tenía la señora. [...] Y se comían el montón de maíz, como no lo han trabajado ellos. ¡Son injustos!“ (Doña Virginia, Colonia 18 de Mayo, 2009) 102 „Perdimos mucho, perdimos tierras, perdimos siembras, animales, casa y perdimos a nuestros seres queridos. ¡Qué más!“ (Apolinar Castro Roman, Colonia 18 de Mayo, 2009) 103 „Le pido a Dios que tenga éxito y que se compadezca la gente, que nos ayuden porque nosotros somos pobres.“ (Doña Virginia, Colonia 18 de Mayo, 2009)
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(Doña Virginia, Colonia 18 de Mayo, 2009) Angesichts der Angst vor den Soldaten entwickelten die Kleinbauern auch Gegenstrategien um sich vor Übergriffen zu schützen. So waren das Verschweigen von lokalem Wissen über bestimmte Ereignisse und Personen und keine Informationen an verdächtige KollaborateurInnen der comunidad oder unbekannte Personen von Außen weiterzugeben zentrale Sicherheitsvorkehrung. In den comunidades wurde ein informelles und geheimes Kommunikationsnetz zum Austausch über Informationen über die Ereignisse während des Konfliktes aufgebaut, um sich besser gegen Übergriffe zu schützen. Die BewohnerInnen tauschten etwa folgende Fragen aus: Wie ist die Situation in den comunidades, auf den Straßen und den kleinen Wegen durch die Wälder der Sierra, wo sind Militärkontrollen, wie viele guachos (Soldaten) befinden sich an welchen Stellen, welche Bewegungen führen sie aus, wie verhalten sie sich gegenüber den DorfbewohnerInnen, wer wurde verhaftet, wer gilt als verschwunden, wer kam wieder zurück? Für die Partei der Armen war dieser Informationsaustausch auch von strategischer Bedeutung. Lucio Cabañas sagte über diese Art der Kommunikation: „Dieser spezielle Apparat, von dem die Leute glauben, dass wir ihn hätten, um alles zu wissen, das sind sie, die armen Leute, die überall hinschauen und uns jeden Tag die Nachrichten übermitteln von dem, was passiert (…).“104 (Lucio Cabañas zit. in: Súarez 1976: 107) Der Informationstransfer galt aber nur innerhalb der sympathisierenden Kleinbauern: „Wir werden nicht denunzieren und dem Feind nicht sagen, wo wir unterwegs sind noch wieviele wir sind.“105 (ebd.: 108). Doña Carlota, Frau eines Ex-Guerilleros erinnert sich auch an die Verbreitung von Nachrichten: „Ja, ich habe begonnen, diese Situation aus der Nähe zu erleben. Ich habe erfahren, dass sich die Leute sowohl benachrichtigten, wenn der Lehrer Lucio in der Nähe war, als auch, wenn das Militär kommen würde.“106 (Doña Carlota, Chilpancingo, 2007). Diese Fragen waren essentiell für das Leben der Zivilbevölkerung und die taktischen Überlegungen der Guerilla. Bis heute ist der orale Face-to-Face-Transfer von Nachrichten, von Gerüchten und Anekdoten in der Sierra von einer comunidad zur nächsten von Bedeutung.
104 „Ese aparato especial que la gente cree que tenemos para saber todo, son ustedes, la gente pobre que mira por dondequiera y nos da las noticias todos los días de lo que sucede (…).“ (Lucio Cabañas zit. in Suárez 1976: 107) 105 „No denunciaremos y ni deci(mos) al enemigo por dónde pasamos ni cuántos somos.“ (ebd.: 108) 106 „Pues empecé a vivir de cerca esa situación de que me enteraba yo que la gente tanto se avisaban cuando andaba el maestro Lucio cerca y se avisaban cuando iba a llegar el ejército.“ (Doña Carlota, Chilpancingo, 2007)
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Kommunikation und Informationsfluss hatten jedoch nicht nur den Schutz der mit der Guerilla sympathisierenden Bevölkerung zum Ziel. Die Verbreitung von Informationen in Form von Gerüchten diente auch der Denunziation unliebsamer GegnerInnen vor staatlichen Akteuren. Diese Gerüchte zur Zeit des Schmutzigen Krieges leben in der Erinnerung der Angehörigen der Verschwundenen weiter. So beschreibt Doña Fernanda aus San Vicente de Jesús, dass ihr Mann im Jahr 1972 aufgrund eines Gerüchtes und einer Denunziation fälschlicherweise eines Verbrechens beschuldigt wurde. Ein Oberleutnant wurde ermordet und ihr Mann beschuldigt, dieses Verbrechen begangen zu haben. Sie betonte jedoch mehrere Male: „All das war nicht wahr (…), sie haben ihn denunziert (…). Dann haben sie ihn vorgeladen und dann sind sie gekommen (…), die ganze Regierung [das Militär] dort, alles war voll hier, bis zur Kapelle, es war als würde ein Verbrecher hier sein (…). Und sie haben gesagt, dass sie den suchen, der getötet hat.“107 (Doña Fernanda, San Vicente de Jesús, 2009) Sie hätten ihn aber nicht gleich mitgenommen, erst am nächsten Tag sei er gerufen worden, sich im Militärlager, das sich in der nächsten comunidad, in San Vicente de Benítez – circa 30 Minuten Fußmarsch entfernt – befand, zu melden. Wer für diese Denunziation verantwortlich war, wisse sie bis heute nicht. Seit dem Zeitpunkt, wo er ins Militärlager in die benachbarte comunidad musste, hat sie nie wieder etwas von ihm gehört. Er gilt bis heute als verschwunden.
2.3.5 Verschwindenlassen von und (sexuelle) Gewalt an Frauen „Sie wurde von der Polizei geholt. Sie sind gekommen und haben sie aus dem Haus rausgeholt.“108 (Elvira Patiño Leyva, Los Llanos de Santiago, 2007)
In der Sierra de Atoyac wurden auch Frauen festgenommen, misshandelt und verschleppt. Einige wurden wieder freigelassen, andere sind bis heute verschwunden. So die Schwester von Elvira Patiño Leyva aus der comunidad Los Llanos de Santiago. Ihre Schwester Perla (vgl. Abb. 12) wurde im Jahr 1974 von der Polizei aus dem Haus ihrer comunidad Los Llanos de Santiago geholt und in einem Polizeiwagen abtransportiert. Elvira Patiño Leyva, damals acht Jahre alt, war als einzige im Haus und konnte der Verschleppung ihrer Schwester nur tatenlos zusehen. Ihre
107 „Todo eso no era cierto (...), fue una denuncia que le hicieron. (…) Entonces lo llamaron, y entonces, este, vinieron… (…) y todo el gobierno [el ejército] ahí, todo eso se llenó, hasta la capilla, parece que hubo un delincuente…(…). Y dijeron, ando buscando al que mató.“ (Doña Fernanda, San Vicente de Jesús, 2009) 108 „A ella se la llevó la Judicial. A ella la vinieron a sacar de la casa.“ (Elvira Patiño Leyva, Los Llanos de Santiago, 2007)
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Mutter und Elvira Patiño haben danach überall nach ihr gefragt und gesucht und nie jedoch über das weitere Schicksal von Perla Informationen erhalten. Auch Sofía Tabares Vázquez erzählt von ihrer Schwägerin, die gemeinsam mit ihrem Bruder in Mexiko-Stadt festgenommen wurde: „Sie haben sie in Mexiko-Stadt festgenommen. Sie sind weg von hier, mein Bruder ist mit seiner ganzen Familie weg und mein Bruder wurde Lehrer in Mexiko-Stadt. Sie haben ihn dorthin geschickt, vom Internat in Tixtla nach Mexiko-Stadt, weil es hier schon so schlimm war. Er hat schon Unterrricht gegeben, hat gearbeitet und (…) sie haben dort gewohnt und sie haben sie dort erwischt. Sie haben meinen Bruder mitgenommen, meine Schwägerin, den Bruder meiner Schwägerin.“109 (Sofía Tabares Vázquez, Atoyac, 2006)
Auch zu ihrer Mutter kam die Polizei, nachdem sie nach Mexiko-Stadt geflüchtet war. Es wurde ihr alles gestohlen, darunter auch die Papiere ihres verschwundenen Bruders. Dies, so vermuteten sie, um Informationen und Spuren über den Verschleppten zu eliminieren: „Und meine Mutter haben sie in einem kleinen Zimmer festgehalten und sie sagte, dass sie eine Decke ausgebreitet hätten und ihre ganze Kleidung drauf geworfen hätten, die Papiere meines Bruders, alles, alles haben sie mitgenommen.“110 (Sofía Tabares Vázquez, Atoyac, 2006). Auch sie selbst wurde festgenommen. Sie hatte jedoch das Glück, dass sich ihr Mann mit einem Leutnant in Verbindung setzen konnte. Sofía Tabares beschreibt den Tag ihrer Festnahme: „Wir sind mit meiner Mutter einen Onkel besuchen gegangen, der krank war, er hatte eine Embolie. Als wir dort ankamen [in der comunidad El Salto], überquerten wir den Fluss und gingen zum Haus und als wir uns umsahen, war alles von Soldaten umzingelt. Mir haben sie ein Gewehr in den Rücken gehalten, meiner Mutter auch, meinen Onkel haben sie gepackt, ihn niedergestoßen, ihn wieder aufgerichtet, ihn geschlagen und zu ihm gesagt, dass er nur so tun würde, als sei er krank. Aber mein Onkel war halbseitig gelähmt. Seine Frau haben sie auch mit einer angesetzten Waffe festgehalten und meinen Mann auch und dann haben sie
109 „La agarraron en México. Se fueron, se salieron pues, mi otro hermano se salió con toda su familia y mi hermano se recibió de maestro y daba clases en México. Lo mandaron de allá, de Tixtla, del internado de Tixtla lo mandaron para México porque ya sabían como estaba acá de feo, ya daba clases, ya estaba trabajando y (…) rentaron y les cayeron allá. Se llevaron a mi hermano, se llevaron a mi cuñada, al hermano de mi cuñada.“ (Sofía Tabares Vázquez, Atoyac, 2006) 110 „Y a mi mamá, la detuvieron en un cuartito y todo, dice que les tendieron cobija y echaron toda su ropa, papeles de mi hermano, todo, todo se llevaron. (…) todo, y a mi mamá la dejaban en un cuartito y mi mamá nada más se asomaba, ¡todo se llevaron (…)!“ (Sofía Tabares Vázquez, Atoyac, 2006)
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uns Fragen gestellt und gesagt, dass wir von der Guerilla wären. Wir haben gesagt, nein, nein (…) und sie haben uns den ganzen Nachmittag so festgehalten bis (…) mein Bruder sich mit dem Unterleutnant in Verbindung setzen konnte (…). Und so haben sie uns wieder laufen lassen.“111 (Sofía Tabares Vázquez, Atoyac, 2006)
Eine Methode der Abschreckung bestand auch in der Ermordung und einer öffentlichen Zurschaustellung von getöteten DorfbewohnerInnen. Wie Sofía Tabares Vázquez beschreibt, geschah das auch in der comunidad El Salto: „Sie haben einen jungen Mann festgenommen und ihn an einem großen Baum am Fluss aufgehängt. (…) Sie haben ihn aufgehängt und ihn dort getötet.“112 (Sofía Tabares Vázquez, Atoyac, 2006) Eine andere Praxis des Militärs im Kontext der Aufstandsbekämpfung ist jedoch bis heute ein Tabuthema in den comunidades: sexuelle Gewalt an Frauen. In den testimonios wird dieses Thema immer nur mit umschreibenden Worten des Missbrauchs der Soldaten erwähnt. Zu groß ist das Scham- und Schandegefühl der Frauen der Sierra de Atoyac. Dennoch taucht in einigen Erzählungen auf, dass auch Vergewaltigung und sexuelle Gewalt gegenüber Frauen Praxis des Militärs war und diese Vergewaltigungen oftmals vor den Augen der Familienangehörigen ausgeführt wurde. Auch im Bericht der FEMOSPP (2006, Kap. 8, 64 f.) wird sexuelle Gewalt gegen Frauen erwähnt: „Unter den Übergriffen, die der Staat in seinem Namen erlaubte, soll die große Anzahl an Vergewaltigungen hervorgehoben werden, die Frauen und Mädchen zum Opfer fielen. Sie wurden von Soldaten des mexikanischen Militärs vergewaltigt. Unter jedem möglichen Vorwand haben Soldaten, die im untersuchten Zeitraum in ländliche Gebiete geschickt wurden,
111 „Entonces fuimos con mi mamá a visitar a mi tío que estaba enfermo, le había pegado embolia. Cuando llegamos, pasamos el rio y llegamos a la casa y cuando ya volteamos ya estaba rodeado de soldados, entonces a mi me metieron un arma en la espalda, a mi mamá otra, a mi tío lo agarraron, lo pararon, lo sosorrajaron, lo volvieron a parar, le pegaron y decían que se estaba haciendo enfermo, pero mi tío estaba paralizado de la mitad. A su esposa tambien la tenían con otra arma y a mi esposo tambien y entonces este, pues, nos hicieron preguntas, de que nosotros somos de la guerrilla, pues, nosotros decimos que no, pues que no (…), nos tenian todo la tarde ahí, hasta que (…) se comunicó mi esposo con el subteniente que le digo y le dijo donde vivía él y asi fue que nos soltaron.“ (Sofía Tabares Vázquez, Atoyac, 2006) 112 „Pararon otro muchacho y este, lo colgaron de una parota grande que estaba del rio, [...] lo colgaron y lo mataron ahí.“ (Sofía Tabares Vázquez, Atoyac, 2006)
142 | K AMPF UM R EHUMANISIERUNG Frauen als Gefangene oder Geiseln genommen. Sie haben sie missbraucht während ihre Männer gefoltert oder von anderen beaufsichtigt wurden.“113 (FEMOSPP 2006, Kap. 8, 64)
María Felix Reyes erzählte von ihr bekannten Fällen von Frauen: „Es gibt Leute, die haben ihre testimonios gegeben, ja, sie wurden vor den Augen ihrer Familien vergewaltigt. Hier nicht, Gott sei dank, hier nicht! [in Atoyac]“114 (María Felix Reyes, Atoyac, 2010) Doña Carlota, deren Mann als Mitglied der Partei der Armen im Gefängnis war, begann andere Frauen in den comunidades zu besuchen, um das Leid mit ihnen zu teilen. Sie erwähnte auch die Vergewaltigungen: „Mein Mann, ich sah, wie er litt und obwohl er im Gefängnis war, hat er viel an die Leute gedacht. Es hat ihn so geschmerzt, zu wissen, dass das Militär sogar verheiratete Frauen vergewaltigte, junge Frauen und überhaupt! Er war sehr wütend und er selbst sagte zu mir: geh hin, wenn du kannst, Geh hin [zu den Frauen].“115(Doña Carlota, Chilpancingo, 2007)
Auch Don Margarito aus der comunidad El Escorpión erzählt, dass die Soldaten in sein Haus eingedrungen seien und seine Töchter belästigt hätten: „Die Soldaten sind gekommen und sind in die Häuser rein, (…) um die Mädchen zu belästigen. (…) Und na ja, das hat mir nicht gefallen und ich habe sie [die Mädchen]da rausgeholt und nach Atoyac gebracht. (…) Der Chef [Offizier] war ziemlich wütend, weil ich sie weggebracht habe!“116 (Don Margarito, El Escorpión, 2010)
113 „Entre las vejaciones que el Estado Nacional permitió que se cometieran en su nombre, cabe destacar la gran cantidad de violaciones de las que fueron victimas mujeres y adolescentes, ultrajadas por soldados del Ejército Mexicano. Con cualquier excusa, durante el periodo analizado, soldados asignados en zonas rurales, tomaron a mujeres como detenidas o como rehenes, y abusaron de ellas mientras los hombres de la casa eran torturados o mantenidos bajo vigilancia de otros.“ (FEMOSPP 2006, Kap. 8: 64) 114 „Hay gente que ha dado sus testimonios que si, las violaron delante de sus familiares. Aqui no, bendito Dios que no!“ (María Felix Reyes, Atoyac, 2010) 115 „Mi esposo, yo veía como sufría él, a pesar de estar en la cárcel, pensaba mucho en la gente, le daba tanto pesar el saber que el ejército estaba hasta violando mujeres casadas, jovencitas y de veras! El tenía mucho coraje, pues el mismo me decía, me motivaba, vete si puedes, vete [con las mujeres]“ (Doña Carlota, Chilpancingo, 2007) 116 „Venían los soldados y se metían a las casas, (…) molestando a las chamacas. (…) Y pues, esono me gustó y me las saqué y las llevé a Atoyac. (…) ¡Estaba bien bravo el jefe (General), porque me las llevé!“ (Don Margarito, El Escorpión, 2010).
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Viele Frauen und Mädchen wurden aufgrund der Übergriffe der Soldaten von ihren Familien von den comunidades nach Atoyac in Sicherheit gebracht. Don Margarito erinnert sich, dass er, nachdem er seine Töchter nach Atoyac begleitet hatte, um fünf Uhr früh von Soldaten aus seinem Haus geholt und geschlagen wurde. Auch Doña Virginia erzählte, dass sie ihre Tochter in Sicherheit gebracht habe aus Angst, die Soldaten würden auch sie festnehmen. Nach der Verschleppung ihres Sohnes und ihres Mannes ist sie mit ihrer Tochter aus dem Dorf über die Berge geflüchtet: „Ganz allein, allein, nur mit einer Tochter, die Margarita heißt, und wir sind nach Acapulco, nur mit der Kleidung am Körper, sonst nichts. Sie wollten sie auch mitnehmen. Ich sagte, gehen wir, meine Tochter, sie sollen dich nicht holen und verschwinden lassen, gehen wir! Wie Gott wollte, habe ich sie über die Berge rausgebracht.“117 (Doña Virginia, Colonia 18 de Mayo, 2009)
Ein Fall einer Vergewaltigung wurde bekannter. Es war Isabel Ayala Nava, Mitglied der Partei der Armen und Frau von Lucio Cabañas. Sie musste sich, nachdem sie die Sierra de Atoyac aufgrund ihrer Schwangerschaft verlassen hatte, an mehreren Orten verstecken und wohnte dann auch in Acapulco bei Rafaela Gervasio Barrientos, Mutter von Lucio Cabañas. Diese wiederum war zuvor mit ihren drei Kindern aus der Sierra geflüchtet. Isabel Ayala Nava bekam im September 1974 ihre Tochter Micaela. Zwei Monate später jedoch ordnete Gouverneur Ruben Figueroa die Festnahme der Frauen und deren Kinder an. Sie wurden im Campo Militar Número 1 in Mexiko-Stadt inhaftiert und dort unter dem Befehl von General Acosta Chaparro gefoltert. Isabel Ayala Nava wurde zudem von Gouverneuer Ruben Figueroa vergewaltigt. Diese Vergewaltigung stelle eine persönliche Rache an Lucio Cabañas dar, der ihn im Mai 1974 für hundert Tage entführt hatte (vgl. Kap. 2.3.7), wie immer wieder in der Sierra de Atoyac zu hören ist. Mitte 1976 wurden die Frauen aus dem Campo MilitarNúmero 1 entlassen. Felix Bautista, ehemaliges Mitglied der Partei der Armen, beschreibt die Macht von Figueroa. Er konnte „deine Ermordung befehlen, deine Festnahme oder auch deine Freilassung. Es ist sogar so, dass er der Bundesregierung sagte, die Ehefrau und die Mutter von Lucio Cabañas freizulassen.“118 (Bautista zit. in De la O 2011b)
117 „Sola, sola, no más con una hija que se llama Margarita y le digo que nos fuimos a Acapulco, asi con los puros traposencima, que me la querían agarrar. Digo, ¡vámonos pues, mi hija, no te vayan a llevar y te desaparezcan, vamos! Como Dios, me la saqué por el monte.“ (Doña Virginia, Colonia 18 de Mayo, 2009) 118 „[O]rdenar tu asesinato, tu detención o bien tu liberación. Tan es así, que más adelante pidió al gobierno federal que liberaran a la esposa y madre de Lucio Cabañas.“ (Bautista zit. in De la O 2011b)
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Isabel Ayala Nava zog nach ihrer Freilassung in die comunidad Santa Rosa in der Nähe von Xaltianguis, Acapulco. Ironie der Geschichte ist, wie viele Menschen der Sierra sagen, dass sie dort einen capitán des Militärs heiratete, der am Kontrollposten von Xaltianguis arbeitete (Fierro Santiago 2006: 166 f.). Nach all den traumatischen Erfahrungen von Flucht, Folter und sexueller Gewalt sei dies eine Entscheidung zu ihrem eigenen Schutz gewesen, wie viele in Atoyac meinen.Es kann dies als als eine Strategie von social navigation in einem von Konflikt, Repression und Gewalt durchzogenen Raum betrachtet werden, wie Mats Utas (2005) diese Form der agency von Frauen im Krieg bezeichnet. Im Jahr 2011 sollte die staatliche Repression für sie jedoch ein tödliches Ende haben (vgl. Kap. 7). Erzählungen über sexuelle Gewalt an Frauen von Mitgliedern der Guerilla gibt es – bis auf eine Ausnahme – keine. Ein ehemaliges Mitglied der Partei der Armen berichtet davon, dass zwei Guerilleros zwei Frauen vergewaltigt hätten, die die Guerilla mit Essen versorgten. Lucio Cabañas sah dies als einen Verstoß gegen die interne Ordnung der Partei der Armen und die Würde und Rechte dieser Frauen und ließ die Guerilleros hinrichten. Don Alfredo, selbst Mitglied der Partei der Armen, erinnerte sich: „Lucio hat das nicht gefallen und hat sie hingerichtet.“119 (Don Alfredo, San Vicente de Jesús, 2009) Ein Fall, der bisher weitgehend im Verborgenen lag, ist die Geschichte von Doña Sabina. Sie selbst spricht nicht gerne über das Thema, wie ihr Sohn erzählte. Und so erfahre ich durch das testimonio des Sohnes eines Verschwundenen auch über die sexuelle Gewalt, die an seiner Mutter begangen wurde. Doña Sabina wurde im Jahr 1974 festgenommen, nachdem ihr Mann ein Jahr zuvor von Soldaten verschleppt worden war. Sie wurde beschuldigt, Guerillera der Partei der Armen und Sympathisantin von Lucio Cabañas zu sein. Das Militär brachte sie in das Militärlager von Atoyac und für mehrere Monate galt sie als verschwunden. Ihr Sohn erinnert sich: „Sie war verschwunden (…). Niemand hat Auskunft gegeben, wo sie war (…). Man glaubte, wenn sie meinen Vater verschleppt haben, dann dachte man dasselbe, dass sie sie auch verschwinden gelassen haben (…). Wir waren zehn Geschwister und wir blieben bei meiner Großmutter.“120 (Don Manuel, Colonia 18 de Mayo, 2012)
119 „A Lucio no le gustó eso y los fusilaron.“ (Don Alfredo, San Vicente de Jesús, 2009) 120 „Quedaba como desaparecida (…). Nadie daba razón donde estaba (…) Uno decía, si se perdió mi papa, uno creía lo mismo pues, que desaparecieron a ella igualmente (…) Nosotros eramos diez hermanos y nos quedabamos con mi abuelita.“ (Don Manuel, Colonia 18 de Mayo, 2012)
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Im Militärlager blieb sie für circa zwei Monate mit verbundenen Augen in Geheimzellen inhaftiert. Sie wurde von den Soldaten gefoltert und vergewaltigt, und als Folge der Vergewaltigungen schwanger. Nach etwa zwei Monaten Haft wurde sie freigelassen. Ihr Sohn erinnert sich, in welchem Zustand seine Mutter nach Hause kam, mit Wunden am ganzen Körper, blauen Flecken, geschwollenen Gliedmaßen und traumatisiert. Sie wollte die Schwangerschaft vor ihrer Familie verheimlichen und erzählte nichts davon, sie gebar dann ein Mädchen. Doña Sabina konnte ohne ihren Mann die zehn Kinder und das Neugeborene nicht alleine ernähren und so wuchsen ein paar Kinder bei Tanten und bei der Großmutter auf. Auch das Mädchen kam zu einem Verwandten. Bis heute weiß das Mädchen nicht, dass ihre Zieheltern nicht ihre leiblichen Eltern sind und sie das Resultat einer Vergewaltigung eines Soldaten ist. Sie nennt Doña Sabina ihre Tante. Don Manuel sagt: „Sie glaubt, dass wir Cousins sind (…). Meine Mutter will nicht, dass sie es erfährt.“121 (Don Manuel, Colonia 18 de Mayo, 2012) Diese multiple Viktimisierung von Doña Sabina – das Verschwindenlassen ihres Mannes, die Folter und sexuelle Gewalt, der sie ausgesetzt war, die Traumatisierung und darauffolgende Schwierigkeit, darüber privat und öffentlich zu sprechen – hat Konsequenzen bis in die nächsten Generationen. Ihr Schweigen wie jenes vieler anderer Frauen in der Sierra de Atoyac zeigt, wie präsent diese Gewalterfahrung der Vergangenheit noch ist.
2.3.6 Die zurückgekehrten Verschwundenen: Folter und Verhöre – Wo ist Lucio? „,Wir wollen, dass du uns sagst, wo Lucio Cabañas Barrientos ist.‘ (…) Und von da an gaben sie mir Elektroschocks. Nein, es war schrecklich! Sie haben mich damit zum Schreien gebracht, aber ich habe ihnen nie etwas gesagt.“ 122 (Don Mario, San Vicente de Jesús, 2007)
Elvira Patiño Leyva und ich besuchten im Jahr 2009 Don Enrique und seine Mutter Doña Virginia in ihrem Haus in Atoyac. Elvira war Zeugin, als ihre Schwester Perla in der comunidad Los Llanos de Santiago von der Polizei aus dem Haus gezerrt wurde. Seither ist sie eine der zahlreichen verschwundenen Frauen aus dem Schmutzigen Krieg. Elvira wollte von Don Enrique wissen, der ebenfalls im Jahr 1974 festgenommen wurde und vier Jahre und vier Monate in Haft blieb, ob er viel-
121 „Ella piensa que somos primos (…). Mi mamá no quiere que ella sepa.“ (Don Manuel, Colonia 18 de Mayo, 2012) 122 „,Queremos que nos digas, a donde se encuentra Lucio Cabañas Barrientos.‘ (…) Y de ahí me daban toques eléctricos. ¡No, sentía feo! Me hicieron gritar con eso, pero nunca les dije nada.“(Don Mario, San Vicente de Jesús, 2007)
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leicht auch ihre Schwester Perla unter den Gefangenen gesehen habe. Don Enrique kann es nicht genau sagen, ob sie auch dabei war, man habe ihm oft die Augen verbunden. Er erzählte, dass auch Frauen im Gefängnis waren und dass er ihre Schreie gehört hatte. Dass sie gefoltert und von den Soldaten vergewaltigt wurden. Aber er kannte sie nicht. Elvira hoffte von Don Enrique, einem der verschleppt worden war aber wieder zurückkehrte, etwas über das Schicksal ihrer Schwester zu erfahren. Nicht alle verschleppten Menschen wurden für immer verschwunden gelassen. Einige wurden freigelassen und kamen zurück in ihre comunidades und zu ihren Familien. „Es war ein Wunder, dass sie zurückgekehrt sind (…), aber von da an waren sie nicht mehr diesselben. Es war ihre Todesursache.“123 (Rosa Castro Velázquez, San Vicente de Benítez, 2009) Ihr Mann kam nach der Verschleppung und Folter schwer traumatisiert zurück, litt an Verfolgungswahn und Schizophrenie und konnte kein normales Leben mehr führen. Die Folgeschäden der Folter und Haftbedingungen führten bei vielen zu schweren psychischen und physischen Erkrankungen und bei einigen zum Tod. Don Enrique sagte daher gleich zu Beginn des Gesprächs: „Ich erinnere mich an alles, was passiert ist (…). Und deswegen sage ich, ich sollte einfach besser sterben, weil so, wozu so leben!“124 (Don Enrique, Colonia 18 de Mayo, 2009) Erleidet seit seiner Rückkehr an schweren psychischen und physischen Störungen, die ihn arbeitsunfähig gemacht haben. Für einen Kleinbauern eine existenzbedrohende Situation, zumal es in den marginalisierten comunidades von Guerrero kein Sozial- oder Krankensystem gibt. Seine Mutter pflegt ihn, geprägt auch vom Tod ihres Mannes, der ebenfalls an den Folgeschäden der Folter verstarb. Ihr Sohn beschreibt die Folter: „Hier schmerzt es, dieser Teil des Kopfes. Weil sie uns so angepackt haben und uns die Schläge so gaben [auf den Kopf]. Und so, wenn sie dich hier schlagen, dann macht alles zu und man kann nicht mehr schlucken und man kann nicht mehr atmen. Erst wenn sie dich wieder leichter schlagen, fühlt man, dass man wieder ein bisschen Luft schnappen kann. Ja, Mann, so haben sie es mit allen gemacht!“125 (Don Enrique, Colonia 18 de Mayo, 2009)
123 „Fue un milagro que regresaron (…), pero ya de ahí ya no fueron buenos. Fue causa de su muerte.“ (Rosa Castro Velázquez, San Vicente de Benítez, 2009) 124 „Me recuerdo de todo lo que pasó (...). Entonces digo, pues, de una vez me debería morir porque así, ¡para qué vivir asi!“ (Don Enrique, Colonia 18 de Mayo, 2009) 125 „Me duele aquí, esta parte del cerebro. Porque nos agarraron así y nos daban el golpe así [en la cabeza].Así que cuando le dan el golpe aquí, se tapa esto con esto y ya no puede uno tragar, asi que respire uno ya no. Hasta que te den otra vez despacio, así uno siente que uno agarra aire. Si, hombre, ¡y a todos le hacían asi!“ (Don Enrique, Colonia 18 de Mayo, 2009)
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Auch der Vater von Don Enrique wurde in der comunidad San Francisco festgenommen und geschlagen. Doña Virginia, seine Mutter, beschrieb dies folgendermaßen: „Ein Soldat ist direkt zu ihm hin überden Platz und sie haben ihn niedergeschlagen und er hat ihn am Boden kriechen lassen, auf allen Vieren!“126 (Doña Virginia, Colonia 18 de Mayo, 2009) Eine gängige Praxis der Soldaten war es, die Gefangenen durch erzwungene tierähnliche Stellungen zu erniedrigen. Diese Praktiken waren Bestandteil der Dehumanisierung der Opfer. Sie haben ihren Mann nach der Festnahme nach Atoyac in das Militärlager gebracht und nach einiger Zeit wieder freigelassen. Er verstarb jedoch an den Folgen der Folter, wie Doña Virginia erzählte. Eine Methode der Folter bestand darin, die Gefangenen in einem Hubschrauber über das offene Meer zu fliegen und dort ein Abwerfen zu simulieren. Der mexikanische Schriftsteller Carlos Montemayor beschreibt diese Narrative in seinem auf testimonios von Opfern beruhenden historischen Roman über den Schmutzigen Krieg in der Sierra de Atoyac: „Es ist doch so (…), dass sie uns zwingen Dingen, zu sagen, die wir nicht wissen. (…) Der Hubschrauber hatte den Motor an, circa hundert Meter vom Dorf entfernt. (…) Ich finde es sehr gut, dass wir Freunde werden und du mit uns kollaborierst, erklärte der Oberst. Das Militär hat kein Interesse, dir zu schaden. Noch dich zu betrügen. Sag nur den Ort, wo Lucio Cabañas ist. Den Rest machen wir schon. (…) Ich weiß nicht, wiederholte der Mann. (…) Der Oberst wandte sich zum Piloten und befahl ihm, bis zum Meer weiterzufliegen. (…) Also du willst nicht reden? (…) Einer der Soldaten machte die Tür des Hubschraubers auf. Ein kalter Wind trat wie ein Schlag in die Kabine. Das Meer sah dunkel aus (…). Werft ihn raus!, befahl der Oberst. Die drei Soldaten hoben den Mann an den Armen hoch und schleiften ihn zur offenen Tür. Der Mann wehrte sich wie verrückt, laut heulend wie ein Tier. (…) Sie ließen ihn bei der Tür raushängen und er schrie wie wahnsinnig. Zieht ihn wieder rein!, befahl der Oberst. (…) Der Offizier näherte sich dem Hubschrauber auf der Landebahn im Militärlager in Atoyac. Wie geht es dem Gefangenen?, fragte er, während er das Papier unterschrieb, dass Oberst Campero ihm hinhielt. Er will nicht kollaborieren.“127 (Montemayor 1998:292 ff.)
126 „Un soldado se fue ahí derecho por la cancha y que le dan un ponche por aqui y lo hizo andar a gatas, en cuatro patas.“ (Doña Virginia, Colonia 18 de Mayo, 2009) 127 „Es que ustedes [...] nos obligan a decir cosas que no sabemos. (…) El helicóptero continuó con el motor encendido, a cien metros del pueblo. (…) Me parece muy bien que nos hagamos amigos y colabores con nosotros – explicó el coronel-. El ejército no le interesa perjudicarte. Ni engañarte tampoco. Nada más di el lugar donde esta Lucio Cabañas. Nosotros nos encargamos de los demás. (…) Yo no sé – repitió el hombre. (…) El coronel no respondió. (…) Se inclinó hacia el piloto y le ordenó que siguiera hasta el mar. (…) – Así que no quieres hablar? (…) Uno de los soldados abrió la portezuela del helicóptero. Un viento frio entró de golpe a la cabina. El mar se veía oscuro (…). –
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Viele starben an den Folgen dieser Foltermethoden und den Haftbedingungen in den Militärlagern. Eine Rückkehr in das Leben und den Alltag vor der Festnahme, vor dem Moment der Entführung war nicht möglich. Die zurückgekehrten Verschwundenen litten für den Rest des Lebens an der Kontinuität der Dehumanisierung in Form von Krankheiten, Arbeitsunfähigkeit, Beeinträchtigung des sozialen Umfeldes. Die Transformation der geschädigten Menschen traf meist die gesamte Familie, wie am Beispiel von Doña Virginia beobachtbar ist. Doña Virginia leidet am Zustand ihres Sohnes, dem, wie sie sagt, mit 18 Jahren sein gesamtes restliches Leben zerstört wurde. Sie bittet die Regierung um eine Entschädigung für die Folter ihres Sohnes, für das Leid, das ihm zugefügt wurde und die Folgeschäden, die sein gesamtes Leben beeinträchtigt haben: „Was ich wirklich möchte, (...) ist, dass die Regierung (…) meinem Sohn den Schaden zahlt, für die Zeit, die er im Gefängnis war. Nichts mehr! (…) Manchmal weine ich, warum? Wegen der Situation, die er nicht leiden sollte, in seinem Alter, seinen 18 Jahren, aber so war es. (…) Sie haben ihn in Ketten gelegt, Ketten an den Beinen und den Händen, das war erbärmlich! Niemand, keine Mutter will ihren Sohn so sehen! Ich weine, weil sie meinem Sohn sein ganzes Leben, das er noch vor sich hatte, genommen haben, er hätte geheiratet, hätte Kinder. Als er aus dem Gefängnis kam, habe ich ihm seine Medizin gegegeben wegen der Verbrennungen, er hat reines Blut erbrochen, das hätten sie sehen sollen! Fast wäre er gestorben.“128 (Doña Virginia, Colonia 18 de Mayo, 2009)
¡Arrójenlo! – ordenó el coronel. Los tres soldados alzaron al hombre por los brazos y lo arrastraron a la portezuela abierta. El hombre se resistió, enloquecido, gimiendo roncamente como un animal. (…) quedó colgado de la ventanilla, gritando aterrado. ¡Subánlos ya! – ordenó el coronel. (…) El oficil se aproximó al helicóptero en la pista de aterrizaje del cuartel de Atoyac. – ¿Como está el reo? – preguntó mientras firmaba el papel que le tendió el coronel Campero. – No quiere colaborar.“ (Montemayor 1991: 292 f.). 128 „Yo lo que debería de querer, (…) el gobierno [...] que pagaran el daño a mi hijo, el tiempo que estuvo en la cárcel. ¡No más! (…) Yo a veces me pongo a llorar, ¿por qué? Por la situación que él no debería sufrir, por sus años, sus 18 años, ¡y ahora como esté! Ahorita lo ven, que está gordo por tanta medicina que le he metido, pero estaba así. [...] Pues lo tenían encadenado, encadenado de los pies y de las manos, que da lástima, que nadie, ¡que ni una madre debiera querer tener su hijo así! Yo lloro porque le quitaron toda su vida por vivir a mi hijo, se hubiera casado, tuviera sus hijos. Ya cuando salió de la cárcel, le di su pócima [...] por la quemada, vomitó pura sangre, ¡hubiera visto! Antes no se me murió.“ (Doña Virginia, Colonia 18 de Mayo, 2009)
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Durch die Erzählungen der Gefangenen,129 die nach einigen Tagen, Wochen, Monaten oder in manchen Fällen Jahren zurückkehren konnten, erfuhren die Angehörigen der Verschwundenen und die lokale Bevölkerung von den Praktiken des Militärs und von den Geheimgefängnissen. Die Zirkulation von Wissen darüber erfolgte vor allem durch die Erzählungen der zurückgekehrten Verschwundenen. Durch die Narrative dieser Zurückgekehrten verstärkte sich jedoch auch das Leid der Angehörigen der Verschwundenen. Das Leid, von dem die Folteropfer erzählten, wurde auch zu ihrem eigenen Leid. Sie mussten sich nun vorstellen, wie ihre Verschwundenen ebenso unter diesen Foltermethoden zu leiden hatten. Das Leid der Anderen wurde zu ihrem eigenen Leid durch die Vorstellung des Leides am Körper der eigenen Verschwundenen. Die Foltermethoden und die Vorgehensweise der Soldaten wurden durch diese Narrative unter den Menschen der Sierra zirkuliert und Spekulationen über den Verbleib der Verschwundenen und Hoffnungen auf eine Rückkehr der Verschwundenen geschürt. Denn die zurückgekehrten Verschwundenen erzählten oftmals auch von lebenden Verschwundenen, die sie in den Gefängnissen gesehen und mit denen sie gesprochen hatten. Paulino García Sandoval (vgl. Abb. 6) ist ein paradigmatischer Fall eines zurückgekehrten Verschwundenen. Paulino García Sandoval, Kleinbauer aus El Quemado, ist im Jahr 2009 verstorben. Zwei Jahre vor seinem Tod erzählte er mir von seiner Festnahme und Folter im Jahr 1972 und von seinem Glück, dass er nach einem Jahr Gefängnis und Folter wieder in seine comunidad zurückkehren konnte. Er betonte, dass er froh sei, kein Verschwundener geworden zu sein. Denn viele der Mithäftlinge, die er aus seiner comunidad und anderen comunidades kannte, mit denen er gesprochen, die er dort auch gesehen hatte, sind bis heute verschwunden. Die Soldaten kamen nach El Quemado nachdem der Militärkonvoi am 21. August 1972 in Arroyo Oscuro von der Partei der Armen überfallen wurde (vgl. Kap. 2.3). Das Militär versammelte alle EinwohnerInnen in der Schule und am Dorfplatz von El Quemado und nahm willkürlich 96 Kleinbauern fest. Diese Aktion hatte das Ziel, abschreckend zu wirken und Terror in der Bevölkerung zu schüren. Die meisten von ihnen wurden nach einiger Zeit wieder freigelassen, andere sind jedoch bis heute verschwunden (vgl. Rangel Lozano 2011). Paulino García Sandoval beschrieb die Ereignisse:
129 Die meisten Folteropfer sowie die meisten Verschwundenen in der Sierra de Atoyac sind Männer. Opfer von Folter und Verschwindenlassen wurden jedoch auch Frauen. Genaue Zahlen gibt es dazu bisher nicht, auch gibt es bisher wenige testimonios weiblicher Folteropfer. Viele misshandelte Frauen aus der Sierra de Atoyac schweigen oft aus Angst vor Stigmatisierung (weitere Forschung dazu ist m. E. wichtig, vgl. dazu auch den Bericht von FEMOSPP).
150 | K AMPF UM R EHUMANISIERUNG „Es war an einem Montag im Jahr 1972, als eine Versammlung in der Volksschule Vicente Guerrero gemacht wurde, die vom Hauptmann des Militärs ungefähr um 11 Uhr vormittags einberufen wurde. Das ganze Dorf war da. ,Paulino García Sandoval‘, und ich: ,Hier‘, ich ging zum vorderen Ende des Tisches. Der Hauptmann sagt: ,So, wie sie es mit unseren Brüdern gemacht habt, werden wir es mit euch machen.‘ (…) Ich habe ihm geantwortet: ,Nein, ich war doch nirgendwo!‘ Er sagte: ,Aber unsere compañeros in Arroyo Oscuro töten, das konntest du schon, stimmts?‘“130 (Paulino Sandoval, El Quemado, 2008)
Nach der unbegründeten Anschuldigung, dass er bei dem bewaffneten Überfall auf den Militärkonvoi teilgenommen hatte, wurde er abgeführt und gemeinsam mit den anderen Gefangenen in einem Hubschrauber in das Militärlager von Atoyac geflogen. In der Art seiner Beschreibungen wird deutlich, dass das Militär die Gefangenen wie Objekte oder Tiere behandelte, die man von einem Ort zum anderen transportierte: „Dann haben sie uns die Augen verbunden und uns am Mund, den Armen und Beinen zusammengebunden und uns in das Haus von Agustín Pano reingeschmissen, danach haben sie uns rausgeholt und in den Hubschrauber gebracht. Wir hatten nichts gegessen. (…) Nachdem der Hubschrauber abhob, haben sie uns die ganze Zeit mit den Waffen bedroht und uns nach Atoyac de Álvarez gebracht, ins Militärlager, es war die militärische Zone des Batallon 48. Dort haben sie uns an den Haaren rausgezogen und uns gegen die Wand geschlagen. Sie haben uns in eine Art Galeere geworfen, genauso gefesselt an Händen und Beinen und mit verbundenen Augen. Das war so gegen 5 Uhr nachmittags und so um 9 abends wurden wir auf die Lastwagen geworfen, genauso wie sie uns in den Hubschrauber geschmissen haben, einer über den anderen.“131 (Paulino Sandoval, El Quemado, 2008)
130 „Fue un día lunes a finales del 1972, cuando se realizaba una asamblea en la escuela primaria Vicente Guerrero, fue convocada por el capitán del ejército aproximadamente a las 11 AM del día en donde asistió todo el pueblo. ,Paulino García Sandovalދ, y yo: ,¡Presente!‘, me le acerqué en la punta de la mesa (…). Dice el capitán: ,Así como les hicieron a nuestros hermanos, así les vamos hacer a ustedes.‘ (…). Yo le contesté: ,No, yo no fui a ninguna parte.‘ El contesta: ,¿Pero a matar a nuestros compañeros en el Arroyo Oscuro, bien que fuiste, verdad?‘“ (Paulino Sandoval, El Quemado, 2008) 131 „De ahí nos vendaron y nos amarraron de la boca y de las manos y de los pies y nos echaron en la casa de Agustín Pano adentro, después nos sacaron y nos llevaron al helicóptero, estábamos sin almorzar [...]. Al levantarse el helicóptero ellos nos llevaban amenazándonos con las armas y nos llevaron a la ciudad de Atoyac de Álvarez y nos bajaron en el cuartel, que era la zona militar el 48 Batallón, de los cabellos y azotándonos sobre la pared. (…) Lo que hicieron es que nos aventaron a un lugar como galeras amarrados como veníamos de pies y manos y vendados. Esto fue como a las 5 PM y
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Im Militärlager von Acapulco wurden sie verschiedenen Foltermethoden unterworfen, unter anderem wurden den Gefangenen Drogen injiziert, die schwerwiegende psychische und physische Folgen hatten. Es war dies eine Methode, für dessen Einsatz Nazar Haro, der damalige Direktor des Geheimdienstes Dirección Federal de Seguridad (vgl. Torres 2008), berüchtigt war: „Und als wir in Acapulco ankamen, es war die Zeit, als die Hähne gekräht hatten, haben uns die Militärs dort empfangen und uns gefragt, warum wir hier seien. Sie haben begonnen uns Drogen in die Stirn zu spritzen, einige sind verrückt davon geworden! Ich habe in diesem Moment zur Jungfrau Guadalupe gebetet und ihr eine Kerze angeboten, damit die Drogen bei mir nicht wirken. Und schau, sie hat bei mir nicht gewirkt, aber Don Ramón und der Rubén haben nur mehr vor sich hin gestarrt. (…) Es waren viele dort und Ramón hat sich in die Mitte gesetzt, hat sein Hemd zu einer Kugel zusammengeknüllt und sich in den Mund gesteckt (…). Und die Wächter haben ihm nur zugeschaut und einer sagte: ,Schau´ mal, dieser Dreckskerl ist schon verrückt geworden! ދUnd dann sind sie weg und Ramón ist am nächsten Tag nicht mehr aufgewacht. Wir lagen alle am Boden und sie haben uns ihre Stiefel auf den Kopf gedrückt, wir wurden in Betten gesteckt und haben die Hitze nicht ausgehalten, weil ganz nahe bei uns Glühlampen waren, wir waren viele und alles war nass. Als sie sahen, dass uns der Schweiß runterlief, haben sie uns zu einer Art Wassertank gebracht und sie haben uns bei Armen und Beinen gepackt und mit dem Kopf reingesteckt. Nach einer ganzen Weile holten sie uns wieder raus und sie stellten sich auf unseren Bauch und wir spuckten das Wasser aus, das wir geschluckt hatten. Sie sagten zu uns, dass sie das Gleiche mit uns machen würden, was wir mit ihren Brüdern gemacht haben. Die ganze Nacht über lagen wir nackt da. Es hat geregnet den ganzen Tag und die ganze Nacht.“132 (Paulino Sandoval, El Quemado, 2008)
como a las 9 de la noche nos subieron a los carros de la misma manera que nos echaron al helicóptero amontonados unos encima del otro.“ (Paulino Sandoval, El Quemado, 2008) 132 „Y al llegar a Acapulco era la hora en que los gallos estaban cantando, nos recibieron los militares preguntándonos pa’ que había llegado a ese lugar y nos empezaron a inyectar droga en la frente y a unos eso les enloqueció! Y yo en ese momento le ofrecí una veladora a la virgen de Guadalupe que no me hiciera esa droga. Mira, y no me hizo, pero a Don Ramón y ese Rubén se quedaban mirando así (...). Había muchos ahí, y Ramón se sentaba en medio, hacia bola su camisa y se la metía toda en su boca (...). Y los guardias nada más se lo quedaban mirando y uno dijo: ,Mira, este hijo de la chingada ya se enloqueció.’ Y se fueron y ya no amaneció al otro día. Tirados en el suelo nos ponían las botas encima sobre la cabeza, nos metieron a la cama y no soportábamos lo caliente de el calor que teníamos unos focos aquí cerca y como éramos muchos, estaba todo mojado. Al vernos que estábamos escurriendo de sudor nos empezaron a sacar cerca de unos como reservorios y nos agarraban de los brazos y pies, nos sumían la cabeza
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In den Verhören während der Folter sollten die Soldaten Geständnisse über die Beteiligung am Überfall auf den Militärkonvoi und ihre Kollaboration mit Lucio Cabañas erzwingen: „Die Soldaten sind rein und haben uns auf den Boden geschmissen und befohlen, dass wir sagen sollen, wie viele Soldaten wir ermordet haben und dass wir Cabañistasseien. Wir haben nur gesagt, welche Cabañistas? Und sie sagten: ,Ihr gebt es immer noch nicht zu! Ihr werdet schon sehen, scheiß Dreckskerle!’ So haben sie mit uns geredet und dann haben sie Stecknadeln rausgeholt und bei mir begonnen, die in die Nägel der Zehen zu stechen. ,Bring mir diese Pomadendose von dort drüben, wir werden dieses Arschloch jetzt heilen!’ Und was in dieser Dose war, war scharfer Chile und sie haben begonnen, mir den in die Nase zu streichen. Ich habe ein Brennen gespürt, das nicht auszuhalten war und es war so schimm, dass ich voller Wut gesagt habe: ,Seid doch nicht feig, macht eure Waffen fertig und habt keine Angst, bringt doch die Männer einfach gleich um (…)! Macht schon, nehmt uns einfach gleich das Leben!‘ Und sie haben nur gelacht und gesagt: ,So haben sich unsere compañeros auch gefühlt!‘ Und dann haben sie uns auch noch Elektroschocks versetzt.“133 (Paulino Sandoval, El Quemado, 2008)
Nach der Folter im Militärlager von Acapulco wurde er in das Polizeigefängnis von Acapulco transportiert, wo er zunächst von der Außenwelt abgeschottet wurde. Die letzten Monate verbrachte er schließlich den Gefängnisalltag bis zu seiner Entlassung mit Arbeit:
y después de un buen rato nos sacaban y se nos paraban en el estomago y botamos el agua que habían tomado y nos decían que igual como le hicieron a nuestros hermano así les íbamos a hacer a ustedes. La noche la pasamos desnudos, estuvo lloviendo el día y la noche.“ (Paulino Sandoval, El Quemado, 2008) 133 „Se metieron los soldados adentro y nos tiraron al suelo exigiéndonos que dijéramos cuantos soldados habíamos matados y que si éramos cabañistas y nosotros le decíamos cual cabañistas. Y nos decían: ,¡Y todavía lo niegan, ahorita lo vamos a ver cabrones, hijos de la chingada!‘ Esa eran las palabritas con que nos hablaron y empezaron a sacar las agujitas y a mí me las empezaron a clavar en los dedos del pie de las uñas. ,¡A ver tráiganme ese botecito que está ahí de ungüento, vamos a curarles a este cabrón!‘, y lo que tenia ese frasquito era picante y lo agarraban y me empezaban a echar en la nariz, sentía un ardor que no lo aguantaba y yo no aguantaba y le contestaba grosero: ,¡No sean cobardes, preparen sus armas y no tengan miedo y maten a los hombres de una vez [...]! ¡De una vez, quítennos la vida, de una vez!‘, y ellos las risadas y decían: ,Así sintieron nuestros compañeros.‘ Y también nos dieron toques eléctricos.“ (Paulino Sandoval, El Quemado, 2008)
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„Am nächsten Tag haben sie uns in ein anderes Gefängnis mit einer Art Zellen gebracht, wir waren von Polizisten umringt, es war das große Gefängnis und sie haben uns von einem Ort zum nächsten gebracht, der überall mit einer Art Hühnergitter umzäunt war. Sie haben uns ziemlich mies abgeschottet. Man wusste nicht, wo wir waren. (…) Danach hat sich alles ein wenig verändert, sie haben uns die Augenbinden abgenommen und uns nicht mehr an Füßen und Händen gefesselt. Essen haben wir nur hin und wieder bekommen und oft sehr spät. Dort drinnnen habe ich dann auch Arbeit gesucht, Holz schleifen für die kleinen Schiffe, die als Dekoration gemacht wurden.“134 (Paulino Sandoval, El Quemado, 2008)
Paulino Sandoval kam nach einem Jahr wieder aus dem Gefängnis in sein Dorf El Quemado zurück. Wie aus den Berichten der zurückgekehrten Verschwundenen hervorgeht, wurden bei den Verhören, die das Ziel hatten, die Aufenthaltsorte und Bewegungen der Anhänger von Lucio Cabañas zu erfahren, stets Folter eingesetzt. Allen Feldman bezeichnet Verhöre auch als Zeremonien der Verifikation (Feldman 1991: 110). Angehörigen von Verschwundenen sprechen oftmals von der Vermutung, dass auch ihre Verschwundenen gefoltert wurden. Diese Vorstellung bereitet einen doppelten Schmerz. Es ist zum einen die Vorstellung der physischen Folter am Körper des Verschwundenen und zum anderen der eigene Schmerz in Form der psychischen Folter der Angehörigen. Auch im unveröffentlichten Bericht der FEMOSPP (2006: Kap. 8: 39 f.) werden einige Arten von Folter genannt, denen die Gefangenen ausgesetzt waren und die aus den testimonios der zurückgekehrten Verschwundenen hervorgehen: der pocito (Brunnen), das Eintauchen des Gefangenen in ein Becken mit Wasser bis kurz vor dem Ertrinken begleitet von Elektroschocks; sexuelle Folter, die pollo rostizado (Brathuhn) genannt wurde. Dabei musste sich der Gefangene auf eine Stange knien und das Gleichgewicht halten, während die Arme und Beine gefesselt und die Genitalien mit einer Schnur angebunden waren. Und Simulierte Tötungen, die entweder durch simuliertes Erschießen durchgeführt wurden oder durch das mehrmalige Eintauchen der an ein Seil gebundenen Gefangenen ins Meer von einem Flugzeug aus. In diesem Bericht werden allerdings längst nicht alle Formen der Folter aufgeführt, die in Gesprächen mit Folteropfern der Sierra de Atoyac beschrieben wurden. So berichteten einige Männer
134 „A otro día nos cambiaron a otra cárcel como separos, estábamos rodeados de judiciales, era la cárcel grande, y nos cambiaron de un lado a otro y estaban cercados con maya para pollos. Nos incomunicaron feo. No se sabía donde estábamos. (…) Después, cambió un poco, quitándonos las vendas y desamarrándonos de los pies y manos aunque la comida nos la daban de vez en cuando y muy tarde después, ahí mismo, busqué trabajo alijando madera para los barcos que se hacían de adornos.“ (Paulino Sandoval, El Quemado, 2008)
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auch von dem Einsatz von Chilipulver, von Drogen oder dass Gefangene gezwungen wurden, Benzin zu trinken, um sie anschließend anzuzünden. Feldman bezeichnet Folter auch als Ritual und vergleicht dabei die gewaltsame Methode der Extraktion von Information an den Folteropfern mit den Mythen, die durch ein Ritual an die Oberfläche kommen sollen: „it traces myths on the surface of the captive body“ (Feldman 1991: 10). Folter ist ein Akt der Dehumanisierung, der Konstruktion eines Anderen, an dem man Gewalt anwenden kann, weil dem Opfer menschliche Aspekte abgesprochen wurden. Carole Nagengast bezeichnet dies folgendermaßen: „Not only must the torturer and his apologist assign the status of Other to the condemned, the specification of the kind of differentness the tortured symbolizes must conform to dominant representations of the vile and worthless, a vileness that has mythical status as something to be found lurking everywhere, a constant threat to the accepted order.“ (Nagengast 1994: 122).
Ein Aspekt des Leides der zurückgekehrten Verschwundenen und Folteropfer ist das Gefühl von Schuld, dass die Überlebenden von Folter oft haben, jedoch kaum offen aussprechen: „Grieving has an additional meaning for survivors who have themselves harmed or abandoned others. (…) The political prisoner who has betrayed others under duress or the battered woman who has failed to protect her children may feel she has committed a worse crime than the perpetrator. Although the survivor may come to understand that these violations of relationship were committed under extreme circumstances, this understanding by itself does not fully resolve her profound feelings of guilt and shame. The survivor needs to mourn for the loss of her moral integrity and to find her own way to atone for what cannot be undone.“ (Herman 1998: 149)
Bei vielen Folteropfern der Sierra de Atoyac, die verschwunden waren und zurückgekehrt sind, ist ein – wenn auch unausgesprochenes – Schuldgefühl präsent. Es herrscht bei vielen Menschen in der Sierra die Meinung, dass manche der Zurückgekehrten während der Folter Namen anderer Personen genannt hätten, die angeblich Teil der Partei der Armen waren. Aufgrund dieser Bekanntgabe von Informationen wurden sie dann freigelassen. Die Wahrscheinlichkeit, dass das Opfer unter den Qualen der Folter Namen nannte, war, so die Vermutung vieler Angehöriger, sehr hoch. Dies ist auch ersichtlich aus den Akten der politischen Polizei Dirección Federal de Seguridad (DFS)135, die seit dem Jahr 2002 im Archivo General de la
135 Die politische Polizei Dirección Federal de Seguridad (DFS) operierte von 1947 bis 1985 (vgl. zu Geschichte und Operationen der DFS Aguayo Quezada 2001).
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Nación zugänglich sind. Dort wird von „Befragungen“ – die euphemistische Bezeichnung der Behörden für Verhöre unter Anwendung von Folter – gesprochen, in denen der oder die Gefangene Namen von Personen genannt hatte, die Teil der Partei der Armen waren. In weiteren Akten ist dann zu lesen, dass die genannten Personen in Folge festgenommen wurden. Ob die zurückgekehrten Folteropfer auch selbst Namen genannt haben, darüber sprechen sie nicht. Das Schuldgefühl und die Scham ist zu groß, die Angst vor eventuellen Racheakten der Angehörigen oder anderer Opfer der Repression sicherlich ebenso. Ein anderer Fall eines zurückgekehrten Verschwundenen ist jener von Don Mario, damaliger comisario (Dorfvorsteher) der comunidad San Vicente de Jesús. Im Jahr 1972 entführte die Partei der Armen den Sohn eines Kaziken der Sierra de Atoyac. Don Mario wurde nach dieser Entführung vom Militär festgenommen. Im Morgengrauen brachte das Militär die Gefangenen aus San Vicente de Benítez nach Atoyac. Dort beginnen die Verhöre und’ die Folter. Don Mario erinnert sich auch an eine Methode der psychologischen Folter, die sie bei ihm angewandt haben – die simulierte Erschießung: „Ich habe nichts gesehen [wegen der Augenbinde] und sie haben mich rausgebracht und haben mich an die drei Mal an einen Strick gehängt, dann haben sie mich wieder runtergeholt und mich nochmals verhört. Aber nein, ich habe ihnen nie etwas gesagt! Als ich sah, dass ich schon wie ein verlorener Fall war, habe ich gesagt: ,Ich will ihnen etwas sagen, warum gebt ihr mir nicht einen Schuss in den Kopf, ich meine, damit sie nicht das mit mir machen und ich nicht für was zahlen muss, was ich gar nicht schuldig bin.’ Er sagte: ,Du bist mutig‘. Und er sagte: ,Erschießt ihn! Ich werde jetzt bis drei zählen, und wenn er bis drei nichts sagt, schießt du.‘ Und ja, ich habe gehört, dass er die Pistole abdrückte, aber es war keine Munition drin.“136 (Don Mario, San Vicente de Jesús, 2007)
Er erwähnte, dass er trotz Folter nichts gesagt habe, obwohl er über Informationen verfügte:
136 „Yo no vi nada [por la venda en los ojos]. Ya me sacaron afuera. Y este, me colgaron como tres veces de una riata, me bajaban y me preguntaban de nuevo, pero no, nunca les dije nada. Cuando yo vi que yo era como un caso perdido, no. Digo, quiero decirles una cosa, porque no me dan un tiro en la cabeza, digo y no me esten haciendo …y pagando causas que no debo. Dice, eres muy valiente. Dice, ¡dispárale! Ahorita, voy a contar hasta tres y si no dice nada a las tres, disparas. Y sí, oí cuando disparan la pistola pero sin nada adentro.“ (Don Mario, San Vicente de Jesús, 2007)
156 | K AMPF UM R EHUMANISIERUNG „Klar kannte ich die Geschichte! Ich wusste ja, dass ich Genaro137 getroffen habe, ich habe gewusst, dass er mein Maultier geritten hat, als sie dort waren und dass ich ihm geliehen hatte. Ich wusste, dass Lucio dort unterwegs war, aber wie könnte ich ihnen das sagen! Ich kannte einige Leute, die mit ihm zusammen waren, aber nicht mehr (…). Ich wusste, dass es Kontakte gab.“138 (Don Mario, San Vicente de Jesús, 2007)
Er erzählte dabei von den permanenten Strategien und Versuchen des Militärs auch durch freundliche Unterhaltungen, Informationen über Lucio Cabañas und seine Verbindungen zu ihm zu bekommen: „Einmal kam ein Oberst zu mir, und ich hatte dort ein Häuschen aus Lehmziegel, in schlechtem Zustand, nur mit Karton bedeckt und das Wasser lief überall rein. Und hier wohnen sie, Comi [comisario]? Ja, hier wohne ich, mein Oberst. Er sagt: Comi, ihr Haus ist aber in einem schlechten Zustand. Ich sage, ja und es ist nicht mal meines. Er sagt: Was, nicht mal deines? Ich sage: Nein, es ist geliehen. Und dann sagt er: Lucio gibt dir nichts, damit du dir ein Haus bauen kannst? Und er gibt dir nichts, damit du dir ein Dach machen kannst? Ich sage: Mein Oberst, ich werde ihnen antworten, es beschämt mich, was sie mir sagen. Er sagt: Warum beschämt es dich? Ich sagte ihm: Weil sie nicht sagen, warum die Regierung mir nicht hilft, sie sagen, Lucio. Lucio hat keine Verpflichtung den Bauern zu helfen, es ist die Regierung, es sind Sie! Er sagt: Comi, du bist clever! Du antwortest gut, sagt er, gut geantwortet! Ich sage: Ja, was hat denn Lucio mit meinem Leben zu tun? Sie haben mit dem Leben der Bauern zu tun. Das Leben auf dem Land, ja mein Oberst. Ja, ja, mein Comi, du hast Recht.“139 (Don Mario, San Vicente de Jesús, 2007)
137 Genaro Vázquez, Anführer der Asociación Civica Guerrerense (ACG), eine politische Organisation, die sich in den 1960er Jahren zu einer Guerillabewegung entwickelte. Genaro Vázquez starb im Jahr 1972 bei einem „Autounfall“, so die offizielle Todesursache. Seine Witwe Consuelo Solís Morales kämpft bis in die Gegenwart um die öffentliche Anerkennung der Wahrheit rund um seinen Tod – die Ermordung von Vázquez durch staatliche Akteure. Vgl. zu ACG und Genaro Vázquez die Analysen von Castellanos (2007) sowie Rangel Lozano und Sánchez Serrano (2006). 138 „¡Claro, que yo sabía la historia! Yo sabía que yo me vi con Genaro, yo sabía que montó mi mula cuando llegaron allá, que le prestaba, yo sabía que andaba este, andaba Lucio, pero como les iba yo a decir, yo conocía alguna gente que andaban con él, nada más. (…) Sabia que había contacto.“ (Don Mario, San Vicente de Jesús, 2007) 139 „Entonces, una vez vino un coronel y tenía ahí un techo de adobe, pues mal, de carton, caía el agua adentro y dice: aquí vive, comi [comisario]? Si, aquí vivo, mi coronel. Todo bien. Dice, comi, tienes mal tu casa. Digo, si pues. No es ni mía. Dice, ah, ¿no es tuya? Digo, no, está prestada. Entonces dice, ¿Lucio no te da para que te hagas una casa? ¿Y no te da para que le pongas techo? Digo, mi coronel, le voy a contestar, me da
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Er beschrieb auch die schwierige und mit Gefahren verbundene Rolle, die er in seiner Funktion als comisario einnahm, zwischen der Regierung und der Guerilla zu stehen und für sich und die comunidad das Richtige zu tun: „Ich habe mich nie [in der Guerilla] beteiligt und zur Waffe gegriffen noch habe ich der Regierung Schaden zugefügt. (…) Wenn ich mich gegen die Guerilla gestellt hätte, hätten sie mich getötet. (…) Der Dialog mit ihnen, mit der Guerilla war so, dass sie Vertrauen zu mir hatten, genauso jedoch die Regierung. Es war so, dass ich nie der Guerrilla was Schlechtes getan habe und auch der Regierung nicht, ich war immer irgendwie dazwischen. (…) Das war gut für beide und für mein eigenes Überleben. Und so, zum Beispiel habe ich Lucio nicht verraten, und ich habe aber auch Lucio keinen Hinweis gegeben, wenn die Soldaten kamen.“140 (Don Mario, San Vicente de Jesús, 2007)
Es gab in diesem Konflikt Situationen mit verschiedenen Optionen des Handelns, wie im Beispiel von Don Mario deutlich wird. Dieses Navigieren zwischen den Fronten diente dem eigenen Überleben und dem der Familie und wurde von vielen Menschen der Sierra de Atoyac angewandt. Es war ein stetes Aushandeln des Schweigens oder Sprechens über bestimmte Ereignisse und Personen abhängig von Situation und GesprächsparnterInnen. Durch die zurückgekehrten Verschwundenen wurden viele Informationen in den Dörfern der Sierra bekannt. Sie waren wichtige Quellen für das Wissen darum, was mit den Menschen nach deren Gefangennahme passierte.
pena lo que me dice. Dice ¿por qué te da pena? Le dije, porque lejos de que me diga que porque el gobierno no me ayuda, me dice que Lucio. Lucio no tiene obligación de ayudar a los campesinos, es el gobierno, son ustedes. Dice, ¡comi, como es listo! Contestas bien, dice, ¡bien contestado! Digo, si, ¿qué tiene que ver un Lucio con mi vida? Ustedes tienen que ver con la vida de los campesinos. La vida del campo, si mi coronel. Si, si, mi comi, estas en tu deber.“ (Don Mario, San Vicente de Jesús, 2007) 140 „Jamás me involuquré en cuestión de agarrar un arma ni nunca hacerle daño al gobierno. (…). Si yo me pongo en contra del monte, me matan. (…) Bueno, el diálogo con ellos, con los del monte, me tenían confianza, como me lo tenia el gobierno, no más que, como digo, nunca me presté a hacerles mal a los del monto, ni a los del gobierno, siempre como que estaba en medio yo. (…) Les convenía a los dos y también me convenía a mi por mi vida. Entonces por ejemplo en este caso, yo no pude entregar a Lucio, ni tampoco yo le podía dar un pitazo a Lucio, ahí van los soldados.“ (Don Mario, San Vicente de Jesús, 2007)
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2.4 D ER T OD VON L UCIO C ABAÑAS „Wir haben es in den Nachrichten gehört, im Radio, und sie sagten, es sei nicht er gewesen. (…) Sie haben viele Dinge gesagt, dass es nicht er war, sondern ein anderer. Aber nein. Sie haben dann gesagt, es wäre er. Sie haben ihn ermordet! Sie haben ihn ermordet!“141 (Doña Florentina, Atoyac 2008)
Vor den Gouverneurswahlen in Guerrero im April 1975 zirkulierte in der Sierra de Atoyac ein Kommuniqué der Partei der Armen mit dem Aufruf: „Die Regierung will die Revolution aufhalten, indem sie den Armen Geschenke macht! Lassen wir uns nicht betrügen von denTyrannen! Kein Armer soll für Rubén Figueroa stimmen!“142 (Brigada, 27.11.1974: 333). Der PRI-Senator Rubén Figueroa Figueroa war für die Kleinbauern der Sierra de Atoyac das Symbol der kazikalen Macht in Guerrero, dominierte die Familie Figueroa doch seit Generationen Wirtschaft und Politik im Bundesstaat Guerrero. Bis heute verfügen sie über weitreichende politische und wirtschaftliche Netzwerke in dieser Region. „Der Ing. Rubén Figueroa Figueroa und seine Welpen. Besitzer von Guerrero?“143, wie etwa der Journalist Zepeda (1996: 23) meinte. Aufgrund dieser Tatsache entführte die Brigade der Partei der Armen Ende Mai 1974 den in der Bevölkerung wenig beliebten Kaziken. „Es kann in Guerrero nicht zwei Gouverneure geben“, sagte einmal Rubén Figueroa144 und bezog sich dabei auf sich selbst und auf Lucio Cabañas. Am 30. Mai 1974 fuhr er zu einem vereinbarten Gespräch mit Lucio Cabañas in die Sierra de Atoyac und wurde bei diesem Zusammentreffen von der Brigade festgenommen. Die Partei der Armen forderte mit der Entführung von Figueroa ein Ende der ausbeuterischen Verhältnisse für die Kleinbauern, die Freilassung aller politischen Gefangenen und Lösegeld. Als Reaktion auf diese Entführung begann eine neue Welle der Repression, angeordnet von Präsident Luis Echeverría (1970 – 1976) gegen die comunidades der Sierra de Atoyac, um den entführten Figueroa zu befreien. Im Zuge der Kampagne zum Auffinden von Rubén Figueroa kam auch General Acosta
141 [Lo] oímos en las noticias, en la radio, (...) y decían que no era él. (…) Un montón de cosas que decían, que no había sido él, que era otro, pero no, dijeron que si era él. ¡Lo mataron! ¡Lo mataron!“ (Doña Florentina, Atoyac 2008) 142 „¡El gobierno quiere detener la revolución haciendo favores a los pobres! ¡No nos dejemos engañar por los tiranos! Que ningún pobre vote por Rubén Figueroa!“ (Brigada, 27.11.1974: 333) 143 „El Ing. Rubén Figueroa Figueroa y su cachorro. Dueños de Guerrero?“ (Zepeda 1996: 23) 144 Interview mit Figueroa im Dokumentarfilm: El Crimen de Zacarías Barrientos.
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Chaparro in die comunidades. Die mexikanische Journalistin Leticia Díaz schreibt über die Erinnerungen einiger BewohnerInnen der comunidad Tres Pasos: „Den Namen, den sie sich besonders gemerkt haben, ist der von Mario Acosta Chaparro, der mindestens einmal pro Woche mit dem Hubschrauber kam um die Gefangenen zu verhören, von denen er glaubte, sie hätten wertvolle Information, um Cabañas zu lokalisieren und den damaligen Senator Rubén Figueroa Figueroa, der in den Händen des Guerillero war, zu befreien.“145 (Díaz 2001)
Es gab daraufhin auch mehrere Zusammenstöße zwischen Guerilla und Militär. So überfiel etwa am 9. August 1974 die Gruppe von Cabañas eine Militärpatrouille und tötete mehrere Soldaten. Am 8. September 1974 wird Figueroa vom Militär befreit und in der bewaffneten Konfrontation ein Guerrillero getötet. Figureoa, der im April 1975 zum Gouverneur von Guerrero gewählt wurde, setzte sich nach seiner Befreiung das Ziel, Rache zu üben und endgültig alle Mitglieder und SympathisantInnen der Partei der Armen auszulöschen (vgl. Bellingeri 2003, Castellanos 2007). Am 2. Dezember 1974, ein paar Tage nach dem Aufruf der Partei der Armen zum Wahlboykott, wurde Lucio Cabañas in der Nähe der comunidad El Otatal in einer bewaffneten Konfrontation mit dem Militär ermordet. Der Aufenthaltsort der Gruppe wurde dem Militär von den Brüdern Anacleto und Isabel Ramos bekannt gegeben. Deren Töchter waren zuvor von Soldaten festgenommen worden, worauf die Familie deren Freilassung forderte. Bedingung für die Freilassung der Frauen war jedoch die Bekanntgabe des Aufenthaltsortes von Lucio Cabañas. Für die Soldaten, die daran beteiligt waren, war der Leichnam von Lucio Cabañas eine Kriegstrophäe. Unterschiedliche Versionen zirkulieren über die Umstände des Todes unter der Bevölkerung, so etwa, dass die Version des Militärs, er sei erschossen worden, nicht stimme. Vielmehr habe Lucio Cabañas bevor er festgenommen wurde, Selbstmord begangen. Der Soldat Tafoya Barrón, der bei der bewaffneten Konfrontation dabei war, sagte jedoch in einem Brief, der in Dokumenten des Archivo General de la Nación gefunden wurde, dass die Soldaten es waren, die ihn erschossen hätten (vgl. Miranda 2006: 280). Ein Soldat, der im Kampf dabei war und seinen Namen im Gespräch mit Arturo Miranda nicht nennen wollte, meinte: „Als Lucio starb, fühlten wir uns erleichtert, weil wir ihn lange Zeit verfolgt hatten und wir schon müde und verängstigt waren, denn wir wussten ja nicht, in welchem Moment er uns at-
145 „El nombre que sí guardaron en la mente es el de Mario Arturo Acosta Chaparro, que por lo menos una vez a la semanallegaba enhelicóptero para interrogar a detenidos que consideraban que tenían información valiosa para localizar a Cabañas y recuperar al entonces senador Rubén Figueroa Figueroa, en manos del guerrillero.“ (Díaz 2001)
160 | K AMPF UM R EHUMANISIERUNG tackieren würde; wir wollten mit unserer Familie sein. Unsere Offiziere sagten uns ständig, wir sollten Lucio mehr hassen, denn er war schuld daran, dass wir nicht ruhig in unseren Häusern sein könnten; und dass wir ihm also so schnell wie möglich ein Ende setzen sollten, denn wenn nicht, würden wir noch ein Weihnachten in den Bergen verbringen. Aber trotzdem blieben wir noch zwei Jahre in der Sierra, weil sie uns sagten, dass wir mit allen Anhängern von Lucio, die noch da wären, Schluss machen sollten, ansonsten würde es bald einen anderen geben, der ihnn ersetzen würde.“146 (Anonym zit. in Miranda 2006: 282)
In diesen Ausführungen wird neben der Angst, die auch die Soldaten hatten, ebenso die militärische Strategie der Regierung deutlich, die darauf abzielte, nicht nur die bewaffneten Mitglieder der Partei der Armen zu eliminieren, sondern auch deren SympathisantInnen in der Bevölkerung zu verfolgen.
2.5 V ON T ÄTERN , M ITTÄTERN UND O PFERN : S CHULD UND V ERZEIHUNG „Wo ist er? Auch ihn haben sie verloren!“147 (Doña Virginia, Colonia 18 de Mayo, 2009)
In Guerrero sprechen die Opfer – die Folteropfer und die Angehörigen der Verschwundenen – nicht in der Terminologie von Opfern und Tätern, wie dies im Transitional-Justice-Diskurs üblich ist. Vielmehr wird die Kategorie Opfer in Guerrero mit Termini umschrieben, die eine Definition des Konzeptes Opfer beinhaltet und beschreibt, was mit diesen Menschen passiert ist. Meist wird das Wort Personverwendet, welchem ein Adjektiv oder eine Beschreibung der Tat, die mit diesem Menschen begangen wurde, beigefügt wird. So ist die Bezeichnung für Opfer in Guerrero zum Beispiel gente inocente (unschuldige Menschen) oder gente que no tenía la culpa (Menschen, die keine Schuld hatten). Weitere Umschreibungen von
146 „Cuando murió Lucio de plano sentimos alivio, porque llevábamos mucho tiempo persiguiéndolo y ya nos sentíamos cansados y temerosos, porque no sabíamos ni en qué momentos nos podía atacar; queríamos estar con nuestra familia. Nuestros oficiales constantemente nos hacían tenerle más odio a Lucio, porque nos decían que si no fuera por él estaríamos muy tranquilos en nuestras casas; que entonces, acabáramos con él lo más pronto posible si no nos pasaríamos otra navidad entre el monte. Sin embargo, nos anduvieron trayendo dos años más en la sierra, porque, nos decían que teníamos que acabar con todos los seguidores de Lucio que quedaban si no pronto habría otro que lo sustituiría“. (Anonym zit. in Miranda 2006: 282) 147 „¿Adónde está? ¡También lo perdieron!“ (Doña Virginia, Colonia 18 de Mayo, 2009)
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Opfern sind gente que se murió injustamente (Menschen, die ungerechterweise gestorben sind), gente que se desapareció sin tener culpa (Menschen, die verschwunden sind, ohne Schuld zu haben), gente que perdieron (Menschen, die „verloren wurden“) oder gente que no debía nada (Menschen, die nichts schuldeten). Doña Virginia etwa sagt: „Wir wollen Gerechtigkeit, (…) weil wir Kleinbauern sind, arbeitsame Menschen, warum haben sie das den Leuten angetan? Sie sollen doch Leute festnehmen, die verdächtig sind! Aber viele Leute haben sie unschuldig festgenommen.“148 (Doña Virginia, Colonia 18 de Mayo, 2009) Die Ungerechtigkeit für die Kleinbauern bestand darin, dass Militär und Polizei viele unschuldige Menschen verschleppte. Für manche Kleinbauern bestand die Ungerechtigkeit auch darin, dass sie als schuldig erachtet wurden, andere dagegen, also jene, die Teil der Partei der Armen waren, nicht festgenommen hätten. So sagte Don Enrique, ein Folteropfer aus Atoyac: „Immer haben sie uns gefragt, also, kennt ihr Lucio, kennt ihr Genaro? Schauen Sie, ich kenne niemanden, niemanden kenne ich. Dort im Dorf [San Francisco] sind wir alle unschuldig, weil zu allererst, ich habe Lucio dort nie gesehen. Und Genaro war dort auch nie. Ich habe mir nichts zu schulden kommen lassen (…), und die, die mit ihnen waren, ich glaube, die waren anderswo unterwegs, an anderen Stellen bei San Francisco. Zum Beispiel ein gewisser Don Martín, der ist mit Lucio gegangen. Den haben sie nicht festgenommen, sie haben ihn nicht angefasst, und seinen Bruder auch nicht. (…) Und die waren mit Lucio unterwegs.“149 (Don Enrique, Colonia 18 de Mayo 2009)
Unschuldige zu verschleppen, wie Don Enrique meint, ist ein Aspekt der staatsterroristischen Praxis, den die Betroffenen bis in die Gegenwart nicht verstehen können. Die grundsätzliche Logik im Verständnis der Menschen besagt, dass wenn jemand keine Schuld trägt, kann er oder sie auch nicht bestraft werden. Wie kann es daher sein, dass unschuldige Menschen für etwas bestraft wurden, dessen sie nicht
148 „Y nosotros queremos justicia, (…) porque nosotros seamos campesinos, gente trabajadora, porque le hicieron eso a la gente! ¡Qué agarren gente que esté sospechosa! Pero mucha gente que agarraron injustamente.“ (Doña Virginia, Colonia 18 de Mayo, 2009) 149 „Siempre nos estaban preguntando, pues, entonces no conocen a Lucio, no conocen a Genaro (…). Mire, yo no conozco a ninguno, a ninguno conozco yo. Ahí en el barrio todos somos inocentes porque en primer lugar, Lucio Cabañas nunca lo había visto yo ahí. Ahora Genaro tampoco se metió ahi. ¿Qué cosa debía, le digo? Yo no debía nada [...], y los que andaban, yo creo que se metieron por otro lado, por otras partes de San Francisco. Por ejemplo, un mentado Don Martín, ese anduvo con él, ese no lo agarraron, no lo tocaron, a su hermano tampoco. (…) Esos si andaban con Lucio.“ (Don Enrique, Colonia 18 de Mayo 2009)
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schuldig waren? Die Schuld lag für die Angehörigen vielmehr an den staatlichen Akteuren. Andere geben einen Teil der Schuld auch den aufständischen Gruppen, da sie mit manchen ihrer Aktionen die Situation verschärft hätten. So etwa sagte Doña Rosario aus San Martín de las Flores, dass die Entführung von Rubén Figueroa ein Fehler gewesen sei, da sich dadurch die Repression verschärft habe. Die meisten Angehörigen aber geben den AnhängerInnen von Lucio Cabañas keine Schuld am Verschwindenlassen ihrer Angehörigen. Schuld alleine für die Repression trägt die Regierung, die Kleinbauern hingegen haben für eine gerechte und gute Sache gekämpft. Viele meinen auch, dass wenn ihre verschwundenen Angehörigen in der Guerilla eine kriminelle Tat ausgeführt hätten, die Regierung ihnen einen Strafprozess vor einem Gericht gewähren hätte müssen. Wären sie nach einer strafrechtlichen Verurteilung ins Gefängnis gekommen, hätten die Angehörigen zumindest die Möglichkeit gehabt, sie zu besuchen und sie nach einer gewissen Zeit wieder bei sich zu haben. Viele Angehörige leiden auch unter dem Wissen über andere unschuldige Opfer. So erzählt Doña Virginia, dass sie von anderen Leuten viele Geschichten erfahren hat und sie darunter leidet, wenn sie an all diese unschuldigen Menschen denkt: „Mich schmerzt es, weil so viele Menschen unschuldig gestorben sind, ohne etwas gemacht zu haben. Deswegen weine ich. Andere Leute erzählen mir davon, [wie das mit dem] Cousin meines Sohnes, den sie nur mit der Unterhose bekleidet aus dem Bett geholt haben!“150 (Doña Virginia, Colonia 18 de Mayo, 2009) Die Angehörigen sprechen meist nicht von desaparecer (Verschwindenlassen), sie haben ihn oder sie verschwinden lassen lo/la desaparecieron. Vielmehr verwenden sie das Wort perder (verlieren), lo/la perdieron, wörtlich zu übersetzen mit: sie haben ihn/sie verlieren lassen. Die Verwendung dieses Begriffes drückt eine Endgültigkeit des Verlustes aus, trotz der steten Hoffnung auf das „Wiederfinden“ des Verlorenen. Verlust impliziert jedoch die Unmöglichkeit der Umkehrung. Etwas, dass verloren ist, kommt in den meisten Fällen nicht zurück oder zumindestnicht im selben Zustand wie vor dem Verlust. Ein verlorener, verschwundener Mensch, sollte er/sie zurückkommen, wird nur in einem transformierten Zustand zurückkommen – sei es als gebrochener, gefolterter, kranker Mensch oder in Form sterblicher Überreste. Die Notion Verlust – perder, perdida – ist eine Grundkategorie im kollektiven Imaginären der Kleinbauern der Sierra de Atoyac, die in Gesprächen immer wieder auftaucht. Der Verlust des subalternen, des untergeordneten, des marginalisierten Subjektes steht im dichotomen Gegensatz zum Gewinn des permanent übergeordneten Akteurs in Form des Staates, der das Leben der Kleinbauern beeinflusst.
150 „Lo siento porque tanta gente asi murió injustamente, sin deber nada. Yo de eso me pongo allorar. Otra gente que me platica, su primo de mi hijo, ¡qué se lo llevaron en puro calzoncito, lo levantaron de la cama!“ (Doña Virginia, Colonia 18 de Mayo, 2009)
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Kleinbauern leiden am Verlust von Land, Produkten, Geld, Arbeitskraft und von Menschen. Die Kleinbauern haben in historischer Perspektive immer im Macht – und Kräfteverhältnis zu den staatlichen Akteuren verloren. Die Kleinbauern geben – Produkte, Land, Arbeitskraft, Menschen –, der Staat nimmt. Verlust als Kategorie trat auch im Kontext des Schmutzigen Krieges in Erscheinung. Nicht jedoch in Form struktureller Gewalt und vertikaler Machtverhältnisse, sondern in Form offener, direkter Gewalt, die sich in der Festnahme von Menschen aus allen comunidades äußerte und die Zerstörung sozialer Gefüge in den Dorfstrukturen zur Folge hatte. Wie sehen nun zur Zeit des Schmutzigen Krieges die lokalen Konstellationen von Opfern und Tätern in der Sierra de Atoyac aus? Wer wurde zum Täter, zum Mittäter, zum Opfer? Hauptverantwortliche für das Verschwindenlassen war das mexikanische Militär, dieses griff jedoch auf lokale Personen zurück, um Informationen zu gewinnen. Personen aus der lokalen Bevölkerung wurden teils gezwungen, mit dem Militär zu kollaborieren, oder taten es aus unterschiedlichen Gründen auch freiwillig. Es gibt Aussagen in den testimonios der Angehörigen, die bei der Festnahme dabei waren und Person und Identität des Täters kannten. So weiß etwa Rosa Castro Velázquez, dass der Oberst Castro Villarreal ihren Bruder und den Schwiegervater aus dem Haus geholt hat. Don Margarito meinte, dass General Escobedo seinen Bruder geholt habe. Es gibt aber auch Berichte, dass es in manchen Fällen die Polizei war. So sagte Doña Apolinar, dass die Männer, die ihren Mann in das Auto gezerrt haben, Polizisten waren. Auch Doña Elvira sagte, dass ihre Schwester von der Polizei aus dem Haus geholt worden war. Das Militär und die Polizei, die in den meisten Fällen nicht aus der Region Atoyac stammte, waren jedoch bei den Festnahmen auf lokales Wissen der Bevölkerung angewiesen. So spielte die lokale Elite, die Kaziken, eine wichtige Rolle in der Denunziation der Bevölkerung und der Auslieferung von unliebsamen Personen an das Militär. Don Florentino aus San Vicente de Benítez berichtet, dass der Kazike Pedro Cabañas, ein Onkel und Verwandter von Lucio Cabañas, mehrere Männer aus dem Dorf an das Militär gemeldet habe. Eine wichtige Kategorie im lokalen Konflikt war die ambivalente Rolle der sogenanten madrinas (Paten) und guías (Führer). Es waren Kleinbauern verschiedener Dörfer, die festgenommen und vom Militär gezwungen wurden, zu kooperieren. Guías hatten die Aufgabe, lokales Wissen an die Soldaten weiterzugeben und sie durch Wälder und Berge zu führen, um eventuelle Verstecke der Guerilla ausfindig zu machen. Madrinas wurden vor allem bei Militärkontrollposten an den Straßen und Wegen eingesetzt, um verdächtige Personen zu identifizieren. Madrinas und guías wurden zu Kollaborateuren und Mittätern, sie waren jedoch auch Opfer, da sie oft zunächst gefoltert und schließlich zur Kollaboration gezwungen wurden. Das in der Öffentlichkeit bekannteste Beispiel eines madrina ist jenes von Zacarías Barrientos. Er wurde mehr als drei Jahre gezwungen, mit dem Militär zu kollaborieren,
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und ist laut Aussagen von Angehörigen Verschwundener verantwortlich für das Verschwinden von mehreren Personen. Der Fall Zacarías Barrientos wurde im Aufarbeitungsprozess in der Transitionsperiode auf nationaler Ebene bekannt, da seine Zeugenaussage im Jahr 2003 vor der Sonderstaatsanwaltschaft FEMOSPP zu Konflikten und schließlich zu seiner Ermordung führten (vgl. Kap. 4.3.8). Laut Angehörigenberichten gab es jedoch auch Menschen in jedem Dorf, die freiwillig zu DenunziantInnen wurden, um unliebsame NachbarInnen zu verraten, alte Rechnungen und Konflikte zu begleichen und sich daraus einen Vorteil erhofften. So erzählte Doña Andrea, dass einige Leute aus ihrem Dorf andere verraten hätten, um danach Land, Hab und Gut desjenigen, der abgeholt wurde, zu erhalten. Sie hätten einfach den Soldaten gesagt, dass der Mann Kontakte zu Lucio Cabañas hatte. Das reichte aus, damit der- oder diejenige abgeholt und oft verschwinden gelassen wurde. Bei den DenunziantInnen handelte es sich meist um bekannte Personen aus der comunidad oder aus den umliegenden comunidades, die aufgrund von Nachbarschaftskonflikten, Generationenkonflikten oder persönlichen Konflikten handelten.In vielen Fällen leben bis heute die Opfer Seite an Seite mit den DenunziantInnen und MittäterInnen in den comunidades zusammen. Doña Elvira beschrieb einen derartigen Fall: „Diese Frau da gegenüber, sie war es, die meine Schwester denunziert hat. Sie weiß alles, sie mischt sich überall ein, und damals hat sie immer mit den Soldaten geredet.“151 (Doña Elvira, Los Llanos de Santiago, 2008) Die Frage, ob sie als Angehörige jemals dieses Thema mit der Dorfbewohnerin angesprochen habe, verneinte sie vehement mit der Aussage: „Das kann man hier nicht aussprechen!“152 (Ebd.).Bis in die Gegenwart würde diese Frau als eine Art Spitzel im Dorf wahrgenommen. Sie beobachte alles im Dorf, sie schaue, wer bei ihr ein und ausgehe, komme immer wieder mal auf ein Gespräch vorbei, um nach BesucherInnen in ihrem Haus zu fragen. „Sie mischt sich überall ein und weiß alles, wer weiß warum!“153 (Ebd.) Es sind unausgesprochene Konflikte und Vermutungen, die nie mit Beweisen belegt werden, die nicht angesprochen werden. Doña Elvira erzählte auch über eine andere Nachbarin, von der angenommen wird, dass sie mehrere Leute verraten habe. Es werden jedoch in den wenigsten Fällen die Namen dieser DenunziantInnen genannt, um weitere Konflikte zu vermeiden. In den meisten Fällen wissen die Angehörigen die Namen der Personen, die denunziert und die Angehörige verschleppt haben. Auch Doña Virginia aus Atoyac erinnerte sich an einen Schuldigen für viele Verhaftungen: „Und all die
151 „Esta señora ahí en frente, era la que denunició a mi hermana. Ella sabe todo, se mete en todo y en esos tiempos andaba hablando con los soldados.“ (Doña Elvira, Los Llanos de Santiago, 2008) 152 „Eso no se puede hablar aquí.“ (ebd.) 153 „Ella está en todo y sabe todo, ¡quién sabe porque!“ (ebd.)
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Leute, die er nicht mochte, hat Don Salomón verraten. Und dann standen sie schon auf der Liste!“154 (Doña Virginia, Colonia 18 de Mayo, 2009) Auch für die Verhaftung ihres eigenen Sohnes war dieser Mann verantwortlich: „Don Salomón Gutierrez war überall dabei. Sie haben ihn verschwinden lassen und er hatte die Schuld! (…) Diese Leute waren Mörder, sie haben dafür gezahlt, dass sie ihm das Leben genommen haben. Ich weiß es und ich kann das überall aussagen, weil ich die Wahrheit erfahren habe. (…) Dieser Mann ist schon gestorben, er heißt Salomón Gutierrez, aber er wurde schon von Gott gerichtet. Möge Gott ihm verzeihen.“155 (Doña Virginia, Colonia 18 de Mayo, 2009)
Im Gegensatz zu vielen Angehörigen, die eine Bestrafung der Täter durch Gerichtsprozesse fordern, gibt es auch jene Angehörigen, die einer religiösen christlichen Überzeugung folgend, Gott als die letzte Instanz der Beurteilung der Schuldfrage betrachten. So meinte Doña Virginia auch, dass die Taten von Ex-Präsident Luis Echeverría nur Gott verzeihen kann. Im Folgenden werden nun die Orte skizziert, an denen Angehörige und Menschenrechtsorganisationen vermuten oder wissen, dass dort die Verschwundenen hingebracht wurden.
2.6 O RTE
DER
V ERSCHLEPPUNG , O RTE
DES
T ERRORS
„Es wird gesagt, sie haben so eine Art Grube gemacht, und dass sie dort reingeworfen wurden. Und andere sagen, dass sie sie in Hubschraubern gepackt und ins Meer geworfen haben.“156 (Sofía Tabares Vázquez, Atoyac de Álvarez, 2006)
In der Vernetzung von Erzählungen aus den Erinnerungen der Opfer ergibt sich ein Bild von verschiedenen Orten der Verschleppung und des Terrors. Die Angehörigen erfuhren von diesen Orten und den Gräueltaten, die dort vollzogen wurden in
154 „Y toda aquella gente que no le parecía, Don Salomón la iba entregando. Ya iba enumerado en el papelito.“ (Doña Virginia, Colonia 18 de Mayo, 2009) 155 „Don Salomón Gutierrez tuvo que ver en todo. Desde que lo desaparecieron, ¡él tuvo la culpa! (…) Esa gente eran asesinos, pagaban su dinero, para que le quitaran la vida, yo sé y puedo dar donde sea testimonio, porque yo sabía la verdad. (…) Este señor ya se murió, se llama Salomón Gutierrez, pero ya está juzgado de Dios. Que Dios lo perdone.“ (Doña Virginia, Colonia 18 de Mayo, 2009) 156 „Dicen que hicieron unas como fosas, pues y ahí los echaban y otros dicen que se los llevaban en helicóptero y los echaban al mar.“ (Sofía Tabares Vázquez, Atoyac, 2006)
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der Kommunikation mit anderen. In den Narrativen der Angehörigen wird daher immer wieder der Ausdruck dicen que (es wird gesagt) verwendet, um zu zeigen, dass sie es zwar selbst nicht gesehen haben, aber sie von anderen, die es gesehen oder wiederum gehört haben, dieses Wissen haben. Dieses dicen que war und ist meist der einzige Anhaltspunkte über das weitere Schicksal der verschwundenen Angehörigen, da es keine sonstigen Informationen oder Beweise gab und gibt. Das dicen que, das im sonstigen Sprachgebrauch auf ein Gerücht hinweist, ist im Kontext der Verschwundenen die einzige Information, an der die Angehörigen festhalten können. Erzählungen von anderen werden also oft zu den einzigen Beweisen im Kontext von Konflikt und Gewalt. Auch Rosa Castro Velázquez erfuhr nur über eine Bekannte vom Aufenthaltsort ihres Bruders. Sie war dabei, als sie ihren Bruder aus dem Haus verschleppten, und konnte ein letztes Wort mit ihm wechseln, bevor sie ihm vom Militärlager der comunidad San Vicente de Benítez in das Militärlager in Atoyac de Álvarez brachten: „Dann sind wir zum Militärlager, wo sie sie hingebracht haben. Und dort war es, dass mein Bruder zu mir gesagt hat (…): Stell dir vor, jetzt bringen sie mich weg! Und wir sind zum comisario, damit er mit uns kommt und meinen Bruder da rausholt. Und er hat uns gesagt, er könne nicht, da ihn der Oberst bedroht hätte.“157 (Rosa Castro Velázquez, San Vicente de Benítez, 2009)
Die Gefangenen wurden meist mit verbundenen Augen von einem für sie unbekannten Ort zum nächsten transportiert um Orientierungslosigkeit und Unsicherheit zu erzeugen. Durch den ständigen Wechsel der Aufenthaltsorte wurde auch verhindert, dass die Gefangenen selbst durch irgendeine Art und Weise Nachrichten über den Haftort nach außen übermitteln konnten. Durch solche Ortswechsel konnten auch die Spuren über die Täter effizienter verschleiert werden. Rosa Castro Velázquez erzählte, wie ihr Mann vom Militärlager in Atoyac an einen unbekannten Ort gebracht wurde: „Und von dort haben sie sie weggebracht. Er hat gesagt, dass sie sie in einem Auto fortgebracht haben, in einen Kofferraum wurden sie gesteckt, einen Kofferraum. Sie hatten dort kaum Platz, konnten sich nicht aufrichten, sich nicht umdrehen, es war da die Hitze des Mo-
157 „Luego nos venimos para acá a reclamarlo al cuartel donde los llevaban. Y por aquí fue, cuando me dijo mi hermano y le dije, ¡ay hermano! Y me dice, ay, ¡fíjate pues, ya me llevan! Y ya fuimos con el comisario para que viniera con nosotros para reclamarlo y nos dijo queelno podía porque lo tenía amenazado el coronel.“ (Rosa Castro Velázquez, San Vicente de Benítez, 2009)
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tors. Weit weg haben sie sie gebracht, weil sie weit gefahren sind. Wir wussten nicht wohin!“158 (Rosa Castro Velázquez, San Vicente de Benítez, 2009)
Ihr Mann hatte Glück und wurde nach eineinhalb Monaten Haft und Folter freigelassen. Der Grund war, dass Lucio Cabañas einen Brief an die Behörden schickte, indem er sagte, dass weder ihr Mann noch ihr ebenfalls verhafteter Schwiegervater etwas mit der Guerilla zu tun hätten. Die Zuständigkeiten der einzelnen operierenden militärischen und polizeilichen Kommandos, die die Gefangenen in Gewahrsam hatten, waren scheinbar aber nicht einheitlich festgelegt und es kam, wie in diesem Fall, zu unterschiedlichen und sich ändernden Befehlen hinsichtlich des Verhaltens gegenüber den Gefangenen und daraus folgenden Konflikten innerhalb des militärischen Personals: „Lucio hat einen offenen Brief geschickt, wo er sagte, dass sie sie freilassen sollten, weil sie keine Schuld hätten und dass sie nicht mit ihnen in den Bergen wären. Und wegen dieses Briefes waren einige Soldaten untereinander verärgert, weil sie den anderen die Gefangenen wegnehmen wollten. Die einen haben den anderen gesagt, dass sie für sie zuständig seien und sie sie ihnen deswegen wegnehmen würden. Und dann haben sie ihnen befohlen, den Gefangenen die Handschellen abzunehmen, die Augenbinden, die Watte von den Augen und sie haben ihnen gesagt, dass sie keine Angst mehr haben müssten, dass ihnen nichts mehr passieren würde. Sie könnten schon ihre Familien benachrichtigen und sich frei fühlen. Und dann haben sie sie in das Militärlager von Acapulco gebracht.“159 (Rosa Castro Velázquez, San Vicente de Benítez, 2009)
Rosa Castro Velázquezerfuhr dann von einem Mann, der es wiederum von einem anderen Mann erfahren hatte, dass ihr Mann und ihr Schwiegervater in Acapulco im
158 „Y ya de ahí se los llevaron. Dicen que se los llevaron en un carro, los echaron a la cajuela, una cajuela. No más cabían así de una sola pieza, que no se podían levantar, no se podían hacer de un lado, estaba el calor del motor, se los llevaron lejos, porque corrió lejos. ¡No supimos a donde!“ (Rosa Castro Velázquez, San Vicente de Benítez, 2009) 159 „Lucio había mandado una carta abierta donde decía que ellos no, que les dieran libre porque ellos no tenían culpa, que ellos no andaban en el monte. Y por esa carta fue que unos militares iban atrás de ellos a quitarselos y dice que ahí, a donde llegaron, se enojaron pues, porque les dijeron que ellos corrian por cuenta de ellos y que por eso iban a quitárselos, pues. Ydespués les ordenaron que les quitaran las esposas, que les quitaran los algodones de los ojos, las vendas y ya estando asi, les dice: ya no tengan miedo,
dice, ya no les pasa nada. Ya pueden hablarles a sus familiares, ya siéntanse libres, ustedes ya. Y luego se los trajeron a la zona militar de Acapulco.“ (Rosa Castro Velázquez, San Vicente de Benítez, 2009)
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Gefängnis waren: „Und dann hat mir der Herr Alejandro gesagt, dass ich dorthin gehen sollte, um ihnen Essen zu bringen, ihnen Kleidung und Schuhe zu bringen.“160 (Ebd.). Durch die Verbreitung von Gerüchten, aber auch aus den Erzählungen nach der Rückkehr von Folteropfern wurde für die Angehörigen ersichtlich, wo die Gefangenen hingebracht worden waren. Die bisher bekanntesten Orte waren das Militärlager von Atoyac, das Militärlager Nr. 1 in Mexiko-Stadt, das Gefängnis von Acapulco, die Luftwaffenbasis in Pie de La Cuesta, von wo aus die Todesflüge durchgeführt wurden, der Pozo Meléndez und das Gefängnis auf den Islas Marías. Als ein zentraler Ort der Verschleppung ist zunächst das Militärlager in Atoyac de Álvarez zu nennen. Das Lager war der erste Ort, an dem die Verschleppten nach der Festnahme in den comunidades der Sierra gebracht wurden. Viele ZeugInnenaussagen belegen diese Tatsache. Zentrale ZeugInnen sind dabei jene, die in das Militärlager gebracht, dort gefoltert, aber nach einiger Zeit wieder freigelassen wurden. So berichtet etwa Don Blanco von der berüchtigten máquina (Maschine), die Tag und Nacht arbeitete und getötete Gefangene in Massengräbern auf dem Gelände des Militärlagers verscharrte. Auch Doña Virginia erwähnt diese: „Hier war die gelbe Maschine, die dort gearbeitet hat. Ein anderer junger Mann, den ich kenne, kann dasselbe sagen, was ich auch sage, denn seinen Vater haben sie verschwinden lassen und er hat die Maschine auch gesehen.“161 (Doña Virginia, Atoyac, 2009)
Das Militärlager ist jetzt das Stadtamt von Atoyac (Ciudad de los Servicios). Dieser Ort ist zentral für die Opfer in Guerrero in ihrer Forderung nach Exhumierung der sterblichen Überreste der Verschwundenen und Ermordeten. Eine Begehung dieses Ortes lässt ein unheimliches Gefühl aufkommen. Der Großteil des Geländes besteht aus Ruinen alter Militärkasernen und Gebäuden, überwachsenen Wegen und Mauern. Viele Angehörige sagen, dass sie beim Gehen über dieses Gelände von der ständigen Vermutung begleitet werden, darunter könnten die Reste ihrer Verschwunden liegen. Es befindet sich dort seit einigen Jahren das Büro der Angehörigenorganisation AFADEM. Und es ist ein Erinnerungsort geworden am Internationalen Tag der Verschwundenen an jedem 30. August, an dem Gedenkfeiern von den Angehörigen abgehalten werden. Das heutige Militärlager der 27. Militärzone von Atoyac befindet sich hingegen im Nachbarort El Ticui. Der Angehörige eines Verschwundenen, José Luis Arroyo, Neffe eines Verschwundenen, meinte, dass
160 „Entonces el señor Alejandro me mandó a decir que yo me fuera para que yo les llevara de comer, que les llevara ropa y calzado.“ (Ebd.) 161 „Aquí donde estaba la máquina amarilla, allí donde trabajaba. Otro muchacho que yo tambien conozo, puede decir lo mismo que yo le estoy diciendo porque tambien desaparecieron su papá y el vio la máquina también.“ (Doña Virginia, Atoyac, 2009)
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dort immer noch die Akten sowie Dokumente über die lokalen Ereignisse und die Berichte über Verhöre von Gefangenen aus der Zeit des Schmutzigen Krieges lagern: „Wir wissen, dass sie die Karteien von jedem Verschwundenen und vor allem von jenen, die sie aus dieser Region weggebracht haben, dass sie diese Karteien dort in El Ticui haben. Aber sie wollen sie nie herausgeben, nichts. Ich meine, sie wollen uns nicht sagen, wo sie sind, obwohl sie doch die Dokumente dort haben.“162 (José Luis Arroyo Castro, Atoyac, 2010)
Bisher hat sich die Kommandantur der 27. Militärzone in El Ticui geweigert, den Angehörigen Einsicht in die Akten zu gewähren. Ein weiterer zentraler Ort für die Opfer ist das Campo Militar Número 1 in Mexiko-Stadt. Es ist bis in die Gegenwart der Hauptstützpunkt des mexikanischen Militärs und daher auch Ziel vieler Proteste der Angehörigenorganisationen. Aufgrund der Aussagen von 148 Verschwundenen, die im Jahr 1979 auf Druck der Angehörigenorganisiation aus dem Campo Militar Número 1 freigelassen wurden (vgl. Kap.3.3.), erfuhren die Angehörigen, dass weitere Verschwundene in diesem Gefängnis geheim festgehalten wurden. José Luis Arroyo sagte über die Geheimgefängnisse: „Tatsächlich gibt es testimonios, in denen erzählt wird, dass die Suche unermüdlich war, vor allem deshalb, weil wir herausgefunden haben, dass sie viele, die sie lebend verschleppt haben, am Leben gelassen haben und sie in Geheimgefängnisse kamen. In Mexiko [-Stadt] und in Guerrero gab es Geheimgefängnisse.“163 (José Luis Arroya Castro, Atoyac, 2010)
Ein weiterer Ort der Verschleppung war die Base Militar Aérea in Pie de la Cuesta, ein Strandort am Pazifik in der Nähe der Hafenstadt Acapulco, von dem aus die Todesflüge durchgeführt wurden. Wie bereits in der Einleitung erwähnt, starteten von dort Flugzeuge, aus denen über dem Pazifik Gefangene ins Meer geworfen wurden. Oftmals wird in diesem Zusammenhang davon gesprochen, dass Mexiko das erste Land Lateinamerikas war, wo die Praxis der Todesflüge angewandt wurde. ZeugInnenaussagen belegen, dass die Leichname anfangs wieder an das Ufer geschwemmt
162 „Sabemos que los expedientes de cada desaparecido y sobre todo de quienes se llevaron de todas esas regiones, de estos pueblos, los expedientes los tienen ahi en El Ticui. Pero nunca los quieren entregar ni nada o sea a que nos digan a donde están y ellos tienen los expedientes ahí.“ (José Luis Arroyo Castro, Atoyac, 2010) 163 „De hecho hay testimonios donde la búsqueda ha sido incansable precisamente porque comprobamos de que a todos los que se llevaron vivos, a una parte la mantenían viva en ese tiempo, porque los llevaron a cárceles clandestinas. En México, como en Guerrero había cárceles clandestinas.“ (José Luis Arroyo Castro, Atoyac, 2010)
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wurden und daraufhin begonnen wurde, die Körper zu beschweren. Dazu wurden den ermordeten Gegangenen die Beine in Zement einbetoniert. Das Militär wollte so jegliche Beweise für diese Verbrechen verschwinden lassen. In einem Brief, der im Archiv des Archivo General de la Nación gefunden wurde, sprach der Soldat Tafoya Barrón von den Todesflügen, an denen er beteiligt war: „Viele sind gestorben, und die, die wir lebend gepackt haben (es waren einige), musste ich in den Hubschrauber befördern, die Füße und Hände gefesselt und an zwei Eisenstangen angekettet, und sie ins Meer werfen. Unter ihnen waren zwei junge Frauen.“164 (Tafoya Barrón zit. in Miranda 2006: 280) Ein weiterer Ort, an dem Verschwundene vermutet werden, ist der Pozo Meléndez in der Nähe der Stadt Iguala in Guerrero. Es handelt sich um eine natürliche profunde Erdspalte, auch genannt Boca del Diablo (Mund des Teufels), dessen Tiefe bisher noch nicht gemessen werden konnte und deshalb auch als Loch ohne Boden bezeichnet wird. Legenden der Bevölkerung der umliegenden Dörfer zufolge handelt es sich auch um ein Massengrab, denn immer wieder wurden in diese Erdspalte Ermordete geworfen. So wurden auch während der Mexikanischen Revolution (1910 – 1917) dort Leichen hinein geworfen, die nie wieder zum Vorschein kamen. Angehörige und Menschenrechtsorganisationen vermuten, dass in den Pozo Meléndez auch ermordete Verschwundene des Schmutzigen Krieges geworfen wurden. Das abgesperrte Gebiet ist in Besitz einer Silberminengesellschaft und nicht öffentlich zugänglich. Angehörige fordern auch hier die Suche nach den Verschwundenen. Ein weiterer Ort, wo vermutlich Verschwundene hintransportiert wurden, sind die Islas Marías, eine Inselgruppe im Pazifik vor den nördlichen Küsten des Bundesstaates Nayarit. Auf den Islas Marías wurde im Jahr 1905 unter der Diktatur von Porfirio Díaz ein Hochsicherheitsgefängnis errichtet für jene Gefangene, die aufgrund ihres „Gefährlichkeitsgrades“ nicht im Gefängnis Lecumberri in Mexiko-Stadt inhaftiert werden konnten. Bis heute befindet sich dort die Bundesstrafanstalt Islas Marías. Angehörige vermuten, dass auch hier Verschwundene inhaftiert wurden: „Und unten, ich sage es ihnen, weil ich es gesehen habe, da war ein Raum drunter, unterirdisch und nur durch die Gitter hat man das gesehen. Und das Gefängnis voll, sodass die Leute nicht Platz hatten. Wo sind diese Leute hin? Sie haben sie getötet! Oder haben sie sie an einen
164 „Murieron muchos, y a los que agarramos vivos (fueron varios), a mi me tocó subirlos a un helicóptero, amarrados de pies y manos, y atados a dos barras de fierro e irlos a tirar al mar, y entre ellos iban dos muchachas“ (Tafoya Barrón zit. in Miranda 2006: 280)
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anderen Ort gebracht? Weil auch gesagt wurde, (…) dass sie einige wenige auch zu den Islas Marías gebracht haben.“165 (Doña Virginia, Atoyac 2009)
Einige Angehörige erzählten, dass während des Untersuchungszeitraums der FEMOSPP (2002-2006) auch die Möglichkeit gegeben wurde, in das Gefängnis von Islas Marías zu fahren, um nach Informationen über ihre Verschwundenen zu suchen. Jene, die das Gefängnis besuchen konnten, erhielten jedoch keine Auskunft über die mögliche Inhaftierung ihrer Angehörigen an diesem Ort. Die Verweigerung von Antworten über den Verbleib der Verschwundenen bildet für die Angehörigen an allen aufgesuchten Orten des Terrors eine Konstante.
2.7 R ITUALE , V ERWEIGERUNGEN
UND
T RANSFORMATIONEN
„Sie sollen uns nicht mehr in der Hoffnung warten lassen. Sie sollen uns sagen, das ist passiert, hier ist er, hier ist er geblieben (…). Wir wollen die Wahrheit. Welche auch immer die Wahrheit sei!“166 (María Felix Reyes, Tochter eines Verschwundenen, Atoyac, 2010)
Immer wieder wird in der Literatur zur Gedächtnisforschung erwähnt, wie notwendig das Vergessen von bestimmten Informationen oder Ereignissen für das menschliche Leben und Gedächtnis ist (vgl. Weinberg 2001).Was aber, wenn diese grundsätzliche Notwendigkeit des Vergessens nicht eintreten kann, weil das Ereignis in der Gegenwart weiterwirkt? Ein Vergessen der Verschwundenen ist für die meisten Angehörigen nicht möglich, da das mit Gewalt verbundene traumatische Ereignis präsent ist und nicht abgeschlossen werden kann. María Felix Reyes beschreibt dies im obigen Zitat mit einem permanenten Zustand des Wartens. Dies steht vor allem mit der Verweigerung von elementaren Elementen kultureller Praxis in Verbindung, wie im Folgenden dargelegt werden soll. Celia Piedra aus Atoyac, Frau des 1974 verschwundenen Jacob Nájera beschreibt die Emotionen, die alle Angehörigen teilen: „[D]er gemeinsame Nenner der Traurigkeit ist der unwiederbringliche Verlust der Unseren, genauso wie der Schmerz, der uns bis heute ihre Abwesenheit bereitet. Es ist der Alptraum nicht zu wissen, wo sie sind und was ih-
165 „Y abajo, yo le estoy diciendo porque yo lo vi, estaba un espacio abajo, subterráno y no más por las rejillas se veía. Llena la cárcel que no cabía la gente. ¿A dónde fue esa gente? Pues la mataron! O se la llevarían por otro lado? Porque se decía [...] que se llevaron a unos pocos a las Islas Marías.“ (Doña Virginia, Atoyac 2009) 166 „Qué ya no nos tengan en una espera. Que nos digan, pues que pasó eso, aquí está, quedó acá (…). Queremos la verdad. ¡Cual sea la verdad!“ (María Felix Reyes, Tochter eines Verschwundenen, Atoyac, 2010)
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nen angetan wird.“167 (Piedra 2007: 3). Der von Celia Piedra beschriebene permanente Schmerz, der die Ungewissheit über den Verbleib des Verschwundenen hervorruft, bezeichnen Frank Afflito und Paul Jesilow als chronische Ungewissheit. Sie meinen, dass „the chronic ambiguity may even have been worse than the initial loss. They desperately sought in vain to alleviate their anxiety.“ (Afflito/Jesilow 2007: 68). Das Konzept der chronischen Ungewissheit, das Afflito und Jesilow für die guatemaltekischen Angehörigen verwenden, ist auch bei den Angehörigen in Guerrero beobachtbar. „Ist er tot oder lebt er?“, „wird sie zurückkehren?“ „wann?“ „wo ist er?“ „wurde er gefoltert?“ – dies sind zentrale Fragen dieser Ungewissheit, die sich auch die Angehörigen der Verschwundenen in Guerrero permanent stellen. Afflito und Jesilow meinen, dass eben diese chronische Ungewissheit zum Handeln, zu agency führt: „For them, the resolution of the chronic ambiguity associated with the enforced disappearance of loved ones was often the greatest motivating factor for eventually joining one of the human rights groups. Even those quiet revolutionaries who knew of or witnessed their family members‘ deaths did no completely escape some of this ambiguity. They wondered where the bodies of their murederd relatives were buried, and some worried if they had suffered much before their deaths.“ (Afflito/Jesilow 2007: 63)
Auch Apolinar Castro Román aus der Sierra de Atoyac - die anwesend war, als ihr Mann angeschossen und dann verschleppt wurde und meint, dass er wahrscheinlich tot sei - leidet an dieser chronischenUngewissheit. Sie hat den toten Körper ihres Mannes nie gesehen und kann deshalb keine Gewissheit haben. Doña Monica beschrieb es ähnlich: „Ich habe nie Erde auf das Grab meines Mannes geworfen. Und deswegen weiß ich nicht, ob er tot ist oder lebt.“168 (Doña Mónica, San Martín de las Flores 2007) Die Dehumanisierung findet selbst nach dem Akt selbst des Verschwindenlassens und der Eliminierung des Körpers der Verschwundenen kein Ende. Wie aus den Narrativen der Angehörigen ersichtlich wird, hat diese chronische Ungewissheit eine kontinuierliche Wirkung bis in die Gegenwart. Bei der Analyse des Phänomens des Verschwindenlassens wird deutlich, dass sich eine Verbindung der politischen Anthropologie mit Aspekten der Ritualtheorie herstellen lässt. Die Repression wurde nach dem Verschwindenlassen der als interne FeindInnen be-
167 „[E]l común denomidar de la tristeza y la pérdida insustituible de los nuestros, así como el dolor que nos provoca hasta la fecha su ausencia, de las pesadillas de no saber donde están y que les hacen.“ (Piedra 2007: 3) 168 „Yo nunca eché tierra a la tumba de mi esposo. Y por eso, yo no sé, si está muerto o vivo.“ (Doña Mónica, San Martín de las Flores 2007)
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trachteten Menschen auf die suchenden Hinterbliebenen transferiert. Dieser Transfer der Repression von den verschwundenen Opfern auf die ebenfalls als Opfer betrachteten Familienangehörigen findet ihren Ausdruck in den jahrzehntelangen Verweigerungen der Regierungen, den Angehörigen die Möglichkeit der Aufklärung, aber auch die Möglichkeit von kulturell wichtigen Toten- und Abschiedsritualen zu gewähren. Wie Doña María aus Atoyac sagt: „Sie sollen uns ihre sterblichen Reste geben, damit wenigstens der Angehörige weiß, wo sie für sie beten können.“169 (María Felix Reyes, Atoyac, 2010) Für ein besseres Verständnis dieses Transfers der Repression auf die hinterbliebenen Angehörigen wird in der Folge zunächst auf die kulturelle und soziale Bedeutung von Totenritualen und die besondere Beziehung der Lebenden und Toten in Mexiko und in Guerrero eingegangen werden. Um dann die Bedeutung der verweigerten sozio-kulturellen Rituale in Gewaltkontexten als Motiv für die Transformation in politisches rituelles Handeln zu beleuchten. „Ritual is critical for social harmony“, sagt Paul Saint Cassia (2007: 3) und weist so auf die Problematik für eine Gemeinschaft hin, wenn Rituale verweigert und nicht durchgeführt werden können.
2.7.1 Totenrituale in Mexiko und Guerrero „Tod und Leben treten im alten Mexiko wie vielleicht in keiner anderen Kultur als eine an sich allgegenwärtige und unteilbare Wirklichkeit zutage, wie zwei Erscheinungsformen ein und desselben Antlitzes.“ (León-Portilla 1986: 117)
Die für die mexikanische Gesellschaft bedeutenden Totenrituale weisen eine hybride Verbindung verschiedener Elemente auf. Historische Rekonstruktionen ergeben eine Mischung aus Elementen präkolumbischer mesoamerikanischer Kulturen wie mexicas, teotihuacanas, olmecas, mayas und griechischen, ägyptischen und römischen Elementen eingebunden in den spanischen Katholizismus (vgl. González Villalobos 2009; Navarrete 1993; Brandes 1998, 2006; Lomnitz 2006). Indigene, mestizische und afromestizische Bevölkerungsgruppen feiern mit unterschiedlichen Variationen das jährlich Ende Oktober/Anfang November stattfindende Totenfest, den Díade los Muertos oder Santos Difuntos. In diesem Ritual werden die Toten von den Lebenden empfangen (vgl. Dürr 1996; Carmichael/Sayer 1991). Im Jahr 2003 wurde dieses Fest und Ritual aufgrund seiner Vielfalt und kulturellen Bedeutung von der UNESCO als Obra Maestra del Patrimonio Oral e Immaterial de la Hu-
169 „Qué nos den sus restos, si quiera para que ya el familiar esté consciente a donde están orando sus restos.“ (María Felix Reyes, Atoyac, 2010)
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manidad erklärt (vgl. Guerrero Gómez 2009). Die heute verbreitete Tradition im gesamten Mexiko zum Día de los Muertos Totenschädel aus verschiedensten Materialien (zum Beispiel aus Zuckerguß, Schokolade, Marzipan) anzufertigen und zu verkaufen, war bereits bei den nahuas (Azteken) bekannt. Miguel León Portilla (1986) beschrieb etwa die serienmäßige Herstellung von Totenschädeln aus Ton. Auch in Guerrero ist, sowohl für die indigene Bevölkerung der me´phaa, der naa savi, der nan cue Nomdaa, der nahuas als auch für die afromestizische und mestizische Bevölkerung das Totenfest ein wichtiges Ritual, in dem „man sich in kollektiver Weise und in der Familie organisiert, um ihre heiligen Verstorbenen zu empfangen und mit ihnen Zeit zu verbringen.“170 (Guerrero Gómez 2009: 9). Es werden für die rückkehrenden Toten Altäre in den Häusern aufgebaut (ofrendas), die mesas de honor (Ehrentische) darstellen. Es gibt regionale Variationen der Gaben, die auf diesen ofrendas liegen, allen gemeinsam ist jedoch die Präsenz der vier Grundelemente Wasser (Behälter mit Wasser werden auf die Altäre gestellt), Erde (repräsentiert durch Blumen), Luft (Weihrauch) und Feuer (Kerzen). Neben dem Foto des/der Verstorbenen wird auch Nahrung bereitgestellt. Vor allem jene Speisen und Getränke, welche dem oder der Verstorbenen während ihrer/seiner Lebenszeit besonders geschmeckt haben. Die Nahrungsmittel dienen auch dazu, die Toten zu verköstigen, da sie von ihrem langen Weg aus dem Totenreich erschöpft sind (vgl. Krause 1986). Es sind Tage, die wichtig für das soziale Leben in einer comunidad sind: „[D]iese Tage charakterisieren sich vor allem durch die Ritualisierung und die Hingabe, mit denen die Lebenden mit den Lebenden, und natürlich, mit den Toten zusammen sind.“171 (Guerrero Gómez 2009: 9) Die Friedhöfe und Gräber, die während des restlichen Jahres kaum gepflegt werden, werden an diesen Tagen gesäubert und mit Blumen geschmückt. Bestimmte Blumensorten, vor allem die Blume der Toten cempasúchil (vgl. Carmichael/Sayer 1991), deren Verwendung präkolumbischen Ursprungs ist, werden nur in Zusammenhang mit den Toten verwendet und sind daher auch auf den ofrendas ein wesentlicher Bestandteil. Die gelb-farbige cempasúchil wird eingesetzt, da die Toten die Farbe Gelb besonders gut sehen und die Seelen dadurch zum Haus der Angehörigen geleitet werden können. Wichtig mit diesem Geleit durch die farbigen Blumen ist auch, dass die Seelen nicht nur den Weg zur ofrenda finden, sondern auch wieder zurück zum Grab und somit ins Totenreich (ebd.).
170 „[D]e manera comunitaria y entre familia se organizan para recibir y convivir con sus Santos Difuntos.“ (Guerrero Gómez 2009:9) 171 „[S]obre todo estas fechas se caracterizan por la ritualidad y el fervor de como los vivos conviven con los vivos, y por supuesto, con los muertos.“ (Guerrero Gómez 2009: 9)
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Die Familien gehen zu ihren Toten an die Gräber, empfangen sie, sprechen und feiern mit ihnen, denn „a los difuntitos hay que recibirlos como merecen, porque si no los recibimos cuando nosotros mueramos nadie nos va a hacer fiesta.“ (Guerreo Gómez 2009: 10). Es ist die Reziprozität zwischen den Lebenden und den Toten oder wie Elizabeth Carmichael und Chloé Sayer es ausdrücken: „These worlds of the living and the dead exist in a state of permanent interaction.“ (Carmichael/Sayer 1991: 15). Die Lebenden empfangen die Toten und die Toten werden als lebendes Element betrachtet, welches Einfluss auf den Alltag der Lebenden hat. Mit den Toten feiern, die Toten gebührend empfangen, ihnen an diesem Tag Ehre erweisen, ist also ein wichtiger Aspekt in der Reziprozität zwischen Lebenden und Toten. „Mexicans perceive life and death as indivisible.“ (Brandes 2006: 183) MexikanerInnen begreifen Leben und Tod als unteilbar, also als Teil einer religiösen, spirituellen und sozialen Dimension. Diese Unteilbarkeit und der Umgang der Lebenden mit den Toten drückt sich auch im Buchtitel von Stanley Brandes (2006) aus: Skulls to the Living, Bread to the Dead weist auf das Ritual rund um den Día de los Muertos hin, den Lebenden Totenschädel (zum Beispiel aus Schokolade oder Marzipan) zu schenken und den Toten ein süßes Brot namens pan de muerto (Brot der Toten) auf die ofrenda zu legen. Diese Reziprozität weist auf die zyklische Rückkehr der Toten in den Kreis der Lebenden hin, die dann als Lebende behandelt und symbolisch mit Speisen und Getränken verköstigt werden. Eines der bedeutenden Elemente des México Profundo (Bonfil Batalla 1987) der indigenen und mestizisch ruralen Bevölkerung sind eben diese Totenrituale: „[W]e might say that over time the meaning of death and the nature of mortuary rituals have become central to the construction of what it means to be Mexican.“ (Brandes 2006: 184) Auch der mexikanische Anthropologe Claudio Lomnitz (2006) betont als einen zentralen Aspekt der Identität der mexikanischen Gesellschaft – trotz deren kultureller Heterogenität – die starke Verbindung zu den Toten und den Totenritualen. Umso schwerwiegender erscheint es, wenn diese elementare Verbindung zwischen Lebenden und Toten gestört wird.
2.7.2 Vier Verweigerungen: Permanenz in der Liminalität Was geschieht, wenn die zuvor beschriebene Reziprozität zwischen Lebenden und Toten gestört wird? Beim erzwungenen Verschwindenlassen von Menschen aus einer comunidad und einer Familie wird dieses Verhältnis der Reziprozität beeinträchtigt. Es ist dieser Aspekt, der den Angehörigen besonderes Leid zufügt, ist es doch ein elementarer Eingriff in den mit Normen und Riten geleiteten Lebenszyklus eines Menschen und einer Gemeinschaft. Die Vorstellung der Angehörigen, die mehrheitlich christlichen Glaubens sind, dass ihre Toten keiner muerte christiana
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(christlichen Tod) sterben können, also ihnen der mögliche Eintritt in das göttliche Himmelsreich verwehrt wird, bereitet Leid und Schmerz. Verschwundene sind eine Katastrohpe der Identität, wie Gabriel Gatti (2008) es ausdrückt. Es sind verschiedene Elemente, die diese Identitäts-Katastrophe ausmachen und die im Kontext dieser Untersuchung als unterschiedliche Arten von rituellen Verweigerungen durch die staatliche Praxis bezeichnet werden sollen. Diese Verweigerungen zentraler sozio-religiöser Rituale sind Elemente der symbolischen Dehumanisierung, da dieRepression von den verschwundenen Opfern auf die Angehörigen transferiert wird. Die sich überschneidenden Verweigerungen durch staatliche Praxis sind (1) die Verweigerung von Informationen über die Verschwundenen, (2) die Verweigerung von Trauer, (3) die Verweigerung von Totenritualen und (4) die Verweigerung von Erinnerungsorten.Diese vier Verweigerungen bedingen sich gegenseitig und sind mit wichtigen rituellen Handlungen in jeder Gesellschaft172 verbunden. Die Verweigerung von Informationen über die Verschwundenen geht auch einher mit der Verweigerung der Körper. Ohne Information über den Verbleib der Person und den Zustand des verschwundenen Körpers (tot/lebend) kann trotz Abwesenheit des Angehörigen keine Trauer vollzogen werden. Es können in weiterer Folge also auch keine Totenrituale durchgeführt und keine Erinnerungsorte aufgebaut werden. Im Folgenden sollen anhand von Aussagen von Angehörigen die vier Verweigerungen näher beschrieben werden. Die Verweigerung von Informationen über die Verschwundenen „Warum? Das ist die Frage, die ich mir auch stelle und bis zum heutigen Tage, so viele Jahre sind schon vergangen, kann ich die Antwort nicht finden auf das Warum. Warum haben sie ihn angeschossen? Warum haben sie ihn mitgenommen? Ich finde keine Antwort auf das Warum!“173 (Apolinar Castro Román, Colonia 18 de Mayo, 2009)
172 Auch Keppley Mahmood beschreibt für den Fall des Verschwindenlassens in den indischen Regionen Punjab an Sikhs und in Kaschmir an Muslimen, dass gerade die Unmöglichkeit der richtigen Behandlung der Toten einen gravierenden Eingriff in die kulturellen Dynamiken bedeutet: „Sikhs cremate their dead, while Muslims bury. This implies a somewhat different dynamic of memorialization in the two communities. For Sikhs there are typically memorial services held in honor of the heroic dead every so often after the death, which are the accasions for cementing of continued solidarity. For Muslims, the presence of a burial site forms a geographic, rather tan chronological, center for such solidarity. Both communities are deepley affronted when they are unable to treat the body of a loved one in the proper way;“ (Keppley Mahmood 2000: 78). 173 „¿Por qué? Esa es la pregunta que me hago también y que hasta la fecha, ya han pasado tantos años, no hallo la respuesta, el porqué. ¿Por qué dispararle? ¿Y por qué llevárselo?
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Das Verschwindenlassen eines Menschen bedeutet für die zurückgebliebenen Angehörigen die permanente und unbeantwortet bleibende Frage des Warums, wie Apolinar Castro Román es im obigen Zitat ausdrückt. Die Verweigerung von Informationen über die Verschwundenen zeigt die andauernde Macht der Täter. Die Körper wurden eliminiert und dadurch Beweise für die Tat und die Täter ausgelöscht. Für die Angehörigen ist jedoch die Rückkehr der Verschwundenen oder die Rückgabe der toten Körper zentrales Element ihrer Forderungen. Hier wird die Wichtigkeit des Körpers deutlich. Nur durch die physische Präsenz des Körpers kann den Angehörigen Gewissheit über den Zustand ihrer Verschwundenen gegeben werden. Die Abwesenheit dieses Beweises steht im Zentrum des Leidens, ist doch die Abwesenheit des Körpers mit Ungewissheit und Zweifel verbunden. Apolinar Castro Román sagt: „Das ist es, was noch mehr schmerzt! Weil wenn du sagen könntest, dort haben sie ihn getötet und dort haben sie ihn liegen lassen, dann weißt du wo er ist, und du weißt, wo du um ihn weinen kannst oder wo du mit ihm sprechen kannst. Aber ich weiß nicht mal wo! Ich weiß nicht, wo seine sterblichen Reste geblieben sind. (…) Ich weiß nicht, wo er geblieben ist. Und dass ist es was ich auch wissen will: Wo, wo ist er?“174 (Apolinar Castro Román, Colonia 18 de Mayo, 2009)
In ihren Beschreibungen klingen die weiteren Verweigerungen an – jene der Trauer, den damit verbundenen Totenrituale und den Erinnerungsorten. Die Verweigerung von Totenritualen „Wenn ich ihn nur beerdigen könnte, wie es üblich ist. Damit wäre ich schon beruhigter.“175 (Doña Estela, El Quemado, 2010)
Die Toten zu bestatten, ist wichtiges Element für eine Gemeinschaft und besonders für die Familienangehörigen, um das Ereignis des Todes verarbeiten zu können, wie Doña Estela auch im obigen Zitat beschreibt. Denn eines der „most prominent as-
¡Y no encuentro la respuesta del por qué!“ (Apolinar Castro Román, Colonia 18 de Mayo, 2009) 174 „¡Es lo que todavía duele más! Porque cuando todavía dices, ahí lo mataron, y ahí te lo dejan y sabes donde está, y sabes donde llorarle o vas a hablar con él. ¡Y yo no sé ni donde! Yo no sé donde quedaron sus restos de él. (…) No sé donde quedó. Y eso es también lo que yo quisiera saber, ¿dónde, dónde está?“ (Apolinar Castro Roman, Colonia 18 de Mayo, 2009)
175 „Con solo sepultarlo como debe ser, con eso ya estaría más tranquila.“ (Doña Estela, El Quemado, 2010)
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pects of death is its potential for intense emotional impact on the survivor“ (Metcalf/Huntington 1991: 43). Der Lebenszyklus eines jeden Individuums in einem spezifischen soziokulturellen Kontext wird bestimmt von Ritualen und Zeremonien in bestimmten Phasen seines/ihres Lebens. Allen Ritualen ist gemeinsam, seien es nun Geburts-, Pubertäts-, Hochzeits- oder Bestattungszeremonien, dass sie ein „Individuum aus einer genau definierten Situation in eine andere, ebenso genau definierte Situation hinüber(...)führen.“ (Van Gennep 1909/2005: 15). Wozu inszenieren Menschen nun ein Totenritual? Was ist die Bedeutung für die Hinterbliebenen? Diesen Fragen soll nachgegangen werden, um deutlich zu machen, warum es für die Angehörigen von verschwundenen Opfern schwierig ist, mit dem Fehlen eines derartigen Rituals zu leben. Die Toten zu betrauern, nach dem Tod eines Familienoder Gruppenmitglieds ein Ritual durchzuführen, ist Teil jedes kulturellen Kontextes. Ein Totenritual soll einen Übergang, sowohl der Verstorbenen als auch der Hinterbliebenen, von einem Status in einen anderen, von einer Welt in eine andere Welt begleiten. Es ist sowohl für die Verstorbenen selbst als auch für die Gruppe von Bedeutung, um das soziokulturelle Gefüge der Gruppe ohne das nun fehlende Mitglied zu ordnen. Es ist der Mensch in einer universellen vergleichenden Perspektive jenes Wesen, welches die Verarbeitung des Verlustes eines Angehörigen zu Kultur werden ließ und den Umgang mit dem Tod und den Toten institutionalisiert und ritualisiert hat (vgl. Davies 2002; Robben 2004; Michaels 2005). Der französische Anthropologe Arnold van Gennep prägte im Jahr 1909 das Konzept der rites de passages, der Übergangsriten, die kennzeichnend für alle Rituale – nicht nur für Bestattungsriten – einer Gemeinschaft sind. Diese Übergangsriten teilen sich in drei Phasen: in Trennungsriten (rites de séparation), in Schwellenbzw. Umwandlungsriten (rites de marges) und Angliederungsriten (rites d´agrégation) (Van Gennep 2005/[1909]: 21). Betrachtet man nun Totenrituale im Besonderen, so sind diese ebenso gekennzeichnet durch die Phasen der Trennung, des Schwellenritus (räumlich), der Umwandlung (Zustand) und der schließlichen Angliederung. Anhand von zahlreichen ethnographischen Materials analysierte Van Gennep die Praktiken der verschiedenen Phasen. So lassen sich zum Trennungsritus folgende Praktiken zuordnen: die Art und Weise, den Leichnam aus dem Haus zu bringen, Verbrennen von Besitz des Toten, Waschungen, Salbungen, Reinigunsriten oder auch Tabus aller Art, die mit dem Toten in Verbindung stehen. Räumliche Praktiken der Trennung sind die Bestattung der Toten abseits des Wohnraumes der Gemeinschaft, so etwa in einem Grab, Sarg, Friedhof oder auf einem Baum. Das Schließen des Sarges oder des Grabes bildet hier den Abschluss des Trennungsritus. Die Umwandlungsphase während der Bestattungsriten ist ebenfalls gekennzeichnet durch Räumlichkeit. So wird der Leichnam zunächst etwa im Haus des Verstorbenen aufgebahrt, bevor dieser zur letzten Ruhestätte gebracht wird. Der Angliederungsritus ist in weiterer Folge etwa das gemeinsame Mahl, das nach der Bestattung eingenommen wird und wo alle Mitglieder der Gruppe, des Dorfes, der Familie zu-
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sammen essen. Es soll laut Van Gennep die Verbindung zwischen den überlebenden Mitgliedern der Gruppe erneuern und die Verbindung zum Verstorbenen aufrechterhalten. Dieses Mahl findet häufig auch nochmals nach dem Ende der Trauerzeit statt (ebd.: 158 f.). Wird nun das wichtige Totenritual durch das Fehlen der Körper verweigert, wird damit auch in weiterer Folge der Prozess des Trauerns verunmöglicht. Die Verweigerung von Trauer Die Toten bekommen durch das Totenritual einen festgelegten Ort (vgl. Michaels 2005). Die Toten sind aber erst dann tot, wenn die Hinterbliebenen sie sterben lassen, also durch einen rituellen Trauerprozess gegangen sind und dieser abgeschlossen werden konnte. Trauer ist so das psychosoziale Korrelat der Verwesung der Körper (Macho zit. in: Michaels 2005: 11). Der Prozess der Trauer und vor allem der Abschluss des Trauerprozesses spielen deshalb für die Hinterbliebenen eine wichtige Rolle: „Trauerriten führen zur Realität des Todes, liefern Verhaltenshilfen und spenden Trost. Sie geben Möglichkeiten und Grenzen an, Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Sie ermöglichen es, das Gefühlspotential wieder sozialen Beziehungen zuzuführen, und erleichtern auf diese Weise den Wiedereintritt in das soziale Leben.“ (Wendt zit. in: Michaels 2005: 7).
Die Trauerzeit ist eine wichtige Phase für die Hinterbliebenen und Teil einer Umwandlungsphase, in die sie mit Hilfe von Trennungsriten eintreten und anschließend mit Hilfe von Reintegrationsriten in die Gesellschaft wieder heraustreten. Trauer hat, wie Van Gennep (2005/[1909]) in seiner Analyse zu Totenritualen feststellte, eine zentrale Bedeutung in der Transitionsphase: „Die Trauerzeit (…) ist für die Hinterbliebenen eine Umwandlungsphase, in die sie mit Hilfe von Trennungsriten eintreten und aus der sie mit Hilfe von an die Gesellschaft wieder angliedernden Reintegrationsriten (Riten, die die Trauerzeit aufheben) heraustreten. In einigen Fällen stellt diese Umwandlungsphase der Lebenden das genaue Gegenstück zur Umwandlungsphase der Toten dar, dann nämlich, wenn das Ende der Trauerzeit zeitlich mit der abgeschlossenen Angliederung des Toten an das Totenreich zusammenfällt.“ (Van Gennep (2005/[1909]: 143)
In manchen Fällen stellt diese Umwandlungsphase der Lebenden das Gegenstück zur Umwandlungsphase der Toten dar. Also erst dann, wenn die Seele des Toten in das Totenreich gelangt ist, ist auch die Umwandlungszeit oder die Trauerzeit für die Lebenden beendet. In der Trauerzeit befinden sich die Verwandten und besonders die/der Witwe/r in einer besonderen Zwischensphäre, die von verschiedenen Regeln
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geprägt ist. So zum Beispiel das Tragen einer bestimmten Kleidung, bestimmte Tabus oder der Ausschluss vom sozialen Leben (ebd.: 143 f.). Die Aufhebung dieser Regeln ist nach einem festgelegten Zeitraum von bestimmten Praktiken gekennzeichnet, die als Angliederungs- oder Reintegrationsriten bezeichnet werden. Durch die Angliederung wird das hinterbliebene Familienmitglied auch seiner neuen sozialen Rolle zugeführt, also zum Beispiel bei Ehefrauen als Witwe oder bei Kindern als Waisen. Im Falle der Verschwundenen wird den Angehörigen der Trauerprozess verweigert. Ein Trauerprozess kann nicht eintreten, da die Angehörigen im Ungewissen gelassen werden, ob der Angehörige lebt oder tot ist. Der Trauerprozess kann aber erst dann eintreten, wenn sie Gewissheit haben, dass der Verschwundene tot und auch der Leichnam oder die sterblichen Überreste im Besitz der Familie sind. Geschieht dies nicht, kann auch kein psychosozial bedeutsamer Trauerprozess durchgeführt werden. Ebensowenig kann ein neuer sozialer Status in der Gesellschaft festgesetzt werden, sowohl für die Verschwundenen als Tote als auch für die Lebenden etwa als Witwen oder Waisen. Mit der Verweigerung von Toten- und Trauerritualen geht auch die Verweigerung von Erinnerungsorten einher. Die Verweigerung von Erinnerungsorten „[W]enn du weißt, wo er ist, weißt du, wo du um ihn weinen kannst oder wo du mit ihm sprechen kannst.”176 (Apolinar Castro Román, Colonia 18 de Mayo, 2009)
Apolinar Castro Román drückt den Wunsch nach einem Ort für sie und ihren verschwundenen Mann aus. Sie weist damit auf die Bedeutung hin, die ein adäquater Ort der Toten für die Hinterbliebenen hat. Hätte sie die Gewissheit über den Verbleib des Körpers an einem bestimmten Ort, könnte sie an dieser Stelle um ihn weinen, um ihn trauern, mit ihm reden und so wäre auch der Verlust erträglicher. Gibt es keine Totenrituale können schließlich auch keine Erinnerungsorte in Form von Gräbern entstehen. Wozu sind nun aber Erinnerungsorte wichtig? Orte der Erinnerung an die Toten sind ein wichtiges Element für die Angehörigen und die Gemeinschaft, aus der die Toten gegangen sind oder genommen wurden. An diesen Orten kann eine Verbindung der Lebenden und der Toten stattfinden, ein Aspekt der Reziprozität, der im Falle Mexikos besondere soziokulturelle Bedeutung zukommt, wie gezeigt wurde (vgl. Kap. 2.7.1). An einem Erinnerungsort kann Kommunikation mit den Verstorbenen aufgenommen werden, er/sie ist trotz der Abwesenheit für einen Moment präsent. Rituelle Objekte, wie Kerzen, Blumen, Speisen können den
176 [S]abes donde está, y sabes donde llorarle o vas a hablar con él.“ (Apolinar Castro Román, Colonia 18 de Mayo, 2009)
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Toten gereicht werden. Ein Erinnerungsort ist ein Ort der Gewissheit, der Sicherheit und des Beweises, dass der verstorbene Angehörige weiterhin präsent ist in der Gemeinschaft der Lebenden, wenn auch mit einem veränderten sozialen Status. Diese Möglichkeit der Erinnerung bleibt verwehrt. Das fehlende Abschiedsritual und der fehlende Erinnerungsort bereiten den Angehörigen Schmerz: „Und ich sage, dass jeder auf der Welt jemanden hat, einen geliebten Menschen, der von dieser Welt geht, und dann sagst du, gut, ich gehe zum Friedhof, um X zu sehen, und dort ist er. Aber so, so nicht! Mich hat es viel gekostet, denn ich habe ihn immer noch hier [greift sich auf die Brust, das Herz]. Hier habe ich ihn im Kopf und so. Manchmal schlafe ich ein und ich denke nicht an ihn, aber dann träume ich von ihm, und ich träume, dass er kommt.“177 (Apolinar Castro Román, Colonia 18 de Mayo, 2008)
In diesem Fehlen eines Erinnerungsortes, um Gewissheit über den Verbleib des Verschwundenen zu haben, zeigt sich auch, in den Worten von Castro Román, die ständige Präsenz der Abwesenheit. Das dialektische Verhältnis von Anwesenheit und Abwesenheit, von permanentem Schwenken zwischen Denken und Fühlen des Undenkbaren, des Unsagbaren, des Ungewissen macht die Verschwundenen für die Angehörigen zu einer besonders dramatischen Konsequenz eines Konfliktes. Wird einer Gemeinschaft, einer Familie oder einem Individuum in einem Kontext von Gewalt das Totenritual verweigert, kommt es zu starken emotionalen Traumata bei den Hinterbliebenen. Antonius Robben drückt dies als einen Akt der Dehumanisierung und Desozialisierung aus: „The unceremonial burial or cremation was the final act of dehumanization and desocialization. The dead persons were not acknowledged as human beings who deserved a proper ritual reincorporating them into society as deceased persons. In other words, the dumping of the dead denied their humanity, and disavowed their death as a loss of society, a loss which could not be commemorated by relatives and comrades. Such concealment served to doubly harm the surviving relatives.“ (Robben 2005: 269)
Es wurde bereits im vorigen Kapitel erwähnt, dass jene Phase der Übergangsriten nach dem Trennungsritus der Übergangs- oder Schwellenzustand ist. Es ist jene
177 „Y le digo que todo el mundo tiene alguien, un ser querido que se va de este mundo [...], dices, bueno, voy al panteón a ver a fulano y ahí está. ¡Pero así, pues no! A mi me ha pasado mucho trabajo porque yo aquí lo tengo [greift sich auf die Brust, das Herz], aquí lo tengo en la mente y así. A veces yo me duermo y no estoy pensando en él, pero yo lo sueño, yo lo sueño que llega.“ (Apolinar Castro Román, Colonia 18 de Mayo, 2008)
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Phase des Totenrituals, in der der Tote nicht mehr bei den Lebenden, aber auch noch nicht im Reich der Toten angekommen ist, sich also in einem Übergangszustand befindet. Dies gilt ebenso für die Angehörigen, auch sie befinden sich in dieser Phase des Ritus in einer Übergangs- und in einem Schwellenzustand, um dann in einer weiteren Phase nach einem bestimmten Zeitraum durch verschiedene kulturelle Praktiken wieder in die Gemeinschaft reintegriert zu werden. Wendet man nun dieses Konzept der Abfolge der Übergangsriten in abgeänderter Form auf den Fall des erzwungenen Verschwindenlassens an, kann nun Folgendes festgestellt werden. Ein Mitglied einer Familie und einer sozialen Gruppe wird durch die Praxis des erzwungenen Verschwindenlassens von den übrigen Mitgliedern der Gruppe getrennt. Der/die Verschwundene wird überführt an einen für die Familie unbekannten Ort und in weiterer Folge an einem unbekannten Ort behalten. Sowohl das Opfer als auch die Angehörigen befinden sich nach dieser gewaltsam erzwungenen und unfreiwilligen Trennung in einem Schwellenzustand. Dem Opfer des Verschwindenlassens wird es unmöglich gemacht, wieder zurückzukehren und in die Gemeinschaft einzutreten. Weder als lebender Mensch, noch nach seinem Tod, um einem für die Gemeinschaft wichtigen Bestattungsritual unterzogen zu werden. Dieser Verbleib in einem Schwellenzustand hat dabei auch bei vielen Angehörigen körperliche, also physische und psychische Auswirkungen, die im Folgenden skizziert werden sollen.
2.7.3 Physische, psychische und soziale Auswirkungen der Verweigerungen „Und dann wurde sie krank. Du weißt ja, das sind Dinge, die die Seele verletzen, es sind Dinge, die den Körper schädigen und da kommen die chronischen Krankheiten. Sie fing an zu leiden, sie bekam Diabetes, sie hatte eine Niereninsuffizienz.“178 (María Felix Reyes, Tochter eines Verschwundenen über ihre Mutter, Atoyac 2010)
Diese Dinge – das Verschwindenlassen und die Folgen – sind Ereignisse, die die Seele verletzen, wie Felix Reyes über ihre Mutter sagt. Das Ereignis, das Auslöser für viele physische und psychische Krankheiten ist, wird bei vielen Angehörigen mit dem bei den mestizischen und indigenen Kleinbauern und -bäuerinnen im mesoamerikanischen Raum verbreiteten Konzept des susto umschrieben. Susto ist ein
178 „Pues se enfermó. Ya ves que esas son cosas que te afectan el alma, son cosas que te dañan el cuerpo, y es donde vienen las enfermedades crónicas. Empezó a padecer, le cayó diabetes, tuvo insuficiencia renal.“ (María Felix Reyes, Tochter eines Verschwundenen über ihre Mutter, Atoyac 2010)
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mit Angst und/oder Gewalt verbundenes Erschrecken, das Auswirkungen auf Körper und Seele hat. Es ist der Verlust der essentiellen Lebenskraft als Folge eines Erschreckens (vgl. Green 1994). Apolinar Castro Román nennt susto als den Auslöser dafür, dass sie ihr Kind während der Schwangerschaft verlor. Der susto war die Tatsache, dass sie–ohne etwas tun zu können – mitansehen musste, als ihr Mann im Jahr 1974 in Atoyac auf offener Straße von unbekannten Tätern angeschossen, in ein Auto gezerrt und daraufhin verschleppt und verschwinden gelassen wurde. Die darauf folgende chronische Ungewissheit, die Permanenz eines krisenhaften Schwellenzustands, hatte bei ihr und anderen vielfache Krankheiten zur Folge. Es kann dies als die Körperlichkeit von Gewalt bezeichnet werden, wie Linda Green es ausdrückt: „The invisible violence of fear and terror becomes visible in the sufferings and sicknesses of the body, mind, and spirit [...]“ (Green 1994: 247). So erinnerte sich Apolinar Castro Román an die Auswirkungen, die die Verschleppung ihres Sohnes auf ihre Schwiegermutter hatte: „Meine Schwiegermutter hat als Konsequenz davon zum Alkohol gegriffen (…). Sie hat zum Alkohol gegriffen wegen des Schmerzes, der Enttäuschung, denn obwohl wir immer nach ihm [den Sohn und Ehemann] suchten, haben wir nie etwas über ihn erfahren (…).“ 179 (Apolinar Castro Román, Colonia 18 de Mayo, 2009)
Antonius Robben und Marcelo Suárez-Orozco, Anthropologen, die sich mit den Folgen des Schmutzigen Krieges in Argentinien beschäftigen, plädieren für eine interdisziplinäre Kooperation zwischen Anthropologie und Psychologie in der Analyse von Postkonfliktgesellschaften. Da sich diese durch die Existenz von traumatisierten Opfern charakterisiert, können solche Gesellschaften nur durch eine Verbindung der individuellen psychologischen Traumata mit den sozialen und kulturellen Transformationen verstanden werden (vgl. Robben/Súarez Orozco 2000). Kollektive Gewalt, direkte und indirekte Gewalt (im Falle des Verschwindenlassens gegenüber den Angehörigen) führen zu individuellen Traumata, die jedoch zu kollektiven, sozialen Traumata einer ganzen Bevölkerungsgruppe führen können. In Konfliktsituationen kann das Individuum, Gegenstand der Psychologie, nicht ohne die Verbindung zum sozialen und kulturellen Kontext verstanden werden und umgekehrt, der soziale und kulturelle Kontext nicht ohne das Verständnis individueller Ebenen von Traumata in einer Gesellschaft. Im Besonderen ist für ein Verständnis dieser Prozesse ein Blick auf einen Teilbereich der Psychologie zu werfen: „Understanding how people remember trauma requires familiarity with the science of
179 „Mi suegra, a consecuencia de eso, agarró mucho la bebedera (...). Agarró la bebedera del dolor, la decepción, porque por más que anduvimos nunca supimos nada de él (…).“ (Apolinar Castro Román, Colonia 18 de Mayo, 2009)
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human memory.“ (McNally 2003: 27) Viele der Angehörigen der Verschwundenen als auch die Folteropfer leiden an Posttraumatic Stress Disorder (PTSD), eine psychische Störung, die 1980 von der American Psychiatric Association offiziell anerkannt wurde. Seither gibt es eine Debatte darüber, ob PTSD nur eine soziale Konstruktion des Westens sei oder auch bei nicht-westlichen Kulturen identifiziert werden könne. Andy Desjarlais schreibt dazu: „Psychiatric anthropologists have had little difficulty identifying sources of trauma throughout the world. But debate abounds regarding how well Western concepts of PTSD fit the responses to horrific events in other cultures. In fact, many human rights advocates vigorously object to diagnosing PTSD among torture survivors because they believe that medicalizing the problem misdirects attention away from the perpetratos of institutionalized violence.“ (Desjarlais zit. in: McNally 2003: 282).
Eine rein medizinische Diagnose von den Auswirkungen von Gewalt auf Opfer als PTSD wird also in Kontexten von staatlicher Gewalt oft von Menschenrechtsorganisationen und Opfern abgelehnt, da es den Blick von der Verantwortung der Täter weglenkt. Nichtsdestotrotz sollen für ein umfassendes Verständnis der Auswirkungen von staatsterroristischer Praxis auf die Opfer einige Symptome von PTSD aufgezeigt werden, da diese auch bei Angehörigen in Guerrero beschrieben werden. Davon erzählte zum Beispiel auch die mexikanische Psychologin Ximena Antillón, die die Angehörigen der Familie von Rosendo Radilla (vgl. Kap. 5.3.1) betreut. McNally beschreibt drei Cluster von Symptomen von PTSD: „The first cluster comprised reexperiencing symptoms, such as having recurrent intrusive recollections and dreams about the trauma and suddenly acting and feeling as if it were happening again [...]. Rather than merely remembering the trauma, sufferers seemed to relive it again and again as if it were happening in the present.“ (McNally 2003: 8)
In den testimonies der Angehörigen und der Folteropfer ist immer wieder die Rede von diesen Phänomenen. So beschreibt etwa Doña Gregoria, die Schwester eines Verschwundenen: „Jeden Tag kommt es wieder, es ist als wäre es gestern gewesen. Ich habe es immer vor mir.“ (Doña Gregoria, Atoyac, 2009) Das zweite und dritte Cluster der Symptome umfasst: „[N]umbing symptoms, such as blunted emotion, feelings of estrangement from others, and loss of interest in formerly enjoyable activities. The third cluster comprised miscellaneous symptoms, including hypervigilance for threat, enhanced startle response, sleep disturbance, memory and concentration impairment, avoidance of distressing reminders of the trauma, and guilt about having survived when others did not.“ (McNally 2003: 8)
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Angehörige berichten von diesen Symptomen, ohne eine Kenntnis dieser wissenschaftlichen, psychologischen Konzepte und Kategorien zu haben. Angstzustände, Interesselosigkeit, Schlafstörungen oder chronische Krankheiten quälen die Opfer, die sie im lokalen Kontext selbst als Auwirkungen von susto bezeichnen. Ein Konzept, das zu Beginn dieses Kapitels skizziert wurde. Bis in die Gegenwart kreisen die Erinnerungen permanent um die Frage des unerklärbaren und unfassbaren Warums der vergangenen Geschehnisse. Diese persisting memories der Opfer von Gewalt, wie im Fall der Angehörigen in Guerrero, sind eine Konsequenz von Gewalt, Krieg, Vergewaltigung, Inhaftierung oder Folter. Daniel Schacter beschreibt diese Form von Erinnerung als intrusive memories: „The intrusive memories that result from such experiences usually take the form of vivid perceptual images, sometimes preserving in minute detail the very features of a trauma which survivors would most like to forget. (…) For some people, the force of a traumatic event is so compelling that they become ,stuck‘ in the past.“ (Schacter 2001: 174f.)
Dieses Element des „in der Vergangenheit stecken bleiben“, ist bei Opfern von Gewalttaten, auch in Guerrero, beobachtbar. An der Traumaforschung im Kontext von staatlicher Repression lässt sich jedoch kritisieren, dass sie zu einseitig das individuelle isolierte Opfer sieht und nicht den politischen Kontext der Repression und der Täter. Eine Traumaforschung, die auf Aufarbeitung und Vergessen auf einer individuellen Ebene abzielt, ist für viele Opfer staatlicher Gewalt gerade nicht hilfreich. Sie wollen meist nicht vergessen, sondern aktiv erinnern und erinnert werden. Die Forderungen der Opfer nach Entschädigungen, nach Wahrheit, nach Gerechtigkeit haben also nicht mit einem stuck in the past zu tun – wie viele KritikerInnen180 der Opfer meinen –, sondern mit einer aus der Perspektive der Opfer gerechten Zusammenführung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die Vergangenheit soll aufgearbeitet werden im Sinne eines in der Gegenwart aktiven und kollektiven Erinnerns, eines Anerkennens der Ereignisse der Vergangenheit, um in weiterer Folge eine zukünftige Transformation auf individueller und sozialer Ebene zu schaffen. In der aktiven Erinnerung an die traumatischen Ereignisse verdichtet sich also hier Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft für die Opfer. „Our chances of becoming chronically plagued by persistence depend in part on what happens after an adverse experience.“ (Ebd.: 165) Ein wiederholtes Wieder-Erleben einer traumatischen Erinnerung in einem sicheren Rahmen kann die anfänglichen Reaktionen auf das Trauma schwächen. In der Psychologie spricht man
180 In informellen Gesprächen in Mexiko hört man oftmals von nicht Betroffenen des Schmutzigen Krieges, dass die Angehörigen der Verschwundenen doch endlich die Vergangenheit ruhen lassen und in die Zukunft blicken sollten.
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dabei von habituation. Wird dies jedoch nicht gemacht, kommt es meist zu einer Erhöhung der Persistenz dieser traumatischen Erinnerungen (vgl. ebd.: 177). Im Fall der Opfer in Guerrero kann diese Persistenz der Erinnerung beobachtet werden, nicht jedoch, weil die Opfer selbst ihre Erinnerungen nicht aussprechen wollten, sondern weil gerade diese sicheren Rahmenbedingungen im Sinne einer politischen Aufarbeitung gefehlt haben, die notwendig sind, um das Trauma zu schwächen. Aufgrund der Angst vor weiterer Repression, der Straflosigkeit der Täter, dem Schweigen der Regierung haben viele Opfer über Jahre nicht über ihre Erlebnisse gesprochen. Der einzige sichere Rahmen stellte die Kommunikation mit den anderen Angehörigen über die eigenen Erlebnisse und die kollektiven politischen Handlungen der Proteste dar. Judith L. Herman beschreibt einen wichtigen Prozess in der Aufarbeitung: „Trauma robs the victim of a sense of power and control over her own life; therefore, the guiding principle of recovery is to restore power and control to the survivor.“ (Herman 1998: 146) Den Versuch, Macht und Kontrolle wieder zu erlangen, haben die Opfer durch die Vernetzung mit anderen unternommen. Wie wichtig für die traumatisierten Opfer die Kommunikation mit anderen Opfern ist, hat der Psychiater Stevan Weine in einem anderen Konfliktkontext im Rahmen der sogenannten testimony therapy beschrieben. Weine arbeitete mit bosnischen Kriegsflüchtlingen und etablierte die Form der testimony therapy, in der Überlebende von Gewalttaten ihre Erlebnisse erzählen. Dadurch entsteht eine Vernetzung des individuellen Leidens mit dem kollektiven Leiden: „[S]urvivors retell und relive their traumatic experiences and try to relate them to the traumas suffered by others in their society. (…) The core experiences of psychological trauma are disempowerment and disconnection from others. Recovery therefore is based upon empowerment of the survivor and the creation of new connections.“ (Weine zit. in: Schacter 2001: 178)
Eine solche Vernetzung der traumatischen Erinnerungen bildet auch im Fall der Angehörigen in Guerrero einen zentralen Aspekt des Handelns. Obwohl keiner der Opfer psychotherapeutische Behandlungen in Anspruch nimmt, entstand durch die Vernetzung der individuellen testimonios, die zunächst nur im kleinen und vertrauten Kreis erzählt wurden, eine gemeinsame soziale Erinnerung, die ein gemeinsames kollektives Leiden ausdrückt. Durch dieses Bewusstsein einer gemeinsamen Erfahrung entstand eine Identifikationsgruppe, in der jedes Mitglied die gemeinsame Identität eines Angehörigen eines Verschwundenen hat. Die These ist, dass sich durch diesen Prozess der Kommunikation über das Leid, des Austausches von traumatischen Erinnerungen über Erfahrungen von Gewalt, soziale Erinnerung entwickelte, die zu den politischen Handlungen der Angehörigen führte. Der indivi-
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duelle Hintergrund der Konstruktion der sozialen Erinnerungsgruppen bleibt jedoch, wie Beatriz Manz beschreibt, eine psychische Einschreibung von Gewalt: „Individuals carry on daily activities under the shadow of past violence and an uncertain future; insecurity hangs over the heart and mind. The psychological imprint of violence is not easily annulled – it may be transformed, reshaped, at times repressed, but it stays with those traumatized by the experience.“ (Manz 2005: 246)
Die wiederholten Beschreibungen der Angehörigen der Verschwunden von „der Wunde, die sich nicht schließen wird“ (herida que nunca va a cerrar) oder des „Schmerzes, der die Brust durchquert“ (dolor que atraviesa el pecho) zeugen von der Verbindung des psychischen Leidens mit körperbezogenen Ausdrücken und weisen auf die zentrale Verbindung von Erinnerung an Gewalt und Körperlichkeit hin: „Die Körperlichkeit der Erinnerung ist zentral und die Verbindung zwischen dieser und dem Körper wird bereits ausgedrückt durch die lateinische Wurzel von ,testesұ, von dem (…) das Wort ,Zeugeұ abstammt.“181 (Theidon 2004: 76) Es ist der Körper, der die Erfahrung von Gewalt trägt, und es ist die Permanenz dieser Erfahrung, die Teil der Identität der Opfer wird. Linda Green (1994) bezeichnet die Erfahrung von Gewalt und den Ausdruck dieser durch den Körper als embodiment of violence, als Verkörperung der Gewalt. Erfahrungen drücken sich also durch und am Körper aus. Psychische und physische Krankheiten, Schweigen und Sprechen über Gewalt sind Teil dieser Verkörperung. „[D]eren Körper tragen die das ganze Leben lang akkumulierten Erfahrungen“182, so Kimberly Theidon (2004: 76). Viele Angehörige von Verschwundenen in Atoyac sprechen davon, dass sie seit der Verschleppung ihrer Angehörigen auch physisch und psychisch krank seien. Sie erzählen dabei von einem Ereignis des susto und den Auswirkungen davon. Susto ist ein verbreitetes Konzept und Phänomen im mesoamerikanischen Raum. Es bezeichnet ein körperliches und seelisches Leiden, das durch ein bestimmtes schockartiges Ereignis ausgelöst wurde. Dies kann ein mit Gewalt verbundener Moment sein, ein Erschrecken oder Angst vor etwas. Viele Menschen der Sierravon Atoyac erzählen von sustos, die sich in körperlichen Leiden wie Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit, Schwindel, Schwäche, Magenschmerzen oder anderen Symptomen ausdrücken. Diese lassen sie oft von traditionellen HeilerInnen in den Dörfern behandeln, die mestizischer oder indigener Herkunft sind und verschiedene Heilrituale einset-
181 „La corporalidad de la memoria es central y el vinculo entre ésta y el cuerpo está ya articulado en la raíz Latina ,testesދ, de donde proviene (…) la palabra ,testigoދ.“ (Theidon 2004: 76) 182 „[S]u cuerpo lleva las experiencias acumuladas a lo largo de la vida“ (Theidon 2004: 76)
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zen. In der westlichen medizinischen Tradition würde man dieses susto-Konzept wohl am ehesten mit dem Begriff des Traumas vergleichen. Narrationen der Gewalt sind so auch im sozio-kulturellen Kontext Mexikos Ausdruck von „Trauma (…) und anderen modernen Dingen“183, wie Theidon (2004: 91) es formulierte. Durch die ständige Ungewissheit und die Verweigerungen der Riten gab es Auswirkungen auch hinsichtlich neuer sozialer Rollen. Es war dies die Unmöglichkeit bei vielen Angehörigen, den Eintritt in einen neuen Status anzunehmen. So kann zum Beispiel den Ehefrauen der Verschwundenen als Teil einer sozialen Gruppe weder der eindeutige Status als Ehefrau noch als Witwe oder den Kindern der Verschwundenen nicht der Status der Waisen zugeschrieben werden. Es ist keine neue soziale Rolle festzulegen, da der Zustand des Verschwundenen ungewiss ist. Ist er verschwunden und noch lebendig, ist die Frau zwar noch die Ehefrau, aber nur als eine in der Vergangenheit festgelegten Rolle, nicht aber in der gegenwärtigen praktizierten Realität. Ist der Verschwundene wahrscheinlich tot, kann dennoch die Frau offiziell nicht als Witwe bezeichnet werden, da es keine Gewissheit über den realen Tod des Mannes gibt. María Felix Reyes erzählt, dass ihre verstorbene Mutter seit der Verschleppung ihres Mannes im Jahr 1974 nie wieder mit einem anderen Mann zusammen war, obwohl sie damals noch sehr jung war:„Und meine Mutter hat durchgehalten. Meine Mutter war erst 35 Jahre alt. Sie war sehr jung. Und so verblieb sie, hier hat sie die ganze Zeit durchgehalten. (…) Und sie sagte zu uns (…), vielleicht erscheint eines Tages euer Vater!“184 (María Felix Reyes, Atoyac, 2010) Dieses aguantar (etwas aushalten) bezieht sie dabei auf einen mit psychischem Leid verbundenen Zustand. Als einem Zustand, in dem man verbleibt und verweilen muss, weil der Eintritt in eine neue soziale Rolle, in eine neue Phase nicht möglich ist. War es in vielen Fällen die Frau selbst, die die Entscheidung traf, alleine zu bleiben, war es in anderen Fällen sozialer Druck. Es war oft auch sozial unerwünscht, dass eine Frau wieder heiratete. Der Druck der Familie war groß, sodass die hinterbliebenen Frauen oft alleine blieben. Haben sie dennoch wieder geheiratet, ging dies in manchen Fällen mit sozialer Ächtung einher. So sagt Romana Bello Cabañas mit Unverständnis und Empörung, dass die Frau ihres verschleppten Sohnes nach etwa vier Jahren einen anderen Mann geheiratet hat und sie selbst dann die Enkelkinder aufgezogen habe: „Sie hätte durchhalten sollen, viele Frauen haben
183 „[T]rauma (…) y de otras cosas modernas“ Theidon (2004: 91). 184 „Y mi mamá se quedó firme. Mi mamá se quedó de 35 años. Bien joven quedó. Y ahi quedó, aqui se aguantó todo el tiempo. (…) Y ella nos decía (…), ¡algun día a lo mejor tu padre aparece!“ (María Felix Reyes, Atoyac, 2010)
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durchgehalten!“185 (Romana Bello Cabañas, El Ticui, 2010) Druck entstand so auch oftmals von familiärer Seite auf die Töchter oder Schwiegertöchter, die alleine bleiben und nicht mehr heiraten sollten, solange das Schicksal des verschwundenen Mannes nicht geklärt war. Die Kleinbäuerin Doña Monica aus der comunidad San Martín de las Flores erzählt, dass sie selbst die Entscheidung traf, nicht mehr zu heiraten. Sie habe seit dem Jahr 1974, das Jahr der Verhaftung und des Verschwindenlassens ihres Mannes, selbst ihre Kinder ernährt und das Maisfeld bestellt. Sie habe gelernt, die Arbeiten des Mannes zu machen. Manchmal habe sie auch Hilfe von männlichen Verwandten bekommen oder sie habe peones (Hilfsarbeiter) engagiert. Da sie jedoch oftmals kein Geld für die Bezahlung von externen Arbeitskräften hatte, habe sie die Arbeit meist selbst gemacht. Auf die Frage, warum sie angesichts der Schwierigkeiten, all die landwirtschaftlichen Arbeiten alleine machen zu müssen, nicht wieder geheiratet hätte, antwortete sie: „Ich habe nicht wieder geheiratet, da mein Mann ja wieder zurückkommen könnte. Ich bin auch deswegen nie weggezogen. Es könnte ja sein, dass er mich sucht. Und was ist dann, wenn ich nicht da bin? Er findet mich ja sonst nicht. Ich hätte vielleicht wieder geheiratet, wenn ich Erde auf das Grab meines Mannes hätte werfen können. Dann hätte ich zumindest Gewissheit, dass er tot ist, aber so weiß ich es ja nicht!“186 (Doña Mónica, San Martín de las Flores, 2007)
Die vier zuvor beschriebenen Verweigerungen von Informationen über die Verschwundenen, von Trauer und Totenritualen sowie von Erinnerungsorten und die damit verbundene Permanenz in der Statuslosigkeit, hatten also Auswirkungen auf verschiedenen Ebenen, die physischer, psychischer, sozialer und ökonomischer Art sind und bis in die Gegenwart reichen. Die Verweigerungen lösten aber auch einen Transformationsprozess bei den Angehörigen hinsichtlich einer veränderten sozialen und politischen Praxis aus. Die Statuslosigkeit ist es, die zu neuen Ritualen, zu neuem symbolische, rituellen und politischen Handeln führte. Die Elemente und Aspekte dieses Transformationsprozesses in der Gruppe der Angehörigen, der im
185 „¡Qué se hubiera aguantado, muchas mujeres se aguantaron!“ (Romana Bello Cabañas, El Ticui, 2010) 186 „Ya no me casé porque mi esposo podía regresar. Por eso tambien nunca me fui de ahí. Porque a lo mejor me busca. Y que pasaría si no estoy? No me encontraría. A lo mejor me hubiera casado si hubiera echado tierra sobre la tumba de mi esposo. Solo ahí hubiera tenido la certeza de que está muerto, ¡pero así, no lo sé!“ (Doña Mónica, San Martín de las Flores, 2007)
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Kontext dieser Arbeit als Prozess derRehumanisierung bezeichnet wird, soll in Teil II eingehender beschrieben werden.
Zwischenfazit: Dehumanisierung „Das Wichtige ist Vorzubeugen. Jeder Inkonforme ist ein Feind, seine Familie auch. Und plötzlich, eines Tages, hört er auf, unter uns zu sein.“1 (Poniatowska 1980: 138)
Im ersten Teil der vorliegenden Untersuchung wurden Elemente und Strategien der Dehumanisierung von Seiten staatlicher Akteure im Kontext des Schmutzigen Krieges in Mexiko beschrieben. Der Dehumanisierungsprozess begann allerdings bereits vor dem Schmutzigen Krieg durch Prozesse struktureller Gewalt, in denen die Kleinbauern der Sierra de Atoyac in Strukturen sozialer, politischer und ökonomischer Ungleichheit durch lokale Kaziken und deren staatliche Verbündete marginalisiert wurden. Auf jeden individuellen oder kollektiven Widerstand und Protest, um auf diese soziale Ungleichheit aufmerksam zu machen, wurde mit direkter Gewalt begegnet. Mit dem Beginn des bewaffneten Widerstandes der Partei der Armen ab dem Jahr 1967 (vgl. Kap. 2.2) wurden all jene, die potentiell mit diesen in Verbindung standen, zu internen politischen FeindInnen. In diesem Konstruktionsprozess, der in den öffentlichen Diskurs einging, wurden den Mitgliedern und SympathisantInnen der Partei der Armen menschliche Qualitäten abgesprochen. Es war symbolische Gewalt, der ein Einimpfen des Bösen, wie Nagengast es nannte, vorausging: „Such inoculations of evil are crucial to human rights violations because they become part of socially accepted notions of common sense, a kind of social knowledge of the ,everyone knows ދvariety that enters public discourse and helps build popular consensus around who and what is suspect, who and what ought to be repressed, what constitutes difference and how the state ought to control it.“ (Nagengast 2002: 339)
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„Lo importante es prevenir. Cualquier inconforme es un enemigo, su familia tambien y un dia sin más, de pronto, deja de estar entre nosotros.“ (Poniatowska 1980: 138)
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Die Verdächtigen der Sierra de Atoyac wurden zu kriminellen und schmutzigen Elementen der Gesellschaft degradiert, die mit Tier-Attributen und nichtmenschlichen Charakteristika versehen wurden. Dies ermöglichte in weiterer Folge die menschenunwürdige Behandlung der ausgewählten Personen und deren sozialem Umfeld und das erzwungene Verschwindenlassen durch staatliche und parastaatliche Akteure. Prozesse der Dehumanisierung im Kontext des erzwungenen Verschwindenlassens beinhalten zwei Aspekte: Es ist einerseits konkrete Dehumanisierung und andererseits symbolische Dehumanisierung. Es wurde dabei unterschieden zwischen zwei Zielgruppen: einerseits konkrete Dehumanisierung, welche den Gewaltakt an den Verschleppten und Verschwundenen selbst bezeichnet und andererseits symbolische Dehumanisierung, welche den Transfer der Repression von den direkten Opfern der physischen Gewalt auf die Angehörigen der Verschwundenen beschreibt. Symbolische Dehumanisierung ist die Kontinuität der Dehumanisierung in Form der Zerstörung sozialer Gefüge durch das Verschwindenlassen von Personen und die Verweigerungen der Aufklärung des Schicksals der Verschwundenen. Diese werden durch vier Elemente, die ihnen staatliche Akteure verweigern, ebenfalls zu Opfern des Verschwindenlassens: die Verweigerung von Informationen über die Verschwundenen, die Verweigerung von sterblichen Überresten, die Verweigerung von sozio-kulturell bedeutsamen Toten- und Trauerritualen und die Verweigerung von Erinnerungsorten. Somit werden auch gegen die Angehörigen Strategien der Entmenschlichung und Entwürdigung eingesetzt. Symbolische Dehumanisierung bezeichnet aber auch den Prozess der Desozialisierung der Verschwundenen aus ihren sozialen Netzwerken. Die Verschwundenen werden durch staatliche Akteure aus ihren sozialen Gefügen gerissen und ihnen die Möglichkeit der Reintegration verweigert. Die Identität der Verschwundenen wird eliminiert. Dehumanisierung ist also einerseits ein konkreter Akt physischer Gewalt und andererseits eine symbolische Praxis in Form der Ausübung psychischer Gewalt auf die sozialen Netzwerke der Verschwundenen. Für den Kontext während des mexikanischen Schmutzigen Krieges und insbesondere der Region der Sierra de Atoyac können nun verschiedene Dimensionen der Dehumanisierung unterschieden werden (vgl. Kap. 3). Diese werden differenziert nach betroffenen Personen und zeitlichen Aspekten und daher unterteilt in Dehumanisierung von Dorfbevölkerung, Gefangenen, Verschwundenen, zurückgekehrten Verschwundenen und Angehörigen: Dehumanisierung der Dorfbevölkerungen durch Militarisierung und soziale Kontrolle:Die Bevölkerung in den Dörfern der Sierra de Atoyac war während der militärischen Aufstandsbekämpfung folgenden Praktiken ausgesetzt: Besetzung der Häuser, Plätze und Wege,Beschimpfungen und Demütigungen, Raub der materiellen Güter, Zwang zu Dienstleisungen für die Soldaten, permanente Identitäts- und Anwesenheitskontrollen, Kontrolle der Bewegungsfreiheit, Kontrolle der Nahrungsmittelzufuhr, Kontrolle der landwirtschaftlichen Arbeit und des Zugangs zu
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den Maisfeldern, sexuelle Gewalt gegen Frauen, Zerstörung der Lebensgrundlagen durch Bombardierung einzelner Dörfer, Zwang zur Flucht und Vertreibung. Dehumanisierung der Gefangenen:Die Entmenschlichung der Gefangenen beginnt in den meisten Fällen mit dem Zeitpunkt ihrer Festnahmen. Sie wurden vor der Dorfgemeinschaftöffentlich erniedrigt und von den Soldaten wie Tiere behandelt. Die zurückgekehrten Gefangenen oder die ZeugInnen beschrieben die Praktiken während der Festnahmen: auf allen Vieren kriechend wie Hunde, ein Zusammenbinden mehrerer Gefangenen an Händen und Füßen wie Tiere, das Abführen und das Aufladen der Gefangenen auf Militärwagen wie Schweine. Die Dehumanisierung der Gefangenen wurde während der Verhöre und der Haft unter Einsatz von Folter fortgesetzt. Die zurückgekehrten Gefangenen beschreiben physische und psychische Gewaltpraktiken wie Elektroschocks, simuliertes Ertrinken, simulierte Erschießungen, Schläge am ganzen Körper, Misshandlungen an den Genitalien, das Einstechen von Nadeln unter die Fingernägel, das Einstreuen von Chilipulver in die Nase, Hubschrauberflüge mit simuliertem Abwerfen über dem Meer, Nahrungsmittel- und Wasserentzug, das Einflößen von Benzin und das darauffolgende Anzünden der Gefangenen bis zum Verbrennungstod. Symbolische Dehumanisierung der Verschwundenen:Das in den meisten Fällen praktizierte Verschwindenlassen der Gefangenen ohne Bekanntgabe ihres Schicksals und/oder der Verweigerung der Rückgabe der sterblichen Überreste an die Angehörigen stellt zusätzlich zur oben beschriebenen konkreten Dehumanisierung, die mit direkter Gewalt verbunden ist, auch einen symbolischen Dehumanisierungsprozess dar. Es ist dies die Desozialisierung der Verschwundenen, die Verweigerung einer Reintegration in die Gemeinschaft als Lebende oder Tote sowie der Versuch der Eliminierung ihrer Identitäten. Dehumanisierung der zurückgekehrten Verschwundenen: Die wenigen Verschwundenen, die freigelassen wurden und in ihre Dorfgemeinschaften zurückkehren konnten, erfuhren dennoch eine Kontinuität der Dehumanisierungsprozesse. Sie litten in vielen Fällen an psychischen und physischen Krankheiten als Folgen der Folter und wurden arbeitsunfähig. Die Arbeitsunfähigkeit hat besonders in der sozialen Lebenswelt der Kleinbauern, in der die Arbeit am Maisfeld zentraler Bestandteil des kulturellen und wirtschaftlichen Lebens in den Familien und Dorfgemeinschaften ist, schwerwiegende Folgen. EineRückkehr in das soziale Leben und den Arbeitsalltag vor der Festnahme war durch die Spätfolgen von Folter und Traumatisierung in vielen Fällen nicht mehr möglich. SymbolischeDehumanisierung der Angehörigen: Die gewaltvolle Repression gegen die Gefangenen und Verschwundenen wurde auch auf die sozialen Netzwerke und die Familien ausgeweitet.Dieser Transfer der Repression auf die Angehörigen zeichnet sich in vier kontinuierlichen Verweigerungen durch staatliche Akteure aus: (1) die Verweigerung von Informationen über den Verbleib und das Schicksal der verschwundenen Personen, (2) die Verweigerung der Überlassung von sterbli-
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chen Überresten, (3) die Verweigerung von Trauer- und Bestattungsritualen und die(4) Verweigerung von Erinnerungsorten. Der Aspekt dersymbolischen Dehumanisierung im Sinne des Transfers der Repression auf die Angehörigen ist zentral für ein Verständnis der Transformationen in den Handlungen und Diskursen der Angehörigen. Aus den vier genannten Verweigerungen entwickelt sich der Kampf der Angehörigen um die Rehumanisierung der Verschwundenen, die im Teil II beschrieben werden. Zunächst sollen jedoch noch einige Aspekte von Dehumanisierung im Zusammenhang mit Staat und Staatsterror betrachtet werden, die für das erzwungene Verschwindenlassen auch in Mexiko relevant sind. Aspekte von Dehumanisierung, Staat und Staatsterror Dehumanisierungsprozesse sind komplex und mit verschiedenen Formen der Gewalt verbunden. Bevor physische Gewalt angewandt wird, ist es zunächst symbolische Gewalt, die gegen eine konstruierte Kategorie von Menschen gerichtet ist: „Scholars of subaltern peoples argue that symbolic violence is important in structuring and ordering of the social relations of domination and subordination that assign subalterns a lower place in a hierarchy. Indeed, symbolic violence is displayed in the myths that depict certain groups of people as both somewhat less than human beings, and who therefore deserve their subordinate position, and at the same time as superhuman who are capable of subverting the given social order.“ (Nagengast 2002: 339)
Dieses offensichtliche Paradoxon zwischen weniger menschlich und übermenschlich ist es, das im Kontext des Schmutzigen Krieges die massive Gewaltanwendung gegenüber einer Gruppe erklären kann. Die internen FeindInnen wurden als Gefahr für die nationale Sicherheit und die Aufrechterhaltung der staatlichen Ordnung gesehen. Gleichzeitig wurden sie zu inhumanen wertlosen Objekten degradiert und zu Opfernvon Folter, Mord und erzwungenenem Verschwindenlassen. Sie wurden von staatlichen Akteuren einerseits wie Tiere behandelt und andererseits aber als fähig betrachtet, die nationale Ordnung und somit das politische System stürzen zu können. Dieser Aspekt ist von Bedeutung in der Analsyse des Kräfteund Machtverhältnisses zwischen autoritärer staatlicher Macht und aufständischen Gruppen innerhalb des Nationalstaates. Der öffentliche Diskurs staatlicher Macht hat das Recht autoritativ zu definieren, was legitimine Machtausübung und somit auch Gewalt- und Zwangsmaßnahmen sind. In diesem Prozess werden gleichzeitig die Anliegen und Ziele der oppositionellen Gruppe deligitimiert und für ungültig erklärt. Diese Erklärung der Deligitimation und Ungültigkeit berechtigt die staatliche Macht Gewalt und Zwang gegen diese Gruppe auszuüben. Staatliche Macht definiert sich also über die Legitimität zu Gewalt und über die Definition des Staates als Inhaber des Gewaltmonopols (vgl. Weber 1993/[1919]). Um bestimmten Men-
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schen und Gruppen jedoch öffentlich die Legitimität abzusprechen und Gewalt gegen diese zu rechtfertigen, bedarf es eines bestimmten Diskurses. Nagengast meint, dass es in diesem Prozess essentiell ist, dem kollektiven Imaginären einer Gesellschaft eine Portion Böses einzuimpfen: „[I]noculations of evil are crucial to human rights violations because they become part of socially accepted notions of common sense, a kind of social knowledge of the ´everyone knows´ variety that enters public discourse and helps build popular consensus around who and what is suspect, who and what ought to be repressed, what constitutes difference and how the state ought to control it.“ (Ebd.)
Das Böse in einer Gesellschaft wird im öffentlichen Diskurs festgelegt, so anerkannte Differenzen etabliert und ein Konsens darüber geformt, gegen wen Repression ausgeübt werden kann, darf und muss. Die Elemente innerhalb des Staates, die als böse deklariert werden, sind jene Elemente, denen man mit Gewalt begegnen kann. Der Prozess der Dichotomisierung in gut/böse oder Freund/Feind kann auch als rituelle Opposition gesehen werden, in der der Staat stets eine Gegengruppe benötigt, um die eigene Identität und Legitimität zu stärken. Es ist dies das Ritual der politischen Hexenjagd, wie Bergesen (2008/[1984]) es bezeichnete. Kategorien von Dissidenz befinden sich dabei aus der Perspektive staatlicher Macht an den Rändern des Staates. Dort, an den politischen Rändern – nicht im Sinne einer territorialen Peripherie (obgleich sich diese oft mit territorialer Peripherie deckt) – wird die Legitimität des Staates von jenen sozialen Gruppen herausgefordert, die diese anzweifeln. Protest, Rebellion, Revolution, Nicht-Anerkennung der vom Staat festgelegten Gesetze sind ein permanenter historischer Prozess der Aushandlung und der erneuten Festlegung dessen, was das Gewaltmonopol des Staates bedeutet. Wie diese Mechanismen auf einer lokalen Ebene funktionieren, ist Teil der Analyse einer Anthropologie des Staates innerhalb der politischen Anthropologie. Und es sind vor allem die Ränder, die im Mittelpunkt des ethnographischen Interesses stehen, sind es doch zugleich auch die historisch marginalisierten Regionen und Bevölkerungsgruppen eines Staates, die dem Gewaltmonopol des Staates unterworfen werden. Dies trifft auch im Falle der comunidades der Sierra von Atoyac in Guerrero zu. „As ethnographers, we were interested in understanding the specific technologies of power through which states attempt to ,manageұ or ,pacifyұ these populations through both force and a pedagogy of conversion intended to transform ,unruly subjects’ into lawful subjects of the state.“ (Das/Poole 2004: 9) Um diese Transformation der Menschen an den politischen Rändern des Staates zu erreichen, wird auf das als legitim erachtete Gewaltmonopol des Staates zurückgegriffen. In der extremsten Form drückt sich dieses Gewaltmonopol in Form von Staatsterrorismus aus, eine Praxis, die zwar nicht durch geltende Gesetze gedeckt
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ist, jedoch einen weit verbreiteten staatlichen Akt der Ausübung von Kontrolle und Pazifizierung der Ränder darstellt. Der Mythos des Bösen wird auf diese Ränder angewandt, um die Gewalt gegen diese zu rechtfertigen. So wurden aus der Perspektive der politischen urbanen Zentren Mexikos, die BewohnerInnen der comunidades der Sierra von Atoyac oft mit den Attributen „rebellisch“, „kämpferisch“, „störrisch“ und „subversiv“ belegt (vgl. Bartra 1996). Aus der Perspektive des Staates müssen diese Ränder zum politisch konformen Zentrum gebracht werden, also nicht oder nicht mehr regierbare zu regierbaren Menschen transformiert und unter Umständen auch Teile der Ränder eliminiert werden. Die Praxis des Verschwindenlassens nicht konformer Elemente der Ränder kann als eine derartige eliminierende Technologie der Macht bezeichnet werden. Die Ränder eines Staates können auch als Ort der Dynamik zwischen Menschen, Gesetzen und Disziplin betrachtet werden. Die staatsterroristische Praxis, also die nicht gesetzlich gestützte Sanktionierung, Bestrafung und Eliminierung von nicht konformen Menschen eines Staates legt ein biopolitisches Konzept des Staates nahe: „[A]s Agamben and Foucault recognize, the body is at the heart of modern biopolitics [...]“(Scheper-Hughes 2002: 367). Verschwundene Menschen sind verschwundene Körper innerhalb eines Staates. Es sind Körper von den Rändern eines Staates, die ohne gesetzliche Grundlage eliminiert wurden. Um erzwungenes Verschwindenlassen in diesem Kontext zu erfassen, liegt es nahe, das Konzept des homo sacer von Giorgio Agamben (2002) zu betrachten. Homo sacer, eine Figur aus dem Römischen Recht, bezieht sich auf das Recht eines Staates, nicht nur über das Territorium, sondern über Leben und Tod der darin lebenden Menschen zu herrschen. Homo sacer ist der nackte Mensch, ein Mensch, der ohne Rechte ist. Dieser Mensch befindet sich im vom Staat verordneten Ausnahmezustand, in der jegliche Rechtsordnung zum Schutz der Bevölkerung vor willkürlicher Gewalt außer Kraft gesetzt wird. Dieses Leben ist nackt, weil es von staatlichen Akteuren genommen werden kann, ohne dass es dafür gesetzliche Grundlagen oder eine Rechenschaftspflicht und Schuldzuweisung für den Täter geben muss. Der Ausnahmezustand wird zum Normalzustand und die staatliche Gewaltpraxis liegt damit gleichzeitig innerhalb und außerhalb des Gesetzes (vgl. Das/Poole 2004). Der Nichtregierbare an den Rändern, er kann getötet, eliminiert werden, ohne dass es dafür einen verantwortlichen Schuldigen gibt. Es gibt keinen Beweis, keinen Körper, keinen Täter. Um Körper verschwinden zu lassen, muss es jedoch jemanden geben, der festlegt, welche Personen wo, von wem und auf welche Weise verschwinden sollen und können. Einzelne RepräsentantInnenen des Staates sind jene, die dies festlegen und die Befehle an die ausführenden Akteure geben. Es vollzieht sich so eine Transformation der Festlegung dessen, wer Mitglied der politischen Gemeinschaft des Staates ist und wie mit den Anderen zu verfahren ist. In diesem Prozess werden Grenzen neu definiert:
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„The issue is not that membership is simply denied but rather that individuals are reconstituted through special laws as populations on whom new forms of regulation can be exercised. [I]t is well to remember that states of exception, of which war is the classic example, can redraw boundaries so that those who were secure in their citizenship can be expelled or reconstituted as different kinds of bodies.“ (Das/Poole 2004: 12 f.)
Im Zuge der Praktiken im mexikanischen Schmutzigen Krieg wurden neue soziale Grenzziehungen vollzogen, in denen bestimmte Bevölkerungsgruppen als außerhalb des Gesetzes, als Personen außerhalb der politischen Gemeinschaft des Staates, festgelegt wurden. Diese Menschen wurden als folterbare, als zu verschwindende Elemente definiert. Diese Praxis ist in einem außerhalb des Rechts stehenden und von Straflosigkeit geprägten Raum verortet. In diesem Raum agieren Personen, die die staatliche Macht auf lokaler Ebene repräsentieren und als Täter bzw. MittäterInnen auftreten. Diese haben auf einer lokalen Ebene die Autorität und staatliche Befugnis, mit Immunität ausgestattet, außerhalb des Gesetzes zu agieren. In Mexiko sind diese Akteure die lokalen Eliten, die Kaziken (vgl. Kap. 1.2), die in Guerrero eine zentrale Rolle in den Dynamiken des Schmutzigen Krieges spielten. Kaziken waren es, die die politische und ökonomische Macht über Menschen und Ressourcen innehatten und über Leben und Tod der DorfbewohnerInnen bestimmen konnten. Sie konnten außergesetzliche Gewaltpraktiken durchführen oder diese anordnen, ohne sanktioniert zu werden. Die Kaziken dienten dem mexikanischen Staat auch zur sozialen Kontrolle und „Befriedung“ der Bevölkerung an den politischen Rändern. Diese konnten von diesen lokalen, im rechtsfreien Raum stehenden Akteuren aufgrund bestimmter ideologisch-politischer oder sozialer Merkmale willkürlich identifiziert und eliminiert werden. Sowohl der Getötete als auch der Mörder stehen also außerhalb eines rechtlichen Rahmens. Weder der Täter kann für seine Tat belangt werden, noch kann das Opfer Rechtsansprüche geltend machen. Auf dieser Grundlage bedeutet es auch für die Angehörigen in Vergangenheit und Gegenwart einen permanenten, jedoch schwer durchsetzbaren Kampf um die Aufhebung dieses rechtsfreien Zustands. Es gibt keinen Beweis für diese Tat, da der Körper verschwunden ist. Körper wie Täter existieren nicht. Die Elimination wird aus staatlicher Perspektive als legitimer Akt der Pazifizierung und der Festlegung von Legitimität erachtet, ohne dass dies explizit gemacht wird. Opfer von Folter und erzwungenen Verschwindenlassen, wie Don Enrique aus Atoyac, der selbst vom mexikanischen Staat zur Zeit des Schmutzigen Krieges zum homo sacer deklariert wurde, drücken immer noch das Unfassbare der Straflosigkeit aus. Es besteht bis in die Gegenwart Unverständnis darüber, welcher krimineller Handlung sie eigentlich beschuldigt wurden, um Opfer staatlicher Gewalt zu werden. Die Frage, die sich alle Opfer und Angehörigen der Verschwundenen bis
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heute stellen, ist: „Was haben wir uns zu schulden kommen lassen? Wir haben doch niemandem etwas geschuldet!“2 (Don Enrique, Atoyac 2009) Es herrscht weiterhin Unbegreiflichkeit, Unfassbarkeit und Unbeschreibbarkeit angesichts der Willkürlichkeit der repressiven Handlungen. Die Reduktion von Menschen zu feindlichen Körpern steht im Zentrum von staatlichen Dehumanisierungsprozessen, besonders dann, wenn es sich um militärische Kontrolle der Bevölkerung handelt. Körper werden unter militärischer Besatzung zum Austragungsort der Auseinandersetzung (vgl. Feldman 1991). Menschliche Subjekte werden zu Objekten degradiert, denen bestimmte Charakteristika zugeschrieben werden. Diese stehen in Differenz zum staatlich legitimen Menschenbild. Personen werden als Objekte, denen Gewalt angetan werden kann, rekategorisiert. Sie werden zu politischen Körpern, indem diesen Charakteristika zugeschrieben werden, die mit der Durchsetzung von Macht und Hegemonie in Verbindung stehen. Dieser Prozess der Rekategorisierung von Subjekten zu politischen Körpern mit dem Ziel einer straflosen Gewaltanwendung wird in dieser Untersuchung als Dehumanisierung bezeichnet. Menschen werden in diesem Prozess von jenen, die Gewalt anwenden, ent-menschlicht. Dehumanisierung geht stets ein Prozess des Othering (Hinton 2002), der Konstruktion von Andersheit voraus, in der vorher inkludierte Menschen als nun außerhalb der sozialen Ordnung stehende betrachtet werden und folglich eliminiert werden können. In diesem Prozess des Othering werden Feindbilder konstruiert, die in Konfliktkontexten eine doppelte Funktion haben, wie Erwin Orywal ausführt: „Durch die Deklaration von Freund und Feind unterteilen sie die Welt in Zugehörigkeiten. Mitgliedschaften in der Freundgruppe bedingt Loyalität und Solidarität, so daß der Zusammenhalt gestärkt wird. Zugehörigkeit zur Feindgruppe impliziert den – objektiv oder subjektiv – zugeschriebenen Willen, die Eigengruppe zu schädigen oder zu vernichten. Feindbilder suggerieren somit, dass die Überlebensmöglichkeiten gefährdet sind und daß man sich in einer Notwehrsituation befindet. Die Sicherung des eigenen Überlebens legitimiert die Anwendung von Gewalt, und das Feindbild markiert den Gegner, der meist noch auf die Stufe eines Untermenschens oder Tieres gestellt wird, um die Hemmschwelle des Tötens herabzusetzen.“ (Orywal 1996: 38)
Die politischen GegnerInnen werden auf eine niedere Stufe menschlicher Existenz gestellt bzw. wird diesen gänzlich das Menschsein aberkannt, um so die Anwendung von Gewalt zu rechtfertigen. Die Eliminierung von Personen aus einer Gesellschaft kann also nur auf Basis eines Prozesses der Dehumanisierung erfolgen. Wer
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„¿Que debíamos? No debíamos nada.“ (Don Enrique, Atoyac, 2009)
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Mensch und somit legitimer Teil der Gesellschaft ist, bestimmt in diesem Falle die jeweilige machthabende Elite eines Staates. Dass es überhaupt zu diesem Gewaltphänomen kam, hat in der Betrachtung des Schmutzigen Krieges in Mexiko mit Eskalationsprozessen von Gewalt zu tun. Dieter Neubert (2004) hat einen theoretischen Ansatz der gewalttätigen gesellschaftlichen Situation geliefert, der einen Orientierungsrahmen für die Analyse von Bedingungen für Gewalteskalation bietet. Diese können durch fünf Schlüsselelemente charakterisiert werden: (1) Existenz gesellschaftlich bedeutsamer Konfliktthemen, (2) Existenz gewaltätiger Akteure, (3) Anerkennung und Legitimierung von Gewalt, (4) perforiertes Gewaltmonopol und Straflosigkeit der Täter und (5) dichotomisierte Identitäten. In der vorliegenden Fallstudie zum mexikanischen Kontext gab es im Rahmen des Schmutzigen Krieges eine gewalttätige gesellschaftliche Situation mit diesen fünf Schlüsselelementen, die es auf Mikro- und Makroebene zu analysieren gilt. Im Fokus dieser gewalttätigen Situation standen vorwiegend die Gruppe der Kleinbauern, vor allem aus der Sierra de Atoyac im Bundesstaat Guerrero, die die meisten Opfer der staatlichen Repression im Schmutzigen Krieg zu beklagen hatten. Der Terminus Kleinbauer wird hier im Sinne der Latin American Subaltern Studies Group (vgl. Rodríguez 2001) verwendet, die an postkoloniale Konzepte der Subaltern Studies von Ranajit Guha und Gayatri Ch. Spivak (1989) anschließt. Lateinamerikanische Staaten sind durch historisch geformte Prozesse und Dynamiken der Kolonialzeit, die in postkolonialen Strukturen (vgl. Moraña/Dussel/Jáuregui 2008) der Gegenwart weiterwirken, charakterisiert. Eine dieser postkolonialen Entwicklungen ist der fortlaufende Status der Kleinbauern als subalterne Gruppe. Kleinbauern als subalterne Gruppen sind dabei im öffentlichen Diskurs mit dem Stigma der Armut behaftet, denen keine eigene Geschichte und Handlungsmacht, keine eigene agency zugestanden wird. Mexiko ist dabei im lateinamerikanischen Kontext als Sonderfall zu betrachten. Denn es gibt im nationalen Gründungsmythos des modernen Staates seit der Mexikanischen Revolution (1910 – 1919) das Bild des subalternen heroischen Kleinbauern, der für Land und Freiheit (tierra y libertad) kämpft und sich gegen unterdrückende Fremdherrschaft stellt. Kleinbauern wurden nach der Revolution im korporativistischen politischen System Mexikos an den Staat der PRI-Partei (Partido Revolucionario Institucional) gebunden. Sie fanden somit Eingang in die offizielle Geschichtsschreibung und in das kollektive nationale Gedächtnis. Dies bezieht sich jedoch nur auf den offiziellen Diskurs und die Außenpräsentation des mexikanischen Nationalstaates. Die reale Situation und Lebenswelt der mexikanischen Kleinbauern entspricht dem ursprünglichen Konzept des Subalternen. Subaltern definieren ein reales Unterdrückungsmoment und auch eine SelbstIdentifikaton mit dem Status des Unterdrückten (vgl. Rodríguez 2001). In diesem Zusammenhang ist also die soziale Erinnerung der Kleinbauern, die in dieser Arbeit
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durch die testimonios der Gewalterfahrungen im Sinne einer Geschichte von unten beschrieben wird, auch eine Gegen-Geschichte (Radstone 2000). Diese will die offizielle, Macht legitimierende und daher konstruierte Geschichtsschreibung herausfordern und transformieren. Oder wie Gugelberger und Kearney meinen: „Slave narratives, ethnographic life histories, and holocaust literature are each in certain ways kinds of documentary literature that amplify official histories of subaltern peoples.“ (Gugelberger/Kearney 1991: 5). Die bewaffneten und zivilen Bewegungen Mexikos wurden von der mexikanischen Regierung mit extralegalen Mitteln niedergeschlagen, was zur Tragödie der Verschwundenen führte (Aguayo/Treviño 2007). Die eingesetzten gewalttätigen Methoden hatten jedoch auch die Formierung von Menschenrechtsbewegungen und die Reformierung der politischen Kultur Mexikos zur Folge (Aguayo 2006). Im Folgenden sollen die Prozesse der Bildung einer Gegen-Geschichte und einer Gegen-Erinnerung durch den Kampf der Angehörigen der Verschwundenen um Rehumanisierung nachgezeichnet werden.
II. REHUMANISIERUNG: Kampf um die Rückkehr der Verschwundenen
„Las Doñas“ Ich werde euch eine Geschichte erzählen von mutigen Frauen, die seit 30 Jahren Gerechtigkeit von den Präsidenten fordern. Zeiten der traurigen Erinnerungen waren die 1970er Jahre. Grausame, gewalttägie Folter, das war der Schmutzige Krieg. (…). Seit damals leben diese Mütter, Frauen und Schwestern, um zu fragen: Wo sind ihre Angehörigen? (…). Mit der Hoffnung in ihren Kampf trotzen sie der Zeit und der Ungerechtigkeit. Denn die schlimmen Regierungen wollen die Erinnerung auslöschen, aber hier sind die Doñas, um sie an die Geschichte zu erinnern.“1 (corrido/Lied von María del Rosario Piedra zit. in: ¡Eureka! 2007, 2: 5)
1
„Las Doñas“. Voy a contarles la historia/De unas mujeres valientes/Que hace 30 años exigen/Justicia a los presidentes/Tiempos de tristes memorias/Fueron los años setentas/Crueles violentas torturas/Formaron la guerra sucia/ (...) Desde entonces esas madres/Hijas, esposas y hermanas/Viven para preguntarles/Donde están sus familiares/(...) Con la esperanza en sus luchas/Al tiempo e injusticia resisten/Es que los malos gobiernos/Quieren borrar la memoria/Pero aquí están esas Doñas/Pa recordarles la historia.“ (corrido/Lied von María del Rosario Piedra zit. in: ¡Eureka! 2007, 2: 5)
3. Akteure und Praktiken der Rehumanisierung
3.1 O HNE ANGEHÖRIGE
KEINE
V ERSCHWUNDENEN
„Sie sollen mir sagen, wo mein Bruder geblieben ist. Er war doch kein Tier, dass sie am Feld einfingen, er war ein Mensch!“1 (Rosa Castro Velázquez, San Vicente de Benítez, 2009)
Die mexikanische Rechtsanwältin Luisa Pérez vom UN-Hochkommissariat für Menschenrechte in Mexiko-Stadt sagte in einem Gespräch im Jahr 2009: „Ohne Angehörige gibt es keine Verschwundenen.“2Siebezog sich damit auf die Tatsache, dass es im öffentlichen Diskurs nur jene Verschwundenen geben kann, die auch von den Angehörigen als solche öffentlich gemacht werden. Mit Rehumanisierung werden in dieser Arbeit nun Prozesse definiert, die im Zusammenhang mit den Angehörigen und deren Bemühen um die Rückkehr der Verschwundenen stehen. Es sind die Versuche der Angehörigen, ihre durch Gewalt entmenschlichten, dehumanisierten Verschwundenen wieder zurück in das soziale Netzwerk, aus dem sie eliminiert wurden, zu holen. Der Begriff Rehumanisierung wird in unterschiedlichen Kontexten verwendet. So taucht dieses Konzept etwa im postkolonialen Kontext afro-amerikanischer Literatur auf, wo Sklaverei und die Aufarbeitung dieser durch literarische Texte thematisiert wird (vgl. Fulton 2006,). Auch in der Analyse des Kampfes der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung um Martin Luther King kommt der Begriff Rehumanisierung vor (vgl. Soyinka 2008). Das Konzept Rehumanisierung findet auch Anwendung in der aktuellen Debatte um den Krieg gegen Terror und den Gegen-
1
„Qué me digan donde quedó mi hermano, porque el no fue un animal que agarraron en el
2
„Sin familiares no hay desaparecidos.“ Aussage der UN-Mitarbeiterin Luisa Pérez der
campo, ¡fue una persona!“ (Rosa Castro Velázquez, San Vicente de Benítez, 2009) Oficina en México del Alto Comisionado de las Naciones Unidas para los Derechos Humanos in einem Gespräch, Mexiko-Stadt, 2009
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bewegungen zur Dehumanisierung von Muslimen im öffentlichen Diskurs der USA (vgl. David/Jalbert 2008). Rehumanisierung im Transitional-Justice-Kontext wird thematisiert bei den offiziellen Entschuldigungen an die Opfer im Kontext der südafrikanischen Wahrheitskommission (vgl. Oelofsen 2009; Gobodo-Madikizela 2002; Rodríguez 2000), in der Aufarbeitung des Jugoslawien-Krieges (Halpern/Weinstein 2004) und bei Ferrándiz (2009), der das Konzept Rehumanisierung im Kontext der Exhumierungen von Massengräbern der Franco-Diktatur anwendet. Er bezieht Rehumanisierung auf die Rituale der Angehörigen, die nach der Ausgrabung der sterblichen Überreste durchgeführt werden. Im Kontext dieser Arbeit soll mit Rehumanisierung ein zeitlich weiteres Feld von Prozessen bezeichnet werden. Rehumanisierung umschreibt hier alle Diskurse und Praktiken der Angehörigen um die Aufklärung des Schicksals der Verschwundenen: von der Verschleppung und Entführung in den 1970er Jahren bis in die Gegenwart. Rehumanisierung ist die Entwicklung von Strategien, Praktiken und Diskursen der Angehörigen Verschwundener mit dem Ziel der symbolischen Umkehrung von Dehumanisierungsprozessen und der Reintegration der Verschwundenen in die Gemeinschaft.Diese umfassen die Suche, die Vernetzungen der Angehörigen, die Proteste, die juristischen Amtshandlungen, die Narrative und die Konstruktionen sozialer Erinnerungsgruppen. Zusammengefasst werden diese Handlungen hier als die politische Ritualpraxis im Rehumanisierungsprozess bezeichnet. Kulturelle und politische Praxis wird dabei zum zentralen Element gegen Vergessen, wie Gomez Barris es ausdrückt: „[V]ictims and allies counteract the pressure of closure with fluid cultural and political practices, aesthetic representationes that beer witness and heed adive about future directions.“ (Gómez-Barris 2009: 157) Wie bereits zuvor beschrieben, ist das zentrale Element der Methode des erzwungenen Verschwindenlassens die Leugnung der Tat und die Weigerung staatlicher Akteure, Informationen über die Verschwundenen zu geben. Verschwundene, die von den Angehörigen nicht reklamiert werden, existieren also offiziell nicht. Der staatlichen Strategie der Geheimhaltung kann also nur die Sichtbarmachung, die Anklage und der Protest der Angehörigen über die gewaltsame Verschleppung eines Menschen in der Familie entgegengesetzt werden. Die Angehörigen sind die Akteure der Rehumanisierung der Verschwundenen. In der Sierra de Atoyac ist jede comunidad geprägt von den Erfahrungen und Ereignissen des Schmutzigen Krieges und der Verbrechen des erzwungenen Verschwindenlassens von Menschen. Das kollektive Imaginäre der mestizischen Kleinbauern ist gespeist von Bildern, Geschichten, Anekdoten und Gerüchten über diese Zeit. Die Erinnerungen der Menschen sind geprägt von einem Wechselverhältnis vonEreignissen, die selbst erlebt und solchen, die von anderen erzählt wurden. Diese Erinnerungen stehen jedoch im Spannungsfeld zur Erinnerung anderer Gruppen der mexikanischen Gesellschaft (lokale Kaziken, Polizei, Militär, einige PolitikerInnen), deren Perspektive auf diese Zeit anders als jene der Kleinbauern
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der Sierra de Atoyac ist und die folglich unterschiedliche Wahrheiten beanspruchen. Der Konflikt zwischen der aufständischen Bewegung von Lucio Cabañas und der mexikanischen Regierung hat daher auf mehreren Ebenen Auswirkungen bis in die Gegenwart. Denn die durch diesen Konflikt bedingten Transformationen auf einer sozio-kulturellen und politischen Ebene haben zu neuen Konfliktdynamiken geführt. Ebenso wie die Diskussion um postkoloniale Gesellschaften Lateinamerikas (vgl. Moraña/Dussel 2008), die deutlich macht, dass koloniale Machtverhältnisse die postkoloniale Gesellschaft bis in die Gegenwart prägen, zeichnet sich auch eine Postkonfliktgesellschaft dadurch aus, dass Machtverhältnisse des vergangenen Konfliktes in der Postkonfliktsituation weiter wirken und zu neuen Konfliktdynamiken führen. In Mexiko und in Guerrero haben die historischen Konflikte in der postkolonialen Gesellschaft Mexikos – die auch unter anderem zu den Ereignissen des Schmutzigen Krieges auf einer lokalen Ebene beigetragen haben (vgl. Kap. 2.1) – zu einer Postkonfliktgesellschaft mit neuen Dynamiken geführt. Eine Postkonfliktgesellschaft ist im Allgemeinen dadurch charakterisiert, dass Kategorien von Opfern und Tätern entstehen und Mechanismen der Aufarbeitung des Konfliktes von bestimmten Akteuren angestrebt werden. Die unterschiedlichen Perspektiven, je nach Akteur und Rolle im Konflikt, ergeben dabei neue Konfliktdynamiken, die um die Frage nach der Wahrheit der Repräsentation der Vergangenheit und der Schuld an den verübten Gewalttaten kreisen (vgl. Halbmayer/Karl 2012). Eine Postkonfliktgesellschaft charakterisiert sich durch verschiedene Konstrukte, die während und nach den Gewalttaten innerhalb des Konfliktes entstehen. Diese sozialen Konstrukte beziehen sich vor allem auf die Dichotomie von Opfern und Tätern und einer Grauzone (Levi 1988) von Mittätern, KomplizInnen oder Opfern, die zur Kollaboration gezwungen und zu Tätern wurden. In internationalen Konventionen und Deklaration zu erzwungenem Verschwindenlassen werden alle Angehörigen von verschwundenen Personen ebenso wie die verschwundene Person selbst als Opfer definiert (vgl. UN-Konvention Art. 24. 1). Die Angehörigen selbst und die Organisationen der Angehörigen von verschwundenen Personen in Mexiko verwenden in ihrer Selbstbezeichnung jedoch nicht den Terminus Opfer. Vielmehr bezeichnen sie sich selbst als Familienangehörige (familiares). Das Wort familiar drückt im Gegensatz zum Begriff Opfer eine Verbindung zum Gewaltakt selbst aus. Es weist auf die emotionale und soziale Bindung zum Verschwundenen hin und impliziert die Zerstörung dieser Verbindung durch das Verbrechen des Verschwindenlassens. Der Begriff Angehöriger ist in diesem Kontext somit auch Legitimationsgrundlage für politischen Protest. Bemühungen gegen das staatlich auferlegte Vergessen vorzugehen und zerstörte Identitäten und abgesprochene Kontrolle über das Selbst wiederherzustellen, sind auch im Kontext der Angehörigen beobachtbar. Durch Praktiken, wie der Suche nach den Verschwundenen, der Konstruktion von Kommunikationsnetzwerken, Or-
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ganisations- und Protestformenwerden neue Identitäten entwickelt und erneut Kontrolle über das eigene Handeln erlangt. Im zuvor beschriebenen Zustand der Liminalität (vgl. Kap. 2.7.2) der Angehörigen werden auch soziale Rollen transformiert: „When the precariousness of a liminal context is experienced by an entire population (…), its effects serve to transform conventional conceptions of social roles and cultural practices.“ (Pitcher 1998: 16) So veränderte sich im Fall der Angehörigen der Verschwundenen, die in Mexiko großteils Kleinbäuerinnen sind, die vor dem liminalen Status zugewiesenen Rolle der Frau – deren Handeln auf die private Sphäre in der ruralen comunidad von Haus, Feld und Kindern beschränkt war – in eine Rolle, die nun in den öffentlichen und urbanen Raum eindringt. Durch die Statuslosigkeit werden soziale Rollen transformiert und Frauen zu politisch Handelnden im öffentlichen Raum. Die Transformation von konventionellen Konzeptionen kultureller Praktiken tritt auch bei den Angehörigen der Verschwundenen ein: Statt Bestattungszeremonien und Totenritualen werden andere Formen der Rituale und der Erinnerung etabliert. Denn „[l]iminal situations produce liminal bodies.“ (Ebd.: 17) Werden Menschen fundamentale Rituale verweigert, werden sie gezwungen in einem permanenten Schwellenzustand zu verweilen, entstehen soziale Handlungen, die diese Verweigerungen kompensieren und politisch einfordern, wie in der Arbeit argumentiert wird. Der Begriff der Rehumanisierung soll eine Erweiterung des im Kontext der Prozesse von Transitional Justice gebräuchlichen Konzeptes der Anerkennung der Opfer darstellen. Rehumanisierung bezeichnet im Kontext der Verschwundenen nicht nur die Anerkennung des Leides der Opfer, sondern impliziert auch die Anerkennung der Folgen der unterschiedlichen Dimensionen der Dehumanisierung, die mit diesem Verbrechen einhergehen. Also soziale, politische, kulturelle, symbolische und ökonomische Konsequenzen, die das erzwungene Verschwindenlassen auf die Angehörigen hat. Die Prozesse der Rehumanisierung sind also zentraler Teil des Kampfes um Anerkennung der Opfer des Schmutzigen Krieges. Zentrale Handlungen und Elemente, die den Rehumanisierungsprozess der Verschwundenen umfassen, werden in den folgenden Kapiteln dargestellt. Es wird dabei der chronologische Verlauf der unterschiedlichen Dimensionen des Rehumanisierungsprozesses seit den 1970er Jahren skizziert und die Handlungen und Perspektive der Angehörigen mit den sich entwickelnden Aufarbeitungsprozessen auf nationaler Ebene verknüpft. Die chronologische Abfolge der Ereignisse soll auch zeigen, wie die Angehörigen der Verschwundenen in diesen Aufarbeitungsprozessen und schließlich in der Implementierung von Transitional Justice Mechanismen zum zentralen politischen Akteur wurden. Trotz ihrer kontinuierlichen Beharrlichkeit stellen sie jedoch weiterhin eine Kategorie von negierten Opfern in Mexiko dar, wie zu sehen sein wird.
A KTEURE UND P RAKTIKEN
3.2 I NDIVIDUELLE S UCHE : I CH UM IHN ZU SUCHEN !
DER
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GING FORT ,
„Und wir erfuhren von seiner Festnahme durch einen Zettel, den er schreiben konnte, als er inhaftiert war, isoliert (…). Da stand, dass sie ihn Doña María Reyes übergeben und dass meine Mutter einen Rechtsanwalt suchen sollte, da er nicht zur Aussage vorgeführt wurde, und dass er krank sei und ohne Essen.“3 (María Felix Reyes, Atoyac, 2010)
María Felix Reyes erzählte über die Festnahme ihres Vaters Fernando Reyes Felix im Jahr 1972 und darüber, wie er es geschafft hatte, ihrer Mutter aus dem Geheimgefängnis in Acapulco eine Nachricht auf einem Zettel zu schicken. Ihre Mutter begann nach dieser Nachricht die Suche nach ihm, fuhr nach Acapulco zum Gefängnis, um Auskunft über ihren Mann zu erhalten. Aber „sie haben ihr keine Auskunft gegeben, im Gegenteil, sie haben alles verneint, dass sie ihn nicht festgenommen hätten, dass sie keine Person mit diesem Namen festgenommen hätten“4, erinnert sich Felix Reyes. Ihre Mutter habe daraufhin einen unermüdlichen Kampf begonnen, der jedoch auch mit der Schwierigkeit verbunden war, ihre sechs Kinder alleine zu lassen. Die Tochter erinnert sich daran: „Sie ist los und immer hat sie daran gedacht, dass sie uns zurück lässt und gleichzeitig ihn suchen muss. Es war eine Agonie für sie. Sie war sehr (…) gespalten zwischen dem Verlassen von uns und den Kampf weiterführen.“5 (Ebd.) In der Mehrzahl der Fälle von Verschwundenen waren es die Frauen, die die Suche und den Protest nach den Verschwundenen starteten. Auch in den Fällen der verschwundenen Frauen waren es die Mütter und Schwestern, die den Protest starteten. Der Grund, warum männliche Angehörige in den Dörfern nicht aktiv wurden, lag in der Angst, dass auch sie verschleppt werden würden. Frauen in den Dörfern hingegen wurden aufgrund ihrer allgemein als apolitisch betrachteten Rolle als weniger gefährdet angesehen, von Polizei oder Militär verhaftet zu werden. So sagt Rodrigo Álvarez, Sohn eines Verschwundenen aus El Ticui:
3
„Y ya no más empezamos a conocer su detención por medio de un papel escrito que el pudo mandar cuando ya lo tenían detenido, incomunicado (…), que se lo entregaran a Doña María Reyes y que mi mamá buscara a un licenciado porque no lo habían pasado a declaración y que estaba enfermo y sin comer.“ (María Felix Reyes, Atoyac, 2010)
4
„[N]o le dieron ninguna razón, al contrario, le renegaron, que no lo habían detenido, que
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„Ella se iba y pensando en dejarnos a nosotros y en la búsqueda de él también. Era una
no habían agarrado ninguna persona de ese nombre“ (ebd.). agonía para ella. Estaba muy (…) dividida de dejarnos a nosotros y ella seguir la lucha.“ (ebd.)
208 | K AMPF UM R EHUMANISIERUNG „Die Mehrzahl waren nur Frauen, die Männer nicht, weil sie Angst hatten, dass sie auch festgenommen werden. (…) Meine Onkel hatten Angst. Sie hatten Angst, weil sie ja Brüder waren [der Verschwundenen], vielleicht würden sie sie ja auch mitnehmen! Deshalb haben sie nichts gemacht. (…) Und bis heute haben sie Angst.“6 (Rodrigo Álvarez, El Ticui, 2010)
Auch bei der Aufnahme der testimonios war einer der Onkel von Rodrigo Álvarez, Bruder des Verschwundenen, präsent. Er hatte immer noch Angst und erzählte kaum etwas. In einigen wenigen Fällen wurden die Frauen zunächst auch von männlichen Familienangehörigen begleitet. Andrea Baltasar Vázquez erinnert sich, als sie die Suche nach ihrem verschwundenen Mann begann: „Die Suche ging zuerst nach Calvario, nach San Jeronimo, Acapulco, mit meinem Schwiegervater nach Chilpancingo, nach Tecpan.“7 (Andrea Baltasar Vázquez, Rincón de las Parotas, 2010) Die Tatsache aber, dass es meist Frauen waren, die ihre verschwundenen Angehörigen zu suchen begannen – und wie in den folgenden Kapiteln noch zu zeigen sein wird, sich vernetzten und organisierten – führte zu Veränderungen in der traditionellen Rolle der Frau in den Dörfern der Sierra. Viele Frauen erzählen, dass sie vor dem Verschwindenlassen der Männer kaum im öffentlichen Raum präsent waren, sie kaum das Haus, Feld und Dorf verließen und vielmehr ihre Rolle als Kleinbäuerin, Ehefrau und Mutter lebten. Durch die Konfliktsituation, die Militarisierung und die Verhaftungen der vorwiegend männlichen Familienangehörigen kam es jedoch zu einer Transformation auch ihrer Rolle als Frauen, wie Joyce Kaufman und Kristen Williams es ausdrücken: „[W]hen the conflict resulted in an absence of men, who were fighting or killed, women stepped in to fill the void as political leaders and managers of the home.“ (Kaufman/Williams 2010: 80 f.) Sie waren es nun, die verschiedene individuelle und kollektive Handlungstrategien entwickelten, um der neuen Situation zu begegnen. Dabei entstanden schwierige emotionale, aber auch ökonomisch prekäre Situationen. So mussten viele der Frauen der Sierra die soziale und ökonomische Rolle des nun fehlenden Mannes und dessen Arbeitskraft übernehmen, so etwa das Maisfeld bestellen, die Ernte einholen und für den Lebensunterhalt der Kinder sorgen. Und sie übernahmen zusätzlich auch die politische Funktion des Suchens nach den verschwundenen Angehörigen und des Protestierens gegen das begangene Unrecht. Andrea Baltasar Vázquez erzählt weiter über die Schwierigkeiten: „Dann
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„La mayoría fueron puras mujeres, los hombres no porque tenían miedo de que también los fueran a agarrar. (…) Mis tíos tenían miedo. Tenían miedo, pues como eran hermanos, a lo mejor me van a agarrar a mi! Por eso no, no intervinieron ellos. (…) Y hasta la fecha tienen miedo.“ (Rodrigo Álvarez, El Ticui, 2010)
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„La búsqueda primero no llevó a Calvario, a San Jerónimo, Acapulco, con mi suegro a Chilpancingo, a Tecpan.“ (Andrea Baltasar Vázquez, Rincón de las Parotas, 2010)
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fuhr ich in einer Mission nach Mexiko (Stadt) (…) und meine Kinder blieben ganz alleine! Und niemand hat mir für ihren Unterhalt etwas gegeben, alleine sind sie zurückgeblieben und ich ging fort, um ihn zu suchen.“8 (Andrea Baltasar Vázquez, Rincón de las Parotas, 2010) Trotz der Schwierigkeiten beschreiben Kaufman und Williams (ebd.: 57) diesen Umgang mit einer politischen Konfliktsituation als eine Form der agency, die in einer unkontrollierbaren Situation auch Kontrolle und Empowerment für die Frauen bringt: „[T]hey will make those choices that give them a sense of power and agency at a time when much in their lives seems out of their control.“ Andrea Baltasar Vázquez betont nochmals ihre Rolle in der Familie nach der Verschleppung des Mannes: „Ich war Vater und Mutter aller meiner Kinder, von allem. Ich habe sie großgezogen. Alle, bis auf den heutigen Tag.“9 (Andrea Baltasar Vázquez , Rincón de las Parotas, 2010) In den folgenden Kapiteln werden verschiedene Handlungsstrategien einzelner Frauen, Angehöriger von Verschwundenen, beschrieben, die einerseits als Elemente ihrer Praktiken der Rehumanisierung der Verschwundenen zu betrachten sind, aber andererseits auch als Formen der agency in Reaktion auf den Gewaltakt des Verschwindenlassens. Der Beginn der Geheimhaltung des Aufenthaltsortes der Gefangenen beginnt ab dem Zeitpunkt der Festnahme oftmals bereits im Militärlager der comunidad selbst. Die Angehörigen erhielten keine Informationen und wurden mit irreführenden Kommentaren weggeschickt. Die Bevölkerung sollte keine Beweise über das weitere Verfahren mit den Gefangenen haben. Rosa Castro Velázquez aus San Vicente de Benítez erzählt, wie sie dennoch – trotz eines Verbotes – die Bewegungen des Militärlagers von ihrem Haus aus beobachtete, das sich gegenüber befand, um zu sehen, ob ihr Mann und ihr Schwiegervater aus dem Dorf abtransportiert werden würden. Diese Handlung stellt eine individuelle Protesthandlung10 gegen das Militär in ihrem Dorf dar: „Wir sind zurück in den Korridor [unseres Hauses] und ich sagte mir, hier bringen sie mich nicht weg! (…) Sie haben die Hoffnung verloren, dass wir reingehen und dann haben sie begonnen, die Autos vorzubereiten und ja, sie haben sie mitgenommen, ohne die Scheinwerfer
8
„Después me fui en una misión a México [Stadt) (…) y mis hijos se quedaron solitos! Y nadie me dio algo para su sustento, solos se quedaron ahí y yo me fui para buscarlo.“ (Andrea Baltasar Vázquez , Rincón de las Parotas, 2010)
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„Yo era padre y madre de todos mis hijos, de todo. Yo los crié. Todos, hasta el día de hoy.“ (Andrea Baltasar Vázquez , Rincón de las Parotas, 2010)
10 Vgl. auch alltägliche Sabotageakte von Kleinbauern in unterschiedlichen Kontexten der Repression als Waffen der Schwachen bei Scott (1990).
210 | K AMPF UM R EHUMANISIERUNG anzumachen, haben sie sie aus dem Dorf gebracht. (…) Das war so um 2 Uhr früh.“11(Rosa Castro Velázquez, San Vicente de Benítez, 2009)
Nachdem sie gesehen hatte, dass ihr Mann, Bruder und Schwiegervater nachts aus dem Dorf abtransportiert wurden, fuhr sie los, um nach ihnen zu suchen: „Am nächsten Tag bin ich nach Rio de Santiago, weil dort einer meiner Brüder wohnte, um ihn zu benachrichtigen. Und wir sind dann zu José Luis und meiner anderen Tochter Hilda, die in Mexiko-Stadt gewohnt hat, um etwas zu machen, die Familie zu informieren. Und von da an wusste ich nichts mehr über sie [die Gefangenen]. Sie haben sie verloren! Wir haben beim Militärlager [von Atoyac] gefragt und sie haben gesagt, dass dort niemand sei.“12 (Rosa Castro Velázquez, San Vicente de Benítez, 2009)
Rosa Castro Velázquez aus San Vicente war Zeugin der Entführung, sie weiß, dass Coronel Castro Villareal ihre Angehörigen festgenommen hat. Sie beschreibt die Verzweiflung, Angst und Ohnmacht, die sie fühlte, als die Soldaten ihr jegliche Auskunft verweigerten. Auch anderen Angehörigen ging es so. „Ich bin dorthin, meine Mutter auch, und so haben viele Leute nachgefragt, aber nichts, sie haben nichts gesagt“,13 sagte auch Don Mario aus San Vicente de Jesús. Gemeinsam mit seiner Mutter suchte er seinen verschleppten Vater. Sie fragten nach ihm im Militärlager in Atoyac. Aus Angst haben sie ihn jedoch nur in Atoyac gesucht und nicht an anderen Orten, denn zu dieser Zeit habe nur die Regierung „Meinungsfreiheit“ gehabt, wie er meinte. Auch andere Angehörige aus verschiedenen Dörfern fragten nach ihren Verschwundenen im Militärlager und der Polizeistation in Atoyac, in Tecpan, in Acapulco. Stets erhielten sie nur negative oder keine aufschlussreichen Antworten. Andrea Baltasar Vázquez ging zum Militärlager in Atoyac, um nach ihrem verschleppten Mann zu fragen: „Der Soldat im Militärlager von Atoyac hat
11 „Nos venimos y nos pusimos allá en el corredor y me dije, ¡de aquí no me quitan! [...] Al fin perdieron la esperanza que nosotros nos metiéramos. Y empezaron otra vez a preparar los carros y si, se los llevaron, con las luces apagadas se los llevaron del pueblo. [...] Se los llevaron como a las dos de la mañana.“ (Rosa Castro Velázquez, San Vicente de Benítez, 2009) 12 „A otro día me fui yo al Rio de Santiago porque alla vivía un hermano mío, para avisarle y nos fuimos para avisarle a José Luis y mi otra hija, Hilda, ellos vivían en Mexico, para movernos, para avisar a la familia y ya de ahí ya no supe de ellos. ¡Los perdieron! Fuimos a preguntar al cuartel [de Atoyac] y dijeron que ahí no había nadien.“ (Rosa Castro Velázquez, San Vicente de Benítez, 2009) 13 „Yo fui, mi mamá tambien y así varia gente preguntaba, pero no no, no daban razón.“ (Don Mario, San Vicente de Jesús, 2009)
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sich hingestellt und gesagt, nein, nein, nein, hier ist niemand! Hier haben wir keine Arroyos. Und wir sind wieder gegangen.“14 (Andrea Baltasar Vázquez, Rincón de las Parotas, 2010) Viele erhielten auch Drohungen von den Militärs, wie Rosa Castro Velázquez erinnert: „Wenn sie weiter fragen, nehmen wir sie auch gleich mit!“15 (Rosa Castro Velázquez, San Vicente de Benítez, 2009) Einige ließen sich von derartigen Drohgesten einschüchtern, bekamen Angst und gaben die Suche auf. Die kontinuierliche Verweigerung jeglicher Informationen über die Verschwundenen löste bei denmeisten Angehörigen Frustration und Verzweiflung aus. „Nichts, nichts, nichts haben sie uns gesagt!“, hört man von vielen Angehörigen, wenn sie über diese Momente sprechen. Zu ihrer Verunsicherung trug auch bei, dass während der Suche in Behörden, Polizeistationen und Militärlagern die staatlichen Stellen Gerüchte über den möglichen Aufenthaltsort der Verschwundenen verbreiteten. Die Angehörigen wurden darauf hingewiesen, dass er/sie sich nicht hier befinde, aber möglicherweise in der Polizeistation X oder im Militärlager Y. Woraufhin die Angehörigen diesen Ort aufsuchten, nur um dann wieder die gleiche negative Antwort mit einem Verweis auf einen anderen Ort zu bekommen. So erinnert sich Sofía Tabares an diese Verunsicherungen: „Fünf Kinder hinterließ mein Bruder und nie haben wir etwas über ihn gehört. Am 5. Oktober haben sie ihn festgenommen, sie haben ihn festgenommen, meinen Bruder Lucio. Sie haben gesagt, dass sie ihn in Tecpan hätten und danach haben sie gesagt, dass sie ihn nach Acapulco gebracht hätten, aber wir haben ihn gesucht und ihn nie gefunden. Sie haben ihn verloren!“16 (Sofía Tabares Vázquez, Atoyac 2007)
Auch Rosa Castro Velázquez aus San Vicente erinnert sich an die odyseehafte Suche: „Ich bin nach Mexiko, um ihn zu suchen. Ich bin zum Gefängnis von Toluca, weil sie uns gesagt haben, dass sie viele Gefangene dorthin gebracht hätten. Das stand in einer Zeitung. So sind wir dorthin mit meiner Tochter, (…) sie haben uns gut empfangen, sie haben uns reinge-
14 „El soldado en el campo militar de Atoyac se puso en frente y dijo, ¡no, no, no, aquí no hay nadie! Aquí no hay Arroyos. Y nosotros nos fuimos.“ (Andrea Baltasar Vázquez, Rincón de las Parotas, 2010) 15 „Si sigue preguntando, ¡la vamos a llevar también de una vez!“ (Rosa Castro Velázquez, San Vicente de Benítez, 2009) 16 „Cinco de familia dejó mi hermano y nunca supimos de él. El 5 de octubre lo agarraron, lo agarraron, a mi hermano Lucio. Decían que lo tenían en Técpan y después decían que lo habían pasado a Acapulco, pero nosotros lo buscamos y nunca lo encontramos, lo perdieron.“ (Sofía Tabares Vázquez, Atoyac 2007)
212 | K AMPF UM R EHUMANISIERUNG lassen, sie haben dort nachgefragt, wo sie die Gefangenen hatten und nach Isaías Castro Velázquez gefragt. Und sie haben gesagt, nein, hier ist niemand, hier haben sie keinen solchen Gefangenen. Aber, damit sie beruhigter gehen, schauen sie doch in die Archivabteilung, damit dort für sie gesucht wird. Wenn er hier war, dann taucht das im Archiv auf. Und dann sind wir dorthin und nichts, es gab nichts!“17 (Rosa Castro Velázquez, San Vicente de Benítez, 2009)
Immer wieder wird die Odysee betont, die die Opfer auf sich nahmen, um ihre verschwundenen Angehörigen zu suchen. Apolinar Castro Román beschreibt die Suche nach ihrem Mann: „Wir waren in Acapulco, sind nach Tecpan, wir haben hier gefragt, haben an den Ufern des Flusses gesucht, vielleicht haben sie sie da reingeworfen, dann sind wir zu den Müllhalden, weil, vielleicht, ich weiß nicht, haben sie sie ja dort gelassen, sie dort hingeworfen. Aber nein. (…) Wir sind bis nach Mexiko-Stadt zum Campo Militar Nr.1 um ihn zu suchen, wir haben Fotos dort gelassen, vielleicht hat ihn ja jemand gesehen, aber nein, dort nicht. Wir haben die Hoffnung nicht aufgegeben, ihn lebend zu finden. Aber nichts.“18 (Apolinar Castro Román, Colonia 18 de Mayo, 2009)
Es klingt die Angst an, die sie bei der Suche nach ihren Angehörigen hatten. In vielen Interviews wird immer wieder betont, dass sie sich hilflos gefühlt haben, alleine, ohne zu wissen, wohin gehen, wo suchen. Es muss angemerkt werden, dass viele der Suchenden nie zuvor in der Stadt oder außerhalb ihrer comunidades waren. Dies erschwerte die Suche und trug zu einer weiteren Verstärkung der Angst bei. Die Angst vor dem Verlassen der comunidad, die Angst vor dem Unbekannten, die Angst vor staatlichen Behörden. Hinzu kamen die kontinuierlichen Drohungen der
17 „A México yo lo anduve buscando, pero no más nosotros pues. Fui a la cárcel de (...) Toluca, porque nos dijeron que muchos reos los pasaron para allá. Que salió en un periódico. Entonces fuimos con mi hija, (…) nos recibieron bien, nos pasaron, hablaron a donde tienen los presos, preguntando por el Isaías Castro Velázquez y dicen, pues, no, no hay nada, aquí no han pasado a ningún preso por acá. Pero, para que se vayan más conforme vayan al archivo para que les busquen ahí. Si aquí estuvo, ahí queda en el archivo. Y ya pasamos y no, ¡no hubo nada!“ (Rosa Castro Velázquez, San Vicente de Benítez, 2009) 18 „Anduvimos en Acapulco, fuimos a Tecpan, preguntábamos aquí, buscábamos en (...) las orillas del rio que los tiraran y andábamos luego en los basureros, porque acaso, no sé, los hubieran dejado ahí, que los hubieran tirado pues. Pero no. (…) Fuimos hasta México al campo número 1 a buscarlo, allá dejábamos foto para ver si alguien decía, no, aquí está. No perdíamos la esperanza de encontrarlo vivo. Pero no.“ (Apolinar Castro Román, Colonia 18 de Mayo, 2009)
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Polizei oder der Soldaten, die die Kontaktstellen in den jeweiligen Polizeitstationen oder Militärlagern waren. „Ich bin hin um zu fragen und die Soldaten sind raus, wütend haben sie mich vertrieben und gesagt, nein, hier ist niemand“19, wie sichauch Doña Fernanda aus San Vicente de Jesús erinnert. In vielen Fällen haben sie sich auch über die Frauen lustig gemacht und sie als Verrückte (locas) bezeichnet. Mit diesen Drohgebärden, Verhöhnungen und dem Diskreditieren ihrer Anliegen wurde die Hierarchie und Machtposition der Vertreter des Staates gegenüber den Angehörigen deutlich gemacht. Ein Phänomen, das sich im Zusammenhang mit der Suche nach den Verschwundenen und der Ungewissheit entwickelte, war Betrug und ein Verdienen an dem Leid der Angehörigen. So erzählte Apolinar Castro Román von einer Spiritualistin, die Prophezeiungen machte und dafür Geld verlangte: „[S]ie haben sie [eine Angehörige] betrogen und dann haben sie mich auch betrogen weil wir einige Male Personen befragt haben, die angeblich mit übernatürlichen Personen sprechen können. Aber nur, um uns Geld aus der Tasche zu ziehen, denn nie haben sie uns etwas gesagt, es war nur, um uns ein bisschen zu beruhigen. Sie haben uns gesagt, er lebt, machen sie sich keine Sorgen, er lebt und er ist auf einer Insel, aber er lebt.“20 (Apolinar Castro Román, Colonia 18 de Mayo, 2009)
Die Mutter des Verschwundenen glaubte nicht daran, da er ja bei der Verschleppung angeschossen wurde und wahrscheinlich tot sei. Ihre Verzweiflung war eher die Tatsache, dass sie nicht wusste, wo der Leichnam war, als die Tatsache, dass er tot sei: „Aber es ist Lüge, man weiß doch eigentlich, dass es nicht stimmen kann. Meine Schwiegermutter sagte: es ist unmöglich, dass er lebt, sie haben ihn ja aus der Nähe angeschossen. Er lebt nicht, meine ich, warum sollen wir uns selbst betrügen.“21 (Apolinar Castro Román, Colonia 18 de Mayo, 2009) Aus Mangel an Beweisen gaben sie dennoch die Hoffnung nicht auf, dass er doch leben könnte. Andere Angehörige erhielten Nachrichten per Telefon oder Briefe, wo über die bal-
19 „Yo todavía fui a preguntar y me salían los soldados, con coraje me correteaban, que no, que ahí no había ninguno“ (Doña Fernanda, San Vicente de Jesús, 2009) 20 „[L]uego la engañaban (a otro familiar) y luego también me engañaban a mí porque varias veces consultamos a personas que según hablan con personas del más allá y no más para sacar el dinero porque nunca nos decían, nada más para encontentarnos un poquito. Nos decían, el está vivo, no se preocupen, el está vivo y está en una isla, pero él está vivo.“ (Apolinar Castro Román, Colonia 18 de Mayo, 2009) 21 „Pero es mentira, uno sabe realmente que no, porque decía mi suegra: es imposible que va a estar vivo, le dispararon a quemarropa (…).. No está vivo, le digo, para que nos engañamos.“ (Apolinar Castro Roman, Colonia 18 de Mayo, 2009)
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dige Rückkehr des/der Verschwundenen informiert wurde. Ankündigungen, die jedoch nie eintraten, wie im Falle von Doña Concepción: „1980 (…) bekam ich einen Telefonanruf; sie sagten: (…) wir rufen sie an, um ihnen zu sagen, dass sie bald ihren Sohn sehen werden. Und dann haben sie aufgelegt. Seither sind 17 Jahre vergangen und nie habe ich aufgehört zu denken, dass mein Sohn Jesús lebt, und niemals werde ich aufgeben, ihn zu suchen.“22 (Doña Concepción zit. in: enlace zapatista 2009).
Rodrigo Álvarez erinnert sich, dass auch seine Großmutter einen Hinweis bekam, dass ihr verschwundener Sohn im Militärlager Nr. 1 in Mexiko-Stadt gesehen wurde. Viele haben auch in kontinuierlichen Gebeten Hilfe bei katholischen Heiligen gesucht, wie Romana Bello Cabañas, Mutter eines Verschwundenen: „An den Vater Jesús, die Jungfrau von Guadalupe, die Jungfrau von Soledad, an alle einfach, ich wusste nicht mehr an wen noch!“23 (Romana Bello Cabañas, El Ticui, 2010) Bald begannen auch Gerüchte über die Elimination von Gefangenen zu kursieren, wie Sofía Tabares erzählt: „Ich kannte einen Leutnant dort vom Militärlager, der der Freund einer Schwägerin war. Er hieß José Manuel Guzmán, (…) in den Tagen, als sie meinen Vater festgenommen hatten, war er auf Urlaub. Und ich habe ihn gefragt, dass er mir sagen solle, wo sie ihn hingebracht hätten. Aber er meinte, er sei nicht dort gewesen, als das passiert sei. Das Einzige was er mir sagte, war, dass es dort im Militärlager einige Gruben gab, wo sie sie hineingeworfen haben. (…) Lebend! Und man hörte die Schreie! Aber ich kann dir nicht sagen, meinte er, ob dein Vater dort war.“24 (Sofía Tabares Vázquez, Atoyac, 2006)
22 „En 1980 (...) me hicieron una llamada; me dijeron: (...) le estamos llamando para decirle que pronto verá a su hijo. Y me colgaron. Han pasado 17 años desde entonces y nunca he dejado de pensar que mi hijo Jesús está vivo y nunca dejaré de buscarlo.“ (Doña Concepción zit. in: enlace zapatista 2009). Unter: http://enlacezapatista.ezln.org.mx/2009/01/31/ la-fragua-de-los-tiempos-febrero-1-de-2009-803/ (Letzter Zugriff: 30.04.2014). 23 „Al padre Jesús, a la Virgen de Guadalupe, la Virgen de Soledad, bueno, todos, no hallaba yo!“ (Romana Bello Cabañas, El Ticui, 2010). 24 „Yo conocía a un subteniente de ahí del cuartel que era el novio de una cuñada que tengo. El se llama José Manuel Guzmán, (…) en esos dias que agarraban (..) mi papa, el estaba de vacaciones. Entonces yo le decia que me dijera pues y que donde lo habian llevado. Pero dijo como el no estaba ahí, cuando ahí, cuando eso sucedió, no me pudo decir nada. Lo unica que me decia era que ahí en el cuartel habia unos [...] hoyos, donde los echaban. (…) ¡Vivos!, y se oían los lamentos. Yo no te puedo decir, dice, si ahí este, estaba tu papá.“ (Sofía Tabares Vázquez, Atoyac, 2006)
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Diese Erzählungen und Gerüchte über die möglichen Ermordungen der Verschwundenen, deren Wahrheitsgehalt von den Angehörigen nicht überprüft werden konnte, führten zu schmerzvollen Momenten der Verunsicherung. Die anfängliche Meinung, dass der Verschwundene irgendwo inhaftiert sei und noch lebe, wurde mit derartigen Gerüchten verändert. Die Unmöglichkeit, diese zirkulierenden Geschichten zu verifizieren, führte zu Ohnmacht und Gefühlen des Ausgeliefertseins an einen rechtlosen Staat. Kein juristisches Mittel konnte eingesetzt, keine Anzeige erstattet werden, da sich die einzelnen Behörden für die Gefangennahme des jeweiligen Verschwundenen nicht verantwortlich zeigten. Viele Frauen, Angehörige von Gefangenen und Verschwundenen schrieben Briefe an Präsident Luis Echeverría (1970 – 1976) und an dessen Frau und baten um ihr Mitgefühl. Auch Doña Virginia aus Atoyac schrieb einen derartigen Brief, nachdem sie ihren Sohn verschleppt hatten. Sie fuhr bis Mexiko-Stadt, um ihn dort im Präsidentenpalast abzugeben: „Ich bin los [nach Mexiko-Stadt], ich habe Geld besorgt und bin los, um diese Frau zu suchen, die die Frau von Echeverría war, und sie zu bitten, weinend. Ich bin bis zu Los Pinos25 gefahren, um Don Echeverría zu sagen, dass er Mitgefühl haben sollte, weil er doch das auch nicht für seine Kinder wollte, und wir auch nicht.“26 (Doña Virginia, Colonia 18 de Mayo, 2009)
Das erbetene Mitgefühl erhielt sie jedoch nicht, eine Antwort auf ihre Briefe ebensowenig. Apolinar Castro Román, die ebenfalls Briefe an mehrere Präsidenten geschrieben hatte, meinte empört: „Ach, wir haben zwei Briefe an Miguel de la Madrid geschickt, wir haben Briefe an den nächsten geschickt, an Salinas. Wir haben Briefe an Vicente Fox geschickt. Nie haben wir eine Antwort erhalten. Wer weiß, wie viele Papiere sie in den Müll werfen (…) oder sie sind nie bis zu ihren Händen gelangt. Nie, nie haben wir eine Antwort erhalten!“27 (Apolinar Castro Román, Colonia 18 de Mayo 2009)
25 Los Pinos ist der Sitz des mexikanischen Präsidenten in Mexiko-Stadt. 26 „Yo me fui (a Ciudad de Mexico), conseguí dinero y me fui, digo para ver a esa señora, (...) que era mujer de Echeverría, pedirle, llorando. Que fui mero a los Pinos a decirle a Don Echeverría que hubiera compasión de Dios porque si no quería eso para sus hijos, lo mismo nosotros.“ (Doña Virginia, Colonia 18 de Mayo, 2009) 27 „Ah, le mandamos, (...) dos oficios a Miguel de la Madrid. Le mandamos oficios a este otro que seguía, a Salinas. Le mandamos oficios a Vicente Fox. Nunca tuvimos respuesta. Quien sabe que tantos papeles tiran a la basura (…) o nunca les llegaron a las manos de ellos. ¡Nunca! Nunca tuvimos respuesta.“ (Apolinar Castro Román, Colonia 18 de Mayo 2009)
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Sie weist darauf hin, dass offensichtlich die Anliegen der Angehörigen für die Regierung nicht legitim seien und sie daher wie Schmutz und Müll behandelt werden. Eine weitere dehumanisierende Behandlung erfuhren manche Angehörige, denen der Ort bekannt gegeben wurde, an dem sich der Leichnam eines Ermordeten befand. In vielen Fällen erzeugte die kontinuierliche Drohung, dass jene, die Familienangehörige dieser Toten waren, auch verfolgt und verschleppt werden könnten, starke Gefühle der Angst und Ohnmacht. In manchen Fällen wurde aus diesem Grund der Leichnam des Ermordeten nicht geholt, um ihn zu bestatten. So schreibt Miranda über die comunidad El Quemado: „Mit Schmerz haben einige Angehörige erzählt, dass wenn jemand vom Militär ermordet wurde, sie sich nicht trauten, den Leichnam zu holen um ihm ein ,christliches Begräbnis zu geben’, weil einige daraufhin auch festgenommen, gefoltert und verschwinden gelassen wurden, da man auch sie als Teil der Guerilla verdächtigte, wie etwa Señora Ernestina erzählte; als sie erfuhr, dass ihr Mann Cesáreo Helguera in der Nähe des Militärlagers von Iguala ermordet und der SEMEFO28 übergeben wurde, wo er 15 Tage lag, hat sie sich nicht getraut, ihn zu holen aus Angst festgenommen zu werden. (…) Er wurde als Unbekannter begraben.“29 (Miranda 2006: 235 f.)
Wie viele der Verschwundenen also als „Unbekannte“ in Massengräbern verscharrt wurden, weil die Angehörigen Angst vor Repressalien hatten, ist bis heute nicht bekannt. Um nun die Perspektive der Regierung von Luis Echeverría auf diese Ereignisse und die Reaktionen auf die Forderungen der Angehörigen zu illustrieren, soll im Folgenden der Besuch von Luis Echeverría in Atoyac im Jahr 1975 skizziert werden. Mai 1975: Luis Echeverría in Atoyac Am 23. Mai 1975 stattet Präsident Luis Echeverría der Bevölkerung von Atoyac einen Besuch ab. Castellanos (2007) beschreibt die Ereignisse. Es sind nur einige Wochen vergangen seit der Amtsübernahme von Rubén Figueroa als Gouverneur
28 Servicio Médico Forense del Estado (Staatliche Stelle für Forensische Medizin). 29 „Con dolor señalaban que cuando alguno de sus familiares era asesinado por el ejército nadie se atrevía a reclamar su cuerpo ,para darle cristiana sepultura’, porque luego eran detenidos, torturados y desaparecidos por considerarlos también parte de la guerrilla, como lo manifestó la señora Ernestina; cuando supo que su esposo Cesáreo Helguera fue asesinado en las cercanías del campo militar de Iguala y entregado al SEMEFO donde estuvo expuesto durante más de 15 días, no se atrevió a reclamarlo por temor a ser detenida también, (...) fue sepultado como desconocido.“ (Miranda 2006: 235 f.)
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von Guerrero, von jenem Mann, der ein Jahr zuvor von der Partei der Armen entführt worden war. Er besucht Atoyac, der in politischen Kategorien als „ProblemBezirk“ eingestuft war, um einen konstruktiven Plan für die Menschen zu schmieden und die „feige Gewalt“ der Aufständischen beiseite zu lassen. Die BewohnerInnen der Region versammeln sich am Hauptplatz, um Echeverría zu sehen und zu hören. Es ist jener Platz, an dem am 18. Mai 1967 die Polizei ein Massaker verübte und Lucio Cabañas die bewaffnete Bewegung der Partei der Armen ins Leben rief (vgl. Kap. 2.2). In der Menge am 23. Mai 1975 befinden sich auch die Frauen der Verschwundenen, die mit Echeverría sprechen wollen. Sie sprechen von 800 Verschwundenen aus dem Bezirk Atoyac. Echeverría ignoriert sie und spricht stattdessen von der Entführung von Figueroa. Er bezeichnet diese als „feigen Akt des Verrats“ und ruft die Bevölkerung auf, Probleme mit anderen Mitteln zu lösen. María Romelia Martínez, Frau eines Verschwundenen ruft Echeverría zu: „Ich wil meinen Sohn sehen, er hat doch nur auf dem Maisfeld gearbeitet!“30 (Martínez zit. in Castellanos 2007:165 f.) Der Präsident antwortete: „Ich komme, um diesen Frauen zu sagen, die mich um die Freiheit ihrer Ehemänner und Söhne bitten, dass wir jeden einzelnen Fall überprüfen werden; dass wir niemanden helfen werden, der einen feigen Mord begangen hat, sondern jenen, die Opfer einer Ungerechtigkeit geworden sind, denen werden wir selbstverständlich helfen. Zählen sie darauf in Atoyac.“31 (Echeverría zit. in: ebd.)
Es ist die charakteristische Art und Weise des präsidialen Diskurses in Mexiko, in dem jegliche Schuld an einer Tat von sich gewiesen und den Opfern Aufklärung versprochen wird. Das Versprechen löste er jedoch nicht ein. Andrea Pérez de Vargas sagt einem Journalisten der Zeitung Excélsior: „Mir fehlen zwei Söhne und ein Enkel. (…) Wir wollen nur wissen, ob sie tot sind oder ob wir weiterhin auf sie warten.“32 (Pérez de Vargas zit. in: ebd.:166) Luis Echeverría reagierte nicht auf die Proteste und Bitten der Frauen der Verschwundenen. Es gab auch Angehörige aus einer anderen Gruppe, mit denen Echeverría und Figueroa konfrontiert waren. Die Mütter und Ehefrauen der vermissten 34 Soldaten, die vermutlich in Konfrontatio-
30 „¡Quiero ver a mi hijo, él sólo trabajaba en la milpa!“ (Romelia Martínez zit. in Castellanos 2007: 165 f.) 31 „Vengo a declarar a estas mujeres que me piden la libertad de sus maridos o hijos, que estudiaremos caso por caso; que no ayudaremos a nadie que haya cometido un asesinato cobarde, pero al que sea victima de una injusticia, lo ayudaremos, desde luego, cuenten con eso en Atoyac.“ (Echeverría zit. in: Castellanos 2007: 165 f.). 32 „Me faltan dos hijos y un nieto (…). Solo queremos saber sin han muerto o si los seguimos esperando.“ (Pérez de Vargas zit. in: ebd.:166)
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nen mit den Guerrillabewegungen der Partei der Armen oder der Asociación Civica Nacional Revolucionaria gestorben sind. In einem Aufruf der Familienangehörigen am 31. August 1975 in der Zeitung Excélsior sagen diese: „Hat denn das Leben unserer Männer und Brüder keinen Wert? Hat denn das Blut unserer Väter oder Brüder nicht diesselbe Bedeutung wie jene anderer Menschen?“33 (zit. in: ebd.) Auch auf diese Fragen und das Schicksal dieser Verschwundenen gab es keine Antwort von Echeverría oder Figueroa. Luis Echeverría hatte andere politische Ambitionen. Er wollte im Jahr 1975 Generalsekretär der Vereinten Nationen werden und den Friedensnobelpreis erhalten, trat international mit seinem Diskurs zum revolutionären Verteidiger der „Dritten Welt“ auf und setzte sich für politische und ökonomische Rechte der Länder des Südens ein. Er wurde jedoch weder der UNRepräsentant noch Friedensnobelpreisträger und innenpolitisch führte er während seiner verbleibenden Amtszeit weiterhin die Repression jeglicher politischer Opposition fort. In allen testimonios wird deutlich, dass die Angehörigen nach dem Verschwindenlassen von Familienmitgliedern einen Prozess der kontinuierlichen Suche begannen, in der sie zu unterschiedlichen Mitteln griffen. In den Erzählungen der Angehörigen ist dieser individuelle Prozess der Suche geprägt von drei zentralen Aspekten: (1) die demütigende Behandlung von Seiten der Repräsentanten des Staates, (2) die Verleugnung der Anwesenheit des Angehörigen am jeweiligen Ort der Suche und (3) die Verbreitung von Gerüchten über den möglichen Aufenthaltsort der Verschwundenen. Die demütigende Behandlung war verbunden mit der Drohung, dass sie auch verhaftet werden würden. Dies führte in vielen Fällen dazu, dass die Angehörigen aus Angst davor, die Suche einstellten oder sie erst gar nicht begannen. Jene, wie Doña Fernanda, Frau eines Verschwundenen, die die Suche dennoch aufnahmen, waren wiederum konfrontiert mit den oben beschriebenen Gerüchten über den Ort, wohin der Angehörige angeblich verschleppt worden ist. Die Unsicherheiten und Ungewissheiten übertragen sich auch in die Art und Weise, wie davon erzählt wird: „Sie haben mir gesagt, dass er dort bei Cruz Grande war. (…) Ja, aber da war nichts, es war nicht wahr. Sie haben ihn anscheinend direkt zum Campo Militar Nr. 1 gebracht. Und andere sagten, als sie dort waren, (…) ich will Wasser und sie haben ihnen heißes Wasser gegeben, sie sagten, wir geben dir gleich Wasser (…). Sie sagten, dass sie die Augen verbunden hatten (…), dass es eine Maschine gab, wo sie lebend hineingeworfen wurden. In einen unterirdischen Raum, den sie gemacht haben. Und andere sagen, dass sie sie mit Hubschraubern weg-
33 „¿Acaso la vida de nuestros maridos o hermanos no significa lo mismo que la de cualquier ser humano?“ (Angehörige zit. in: ebd.)
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gebracht haben und so, wie sie gefesselt waren, wurden sie ins Meer geworfen.“34 (Doña Fernanda, San Vicente de Jesús, 2009)
Das Zitat zeigt auch, dass die Gerüchte nicht nur den ungewissen Ort bezeichneten, sondern auch die Ungewissheit im Zusammenhang mit den Fragen, ob der/die Angehörige an diesem Ort noch lebte, dort ermordet wurde und wie sie ermodet wurden. Diese Gerüchte kursieren über 35 Jahre nach dem Verschwindenlassen der Angehörigen bis heute und betreffen den möglichen Aufenthaltsort der Verschwundenen ebenso wie die Art und Weise einer möglichen Ermordung. Es muss an dieser Stelle betont werden, dass es sich bei den Gerüchten über den Ort der Gewalt und die Art und Weise der Gewaltanwendung um Tatsachen handelt, dass also alle aufgezählten Orte und alle Arten der Ermordung belegt wurden. Beim Hinweis der Angehörigen, dass es sich um Gerüchtehandle, geht es alsolediglich um die Unsicherheit dessen, wohin der eigene Angehörige verschleppt wurde. Nach diesen Ausführungen über individuelle Praktiken der Suche der Angehörigen und den damit verbundenen Schwierigkeiten, Ungewissheiten, Ängsten und Repressionen werden im Folgenden Prozesse der Vernetzung der Angehörigen skizziert. Diese Prozesse werden hier als die Konstruktion sozialer Erinnerungsgruppen zusammengefasst, die in lokale, nationale und transnationale Dimensionen unterschieden werden können.
34 „Me decían que estaba por ahí, por Cruz Grande. (…) Si, pero no era nada, no era cierto. A el lo llevaron directamente, este, dicen que se lo llevaron a Campo Número 1. Y otros dicen que cuando estaban (…), quiero agua, dicen que les daban agua caliente, dicen, ahorita te vamos a dar agua (…). Todavía dicen que vendados, (...) estaba una máquina ahí y que ahí los echaban vivos. Un subterráneo que estaban haciendo. Y otros dicen que se los llevaron a un helicóptero y asi como iban de maniados los echaban al mar.“ (Doña Fernanda, San Vicente de Jesús, 2009)
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3.3 K OLLEKTIVE S UCHE UND P ROTEST : K ONSTRUKTIONEN SOZIALER E RINNERUNGSGRUPPEN 3.3.1 Lokale Vernetzungen: AFADEM „[U]m dann überzugehen von diesem partikulären und kleinlichen Gefühl für das Eigene zum sozialen Gefühl, das über die egoistischen Bande des Blutes hinausgeht und übertragen wird in einen ungebrochenen und konstanten Kampf, der uns auf einmal zu Gleichen machte. Auf einmal waren sie [die Verschwundenen] alle unsere, diesselbe Haut, derselbe Albtraum, derselbe Schmerz, dieselbe Ungerechtigkeit.“35 (Piedra 2007: 3).
Celia Piedra aus Atoyac, deren Mann Jacob Nájera Hernández im Jahr 1974 verschwinden gelassen wurde, beschreibt die Wichtigkeit der Verbindung mit anderen Angehörigen und die damit einhergehenden Transformationen zu gemeinsamem politischen Handeln. Die Präsenz des Militärs in der Sierra de Atoyac war auch nach der Ermordung von Lucio Cabañas im Dezember 1974 stark. Die Angst vor Repression war angesichts der fortdauernden Verhaftungen und Verschleppungen immer noch verbreitet. Die zuvor beschriebenen Schwierigkeiten bei der Suche der Verschwundenen und die gefühlte Ohnmacht, alleine nichts bewirken zu können, führte dazu, dass sich immer mehr Angehörige mit anderen Angehörigen, die sie auf Polizeistationen, in Militärlagern und Behörden kennenlernten und die ähnliche Schicksale erlitten, zusammenschlossen. So formten die zunächst allein suchenden Angehörigen lokale Netzwerke, um gemeinsam zu protestieren und nach den Verschwundenen zu suchen. Eine organisierte Zusammenkunft mit den anderen Angehörigen gab es nur in der Bezirkshauptstadt Atoyac. In den comunidades haben sich die Angehörigen nicht getroffen oder organisiert, wie Rosa Castro Velázquez erinnert: „Nur wenn eine Demonstration war, (…), aber dass wir uns im Dorf versammelt hätten, das haben wir nicht gemacht.“36 (Rosa Castro Velázquez, San Vicente de Benítez, 2009) In Atoyac hat sich eine Frau als Repräsentation der Angehörigen hervorgetan. So erzählte Romana Bello Cabañas, Mutter eines Verschwundenen aus El Ticui,
35 „[P]ara de ahí saltar de ese sentimiento particular por lo propio, al sentimiento social que va más allá de los lazos mezquinos y egoistas de la sangre, y convertirla en una lucha inquebrantable y constante que de pronto nos hizo iguales, de pronto todos [los desaparecidos] eran nuestros, la misma piel, la misma pesadilla, el mismo dolor, la misma injusticia.“ (Piedra 2007) 36 „Solamente cuando había una marcha, (…) pero así que en el pueblo nos hubiéramos juntado, no lo hicimos.“ (Rosa Castro Velázquez, San Vicente de Benítez, 2009)
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dass sie sich zuerst mit Fidencia Bello organisiert hätten. Fidencia Bello ist Frau eines Verschwundenen aus der comunidad San Juan de las Flores und hat zunächst die Proteste angeführt. Romana Romana Bello Cabañas meinte über sie: „Fidencias Mann wurde verschleppt. Sie war mit uns zusammen und weil sie groß war, hatte sie den Mut zu sprechen.“37 (Romana Bello Cabañas, El Ticui, 2010) Sie hat von 1974 bis Anfang der 1980er Jahre die Anliegen der suchenden Frauen vor der Regierung vertreten und Proteste auf lokaler Ebene angeführt. Rodrigo Álvarez sagte: „[U]ngefähr von 74 bis 80 hat sie die Gruppe geführt, denn [im Büro] von Tita [Radilla] habe ich eine Anzeige gesehen. Sie und eine andere Frau unterschrieben die Anzeigen.“38 (Rodrigo Álvarez, El Ticui, 2010) Romana Bello Cabañas sprach über den Mut, den man damals als Frau im ruralen Mexiko haben musste, um in der Öffentlichkeit und vor den Regierungsbehörden zu sprechen. Dies illustriert die Lebensrealität der Frauen in den Dörfern der Sierra de Atoyac. Die meisten Frauen hatten keine Erfahrung mit öffentlichem politischem Protest und waren eingebettet in ihre lokale Rolle als Kleinbäuerin, Ehefrau und Mutter. Sie haben vor dem Verschwindenlassen ihrer Ehemänner oder Söhne ihr Dorf oder die Region von Atoyac kaum verlassen und kannten die Hauptstadt Mexiko-Stadt nicht, die rund 500 km entfernt liegt. Viele von ihnen, wie Romana Bello Cabañas, sind nie zur Schule gegangen und können nicht lesen und schreiben. Ende der 1970er Jahre kam auch Rosario Ibarra aus der nördlichen Stadt Monterrey, Mutter des 1975 verschwundenen Jesús Piedra Ibarra, der Mitglied der Liga Comunista 23 de Septiembre war, erstmals nach Atoyac um sich mit den dortigen Angehörigen zu koordinieren. Rosario Ibarra sagte später über diese Zeit der Transformation der Frauen in politische Akteure: „Physisch haben wir unsere Söhne geboren, aber politisch haben sie uns geboren.“39 (Ibarra zit in: Maier 2001: 12) Rosa Castro Velázquez aus San Vicente de Benítez erinnert sich an die Koordination mit Rosario Ibarra: „Nur auf den Demonstrationen [haben wir uns getroffen], da sind wir nach Atoyac und haben uns in der Schule der Preparatoria mit ihr getroffen und von da sind wir zur Demonstration.“40 (Rosa Castro Veláquez, San Vicente de
37 „Se llevaron al esposo de Fidencia. Se juntó con nosotros y porque era alta tenía el valor de hablar.“ (Romana Bello Cabañas, El Ticui, 2010) 38 „[M]ás o menos del 74 al 80 ella estuvo lidereando porque ahí donde [la oficina de] Tita [Radilla] vi una relación donde aparece una denuncia. Ella firmaba las denuncias y otra señora.“ (Rodrigo Álvarez, El Ticui, 2010). 39 „Nosotras parimos a nuestros hijos físicamente, pero políticamente ellos nos parieron a nosotras.“ (Ibarra zit in: Maier 2001: 12) 40 „[Nos juntamos] no más en las marchas, que íbamos a Atoyac y ya nos reuníamos en la casa de la preparatoria con ella y ya saliamos en la marcha.“ (Rosa Castro Veláquez, San Vicente de Benítez, 2009)
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Benítez, 2009) Der ehemalige politische Gefangene José Enrique González Ruíz erinnert, dass er ebenso wie Rosario Ibarra im Zuge der nationalen Koordinierung des Kampfes um die Verschwundenen im Jahr 1977 nach Atoyac kam. Sie gründeten mit den Angehörigen in Atoyac die Frente Nacional Contra la Represión (FNCR, Nationale Front gegen die Repression) und begannen in allen comunidades der Sierra die Angehörigen aufzusuchen: „Wir haben begonnen von einem Dorf zum nächsten zu fahren, die ganze Sierra und die Dörfer unten bis nach Coyuca, um zu recherchieren.“41 (González Ruíz zit. in Solís Téllez 2009) Der häufigste Versammlungsort der Angehörigen aus Atoyac mit Angehörigen aus anderen Bundesstaaten war die Preparatoria (Gymnasium), die von LehrerInnen der Universidad Autónoma de Guerrero im Jahr 1976 in Atoyac gegründet worden war. In einem immer noch militarisierten Atoyac war dies eine schwierige Initiative, da viele der Mitglieder der Autonomen Universität Guerrero während des Schmutzigen Krieges als linke Oppositionelle angefeindet, verhaftet, gefoltert und/oder verschwinden gelassen wurden. Während der Gründungsphase der Preparatoria waren demnach LehrerInnen, Eltern und SchülerInnen mit ständiger Polizeiund Militärpräsenz konfrontiert: „Bei den Elternversammlungen haben sie die Überwachung des Militärs und der Polizei aushalten müssen und bis in die Klassenzimmer kamen Soldaten mit Pistolen in der Hand.“42 (Solís Téllez 2009). Die Preparatoria wurde trotz dieser Umstände zum Versammlungsort der Angehörigen der Verschwundenen für den Austausch von Informationen und zur Koordinierung ihrer beginnenden nationalen Proteste. So erinnert sich auch José Teodoro Hernández an diese Versammlungen. Hernández als Verschwundener, der zurückgekehrt war, wurde zu einer wichtigen Informationsquelle für die Angehörigen. Immer wieder wurde er gefragt, ob er in den Gefängnissen andere Verschwundene gesehen hätte. Er erinnert sich: „Ich bin zu einigen Versammlungen, die von Doña Rosario Ibarra und der Nationalen Front gegen die Repression in der Preparatoria organisiert wurden, weil ich mir gesagt habe, ich habe so viele compañeros lebend gesehen, als ich eingesperrt war oder von denen andere Freunde erzählt haben, dass sie sie gesehen hätten. Und so haben mir viele Frauen aus Atoyac Fotos ihrer verschwundenen Kinder gezeigt und mich nach ihnen gefragt. Das war sehr be-
41 „Comenzamos a recorrer pueblo por pueblo, toda la sierra y los pueblos del bajo, hasta Coyuca para investigar.“ (zit. in Solís Téllez 2009). 42 „Tuvo que soportarse la vigilancia militar y policiaca en las reuniones de padres de familia y en las mismas aulas a donde acudían militares con pistola en mano.“ (Solís Téllez 2009)
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wegend und sehr traurig, weil ich viele von ihnen nicht gesehen habe und sie aber diese Hoffnung hatten.“43 (Hernández zit. in Solís Téllez 2009)
Wie bereits erwähnt (vgl. Kap. 2.3.8), stellten die zurückgekehrten Verschwundenen für die Angehörigen eine wichtige Informationsquelle dar und weckten auch Hoffnungen. Meist wurden diese Hoffnungen aber enttäuscht, da die Inhaftierten zwar in manchen Fällen Verschwundene in den jeweiligen Geheimgefängnissen gesehen hatten, aber nichts über deren weiteres Schicksal wussten. Die Angehörigen in Atoyac gründeten im Jahr 1978das erste bis heute bestehende lokale Netzwerk mit Namen AFADEM (Asociación de Familiares de Detenidos Desaparecidos y Víctimas de Violaciones de Derechos Humanos en México). Dann, „später, als wir Rosario Ibarra kennenlernten, gründeten wir das Komitee für die Gefangenen, Verschwundenen und Exilierten.“44 (Piedra 2007: 3) Es begannen im Jahr 1978 auch die Proteste in Mexiko-Stadt, wie im folgenden Kapitel zu sehen sein wird. Bis heute ist der Protest in der Hauptstadt in den Erzählungen der daran beteiligen Frauen ein wichtiger Moment. Andrea Baltasar Vázquez erinnert sich, dass sie sich nach der anfänglichen alleinigen Suche nach ihrem verschwundenen Mann mit anderen zusammengeschlossen hat und bis nach Mexiko-Stadt fuhr: „Und danach fuhr ich mit einer Gruppe bis nach Mexiko-Stadt! Mit Doña Margarita Cabañas und anderen Frauen. Und dort waren wir dann und haben gefroren. Sieben Tage waren wir dort!“45 (Andrea Baltasar Vázquez, Rincón de las Parotas, 2010) Die Kinder der Verschwundenenfuhrenebenfalls mit und waren bei den Protestaktionen oftmals in der ersten Reihe. Eva, Tochter eines Verschwundenen aus Atoyac, die damals acht Jahre alt war, erinnert sich an die Angst, die sie seinerzeit angesichts der starken Polizei- und Militärpräsenz verspürte: „Rosario Ibarra hat uns in die erste Reihe geschickt. Ich erinnere mich, wie wir mit unseren Müttern dort standen, mit den Transparenten in der Hand. Alles voller Regie-
43 „Yo fui a algunas de las reuniones organizadas por Doña Rosario Ibarra y el Frente Nacional contra la Represión que se hicieron en la prepa, porque yo dije que cuando me apresaron había visto a muchos compañeros con vida, o que otros amigos me habían contado, a quiénes habían visto. Entonces muchas madres de familia de Atoyac me llevaron fotos de sus hijos desaparecidos para preguntarme por ellos. Eso fue muy conmovedor y muy triste, porque yo a muchos no los había visto y ellas tenían esa esperanza“. (Hernández zit. in Solis Tellez 2009) 44 „[M]ás tarde al conocer a Rosario Ibarra formamos el Comité de Presos, Desaparecidos y exiliados.“ (Piedra 2007: 3) 45 „Y luego me fui con un grupo hasta México! Con Doña Margarita Cabañasy otras mujeres. Y ahi estuvimos pasando frio, siete dias estuvimos.“ (Andrea Baltasar Vázquez, Rincón de las Parotas, 2010)
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rungsleute. Da hatten wir ziemliche Angst!“46 (Eva, Atoyac, 2009) Im Folgenden sollen einige Aspekte dieser ersten Proteste der Angehörigen der Verschwundenen in Mexiko-Stadt nachgezeichnet werden. Aus diesen entwickelte sich schließlich auch die nationale Angehörigenorganisiation Comité Eureka.
3.3.2 Nationale Vernetzungen: Comité Eureka „Wenn es keine Organisation wie die unsrige geben würde, wer weiß, vielleicht wüßte dann niemand etwas über die Verschwundenen!“47 (Doña Angelica, Mexiko-Stadt, 2009) „Meine Mutter (…) hat von Leuten erfahren, die auch in der Bewegung waren wie Rosario Ibarra. Sie ist los (…), los also, um mit anderen Angehörigen einen Hungerstreik zu machen. Denn die Leute begannen, sich wegen derselben Sache zu organisieren.“48 (María Felix Reyes, Atoyac, 2010)
„Wir finden Sie!“ (vgl. Abb. 20) steht auf einem großen Transparent, das Angehörige von Verschwundenen am Zócalo, dem Hauptplatz von Mexiko-Stadt, tragen. Im Jahr 1978 fand die erste große öffentliche Protestkundgebung der Angehörigen statt. Und auch die Mutter von María Felix Reyes aus Atoyac, deren Mann 1972 verschleppt wurde, hat sich dem Protest angeschlossen. 84 Frauen und drei Männer aus verschiedenen Bundesstaaten koordinierten einen Hungerstreik, um die Aufklärung über den Verbleib der Verschwundenen zu fordern. Ein Jahr zuvor folgte Rosario Ibarra, die später zur nationalen Galionsfigur der Angehörigenorganisationen werden würde, einem Aufruf der politischen Gefangenen, dass sich Menschen solidarisieren und für ihre Freilassung kämpfen sollten. Rosario Ibarra gründete im Jahr 1977 mit anderen Angehörigen von Verschwundenen das Comité Pro Defensa de Presos, Perseguidos, Desaparecidos y Exiliados Políticos de México.49 Bei ihren ersten Protesten kamen sie aus verschiedenen Dörfern und Städten der Bundesstaa-
46 „Rosario Ibarra nos mandó a la primer fila. Me acuerdo que estuvimos parados allá con nuestras madres, con las pancartas en la mano. ¡Todo estaba lleno de gobierno y tuvimos mucho miedo!“ (Eva, Atoyac, 2009) 47 „Si no hubiera una organización como la nuestra, quien sabe, ¡a lo mejor nadie sabría sobre los desaparecidos!“ (Doña Angelica, Mexiko-Stadt, 2009) 48 „Mi mamá (…), supo de gente que tambien andaba en lucha como Rosario Ibarra de Piedra, se fue (…), fue pues a hacer huelga de hambre con familiares tambien porque se empezó la gente a unirse por la misma causa.“ (María Felix Reyes, Atoyac, 2010) 49 Komitee zur Verteidigung der Gefangenen, Verfolgten, Verschwundenen und politisch Exilierten Mexikos.
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ten von Guerrero, Chihuahua, Oaxaca oder Nuevo León (vgl. Maier 2001: 16). Einige stammten aus der Mittelschicht, die meisten jedoch aus den marginalisierten comunidades der Sierra von Atoyac aus Guerrero. Romana Bello Cabañas aus El Ticui erinnert sich: „Ja, wir sind dann nach Mexiko-Stadt gefahren, wir waren viele, so an die drei Busse voll. Und Rosario Ibarra hat alle dazu aufgerufen.“50 (Romana Bello Cabañas, El Ticui, 2010) Sie versammelten sich am Zócalo, einem symbolträchtigen Ort der Macht und Austragungsort zahlreicher historischer Konflikte. Hier verdichten sich die Erfahrungen von Gewalt, Massakern und Kriegen. So war der Zócalo etwa in präkolumbischer Zeit das sakrale Zentrum des Aztekenreiches und später der Platz, an dem die spanischen Eroberer unter Hernán Cortés die letzten tlatoani, Herrscher der Azteken, Moctezuma und Cuauhtemoc ermordeten. Heute befindet sich am Zócalo der Palacio Nacional, Ort der politischen Macht und Sitz des mexikanischen Präsidenten. Am 28. August 1978 begannen die Angehörigen der Verschwundenen den Hungerstreik. Das Datum war nicht zufällig gewählt. Es blieben noch vier Tage bis zur jährlichen Rede zur Lage der Nation von Präsident López Portillo (1976 – 1982) und die Angehörigen erhofften sich so politischen Druck auf den Präsidenten auszuüben. Die Forderung war politische Amnestie für 1500 politische Gefangene und die Rückkehr von 500 Verschwundenen. Den Protest auf demZócalo stattfinden zu lassen war mit Angst und Gefahren verbunden. Seit dem Massaker von Tlatelolco 1968 war es verboten, am Hauptplatz öffentliche Manifestationen zu organisieren.51 „Um 11 Uhr morgens haben wir angefangen, wir haben vor der Kathedrale unser rotes Transparent mit schwarzen Buchstaben aufgespannt. Es stand darauf: ,Bis wir sie finden! ދDann begann der Skandal, die Priester aus der Kathedrale und die Polizei wollten uns verjagen, aber sie schafften es nicht“,52 erinnert sich Rosario Ibarra (zit. in Ramírez Cuevas 2008: 2).
Trotz der weitverbreiteten Angst seit dem Massaker von Tlatelolco und dem Massaker von Corpus Christi 1971 (vgl. Kap. 2.3) haben sich viele Menschen solidarisch gezeigt undden Hungerstreikenden Honig und Wasser gebracht. Auch Journa-
50 „Si, luego fuimos a México, eramos muchos, como tres camiones llenos y Rosario Ibarra nos llamó a todos.“ (Romana Bello Cabañas, El Ticui, 2010) 51 Am Platz von Tlatelolco haben Sicherheitskräfte bis ein Jahr nach dem Massaker die Zone patrulliert. „No attempt to reccall October 2 would be permitted.“ (Soldatenko 2005: 111) 52 „A las 11 de la mañana sacamos al atrio de la Catedral una manta roja con letras negras que decía „Los encontraremos“. [...] Comenzó el escándalo, los curas y algunos agentes nos querían sacar pero no pudieron.“ (Ibarra zit. in Ramírez Cuevas 2008:2)
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listInnen berichteten über die Proteste. Es war das erste Mal, dass in Mexiko Fotos der Verschwundenen auf einem öffentlichen Platz gezeigt wurden. Viele Angehörige aus Atoyac waren das erste Mal in der Hauptstadt und verbinden diesen ersten Protest mit Erinnerungen an leidvolle Momente: „Wir haben gelitten dort, wir hatten Hunger und es war kalt, und dann haben sie uns ständig bedroht!“53, sagte Doña Mónica aus San Martín de las Flores. Nach vier Tagen Hungerstreik wurden sie angewiesen, den Platz zu räumen. Die Polizei sagte „Entweder ihr geht oder wir verjagen euch!“54 erinnert sich Doña Angelica vom Comité Eureka. Der Innenminister Reyes Heroles wandte sich an die Angehörigen und versprach, dass Präsident Lopez Portillo sie empfangen und ihnen über das Schicksal ihrer Verschwundenen Bescheid geben werde. Nach diesem Versprechen haben sie schließlich den Platz geräumt. „Wir sind mit Tränen in den Augen gegangen“55, erinnert sich Rosario Ibarra (zit. in: Ramírez Cuevas 2008: 2). Sie dachten, sie würden ihre Familienmitglieder bald wiedersehen. Ein paar Tage später verkündete Lopez Portillo ein Amnestiegesetz für 1500 politische Gefangene und die Rückkehr von 57 im Ausland Exilierten politisch Verfolgten. Das Amnestiegesetz ermöglichte die legale Inkorporation von ExGuerilleros in öffentliche politische Aktivitäten. Ein Jahr später gründeten die Angehörigen gemeinsam mit 54 anderen sozialen Organisationen die Frente Nacional Contra la Represión (FNCR, Nationale Front gegen Repression). Im selben Jahr (1979) wurden schließlich 148 Verschwundene, die in Geheimgefängissen im Militärlager Nr. 1 in Mexiko-Stadt inhaftiert waren, freigelassen. Viele dieser zurückgekehrten Verschwundenen haben daraufhin berichtet, dass sie zahlreiche andere Verschwundene in verschiedenen Geheimgefängnissen gesehen oder von ihnen gehört hätten. Sie erzählten von den Entführungen, den Verhören, den Foltermethoden und den Hinrichtungen. Die Rückkehr dieser 148 Verschwundenen war für das Komitee der Angehörigen ein erster Erfolg. Ihrem Organisationsnamen Comité Pro Defensa de Presos, Perseguidos, Desaparecidos y Exiliados Políticos de México haben sie daraufhin Eureka! hinzugefügt. Das Wort Eureka stammt aus dem Griechischen und bedeutet: „Ich habe gefunden.“ (vgl. ¡Eureka! Nr. 1, 2007: 1) „Es gibt keine Demokratie mit Verschwundenen“, ist auf einem Foto von 1978 zu lesen (vgl. Abb. 22). Das Foto zeigt die Angehörigen, die ein Transparent mit dieser Aufschrift hochhalten. Hinter ihnen stehen Soldaten, die die Frauen beobachten. Der Kampf dieser Frauen war für die Entwicklung der Menschenrechtsbewegung in Mexiko ein wichtiger Prozess oder wie Ramírez Cuevas (2008: 2) meinte, sie waren
53 „Sufrimos allá, ¡tuvimos hambre y hacía mucho frío y siempre las amenazas!“ (Doña Mónica, San Martín de las Flores, 2008) 54 „¡O se van o los corremos!“ (Doña Angelica, Mexiko-Stadt, 2009) 55 „Con lágrimas en los ojos nos fuimos.“ (Ibarra zit. in Ramírez Cuevas 2008:2)
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„die Erfinderinnen der Menschenrechte“56 in diesem Land. Ein Poster aus den 1970er Jahren zeigt stellvertretend für diese Idee eine Frau mit geballter Faust auf dem steht: „Die Mütter weinen nicht mehr, sie kämpfen jetzt!“57 (vgl. Abb. 26) Auch Romana Bello Cabañas war eine der Frauen aus der Sierra die Atoyac, die nach ihrem verschwundenen Sohn gemeinsam mit den anderen Frauen suchte und protestierte. Wie all die anderen Frauen, hatte auch sie keine Erfahrung mit politischen Bewegungen: „Meinen sie, ich hätte nicht gelitten mit all diesen Problemen und ich wusste ja gar nicht, wie man so einen Kampf macht, ich war daran ja nicht gewöhnt.“58 (Romana Bello Cabañas, El Ticui, 2010) Während der Proteste in Mexiko-Stadt und der kollektiven Suche nach den Verschwundenen haben Regierungsvertreter sie auch aufgefordert, die Gefängnisse zu durchsuchen. „Wir sind nach Mexiko-Stadt und sie haben uns gesagt: durchsucht doch die Gefängnisse! Sie sagten, dass wir sie dort suchen sollten, denn sie hätten sie nicht dort. Und dann haben sie uns ins Gefängnis geführt, um dort zu suchen.“59 (Romana Bello Cabañas, El Ticui, 2010) Doña Angelica, Schwester eines Verschwundenen und Mitglied vonComité Eureka beschreibt die Wichtigkeit ihrer Vernetzung: „Als wir uns in einer Gruppe organisierten haben wir über das Problem unserer Verschwundenen gesprochen. Wir haben uns so gestärkt und es hat geholfen, nicht in Depressionen zu verfallen oder uns schwach zu fühlen. Es hat geholfen, dass wir weiter nach ihnen suchen.“60 (Doña Angelica, Mexiko-Stadt, 2009) Die Emotionen des individuellen Leidens am eigenen Körper wurden transformiert in ein soziales Empfinden und jeder einzelne Verschwundene wurde zum Verschwundenen auch der anderen. Kollektives Handeln ist also auch mit dem kollektiven Erinnern an das vergangene Gewaltereignis verbunden. Ein wichtiger Aspekt dieser öffentlichen kollektiven Handlungen der Angehörigen war auch, dass sie es waren, die die verheimlichten Verbrechen des Schmutzigen Krieges erst bekannt gemacht haben, wie Doña Angelica vom Comité Eureka im Zitat zu Beginn dieses Kapitels betonte. Sie haben also nicht nur die
56 „Las inventoras de los derechos humanos.“ (Ramírez Cuevas 2008: 2) 57 „Las madres ya no lloran, ahora luchan.“ Poster auf der Titelseite der Zeitschrift ¡Eureka!, Nr. 5, 2007. 58 „Usted cree que no sufrí con todo ese problema y no sabía yo hacer ninguna lucha porque no estaba impuesta pues.“ (Romana Bello Cabañas, El Ticui, 2010) 59 „Ibamos a México y nos decían, ¡registren la cárcel! Qué los buscáramos, que para allá no los habían llevado. Y nos llevaban a la cárcel para que busquemos.“ (Romana Bello Cabañas, El Ticui, 2010) 60 „Cuando nos organizamos en un grupo hablamos del problema de nuestros desaparecidos. Así nos fortelecemos y nos ayudó en no caer en depresiones o sentirnos débiles. ¡Eso nos ayudó a seguir buscándolos!“ (Doña Angelica, Mexiko-Stadt, 2009)
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Wahrheit über die Verschwundenen eingefordert, sondern auch die Wahrheit über die Geschichte. Didier Fassin und Richard Rechtman drücken die Verbindung zwischen kollektivem Erinnern an ein traumatisches Ereignis und kollektivem Handeln folgendermaßen aus: „[C]ollective memory is articulated as a traumatic relationship in which the group identifies itself as a victim through its recognition of a shared experience of violence. Notwithstanding the different contexts, the moral framework that emerges is the same: suffering establishes grounds for a cause; the event demands a reinterpretation of history.“ (Fassin/Rechtman 2009:18 f.)
Die Konstruktion dieser ersten sozialen Erinnerungsgruppen auf lokaler und nationaler Ebene drücken die miteinander verwobenen individuellen Erinnerungen zu sozialen Bedeutungskonstruktionen aus. Denn individuelle Erinnerung ist durch die Praxis der Kommunikation mit einer sozialen Gruppe immer auch soziale Erinnerung. Eine soziale Erinnerungsgruppe kann daher definiert werden als eine spezifische Gruppe, die sich auf eine gemeinsame Erinnerung an bestimmte Ereignisse stützt und dabei auch im Gegensatz und in Abgrenzung zu anderen sozialen Erinnerungsgruppen in einer Gesellschaft, die eine andere Interpretation derselben Ereignisse haben, stehen. Denn Erinnerung wird nicht nur als ein Aufrufen und Wiedergeben von vergangenen Ereignissen verstanden, sondern vielmehr als Erinnerungsarbeit, als ein komplexer Prozess von Selektion, Verhandlung und Kampf darüber, was erinnert und was vergessen werden soll. Erinnerung ist nach Jacob Climo und Maria Cattell (2002) mit Bedeutungsproduktion verbunden, das heißt Menschen suchen Bedeutungszusammenhänge in der Vergangenheit. Erinnerungen formen und erhalten so Bedeutung in der Gegenwart und sind zentral in der Identitätsbildung. Dem sozialen Umfeld und der individuellen Geschichte werden Bedeutungen zuerkannt, die nur durch den Prozess des Erinnerns aufgerufen werden. Soziale Erinnerung wird dabei durch soziale, ökonomische und politische Umstände, durch Werte und Normen, durch Opposition und Widerstand in der Gegenwart geformt und durch Fragen der Macht und Legitimität geprägt. Soziale Erinnerung ist verbunden mit bestimmten sozialen Gruppen und bedeutet daher stets auch Konflikt und Kampf. Soziale Erinnerung ist also immer umkämpfte Erinnerung (contested memory), die am Feld der legitimen Wahrheit im Spannungverhältnis hegemonialer Beziehungen im Staat diskutiert, verhandelt, akzeptiert oder zurückgewiesen wird (vgl. Climo/Cattell 2002). Der Aspekt der umkämpften Erinnerung ist besonders im Fall der Angehörigen der Verschwundenen zentrales Element. Ihre Erinnerungen an die nicht mehr präsenten Familienmitglieder sind umkämpfte Erinnerungen, die mit jenen anderer sozialen Gruppen im Staat konkurrieren und sich je nach politischer Situation neu formieren. Die Gegenwart hat demnach Einfluss auf die Interpretation und Rekons-
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truktion der Vergangenheit. Soziale Erinnerung kommt dabei auf verschiedene Arten zum Ausdruck und konstruiert Interpretationszusammenhänge, die das erfahrene Vergangene verständlich machen. Paul Antze und Michael Lambek beschreiben die Verbindung von individueller und sozialer Erinnerung: „Personal memory is always connected to a social narrative as is social memory to the personal. The self and the community are the imagined products of a continuous process. The transfer between the individual and the collective are mediated at several points.“ (Antze/Lambek 1996: xx). Die Mediation und Kommunikation von sozialer Erinnerung wird dabei durch verschiedene Praktiken und an verschiedenen Orten durchgeführt. Diese Mediationspunkte werden durch Sprache, Symbole, Plätze, Rituale oder Objekte artikuliert. Soziale Erinnerung nach Paul Connerton (1989) kann also nur durch Akte des Transfers, die sich in kommemorativen Ritualen (commemorative ceremonies) einerseits und in körperbezogenen Praktiken (bodily practices) andererseits manifestieren, innerhalb der sozialen Gruppe übermittelt und erhalten werden. Die sozialen Praktiken, die zum übergeordneten Konzept der Rituale gezählt werden können, sind charakterisiert durch stete Wiederholung und somit zentral für soziale Erinnerung. Sie implizieren Kontinuität mit der Vergangenheit in Gegenwart und Zukunft (Connerton 1989). Die politischen rituellen Handlungen der Angehörigen der Verschwundenen sind Akte des Transfers von sozialer Erinnerung und Ausdruck dieser Kontinuität mit der Vergangenheit. Die Erinnerung an die Vergangenheit, die in diesem Kontext immer auch eine Erinnerung an Gewalt ist, wird dabei auch mit einem politischen Ziel verbunden: der Forderung nach Wahrheit. Das Comité Eureka repräsentiert bis in die Gegenwart alle Verschwundenen auf nationaler Ebene. Rosario Ibarra vom Comité Eureka kandidierte im Jahr 1981 bei den Präsidentschaftswahlen für die Partido Revolucionario de los Trabajadores (PRT) und startete am 5. Dezember 1981 in Atoyac – ein für die Opfer wichtiger historischer Erinnerungsort – ihre Wahlkampagne (Cardona Galindo 2010). Zehn Jahre später, im Jahr 1987 hat sich das Komitee in Comité Eureka umbenannt. Der Name ist symbolhaft für den gesamten politischen Prozess der Angehörigen. Eureka (griech.) bedeutet „auftauchen, aus der Dunkelheit hervortreten“. Dieser Name wurde zum Symbol des Kampfes und drückt sich in ihrem Leitspruch aus: Vivos se los llevaron, vivos los queremos (Lebend haben sie sie geholt, lebend wollen wir sie zurück). Es ist dies ein transnationaler Slogan, der von vielen Angehörigenorganisationen in Lateinamerika verwendet wird. Die Angehörigen des Comité Eureka und die Frente Mexicano pro Derechos Humanos werden oftmals als die ersten Menschenrechtsbewegungen in Mexiko bezeichnet (vgl. Sáenz Carrete 2001). Es waren vor allem die Angehörigen, die den Finger in die offene Wunde der mexikanischen Gesellschaft gelegt haben. Durch ihre politischen Aktionen und Forderungen wurden „die Straflosigkeit und die Ohnmacht der Bürgerinnen und Bürger vor der Jus-
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tiz“61 (Sáenz Carrete 2001: 18) öffentlich sichtbar. Trotz Straflosigkeit und dem fehlenden politischen Willen der mexikanischen Regierungen, vergangene Menschenrechtsverletzungen aufzuklären, trotz öffentlicher Diskreditierungen der Anliegen der Opfer ließen sich diese nicht einschüchtern. Die Forderung nach Aufklärung und Gerechtigkeit ist zu einem Anliegen von mittlerweile über drei Jahrzehnten geworden und umfasst mehrere Generationen von Angehörigen der Verschwundenen. Das Comité Eureka versuchte, alle Fälle von Verschwundenen in Mexiko aufzuzeichnen. Es gab und gibt bis in die Gegenwart jedoch ein Problem der Datenlage, das wiederum auf die Repression zurückzuführen ist: „Das Gespenst der Repression, das in den von Verschwindenlassen betroffenen Familien präsent ist, hat oftmals verhindert, alle Dokumente eines Falles zu sammeln.“62 (Maier 2001: 17) Viele Dokumente, die für eine offizielle Registrierung und Dokumentation eines Falles eines Verschwundenen vor nationalen und internationalen Institutionen gefordert werden, können Angehörige, vor allem aus marginalisierten ruralen Regionen, nicht vorweisen. In manchen Fällen gab es keine Geburtsurkunden oder in anderen Fällen wurden bei den Hausdurchsuchungen durch Soldaten während des Schmutzigen Krieges Papiere, Dokumente oder Fotos gestohlen. So suchte im Jahr 2009 auch Elvira Patiño Leyva aus Los Llanos de Santiago verzweifelt die Geburtsurkunde ihrer verschwundenen Schwester Perla. Gemeinsam suchten wir das Registro Civil, das Meldeamt in Atoyac auf, wo alle Geburtsurkunden archiviert sind. Die Registerbücher waren unvollständig, Seiten mit Urkunden fehlten und jene ihrer Schwester war nicht zu finden. Keine Aufzeichnungen existierten über sie. „Viele der von Eureka gesammelten Fälle stammten von Anzeigen, die nur unvollständige Daten vorzuweisen hatten. Es kann also gesagt werden, dass es nicht alle [Verschwundenen] sind, die es gibt und nicht alle Daten da sind, die da sein sollten“63, sagt Elizabeth Maier über das Archiv des Comité Eureka (2001: 17). Es gibt also bis in die Gegenwart eine Diskrepanz zwischen den offiziell registrierten und den real existierenden Fällen von Verschwundenen in Mexiko. In dieser Tatsache drücken sich die Verbindungen zwischen Macht, Erinnern und Vergessen in der gegenwärtigen politischen Landschaft Mexikos und Lateinamerikas aus, wie Eduardo Galeano treffend feststellt:
61 „[L]a impunidad y la indefensión de las ciudadanas y ciudadanos frente a la procuración y adminstración de justicia.“ (Sáenz Carrete 2001:18) 62 „El fantasma de la represión presente en las familias afectadas por la desaparición forzada impedía frecuentemente tener todos los elementos de cada expediente.“ (Maier 2001:17) 63 „Varios de los casos recolectados por Eureka venían de denuncias que aportaban datos parciales o incompletos. Puede incluso decirse que ni son todos lo que son, ni están todos los que deberían estar.“ (Maier 2001:17)
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„Das Vergessen, so sagt die Macht, ist der Preis des Friedens, während sie uns einen Frieden aufzwingt, der auf der Annahme der Ungerechtigkeit als alltägliche Normalität beruht. Man hat uns an die Verachtung des Lebens und das Verbot zu erinnern gewöhnt.“ (Galeano 2000: 223)
Die Angehörigen der Verschwundenen sind zwar eine Minderheit der mexikanischen Gesellschaft, sie sind aber Teil jener sozialen Gruppen, die sich gegen das auferlegte Vergessen über den Schmutzigen Krieg widersetzen. Ein zentraler Aspekt dieser sozialen Erinnerungsgruppe ist die gemeinsame Erfahrung von Gewalt. Alle Angehörigen von Verschwundenen haben traumatische Erfahrungen gemacht, die bis in die Gegenwart ihr Leben bestimmen. Die Erinnerung an die Zeit des sufrimiento (Leidens) wird von den Opfern als Wunde bezeichnet, die nie heilen wird: „Das Herz schmerzt mich, ich habe eine Wunde hier im Herzen, die nie heilen wird, niemals!“64 sagt etwa Doña Virginia aus der Colonia 18 de Mayo (2009). Erzwungenes Verschwindenlassen hat also weitreichende Folgen, es trifft sowohl das Opfer des Aktes, aber auch die Angehörigen und die soziale Gruppe. Das Konzept verstümmelte Leben (vidas truncadas), das auch der Titel eines Buches von Andrea Radilla (2008), Tochter eines Verschwundenen aus Atoyac, ist, umschreibt diese Folgen treffend. Es weist auf die abgebrochenen, die verstümmelten Leben hin, auf den damit zusammenhängenden Einschnitt in das Leben – sowohl des Verschwundenen als auch der Familie – ab dem Moment des Aktes der Gewalt des Verschwindenlassens. Ihre individuellen Erinnerungen an die Gewalterfahrungen und an die Verschwundenen wurden im Laufe des Kommunikationsprozesses mit anderen Angehörigen zu sozialen Erinnerungen, um die sich eine soziale Erinnerungsgruppe formierte. Dabei bleiben viele individuelle Erinnerungen privat, werden nie öffentlich. Andere wiederum sind in der Öffentlichkeit stark präsent. Doch diese repräsentieren als Teil der sozialen Erinnerungsgruppe auch die nicht-öffentlichen, privat gebliebenen individuellen Erinnerungen, jene, die nie erzählt wurden, jene, die verschwiegen bleiben, die in der individuellen Erinnerung eines Angehörigen, eines nicht offiziell als Opfer deklarierten Menschen geblieben ist, jene unausgesprochenen Erinnerungen, die zwar explizit nicht existieren, dennoch aber implizit vorhanden sind. Dennoch wird diese Erinnerung, dieses nicht ausgesprochene testimonio Teil der sozialen Erinnerung, repräsentiert sie doch Mechanismen des Staatsterrorimus, die sich auch durch Praktiken des erzwungenen Vergessens (Connerton 1989) charakterisieren. Es ist dies das auferlegte Vergessen, welches zwar nicht qua Gesetz gefordert wird, aber fortgeführtes Schweigen aus Angst vor erneuter Repression
64 „Yo que a mí me duele el corazón, que tengo una herida aquí en el corazón, ¡y nunca me va a sanar, nunca!“ (Doña Virginia, Colonia 18 de Mayo 2009)
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bedeutet, das für einige Opfer das öffentliche Erinnern behindert. Connerton meint, dass in der bisherigen wissenschaftlichen Debatte über Gedächtnis, das Erinnern als das positive Element, Vergessen jedoch als negatives betrachtet wird: „This implication has cast its shadow over the context of intellectual debate on memory in the shape of the view, commonly held if not universal, that remembering and commemoration is usually a virtue and that forgetting is necessarily a failing.“ (Connerton 2008: 59) Connerton nennt jedoch sieben Typen des Vergessens, die Teil des Erinnerungsprozesses sind: „repressive erasure; prescriptive forgetting; forgetting that is constitutive in the formation of a new identity; structural amnesia; forgetting as annulment; forgetting as planned obsolescence; forgetting as humiliated silence.“ (Connerton 2008: 59 f.) In diesem Kontext kann vom ersten Typ des Vergessens gesprochen werden: Repressive erasure ist einer der Typen, die in totalitären Systemen und im Zusammenhang mit Staatsterrorismus Anwendung finden, so auch in Mexiko. Repressives Auslöschen ist eine Strategie, die laut Christian Meier seit der Zeit des Römischen Reiches und des Gesetzes der damnatio memoriae als politische Methode Anwendung findet: „As the condemnation of memory (damnatio memoriae), it was inscribed in Roman criminal and constitutional law as a punishment applied to rulers and other powerful persons who at their death or after a revolution were declared to be ,enemies of the stateދ: images of them were destroyed, statues of them were razed to the ground,and their names were removed from inscriptions, with the explicit purpose of casting all memory of them into oblivion.“ (Meier in: Connerton 2008: 60)
Im Gegensatz zu repressiver Auslöschung, wo ein Teil der Gesellschaft erinnern will, aber nicht darf, steht prescriptive forgetting, wo ein angenommener Konsens darüber besteht, welche Ereignisse der Vergangenheit kollektiv vergessen werden sollen. Connerton stellt dabei fest: „Like erasure, it is precipitated by an act of state, but it differs from erasure because it is believed to be in the interests of all parties to the previous dispute and because it can therefore be acknowledged publicly.“ (Connerton 2008: 60) Das oft zitierte Beispiel dafür bieten die Ereignisse in Athen im Jahr 403 v.Chr.: „In that year, the Athenian democrats, after having suffered defeat at the hands of the dictatorship, re-entered the city of Athens and proclaimed a general reconciliation. Their decree contained an explicit interdiction: it was forbidden to remember all the crimes and wrongdoing perpetrated during the immediately preceding period of civil strife. This interdict was to apply to all Athenians, to democrats, to oligarchs and to all those who had remained in the city as non-combatants during the period of the dictatorship. Perhaps more remarkable still is the fact that the Athenians erected on the acropolis, in their most important temple, an altar dedicated to Lethe, that is, to forgetting. The installation of this altar meant that the injunction
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to forget, and the eradication of civil conflict that this was thought to engender, was seen as the very foundation of the life of the polis.“ (Meier zit. in: Connerton 2008: 60)
Doch was passiert, wenn nicht alle Akteure vergessen wollen, das auferlegte Vergessen im Gegenteil dazu führt, dass Erinnerung umso stärker reklamiert wird? Das Element der Gewalt eines erlebten Ereignisses, das zu Traumata führt, spielt hier eine zentrale Rolle, wie auch im Fall der Angehörigen der Verschwundenen zu beobachten ist. Antze und Lambek weisen auf die Bedeutung von Gewalt in Erinnerungsprozessen hin: „[T]raumas offer a way of inserting a radical, often transformative break in the flow of a life narrative. Here their symbolic role in memory is very much the one suggested by van Gennep (1960) and Turner (1969) concerncing the place of violence in rites of passage.“ (Antze/Lambek 1996: xvii) Die Rolle von Gewalt in Übergangsriten weist auf die transformative Rolle, die diese im Leben eines Menschen hat. Erfahrene Gewalt bedeutet einen Einschnitt, einen Bruch mit dem Leben vor dem Ereignis. Diese erfahrene Gewalt ist es, die in der Erinnerung der Angehörigen präsent bleibt. Erinnerung wird aus einer anthropologischen Perspektive als ein Konstruktionsprozess und als gelebte Praxis verstanden. Erinnerung ist dabei nicht ein fertiges Objekt unseres Blicks, sondern ist der Akt des Blickens und die Objekte die daraus hervorgehen. „Memories are produced out of experience and, in turn reshape it. This implies that memory is intrinsically linked to identity.“ (Ebd.: xii) Ein Aspekt, der im Kontext der Angehörigen eine zentrale Rolle spielt, ist folgender: „Increasingly, memory worth talking about – worth remembering – is memory of trauma.“ (Ebd.) Es geht bei der anthropologischen Sichtweise auf Trauma auf die kulturelle Formierung von Erinnerung, also um die Rolle von Sprache, Narrativen, Ritualen, Macht und den sozialen Kontext, in dem Erinnerung an traumatische Erfahrungen und deren Reproduktion stattfindet (ebd.: xiii). „We ask how memory is narratively and dialogically organized and about the relationship of narrative to more embodied or practical forms of remembering. Throughout we examine the invocation of truth claims rather than attempt their evaluation.“ (ebd.: xv) Die zentrale Rolle von Narrativen, politischen Ritualen und den Verbindungen von individuellen Erinnerungen zeigt sich auch in den Konstruktionen transnationaler Netzwerke der Angehörigen von Verschwundenen, die im Folgenden skizziert werden.
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3.3.3 Transnationale Vernetzungen Da die mexikanische Regierung den Forderungen der Angehörigen auf nationaler Ebene trotz anfänglicher Erfolge – wie das Amnestiegesetz für politische Gefangene und die Freilassung von 148 Inhaftierten-Verschwundenen im Jahr 1979 – nicht nachgegangen war, vernetzten sich diese bald auch international. Doña Angelica vom Comité Eureka beschreibt, dass aufgrund ihres nationalen und internationalen Mobilisierungsprozesses ihnen auch Angehörige, die zuvor noch Angst hatten, über ihre Verschwundenen zu sprechen, Informationen über ihre Fälle zukommen ließen: „Am Anfang da war schon Angst! Danach aber, als sie sahen, dass wir gingen und kamen und nichts passierte und dass wir auf lateinamerikanischer und internationaler Ebene reisten, haben sie sich, wie es eben möglich war, mit uns in Verbindung gesetzt. Sie haben uns vor allem Dokumente geschickt. Wir haben viele Leute [Verschwundene] auf der Liste, ohne dass die Angehörigen da sind und wir haben sie präsent, wir haben die Listen, wir haben ihr Foto, wir haben alles. Warum? Weil es unsere Verpflichtung ist, für alle zu kämpfen. Am Anfang war es nur für unseren, unseren eigenen Angehörigen, aber jetzt nicht mehr. Fast seit Beginn war das Comité für alle. Die Liste mitnehmen und für alle Forderungen stellen!“65 (Doña Angelica, Mexiko-Stadt, 2009)
Doña Angelica macht auch deutlich, dass die Angehörigen sich von einem Kampf für ihre eigenen Angehörigen hin zu einem Kampf im Namen aller entwickelten. Und dass, auch wenn viele Angehörige nicht physisch bei ihnen präsent seien, sie doch auch für diese sprechen würden. Auf einer symbolischen Ebene steht also jeder einzelne Verschwundene und jeder einzelne Angehörige repräsentativ für alle. Auf lateinamerikanischer Ebene hat sich das Comité Eureka mit den argentinischen Madres de la Plaza de Mayo, mit der guatemaltekischen Grupo de Apoyo Mutuo und den uruguayischen und chilenischen Frauen vernetzt. Aufgrund des politischen Agierens der Angehörigen wurde im Jahr 1980 die UNǦArbeitsgruppe für erzwungenes Verschwindenlassen gegründet. Im Jahr 1981 vernetzten sich die lateinamerikanischen Angehörigen zu FEDEFAM (Federación Latinoamericana de Asocia-
65 „¡Al principio sí era miedo! Después cuando vieron que íbamos y veníamos y que no pasaba nada y que viajábamos a nivel latinoamericano y a nivel internacional, pues, en la medida que podían, se comunicaban con nosotros, mandándonos los papeles sobre todo. Nosotros tenemos mucha gente en la lista sin que estén sus familiares, y los tenemos presentes, tenemos las listas, tenemos su foto, tenemos todo. ¿Por qué? Porque es un compromiso de nosotros de luchar por todos. Al principio era nada más por el de nosotros, por nuestro familiar, pero ahora ya no, bueno, casi desde el principio el comité era para todos. ¡Llevar toda la lista y pedir por todos!“ (Doña Angelica, Mexiko-Stadt, 2009)
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ciones de Familiares de Detenidos-Desaparecidos) 66 mit Sitz in Caracas/ Venezuela. Auch AFADEM aus Atoyac ist Teil des Netzwerkes von FEDEFAM. Die Gruppe setzt sich aus Angehörigenorganisationen Verschwundener der Länder Argentinien, Bolivien, Brasilien, Kolumbien, Chile, Ecuador, El Salvador, Guatemala, Honduras, Mexiko und Nicaragua zusammen. Durch ihre kontinuierlichen Proteste erwirkten sie schließlich im Jahr 1994 die Convención Americana en contra de las desapariciones forzadas, verabschiedet in Brasilien. Des Weiteren führten die Aktionen der internationalen Netzwerke der Angehörigen zur Verabschiedung der Declaration on the Protection of All Persons from Enforced Disappearance im Jahr 1992 und schließlich der UNǦKonvention zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen im Jahr 2006. Diese trat am 23.12.2010 in Kraft. Die Konvention wurde auch von Mexiko unterzeichnet und im Jahr 2008 ratifiziert.67 Diese globalen Menschenrechtsinstrumente waren für die Opfer und Angehörigen ein Erfolg der Anerkennung der begangenen Verbrechen und ihres Leides, hatten jedoch meist auf realpolitischer nationaler Ebene keine konkreten Auswirkungen auf eine Verbesserung der Menschenrechtssituationen. Wie in Kapitel 4 zu staatlichen Aufarbeitungsprozessen und dem Einsetzen von Transitional-Justice-Instrumenten in Mexiko noch zu sehen sein wird, wurden diese globalen Menschenrechtsinstrumene vielmehr von lokalen politischen Machthabern immer wieder instrumentalisiert, um national und international eine demokratische Regierungsführung vorzutäuschen. Die Vernetzung der Angehörigen auf globaler Ebene und der Transfer von Diskursen und Handlungspraktiken führten zu einer transnationalen Praxis der sozialen Erinnerungsgruppe der Angehörigen. Ebenso wie bei den Angehörigen der Verschwundenen der Sierra de Atoyac in Guerrero und in Mexiko lassen sich ähnliche Dynamiken in unterschiedlichen Regionen der Welt, in denen das Verbrechen des erzwungenen Verschwindenlassens eingesetzt wurde, beobachten. In all diesen Regionen haben Opfer von erzwungenem Verschwindenlassen ähnliche Strategien entwickelt, um mit dem Verbrechen umzugehen, das Gabriel Gatti (2008) die Katastrophe der Identität genannt hat. Es lassen sich ähnliche Praktiken, ähnliche Prozesse und (Post-)Konfliktdynamiken der Wechselwirkungen von Dehumanisierung und Rehumanisierung beobachten. Bei der Betrachtung der unterschiedlichen Regionen lässt sich eine schrittweise Vernetzung der verschiedenen Opferorganisationen seit den 1970er Jahren feststellen und somit auch eine Transnationalisierung der Praktiken und Diskurse. Viele Opferorganisationen von Verschwundenen welt-
66 Vgl. unter: http://www.desaparecidos.org/fedefam/ (Letzter Zugriff: 30.04.2014). 67 Die Liste aller Unterzeichnerstaaten ist einsehbar unter: http://treaties.un.org/ Pages/ViewDetails.aspx?src=TREATY&mtdsg_no=IV-16&chapter=4&lang=en (Letzter Zugriff: 30.04.2014).
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weit beziehen sich in ihren Diskursen und Handlungen aufeinander, betonen, dass sie zum Beispiel ebenso wie die Angehörigen in Chile oder Argentinien für Aufklärung, Gerechtigkeit und Wahrheit kämpfen. Es gibt also Überschneidungspunkte zwischen den Forderungen, als auch der Vorgangsweise und den Handlungen und Praktiken der Angehörigen von Verschwundenen. In der Betrachtung dieser Ausdrucksformen, dieser Handlungen und in Bezugnahme auf das mexikanische Fallbeispiel kann hier von einer transnationalen Erinnerungsgruppe gesprochen werden. Eine Gruppe, die keine Face-to-Facecommunity bildet, deren Mitglieder jedoch seit dem Moment und dem Ereignis des Verschwindenlassens ihrer Angehörigen gemeinsame Identitäten und gemeinsame Handlungsweisen entwickelt haben. Es ist eine transnationale Erinnerungsgruppe, die im Kontext der Liminalität, der Statuslosigkeit bestimmte Kommunikationsund Ausdrucksformen ihres Schmerzes und ihres Leides entwickelt hat. Schmerz und Leid, welche nicht nur im Privaten, sondern auch im öffentlichen Raum ausgedrückt werden und wo ein/e Verschwundene/r in einem regionalen Kontext stellvertretend und repräsentativ für alle Verschwundenenin allen regionalen Kontexten steht. Unabhängig vom soziokulturellen und religiösen Kontext können nun also ähnliche Elemente des Dehumanisierungs- und Rehumanisierungsprozesses in anderen Regionen beobachtet werden. Diese geteilte Erfahrung der Gewalt im Zusammenhang mit den Verschwundenen, drückt sich in den Aussagen der Angehörigen anderer Regionen auch durch das zentrale Element der Verweigerung von Beweisen und Totenritualen aus. Die geteilte Erfahrung hat nun eine heterogene Gruppe von Menschen aus ruralen und urbanen Regionen, aus verschiedenen soziokulturellen und religösen Kontexten in unterschiedlicher Intensität vernetzt. Diese Vernetzung über vier Jahrzehnte hinweg erfolgte dreifach: (1) in direkter, physischer Form auf internationalen Treffen der Angehörigen, (2) in virtueller Form durch das Medium Internet und (3) in symbolischer Form im Falle derjenigen Opfer, vor allem aus marginalisierten ruralen Gegenden, die keinen Zugang zu Ressourcen oder modernen Kommunikationsmitteln haben, jedoch oftmals über die Existenz anderer Angehörigenorganisationen erfahren. Wichtig zu betonen ist in diesem Zusammenhang jedoch auch, dass es – wie im Falle Mexikos – eine große Zahl an Angehörigen aus der marginalisierten Gruppe gibt, die kein Wissen über diese Prozesse haben. Wenn hier also von transnationalen Erinnerungsgruppen gesprochen wird, sind es die physisch und symbolisch vernetzten Angehörigen, die über eine – wenn auch vage – Form des Wissens über diese Netzwerke verfügen. Das Interesse und der Fokus liegt hier nicht auf der Struktur der Organisationen selbst, sondern in den Beweggründen und Perspektiven einzelner Mitglieder für ihr kollektives soziales Handeln oder wie Afflito und Jesilow es für die Angehörigen in Guatemala ausdrücken„in the mechanisms that led people to participate, the link between the individual motivation and eventual social action.“ (Afflito/Jesilow 2007: 5)
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Das transnationale Repertoire (Ferrándiz 2009) an Diskursen und Praktiken im Rehumanisierungsprozess besteht aus Elementen, die in der Vernetzung der Angehörigen Teil von rituellem und politischem Handeln geworden sind. Dieses rituelle Handeln der Angehörigen hat in weiterer Folge zur Bildung einer transnationalen Erinnerungsgruppe geführt. Es lassen sich ähnliche Diskurse und ähnliches symbolisch- politisches Handeln in Angehörigenorganisiationen weltweit beobachten. Beide Elemente – Diskurse und politisches/symbolisches/rituelles Handeln – sind Teil von Praktiken der Anerkennung, die das Wiederauftauchen der Verschwundenen zum Ziel haben. Es erfolgte in diesem Vernetzungsprozess ein kontinuierlicher Transfer und Zirkulation von gemeinsamer Erfahrung und Wissen, die diese rituellen und politischen Handlungen der transnationalen Erinnerungsgruppen ausmachen. So zeigen sich gemeinsame Diskurse und Handlungen etwa in den Worten von Nassera Dutour, der Repräsentantin der Angehörigenorganisationen in Algerien im Jahr 2005: „We, the families of the disappeared in Algeria, we would first like to talk about truth and justice. (...) We will continue (…) to be present on Addis Abeba square (…), holding the fotographs of our loved-ones high up. The mothers of Argentina, with their own determination as weapon, proved to the world that such a struggle is not in vain. (…) As the chilean mothers say: ,We cannot forgive if no one asks for forgiveness‘“. (Dutour 2005: 36 f.)
Wie bereits im Kontext der mexikanischen Angehörigenorganisationen gezeigt wurde, stellt das Foto des/der Verschwundenen ein zentrales Element der symbolischen und politischen Praxis dar. Das Foto eines Verschwundenen steht stellvertretend für alle Verschwundenen. In transnationaler Perspektive steht das Foto eines Verschwundenen einer Region in weiterer Folge in der Vernetzung der Angehörigengruppen stellvertretend für alle. Das Foto eines Verschwundenen in Argentinien oder Uruguay symbolisiert für die Opfer gleichzeitig alle Verschwundenen in Lateinamerika, in Afrika oder Asien. Mit dem Akt des öffentlichen Erinnerns an einen Verschwundenen vernetzt sich individuelle Erinnerung auch in transnationaler Perspektive zu sozialer Erinnerung. Ferrándiz stellt für den Fall Spanien fest, was auch auf Mexiko und auf Lateinamerika zutrifft: „Die wachsenden Verbindung von Akten der Würdigung der Besiegten des Spanischen Bürgerkrieges mit Formen des Gedenkens, der Erinnerung und der Wiedergutmachung, die bereits ein transnationales Repertoir darstellen, hat für eine steigende Zahl von Angehörigenorganisationen einunausweichliches und vorrangiges Ziel: die öffentliche Anerkennung (…),
238 | K AMPF UM R EHUMANISIERUNG dass diese Toten Teil eines systematischen Plans der Auslöschung waren (…).“68 (Ferrándiz 2009: 92)
Das transnationale Repertoire, von dem Ferrándiz spricht, ist auch zu beobachten, als Angehörige von Verschwundenen im Jahr 1998 in Manila AFAD (Asian Federation Against Involuntary Disappearances)69 und im Jahr 2000 in Barcelona die Euro-Mediterranean Coalition Against Enforced Disappearance gründeten. AFAD beschreibt den Vernetzungsprozess lateinamerikanischer und asiatischer Angehörigenorganisiationen: „AFAD is a new coalition gathering organizations that work for the ,disappeared ދin several South Asian Countries. Itދs core members include the Families of Victims of Involuntary Disappearances from the Philippines, the Organization of Parents and Family Members of the Disappeared (OPFMD) from Sri Lanka, the Association of Parents of Disappeared Persons (APDP) in the Indian-occupied Jammu and Kashmir and the KONTRAS of Indonesia. It works to coordinate the efforts of the different groups and provide support to all of them. It's aided in its mission by FEDEFAM.“70
In der Beschreibung ihrer Mission verwendet die asiatische Angehörigenorganisation AFAD in Anlehnung an die Bedeutung des historischen politischen Kampfes um die Verschwundenen in Lateinamerika auch den spanischen Begriff desaparecidos (für Verschwundene): „The Federation works for the attainment of truth, justice, redress, and the historical reconstrucion of the memory of the disappeared. In so doing, it actively participates in the overall struggle for social transformation which is a necessary requirement to realize a world without desaparecidos.“ (AFAD)71
In der Beschreibung von AFAD wird der transnationale Aspekt deutlich. Auch wenn es sich bei den Angehörigenverbänden um lokale Organisationen handelt, die
68 „En este creciente entrelazamiento de los actos de dignificación de los vencidos de la Guerra Civil española con modalidades de homenaje, recuerdo y reparación que forman ya parte de un repertorio transnacional, para un numero creciente de asociaciones y familiares este proceso tiene ya, como insoslayable objetivo básico, el reconocimiento público (…) de que esas muertes formaron parte de un plan sistematico de exterminio (…).“ (Ferrándiz 2009: 92) 69 Siehe unter: http://www.afad-online.org/ (Letzter Zugriff 30.04.2014). 70 Siehe unter: http://www.desaparecidos.org/afad/ (Letzter Zugriff: 30.04.2014). 71 Zitat unter: http://www.afad-online.org/ (Letzter Zugriff: 30.04.2014).
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für lokale und regionale Fälle von Verschwundenen aus sehr unterschiedlichen Konflikten und Kontexten kämpfen, steht das Ziel einer sozialen Transformation auf globaler Ebene für eine Welt ohne Verschwundene ebenso auf der politischen Agenda dieser Angehörigen. „They lost“ lautet einAusspruch von Angehörigen im virtuellen Netzwerk www.desaparecidos.org. Sie beziehen sich damit auf die Täter und deren Annahme eines Sieges über die Verschwundenen. They lost ist jedoch Teil des Kampfes um Rehumanisierung der Angehörigen und will zeigen, dass die Täter ihr Ziel der Eliminierung von Menschen nie vollständig erreichen können. Denn die Erinnerung der Angehörigen an sie ist kontinuierlich und stark. Durch Erinnerung bleiben die Verschwundenen symbolisch am Leben: „They took them away. They tore them from the arms of their parents or their children; they kidnapped them on the street or at work; they hit them, tortured them, and then ...? They tried to completely disappeared them, erase every trait of their existence
– so a day would come
when nobody would know who they were. They lost. All of them, the disappeared and the killed, remain alive, presentes, in our memory, our conscience and our pages. We will not forget them, the people they were and the people they did not allow them to be.“72
Im Jahr 2007 hat sich die International Coalition Against Enforced Disappearances (ICAED) gegründet mit 40 Mitgliedsorganisationen aus Afrika, Asien, dem EuroMediterranean Region, Kaukausus und Belarus, Lateinamerika und den USA. „More than thirty years had passed since our Latin American sisters and brothers initiated the International Week of the Disappeared. It is high time to end enforced disappearances NOW!“73 Alljährlich findet Ende Mai die internationale Woche der Verschwundenen statt. Es ist eine Gedenkwoche der international vernetzten Angehörigenorganisationen, die zurückgeht auf die Organisation FEDEFAM aus Lateinamerika. Diese haben an ihrem Gründungskongress in San José, Costa Rica im Jahr 1981 die Gedenkwoche initiiert. ICAED hat es sich zum Ziel gesetzt, Kampagnen zur Ratifizierung der International Convention for the Protection of All Persons from Enforced Disappearance zu organisieren und dadurch, wie sie sagen, den Verschwundenen „Tribut zu zollen.“74 Diese Auswahl an Zitaten von Angehörigenorganisationen soll Verbindungen, Vernetzungen und ähnliche Diskurse und Praktiken über verschiedene regionale Kontexte hinweg deutlich machen, die sich im Laufe von vier Jahrzehnten – seit dem Auftreten der ersten Fälle von Verschwindenlassen – entwickelten. Die algerischen Angehörigen verwenden die Begriffe Wahrheit und Gerechtigkeit, sie organi-
72 Zitat unter: http://www.desaparecidos.org/pres/eng.html (Letzter Zugriff: 30.04.2014). 73 http://www.icaed.org/ (Letzter Zugriff: 30.04.2014). 74 Ebd.
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sieren Versammlungen auf einem öffentlichen Platz, zeigen Fotos ihrer Verschwundenen und berufen sich auf den Kampf der argentinischen und chilenischen Angehörigen. Das Zitat des asiatischen Netzwerkes AFAD weist auf die Vernetzung zwischen asiatischen Angehörigen hin und auf die Unterstützungsrolle von FEDEFAM, des lateinamerikanischen Netzwerkes von Angehörigen. Der Prozess der Suche war ebenso wie für die Angehörigen in Mexiko die Praxis, wodurch sich individuelle Erinnerung schließlich zu sozialer Erinnerung vernetzte. Wie deutlich wurde, kommt in diesen lokalen, nationalen und transnationalen Vernetzungsprozessen dem Einsatz von Sprache eine bedeutende Rolle zu. Denn der Austausch von Informationen und die Kommunikation der Angehörigen in Form von Narrativen über die vergangene Gewalt und über das Ereignis des Verschwindenlassens sind zentrales Element in den Praktiken der Rehumanisierung der Verschwundenen. Diese Narrative sind oftmals der einzige Beweis für den Akt des Verbrechens. Daraus resultiert auch deren Bedeutung für die Angehörigen, wie im Folgenden gezeigt wird.
3.4 T ESTIMONIOS : S O
IST ES GESCHEHEN !
„So ist es geschehen! Das ist die Wahrheit!“75, sagen viele Angehörige, während sie über das Verschwindenlassen eines Familienangehörigen erzählen. Damit betonen sie, dass ihre Erzählungen der Wahrheit entsprechen und die von der Regierung verbreiteten Versionen Lügen sind. Ihre Narrative sind der Beweis für die wahren historischen Begebenheiten. Wichtiges Element der Rehumanisierung sind also auch die Narrative über die Vergangenheit. Durch Narrative, durch das Erzählen über die Gewalterfahrung am eigenen Körper – oder am Körper des Anderen, der als der eigene Körper gefühlt wird, ist es doch der Körper des Angehörigen und somit Teil eines selbst – wird der fragmentierte Körper wieder zusammengesetzt und dieser Akt, „the weaving of a new body through language, as much as any act of violence, testifies to the emergence of political agency.“ (Feldman 1991: 10) Zentrale Aspekte im Sprechen der Angehörigen in diesen Narrativen über die Vergangenheit sind die öffentliche Anerkennung von Leid und die Wiedererlangung der Subjektivität, die ihnen als Betroffene von Krieg und Gewalt genommen wurde. Denn Krieg „strip survivors of control over their lives and [...] erase all sense of a volitional past and future.“ (Mertus 2000: 142) Subjektivität wiederzuerlangen ist zentral in Gewaltkonflikten. Folter, Mord, erzwungenes Verschwindenlassen und andere Formen der Gewalt haben die Degradierung von Menschen zu Objekten zum Ziel (Scarry 1985). Sie werden so ihrer Menschlichkeit beraubt und dehumani-
75 „¡Asi pasó! ¡Eso es la verdad!“
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siert. Jede einzelne Geschichte, jedes Detail der Dehumanisierung erzählen, ist für viele Opfer – wenn auch nicht für alle – ein wichtiger Prozess: „The process of telling and observing one‘s story being heard allows survivors to become subjects again, to retrieve and resurrect their individual and group identities“ (Mertus 2000: 142) Der Prozess des lauten Erinnerns in Form des Erzählens, die Bildung von Narrativen ist ein konstituierendes Element der agency der Angehörigen und der Prozesse von Wiedererlangung des Subjektseins. Es geht bei diesem Erzählender Erinnerungen um das Eindringen in die gelebte Erfahrung der Betroffenen, in Situationen von Gewalt und Krieg in den Gemeinschaften, um lokale Handlungsstrategien im Gegensatz zu ausschließlich strukturellen Bedingungen und Erklärungsversuchen von Konflikten. „Experience is the guiding light for the recent anthropology of violent conflict“ (Löfving 2005: 78). Durch die unterschiedlichen testimonios wird es auch möglich, die fragmenthaften isolierten Darstellungen der Geschichte von unten zusammenzuführen und die Mikroperspektive der Ereignisse des mexikanischen Schmutzigen Krieges zu fassen und in einen breiteren regionalen und globalen Zusammenhang zu setzen. Das Ziel solcher testimonialer Diskurse ist dabei „to rewrite and to retell, to correct Latin American history and reality form the people´s perspective.“ (Gugelberger/Kearney 1991: 11) Gewalt fragmentiert den sozialen Körper einer Gemeinschaft (vgl. Green 1994). Und daher führt Gewalt auch zu fragmentierter Kommunikation. Als fragmentierte Kommunikation können die gesamten Sprechakte der Menschen in Konfliktsituationen charakterisiert und konzeptualisiert werden. Fragmentierte Kommunikation besteht aus der Dichotomie zwischen ausgewähltem Sprechen und Schweigen: Sprechen mit bestimmten Menschen, Schweigen mit anderen. Das Sprechen ist charaktierisiert durch das permanente Abwägen jedes Wortes, das man ausspricht und welches man verschweigt. Sprechen über bestimmte Themen, Schweigen über andere. Susanne Buckley-Zistel (2006) hat im Fall von Ruanda von chosen amnesia gesprochen, als einem Erinnern aber zugleich auserwählten Vergessen von bestimmten Themen der Vergangenheit als Überlebensstrategie. Im Kontext Mexikos soll jedoch nicht von einem Vergessen im eigentlichen Sinne gesprochen werden, sondern im Sinne einer fragmentierten Kommunikation von einem NichtAussprechen, einem Schweigen über etwas, dass man erinnert, aber nicht in Kommunikation mit anderen oder mit bestimmten Menschen reproduziert. Andererseits kommt es beim Prozess des Sprechens über Vergangenes bei den Angehörigen der Verschwundenen zu einer gewissen Standardisierung von Narrativen. Einzelne Stimmen verbinden sich durch Kommunikation von individuellen Erinnerungen zu sozialem Erinnern. Durch soziale Erinnerung wird dabei aber nicht nur gespeicherte Information der Vergangenheit reproduziert, sondern Erinnerung „identifies a group, giving it a sense of its past and defining its aspirations for the future.“ (Fentress/Wickham 1992: 25) Durch das Verschmelzen der individuellen
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Erinnerungen in eine gemeinsame Erinnerung wird aber auch ein Konsens darüber hergestellt, was in einer Gemeinschaft über bestimmte Ereignisse erzählt werden kann, darf und soll und was nicht. Die Bandbreite an Elementen und Aspekten, die nach außen kommuniziert werden können, verändern sich auch gemäß den äußeren politischen Rahmenbedingungen und den wahrgenommenen oder angenommenen erlaubten Diskursen. Denn „information in war is shared in diminished social circles“ (Löfving 2005: 89). So sagte Don Roberto aus der comunidad San Martín de las Flores (2008): „Früher war es nicht möglich, darüber zu sprechen, jetzt schon, jetzt gibt es Menschenrechte.“76 Es gibt also jetzt – gemeint ist die Zeit seit dem Jahr 2000, dem Jahr der Transition – eine neue Rahmenbedingung (Menschenrechte), die erlaubt, darüber zu sprechen. Diese angenommene Möglichkeit des Sprechens wird aber nicht von allen Opfer und Angehörigen so wahrgenommen. Eine Gruppe spricht öffentlich über Details von Erfahrungen und Ereignissen, wobei es auch zu einer kontinuierlich beobachtbaren Standardisierung der Narrative kommt. Die andere Gruppe glaubt weiterhin nicht an die Möglichkeit eines unsanktionierten öffentlichen Sprechens. So sagte ein Mann der zweiten Gruppe: „Ich will nicht, dass man dies irgendwo erfährt, bevor ich nicht gestorben bin. Danach ist es mir egal, aber solange ich am Leben bin, sagen Sie bitte niemanden etwas von dem, was ich ihnen erzähle.“77 (Don Alfredo, San Vicente de Benítez 2009). Der Erzählakt nach langen Jahren des Schweigens, das Erinnern an die Gewalt vor mehr als 35 Jahren erzeugte bei Don Alfredo, der Mitglied der Partei der Armen war, eine Wiederholung der traumatischen Erfahrungen und führte zu schmerzhaften Momenten während und nach dem Gespräch. Er sagte jedoch Tage nach dem ersten Erzählen seiner Erlebnisse, dass er die Kommunikation darüber wie ein Wegfallen einer Last empfunden habe: „Es hat sehr geschmerzt, das alles zu erinnern, aber endlich ist alles wie ein großer Stein runtergefallen, wie ein Gewicht, dass auf mir lastete.“78 (Don Alfredo, San Vicente de Benítez, 2009) Im Jahr 2010 ist Don Alfredo nach einem langen Krebsleiden gestorben. Aus den gemeinsamen Erfahrungen von Gewalt, der zentralen Rolle der Narrative, der lokalen, nationalen und transnationalen Vernetzungen und den empowerment-Prozessen der Angehörigen im Kampf um die Verschwundenen wurden auch
76 „Antes no era posible hablar de eso, ahora si se puede, ahora hay derechos humanos.“ (Don Roberto, San Martín de las Flores, 2008) 77 „Yo no quiero que se sepa eso en ningún lado hasta después de mi muerte. Ahí ya no me importa, pero mientras yo viva, por favor, no le diga nada a nadie de lo que le digo.“ (Don Alfredo, San Vicente de Benítez 2009) 78 „Me dolió mucho recordar todo eso, pero por fin todo se cayó como una piedra grande, como un peso que tenía encima.“ (Don Alfredo, San Vicente de Benítez, 2009)
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neue strategische Netzwerke aufgebaut. Den Blick nun wieder zurück richtend auf die lokale Ebene in Mexiko soll dies an der Organisation AFADEM und einer mexikanischen Menschenrechtsorganisation im Folgenden gezeigt werden.
3.5 K ONTAKTAUFNAHME MIT E XPERT I NNEN UND M ENSCHENRECHTSORGANISATIONEN AFADEM, die lokale Gruppe der Angehörigen in Atoyac, nahm zu einer Zeit Kontakt mit Menschenrechtsorganisationen in Mexiko auf, in der das Thema der Verschwundenen bei diesen noch ein Tabuthema war. Mitglieder von AFADEM begannen Ende der 1990er Jahre mehrere nicht staatliche Menschenrechtsorganisationen zu kontaktieren, um eine juristische Beratung und Verteidigung für ihre Fälle von Verschwundenen zu erreichen. Menschenrechtsorganisationen in Mexiko haben sich bis dahin nicht mit dem Thema des Schmutzigen Krieges und den Verschwundenen beschäftigt. Auch als AFADEM die Anfrage stellte, war die Bereitschaft zunächst gering, sich mit diesem zu jener Zeit politisch brisanten Thema auseinanderzusetzen. War doch die Partei der PRI, unter deren Regierung die Verbrechen durchgeführt wurden, noch an der Macht. Der Rechtsanwalt Humberto Guerrero der Menschenrechtsorganisation Comisión Mexicana Pro Defensa de Derechos Humanos (CMPDDH) erinnert sich an diese erste Kontaktaufnahme und die damaligen Gründe für die Ablehnung vieler Menschenrechtsorganisationen: „Mit dem spezifischen Thema des erzwungenen Verschwindenlassens und des Schmutzigen Krieges in Mexiko haben wir 1999 begonnen zu arbeiten, als es eine Annäherung von AFADEM gab. (…) AFADEM hat begonnen, sich den Menschenrechtsorganisationen anzunähern, an die Organisationen, die Verteidigung machen, also juristische Arbeit, da AFADEM aus Opfer-Familien besteht, die keine Ausbildung und die keinen juristischen Bereich hatten (…). Und so haben sie sich den Organisationen genähert und da ist etwas Kurioses passiert. Am Anfang hatten vor allem die großen Organisationen gewisse Zweifel, ob sie das Thema des Schmutzigen Krieges und der Verschwundenen bearbeiten sollten. Warum? Wegen der Verbindung des Themas mit der Guerilla von Lucio Cabañas und der politischen Gewalt. Und so waren nicht alle Organisationen bereit, AFADEM und den Angehörigen zu helfen.“79 (Humberto Guerrero, Mexiko-Stadt, 2009)
79 „Con este tema específico de la desaparición forzada y de la guerra sucia en Mexico se empezó a trabajar en 1999 cuando hay un acercamiento por parte de AFADEM. (…) AFADEM se empieza a acercar a las organizaciones de Derechos Humanos, a las organizaciones que hacen defensa, que hacen trabajo jurídico. Porque AFADEM está confor-
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Bei mexikanischen Menschenrechtsorganisationen war zu dieser Zeit die Meinung vorherrschend, dass man Menschen, die unter Verdacht standen, im Zusammenhang mit der Guerilla zu stehen, auch wenn sie Opfer von Menschenrechtsverletzungen waren, nicht verteidigen würde. CMDPDH war die erste Menschenrechtsorganisation, die mit diesem Vorurteil, wie Humberto Guerrero es nannte, gebrochen hat und die begann, die Fälle der Verschwundenen von AFADEM aufzunehmen. Dabei wurde besonders der Fall des verschwundenen Rosendo Radilla Pacheco (vgl. Kap. 5.3.1) bearbeitet. Die Gründe für die vorrangige Behandlung dieses einen Falles waren folgende: „Tita Radilla, seine Tochter, hat seit dem Verschwindenlassen ihres Vaters [1974] den Fall aktiv vorangetrieben. Und so ist es ein Fall, der sehr gut dokumentiert ist, der sehr viel Informationen hat, viele Beweise. Sagen wir es so, unter den Fällen von erzwungenem Verschwindenlassen ist der Fall Rosendo Radilla etwas Außergewöhnliches, da es sehr viele Beweise gibt. Denn in vielen Fällen von Verschwindenlassen gibt es keine Zeugen davon, wer die Person festgenommen hat, es gibt keine Zeugen, wer die Institution war. Und im Fall Rosendo Radilla ist alles ganz klar. Es gab einen Kronzeugen der Ereignisse, seinen Sohn, der dabei war, als er festgenommen wurde, es gab Zeugen, die ihn gesehen haben, als er im Militärlager war.“80 (Humberto Guerrero, Mexiko-Stadt, 2009)
Vor allem also aufgrund der gut dokumentierten Beweislage des Falles von Rosendo Radilla begannen die Arbeiten der Menschenrechtsorganisation CMDPDH. Ende der 1990er Jahre war jedoch trotz der Aufnahme dieser Arbeit das Thema der
mada por las familias, que son victimas, que no tenían una formación, y que no tenian un área legal (…). Entonces se empiezan a acercar a las organizaciones y ahí hay una cosa muy curiosa. En un principio, las organizaciones de derechos humanos, digamos las grandes (…) tenian ciertas dudas de que si trabajar o no el tema de la guerra sucia y los desaparecidos. Por qué? Por la vinculación del tema con la guerrilla de Lucio Cabañas y la violencia politica. Entonces no todas las organizaciones estaban dispuestas a ayudar a AFADEM y a los familiares.“ (Humberto Guerrero, Mexiko-Stadt, 2009) 80 „Tita Radilla, su hija, pues desde la desaparición de su padre [1974] ha estado activamente impulsando el caso de su papá. Entonces es un caso que está muy bien documentado, tiene mucha información, tiene muchas pruebas, digamos entre los casos de desaparición forzada, un caso como el de Rosendo Radilla es un poco anormal porque hay muchas pruebas. Porque muchos de los casos de desaparición forzada no hay testigos de quien fue quien detuvo a la persona, no hay testigos de cual fue la autoridad. Y en el caso de Rosendo Radillo todo estaba perfectamente claro. Habia un testigo presidencial de los hechos que fue su hijo que ve cuando lo detiene, habia testigos que lo vieron cuando el estaba en el cuartel militar.“ (Humberto Guerrero, Mexiko-Stadt, 2009)
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Verschwundenen des Schmutzigen Krieges in der mexikanischen Öffentlichkeit nicht präsent. Die einzigen beiden Ereignisse aus dieser Zeit, die in die Medien Eingang fanden, waren das Massaker von 1968 und das Massaker von Corpus Christi von 1971 (vgl. Kap 1.3). Der Schmutzige Krieg in den ruralen Gebieten jedoch war ein bis dahin verschwiegenes Thema und „Ansätze von Gerechtigkeit gab es keine, obwohl die Angehörigen die Ereignisse anklagten“81, wie Guerrero im Gespräch meinte. Er betonte jedoch auch, dass viele erst nach Jahren die Fälle angezeigt hätten: „Es war, weil in den 1970ern ein Kontext der Angst vorherrschte und man nichts anzeigen konnte. Es war unmöglich!“82 (Humberto Guerrero, Mexiko-Stadt, 2009) Erst ab den 1990er Jahren begannen Angehörige verstärkt den juristischen Weg einzuschlagen: „Davor haben sie mehr politische Arbeit betrieben in Form von öffentlichem Protest und der Suche nach ihren Angehörigen. Es ist erst ab den 1990ern, dass begonnen wurde, die Fälle auch formeller auf juristischer Ebene zu bearbeiten und die ersten Anzeigen (…) vor den Behörden gemacht werden. Natürlich war die Antwort [von den Behörden] immer, dass nichts untersucht werde, dass die Anzeigen nicht angenommen werden. Und so ist es bis zur berühmten Transition in Mexiko mit Vicente Fox, dass es einen Versuch gab, der ernsthaft erschien, das Thema anzugehen.“83 (Humberto Guerrero, Mexiko-Stadt, 2009)
Humberto Guerrero erwähnt die „berühmte Transition“ in Mexiko, in der auch erstmals das Thema der Verschwundenen im öffentlichen Diskurs präsent wurde. Nach der Beschreibung der verschiedenen Aspekte von Rehumanisierungspraktiken der Angehörigen seit den 1970er Jahren sollen im Folgenden nun die staatlichen Reaktionen auf die Handlungen, Aktionen, Proteste und Forderungen der Angehörigen der Verschwundenen beschrieben werden. In der Eingangsfrage wird deutlich, welche Richtung diese Entwicklungen zunächst annehmen: Transitional Frictions statt Transitional Justice? Die Friktionen in diesen Prozessen beschreiben vor allem
81 „Intentos de justicia, no habia habido ninguna a pesar de que los familiares denunciaron los hechos.“ (Humberto Guerrero, Mexiko-Stadt, 2009) 82 „Era porque en este momento en los setentas había un contexto de miedo y no se podía denunciar. ¤Era imposible!“ (Humberto Guerrero, Mexiko-Stadt, 2009) 83 „[Antes] hicieron más este trabajo de denuncia pública, de trabajo a nivel politico, de búsqueda de sus familiares pero realmente es hasta los noventa en que se empieza un poco más formalmente a trabajar por la parte jurídica los casos y empieza a ver las primeras denuncias (…) ya ante las autoridades. Obviamente la respuesta siempre fue que no se investigaba nada, no recibían las denuncias y pues es hasta la famosa transición en México con Vicente Fox en que hay un intento que parecía serio de abordar el tema.“ (Humberto Guerrero, Mexiko-Stadt, 2009)
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jene Aspekte, die einen Umgang mit der Vergangenheit, so wie ihn die Angehörigen fordern und so wie er in globalen Diskursen und Normen von Transitional Justice theoretisch festgelegt wird, schwierig machen. Diese Konflikte führen für die Angehörigen der Verschwundenen zu Prozessen, die im Folgenden als ReDehumanisierung zusammengefasst werden.
III. RE-DEHUMANISIERUNG: Transitional Frictions statt Transitional Justice?
„Das Wesen jedweder Macht besteht im Recht, autoritativ zu definieren. Im Kampf um die Macht geht es deshalb um die Aneignung bzw. Wiederaneignung des Rechts zu definieren sowie um das nicht weniger wichtige Recht, die Definitionen des gegnerischen Lagers für ungültig zu erklären oder schlicht zu ignorieren.“ (Bauman 2000: 30)
4. Aufarbeitung der Gewalt als Konflikt im Postkonflikt „Reflection in the context of societies where odious and large-scale crimes have ocurred is difficult, because one must deal directly with a very complex universe of victims, grasp the logics and trajectories of perpetrators and states, and grapple with the frequent absence of political will on the part of governments and even the international community.“ (Mô Bleeker zit. in: Hinton 2010: viii)
Wie die Anthropologin Mô Bleeker im obigen Zitat feststellt, handelt es sich im Kontext von Gesellschaften, die von vergangener (und gegenwärtiger) massiver Gewalt geprägt sind, um die Analyse eines komplexen Universums von Opfern, TäterInnen, Mit-täterInnen, ZuschauerInnen und staatlichen Logiken. In diesem Universum geht es auch um die Macht, die jeweils eigenen Perspektiven über bestimmte Sachverhalte autoritativ, im Sinne Baumans, zu definieren. Das Forschungsfeld von Transitional Justice beschäftigt sich mit diesem Universum. Was heißt nun aber Transitional Justice und welchen Zugang hat die Kultur- und Sozialanthropologie in diesem Feld? Transitional Justice heißt allgemein definiert eine Phase des Übergangs einer Gesellschaft nach einem von Gewalt geprägten Konflikt hin zu Konfliktlösung, Frieden und Demokratisierung. In dieser Transitionsphase soll das zerstörte Vertrauen in staatliche Institutionen wieder aufgebaut, Reparationen von vergangenem Leid für Opfer getätigt und die Täter zur Verantwortung gezogen werden (vgl. Buckley-Zistel/Oettler 2011; Oettler 2008; Hazan 2007; Teitel 2003).1
1
Für Analysen und Diskussionen zu Transitional-Justice-Prozessen vgl. auch Mertus (2000), Hayner (2001), Oettler (2004), Roht-Arriaza/Mariezcurrena (2006), Van der
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Dies beinhaltet eine klare Ansage der neuen politischen Eliten der Transition zu Aufklärung von Verbrechen der Vergangenheit, zu Wahrheit und Gerechtigkeit. Gerechtigkeit und Wahrheit meint hier eine restaurative und/oder retributive Gerechtigkeit für die Opfer von Gewaltverbrechen der Vergangenheit. Dies fordern vor allem die Opfer von Gewalt, die durch ihren politischen Protest oft auch die Entstehung und Implementierung von Transitional-Justice-Mechanismen – wie Wahrheitskommissionen, Untersuchungskommissionen, Gerichtsprozesse – auf nationaler und internationaler Ebene beeinflusst haben. Opfer haben in den letzten Jahren auf lokaler und globaler Ebene im Kontext von Aufarbeitungsprozessen von Gewalt einen immer größeren Stellenwert erlangt und sind zu zentralen politischen Akteuren geworden (vgl. Bonacker 2012, Jeffery/Candea 2006). Doch diese Prozesse um Gerechtigkeit für Opfer sind immer auch von Interessenkonflikten begleitet, da sie nicht in einem politischen Vakuum durchgeführt werden, sondern immer auf spezifische lokale Machtgefüge treffen. Diese Interessenkonflikte werden deutlich in der Formulierung von solchen Fragen: Wer soll Gerechtigkeit an wem üben? Wer sind überhaupt die Opfer, wer die Täter? Wer soll sich bei wem entschuldigen? Heißt Gerechtigkeit, die Täter vor Gericht zu stellen und zu verurteilen? Wer soll wofür und wie entschädigt werden und wer soll Reparationszahlungen in welcher Höhe erhalten? Welche Akteure sollen symbolische Gerechtigkeit umsetzen in Form der Errichtung von Erinnerungs- und Gedenkorten, von Museen, Mahnmalen oder Straßennamen? Welche Ereignisse sollen überhaupt erinnert werden? In diesen Dynamiken stellt sich auch die Frage, ob ein für bestimmte Interessengruppen erfolgreicher Transitional-Justice-Prozess auf einer makropolitischen Ebene auch ein solcher für andere Gruppen auf einer mikropolitischen Ebene ist. Aufgrund dieser oftmalig beobachteten Diskrepanz zwischen der Implementierung globaler Normen und den tatsächlichen lokalen Bedürfnissen plädieren KritikerInnen des Optimismus von globalen Transitional-Justice-Mechanismen dafür, die lokale Mikroperspektive sozio-kultureller Kontexte und Realitäten zu betrachten (vgl. Shaw/Waldorf 2010; Colvin 2008; Theidon 2012; Kayser-Whande/Schell-Faucon 2009; Wilson 2001; Buckley-Zistel/Oettler 2011). Erst durch die Einbeziehung der Mikroperspektive, der Perspektive der Betroffenen selbst von vergangener Gewalt kann beurteilt werden, ob ein Transitional-Justice-Prozess wirklich erreicht hat, was von politischen Eliten oftmals nach außen als Erfolg der Transition propagiert wird: die Aufklärung der Verbrechen der Vergangenheit, Wahrheitsfindung und Gerechtigkeit für die Opfer.
Merwe/Baxter/Chapman (2009), Buckley-Zistel (2008), Buckley-Zistel/Stanley (2011), Buckley-Zistel/Koloma Beck/Braun/Mieth (2014).
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Ist Transitional Justice also angesichts der Bedeutung von Lokalitäten doch ein Forschungsfeld der Kultur- und Sozialanthropologie, wie Alexander Hinton (2010) fragt? Für die Kultur- und Sozialanthropologie ist das Forschungsfeld von Transitional Justice ein relativ Neues. Dies hängt einerseits damit zusammen, dass es als junges Forschungsfeld seit den 1990er Jahren zunächst ein Feld der Politikwissenschaft und der Rechtswissenschaften war. Und andererseits damit, dass die Anthropologie die allgemeinen Prämissen dieses Konzeptes eher kritisch betrachtet. Die anthropologische Forschung hat sich bisher wenig mit diesem Themenbereich beschäftigt bzw. wurde diese unter anderen Vorzeichen durchgeführt. Empirische Forschung in Postkonfliktgesellschaften fiel eher unter damit zusammenhängende Forschungsbereiche wie Anthropologie des Staatsterrorismus und der politischen Gewalt (Sluka 2000; Manz 2005; Robben 2005), des Genozids (Hinton 2002, Scheper-Hughes 2002), der Menschenrechte (Goodale/Merry 2007; Goodale 2009; Wilson 1996, 2001) oder allgemein in der anthropologischen Beschäftigung mit Gewalt, Krieg und Konflikt (vgl. Kleinman/Das/Lock 1996; Das/Kleinman/Ramphele 2000; Scheper-Hughes/Bourgois 2004, Richards 2005 Strathern/Stewart/Whitehead 2006). Hinton (2010) zufolge hat die erst jetzt beginnende anthropologische Forschung zu Transitional Justice auch mit der Kritik an den Prämissen des Konzeptes zu tun. Dabei ist aus einer anthropologischen Perspektive der eurozentristische und (neo-)koloniale Diskurs von Entwicklung und Fortschritt, der einem hierarchischen und teleologischen Zivilisationsprozess folgt, als sehr kritisch zu betrachten. Ähnlich also der evolutionistischen Stadientheorie aus dem 19. Jahrhundert, wonach jede Gesellschaft Entwicklungsstufen von Barbarei zu Zivilisation durchlaufen würde, sollten sich nach dem Diktum der globalen ExpertInnen von Transitional Justice alle Gesellschaften nach einem Krieg hin zu Demokratie entwickeln und bestimmte Mechanismen der Aufarbeitung vergangener Verbrechen einsetzen, um erfolgreich in die Zukunft zu schreiten. Dazu sollen Formen der gesellschaftlichen und juristischen Instrumente eingesetzt werden wie Wahrheitskommissionen und Kriegsverbrechertribunale, um mit dem Anspruch an Gerechtigkeit, Wahrheit und Versöhnung eine geeinte Nation zu schaffen, in der Opfer und Täter idealerweise friedlich zusammenleben. Doch was passiert, wenn dieser theoretische Diskurs globaler Normen auf die lokale Realität bestehender historischer, sozialer und politischer Prozesse trifft? In welcher Hinsicht werden die globalen Ansprüche von lokalen politischen Machthabern umgesetzt und aus welchem Grund wird dies getan? Können Dynamiken entstehen, die dem ursprünglichen Ziel einer friedlichen, vereinten, gerechten Nation widersprechen? Kann es zu neuen Konflikten kommen, gerade aus dem Zusammentreffen dieser Mechanismen mit anderen sozio-kulturellen Kontexten? Aus einer anthropologischen Sichtweise geht es bei der Analyse dieser Fragen vor allem darum, zu beobachten, welche sozialen Transformationsprozesse auf einer lokalen
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Ebene durch Krieg und Konflikt entstehen. Und in weiterer Folge, welche Wechselwirkungen es zwischen der Aneigung globaler Diskurse und den Konflikten gibt, die aus der politischen Einsetzung dieser Instrumente auf lokaler Ebene entstehen? Diese Friktionen gilt es zu untersuchen. Die Kultur- und Sozialanthropologie kann dabei einen wertvollen Beitrag leisten angesichts dessen, was Julie Peteet beschreibt: „Anthropologyދs concern with culture from an insider´s point of view, local-global interaction, and our comparative angle, as well as our interest in memory and forgetting and resistance to domination, all hold promise. In addition, our understanding of how individuals and societies respond to conflict and prolonged stress position us to offer insights on possible responses to military assault and prolonged occupation – the stuff of empire.“ (Peteet 2010: 84)
Hinton (2010) verwendet in diesem Zusammenhang der Diskrepanz zwischen Globalem und Lokalem das Konzept der Transitional Frictions.Für den mexikanischen Fall erscheint das Konzept der Spannungen, der Friktionen geeignet. Es können damit verschiedene konfliktive Phänomene der Transitionsprozesse zusammengefasst werden, die aus meiner Fallstudie ersichtlich und im Laufe der folgenden Kapitel dargestellt werden sollen. Angewandt auf den Fall Mexikowird ersichtlich, dass neue Friktionen und Dynamiken in der Aufarbeitung der Verbrechen in der (Post-)Konfliktphase entstehen. Und zwar eben gerade durch den Aufarbeitungsund Transitional-Justice-Prozess. Diese Dynamiken werden nur aus einer empirischen und ethnographischen Mikroperspektive auf der lokalen Ebene der Betroffenen, der Gruppe der Opfer fassbar. Lateinamerika war die erste Region der Welt, in der in einer Vielzahl an Ländern die postdiktatorialen Transitionsregierungen Wahrheitskommissionen (vgl. Hayner 2001; Oettler 2006) einsetzten mit dem Anspruch, die Wahrheit über die Verbrechen der Vergangenheit öffentlich zu machen und so zu nationaler Versöhnung beizutragen. Aber was bedeutet der Anspruch des politischen Diskurses nach nationaler Versöhnung bzw. ist diese überhaupt möglich? Oder, um es mit den Fragen von Michael Ignatieff zu formulieren: „Do nations, like individuals, have psyches? Can a nation’s past make people ill as we know repressed memories sometimes make individuals ill? Conversely, can a nation or contending parts of it be reconciled to their past, as individuals can, by replacing myth with fact and lies with truth? Can we speak of nations ,working through‘ a civil war or an atrocity as we speak of individuals working through a traumatic memory or event? (…) But if it is problematic to vest an individual with a single identity, it is more so in the case of a nation.“ (Ignatieff 1996: 110)
Von der Möglichkeit der Existenz einer „nationalen Versöhnung“, die Ignatieff anzweifelt, kann auch in Mexiko keineswegs gesprochen werden. Auch der mexi-
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kanische Aufarbeitungsprozess verlief bisher problematisch und durchlief mehrere Phasen mit wechselnden Akteuren und Interessen. Im Folgenden werden zentrale Aspekte der staatlichen Reaktionen auf die Proteste und Forderungen der Angehörigen der Verschwundenen dargestellt. Im Laufe der Beschreibungen wird deutlich werden, welche Strategien der Aufarbeitung der Verbrechen die sich abwechselnden Regierungen von PRI und PAN angewandt und welche Diskurse diese begleitet haben. Dabei wird der Frage nachgegangen, welche Transitional Frictions im Sinne Hintons(2010), welche Spannungsfelder sich also zwischen den globalen Normen und Diskursen von Transitional Justice und den lokalen politischen Realitäten ergeben. Angesichts der Kontinuität des Transfers der Repression auf die Angehörigen und dem erneuten Einsatz von Gewalt in Form von Aufstandsbekämpfungen wird auch für die (vermeintliche) Aufarbeitungs- und Postkonfliktphase das Konzept der Dehumanisierung verwendet. Da es sich in der Aufarbeitungsphase der Gewalt um einen Prozess der Dehumanisierung handelt, der andere Aspekte aufweist, als jener in der Vergangenheit, ein Prozess, der vielmehr mit Reviktimisierung zu tun hat als mit direkter Gewalt, werden die negativen Folgen der Aufarbeitung für die Opfer und Betroffenen als Re-Dehumanisierung umschrieben. Es sollen damit zusammengefasst alle Strategien bezeichnet werden, welche die mexikanischen Regierungen entgegen offizieller und instrumentalisierter Diskurse von Menschenrechten einsetzen, um weiterhin die Rehumanisierung der Opfer zu verhindern. Auf die kontinuierlichen Proteste der Angehörigen der Verschwundenen folgten unterschiedliche Reaktionen der mexikanischen Regierungen in verschiedenen politischen Phasen. Im Folgenden werden die Prozesse dieser staatlichen Reaktionen auf die Praktiken der Rehumanisierung der Angehörigen der Verschwundenen nachgezeichnet. Es wird dabei der Frage nachgegangen, ob und inwieweit globale Instrumente von Transitional Justice eingesetzt wurden und welche lokalen Dynamiken sich aus verschiedenen politischen Maßnahmen einer potenziellen Aufarbeitung der Verbrechen der Vergangenheit entwickelten.
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4.1 F RIKTIONEN : PRI UND CNDH – U NTERSUCHUNG DER EIGENEN T ATEN ? „Was man in diesem Land üblicherweise macht, ist nicht Gerechtigkeit zu schaffen, sondern Gesetze anzuwenden. Und die Gesetze werden meist dazu angewandt, um keine Gerechtigkeit zu schaffen.“2 (Del Rio. zit. in Aranda 2002)
Sowohl Comité Eureka als auch die Angehörigen aus Atoyac, organisiert in AFADEM, führten nach dem bereits beschriebenen Hungerstreik im Jahr 1978 zahlreiche Proteste in Mexiko-Stadt und Atoyac durch. Sie erhielten aber seit dem ersten Erfolg der Freilassung der 148 Verschwundenen aus dem Geheimgefängnis im Militärlager Nr. 1 keine Antworten mehr über den Verbleib der restlichen Verschwundenen. Aus dem Bericht der Nationalen Menschenrechtskommission CNDH von 1992 (1992: 4) geht hervor, dass die erste offizielle Antwort der Regierung hinsichtlich der Verschwundenen am 24. Januar 1979 von Generalstaatsanwalt Oscar Flores Sánchez kam. In einer Deklaration legte er das Resultat der Untersuchungen über 314 Fälle von angeblichen Verschwundenen (presuntos desaparecidos) vor, die mit bewaffneten Bewegungen in Verbindung standen und deren Fälle bis dahin von den Angehörigen angezeigt wurden. Die PRI-Regierung betonte dabei stets, dass es sich um angebliche Verschwundene handelte und die Beteiligung staatlicher Akteure an deren Verschwindenlassen ausgeschlossen wurde. Vielmehr sagte Flores Sánchez, dass von den 314 Fällen 154 in bewaffneten Konfrontationen im Zuge von Aufstandsbekämpfungsoperationen mit Polizei und Militär getötet worden seien, dass 89 angebliche Verschwundene sich versteckt hielten und dass die restlichen 58 aufgrund interner Guerillakämpfe gestorben seien (AI 1998: 8).3 In den darauf folgenden Jahren informierten die Behörden in einzelnen Fällen von der Lokalisierung angeblicher Verschwundener. Sie wiesen darauf hin, dass man sie in diesen Fällen entweder zufällig gefunden oder sich diese selbst bei den Behörden gemeldet hätten, um nicht weiter gesucht zu werden. Im Jahr 1989 gab Präsident Salinas de Gortari (1988 –1994) schließlich dem Druck der Angehörigenorganisationen nach und unternahm einen ersten nationalen Versuch der Aufklärung des Schicksals der Verschwundenen. Er gründete die Dirección General de Derechos Humanos,4 die dem Innenministerium (Secretaria de Gobernación) zugeordnet war. Die Regierung Salinas de Gortari unternahm diesen
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„En este país lo que se acostumbra es no hacer justicia sino aplicar leyes, y las leyes se
3
Amesty International Bericht AI Index: AMR 41/05/98: Mexico: „Disappearances“: a
4
Generaldirektion für Menschenrechte.
aplican para no hacer justicia.“ (Del Rio. zit. in Aranda 2002) black hole in the protection of human rights.
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Schritt, weil er unter massivem politischen Druck stand. Seine politische Legitimität war seit Beginn der Amtszeit aufgrund des angenommenen Wahlbetrugs 1988 infrage gestellt. Der Präsidentschaftskandidat der Oppositionspartei PRD (Partido de la Revolución Democratica), Cauhtémoc Cárdenas, hat Wahlanalysen zufolge diese Wahlen gewonnen, die regierende PRI-Partei erkannte diesen Sieg jedoch nicht an, fälschte die Wahlergebnisse und setzte ihren Kandidaten als Präsident ein. Der Protest der Opposition und der Zivilgesellschaft veranlassten Salinas de Gortari mehrere politische Projekte zum „Wohle des Landes“ zu initiieren. Auch führte der Präsident Verhandlungen mit den USA und Kanada hinsichtlich der Etablierung des Freihandelsabkommens NAFTA und wollte – in historischer Linie aller PRIRegierungen auch vor ihm – international als demokratische Regierung erscheinen. So führte im Kontext des globalen Diskurses der Menschenrechte ab den 1990er Jahren (Wilson 1997) der innenpolitische Druck dazu, dass Salinas per Dekret vom 6. Juni 1990 schließlich die Comisión Nacional de Derechos Humanos (CNDH) gründete. Salinas sagte bei der Gründungszeremonie der Nationalen Menschenrechtskommission: „Es soll keine Zweifel geben: Die politische Linie der Regierung der Republik ist Menschenrechte zu verteidigen und jene zu bestrafen, die diese verletzten; es soll ein für allemal jeglicher Art von Straflosigkeit ein Ende gesetzt werden.“ (Salinas zit. in: AI 1998: 8) Mit seinen Versprechen löste Präsident Salinas auch in den Reihen der Angehörigen der Verschwundenen Hoffnung aus. Im Laufe der folgenden Ereignisse sollten sich jedoch diese präsidialen Bekenntnisse als reine politische Rhetorik entpuppen. Zu Beginn dieses zunächst hoffnungsvoll anmutenden Prozesses übergab das Comité Eureka der Comisión Nacional de Derechos Humanos die Dokumentation von 529 Fällen von Verschwundenen (Sáenz Carrete 2001). Der Ombudsmann der CNDH, Jorge Carpizo, veranlasste im Jahr 1990 gemeinsam mit der Procuraduría General de la República (PGR)5, eine interinstitutionelle Arbeitsgruppe einzusetzen. Er versprach sowohl den VertreterInnen der Vereinten Nationen als auch den Angehörigen von Comité Eureka, mit Hilfe der Ermittlungen dieser Arbeitsgruppe eine Antwort auf ihre Forderungen zu geben. Die CNDH unter der Leitung von Jorge Carpizo sollte nach dem kontinuierlichen Druck der Angehörigenorganisationen auch den Verbleib der angeblich Verschwundenen untersuchen. Es wurde im Jahr 1990 das PREDES-Programm (Programa de Presuntos Desaparecidos; Programm der angeblich Verschwundenen) eingesetzt, welches zwei Jahre recherchieren und einen Abschlussbericht über die Situation in Guerrero verfassen würde. PREDES startete mit folgendem Aufruf an die Angehörigen und die mexikanische Bevölkerung:
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Generalstaatsanwaltschaft.
256 | K AMPF UM R EHUMANISIERUNG „Mit dem Ziel, die Untersuchungsarbeiten der 482 Fällen von Personen, die bei der Nationalen Menschenrechtskommission (CNDH) als verschwunden angezeigt wurden, zu intensivieren, gibt es einen Aufruf an Angehörigen, Freunde und Bekannte derselben, um jeglichen Hinweis, der nützlich sein und zu deren Lokalisierung führen könnte. Dieser Information wird nachgegangen und mit jener verbunden, die die CNDH innerhalb ihres Programmes der Angeblichen Verschwundenen im Laufe ihrer Untersuchungen erhält. Das Ziel ist den Verbleib jeder einzelnen der 482 Personen aufzuklären, die zwischen 1970 und 1980 angezeigt wurden, wie auch den Grund des Verschwindens, die Art und Weise, wie es geschehen ist und die möglichen Verantwortlichen. Die Nationale Menschenrechtskommission richtet für die Angehörigen, Freunde, Bekannten und die allgemeine Öffentlichkeit die kostenfreie Telefonnummer 01 – 800 – 715 – 2000 ein, die rund um die Uhr, 24 Stunden zur Verfügung steht.“6
Das Ziel von PREDES war, wie im CNDH-Bericht zu lesen ist (vgl. CNDH 1992), nicht die Untersuchung des sozialen und politischen Kontextes des vergangenen Konfliktes, die Motivation der angeblichen Verschwundenen für den bewaffneten Kampf oder die illegalen Aktivitäten, die sie im Zuge dessen begangen haben könnten. Das einzige Ziel der Untersuchung war die Umstände des angeblichen Verschwindens einer Person festzustellen und die Lokalisierung oder den Verbleib dieser, im Falle, dass sie verstorben ist, zu klären. Die Untersuchung war also von Anfang an nicht auf eine umfangreiche Erforschung des sozialen, politischen und historischen Kontextes des Schmutzigen Krieges und des Verschwindenlassens gerichtet, sondern lediglich darauf, den Angehörigen Informationen über den Umstand und den Verbleib ihrer verschwundenen Familienmitglieder zu liefern. Dies war zwar eine wichtige Forderung der Angehörigen, aber weitere Forderungen, wie die mögliche Täterschaft und Schuld staatlicher Akteure am Verschwindenlassen zu
6
Siehe CNDH-Dokument unter http://www.cndh.org.mx/sites/all/fuentes/documentos /Casos_especiales/2001_desaparecidos.pdf (Letzter Zugriff: 30.04.2014). „Con el fin de intensificar las tareas de investigación en los casos de las 482 personas denunciadas como desaparecidas ante la Comisión Nacional de los Derechos Humanos (CNDH), se hace un llamado a familiares, amigos y conocidos de las mismas, para que aporten cualquier dato que consideren útil y pueda conducir a su localización. Dicha información será cotejada y cruzada con la obtenida durante las investigaciones que lleva a cabo la CNDH como parte de su Programa de Presuntos Desaparecidos con el propósito de esclarecer el paradero de cada una de las 482 personas reportadas entre los años de 1970 y 1980, así como las causas de su desaparición, la forma en que ocurrió, y los probables responsables de la misma. La Comisión Nacional de los Derechos Humanos pone a disposición de familiares, amigos, conocidos y público en general el número telefónico Lada sin costo 01 – 800 – 715 – 2000, durante las 24 horas del día.“
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untersuchen oder den Familien sterbliche Überreste von toten Verschwundenen zurückzugeben, sollten diese lokalisiert werden, war von Beginn an nicht Ziel dieser Kommission. Zum ersten Mal jedoch fuhren Regierungsfunktionäre der Menschenrechtskommission in die Dörfer der Sierra de Atoyac und sammelten Informationen und testimonios der Angehörigen der Verschwundenen. Der Bericht macht zu Beginn deutlich, dass es bei der Untersuchung mehrere Hindernisse gab. Diese Hindernisse, die eine vollständige Aufklärung der Fälle behinderten, machen die Perspektive der damaligen mexikanischen Regierung auf die Thematik und die damit einhergehende Vorgehensweise der staatlichen Menschenrechtskommission deutlich. Es wird die Strategie der PRI-Regierung – die Autokritik der Anderen (vgl. Monsiváis 2002) – ersichtlich, sich von den eigenen Taten zu distanzieren und die Schuld für jegliches Vergehen stets anderen zuzuschreiben. Nur einige Beispiele dafür sollen genannt werden. Als ein Hindernis der Untersuchung erwähnt die CNDH, dass die Anzeigen über die angeblichen Verschwundenen in den meisten Fällen nur ein Blatt umfassen würden und darin kaum Daten über den/die Verschwundene/n verzeichnet sind. Es handle sich vielmehr nur um Aussagen der Angehörigen, aber es gäbe in den wenigsten Fällen Daten über die möglichen Täter. Es fänden sich auch keine Zeugen für das Verschwindenlassen oder Zeugen über den Ort der Festnahme des Verschwundenen. Es gäbe in diesen Anzeigen auch keine Information darüber, was nach dem Verschwinden der Person passierte, oder einen Beweis darüber, dass dieser tatsächlich illegal in einer Polizei- oder Militärstation inhaftiert und dort gesehen wurde. „Die Anzeige endet mit dem angeblichen Verschwinden der Person und es werden keine weiteren Daten über den weiteren Verbleib des angeblichen Verschwundenen mit klaren Beweisen vorgewiesen (...).“7 (CNDH 1992: 10) Als nächstes Hindernis weist die Kommission auch darauf hin, dass nur wenige Angehörige überhaupt eine Anzeige erstattet hätten und wenn sie eine solche gemacht haben, dann bei einer nicht dafür zuständigen Behörde. Dies hätte dazu geführt, dass die Anzeigen möglicherweise nur abgelegt oder verloren gegangen seien, ohne dass sie der dafür zuständigen Behörde übermittelt wurden. Im Bericht wird in diesem Kontext auch den Landes- und Bundesbehörden ein Fehler im Umgang mit der Registrierung aller bewaffneten Konfrontationen mit der Partei der Armen vorgeworfen: „Da dies nicht gemacht wurde, konnte auch keine Aufklärung der Fälle zum damaligen Zeitpunkt auf dem normalen legalen Weg gemacht werden.“8 (Ebd.)
7
„La denuncia finaliza con la presunta desaparición de la persona, y no se agrega ningún dato más del presunto desaparecido que demuestre su ubicación posterior con pruebas fehacientes (…).“ (CNDH 1992:10)
8
„No haberlo hecho, impidió el debido esclarecimiento de los casos en su momento por las vías legales normales.“ (Ebd.)
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Wurde von Angehörigen eine Anzeige doch bei einer zuständigen Behörde in Guerrero gemacht, erhielt die CNDH auf Anfrage nach dem jeweiligen Fall lediglich die Antwort, dass die Dokumente dazu nicht mehr auffindbar seien, an eine andere Stelle übermittelt oder bereits entsorgt wurden. Es wird auch darauf hingewiesen, dass einige Beamte von Landes- oder Bezirksbehörden keine Dokumente aushändigen wollten: „Es ist auch notwendig, auf das Unverständnis hinzuweisen, dass einige Beamte in verschiedenen Positionen hinsichtlich des zu behandelnden Themas Groll und Argwohn zeigten und mit ihrem Verhalten die Möglichkeit, etwaige Beweise oder wichtige Daten zu erhalten, behindert haben.“9 (Ebd.: 11) Hinsichtlich der Kontaktaufnahme mit den Angehörigen in der Sierra de Atoyac beschreibt die CNDH folgende Schwierigkeiten. In einigen Fällen, in denen Angehörige eine Anzeige erstattet hatten, wollten diese keine Kooperation mit der CNDH. Dies erklärten sie sich damit, dass es fehlendes Interesse von Seiten der Angehörigen in der Untersuchung gäbe. Die CNDH interpretiert die Gründe so: „In einigen Fällen erklärt sich das damit, dass nach dem langem Suchen nach dem Angehörigen und den ständigen negativen und ausweichenden Antworten der Behörden, die Hoffnung auf Unterstützung in einer derart schwierigen Aufgabe verloren ging.“10 (Ebd.) In anderen Fällen erklärt sich die CNDH das fehlende Interesse an der Kooperation damit, dass die Familie nichts von der Zugehörigkeit des angeblichen Verschwundenen wusste oder dass mit Eintritt in die Klandestinität die Familie keine Informationen mehr über diese hatte, sodass sie auch keine Daten an die CNDH liefern konnten. Die Beamten nahmen auch an, dass manche nicht mit der Teilnahme ihres Angehörigen an einer bewaffneten Organisation einverstanden waren und daher die Suche aufgegeben oder sie Angst vor Repressalien hatten, wenn sie diese suchen würden. Die CNDH weist auch darauf hin, dass es in manchen Fällen keine Information darüber gebe, ob der angebliche Verschwundene Familienangehörige hatte, oder dass diese bereits verstorben waren oder an andere unbekannte Orte migriert seien (vgl. ebd.). In anderen Fällen erfuhren die MitarbeiterInnen der CNDH zwar den Aufenthaltsort der Familie, da sich diese jedoch in sehr „entlegenen und unerreichbaren Orten des Bundesstaates Guerrero“11 (ebd.: 12) befanden, konnte sie nicht aufgesucht werden.
9
„Tambien es necesario señalar la incomprensión de servidores públicos de diferente rango que ante la investigación del tema tratado, mostraron resqumores y recelos, obstruyendo con su actitud la posibilidad de conseguir alguna evidencia o dato importante.“ (Ebd.: 11)
10 „En algunos casos se explica porque después de buscar a su familiar durante mucho tiempo y encontrar siempre negativas o evasivas de autoridades, se fue perdiendo la esperanza de encontrar apoyo en tan difícil tarea.“ (Ebd.) 11 „[L]ugares remotos e inaccesibles del propio Estado de Guerrero (...)“ (Ebd.: 12).
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Bei jenen Angehörigen, die schließlich doch interviewt werden konnten, war das Problem, dass sie sich nicht an die Situation des angeblichen Verschwindens erinnern konnten, da sie minderjährig waren. Andere wiederum wüssten nur durch dritte Personen darüber oder sie weigerten sich, darüber zu sprechen (vgl. ebd.). Sogleich stellt die CNDH aber auch fest, dass der schwierige Prozess, der nach der erstatteten Anzeige folgte, die Angehörigen mit einem „derartigen Grad an Misstrauen gegenüber Unbekannten und Institutionen“12 geprägt hätte, dass sie darüber nur in einer Form der Wehklage sprechen würden in der Hoffnung, verstanden zu werden. Sie würden aber nicht in einer adäquaten Form einer „Zeugenaussage, [die] notwendig [ist], um wesentliche Daten für die Suche des angeblichen Verschwundenen zu bestätigen oder zu verwerfen“13, (ebd.) sprechen. In diesem Diskurs wird die Diskrepanz zwischen dem geforderten „adäquaten“ Narrativ in einem juristischen Sinne und dem subjektiven heterogenen Erfahren und Erleben von Gewalt der Opfer deutlich. Das Fehlen einer adäquaten Ausdrucksform über die Beweise des tatsächlichen Verschwindenlassens der Angehörigen wird für die staatlichen RepräsentantInnen so zu Beweis und Rechtfertigung, dass dieses Verbrechen gar nicht stattgefunden hat. Das Zurückhalten und Verweigern von Beweisen ist aber gerade – wie in Kapitel 2.7 beschrieben – Teil der Methode dieses Verbrechens. Das Resultat dieser Untersuchung war dann schließlich: „37 Personen wurden lebend gefunden; von 15 Personen wurden unglücklicherweise deren Leichname gefunden; und in fünf Fällen wurde die Anzeige zurückgenommen. Dies macht bis heute 57 aufgeklärte Fälle.“14 (Ebd.: 6) Die Angehörigen des Comité Eureka brachen die Zusammenarbeit mit der CNDH ab. Der Grund war, dass für sie der Eindruck entstand, MitarbeiterInnen von CNDH würden die Anliegen und Forderungen der Angehörigen delegitimieren und dass die angeblichen Resultate der Arbeit der CNDH, so zum Beispiel, dass einige Verschwundene wieder aufgetaucht seien, nicht den Tatsachen entsprach (vgl. Maier 2001). Außerdem wurde von der CNDH verbreitet, dass die Aussagen der Angehörigen über ihre Verschwundenen Lügen seien. Die Kommission, die den Verbleib der Verschwundenen aufklären sollte, beschäftigte sich dann vielmehr damit, die Angehörigen zu diskreditieren, ihnen öffentlich jegliche Glaubwürdigkeit abzusprechen und das Problem der Verschwundenen auf eine Ebene zu reduzieren, die jedem selbst die Schuld für das angebliche Verschwinden gab. So heißt es im Bericht:
12 „[C]on un tal grado de desconfianza ante desconocidos e instituciones (...)“ (Ebd.: 12). 13 „[T]estimonio circunstanciado, necesario para comprobar o desechar datos imprescindibles para la búsqueda del presunto desaparecido.“ (Ebd.) 14 „37 personas se han encontrado vivas; de 15, desgraciadamente se encontraron sus cadáveres; y en 5 casos hubo desistimiento de la queja. Sumando a la fecha 57 casos aclarados.“ (Ebd.: 6)
260 | K AMPF UM R EHUMANISIERUNG „[D]ie Untersuchung hat neue Hypothesen über das Schicksal einiger Personen aufgeworfen (…). Man kann auch die Tatsache nicht ausschließen, dass einige die Möglichkeit hatten, zu fliehen, und sie gegenwärtig noch leben, sogar unter anderer Identität, ohne dass sie über ihre Vergangenheit sprechen wollen und weit weg vom Bundesstaat Guerrero leben.“15 (Ebd.: 8)
Jegliche Verbindung des Verschwindens einer Person mit einem systematischen Gewaltakt eines staatlichen Akteurs sollte in dieser Untersuchung also verhindert werden. Das Verschwindenlassen wurde individualisiert und dem politischen und historischen Kontext entrissen. Galeano beschrieb diese Strategie des staatlichen auferzwungenenVergessens und der Entkontextualisierung folgendermaßen: „Jedes Ereignis ist von allen anderen Ereignissen getrennt, von seiner eigenen Vergangenheit und von der Vergangenheit der anderen.“ (Galeano 2000: 223) Auffällig am Bericht ist auch, dass die Darstellung aller Ereignisse in der Sierra de Atoyac von 1967 bis 1974 auf die Entführung des PRI-Senators Rubén Figureoa Figueroa im Juni 1974 hin organisiert sind. So wird eine klare Akzentsetzung der politischen Interessen dieses Berichtes deutlich und die Täterschaft auf die Partei der Armen gelegt. Rubén Figueroa Figueroa als Repräsentant der PRI-Partei wird dabei zum Opfer konstruiert.16 Im Jahr 1992 wurde schließlich der Abschlussbericht Informe de la Investigación sobre Presuntos Desaparecidos en el Estado de Guerrero durante 1971 a 1974 (Untersuchungsbericht über angeblich Verschwundene im Bundesstaat Guerrero während 1971 bis 1974) dem Leiter der CNDH übergeben. Der Bericht wurde jedoch von der mexikanischen Regierung nie autorisiert und nicht öffentlich bekannt gemacht. Menschenrechtsorganisationen beschuldigten Jorge Carpizo, dass er den Bericht verheimlichen wollte. Der vermutete Grund einer Verheimlichung waren die politisch brisanten Informationen, die bei den Recherchen gesammelt worden sind, wie etwa Daten über Vorgehensweise und Namen der Täter oder Orte des Verbleibs der Gefangenen. Informationen, die zu brisant für die regierende PRIPartei waren, stammten doch die Täter aus den Reihen der eigenen Partei. Erst nach der Transitionsperiode im Jahr 2000 und der Abwahl der PRI wurde der Bericht auf die Homepage der CNDH gestellt mit der Anmerkung: „Arbeitsbe-
15 „[L]a investigación abrió nuevas hipótesis sobre la suerte ocurrida a varias personas (…). Tampoco se puede descartar el hecho de que algunos tuvieron la oportunidad de escapar y actualmente se pueden encontrar vivos, incluso con otra identidad, sin querer hablar de su pasado y viviendo lejos del Estado de Guerrero.“ (Ebd.: 8) 16 So lautet zum Beispiel die Überschrift des Kapitels A: „Vorkommnisse vor der Entführung von Ing. Rubén Figueroa. Zusammenfassung der Aktionen der Partei der Armen, 1967-1974.“ Das Kapitel B. Ist überschrieben: „Annäherungen vor dem Interview Figueroa-Cabañas.“ Das Kapitel C: „Die Entführung von Ing. Rubén Figueroa.“
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richt, der im Jahr 1992 (…) erstellt wurde für die spätere Erarbeitung eines ,Untersuchungsberichtes über angeblich Verschwundene im Bundesstaat Guerrero zwischen 1971 und 1974‘. Und weiter heißt es: „Dieser Bericht ist nicht autorisiert“.17 Damit soll betont werden, dass der Bericht nicht die offizielle Meinung der Regierung über die historische Wahrheit darstellt. Jorge Carpizo wurde eine zweideutige Rolle zugewiesen, einerseits hatte er den Auftrag, die Verbrechen der Vergangenheit aufzuklären, andererseits war er jedoch auch dafür zuständig, die Informationen geheim zu halten (vgl. Cilia Olmos 2002).18 Eine Vorgehensweise im öffentlichen Umgang mit der Vergangenheit in Mexiko, die sich bereits in den frühen 1990er Jahren abzeichnete und in den folgenden Jahren weiterverfolgt werden sollte. Im Bericht wurden die Namen der angeblichen Verschwundenen aufgelistet und festgestellt, dass die meisten dieser Verschwundenen in bewaffneten Konfrontationen zwischen der Guerilla der Partei der Armen von Lucio Cabañas und dem mexikanischen Militär und der Polizei getötet worden seien. Betont wird dabei, dass es bei diesen bewaffneten Konfrontationen Tote auf beiden Seiten gab: „Mexiko hatte, das ist öffentlich und in der ganzen Welt bekannt, während den 1970er Jahren ein Guerilla-Problem in einigen Bundesstaaten des Landes. Die Guerilla-Bewegungen und das Militär und die Polizei hatten in diesen Jahren viele Konfrontationen, in denen es Tote aus den drei Sektoren gab.“ (Bericht CNDH 1992: 5)19
Dies entspreche jedoch nicht in allen Fällen der Wahrheit, wie Angehörige betonen. So bemerkt Rodrigo, Sohn eines Verschwundenen aus El Ticui, verärgert: „Mein Vater wurde nicht in einer solchen bewaffneten Begegnung ermordet! Wie soll das denn möglich sein, wenn wir selbst gesehen haben, wie die Soldaten ihn hier vom Dorfplatz verschleppt haben. Das ist reine Lüge! Und ich kenne viele, die auch ein Schreiben der CNDH bekommen haben, wo das drinsteht.“ (Don Rodrigo, El Ticui, 2010)
Die Betonung darauf, dass die Angehörigen in einer bewaffneten Konfrontation gestorben seien, ist im Kontext der juristischen Verfolgung von Straftaten zu sehen. Wenn ein bewaffneter Kombattant – in diesem Fall Mitglied der Partei der Armen
17 http://www.cndh.org.mx/sites/all/fuentes/documentos/informes/especiales/2001_guerra sucia.pdf (Letzter Zugriff 30.04.2014). 18 Für weitere Informationen zur widersprüchlichen Rolle von Jorge Carpizo in der CNDH vgl. Cilia Olmos 2002. 19 Bericht
der
Nationalen
Menschenrechtskommission
(CNDH),
1992,
unter:
http://www.cndh.org.mx/sites/all/fuentes/documentos/informes/especiales/2001_guerrasu cia.pdf (Letzter Zugriff 30.04.2014).
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– in einem Schusswechsel mit dem Militär ermordet wird, ist dieser Tatbestand nicht strafbar. Die Tötung fällt unter das Kriegsrecht, also das ius in bellum, welches die bewaffnete Konfrontation von Feinden regelt. Wird also einer der bewaffneten Akteure in Kontext einer Kriegshandlung getötet, ist dies legitim und stellt keine Straftat dar. Das Verschwindenlassen von Personen hingegen fällt unter das Internationale Strafrecht und ist ein nicht verjährbares Verbrechen gegen die Menschlichkeit, das bedeutet, dass die Täter auch Jahrzehnte nach der Tat bestraft werden können. Aus diesem Grund wird auch im CNDH-Bericht nicht von Verschwindenlassen gesprochen. Im Jahr 1993 wurde der erste Versuch gestartet, eine Wahrheitskommission einzurichten. Diese wurde auf Initiative des in diesem Jahr gegründeten Comité Nacional XXV años del 68 (Nationales Komitee 25 Jahre nach 68) der Überlebenden des Massakers von Tlatelolco 1968 eingesetzt. Die Wahrheitskommission war zusammengesetzt aus Überlebenden, MenschrechtsaktivistInnen und Intellektuellen20, scheiterte aber daran, dass die mexikanische Regierung sich weigerte, die Archive von Militär und Geheimdienst zu öffnen und sich auf das Gesetz berief, nach dem Archive erst 30 Jahren nach dem Ereignis zugänglich gemacht werden dürfen (vgl. Sánchez Serrano 2011). Nach den ersten Friktionen im beginnenden Aufarbeitungsprozess ab den 1990er Jahre, in denen sich herausstellte, dass die nationale Menschenrechtskommission CNDH und die regierende PRI-Partei nicht bereit waren, die Verbrechen der eigenen Reihen zu untersuchen, stellten sich weitere Friktionen ein, die im Folgenden dargestellt werden.
4.2 F RIKTIONEN : K ONTINUITÄTEN DER AUFSTANDSBEKÄMPFUNG Die bisher fehlenden Antworten der Regierung an die Angehörigen hinsichtlich der Verbrechen der Vergangenheit stehen zwei Jahre später in einem neuen politischen Kontext. Seit 1994 gab es erneut eine steigende Anzahl von Verschwundenen in Mexiko. Die mexikanische Regierung begann, soziale Konflikte und bewaffnete Aufstände mit Methoden der Aufstandsbekämpfung ähnlich denen des Schmutzigen Krieges der 1970er Jahre zu bekämpfen. Diese militärischen Operationen wurden
20 Die Wahrheitskommission war zusammengesetzt aus 20 Mitgliedern, unter ihnen waren: Mariclaire Acosta, Sergio Aguayo, Alonso Aguilar, José Agustín, René Avilés Fábila, Bernardo Bátiz, Fernando Carmona, Jorge, G. Castañeda, Felipe Erhenberg, Luis Javier Garrido, Miguel Ángel Granados Chapa, Hernán Lara Zavala, Froylán López Narváez, Sara Lovera, Lorenzo Meyer, Carlos Monsiváis, Carlos Montemayor, Héctor Ortega, Elena Poniatowska, Eraclio Zepeda e Ilián Semo (vgl. Sánchez Serrano 2011).
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vor allem in den drei südlichen Bundesstaaten Chiapas, Guerrero und Oaxaca durchgeführt, wo in den 1990er Jahren erneut bewaffnete rurale Bewegungen in die Öffentlichkeit traten. Auch gab es zu dieser Zeit bereits erste AntidrogenBekämpfungsoperationen in den nördlichen Bundesstaaten Sinaloa und Chihuahua, die ebenfalls mit gravierenden Menschenrechtsverletzungen und Verschwindenlassen einhergingen. Zwei Anlässe sollen im Folgenden kurz skizziert werden, die zur abermaligen Stärkung der Rolle des mexikanischen Militärs im Kontext der nationalen Sicherheit führten. Diese Ereignisse zeigen auch den politischen Unwillen der Regierung nach einer dialogischen Lösung sozialer Konflikte und einer Aufklärung der Verbrechen der Vergangenheit. Das erste Ereignis fand im Bundesstaat Chiapas statt. Am 1. Januar 1994 beginnt der Aufstand des Ejército Zapatista de Liberacion Nacional (EZLN) in Chiapas. Der Tag ist symbolisch gewählt, trat doch an diesem Datum das Freihandelsabkommen NAFTA mit den USA und Kanada, verhandelt durch Präsident Salinas de Gortari, in Kraft, welches für die kleinbäuerliche Bevölkerung Mexikos enorme negative Auswirkungen haben würde. Mit der Wahl des Namens erinnern die neuen Aufständischen an die legendäre Figur der mexikanischen Revolution, Emiliano Zapata, und seiner Forderung nach Land und Freiheit (tierra y libertad). Hunderte von Maya-Indígenas und mestizischen KämpferInnen zusammen mit der emblematischen Figur des Subcomandante Marcos nahmen an diesem Morgen die chiapanekische Stadt San Cristóbal de las Casas ein. Mit Waffen in der Hand und dem Ausruf ¡Ya Basta! (Es Reicht!) machten sie auf jahrhundertelange Unterdrückung, Ausbeutung und Exklusion der indigenen Maya-Bevölkerung aufmerksam und forderten indigene Rechte, soziale Gerechtigkeit und Autonomie ein (vgl. Huffschmid 2004, Harvey 2000; Díaz-Polanco 1997). Die durch ihre neuen politischsymbolischen Strategien daraufhin international bekannt gewordenen Zapatistas, die Anne Huffschmid (2004) als Diskursguerilla bezeichnete, lösten eine Welle an nationaler und internationaler Solidarität aus und wurden zu einer Identifikationsfigur vieler sozialer Bewegungen in Mexiko. Sie transformierten auch die indigenen Bewegungen in Mexiko, wie zum Beispiel mit der Gründung des Congreso Nacional Indígena, eines Zusammenschlusses von mehreren hundert indigenen Organisationen der 56 Ethnien in Mexiko, die durch den Aufstand der Zapatistas angeregt wurde (vgl. Karl 2001). Im Kontext dieser Untersuchung ist von Bedeutung, dass im Zuge des Auftretens der EZLN die mexikanische Regierung statt politischem Dialog über deren Forderungen und einer Verbesserung der Situation der indigenen und mestizischen Kleinbauern mit einem Krieg der Aufstandsbekämpfung reagierte. Ebenso wie im Schmutzigen Krieg der 1970er Jahre. Nach den ersten Wochen der bewaffneten Konfrontation zwischen Militär und Zapatistas, wo es rund 140 Tote auf beiden Seiten sowie von ZivilistInnen gab, begann der Krieg niederer Intensität, der Angst und Terror schüren sollte. Die comunidades der Zapatistas wurden militarisiert und
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paramilitärische Gruppen und Methoden psychologischer Kriegsführung eingesetzt. Die Folge waren Folter, Vergewaltigung, extralegale Hinrichtungen indigener Zapatistas und mindestens 14 bekannte Fälle von Verschwindenlassen von tzeltalIndigenen (AI 1998: 19). Als ilustratives Beispiel für die fortführende Strategie des Militärs, jegliche Täterschaft zu leugnen, soll der Fall von drei Verschwundenen dienen: Am 10. Februar 1994 wurden die sterblichen Überreste von drei Verschwundenen mit Anzeichen extralegaler Hinrichtung gefunden. Angehörige forderten unabhängige forensische Untersuchungen, um die offzielle Identität und die Umstände und genaue Todesursache festzulegen. Diese Untersuchungen wurden von den Behörden behindert, die sterblichen Überreste blieben in der Obhut der lokalen Polizeibehörden von Altamirano (Chiapas). Drei Jahre später, am 12. Februar 1997, konfiszierte das Militär die menschlichen Überreste und erklärte den Angehörigen, dass eine Untersuchung durchgeführt wurde. Bei den aufgefunden sterblichen Überresten würde es sich um eine Mischung aus nicht-menschlichen Knochen und alten menschlichen Knochenfragmenten handeln, also nicht um die angeblich Verschwundenen tzeltal-Kleinbauern Sebastián Santis López, Severiano Santis Gómez und Hermelindo Santis Gómez. Eine Argumentationsweise, die einige Jahr später in ähnlicher Weise im Falle der Verschwundenen der Sierra de Atoyac in Guerrero wieder auftreten würde (vgl. Kap. 4.3.7). Unabhängige forensische Untersuchungen und-DNA Tests bestätigten dann deren Identität, die Regierung verweigerte jedoch jegliche Verantwortung für das Verbrechen (AI 1998: 20 f.). Der zweite Anlass für den erneuten Einsatz von Aufstandsbekämpfung und der Militarisierung einer Region führt abermals nach Guerrero. Im Jahr 1994 gründeten mehrere Kleinbauern und Kleinbäuerinnen der Sierra de Atoyac die Organización Campesina de la Sierra del Sur (Organisation der Kleinbauern der Südlichen Sierra, OCSS). Sie forderten eine Verbesserung der Situation der Kleinbauern, aber auch die Aufklärung der Fälle der Verschwundenen aus Atoyac aus der Zeit des Schmutzigen Krieges. Am 18. Mai 1995, der Jahrestag des Massakers von 1967 (vgl. Kap. 2.2.1), nahmen sie den Hauptplatz von Atoyac ein, um ihre Rechte einzufordern, und hielten dabei die Bürgermeisterin von Atoyac, María de la Luz Nuñez Ramos, fest. Daraufhin wurde am 24. Mai 1995 der Kleinbauer Gilberto Romero Vázquez, Mitglied der OCSS, verschleppt. Die Mitglieder der OCSS begannen mit einer Protestbewegung, um die Rückkehr des Verschwundenen zu fordern. Am 28. Juni 1995 wollten 17 unbewaffnete OCSS-Kleinbauern von der comunidad Aguas Blancas zu einer Demonstration nach Atoyac aufbrechen. Sie waren auf dem Weg in einem Pick-up, wurden von ca. 50 Mitgliedern der Policia Judicial Estatal umstellt und erschossen (Cardona Galindo 2010; Bartra 2000; AI 1998). Die Täter des Massakers von Aguas Blancas wurden bis heute nicht zur Rechenschaft gezogen, obwohl allgemein bekannt wurde, dass der Befehl zur Erschießung auf Anordnung des PRI-Präsidenten Zedillo und des PRI-Gouverneurs von Guerrero Rubén Figueroa Alcocer erfolgte (Zepeda 1996). Dieser reiht sich als Sohn von Ruben Figueroa
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Figueroa, der für das Verschwindenlassen während des Schmutzigen Krieges mitverantwortlich war, in die Reihe der lokalen Kaziken ein, die an den Menschenrechtsverbrechen in Guerrero schuldig sind. Am 28. Juni 1996, als Angehörige der Ermordeten und Mitglieder der OCSS am Jahrestag des Massakers von Aguas Blancas der Toten gedachten, tritt eine neue Guerilla-Bewegung in die Öffentlichkeit, das Ejército Popular Revolucionario (EPR), die in ihrem ersten Kommuniqué darauf hinweisen, dass sie das Massaker an den unschuldigen Kleinbauern in Aguas Blancas rächen würden. Bartra schreibt über die Einbettung dieser Guerilla in die lokale Bevölkerung: „Obwohl die Unterstützungsbasen weniger offen und lokalisierbar sind als jene der früheren Partei der Armen oder der chiapanekischen EZLN, hat die EPR ohne Zweifel ihre sozialen Wurzeln in Guerrero (…). Vor allem in den marginalisiertesten Sektoren der Bevölkerung, die, wenn sie die Guerilla auch nicht aktiv unterstützen, trotzdem für sie sind.“21 (Bartra 2000: 61)
Im Jahr 1996 wurde in Atoyac ein neues Militärlager errichtet, in der die 27. Zona Militar beherbergt ist. „Und die Soldaten bleiben hier“, meinte dazu Victor Cardona Galindo (2010: 244) angesichts der Tatsache, dass es seit dem Jahr 1994 eigentlich Bestrebungen gab, das Militär aus Atoyac abzuziehen. Statt Abzug des Militärs gab es jedoch neue Strategiepläne. General Juan Alfredo Oropeza Garnica, Kommandant der 27. Zona Militar, wurde der neue Verantwortliche, um die Guerillabewegung EPR zu bekämpfen. Am 27. Mai 1997 kam es zur ersten bewaffneten Konfrontation zwischen Guerilleros und Soldaten in der comunidad Guanabano und weiteren Konfrontationen in Guerrero und im benachbarten Bundesstaat Oaxaca. Militärische Kontrollposten wurden abermals in der Sierra de Atoyac und im gesamten Bundesstaat Guerrero eingerichtet und die Bewegungen der Bevölkerung kontrolliert (Cardona Galindo 2010; Bartra 2000; Zepeda 1996). Kleinbauern der OCSS und anderer ruraler Bewegungen in Guerrero wurden im Zuge dieser Aufstandsbekämpfung verschleppt und temporär in geheimen Haftzentren und Militärcamps verschwinden gelassen, wo sie unter Folter ihre Verbindung zur EPR gestehen und Informationen über diese preisgeben sollten (AI 1998: 23). So erklärte auch José Luis Arroyo Castro vom Consejo Cívico Comunitario Lucio Cabañas aus Atoyac, dass ihre Organisation unter anderem deswegen gegründet wurde, um der Aufklärung über den Verbleib der neuen Verschwundenen nachzugehen.
21 „Pese a que sus bases de apoyo son menos patentes y localizables que las del viejo Partido de los Pobres, o que las del chiapaneco EZLN, sin duda el EPR tiene raices sociales en Guerrero (…). Sobre todo ante los sectores más escarnecidos de la población, que cuando no apoyan activamente a la guerrilla cuando menos le echan porras.“ (Bartra 2000: 61)
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Vor dem Hintergrund dieser neuen Militarisierung in ruralen Regionen Mexikos und der neuerlichen Aufstandsbekämpfung zur Eliminierung interner FeindInnen soll im Folgenden der Prozess der Transitionsperiode ab dem Jahr 2000 dargestellt und die Mechanismen von Transitonal Justice, die im Zusammenhang mit der Aufklärung der Verbrechen der Vergangenheit eingesetzt wurden, beschrieben werden. Dabei soll erneut der Frage nachgegangen werden, welche weiteren transitionalen Friktionen sich im Sinne Hintons (2010) – welche Spannungsfelder sich also zwischen den globalen Normen und Diskursen von Transitional Justice und den lokalen politischen Realitäten – in Mexiko entwickelten.
4.3 F RIKTIONEN : F OX , T RANSITION UND I NSTRUMENTALISIERUNG VON M ENSCHENRECHTEN „Bei der Suche nach der historischen Wahrheit war der Beitrag der Frauen und Männer unerlässlich, die sich geweigert haben, zu vergessen. (…) Die seit Jahrzehnten erwartete Gerechtigkeit beginnt, Realität zu werden.“22 (Präsident Vicente Fox im Nationalarchiv, La Jornada vom 27.11.2001)
Diese Rede des Präsidenten der Transition, Vicente Fox (2000 – 2006) von der PAN-Partei, markierte den Beginn eines lang erhofften Neuanfangs für die Angehörigen der Verschwundenen. Die Transitionsregierung von Vicente Fox (vgl. Klesner 2001; Boris/Sterr 2002) schrieb sich Wahrheit, Gerechtigkeit und nationale Versöhnung auf die politischen Fahnen. Der politische Diskurs des Cambio (Veränderung) von Präsident Fox beinhaltete Demokratisierung, Menschenrechte und auch ein „opening up to the world“ (Aguayo/Treviño 2007). Dies erforderte auch eine adäquate Aufarbeitung der mit Gewalt belasteten Vergangenheit. Die Betonung der Wichtigkeit, die Vergangenheit zu erinnern und Verbrechen aufzuklären, ging dabei von den Angehörigen der Verschwundenen aus. Wie in vorangegangenen Kapiteln gezeigt wurde, haben sich Angehörige seit den 1970er Jahren organisiert und Netzwerke sowohl national in Mexiko als auch international in Lateinamerika gebildet. Die Aktionen sowohl auf lokaler Ebene in Guerrero, als auch in Mexiko-Stadt, der unermüdliche Protest um die Aufklärung der Schicksale ihrer Verschwundenen wurden permanent weitergeführt. Unter den neuen politischen Rahmenbedingungen und nach jahrzehntelanger Marginalisierung und Verleugnung ihrer Geschichte for-
22 „En la búsqueda de la verdad histórica, la contribución de las mujeres y los hombres que se negaron a olvidar ha sido indispensable. (…) La justicia esperada durante décadas comienza a hacerse realidad.“ (Präsident Vicente Fox im Nationalarchiv, La Jornada vom 27.11.2001).
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derten sie nun erneut Wahrheit und Gerechtigkeit. Abermals wurde der Leitspruch aus den ersten Protesten der 1970er Jahre „In einer Demokratie gibt es keine Verschwundenen“ zum zentralen politischen Aufruf. Und da Präsidentschaftskandidat Vicente Fox im Wahlkampf auf Demokratisierung und Veränderung fokussierte, rückten auch die Angehörigen der Verschwundenen in sein Blickfeld. Fox nahm die Forderungen der Angehörigen als Wahlkampfthema auf und versprach Aufklärung über die Verbrechen der Vergangenheit aus der Zeit des Schmutzigen Krieges. Er versprach auch die Bestrafung der ehemaligen Täter, die aus den Reihen der bei der Präsidentenwahl zu besiegenden PRI-Partei stammten. Die Aufnahme des Diskurses von Transitional Justice war also auch eine politische Strategie im Wahlkampf. Er berief sich in seinem Vorhaben auf die Erfahrungen und die Vorgehensweise in anderen lateinamerikanischen Ländern und plädierte für den Einsatz einer Wahrheitskommission, sollte er Präsident werden. Dies weckte große Hoffnung und bewirkte eine Aufbruchsstimmung bei den Opfer- und Menschenrechtsorganisationen, die sich seit Jahren für die Aufklärung der Verbrechen der Vergangenheit eingesetzt hatten. Vicente Fox wurde als der Erneuerer der Menschenrechte gefeiert und erhielt daher auch aus den Reihen der Opfer zahlreiche Wahlstimmen, denn „individuals can be helped to heal and to reconcile by public rituals of atonement.“ (Ignatieff 1996: 121) Vicente Fox hat – wenn auch aus strategisch-politischen Gründen – einen ersten wichtigen Schritt getan für die Opfer in Mexiko. Er hat ihnen durch dieses öffentliche Ritual der Anerkennung, wie Ignatieff es nennt, das Gefühl gegeben, ihr Leid werde nun erstmals auch von offizieller Seite ernst genommen. Nach seinem Wahlsieg am 2. Juli 2000 hatte er demnach politische und moralische Verpflichtungen gegenüber den Angehörigenorganisationen einzulösen, die auch die Sympathie von nationalen und internationalen Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International und Human Rights Watch, von zahlreichen mexikanischen Intellektuellen und der Oppositionspartei Partido de la Revolución Democrática PRD (Partei der Demokratischen Revolution) hatten. Sich von den Verbrechen der Vergangenheit abzugrenzen, wurde von Fox auch als Weg gesehen, zu demokratischer Normalität zu gelangen und dem Druck von ausländischen Menschenrechtsorganismen nachzugeben. Durch die Konfrontation mit der Vergangenheit konnte sich die neue Regierung mit dem legitimierenden Mantel der Menschenrechte kleiden (Aguayo/Treviño 2007). So begann er auch bald, seine Wahlversprechen umzusetzen. ExpertInnen internationaler Organisationen, wie etwa vomInternational Center for Transitional Justice mit Sitz in New York wurden ins Land geholt, um die Vergangenheit richtig aufzuarbeiten. In einem Bericht der Regierung Fox wurde die Mission wie folgt beschrieben: „Man kann und soll die Wahrheit nicht verbergen. In Mexiko haben wir Zeiten erlebt, die schwere Folgen zurückgelassen haben. Dies sind die Opfer, an denen Verbrechen begangen
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Präsident Fox war also bereit, die Wahrheit zu suchen, die Täter zu bestrafen und die Opfer zu entschädigen. Es formierte sich jedoch gleich nach seinem Amtsantritt eine breite Front dagegen. Diese kam aus seinen eigenen Parteireihen, aus der nun zur Opposition gehörenden PRI-Partei, eines Teils der Medien und des Sicherheitsapparates, der auch nach der Transition intakt blieb. Der gemeinsame Diskurs dieser Gegenfront war jener der „Regierbarkeit“ des Landes, denn alte Wunden zu öffnen wäre unnötig und inadäquat, weil dadurch die institutionelle Stabilität in Gefahr gebracht würde (Aguayo/Treviño 2007: 717). Im Oktober 2000 haben sich einige Senatoren von PRI und PAN dazu öffentlich geäußert. Der PRI-Senator Fernando Gutierrez Barrios, der zur Zeit des Schmutzigen Krieges Direktor der politischen Polizei Dirección Federal de Seguridad (DFS) war, interpretierte den vergangenen Konflikt folgendermaßen: „Die Regierung hat die institutionelle Ordnung in einer ,spannungsgeladenen Atmosphäre‘ aufrecht erhalten. ,Das Militär hat dabei die Hierarchie der organischen Struktur basierend auf den Werten Disziplin und Treue eingehalten.‘“24 Der PAN-Senator Diego Fernández de Cevallos meinte hinsichtlich der Aufarbeitungsbestrebungen von Fox, dass damit der Schmerz eines Volkes ausgenutzt werden würde, welches niemals diesen Alptraum verdient hätte.Den Hass und die Gefühle der Vergangenheit in die Gegenwart zu holen, wäre keineswegs ein Vorgehen, welches für Gerechtigkeit sorgen könne.25 Auch in einem Teil der konservativen Presse waren ähnliche Aussagen zu lesen. Dort wurden außerdem die Motive jener hinterfragt, die nach Wahrheit und Gerechtigkeit strebten. Diese seien angeführt durch Ressentiments und Rachegefühle, anstatt durch die Absicht, das durch die Konflikte der Vergangenheit stark zerstörte soziale Gefüge der Nation zu rekonstruieren (Loeza in Aguayo/Treviño 2007:718).
23 „No se puede, ni se debe, ocultar la verdad: en México hemos vivido periodos que dejaron una secuela de agravios, de víctimas de delitos que fueron cometidos en abuso del poder a al amparo de éste y bajo el cobijo de la impunidad, a las que se les debe encontrar una cauce de reconciliación y justicia.“ (Mexikanische Regierung: Avances y retos del gobierno federal en materia de derechos humanos. 2002, zit. in: Aguayo/Treviño 2007:716) 24 „[E]l gobierno preservó el orden institucional porque había una ,atmósfera cargada de tensiones‘, en la cual ,el Ejército cuumplió con el sentido jerárquico de su estructura orgánica en base a los valores de la disciplina y la lealtad.‘“ (Öffentliche Sitzung im Senat am 5.Oktober 2000 zit in: Aguayo/Treviño 2007: 717.) 25 Ebd.
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Im Kabinett von Fox gab es jedoch allgemeinen Konsens darüber, dass die Vergangenheit aufgearbeitet werden sollte. Keine Klarheit gab es jedoch darüber, welche Transitional-Justice- Instrumente dafür eingesetzt werden sollten. Es wurden zwei Mechanismen diskutiert: eine Wahrheitskommision und eine Sonderstaatsanwaltschaft. Der Innenminister Santiago Creel plädierte für eine Sonderstaatsanwaltschaft, da diese innerhalb der Institutionen agieren und die neue Demokratie stärken würde. In dieser Variante würden nur Einzelpersonen belangt werden, ohne gesamte Institutionen zu gefährden. In den ersten Monaten nach Amtsantritt hatte jedoch der Vorschlag einer Wahrheitskommission stärkeres Gewicht, propagiert vor allem von Adolfo Aguilar Zinser und dem Außenminister Jorge Castañeda. Beide argumentierten gegen eine Staatsanwaltschaft, da diese aufgrund fehlender Unabhängigkeit und damit zusammenhängender Faktoren in Straflosigkeit resultieren könnte. Diese Faktoren wären unter anderem die Schwierigkeit, dass das Militär in seiner traditional mächtigen Stellung innerhalb des Staates jeglichen Versuch der Schuldzuweisung ablehnen würde; dass der Justizapparat korrumpiert oder dass die Beziehung der Behörden mit paramilitärischen Gruppen oder Geheimagenten, die Verbrechen durchgeführt hatten, nicht untersucht werden könnte. Die Option einer staatlich unabhängigen Wahrheitskommission würde hingegen die Mechanismen des autoritären Systems der PRI unvoreingenommer untersuchen können. (Aguayo/Treviño 2007:718 f.) Präsident Fox entschied sich zunächst für die Option Wahrheitskommission und beauftragte im April 2001 Aguilar Zinser, die Koordination dafür zu übernehmen. Er solle des Weiteren auch an der neuen Positionierung des Centro de Investigación y Seguridad Nacional (CISEN), der mexikanischen Geheimpolizei und Nachfolgeinstitution der Dirección Federal de Seguridad (DFS) arbeiten, die 1985 aufgelöst wurde. Fox empfahl auch die Konstituierung eines wissenschaftlichen Teams, welches diese Projekte erarbeiten und begleiten sollte, und beauftragte damit die mexikanischen Sozialwissenschaftlerinnen Sergio Aguayo Quezada, José Antonio Crespo und Clara Jusidman. Auch Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International oder Human Rights Watch, die sich oft skeptisch gegen Wahrheitskommissionen aussprachen, empfahlen Vicente Fox in entsprechenden Empfehlungsbriefen im August 2001 diese Option. Es sei der angemessenste Weg, Menschenrechtsverbrechen in Mexiko zu begegnen. Geplant war, dass Fox die Wahrheitskommission schließlich am Tag seines ersten Präsidentschaftsberichtes am 1. September 2001 in der Öffentlichkeit ankündigen und die Kommission am 1. Januar 2002 ihre Arbeit aufnehmen würde (Aguayo/Treviño 2007: 719 f.). Das Thema der Verschwundenen wurde dann auch wieder Gegenstand eines neuen Untersuchungsberichtes der Comisión Nacional de Derechos Humanos (CNDH), auf dessen Basis die Arbeit des neuen Transitional-Justice-Instrumentariums von Fox basieren sollte. Die Interpretationen in diesem Bericht waren jedoch nicht unproblematisch, wie im Folgenden gezeigt werden soll.
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4.3.1 Der Bericht der CNDH: Divergierende Interpretationen Die Nationale Menschenrechtskommission (CNDH) wurde von Vicente Fox beauftragt, einen Bericht über das erzwungene Verschwindenlassen zu verfassen, wie bereits in den 1990er Jahren unter der PRI-Regierung von Salinas de Gortari. Dieser Bericht sollte auf dem der CNDH von 1992 und den Fällen der Verschwundenen, die die Angehörigenorgansationen im Laufe von über 30 Jahren dokumentiert hatten, basieren. Der Präsident der CNDH, José Luis Soberanes, antwortete jedoch auf die Frage, ob er den CNDH-Bericht von 1992 über die Situation der Verschwundenen in Guerrero kenne: „Ich kenne ihn nicht, ich habe ihn nicht gesehen, ich weiß nichts von seiner Existenz.“26 (Soberanes zit. in: Ballinas 2001). Die CNDH nahm erneut Kontakt zu den Angehörigen, vor allem in der Sierra de Atoyac von Guerrero, auf. Aufgrund der veränderten politischen Rahmenbedingungen, des Diskurses von Transition, Demokratie und Menschenrechte hatten einige Angehörige weniger Angst vor Repression als zuvor und mehr von ihnen waren nun bereit, mit der CNDH zu sprechen. Die CNDH erhielt also nun neue Anzeigen, testimonios und Dokumente von den Familien der Verschwundenen. Basierend auf diesen Datensammlungen wurde der Bericht erstellt und Präsident Fox anlässlich seiner historischen Rede im Archivo General de la Nación am 27. November 2001 übergeben. Der Bericht/Empfehlung 26/2001 trägt den Titel Informe Especial sobre las Quejas en Materia de Desapariciones Forzadas Ocurridas en la Década de los 70 y principios de los 80.27 Der Bericht ist zwar wiederum ein wertvolles Zeugnis historischer Ereignisse des Schmutzigen Krieges, beinhaltet aber problematische Feststellungen. Ebenso wie der Bericht der CNDH von 1992 wurde daher auch dieser nach Bekanntgabe von diversen Menschenrechts- und Angehörigenorganisationen kritisiert. Die CNDH legt in dem an Fox übergebenen Dokument nun fest, dass von den 532 Fällen Verschwundener, die von Angehörigenorganisationen dokumentiert werden konnten, lediglich 275 Fälle anerkannt werden. Bei 160 Fällen würde es zuwenig Information geben und in 97 Fällen gäbe es keinen Grund zur Annahme, dass es sich um erzwungenes Verschwindenlassen handeln würde. Die CNDH verneinte jedoch auch nicht gänzlich die Möglichkeit, dass es sich auch bei diesen Fällen um ein derartiges Verbrechen handeln könnte. Hinsichtlich der testimonios, auf denen viele Informationen, die im Bericht gesammelt wurden, basieren, stellt die CNDH die Limitation dieser Quelle dar und bezieht sich dabei auf einen Bericht des Obersten Gerichtshofes in Mexiko:
26 „No lo conozco, no lo he visto, no sé de su existencia.“ (Soberanes zit. in: Ballinas 2001) 27 Der Bericht ist einzusehen unter: http://www.cndh.org.mx/Informes_Especiales (Letzter Zugriff: 30.04.2014).
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„[D]as testimonio ist das präziseste Instrument der Information, das das Gericht hat, gleichzeitig aber auch das gefährlichste. Nicht so sehr deswegen, weil der Zeuge hinsichtlich eines Ereignisses absichtlich lügen könnte, sondern weil er das wahrgenommene Ereignis falsch ins Gedächtnis rufen kann, das heißt die Erfahrung von etwas, dass er gesehen oder gehört hat. Um dem testimonio Beweiskraft zu geben, ist es notwendig, dass das Wahrgenommene mit einem Aspekt der Realität übereinstimmt, und nicht mit der Essenz dessen (…). Das bedeutet, dass nur wenn das testimonio die Anforderungen einer exakten Perzeption, Erinnerung und einer getreuen Narration des Ereignisses entspricht, kann es zur Beweiskraft werden.“28 (CNDH 2001: Kap. 3, 15)
Trotz der Tatsache, dass Erzählungen aus Erinnerungen an traumatische Erfahrungen Verzerrungen enthalten können, haben die Aussagen der Angehörigen, die als ZeugInnen einer Gewalttat auftreten, dennoch Beweiskraft. Die Feststellung, dass die testimonios falsch sein und nicht der Realität und eventuellen Kriterien der exakten Wahrnehmungentsprechen könnten, ist demnach eine Diskreditierung der Angehörigen der Verschwundenen in ihrer Qualität als ZeugInnen eines Verbrechens. Die CNDH beschreibt auch die Schwierigkeiten der Kooperation mancher Angehörigen mit folgenden Begründungen: „Während der von der Nationalen Kommission durchgeführten Untersuchung konnte festgestellt werden, dass einige Angehörige und Zeugen von den Behörden enttäuscht waren, da sie bei der Suche nach den Betroffenen lange Zeit nur negativen oder ausweichenden Antworten begegneten. Deswegen haben sie eine reservierte und manchmal auch misstrauische Haltung angenommen, in der sie offen ihre Weigerung ausdrücken zu kooperieren, darum bitten, nicht belästigt zu werden oder einfach keine Aussage machen und auch nicht an der Fortführung der Untersuchung interessiert waren. Es gab auch Fälle, in der sich die Ankläger von ihrer Klage zurückzogen aus Angst, dass dadurch ihre physische Integrität oder sogar ihr Leben beeinträchtigt werden könnte.“29 (Bericht CNDH 2001: Kap. 3, 15)
28 „[E]l testimonio es el instrumento más preciso de información que tiene el juzgador, pero al mismo tiempo el más peligroso, no tanto por cuanto a que el testigo mienta deliberadamente respecto de un hecho, sino porque evoque incorrectamente el acto percibido, esto es, la experiencia de un acontecimiento que ha sido visto u oido. Para conceder valor probatorio al testimonio, se requiere que lo percibido corresponda a un aspecto de la realidad, no a la esencia del objeto visto (…). De aquí que solo cuando el testimonio llena las exigencias de percepción exacta, evocación y relato fiel del evento, puede serle discernido valor probatorio.“ (Bericht CNDH 2001: Kap. 3, 15) 29 „Durante la investigación realizada por esta Comisión Nacional pudo constatarse que algunos familiares o testigos estaban resentidos con las autoridades, ya que despues de buscar a los agraviados por mucho tiempo siempre se encontraron con negativas o evasiva;
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Die negative Haltung der Angehörigen gegenüber RepräsentantInnen des Staates in den comunidades der Sierra de Atoyac bis in die Gegenwart zeugt dabei von dem historisch verankerten Misstrauen gegenüber staatlicher Praxis und der weitverbreiteten Angst vor Repressionen. Angesichts der Tatsache, dass die Angehörigen die CNDH als Instrument des Staates verstehen ist der Unwille zur Kooperation auch weiter nicht verwunderlich. In der Einleitung des Berichtes wurde die offizielle Position der CNDH auch deutlich gemacht, in dem betont wurde, dass auch Polizei und Militär zu Opfern der Gewalt der bewaffneten Bewegungen wurden: „Es ist Tatsache, dass die Organisationen, die sich rund um revolutionäre Projekte entwickelten, Gewalt anwandten, Gesetze brachen und ein Risiko für die öffentliche Sicherheit und die Institutionen des Staates darstellten. Zusätzlich zu Überfällen auf Militärkonvois, haben sie Elementen aus Polizei und Militär das Leben genommen, Entführungen und Banküberfälle durchgeführt und Angst und Schrecken in weiten Sektoren der mexikanischen Gesellschaft verbreitet. Trotzdem ist es unwiderlegbar, dass viele der Reaktionen von Seiten der öffentlichen Sicherheitskräfte außerhalb des gesetzlichen Rahmens durchgeführt wurden. Das erzwungene Verschwindenlassen hat schwerwiegend den legalen Rahmen verletzt und die autoritäre Antwort auf ein politisches Problem offen gelegt.“30 (Bericht CNDH 2001: Kap. 1, 2)
Angesichts der sehr geringen Zahl von Opfern unter Polizei und Militär zeigte die Betonung darauf, dass die bewaffneten Bewegungen ein Risiko für den Staat darstellten und Angst und Schrecken in der mexikanischen Bevölkerung gesäht hätten, doch von Beginn an die politische Ausrichtung auch der PAN-Regierung. Obwohl die CNDH erwähnt, dass es viele Reaktionen der Sicherheitskräfte gab, die ausserhalb des gesetzlichen Rahmens durchgeführt wurden, wollte die PAN-Regierung -
por tal motivo, asumieron una actitud de reserva, cuando no de recelo, manifestando abiertamente su negativa a colaborar y su petición de no ser molestados o simplemente no declarar o testificar, ni deseaban se siguiera con las investigaciones. También hubo casos en los cuales los denunciantes se desistieron de la queja por temor a resultar afectada su integridad física o incluso su vida (…).“ (Bericht CNDH 2001: Kap. 3, 15) 30 „Es cierto que las organizaciones surgidas en torno a proyectos revolucionarios utilizaron la violencia, transgredieron las leyes y representaron un riesgo para la seguridad pública y las instituciones del Estado. Adicionalmente al asalto a convoyes militares, privaron de la vida a elementos de la policía y del Ejército, cometieron secuestros y asaltos a bancos y generaron temor y zozobra en amplios sectores de la sociedad mexicana. Sin embargo, tambien es irrefutable que muchas de las respuestas por parte de las fuerzas públicas fueron realizados fuera del marco jurídico. Las desapariciones forzadas quebrantaron gravemente la legalidad e hicieron patente la respuesta autoritaria a un problema político.“ (Bericht CNDH 2001: Kap. 1, 2)
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ebensowenig wie die PRI - die Institutionen Polizei oder Armee als Täter sehen. Der Bericht beschreibt in der Auflistung der bewaffneten Bewegungen Mexikos in den 1970er Jahren jene der Partei der Armen in Guerrero folgendermaßen: „Andere wichtige Gruppen der mexikanischen Guerilla war die ,Bäuerliche Hinrichtungsbrigade der Partei der Arme‘, angeführt durch den Lehrer Lucio Cabañas (…). In seinen Anfängen war Cabañas ein Landlehrer, der in der Kommunistischen Partei Mexikos aktiv war, der sich in einem politischen und sozialen Kampf radikalisierte und Missstände denunzierte, wie die Straflosigkeit der Kaziken und die Repression von Polizeikräften, vor allem in ländlichen Gebieten. Seine wichtigsten Aktionen waren, zusätzlich zu Überfällen auf Militär und Sicherheitskräfte, die Entführung des gewählten Gouverneurs von Guerrero, Ruben Figueroa im Jahr 1974.“31 (CNDH 2001: Kap. 2, 7)
Besonders betont wird also wie bereits im CNDH-Bericht unter der PRI-Regierung aus dem Jahr 1992, dass bewaffnete Aktionen gegen Militär und Polizei durchgeführt und der PRI- Gouverneur Figureoa von ihnen entführt wurde. Der Bericht beschreibt dann, dass antisubversive Gruppen aus Polizeikräften und Militär gebildet wurden, die der Geheimpolizei Dirección Federal de Seguridad (DFS) in der Secretaria de Gobernación (Innenministerium) unterstanden. Das Ziel war die Bekämpfung und Eliminierung bewaffneter Bewegungen: „Gegen diese Gruppen charakterisierte sich die antisubversive Politik dadurch, dass sie uneingeschränkte Befugnisse hatte, zumindest bis 1981. Die Operation stand unter Federführung von Gruppen, die speziell von einigen Einheiten der staatlichen Sicherheit ausgebildet wurden (Weiße Brigade oder Spezialbrigade) und unter der Leitung derDirección Federal de Seguridad standen (…).“32 (CNDH 2001: Kap. 2, 8)
31 „Otros agrupamientos importantes de la guerrilla mexicana fueron la ,Brigada Campesina de Ajusticiamiento del Partido de los Pobresދ, dirigida por el profesor Lucio Cabañas (…). En sus origenes, Cabañas fue un maestro rural militante del Partido Comunista Mexicano, que se radicalizó en el ambiente de una lucha politica y social que encaraba constantes como la impunidad de los caciques y la represión de las fuerzas policiales, sobre todo en las areas rurales. Sus principales acciones fueron, además de emboscadas al Ejército y a las fuerzas de seguridad, el secuestro en 1974 del gobernador electo de Guerrero, Ruben Figueroa.“ (CNDH 2001: Kap. 2, 7) 32 „Contra estos grupos, la politica antisubversiva se caracterizó, al menos hasta 1981, por tener facultades practicamente ilimitadas. Su operación estuvo a cargo de grupos especialmente formados por algunas corporaciones de la seguridad del estado, (Brigada Blanca o Brigada Especial) encabezados por la Dirección Federal de Seguridad (…).“ (CNDH 2001: Kap. 2, 8)
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Die CNDH berichtet über die Existenz von Listen von Personen, die an folgenden Orten inhaftiert waren: „[L]isten von Personen, die im Militärlager Nr. 1, im Militärlager von Atoyac in Guerrero, in militärischen Installationen in verschiedenen Zonen des Landes, am Luftwaffenstützpunkt Pie de la Cuesta in Guerrero und in den Installationen der Dirección Federal de Seguridad, sowie in Geheimgefängnissen inhaftiert waren.“33 (CNDH 2001: Kap. 2, 8)
Trotz der Feststellung, dass staatliche Akteure illegitime Aktivitäten gegen Oppositionelle ausführten, sagt der Bericht aber auch, dass die Identität vieler Verschwundener nicht festgestellt werden konnte, da es in vielen Fällen keine Aufzeichnungen der Behörden über sie gab. Als Grund wird dabei genannt, dass es laut Zeugenberichten Informationen gibt, dass Verschwundene in bewaffneten Konfrontationen zwischen Guerilla und Militär getötet wurden. Staatliche Institutionen hätten über die Getöten aber keine Aufzeichnungen, weil die Guerilla selbst die Körper verschwinden ließ: „Die offiziellen Berichte haben keine sicheren Daten über die Ereignisse enthalten und auch nicht ermöglicht, die Toten zu identifizieren oder etwas von ihrem Verbleib zu erfahren. Dies, da die Leichname laut Zeugen vergraben oder verbrannt wurden, um Spuren zur Identifizierung der Mitkämpfer zu verwischen. Dies machte es unmöglich, den Verbleib und gegebenenfalls eine Identifizierung durchführen zu können.“34 (CNDH 2001: Kap. 4, 17)
Wer die ZeugInnen sind, die diese Praxis der Guerilla des Verschwindenlassens von Körpern in Form von Eingraben oder Verbrennen der Getöteten gesehen haben sollen, wird im Bericht jedoch nicht erwähnt. Ich habe bisher in den Erzählungen der BewohnerInnen der Sierra von Atoyac über Aktionen der Guerilla nie von einer derartigen Praxis gehört. Auch in der bisher verfügbaren Literatur über die Partei der Armen wird nicht darüber berichtet. Die Angehörigen der Verschwundenen lehnen
33 „[L]istas de personas que estuvieron recluidas en el Campo Militar Número 1, en el cuartel de Atoyac, Guerrero, en las instalaciones militares de diversas zonas del pais, en la base aerea de Pie de la Cuesta, en el estado de Guerrero, y en las instalaciones de la Dirección Federal de Seguridad, así como en carceles clandestinas.“ (CNDH 2001: Kap. 2, 8) 34 „Los informes oficiales al respecto no contenían datos certeros de lo sucedido, ni mucho menos permitían identificar y saber el destino de los muertos, toda vez que para no dejar pistas que identificarán a sus compañeros, generalmente, a decir de testigos, los cadaveres eran enterrados o incinerados, lo cual hizo imposible su localización y en su caso, su identificación.“ (CNDH 2001, Kap.4, S.17)
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diese Behauptungen der CNDH als Unwahrheiten ab. Sie werten die Interpretationen vielmehr als eine Verschleierung der Tatsache, dass Polizei und Militär die Körper verschwinden ließen. Nach der Übergabe dieses Berichtes an Präsident Fox wurde schließlich das Transitional Justice Instrument bekanntgegeben, das die Verbrechen der Vergangeneheit aufarbeiten sollte.
4.3.2 Die Lösung a la mexicana: FEMOSPP statt Wahrheitskommission Das zunächst von Präsident Fox geplante Vorhaben des Einsetzens einer Wahrheitskommission wurde nicht durchgeführt. Stattdessen kündigte er nach der Rede im Archivo General de la Nación die mexikanische Lösung (Acosta/Ennelin 2006) an. Eine Sonderstaatsanwaltschaft mit Namen Fiscalia Especial para Movimientos Sociales y Políticosdel Pasado (FEMOSPP) sollte die im Bericht der CNDH beschriebenen Verbrechen untersuchen. Laut Alfonso Durazo, Sekretär des Präsidenten, wurde das Projekt Wahrheitskommission beendet, weil Fox in Verhandlungen mit PRI-Abgeordneten getreten war, um im Kongress eine Steuerreform durchzubringen. Die PRI-Abgeordneten forderten als Gegenzug für ihre Zustimmung jedoch einen anderen Umgang mit der Vergangenheit. Durazo schreibt dazu: „Eine Allianz mit der PRI war notwendig, da die PAN und der Rest der Oppositionsparteien nicht die nötige Kraft hatten, um strukturelle Veränderungen durchzuführen. (…) Indem er sich für eine Staatsanwaltschaft und gegen eine Wahrheitskommission aussprach, hat der Präsident eine Geste des Kompromisses zu den PRIisten geschickt.“35 (Durazo zit. in: Aguayo/Treviño 2007: 720)
Kritikwürdig an dieser Entscheidungsfindung war auch, dass die Betroffenen der vergangenen Gewalt, die Angehörigen der Verschwundenen, nicht in die Entscheidungsfindung einbezogen wurden. Rosario Ibarra vom Comité Eureka kritisierte: „Die unabhängigen Organisationen außer Acht zu lassen, ist ein schwerwiegender Fehler der Regierung, denn nur aufgrund der Bemühungen der Zivilgesellschaft ist
35 „Era obligada una alianza con el PRI, pues el PAN y el resto de los partidos de oposición no sumaban la fuerza suficiente para impulsar cambios estructurales. (…) Al optarse por una Fiscalía y no por una Comisión de la Verdad, el presidente estaba mandando un gesto muy relevante de compromiso con los priistas.“ (Durazo zit. in: Aguayo/Treviño 2007: 720)
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das Thema der Verschwundenen nicht in Vergessenheit geraten.“36 (Ibarra zit. in: Ravelo 2002). Die mexikanische Lösung, das Thema der Verschwundenen mittels einer Sonderstaatsanwaltschaft aufzuarbeiten, wurde indes von Fox als die perfekte Lösung beschrieben. Es sollte ein hybrides Instrument sein, das sowohl investigative als auch strafrechtliche Funktionen haben würde. Der Mechanismus sollte also Wahrheit über die Vergangenheit mit Gerechtigkeit kombinieren, da auch die Täter, die Verbrechen gegen soziale und politische Gruppen begangen hatten, bestraft werden sollten. Fox kündigte an, dass (1) die Staatsanwaltschaft eine Sonderstaatsanwaltschaft gründen solle, welche jene Fälle, die im Zusammenhang mit den Beschwerden der Opfer stehen, untersuchen würde. Es sollte dazu ein Unterstützungskomitee gegründet werden, welches der Staatsanwaltschaft historische, soziale, politische und legale Elemente liefern solle, damit diese ihr Mandat erfüllen könne; (2) das Innenministerium ein Interdisziplinäres Komitee gründen solle, welches Reparationsvorschläge für die Opfer und für jene, die von den Ereignissen der Vergangenheit Schaden genommen haben, analysiere; (3) zentrale historische institutionelle Archive geöffnet werden sollen (vgl. ICTJ 2008). Diese Sonderstaatsanwaltschaft hieß mit vollständigem Namen: Fiscalía Especial para la atención de hechos probablemente constitutivos de delitos federales cometidos directa o indirectamente por servidores públicos en contra de personas vinculadas con movimientos sociales y políticos del pasado. Der lange Name wurde im öffentlichen Sprachgebrauch abgekürzt in Fiscalía Especial para Movimientos Sociales y Politicosdel Pasado, kurz FEMOSPP. FEMOSPP begann ihre Tätigkeit im Jahr 2002. Das Instrument unterstand der Procuraduría General de la República (PGR, Generalstaatsanwaltschaft) unter der Leitung von Rafael Macedo de la Concha. Dieser sollte auch den neuen Staatsanwalt für die FEMOSPP benennen. Hier wurden gleich zu Beginn die Schwierigkeiten, die mit dem darauf folgenden Umgang mit der Vergangenheit sichtbar werden würden, klar. Generalstaatsanwalt Rafael Macedo de la Concha war General und zur Zeit der FEMOSPP aktives Mitglied des mexikanischen Militärs. Zuvor war er außerdem für die Militärjustiz tätig. Als Sonderstaatsanwalt und Vorsitzender der FEMOSPP wählte er den Juristen Ignacio Carrillo Prieto (vgl. Aguayo/Treviño/Pallais 2006). Angehörige von Verschwundenen, wie Rosario Ibarra, waren jedoch von Anfang an skeptisch, was die Kommission und die Person Carrillo Prieto betraf. Ibarra kritisierte den Prozess:
36 „Relegar a las organizaciones independientes es un grave error del gobierno, pues si el tema de los desaparecidos no se ha ido al olvido ha sido por el esfuerzo de la sociedad civil.“ (Ibarra zit. in: Ravelo 2002)
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„Wir brauchen weder Staatsanwälte noch Wahrheitskommissionen, um das Verschwindenlassen zu untersuchen. Dafür gibt es die Generalstaatsanwaltschaft und die Staatsanwaltschaft. Außerdem stehen hinter ihm [Sonderstaatsanwalt Carrillo Prieto] Personen, die mit Luis Echeverría in Verbindung stehen (…) und die nie etwas getan haben, um die Ereignisse zu untersuchen. (…) Wir fordern, dass die Generalstaatsanwaltschaft ihre Archive öffnet und die Anzeigen untersucht, die wir im Laufe von 27 Jahren gemacht haben und deren Dokumente archiviert wurden.“37 (Ibarra zit. in Ravelo 2002: 13)
Die Angehörigen der Verschwundenen erkannten also bereits zu Beginn, dass die personelle Zusammensetzung dieses neuen Mechanismus eine unabhängige Untersuchung behindern würde. Sie forderten daher weder eine Sonderstaatsanwaltschaft noch eine Wahrheitskommission, sondern einen rechtsstaatlichen Prinzipien folgenden juristischen Prozess für jene Anzeigen, die sie im Zusammenhang mit ihren verschwundenen Familienmitgliedern vor staatlichen Behörden bereits vor langer Zeit getätigt hatten. Als die FEMOSPP ihre Tätigkeit aufnahm, wurde festgelegt, dass der Untersuchungszeitraum die Verbrechen des Schmutzigen Krieges von drei Präsidentsschaftsperioden der PRI- Regierung umfassen sollte: Gustavo Díaz Ordaz (1964 – 1970, Luis Echeverría (1970 – 1976) und López Portillo (1976 – 1982). Es gab darin zwei Untersuchungslinien: Einerseits sollten die beiden Massaker in Mexiko-Stadt aufgeklärt werden, das Massaker von Tlatelolco 1968 und das Massaker von Corpus Christi 1971 (vgl. Kap. 1.3). Andererseits sollten die Fälle der Verschwundenen aufgeklärt werden. In seinem anfänglichen Optimismus und erklärten Willen zur Aufarbeitung kündigte Carrillo Prieto zu Beginn seiner Arbeit als Sonderstaatsanwalt zahlreiche Projekte an. So sollten im gesamten nationalen Territorium kostenfreie Telefonlinien eingerichtet werden, mittels derer die mexikanische Bevölkerung Informationen geben und in direkten Kontakt mit dem Staatsanwalt treten könnte (Aguayo/Treviño 2007: 722). Er kündigte auch einen „historischen Bericht im Stile der Wahrheitskommissionen“ (zit. ebd.) und die Gründung eines Museums über den Schmutzigen Krieg an. Letzteres sollte im Gebäude der ehemaligen politischen Polizei Dirección Federal de Seguridad (DFS), die 1985 aufgelöst worden war, beherbegt sein. Es wurde ein neues Transparenzgesetz (Ley Federal de Transparencia y Acceso a la InformaciónPúblicaGubernamental, IFAI) verab-
37 „No necesitamos fiscales ni comisiones de la verdad para investigar las desapariciones. Para eso están la PGR y el Ministerio Público. Además, detrás de él [Carrillo Prieto] están personajes ligados a Luis Echeverría (…) quienes jamás hicieron nada por investigar los hechos. (…) Exigimos que la PGR abra sus archivos y se ponga a investigar las denuncias que a lo largo de 27 años hemos interpuesto y cuyos expedientes han sido archivados.“ (Ibarra zit. in: Ravelo 2002: 13)
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schiedet, welches allen MexikanerInnen Zugang zu Dokumenten aus der Zeit des Schmutzigen Krieges gewährleisten sollte. Alle Ministerien wurden aufgefordert, Dokumente, die im Zusammenhang mit den zu untersuchenden Ereignissen standen, in das Archivo General de la Nación zu überstellen. Alle MexikanerInnen wurden aufgerufen, ihre Geschichten zu erzählen und Zeugnisse (testimonios) abzulegen, unabhängig davon, wer sie waren und ob ihr Fall mit einem legalen Prozess in Zusammenhang stehe oder nicht. Das Ziel war es, den Menschen einen Raum zu bieten, wo sie sich aussprechen konnten. Es sollten dazu auch PsychologInnen zur Verfügung stehen, die den Opfern mit traumatischen Erfahrungen helfen könnten. Auch sollten die Opfer Reparationszahlungen für die ihnen zugefügten Schäden erhalten. Zur Prüfung der Fälle wurde im Innenministerium das Comité Interdisciplinario (Interdisziplinäres Komitee) eingerichtet. Das Projekt war zu Beginn derart ehrgeizig und umfassend, dass Carrillo Prieto es „ein neues Modell“ und die „mexikanische Lösung“, um der Vergangenheit zu begegnen, nannte (zit. in: Aguayo/Treviño 2007: 724). Die FEMOSPP war zusammengesetzt aus 25 BeamtInnen des Ministerio Público Federal im Innenministerium, einem ExpertInnenteam aus sechs unabhängigen WissenschaftlerInnen von SoziologInnen und HistorikerInnen und einem Comité Ciudadano (Bürgerkomitee), welches für den Kontakt zur Bevölkerung zuständig war. Mariclaire Acosta und Esa Ennelin (2006) sowie Paul Seils (2004) sahen jedoch in einigen Formulierungen der FEMOSPP von Beginn an Schwierigkeiten. So sollten nur Fälle untersucht werden, die mit Verbrechen von Staatsdienern (servidores públicos) im Zusammenhang standen. Dies schloss sowohl paramilitärische Gruppen sowie Landes- und Bezirksbehörden, die ebenfalls bei Verbrechen beteiligt waren, aus. Außerdem sollten nur Fälle untersucht werden, in denen die Opfer mit sozialen oder politischen Bewegungen in Verbindung standen. Dies wurde als eine willkürliche Formulierung betrachtet, da weder festgelegt wurde, was eine soziale oder politische Bewegung war und wie eine Verbindung des Opfers zu diesen definiert wurde. Es sollten des Weiteren keine Gewaltakte der bewaffneten Bewegungen untersucht werden. Da Carrillo Prieto den Appell an alle Opfer in Mexiko richtete, wurde schnell deutlich, dass es auch Bedürfnisse anderer Opfergruppen gab, die nicht unmittelbar mit der Zeit des Schmutzigen Krieges der 1960er und 1970er Jahre zusammenhingen, aber ebenso mit politischer Gewalt in der Zeit danach. Zusätzlich zu den Fällen der 532 Verschwundenen während der 1970er Jahre und dem Massaker von Tlatelolco und Corpus Christi erhielt die FEMOSPP auch Anzeigen vonOpfern der politischen Gewalt aus den 1990er Jahre. Es handelte sich dabei um das Massaker von Aguas Blancas im Jahr 1995 (vgl. Kap. 4.2), die 600 Verschwundenen aus der Zeit der politischen Verfolgung der Oppositionspartei PRD (Partido de la Revolución Democrática) in Guerrero während der PRI-Präsidentschaft von Carlos Salinas de Gortari (1988 – 1994), die politisch Verfolgten der Guerilla Ejército Popular Revo-
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lucionario (EPR) im Bundesstaat Oaxaca seit dessen öffentlichen Auftreten im Jahr 1996 und die Fälle von 170 Ermordungen von LehrerInnen. Die FEMOSPP nahm alle Fälle an und hatte daraufhin ein Arbeitsvolumen von ca. 1.500 Fällen von Verschwundenen, von Folter und extralegalen Hinrichtungen (vgl. González 2002). Dieser Arbeitsumfang war für die FEMOSPP eine Herausforderung und eine schwer zu bewältigende Aufgabe – vor allem angesichts dessen, welche machtpolitischen Kontexte hinter all diesen Ereignissen politischer Gewalt standen.
4.3.3 Die Person Carrillo Prieto: Zwischen versuchter Aufklärungund Blockierung „Ich trete an, um meinen Mitbürgern in der Sache der Gerechtigkeit und der nationalen Versöhnung zu dienen. Das Gesetz ist das einzige Mittel, um eine Lösung für diesen schwer wiegenden Konflikt, den wir Mexikaner hatten, zu finden.“38 (Carrillo Prieto zit. in: Rodríguez Castañeda 2002: 12) „Es wird keine Hexenjagd geben. (…) Wir werden Archive im Ausland aufsuchen. Wir werden fordern, dass Dokumente freigegeben werden. Wir werden den Informationen nachgehen, wo immer es welche gibt. Wenn es sein muss, gehen wir bis zu den Archiven Satans.“39 (Carillo Prieto zit. in: Rodríguez Castañeda 2002: 12)
Dies waren die anfänglich motivierten und kämpferischen Worte von Carillo Prieto, dem Sonderstaatsanwalt40 des Schmutzigen Krieges, wie er bezeichnet wurde. Er kündigte eine umfassende Vergangenheitsaufarbeitung mit FEMOSPP an, die die nationale Versöhnung zum Ziel hatte. Dies sollte unter anderem durch die Identifizierung der Verantwortlichen für die Verbrechen der Vergangenheit erreicht werden. Sein Vorhaben und Anspruch war hoch angesetzt und ging über die ursprüng-
38 „Vengo a servir a mis conciudadanos en la causa de la justicia en este asunto de reconciliación nacional. La ley es la única forma de encontrar la solución a este gravisimo diferendo que hemos tenido los mexicanos.“ (Carrillo Prieto zit. in: Rodríguez Castañeda 2002: 12) 39 „[N]o habrá cacería de brujas. (…) Recurriremos a los archivos del extranjero. Exigiremos que se desclasifiquen documentos. Perseguiremos la información hasta donde se encuentre. Acudiremos a los archivos de Satanás, si es necesario.“ (Ebd.) 40 Die vollständige Bezeichnung für seine Funktion war: Fiscal Especial para la Atención de Hechos Probablemente Constiturivos de Delitos Federales Cometidos Directa o Indirectamente por Servidores Públicos en Contra de Personas Vinculadas con Movimientos Sociales y Políticos del Pasado.
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liche Idee der Wahrheitskommission hinaus. Dazu meinte er͗„Mit einer Wahrheitskommission schließen Regierungen einen Pakt mit dem Teufel. Unser Büro jedoch sucht nach einem Weg, den Teufel ins Gefängnis zu bringen.“ (Carrilo Prieto zit. in: Acosta/Ennelin 2006: 109) Diese Meinung war nicht sehr willkommen bei den Generälen, während Carillo Prieto der Überzeugung war, dass eine für den Staat derart wichtige Institution wie das Militär stets die Sache der Gerechtigkeit vertreten würde. Carrillo Prieto begann das große Vorhaben in der Annahme, dass die Institution des Militärs mit der FEMOSPP kooperieren würde. Die Anwendung des Gesetzes war für ihn der Schlüssel zum Erfolg bei der Verfolgung der Täter. „Die militärische Disziplin hängt mit dem Dienst zusammen und der Dienst akzeptiert keine illegalen Befehle. Eine Durchsuchung ohne Befehl, ein Akt der Plünderung, eine Vergewaltigung zum Beispiel, können keine Dienstbefehle sein. Sie sind immer illegitim.“41 (ebd: 14) Im militärischen Dienst darf es keine dem Gesetz zuwiderlaufenden Befehle geben, der Staat kann nicht zum eigenen Gesetzesbrecher werden. Werden solche Befehle dennoch von Einzelnen erteilt, so ist der Befehlsgeber ausfindig zu machen und anzuklagen. So lautete die pragmatische Antwort des Sonderstaatsanwalts und er war sich sicher, dass das Militär im eigenen Interesse bei der Suche nach den Verantwortlichen behilflich sein würde. Es ging ja schließlich nicht um die Diskreditierung der Institution Militär, sondern um die rechtmäßige Verurteilung Einzelner, wie er betonte (ebd). Er schloss jedoch nicht aus, dass es sich während des Schmutzigen Krieges um einen systematischen Plan zur Eliminierung von GegnerInnenn durch Befehle von höchster Ebene gab, dass es sich also um Staatsverbrechen handelte. Der Fall des Soldaten Zacarías Osorio Cruz aus dem Jahr 1993 zeigte jedoch bereits Jahre zuvor, dass das Militär und der mexikanische Staat kein Interesse an der Aufklärung von Verbrechen hatte. Dieser Soldat war einer der wenigen, der es wagte, in die Öffentlichkeit zu treten und die Praxis der illegalen Hinrichtung von politischen Oppositionellen anzuklagen. Er musste als Soldat der Einheit Primer Batallón de la Brigada de Fusileros Paracaídistas im Campo Militar Nr. 1 Gefangene auf Befehl erschießen. Nach seinem öffentlichen Bekenntnis wurde er von staatlichen Akteuren bedroht und hat daraufhin um politisches Asyl in Kanada angesucht und dieses erhalten. Sein Zeugenbericht erschien unter dem Titel „Obligado a matar. Fusilamiento de civiles en México“ (1993). Osorio Cruz beschrieb darin die ambivalente Rolle des Soldaten, der aufgrund der Befehlsstruktur innerhalb der mexikanischen Armee und dem rechtlich illegalen Zwang zur Tötung von Op-
41 „La disciplina militar tiene que ver con el servicio y el servicio no acepta ordenes ilegales. Un cateo sin orden, un acto de pillaje, una violación, por ejemplo, no pueden ser ordenes de servicio, son siempre ilícitos.“ (Ebd: 14)
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positionellen zugleich Täter und Opfer wurde. Angehörige von Verschwundenen in der Sierra de Atoyac berichten davon, dass auch Soldaten von Militärs ermordet und/oder verschwunden gelassen wurden, nachdem sie Oppositionelle festgenommen, inhaftiert oder hingerichtet hatten, um keine Informationen weitergeben zu können. Sonderstaatsanwalt Carillo Prieto, der zunächst bereit war, alle Aspekte des Schmutzgien Krieges aufzuklären, sollte im Zuge der Arbeit mit FEMOSPP bald seinen anfänglichen Optimismus den realpolitischen Machtverhältnissen in Mexiko anpassen müssen. 4.3.4 Archiv des Terrors: Das Archivo General de la Nación „Das Bundesnationalarchiv (…) ist ein fundamentales Element in der demokratischen Konsolidierung unseres Landes, da es die historische Erinnerung aufbewahrt und bei der Rechenschaftslegung unterstützt.“42 (AGN 2010)
Die Mission des Archivo General de la Nación (AGN, Bundesnationalarchiv) wird als zentrales Element im Demokratisierungsprozess nach der Transition beschrieben, bewahrt es doch die historische Erinnerung Mexikos. Die Öffnung von Archiven hat in Prozessen der Aufarbeitung der Vergangenheit und der Wahrheitsfindung über die komplexen Dynamiken in einem Konflikt einen zentralen Stellenwert (vgl. Da Silva Catela/Jelin 2002). Ob das AGN als Teil des Innenministeriums diesem Anspruch gerecht werden konnte, sollte sich im Zuge der Arbeit der FEMOSPP zeigen. Das Gebäude, in dem seit 1982 das Bundesnationalarchiv beherbergt ist, ist selbst Symbol einer Transition. In den Jahren 1900 bis 1976 war dort das Gefängnis Lecumberri, genannt auch der Schwarze Palast.43 Während des Schmutzigen Krieges wurden hier zahlreiche politische Gefangene inhaftiert. Der Ort selbst ist demnach auch repräsentativ für den Inhalt der Dokumente und Akten, die sich heute dort befinden. Sie sind archiviert, sortiert und aufgestellt in den aneinandergereihten ehemaligen Gefängniszellen. Die Tische zur Konsultation und Lektüre der Akten stehen zwischen den ehemaligen Zellen. Seit der Einsetzung der FEMOSPP und der Implementierung des Transparenzgesetzes (Ley Federal de Transparencia y Acceso
42 „El Archivo General de la Nación (…) es un elemento fundamental en la tarea de consolidación democrática de nuestro país, pues preserva la memoria histórica y coadyuva en la rendición de cuentas.“ Unter: www.agn.gob.mx/ (Letzter Zugriff 30.04.2014). 43 Das Gefängnis von Lecumberri wurde ab 1888 zur Zeit der Modernisierung Mexikos unter dem Diktator Porifirio Díaz gebaut und im Jahr 1900 in Betrieb genommen. Es galt zu dieser Zeit als das modernste Gefängnis Lateinamerikas, wurde es doch im damals neu entwickelten Panopticum Stil von Bentham entworfen.
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a la InformaciónPúblicaGubernamental)44 wurden hier die Akten des ehemaligen Geheimdienstes Dirección Federal de Seguridad (DFS) und der Dirección General de Investigaciones Políticas y Sociales aus dem Innenministerum überstellt. Gleich zu Beginn der möglichen Konsultationen durch die Öffentlichkeit tauchten jedoch Schwierigkeiten auf:45 „[I]n 2002 the AGN received all records from the Dirección Federal de Seguridad (Federal Security Directorate – DFS), including a splendid well-organized file system, but it continues to be under the control of a DFS/CISEN archivist who, according to witnesses, is very selective about the documents he releases.“ (HRW 2003 zit. in: Aguayo/Treviño/Pallais 2006: 64)
Die an das Archiv übergebenen Akten der Geheimdienste standen also weiterhin unter der Aufsicht eines Mitarbeiters der Nachfolgeinstitution der DFS, des Centro de Investigación para la Seguridad Nacional (CISEN) – eine Form der Vorgehensweise, die den anfänglichen Bekundungen von Transparenz und Unabhängigkeit diametral entgegenstand. Denn die Akten würden nur dann vom Verteidigungsministerium und vom Innenministerium an das Bundesnationalarchiv übergeben werden, wenn gewährleistet wäre, dass diese von einem vertrauenswürdigen Mitarbeiter aus den eigenen Reihen verwaltet werden. Auch ich hatte Gelegenheit, die Selektivität dieses Archiv-Angestellten, der zudem seit den 1960er Jahren Mitarbeiter des mexikanischen Geheimdientes ist (vormals DFS, heute CISEN) kennenzulernen. Bei der Frage nach den Dokumenten zur Partei der Armen und Lucio Cabañas Barrientos wurde mir ein Hunderte von Seiten umfassendes Dokument ausgehändigt. Bei der Lektüre fiel jedoch auf, dass Seiten fehlten, Sätze mit schwarzem Marker unleserlich gemacht und Fotos geschwärzt waren. Auf die Frage nach den fehlenden Seiten meinte der Angestellte sehr höflich, er würde dies überprüfen, diese Unvollständigkeit sei ihm noch gar nicht aufgefallen, obwohl er die Dokumente
44 Vgl.
den
vollständigen
Inhalt
des
Gesetzes
unter: http://www.ifai.org.mx/
transparencia/LFTAIPG.pdf (letzter Zugriff 20.03.2012). 45 Über die politischen Ereignisse, Widersprüche, Zensuren und Drohungen rund um die Akten und Dokumente über die Verschwundenen im Bundesnationalarchiv wurde der Spielfilm Cementerio de Papel gedreht (Regie: Mario Hernández, Mexiko, 2009). Es ist eine Adaptation des Romans von Fritz Glockner (2006), dessen Vater, Napoleón Glockner, verschwinden gelassen wurde. Unter anderen tritt auch Rosario Ibarra vom Comité Eureka in einer kurzen Sequenz des Films auf. Sie meinte über ihren Entschluss, die Einladung zur Mitarbeit anzunehmen: [W]eil ich 81 einhalb Jahre alt bin. Und ich will weiter kämpfen.“ „[P]orque tengo 81 años y medio. Y quiero seguir luchando.“ (Ibarra 2008 zit. unter: http://sdpnoticias.com/sdp/contenido/2008/11/09/71479)
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doch selbst gesammelt, geordnet und zusammengestellt hätte. Aus Gesprächen mit anderen ForscherInnen im Nationalarchiv ging hervor, dass diese Art von Kommentaren der scheinbaren Unwissenheit die alltägliche Strategie der Verschleierung von Akten in dem Teil des Archivs darstellte, der dem CISEN zugeordnet war. Die Tausende von Seiten umfassenden Akten, die dem Archiv übergeben wurden, zusammengefasst in unzähligen Kisten und Ordnern beinhalten akribische Aufzeichnungen von Beobachtungen, Festnahmen und Verhören der Geheimdienstagenten der Dirección Federal de Seguridad (DFS). Mit keinem Wort aber wird in den öffentlich zugänglichen Dokumenten ein Akt von Folter oder Verschwindenlassen erwähnt. Die Beschreibungen erscheinen sachlich neutral, geben aber Auskunft über die Festnahmen der Personen, die bis heute verschwunden sind. So etwa die Eintragung vom 4. März 1970 über die Festnahme eines Onkels von Lucio Cabañas in der Sierra de Atoyac: Exp-100-10-1, L-35/DFS 4-III-70: „Atoyac.- (…) Gestern wurde der Onkel von Lucio, Pedro Cabañas Macedo, festgenommen, der nach Aussagen der Bevölkerung dieser Region, einer der Leutnants seines Neffen ist und der ihn über die Bewegungen der Streitkräfte gegen Cabañas Barrientos informiert (…). Hochachtungsvoll, FGB.“46 (Dokument im Archivo General de la Nación, Exp-100-10-1, L35/DFS 4-III-70)
So wie bei vielen anderen Verschwundenen, sind diese Einträge des Geheimdienstes DFS die letzten Informationen, die im Bundesnationalarchiv zugänglich gemacht wurden. Das ist auch die letzte Information, die man von Pedro Cabañas Macedo hat, er gilt seither als verschwunden. Nach diesen Ausführungen zum Archiv des Terros soll im Folgenden die lokale Perspektive der Angehörigen aus Atoyac auf die Arbeit der FEMOSPP skizziert werden. Es wird dabei ersichtlich, dass viele von Anfang an geahnt hatten, dass eine Untersuchungskommission, die von staatlicher Seite eingesetzt wurde, kein Interesse haben würde, die Verbrechen der Vergangenheit umfassend aufzuklären.
46 „Atoyac.- (…) El día de ayer detuvieron al tio de Lucio, Pedro Cabañas Macedo, quien según el dicho de los habitantes de esta región, es uno de los lugartenientes de su sobrino, a quien tiene informado de los movimientos que realizan las fuerzas federales en contra del propio Cabañas Barrientos (…). Respetuosamente, FGB“ (Documento Archivo General de la Nación, Exp-100-10-1, L-35/DFS 4-III-70)
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4.3.5 Die FEMOSPP aus lokaler Perspektive: Es war eine Pantomime! „Fox hat sich verpflichtet, aufzuklären, aber nein, nie war das sein Ziel! Er hat nur eine Pantomime gemacht [...]. Man weiß ja schon, dass die fiscalía [FEMOSPP] eigentlich die Regierung ist und die Regierung wird sich ja nicht selbst bestrafen. Es muss jemanden von außen geben, um über sie zu richten.“47 (Doña María, Atoyac, 2010)
Viele Angehörige von Verschwundenen in der Sierra de Atoyac sind heute enttäuscht. Die Versprechungen, Erwartungen und Hoffnungen, die zunächst geweckt wurden, sind zerstört. Wie Doña María im obigen Zitat sagt, meinen viele andere auch, dass die FEMOSPP nur eine „Pantomine“ war. Die FEMOSPP war die Regierung selbst und eine Regierung wird sich nicht selbst bestrafen. Abermals fühlen sich viele betrogen und marginalisiert von den staatlichen Aufarbeitungsmechanismen, die doch vorgaben, die Anliegen der Betroffenen in den Fokus zu stellen. Die Hoffnungen waren groß und viele Angehörigen hatten erst mit den politischen Veränderungen und der Transitionsphase ab 2000 den Mut, für ihre Verschwundenen zu kämpfen und in die Öffentlichkeit zu treten. So auch Don Mario aus der comunidad San Vicente de Jesús. Nach der Transition, im Zuge der Untersuchungskommission FEMOSPP, beginnt auch er den Kampf um seinen Vater, der 1972 verschleppt wurde. Er hatte ihn gemeinsam mit seiner Mutter in den 1970er Jahren in verschiedenen Polizeistationen und Militärlagern gesucht, dann aber die Suche aus Angst aufgegeben. Erst ab 2000, „als es das erste Mal Menschenrechte in Mexiko gab“, wie er es nannte, beteiligt er sich wieder zusammen mit anderen Angehörigen. Seine Mutter ist zu diesem Zeitpunkt jedoch bereits verstorben, ohne je etwas über ihren verschwundenen Mann erfahren zu haben. Als im Jahr 2002 in Atoyac das lokale Büro der FEMOSPP geöffnet wird, haben viele Angehörige die Hoffnung, endlich etwas über ihre Familienmitglieder zu erfahren: „Viele sind gekommen, wir hatten Hoffnung, als er kam, um sich vorzustellen“48, sagte Doña Eleazar über den ersten Besuch des Sonderstaatsanwalts Carillo Prieto. „Als er das erste Mal kam, versammelten sich viele [Angehörige] dort in einem großen Saal. (…) Er hat von Arbeitsplätzen gesprochen, von Projekten (…),
47 „Fox se compromete a esclarecer según, pero no, no fue ese el papel jamás! Hizo la pantomina no más (…). Uno ya sabía que la fiscalia es el mismo gobierno y el mismo gobierno no se va a castigar. Tiene que haber alguien de afuera para juzgarlos.“ (Doña María, Atoyac, 2010) 48 „Se juntaron muchos, teníamos una esperanza cuando el se vino a presentar“ (Eleazar Santiago Peralta, Atoyac, 2008)
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aber es waren nur Lügen!“49 (Eleazar Santiago Peralta, Atoyac, 2008) Auch Doña Andrea erzählte, dass sie täglich aus ihrer comunidad Rincón de las Parotas ins Büro der FEMOSPP nach Atoyac gefahren ist. Es ist ein Weg von einer Stunde Fahrzeit mit dem öffentlichen Mikrobus, was einen erheblichen finanziellen und zeitlichen Aufwand für sie bedeutete. Mit Wut und Enttäuschung sagt sie über diese Zeit: „Ich war täglich in der fiscalía, täglich. Geh dort hin, und da war ich! Aber nichts! Ein Haufen von Papieren, haufenweise Papier und hierher sind sie auch gekommen. Sie haben mich fotografiert, haben einen Computer mitgebracht, um Kopien zu machen von Ausweisen, Kopien von allen Dokumenten, die ich hatte. Und nichts, bis heute!“50 (Andrea Baltasar Vázquez, Rincón de las Parotas, 2010)
Rodrigo Alvárez erinnert sich ebenfalls an die Arbeit der FEMOSPP und erzählt, dass diese den Angehörigen Dokumente ausgehändigt hätten, die nur Lügen verbreiteten. Vor allem der Umstand, dass in den Dokumenten der Comisión Nacional de Derechos Humanos hinsichtlich der Todesursache der Verschwundenen Folgendes stand, empörte die Angehörigen: „Sie haben uns Blutproben entnommen, fast von allen Angehörigen von Verschwundenen haben sie Blutproben genommen. Und dann haben sie uns ein Dokument von [der Nationalen Kommission für]Menschenrechte gegeben, wo stand, dass sie meinen Vater gesucht haben und dass er angeblich tot sei. Dass er bei einer bewaffneten Auseinandersetzung zwischen Guerilla und Regierung gestorben sei. Das war die Antwort, die sie uns gegeben haben. (…) Und dann stand da, dass er im Jahr 75 bei der bewaffneten Auseinandersetzung gestorben sei. Aber das kann ja nicht sein, denn wenn sie ihn vorher, im Jahr 74 festgenommen haben, wie kann er dann 75 in einer Auseinandersetzung gestorben sein? Das klingt doch unlogisch!“51 (Rodrigo Alvárez, El Ticui, 2010)
49 „Cuando fue la primera vez fue ahi abajo, en un centro grande y se llenó de gente (…) habló de trabajo, de proyectos (...), ¡pero eran puras mentiras!“ (Eleazar Santiago Peralta, Atoyac, 2008) 50 „Yo en fiscalía, diario yo estaba allá, diario. Qué vayas allá, ¡voy! ¡Nada! Tancales de papeles, tanquales de papeles y aquí tambien (llegaron). Me tomaron foto, trajeron computadora aquí, para sacar las copias de credenciales, la copia de todos los papeles que yo tenía. ¡Y nada, hasta la vez!“ (Andrea Baltasar Vázquez, Rincón de las Parotas, 2010) 51 „Nos tomaron muestra de sangre, sacaron de casi la mayoria de los familiares de desaparecidos muestra de sangre. Y ahí nos dieron un documento (...) de derechos humanos, donde supuestamente buscaron a mi papá y que según adonde aparece muerto. Que el murió en la guerrilla en un enfrentamiento con el gobierno. Fue la respuesta que nos di-
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In den Fällen der meisten Verschwundenen wurde also den Angehörigen mitgeteilt, dass ihr Verwandter bei einer bewaffneten Konfrontation getötet worden sei. Dies wurde so dargestellt, weil dies, wie bereits erwähnt, keine illegitime Tat darstellt, sondern Teil des Kriegsrechtes ist, das die Handlungen von im Konflikt beteiligten bewaffneten Akteuren regelt. Viele Angehörige wissen jedoch, dass ihre Verschwundenen nicht bei diesen angeblichen bewaffneten Konfrontationen getötet wurden. Zum einen weil sie selbst oder andere ZeugInnen der Verschleppung waren oder/und die Verschwundenen und zum anderen weil sie oftmals von anderen Inhaftierten in Geheimgefängnissen gesehen wurden. Oft konnte auch das genannte Datum der angeblichen bewaffneten Konfrontation nicht stimmen, wie im Fall von Rodrigo Alvárez zu sehen ist. Sie konnten also gar nicht bei einer bewaffneten Konfrontation getötet worden sein, weil sie bereits zuvor von staatlichen Akteuren verschleppt worden waren und nicht mehr etwaige KombattantIn der Guerilla gewesen sein konnten. Neben diesen falschen Daten und Widersprüchlichkeiten, die den Angehörigen gegeben wurden, gab es während der Arbeit der FEMOSPP in Atoyac auch Drohungen von Seiten unbekannter bewaffneter Akteure. Diese waren, so die Meinung der Angehörigen, staatliche Akteure, die den Auftrag hatten, die Menschen einzuschüchtern und Terror zu säen. Dies führte dazu, dass viele Angehörige erst gar nicht vor der FEMOSPP aussagen wollten. Apolinar Castro Román, Frau eines Verschwundenen, erinnerte sich: „Als die Frau Doktor [der FEMOSPP] da war, kamen sie in die Häuser, umzingelten die Häuser und luden die Waffen! Und diese Leute, die wollen nichts mehr davon wissen! Sie sagen, damit sie wiederkommen und meine Familie erschrecken? Nein, sie wollen nicht [mehr sprechen]. (…) Was sie gemacht haben [die FEMOSPP], war die Leute zu erschrecken. (…) Um sie zum Schweigen zu bringen. Aber, Gott sei Dank haben sie mich nie so erschreckt.“52 (Apolinar Castro Román, Colonia 18 de Mayo, 2009)
Neben diesen physischen Gewaltandrohungen gab es auch andere Formen von Drohungen, die von der FEMOSPP ausgingen. Apolinar Castro Román erinnert sich etwa an Versprechungen, in Pensions- und Sozialprogramme aufgenommen zu
eron ahí. (...) Y según dice que aparece muerto en el 75 donde muere en un enfrentamiento, pero no puede ser ahí porque si a él lo agarraron antes en el 74, ¿cómo va a morir en el 75 con un enfrentamiento? ¡Suena ilógico eso!“ (Rodrigo Alvárez, El Ticui, 2010) 52 „Cuando estuvo la doctora (de FEMOSPP), llegaban a las casas, rodeaban a las casas, ¡raaasss…y cortando así cartuchos! ¡Esa gente, vieras que no quieren saber nada! Dicen que para que vuelvan otra vez y espanten a mi familia…no quieren. (…) Porque lo que hacían era atemorizar a la gente. [...] Para ponerles candado. Pero, gracias a dios, a mi nunca me dieron este susto.“ (Apolinar Castro Román, Colonia 18 de Mayo, 2009)
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werden, wenn sie im Gegenzug keine weiteren Proteste mehr für die Verschwundenen durchführen würde: „Mir hat es nicht gefallen, dass die Frau Doktor [der FEMOSPP] gesagt hat, ich werde dir helfen, damit sie dir was geben, (…) zum Beispiel, dass sie dir Pension geben, Pension Guerrero. (…) Ich erinnere mich nicht mehr, wie es hieß, aber heute heißt es Oportunidades [ein Sozialprogramm]. Ich gebe dir das und dann sei zufrieden damit! Sei zufrieden damit, denn wenn nicht, wenn du andere Dinge machst, werde ich befehlen, dass sie sie dir wegnehmen! Ich habe gesagt, sie müssen mir nicht drohen, weil ich sage, wenn das so ist, dann entferne ich mich lieber davon.“53 (Apolinar Castro Román, Colonia 18 de Mayo, 2009)
Auch irritierte einige Angehörige, dass FEMOSPP psychologische Gruppentherapien und Familienaufstellungen als Hilfestellung für die Angehörigen einsetzte. „Das sind meine beiden Brüder, ich weiß immer noch nicht, wo sie sind. Seit 1974 sind sie verschwunden“54, sagte Don Mario aus San Martín de las Flores, zwei vergilbte Fotos seiner Brüder in der Hand haltend. Er meinte über die Arbeit der PsychologInnen der FEMOSPP: „Die von der FEMOSPPhaben uns Angehörige zu einer Gruppentherapie geschickt, zu einer Psychologin nach Acapulco. Da wollten sie, dass wir uns alle aufstellen, unsere Familien nachspielen. Sie meinten, das würde uns helfen, damit wir unsere Angehörigen vergessen. Und ich habe nur gedacht, warum soll ich sie denn vergessen? Ich will sie doch gar nicht vergessen! Niemals werden sie es schaffen, dass ich sie vergesse!“ (Don Mario, San Martín de las Flores, 2007)
Mit Nachdruck, Wut und Ohnmacht betont Don Mario den letzten Satz. Mit „sie“ meint er wie in allen seinen Ausführungen über die vergangene Zeit des Schmutzigen Krieges die Regierung. Viele dachten, dass das Einsetzen von PsychologInnen in der FEMOSPP eine Strategie der Regierung gewesen sei, dass sie ihren Kampf um die Verschwundenen ruhen ließen. Die Dialektik zwischen Vergessen und Erinnern ist ein zentrales Element in den Biografien der Angehörigen. Das von außen
53 „Vi mal de que la doctora [de la FEMOSPP] decía, te voy a ayudar para que te den, (…) vamos a suponer, que te den pensión, Pensión Guerrero. (...) Que ahora no mo acuerdo como se llama, que ahora se llama Oportunidades, te voy a dar eso y ya, confórmate! Confórmate porque si no, si tu estas haciendo otra cosa yo ordeno que te la quiten! Yo dije, a mi no tiene porque estarme amenazando, porque digo entonces mejor me retiro y ya.“ (Apolinar Castro Román, Colonia 18 de Mayo, 2009) 54 „Ellos son mis dos hermanos. Todavía no sé donde están. Desde el 74 están desaparecidos.“ (Don Mario, San Martín de las Flores, 2007)
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und oben auferlegte Vergessen (vgl. Connerton 1989), wird mit dem von innen und unten kommenden Erinnern als einem permanenten individuellen und kollektiven Prozess konfrontiert. Unten im Sinne der hierarchischen Selbstzuschreibung und Perspektive der Opfer, als jener, die sich in einer steten historischen Konfrontation mit dem Zentrum der Macht, der Regierung, denen oben, sehen. Über die FEMOSPP meint Don Mario rückblickend: „Nur Theater haben sie mit uns gespielt! Nur Lügen!“55 (Don Mario, San Martín de las Flores, 2007) Wenn von Lügen der FEMOSPP gesprochen wird, sind damit auch ökonomische Aspekte gemeint. So etwa die Ankündigungen von Mikro-Projekten, bei denen die Angehörigen unterstützt werden sollten, wie zum Beispiel die Gründung eines Imbissstandes oder einer kleinen Hühner- oder Schafzucht. Diese Projekte wurden jedoch nie realisiert. Finanzielle Unterstüztung gab es lediglich zu Beginn der Arbeit von FEMOSSP. Jenen, die aus den comunidades der Sierra de Atoyac kamen, wurden Fahrtkosten und Essen bezahlt: „Sie hatten Ressourcen, damit die Leute kommen konnten und für das Essen. Mit diesen Ressourcen kamen die Leute (…), weil die Leute sagen, wir kommen nicht, weil wir kein Geld haben.“56 (Apolinar Castro Román, Colonia 18 de Mayo, 2009) Ökonomische Aspekte waren und sind stets auch ausschlaggebend dafür, dass Angehörige aus den comunidades der Sierra an Versammlungen oder anderen Aktivitäten teilnehmen können. Immer wieder betonen sie die hohen Kosten, die damit verbunden sind. Ohne Unterstützung von außen ist es für die Menschen der Sierra finanziell kaum bewältigbar, zu Besprechungen oder Demonstrationen in die Stadt zu fahren. So rechnet Doña Marta die Kosten für einen Tag in der Stadt vor:„[E]s sind 25 hin und 25 zurück, das sind 50, und dann das Essen, sind es schon 90 Pesos, (…) man fährt weg, und was lässt man den Kindern zum Essen zurück?“57 Bei einem gesetzlichen Mindestlohn von etwa 50,- Pesos für acht Stunden Arbeit pro Tag, den die meisten BewohnerInnen der Sierra ohnehin nicht haben, sind Fahrten in die Stadt daher überaus kostenintensiv. Neben diesen ökonomischen Aspekten und den anderen zuvor beschriebenen Schwierigkeiten, die aus der Sicht der Angehörigen im Zuge der Arbeit der FEMOSPP erkennbar wurden, soll nun ein weiterer zentraler Punkt beleuchtet werden: die von Sonderstaatsanwalt Carillo Prieto angekündigte Rechenschaftspflicht und Bestrafung der Täter des Schmutzigen Krieges.
55 „Puro mitote que nos levantaban! Puras mentiras!“ (Don Mario, San Martín de las Flores, 2007) 56 „Lo que pasa que traían recursos para que la gente viniera y para la comida, con recurso la gente si venía (...), porque la gente dice, que no vienen porque no tenemos.“ (Apolinar Castro Román, Colonia 18 de Mayo, 2009) 57 „[S]on 25 de ahí y 25 de allá, son 50 y lo que se come ya son 90 pesos, (…) se viene y ¿qué le deja de comer a sus hijos?“ (Doña Marta, 2008)
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4.3.6 Prozesse gegen die Täter: Schuld und Unschuld „Nun das mit Echeverría, das mit Tlatelolco? Nur weil er Präsident war, soll man ihn nicht bestrafen dürfen, kann man nichts gegen ihn machen. Er ist schuldig! Er ist schuldig! Präsident oder nicht, er ist schuldig!“58 (María Felix Reyes, Atoyac 2010)
Bereits bei der Einsetzung von FEMOSPP äußerten mexikanische Juristen Bedenken über den möglichen Erfolg der angekündigten Strafverfolgung von Tätern. Denn im mexikanischen Rechtssystem wurden keine begleitenden Gesetzesreformen eingeleitet, die die Verbrechen der Vergangenheit belangen könnten. So meint etwa der Jurist Juan Velázquez: „In vielen Fällen spricht man von Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die nicht verjähren, aber die Gesetze sahen diese in der Zeit, als sie begangen wurden, nicht als solche an; man spricht davon, dass auf Basis der Abkommen, die Mexiko unterschrieben hat, die Verbrechen existieren, aber dies nur nach dem Zeitpunkt der Unterzeichnung. Das heißt, das Gesetz kann nicht rückwirkend zu Lasten von jemanden angewandt werden.“59 (Velázquez zit. in: Ravelo 2002)
Die mexikanische Regierung hatte zwar im Jahr 2001 die Konvention zur NichtAnwendbarkeit von Verjährungsfristen auf Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Non-Applicability of Statutory Limitations To War Crimes and Crimes against Humanity) ratifiziert. In Artikel 1 heißt es dazu, dass keine Verjährungsfristbei Verbrechen gegen die Menschlichkeit Gültigkeit hätte, unabhängig davon, wann das Verbrechen begangen wurde. Die mexikanische Regierung fügte jedoch bei der Ratifizierung eine Vorbehaltsklausel bei, die besagte, dass nur jene Verbrechen bestraft werden könnten, die nach der Ratifizierung, also nach 2002, begangen wurden. Dieser Gesetzeszusatz wurde von Kritikern sogleich als Schloss auf die Vergangenheit (Aguayo/Treviño/Pallais 2006: 63) bezeichnet, welches jegliche Strafverfolgung von Tätern unmöglich machen würde. „With this decision, the Mexican government provided juridical protection to human rights violators.“
58 „¿Ahora de Echeverría, lo de Tlatelolco? Porque fue presidente no se le podía juzgar, no se le podía hacer nada. ¡Es culpable! ¡Es culpable! Así haya sido presidente, ¡es culpable! (María Felix Reyes, Atoyac 2010) 59 „En muchos casos se habla de crimenes de lesa humanidad que no prescriben, pero las leyes no los consideraban como tales en la epoca en que fueron cometidos; se habla de que , con base en los tratados suscritos por Mexico, esos delitos ya existen, pero con fecha posterior a los hechos, es decir, que la ley no puede aplicarse retroactivamente en perjuicio de alguien.“ (Velázquez zit. in: Ravelo 2002).
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(Ebd.) Velázquez meinte angesichts dieser Einschränkungen, dass es sinnvoller gewesen wäre, eine Wahrheitskommission einzusetzen mit einem klar definierten Ziel: „nur die Wahrheit zu wissen, weil juristisch kann niemand mehr verfolgt werden.“60 (Velázquez zit. in Ravelo 2002). Dennoch erstellte Sonderstaatsanwalt Carillo Prieto eine Liste von Tätern, denen der Prozess gemacht werden sollte. Er betonte trotz der juristischen Unmöglichkeit, Täter aus dem Schmutzigen Krieg in Mexiko zu bestrafen, vehement, dass es mit der Anklage gegen die Täter Gerechtigkeit für die Opfer geben werde. Von Beginn an war jedoch klar, dass all seine durchaus ernst gemeinten Bemühungen auf zahlreiche politische und juristische Blockaden stoßen würden. Humberto Guerrero, juristischer Berater von AFADEM und Rechtsanwalt der Comisión Mexicana para la Promoción y Defensa de los Derechos Humanos (CMPDDH), sagte in einem Gespräch: „Die fiscalía hat nie eine formale Anklage wegen erzwungenem Verschwindenlassen durchgeführt. Alle Fälle von erzwungenem Verschwindenlassen wurden als illegaler Freiheitsentzug, Freiheitsberaubung oder Entführung deklariert. (…) Hier trat die fiscalía in eine Debatte um juristische Fachausdrücke ein, die damit zu tun hatte, ob das Verbrechen zudieser Zeit existierte oder nicht [...].“61 (Humberto Guerrero, Mexiko-Stadt, 2009).
Während der fünfjährigen Tätigkeit der FEMOSPP wurden 19 Voruntersuchungen angeordnet, 20 Haftbefehle und acht autos de formal prisión ausgestellt (Aguayo/Treviño 2007: 726). FEMOSPP hat das Verbrechen Erzwungenes Verschwindenlassen jedoch in keinem Fall angewandt, da dieses zum Zeitpunkt der Tat nicht Teil des mexikanischen Strafrechtes war. Stattdessen wurden einige Täter nach dem Straftatbestand Illegaler Freiheitsentzug (privación ilegal de libertad) belangt. Gerichtsprozesse wurden nur gegen Ex-Präsident Luis Echeverría (1970 – 1976) und drei Generäle des Militärs begonnen: gegen General Mario Acosta Chaparro, General Humberto Quirós Hermosillo und Francisco Javier Barquín. Das historisch bedeutendste Ereigniss im Transitionsprozess war die Tatsache, dass mit Luis Echeverría das erste Mal in der mexikanischen Geschichte ein ehemaliger Staatspräsident vor Gericht stand. Er wurde des Genozids beschuldigt für das Massaker von Tlatelolco (1968), wo er Innenminister unter Präsident Gustavo Díaz Or-
60 [S]olo conocer la verdad, porque legalmente ya no se puede perseguir a nadie.“ (Velázquez zit. in Ravelo 2002). 61 „La fiscalia nunca realizó acusación por desaparición forzada, formalmente. Todos los casos de desaparición forzada los calificó como privación ilegal de libertad, plagio o secuestro.[...] Ahí la fiscalia entró en una serie de tecnicismos legales que tenían que ver con que si el delito existía o no en ese tiempo (…).“ (Humberto Guerrero, Mexiko-Stadt, 2009)
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daz war (der im Jahr 1979 verstarb), und für das Massaker von Corpus Christi (1971). Eine Konstante im offiziellen Diskurs über politische Konflikte in Mexiko ist, dass es Verbrechen gibt, die immer von den Anderen ausgeübt werden. Unklar ist dabei laut offizieller Version immer, wer diese Täter eigentlich sind. Als Beispiel soll ein Interview mit Luis Echeverría im Jahr 1998 zum Massaker von Tlatelolco dienen. Er sagte in charakteristischem und ambivalentem PRI-Diskurs, den der mexikanische Schriftsteller Monsivaís die Autokritik der Anderen nennt, Folgendes: „Frage: Akzeptieren sie, dass die Regierung damals verantwortlich für das Massaker war? Echeverría: Mitverantwortlich. Frage: Gibt es Schuldige für das Massaker an Studenten? Echeverría: Ja, es gab sie! Aber es war in vielerlei Hinsicht eine Verwirrung. Deswegen ist es wichtig, die Ursachen, die zu diesem Konflikt führten, zu erfahren. Tlatelolco ist nicht die Antwort. Viele andere Faktoren müssen berücksichtigt werden. (…) Frage: Wie ist es möglich, dass sie nicht wissen, wer den Befehl gab, wenn sie doch der Verantwortliche für die Innenpolitik des Landes waren? Echeverría: Das Militar ist der politischen Macht nicht untergeordnet. (…) Frage: War es dann der Oberbefehlshaber des Militärs, der den Schießbefehl gab? Echeverría: Es war eine Anweisung des Oberbefehlshabers der Streitkräfte, der Präsident der Republik. Frage: Es war also Díaz Ordaz? Echeverría: Aber ja. Frage: Aber, hat er den Schießbefehl gegeben? Echeverría: Nein, er hat den Schießbefehl nicht gegeben. (…) Frage: Sind sie frei von Schuld? Echeverría: Ich schon, absolut. Wir sind menschlich.“62 (Interview des mexikanischen Journalisten Antonio Jáquez zit. in Monsiváis 2008)
62 „¿Acepta que el gobierno tuvo, entonces, responsablidad en la matanza? – Corresponsabiliad. – ¿Hay culpables de la matanza de estudiantes? – ¡Sí, los hay! Pero fue una confusión en muchos sentidos. Por ello lo importante es conocer las cuasas que dieron origen al conflicto. En Tlatelolco no está la respuesta. Deben tomarse en cuenta muchas otras cosas. (…) – ¿Cómo es posible que usted no sepa quién dio la orden, si era responsable de la política interior del país? – El Ejército no está sujeto al poder político. (…) – ¿Fue entonces el jefe del Ejército el que ordenó disparar? – Fue una dirección del Comando Supremo de las Fuerzas Armadas, el Presidente de la República. – ¿Fue Díaz Ordaz entonces? – Pues sí. – ¿Pero, él ordenó disparar? – No, él no ordenó disparar. – ¿Usted está limpio? – Yo sí, absolutamente. Somos humanos.“ (Interview des mexikanischen Journalisten Antonio Jáquez zit. in Monsiváis 2008)
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Der komplexe juristische Vorgang rund um den Prozess gegen Echeverría begann im Jahr 2004, als FEMOSPP elf Personen des Genozids für das Massaker im Jahr 1971 anklagte. Einer davon war Luis Echeverría. Ein Bundesrichter wies die Klage mit der Begründung zurück, dass die angeblichen Verbrechen verjährt seien. Der Fall ging dann an den Obersten Gerichtshof, welcher im Juni 2005 festellte, dass die Verjährung im Falle des Angeklagten Luis Echeverría und Mario Moya Palencia (damaliger Innenminister unter Echeverría) nicht gültig seien. Im September 2005 klagte dann die FEMOSPP acht ehemalige Staatsdiener, darunter abermals Luis Echeverría, wegen Genozids im Fall des Massakers von Tlatelolco 1968 an. Der Richter stellte fest, dass die Verbrechen der Staatsdiener, außer bei Echeverría, verjährt seien. Dann wurde auch dieser aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Daraufhin legte FEMOSPP Berufung ein und am 30. Juni 2006 ordnete ein Bundesrichter Hausarrest für Echeverría an. Am 8. Juli jedoch beschloss derselbe Richter die Freilassung von Echeverría. Ein anderes Gericht nahm den Fall wieder auf und ordnete im September 2006 eine abermalige Verhaftung des Ex-Präsidenten an. Er wurde daraufhin unter Hausarrest gestellt. Das bereits beschriebene Schloss auf die Vergangenheit (Aguayo/Treviño/Pallais 2006: 63) wurde eingesetzt, als der Oberste Gerichtshof im Jahr 2005 die Anschuldigung wegen Genozids gegen den ehemaligen Präsidenten Echeverría bekannt gab: Das zuvor erwähnte statute of limitations wurde nun angewandt, das besagte, dass nur Verbrechen, die nach der Ratifizierung der UN-Konvention aus dem Jahr 2002 begangen wurden, geahndet werden können. Luis Echeverría wurde schließlich im Jahr 2009 von den Richtern des Obersten Gerichtshofes aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Echeverría meinte dazu: „Eigentlich war ich nicht besorgt, weil ich weiß, dass es keinen Grund gibt, weil es keinen derartigen Genozid gab.“63 (Echeverría zit. in: Cárdenas Estandía 2008: 106). In der Sierra de Atoyac ist man anderer Meinung. Don Roberto aus San Vicente de Jesús sagt über Echeverría: „Er ist schuldig, weil unter seiner Regierung all diese Verbrechen begangen wurden. Und das Militär bewegt sich doch nicht ohne den Präsidenten! Er ist der oberste Befehlshaber. Die können mir nicht erzählen, dass er unschuldig ist!“64 (Don Roberto, San Vicente de Jesús, 2007) Entgegen der Überzeugung der Opfer, dass Luis Echeverría schuldig sei, wird er in vielen Sektoren der mexikanischen Gesellschaft – auch unter linken Intellektuellen und Politike-
63 „En efecto, no me preocupa porque sé que no hay razón, que no hubo tal genocidio.“ (Echeverría zit. in: Cárdenas Estandía 2008: 106). 64 „El es culpable porque en su gobierno se cometieron todos esos crimenes. ¡Y los militares no se van a mover sin el presidente! El es el mando supremo. ¡No me pueden contar que no tiene culpa!“ (Don Roberto, San Vicente de Jesús, 2007)
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rInnen – und vor allem in der lateinamerikanischen Exilgemeinde immer noch als Held gefeiert. Dies zeigte eine Veranstaltung in Mexiko am 24. März 2006 von der argentinischen Exilgemeinde, zum 30. Jahrestag des Militärputsches in Argentinien. Es war eine Dankesfeier und Hommage an Luis Echeverría. Er wurde für die damalige Bereitschaft, politisch Verfolgten der argentinischen Militärdiktatur in Mexiko Asyl zu geben, geehrt. Dass eine solche Feier in Mexiko stattfinden konnte und Echeverría zeitgleich wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt war, zeigt den ambivalenten Umgang mit der Vergangenheit in Mexiko (vgl. Becker/Burkert 2008). Ein anderer politisch manipulierter Gerichtsprozess wurde gegen zwei weitere Täter geführt, die Generäle Acosta Chaparro und Quiróz Hermosillo. Generäle Acosta Chaparro und Quiróz Hermosillo: Gegenüberstellung mit den Angehörigen „Alles war voller Militärs. Und Acosta Chaparro, er hat nichts gesagt. Nichts!“65 (Elvira Patiño Leyva, Los Llanos de Santiago, 2007)
Im Jahr 2003 wurden General Acosta Chaparro und General Quiróz Hermosillo, die bereits seit dem Jahr 2000 wegen Verbindungen zum Drogenhandel in Haft waren, auch von FEMOSPP wegen Mordes an 143 Verschwundenen in Guerrero angeklagt. Die beiden Generäle waren als Teil der paramilitärischen Gruppe Brigada Blanca (Weiße Brigade) verantwortlich für die Verbrechen des Schmutzigen Krieges in dieser Region und befahlen die Todesflüge, mit denen ermordete Gefangene über dem Pazifik ins Meer geworfen wurden. Acosta Chaparro soll laut Zeugenberichten persönlich Oppositionelle hingerichtet haben, „mit einer Pistole, die er Schwert der Gerechtigkeit nannte.“66 (González Ruíz zit. in: Madera 2007) Da in Mexiko zu dieser Zeit noch das fuero militar (militärische Sondergerichtsbarkeit)67 Gültigkeit hatte, das besagte, dass Mitglieder der mexikanischen Streitkräfte nur vor einem Militärgerichtshof juristisch belangt werden können, wurden die beiden Generäle nicht vor ein ziviles Gericht geladen. Zu den Anhörungen wurden zehn Soldaten als Zeugen geladen, die mit den Generälen zusammengearbeitet hatten. Unter anderem auch Gustavo Tarín Chávez, der von den Todesflügen an der Pazifikküste
65 „Estaba lleno de militares. Y Acosta Chaparro, el no decía nada. ¡Nada!“ (Elvira Patiño Leyva, Los Llanos de Santiago, 2007) 66 „[C]on una pistola a la que llamaba la espada justiciera.“ (González Ruiz zit. in: Madera 2007) 67 Die militärische Sondergerichtsbarkeit wurde erst im Jahr 2011 auf Anordnung des Interamerikanischen Gerichtshofes für Menschenrechte aufgehoben.
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berichtete, die von den Generälen angeordnet worden waren. In diesen Todesflügen wurden die Leichen ermordeter Oppositioneller aus Guerrero über dem Meer abgeworfen. In Vorbereitung des Gerichtsprozesses fuhren Beamte des Militärgerichtshofes auch in die comunidades der Sierra de Atoyac, um die Angehörigen, deren Verschwundene in den „Todeslisten“ der beiden Generäle standen, vorzuladen. General Acosta Chaparro meinte, er sei nur für 22 Tote verantwortlich. Eine aus dieser Liste ist Perla, die Schwester von Elvira Patiño Leyva aus Los Llanos de Santiago: „Angeblich hat er [Acosta Chaparro] sich zu 22 bekannt, die er getötet hat. Und für diese 22 wurden Gerichtsvorladungen verschickt. Aber wir waren nur vier, die zur Gegenüberstellung fuhren. Die Letzte in der Liste der 22 war Perla.“68 (Elvira Patiño Leyva, Los Llanos de Santiago, 2007) Die Angehörigen sollten in das Militärgericht im Campo Militar N. 1 fahren und dort in einem careo (gerichtliche Gegenüberstellung) vor den beiden Generälen aussagen. Zur Zeit des Schmutzigen Krieges wurden hier Verschwundene inhaftiert und gefoltert. Daher weigerten sich viele Angehörige der Vorladung zu folgen, da sie befürchteten, vielleicht verhaftet zu werden. Die Kultur der Angst war also nicht nur Teil des Schmutzigen Krieges der 1970er Jahre, sondern kann als Konsequenz dieses Konfliktes immer noch beobachtet werden. Andere Angehörige wiederum weigerten sich, vor einem Militärgericht vorzusprechen, da dies für sie eine Verhöhnung der Verschwundenen symbolisierte. Sie forderten stattdessen weiterhin Prozesse gegen die Täter vor zivilen Gerichten und betrachteten die Anklagen vor dem Militärgerichtshof als eine weitere Farce. Denn wie konnten Täter aus den Reihen des Militärs vom Militär selbst gerichtet werden? Und warum sollten die Angehörigen bei diesen Gegenüberstellungen Dinge aussagen, die das Militär ohenhin wusste, wie María Felix Reyes aus Atoyac sagt: „Sie wissen, wohin sie sie gebracht haben, was sie mit ihnen gemachthaben, wie sie sie behandelt haben. Warum wollen sie, dass wir ihnen darüber testimonios geben? Das werden wir nicht tun, weil sie doch ganz genau wissen, was sie mit ihnen gemacht haben, wo sie sie hingebracht haben, ob sie sie vergraben haben oder sie den Tieren zum Fraß überlassen haben. Sie wissen es!“69 (María Felix Reyes, Atoyac, 2010)
68 „Supuestamente el [Acosta Chaparro] se hizo cargo de 22 que el mató. Y para estos 22 giraron los citatorios. Pero nada más fuimos cuatro al careo. Y la última de los 22 es Perla.“ (Elvira Patiño Leyva, Los Llanos de Santiago, 2007) 69 „Ellos saben donde los llevaron, que les hicieron, como los cargaron. ¿Por qué quieren que uno les de testimonio de eso? Eso no se lo vamos a dar porque saben que les hicieron, donde los dejaron, si lo enterraron o si no más dejaron que los animales se los comieran. ¡Ellos saben!“ (María Felix Reyes, Atoyac, 2010)
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Don Mario aus der comunidad San Vicente de Jesús, einer der vier Angehörigen, die dennoch hinfuhren, erzählt von der Vorladung in das Militärlager Nr. 1in Mexiko-Stadt zur Gegenüberstellung mit General Acosta Chaparro: „Ich war sogar einmal im Militärlager Nr. 1 weil ich eine Anzeige gemacht habe. Viele sagen, warum habt ihr im Militärlager Nr. 1 eine Anzeige gemacht, und ich sage ihnen, nein, ich habe keine im Militärlager Nr. 1 gemacht, sondern in der Staatsanwaltschaft in Atoyac und ich weiß nicht, warum sie dann in das Militärlager Nr. 1 gelangt ist. Und so haben sie mich dorthin vorgeladen und ich musste hinfahren, denn wenn ich nicht hingefahren wäre, hätte ich doch ein Delikt begangen. (…) Der Oberleutnant Gaytán hat mich überredet, er ist gekommen, um mich abzuholen, weil ich zuerst nicht hinfahren wollte. Ich habe nein gesagt, wegen der Politik und er sagte mir, nein, dieses Mal wird es anders sein, wir sind einverstanden mit dem Präsidenten, wir müssen unsere Verantwortung tragen. Und so hat er mich überzeugt und ich bin hingefahren.“70 (Don Mario, San Vicente de Jesús, 2007)
Er beschreibt den Ablauf im Militärlager Nr. 1, wo er erstmals den Tätern gegenüber stand, und erinnert sich an die einschüchternden Fragen: „Natürlich [hatte ich Angst], aber ich musste gehen. Als wir in Mexiko-Stadt ankamen, haben sie uns im Militärkrankenhaus untergebracht und am Abend sagte mir der Oberleutnant, Don [...], morgen um 9 Uhr früh müssen sie fertig sein, da werde ich sie abholen. (…) Ich sagte, hören sie, mein Oberleutnant, diese Leute haben ihre Rechtsanwälte und wer wird mich beraten? Er sagte, ich. Ich bin Rechtsanwalt, ich bin Jurist und ich werde sie vertreten, Don [...]. Und so sind wir gegangen. Der Richter war schon dort, in einem Saal, wo wir uns versammelt haben und es war General Acosta Chaparro und Quiroz Hermosillo dort (…) und ihre Rechtsanwälte [...]. Der Richter sagte: Don [...], wir haben sie hier vorgeladen. (…) Sie haben eine Anzeige gemacht. Ich bejahte. Ich werde sie ihnen vorlesen. Ja, und er las sie vor. Er fragte: ist das ihre Unterschrift? Ich bejahte. Sind Sie sich bewusst, dass Sie die Anzeige gemacht haben? Ich bejahte. Sind Sie vorbereitet? Ich fragte: in welcher Hinsicht? Sie sagen, dass Sie antworten werden. Ich bejahte. Weil ich ihnen den Paragraf lesen werde, der im Bundesstrafgesetz steht und festlegt, was mit einer Person passiert, wenn sie eine falsche Anzeige macht.
70 „Una vez incluso estuve en Campo Militar Número 1 porque puse una demanda. Muchos dicen, por qué, porque los demandaron en el Campo Militar y les digo, no, yo no demandé al Campo Militar, sino yo demandé en el Ministerio Publico en Atoyac y yo no se como fue a dar la demanda al Campo Militar y entonces me citan de allá y tuve que ir porque si yo no voy hago un delito, si. (…) Me dice el teniente Gaytán, dice, porque el vino aquí a traerme porque yo no queria ir. Le digo, no, la política y me dice, no va a ser diferente ahí, estamos de acuerdo con el presidente, hay que hacernos responsables allá y así me animé y me fui.“ (Don Mario, San Vicente de Jesús, 2007)
296 | K AMPF UM R EHUMANISIERUNG Ich bejahte und sagte: nur zu, nur zu! Fangen wir an! (…) Nur um einzuschüchtern! Und wir fingen an, hart war das, und ich lüge Sie nicht an, so ging es an die fünf Stunden dahin.“71 (Don Mario, San Vicente de Jesús, 2007)
Elvira Leyva Patiño aus der comunidad Los Llanos de Santiago, die zwei verschwundene Geschwister hat, fuhr ebenfalls im Jahr 2004 zur Gegenüberstellung mit Acosta Chaparro und erinnert sich an die für sie seltsam anmutenden Fragen des Richters: „Sie haben mich gefragt, ob sie der Guerilla angehörte und ich habe gesagt, dass ich das nicht wisse, dass ich davon nichts gemerkt hatte (…). Sie haben gefragt, wie sie war, was sie gemacht hat und ob sie eine psychische Krankheit hatte. (…) Diese Frage hat mich am meisten gestört!“72 (Elvira Patiño Leyva, Los Llanos de Santiago, 2007) Die Anliegen der Angehörigen wurden während dieser Gegenüberstellung diskreditiert, indem immer wieder auf ein mögliches freiwilliges Verschwinden der Angehörigen hingewiesen, ihnen psychische Krankheiten unterstellt und den Tätern so jegliche Schuld abgesprochen wurde. General Acosta Chaparro wurde im Jahr 2006 aus Mangel an Beweisen freigesprochen. General Quiróz Hermosillo verstarb im Jahr 2006 in einem Militärkrankenhaus. Einige Tage vor dem Freispruch richtete Verteidigungsminister General Ricardo Clemente Vega García in einer öffentlichen Rede einen Appell an alle MexikanerInnen, die verzeihen und darauf achten sollten, „dass die Nation nicht
71 „Claro [que tenía miedo] pero tengo que ir. Ya cuando llegamos a México, nos hospedaron en el Hospital Militar y en la tarde me dice el teniente, Don (...), se alista mañana a las 9 porque voy a venir por usted. (...) Digo, oiga mi teniente, y esa gente tiene sus abogados ¿y a mí quién me va a asesorar? Dice, yo. Yo soy abogado, soy licenciado en derecho y yo le voy a asesorar, Don (...). Y así nos fuimos. Ya estaba el juez penal, así, una sala y nos reunimos, y estaba el general Acosta Chaparro, Quiroz Hermosillo, (...) sus abogados (…). Entonces, me dice el juez, Don (...), lo mandamos a traer. (...) Dice usted tiene una demanda aquí. Digo, si. Se la voy a leer. Digo, si y me la leyó. Dice, ¿su firma es esta? Digo, si. ¿Usted está consciente que puso la demanda? Digo, si. ¿Viene preparado? Digo, ¿en qué forma? Dicen que la va a contestar. Digo, si. Porque le voy a leer el artículo que está en el código penal federal en que incurre una persona cuando demanda falso. Digo, ¡si! ¡Adelante, adelante! Empezamos. (…) ¡A intimidar! Y empezamos, duro, duro y no le miento que duró eso como 5 horas.“ (Don Mario, San Vicente de Jesús, 2007) 72 „Me preguntaban si ella pertencía a la guerrilla y yo dije, que yo no sabía, que yo no me daba cuenta (…). Preguntaban qué como era ella, que hacía, y si estaba mentalmente enferma. (…) ¡Esa pregunta era la que me molestaba!“ (Elvira Patiño Leyva, Los Llanos de Santiago, 2007)
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auseinanderfällt.“73 (Vega Garcíazit. in: Castillo García 2007). Die intransparenten Gerichtsprozesse stehen konträr zu den beabsichtigten positiven Effekten von Tribunalen in Transitional-Justice- Perioden. Denn, wie Julie Mertus es ausdrückt: „Survivors need to feel a part of whatever record is created. Only then will they feelthat others hear and acknowledge their suffering. Only then can they begin to remember or start to forget. Their record may be used to educate future generations, but its greatest utility lies in the telling. (…) The court record, however, merely presses the words of survivors into the language of law. The adjudicatory process does not fulfill the kind of participatory function that facilitates healing for survivors.“ (Mertus 2000: 159)
Der juristische Aspekt in Form der Anerkennung von Schuld an den Verbrechen und die mögliche Bestrafung der Täter vor einem Gerichtstribunal ist nur ein Teil des Aufarbeitungsprozesses. Für die Opfer ist die gesellschaftliche Anerkennung ihrer Anliegen auch abseits der Gerichtssäle und Tribunale ein zentraler Aspekt. Mertus plädiert in diesem Sinne für „memory projects that collect and publish without judging the accounts of survivors, popular education campaigns that encourage survivors to test their voices“ (ebd.). Ist für die soziale Anerkennung der Opfer jedoch kein Raum, kann auch die Rolle von Kriegsverbrechertribunalen nur die Generierung von unvollständigen Wahrheiten (vgl. ebd.) sein. Auch verursachen Freisprüche von aus der Perspektive der Angehörigen dezidiert schuldigen Tätern zusätzliches Leid. Diese Prozesse führen nach der zugefügten Gewalt in der Vergangenheit zu einer Reviktimisierung der Opfer in der Gegenwart. So waren auch die Reaktionen der Angehörigen auf den Freispruch des Generals Acosta Chaparro Gefühle der Wut, Ohnmacht und Verhöhnung. Denn der General wurde nicht nur von jeglicher Täterschaft freigesprochen, sondern nach seiner Freilassung auch mit militärischen Orden geehrt. José Enrique González Ruíz, ehemaliger politischer Gefangener, Anwalt von AFADEM und Rechtswissenschaftler, drückt das für die Opfer Unfassbare so aus: „Er wurde in allen Punkten der Anklage als unschuldig befunden und hat seine Dienstgrade im Militär wiederbekommen. Und weil das noch nicht genug war, hat er sogar seine verlorenen Einkünfte während der Haft ausgezahlt bekommen. Es ist eine Botschaft des Terrors: Auf symbolische Art und Weise sagt man so den MexikanerInnen, dass man nicht nur die Täter der Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht bestrafen wird, die noch frei sind (…), son-
73 „[E]n que no se nos vaya la nación de las manos.“ (Vega Garcíazit. in: Castillo García 2007)
298 | K AMPF UM R EHUMANISIERUNG dern dass man auch jene nicht mehr belästigen wird, die bereits vor einem Gericht gestanden haben.“74 (González Ruíz 2007: 10)
Die Ambivalenz der Aufarbeitung des Schmutzigen Krieges in Mexiko zeigte sich besonders deutlich am Fall des Generals Acosta Chaparro. Während die Opfer weiterhin marginalisiert wurden und keine Entschädigung für ihr Leid erhalten hatten, wurden Täter freigesprochen und mit Sonderzahlungen und militärischen Orden versehen. González Ruíz, der Interviews mit dem General durchführte, beschreibt indes auch die Freundlichkeit der Repressorenund die Verführungskraft, die sie ausüben können, wie dies auch Robben (2000: 81) für den Fall der Täter in Argentinien beschreibt. Über Acosta Chaparro sagte González Ruíz: „[E]r war sehr hilfsbereit und freundlich zu mir. Er hat nicht einmal seine Aktivitäten in derAufstandsbekämpfung verheimlicht, sondern vielmehr mit ihnen angegeben.“75 (González Ruíz 2007: 10) So habe General Acosta Chaparro auch über seine Foltermethoden gesagt: „[F]oltern ist eine Kunst. Man muss mit Präzision definieren, welche Art der Bestrafung zu jedem Individuum passt.“76 (González Ruíz zit. in: Solís Téllez 2010)In einem Telefongespräch mit Acosta Chaparra erwähnt dieser, dass er über die Kontakte von González Ruíz zu den Angehörigen der Verschwundenen Bescheid wisse. Er deutete in diesem Gespräch auch auf die geheimdienstliche Überwachung der Aktivitäten von González Ruíz hin: „Wer spricht? Ah, …sie waren letzte Woche in Culiacán auf einer Versammlung von Angehörigen Subversiver, die sie Verschwundene nennen ... Wie kann ich ihnen dienen?“77 (González Ruíz 2007: 10) Der General machte in seiner Aussage deutlich, dass die Verschwundenen für das Militär nicht als solche existieren. Vielmehr werden sie in der militärischen Terminologie der Aufstandsbekämpfung immer noch als Subversive, also als Staatsfeinde betrachtet. Und damit in weiterer Folge auch jene, die sich mit den An-
74 „Lo encontraron inocente de los cargos que se le imputaron por que recuperó sus grados en el ejército y, por si fuera poco, se le cubrieron sus ,haberes caidos ދdurante el tiempo de reclusión. El mensaje es de terror: simbólicamente, se manda decir a los mexicanos y mexicanas que no solo no se juzgará a los señalados como criminales de lesa humanidad que están libres (…), sino que se dejará de molestar a los que ya estaban consignados ante la justicia.“ (González Ruíz 2007: 10). 75 „[S]e mostró solícito y hasta amable conmigo. No se tomó siguiera la molestia de ocultar sus actividades contrainsurgentes; más bien, las presumía.“ (González Ruíz 2007: 10) 76 „[T]orturar es un arte. Hay que definir con precisión el tipo de castiago para cada individuo.“ (González Ruíz zit. in Solís Téllez 2010) 77 „¿Quién habla? Ah, … (usted) estuvo la semana pasada en Culiacán en un encuentro de familiares de subversivos a los que llaman desaparecidos ... ¿En qué puedo servirle?“ (González Ruíz 2007: 10)
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liegen der Angehörigen der Verschwundenen solidarisieren. Die Ambivalenz der Aufarbeitung und die Verleugnung der Existenz von Verschwundenen zeigten sich auch im Kontext einer Exhumierung in der Sierra de Atoyac.
4.3.7 Exhumierungen in der Sierra de Atoyac: Tierknochen? In der comunidad Tres Pasos in der Sierra de Atoyac stößt Inocencio Morales Gervacio im Jahr 2001, während er eine Grube im Garten seiner Mutter aushebt, auf Menschenknochen und Kleidungsreste. Das Grundstück, auf dem das illegale Massengrab gefunden wurde, gehört Guadalupe Gervasio Ríos, Tante von Lucio Cabañas. Das Haus von Doña Gervasio war von 1972 bis 1974 als Militärlager besetzt, in dem zahlreiche BewohnerInnen der comunidad festgehalten, gefoltert und sieben von ihnen bis heute verschwunden sind. Ungefähr ein Jahr lang verschweigen sie aus Angst den Fund. Als dann aber General Acosta Chaparro vor Gericht gestellt wird, wagen sie es darüber zu sprechen. Sie erzählen Tita Radilla, Vizepräsidentin von AFADEM, davon. Daraufhin fordert der Anwalt von AFADEM, Enrique González Ruíz, die Exhumierung der Knochen bei der Procuraduría General de la República (PGR) an. Die Experten der PGR führten die Exhumierung durch. Das Ergebnis ihrer Untersuchung war, dass es sich bei den Knochenresten um Pferdeknochen handeln würde.78 Die Angehörigen der Verschwundenen reagierten ungläubig auf diese Antwort und ärgerten sich über den Zynismus der Resultate. So sagte Doña Florentina aus Atoyac, Frau eines Verschwundenen, empört: „Wie ist es möglich, dass sie sagen, es seien Pferdeknochen! Wir wissen doch alle, wie Pferdeknochen aussehen und wie Menschenknochen aussehen.“79 (Doña Florentina, Atoyac, 2008) Das Unverständnis und die Wut waren bei den Angehörigen groß, konnte es sich doch bei diesen aufgefundenen sterblichen Überresten theoretisch auch um einen ihrer Verschwundenen handeln. Der Fall wurde jedoch geschlossen und die Knochenreste nach der Exhumierung in den Archiven der PGR eingelagert, ohne dass es weitere von den Angehörigen geforderte Untersuchungen gab. Die Rückgabe der sterblichen Überreste ist für die Angehörigen eine der zentralen Forderungen. Die Aushebung von Massengräbern, die Exhumierung und Identifizierung von verschwundenen Personen ist daher ein wichtiger Aspekt der Aufar-
78 „México: cementerio de la guerra sucia en Guerrero“. Proceso vom 15.05.2001. Unter: http://www.rebelion.org/hemeroteca/ddhh/guerrero150501.htm.
(Letzter
Zugriff:
30.04.2014). 79 „¡Cómo es posible que dicen que son huesos de caballo! Si todos sabemos como son los huesos de caballo y como son los huesos de humano.“ (Doña Florentina, Atoyac, 2008)
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beitung vergangener Verbrechen. Die Comisión Nacional de Derechos Humanos (CNDH) schreibt in ihrem Bericht von 2001, den sie der FEMOSPP übergeben hatte, dass es 20 illegale Massengräber auf dem gesamten nationalen Territorium aus der Zeit des Schmutzigen Krieges gibt. Julio Mata, Präsident von AFADEM aus Atoyac, meinte hingegen: „Wir haben einige mehr identifiziert.“80 (Mata zit. in: González 2002) Er sprach von dem Vorhaben der Angehörigen, in Guerrero mit den Exhumierungen zu beginnen und dann jene in den Bundesstaaten Chiapas, Michoacán, Sinaloa und Chihuahua auszuheben. Das erste Mal nach 30 Jahren haben in diesem Kontext der möglichen Exhumierungen auch die Angehörigen öffentlich davon gesprochen, dass die Verschwundenen tot sein könnten. Mata sagte dazu: „Wir können uns vor dieser Möglichkeit nicht verschließen; wir wissen, dass einige, die sie verschleppt haben, 60 Jahre alt oder darüber waren. Der Leitspruch Lebend haben sie sie geholt, lebend wollen wir sie zurück! ist wichtig, aber vor allem wollen wir die Wahrheit darüber wissen, was mit ihnen passiert ist.“81 (Mata zit. in: González 2002).
Die konstante Forderung Lebend haben sie sie geholt, lebend wollen wir sie zurück! ist also auch in einem metaphorischen und symbolischen Sinne zu verstehen. Denn auch die Rückgabe sterblicher Überreste der Verschwundenen ist ein Ausdruck dafür, sie als Menschen wieder lebendig zu machen, indem sie dann den normalen rituellen Sterbe- und Abschiedsprozess durchlaufen könnten. Die Forderung nach Rückgabe der Lebenden, auch wenn sie tot sind, ist also auch eine Forderung nach einer symbolischen Rückkehr in eine Phase vor dem Verbrechen des Verschwindenlassens, in eine Phase, als die soziale Welt noch rituell geordnet war. Diese rituelle Ordnung soll mit der Rückgabe der sterblichen Überreste wieder hergestellt werden. Denn nur so könnten die Angehörigen den Abschieds- und Trauerprozess durchlaufen und beenden und die Verschwundenen schließlich rituell in das Reich der Toten überführen. Die soziale und kulturelle Ordnung der Welt würde so wiederhergestellt und die sozialen Rollen der Angehörigen und der Verschwundenen neu festgelegt und der Normalität zugeführt werden. Und so würde schließlich auch der liminale Zustand aufgehoben werden. Doch die politischen Entwicklungen auf nationaler Ebene verhinderten weiterhin diesen Normalisierungsprozess der Angehörigen. Trotz der ursprünglichen Versprechen der FEMOSPP, alle illegalen Massengräber zu lokalisieren und sterbliche
80 „Nosotros tenemos identificados varios más.“ (Mata zit. in: González 2002) 81 „No podemos cerrarnos a esa posibilidad; sabemos que algunos cuando los desaparecieron, tenían 60 años o más de edad. Es importante la consigna ,vivos los llevaron, vivos los queremosދ, pero ante todo queremos saber la verdad de lo que les ocurrió.“ (Mata zit. in: González 2002).
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Überreste zu exhumieren, unternahm die FEMOSPP keinen weiteren Versuch, diese auszuheben. Jene Exhumierung, die dennoch durchgeführt wurde – im Falle Rosendo Radilla (vgl. Kap. 5.3.1) – endete ebenso mit negativen Antworten der Regierungsvertreter wie im Falle der Ausgrabung der Tierknochen in der comunidad Tres Pasos. Eine weitere problematische Situation im Kontext der Arbeit von FEMOSPP in Atoyac wurde im Fall Zacarías Barrientos deutlich.
4.3.8 Der Fall Zacarías Barrientos: Opfer
– Mittäter – Opfer?
„Sag mir endlich, wo mein Sohn ist“, sagt Isaías Martínez Gervasio mit seinen 82 Jahren verärgert zu ihm. (...) „Ich habe ihren Sohn nicht verraten. (…) Ich werde ihnen sagen, wo er vergraben ist und wer es getan hat!“82 (Dialog zwischen Isaías Martínez und Zacarías Barrientos Peralta zit. in: Ortega 2004)
Don Isaías sollte nicht mehr erfahren, wo sein verschwundener Sohn vergraben ist und wer die Täter der Verschleppung und Ermordung waren. Zacarías Barrientos wurde im Jahr 2003 in der Nähe seiner comunidad Rincón de las Parotas ermordet. Zuvor war er Zeuge der FEMOSPP in Atoyac. Aufgrund seiner spezifischen Rolle während des Schmutzigen Krieges hatte er viele Informationen und kannte sowohl Opfer als auch Täter. Er war Kleinbauer der comunidad Rincón de las Parotas, Verwandter und Kollaborateur von Lucio Cabañas Barrientos und wurde am 26. September 1974 während der Aufstandsbekämpfungsoperationen zur Kooperation mit dem Militär gezwungen. Er wurde zur madrina (Pate/Patin) der Soldaten. Sogenannte madrinas mussten Informationen über SympathisantInnen und Mitglieder der Partei der Armen an das Militär geben und verdächtige Personen melden, auch aus der eigenen comunidad. Zacarías Barrientos bewegte sich problemlos zwischen militärischen Kontrollpunkten, Militärlagern, Gefängnissen und comunidades und kannte die Verantwortlichen der Aufstandsbekämpfung in Guerrero persönlich, so etwa General Acosta Chaparro,PolizeichefGaleana Abarca oder Nazar Haro von der Dirección Federal de Seguridad (DFS). Drei Jahre lang musste er im Dienst der Armee tätig sein. Viele madrinas kehrten nach dem Krieg nicht mehr zurück, wurden ermordet oder/und verschwanden, um zu verhindern, dass brisante Informationen über die Täter oder den Verbleib der Gefangenen und Ermordeten an die Öffentlichkeit gelangten. Zacarías Barrientos
82 „¡[Y]a dime dónde está mi hijo, porque tú lo delataste! - increpa molesto Isaías Martínez Gervasio con sus 82 años de edad a cuestas. (…) Yo no entregué a su hijo. (…) Yo le voy a decir dónde está enterrado y quienes fueron.“ (Dialog zwischen Isaías Martínez und Zacarías Barrientos Peralta zit. in: Ortega 2004)
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kehrte zurück in seine comunidad. Die Familie und die comunidad distanzierten sich jedoch von ihm, da er beschuldigt wurde, seinen eigenen Bruder verraten zu haben, der seither verschwunden ist. Auch andere Angehörige beschuldigten ihn der Mitschuld am Verschwinden mehrerer Personen. Aufgrund dieser ambivalenten Konstellation als Opfer und Mittäter und der sozialen Marginalisierung in seiner Dorfgemeinschaft lebte er als Kleinbauer fortan alleine und zurückgezogen außerhalb der comunidad auf seinem Feld. Zacarias Barrientos litt an dieser Situation und beschloss im Zuge der Einsetzung der FEMOSPP in Atoyac, das Schweigen zu brechen, alles zu sagen, was er wusste, so zur Aufklärung der Verbrechen beizutragen und sein eigenes Gewissen zu erleichtern. Im Jahr 2008 wurde ein Dokumentarfilm über seine Geschichte mit dem Titel El crimen de Zacarías Barrientos83 veröffentlicht, in dem Angehörige Verschwundener aus den comunidades der Sierra de Atoyac, Familienmitglieder und MitarbeiterInnen der FEMOSPP zu Wort kommen. Seine ambivalente Rolle im Konflikt zwischen Opfer und Mittäter sowie die Schwierigkeit des Umgangs mit seiner Rolle kommen in den Kommentaren zum Ausdruck. Die Ambivalenz schwankt dabei zwischen der Perspektive, dass er Verräter und Täter, und jener, dass er letztendlich doch Opfer war und zeitlebens darunter gelitten hat. Die Tatsache, dass er aufgrund seiner Intention des Sprechens über das Schicksal der Verschwundenen, die möglichen Orte der Massengräber und die Identität der Täter ermordet wurde, lässt immer noch auf die Brisanz dieses Themas für staatliche Akteure schließen. Der Fall Zacarías Barrientos zeigt daher besonders deutlich die lokalen Konstellationen von Opfern und Tätern und die Schwierigkeit der Aufarbeitung. Maríana Ramírez, Mitarbeiterin der FEMOSPP, sagte in einem Interview,84 dass er eine erste Zeugenaussage vor der FEMOSPP gemacht habe und daraufhin eine Richterin einen Haftbefehl gegen den Polizeichef Isidro Galeana Abarca ausstellte. Es war dies der erste Schritt gegen einen Täter aufgrund einer Zeugenaussage vor der FEMOSPP. Eine zweite Aussage von Barrientos sollte folgen. Jedoch an dem Tag, an dem die zweite Zeugenaussage stattfinden sollte, wurde er von unbekannten Tätern ermordet. Isidro Galeana Abarca flüchtete, sein geheimer Aufenthaltsort konnte nicht lokalisiert werden. Er verstarb schließlich im Jahr 2004 ohne zur Verantwortung gezogen worden zu sein. Die Ermordung von Zacarías Barrientos führte zu großer politischer Spannung in Atoyac und Angst bei den Angehörigen. Und auch dazu, dass niemand mehr bei der FEMOSPP vorsprechen wollte. Verschiedene Versionen über die möglichen Täter kursierten draufhin. So wurde etwa Isaías Martínez, Vater eines Verschwundenen, beschuldigt oder auch Mitg-
83 Dokumentarfilm: El Crimen de Zacarías Barrientos, 2008, Regie: Ludovic Bonleux, K Production. Frankreich. 84 Interview in: El Crimen de Zacarias Barrientos. 2008.
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lieder von Guerillabewegungen. Diese in der Öffentlichkeit zirkulierenden Versionen wurden jedoch von den Angehörigen als falsch bezeichnet, denn wollten Angehörige oder die Guerilla Zacarías Barrientos wegen Verrat ermorden, hätten sie dies schon vorher getan, so Tita Radilla von AFADEM im Interview.85 Ramírez erinnert sich, dass sich nach der Ermordung von Zacarías Barrientos die Perspektive der Angehörigen auf die Arbeit der FEMOSPP radikal verändert hatte. Aus Sicht der Opfer hatte sich nun die Funktion der FEMOSPP in Atoyac darauf reduziert, jene zu bedrohen und zu eliminieren, die als Überlebende des Schmutzigen Krieges galten. Tita Radilla von AFADEM resümierte über die FEMOSPP, dass diese nur zu mehr Enttäuschung unter den Angehörigen geführt habe. Statt der anfänglichen Hoffnung blieben nur Gefühle der Traurigkeit, des Verrats, der Indignation und der Wut darüber übrig, dass kein einziger Verantwortlicher für die Verbrechen der Vergangenheit ins Gefängnis gekommen ist. Für sie und andere Angehörige ist trotz der ambivalenten Rolle von Zacarías Barrientos eines klar: „Die Regierung ist verantwortlich für den Tod von Zacarías Barrientos.“86 (Ebd.) Er bleibt also auch den Angehörigen der Verschwundenen als weiteres Opfer des mexikanischen Staatsterrorismus in Erinnerung. Auch Miranda von der Universität Chilpancingo meint über den Fall Zacarías Barrientos: „Am 5. Mai 1971 meldete das Militär, dass es ,keine Festnahmen von Verbrechern gab‘, obwohl laut DFS an diesem Tag Zacarias Barrientos Peralta (025-R) festgenommen worden ist. Er wurde der Mitgliedschaft in der Brigada Campesina Ajusticiamiento del Partido de los Pobres (BCA-PP) beschuldigt und der Militärzone dieser Region überstellt. Er wurde jedoch wieder freigelassen und erneut festgenommen am 26. September 1974. Es gibt Hinweise, dass er dieses Mal vom Militär kooptiert wurde, um ihnen als Verräter zu dienen. Er wurde an den Straßenkontrollen des Militärs eingesetzt, um bei der Identifikation seiner früheren Kameraden zu kollaborieren, viele von ihnen wurden im Zuge dessen verschleppt. Im Jahr 2002 hat er sein Interesse kundgetan, mit der FEMOSPP zu kooperieren, um alles zu erzählen, was er über die Verschwundenen wusste. Er hat jedoch um Schutz gebeten. Dieser wurde ihm verweigert und einige Tage vor dem Datum, an dem er aussagen sollte, wurde er von Unbekannten ermordet; Unabhängige Menschenrechtsorganisationen vermuten, dass die Tat von Polizisten begangen wurde, die im ,Schmutzigen Krieg‘ beteiligt waren.“87 (Miranda 2006: 241)
85 Ebd. 86 „El gobierno es responsable por la muerte de Zacarías Barrientos.“ (Tital Radilla, ebd.) 87 „El 5 de mayo de 1971 el ejército reportó que ,no hubo detenciones de gavilleros’ aunque, conforme a la DFS, ese día si fue detenido Zacarías Barrientos Peralta (025-R) acusado de ser miembro de la Brigada Campesina Ajusticiamiento del Partido de los Pobres (BCA-PP), y quedó a disposición de la ZM en esa entidad. Sin embargo, fue liberado y nuevamente aprehendido el 26 de septiembre de 1974. Existen elementos para suponer,
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José Luis Arroyo Castro, der Zacarías Barrientos persönlich kannte, erinnert sich an ein Gespräch mit ihm. Er machte darin deutlich, dass sich Barrientos der Gefahren und Risiken, die seine Aussagen vor der FEMOSPP mit sich bringen würden, bewusst war. Trotzdem konnte er nicht mehr mit dieser Schuld leben und wollte nach Jahrzehnten des Schweigens und angesichts der neuen politischen Rahmenbedingungen der Transition über die Vergangenheit sprechen. Arroyo Castro, der Mitglied bei AFADEM war, meinte, dass sich die Angehörigen auch über die Wichtigkeit der Aussagen von Personen wie Barrientos ausgetauscht hatten: „Er wurde als Verantwortlicher für viele Fälle von Verschwindenlassen gesehen. (…) Als wir in Mexiko-Stadt waren, in einem internationalen Forum von FEDEFAM/AFADEM haben wir gesagt, dass wenn jemand sich schlecht fühlt aufgrund der Rolle, die er in früheren Jahren gespielt hat (…), aber im Laufe der Jahre die Dinge sich verändert haben, dass diese Person auch einen Beitrag leisten und zeigen könne, dass es nicht so war, wie die Leute meinen, um die Gründe zu erklären, warum die Dinge passiert sind. Es gab viele Leute, die aus verschiedenen Gründen, wegen der Festnahmen, den Morddrohungen, falsche Aussagen gemacht haben, Aussagen, die das eigene Leben oder jenes der Familie schützen sollten. All das haben wir im Laufe der Zeit erfahren und wir haben reflektiert, was die jeweilige Rolle verschiedener Personen war. Er [Zacarías Barrientos] hat mir erzählt, dass sie ihn festgenommen haben und sie ihn dann als Führer benutzt haben, um all diese Leute zu verraten. Er hat es gegen seinen Willen getan, weil sie ihm gedroht haben. All das wollte er vor der FEMOSPP aussagen.“88 (José Luis Castro Arroyo, Atoyac, 2010)
que esta vez fue cooptado por el ejército para que le sirviera de delator, toda vez que participaba en los retenes colaborando en la identificación de sus antiguos compañeros, originando que muchos fueran desaparecidos. Esta persona en el 2002, manifestó disposición a colaborar con la FEMOSPP para declarar todo lo que sabía sobre los desaparecidos, pero solicitaba protección porque temía por su vida, sin embargo, se la negaron y fue asesinado por desconocidos unos días antes de la fecha señalada para que declarara; los organismos defensores de derechos humanos independientes sospechan que fue ultimado por agentes policíacos involucrados en la ,guerra suciaދ.“ (Miranda 2006: 241) 88 „A él lo señalaban como responsable de muchas desapariciones. (…) Cuando nosotros estuvimos en México, en un foro internacional de FEDEFAM/AFADEM, ahí dejamos ver que lo importante era de que si alguien se sentía mal por el papel que había jugado en los años anteriores (...), pero que en este tiempo el tiempo había hecho cambiar todo y si podía contribuir tambien en dar un poquito de muestra de que no era como la gente o la sociedad lo venía señalando, sino dejar ver porque razones se dejaron ver todas esas cosas. Que fue mucha gente que por una cosa o otra, por las detenciones, por las amenazas de muerte, muchos cuando ya el gobierno los tenía, se tenían que hacer declaraciones falsas, declaraciones que eran para salvar su vida en ese momento o por salvar a su familia.
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Nach der Ermordung von Zacarias Barrientos wurden fünf angeblich Schuldige festgenommen und inhaftiert. Darunter seine Frau, Nachbarn und ein Menschenrechtsaktivist.89 Wie in vielen illegitimen und nicht rechtsstaatlichen Vorgehensweisen in Mexiko, sind bis heute zwei von ihnen, Benito Salgado und María de Jesús Martínez Reyes, im Gefängnis von Acapulco inhaftiert, ohne dass es Beweise für ihre Schuld gibt: „Benito Salgado und María de Jesús Martínez Reyes sind seit vier Jahren im Gefängnis, ohne dass ihnen ein Prozess gemacht wurde und ohne dass es Anklagen gegen sie gibt. Die Strafe von 20 Jahren wurde rückgängig gemacht, aber jetzt müssen sie ihre Unschuld beweisen und das, obwohl es keine Elemente gegen sie gibt.“90 (Wences Mina 2008)
Dass festgenommene Personen zunächst ihre Unschuld beweisen müssen und sie solange auch als Schuldige einer kriminellen Straftat behandelt werden, ist ein vielfach kritisiertes und illegales Vorgehen in Mexiko. Wie zahlreiche Menschenrechtsorganisationen immer wieder aufzeigen, ist der Normalzustand im scheinbaren Rechtsstaat, dass schuldige Täter freigesprochen und stattdessen Unschuldige als Schuldige gefangen gehalten werden. Auch die Konflikte rund um den Abschlussbericht der FEMOSPP machten die realpolitischen Machtverhältnisse in Mexiko deutlich.
Todo eso lo venimos conociendo y valorando durante muchos años de cual fue el papel de cada personaje. (…) El me contaba que lo tomaron prisionero y después como guía para supuestamente entregar a toda esa gente. Lo hacía en contra de su voluntad, estaba amenazado de muerte. Y todo eso lo quería decir en fiscalía.“ (José Luis Castro Arroyo, Atoyac, 2010) 89 Die Verhafteten waren: Benito Salgado Aguirre; Ramiro Rosas Contreras; Apolinar Ramírez Barrientos, Isaías Martínez Gervasio, María de Jesús Ramírez Gervasio. Vgl.: Se carean policías ministeriales con los presuntos asesinos de Zacarías Barrientos, El Sur de Acapulco vom 25.5.2004. 90 „Benito Salgado y María de Jesús Martínez Reyes están en la carcel después de cuatro años, sin ser juzgados y sin que haya cargos en su contra. La condena de 20 años que se les había impuesto fue anulada, y ahora ellos tienen que demostrar su inocencia cuando no hay elementos en su contra.“ (Wences Mina 2008)
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4.3.9 Der Bericht der FEMOSPP: Umkämpfte Wörter und Geschichten „Der Bericht der Femospp ist wertvoll, aber die Regierung hat ihn aufgegeben, als würde es sich um ein illegitimes Kind handeln, für das man keine Verantwortung übernimmt. (…) Fünf Jahre und 200 Millonen Pesos später haben wir weiterhin weder Gerechtigkeit noch Reparationen und die Wahrheit kam auf 861 Seiten in Form eines verwirrenden Berichtes.“ (Aguayo/Treviño 2006: 1)91
Ende 2005 wurde der Abschlussbericht der Untersuchungskommission FEMOSPP mit dem Titel Qué no vuelva a succeder (Es soll nicht wieder geschehen) an Sonderstaatsanwalt Carillo Prieto übergeben. Die darauf folgenden Ereignisse rund um den Bericht zeigen symptomatisch den gesamten Aufarbeitungsprozess des Konfliktes und die mit Macht verbundene Zirkulation von Wahrheiten und Erinnerungen. Die Resultate aus den umfassenden Recherchen der wissenschaftlichen Arbeitsgruppe der FEMOSPP aus den Archivmaterialien des mexikanischen Geheimdienstes, den Dokumenten des mexikanischen Militärs und den testimonios der Angehörigen von Verschwundenen sollten nicht publik gemacht werden. Im Februar 2006, nachdem sich innerhalb der FEMOSPP bereits abzeichnete, dass der Bericht nicht veröffentlicht werden sollte, wurde dieser der Presse und der USamerikanischen ForscherInnengruppe National Security Archive (NSA) an der George-Washington University übermittelt. Das NSA forscht zu staatsterroristischen Netzwerken in Lateinamerika und der damit in Zusammenhang stehenden Rolle der USA. Der von Seiten der mexikanischen Regierung nicht für die Öffentlichkeit bestimmte Bericht der FEMOSPP wurde auf der Homepage des NSA veröffentlicht und auch einige kritische mexikanische Medien berichteten darüber. Es war ein interner Widerstand des Forschungsteams der FEMOSPP gegen die offiziellen Blockaden und Hindernisse ihrer Arbeit und gegen die Weigerung des Staatsanwaltes und der mexikanischen Regierung, ihren Bericht zu veröffentlichen. Im Mai 2006 richteten zwei der AutorInnen des Abschlussberichtes einen Brief an Präsident Fox und an die mexikanische Öffentlichkeit: „Wir fordern, dass der Bericht an die [mexikanische] Gesellschaft in seiner letzten Version, die am 15. Dezember 2005 dem Sonderstaatsanwalt übergeben und von diesem an Präsident Fox weitergericht wurde - veröffentlicht und weitreichend verbreitet wird. Der Bericht hat ein
91 „El informe de la Femospp es valioso pero el gobierno lo dejó abandonado, como si se tratara de un hijo ilegítimo que no se quiere respaldar. (…) Cinco años y 200 millones de pesos después seguimos sin justicia ni reparaciones y la verdad nos llegó en las 861 páginas de un informe desconcertante (…).“ (Aguayo/Treviño 2006:1)
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klares Zielpublikum: die mexikanische Gesellschaft.“ (José Luis Moreno Borbolla und Agustín Evangelista Muñoz, 30.05.2006)92
Der Kampf um die legitime Darstellung und Version der Vergangenheit des Schmutzigen Krieges und der Verschwundenen setzte sich so in der mexikanischen Öffentlichkeit fort. Es folgte ein Skandal, in dessen Folge die Verantwortlichen für die Filtration aus den Reihen der FEMOSPP ausfindig gemacht werden sollten. Die Generalstaatsanwaltschaft veränderte daraufhin einige Stellen und Begriffe des ursprünglichen Berichtes und stellte eine abgeänderte Version schließlich am 18. November 2006 unter dem Titel Informe Histórico a la Sociedad Mexicana (Historischer Bericht an die mexikanische Gesellschaft) auf ihre Homepage, der jedoch später wieder entfernt wurde (vgl. Castillo García 2007). Im Kommentar dazu hieß es, dass der Bericht zur juristischen Überprüfung an das Instituto Nacional de Ciencias Penales übergeben worden sei. Wie jedoch Aguayo und Treviño (2007: 728) bemerken, verweilt der Bericht immer noch „im Limbus, da niemand deutlich macht, ob es sich um eine definitive Version oder einen Entwurf einer Institution handelt, an die sich niemand erinnern will. Und dies bedeutet die Abwesenheit einer offiziellen Wahrheit.“93 Die Ereignisse rund um den Bericht stellen einen erneuten Versuch dar, die Geschichte über die Verschwundenen erneut verschwinden zu lassen. Symbolisch wurden die Verschwundenen dadurch nochmals ihrer Identität und Subjektivität beraubt. Aufgrund der Weigerung der mexikanischen Regierung, den Abschlussbericht zu veröffentlichen, publizierte ihn schließlich das Comité 68, ein Zusammenschluss von Überlebenden des Massakers von Tlatelolco, im Jahr 2008 (vgl. Comité 68: 2008). Anhand des Vergleichs einiger Aspekte des Originalberichtes Qué no vuelva a succeder (FEMOSPP 2006, QNVS) mit dem Bericht Informe Histórico a la Sociedad Mexicana (FEMOSPP 2006, IHSM) wird deutlich, welche politische Brisanz die Untersuchungen für die mexikanische Regierung immer noch haben. Die Begrifflichkeiten, die gegenüber dem Original gelöscht oder verändert wurden, zeigen besonders deutlich die Problematik. So heißt es im Originalbericht: „Die mexikani-
92 „Exigimos se publique y difunda ampliamente el Informe a la sociedad en su versión final, el cual se entregó al Fiscal Especial el 15 de diciembre del 2005, y el que se entregó al Presidente Vicente Fox, por parte de la fiscalía. El Informe tiene un destinatario unívoco: la sociedad mexicana.“ (José Luis Moreno Borbolla und Agustín Evangelista Muñoz, 30.05.2006).
Unter:
http://www.gwu.edu/~nsarchiv/NSAEBB/NSAEBB180/letter_
limonetaltofox.pdf (Letzter Zugriff 30.04.2014). 93 „(…) en el limbo porque nadie aclara si estamos ante la versión definitiva o ante un borrador elaborado por una dependencia de la cual nadie quiere acordarse y eso significa la ausencia de una verdad oficial.“ (Aguayo und Treviño2007: 728)
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sche Gesellschaft hat das Recht, Wahrheit und Gerechtigkeit zu erfahren hinsichtlich der Verbrechen, die im Namen des Staates begangen wurde.“94 (FEMOSPP 2006, QNVS: 2) Zwei Begriffe wurden dann in der neuen Version geändert. Verbrechen wurde durch hechos (Ereignisse) und estado (Staat) durch autoritäres Regime ersetzt (FEMOSPP 2006, IHSM: 7). Mit diesen Umformulierungen grenzte sich die mexikanische Regierung von der Existenz jeglicher Staatsverbrechen ab, die im Originalbericht folgend beschrieben werden: „Der Kampf, den der Staat gegen diese Gruppen geführt hat (…), die sich in Studentenbewegungen und in Volksaufständen organisierten, hat den legalen Rahmen überschritten und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur Folge. Diese umfassten Massaker, erzwungenes Verschwindenlassen, systematische Folter, Kriegsverbrechen und Genozid, indem der Staat versuchte, diesen Sektor der Gesellschaft zu zerstören, den dieser aus ideologischen Gründen als Feind betrachtete.“95 (FEMOSPP 2006, QNVS: o.S.).
Auf den ersten Seiten des Berichtes heißt es zu den von staatlichen Akteuren angewandten Methoden im Schmutzigen Krieg in der Sierra de Atoyac: „[R]egistriert wird die Teilnahme der Streitkräfte in willkürlichen Festnahmen, erzwungenem Verschwindenlassen, Folter und Misshandlungen, (…) Mord, Geiselnahme,
Plünderung,
(…) Konzentrationslager im Militärcamp von Atoyac, in der Luftwaffenbasis Nr. 7 und im Militärcamp Nr. 1., terroristische Aktionen wie die Belagerung von comunidades, Hunger als Kriegsmethode gegen die Zivilbevölkerung, Zerstörung sozialer Netzwerke; (…) Massaker, Attacken wie Bombardierungen aus der Luft;“96 (FEMOSPP 2006, QNVS: o.S.)
94 „La sociedad mexicana tiene derecho a conocer la verdad y a que se haga justicia respecto a esos crimenes cometidos al amparo del Estado.“ (FEMOSPP 2006, QNVS: 2) 95 „El combate que el Estado comprendió en contra de estos grupos (…) – que se organizaron en los movimientos estudiantiles, y en la insurgencia popular – se salió del marco legal e incurrió en crímenes de lesa humanidad que culminaron en masacres, desapariciones forzadas, tortura sistematica, crímenes de guerra y genocidio – al intentar destruir a este sector de la sociedad al que consideró ideológicamente como su enemigo.“ (FEMOSPP 2006, QNVS: o.S.) 96 „.[S]e documenta la participación de las fuerzas armadas en detenciones arbitrarias; desapariciones forzadas; tortura y tratos crueles; (…); homicidios, toma de rehenes; pillaje, (…) campos de concentración en el cuártel de Atoyac, Base Aérea Número Siete y Campo Militar Número Uno, Actos de Terrorismo como estado de sitio a las comunidades, hambre como método de guerra en contra de civiles, ruptura del tejido social; (…) masacres, ataques indiscriminados como bombardeos aéreos;“ (FEMOSPP 2006, QNVS:o.S.).
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Die AutorInnen positionierten sich im Bericht eindeutig auf der Seite der Opfer und der Verschwundenen. Die fehlende Neutralität wurde von der mexikanischen Regierung kritisiert und argumentiert, dass zudem das ExpertInnenteam der FEMOSPP eine klare Positionierung gegen die Institution des Militärs einnehme, die nicht vertretbar sei. So heißt es in der Einleitung: „Der Bericht (…) solidarisiert sich mit der Trauer der Verstorbenen, mit jenen, die weiterhin vermisst sind ebenso wie mit den Angehörigen und den Freunden undplädiert für ein ,Es soll nie wieder geschehen‘!“97 (FEMOSPP 2006, QNVS: o.S.) Der juristisch brisante Terminus Erzwungenes Verschwindenlassen, der Teil des humanitären Völkerrechtes ist und als Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht verjährt, wurde in der Version des Regierungsberichtes durch die mildere Straftat Illegaler Freiheitsentzug ersetzt. Des Weiteren wurden angewandte Methoden der Aufstandsbekämpfung und Begriffe wie tierra arrasada (verbrannte Erde), campos de concentración (Konzentrationslager) oder die Bombardierungen im Stile von aldeas vietnamitas (vietnamesische Dörfer) gestrichen. Politisch brisant waren auch die detaillierten Informationen aus den Dokumenten des Verteidigungsministerums und des Geheimdienstes. So wurden Berichte über Militäroperationen in Guerrero aufgelistet, Verhaftungen von zivilen Personen durch Soldaten oder Namen von Soldaten, die an den Operationen beteiligt waren. Die Debatte um den Bericht zeigte abermals die Kontinuität des Einflusses der ehemaligen Täter im mexikanischen politischen System. Von einer Lustration im Sinneder Säuberung des Staatsapparates von den Tätern – wie im TransitionalJustice- Instrumentarium vorgesehen – kann also im Falle Mexikos nicht gesprochen werden. Im Gegenteil, der politische Einfluss des Militärs und der mächtigen „Revolutionären Familie“ blockiert weiterhin die von den Opfern geforderte Aufarbeitung der Verbrechen.
97 „El Informe [...] se une al duelo de los que murieron, de los que siguen desaparecidos, asi como de sus familiares y de sus compañeros, haciendo votos ¡para qué esto no vuelva a suceder!“ (FEMOSPP 2006, QNVS: o.S.)
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4.3.10 Die Revolutionäre Familie: Der Einfluss des Militärs „Der Mann, der meinen Vater festgenommen hat, war Castro Contreras, Kommandant der Kriminalpolizei in Acapulco. Dieser Mann lebt noch! (…) Er weiß sehr gut, was er gemacht hat und er kann sprechen und er kann sagen, wo all diese Menschen sind! Warum nicht? So wie wir ein Zeugnis ablegt über unsere Angehörigen, könnte er Zeugnis ablegen über das, was er gemacht hat und die Regierung könnte den Schaden ersetzen, den er verursacht hat. Worauf warten sie noch?“98 (Doña María, Atoyac, 2010)
Doña María erzählt, dass sie genau wissen würden, wer ihren Vater verschleppt habe. Jetzt seien doch auch die Täter an der Reihe testimonio abzuliefern darüber, was sie getan haben. Worauf warten sie also noch? Eine Frage, die immer noch viele Angehörige aussprechen, obwohl sie im Laufe der Transitionsphase erkannt haben, dass die Regierung keinen politischen Willen und kein Interesse hat, die Verbrechen aufzuklären und die Täter zu bestrafen. „[V]icente Fox sided, both verbally and in some of its early decisions, in favor of truth and justice“, meinenAguayo, Treviño und Pallais (2006: 56). Doch was war passiert zwischen der anfänglichen Aufbruchstimmung im Jahr 2000 und dem Ende der FEMOSPP? Bereits nach dem Einsetzen der FEMOSPP wurde klar, dass der Aufklärungunsprozess nicht ohne Schwierigkeiten ablaufen würde. Dies hatte einerseits mit der Situation der Angehörigen der Verschwundenen zu tun und andererseits auch mit finanziellen Möglichkeiten der Täter. Die mexikanischen Wissenschaftler Aguayo, Treviño und Pallais, die sich eingehend mit dem Transitional-Justice-Prozess in Mexiko beschäftigt haben, beobachteten Folgendes: „The special prosecutor´s office began its work under difficult circumstances. In the one hand, there was pressure from the victims, justifiably angry after waiting for decades, whose expectations had now been raised by the official discourse. On the other hand, the time element worked against effective action: the memories of some witnesses were fading, others were reluctant to testify, and evidence was missing. Finally, the alleged perpetrators had extensive financial resources to pay for very good lawyers.“ (Aguayo/Treviño/Pallais 2006: 61).
Ein weiterer Hinderungsgrund für die Aufklärung war, dass einer der wichtigsten Akteure für eine mögliche Aufarbeitung der Verbrechen der Vergangenheit – das
98 „El señor que detuvo a mi papá era Castro Contreras, comandante de la Judicial en Acapulco. ¡Este señor existe! (…) ¡Bien sabe lo que hizo y puede hablar y el puede decir a donde quedaron esa gente! ¿Por qué no? Así como da uno testimonio de su familiar, el puede dar testimonio de lo que hizo y que el gobierno recopile los daños que causó. ¿Y ahora a qué está esperando?“ (Doña María, Atoyac, 2010)
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Verteidigungsministerium – nicht bei den Untersuchungen der FEMOSPP kooperierte. Sie blockierten den gesamten Wahrheitsfindungsprozess (vgl. Aguayo/ Treviño/Pallais 2006). Die auch vom Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte (Corte Interamericana de Derechos Humanos, CIDH) kritisierte ambivalente Situation ist dabei: „In its view, military personnel accused of abuses during the repression were obeying orders from civilian presidents and in any case could be tried only by military courts.“ (Ebd.: 62) Dass Mitglieder der mexikanischen Streitkräfte auch vor zivilen Gerichten der Prozess gemacht werden kann, wurde schließlich durch politischen Druck und eine Gesetzesänderung erst im Jahr 2011 möglich. Ebenso wie Menschen hat man auch Spuren und Dokumente der Täter verschwinden lassen. Die einzigen drei Mitglieder des Militärs, die wegen Verbrechen während des Schmutzigen Krieges vor Gericht standen, wurden freigesprochen, da die Beweise angeblich verloren gegangen waren (vgl. ebd.). Adolfo Aguilar Zínser, ehemaliger Koordinator der von Fox ursprünglich angestrebten Wahrheitskommission im Jahr 2001, der unter anderem auch begann, das Netzwerk des CISEN des mexikanischen Geheimdienstes zu erforschen, machte 2004 eine ernüchternde Aussage: „I have no doubt that CISEN continues to serve the individuals and groups of the old regime.“ (Zínser in: ebd.: 65). Auch seine Forschungen zum CISEN kamen nie an die Öffentlichkeit. Aguayo stellt für die sogenannte Transitionsregierung der PAN resigniert fest: „Whereas other Latin American countries are making important steps in the scrutiny of their past, Mexico has neither truth nor justice.“ (Ebd.) Dass das nicht angestrebt war, zeigte sich auch an den massiven Interessenkonflikten innerhalb der FEMOSPP. So nahm der Sonderstaatsanwalt, Carrillo Prieto, einen ehemaligen Agenten der politischen Polizei DFS, Américo Meléndez, als Direktor der Untersuchungskommission auf. Dieser war zur Zeit des Schmutzigen Krieges unter anderem dafür zuständig gewesen, verdächtige Guerrilleros zu verhören (ebd.: 62). Sonderstaatsanwalt Carillo Prieto wird auch vorgeworfen, dass er in der Verfolgung der Täter juristische Konzepte anwandte, die keine Aussicht auf Erfolg hatten. So meinte er, dass Echeverría der Prozess wegen Genozids aufgrund der Massaker von 1968 und 1971 gegen Studierende gemacht werden könne. Unter das juristische Konzept Genozid fällt der Versuch der Tötung einer nationalen Gruppe aufgrund seiner ethnischen, religiösen oder „rassischen“ Zugehörigkeit. Carillo Prieto argumentierte, dass auch Studierende eine nationale Gruppe seien und es sich daher um politischen Genozid handle. „Politischer Genozid“ ist jedoch in keinem juristischen Instrument verankert und kann daher nicht angewandt werden. Die Anklage wegen Genozids gegen Echeverría wurde daher auch vom Obersten Gerichtshof abgelehnt. War es also gar nicht angestrebt, dem Diskurs von Gerechtigkeit und Versöhnung, den Carillo Prieto zu Beginn seiner Tätigkeit einforderte, auch realpolitisch nach-
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zugehen? Wie Ignatieff meint, ist die Möglichkeit von Gerechtigkeit und in weiterer Folge von Versöhnung auch eine Frage der Identitäten: „The idea that reconciliation depends on shared truth presumes that shared truth about the past is possible. But truth is related to identity. What you believe to be true depends, in some measure, on who you believe yourself to be. And who you believe yourself to be is mostly defined in terms of who you are not.“ (Ignatieff 1996: 113)
Auch in Mexiko teilt sich die historische Wahrheit, wie in anderen regionalen Kontexten der Aufarbeitung von Verbrechen, in jene der Opfer und jene der Täter. Die Dichotomisierung dieser Identitäten bestimmt das Feld, wo um die Repräsentation der jeweiligen Wahrheit gekämpft wird. Eine Versöhnung im Sinne einer gemeinsamen Wahrheit über die Vergangenheit ist unter diesen Voraussetzungen kaum möglich. Die Wahrheit aus der Sicht der Täter, also die Verteidigung der nationalen Souveränitat vor interner und externer Subversion, wird im öffentlichen Diskurs eines Großteils der politischen Elite Mexikos aufrechterhalten. Diese steht im Gegensatz zur Wahrheit der Opfer, deren Interpretation der Vergangenheit von den Gewalterfahrungen und vom Verschwindenlassen ihrer Familienangehörigen geprägt ist. Wie Ignatieff treffend feststellt, ist die Wahrheit auch mit der Frage von Gruppenidentität verbunden: „Resistance to historical truth is a function of group identity. (…) Regimes also depend for their legitimacy on historical myths which are armoured against the truth.“ (Ebd.: 118) Und so beziehen sich die politischen Eliten Mexikos in ihrer Darstellung der Wahrheit auf den historischen Mythos der Mexikanischen Revolution und die Rolle der Institution Militär, die diesen Mythos gegen interne und exteren Gefahren verteidigen muss. Die Seite der institutionellen und faktischen Macht ist dabei jene, die ihre Wahrheit über die Vergangenheit auch in der Vergangenheit belassen will. Die PRI-Partei – die Mitglieder der mächtigen Revolutionären Familie (vgl. Langston 2002) Mexikos, wie sie stets genannt wird und aus deren Reihen die Täter kommen – hat im Transitionsprozess erheblichen politischen Einfluss behalten. Es sind dies die veto players oder political spoilers, wie Jelena Subotic (2009: 33) jene alten Eliten99 nennt, die den Transitionsprozess hin zur Aufarbeitung der Vergangenheit und Demokratisierung auf einer strukturellen Ebene behindern und eine Aufklärung der Verbrechen sowie eine Bestrafung der Täter verhindern. „The Mexican political system historically has been famous among Latin American political regimes for its long-lived stability under the rule of a predominant one-party state.“ (Langston 2002: 61).
99 Vgl. zu Macht und Einfluss der Revolutionären Familie der PRI-Partei auch Scherer (2007).
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Angesichts der kurzen Transitionsperiode seit 2000, wo zwar offiziell eine andere Partei, inoffiziell jedoch immer noch der mächtige Einfluss der Revolutionären Familie intakt blieb, war nicht zu erwarten, dass es auf einer strukturellen Ebene zu Transformationen kommen würde. Neben dem Einfluss der veto players bestimmt auch die Tatsache, dass auch für die Transitionsregierungen die historische Bedeutung und wichtige Rolle des mexikanischen Militärs bestehen bleibt, den Aufarbeitungsprozess. Nationale Sicherheit steht immer noch vor einer Aufklärung über die Verbrechen der Vergangenheit. Die subversiven Feinde der 1970er Jahre, die Nazar Haro, ehemaliger Geheimdienstchef der Dirección Federal de Seguridad, während des Schmutzigen Krieges als „Abenteurer, die die Macht wollten“ (Nazar Haro zit. in: Castellanos 2007: 313), bezeichnete und als Feinde der Nation eliminieren ließ, werden in diesem staatlichen Diskurs immer wieder aufs Neue konstruiert. Die kontinuierliche Existenz mehrerer bewaffneter Guerillabewegungen im ruralen Mexiko seit den 1960er und 1970er Jahren macht die Verteidigung der nationalen Sicherheit durch Militarisierung von Territorien und dem Einsatz von Methoden der Aufstandsbekämpfung ebenso für die mexikanischen Regierungen der Gegenwart zur unabwendbaren Notwendigkeit. Im Jahr 2005 hat der mexikanische Geheimdienst CISEN (Centro de Investigación y Seguridad Nacional) festgestellt, dass fünf bewaffnete Gruppen „den sozialen Frieden und die nationale Sicherheit bedrohen können“ (ebd.: 332). Im Jahr 1999 stellte das Verteidigungsministerum fest, dass in Mexiko sechzehn Guerillabewegungen existieren. Diese hätten eine vermutete Unterstützungsbasis von 30.000 Personen, die sich in 167 verschiedene politische und soziale Organisationen aufteilen würden (ebd.: 330). Aufgrund der Kontinuität von sozialer Ungleichheit, von Armut, Marginalisierung und repressiver staatlicher Praxis gegenüber sozialer und politischer Dissidenz greifen einige MexikanerInnen ähnlich den Konstituierungsprozessen bewaffneter Bewegungen der Vergangenheit auch in der Gegenwart immer noch zu den Waffen. Und bewaffnete Bewegungen, die ihren Ursprung in den 1960er und 1970er Jahren haben wie das Ejército Zapatista de Liberación Nacional (EZLN) in Chiapas oder das Ejército Popular Revolucionario (EPR) in Guerrero sollen immer noch durch die bekannten staatsterroristischen Methoden eliminiert werden. Mord, Folter, Verschwindenlassen, sexuelle Gewalt, Übergriffe auf die Zivilbevölkerung, Angst, Terror, psychologische Kriegsführung, Einsatz von paramilitärischen Kräften verursachen dabei lediglich Kollateralschäden im Dienst des vermeintlich sozialen Friedens der Nation. Dass also das Militär als zentraler Pfeiler des Staates nicht angegriffen wird, ist nur logische Konsequenz. Dies zeigte sich auch deutlich im Jahr 2002 inmitten des Diskurses um die Aufklärung der Verbrechen der Vergangenheit. Mexikos Transitionsregierung ratifizierte in diesem Jahr die Convención Interamericana sobre Desaparición Forzada de Personas (Interamerikanische Konvention über erzwungenes Verschwindenlassen von Personen). Als einziges Land der lateinamerikanischen Unterzeichnerstaa-
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ten100 fügte jedoch die mexikanische Regierung gleichzeitig zwei Ergänzungen hinzu, eine Vorbehaltsklausel (reserva), die das Militär betrifft und eine interpretative Erklärung (declaración interpretativa), die den zeitlichen Aspekt betrifft. Durch diese beiden kurzen Zusätze hat die mexikanische Regierung die Konvention de facto für ungültig erklärt und die Bestrafung von Tätern im Fall von erzwungenem Verschwindenlassen aus der Zeit des Schmutzigen Krieges unmöglich gemacht. Die Zusätze lauten: Vorbehaltsklausel zum Zeitpunkt der Ratifizierung (9. April 2002): „Die Regierung der Vereinigten Staaten von Mexiko formuliert zum Zeitpunkt der Ratifizierung der Interamerikanischen Konvention über erzwungenes Verschwindenlassen von Personen, angenommen in Belém, Brasilien am 9. Juni 1994, eine Vorbehaltsklausel zum Artikel 14, da die politische Verfassung die militärische Sondergerichtsbarkeit anerkennt, wenn ein Militär einen illegitimen Akt während seines Dienstes begangen hat.“101 Interpretative Erklärung zum Zeitpunkt der Ratifizierung (9. April 2002): „Auf der Basis von Artikel 14 der politischen Verfassung der Vereinigten Staaten von Mexiko, erklärt die mexikanische Regierung zum Zeitpunkt der Ratifizierung der Interamerikanischen Konvention über erzwungenes Verschwindenlassen von Personen, angenommen in Belem, Brasilien am 9.Juni 1994, dass die Inhalte dieser Konvention auf Ereignisse angewandt
100 Die Unterzeichnerstaaten sind (das erste Datum ist der Zeitpunkt der Unterzeichnung, das zweite jenes der Ratifizierung RA. Ist nur ein Datum angezeigt, wurde die Konvention noch nicht ratifiziert): Argentinien 06/10/94, 02/28/96 RA, Bolivien .09/14/94, 05/05/99 RA. Brasilien 06/10/94. Chile 06/10/94. Kolumbien: 08/05/94, 04/12/05 RA. Costa Rica: 06/10/94, 06/02/96 RA. Ecuador: 02/08/00, 07/27/06 RA. Guatemala: 06/24/94, 02/25/00 RA. Honduras: 06/10/94, 07/11/05 RA. Mexiko: 05/04/01, 04/09/02 RA. Nicaragua: 06/10/94. Panamá: 10/05/94, 02/28/96 RA. Paraguay: 11/08/95, 11/26/96 RA. Peru: 01/08/01, 02/13/02 RA. Uruguay: 06/30/94, 04/02/96 RA. Venezuela: 06/10/94, 01/19/99. Información General del Tratado, Convención Interamericana sobre Desaparición Forzada de Personas. Unter: http://www.oas.org/juridico/spanish/firmas/a-60.html (Letzter Zugriff: 30.04.2014). 101 Reserva hecha al momento del depósito del instrumento de ratificación (9 de abril de 2002): „El Gobierno de los Estados Unidos Mexicanos al ratificar la Convención Interamericana sobre Desaparición Forzada de Personas, adoptada en la Ciudad de Belem, Brasil el 9 de junio de 1994, formula reserva expresa al Articulo IX, toda vez que la Constitución Política reconoce el fuero de guerra, cuando el militar haya cometido algún ilícito encontrándose en servicio.“ Unter: http://www.oas.org/juridico/spanish/ firmas/a-60.html (Letzter Zugriff: 30.04.2014).
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werden, die erzwungenes Verschwindenlassen von Personen betreffen, die nach dem Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser Konvention befohlen, ausgeführt und begangen wurden.“102
Ob ein Transitionsprozess mit Gerechtigkeit gleichgesetzt werden kann und ob dieser möglich ist, hängt immer von der Verortung der Macht der früheren Täter ab. So wurde etwa von Comité Eureka kritisiert, dass die Comisión Nacional de Derechos Humanos (CNDH), die mit der Dokumentation der Fälle der Verschwundenen begann, ein engendro (Ausgeburt)103 von Salinas de Gortari (1988 – 1994) sei. Der ehemalige mexikanische Präsident Salinas de Gortari ist einflussreiches Mitglied der Revolutionären Familie der PRI und übt bis in die Gegenwart großen Einfluss aus. So war er unter anderem auch zentraler Akteur in den politischen Bestrebungen der PRI, die Präsidentschaftswahlen im Jahr 2012 wieder zu gewinnen. Zu den weiteren Elementen der Blockierung in der möglichen Bestrafung von Tätern zählt auch ein anderes Gesetz. Dieses Gesetz besagt, dass Menschen ab einem Alter von 70 Jahren, die verurteilt werden, ihre Strafe nicht im Gefängnis verbringen müssen, sondern unter Hausarrest gestellt werden. Dieses Gesetz wurde im Jahr 2004 verabschiedet, kurz nachdem Miguel Nazar Haro, der ehemalige Direktor des Geheimdienstes Dirección Federal de Seguridad, verurteilt wurde. Er wurde dann retroaktiv in sein Haus überstellt (vgl. Aguayo/Treviño/Pallais 2006). „It is still impossible today to evaluate the motivations of the various participants in the FEMOSPP of to know for certain that Fox‘s government negotiated with the old regime so that the past would not be confronted in a serious manner.“ (Ebd.: 64) Das Problem der mexikanischen Untersuchungskommission FEMOSPP war also, dass zwar der Anspruch bestand, die Wahrheit über die Vergangenheit in die Öffentlichkeit zu bringen, dies jedoch noch keine Garantie für soziale, politische und institutionelle Veränderungen sein musste. Oder wie Ignatieff es formuliert: „The military, security and police establishments were prepared to let the truth come out about individual cases of disappearance. But they fought tenaciously
102 Declaración interpretativa hecha al momento del depósito del instrumento de ratificación (9 de abril de 2002): „Con fundamento en el articulo 14 de la Constitución Política de los Estados Unidos Mexicanos, el gobierno de México, al ratificar la Convención Interamericana sobre Desaparición Forzada de Personas, adoptada en la ciudad de Belem, Brasil, el 9 de junio de 1994, se entenderá que las disposiciones de dicha Convención se aplicarán a los hechos que constituyan desaparición forzada de personas, se ordenen, ejecuten o cometan con posteridad a la entrada en vigor de la presente Convención.“ Unter:
http://www.oas.org/juridico/spanish/firmas/a-60.html
(Letzter
Zugriff:
30.04.2014). 103 Siehe Zeitschrift ¡Eureka! 2007, Nr. 1: S. 5. Unter: http://comiteeureka.org.mx/ periodico/Eureka_01.pdf (Letzter Zugriff 30.04.2014).
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against prosecutions of their own people and against shouldering responsibility for their crimes.“ (Ignatieff 1996: 112) Die PAN-Partei, die noch im Wahljahr 2000 als eine Partei betrachtet wurde, die wie die PRD eine demokratische Alternative für die WählerInnen (vgl. Langston 2002) angeboten hatte, kann im Nachhinein nicht mehr als solche gesehen werden. Für ein Verständnis der Praxis des Staatsterrorismus in den 1970er Jahren und der fehlenden Aufarbeitung bis in die Gegenwart muss in diesem Zusammenhang auf die in den Strukturen des politischen Systems festgeschriebene Kultur der Straflosigkeithingewiesen werden. Der mexikanische Schriftsteller Julio Scherer (2007) nimmt darauf Bezug, wenn er historische und rezente Aspekte politischer Machtausübung in Mexiko erklärt. Politik wird dabei nicht vor dem Hintergrund gesetzlicher Grundlagen gemacht, die Ausübung von Macht nicht auf eine Legitimitätsgrundlage gestellt, sondern Politik und Macht vollziehen sich im Schatten der Öffentlichkeit in kleinen Zirkeln politischer und ökonomischer Eliten und im rechtsfreien Raum.104 Eine Untersuchungskommission kann also keine Spaltung in der Gesellschaft überwinden, wie dies zuvor als Ziel propagiert wurde. Sie kann bestenfalls die Lügen über die Vergangenheit reduzieren (Ignatieff 1996). Dies war auch das einzige Verdienst der FEMOSPP in Mexiko. Durch das Einsetzen der Untersuchungskommission FEMOSPP war erstmals eine öffentliche Diskussion in den Medien möglich, unterschiedliche Aspekte des Schmutzigen Krieges, von denen vorher nur die direkt Betroffenen, die Opfer, Menschenrechtsorganisationen und kritische JournalistInenn und AktivistInnen wussten, einer breiteren Bevölkerung zugänglich zu machen. Erstmals sprach man von den Verschwundenen, von den Todesflügen, von den Geheimgefängnissen, von Folter und extralegalen Erschießungen und der Rolle und Beteiligung des Militärs, der Polizei, des Geheimdienstes und der politischen Eliten der Revolutionären Familie der PRI. Im Folgenden soll auf die Nachfolgeregierung der ersten sechs Jahre der Transitionszeit unter der PAN eingegangen werden. Es wird dabei deutlich werden, dass es nicht nur eine Kontinuität der Kultur der Straflosigkeit aus der Zeit der PRIRegierung und der ersten Transitionsregierung der PAN unter Vicente Fox gab, sondern dass mit der Regierungszeit von Felipe Calderón (2006 – 2012) eine neue Dimension der politischen Gewalt in Mexiko begonnen hatte. Diese Phase der politischen Gewalt ist erneut bestimmt durch die Rolle des Militärs und der Polizei als zentrale Akteure der Aufstandsbekämpfung. Auf diese neuen Prozesse wird im letzten Teil der Arbeit (Kap. 7) eingegangen werden. Zunächst aber werden die weite-
104 Auch zahlreiche künstlerische Medien, wie der mexikanische Film, beschäftigen sich mit der im politischen System Mexikos verankerten Kultur der Straflosigkeit und der Macht der PRI-Partei. So zum Beispiel La Ley de Herodes oder En la sombra del caudillo.
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ren Entwicklungen nach der Schließung der FEMOSPP hinsichtlich der Politik der Aufarbeitung des vergangenen Schmutzigen Krieges skizziert. Der neue Schmutzige Krieg von Präsident Felipe Calderón kann in diesem Zusammenhang als weitere Friktion für einen erfolgreichen Transitional-Justice-Prozesses betrachtet werden.
4.4 F RIKTIONEN : C ALDERÓN UND DAS M ILITÄR – VERSCHWUNDENE D OKUMENTE „3000 Soldaten (…) umringen den Präsidenten, begleiten ihn auf Schritt und Tritt. Unser Land wird weiterhin von einigen wenigen verschlungen.“105 (¡Eureka!2007: 5)
Aus der Perspektive der Angehörigenorganisation Comité Eureka wird Mexiko seit jeher durch einige wenige verschlungen (depredado). Die Verwendung des Begriffs depredado, welcher aus der Tierwelt kommt und das Auffressen eines Kadavers durch Aasgeier bezeichnet, symbolisiert das metaphorische Auffressen der Ressourcen des Landes durch die politische und militärische Elite. Dies wurde besonders deutlich seit der Amtsübernahme von Felipe Calderón (PAN) im Jahr 2006. Calderón ist ein Anhänger des Militärkults, wie der mexikanische Anthropologe Luis Hernández Navarra meinte (2010), da er sich sehr stark mit den mexikanischen Streitkräften identifiziere. Eine Tatsache, die sich auch symbolisch daran zeigte, dass er als erster ziviler Präsident Mexikos in Militäruniform in die Öffentlichkeit trat. Im Jahr 2006 deklariert Präsident Felipe Calderón den Krieg gegen den Drogenhandel (guerra contra el narcotráfico). Angesichts der zunehmenden Ausbreitung der politischen und ökonomischen Macht der Drogenkartelle über große Teile des mexikanischen Territoriums setzte er das Militär ein, um die organisierte Kriminalität zu bekämpfen und die Kontrolle über das verlorene Staatsgebiet wiederzuerlangen. Calderón erklärte den auf mexikanischem Territorium agierenden Drogenkartellen106 den Krieg und sandte seine Streitkräfte aus, um die verlorenen Territorien zurückzuerobern: „Wir werden alle, alle uns zur Verfügung stehenden Mittel einsetzen, um die Kontrolle des Staates und seiner Territorien auf allen Ebenen zu-
105 „3000 soldados [...] rodean al presidente, flanqueando su paso. Nuestro país sigue siendo depredado por unos cuantos.“ (¡Eureka! 2007: 5, unter: http://comiteeureka.org.mx/ periodico/Eureka_01.pdf (letzter Zugriff: 30.04.2014). 106 Es sind dies die Kartelle von Sinaloa, Juárez, Golfo, Tijuana, Los Zetas, La Familia Michoacana und Beltrán Leyva. Es gibt auch kleinere lokal agierende Kartelle wie jenes von Guadalajara oder Milenio. Vgl. für die Entwicklung der Drogenkartelle und detaillierte Analysen zum aktuellen Konflikt Ravelo 2011, Hernández 2010, Reveles 2010, Rodríguez Castañeda 2010, Valdés Castellanos 2013.
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rückzugewinnen.“107 Trotz dieses kriegerischen Diskurses schrieb sich auch Präsident Calderón die Fortsetzung der Politik der Transition von Vicente Fox, in der Menschenrechte und die Aufarbeitung und Aufklärung der Verbrechen des Schmutzigen Krieges wichtige Aspekte waren, auf die politischen Fahnen. Ist jedoch angesichts der bedeutsamen Rolle des Militärs für Calderón der politische Wille nach einer weiteren Untersuchung der Verbrechen der Vergangenheit wirklich gegeben? Ebenso wie Fox, behielt auch Calderón seinen doppelten Diskurs bei und erweckte den Anschein, als ob er auf der Seite der Angehörigen der Verschwundenen sei. Er ordnete an, alle Dokumente der Angehörigen, die zunächst in der FEMOSPP bearbeitet wurden, nun im Comité Interdisciplinario (Interdisziplinäres Komitee) der PGR (Procuraduría General de la República) weiterzubearbeiten. Angehörige und Menschenrechtsorganisationen bezeichneten jedoch sogleich die repetitiven Versprechen der Regierung Calderón und die erneute Erweckung von Hoffnung ohne Ergebnisse zu präsentieren als reine Hinhaltetaktik. Wie José Luis Arroyo Castro, Neffe eines Verschwundenen, aus Atoyac meint: „Die Regierung wartet nur, dass alle Zeugen und Angehörigen sterben!“108 (Arroyo Castro, Atoyac 2009) Es gibt bisher zahlreiche Hinweise dafür, dass die beiden mexikanischen Regierungen der Transitionen den Tätern des alten Regimes bereits eine De-Facto Amnestie gewährt haben (Aguayo/Treviño/Pallais 2006). Sergio Aguayo klagt an, dass Felipe Calderón verantwortlich für die Fortsetzung der Nicht-Aufarbeitung des Schmutzigen Krieges sei, da er die gesamten Dokumente der Kommission FEMOSPP verschwinden ließ. Aguayo109 sagte in der Diskussionsfernsehsendung des Canal Once: „Ich kann die Politik von Felipe Calderón hinsichtlich des insistierenden Aufrufs zur nationalen Einheit nicht verstehen (…), wenn es doch seine Regierung war, die die Dokumente der Sonderstaatsanwaltschaft FEMOSPP absichtlich verschwinden hat lassen. Das heißt, die gesammelten Dokumente, die am letzten Tag der Regierung [Fox] der Generalstaatsanwaltschaft [PGR] übergeben wurden, sind verschwunden und nicht auffindbar. Die PGR hat auf
107 Calderón
im
Jahr
2006,
siehe
unter:
http://www.youtube.com/watch?v=
NcSNXBuON8c (Letzter Zugriff: 30.04.2014). Für weitere Deklarationen zum Drogenkrieg siehe auch die Homepage der mexikanischen Regierung unter: http:// www.presidencia.gob.mx. 108 „¡El gobierno está esperando a que se mueran todos los testigos y los familiares!“ (Castro Arroyo, Atoyac, 2009). 109 Sergio Aguayo in der Sendung „Primer Plano“, Canal Once. Unter: „Felipe Calderón cómplice del 2 de Octubre de 1968 en México“, http://www.youtube.com/ watch?v=hnfpUlCZGtQ (Letzter Zugriff: 30.04.2014).
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die vielen Anfragen, die verschiedene Personen gemacht haben, geantwortet (…). Sie sprechen von der Inexistenz von zwei Archiven (…): Bei dem einen handelt es sich um Gerichtspapiere, die verwendet wurden, um Anklagen gegen einige Personen aufgrund der Ereignisse von 1968 zu erheben, und das andere ist ein historisches Archiv von 22.000 Dokumenten, das nicht auffindbar ist. Angesichts diesr Haltung (…) kann man nachvollziehen, warum die Regierung von Vicente Fox und jetzt jene von Felipe Calderón Komplizen des Schweigens und der Straflosigkeit sind. Und trotz allem, trotz der schwer wiegenden Last von 68, des Schmutzigen Krieges, der Verschwundenen, fordern sie weiterhin Einheit. Das ist unverständlich!“110
Die gesamten 22.000 Dokumente, die die FEMOSPP bearbeitet hatte und auf deren Grundlage der bis heute immer noch als inoffiziell geltende Abschlussbericht basierte, sind also verschwunden. Niemand hat Zugang zu diesen Daten. Nach der als demokratischer Transition gepriesenen Öffnung der Archive wurde im Laufe der Aufarbeitungsprozesse eine Dynamik der abermaligen Schließung des Kapitels der Vergangenheit eingeleitet. Angesichts dieser Tatsachen erscheint es mehr als befremdlich, wenn man die offizielle Weiterführung eines Diskurses der Aufarbeitung der Regierung Calderón vor den Angehörigen der Verschwundenen beobachtet. Als Beispiel dieses Diskurses soll hier ein Zusammentreffen der neuen Kommission der Regierung Calderón mit den Angehörigen der Verschwundenen im Jahr 2007 in Atoyac dienen.
110 „Me resulta incomprensible esa política de Felipe Calderón en torno al llamado insistente de unidad nacional (…) cuando su gobierno de manera deliberada ha desaparecido los archivos de la Fiscalía Especial para Movimientos Políticos y Sociales del Pasado. Es decir, estos archivos que se juntaron, (…) y que entregaron el último día de gobierno a la Procuradoría General de la Republica están desaparecidos, están extraviados. La PGR ha respondido a las peticiones de informacion que han hecho diferentes personas (…). Responden la inexistencia de dos archivos [...]: uno el ministerial que se usó para intentar levantarle cargos a algunos personajes por el 68 y el otro, un archivo histórico de 22000 documentos que no logra localizar. Ante esa actitud (…) uno entiende, porque el gobierno de Vicente Fox y ahora el de Felipe Calderón han sido complices de ese silencio y de la impunidad y aun así, pese a ese agravio de los deudos del 68, de la guerra sucia, de los desaparecidos, siguen pidiendo unidad. ¡Es incomprensible!“ (Sergio Aguayo in der Sendung „Primer Plano“, Canal Once: „Felipe Calderón cómplice del 2 de Octubre de 1968
en México“, unter:
hnfpUlCZGtQ (Letzter Zugriff: 30.04.2014).
http://www.youtube.com/watch?v=
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4.4.1 Erneute Datensammlung: Sie haben doch schon alles! „Regierungen kommen, Regierungen gehen und nichts!“111 (María Felix Reyes, Atoyac 2010)
Einige Angehörige von Verschwundenen erzählten mir im August 2007, dass eine Delegation der Regierung Calderón von Mexiko-Stadt nach Atoyac kommen würde, um sich bei Ihnen vorzustellen. Es handle sich um das Comité Interdisciplinario der Procuraduria General de la Republica (Interdisziplinäres Komitee der Generalstaatsanwaltschaft) angesiedelt im Innenministerium, das nun für die Weiterführung der unter der FEMOSPP begonnenen Untersuchungen über die Verschwundenen zuständig sei. Die Ankündigung, dass eine Versammlung mit den neuen FunktionärInnen der Regierung Calderón stattfinden würde, erzeugte, trotz der allgemeinen Stimmung von Resignation und Misstrauen, doch wieder Hoffnung, dass es vielleicht doch eine Neuigkeit, ein Resultat, eine Information über ihreVerschwundenen geben könnte. Ich begleitete die Angehörigen in die Casa de Cultura von Atoyac, ein alter Kinosaal, wo die Versammlung stattfinden sollte. In der Eröffnungsrede112 sagte ein Beamter des Innenministeriums, der sich in eine Reihe von anderen BeamtInnen vor die ca. 50 anwesenden Angehörigen stellte: „Wir kommen als Arbeitsgruppe in einem Anliegen (…), das Sie kennen: wegen der Voruntersuchungen der Verschwundenen der 1970er Jahre. Wir wissen, dass es von jedem einzelnen von Ihnen stets eine Beunruhigung hinsichtlich dessen gab, was mit ihrem Angehörigen passiert und wie der Stand der Untersuchungen ist.“113
Die vom Delegierten als Beunruhigung der Angehörigen bezeichnete Forderung nach Wahrheit, würden sie nun lindern wollen. Der Beamte der Staatsanwaltschaft (Ministerio Público) informierte die Angehörigen, dass die FEMOSPP seit dem Jahr 2006 geschlossen sei, aber alle Voruntersuchungen weiterhin bearbeitet werden. Er weist sie auch darauf hin, dass sie auch auf individueller Basis an sie herantreten könnten, nicht nur als Mitglieder einer Organisation:
111 „¡Gobiernos entran, gobiernos han salido y nunca nada!“ (María Felix Reyes, Atoyac 2010) 112 Die folgenden Zitate stammen aus Mitschnitten der Autorin. 113 „Venimos un grupo de trabajo en relación (…) a lo que ustedes conocen, de las averiguaciones previas de los desaparecidos de los años 70. Sabemos que ha sido una inquietudpor parte de todos y cada uno de ustedes con respecto al familiar, que es lo que pasó, como siguen las averiguaciones.“
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„Vor Kurzem haben Sie erfahren, dass die FEMOSPP geschlossen wurde (…), wir haben alle Voruntersuchungen, alle Dokumente, (…) es wird weiterhin daran gearbeitet, es werden weiterhin Untersuchungen von Seiten der Beamten der Staatsanwaltschaft in der Generalstaatsanwaltschaft gemacht. (…) Ich möchte, dass sie wissen, dass jeder von ihnen individuell eine Pension erhalten kann, dass sie sich auch persönlich an uns wenden können (…). Circa zwölf Beamte der Staatsanwaltschaft sind mitgekommen, um noch verschiedene Recherchen zu machen und den Sachverhalt aufzuklären, jeder einzelnen Untersuchung nachzugehen. Alle Beamten der Staatsanwaltschaft arbeiten weiterhin daran, sie haben ein Service für Opfer, oder für Reparationen oder falls Sie eine Erklärung abgeben wollen in einer der Voruntersuchungen, wir haben auch einen Arzt hier, der sie betreuen kann. Wir sind hier, um Ihnen zu dienen.“114 (Beamte PGR, Atoyac 2007)
Erneut hören die Angehörigen die höfliche Aufforderung, dass sie sich mit einer Frage oder Zweifel jederzeit an die licenciados (Magister) wenden könnten: „[J]egliche Unklarheit, jegliche Forderung, wenden Sie sich an Frau Mag. Sandra. Sagen Sie bitte Frau Mag. Sandra und Herrn Mag. Manuel jegliche Bitte, die Sie hinsichtlich einer ihrer Verschwundenen haben.“115 (Ebd.) Die Angehörigen wurden zu den zuständigen Beamten geschickt, um zu fragen, wer die Voruntersuchung ihrer Fälle bearbeitet oder etwas darüber wissen könnte: „Also, mein Herr, treten Sie vor, damit Sie ihnen sagen, wer die Untersuchung Ihres Vaters hat, damit sie informiert werden.“116 (Ebd.) Die Angehörigen machen sich Mut und rufen sich ge-
114 „Recientemente ustedes tuvieron conocimiento que la Fiscalía Especial para Movimientos Sociales y Políticos del Pasado culminó [...], tenemos todas las averiguaciones previas, todas las diligencias, [...] siguen trabajando, se siguen investigando por parte de los agentes del Ministerio Público de la Procuraduria General de la República. [...]. Quiero que tengan pleno conocimiento cada uno de ustedes también que la pensión puede ser individualizada, pueden acceder con nosotros de manera personal [...]. Vienen aproximadamente 12 agentes del Ministerio Público a realizar diversas diligencias todavia para esclarecer los hechos, para esclarecer cada averiguación. Todos los agentes del Ministerio Público siguen trabajando, tienen atención a victima o que les cobre reparación o si quieren hacer alguna declaración en alguna averiguacion previa, los va a atender un médico, también están presentes. [...] Estamos aquí presentes para atenderlos.“ (Beamte PGR, Atoyac 2007) 115 „[C]ualquier duda, cualquier petición, se la pueden deponer a la lic. Sandra. A la lic. Sandra y al lic. Manuel, cualquier petición, cualquier duda con alguno de sus desaparecidos, por favor, expresenlo a ellos.“ (Ebd.) 116 „Entonces, seno [señor], pase para que le diga quien tiene la de su papá y después le puedan informar a usted.“
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genseitig zu: „Und dein Fall! Frag ihn!“117 Auch ein jahrzehntelanges permanentes Registrieren und Notieren von Identitäten, jene der Angehörigen und jene ihrer Verschwundenen, beginnen abermals. „Ich verstehe nicht, so viele Male haben sie schon unsereDaten aufgenommen. Warum jetzt nochmal?“118, ist unter den Angehörigen zu hören. Sie sollen sich jedoch auch bei dieser Versammlung alle registrieren lassen. Durch den Lautsprecher tönte es: „Fehlt noch jemand mit der Registrierung? Treten Sie bitte vor!“119 Eine Beamtin des Innenministeriums sagte einer Gruppe von Angehörigen, dass einer der Fälle in der Voruntersuchung ziemlich weit vorangeschritten sei, sie aber den Mann nicht mehr gefunden habe, um noch einige Dinge seiner Deklaration zu klären, und deswegen der Fall nicht weiter bearbeitet werden konnte. Erklärungen von BeamtInnen überzeugen die Angehörigen jedoch meist nicht, da sie nie sicher sein können, ob diese die Wahrheit sagen. Nach dieser Versammlungverbreitete sich jedoch die übliche Wut und Frustration unter den Angehörigen. Wieder wurden alle ihre Daten und jene ihrer Verschwundenen aufgenommen. Ein Hürdenlauf bürokratischer Prozesse, der sich seit Beginn der Regierungen der Transition ständigwiederholt. So sagte Doña Mónica, Frau eines Verschwundenen aus San Martín de las Flores: „Das hat alles keinen Sinn! Es ist immer dasselbe, jedes Mal, wenn ich komme! Das führt zu nichts!“120 Nach der langen Versammlung von mehreren Stunden macht sich Resignation und Hunger breit. Viele Angehörige sprechen immer wieder davon, dass sie seit Beginn dieses Kampfes nur gelitten hätten. Sie sprechen dabei nicht nur das psychische, sondern auch physische Leiden an und hier vor allem den Hunger. Einige sagen, dass sie deswegen auch Magenkrankheiten bekommen hätten. Denn ohne Geld und ohne Essen und Trinken auf langen Versammlungen, Behördengängen, Demonstrationen und Protesten in den Städten, weit weg von ihrer comunidad und Familie, bedeutet für sie auch Leiden. Als weitere Schwierigkeit spricht Apolinar Castro Román auch die bürokratischen Schikanen und Hürden an, die den Opfern auferlegt werden, wenn es um die erneute Aushändigung von Dokumenten und Daten an die Behörden geht. So etwa im Falle des genauen Namens ihres Ehemannes und ihres Names auf den Geburts- und Heiratsurkunden: „Jetzt ist angeblich der ganze Papierkram schon im Laufen, sie untersuchen alles und haben uns gesagt, dass sie keine Fehler in den Dokumenten haben wollen, die wir eingereicht haben. Ich sage ihnen deshalb, dass ich keine Fehler in meinen Papieren habe, denn in meiner Ge-
117 „¡Y la tuya! ¡Pregúntale!“ 118 „No entiendo, ya tienen tantas veces nuestros datos. ¿Para qué otra vez?“ 119 „¿Alguién más falta de registrarse? ¡Pásen por favor!“ 120 „¡Eso no tiene sentido! ¡Es lo mismo, lo mismo que vengo todas las veces! ¡Esto no lleva a nada!“ (Doña Mónica, San Martín de las Flores, 2007).
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burtsurkunde, in meinem Ausweis steht nur Apolinar. In meiner Heiratsurkunde steht María Apolinar. In meiner Geburtsurkunde steht nur Apolinar José Román. In seiner Geburtsurkunde steht J. Santana Yánez Noriega und in den Dokumenten, die ich eingereicht habe, steht nur Santana. Aber das, was ich jetzt eingereicht habe, ist richtig. Aber sie sagen uns, dass nichts mit Fehlern sein darf, auch wenn es nur ein Buchstabe ist, der falsch ist, dann täte es ihnen leid.“121 (Apolinar Castro Román, Colonia 18 de Mayo, 2009)
Von den Angehörigen werden diese Hinweise der BeamtInnen als bürokratische Schikanen wahrgenommen, da es im mexikanischen Dokumentensystem, vor allem aus der Vergangenheit, stets Ungenauigkeiten, Tippfehler oder Abweichungen bei den Namen von einem Dokument zum anderen gegeben habe. Es ist also für viele Angehörige oft unmöglich mit ihren alten Urkunden, deren Daten teilweise nicht übereinstimmen, vor den Behörden Forderungen zu stellen, oder etwa um Entschädigungszahlungen anzusuchen. Die staatliche Bürokratie gibt in diesen Prozessen den Angehörigen stets das Gefühl, sie seien LügnerInnen und wollten unberechtigterweise als Opfer deklariert werden, um an staatliche Ressourcen zu gelangen. Ein Vorgang, der Opfer resignieren lässt und sie erneut reviktimisiert. Auch die bisher einzige Rückgabe der sterblichen Überreste von zwei Verschwundenen war trotz eines partiellen Erfolgs für die Opfer von einer Stimmung des Schlusspunktes staatlicher Aufarbeitungsbemühungen unter den Angehörigen begleitet.
4.4.2 Rückgabe sterblicher Überreste: Hier sind sie! Die einzige Rückgabe von sterblichen Überresten Verschwundener fand im Jahr 2007 statt. „Hier sind sie. Das Versprochene ist eine Schuld!“, titelte die mexikanische Zeitung La Jornada am 11. Februar 2007.122 Dies waren die Worte der Beamten der Nachfolgeinstitution der FEMOSPP, der Coordinación General de Investigaciones der Procuraduría General de la República bei der Übergabe der sterbli-
121 „Ahorita según ya se está manejando todo el papeleo, están revisando y nos dijeron que no quieren errores en los documentos que metimos. Y por eso es lo que yo digo, que no tengo errores, porque en mi acta, en mi credencial, nada más dice Apolinar. En mi acta de matrimonio dice María Apolinar, en mi acta de nacimiento dice Apolinar José Román. En el acta de él dice J. Santana Yánez Noriega y en los papeles que yo he metido está nada más por Santana. Pero ahorita esto que volví a meter ya va completo. Pero nos dicen que no deben de llevar errores, que con una letra que este mal, que lo sientan mucho.“ (Apolinar Castro Román, Colonia 18 de Mayo, 2009) 122 Emir Olivares Alonso: „¡Ahí están; lo prometido es deuda!, dice la PGR al entregar osamentas de la guerra sucia“, La Jornada vom 11.02.2007.
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chen Reste von Lino Rosas Pérez und Esteban Mesino Castillo an deren Familien in Atoyac. Sie wurden am 2. Dezember 1974 bei der bewaffneten Konfrontation in Otatal zwischen Soldaten und Mitgliedern der Partei der Armen, unter ihnen auch Lucio Cabañas, der dabei getötet wurde (vgl. Kap. 2.4.), festgenommen. Rosas Pérez war 20 Jahre, Mesino Castillo 21 Jahre alt. AFADEM und die Comisión Mexicana de Defensa y Promosión de Derechos Humanos (CMDPDH), die die beiden Fälle vor der FEMOSPP vorgebracht hatten, kommentierten, dass mit der Rückgabe der sterblichen Überreste dieser beiden Verschwundenen und der Akkreditierung der Identität der Exekutierten der mexikanische Staat die Validität der testimonios und der Anzeigen der Angehörigen anerkannt hätte (ebd.). Lino Rosas Pérez und Esteban Mesino Castillo wurden an einem für die Angehörigen der Verschwundenen und die Anhänger von Lucio Cabañas symbolträchtigen Ort bestattet. An jener Stelle am Friedhof von Atoyac de Álvarez, wo im Jahr 2001 die sterblichen Überreste von Lucio Cabañas gefunden und exhumiert wurden. Ein Gedenkstein, der den revolutionären Kampf und Fall der jungen Guerilleros betont, wurde an dieser Stelle von der Familie angebracht. Auf dem Gedenkstein heißt es: „Lino Rosas Pérez (alias) ,Rene‘, Esteban Mesino Castillo (alias) ,Arturo’, gefallen am 2. Dezember 1974 in El Otatal, Tecpan de Galeana, Guerrero. Den Kampf, den sie gegen die Unterdrücker geführt haben, hat das härteste Herz zum Erweichen gebracht und in den Herzen der Kleinbauern die Wut und den Mut gesät, um den Weg des sozialen Kampfes zu gehen.“123
Die Anerkennung ihres sozialen Kampfes und der Fortbestand der Ideale, für die die jungen bewaffneten Kämpfer gestorben sind, stellen bis heute wichtige Elemente in den Narrativen der Angehörigen der Verschwundenen in Atoyac dar. Es ist der Versuch, dem unnatürlichen Tod einen Sinn und politische Bedeutung zu geben und sie als Helden im kollektiven Gedächtnis der kleinbäuerlichen Bevölkerung der Sierra de Atoyac weiterleben zu lassen. Die Stelle der Exhumierung der sterblichen Überreste von Lucio Cabañas und die dortige spätere Inhumierung von Pérez Rosas und Mesino Castillo wurde zum Erinnerungsort gegen das Vergessen umfunktioniert. Diesem Ort wurde mit der staatlichen Rückgabe der einzigen Verschwundenen symbolische und politische Bedeutung stellvertretend für alle anderen, nicht aufgefundenen Verschwundenen zuteil, wie José Luis Castro Arroyo, Neffe eines Verschwunden aus Atoyac, in einem Gespräch im Jahr 2010 meinte. Bislang wurden keine weiteren sterblichen Überreste zurückgegeben. So sind andere Mitglieder
123 „Lino Rosas Pérez (alias) ,Rene’, Esteban Mesino Castillo (alias) ,Arturo’, caidos el 2 de diciembre de 1974 en El Otatal, Tecpan de Galeana, Gro. Porque la lucha que accionaron contra los opresores hicieron cimbrar los corazones mas duros, y engendraron en el de los campesinos el coraje y el valor de seguir el camino de la lucha social.“
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der Guerilla, die wie Pérez Rosas und Mesino Castillo ebenso an diesem Tag festgenommen wurden, wie der 15-jährige Marcelo Serafín, bis heute verschwunden. Als weiteres Indiz eines vermuteten Schlusspunktes unter die staatliche Aufarbeitung der Verbrechen der Vergangenheit werden die Briefe über die Resultate der Untersuchungen des Interdisziplinären Komitees (Comité Interdisciplinario) gewertet, die viele Angehörige in Atoyac Ende 2010 erhielten.
4.4.3 Fälle der FEMOSPP geschlossen „Und so leben wir mit diesem großen Alptraum (…). Die Regierung, so sagt man, ist der Repräsentant des Volkes, oder nicht? Aber sie haben uns misshandelt und deswegen glauben wir nicht mehr an sie. Und sie haben einen unserer Angehörigen mitgenommen und damit haben sie eine Wunde zurückgelassen, die sich nie schließen wird.“124 (Rosa Castro Velázquez, San Vicente de Benítez, 2009)
Die Angehörigen der Verschwundenen haben das zuvor vorhandene Vertrauen in die Transitionsregierungen im Laufe der ambivalenten Entwicklungen der Aufarbeitung verloren. Wie Rosa Castro Velázquez, Schwester eines Verschwundenen, sagt, hätten noch vor dem Schmutzigen Krieg viele Kleinbauern der Sierra de Atoyac die Regierung als den Repräsentanten des Volkes betrachtet. Die Regierung hat sie jedoch schlecht behandelt und durch die Verschleppung der Verwandten eine Wunde zurückgelassen, die sich in den Angehörigen niemals schließen wird. Diese Wunde konnte angesichts der immer weiter schwindenden Hoffnung auf Aufklärung auch im Rahmen der politischen Transition nicht heilen. Die Symbolisierung und Umschreibung der Gewalterfahrung durch den Akt des Verschwindenlassens als eine Wunde am eigenen Körper, die permanent offen bleibt und nicht heilen kann, solange es kein Wissen über den Verbleib des/der Verschwundenen gibt, ist ein zentrales Element in allen testimonios der Angehörigen. Die Wunde wird weiter offen bleiben, so zeigten es auch die Entwicklungen im Jahr 2010, als die Staatsanwaltschaft den Angehörigen mehrere Dokumente zukommen ließ. Ende des Jahres 2010 erhielten Angehörige von Verschwundenen in Atoyac Nachricht von der Generalstaatsanwaltschaft. All jene, die während der FEMOSPP Anzeige gegen Täter wegen des Verschwindenlassens ihrer Angehörigen erhoben hatten, wurden benachrichtigt, dass die Fälle aufgrund von Verjährung der Verbre-
124 „Y así vivimos esa pesadilla tan grande (…). Vamos a decir que el gobierno es el ejemplo del pueblo, ¿no? Pero nos ha tratado mal y por eso ya no creemos en ellos. Y pues a nosotros, nos dejó una herida que jamás cerrará con haber llevado nuestro familiar.“ (Rosa Castro Velázquez, San Vicente de Benítez, 2009)
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chen nun geschlossen worden seien. Rosa Castro Velázquez, die im Jahr 2003 Anzeige gegen Oberst Castro Villareal erstattet hatte, unter dessen Befehl ihr Mann, ihr Schwiegervater und ihr Bruder verschleppt wurde, las das Dokument mit Empörung. Sie verstand nicht, was die juristischen Ausführungen genau bedeuten sollten und fragte ihren Sohn. In dem Dokument steht: „Die Klägerin Rosa Castro Velázquez soll persönlich über den Vorschlag der nicht stattzufindenden Strafklage benachrichtigt werden (…).“125 Ihr Fall ist aus Mangel an Beweisen geschlossen worden. Der Anzeige, die sie gegen die Täter des Verschwindenlassens ihres Bruders erstattet hatte, wird nicht weiter nachgegangen. Abschließendheißt es im Schreiben, dass die Angehörige binnen zwei Wochen Einspruch gegen dieses Urteil erheben könne. Ohne juristische Beratung, Rechtsanwalt und Geld ist dies für Rosa Castro Velázquez und viele andere Angehörige aus den Dörfern der Sierra de Atoyac, die diesselben Briefe erhalten hatten, ein unmögliches und aussichtsloses Unterfangen. Resigniert, traurig und doch voller Wut sagt sie: „Ich verstehe kein Wort! Wie kann es sein, dass sie unsere Fälle schließen werden, wenn ich doch weiß, wer es gemacht hat. Sie müssen weiter untersuchen! Sie können doch nicht einfach so meinen Fall schließen. Das ist nicht gerecht!“126 (Rosa Castro Velázquez, San Vicente de Benítez, 2010)
125 „Notifiquese personalmente a la denunciante Rosa Castro Velázquez, la propuesta del No Ejercicio de la Acción Penal (…).“ Document A.P.SIEDF/CGI/162/2007 der Generalstaatsanwaltschaft PGR. Kopie von Rosa Castro Velázquez. 126 „¡Yo no entiendo nada de eso! Cómo que nos van a cerrar los casos si yo sé quien hizo todo eso. ¡Tienen que seguir investigando! No pueden cerrar así nada más mi caso. ¡Eso no es justo!“ (Rosa Castro Velázquez, San Vicente de Benítez, 2010)
Zwischenfazit: Re-Dehumanisierung Prozesse der Dehumanisierung haben für die Opfer oft eine lange Kontinuität über den Gewaltakt hinaus. Das Leugnen von Gewalt und das Leugnen der Existenz von Opfern kann als ein Akt der symbolischen Re-Dehumanisierung betrachtet werden. Diese Prozesse wurden in den vergangenen Kapiteln als transitionale Friktionen bezeichnet. Solche Friktionen waren in den ersten gescheiterten Aufarbeitungsversuchen der 1990er Jahren, noch in der Ära der PRI, zu beobachten und setzten sich in den mit großer Hoffnung erwarteten Implementierungen von TransitionalJustice-Mechanismen ab dem Jahr 2000 während der Transitionsregierungen unter Vicente Fox und Felipe Calderón fort. Diese Friktionen führten zu oftmaligen ReViktimisierungen der Angehörigen der Verschwundenen. Sie wurden ein weiteres Mal zu machtlosen Opfern degradiert, indem ihren Forderungen nach Aufklärung über das Schicksal ihrer Familien trotz oftmaliger Versprechen von Seiten staatlicher Akteure nicht nachgegangen wurde. Während einige Maßnahmen der PANRegierung zwar zur Anerkennung der Verbrechen, wenn auch ohne die Aufklärung des Schicksals oder der Bestrafung der Täter, geführt haben, sind die Leugnungen der Verbrechen für die Angehörigen besonders schwerwiegend. Die Leugnung der Verbrechen findet sich etwa im Diskurs des mexikanischen Ex-Präsidenten Luis Echeverría (1970 – 1976). Im Jahr 2001 wurde er vom Obersten Gerichtshof Mexikos angeklagt. Es war das erste Mal in der mexikanischen Geschichte, dass ein ehemaliges Staatsoberhaupt aufgrund der Zeugenaussagen von Opfern vergangener Gewalt vor einem Gericht stand. Die Anklage lautete auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Freiheitsentzug, Mord und Genozid während des Schmutzigen Krieges. Echeverría machte sich jedoch keine Sorgen, nie habe er daran gedacht, das Gefängnis betreten zu müssen und er sei sich keiner Schuld bewusst, wie er einige Jahre später zu seinem Anwalt sagte. Außerdem, wie er im Gerichtsprozess zum Thema des Massakers von Corpus Christi 1971 meinte, „gab es [in Mexiko] weder Tote, noch Verschwundene, noch Entführte“ (Echeverría zit. in Vera 2002: 24). Das Erinnern und Sprechen der Opfer steht so dem Vergessen und Schweigen der Täter und den fehlenden Antworten auf die Fragen nach dem Ver-
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bleib der Verschwundenen gegenüber. Scheinbar einfache Antworten, die Angehörige kontinuierlich einfordern, um fragmentierte Lebenswege abzuschließen und die geraubte Normalität zurückzuerhalten. Dennoch, die Antworten auf diese scheinbar einfachen Fragen stehen im Zentrum des konflikthaften politischen Aufarbeitungsprozesses der gewaltsamen Vergangenheit. Die suchenden und fordernden Frauen können – wie Sant Cassia (2007) es in einem historischen Vergleich mit der Sophokles Tragödie treffend beschreibt – als die Erbinnen Antigones bezeichnet werden, die sich gegen die Gesetze und Befehle Kreons1, des Staates, widersetzen und ein Abschiedsritual für die Toten fordern. Was Beatriz Manz für den guatemaltekischen Kontext feststellt, gilt auch für die Kultur der Straflosigkeit in Mexiko: „People live with the everlasting burden imposed by arbitray, ghastly, and impudent terror as well as rigid, unchanging social structures. Crime, impunity, and general lawlessness have not dissipated.“ (Manz 2005: 246) Von einem „awakening from the long night of state terror“ in anderen regionalen Kontexten Lateinamerikas, wie dies Alison Brysk (2003: 247) optimistisch formuliert, kann im Falle Mexikos, wenn überhaupt, nur eingeschränkt gesprochen werden. Folter, Verschwindenlassen, extralegale Erschießungen sind immer noch verbreitete Praxis in Mexiko. „Mexican authoritarianism has always occupied a marginal or exceptional position in the broader debate about (bureaucratic) authoritarianism in Latin America.“ (Pansters 1999: 259) Institutionelle Ansätze von Transitional Justice lassen außer Acht, was im Falle Mexikos ein Grund für die zahlreichen Friktionen im Aufarbeitungsprozess ist: „A recognition of the importance of personalistic relationships and camarilla politics raises serious doubts about a conceptualization of transition that cannot incorporate factors driven by deep-seated cultural codes.“ (Ebd.) Diese kulturellen Codes hängen eng mit der Art und Weise zusammen wie in Mexiko Politik gemacht wird. Es ist der kontinuierliche Einfluss und die starke Rolle von lokalen und nationalen Caudillos und Kaziken, die annähernd demokratische Formen des Regierens verhindern. Diese Art der Politik zeichnet sich sowohl auf lokaler als auch auf nationaler Ebene durch eine willkürliche Anwendung von Gesetzen aus, durch autoritäres und durch persönliche Netzwerke bestimmtes Regieren, durch Korruption und die Anwendung von illegitimer Gewalt gegen jegliche oppositionelle Kraft bei umfassender Straflosigkeit.
1
Kreon, der König von Theben verbietet die Bestattung des getöten Polyphones, Bruder von Antigone. Antigone widersetzt sich dem König, holt den Leichnam des Bruders und bestattet ihn. Sie wird daraufhin selbst getötet. Die subversive Tat Antigones gegen den Tyrannen Kreon gilt bis in die Gegenwart allgemein als Metapher für den Kampf um Menschenrechte in autoritären Regimen und im Speziellen als Metapher für den Kampf der Angehörigen von Verschwundenen.
ZWISCHENFAZIT R E-DEHUMANISIERUNG
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Die existierenden kulturellen Codes der Straflosigkeit in Mexiko haben die zunächst für die Opfer hoffnungsvollen Versuche, ihre Wahrheit in das nationale kollektive Gedächtnis einbringen zu können, ins Gegenteil gekehrt. Nach einigen Jahren des Transitional-Justice-Prozesses wurde Opfern und Menschenrechtsorganisationen klar, dass sich die angeblichen Transitionsregierungen den Regeln des mexikanischen realpolitischen Systems unterworfen hatten: „[T]he president was proposing and/or approving political, administrative, and legal decisions which in practice granted de facto amnesty to the perpetrators of state crimes under the old regime.“ (Aguayo/Treviño/Pallais 2006: 56). Doch trotz einer De-facto-Amnestie für Täter kämpfen die Angehörigen der Verschwundenen weiter um die Rehumanisierung ihrer verschleppten und verschwundenen Familienmitglieder, wie im Folgenden zu sehen sein wird.
IV. Kontinuitäten der REHUMANISIERUNG: Weder vergessen, noch verzeihen, noch versöhnen!
„The survivor mission may also take the form of pursuing justice. (…) [T]he survivor recognizes that the trauma cannot be undone, and that personal wishes for compensation or revenge cannot be fulfillled. She also recognizes, however, that holding the perpetrator accountable for his crimes is important not only for her personal well-being but also for the health of the larger society.“ (Herman 1998: 151)
5. Kontinuitäten alter, Aufnahme neuer Praktiken „Wir dürfen sie nicht vergessen, wir müssen weiter um sie kämpfen, auch wenn schon so viel Zeit vergangen ist. Stell dir nur vor, eines Tages kommt dein Bruder doch zurück und würde sehen, dass wir sie alle vergessen haben, dass wir nichts mehr für sie getan haben, dass wir nicht nach ihnen gesucht haben! Stell dir das vor!“1 (José Luis Arroyo Castro, Neffe eines Verschwundenen, Atoyac 2009)
José Luis Arroyo Castro betont in einem Gespräch mit Margarito Mesino, dessen Bruder 1974 verschleppt wurde, die Bedeutung der Fortführung des Kampfes um die Verschwundenen. Viele Angehörige geben trotz der schwierigen politischen Entwicklungen und der fehlenden Antworten von Seiten der Transitionsregierungen nicht auf und ermuntern auch andere, die bereits resigniert haben. Es ist nicht nur die emotionale Bindung an den Angehörigen, die die Suche weiterführen lässt, sondern auch die moralische Verpflichtung gegenüber den Verwandten. Dies beinhaltet auch die Vorstellung an eine eventuelle Rückkehr des Verschwundenen in einer unbestimmten Zukunft und die Gewissheit, sagen zu können, man hätte alles versucht, man sei alle Wege gegangen, man hätte an alle Türen geklopft und man hätte trotz der Hoffnungslosigkeit die Suche nichtaufgegeben. Obwohl die Hoffnung der Angehörigen auf Entschädigung oder Bestrafung der Täter sinkt und viele sich deswegen auch von der kollektiven Aktion distanziert haben, ist doch ein Teil der Angehörigen überzeugt, dass der Kampf um Gerechtigkeit weitergehen muss. Judith Herman bezeichnet diesals eine Mission der Überlebenden (s. Zitat S. 331;
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„No debemos olvidarlos, tenemos que seguir luchando aunque haya pasado tanto tiempo. ¡Imagínate, que un día sí regresa tu hermano y ve que los hemos olvidado a todos, que ya no hicimos nada por ellos, que no los hemos buscado! ¡Imagínate eso!“ (José Luis Arroyo Castro, Atoyac, 2009)
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Herman 1998: 151). Auch Apolinar Castro Román spricht vom Kampf, den sie um ihren verschwundenen Mann zusammen mit anderen Angehörigen führt. Sie spricht von den Ermüdungserscheinungen, von der Verzweiflung, aber auch von der gleichzeitigen Hoffnung, die sie weitermachen lässt. Ihre Motivation begründet sie so: „[D]er schlechteste Kampf ist der, der nicht geführt wird, nicht wahr! Ich kämpfe weiter, wenn es nichts bringt, na gut, dann werde ich die Tage meines Lebens eben so beenden, wartend, wartend. Genauso wie viele compañeras auch an ihr Ende gekommen sind, wartend, wartend und nie ist er zurückgekommen. Aber gut, ich verliere den Glauben daran nicht, ich habe die Hoffnung, dass vielleicht ..., und ich bitte meinen Gott, dass er ihnen das Herz erweicht, dass sie uns mit etwas helfen (…).“2 (Apolinar Castro Román, Colonia 18 de Mayo, 2009)
Begleitendes und permanentes Element im Leben der Angehörigen ist, wie Castro Román es ausdrückt, auch dasWarten.Die Bedeutung des spanischen Wortes für„warten“ (esperar) beinhaltet auch die Verbindung mit dem Wort esperanza, Hoffnung. Warten auf den Verschwundenen, Warten auf Antworten der Regierung, Warten auf Dokumente, Warten auf eine Entscheidung oder Warten auf das Wiederfinden des Verschwundenen drückt also gleichzeitig auch die Hoffnung darauf aus, dass die Verschwundenen zurückkehren, die Hoffnung, dass deren sterbliche Überreste gefunden werden, die Hoffnung auf Entschädigung, die Hoffnung auf Wahrheit und Gerechtigkeit. Viele Angehörige sind im Laufe der langen Jahre des Wartens und Hoffens, des Suchens und Kämpfens, in der Permanenz dieser liminalen Phase verstorben. Es sind jedoch die verbleibenden anderen Angehörigen und die zweite und dritte Generation, die auch im Namen der verstorbenen Angehörigen weiterkämpfen. Im Folgenden wird nun die Kontinuität des Kampfes um Rehumanisierung, die Entwicklungen der Praktiken und Aktivitäten der Angehörigen rund um die Verschwundenen seit der Schließung der FEMOSPP im Jahr 2006 dargestellt werden.
2
„[P]eor lucha, verdad, ¡qué la que no se hace! Yo la lucha la ando haciendo, si no se puede, pues ni modo, asi acabare yo también los días de mi vida, esperando, esperando y como muchas compañeras asi han acabado, esperando, esperando y nunca llegó. Pero ahora sí, yo no pierdo la fe, tengo la esperanza de que a lo mejor ..., y le pido a mi Dios que les ablande ese corazoncito, que nos ayudarán con algo (…).“ (Apolinar Castro Román, Colonia 18 de Mayo, 2009)
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5.1 S OZIALE V ERURTEILUNGEN : E SCRACHES VON H.I.J.O.S. UND C OMITÉ E UREKA Eine neue Praxis der Rehumanisierung, der rituellen und symbolischen Wiedereingliederung der Verschwundenen in die Gesellschaft, stellt die Protestform der escraches der Angehörigenorganisationen H.I.J.O.S. und Comité Eureka dar. Escraches haben neben der Schaffung öffentlicher Aufmerksamkeit auf und Erinnerung an die Verschwundenen, auch die soziale Denunziation der Täter zum Ziel. Es handelt sich dabei um eine transnationale Praxis von Erinnerungsgruppen der Angehörigen Verschwundener, die in unterschiedlichen regionalen Kontexten übernommen und transformiert wird. Escrachar ist ein Verb des umgangssprachlichen Spanisch lunfardo aus Buenos Aires/Argentinien und bedeutet „ans Licht bringen, sichtbar machen“ (vgl. Becker/Burkert 2008). Es sind symbolische Akte der sozialen Denunziation, die Täter demaskieren und in der Öffentlichkeit bekannt machen sollen. Aktionen von escraches in Mexiko waren etwa der Protest vor der Villa des ExPräsidenten Luis Echeverría, dessen Tür mit faulen Eiern beworfen und die Nachbarschaft per Lautsprecher über die Täterschaft Echeverrías während des Schmutzigen Krieges informiert wurde. Eine weitere Aktion ist die symbolische Umbenennung von Straßennamen, in der Namen von Tätern mit Namensschildern von Opfern überklebt werden. So wurde etwa der Straßenname „Luis Echeverría“ in Mexiko-Stadt durch den Namen eines Verschwundenen ersetzt. Die escraches wurden ursprünglich von H.I.J.O.S. Argentinien (Hijos e Hijas por la Identidad y la Justicia contra el Olvido y el Silencio; Söhne und Töchter für die Identität und Gerechtigkeit, gegen das Vergessen und Schweigen)initiiert. Nach der Gründung von H.I.J.O.S. Argentinien im Jahr 1995 (vgl. Seidel 2011) wurde H.I.J.O.S. México in einem transnationalen Kontext gegründet. Im Jahr 1998 vernetzten sich die in Mexiko exilierten Kinder argentinischer Verschwundener mit den mexikanischen Kindern Verschwundener und gründeten H.I.J.O.S. Mexiko.3 Entgegen den ursprünglichen escraches in Argentinien, wo diese Protestform in öffentlichen Räumen auf Wissen und Solidarität der Bevölkerung stößt, werden die escraches in Mexiko kaum von anderen Sektoren der Gesellschaft mitgetragen. Das Thema der Verschwundenen ist in der breiteren mexikanischen Öffentlichkeit weiterhin weitgehend unbekannt. Der Kontext dieser Aktionen in Mexiko scheint also ein anderer, als jener in Argentinien, wie Anne Becker und Olga Burkert (2008) feststellen. Die Transnationalisierung von Diskursen und Handlungen hat stattge-
3
Im Jahr 2005 entstand eine weitere Organisation von Kindern Verschwundener, Ermordeter oder Folteropfer in Mexiko mit dem Namen Nacidos en la Tempestad (Im Sturm Geboren).
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funden. Die Einbettung der escraches in den lokalen Kontext Mexikos ist jedoch differenziert von jenem in Argentinien zu betrachten.
5.1.1 Vor dem Obersten Gerichtshof: ¡Presente! Seit Oktober 2008 versammeln sich jeden ersten Samstag im Monat Angehörige von Verschwundenen von Comité Eureka und H.I.J.O.S. vor dem Obersten Gerichtshof im historischen Zentrum von Mexiko-Stadt. Es ist ein symbolischer Ort. Ein Ort, der als mexikanisches Symbol für Straflosigkeit und Ungerechtigkeit steht, an dem Täter des Schmutzigen Krieges freigesprochen wurden. Einmal im Monat werden Informationszettel an die vorübereilenden PassantInnen verteilt. Die Angehörigen versuchen mit ihnen über ihre Anliegen zu sprechen, denn viele MexikanerInnen wissen bis heute nicht, dass es auch in Mexiko Verschwundene gibt. Sara Dúarte von Comité Eureka, Frau eines Verschwundenen, betont im Gespräch: „Es ist wichtig, dass wir den Leuten zeigen, wer wir sind. Denn viele glauben, dass wir aus Argentinien kommen und dass wir Angehörige der Verschwundenen aus Argentinien sind.“4 (Sara Dúarte, Mexiko-Stadt, 2009) Umso wichtiger ist es den Opfern an diesen Samstagen, dem meistbesuchten Tag der Woche im historischen Zentrum von Mexiko-Stadt, die Öffentlichkeit auf ihre Anliegen aufmerksam zu machen. Auf dem kleinen Flugblatt, das an die PassantInnen verteilt wird, steht: „Weil uns allen die Verschwundenen fehlen! Lebend haben sie sie geholt, lebend wollen wir sie zurück!“5 (vgl. Abb. 31)Auf der Rückseite wird eine Erklärung ihres Protestes und ihrer Anliegen gegeben: „Warum sind wir heute hier? Das Verschwindenlassen von Personen aus politischen Gründen war und ist weiterhin eine Praxis, die der mexikanische Staat anwendet, um seine Gegner und die Gesellschaft allgemein zu unterdrücken und zu verängstigen. Die konstante Anwendung seit den 1960er Jahren lässt die Liste der Verschwundenen seit damals ohne Unterbrechung stetig wachsen. Das Verschwindenlassen ist ein andauerndes Verbrechen, das als Verbrechen gegen die Menschlichkeit deklariert wird und deshalb nicht verjährt, es bleibt gültig. Deshalb sind die Forderung nach der Präsentation dieser Menschen und die Forderung nach Gerechtigkeit gerechtfertigt und dringend. Die Verschwundenen fehlen uns allen, die ganze Zeit. Die Abwesenheit impliziert die Erinnerung an sie, aber das bewegt uns auch gleichzeitig, weiter
4
„Es importante que les mostremos a la gente, quienes somos. Porque muchos piensan que venimos de Argentina y que somos de los desaparecidos en Argentina.“ (Sara Dúarte, Mexiko-Stadt, 2009)
5
„Porque los desaparecidos nos faltan a todos“; ¡vivos los llevaron! ¡vivos los queremos!“ (Flugblatt Comité Eureka und H.I.J.O.S., 2009)
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gegen Straflosigkeit, gegen Vergessen und gegen fehlende Gerechtigkeit zu kämpfen.“6 (Informationsblatt von Comité Eureka und H.I.J.O.S., 2009)
Der letzte Satz ist zentral für das Motiv des Handelns. Die Abwesenheit und die daraus folgende Erinnerung bedeutet also die permanente Präsenz der Abwesenheit. In Interviews mit anwesenden JournalistInnen werden Monat für Monat ihre Forderungen vorgebracht. So liest man am nächsten Tag beispielsweise in der Tageszeitung La Jornada: „Wir sind hier, um diese Gesichter sichtbar zu machen, die der Staat versucht zu vergessen. Wir sind hier, um zu erinnern, um Erinnerung zu machen und um weiterhin Gerechtigkeit zu fordern. Wir werden erst aufhören, wenn jeder von ihnen frei ist, meinte eine Aktivistin von H.I.J.O.S..“7 (La Jornada vom 02.08.2009)
Juan Carlos Mendoza, ein anderer Angehöriger von H.I.J.O.S. weist darauf hin, dass erzwungenes Verschwindenlassen ein nicht verjährbares Delikt ist, also jeder neue mexikanische Präsident die juristische Pflicht hat, diese aufzuklären. Geschieht dies nicht, machen sich auch die jeweiligen Präsidenten zu Schuldigen der Verbrechen (vgl. ebd.). Bei den Protesten werden zahlreiche Symbole eingesetzt, um einerseits die Situation, die Welt fassbar zu machen, zu verstehen und andererseits der Welt zu zeigen, wie die Situation ist, um sie zu verändern.8 „Symbole stiften soziales Handeln und bestimmen das Selbstempfinden des Individuums“, wie David Kertzer (2008: 367) meint. So wird am symbolischen Ort der Täter in Mexiko-Stadt durch den sich monatlich wiederholenden, repetitiven Akt des Protestes
6
„Por qué estamos hoy aqui? La desaparición politica de personas ha sido, y sigue siendo, una practica que el Estado mexicano para reprimir y atemorizar a sus opositores y a la sociedad en general. Su utilización constante desde la década de los sesenta ha hecho que la lista de desaparecidos siga creciendo sin pausa desde entonces. La desaparicion es un delito continuado que se considera de lesa humanidad y por ello no prescribe, sigue vigente. Asi, la exigencia de la presentación con vida de esas personas y el reclamo de justicia son válidos y urgente. Los desaparecidos nos faltan a todos, todo el tiempo. Su ausencia implica su recuerdo, pero también nos mueve a seguir luchando contra la impunidad, el olvido y la falta de justicia.“ (Flugblatt Comité Eureka und H.I.J.O.S., 2009)
7
„Estamos aquí haciendo visibles esas caras, esos rostros que el Estado intenta que nosotros olvidemos. Estamos aquí para recordar, para hacer memoria, y para seguir exigiendo justicia. No vamos a parar hasta que cada uno de ellos esté libre en las calles, comentó una activista de H.I.J.O.S..“ (La Jornada vom 02.08.2009).
8
Siehe
unter:
http://www.hijosmexico.org/index-scrache_al_campo_militar_1._no_es_
ciclopista_es_carcel_clandestina (Letzter Zugriff 30.04.2014).
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die Identität der Verschwundenen ins Zentrum gerückt. Die ausgelöschte Identität der Verschwundenen wird in diesem symbolischen Akt präsent. Plakate werden an den Absperrungszäunen vor den Toren des Obersten Gerichtshofes aufgehängt. Sie zeigen die Fotos der Verschwundenen, ihren Herkunftsort und das Datum ihrer Verschleppung. Manche Kästchen sind ohne Foto, wenn es keines gibt, der Name und Herkunftsort wird dennoch genannt. Die Namen der Verschwundenen, die im jeweiligen Monat des Protestes in der Vergangenheit verschleppt wurden, werden von einem Angehörigen durch den Lautsprecher ausgerufen. Mit einem lauten und kollektiven Ruf ¡Presente! (Anwesend!) antworten die anderen Angehörigen. Der Verschwundene ist also in diesem Moment nicht verschwunden, er ist präsent, er ist da, unter den Lebenden. Dies zeigt auch die immerwährende Hoffnung vieler Angehöriger, dass ihr Angehöriger sie aus irgendeinem unbekannten Ort aus hören oder sehen kann oder er/sie die Aktionen durch irgendeine Art und Weise kommuniziert bekommt, falls er/sie vielleicht immer noch in einem der Geheimgefängnisse inhaftiert sein sollte, wie manche Angehörige meinen. Die bei diesen Protesten im öffentlichen Raum gezeigten Fotos und Bilder der Verschwundenen sind eines der zentralen Elemente der Anerkennung und der Rehumanisierung. Dorfman beschreibt die Bedeutung der Fotos der Verschwundenen so: „[D]er öffentliche Gebrauch dieser grenzüberschreitenden Bilder mit enormer ikonographischer Macht bei Demonstrationen oder Massenveranstaltungen, sind die passendste Antwort auf das Verschwindenlassen, indem sie die Politik der Unsichtbarmachung der Opfer umkehren und mit ,Effizienz und außergewöhnlicher Poesie‘ von den neuen Kommunikationsmedien Gebrauch machen.“9 (Dorfman zit. in: Ferrándiz 2009: 92)
Zwischen den einzelnen Ausrufen der Forderungen und Anliegen der Angehörigen durch die Lautsprecher wird immer wieder das Lied desaparecidos10 des panameni-
9
„[E]l uso público de estas imágenes transgresoras y de enorme poder iconográfico en manifestaciones o concentraciones son la respuesta más apropiada a las desapariciones, al revertir las políticas de invisibilizacion de las victimas al tiempo que se relacionan con los nuevos medios de comunicación con ,extrema eficacia y extraordinaria poesíaދ.“ (Dorfman zit. in Ferrándiz 2009: 92)
10 Lied Desapariciones (Rubén Blades): „Que alguien me diga si ha visto a mi esposo-, preguntaba la doña; se llama Ernesto X; tiene 40 años, trabaja de celador en un negocio de carros. Llevaba camisa oscura y pantalón claro. Salió anteanoche y no ha regresado; no sé qué pensar. Esto antes nunca me había pasado. Llevo tres días buscando a mi hermana, se llama Altagracia, igual que la abuela. Salió del trabajo pa' la escuela. Tenía puestos unos jeans y una camisa blanca. No ha sido el novio. El tipo está en su casa. No saben de ella en la PSN, ni en el Hospital. Que alguien me diga si ha visto a mi hijo. Es estudiante de
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schen Sängers Rubén Blades gespielt. Dieses Lied ist in ganz Lateinamerika zum musikalischen Referenzpunkt der Anliegen Verschwundener geworden. Des Weiteren sind Schilder an den Absperrungszäunen angebracht mit Aufforderungen, auf denen Vergessen verboten zu lesen ist. Das Wort olvidar (Vergessen) ist dabei im Stile eines Verbotsschildes durchgestrichen. Auch hängen Fotos der Täter, wie von Ex-Präsident Luis Echeverría, aber auch der als Komplizen der Täter empfundenen Richter des Obersten Gerichtshofes an den Zäunen (vgl. Abb.33). Auf den Transparenten und Postern ist zu lesen: „Ni olvido, ni perdón, ni reconciliación!“. Der Spruch und Ausruf Weder Vergessen, noch verzeihen, noch versöhnen! ist dabei die Umkehrung dessen, was die mexikanische Regierung seit dem Transitionsprozess trotz entgegengesetzter Diskurse verfolgte. Der Menschenrechtsrhetorik von Präsident Fox und Calderón, die Wahrheit, Gerechtigkeit und Erinnerung für die Opfer auf die politischen Fahnen schreibt, Verzeihung und nationale Versöhnung des Landes fordert, gleichzeitig jedoch eine Kultur der Straflosigkeit fortführt, wird so eine klare Gegenansage erteilt. Um diese Kultur der Straflosigkeit auch im öffentlichen Raum performativ zu zeigen, setzen Mitglieder der Organisation H.I.J.O.S. auch verschiedene symbolische Praktiken ein. So wurden etwa in einem Protestakt Stiefelsohlen und Hände in rote Farbe getränkt und damit Fuß- und Handabdrücke vor dem Obersten Gerichtshof hinterlassen. Wie ein Mitglied von H.I.J.O.S. im Gespräch sagte, sollen die roten Fuß- und Handabdrücke auf den Stufen und den Gehwegen vor dem Gerichtshof das Blut, das die Täter vergossen haben, symbolisieren.
Pre Medicina. Se llama Agustín. Es un buen muchacho. A veces es terco cuando opina. Lo han detenido. No sé qué fuerza. Pantalón blanco, camisa a rayas. Pasó anteayer. Clara Quiñones se llama mi madre. Es un alma de Dios, no se mete con nadie. Y se la han llevado de testigo, por un asunto que es no más conmigo. Y fuí a entregarme, hoy por la tarde y ahora no saben quién se la llevó del cuartel. Anoche escuché varias explosiones. Tiros de escopeta y de revólveres. Carros acelerados, frenos, gritos. Eco de botas en la calle. Toques de puerta. Quejas. Por Dioses. Platos rotos. Estaban dando la telenovela. Por eso nadie miró pa' fuera. ¿Adónde van los desaparecidos? Busca en el agua y en los matorrales. ¿Y por qué es que se desaparecen? Porque no todos somos iguales. ¿Y cuándo vuelve el desaparecido? Cada vez que los trae el pensamiento.¿Cómo se le habla al desaparecido? Con la emoción apretando por dentro.“ Unter: http://www.rubenblades. com/letras/ (Letzter Zugriff: 30.04.2014).
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5.1.2 Rituelle Integrationen: Die Verschwundenen fehlen uns allen! Verschwundene, die aus den sozialen und kulturellen Gefügen der Gemeinschaften und Familien eliminiert und exkludiert wurden, werden durch das politische rituelle Handeln der Angehörigen symbolisch reintegriert. Eine öffentliche Fotokampagne mit dem Titel Die Verschwundenen fehlen uns allen von H.I.J.O.S. zeigt symbolisch diese rituelle Wiedereingliederung der Verschwundenen in die Gesellschaft. Im Zentrum von Mexiko-Stadt wurden Menschen, die keine familiären Bindungen mit den Verschwundenen haben, mit Fotos von Verschwundenen in der Hand haltend fotografiert. Es wurden sowohl Fotos mit PassantInnen auf der Straße gemacht, wie dem Maurer Fernándo Alvárez (vgl. Abb. 37), als auch Studioaufnahmen mit Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens sowie der Intellektuellen- und Kulturszene Mexikos, wie etwa Carlos Fazio (vgl. Abb. 38). Auf den Foto-Collagen ist dann zu lesen: „Die Verschwundenen fehlen uns allen. Auch Fernando“ oder: „Auch Carlos Fazio.“Und auf der Homepage von H.I.J.O.S. ist danzu der Aufruf zu lesen: „Lade es runter, drucke es aus, klebe es auf, reproduziere es...“11 Die mexikanische Bevölkerung wird so aufgefordert, Poster mit der Aussage Die Verschwundenen fehlen uns allen auszudrucken und an öffentliche Plätze zu kleben. Wichtig zu betonen ist in diesem Kontext, dass die Organisationen Comité Eureka und AFADEM, die sich beide in den 1970er Jahren gegründet haben, für dieselben Fälle von Verschwundenen kämpfen. Auch die Fälle der nicht in der nationalen Öffentlichkeit präsenten Organisation Comisión para el Esclareciemiento (CPE) aus Atoyac (vgl. Kap. 6.1), die sich im Jahr 2006 von AFADEM abgespalten hatte, werden von Comité Eureka und AFADEM vertreten. Wenn also bei den seit dem Jahr 2008 monatlich stattfindenden Protesten von Comité Eureka und H.I.J.O.S. vor dem Obersten Gerichtshof die Namen der Verschwundenen ausgerufen werden, sind darunter auch jene, deren Angehörige bei AFADEM oder CPE aus der Sierra de Atoyac organisiert sind. Eine weitere Aktion von H.I.J.O.S. und Comité Eureka war die Kampagne zum Campo Militar Nr. 1. (vgl. Abb. 34). Das mexikanische Militär begann im Februar 2011 mit einer öffentlichen Kampagne: Die große Stärke (La gran fuerza). Es sollte eine Kampagne sein, um dem negativen Bild des Militärs in der Öffentlichlkeit vor allem seit der Präsidentschaft von Felipe Calderón und dem aktuellen Krieg gegen den Drogenhandel (vgl. Kap. 7) ein humaneres Antlitz zu verleihen. Teil dieser Kampagne war es, das große Areal des Campo Militar Nr. 1 in Mexiko-Stadt erstmals der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Der Park wurde für RadfahrerInnen und SpaziergängerInnen als Naherholungsgebiet gepriesen. Für viele ist jedoch ge-
11 „Descarga, imprime, pega, reproduce...“ unter: http://www.hijosmexico.org/index-
stickers (Letzter Zugriff: 30.04.2014).
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nau dieses Militärlager, der Hauptsitz der mexikanischen Streitkräfte und des Verteidigungministeriums, das Symbol staatlicher Repression. Es ist der Ort der Geheimgefängnisse, an dem zahlreiche Opfer des Schmutzigen Krieges gefangen gehalten und viele von ihnen ermordet wurden. H.I.J.O.S. und Comité Eureka haben auf diese Öffnungskampagne des Militärs mit einer Gegenaktion reagiert. An einem Sonntag im Jahr 2011 wurden die Tore des Areals für die SpaziergängerInnen geöffnet. Irritationen von Seiten der Wache stehenden Soldaten folgten, als die Angehörigen von Verschwundenen ebenfalls kamen, ausgestattet mit Lautsprechern, Plakaten und Hinweistafeln. Die Orientierungstafel des Militärlagers für TouristInnen wurde umgestaltet. Der Hinweis „Sie befinden sich hier“ wurde ergänzt durch: „... und die Verschwundenen auch!“ (vgl. Abb.34). Die Fotos der Verschwundenen wurden auf das Foto des Militärareals geklebt und darauf geschrieben: „Dies ist keine Radfahrbahn, dies ist ein Geheimgefängnis!“12 Das Ziel der Aktion beschreiben die Angehörigen folgendermaßen: „Wenn das Militär wirklich ein gutes Bild in der Gesellschaft abgeben will, dann müssen sie die Verschwundenen befreien, die Archive öffnen und nicht nur die Türen; dann müssen sie aufhören, die Menschenrechte zu verletzen, zu foltern, auch ihresgleichen – die Polizisten; sie müssen mit dieser Repressionskampagne aufhören und in ihre Militärlager zurückkehren. Alle Verantwortlichen und deren Komplizen müssen vor Gericht gestellt werden. Wir möchten sie heute einladen, nicht zu vergessen; wir laden auch die Soldaten ein, ihre ethische Pflicht nicht zu vergessen mit der sie versprochen haben, ihr Volk zu schützen und zu verteidigen.“ (H.I.J.O.S. México 2011)13
Diese Protestformen können als ein politisches rituelles Handeln betrachtet werden, mit dem Akteure die soziale Welt neuordnen, wie im Folgenden gezeigt wird.
12 „Este no es una ciclopista, es una cárcel clandestina“. 13 „Si las Fuerzas Armadas realmente quieren dar una buena imagen a la sociedad, queliberen a los desaparecidos, queabran sus archivos y no sólo sus puertas; que dejen de violar los derechos humanos, de torturar incluso a sus iguales, a policías; que paren esta campaña de represión y que regresen a sus cuarteles. Que todos los responsables y sus cómplices sean juzgados. Quisiéramos hoy invitarlos a no olvidar; invitar también a los soldados a no olvidar el deber ético con el que prometieron cuidar y defender a su pueblo.“ H.I.J.O.S. México 2011; unter: http://www.hijosmexico.org/index-scrache_al_campo _militar_1._no_es_ciclopista_es_carcel_clandestina (Letzter Zugriff 30.04.2014).
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5.2 P OLITISCHES RITUELLES H ANDELN : N EUORDNUNG DER W ELT
5.2.1 Repräsentationen der Verschwundenen: Symbole und Beweise „Die politische Elite verwendet Rituale, um ihre Autorität zu legitimieren; aber Rebellen schlagen mit Ritualen der Delegitimierung zurück.“ (Kertzer 1988: 2)
Symbole stellen einen zentralen Aspekt politischen rituellen Handelns der Angehörigen dar. Eines der zentralen Elemente für die Angehörigen ist der symbolische Akt des Sichtbarmachens, des Hochhaltens und Präsentierens der Fotos und Bilder der Verschwundenen. Für die allgemeine Bedeutung von Totenbildern sagt Eva Horn Folgendes: „Bilder streben eine Repräsentation des Toten, eine Vergegenwärtigung in ihrer physischen Erscheinungsweise an. Sie memorieren den Zustand des Lebens und verdecken darin die Abwesenheit wie den Zerfall des abgebildeten Körpers.“ (Horn 2001: 581) Im Kontext der Verschwundenen erlangt diese Memorisierung des Lebenszustandes des Toten jedoch eine zusätzlich politische Bedeutung. Durch die symbolische Handlung des Sichtbarmachens durch Fotos, die im Zentrum der politischen Aktion der Opferorganisationen steht – nicht nur Mexikos, sondern in allen regionalen Kontexten von Angehörigenorganisationen –, wird ein Dokument geliefert, das beweisen soll, dass es den Verschwundenen als real existierenden Menschen gab und gibt. Es ist der Beweis der kontinuierlichen Präsenz, aber auch der kontinuierlichen Abwesenheit. Es ist der Beweis der Präsenz der Abwesenheit. Oder wie Macarena Gómez-Barris sagt: „[R]epresentations express the complexity and subjectivity of living with the presence of the past.“ (Gómez-Barris 2009: 157) Durch diesen Akt der permanenten Erinnerung soll den Verschwundenen ihre symbolische Identität, die ausgelöscht und vergessen werden sollte, wieder zurückgegeben werden: auf einem Papier, auf einem Poster, in einer Zeitschrift, in einem Dokumentarfilm. Das Foto des Verschwundenen, die Repräsentation des Nichtmehr-Präsenten wird in diesem symbolischen Akt umgekehrt zur Präsenz der Abwesenden und zum zentralen Element des Rituals der Erinnerungsgruppe der Angehörigen. Es stellt die Rehumanisierung des dehumanisierten Verschwundenen dar und somit die symbolische Reintegration in die Gesellschaft. Die durch Gewalt dekonstruierte Welt der Opfer wird durch politisches Handeln rekonstruiert. Das Foto des Verschwundenen hängt im privaten Bereich in den meisten Häusern der Angehörigen, und wird gezeigt, wenn über den Verschwundenen gesprochen wird. Einen zentralen Stellenwert nimmt das Foto des Verschwundenen jedoch im öffentlichen
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Bereich ein. Hier wird es zum Symbol des Widerstands, des Kampfes und der Forderungen. Die Fotos der Verschwundenen werden während Demonstrationen hochgehalten, um den Hals gehängt, vor Regierungsgebäude platziert, in Zeitungen abgebildet, in Dokumentarfilmen gezeigt, auf Homepages von Opferorganisationen abgebildet. Das private Schicksal eines Einzelnen wird zum öffentlichen Schicksal aller Opfer. Der Anthropologe Kertzer (2008: 365) stellte fest, dass Menschen durch Symbole dem Chaos, das sie erfahren und das sie umgibt, entgegen treten und so Ordnung schaffen. Symbole sind so in der Alltagswelt, aber auch im politischen Handeln von Bedeutung, indem sie helfen, die Welt neuzuordnen. Die Gruppe der Angehörigen, die sich gemeinsam mit den Verschwundenen im permanenten Schwellenzustand, in der Liminalität befindet, in der Unsicherheit zwischen Leben und Tod, sich also in einem symbolischen Chaos befindet, bedient sich Symbolen, um mit den nicht in Worten fassbaren Ereignissen umzugehen. Die Angehörigen entwickelten eine politische Ritualpraxis und eine Performanz (vgl. Harth/Michaels 2003), die durch den Protest auch das Ziel der Rehumanisierung der Verschwundenen verfolgt. Die durch die Gewalt dekonstruierte Welt der Opfer wird so durch politisches Handeln rekonstruiert. Afflito und Jesilow umschrieben dieses Handeln der Opfer für den Fall Guatemala als „alleviating anxiety through action“ (Afflito/Jesilow 2007: 72). Einer der zentralen Aspekte dieser ritualisierten Praxis ist der symbolische Akt des Präsentmachens der Fotos der Verschwundenen im öffentlichen Raum. Durch diese symbolische Handlung wird der verweigerte Beweis der Existenz der Verschwundenen geliefert. Es soll durch diesen Akt der permanenten Erinnerung durch Symbole den Verschwundenen ihre symbolische Identität, die eliminert und ausgelöscht werden sollte, wieder zurückgegeben. Das Foto, die Repräsentation des Nicht-mehr-Präsenten wird in diesem symbolischen Akt umgekehrt zur Präsenz der Abwesenden und somit zum zentralen Element des politischen Rituals der Angehörigengruppen, das sich auch gegen hegemoniale Projekte des staatlichen Vergessens richtet: „Representations prove to be productive and nuanced sites for encountering individual, family, community, and social responses that resist incorporation into hegemonic projects of memory and forgetting.“ (Gómez-Barris 2009: 157)
5.2.2 Spontane Schreine Die Symbolik in den politischen Ritualen der Angehörigen der Verschwundenen kann als ein Ausdruck von spontanen Schreinen (spontaneous shrines), wie Jack Santino (2004) es nennt, bezeichnet werden. Santino umschreibt damit das „public decorating for and ritual marking of special times and places“ (ebd.: 367). Darunter können etwa das Kennzeichnen von Unfallorten oder Orten des Todes populärer
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Personen durch Kreuze und Blumen fallen. „They have clearly become a contemporary mourning ritual or tradition under certain circumstances – that of untimely death.“ (Ebd.) Dies kann auch in der ritualisierten Praxis für die Verschwundenen beobachtet werden. Orte, die symbolische und politische Bedeutung haben, werden gewählt, um einen spontanen Schrein, der in manchen Fällen nur einige Stunden sichtbar ist, zu formieren: so etwa im ehemaligen Militärlager von Atoyac, wo die sterblichen Überreste von Verschwundenen vermutet werden, oder am Gedenktag des Massakers von 1967 am Hauptplatz von Atoyac oder einmal im Monat am Platz vor dem Obersten Gerichtshof in Mexiko-Stadt. Das präsente Abwesende wird rituell dargestellt durch das Repräsentieren von Fotos der Verschwundenen, dem Aufrufen und Aufschreiben der Namen, dem Aufstellen von Blumen und Kerzen. Es ist eine Rehumanisierung der Verschwundenen und damit ein Akt der symbolischen Umkehr der Dehumanisierung, der durch das Verschwindenlassen durch Soldaten, Polizisten oder Paramilitärs ausgeführt wurde. Denn „in war, a combatant is trained to depersonalize the enemy, to demonize the enemy in order to be able to kill with little or no remorse“, sagt Santino (ebd.: 370). Es waren aus der Perspektive der Täter keine Menschen, die man verschwinden ließ, sondern zu (subversiven) Objekten degradierte Elemente. „Spontaneous shrines act in the opposite way, performing the opposite task.“ (Ebd.) Die spontanen Schreine sind also politische Statements mit kommunikativer Macht in der Öffentlichkeit: „[The shrines insert and insist upon the presence of the absent people. They display death in the heart of social life. (…) Instead of a family visiting a grave, the ,grave‘ comes to the ,family‘- that is, the public, all of us.“ (Ebd.) Das Anzünden von Kerzen und das Aufstellen von Blumen im privaten als auch im öffentlichen Bereich zu Ehren der Verschwundenen stellt eine rituelle und symbolische Praxis des Erinnerns dar und soll auch das verweigerte und fehlende Totenritual ersetzen. Das individuelle Grab eines Toten wird durch einen für die Verschwundenen symbolträchtigen Ort ersetzt, das Ritual wird dort abgehalten, wo die Angehörigen meinen, hier könnte der Verschwundene begraben liegen oder hier könnte der Ort sein, wo der Verschwundene nach dem Verschwindenlassen für einen bestimmten Zeitraum festgehalten worden ist. Ein solcher Erinnerungsort ist etwa das ehemalige Militärlager in Atoyac. Hier gibt es von der Organisation AFADEM eine jährlich stattfindende Zeremonie, wo Blumen niedergelegt, Kerzen angezündet werden und den Verschwundenen gedacht wird. All diese Aktionen können, Santino folgend, als Repräsentationen von spontanen Schreinen betrachtet werden, denn „spontaneous shrines place deceased individuals back into the fabric of society (…).“ (Ebd.) Einige Angehörige sagen jedoch auch, dass sie keine Kerzen für ihre Verschwundenen anzünden würden. So María Felix Reyes, deren Vater 1974 verschwinden gelassen wurde: „Wir haben nie ein Totengebet für ihn gesprochen, auch keine Kerzen angezündet. Bis heute haben wir nie eine Kerze für unseren Va-
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ter angezündet, weil wir fühlen, dass er vielleicht leben könnte. Aber gut, manche sagen, dass es auch gut sei, ihm etwas hinzustellen.“14 (María Felix Reyes, Atoyac, 2010) Die Ungewissheit darüber, ob der Verschwundene tot ist oder lebt, lässt also auch andere Angehörige in der Unsicherheit darüber, ob es gut oder schlecht sei, für den Verschwundenen zu beten oder Kerzen anzuzünden. Sie drücken damit auch die Angst aus, dass, wenn sie es machen würden, sie ihn für tot erklären würden. Sie sagte über den Grund, warum sie es nicht tun: „Wir würden uns noch schlimmer fühlen, weil wir so akzeptieren würden, dass er nicht mehr da ist, dass wir ihn nicht mehr sehen werden. Man hat ja immer die Hoffnung, dass man etwas über ihn erfährt.“15 (María Felix Reyes, Atoyac, 2010) Kerzen anzünden und Totengebete sprechen würde für einige Angehörige bedeuten, den Tod des Verschwundenen zu akzeptieren. Sie würden so die Hoffnung aufgeben, ihn doch noch eines Tages sehen zu können. Der liminale Zustand wird also von manchen Angehörigen in dieser Hinsicht bewusst aufrecht erhalten, um den Verschwundenen auch symbolisch am Leben zu erhalten. Zumindest so lange, bis sie endgültige Antworten über deren Schicksal erfahren.
5.2.3 Verweigerte Rituale – transformierte Rituale Die Praxis der Angehörigen, individuell und kollektiv gegen das Verschwindenlassen ihrer Familienmitglieder zu protestieren, haben im Laufe der Zeit bestimmte Dynamiken des sozialen Handelns geformt. So haben sich, wie beschrieben wurde, zunächst die Angehörigen in Atoyac im Zuge der Suche nach den Verschwundenen lokal vernetzt, Informationen und Wissen ausgetauscht und sich dann mit anderen Angehörigen in einem größeren nationalen Rahmen koordiniert. Es wurden bei den ersten nationalen Protesten und Hungerstreiks im Jahr 1978 in Mexiko-Stadt erstmals bestimmte kommunikative Formen des Protestes eingesetzt, wie Parolen und Forderungen auf Transparenten oder das erstmalige Zeigen von Fotos der Verschwundenen im öffentlichen Raum. Diese lokale, nationale und globale Vernetzung führte dabei zur Konstruktion von sozialen Erinnerungsgruppen. Wie hier argumentiert wird, hat dieses transformierte soziale und politische Handeln mit durch staatliche Praxis verweigerten Ritualen zu tun. Das verweigerte Totenritual (vgl.
14 „Nunca le hicimos un rezo, ni veladoras, hasta la fecha nosotros nunca le prendemos a mi papá porque sentimos que a lo mejor estará vivo. Pero bueno, dicen que a lo mejor también es bueno ponerle algo.“ (María Felix Reyes, Atoyac, 2010) 15 „O sentirse uno más mal, no, de que aceptar pues que ya no está, que ya no lo vamos a ver. Uno está con la esperanza de que tal vez se sepa algo de él.“ (María Felix Reyes, Atoyac, 2010)
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Kap. 2.7.2.) wurde in diesen Aktionen transformiert zu einem kommemorativen politischen Ritual mit spezifischen Elementen der Performanz. Im Zusammenhang mit den Gewalterfahrungen der Angehörigen von Verschwundenen wird oft von deren Bedürfnis gesprochen, die zerstörte eigene Lebenswelt zu transformieren und die Welt neuzuordnen (vgl. Theidon 2004). Wie wird nun diese durch Gewalt fragmentierte Welt neu geordnet? Welche sozialen Handlungen werden ausgeführt, welche symbolischen Elemente dabei eingesetzt? Die Neuordnung wird vor allem durch transformiertes soziales Handeln bestimmt und soll im Kontext dieser Arbeit als politisches rituelles Handeln bezeichnet werden. Dieses Handeln ist bestimmt durch eine gemeinsame Erfahrung von Gewalt, gemeinsamen Protest und Symboliken im öffentlichen Raum. „Politik wird durch Symbolik gemacht“, sagt Kertzer (2008: 364) und es ist gerade diese Mikropolitik des Erinnerungsfeldes der Opfer, die durch diese politischen Rituale die Welt neu ordnet. Die sich zu einer sozialen Erinnerungsgruppe gebildeten Angehörigen in Mexiko wurden durch traumatische Erfahrungen zu kollektivem Handeln bewegt. Herman beschreibt dieses Handeln: „Social action offers the survivor a source of power that draws upon her own initiative, energy, and resourcefulness, but which magnifies these qualities far beyond her own capacities. It offers her an alliance with others based on cooperation and shared purpose.“ (Herman 1998: 151) Trotz der Aussagen vieler Angehörigen, die im gemeinsamen sozialen Handeln diese von Herman genannte Stärke gefunden haben, muss dennoch betont werden, dass es Differenzierungen und unterschiedliche Handlungsstrategien der Angehörigen gibt. So haben viele Angehörige versucht, die Gewalterfahrung alleine zu bewältigen und sich nicht mit anderen vernetzt (vgl. Kap. 6.1.2.). In den Rehumanisierungsprozessen der Angehörigen der Verschwundenen steht die Analyse des sozialen Handelns im Zentrum. An die Stelle der Erforschung des Rituals an sich tritt jedoch das Handeln als Ritualisierungsprozess. Anstatt Ritual als zentral für das Instandhalten von Autorität zu sehen – wie dies üblicherweise das Ziel von Ritualen ist – wird Ritual in diesem Kontext als Praxis des Kampfes um Autorität verstanden. Es handelt sich um Ritualisierungsprozesse, die aufgrund der mit Gewalt verbundenen Verweigerung der ursprünglichen religiösen Rituale in politische Rituale transformiert wurden. Dieses politische rituelle Handeln der Angehörigen hat nicht das Instandhalten von Autorität, also Struktur, zum Ziel, sondern im Sinne Victor Turners (1969) ihr Gegenteil: das Aufbrechen von Struktur, das Eindringen von Prozessen, der Versuch einer Veränderung von Struktur durch politisches rituelles Handeln. Das politische Handeln der Angehörigen ist die AntiStruktur zur Struktur staatlicher Dehumanisierungsprozesse. Rituale sind in diesem Kontext nicht als starre, unveränderbare Konstrukte in soziokulturellen Strukturen zu verstehen, sondern mit Prozessen, Transformationen und Dynamiken verbunden. Rituelles Handeln wird von den Akteuren selbst permanent neu definiert und transformiert, wie im Zusammenhang mit den Angehöri-
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gen der Verschwundenen beobachtet werden kann. Rituale sind auch nicht nur an spezifische (religiöse) Bereiche gebunden. Rituale sind vielmehr in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens präsent, wie zum Beispiel Alltagsrituale, Begegnunsrituale, Höflichkeitsrituale, Essenrituale. Ein wichtiger Teil der Ritualforschung, der auch im Kontext dieser Arbeit angewandt wird, ist die Analyse von politischen und sozialen Ritualen im Zusammenhang mit Herrschaft, Macht, staatlichen Eliten aber auch oppositionellen Kräften. So etwa die Theorie von Albert Bergesen (2008/[1984]) zur politischen Hexenjagd. Interessant im Zusammenhang des Kontextes der Verschwundenen ist die von Bergesen dargestellte Theorie der rituellen Konstruktion von internen FeindInnen. Er bezeichnet politische Hexenjagden – die Konstruktion von subversiven und abnormalen Elementen in einem Staat und deren Verfolgung – als soziale Rituale: „Genau wie religiöse Rituale als Dramatisierung der Präsenz kollektiver Repräsentationen in eher traditionellen Gesellschaften funktionieren, so dient auch die rituelle Schaffung politischer Abnormalität zur Dramatisierung und zur Schaffung kollektiver Repräsentationen moderner Nationalstaaten. Wie das Heilige des Profanen bedarf, so bedürfen die Vorstellungen darüber, was die nationalen Interessen eines Landes ausmachen, der Präsenz von Elementen, die in Opposition zu ihnen stehen.“ (Bergesen 2008/[1984]: 269)
Anthropologen, die ebenso die zentrale Bedeutung von Ritualen in allen politischen Systemen betonten, sind Cohen (1981) und Kertzer. Kertzer (1988, 2008) spricht von der Allgegenwärtigkeit politischer Rituale, und dies sowohl in den Handlungen der politischen Elite eines Staates, als auch in den oppositionellen Kräften. Wie Kertzer jedoch meint, sehen viele das Ritual lediglich als ein Nebenelement von wichtigeren realen politischen Handlungen, obwohl das Gegenteil der Fall ist: „Das Ritual aber ist in Wirklichkeit ein integraler Bestandteil der Politik moderner Industriegesellschaften; es ist nur schwer vorstellbar, wie ein politisches System ohne es auskommen könnte.“ (Kertzer 2008: 364) Ritual ist also eine analytische Kategorie, die im „Umgang mit dem Chaos menschlicher Erfahrungen hilft, einen Bezugsrahmen“ herzustellen (ebd.: 370). Es ist also Teil der zuvor erwähnten Neuordnung der Welt. Rituale sind im Zusammenhang mit politischem Handeln ein wichtiges Instrument, um darin enthaltene symbolische Prozesse zu analysieren. Der Aspekt der Symbolisierung ist in rituellem Handeln zentral, da er dem Handeln erst Bedeutung beimisst. Dabei muss jedoch ein Ritualbegriff verwendet werden, der über den ursprünglich religiösen Bereich, wie er in der Kultur- und Sozialanthropologie zunächst verwendet wurde, hinausgeht.16 Durch das Ritual wird eine Überzeugung
16 Jedoch schon auch in früheren Ritualtheorien, wo bekanntlich das Sakrale dem Profanen gegenübergestellt wurde, also das Religiöse vom Nichtreligiösen als getrennt betrachtet
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von der Welt gewonnen, bestärkt oder verändert. Oder wie Nieburg es ausdrückt „Durch ritualisiertes Handeln wird das Innere zum Äußeren und das subjektive Weltbild wird soziale Realität.“ (Nieburg zit. in: Kertzer 2008: 372). Das Ritual verbindet auch die Vergangenheit mit der Gegenwart und der Zukunft, meint Kertzer (ebd.: 372). Betrachtet man nun das Handeln der Angehörigenorganisationen, kann genau das beobachtet werden. Das Innere, der innere, subjektive Schmerz, das individuelle Leiden und der Verlust, die Angst werden nach außen gekehrt, werden vernetzt mit der Außenwelt, mit dem kollektiven Leid, dem kollektiven Schmerz. Durch den Akt des politischen rituellen und symbolischen Handelns wird soziale Realität geschaffen. Die Vergangenheit (also der Akt der Repression, das Verschwinden des Angehörigen) wird so mit der Gegenwart (dem Leid, dem Protest, der Forderung) und der Zukunft (die Hoffnung auf Erfüllung der Forderungen, das Zurückkehren der Verschwundenen, der Überreste) verbunden. Rituelle Inszenierungen in Form der bereits beschriebenen Proteste und Performanzen spielen eine wichtige Rolle für die Angehörigen. Turner wies auf die Verdichtung von Bedeutung von Symbolen in Ritualen hin (Turner (1982/[1969]). Symbole repräsentieren Bedeutung und auf einer unbewussten Ebene werden in den beteiligten Menschen dichte Assoziationsgefüge ausgelöst. Kertzer betont des Weiteren auch die Transformationen von rituellem Handeln. Menschen kreieren und ändern Rituale, passen sie an Situationen an. Dies ist auch in der sozialen Praxis der Angehörigenorganisationen seit den 1970er Jahren zu beobachten. So wurden den politischen Entwicklungen folgend auch neue Strategien entwickelt, wie etwa die beschriebenen escraches oder die Proteste vor dem Obersten Gerichtshof. Rituelles und symbolisches Handeln sind daher wichtige und wirkmächtige Instrumente politischen Handelns. Auch Mary Douglas wies auf die Bedeutung symbolischer Akte hin: „Soziale Rituale schaffen eine Realität, die ohne sie nicht existieren würde. Es ist unmöglich soziale Beziehungen ohne symbolische Akte aufrecht zu erhalten.“ (Douglas zit. in Kertzer 2008: 375) Doch die Analyse der Handlung im Zusammenhang mit der Analyse von Ritualen wurde oft vernachlässigt, wie Michael Houseman und Carlo Severi (1998) meinen: „From a theoretical point of view, the anthropological study of ritual traditionally assigns a minor place to action. (...). Ritual is consequently seen as no more than one of the various domains of social activity in which the eternal interplay of meaning and function is expressed
wurde, hat Émile Durkheim bereits festgestellt, dass auch sakrale, also religiöse Rituale wichtig sind, für profane, also nicht religiöse Bereiche. In Ritualen werden nämlich sehr wohl soziale Übereinkünfte und soziale Abhängigkeiten der Menschen untereinander festgelegt, die über den sakralen Bereich hinausgehen (vgl. Kertzer 2008).
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through symbols. But what of ritualization itself, as a particular mode of action?“ (Houseman/Severi 1998: 165)
Die Ritualisierung im Kontext der Verschwundenen stellt das soziale Handeln der Angehörigen dar, das sich im Laufe der Jahre durch kontinuierliche Repetitionen zu ritualisiertem Handeln transformierte. Dieses Handeln entwickelte sich wiederum aus der Verweigerung anderer ritueller Handlungen, das heißt mit der Verweigerung der dritten Phase ritueller Praxis in Toten- und Trauerritualen (vgl. Kap. 2.7.2). Die übliche Drei-Teilung der Übergangsriten von Van Gennep (2005/[1909]), also Segregation – Liminalität – Integration und die Transformation nach der Liminalitätsphase in eine Integrationsphase kann es für die Angehörigen nicht geben. Es geht bei der Analyse der Verschwundenen also nur um einen ZweiPhasen-Prozess: die Separation, also das Verschwindenlassen des Angehörigen, des Körpers von der Gemeinschaft und der Familie und die liminale Phase, sowohl für den Verschwundenen als auch für die Angehörigen. Diese liminale Phase wird nicht aufgelöst, es kommt also zu keiner Integration. Die liminale Phase motiviert jedoch eigene soziale Handlungen, rituelle Formen und Ritualisierungen. Turner (1967) hat die Bedeutung des Schwellenzustandes, also die zweite Phase der Übergangsriten bei Van Gennep weiter ausgeführt. Turner verband die Phase der Liminalität mit krisen- und konflikthaften Situationen, einer Phase des Betwixt and Between. Angewandt auf die Problematik der Verschwundenen kann festgestellt werden, dass sich die Angehörigen ebenso wie die Verschwundenenin einer Phase der Liminalität, des Betwixt and Between befinden, in der es unmöglich ist, in einen Zustand der abermaligen Integration zu gelangen. Diese Phase wird solange andauern, als staatliche Akteure keine Antworten auf die geforderte Aufklärung des Verbrechens und auf den Verbleib der sterblichen Überreste der Verschwundenen geben. Die krisen- und konflikthafte Situation bleibt so für die Angehörigen bestehen. In das soziale Drama dieser Krisen sind nach Turner stets Riten als ein bedeutungstragender, repetitiver und formaler Handlungsablauf eingebettet (Haller 2005: 249). Seiner Theorie zufolge, beginnt das soziale Drama mit dem Bruch einer bestehenden Ordnung, wodurch es zur Krise (griech. krisis: trennen, entscheiden), zum Konflikt kommt. Dann beginnt der Bewältigungsprozess dieser Krise entweder im säkulären oder sakralen Kontext. Im säkulären Kontext kann dies durch politische oder juristische Prozesse (informelle oder formelle Konfliktlösungen) geschehen. Im sakralen Kontext kann die Krise durch verschiedene religiöse Rituale bewältigt werden. Schlussendlich kommt es entweder zum Wiederherstellen der Ordnung oder zur Anerkennung des Bruchs (ebd.: 248). Eine Krise bezeichnet allgemein eine Form des sozialen Wandels, eine Situation der Desorientierung, die subjektiv als schwer zu bewältigen gilt und als Bruch wahrgenommen wird (ebd.: 239). Nach Turner (1982/[1969]) befindet sich das Individuum während dieser Phase in einem Grenzstadium, in dem es neu konditio-
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niert wird und durch die öffentliche Ritualisierung der Krise ein Erlebnis von Gemeinschaft jenseits aller herkömmlichen Bindungen entwickeln kann. Von einer öffentlichen Ritualisierung der Krise kann nun auch im Fall der sozialen Praxis der Angehörigen der Verschwundenen gesprochen werden. Bei dieser Ritualisierung handelt es sich um eine Kombination von säkulären Bewältigungsmechanismen, da sakrale Mechanismen aufgrund der genannten Verweigerung von Begräbnisritualen nicht möglich sind. Zu einer Wiederherstellung der Ordnung kann es nicht kommen, da die Verschwundenen nicht zurückkehren können. Würden sie zurückkehren – ob tot oder lebendig – könnte es lediglich zu einer Anerkennung des Bruchs kommen. Jedoch nur dann, wenn die Täter oder die staatlichen RepräsentantInnen diesen Bruch anerkennen und die von den Angehörigen geforderten Maßnahmen der Aufklärungen, Bestrafungen, Exhumierungen, Entschuldigungen oder/und Entschädigungen umgesetzt werden. 5.2.4 Rückgabe von Vitalität: Verschwundene mit transzendenter Identität Die Verbindung von Verschwundenen und ritueller Praxis der Angehörigen kann auch mit dem Konzept der rebounding violence von Maurice Bloch (1986) gesehen werden. Denn es ist im Kontext der Verschwundenen der Aspekt der Gewalt im Zusammenhang mit Ritualen von Bedeutung. Während Bloch das Konzept der rebounding violence vor allem für Initiationsriten anwandte, soll im Kontext der Verschwundenen der Aspekt der Gewalt vor allem hinsichtlich der verweigerten Rituale betrachtet werden: „Ritual activity occurring within this context (…) takes the form of a two-fold process implying three stages and involving a marked element of violence. This process begins with an elimination of native vitality. (…) It is this leaving behind of vitality that allows for the ritual construction of an transcendent identity, in which the individual involved are made ,part of something permanent, therefore life-transcendingދ.“(Bloch zit. in: Houseman/Severi 1998: 173)
Während Bloch sich bei der Eliminierung von Vitalität auf ein symbolisches Töten in Initiationsriten bezieht, handelt es sich im Falle der Verschwundenen um das reale Töten von Menschen durch (para-)staatliche Akteure. Doch auch die Verschwundenen werden durch den Akt des Verschwindens und die Verweigerung der Körper zu Personen mit einer permanenten, transzendentalen Identität:
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„But these individuals can not remain, as it were, entirely transcendental: if they are to continue as living beings, in other words, if their actions are to have mundane political significance, they must regain a measure of vitality. This reintroduction of vitality, however, does not correspond to a simple reversal, that is, a negation of the transcendental and a recovery of the native vitality that had been previously abandoned. Rather, it consists in a subordination of a vitality obtained form outside beings, typically animals, other peoples or women.“ (Houseman/Severi 1998: 173)
Im Falle der Verschwundenen, wird ihnen die zuvor durch die Ermordung eliminierte Vitalität ebenso von außen zurückgegeben: durch die Angehörigen und deren politisches rituelles Handeln in Form von Protesten. Sie werden dadurch aus einem dehumanisierten Status rehumanisiert. Sie kommen zurück aus dem Zustand des Ungewissen in eine gegenwärtige präsente Welt, werden durch die Performanzen der Angehörigen, durch das Präsentmachen im öffentlichen Raum wieder zu sozial integrierten, also vitalen Menschen, nun jedoch mit einer transformierten Identität: Sie haben politische Signifikanz und wurden durch die politischen rituellen Handlungen der Angehörigen zu Symbolen staatsterroristischer Gewalt. Will man nun das Konzept der rebounding violence auf den Kontext der Verschwundenen anwenden, kann folgender Prozess betrachtet werden: Eine Eliminierung im Sinne einer Eliminierung von Körpern und Vitalität sowohl aus dem Körper des Staates, also auch aus dem Körper der Familie, der Gemeinschaft findet zu Beginn in einer ersten Phase statt. Durch diesen Akt der Eliminierung, durch die Eliminierung der Vitalität erlangen sie einen transzendenten Charakter für die Hinterbliebenden, der weder dem Reich der Lebenden noch jenem der Toten zuzuschreiben ist – ein transzendentes Stadium der Ungewissheit, zwischen Vitalität und Tod; in dem bereits beschriebenen Zustand der Liminalität im Sinne von van Gennep und Turner. Anders als bei Van Gennep, Turner und Bloch findet jedoch keine Inkorporation mehr im Sinne der drei Phasen des Übergangsritus statt, diese Inkorporation findet nur im symbolischen Sinne, durch rituelles Handeln der Angehörigen statt. Durch das politische rituelle Handeln werden die transzendenten, ihrer Vitalität beraubten Verschwundenen wieder in die Gemeinschaft inkorporiert und mit einem anderen Status versehen. Sie sind Mitglieder der Gemeinschaft mit ungewissem Status, aber Symbole und Beweise für die sanktionierbaren illegitimen Praktiken des Staates. Die Transformation der Verschwundenen, die Grenzüberschreitung von vitalen zu transzendenten Wesen in der mexikanischen Gesellschaft (gleichsam von profanen zu quasi sakralen politischen Wesen), wird durch das Handeln und die Praxis der Angehörigen geschaffen. Die Verschwundenen werden so von dehumanisierten Objekten zu sozialen rehumanisierten Subjekten mit einem enormen Symbolgehalt. Durch das rituelle Handeln der Angehörigen erhalten die Verschwundenen, die durch den Staat ihrer Vitalität beraubt wurden, in symbolischer Form die ausgelöschte Vitalität in transformierter Form zurück. Durch politisches rituelles Handeln
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der Angehörigen wird die unmögliche Re-Inkorporation als lebende Mitglieder der Gesellschaft oder die Re-Inkorporation als tote Mitglieder der Gesellschaft durch die Rückgabe ihrer sterblichen Überreste aufgehoben. Durch die rituelle Praxis der Angehörigen werden die Verschwundenen vielmehr als Menschen mit transzendenten Identitäten in die Gemeinschaft inkorporiert. Symbolisches Handeln bedeutet für die Gruppe der Angehörigen, ihre Verschwundenen symbolisch am Leben zu erhalten und gleichzeitig das Unbegreifbare, das Unsagbare der Erfahrung von Gewalt, das jeglicher Vorstellung übersteigende Transzendente greifbar und fassbar zu machen. „Lebend haben sie sie geholt, lebend wollen wir sie zurück!“ (¡Vivos los llevaron, vivos los queremos!), diese Forderung der Angehörigen, die seit den 1970er Jahren kontinuierlich an bestimmten Orten und zu bestimmten Zeiten wiederholt wird, ist Teil dieser symbolischen rituellen Handlung der Transformation. Für die meisten Angehörigen ist in der Zwischenzeit klar, dass ihre Angehörigen mit großer Wahrscheinlichkeit nicht mehr leben. Dennoch, die zentrale Forderung der Angehörigen des „Lebend haben sie sie geholt, lebend wollen wir sie zurück“! bleibt bestehen und weist auf einer symbolischen Ebene auf die erhoffte und erwartete Rückkehr der Verschwundenen als Lebende hin. Denn auch wenn diese tot sein sollten – im Sinne eines biologischen Todes – werden sie doch im reziproken Verhältnis der mexikanischen Angehörigen zu ihren Toten stets als Lebende betrachtet werden. Die Verschwundenensind die lebenden Toten und die toten Lebenden, die eine essenzielle Verbindung eingehen: Die Verschwundenen als Menschen mit transzendenten Status, die lebenden Toten der mexikanischen Gesellschaft sind Beweise für Straflosigkeit, für Staatsterrorismus und für Repression. Sie stehen als lebende Tote als Symbol für den Akt und die Praxis des Staatsterrorismus, sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart. Die Re-Inkorporation der Verschwundenen findet durch die Angehörigen im politisch-rituellen Handeln auf einer symbolischen Ebene statt. Dieses Handeln wird solange fortgeführt, solange die sterblichen Überreste nicht zurückgegeben und solange die Totenrituale verweigert werden. Es ist darüber hinaus in diesem rituellen Prozess eine Kontinuität über die Generationen zu beobachten. Die rituellen politischen Handlungen werden meist auch in der nächsten Generation der Kinder und Enkelkinder der Verschwundenen fortgeführt. Es kann auch vermutet werden, dass, auch wenn es irgendwann zu einer Übergabe der sterblichen Überreste kommen sollte, die Verschwundenen dennoch mit dieser politisch-symbolischen Konnotation verbunden bleiben. Die sterblichen Überreste der Verschwundenensind keine normalen Toten, es sind Tote mit symbolischer Repräsentativität für repressives Handeln staatlicher Akteure. Sowohl die Verschwundenen als auch die Angehörigen sind Menschen, die sich durch die mit Gewalt verbundene Erfahrung des Verschwindenlassens eines Angehörigen in einer Phase der Liminalität, des Schwellenzustandes befinden. Sie sind also „weder hier noch da; sie sind weder das eine noch das andere, sondern befin-
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den sich zwischen den vom Gesetz der Tradition, der Konvention und dem Zeremonial fixierten Position.“ (Turner 1982/[1969]: 125) Sowohl die Verschwundenen als auch die Angehörigen sind von Ambiguität gekennzeichnet und befinden sich in einem Bereich, der sowohl Merkmale des vergangenen als auch des zukünftigen Zustandes aufweist. Dieser Zustand der Ambiguität wurde durch den Akt der Gewalt des Verschwindenlassens ausgelöst und formierte in weiterer Folge eine Gemeinschaft von Menschen mit gemeinsamen Erfahrungen von Gewalt und Leid. Die Erinnerungsgruppe verfolgt im Kontext der Verschwundenen rituelles symbolisches Handeln mit einem politischen Ziel. Dieses Ziel stellt ein Gegenritual, eine Anti-Struktur im Sinne Turners dar: „Communitas dringt in der Liminalität durch die Lücken der Struktur, in der Marginalität an den Rändern der Struktur und in der Inferiorität von unterhalb der Struktur ein.“ (Ebd.: 125). Dieses Handeln kann auch als die „rituelle Macht der Schwachen“ (ebd.: 101) bezeichnet werden im Sinne eines Potenzials, das Menschen in einem Schwellenzustand entwickeln können. Denn auch wenn Angehörigenorganisationen in Mexiko über keine politische Macht verfügen, haben sie dennoch nach ihrem jahrzehntelangen Insisitieren und Protestieren Transitionsprozesse in öffentlichen Diskursen mitgeformt. Und sie haben eine Verurteilung des mexikanischen Staates auf einer internationalen Ebene erreicht. Sie sind also symbolisch und rituell durch die Lücken der Struktur (des Staates) gedrungen und haben Anti-Struktur gebildet. im Folgenden wird dieser Aspekt eines globalen Kampfes um Gerechtigkeit für die Verschwundenen skizziert. Es handelt sich dabei um den ersten Fall eines mexikanischen Verschwundenen, der vor den Interamerikanischen Gerichtshof gelangte.
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5.3 T RANSNATIONALE K ÄMPFE
UM
G ERECHTIGKEIT
5.3.1 Der Fall Rosendo Radilla vor der CoIDH „Das Resultat war zu erwarten. Es hat sich klar gezeigt, welche Verbrechen der mexikanische Staat an den Bauern von Guerrero begangen hat.“17 (Tita Radilla zit. in: Dornbierer 2008)
Im August 1974 wurde Rosendo Radilla Pachecho (vgl. Abb. 41) bei einer Straßenkontrolle des Militärs festgenommen. Er war Kaffeebauer und Viehzüchter aus Atoyac und in sozialen und politischen Bewegungen, vor allem im Zusammenhang mit Agrarfragen, engagiert. Von 1955 – 1956 war er Bürgermeister von Atoyac. Während seiner Amtszeit hat er unter anderem auch den Bau des Militärlagers von Atoyac beschlossen. Eine Ironie des Schicksals, wie Ximena Antillón Najlis (2008: 13) angesichts der darauf folgenden Ereignisse feststellt. Ab den 1960er Jahren war Radilla Mitglied in der Bewegung der Asociación Cívica Guerrerense gegen die repressive Politik des Gouvernours von Guerrero Caballero Aburto (vgl. Kap. 2.1) und sympathisierte mit den Ideen von Genaro Váquez und Lucio Cabañas. 1965 nahm er an der Gründung der Liga Agraria del Sur Emiliano Zapata teil, protestierte gegen Großgrundbesitz in der Region, die Ausbeutung der Kleinbauern durch die lokalen Kaziken und forderte eine gerechtere Landverteilung. Er komponierte corridos (populäre Lieder) über die Ereignisse in der Sierra de Atoyac, vor allem über die politischen Bewegungen. So komponierte er auch einen corrido zu Lucio Cabañas. Am 25. August 1974 wurde er vor den Augen seines 11-jährigen Sohnes verschleppt: „Am 25. August 1974 fuhr Rosendo Radilla gemeinsam mit seinem Sohn Rosendo [in einem Bus] von Atoyac nach Chilpancingo, als er an einem militärischen Kontrollposten zwischen den Dörfern Cacalutla und Alcholoa festgenommen wurde. Rosendo Radilla fragte bei der Festnahme, weswegen man ihn beschuldige und die Soldaten antworteten ihm, weil er ,corridos komponiere‘. Rosendo erwiderte, dass dies doch kein Verbrechen sei, worauf die Soldaten meinten: ,Egal, du bist jetzt fällig!‘“18 (Antillón Najlis 2008: 15)
17 „El resultado fue el esperado. Se demostró contundentemente el crimen que cometió el Estado mexicano contra los campesinos guerrerenses.“ (Tita Radilla zit. in: Dornbierer 2008) 18 „El 25 de agosto del 1974 Rosendo Radilla viajaba de Atoyac a Chilpancingo en compañía de su hijo Rosendo cuando fue detenido en un retén militar ubicado entre los poblados de Cacalutla y Alcholoa. Al momento de su detención Rosendo Radilla preguntó de que se le acusaba, y los soldados le respondieron que ,de componer corridos‘. Rosendo
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Sein Vater wurde an diesem Kontrollposten festgenommen und in das Miliärlager von Atoyac gebracht. Zeugenaussagen von Gefangenen zufolge wurde er dort auch das letzte Mal gesehen. Tita Radilla (vgl. Abb. 39), eine seiner Töchter und heute Vize-Präsidentin von AFADEM, ist seither gemeinsam mit ihrer Familie aktiv, die Aufklärung des Schicksals ihres Vaters zu fordern. Für ihren Einsatz im Kampf für die Verschwundenen erhielt sie mehrere Auszeichnungen, wie etwa im Jahr 2010 die Hilda Flores-Medaille für Menschenrechte in Atoyac (vgl. Valadéz Luviano 2010a) oder im Jahr 2011 eine Auszeichnung in London von Peace Brigades International und der Alliance for Lawyers at Risk.19 Die Auszeichnungen honorieren vor allem ihren langjährigen Einsatz, den ersten Fall eines mexikanischen Verschwundenen vor ein internationales Strafgericht gebracht zu haben. Sie erinnert sich, dass die Familie Radilla am 14. Mai 1992 die erste formelle Anzeige beim Ministerio Público gegen die Verschleppung ihres Vaters gemacht hat. Zuvor haben sie nur öffentliche Proteste organisiert, jedoch keine Anzeige erstattet, da die institutionellen Bedingungen nicht gegeben waren. Mit der Gründung der Comisión Nacional de Derechos Humanos im Jahr 1990 haben sie eine formelle Anzeige eingebracht (vgl. Antillón Najlis 2008). Da die mexikanischen Behörden der Anzeige nicht nachgegangen sind und die angeblichen Untersuchungen zu keinem Resultat führten, brachte AFADEM gemeinsam mit der mexikanischen Menschenrechtsorganisation Comisión Mexicana de Defensa y Promoción de los Derechos Humanos (CMDPDH) im Jahr 2005 den Fall von Rosendo Radilla auf internationaler Ebene vor die Comisión Interamericana de Derechos Humanos CIDH.20 Der Fall wurde aufgrund der klaren Beweislage als erster Fall eines mexikanischen Verschwundenen dort angenommen und an den Interamerikanischen Gerichtshof übergeben (CoIDH). Am 23. November 2009 wurde der mexikanische Staat wegen des erzwungenen Verschwindenlassens von Rosendo Radilla Pacheco verurteilt. Nachdem die CoIDH die mexikanische Regierung aufgrund der Informationen aus den Zeugenaussagen aufgefordert hatte, im Militärlager von Atoyac nach den sterblichen Überresten von Rosendo Radilla zu suchen, wurden dort im Jahr 2008 die ersten Exhumierungen durchgeführt (vgl. Abb. 40). Antillón Najlis, Psychologin, die die Angehörigen von AFADEM unters-
argumentó que eso no era un delito, a lo que los militares respondieron: ,mientras, ya te chingaste‘.“ (Antillón Najlis 2008: 15) 19 PBI Mexico: Peace Brigades International awards Tita Radilla. Unter: http:// www.peacebrigades.org/newsroom/news-item/?tx_ttnews[tt_news]=3188&cHash=895dfc cada0c4f27d9f65a95b1dc5de9 (Letzter Zugriff: 30.04.2014). 20 Für eine ausführliche Beschreibung des Falles und des Urteils der Corte Interamericana de Derechos Humanos vgl. CMDPDH (2010): La Sentencia de la Corte IDH. Caso Radilla Pacheco vs. Estados Unidos Mexicanos. México. DF.
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tützt, betont die zentrale Bedeutung der Exhumierungen für die Angehörigen hinsichtlich der Möglichkeit eines Abschließens von eingefrorenen Trauerprozessen: „Das Auffinden der sterblichen Überreste ist nicht die wünschenswerteste Antwort auf die jahrelange Suche – sie haben ja weiterhin die Hoffnung, ihre geliebten Personen lebend zu finden – aber es ist zumindest eine Antwort, die es erlaubt, den seit 30 Jahren eingefrorenen Trauerprozess zu schließen.“21 (Ebd.: 85)
Trotz der Hoffnung der Angehörigen, die Verschwundenen lebend zu sehen, ist auch das Auffinden der toten Körper wichtiger Aspekt für die Beendigung des andauernden liminalen Zustands, in dem sie sich befinden. Umso größer war die Hoffnung, dass bei den Grabungen im Militärlager in Atoyac die Leichname der Verschwundenen gefunden werden würden. Die Ausgrabungen führten ExpertInnen der mexikanischen Generalstaatsanwaltschaft durch. Sie sollten von der Gruppe unabhängiger forensischer AnthropologInnen EMAAF (Equipo Mexicano de Antropología y Arqueología Forense) unterstützt werden. Diese jedoch kritisierte, dass sie von Beginn an von den Regierungsbeamten in ihrer Arbeit behindert wurden und sie keinen adäquaten Zugang zu den Ausgrabungsstellen erhielten. Auch Angehörige kritisierten, dass nicht an den Stellen gegraben wurde, wo laut ZeugInnen Massengräber sein könnten. Schließlich wurde nur ein Prozent des Militärlagers mit Georadar untersucht und die Grabungen mit der Begründung, dass es dort keine sterblichen Überreste gäbe, abgebrochen. Ein Mitglied von AFADEM, Rodrigo Alvárez, der die Grabungsarbeiten beobachte, erinnert sich: „Es war so, dass einige Antropologen kamen, weil hier im Militärlager menschliche Überreste vermutet wurden (…). Ja, sie haben einiges ausgehoben, aber nichts gefunden. Wir haben nichts gefunden.“22 (Rodrigo Alvárez, El Ticui 2010) In der mexikanischen Zeitschrift Proceso hieß es: „Ein Fiasko, die Exhumierungen in Guerrero.“ (Díaz 2008).23 María Felix Reyes, ebenfalls Mitglied von AFADEM, kritisierte, dass die Angehörigen nicht vorgelassen wurden, sich die Regierungsexperten taub gegenüber den Aussagen zu vermuteten Orten der verscharrten Körper stellten und absichtlich nicht an den richtigen Stellen gegraben hätten:
21 „El hallazgo de los restos no se trata de la respuesta más deseable a la búsqueda que han mantenido durante años – pues continúan con la esperanza de encontrar con vida a sus seres queridos –, pero es al menos una respuesta que permita cerrar un proceso de duelo congelado hace más de 30 años.“ (Ebd.: 85) 22 „Fue cuando vinieron unos antropólogos, porque supuestamente aquí en el cuartel había restos humanos (…). Y sí excavaron algo pero no se encontró nada. No encontramos nada.“ (Rodrigo Alvárez, El Ticui 2010) 23 „Un fiasco, las exhumaciones en Guerrero.“ (Díaz 2008).
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„Im Militärlager haben sie Ausgrabungen durchgeführt, aber sie selbst haben die Stellen bestimmt. (…) Wenn sie von der Regierung kommen, sagen sie, hier, hier, weil sie wissen, dass sie da nichts finden werden. Deshalb sage ich, dass sie Bescheid wissen, dass sie sich dumm stellen, ist eine andere Sache. Sie wissen alles.“24 (María Felix Reyes, Atoyac, 2010)
Am 15. Dezember 2009 wurde schließlich der mexikanische Staat aufgrund des Verschwindenlassens von Rosendo Radilla Pacheco vom Interamerikanischen Gerichtshof des Verbrechens gegen die Menschlichkeit verurteilt. Im Urteil25 forderte der CIDH die mexikanische Regierung neben der Aufklärung des Verbrechens und der Bestrafung der Täter auch dazu auf, den Código de Justicia Militar (militärische Sondergerichtsbarkeit) zu reformieren, damit Verbrechen der Streitkräfte zukünftig vor Ziviltribunalen und nicht wie bisher vor Militärtribunalen geahndet werden könnten. Der damalige Innenminister Fernando Gómez Mont sprach am 7. Juli 2009 in einer öffentlichen Anhörung vor dem CIDH in San José, Costa Rica, vor. In seiner Argumentation meinte er, dass er zwar wüsste, dass staatliche Akteure Rosendo Radilla festgenommen hätten, dass er aber nicht wisse, wo sein Körper sei (vgl. Valadéz Luviano 2009). Außerdem berief er sich auf die mexikanische Vorbehaltsklausel und die interpretative Erklärung (vgl. Kap. 4.3) bei der Ratifizierung der Interamerikanischen Konvention gegen das Verschwindenlassen. Er argumentierte demzufolge, dass der CIDH im Falle des erzwungenen Verschwindenlassens von Rosendo Radilla, die im Jahr 1974 war, also vor der Ratifizierung der Konvention, kein Recht habe, den mexikanischen Staat zu verurteilen. Er verneinte zwar nicht die Tatsache des Verschwindenlassens von Rosendo Radilla, betonte jedoch die Unrechtmäßigkeit des Gerichtsurteils. Für die Angehörigen war es die charakteristische und zynische Art und Weise, wie mit den Opfern umgegangen wird. Die RepräsentantInnen der mexikanischen Regierung geben zwar zu, dass es ein Verbrechen gab, niemand ist jedoch dafür verantwortlich. Es gibt also Verbrechen, aber keine Täter in Mexiko. Dieser doppelte Diskurs wurde daraufhin nochmals in einem Schreiben des Außenministeriums zum Urteil deutlich. Darin wird das Bekenntnis der mexikanischen Regierung zur Prävention von erzwungenem Verschwindenlassen in Form von Gesetzesreformen und allgemein zu den Menschenrechten bekräftigt:
24 „En el cuártel estaban haciendo las excavaciones pero ellos indican. (…) Si usted viene por parte del gobierno, usted dice, aquí, aquí, porque sabe que aquí no van a encontrar nada. Por eso digo, que ellos saben, que se hagan tontos, es otra cosa. Ellos saben perfectamente.“ (María Felix Reyes, Atoyac, 2010) 25 Vgl. den gesamten Text des Urteils unter: www.corteidh.or.cr/docs/casos/articulos/ seriec_209_esp.doc (Letzter Zugriff 30.04.2014).
358 | K AMPF UM R EHUMANISIERUNG „Es soll betont werden, dass das Nationale Menschenrechtsprogramm 2008 –2012 (…) Strategien enthält, um Reformen in der sekundären Bundesgesetzgebung voranzutreiben, vor allem ein Gesetz über erzwungenes Verschwindenlassen von Personen, das mit internationalen Standards übereinstimmt. (…) Die mexikanische Regierung wiederholt ihre ernsthafte Verpflichtung die Menschenrechte im ganzen Land zu fördern und zu schützen.“ (SRE 2009).26
Angesichts der kontinuierlichen Verweigerungen von Antworten der Regierung forderten die Angehörigen von AFADEM abermals in einem Protest am 30. Mai 2010 in Atoyac die Regierung von Felipe Calderón auf, die gesamten 1.200 Fälle von Verschwundenen aufzuklären und die Resolution der CoIDH im Falle Rosendo Radilla durchzusetzen: „Präsentation der Verschwundenen ... jetzt, jetzt ist es unerlässlich, lebendige Präsentation und Strafe für die Schuldigen!“27 (in: El Sur de Acapulco vom 12.06.2010.) Der Rechtsanwalt Mario Solorzano Betancourt kündigte zusammen mit AFADEM an diesem Tag das Vorhaben an, alle 600 Fälle von Verschwundenen aus Guerrero nun vor die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte zu bringen, denn nur so würde die mexikanische Regierung irgendwann reagieren. Ob dies der Fall sein wird oder nur weiterhin der bekannte Diskurs von Transitionen, Reformen und Menschenrechten fortgeführt, wird sich zeigen. In den Aufforderungen des Interamerikanischen Gerichtshofes ist auch festgelegt, dass der mexikanische Staat öffentlich an Rosendo Radilla gedenken und für dieses Verbrechen eine offizielle Entschuldigung aussprechen solle. Am 14. November 2011 brachte daher eine Delegation des mexikanischen Staates eine Gedenktafel (vgl. Abb.42, 43) am Zócalo von Atoyac de Álvarez an. Auf der Tafel steht: „Der mexikanische Staat enthüllt diese Gedenktafel in Erinnerung an Don Rosendo Radilla Pachecho und der Opfer von erzwungenem Verschwindenlassen aus den Jahrzehnten von 1960 und 1970, die in einem ,systematischen Kontext der Menschenrechtsverletzungen ދstatt-
26 „Debe señalarse que el Programa Nacional de Derechos Humanos 2008-2012 (...) incluye estrategias para impulsar reformas a la legislación secundaria federal, especialmente una Ley sobre Desaparición Forzada de Personas consistente con los estándares internacionales. (...) El Gobierno de Mexico reitera su firme compromiso con la promoción y protección de los derechos humanos en todo el país. (SRE 2009). Boletín Informativo der Secretaria de Relaciones Exteriores (SRE), La Corte Interamericana de Derechos Humanos emite sentencias en los casos ,Campo Algodonero ދy Radilla Pacheco; 24.12.2009. Siehe unter: http://portal.sre.gob.mx/oi/pdf/dgdh160.pdf (letzter Zugriff 27.03.2012). 27 „Desaparecidos presentación … ahora, ahora se hace indispensable, presentación con vida y castigo a los culpables!“ (in: El Sur de Acapulco, 12.06.2010)
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gefunden haben, laut Resolution des Interamerikanischen Gerichtshofes für Menschenrechte. Dies wird durchgeführt, um der Verpflichtung nachzugehen, die der genannte Gerichtshof angeordnet hat im Fall Rosendo Radilla vs. Vereinte Mexikanische Staaten aufgrund seines erzwungenen Verschwindenlassens am 25. August 1974 bei einer Straßenkontrolle durch staatliche Akteure in diesem Ort. Dieses bedauernswerte Ereignis hat der mexikanischen Nation unermessliche Lektionen erteilt. Der Staat anerkennt die unermüdliche Suche der Angehörigen nach Gerechtigkeit, Wahrheit und Entschädigung. Atoyac de Álvarez, 14. November 2011.“28
Die Angehörigen von Rosendo Radilla sahen dies zwar einerseits als Erfolg, protestierten jedoch gegen die Form des Entschuldigungsaktes. Die Entschuldigung kam nicht vom Innenministerium, wie ursprünglich mit den Angehörigen abgesprochen, sondern wurde in einem unilateralen Akt am 17. November 2011 in Atoyac nur von einem Entsandten des Innenministeriums, Juan Marcos Gutiérrez und der Außenministerin Patricia Espinosa ausgesprochen. Die Familie Radilla und AFADEM boykottierten diese Veranstaltung und empfanden es als Verhöhnung ihrer Anliegen (Díaz 2011b). So wurde die Umsetzung der Aufforderungen des Interamerikanischen Gerichtshofes abermals vom mexikanischen Staat auf lokaler Ebene als reiner bürokratischer Akt und als Erfüllung einer Pflicht, die von außen kam, vollzogen. Der Text der Gedenktafel, in dem lediglich darauf hingewiesen wird, dass man diese Gedenktafel angebracht habe, weil es der Interamerikanische Gerichtshof so fordere, zeigt dies sehr deutlich. Eine ernst gemeinte Entschuldigung für dieses „bedauernswerte Ereignis“, wie das Verschwindenlassen auf der Tafel bezeichnet wird, und eine Verpflichtung zur Aufklärung sieht aus der Perspektive der Angehörigen anders aus.
28 „El Estado Mexicano devela la presente placa a la memoria de Don Rosendo Radilla Pacheco y de las víctimas de desapariciones forzadas ocurridas en las décadas de los 60 y 70, en un ,contexto sistemático de violaciones a los derechos humanosދ, según lo señalado por la Corte Interamericana de Derechos Humanos en su resolución. Lo anterior, se hace en cumplimiento a lo ordenado por la citada Corte en el caso Rosendo Radilla vs. Estados Unidos Mexicanos en virtúd de su desaparición forzada por agentes del estado el 25 de agosto de 1974, en un retén de esta población. Este lamentable suceso ha dejado invaluables lecciones a la Nación Mexicana. El Estado reconoce la incansable búsqueda de los familiares, por la justica, verdad, y reparación. Atoyac de Álvarez Guerrero, a 14 de noviembre de 2011.“
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5.3.2 Der Fall Aleida Gallangos vor der CIDH: Verschleppte Eltern, verschleppte Kinder Am 8. März 2010 reichte Aleida Gallangos Vargas (vgl. Abb. 44) eine Petition vor der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte (CIDH) ein. Erst im Jahr 2001 erfuhr sie von ihrer wahren Identität. Sie trug den Namen Luz Elba Gorostiola Herrera, als sie erfuhr, dass sie Tochter von Verschwundenen war und einen Bruder hatte. In einer mexikanischen Zeitung erschien 2001 ein Interview mit Quirina Cruz Calvo, Mutter eines Verschwundenen aus dem Bundesstaat Oaxaca, in dem auch Fotos ihres verschwundenen Sohnes und ihrer Enkelkinder abgebildet waren. Die Adoptiveltern von Aleida Gallangos erkannten das Foto des Kindes. Daraufhin nahm sie Kontakt mit ihrer Großmutter auf und erfuhr über die wahre Geschichte ihrer Eltern und ihrer selbst. Sie begann die Suche nach den Eltern und ihrem Bruder und suchte Unterstützung bei der neu eingesetzten Sonderstaatsanwaltschaft FEMOSPP. Die beiden Geschwister wurden im Kleinkindalter getrennt, nachdem die Eltern Roberto Antonio Gallangos Cruz und Carmen Vargas Pérez (vgl. Abb. 45, 46) im Jahr 1975 aus einem Haus in Mexiko-Stadt von Agenten der Dirección Federal de Seguridad (DFS)verschleppt und verschwinden gelassen wurden. Sie waren Mitglieder der Guerillabewegung Liga Comunista 23 de Septiembre. Der dreijährige Bruder Lucio Antonio Gallangos wurde zur Adoption freigegeben und kam zu einer Familie in die USA, wo er den Namen Juan Carlos Hernández Vargas bekam. Die zweijährige Aleida Gallangos wuchs bei der Familie eines Freundes ihres Vaters auf. Da Aleida Gallangos von FEMOSPP keine ernsthafte Unterstützung bei der Suche nach ihren Eltern oder ihrem Bruder bekam, wandte sie sich wie viele andere Angehörige auch enttäuscht von dieser ab. Sie begann alleine nach ihnen zu suchen. Durch Recherchen in Dokumenten des mexikanischen Geheimdienstes DFS, die im Archivo General de la Nación zugänglich gemacht wurden, konnte sie die Geschichte der Festnahme ihrer Eltern und den Verbleib ihres Bruders rekonstruieren. Über Informationen eines Waisenhauses in Mexiko-Stadt erfuhr sie schließlich mehr über dessen Aufenthalt. Er hingegen wusste nichts von seiner eigentlichen Familiengeschichte, bis Aleida Gallangos ihn im Jahr 2004 in Washington D. C. ausfindig machen konnte (vgl. Doyle/Franzblau 2010).29 Die Geschichte von Aleida Gallangos ist der erste Fall von mexikanischen Kindern Verschwundener, die ihre wahre Identität erfuhren und sich wieder gefunden haben (vgl. Bonfil 2009; Molina
29 Siehe
den
Bericht
vom
National
Security
Archive
unter:
http://www.gwu.
edu/~nsarchiv/NSAEBB/NSAEBB307/index2.htm (Letzter Zugriff: 30.04.2014).
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Ramírez 2009).30 Sie lebt in Washington D. C. und führt von dort aus eine Kampagne zur Suche nach weiteren Kindern von mexikanischen Verschwundenen. Acht Fälle sind es, die sie bisher verfolgt. Ihr Bruder unterstützt ihre Kampagne und die Petition vor der Interamerikanischen Menschenrechtskommission, die zum Ziel hat, die Täter zur Verantwortung zu ziehen. Er fragt sich jedoch, ob es jemals Gerechtigkeit geben kann: „It’s not a win or lose case because even if we go to court and win, I think, ,what are we going to win? )…( ދSometimes I think about how I can be face to face with the people who kidnapped my parents and the people who took me away from them.Sometimes when I’m by myself I think about it. I wonder if [my parents] are still alive, or worry about their lives or if they went to another place to hide (…). Sometimes I think about where their bodies could be and what happened to them.“ (Juan Carlos zit. in: Latin America News Dispatch vom 30.3.2010)31
Einige der Kinder mexikanischer Verschwundener sind in H.I.J.O.S. oder in Nacidos en la Tempestad (Im Sturm geboren) organisiert, es wird jedoch vermutet, dass es noch zahlreiche weitere Fälle von Kindern Verschwundener gibt, die nichts von ihrer wahren Identität wissen.Es wird sich zeigen, welche Form der Gerechtigkeit der Fall „Luz Elba Gorostiola Herrera und Quirina Cruz Calvo gegen den mexikanischen Staat“ vor der Interamerikanischen Menschenrechtskommission für die Angehörigen haben wird.
30 Siehe für eine detaillierte Beschreibung der Suche von Aleida Gallangos nach ihrem Bruder auch den Dokumentarfilm Trazando Aleida von Christiane Burkhard, 2007. 31 Children of Mexico‘s Disappeared Seek Justice, unter: http://latindispatch.com /2010/03/30/children-of-mexicos-disappeared-seek-justice/ (Letzter Zugriff 30.04.2014).
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5.4 T RANSGENERATIONALE V ERPFLICHTUNGEN : S IE STARB , OHNE IHN WIEDER GESEHEN ZU HABEN ! „Das ist es, was die Regierung will: dass es uns gar nicht mehr gibt. Dass niemand mehr protestiert, dass wir alle sterben!“32 (María Felix Reyes, Atoyac 2010)
María Felix Reyes spricht die Wahrnehmung vieler Angehöriger an. Mit all den Versprechungen der Regierungen wurden sie doch nur während all der Jahre hingehalten. Die Regierungen würden doch nur warten, bis sie alle gestorben seien, niemand mehr nach den Verschwundenen fragt und deren Rechte einfordert. Aber, wie sie auch bekräftigt, wird dies nicht eintreten. Denn auch wenn viele Angehörige schon gestorben seien und andere resigniert hätten, gebe es doch eine zweite und dritte Generation, die für die Verschwundenen weiterkämpft. So sagt Elvira Patiño Leyva aus Los Llanos de Santiago: „Ich werde weiter für meine Schwester kämpfen, denn früher war es meine Mutter, die gekämpft hat, aber sie ist gestorben und ich muss für sie weitermachen. Sie ist gestorben, ohne je etwas über ihre Tochter zu erfahren!“33 (Elvira Patiño Leyva, Los Llanos de Santiago, 2008) Oft erwähnte sie, dass es schmerzen würde, zu wissen, dass ihre Mutter gestorben ist, ohne etwas über das Schicksal ihrer Tochter zu erfahren. Doña Elvira verstarb im April 2012 an Krebs, ohne etwas über ihre Schwester und ihren verschwundenen Bruder zu erfahren. Rodrigo Alvárez (vgl. Abb. 14), Sohn eines Verschwundenen, erzählte, dass er es nun sei, der den Kampf seiner Großmutter (vgl. Abb. 13) weiterführt: „In meiner Familie bin nur ich es. Meine Großmutter ist schon alt und kann nicht mehr. Es ist zu anstrengend für sie, mit dem Blutdruck geht es ihr schlecht. (…) Und so, nach meiner Großmutter bin ich es nun, der manchmal hinfährt [zu den Protesten und Behörden]“34, sagte Rodrigo Álvarez in einem Gespräch im Dezember 2010 in seiner comunidad El Ticui. Organisiert in AFADEM, fuhr er im Jahr 1996 erstmals zu einem internationalen Treffen des Netzwerkes FEDEFAM in Mexiko-Stadt. Er be-
32 „El gobierno es lo que quiere, que ya ni estuviéramos nosotros. ¡Qué ya no reclame nadie, que nos muéramos todos!“ (María Felix Reyes, Atoyac 2010) 33 „Yo sigo luchando por mi hermana, porque antes era mi mamá la que luchaba, pero ahora ella se murió y yo tengo que seguir por ella. ¡Ella se murió sin saber nada de su hija!“ (Elvira Patiño Leyva, Los Llanos de Santiago, 2008) 34 „De mi familia nada más fui yo. Pues ya mi abuelita como ya está grande ya no puede. Se cansa, (...) con la presión le hace mal ya. (...) Entonces después de mi abuelita, ya después ahorita he sido yo a veces que hemos ido [a las protestas y a oficinas de gobierno].“ (Rodrigo Alvárez, Atoyac, 2010).
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schreibt seinen Eindruck: „Aus verschiedenen Ländern, aus Argentinien, Uruguay, auch aus verschiedenen Orten Europas waren Leute da, fast eine ganze Woche waren wir zusammen.(…) Mir hat das gefallen, dass es aus fast allen Orten und mit demselben Fall [der Verschwundenen] war.“35 Er hat bei diesem Treffen von Angehörigen nicht nur die Anliegen seiner Großmutter repräsentiert, sondern auch jene seiner beiden Tanten, die verschwundene Ehemänner haben und selbst nicht hinfahren konnten. Diese Übertragung eines Schmerzes oder Traumas von einer Generation zur nächsten und das Fortführen derselben Anliegen nennt Vamik Volkan eine transgenerationale Transmission: „Within virtually every large group there exists a shared mental representation of a traumatic past during which the large group suffered a loss/and or experienced helplessness, shame and humilitation in a conflict with another large group. The transgenerational transmission of such a shared traumatic event is linked to the past generations inability to mourn losses of people (…).“ (Volkan 2001: 87)
Bei vielen Angehörigen in Mexiko ist die Übertragung des traumatischen Ereignisses des Verschwindenlassens eines Familienmitglieds auf die Kinder- und Enkelgeneration beobachtbar. Das Trauma (vgl. Caruth 1996) der Mütter, die ihre Männer, Töchter oder Söhne verloren haben, wird fortgeführt in den Kindern, die dieses Leid ebenso als ihr Leid begreifen und deswegen den Kampf der Eltern, vor allem der Mütter fortführen. Auch Doña Eleazar beschreibt die Fortführung des Kampfes ihrer Mutter: „Meine Mutter hat nie wieder ihren Sohn gesehen. Jetzt bin ich diejenige, die weiter für ihn kämpfen muss.“36 (Eleazar Peralta Santiago, Atoyac 2009) Dies sind Beispiele der „intergenerational transmission of a mothers worry to a daughter and the daughters attempt to repair and reassure her mother“, wie Volkan (2001: 85) für den Kontext der Folgen des Abchasien-Konfliktes beschreibt oder auch für die nachfolgenden Generationen der Opfer des Holocaust nachgewiesen wurde (Kestenberg/Brenner 1996). „While each individual in a traumatized large group has his or her own unique identity and personal reaction to the trauma al members share the mental representations of the tragedies (…). Their injured self-images will associated with the shared traumatic event are ,deposited‘ into the developing self representation of children in the next generation as if these children
35 „De varios paises, de Argentina, de Uruguay, de varios lugares tambien de acá de Europa, estuvimos casi una semana. (…) Pues me parecía bonito, que fue de casi todos los lugares y con el mismo caso [de los desaparecidos].“ (Rodrigo Álvarez, El Ticui, 2010) 36 „Mi madre nunca jamás vio a su hijo. Ahora soy yo la que tiene que seguir luchando por él.“ (Eleazar Peralta Santiago, Atoyac 2009)
364 | K AMPF UM R EHUMANISIERUNG will be able to mourn the loss or reverse the humiliation. If the children cannot deal with what is deposited in them, then they as adults, will in turn pass the mental representation of the event to the next generation.“ (Volkan 2001: 89)
Ein Beispiel unter vielen zu diesem „Einlagern“ des traumatischen Ereignisses in die nächste Generation ist die Geschichte von Doña Goya aus Atoyac. Ihr Mann wurde im Jahr 1974 verschleppt (vgl. Abb. 11). Sie lebt mit ihrer Tochter und ihren beiden Enkeltöchtern zusammen. Doña Goya kämpft seit den 1970er Jahren für die Aufklärung dieses Verbrechens und nahm mit den anderen Angehörigen an zahlreichen Protesten und Hungerstreiks teil. Ihre Tochter Eva war stets dabei. Die Tochter erinnert sich, als sie ein Kind war und sie mit ihrer Mutter nach Mexiko-Stadt fuhr, wo sie gemeinsam mit den anderen Frauen am Hauptplatz demonstrierten: „Uns als Kinder, wir waren einige Kinder, haben sie ganz nach vorne gestellt, weil es ja unsere Väter waren, die sie verschwinden ließen.“37 (Eva, Atoyac, 2009). Die Tochter wiederum gibt nun diese Erfahrungen an ihre beiden Töchter weiter, die ebenso den Schmerz der Mutter und der Großmutter teilen, bei den politischen Aktivitäten rund um die Verschwundenen stets dabei sind und sich auch aktiv beteiligen. So machte etwa die 14-jährige Tochter bei einer Versammlung der Angehörigen in Atoyac Fotos, bei der sich im Jahr 2007 nach der Schließung der Untersuchungskommission FEMOSPP (vgl. Kap. 4.4.1) die neuen für die Verschwundenen „zuständigen“ BeamtInnen der Generalstaatsanwaltschaft der Regierung Calderón vorstellten. Auch Doña Goya erzählte, dass sie gemeinsam mit ihren beiden Kindern und den Enkelinnen die comunidad besuchte, aus der sie im Jahr 1974 nach der Verschleppung ihres Mannes mit ihren drei kleinen Kindern geflüchtet ist. Im Jahr 2009, nach 35 Jahren, sind sie das erste Mal an diesen Ort zurückgekehrt. Doña Goya erzählte davon: „Es war etwas sehr Trauriges. Wir sind in der comunidad angekommen und alle haben Traurigkeit verspürt. Wir haben uns auf einen Stein gesetzt und geweint. Alles war so anders und dort, wo mein Haus war, war gar nichts mehr“38, beschreibt Doña Goya dieses kollektive Gefühl der Trauer ihrer gesamten Familie über das unbeschreibbare Leiden des Verlustes über Jahrzehnte und Generationen hinweg. Der Schmerz über den Verlust des geliebten Menschen, aber auch der Schmerz über den materiellen Verlust der gesamten Lebensgrundlage der Kleinbauernfamilie: das Haus, das Grundstück, das Maisfeld, die Tiere.
37 „A nosotros como niños, eramos varios niños, nos pusieron adelante, porque eran nuestros papas que desaparecieron.“ (Eva, Atoyac, 2009) 38 „Era algo muy triste, entramos a la comunidad y nos entró a todos una tristeza. Nos sentamos en una piedra y todos lloramos. Todo era tan diferente y donde estaba mi casa, ya no había nada.“ (Doña Goya, Atoyac 2009)
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Auch Doña Gregoria erzählt von ihrer bereits verstorbenen Mutter: „Wir sind circa viermal mit unserer Mutter mitgegangen, als sie noch lebte. Wir sind mit zu den Protesten. (…) Meine Mutter ist so gestorben und ihren Sohn hat sie nicht mehr gesehen.“39 (Doña Gregoria, Atoyac 2009) Für die Tochter stellt die Tatsache, dass ihre Mutter den Sohn, den sie Zeit ihres Lebens verzweifelt gesucht hatte und nicht mehr sehen konnte, einen zusätzlichen Schmerz dar. Der Schmerz ist also einerseits die Verschleppung des Bruders, andererseits aber auch der Schmerz um das Wissen des Leides der Mutter. Es bleibt daher auch eine verwandtschaftliche und soziale Verpflichtung in der Familie, die Verschwundenen auch nach dem Tod der Eltern weiter zu suchen. Die Kinder führen die Suche und den Protest oftmals nicht nur wegen ihrer verschwundenen Familienangehörigen weiter, sondern auch für ihre verstorbenen Eltern. Don Roberto aus San Martín de las Flores, dessen zwei Brüder im Jahr 1974 verschleppt worden sind, erzählt am Grab seiner Eltern: „Das ist das Grab meiner Mutter und meines Vaters. Sie sind gestorben und niemals haben sie ihre Söhne mehr gesehen!“40 (Don Roberto, San Martín de las Flores, 2008) Auch in seiner Familie ist er es nun, der die Suche weiterführt. Er spricht aber erst seit der Transitionsregierung im Jahr 2000 öffentlich von seinen verschwundenen Brüdern. Denn zuvor hätte es keine Menschenrechte gegeben und es sei für ihn zu gefährlich gewesen. Auch er war in den 1970er Jahren Mitglied der Partei der Armen von Lucio Cabañas und hatte immer noch Angst, dass er ebenso wie seine verschleppten Brüder von der PRI-Regierung verfolgt werden könnte. Die kontinuierliche Angst vor einer möglichen Festnahme hinderte ihn bis zum Zeitpunkt des Regierungswechsels daran, sich anderen Angehörigen anzuschließen. Danach jedoch, beginnt auch er für seine verschwundenen Brüder zu kämpfen. Auch im Namen seiner verstorbenen Eltern. Wenn er über die Vergangenheit spricht, ist er jedoch immer noch vorsichtig und erzählt nur über bestimmte, nun öffentlich tolerierte Aspekte, kaum aber über seine eigenen Erfahrungen innerhalb der Guerilla. Eine Handlungsstrategie, die in Anlehnung an Susanne Buckley-Zistel (2006) auch als chosen amnesia bezeichnet werden kann. In (Post-)Konfliktsituationen kommt es nicht nur zur Erinnerung an ein traumatisches Ereignis in der Vergangenheit, sondern auch zu einem partiellen Vergessen dieser vergangenen Ereignisse. Buckley-Zistel (2006) hat dafür das Konzept der chosen amnesia in Anlehnung an das Konzept von chosen trauma (Volkan 2001) und social amnesia (Cohen 2001) formuliert. Social amnesia ist laut Stanley Cohen
39 „Fuimos como unas cuatro veces con mi mamá, todavía vivía ella, íbamos a las marchas. (…) mi madre, asi se murió y ya no vio a su hijo.“ (Doña Gregoria, Atoyac 2009) 40 „Esta es la tumba de mi madre y mi padre. ¡Ellos se murieron y nunca jamás vieron a sus hijos!“ (Don Roberto, San Martín de las Flores, 2008)
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„that whole societies may choose to forget uncomfortable knowledge and turn it into ,open secrets‘ which are known by all, and knowingly not known.“ (Cohen zit. in: Buckley-Zistel 2006: 138) Chosen amnesia bezeichnend dem folgend ein ähnliches Phänomen, jedoch auf nur einzelne Aspekte der Vergangenheit bezogen. Dieses Phänomen ist auch im Fall der Opfer des Schmutzigen Krieges in Guerrero eine verbreitete Strategie. Chosen amnesia ist eine Handlungsoption, eine Strategie in einer mit andauernder Gewalt nach dem eigentlichen Konflikt geprägten Situation. Buckley-Zistel beschreibt chosen amnesia wie folgt: „[T]he absence of certain memory, this chosen amnesia about past divisions, is less a mental failure than a conscious strategy to cope with living in proximity to ,killers‘ or ,traitors‘.“ (Buckley-Zistel 2006: 132) In der Sierra de Atoyac wird chosen amnesia bei Themen wirksam, die einerseits die relativ konfliktfreie Koexistenz und Zusammenleben in einer comunidad und andererseits die eigene Sicherheit oder jene der Familie gefährden könnten. So etwa ist das Verschweigen der Namen von KollaborateurInnen mit dem Militär, von den madrinas oder guías, in der eigenen comunidad verbreitet, da dies das Zusammenleben unter den Familien beeinträchtigen könnte. Die sozialen Netzwerke in einer comunidad sind zudem durch teils weitreichende verwandtschaftliche Verbindungen geprägt. Es kommt oft vor, dass es in derselben Großfamilie Akteure in gegensätzlichen Rollen gab, also Verschwundene, Kollaborateure oder Mitglieder von Militär und Polizei. Auch die Angst vor wiederholter staatlicher Repression gegenüber der eigenen Person oder Familie durch Bekanntgabe bestimmter Informationen ist unter den Angehörigen noch sehr präsent. Informationen, die dabei nicht explizit ausgesprochen bzw. verneint werden, sind etwa die tatsächliche Bekanntschaft mit Lucio Cabañas. So sagte ein Kleinbauer aus El Quemado, der gefoltert und für einige Zeit verschwinden gelassen wurde und dann wieder zurückgekehrt ist, dass er Lucio Cabañas nicht gekannt und ihn nie getroffen hätte. Familienmitglieder erzählten jedoch zu einem anderen Zeitpunkt, dass er ihn doch kannte. Oft haben GesprächspartnerInnen bei einem ersten Gespräch die Bekanntschaft oder Freundschaft mit Cabañas verneint, später dann aber im Vertrauen von dieser erzählt. Die Erinnerung an und das Sprechen über die Vergangenheit sind so immer noch von Ausverhandeln und Abwägen geprägte soziale Handlungen in der Sierra de Atoyac. Diese Form der Kommunikation wird auch auf die nächste Generation übertragen. Sowohl die Kontinuität der Suche nach den Verschwundenen, als auch bestimmte legitimierte Formen des Sprechens über die Vergangenheit werden so zu intergenerativen Verpflichtungen. Auch die Erinnerung an Lucio Cabañas in der Sierra de Atoyac, ist für die Angehörigen und SympathisantInnen eine Verpflichtung, wie im Folgenden gezeigt wird.
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Á LVAREZ
5.5.1 Die Sekundärbestattung von Lucio Cabañas „Dort waren sie vergraben. Als sie kamen, um die sterblichen Reste rauszuholen, uh, das hätten sie sehen sollen, es schien wie ein Fest! Alle (…) wollten sehen, ringsum sind die Leute auf die Gräber gestiegen, alle wollten sehen, was sie finden würden.“41 (Doña Florentina, Atoyac 2008)
Im Zuge der Transitionsregierung von Vicente Fox und der damit verbundenen Öffnung des Diskurses um den Schmutzigen Krieg wagten es die Familienangehörigen von Lucio Cabañas in Atoyac auch nach seinen sterblichen Resten zu suchen. Unter Mithilfe des ExpertInnenteams der guatemaltekischen Fundación Rigoberta Menchú und der mexikanischen Gruppe forensischer AnthropologInnen EMAAF (Equipo Mexicano de Antropología y Arqueología Forense) wurde im Jahr 2001 die Exhumierung des Leichnams von Cabañas durchgeführt (Fierro Santiago 2006). Eine Frau, die im Jahr 1974 gesehen hatte, wo der tote Körper von Cabañas von den Soldaten verscharrt wurde, hat nach 26 Jahren des Schweigens den Ort preisgegeben. Lucio Cabañas wurde in einem Grab unter einem anderen Leichnam im Friedhof von Atoyac de Alvárez begraben, um jegliche Spur über den Aufenthaltsort seiner sterblichen Überreste zu verwischen. Erst nach Jahrzehnten, im Jahr 2000 wagte es die Augenzeugin mit der Familie von Lucio Cabañas über den Ort zu sprechen. Sie wollte das Geheimnis nicht länger für sich behalten: „Sie wollte nicht mit dem Geheimnis sterben“42, erinnert sich José Luis Arroyo Castro im Gespräch über den Beweggrund der Zeugin (Atoyac, 2009). Doña Florentina, Frau eines Verschwundenen, erzählte über die Exhumierung des Leichnams von Lucio Cabañas: „Sie haben gegraben und zwei Nächte lang nicht geschlafen. Sie haben Hinweise bekommen und tief gegraben, sehr tief (…). Sie haben eine Zementschicht gefunden und weiter nach unten gegraben. Wie haben sie erfahren, dass er unter der Zementschicht war? Und ja, er war unter dem Zement. Sie haben die Schicht abgetragen und weitergegraben und dort waren die Reste, sie haben sie also gut versteckt, damit sie nicht gefunden werden würden. Und da war-
41 „Ahí estaban enterrados. Cuando venían a sacar los restos, uh, hubiera visto, parecía que era fiesta, (...) todos querían ver, se subían a los panteones para ver que iban a encontrar.“ (Doña Florentina, Atoyac 2008) 42 „No quería morirse con el secreto.“ (José Luis Arroyo Castro, Atoyac 2009)
368 | K AMPF UM R EHUMANISIERUNG en Haare und das Gebiss und dann nur noch die Knochen, klar, nach so langer Zeit.“43 (Doña Florentina, Atoyac, 2008)
Dem Leichnam wurden Nägel beigelegt, um eine schnellere Verwesung herbeizuführen, erzählte José Luis Arroyo Castro und zeigte mir einige Überreste der rostigen Nägel aus der Exhumierung. Zunächst wurden die Überreste des Leichnams von der Familie an einem geheimen Ort versteckt gehalten. Der Leichnam wurde anschließend nach Mexiko-Stadt überführt, wo eine DNA-Analyse gemacht und bestätigt wurde, dass es sich um Lucio Cabañas handelt. Die Familienangehörigen, soziale und politische Organisationen organisierten daraufhin die Zeremonie der Sekundärbestattung. Es war dies ein Ritual, das die kulturelle Bedeutsamkeit des bislang verweigerten Totenrituals zeigte. Die Zeremonie begann am 1. Dezember 2002 in Atoyac in Anwesenheit verschiedener sozialer Bewegungen aus Atoyac, Guerrero und anderen Bundesstaaten Mexikos. Die Urne wurde zunächst über den Hauptplatz getragen und dann in den hinteren Teil eines offenen Autos platziert, wo das Foto von Lucio Cabañas und die mexikanische Fahne drappiert war. Nach der Fahrt durch mehrere Straßen von Atoyac brach der Zeremonienzug von rund 100 TeilnehmerInnen zur Escuela Normal Rural von Ayotzinapa in der Nähe von Chilpancingo auf, wo Lucio Cabañas seine Lehrerausbildung gemacht hatte. Dort und anschließend auch am Hauptplatz von Chilpancingo und der Volksschule von El Cayaco, wo er als Kind zur Schule gegangen war, wurden Erinnerungsakte durchgeführt. Nach der Rückkehr am selben Tag nach Atoyac wurde eine Nacht lang die Totenwache gehalten. Am nächsten Morgen, den 2. Dezember 2002, wurde die Urne in einer Prozession zur comunidad San Martín de las Flores gebracht, auf deren Friedhof Rafaela Gervasio Barrientos, Mutter von Lucio Cabañas, begraben liegt. Die Zeremonie der Wiederbegegnung (ceremonia del encuentro), wie sie von der lokalen Bevölkerung genannt wurde, sollte Lucio Cabañas in diesem rituellen Akt symbolisch mit der Mutter vereinen (Fierro Santiago 2006). Bis zu ihrem Tod im Jahr 1997 hatte die Mutter vergebens Informationen über die sterblichen Reste ihres Sohnes gefordert. Die Urne wurde neben das Grab der Mutter gestellt. Guillermina Cabañas, die der Zeremonie beiwohnte, meinte: „Dieses symbolische und spirituelle Zusammentreffen ist ein Beispiel von Müttern, die
43 „Excavaron, no durmieron dos noches. Les dieron señas, le cavaron hasta abajo, hondisimo [...]. Pues hallaron la mezcla y le siguieron. ¿Como supieron que estaba debajo de la mezcla? Y si, estaba debajo de la mezcla. Quitaron la mezcla y siguieron cavando y ahí estaban los restos y asi que los escondieron bien para que no se hallaran. Y tenían cabello y la dentadura y ya nada más estaban los restos, formados, pues tanto tiempo.“ (Doña Florentina, Atoyac, 2008)
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gestorben sind und ihre Kinder nicht mehr wiedergesehen haben, und von jenen, die leben und kämpfen, um sie zu finden.“44 (Cabañas zit. in: Fierro Santiago 2006: 162 f.). Die Urne wurde anschließend in einer Prozession wieder zurück nach Atoyac gebracht, wo in der Volksschule Modesto Alarcón, in der Cabañas als Lehrer gearbeitet hatte, die Zeremonie fortgeführt wurde. Auf dem Hauptplatz schließlich, auf dem das Massaker vom 18. Mai 1967 stattgefunden hatte, wurde schließlich die Urne in einen dafür erbauten Obelisken gelegt (vgl. Abb. 9). Der Platz hat historischen und symbolischen Wert für die Opfer, stellt er doch den Beginn der Repression gegen die Bevölkerung der Sierra de Atoyac dar. Der mexikanische Schriftsteller Carlos Montemayor, der an der Prozession teilnahm, sagte in seiner Rede über Lucio Cabañas: „Mit der Würde von Lucio Cabañas ist unser Land größer, reiner, stolzer und lebendiger. Diese Würde verschwindet nicht wie das vergossene Blut (…). Diese Würde wächst jeden Tag weiter. Verschwinden wird die Erinnerung an jene Regierenden und jene Mörder, die ihn Bandit, Dieb, Kriminellen, Mörder nennen wollten.“45 (Montemayor zit. in: Habana de los Santos/Saavedra Lezama 2002)
Dem verbreiteten Diskurs der PRI-Regierung von einem Lucio Cabañas als „Kriminellen, Verbrecher, Dieb und Mörder“, wie Montemayor betonte, sollte mit diesem Akt die Perspektive der lokalen Bevölkerung entgegengesetzt werden. Das Militär wollte die Transformation der rebellierenden Kleinbauern in Helden und in Märtyrer verhindern und sorgte mit dem Verschwindenlassen der Menschen dafür, dass es keine Körper und keine Orte gab, mit denen die Überlebenden Märtyrer konstruieren konnten. Auch die Leiche von Lucio Cabañas wurde an einem geheimen Ort verscharrt. Durch die Zeremonie der Sekundärbestattung als öffentlichen Akt wurde er zum anerkannten Helden und Märtyrer für viele BewohnerInnen der Sierra de Atoyac. Immer wieder hört man: „Lucio ist für die Armen gestorben“46, wie etwa Doña Virginia aus der Colonia 18 de Mayo sagte. Sie verglich ihn auch
44 „Este encuentro símbolico – espiritual es un ejemplo de madres que han muerto y no han encontrado a sus hijos y de aquellas que viven y luchan por encontrarlos“ (Cabañas zit. in: Fierro Santiago 2006: 162 f.) 45 „A partir de la dignidad de Lucio Cabañas nuestro país es más grande, más puro, más orgullosamente vivo. Esta dignidad no desaparece como la sangre que se derrama [...]. Esta dignidad se acrecienta cada dia. Desaparece la memoria de aquellos gobernantes y de aquellos asesinos que lo quisieron llamar gavillero, ladrón, delincuente, asesino.“ (Montemayor zit. in: Habana de los Santos/Saavedra Lezama 2002) 46 „Lucio murió por los pobres.“ (Doña Virginia, Colonia 18 de Mayo, 2008)
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mit Jesus von Nazareth „Sein Gesicht sieht wie jenes von Jesús aus.“47 Dabei bezieht sie sich auf das Foto, das nach der Öffnung der Archive publiziert wurde und den Leichnam von Lucio Cabañas nach dessen Ermordung zeigt. Diese Sekundärbestattung war Teil der Rituale rund um die Erinnerung an die subalternen Helden des Schmutzigen Krieges. Jener Helden, die offiziell vergessen waren, im kollektiven Imaginären der Menschen jedoch weiterleben. Bei dieser Zeremonie hat sich auch erstmals die einzige Tochter von Lucio Cabañas, Micaela Cabañas Ayala in der Öffentlichkeit gezeigt. Unter der PRI-Regierung bis zum Jahr 2000 war die Angst vor Repression zu groß für einen öffentlichen Auftritt (vgl. Fierro Santiago 2006).48 Mit diesem politischen Ritual wurde Lucio Cabañas schließlich zu einen sichtbaren und öffentlichen Helden der Armen. Dies zeigte sich auch in der Etablierung verschiedener Erinnerungsorte in Atoyac de Álvarez.
5.5.2 Orte der Erinnerung an Lucio Cabañas
„Ich erinnere mich immer an ihn, an Lucio. Er sagte (…), wenn dir jemand was Böses antut, tu du etwas Gutes. Immer erinnere ich mich an Lucio, wie er war. Er war sehr ruhig (…), hat viel gelacht, er wurde nie wütend, wenn es was gab, hat er sich nicht geärgert, er hat gelacht. (…) Ich erinnere mich immer an ihn.“49 (Doña Florentina, Atoyac, 2008)
Viele Kleinbauern und Kleinbäuerinnen der Sierra de Atoyac erinnern sich an Lucio Cabañas. Sie erzählen von seinem Humor, seiner Intelligenz, seiner Bescheidenheit, seinem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn und seinem Kampfesgeist für die Anliegen der Armen. Sein Leitspruch „dasVolk sein, mit dem Volk sein, mit dem Volk gehen“ (ser pueblo, estar con el pueblo, andar con el pueblo) transformierte sich im kollektiven Imaginären der Kleinbauern in den Spruch „Lucio, das Volk vermisst dich“ (Lucio, el pueblo te extraña). Dieser Spruch ist manchmal auch in den Häusern in Atoyac zu lesen. Es drückt den realen, aber auch den symbolischen Verlust eines Helden aus, der für die Anliegen der Armen gekämpft hat. Eine politische Figur, die in der fragmentiertenund von Konflikten gekennzeichneten Land-
47 „Su cara se ve como la de Jesús.“ (Doña Virginia, Colonia 18 de Mayo, 2008) 48 Die Möglichkeiten des öffentlichen Sprechens sollten sich jedoch dann im Jahr 2011 auch unter der PAN-Regierung wieder verändern, als Micaela Cabañas Ayala erneut Morddrohungen erhält (vgl. Kap. 7) 49 „Yo siempre me acuerdo de él, de Lucio, decía él, (...) a quien le hacen un mal, hagale un bien, dice. Siempre me acuerdo yo de Lucio, de lo que era el. Era muy calmo (…), pura risa, no le daban corajes, de alguna cosa, no le daba coraje, se reía. (...) Siempre me acuerdo de él.“ (Doña Florentina, Atoyac, 2008)
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schaft der sozialen Bewegungen der Sierra de Atoyac fehlt, wie viele meinen: „So einen wie ihn gab es nachher nie wieder“50, sagte etwa Don Marino. Lucio Cabañas51 als eine Robin Hood ähnliche Figur lebt in der Sierra de Atoyac in vielerlei Aspekten weiter. Die Menschen erzählen sich Anekdoten und Geschichten rund um sein Leben. Jene, die ihn persönlich gekannt haben, tauschen Erlebnisse und Gespräche, die sie mit ihm hatten, aus. Dieses Erzählen ist verstärkt seit dem Beginn der politischen Transition im Jahr 2000 möglich. Aber auch in der Gegenwart gibt es immer noch viele Menschen, die es nicht zu sagen wagen, dass sie ihn kannten. Die Angst ist internalisiert, waren doch in den 1970er Jahren die zentralen Fragen der Soldaten: „Kennen Sie Lucio Cabañas?“ Oder: „Wo ist Lucio Cabañas?“,„wer ist für Lucio Cabañas?“ Auch ein Nachname, der zeigte, dass man in einem Verwandtschaftverhältnis zu ihm stand, reichte aus, um gefoltert und/oder verschleppt zu werden. Für viele Menschen in der Sierra ist Lucio Cabañas zum Mythos geworden. Anekdoten kursieren, dass er noch lebe, dass er manchmal in der Sierra mit anderer Identität auftauche, dass er manchen Menschen erscheine. Andere meinen, dass er im Ausland leben würde. Geschichten über seinen Tod zirkulieren, dass er sich selbst umgebracht hätte, bevor ihn die Soldaten erschießen konnten. In zahlreichen Gesprächen mit Frauen und Männern verschiedener comunidadeshört man immer wieder den Satz: „Lucio war ein guter Mensch.“ Die Statue von Lucio Cabañas am Zocalo von Atoyac, dem Hauptplatz, hat daher für viele eine wichtige symbolische Bedeutung. Don Mario, ein Kleinbauer, dessen Vater 1972 verschleppt wurde, sagte stets, wenn wir einen Treffpunkt in Atoyac vereinbarten: „Wir treffen uns bei Lucio.“52 Er meinte, dass wenn er ihn dort stehen sehe, er sich immer an ihn erinnere, ihn immer vor sich habe. Vergangenheit und Gegenwart verdichten sich gleichsam in diesem Moment, an diesem Ort vor der Statue für jene, die den Schmutzigen Krieg erlebt haben. „Er war ein mutiger Mann“53, sagte Don Mario oft. Mutig und tapfer sein, ist eine wichtige Eigenschaft für die Kleinbauern und Voraussetzung, um sich nicht von der Regierung oder den lokalen Kaziken demütigen zu lassen. Die Errichtung des Monuments zu Ehren von Lucio Cabañas54 durch die Organisation der Verwandten und AnhängerInnen war daher auch ein wichtiger symboli-
50 „Después de él ya no hubo nadie igual“ (Don Marino, Atoyac 2010). 51 Zu den historischen Aspekten der Bewegung von Lucio Cabañas vgl. Kap. 2. 52 „Nos vemos dónde Lucio.“ (Don Mario, San Vicente de Jesús, 2009) 53 „Era un hombre valiente.“ (Don Mario, San Vicente de Jesús, 2009) 54 Aus Mangel an finanziellen Ressourcen für das Material der Statue machten die Verwandten von Lucio Cabañas einen Aufruf in der Bevölkerung. Hunderte von alten Schlüsseln aus Bronze wurden daraufhin gesammelt und vom Künstler, der die Statue anfertigte, eingeschmolzen.
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scher Akt der Anerkennung. Der Anerkennung ihres Helden im Gegensatz zu den offiziellen Helden der Regierung: eines Helden des Volkes, der Kleinbauern, der Armen. Jedes Jahr wird daher dort am 18. Mai, dem Tag des Massakers von 1967, und am 2. Dezember, dem Tag der Ermordung von Lucio Cabañas, eine Zeremonie abgehalten. Blumen und Kränze werden zu Füßen seiner Statue gelegt (vgl. Abb. 9), Kerzen angezündet, eine Totenwache für ihn gehalten. Im Jahr 2010 wurde erstmals der Gedenktag am 18. Mai von der Bezirksregierung von Atoyac mitgetragen. Bürgermeister Bello Gómez, Mitglied der PRD (Partido de la Revolución Democrática) hielt eine öffentliche Ansprache und betonte die Wichtigkeit der Bewegung von Lucio Cabañas. Eine Gedenktafel mit den Namen der fünf Ermordeten vom 2. Dezember 1974 wurde am Monument von Lucio Cabañas enthüllt. Zahlreiche soziale Organisationen aus der Sierra de Atoyac, von Kleinbauernorganisationen bis Angehörigenorganisationen der Verschwundenen, versammelten sich und trotz teils massiver Konflikte untereinander vernetzten sie sich erstmals unter einem gemeinsamen Dachverband – der Izquierdas Unidas del Sur (Vereinte Linke des Südens). Eine Originalaufnahme einer Rede von Lucio Cabañas wurde abgespielt und so eine Kontinuität der Vergangenheit mit der Gegenwart geschaffen. Lucio Cabañas war für die rund 500 TeilnehmerInnen in diesem Moment präsent, so die Aussage vieler (vgl. Valadéz Luviano 2010). Ein weiterer Erinnerungsort ist die Höhere Schule von Atoyac. Die Direktorin der Preparatoria 22 (Gymnasium), De la Luz Mendoza Pena, die Teil der Universidad Autonóma de Guerrero ist, hatte bei der Schulbehörde angesucht, dem Gymnasium den Namen Lucio Cabañas Barrientos zu geben. Ihre Begründung und jene von 50 % des dort arbeitenden Personals: „[E]s ist eine gute Möglichkeit, die historische Erinnerung an eine derart wichtige Persönlichkeit im Land zu erhalten.“55 (de la Luz Mendoza zit. in: Valadéz Luviano 2009) Vor einigen Jahren haben auch Kleinbauern der Sierra und ArbeiterInnen von Atoyac gemeinsam mit Familienangehörigen von Lucio Cabañas Barrientos ein brach liegendes Stück Land außerhalb von Atoyac besetzt, um auf die Situation der Armut und Landknappheit in der Sierra hinzuweisen. In einem jahrelangen Kampf konnten sie den Besitz des Grundstückes für sich legalisieren und gaben dieser neuen Colonia von Atoyac in Gedenken an den Tag der Ermordung von Lucio Cabañas den Namen „2 de Diciembre“ (2. Dezember). Im Jahr 2002, zeitgleich mit der Errichtung des Denkmals für Lucio Cabañas am Zócalo von Atoyac, wurde ein Raum im Zentrum von Atoyac als Erinnerungsort und Museum eingerichtet. Juan Reynada, damaliger Mitkämpfer von Lucio Cabañas, stellte dafür einen Raum in seinem Haus zur Verfügung. Es versammelten
55 „[E]s una buena oportunidad para preservar la memoria histórica de tan importante personaje en la vida del pais.“ (de la Luz Mendoza zit. in Valadéz Luviano 2009)
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sich verschiedene Organisationen aus Atoyac und Mexiko-Stadt, Intellektuelle und SchriftstellerInnen und die Familie von Lucio Cabañas, um den Gedenkort mit historischer Erinnerung zu füllen. Materialien, Dokumente und Fotos aus dem Leben von Cabañas wurden aus den verschiedensten privaten Archiven gesammelt und ausgestellt, KünstlerInnen malten und spendeten Bilder von Lucio Cabañas und es wurden T-shirts, Kalender und CDs über Lucio Cabañas produziert und verkauft. Bald jedoch traten die ersten Interessenkonflikte auf. Wer hat die Berechtigung, das eingenommene Geld zu verwenden? Wozu soll es verwendet werden? Anschuldigungen kamen auf, dass mit der Person Lucio Cabañas Geld gemacht wurde und sich einzelne damit bereichern würden. Folge der Interessenkonflikte war die Schließung des Museums und der Transfer der Materialien in ein Privathaus in Atoyac. Kurz darauf wurden Teile dieses Hauses niedergebrannt. Die Brandstifter sind bis heute unbekannt, Gerüchte kursierten über die möglichen Urheber des Brandes, über staatliche Akteure oder Mitglieder anderer Organisationen. Nie gab es jedoch Beweise. Teile der historischen Materialien wurden bei diesem Brand vernichtet. Was gerettet werden konnte, wurde in ein anderes Haus übersiedelt, wo es bislang weilt. Die Angehörigen der Organisation Consejo Cívico Comunitario Lucio Cabañas Barrientos (CCCLCB) haben im Jahr 2010 in Zusammenarbeit mit der Unión de Trabajo Autogestivo (UTA) aus Mexiko-Stadt ein neues Museumsprojekt zur Dokumentation und Ausstellung der Materialien aus der Zeit des Schmutzigen Krieges begonnen. Das Museum soll jedoch nicht nur die Geschichte von Lucio Cabañas darstellen, sondern ein Erinnerungsmuseum werden, welches über die Ereignisse des Schmutzigen Krieges in einem breiteren Kontext erzählt. Es soll vor allem auch ein Ort über die Verschwundenen und für die Angehörigen der Verschwundenen sein. Es wird testimonios der Angehörigen beinhalten, ihre Geschichte und ihre Organisationsformen beleuchten und so zur öffentlichen Anerkennung ihrer Erfahrungen, aber auch ihrer Forderungen beitragen. Ein Ort, der ebenfalls an die Gewalt des Schmutzigen Krieges erinnern soll, ist das Museum in Mexiko-Stadt in Gedenken an das Massaker von Tlatelolco.
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M EXIKO -S TADT
5.6.1 Das Memorial del 68 Lange Zeit gab es in Mexiko-Stadt keinen Erinnerungsort an das Massaker von Tlatelolco vom 2. Oktober 1968 (vgl. Kap. 1.3). Die Erinnerung an das Massaker wurde vielmehr zunächst in den Straßen von Mexiko-Stadt wachgehalten. Seit Mitte der 1970er Jahre finden alljährlich am 2. Oktober Demonstrationen und Gedenkmärsche von Überlebenden, Angehörigen der Ermordeten und Verschwundenen, Studierenden und anderen sozialen und politischen Bewegungen statt. Der 2. Oktober mit dem kämpferischen und mahnenden Appell 2 de octubre no se olvida! (Der 2. Oktober wird nicht vergessen!) hat sich zu einer alljährlichen Großdemonstration mit zehntausenden TeilnehmerInnen entwickelt, in der aktuelle politische Themen und Proteste verschiedenster Organisationen aufgegriffen werden und so an die Kontinuität staatlicher Repression erinnert wird. Im Jahr 1993, zum 25. Jahrestag, hat das Comité 68, eine Organisation von Überlebenden und AktivistInnen, eine Gedenktafel auf der Plaza de Tlatelolco errichtet und so den ersten physisch fixierten Erinnerungsort für das Massaker geschaffen. Fünf Jahre später, mit dem Machtverlust der PRI in der Hauptstadt und der Wahl des ersten Bürgermeisters der Oppositionspartei PRD, Cuauhtémoc Cárdenas Solorzano, wurde erstmals auch von Stadtregierungsseite eine Inschrift für die Opfer von Tlatelolco angebracht (vgl. Abu Chouka 2011). Im Jahr 2005 wurde das Centro Cultural Universitario Tlatelolco der Universidad Nacional Autónoma de México gegründet. In diesem Gebäudekomplex auf dem Platz von Tlatelolco befindet sich das Memorial del 68 (vgl. Abb. 53) ein Museum, das an das Massaker von Tlatelolco im Jahr 1968 erinnert und 2007 eröffnet wurde. Es steht direkt am Platz von Tlatelolco, dem Platz der drei Kulturen, an dem am 2. Oktober das Massaker in der Regierungszeit von Díaz Ordaz und Luis Echeverría verübt wurde. Es ist der erste Erinnerungsort in Mexiko für Opfer des Schmutzigen Krieges und wurde vor allem unter Mitarbeit von Überlebenden des Massakers organisiert im Comité del 68 der Universidad Autónoma de México aufgebaut.56 Das Museum erzählt mittels Multimedia-Installationen, Videos, Dokumenten, Fotos und testimonios von ZeitzeugInnen über die Ereignisse des Massakers von 1968 und die gesellschaftlichen und politischen Prozesse vor und nach dem Jahr 1968 (vgl. Huffschmid 2010b). Die mexikanische Schriftstellerin Elena Poniatowska, selbst Teil
56 Für einen virtuellen Rundgang durch das Museum siehe die Homepage des Memorial del 68 im Centro Cultural Universitario Tlatelolco: http://www.tlatelolco.unam.mx/museos. html (Letzter Zugriff: 30.04.2014).
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der StudentInnenbewegung, meinte zur Bedeutung des Jahres 1968: „Das Jahr 68 hat uns glauben lassen, dass ein anderes Mexiko möglich ist, das Mexiko, für das wir jetzt kämpfen.“57 (Poniatowska 2008) Während das Memorial del 68 die Geschichte des Schmutzigen Krieges mit einem Fokus auf das Massaker von Tlatelolco erzählt, erinnert ein anderes Museum an die Verschwundenen dieses Konfliktes.
5.6.2 Casa de la Memoria Indómita „Das Comité Eureka hatte Interesse daran, dass es nicht eine lineale, traditionelle Museumssache werden sollte (…), wo viel Information gegeben wird. Vielmehr will man eine einfache und humane Version geben, die fähig ist, mit den Menschen zu kommunizieren, egal auf welchem Informationsniveau sie sich befinden. Menschen sollen erreicht werden, die viel über das Thema wissen, aber auch Menschen, die nichts über das Thema wissen, die aber auch die Information und die Anklage des Comités mitnehmen können.“58 (Aimé Jezabel, MexikoStadt 2012)
So beschreibt die Museumsmitarbeiterin Aimé Jezabel im Gespräch das Konzept des neu gegründeten Museums Casa de la Memoria Indómita, das Haus der widerspenstigen Erinnerung (vgl. Abb. 49). Der Name ist bezeichnend für den jahrzehntelangen Kampf der Angehörigen und auch für das Museumsprojekt selbst. Das Comité Eureka konnte im Juni 2012 nach vielen Jahren der Planung das erste Museum in Gedenken an die Verschwundenen im historischen Zentrum von MexikoStadt eröffnen. Das Museum, welches in einem Gebäude untergebracht ist, das ihnen von der PRD-Regierung von Mexiko-Stadt überlassen wurde, enthält eine permanente Ausstellung, die unter anderem mit der Expertise des argentinischen Museumsexperten Ignacio Vázquez durchgeführt wurde, der Ausstellungen im Museum der Erinnerung und Toleranz in Buenos Aires konzipierte (vgl. Balerini Casal 2012). Wie Aimé Jezabel mir beim Museumsrundgang erklärte, ist das Konzept der Annäherung an das Thema eines, das weniger mit Textinformationen arbeitet, son-
57 „El 68 nos hizo creer que otro México era posible, el México por el que luchamos ahora.“ (Poniatowska 2008) 58 „Comité Eureka tenía un interés, que no fuera un asunto muy lineal, tradicional en términos de los museos (…) y dar muchisima informacion, sino dar una version muy simple, muy humana que fuera capaz de comunicarse en cualquier nivel de información que se tuviera. Gente que sabe mucho sobre el tema, gente que no sabe nada sobre el tema e igual puede ubicar la información y la denuncia del Comité.“ (Aimé Jezabel, MexikoStadt 2012)
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dern vielmehr die Sinne und Emotionen der BesucherInnen berühren möchte: „[E]l guión es más sensitivo y auditivo. Audios, imagenes, algunos discursos, algunas crónicas, algunos testimonios (…). En términos de letras escritas, hay pocas.“ (Jezabel, Mexiko-Stadt 2012) So beginnt dann auch der Rundgang mit einer Installation eines Künstlers, mit dem Titel Apariciones (Auftauchen, Erscheinungen), in der Plastikstreifen mit 557 Namen von Verschwundenen und dem Datum ihrer Verschleppung in der Mitte des Raumes hängen. Die Massaker von Tlatelolco 1969 und Corpus Christi 1971 werden durch wandgroße Fotos dargestellt. Holzstäbe am Boden symbolisieren die Waffen der paramilitärischen Einheit der Brigada Blanca. Zu sehen ist auch das vor einigen Jahren veröffentliche „Werbevideo“ des ehemaligen Geheimdienstes Dirección Federal de Seguridad (DFS), das die Perspektive der Täter zeigt. Eine Installation mit persönlichen Objekten der Verschwundenen, die in Kunstharz eingeschweißt sind, so etwa die Brille (vgl. Abb.51), die Krawatte, das Buch oder der Schmuck einzelner Verschwundener. Ein anderer Raum mit schwarzen Wänden präsentiert als einziges Objekt einen Stuhl in der Mitte, über dem eine Lampe hängt, die den Stuhl beleuchtet. Diese Installation steht für die Verhöre unter Einsatz von Folter in den Gefängnissen, während aus den Lautsprechern testimonios von Folteropfern zu hören sind. Ein weiterer Raum, der Sala de Espera (Warteraum, vgl. Abb. 52) genannt wird, zeigt einen Lehnstuhl mit einem Tischchen und einem Telefon an der Seite. An den Wänden hängen eingerahmte Bilder der Verschwundenen und in der Mitte steht ein Wohnzimmertisch auf dem Notizbücher für die Verschwundenen liegen. Es ist ein interaktives Projekt, in dem BesucherInnen, die eine/n Verschwundene/n gekannt haben, in diesen Heften Anekdoten und Daten aus deren Leben schreiben oder Fotos und Dokumente einkleben können (vgl. 50). Ein weiterer Raum beschäftigt sich mit dem Kampf der Angehörigen des Comité Eureka seit den 1970er Jahren, zeigt Fotos der Demonstrationen, der Proteste und Plakate mit den Forderungen. In einem Notizbuch können BesucherInnen mit einem beiliegenden Bleistift einen Namen eines Verschwundenen eintragen, falls diese/r noch nicht in den bestehenden Listen eingetragen ist. Ein Radiergummi, der beiliegt, soll die Hoffnung ausdrücken, dass diese Namen auch wieder ausradiert werden können, sollten die Verschwundenen wieder auftauchen, wie Aimé Jezabel betonte. Ein Blick auf dieses Notizbuch zeigt, dass auch bereits einige neue Fälle von Verschwundenen der letzten Jahre (vgl. Kap. 7.1) eingetragen wurden. H.I.J.O.S. México, welches mit Comité Eureka im Museum zusammenarbeitet, hat drei weitere Räume gestaltet, die mittels Videos und Plakaten ihre performativen Protestaktionen der escraches zeigen (vgl. Kap. 5.1). Edith López Ovalle, Mitglied von H.I.J.O.S. und Museumsmitarbeiterin, führte zu einem escrache im Museum, einen Raum, in dem kleine Gefängniszellen nachgebaut sind, hinter denen die Fotos und Namen der Täter des erzwungenen Verschwindenlassens eingebaut wurden. Eine Zelle zeigt etwa General Acosta Chaparro, eine andere Ex-Präsident Luis
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Echeverría, aber auch die Präsidenten der Transitionsregierung, Vicente Fox und Felipe Calderón, werden dort hinter Gittern dargestellt. López Ovalle nannte diesen Raum la galería del horror, die Horrorgalerie (López Ovalle, Mexiko-Stadt, 2012). Das Haus der widerspenstigen Erinnerung zeigt sehr eindrücklich und auf vielen Ebenen, was den Kampf der Angehörigen um Rehumanisierung seit den 1970er Jahren ausmacht, was die Forderungen, die Praktiken, die Diskurse und die schwierige emotionale Ebene der Liminalität beim Verbrechen des Verschwindenlassens sind. Ein Element, das mit diesem Museum bisher jedoch noch nicht erreicht wurde, ist, dass dieses Haus der widerspenstigen Erinnerung auch das Haus aller Angehörigen der Verschwundenen in Mexiko wird. In Atoyac de Álvarez etwa meinten einige Angehörige, als ich vom Besuch dieses Museums erzählte, dass sie bisher noch nichts von diesem Projekt in der Hauptstadt gehört hätten. Im Folgenden soll daher nochmals auf die Gruppe der Angehörigen als soziale Erinnerungsgruppe eingegangen werden. In den vorangegangenen Kapiteln wurde der Prozess der Entwicklung der Angehörigengruppen, ihre Vernetzungsprozesse, ihre Forderungen und ihre politische Praxis dargestellt und diese in Verbindung mit den politischen Prozessen auf nationaler Ebene beleuchtet. im Folgenden Kapitel werden nun die Angehörigen in ihrer Heterogenität und auch mit ihren internen Differenzen gezeigt. Denn trotz der Tatsache, dass alle vom Verschwindenlassen eines Familienmitglieds betroffen sind, sind die Strategien und Handlungsweisen, mit dieser Erfahrung von Gewalt umzugehen, sehr unterschiedlich.
6. Angehörige von Verschwundenen: Heterogene Gruppen, Differenzierungen und Konflikte „Die Universität von Südkalifornien lud die Senatorin Rosario Ibarra ein, um einen Vortrag zu halten mit dem Titel: ,Politische Repression und erzwungenes Verschwindenlassen. Der Kampf für Menschenrechte und Freiheit im gegenwärtigen Mexiko‘.“1 (¡Eureka! 2009: 14)
Am 12. März 2009 hielt Rosario Ibarra de Piedra (vgl. Abb. 24, 25), Mutter des Verschwundenen Jesús Ibarra de Piedra, einen Vortrag an der Universität von Südkalifornien (University of Southern California, USC). Als Präsidentin des Comité Eureka, Senatorin der Partei der Arbeit (Partido del Trabajo) von 2006 - 2012 und politische Aktivistin für Menschenrechte, wurde Ibarra durch ihr Engagement zur national und international bekanntesten Figur der Angehörigen der Verschwundenen Mexikos. Sie unterstützte stets auch andere politische und soziale Bewegungen und wurde etwa bei den „Friedensdialogen“ (Diálogos por la Paz) im Jahr 1994 zwischen mexikanischer Regierung und EZLN von letzteren als eine der Vermittlerpersonen nominiert. Viermal war sie für den Friedensnobelpreis nominiert (1986, 1987, 1989, 2005). Im Jahr 1982, einige Jahre nach Gründung des Comité Eureka, trat sie als Kandidatin bei den Präsidentschaftswahlen an.2 Ihren Wahlkampf starte-
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„La Universidad del Sur de California invitó a la Senadora Rosario Ibarra a impartir la conferencia ,Represión política y desaparición forzada la lucha por los derechos humanos ylibertad en el México contemporáneo.‘“ (¡Eureka! 2009: 14)
2
Vg.l eine Zusammenfassung ihrer Biografie unter: http://artepepan.com.mx/home najerosarioibarra/semblanza.html (Letzter Zugriff 30.04.2014).
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te sie damals bei den Angehörigen Verschwundener der Sierra de Atoyac. Sie wird in den Medien, von politischen Oppositionsparteien und der Zivilgesellschaft als Repräsentantin der Angehörigen betrachtet. Kontinuierlich seit den 1970er Jahren hat sie gemeinsam mit anderen Angehörigen gegen die bisherige Politik der mexikanischen Regierungen protestiert und für Aufklärung der Verbrechen gekämpft. Sie wird auf nationaler und internationaler Ebene als Symbol der historischen Entwicklung der mexikanischen Menschenrechtsbewegung betrachtet. Wie wird nun dieser Erfolg einer sozialen und politischen Kämpferin für die Anliegen der Verschwundenen auf lokaler Ebene betrachtet? Viele Angehörige sehen sie als öffentliche Figur des Widerstandes, des Protestes, als Galionsfigur ihrer Bewegung und werten es als Erfolg, dass sie politische Positionen innehat und auch über die Grenzen Mexikos hinaus über das Thema der Verschwundenen spricht. Andere jedoch, wie viele aus der Sierra de Atoyac sehen dies keineswegs positiv und betrachten mit Misstrauen, dass Rosario Ibarra gleichsam als Repräsentantin für ein Opferkollektiv im Ausland spricht und in ihrem Namen politische Positionen vertritt und daraus vermutete ökonomische Vorteile erzielt. Dieses Beispiel soll zeigen, dass die soziale Gruppe der Angehörigen der Verschwundenen nicht nur mit den in der Öffentlichkeit sichtbaren Figuren verstanden werden kann, dass sie also keinesfalls eine homogene Opfergruppe mit denselben Charakteristika darstellen. Vielmehr handelt es sich um eine differenzierte Gruppe von Menschen, die zwar ähnliche traumatische Erfahrungen von kollektiver Gewalt und Terror mit dem Verschwindenlassen eines Angehörigen in der Vergangenheit erlebt, aber dennoch unterschiedliche Aufarbeitungsstrategien entwickelt haben. Aus dieser Differenzierung haben sich im Zuge der Implementierung staatlicher Transitional-Justice-Instrumente zudem weitere Differenzierungen und auch konfliktbeladene Dynamiken herausgebildet. In Aufarbeitungsprozessen werden die Angehörigen meist als homogenes Kollektiv von Opfern konstruiert. In bestimmten öffentlichen Kontexten treten sie als homogene Gruppe mit denselben Interessen auf und werden auch von bestimmten Akteuren wie etwa in der Darstellung in den Medien oder in wissenschaftlichen Analysen als solche konstruiert. Hier soll jedoch an die Kritik der Kategorisierung von homogenen Opfergruppen von Alejandro Castillejo Cuéllar (2005) erinnert werden. Er spricht in Aufarbeitungskontexten von Krieg und Gewalt von der Konstruktion einer Ontologie des Opferstatus, der spezifische persönliche Erfahrungen oft nicht berücksichtigt. Da es eine festgelegte politische oder juristische Kategorie ist, wer Opfer ist und wer nicht, fallen viele Menschen, die zwar dieselben Gewaltakte erlebt haben, nicht aber ähnlich sprechen und sichtbar werden, oftmals nicht unter die Opferkategorie. Dies weist auf die Grenzen hin, komplexe Phänomene in analytischen Kategorien zu verorten (vgl. Castillejo Cuéllar 2005). Im Falle Mexikos sehen sich marginalisierte Angehörige der Sierra de Atoyac, die keine Ressourcen und keinen Zugang zu Medien und nationalen/internationalen
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Organisationen oder NGOs haben, als eine vergessene und exkludierte Gruppe, deren Bedürfnisse und Forderungen nicht in die Öffentlichkeit gelangen und deren Stimmen nicht gehört werden. Stattdessen werden die öffentlich sichtbaren RepräsentantInnen der Angehörigengruppen als Referenzgruppe herangezogen, deren Forderungen dann auch für die Bedürfnisse aller stehen. Diese Differenzierungen führten vor allem seit dem Einsetzen der Transitional-Justice-Prozesse zu Konflikten um das Recht der Repräsentation und das Recht für die Anderen zu sprechen. Dichotomien von Wir/sie-und Freund/Feind-Konstruktionen bildeten sich also nicht nur zwischen Opfern und Tätern, sondern auch zwischen den Opfern. Die Heterogenität und die Differenzierungsprozesse der Angehörigen werden im Folgenden beschrieben, wobei die entstandenen Konflikte als eine weitere Friktion in Transitional Justice Prozessen definiert werden soll.
6.1 H ETEROGENE O PFERGRUPPEN Entgegen einer oft homogenen Darstellungsweise eines Opferkollektivs von Angehörigen Verschwundener sollen nun Differenzierungen genauer betrachtet werden. Aufgrund eigener Beobachtungen, der Narrationen in den testimonios und der Berichte aus Literatur und Medien ergeben sich Differenzierungen innerhalb der Gruppe der Angehörigen vor allem aufgrund von vier Aspekten: (1) Sprechen/Schweigen über Verschwundene, (2) Vernetzung/Nicht-Vernetzung mit Anderen, (3) Sichtbarkeit/Unsichtbarkeit im öffentlichen Raum, (4) Politisches rituelles Handeln/kein politisches rituelles Handeln. Diese Elemente haben sich einerseits in einem historischen Prozess verändert und bedingen sich andererseits fortlaufend. Diese Differenzierungsfelder sollen nicht als starre, unveränderbare Handlungsoptionen der Angehörigen gedacht werden, sondern als eine prozesshafte und zirkuläre Abfolge. Diese zirkuläre Abfolge entsteht durch die historische Entwicklung der lokalen sozialen Praxisder Angehörigen, die sich aber auch mit den politischen Rahmenbedingungen auf nationaler Ebene (im Sinne von politischen Transitionsprozessen) verändert. Alle Felder sind dabei untereinander verbunden: (1) Sprechen/Schweigen über Verschwundene bedingt (2) Sichtbarkeit/Unsichtbarkeit und diese wiederum (3) Vernetzung/NichtVernetzung. Sprechen/Schweigen, Sichtbarkeit/Unsichtbarkeit und Vernetzung/Nicht-Vernetzung wiederum bedingen (4) das politische rituelleHandeln. Dies wiederum bedingt die Intensität der weiteren Kommunikation, der Sichtbarkeit und Vernetzung. Die vier Differenzierungsformen der Angehörigen, die zunächst modellhaft aufgezeigt wurden, haben folgende Aspekte und bilden weitere Differenzierungskategorien, die nun skizziert werden.
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6.1.1 Sprechen/Schweigen über Verschwundene Die Formen der Kommunikation über das Ereignis des Verschwindenlassens eines Angehörigen sind nicht immer gleich. Das Spektrum reicht von: Schweigen über die Existenz eines Verschwundenen, Sprechen nur im privaten Raum, Sprechen über den/die Verschwundene/n im öffentlichen Raum. Bei der ersten Kategorie des Schweigens der Angehörigen über den/die Verschwundenen bleibt die zuvor von staatlichen Akteuren intendierte Auslöschung der Identität des verschwundenen Menschen fortbestehen. In der Literatur zu Verschwundenen wird meist nur die sprechende, die sichtbare und organisierte Gruppe der Angehörigen erwähnt, kaum jedoch die unsichtbare, die schweigende Gruppe. Im globalen Normverständnis von Transitional Justice wird das Sprechen über die Vergangenheit zum quasi universellen Gesetz erklärt. Dies widerspricht jedoch in vielen Fällen den lokalen Bedürfnissen von Opfern der Gewalt, die Aufarbeitungsstrategien anwenden, die nicht immer mit dem (okzidentalen psychoanalytischen Konzept des) repetitiven Sprechen über die Vergangenheit zusammenhängen. Lokal entwickelte Strategien des Schweigens im Konflikt und nach dem Konflikt haben vielfach auch mit der spezifischen politischen Situation und des Zusammenlebens in den Dörfern zu tun.3 Angehörige schweigen jedoch aus unterschiedlichen Gründen über ihre Erfahrungen. Die aus den testimonios erhaltenen Informationen zu den Gründen von Schweigen können folgendermaßen zusammengefasst werden:Schweigen aus Angst, Schweigen als Überlebensstrategie im alltäglichen Zusammenleben mit Tätern/Mittätern, Schweigen als Vermeidung der Intensivierung des Schmerzes, Schweigen aus Resignation und Hoffnungslosigkeit. Das Schweigen über die Verschwundenen aus Angst ist in der Sierra de Atoyac weit verbreitet. Doña Apolinar etwa, die Frau eines Verschwundenen, erzählt, dass es viele in Atoyac gebe, die aus Angst nicht nach ihren Verschwundenen suchen und sich auch deshalb nicht einer der Angehörigenorganisationen nähern: „Uh ja, aus Angst nähern sich viele Leute nicht. (…) Es sind so an die 500 oder mehr Personen, die aus Angst nicht dabei sind. (…) Die Angst ist schlimm, die Angst verursacht, dass sie nichts aus dir herausholen. Ich kenne Personen, die mir sagen, nein, nein, auf keinen Fall 4
bin ich dabei!“ (Apolinar Castro Román, Atoyac 2009)
3
Vgl. auch das Konzept von chosen amnesia von Buckley-Zistel (2006).
4
„Uhh, si, mucha gente no se acerca por el miedo, pues. [...] Por miedo hay como 500 y más personas. (…) Es que el miedo es canijo, el miedo hace que no te sacan nada. Yo conozco personas y me dicen ¡qué no, no, ni de chispa!“ (Apolinar Castro Román, Atoyac 2009)
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Die Angst, wie sie betont, sei „teuflisch“, die Angst bewirke, dass einem nichts „herausgezogen“ werden könne, dass man also keine Informationen preisgebe und nicht über die Vergangenheit spreche. Schweigen aus Angst bezieht sich hier auch auf eine Überlebenstrategie für Angehörige, um angesichts eines kontinuierlichen Klimas der Unsicherheit und Gewalt in der Region Atoyac Probleme zu vermeiden. So sagt auch Don Simón, dass es in seiner comunidad El Nanchal und in der comunidad San Andrés de la Cruz mehrere Angehörige gebe, die er persönlich kenne, die nie öffentlich über ihre Verschwundenen gesprochen und sich nie in einer Angehörigenorganisation vernetzt haben. Es findet also ein Sprechen nur im privaten Raum mit vertrauten Personen im engeren Umkreis statt. Das Schweigen als Überlebensstrategie im alltäglichen Zusammenleben mit Tätern/Mittätern in einer comunidadbezieht sich auf die bereits angesproche Strategie der chosen amnesia. In dendörflichen Strukturen der Kleinbauern und Kleinbäuerinnen in der Sierra von Atoyac leben bis heute Menschen Tür an Tür zusammen, die im Schmutzigen Krieg auf Regierungsseite standen und jene, die Teil der Partei der Armen von Lucio Cabañas waren, mit dieser kollaborierten oder sympathisierten. Die DorfbewohnerInnen wissen meist um die jeweilige Rolle ihrer NachbarInnen im Konflikt. Bis in die Gegenwart erscheint es für viele unangebracht, mit der „Gegenseite“ über Lucio Cabañas zu sprechen. Die GesprächspartnerInnen über dieses Thema werden ausgewählt, nicht mit allen spricht man über die Vergangenheit. Zu groß ist immer noch die internalisierte Angst, von einer/m DorfbewohnerInnen, der/die auf der Regierungsseite steht – wofür auch immer – denunziert zu werden. Zu groß ist auch die Angst, wenn man sich als Lucio Cabañas ދSympathisantIn erkennbar gibt, dass man damit auch mit der in der Region seit 1996 operierenden Guerilla-Bewegung EPR (Ejército Popular Revolucionario) in Verbindung gebracht werden könnte. Die Sierra de Atoyac ist auch aufgrund der Präsenz dieser bewaffneten Bewegung immer noch militarisiert. Auch ich wurde von Lucio Cabañas SympathisantInnen oder früheren Mitgliedern der Partei der Armen früh in die Strategie eingeweiht, meine Worte genau zu wählen und nicht mit jedem in einer comunidad über dieses Thema zu sprechen. SympathisantInnen von Lucio Cabañas erzählten im Vertrauen, dass sie in manchen Fällen wüssten und in anderen Fällen vermuten, wer madrinas oder guías des Militärs gewesen seien, wer andere im Dorf verraten habe, ohne jedoch Namen zu nennen. Oder dass sie wissen würden, wer Lebensmittelvorräte für die Partei der Armen, die von DorfbewohnerInnen in den Wäldern versteckt wurden, gestohlen habe. Gerüchte kursieren über MitwisserInnen und MittäterInnen, aber sie werden nicht offen ausgesprochen. Niemand wird dafür belangt, alle schweigen und erzählen sich diese Geschichten nur im sicheren ausgewählten Kreis. Das alltägliche soziale Zusammenleben und die familiären Verbindungen im Dorf sind wichtiger als einzelne DorfbewohnerInnen als Schuldige für mutmaßliche Verbrechen anzuklagen. So erzählte Elvira Patiño Levya, Schwester von zwei Ver-
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schwundenen, dass sie vermutet, ihre Nachbarin habe ihre Geschwister an die Regierung verraten, da diese seit jeher viel Kontakt zu den staatlichen Behörden und der Polizei gehabt habe, immer die Bewegungen in der comunidad genau beobachtete und viele Frage stelle. Sie hätte dies aber nie offen ausgesprochen, da sie ja ihre Nachbarin sei und sie keine Probleme hier im Dorf wolle. Das Zusammenleben mit ihr beschreibt sie als distanziert, aber konfliktfrei. Immer noch würde ihre Nachbarin jedoch genau ihr Haus beobachten, sie nach ihren BesucherInnen befragen. Sie bekommt viel Besuch, auch von anderen Angehörigen von Verschwundenen aus der Comisión para el Esclarecimiento de los años 70 a 74, in der sie organisiert ist. Auch habe sich die Nachbarin genau erkundigt, als sie meinen mehrmaligen Besuch bei ihr beobachtete, was denn der Anlass meiner Anwesenheit sei. Reine nachbarschaftliche Neugier oder doch Informationssammlung und soziale Kontrolle? Doña Elvira ist unsicher und glaubt, dass sie immer noch Informationen für die Regierung sammelt. Dieses Misstrauen gegenüber den anderen im Dorf scheinen Auswirkungen und Konsequenzen der internalisierten Angst und Unsicherheit aus der Zeit des Schmutzigen Krieges zu sein, die bei sehr vielen BewohnerInnen der Sierra de Atoyac zu beobachten sind. Das Schweigen als Vermeidung der Intensivierung des Schmerzes ist für manche Angehörige ein Schutzmechanismus. Viele beschreiben, dass sie nicht mehr über die Vergangenheit sprechen wollen, da dies ein kontinuierliches Aufbrechen der schmerzenden Wunden mit sich bringe. So meinte Apolinar Castro Román: „Ich habe mit ihnen gesprochen und am Ende habe ich zu ihnen gesagt: Wissen sie was, ich habe keine Ahnung, ob sie kommen und mit mir über dieses Thema sprechen wollen, aber mich schmerzt das alles sehr! Es schmerzt mich, weil ich wieder anfange, alle Dinge zu erinnern und ich will nicht mehr leiden. Ich fühle, als ob die Wut mich ersticken würde. Als ob der Zorn ... und ich sagen ihnen, es ist eine Hilflosigkeit und daher ist es besser, wenn niemand mehr kommen würde.“5 (Apolinar Castro Román, Colonia 18 de Mayo, 2009)
Das Schweigen aus Resignation und Hoffnungslosigkeit ist ein weiterer Grund, warum viele Angehörige nicht oder nicht mehr im öffentlichen Raum sichtbar sind:
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„Hablaba yo con ellos y ya al último les dije, saben que, yo no me fijo si vienen de algo que quieren hablar conmigo de ese tema, ¡porque me quedo bien dolida! Me quedo dolida porque empiezo a recordar cosas que ya no quiero sufrir, le dije, y me hacen recordar. Y siento que la rabía me está ahogando. Como que el coraje me … y le digo, eso es una impotencia que [mejor] ya no me pasen a nadie.“ (Apolinar Castro Román, Colonia 18 de Mayo, 2009)
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„Es gibt einige, die nicht mehr wollen. Sie wollen nicht mehr, da dies alles wie ein Gummiring ist, den man jedes Mal mehr und mehr und mehr dehnt und man bekommt nichts gesagt. Sie sagen uns nichts Konkretes. Viele sind schon desertiert, weil sie nicht mehr wollen, andere sind bereits verstorben und deren Kinder wollen oft den Kampf nicht weiterführen. Und so hat es sein Ende.“6 (Apolinar Castro Román, Atoyac, 2009)
In vielen Fällen kommen als Gründe auch Krankheit und fehlende ökonomische Ressourcen für die Fortführung des Kampfes um die Verschwundenen hinzu. Apolinar Castro Román beschrieb dies so: „Und andere wollen nicht mehr, weil sie ausgebrannt sind, weil sie nichts mehr haben, weil sie krank sind. Es gibt compañeras, die nicht mehr gehen können, compañeras, die sich um ihre Kinder kümmern müssen. Jene Kinder, die die Regierung damals festgenommen und so brutal geschlagen hat, dass sie als Konsequenz dieser Schläge nicht mal sich selbst versorgen können. Sie haben sie so schlimm geschlagen, dass sie sich nicht mal selbst Wasser einschenken können, die Familie muss sie versorgen, wie ein Baby. Diese Personen wollen nicht mehr weiterkämpfen, weil sie sagen: Woher? Wir haben nichts mehr! Es gibt kein Geld mehr, wir haben nichts mehr zu verkaufen, alles was wir hatten, haben wir in den Kampf gesteckt und in die Pflege unseres Kranken. So ist die Situation, so traurig!“7 (Apolinar Castro Román, Atoyac, 2009)
Viele haben nur unmittelbar nach der Verschleppung ihrer Angehörigen nach diesen gesucht, dann aber die Hoffnung verloren: „Ja, wir haben sie eine Zeit lang gesucht, aber dann haben wir die Hoffnung verloren“8, sagte Don Marino.Auch María
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„Hay varias que ya no quieren. Que ya no quieren porque esto va como la liga que cada vez le estiran más y le estiran y le estiran y no nos dicen, no nos dicen, pues, nada en concreto. Ya muchas están desertando porque ya no, otras ya fallecieron y ya los hijos ya no quieren seguir la lucha. Y ya ahí se quedó.“ (Apolinar Castro Román, Atoyac, 2009)
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„Y otros ya no quieren por lo mismo de que ya están desgastadas, que ya no tienen, que están enfermas, hay compañeras que ya no pueden caminar, compañeros que están cuidando a los hijos porque en aquel tiempo el gobierno los agarró, los golpeó tan brutalmente que no pueden ni atenderse ellos mismos, a consecuencia de los golpes. Los golpearon tan feos que ni para agua, ellos mismos se pueden servir, tiene que andar la familia atendiéndolos, cuidándolos, como a un bebe. Esas personas ya no quieren seguir luchando por lo mismo porque dicen, ¿de dónde? ¡Ya no hay! No hay moneda, ya no hay que vender, ya lo que tuvimos, ya lo acabamos al andar en la lucha y en cuidar al enfermo. ¡Así está la situación, de triste!“ (Apolinar Castro Román, Atoyac, 2009).
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„Pues si, los seguimos buscando un tiempo, pero después perdimos la esperanza.“ (Don Marino, Atoyac 2010)
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Felix Reyes sagte über die Resignation vieler: „Viele Leute haben keine Daten und nichts mehr rausgegeben. Viele Leute sind raus [aus der Organisation] und sagen, wozu noch? Sie sagen uns ja doch nichts und das wars dann!“9 (María Felix Reyes, Atoyac, 2010). Viele wollen also aus Frustration über die leeren Versprechungen keine testimonios und keine Daten mehr geben. Bei diesen fünf Differenzierungsfeldern spielt also des Weiteren eine zeitliche Differenzierung hinsichtlich des Schweigens/Sprechens eine wichtige Rolle. Die zeitliche Dimension umfasst die Zeitpunkte ab dem Schmutzigen Krieg. Diese reicht vom Zeitpunkt des Verschwindenlassens bis in die Gegenwart und steht mit unterschiedlichen Phasen des Schweigens und Sprechens über das vergangene Ereignis des Verschwindenlassens eines Angehörigen in Zusammenhang. Bei dieser zeitlichen Dimension zeigen sich unter den Angehörigen vier unterschiedliche Prozesse: Schweigen über die Verschwundenen, vom Schweigen zum Sprechen über dieVerschwundenen, vom Sprechen zum Schweigen über die Verschwundenen, vom Sprechen zum Schweigen zum Sprechen über die Verschwundenen. Es kann also differenziert werden zwischen Angehörigen, die nie über ihre Verschwundenen gesprochen haben, jenen, die während und nach dem Schmutzigen Krieg geschwiegen haben, dann aber nach der Veränderung der politischen Rahmenbedingungen und dem Beginn der Transition im Jahr 2000 begannen, über die Verschwundenen zu sprechen. Als dritte Gruppe gibt es jene Angehörigen, die während und nach dem Schmutzigen Krieg gesprochen haben und nun aber aufgrund der bereits erwähnten Gründe schweigen. Und schließlich können als vierte Gruppe jene unterschieden werden, die zwar während und unmittelbar nach dem Schmutzigen Krieg gesprochen, dann aber den Kampf aufgegeben und erst wieder ab der Transition für ihre Verschwundenen kämpfen. In dieser Differenzierung hinsichtlich der veränderten Haltung zum Sprechen oder Schweigen über die Verschwundenen ist die Heterogenität der Angehörigen und deren unterschiedlicher Umgang mit der Vergangenheit sichtbar. Das Sprechen über den/die Verschwundene/nim öffentlichen Raum hängt in weiterer Folge mit Punkt (2) der Vernetzung mit Anderen zusammen.
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„Mucha gente ya ni dio datos de nada. Mucha gente ya salen, no, ¿para qué? ¡De todas maneras, ni te dicen nada y ya!“ (María Felix Reyes, Atoyac, 2010)
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6.1.2 Vernetzung/Nicht-Vernetzung mit Anderen Mit Vernetzung oder Nicht-Vernetzung mit Anderen sind der Kontakt und die Organisation mit anderen Angehörigen von Verschwundenen gemeint. Das Spektrum der Variationen reicht von: keine Vernetzung mit anderen Angehörigen, lokale Vernetzungen, nationale und internationale Vernetzung. Angehörige, die in Punkt (1) als jene beschrieben wurden, die über die Verschwundenen schweigen, haben sich auch nie mit anderen vernetzt. Es gibt auch Angehörige, die über ihre Verschwundenen im privaten Raum sprechen, sich aber nicht mit anderen vernetzt haben und nicht in einer der Angehörigengruppen organisiert sind. Die Gründe dafür sind jene, die bereits in den Punkten zu Sprechen/Schweigen über die Verschwundenen dargelegt wurden. Nur lokale Vernetzungen in der Sierra de Atoyac haben die Angehörigen der Comisión para el Esclarecimientode los años 70 a 74 (CPE), nationale und internationale Vernetzungen hingegen AFADEM, Comité Eureka und H.I.J.O.S.. So haben die drei letzt genannten Angehörigengruppen unter anderem Kontakte zur UN Arbeitsgruppe für erzwungenes Verschwindenlassen, zum lateinamerikanischen Angehörigennetzwerk FEDEFAM und H.I.J.O.S. ist vor allem mit den argentinischen Angehörigen von H.I.J.O.S. vernetzt. Die Vernetzung mit Anderen bedingt in der Folge auch die Sichtbarkeit oder Unsichtbarkeit im öffentlichen Raum.
6.1.3 Sichtbarkeit/Unsichtbarkeit im öffentlichen Raum Die heterogene Gruppe der Angehörigen lässt sich auch bezüglich ihrer Sichtbarkeit oder Unsichtbarkeit im öffentlichen Raum differenzieren. Die Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit steht mit dem Sprechen und Schweigen über die Verschwundenen und der Vernetzung oder Nicht-Vernetzung mit anderen Angehörigen in Verbindung. Das Spektrum der Differenzierungen reicht hier von: Die sichtbaren Angehörigen auf nationaler (und internationaler) Ebene, die sichbaren Angehörigen auf lokaler Ebene und die unsichtbaren Angehörigen. Die unsichtbaren Angehörigen können wiederum unterschieden werden in unsichtbare Angehörige von bekannten Fällen von Verschwundenen und unsichtbare Angehörige von vermuteten Fällen von unbekannten Verschwundenen. Die sichtbare Gruppe der Angehörigen auf nationaler Ebene ist jene, die in Mexiko-Stadt Proteste im öffentlichen Raum durchführen. Hier sind vor allem AFADEM, Comité Eureka und H.I.J.O.S. gemeint.10 Des Weiteren sind die Reprä-
10 In diesem Kontext ist nur die Rede von Angehörigenorganisationen von Verschwundenen des Schmutzigen Krieges der Vergangenheit, nicht aber von jenen Angehörigen Ver-
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sentantInnen von AFADEM und Comité Eureka, Tita Radilla und Rosario Ibarra, durch ihre Einladungen und Vorträge im Ausland auch auf internationaler Ebene bekannt und sichtbar. Hingegen handelt es sich bei der Comisión para el Esclarecimiento de los años 70 a 74 (CPE) um die sichtbare Gruppe der Angehörigen auf lokaler Ebene in Atoyac. In den Gesprächen mit Angehörigen hört man immer wieder von der Tatsache, dass es noch andere Angehörige gibt, die Verschwundene haben, nicht aber darüber sprechen. Diese Gruppe der unsichtbaren Angehörigen istweitaus schwieriger zu fassen, erfährt man doch von ihrer Existenz nur durch Aussagen von anderen Angehörigen, die Namen werden jedoch meist nicht genannt. Die genaue Zahl dieser Angehörigen ist daher unbekannt.Es können hier wiederum zwei Untergruppen unterschieden werden: die bekannten Fälle und die unbekannten Fälle vonVerschwundenen, wobei letztere jene sind, über die nie öffentlich gesprochen wurde und deren Fälle nicht registriert sind. Das Sprechen und die Sichtbarkeit der Angehörigen im öffentlichen Raum zeigen die Bedeutung des politischen Handelns der Angehörigen. Denn nur dann, wenn ein Angehöriger auch über einen Verschwundenen spricht und öffentlich den Fall bei einer staatlichen oder nichtstaatlichen Institution anzeigt, gibt es diesen Verschwundenen auch offiziell. Oder wie Luisa Pérez von der UN-Menschenrechtskommission in Mexiko-Stadt formulierte: „Ohne Angehörige gibt es keine Verschwundenen.“ (vgl. Kap. 3.1.). Eine weitere Differenzierung innerhalb der Eigenschaften sichtbar und unsichtbar besteht innerhalb der Angehörigenorganisationen selbst: Auch hier gibt es die Sichtbaren und die Unsichtbaren, die sich je nach Grad an Engagement und Position innerhalb der Gruppe unterscheiden. So gibt es etwa innerhalb der Comisión de Esclarecimiento (CPE) in Atoyac ein Komitee rund um die Präsidentin Eleazar Peralta Santiago von fünf Angehörigen, die Entscheidungen treffen und in Repräsentation der anderen bei Regierungsinstitutionen vorsprechen. Ebenso gibt es bei AFADEM die Gruppe rund um den Präsidenten Julio Mata und die Vizepräsidentin Tita Radilla, die in der Öffentlichkeit sichtbar sind und öffentliche Proteste organisieren oder sich an diesen beteiligen. Andere Angehörige dieser Gruppe bleiben eher unsichtbar, da sie sich nicht immer an Aktionen beteiligen. Dies hängt oftmals auch mit den langen Anfahrtstwegen, die die Angehörigen aus weiter entfernt liegenden comunidades der Sierra de Atoyac in die Bezirksstadt Atoyac haben, wo die RepräsentantInnen der beiden Angehörigenorganisationen wohnen und die Versammlungen stattfinden. Eine Fahrt nach Atoyac ist für viele mit Kosten verbunden, die sie nicht kontinuierlich aufbringen können. Auch ist es im Lebens- und Arbeitsalltag der Kleinbauern und Kleinbäuerinnen oftmals nicht möglich, ihr Mais-
schwundener des aktuellen Schmutzigen Krieges im Zusammenhang mit dem „Drogenkrieg“. Vgl. dazu Kap 7.
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feld (milpa) und das Haus zu verlassen. Oft hört man von Angehörigen: „Ich kann mein Haus und das Maisfeld nicht alleine lassen.“11 Ein weiterer Grund für die Unsichtbarkeit eines Teils der Angehörigen ist auch die selektive Zirkulation von Wissen und Informationen unter den Angehörigen selbst. Es besteht auch hier eine Heterogenität der Kommunikation von jenen, die durch Internet und Telekommunikationsmedien im urbanen Raum (Bezirkshauptstadt Atoyac) vernetzt sind und jenen, die im ruralen Raum (comunidades der Sierra de Atoyac) ohne Kommunikationsmedien wie Telefon, Mobiltelefon, Internet oder Zeitungen leben. Diese Angehörigen sind auf Face-to-face-Kommunikation über weite räumliche Distanzen hinweg (von comunidad zu comunidad) angewiesen. So hörte ich oftmals von Angehörigen einiger comunidades, wenn ich sie nach bestimmten stattfindenden Versammlungen oder Protesten der Angehörigen in Atoyac fragte: „Nein, ich habe nichts davon gewusst, dass es eine Versammlung gab!“12 (Elvira Leyva Patiño, Los Llanos de Santiago, 2009) oder „Nein, ich habe nichts von dieser Veranstaltung gehört. Was wurde dort gesagt?“13 (Rosa Castro Velázquez, San Vicente de Benítez, 2008) Die bisher beschriebenen Differenzierungen der Angehörigen haben schließlich auch Einfluss auf das politische rituelle Handeln im öffentlichen Raum.
6.1.4 Politisches rituelles Handeln/Kein politisches Handeln Mit politischem rituellem Handeln sind Protestformen und Medienpräsenz der Angehörigen in der Öffentlichkeit gemeint. Hier reicht das Spektrum von Angehörigen und Organisationen, die nicht in der Öffentlichkeit auftreten und daher auch in den Medien kaum präsent sind, wie die Angehörigenorganisation Comisión para el Esclarecimiento de los años 70 a 74 (CPE) in Atoyac, bis hin zu jenen Angehörigen und Organisationen, die in der Öffentlichkeit und im Medien-Diskurs Präsenz haben. Das politische Handeln hängt dabei auch mit Ressourcen zusammen, das heißt dem Zugang zu sowohl materiellen als auch symbolischen Ressourcen. Damit ist der Zugang einerseits zu Geld und materiellen Unterstützungen und andererseits als symbolische Ressource der Zugang zu nationalen und/oder internationalen ExpertInnen, NGOs und Institutionen gemeint. Der materielle und der symbolische Zugang stehen wiederum in einem Wechselverhältnis. So führt der Zugang zu symbo-
11 „No puedo dejar mi casa y mi milpa sola.“ 12 „¡No, yo no sabía que había una reunión en Atoyac!“ (Elvira Leyva Patiño, Los Llanos de Santiago, 2009) 13 „No escuché nada de ese evento. ¿Qué dijeron ahí?“ (Rosa Castro Velázquez, San Vicente de Benítez, 2008)
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lischen Ressourcen auch oft zum Zugang zu materiellen Ressourcen. Es gibt Angehörige, die keinen Zugang zu materiellen und symbolischen Ressourcen und andere, die breiten Zugang zu beiden Ressourcen auf nationaler und internationaler Ebene haben. Die Präsenz in der Öffentlichkeit zeigt sich in politischen Protesten vor allem in den monatlichen Kundgebungen des Comité Eureka und den escraches von H.I.J.O.S. vor dem Obersten Gerichtshof in Mexiko-Stadt (vgl. Kap. 5.1) und den zahlreichen Protesten und Veranstaltungen von AFADEM wie etwa am jährlich stattfindenen Internationalen Tag der Verschwundenen am 30. August, sowohl in Atoyac als auch in Mexiko-Stadt. Auch durch Veröffentlichungen über die Verschwundenen und Angehörigen in Form von Zeitschriften, Büchern und Dokumentarfilmen versucht ein Teil der Angehörigen, ihre Anliegen an die Öffentlichkeit zu bringen. So gibt das Comité Eureka die circa 10-seitige Zeitschrift ¡EUREKA!14heraus, die in unregelmäßigen Abständen erscheint. Die Zeitschrift beinhaltet Artikel über die Geschichte einzelner Verschwundener, Fotos der Verschwundenen, Aspekte der Geschichte des Kampfes der Angehörigen, aber auch Stellungnahmen zu aktuellen politischen Fragen und die Solidarisierung mit sozialen Bewegungen in Mexiko (zum Beispiel die Atenco Bewegung, Studierende, Gewerkschaften, die Zapatistas). Über das Comité Eureka gibt es auch eine Publikation (Maier 2001) und den Dokumentarfilm Vivos los llevaron, Vivos los queremos (Serna 2007). AFADEM aus Atoyac hat vor allem seit dem Fall Rosendo Radilla vor dem Interamerikanischen Gerichtshof in den Medien stärkere Präsenz gezeigt (vgl. Kap. 5.3.1), es gibt dazu eine Publikation (Antillón Najlas 2008) und den Dokumentarfilm Caso Rosendo Radilla (CMDPDH/WITNESS 2008) über den Kampf der Angehörigen von AFADEM. Nach diesen vier Differenzierungsaspekten der Angehörigen, die die Heterogenität der Opfergruppe zeigen sollte, werden im Folgenden weitere Ausdifferenzierungen und auch Konflikte unter den Angehörigen beschrieben. Diese Spannungen haben sich vor allem aufgrund der Implementierung von Transitional-JusticeInstrumenten entwickelt. Sie sind daher als eine weitere Dimension von Friktionen der mexikanischen Aufarbeitungsdynamiken zu sehen.
14 Siehe unter: http://comiteeureka.org.mx/ (Letzter Zugriff: 30.04.2014).
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6.2 F RIKTIONEN : T RANSITIONAL J USTICE UNTER DEN ANGEHÖRIGEN
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„Ich glaube, dass wir gegen die Regierung niemals gewinnen werden. Und noch weniger, wenn die einen da sind und die anderen dort. Das ist es, was die Regierung versucht, uns zu spalten! Die Angehörigen wissen gar nicht mehr (...), wem sie glauben sollen und so spalten sie sich. Und das nur deswegen, weil es Leute gibt, die mit dem Fall des Schmutzigen Krieges Geld machen wollen. Solange wir also nicht vereint sind, werden wir nichts erreichen!“15 (María Felix Reyes, Atoyac 2010)
María Felix Reyes, organisiert in AFADEM, spricht die Konflikte und die Spaltungsprozesse innerhalb der Angehörigenbewegungen an, die sich im Laufe des Aufarbeitungsprozesses des Schmutzigen Krieges entwickelt haben. Zu viele politische und ökonomische Interessen seien im Spiel, meinte sie und bezieht sich dabei sowohl auf die Regierung als auch auf bestimmte Strukturen in den Angehörigenorganisationen selbst. Die Vermutung vieler Angehörigen ist, dass die Regierung eine Strategie der Spaltung und Desorganisation provoziert, um ihre politische Handlungskraft zu schwächen. Im Aufarbeitungsprozess des Schmutzigen Krieges tauchen dichotome Diskurse wieder auf, die das kollektive Imaginäre der mestizischen Kleinbauern geprägt hat. Es scheint eine unüberbrückbare Kluft zwischen jenen Akteuren in den urbanen Zentren, dem Imaginären Mexiko, und der eigenen Welt des ruralen Dorfes zu geben, dem Profunden Mexiko, wie Bonfil Batalla (1987) es nannte. Die politischen Eliten, der Sitz der Macht und der Gesetze, befinden sich in der Stadt und zwischen diesen von der ruralen Bevölkerung als Reiche bezeichneten Menschen und den Armen gibt es keine Identifikationspunkte. Die Beziehung urban – rural war seit jeher von Konflikten gekennzeichnet und die Dichotomie spiegelt sich auch im Diskurs um die Aufklärung der Verschwundenen wider. So meinte etwa Eleazar Peralta Santiago, Schwester eines Verschwundenen: „Wie sollen sie uns verstehen? Sie sind reich und wir sind arm. Sie wissen nichts über uns. Sie essen, was sie wollen, und wir?“16 (Eleazar Peralta San-
15 „Creo que al gobierno jamás le vamos a ganar. Y más si unos están para acá y otros para allá. El gobierno es lo que trata, ¡de dividir! Ya todos los familiares ya (…) no hallan ni a quien creer, pues se dividen. No más porque hay gente que quiere lucrar (...), con el caso de la guerra sucia. Y pues, mientras estemos desunidas, ¡no se hace nada!“ (María Felix Reyes, Atoyac 2010) 16 „Como nos van a entender. Ellos son ricos, y nosotros somos pobres. Ellos no saben nada de nosotros. Ellos comen lo que quieran, ¿y nosotros?“ (Eleazar Peralta Santiago, Atoyac 2009)
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tiago, Atoyac 2009) Es kann, wie Peralta Santiago meint, keine Aufklärung geben, da die FunktionärInnen und PolitikerInnen aus der Stadt die Angehörigen aus den armen Gebieten gar nicht verstehen könnten. Die unterschiedliche Lebensweise, die ökonomischen Möglichkeiten – oftmals von der bäuerlichen Bevölkerung ausgedrückt durch die Möglichkeit der Reichen, sich alles an Essen kaufen zu können – machen ein gegenseitiges Verständnis unmöglich. Das fehlende Verständnis der Bedeutung von Armut erschwert daher auch den Weg zur Anerkennung ihrer Forderungen. Für die Reichen in der Stadt sind aus dieser Perspektive die Armen auf dem Land unsichtbar und unhörbar. Der Prozess der Entwicklung der Angehörigenorganisationen ist geprägt von Erinnerungen und Vernetzungen, aber auch von unüberbrückbaren Konflikten zwischen urbanen und ruralen Lebenswelten. Diese unüberbrückbare Kluft reproduziert sich teilweise auch in den Konflikten unter den Angehörigen. RepräsentantInnen, die Zugang zu urbanen Institutionen, Netzwerken und Organisationen haben oder in der Stadt leben, werden von jenen, die sich hauptsächlich im ruralen Umfeld bewegen, mit Misstrauen gesehen. Diese hätten sich von den Armen entfernt und könnten ihre Lebenswelten nicht mehr verstehen. Diese Dynamiken unterschiedlicher Perspektiven, Spaltungen und Anschuldigungen der Angehörigen untereinander sind Teil des komplexen Aufarbeitungsprozesses der Gewalt. Auch durch das Einsetzen der FEMOSPP kam es zu Konflikten unter den Angehörigen. Teil dieser Spannungen war die Ankündigung von Präsident Fox, dass im Dekret zur Implementierung der FEMOSPP auch festgelegt war, dass die Opfer Entschädigungszahlungen erhalten sollen. Dieses im Allgemeinen wichtige Instrument der Wiedergutmachung und der Anerkennung des Leids der Opfer (vgl. De Greiff 2006), resultierte in Konflikten. Die Meinungen der Angehörigen haben sich hinsichtlich der Entschädigungszahlungen geteilt und es entstand eine bis heute beobachtbare Kluft zwischen jenen, die materielle Forderungen stellen, und jenen, die diese prinzipiell ablehnen und als moralisch verwerflich begreifen. Einige Angehörige, die zuvor in AFADEM organisiert waren, spalteten sich von dieser ab und gründeten die Comisión para el Esclarecimiento de los años 70 a 74 (CPE). Die Präsidentin ist Eleazar Peralta Santiago, Schwester des Verschwundenen Lucio Peralta. Diese Angehörigen zeigen sich enttäuscht über AngehörigenvertreterInnen wie Tita Radilla von AFADEM und Rosario Ibarra von Comité Eureka, die Reparationszahlungen ablehnen. Sie drücken Unverständnis und Wut aus, wenn sie über diese sprechen, und fühlen sich nicht mehr von diesen repräsentiert. Vor allem über Rosario Ibarra wird unter Angehörigen die Meinung vertreten, sie habe die Angehörigen der Sierra de Atoyac alleine gelassen. Der meist verbreitete Vorwurf ist, dass sie die armen, marginalisierten Angehörigen nicht mehr unterstütze, obwohl sie doch gerade durch diese zu ihrem politischen Status gekommensei. Durch die Angehörigenaus der Sierra de Atoyac sei Rosario Ibarra reich geworden, hätte politische Posten bekommen und sei jetzt Senatorin. Bei der Forderung nach
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Reparationszahlungen gibt es eine Kontroverse zwischen den Angehörigen über die Legitimität dieser Forderung. Die Tochter eines Verschwundenen aus Atoyac, die Teil der Comisión para el Esclarecimiento de los años 70 a 74 (CPE) ist, beschreibt dies so: „Heute kann ich nur sagen, sie ist durch uns groß geworden, das nehme ich ihr übel. Sie sagt, wir sollen keine Entschädigungszahlungen fordern, wir könnten doch nicht Geld für unsere Verschwundenen verlangen. Sie hat gut reden, sie ist jetzt reich, sie ist durch uns reich geworden, ist Senatorin, verdient gutes Geld, und wir? Wir sind weiterhin arm, haben nichts und dann nimmt sie uns auch noch übel, dass wir Geld fordern. Das werfen wir ihr vor, dass sie uns im Stich gelassen hat und dass sie uns nicht mehr unterstützt.“17 (Doña Eva, Atoyac, 2009).
Die historische Konstruktion der Dichotomie urban/reich – rural/arm spiegelt sich seit dem Transitionsprozess also nicht nur zwischen den politischen Akteuren, sondern ebenso in den Konflikten zwischen den Angehörigenoganisationen wider. Aus der Perspektive einiger ruraler, in der Opferdebatte marginalisierter Angehöriger, die kaum Zugang zu Ressourcen und politischen Akteuren haben, sind die anderen, die urbanen Angehörigen jene, die reich und korrupt sind, sich bereichern, Zugang zu Macht und Ressourcen haben und die anderen Angehörigen unterdrücken und marginalisieren. Es werden hier also im Diskurs der ruralen Opfer Termini verwendet – wie Unterdrückung oder Marginalisierung – die vorher nur für die politischen Machteliten und für die Täter Verwendung fanden. Die Reparationszahlungen betreffend gibt es folgende kontroverse Meinungen unter den Angehörigen. Die GegnerInnen von Reparationszahlungen wie das Comité Eureka argumentieren wie folgend: „Sie haben vor kurzem erneut eine Operation angekündigt, um die Mütter und Angehörigen zu überzeugen, dass sie so etwas wie eine ,Reparation des Schadens‘, eine finanzielle Entschädigung entgegennehmen, damit sie den Tod ihrer Lieben akzeptieren. Die Aktion ist eine Beleidigung für die Würde der Verschwundenen und der Angehörigen. Es ist keine Reparationszahlung, es ist ein zusätzlicher Affront. Dahinter steckt ein Manöver, um die Verbrecher, die die Verhaftung und das Verschwindenlassen unserer Kinder durchgeführt haben, aus ihrer
17 „Hoy solo puedo decir que ella se hizo grande por nosotros y eso no me gusta. Ella dice ahora, que no debemos recibir el pago de reparación del daño, porque no deberíamos recibir dinero por nuestros desaparecidos. Pero a ella se le hace fácil, es rica, se hizo rico por nosotros. Ahora es senadora y gana bien, ¿y nosotros? Seguimos de pobres y no tenemos nada y luego se molesta porque exigimos la reparación del daño. Eso es lo que no nos gusta, que nos dejó atrás y ya no nos apoya.“ (Doña Eva, Atoyac, 2009).
394 | K AMPF UM R EHUMANISIERUNG Verantwortung zu ziehen. Sie bieten ihnen an, die Anzeige auf Verschwindenlassen in Mord umzuwandeln, da dies ein Verbrechen ist, das schon verjährt (...).“18 (Rosario Ibarra 2007b:12)
Jene Opfer, die Reparationszahlungen fordern, argumentieren mit der Notwendigkeit der Rückgabe zumindest eines Teils des materiellen Verlusts während des Schmutzigen Krieges und danach. Dies folgt der Meinung von Julie Mertus zur Bedeutung von Reparationszahlungen in Transitional-Justice-Prozessen: „Although nothing can compensate for the loss of loved ones, dreams destroyed and days lost, reparations serve to dignify survivors with a partial remedy for their suffering. Practically speaking, reparations may mean an improvement in living conditions and general welfare.“ (Mertus 2000: 155) Es ist aber auch der Aspekt der Anerkennung von Schuld, der Reparationszahlungen für viele Angehörige bedeutsam macht: „Above all, however, reparations constitute a public acknowledgemente by the violator of guilt. A violator´s admission of guilt, more than punishment of the violator itself, can mark a turning point in survivors ދsearch for meaning and closure.“ (Ebd.: 155 f.) Welche negativen Auswirkungen die Politik der bloßen Ankündigung und des Versprechens von Entschädigungszahlungen bei den Angehörigen haben kann, soll im Folgenden skizziert werden.
6.2.1 Die Toten essen und von den Toten leben „Und ich sage Ihnen, jeder kann denken wie er will, aber ich werde ihn nicht essen. Ich werde ihn nicht essen!“19 (Apolinar Castro Román, Colonia 18 de Mayo, 2009)
Wenn Apolinar Castro Román sagt, sie werde ihn nicht essen, bezieht sie sich auf ihren verschwundenen Mann und auf den Erhalt von Entschädigungszahlungen für ihn. Nahrung spielt im Kontext der kleinbäuerlichen Subsistenzwirtschaft eine zent-
18 „En dias recientes nuevamente se anuncia una operación para pretender convencer a madres y familiares de desaparecidos que acepten, como ,reparación del daño‘, una compensación economica aceptando la muerte de sus seres queridos. La operación es un insulto a la dignidad de los desaparecidos y sus familiares; no es reparación del daño sino agravio adicional. Pero además es una maniobra para salvar la responsabilidad de los criminales que realizaron la detención y desaparición de nuestros hijos. Se les ofrece cambiar la acusación de desaparicón por la de homicidio, delito que de acuerdo a la legislación mexicana sí prescribe (…).“ (Ibarra 2007b:12) 19 „Y yo les digo, es cuestión de cada quien su manera de pensar, porque yo no me lo voy a comer. ¡Yo no me lo voy a comer!“ (Apolinar Castro Román, Colonia 18 de Mayo, 2009)
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rale Rolle. Der Großteil des geringen Einkommens der Kleinbauern und -bäuerinnen wird dafür ausgegeben. Die Bedeutung der Nahrung drückt sich auch in der verwendeten Terminologie bei Konflikten unter den Angehörigen aus. Vor allem in der Debatte um die Entschädigungszahlen für die Verschwundenen, die Präsident Fox (2000 – 2006) den Angehörigen versprochen hatte, wird dies deutlich. Jene Angehörigen, die Entschädigungszahlungen ablehnen, werfen den BefürworterInnen vor, dass sie ihre Verschwundenen aufessen wollten. Dieses „Aufessen“ weist auf die Transformation des Geldes erhoffter Entschädigungszahlungen in wichtige Nahrung hin. Da die Angehörigen dieses Geld also nur aufgrund ihrer Verschwundenen bekommen würden, entsteht die Assoziation Verschwundene – Aufessen. Die Angehörigen der Comisión para el Esclarecimientode los años 70 a 74 (CPE), BefürworterInnen von Entschädigungszahlungen, entgegnen, dass sie keinesfalls jene wären, die ihre Verschwundenen aufessen würden. Vielmehr sind es die anderen, die ihre Verschwundenen bereits aufgegessen hätten: „Wir fordern doch nicht Geld für unsere Verschwundenen, die sind nicht bezahlbar! Wir fordern Entschädigung für alles, was wir verloren haben. Sie [Rosario Ibarra] hat doch schon längst ihren Sohn aufgegessen, sie hat schon längst mit ihm verdient!“20 (Eleazar Peralta Santiago, Atoyac 2009) Die Angehörigen von CPE beziehen sich darauf, dass die Präsidentin des Comité Eureka durch ihren Kampfum die Verschwundenen nun Geld verdient, reich sei und dadurch symbolisch ihren verschwundenen Sohn bereits vor langer Zeit aufgegessen hätte. Apolinar Castro Román, ebenfalls in CPE organisiert, drückt dies folgendermaßen aus: „Denn die von AFADEM haben mir gesagt, haben geschrien, dass wir unsere Toten aufessen wollen! Ich habe ihnen geantwortet, ja, ich will meinen Toten essen, ich will die Knochen aufessen, die sie von AFADEM zurückgelassen haben, denn sie haben schon alles gegessen, was es zu essen gab. Jetzt sollen sie uns wenigstens die Knochen übrig lassen.“21 (Apolinar Castro Román, Colonia 18 de Mayo, 2008)
Auf die Anschuldigung, die Mitglieder der CPE wollten ihre Toten essen, entgegnen die Angehörigen von CPE, dass jene von AFADEM und Comité Eureka bereits
20 „No pedimos dinero por nuestros desaparecidos, ¡ellos no tienen precio! Exigimos reparación por todo lo que perdimos. Ella [Rosario Ibarra] ya se comió a su hijo desde hace mucho tiempo, ¡ella ya ganó con él!“ (Eleazar Peralta Santiago, Atoyac 2009) 21 „Porque los de AFADEM igual me dijeron, nos lo gritaban, que nosotros lo que queríamos era comernos a nuestros muertos. Y yo les contesté a los de AFADEM que ¡sí!, que si me lo quería comer a mi muerto, que quería comerme los huesos que habían dejado, porque ustedes ya ruñieron bien todo lo que se quisieron comer, ahora dejen que nosotros, los huesos.“ (Apolinar Castro Román, Colonia 18 de Mayo, 2008)
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ihre Toten gegessen hätten, weil sie Geld von der Regierung erhalten würden. Mit der Verwendung der Metapher der Knochen bezeichnet Castro Román die Knochen, die vom Essen eines Stückes Fleisch übrig bleiben. Sie meint damit sinnbildlich das Geld der Regierung, das auch den anderen marginalisierten Angehörigen zustehen sollte. Auch der politische Leitsatz von AFADEM und Comité Eureka„Lebend haben sie sie geholt, lebend wollen wir sie zurück!“ wird von den Angehörigen von CPE negativ betrachtet. Sie glauben nicht, dass es noch Überlebende gibt, und sehen in dieser immer wieder gestellten Forderung an die Regierung eine Strategie der Behinderung ihrer Anliegen: „Wie können sie immer noch fordern, dass sie sie lebend zurückwollen, wo wir doch wissen, dass sie tot sind. Wir wissen doch, dass sie ins Meer geworfen wurden, dass sie gefoltert und ermordet wurden, dass sie irgendwo verscharrt wurden. Indem sie sie immer noch lebend zurückfordern, wird die Regierung uns nie eine Antwort geben!“22 (Eleazar Peralta Santiago, Atoyac, 2009)
Auch die Angehörigen, die nicht oder nicht mehr Teil einer Angehörigenorganisation sind, beschuldigen in manchen Fällen die organisierten Angehörigen, dass diese ihren Kampf nur noch aus Egoismus und für Geld führen würden.Sie betonen, dass sie jedoch von der Regierung nur verlangen würden, dass sie für den Verlust ihres Hab und Gutes eine Entschädigung bekommen sollten, nicht aber für ihre verschwundenen Angehörigen: „Ich schon, ich möchte, dass die Regierung (…) sich unserer erbarmt und, ich weiß nicht, uns irgendwie hilft. Aber ich sage es noch mal, auch wenn sie uns alles Gold der Welt geben würden, werden sie unser trauriges Herz nicht zum Schweigen bringen.“23 (Apolinar Castro Román, Colonia 18 de Mayo, 2009). Die Perspektive der Angehörigen von AFADEM ist eine andere. Sie lehnen Reparationszahlungen grundsätzlich ab und kritisieren Angehörige, die nur aufgrund von Versprechungen materieller Leistungen auftauchen und deshalb um ihre Verschwundenen kämpfen würden. So sagte María Felix Reyes: „Bello [Bürgermeister von Atoyac] hat gesagt, dass er uns jeden Monat materielle Unterstützung geben würde. Auf einmal sind viele Angehörige aufgetaucht! Nein, nein! Es soll uns
22 „Como pueden exigir todavia, que los quieren vivos, si sabemos que están muertos. Sabemos bien que los tiraron al mar, que los torturaron y que los mataron, que los enterraron en algún lugar. ¡Si ellos siguen pidiéndolos vivos, el gobierno nunca nos va a dar una respuesta!“ (Eleazar Peralta Santiago, Atoyac, 2009) 23 „Yo si, yo (...) si quisiera que el gobierno (...) se apiadara de nosotros y no sé, de alguna forma nos ayudara. Que como vuelvo a decir, ni si nos dieran todo el oro del mundo, acallan nuestro triste corazón.“ (Apolinar Castro Román, Colonia 18 de Mayo, 2009)
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nicht interessieren, dass sie uns Zement oder anderes Material geben wollen. Wir wollen nichts davon! Wir wollen kein Geld für unsere Verschwundenen, nein!“24 (María Felix Reyes, Atoyac, 2010)
Einige Angehörige verbinden das Angebot, Geld von Regierungsseite anzunehmen, als eine Strategie, das Recht auf die Suche nach den Verschwundenen aufzugeben. Rosa Castro Velázquez erzählte vor dem Haus eines Verschwundenen in ihrer comunidad, dass dessen Angehörige die Suche aus diesem Grund aufgaben: „Hier ist der Ort, wo sie Marcelino García verschleppt haben. Er hat alleine gewohnt, er hat das nicht verdient, weil er ein junger fließiger Mann war. Wir haben ihn gemeinsam mit Rosario Ibarra gesucht. Angeblich haben sie [die Angehörigen] Geld bekommen und na ja, sie hatten dann kein Recht mehr, weiter für ihn zu kämpfen.“25 (Rosa Castro Velázquez, San Vicente de Benítez, 2009)
Sie selbst jedoch, obwohl sie arm sei, wollte nie Geld annehmen. Wie viele andere Angehörige auch meinen, seien Entschädigungszahlungen zwar als Kompensation für das Leid gerechtfertigt, aber zuallererst wolle auch sie Auskunft darüber erhalten, was mit ihrem verschwundenen Bruder passiert sei: „Wenn sie uns Geld anbieten, sage ich, ja, es ist nur gerecht, dass sie uns helfen nach so langer Zeit der Suche nach ihnen. Aber zuallererst will ich, dass sie mir sagen, wo mein Bruder ist. Das zuerst, das ist das Wichtigste für mich!“26 (Rosa Castro Velázquez, San Vicente de Benítez, 2009).
24 „Bello [presidente municipal de Atoyac] dijo que iba a dar un apoyo material, que cada mes se iba a dar. ¡Cual más salió familiar! (…) ¡No, no! Que no nos mueva el interés porque nos van a dar cemento y me van a dar un apoyo material. Nosotros no queremos nada de eso. Qué ya queremos dinero por el familiar, ¡no!“ (María Felix Reyes, Atoyac, 2010) 25 „Es el lugar a donde se llevaron a Marcelino García. El vivía solo, el no merecía eso porque era un muchacho trabajador. Lo andábamos buscando con este, Rosario Ibarra de Piedra. Parece que recibieron dinero y pues, ya no tuvieron derecho a andarlo reclamando.“ (Rosa Castro Velázquez, San Vicente de Benítez, 2009) 26 „Cuando nos ofrecen dinero yo digo, si, es muy justo que nos ayuden porque tanto tiempo que uno ha andado buscándolos. Pero yo primero quiero que me digan a donde quedó mi hermano. ¡Primero, es lo principal que quiero yo!“ (Rosa Castro Velazquez, San Vicente de Benítez, 2009)
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Das zunächst als positiv bewertete Transitional-Justice-Instrument der Entschädigungszahlungen zur Wiedergutmachung von vergangenem Leid kann bei genauerer Betrachtung aus der lokalen Perspektive der Betroffenen sehr ambivalente und konfliktive Prozesse auslösen. Ebenso können Konflikte unter Opfern auftreten, wenn nur selektiv Fälle von Menschenrechtsverletzungen von Strafgerichtshöfen aufgenommen werden. Bei einem mexikanischen Fall eines Verschwundenen ist dies so, wie im Folgenden gezeigt wird. 6.2.2 Der Fall Rosendo Radilla aus lokaler Perspektive Die Aufnahme des Falles des Verschwundenen Rosendo Radilla aus Atoyac am Interamerikanischen Gerichtshof (CIDH) und die darauf folgende Verurteilung des mexikanischen Staates im Jahr 2009 bedeutete für die Angehörigen von Verschwundenen in Mexiko einen großen Erfolg (vgl. Kap. 5.3.1). Dennoch ist auf lokaler Ebene aus der Perspektive vieler Angehöriger ein Prozess zu beobachten, der diesen Erfolg kritisch betrachtet. Die sich selbst als marginalisierte Angehörige bezeichnende CPE aus Atoyac beschuldigt AFADEM, die den Fall Radilla vor den Gerichtshof gebracht hatte, dass durch die große Aufmerksamkeit um einen Verschwundenen die Anliegen der anderen Angehörigen vergessen würden. Aber auch Angehörige von AFADEM selbst kritisieren den Fall. Sie verstehen nicht, warum nicht alle ihre Fälle vor den CIDH kommen. Warum, so fragen sie, kam gerade nur jener von Radilla in die Öffentlichkeit? So meint etwa María Felix Reyes, selbst Mitglied von AFADEM: „Ich verstehe nicht, warum sie nur diesen einen Fall dorthin gebracht haben. Warum nicht auch unsere Fälle, warum verfolgen sie nicht alle? Und warum werden wir nicht beachtet?“27 (María Felix Reyes, Atoyac 2010) Am Internationalen Jahrestag der Verschwundenen, am 30. August 2009 wurde dieser Konflikt bei einer Versammlung von AFADEM in einem Saal des Rathauses von Atoyacöffentlich sichtbar. Das Rathaus ist ein symbolisch wichtiger Ort für die Opfer des Schmutzigen Krieges, da es der Sitz des ehemaligen Militärlagers von Atoyac ist. Es ist der Ort, an dem vermutet wird, dass sich in bisher unidentifizierten Massengräbern sterbliche Überreste der Verschwundenen befinden. Bei der Versammlung, an der rund 50 Mitglieder von AFADEM teilnahmen sprach die Psychologin Antillón Najlin der Menschenrechtsorganisation CMPDDH zu den Angehörigen. Sie erzählte von einem Vorfall, kurz bevor ich zur Versammlung stieß. Eine Gruppe von Angehörigen von CPE habe die Versammlung von AFA-
27 „No entiendo por qué solo llevaron este caso hasta allá. ¿Por qué nuestros casos no, porqué no le dan seguimiento a todos? ¿Por qué no nos toman en cuenta a nosotros?“ (María Felix Reyes, Atoyac 2010)
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DEM gestört und dagegen protestiert, dass nur der Fall Rosendo Radilla vor den Interamerikanischen Gerichtshof gekommen sei. Sie bezeichneten es als Ungerechtigkeit und zusätzlich als Strategie von AFADEM, sie zu marginalisieren, sodass ihre Fälle von Verschwundenen erst gar nicht vor den CIDH kommen könnten. Die Psychologin kommentierte den Vorfall mit den Worten, die mexikanische Regierung habe ein Interesse an diesen Spaltungen und Konflikten, und forderte die Angehörigen auf, sich nicht manipulieren zu lassen. Auch bei den Grabungen, die nach Aufforderung durch den CIDH im Jahr 2008 im ehemaligen Militärlager von Atoyac durchgeführt wurden, um die sterblichen Überreste von Rosendo Radilla zu suchen, entstanden Diskrepanzen zwischen den Angehörigen. Apolinar Castro Román kommentierte die Grabungen so: „Mir gefällt das nicht, weil Frau Tita in alle vier Himmelsrichtungen schreit, dass sie ihren Vater lebend will, lebend haben sie ihn geholt, lebend will sie ihn zurück. Und was ist jetzt damit, dass sie Grabungen durchführen, um ihren Vater zu suchen. Warum sucht sie ihn tot, wenn sie ihn doch lebend zurück haben will? Hier ist doch ein Widerspruch.“28 (Apolinar Castro Román, Colonia 18 de Mayo, 2009)
Die Tatsache, dass AFADEM einerseits die politische Forderung stellt, alle Verschwundenen lebend wieder zurück haben zu wollen und sie aber andererseits nach sterblichen Überresten von Radilla suchen, wird von vielen anderen Angehörigen als Widerspruch erlebt. Diese Kritik entstand aus dem Unverständnis darüber, dass nur nach Radilla gesucht wurde und nicht auch nach den anderen Verschwundenen. Abermals fühlten sich viele Angehörige durch diesen Exklusionsprozess marginalisiert. Weitere Diskrepanzen entstanden auch hinsichtlich der Frage der legitimen Repräsentation der Angehörigen.
28 „Lo veo mal porque (...) la señora Tita grita a los cuatro vientos que a su padre lo quiere vivo, vivo se lo llevaron y vivo lo quiere. Entonces como que se pone a que excaven a buscar a sus papá, porque lo busca muerto si sabe que vivo se lo llevaron y vivo lo quiere? Ahí hay una contradicción.“ (Apolinar Castro Román, Colonia 18 de Mayo, 2009)
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6.2.3 Repräsentationen: Wer sind die wahren Angehörigen? „Wir sind die wahren Angehörigen!“29 (Don Mariano, San Martín de las Flores, 2007)
Nach Schließung der FEMOSPP reiste im Jahr 2007 ein neues Team der Generalstaatsanwaltschaft (PGR) der Regierung Calderón nach Atoyac, um mit den Angehörigen zu sprechen (vgl. Kap. 4.4.1.). Eine Beamtin rät im Zuge dessen einer kleinen Gruppe von Angehörigen Folgendes: „Was sie machen sollten (…), sie sollten sich nicht manipulieren lassen, denn die Führerpersonen streiten sich und beeinträchtigen so alle anderen auch. So ist es geschehen. Sehen sie doch nur, Tita Radilla hatte alle um sich (…), Tita Radilla oder Arturo Gallegos und ich weiß nicht, wer noch, und sie haben sich untereinander gestritten und jene, die dafür bezahlen, sind sie! Und das ist das Problem, deswegen, lassen sie sich nicht manipulieren durch eine bestimmte Person, denn sie brauchen keine Führer, damit wir sie betreuen und sie müssen auch keiner Organisation angehören.“30 (Beamtin der PGR, Atoyac 2007)
Die Beamtin will den Angehörigen zu verstehen geben, dass die internen Konflikte zwischen den Angehörigen und die Meinungsverschiedenheiten ihrer RepräsentantInnen das Problem seien, warum es immer noch keine Lösung für die Angehörigen gebe. Die Desakkreditierung der RepräsentantInnen, der Hinweis auf die Nachteile für die gesamte Organisation und die Aufforderung, dass sie auch alleine und ohne RepräsentantInnen von der Regierung betreut werden würden, weist auf die bewährte Strategie der mexikanischen Regierung hin, starke soziale Bewegungen mit politisch brisanten Forderungen zu schwächen.Einige Angehörige bezeichnen sich nach den Konflikten innerhalb der Angehörigenorganisationen vor allem seit dem Einsetzen der FEMOSPP nun als die wahren Angehörigen: „Wir sind bei Doña Eleazar (...). Wir sind die, die wirklich verschwundene Angehörige haben“31, sagte Don Maríano, betonend, dass sie „echte“ politische Verschwundene hätten. Er kriti-
29 „Somos los familiares de, a de veras!“ (Don Mariano, San Martin de las Flores, 2007) 30 „Lo que deberían hacer (…), también no dejarse manipular porque los lideres se pelean y los llevan a todos. Y así ha pasado, ve a como Tita Radilla tenía a todos (...), que Tita Radilla, que Arturo Gallegos y no sé quien más y se pelearon entre ellos, ¡y los que pagan son ustedes! Y eso es el problema, entonces no se tienen que dejar manipular por una persona en especial porque no necesitan tener a un líder para que los atendamos. Ni tampoco pertenecer a ninguna organización.“ (Beamtin der PGR, Atoyac 2007) 31 „Nosotros estamos con Doña Eleazar (...). Somos los que si en verdad tenemos desaparecidos.“ (Don Mariano, San Martín de las Flores, 2009)
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siert, dass FEMOSPP Leute vorgeladen habe, die gar keine Verschwundenen hätten. Dies habe er auch schon damals der Vorsitzenden der FEMOSPP gesagt: „Ich habe der Dame gesagt, der Frau Doktor, dass sie viele Leute vorladen würden, die gar nichts damit zu tun haben. Ich kenne sie, ich kenne viele Leute in der Sierra und sie haben keinen Fall, sie haben kein Problem [eines Verschwundenen]. Warum bringen sie sie hierher? Und wenn dann wirklich ein Problem vorliegt, dann unternehmen sie nichts!“32 (Don Mariano, San Martín de las Flores, 2007)
Er erzählte in einem Gespräch, dass er Menschen aus der Sierra kenne, deren Söhne aus anderen Gründen verschwunden wären oder deren Söhne in einem Streit getötet, nicht aber von der Regierung verschleppt worden sind und dann unter falschen Angaben Entschädigungszahlungen forderten. Es gebe also Menschen, die es ausnutzen würden, dass die Regierung Entschädigungszahlungen für jeden Verschwundenen verspricht. Sie ließen ihre getöteten oder aus anderen Gründen verschwundenen Angehörigen als politische Verschwundene registrieren, um Geld zu erhalten. Aber, wie er meinte„dies schädigt uns als wahre Angehörige!“33 (Don Mariano, San Martín de las Flores, 2009) Viele Angehörige sind enttäuscht über diese Prozesse und fühlen sich auch von ihren RepräsentantInnen oftmals marginalisiert. So sagte María Felix Reyes von AFADEM im Jahr 2010 über die Repräsentantengruppe der Organisation: „Leider ist es oft so, dass nur die, die einen anführen jene sind, die alles rausholen, die ihr Ziel erreichen. Deswegen sind viele Leute enttäuscht.“34 (María Felix Reyes, Atoyac 2010). Die Wahrnehmung von einzelnen Angehörigen, dass RepräsentantInnen ihre Anliegen nicht mehr vertreten und stattdessen eigene politische oder ökonomische Interessen verfolgen würden, ließ viele resignieren. Eine der Folgen dieser Enttäuschungen ist das Schweigen über die Vergangenheit.
32 „Yo le dije a la Doña, a la doctora y le dije que usted traen a mucha gente que no tiene ni caso, yo los conozco, conozco a mucha gente en la sierra y no tienen ni caso, no tienen problema. ¿Para qué los traen ahí? Y para cuando hay un problema, ¡no se hace nada!“ (Don Mariano, San Martín de las Flores, 2007) 33 „[N]os perjudica a nosotros como los familiares de a de veras.“ (Don Maríano, San Martín de las Flores, 2009) 34 „Desgraciadamente a veces los que están al frente de uno son los que sacan, obtienen el objetivo de lo que quieren. Por eso mucha gente está decepcionada.“ (María Felix Reyes, Atoyac 2010)
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6.2.4 Schweigen über die Vergangenheit „Ich sage nichts mehr!“35 (Andrea Baltasar Vázquez, Rincón de las Parotas, 2010)
Als eine weitere Entwicklung seit Beginn der Transitionsprozesses ist zu beobachten, dass entgegen der Meinung, die Angehörigen würden aufgrund der geänderten politischen Rahmenbedingungen nun eher über die Vergangenheit sprechen wollen, ein Prozess des Schweigens eingesetzt hat. Das Schweigen über die Vergangenheit hat mehrere Gründe, kann aber bei einigen Angehörigen auch als Protest und Widerstand gegenüber der bisherigen Politik der Regierung interpretiert werden. Schweigen wird dann zu einem Akt des Widerstandes, wenn das Sprechen über die Ereignisse der Vergangenheit aus bestimmten Gründen verweigert wird. Das Schweigen impliziert dann eine gewisse Erlangung von Macht und empowerment der Marginalisierten. So sagte etwa Doña María, deren Vater zur Zeit des Schmutzigen Krieges im Dorf Piloncillo ermordet wurde und die seither erfolglos für Aufklärung und Bestrafung der Täter gekämpft hatte: „Ich werde nichts mehr sagen. Alle kommen nur, um alles mitzunehmen und das hilft uns gar nichts! Ich sage nichts mehr!“36 (Doña Victoria, Rincón de las Parotas, 2010). Ebenso meinte Andrea Baltasar Vázquez aus Rincón de las Parotas, deren Mann 1974 verschleppt wurde: „Nein, ich erzähle Ihnen nichts mehr. Ich weiß viele Dinge, aber ich werde nichts sagen!“37 (Andrea Baltasar Vázquez, Rincón de las Parotas, 2010) Die Verweigerung von Wissen, die Verweigerung des Erzählens von Ereignissen aus der Vergangenheit kann als Akt des Protestes gegenüber den von außen Kommenden verstanden werden. Sie weigern sich gegen die Instrumentalisierung ihres Wissens und ihrer Erfahrungen. Andrea Baltasar Vázquez betont nochmals den Widerstand gegenüber Lüge und politischer Vereinnahmung ihrer Erzählungen: „Nein! Ich will Ihnen nichts mehr über meine Vergangenheit sagen! Denn es ist ohnehin alles Lüge [die Versprechungen]! Es ist reine Lüge, reine Politik! Nein, nichts mehr!“38 (Andrea Baltasar Vázquez, Rincón de las Parotas, 2010) Die Identität der Opfer wird nicht nur durch das Sprechen über die Gewalt, sondern auch durch das Schweigen darüber geprägt. Feldman stellte dazu fest: „In a
35 „¡Yo ya no digo nada!“ (Andrea Baltasar Vázquez, Rincón de las Parotas, 2010) 36 „Yo ya no voy a decir nada. Nada más vienen a sacar todo y eso no ayuda en nada. ¡Yo ya no digo nada!“ (Doña Victoria, Rincón de las Parotas, 2010) 37 „No, yo no voy a platicarles nada. Yo sé muchas cosas, ¡pero no voy a decir nada!“ (Andrea Baltasar Vázquez, Rincón de las Parotas, 2010) 38 „¡No, ya no les quiero decir nada sobre mi pasado! Porque de todas maneras, todo es mentira. ¡Pura mentira, pura política! ¡No, ya nada!“ (Andrea Baltasar Vázquez, Rincón de las Parotas, 2010)
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colonized culture, secrecy is an assertion of identity and of symbolic capital. Pushed to the margins, subaltern groups construct their own margins as fragile insulations from the ,center‘.“(Feldman 1991: 11) Immer wieder sprechen Angehörige davon, dass sie den RegierungsbeamtInnen und Menschenrechtsorganisationen Dokumente oder Fotos von ihnen und ihren verschwundenen Angehörigen aushändigen sollten. Den anfänglichen Hoffnungen auf Aufklärung folgten jedoch Enttäuschungen. Auch vermuten viele Betrug. Viele Angehörige haben den Verdacht, dass Informationen an die Regierung verkauft wurden. Viele Opfer weigern sich daher heute, Dokumente oder Fotos ihrer Verschwundenen zu zeigen: „Ich gebe nicht so einfach mehr Papiere her, warum? Weil ich schon so viele Papiere verschiedenen Personen gegeben habe, die meinten, ich komme von jener Institution und gib mir das und gib mir jenes. Und ich laufe und gebe ihnen Kopien und Kopien, und nichts! Und andere Typen sind gekommen und haben was weiß ich was gesagt und dass sie von weiß ich was für einer Institution kommen würden. Es ist immer das Gleiche!“39 (Apolinar Castro Román, Colonia 18 de Mayo, 2009)
Die Verweigerung von Informationen kann als ein Akt des Widerstandes gegen die Ausbeutung von Narrativen der Angehörigen betrachtet werden. Der Anthropologe Castillejo Cuéllar (2005) bezeichnet das mit politischen oder ökonomischen Interessen verbundene Sammeln von Informationen von Opfern im Zuge von Aufarbeitungsprozessen als eine Extraktion von Information und vergleicht es mit ökonomischem Ressourcenraubbau. Er kritisiert dabei auch die Rolle der globalen ErinnerungsexpertInnen des Transitional-Justice-Sektors wie JournalistInnen, WissenschaftlerInnen und PolitikerInnen, die aus eigennützigen Interessen Informationen von Opfern sammeln, um diese am globalen Markt zu verwerten.So sagt er über den südafrikanischen Transitional-Justice-Kontext, dass die „production and dissemination of knowledge about trauma on the basis of other people’s experiences, is often perceived by survivors as being part of a broader economy of subtraction where their ,voices‘have become commodities in a transnational network of prestige.“ (Castillejo Cuéllar 2005: 159) Auch in der Sierra de Atoyac kritisieren Angehörige das Verhalten von Menschen, die kommen, Fragen stellen, Fotos machen, aufschreiben und Versprechungen über finanzielle Unterstützungen oder die Vermittlung von ExpertInnen, Regie-
39 „Yo no doy papeles así, ¿por qué? Porque yo ya entregué muchos papeles a diferentes personas que decían, vengo de tal lado y dáme esto y el otro. Y ya ando yo apurada dándoles copias y copias y, ¡nunca! Y venían otros fulanos diciendo no sé que y es que venimos de no sé que. ¡Siempre es lo mismo!“ (Apolinar Castro Román, Colonia 18 de Mayo, 2009)
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rungsinstitutionen oder sonstigen HelferInnen machen und dann gehen, um niemals wieder aufzutauchen. Doña Fernanda meinte: „Sie haben alles mitgenommen, meine Dokumente und sogar Fotos, die ich ihnen gegeben habe. Und nie sind sie zurückgekehrt und ich habe kein einziges Foto mehr!“40 (Doña Fernanda, San Vicente de Jesús, 2009) Oft schwingt auch die Vermutung mit, dass diese Menschen mit ihren Geschichten Geld verdienen würden oder die Informationen auch zum Schaden der Angehörigen verwenden könnten. Doña Aurora aus San Vicente de Jesús erzählte, dass sie einmal über diese Extraktion von Information so wütend geworden sei, dass sie die Leute einer Menschenrechtskommission fortgejagt hätte: „[D]amals als sie angefangen haben zu kommen, die Menschenrechte, sie wollten Daten und Daten und Daten. Und dann einmal (…) habe ich zu ihnen gesagt, geht doch zum Teufel! Ihr macht ja sowieso nichts für uns! Wozu das alles? Ich will nicht mehr, geht!Und ich habe ihnen nichts mehr gesagt. (…) Warum? Man wird wütend, wenn sie die ganze Zeit fragen und fragen, was soll das für einen Sinn haben!“41 (Doña Aurora, San Vicente de Jesús, 2009).
Sie beschreibt die Situation der Annäherung von staatlichen und unabhängigen Menschenrechtsorganisationen, die seit den 1990er Jahren, vor allem aber seit dem Jahr 2000 und dem Einsetzen der Untersuchungskommission FEMOSPP in die comunidades kamen, um Daten über die Verschwundenen und deren Angehörigen zu sammeln. Diese Datensammlung war oft verbunden mit Versprechungen über Aufklärung, Entschädigungszahlungen, Rentenzahlungen oder sozialen und ökonomischen Projekten. „Oft haben sie uns gesagt, dass sie uns eine Rente geben würden, aber nichts haben sie gemacht“42, sagte Doña Fernanda (San Vicente de Jesús, 2009) über die angekündigten Pensionsprogramme. Keine der zahlreichen Versprechungen wurde eingelöst. Dies erklärt auch die Wut, die viele Angehörige haben, wenn sie über diese DatensammlerInnen sprechen. Diese Tatsache führt auch zu Schwierigkeiten im Forschungsprozess. Oft erfolgt eine Gleichsetzung der ForscherInnen mit den „staatlichen DatensammlerInnen“, die ihre Versprechungen nicht eingehalten, die sie ausgenutzt und in manchen
40 „Todo se lo llevaron, mis documentos, hasta fotos que les di. ¡Y nunca, jamás regresaron y yo me quedé sin foto!“ (Doña Fernanda, San Vicente de Jesús, 2009) 41 „[A]ntes cuando empezaron a venir, que los de derechos humanos, que datos, y datos y datos. Hasta que una vez, [...] le digo sáquense a la jodida, le digo, ni hacen nada por uno, ¿pa qué? Yo ya no, ya váyanse, ya no les dije nada. (…) ¿Por qué? Porque uno se enfada de que están puro preguntando y qué, ¡qué caso tiene!“ (Doña Aurora, San Vicente de Jesús, 2009) 42 „Muchas veces nos dijeron que nos iban a pensionar, pero nada hicieron“, (Doña Fernanda, San Vicente de Jesús, 2009).
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Fällen Fotos und andere Dokumente genommen haben, ohne diese zurückzugeben. Das Sammeln von Daten wird im Kontext der Aufarbeitung des Konfliktes in vielen Fällen gleichgesetzt mit einer sozialen Verpflichtung zur materiellen oder anderweitigen Unterstützung. Immer wieder wurde der Verdacht laut, dass mit den Informationen, die sie weitergaben, auch gewisse ökonomische Vorteile erzielt wurden. Aus diesem Grund wird nun immer wieder die Bedingung kundgetan, nur dann Informationen zu geben, wenn auch in ihrem Interesse gearbeitet würde. Mit dem Anspruch also, dass auch sie einen politischen oder ökonomischen Vorteil daraus ziehen können. Sei es nun, indem die/der ForscherIn für die Angehörigen politisch aktiv wird und ihre Anliegen vor Behörden oder Organisationen vorbringt, ihnen materielle Dinge zur Verfügung stellt oder Kontakte für sie knüpft. Reziprozität ist daher ein wichtiges Anliegen der Angehörigen. Ein Beispiel für die Einforderung dieses reziproken Verhältnisses für meinen eigenen Fall soll im Folgenden skizziert werden.
6.2.5 Globale Diskurse/lokale Perspektiven: Kontakt mit der UNO „Wozu soll ich ein Museum wollen oder einen Straßennamen [meines Verschwundenen]! Was ich will ist, dass sie mir sagen, was passiert ist und eine Entschädigung.“43 (Eleazar Peralta Santiago, Atoyac 2009)
„Ohne Angehörige gibt es keine Verschwundenen“, meinte die mexikanische UNOMitarbeiterin Luisa Pérez des Hochkommissariats für Menschenrechte der Vereinten Nationen in Mexiko (Oficina en México del Alto Comisionado de las Naciones Unidas para los Derechos Humanos) in einem Gespräch. Ihre Aussage weist auf die zentrale Rolle hin, die Angehörige im Aufklärungsprozess dieses Verbrechens haben. Diesen Satz sagte Luisa Pérez in einer ersten Versammlung mit einer Kommission von vier Angehörigen aus Atoyac der Comisión para el Esclarecimientode los años 70 a 74 (CPE). Das Gespräch fand im September 2009 statt und es war der erste Kontakt mit einer internationalen Institution der im öffentlichen Raum am wenigsten sichtbaren Angehörigenorganisation aus der Sierra de Atoyac. Der Kontakt zur mexikanischen Vertretung der Menschenrechtskommission der UNO wurde von mir vermittelt, nachdem dieser Wunsch von Doña Eleazar, Doña Goya, Doña Gregoria und Don Mariano geäußert wurde.
43 „¡Para que voy a querer un museo o el nombre en la calle [de mi desaparecido]! Yo, lo que quiero es que me digan que pasó y que me reparen el daño.“ (Eleazar Peralta Santiago, Atoyac 2009)
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Zuvor hatte ich mit ihnen Interviews und informelle Gespräche geführt und sie meinten, auch sie würden gerne ebenso wie das Comité Eureka und AFADEM „mit den internationalen Menschenrechten“44 sprechen wollen. Das Büro der UNO liegt jedoch in Mexiko-Stadt und die Fahrt von sieben Stunden dorthin, die Übernachtung und das Essen wären mit Kosten verbunden gewesen, die sich die Angehörigen in Atoyac nicht leisten konnten. Ich bot daher finanzielle Unterstützung und die Organisation einer Übernachtung in Mexiko-Stadt an. Wir begaben uns daraufhin auf den Weg von Atoyac nach Mexiko-Stadt zum Sitz der UNO-Vertretung. Frau Pérez erwartete uns und wir nahmen im Besprechungssaal Platz. Ich fragte, ob ich das Gespräch aufzeichnen dürfe. Frau Pérez meinte, eine digitale Aufzeichnung wäre nicht möglich, da es sich hier um interne und informelle Gespräche handeln würde, die nicht aufgenommen werden sollten. Nach einer Vorstellung der Angehörigen bat sie diese, die einzelnen Fälle zu schildern. Die Angehörigen erzählten in wenigen Sätzen die Geschichte der Verschleppung ihrer Familienmitglieder. Das Erzählen löste abermals starke Emotionen, Schmerz und Tränen aus. Wie jedes Mal, wenn sie von ihrem verschwundenen Bruder spricht, meinte Doña Gregoria, dass der Schmerz immer noch so stark sei, als wäre die Verschleppung gerade erst gestern geschehen. Frau Pérez sprach zu den Angehörigen mit einem Diskurs globaler Terminologien von Transitional-Justice. Sie sprach von Wahrheit, Gerechtigkeit und Versöhnung und betonte die Wichtigkeit des politischen Protestes der Angehörigen sowie die Bedeutung symbolischer Instrumente von Gerechtigkeit und Erinnerung wie etwa die Errichtung von Museen und Monumenten für die Verschwundenenoder die Bennennung von Straßen nach Verschwundenen. Die Reaktion einer Angehörigen war sogleich: „Wozu soll ich ein Museum wollen oder einen Straßennamen [meines Verschwundenen]! Was ich will ist, dass sie mir sagen, was passiert ist und eine Entschädigung.“45 (Eleazar Peralta Santiago, 2009) In diesem Gespräch zeigte sich deutlich die Diskrepanz zwischen abstrakten Diskursen von globalen Normen und den lokalen Bedürfnissen der Angehörigen. Frau Pérez wies die Angehörigen darauf hin, dass die UNO keine Reparationszahlungen tätigen oder die Täter bestrafen könne. Sie könnten lediglich Informationen sammeln, Fälle aufnehmen und so Empfehlungen und politischen Druck auf die mexikanische Regierung ausüben. Die Reaktion der Angehörigen war Enttäu-
44 „con los derechos humanos internacionales“. Mit diesem Ausdruck beziehen sich viele Angehörige auf VertreterInnen von internationalen Organisationen, vor allem auf die Vereinten Nationen und die Interamerikanische Menschenrechtskommission. 45 „¡Para qué voy a querer un museo o el nombre en la calle [de mi desaparecido]! Yo, lo que quiero es que me digan que pasó y que me reparen el daño.“ (Eleazar Peralta Santiago, Atoyac 2009).
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schung, hatten sie doch mehr von den „internationalen Menschenrechten“ erwartet. Frau Pérez betonte jedoch die Wichtigkeit, ihre Fälle von Verschwundenen auf internationaler Ebene einzubringen, eine Akte über Daten wie Namen, Datum und Ort des Verschwindenlassens anzulegen und diese nach Genf zu übermitteln. Sie fragte die Angehörigen, ob sie das schon getan hätten. Keiner der anwesenden Angehörigen wusste von der Existenz eines solchen Verfahrens. Frau Pérez notierte die Namen der verschwundenen Angehörigen und überprüfte, ob diese schon in der offiziellen UNO-Liste der registrierten mexikanischen Fälle auftauchten. Die Überraschung für alle vier anwesenden Angehörigen war groß, als der Ehemann einer der Anwesenden als registrierter Fall genannt wurde. Erstaunen, Unsicherheit und Verwirrung entstand und es tauchte die Frage der anderen Angehörigen unter: „Aber wie ist dein Fall dorthin gekommen?“46 Sie selbst wusste es auch nicht. Eine Angehörige wurde misstrauisch und fragte: „Aber wie kommt es, dass du es nicht weißt? Du hast ihn doch sicher eingebracht!“47 „Nein, ich weiß gar nichts davon!“48, erwiderte die andere. Dann vermuteten sie, dass ihr Fall vielleicht über die Angehörigenorganisation AFADEM, in der sie vor einigen Jahren noch Mitglied war, dorthin gelangt sei. Frau Pérez fragte die anderen, ob sie auch möchten, dass ihre Fälle auf UN-Ebene aufgenommen werden und betonte nochmals die Bedeutung dieses Verfahrens. Denn ohne Registrierung der Verschwundenen hätte auch die UN-Vertretung kein politisches Druckmittel gegenüber der mexikanischen Regierung. Die Angehörigen zögerten, waren misstrauisch und wussten zunächst nicht, welche Entscheidung nun getroffen werden sollte und welche positiven oder womöglich negativen Konsequenzen ein derartiger Schritt haben könnte. Eine Debatte entstand auch darüber, ob dieser Schritt nicht eventuell den nationalen Prozess der bereits versprochenen Reparationszahlungen blockieren würde. Über all das müssten sie sich erst beraten, war schließlich der Entschluss. Frau Pérez gab ihnen dennoch die auszufüllenden Formulare mit auf den Weg zurück in die Sierra de Atoyac. Für den Fall, sie würden sich doch für eine Registrierung ihrer Verschwundenen auf UN-Ebene entscheiden. Der Weg zurück in die Sierra war geprägt von dieser enttäuschenden Begegnung, hatten sie sich doch erhofft, dass sie in ihrem Anliegen nach Entschädigungszahlungen etwas Positives erfahren würden. Auch die Diskussion wurde weitergeführt, warum der Fall des verschwundenen Ehemannes von Doña Goya registriert sei? Die ausgefüllten Formulare ihrer Fälle haben sie dann doch nicht an die UNO geschickt. Das Misstrauen, das sie gegenüber der mexikanischen Regierung und nationalen Institutionen haben, zeigte sich auch gegenüber der UN-Vertretung. Dieses Verfahren erschien ihnen zu undurch-
46 „¿Pero cómo llegó su caso allá?“ 47 „¿Pero cómo que no sabes? ¡Tú lo has de haber metido!“ 48 „¡No, yo no sé nada de eso!“
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schaubar, zu unsicher, zu gefährlich, zu weit weg und sie sahen auch keinen Sinn für die Befriedigung ihrer eigentlichen Bedürfnisse: „Wozu soll das Sinn machen, wenn sie uns dann ohnehin nichts geben können?“49 (Doña Goya, 2009) Denn Reparationszahlungen sind für diese Gruppe von Angehörigen zusätzlich zur Information, was mit ihren Angehörigen passiert ist, das Entscheidende, um Gerechtigkeit zu erfahren. Der globale Diskurs der UN-Vertretung war für ihre lokale Perspektive keine befriedigende Antwort. Nach der Beschreibung der vielfältigen Differenzen und Konflikte unter den Angehörigen sowie den Diskrepanzen zwischen globalen und lokalen Perspektiven, sollen im Folgenden die bisherigen Rehumanisierungsprozesse zusammengefasst werden.
49 „¿Para qué tiene sentido eso, si no nos pueden dar nada después?“ (Doña Goya, 2009)
Zwischenfazit: Rehumanisierung „,Truth‘ does not reside in the exhortations of experts nor in the palaces of power. It develops gradually in the arguments and counter-arguments of people.“ (Borofsky 2000:10)
Mit Rehumanisierung wurde in dieser Arbeit die soziale und politische Praxis des Protestes der Angehörigen der Verschwundenen umschrieben. Diese können als Diskurse und Praktiken der symbolischen Umkehr staatlicher Dehumanisierungsprozesse betrachtet werden. Durch Handlung und Diskurs der Angehörigen sollen nicht nur die eliminierten Verschwundenen ihre Identität und somit ihre Menschlichkeit zurückerhalten, sondern auch den Angehörigen Gerechtigkeit und Anerkennung widerfahren, und somit auch sie rehumanisiert werden. Rehumanisierung kann folglich als eine Gegenstrategie der Angehörigen zur Dehumanisierung durch staatliche Akteureinterpretiertwerden. Rehumanisierung kann jedoch nicht den Gewaltakt an sich aufheben, nicht Folter, Mord und Verschwindenlassen rückgängig machen. Rehumanisierung kann aber zu einer symbolischen Umkehr von Dehumanisierungsprozessen führen, indem verschwundenen Opfern ihre menschliche Würde zurückgegeben und sie in das soziale Gefüge einer Gesellschaft reintegriert werden – als anerkannte, namentlich bekannte tote Menschen anstatt unidentifizierter verscharrter Körper. Als Menschen mit sozialem Status anstatt liminaler Wesen, die weder als tot noch als lebend gedacht werden können. Dafür kämpfen Angehörige seit Jahrzehnten. Das soziale und politische Handeln der Angehörigen formiert sich aufgrund der verweigerten Rituale. Das verweigerte Totenritual und die Permanenz der liminalen Phase transformiert das Handeln der Angehörigen zu politischen Ritualen (Kertzer 1988) der Gegen-Erinnerung, in denen alternative Deutungen der Vergangenheit den offiziellen entgegengesetzt werden. Bei den öffentlichen Erinnerungsakten für die Verschwundenen können dabei zwei komplementäre Ziele unterschieden werden: ein primär politisches Ziel auf der sichtbaren Ebene, das heißt die Forderung nach Aufklärung, nach Gerechtigkeit, nach Bestrafung der Täter und nach Rück-
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kehr der Verschwundenen oder ihrer sterblicher Überreste. Und andererseits ein sekundäres und anthropologisches Ziel, das auf einer symbolischen Ebene angesiedelt ist: die Rehumanisierung der Verschwundenen, die Rückgängigmachung der versuchten Auslöschung von Identitäten und Subjektivitäten und das symbolische Sichtbarmachen derVerschwundenen. Die Praktiken der Rehumanisierung der Angehörigen umfassen folgende Aspekte: (1) die Suche der Verschwundenen: individuell und kollektiv, (2) die Vernetzung der Angehörigen und die Konstruktion sozialer Erinnerungsgruppen auf lokaler, nationaler und transnationaler Ebene, (3) die Durchführung von Protesten im öffentlichen Raum, (4) die Nennung der Namen der Verschwundenen und deren (5) visuelle Repräsentationen im öffentlichen und im privaten Raum, (6) die Nennung der Täter, (7) die Narrative über die Verschwundenen in Form von testimonios zum Ereignis des Verschwindenlassens, über das Leben des Verschwundenen, über die Suche nach den Verschwundenen, (8) die Proteste an Orten, die Täter oder Mittäter repräsentieren, (9) die Konstruktionen von Erinnerungsorten an den Schmutzigen Krieg (zum Beispiel das Haus der widerspenstigen Erinnerung in Mexiko-Stadt seit 2012), (10) die Veröffentlichungen über die Verschwundenen und Angehörigen in Form von Zeitschriften, Büchern und Dokumentarfilmen (die Zeitschrift von Comité Eureka, Publikation über Comité Eureka, über AFADEM und den Fall Rosendo Radilla, die Dokumentarfilme über Rosendo Radilla und Comité Eureka). Im Zentrum der Handlungen der Angehörigen im Zuge der Rehumanisierungspraktiken steht die Suche nach den Verschwundenen. Durch die kontinuierliche Suche und die zentrale Bedeutung, die diese für die Familienangehörigenhat, wurde das Recht auf Suche auch in Deklarationen und Konventionen internationaler Institutionen zu erzwungenem Verschwindenlassen aufgenommen.1 Wie in der Arbeit gezeigt wurde, hat die Suche nach den Verschwundenen unterschiedliche Ebenen, sie kann daher in räumliche, zeitliche und handlungsstrategische Dimensionen unterschieden werden: in (1) die Orte der Suche, wo nach den Verschwundenen gesucht wurde, vor allem in Militärlagern, Polizeistationen und Regierungsgebäuden auf lokaler oder/und auch auf nationaler Ebene, aber es wurde in einzelnen Fällen auch in Krankenhäusern gefragt; in (2) den Zeitraum der Suche, der bei den Angehörigen sehr unterschiedlich sein kann. So gibt es Angehörige, die nur unmittelbar nach der Verschleppung nach den Verschwundenen aktiv gesucht haben bis hin zu anderen, die ihre Suche über Jahrzehnte hinweg durchführen; in (3) die soziale Strategie der Suche, auf welche Art und mit wem die Suche durchgeführt wurde. So gibt es Angehörige, die alleine die verschiedenen Orte aufsuchten, andere wiederum
1
Vgl. die UN-Konvention gegen erzwungenes Verschwindenlassen von Personen, die Konvention der Interamerikanischen Menschenrechtskommission, die Deklaration der Interamerikanischen Menschenrechtskommission.
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fuhren in Begleitung. Manche Angehörige bekamen einen Hinweis und begaben sich dann zum möglichen Aufenthaltsort des Verschwundenen, andere fuhren ohne konkrete Hinweise zu den potentiellen Orten, da sie von anderen gehört hatten, dass dort Gefangene sein könnten. Die Suche nach den Verschwundenen kann des Weiteren durch vier Aspekte charakterisiert werden: (1) eine emotionale Komponente, die sich durch Angst, Wut, Hilflosigkeit und Ohnmacht der Angehörigen ausdrückt, (2) eine soziale Komponente, die die Verpflichtung gegenüber den verschwundenen Verwandten und die Vernetzung mit anderen Angehörigen umfasst, (3) eine politische Komponente, die Formen des Protestes, des kollektiven Handelns, der Arten der Forderungen und Empowerment-Strategien der Angehörigen beschreibt und (4) eine ökonomische Komponente, die die notwendigenmateriellen und immateriellen Ressourcen der Suche umfasst, die notwendig sind, damit die Suche nach den Verschwundenen überhaupt erst aufgenommen werden kann. So sind dies materielle Ressourcen in Form von Geld, Nahrungsmitteln und Transportmitteln und inmaterielle Ressourcen in Form von Kontakten oder Wissen über die potentiellen Aufenthaltsorte der Verschwundenen. Die emotionalen Aspekte haben einen zentralen Stellenwert sowohl zu Beginn als auch während des gesamten Prozesses des Suchens. Emotionen, hervorgerufen durch Praktiken des Terrors wie Angst und Unsicherheit, behindern einerseits die Suche nach dem/der Verschwundenen, andererseits führen jedoch gleichzeitig auftretende Emotionen wie Wut, Ohnmacht oder Unfassbarkeit des Geschehenen bei vielen Angehörigen zur Überwindung der Angst und zum aktiven Handeln. Ebenso ist der soziale Aspekt ein wichtiges Motiv für den Beginn der Suche. Die moralische und soziale Verpflichtung gegenüber den Verwandten, ihn/sie zu schützen, für ihn/sie zu sorgen, gilt nicht nur für die Anwesenheit des Angehörigen, sondern auch im Falle seiner/ihrer Abwesenheit. Die Suche stellt den ersten Moment in der Handlung eines jeden Angehörigen dar und ist die Basis für die spätere Vernetzung mit weiteren Angehörigen. Die Orte, der Zeitraum und die Handlungsstrategien der Akteure bestimmen dabei die Suche. Die Suche beginnt meist ab dem Zeitpunkt des Verschwindens des Angehörigen, beinhaltet jedoch bei vielen Angehörigen verschiedene Faktoren des Abwägens und der Risikoabschätzung, die Einfluss auf die Orte, den Zeitraum und die Handlungstrategien haben. Zeitlich begeben sich manche Angehörige wie zum Beispiel Rosa Castro Velázquez aus San Vicente de Benítez sofort am selben Tag oder am nächsten Tag auf die Suche. Andere wiederum warten einige Tage bis Wochen bis sie zur nächsten Polizei- oder Militärstation gehen oder fahren. Wiederum andere wagen es erst nach vielen Jahren oder Jahrzehnten nach ihren Verschwundenen zu fragen. So etwa im Fall von Don Mariano aus San Martín de las Flores, der erst ab dem Beginn des Transitional-Justice-Prozesses und der Gründung der FEMOSPP im Jahr 2002 öffentlich von seinen Brüdern gesprochen hat. Vorher hätte
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es keine Menschenrechte im Land gegeben, die Zeiten wären andere gewesen und es sei zu gefährlich gewesen, zu suchen. Ebenso sind die Orte, wo zunächst gesucht wird, je nach Angehörigen unterschiedlich. Manche fragen nur beim lokalen Miltärlager und wagen keinen weiteren Weg in die Stadt Atoyac. Andere wiederum fragen auf allen Ebenen: beim lokalen Polizeichef, in der Militärbasis Atoyac, in Acapulco und selbst in Mexiko-Stadt. Wiederum andere suchen in Krankenhäusern, am Ufer des Flusses in Atoyac, wie Apolinar Román Cortés die anfängliche Suche nach ihrem Mann beschreibt. Auch die Handllungsstrategien variieren von Angehörigen zu Angehörigen. Manche schreiben Briefe an den Präsidenten, fragen beim Polizeikommandanten, gehen zu anderen Angehörigen und fragen, ob sich der Verwandte dort aufhält. Manche suchen auch HeilerInnen und KartenleserInnen auf, um über das Schicksal der Verschwundenen etwas zu erfahren. Das Ziel dieser Praktiken ist eine mögliche Beendigung der liminalen Phase sowohl der Verschwundenen als auch der Angehörigen, um eine Reintegration der Verschwundenen in das soziale Gefüge zu erreichen. Reintegration als Ziel von Rehumanisierung kann aber nur erreicht werden, wenn der staatliche TransitionalJustice-Prozess auch seine Übergangsphase überwindet. Hier trifft sich also die staatliche Makroebene mit der Mikroebene, der Praxis der Angehörigen. Die Reintegration, die Aufhebung der liminalen Phase kann demnach nur erreicht werden, wenn auch staatliche Praxis dazu führt, die Forderungen der Angehörigen und die Wahrheit über die vergangenen Verbrechen anzuerkennen und die Verschwundenen in das soziale Gefüge zurückgegeben werden. Wie in den vorangegangen Kapiteln gezeigt wurde, ist die soziale Erinnerungsgruppe der Angehörigen eine sehr differenzierte Gruppe mit unterschiedlichen Handlungsstrategien und Perspektiven. Im Folgenden wird, abschließend und ausblickend, gezeigt werden, dass sich in den letzten Jahren eine neue Kategorie von Angehörigen Verschwundener gebildet hat. Im Kontext des neuen Schmutzigen Krieges der Regierung Calderón (2006 – 2012) kommt es zu einem erneuten massiven Einsatz der Methode des erzwungenen Verschwindenlassens mit unterschiedlichen Opfer- und Tätergruppen. Dieser neue Konflikt kann als eine weitere Friktion im mexikanischen Transitional Justice Prozess betrachtet werden. Unter den Angehörigen der aktuellen Verschwundenen sind ähnliche Phänomene wie bei den Angehörigen aus der Vergangenheit zu beobachten. Auch sie vernetzen sich mit anderen Angehörigen, mit jenen des aktuellen Krieges und mit jenen des Schmutzigen Krieges der Vergangenheit. Und auch die Angehörigen der Verschwundenen dieses „neuen“ Krieges führen einen Kampf um Rehumanisierung.
V. Kontinuitäten von DEHUMANISIERUNG und REHUMANISIERUNG
„Die Regierungen von bereits mehr als vier Jahrzehnten haben sich nicht um das Leid und die gerechtfertigte Wut des Volkes gekümmert. Die aktuelle Regierung, distanziert und arrogant, hat in einer die Verfassung verletzenden Entscheidung die Soldaten aus den Militärlagern geholt (…).“1 (Ibarra 2009a: 3)
1
„A los gobiernos de cuando menos hace ya más de cuatro décadas a nuestros días no ha parecido preocuparles ni el sufrimiento ni la justa ira del pueblo. El actual, distante y ensoberbecido, en una decisión anticonstitucional sacó a los soldados de sus cuarteles […].“ (Ibarra 2009a: 3)
7. Neue Schmutzige Kriege: Drogen, Narcos und interne FeindInnen „Die Journalisten hielten Transparente und schrien Worte wie ,lebend haben sie ihn geholt, leben wollen wir ihn zurück‘“ (…).“1 (Meza Carranza 2011b)
Am 18. Juni 2011 fand eine Demonstration in Acapulco, Guerrero statt. Der Journalist Marco Antonio López Ortiz der Zeitung Novedades Acapulco wurde am 7. Juni 2011 verschleppt und gilt seither als verschwunden. Die protestierenden JournalistenkollegInnen und Angehörigen verwenden dieselben Worte wie Angehörigenorganisiationen der Verschwundenen der Vergangenheit. Sie rufen: „Lebend haben sie ihn geholt, lebend wollen wir ihn zurück!“ Dieser Fall reiht sich in eine ungefähre Zahl von 26.000 neuen Fällen von Verschwundenen seit dem Jahr 2006, dem Amtsantritt von Präsident Felipe Calderón. Im Folgenden werden die Dynamiken rund um die politische Gewalt im Kontext dieses neuen Schmutzigen Krieges skizziert, die die Aufarbeitung der Verbrechen der Vergangenheit in weite Ferne rücken lassen. Es soll gezeigt werden, dass es Kontinuitäten mit dem Schmutzigen Krieg der Vergangenheit gibt und sich ähnliche Prozesse in der sozialen Praxis der Angehörigen aktueller Verschwundener bilden. In der Beschreibung einiger Aspekte dieses abermals auftretenden Gewaltphänomens werden Kontinuitäten und Gemeinsamkeiten mit den Angehörigen der Verschwundenen aus dem historischen Schmutzigen Krieg deutlich werden. Rosario Ibarra, Präsidentin von Comité Eureka, kritisiert die militärische Strategie von Präsident Calderón, wie im Zitat zu Beginn dieses Abschnitts (S. 411) deutlich wird. Calderón erklärte im Jahr 2006 den sieben größten auf mexikanischem
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„Los comunicadores portaban lonas y gritaban consignas como ,vivo se lo llevaron, vivo lo queremos’“ (...)“ (Meza Carranza 2011b)
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Territorium operierenden Drogenkartellen2 den Krieg und betonte dabei: „Wir werden alle, alle uns zur Verfügung stehenden Mittel einsetzen, um die Kontrolle des Staates und seiner Territorien auf allen Ebenen zurückzugewinnen.“3 Zum Schutz der nationalen Sicherheit, der Demokratie und der Menschenrechte sandte er das Militär und die Marine aus und seither kursieren erschreckende Zahlen und Statistiken der Gewalt durch die Medien. Laut der Nationalen Menschenrechtskommission (CNDH) gab es seit 2006 eine Zahl von 24.091 registrierten Fällen von Verschwundenen (vgl. Turati 2012b), die mexikanische Organisation Propuesta Civica hat eine Datenbank erstellt, in der 20.851 Fälle von Verschwundenen von 2006 – 2012 aufgelistet werden.4 Das mexikanische Innenministerium spricht bis November 2012 von 26,121 Fällen von Verschwundenen.5Seit 2007 soll es zwischen 140.000 und 250.000 interne Vertriebene (vgl. IDMC 2011, MPJD 2012)6 und unterschiedlichen Quellen zufolge zwischen 50.000 und 150.000Tote geben.7 Das mexikanische Innenministerium spricht von einer Zahl von 121,683 Toten bis Juli 2013 (Proceso 2013). Laut mexikanischer Regierung sind die Opfer allesamt auf das organisierte Verbrechen zurückzuführen, das seit dem Einsatz des Militärs mit
2
Gegenwärtig sind dies die Kartelle von Sinaloa, Juárez, Golfo, Tijuana, Los Zetas, La Familia, Beltrán Leyva und Los Caballeros Templarios. Zusätzlich zu diesen gibt es auch kleinere Kartelle. Vgl. für Geschichte und Entwicklung der Drogenkartelle in Mexiko: Astorga 2007 2012; Ravelo 2011; Hernández 2010; Reveles 2010.
3
„Seguirémos utilizando todos, todos los recursos a nuestro alcanze para recuperar el control del estado y de su territorio en todos su frentes.“ (Rede von Calderón im Jahr 2006 unter: http://www.youtube.com/watch?v=NcSNXBuON8c (Letzter Zugriff: 30.04.2014).
4
Unter:
http://propuestacivica.org.mx/trabajo/derechos-humanos/desaparecidos-en-
mexico/ (Letzter Zugriff 30.04.2014). 5
See:
http://aristeguinoticias.com/2602/mexico/lia-limon-da-a-conocer-lista-de-26000-
desaparecidos/ (Letzter Zugriff 30.06.2014). 6
Movimiento por la Paz con Justicia y Dignidad (MPJD, Bewegung für Frieden mit Gerechtigkeit und Würde): Einladung: Fazit der Schäden: Regierungszeit des Todes (Invitación: recuento de daños: sexenio de la muerte) vom 22.11.2012 unter: http:// movimientoporlapaz.mx/?s=Invitaci%C3%B3n%3A+recuento+de+da%C3%B1os%3A+ sexenio+de+la+muerte (Letzter Zugriff 30.04.2014).
7
Die Opferzahlen sind Schätzungen von Menschenrechtsorganisationen, JournalistInnen und PolitikerInnen. Vgl. etwa in La Jornada vom 28.03.2012: Van 150 mil muertos en México por la narcoviolencia: Panetta oder auf der Seite der Movimiento por la Paz con Justicia y Dignidad: Einladung: Fazit der Schäden: Regierungszeit des Todes (Invitación: recuento de daños: sexenio
de la
muerte)
vom 22.11.2012
unter: http://
movimientoporlapaz.mx/?s=Invitaci%C3%B3n%3A+recuento+de+da%C3%B1os%3A+ sexenio+de+la+muerte (Letzter Zugriff 30.04.2014).
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einem höheren Ausmaß an Gewalt gegen ihre GegnerInnen vorgeht. Doch sind diese Toten und Verschwundenen wirklich Opfer des organisierten Verbrechens? Haben staatliche Akteure, Militär und Polizei nichts mit den aktuellen Gewaltverbrechen zu tun? KritikerInnen dieses Krieges, Opfer, nationale und internationale Menschenrechtsorganisiationen zeichnen ein anderes Bild und auch die zahlreichen Berichte der staatlichen Nationalen Menschenrechtskommission beschreiben Fälle von Menschenrechtsverletzungen durch staatliche Akteure (vor allem Polizei, Militär und Marine).8 Ruft man sich die Definition von erzwungenem Verschwindenlassen ins Gedächtnis, so heißt es dort, dass dieses Verbrechen dann als solches zu betrachten ist, wenn es von staatlichen Akteuren ausgeführt wurde. Oder aber wenn nicht-staatliche Akteure unter Toleranz und Wissen staatlicher Akteure agiert haben. Militarisierte Städte und comunidades, militärische Kontrollposten installiert über große Teile des mexikanischen Territoriums, Tausende Vertriebene, Tote, Verschwundene und Waisenkinder. Die Auswirkungen dieses Krieges auf die sozialen Strukturen von Städten, Dörfern und Familien sind bereits jetzt deutlich sichtbar. Ein Beispiel sind die Angehörigen der neuenVerschwundenen aus diesem Krieg (vgl. Castro 2009; Sicilia 2011; Valdez Cárdenas 2012). Viele mexikanische ExpertInnen sprechen von einem neuen Schmutzigen Krieg durch die abermalige Stärkung der Rolle des Militärs unter der Regierung Calderón. Es sind auch indigene Regionen des Bundesstaates Guerrero, vor allem die Region der La Montaña (im Nordosten Guerreros), wo zapotecos und mixtecos leben, die von zunehmender Militarisierung und Repression betroffen sind. Zahlreiche indigene AktivistInnen politischer, sozialer und ökologischer Bewegungen wurden in den letzten Jahren festgenommen und es sind verstärkt Ermordungen und erzwungenes Verschwindenlassen festzustellen. Dies alles findet innerhalb des offiziellen Diskurses von Demokratisierung und Menschenrechteder regierenden PAN statt. Terror als Methode der Kontrolle der eigenen Bevölkerung findet also in Mexiko wie in anderen Regionen weiterhin Anwendung: „The massive escalation in terror practiced by authoritarian states over the last few decades is evidenced by the reemergence of torture as a serious world problem, the rising tide of death squad murders, and the use of direct state violence to intimidate millions of people.“ (Sluka 2000: 2 f.) Die mexikanische Regierung greift in diesem neuen Schmutzigen Krieg auch auf Täter aus dem vergangenen Schmutzigen Krieg zurück, dies vor allem als strategische Berater für Aufstandsbekämpfung im Verteidigungsministerium. Wie Julio Mata von AFADEM kritisiert, war einer dieser zentralen Figuren der pensionierte General Mario Acosta Chaparro. Er führte in den 1970er Jahren Operationen
8
Vgl. die Berichte der Empfehlungen an die mexikanische Regierung auf der Seite der Nationalen Menschenrechtskommission CNDH: http://www.cndh.org.mx/Recomendaciones _1990_2012 (letzter Zugriff 19.11.2012).
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zur Bekämpfung der Partei der Armen in der Sierra de Atoyac durch und war für Folter, Verschwindenlassen und die berüchtigten Todesflüge verantwortlich (vgl. Kap. 2.6; Camacho Servín 2012a, 2012b). Der Krieg gegen die Drogen zeigt, dass das mexikanische politische System ebenso wie zur Zeit der PRI-Regierung in der Vergangenheit eine „Diktatur mit zivilem Antlitz“ ist, wie der mexikanische Anthropologe López y Rivas konstatiert (2010).
7.1 F RIKTIONEN : N EUE F ÄLLE
VON V ERSCHWUNDENEN LEVANTADOS STATT DESAPARECIDOS
–
„Das Gewicht der Narcogewalt lastet auf den Frauen. (…) Sie sind es, die das Land durchqueren, an Türen klopfen, Poster anbringen, Nachforschungen anstellen, um das Schicksal des verschwundenen Ehemannes, Sohnes oder Bruders zu erfahren. Sie sind es, die sich organisieren, um die Massaker an ihren Kindern aufzuklären. Sie sind es, die den Haushalt anführen, in denen der Mann fehlt und viele Kinder zu ernähren sind. Sie sind es, die andere Frauen in ihrer Suche nach Gerechtigkeit begleiten oder jene, die die Wunden der Überlebenden dieses Krieges heilen.“9 (Turati 2011b: 4)
So beschrieb die mexikanische Journalistin Marcela Turati am 12. März 2011 in der Zeitschrift proceso das neue Phänomen der Odysee der Angehörigen in der Suche nach ihren Verschwundenen. Die Beschreibungen erinnern an jene Dynamiken, die sich in den 1970er Jahren zur Zeit des Schmutzigen Krieges entwickelten. Menschen verschwinden, Frauen klopfen an jede Tür, vernetzen sich in der Suche, organisieren sich, fordern Aufklärung und sind jene, die alleine Kinder erziehen und für die Familienökonomie sorgen. Neue Netzwerke von Angehörigen Verschwundener haben sich in den letzten Jahren in Mexiko gebildet (vgl. Abb. 53, 54). Die Verschwundenen in diesem neuen Krieg sind nun nicht mehr nur politische Oppositionelle, sondern auch Polizisten, Soldaten oder Miglieder krimineller Netzwerke. Wer Opfer, wer Täter in diesem Krieg ist, ist meist nicht klar, wer wen aus welchem Grund ermordete oder verschwinden ließ, ebensowenig. Für die Angehörigen
9
„El peso de la narcoviolencia mexicana está recargado sobre las mujeres. (...) Son las que recorren el país –tocando puertas, pegando carteles, haciendo pesquisas– para conocer el paradero del esposo, el hijo o el hermano, desaparecido. Son las que se organizan para exigir el esclarecimiento de las masacres de sus hijos. Son las que se quedan al frente de los hogares en los que falta el varón y sobran los niños que alimentar. Son las que acompañan a otras mujeres en su búsqueda de justicia o las que curan las heridas de las y los sobrevivientes de esta guerra.“ (Turati 2011b: 4)
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ist jedoch der Grund für das Verschwindenlassen nebensächlich. Die Auswirkungen vom Verschwindenlassen eines Familienmitglieds sind ähnliche wie zur Zeit des Schmutzigen Krieges der Vergangenheit. Die vier beschriebenen Verweigerungen von Informationen, von sterblichen Überresten, von Totenritualen und von Erinnerungsorten gelten auch für die aktuellen Fälle von Verschwindenlassen. Die mexikanische Soziologin Incháustegui bezeichnete die Frauen, deren Angehörigen durch den aktuellen Krieg gegen Drogen ermordet und verschwinden gelassen wurden, als die modernen Antigones. Viele Angehörige in Mexiko protestieren ebenfalls gegen die Vorgehensweise der Behörden und fordern die Leichname ihrer Toten und Verschwundenen. Incháustegui meint dazu: „Was wir in Mexiko beobachten, ist der Schrei der Antigone, denn der unsensible Staat wirft alle Toten in das Massengrab, behandelt sie wie Kriminelle und schließt sie von der Gemeinschaft der Bürger aus, indem ihnen nicht einmal ein würdiger Tod zugesprochen wird: die Reintegration der Toten mit den Verbindungen, die sie im Leben hatten.“10 (Incháustegui zit. in: Turati 2011b: 4)
Im August 2010 formierte sich ein Netzwerk in einer Nationalen Kampagne gegen das Verschwindenlassen. Schon lange bestehende und neue Organisationen von Angehörigen11 verbanden sich zu einer gemeinsamen Plattform. Rosario Ibarra bemerkte dazu, dass im Unterschied zu den früheren Fällen nun auch Angehörige an das Comité Eureka herantreten, die etwa verschwundene Polizisten oder Soldaten anzeigen wollten (vgl. Ibarra 2010). Die Gruppe der Opfer weitet sich in diesem Konflikt aus und umfasst neue soziale Gruppen, unter ihnen auch Mitglieder staatlicher Institutionen, die aus unterschiedlichen Gründen entweder von der organisier-
10 „Lo que estamos viendo en México es el grito de Antígona cuando el Estado insensible mete en la fosa común a todos los muertos tratándolos como criminales y los expulsa de la comunidad de los ciudadanos al no darles siquiera muerte digna, reintegración de la muerte lo que fueron sus nexos en la vida.“ (Incháustegui zit. in: Turati 2011b: 4) 11 Neu gegründete Organisationen von Angehörigen Verschwundener sind etwa Fuerzas Unidas por Nuestros Desaparecidos en México (Fundem), Red de Defensoras y Defensores de Derechos Humanos y Familias de Desaparecidos, Justicia para Nuestras Hijas. Unidos por Nuestros Desaparecidos im Bundesstaat Baja California; Comité de Madres y Familias con Hijas Desaparecidas in Chihuahua; Fundec in Coahuila; Lucha por Amor, Verdad y Justicia in Nuevo León; Comité de Familiares y Amigos de Secuestrados, Desaparecidos y Asesinados in Guerrero; Comité de Familiares de Detenidos Desaparecidos ¡Hasta Encontrarlos! in Guerrero und Michoacán; Voces Unidas por la Paz in Sinaloa; Buscamos a Nuestras Hijas in Veracruz; Fundación Tanatológica Manavi in Durangooder Grupo San Luis de la Paz Justicia y Esperanza in Guanajuato (vgl.Turati 2012b).
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ten Kriminalität oder staatlichen Akteuren zu FeindInnen deklariert wurden. Die Unsicherheit bei den neuen Fällen von Verschwundenen ist, dass die Angehörigen oftmals nicht wissen, ob der Grund für das Verschwindenlassen politischer Art war und von staatlichen oder parastaatlichen Akteuren ausgeführt wurde oder ob die Täter Mitglieder krimineller Netzwerke oder Drogenkartelle waren. Für die Angehörigen ist der Grund des Verschwindenlassens jedoch nebensächlich, die Auswirkungen sind ähnlich denen des Verschwindenlassens während des Schmutzigen Krieges der Vergangenheit. Die Verweigerungen von Informationen über die Körper, von Totenritualen, von Erinnerungsorten sind auch hier die zentralen Elemente des Leidens und Grund zur Vernetzung und Organisation mit anderen Angehörigen. Sie betonen daher in ihrem Aufruf in der Nationalen Kampagne gegen das Verschwindenlassens die Forderung nach: „[d]em lebendigen Wiederauftauchen aller Verhaftet-Verschwundenen des ganzen Landes, egal ob sie Opfer dieses Verbrechens aus politischen Motiven oder nicht geworden sind. Der entscheidendende Punkt ist, dass die alleinige Verantwortung für die Aufklärung aller Fälle von erzwungenem Verschwindenlassen beim Staat liegt.“12
Die Geschichte scheint sich zu wiederholen, alte Verbrechen fließen mit neuen Verbrechen zusammen und Angehörige formieren sich zu einer heterogenen neuen Erinnerungsgruppe. So entstanden in diesem Kontext auch Angehörigenorganisationen von verschwundenen MigrantInnen aus Zentralamerika, die auf ihrem Weg in die USA durch das mexikanische Territorium Opfer von Gewalt organisierter Kriminalität oder von staatlichen Akteuren werden.13 Im Diskurs vieler PolitikerInnen und in den Medien wurden jedoch die aktuellen Verschwundenen transformiert und einem bestimmten Gewaltakteur zugeordnet. So existiert ein neuer Terminus, der das Verbrechen in euphemistischer Weise umschreibt: Es wird oftmals nicht mehr von desaparecidos, sondern von levantados gesprochen. Levantar (aufheben, aufgreifen) bezeichnet den Akt des Festnehmens und Entführens einer Person. Im Gegensatz zu erzwungenem Verschwindenlassen ist jedoch der Terminus levantar kein existentes Verbrechen gemäß dem internatio-
12 „[L]a presentación con vida de todos los detenidos desaparecidos del país, sin importar si fueron víctimas de este delito por motivos políticos o no. Poniendo como punto primordial que el esclarecimiento de todos los casos de desapariciones
forzadas, son
responsabilidad única (...) del Estado. Unter: http://cronicadesociales.org/2010/07/31/ campana-nacional-contra-la-desaparicion-forzada-2/#more-32175
(Letzter
Zugriff
30.04.2014). 13 Vgl. etwa die Organisation Red Verdad y Justicia de Mexico y Centroamerica, bestehend aus Organisationen aus El Salvador, Honduras, den USA und Mexiko (vgl. Turati 2012a).
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nalen Völkerrecht. Im juristischen Sinne ist dieses Verbrechen nicht existent und die Opfer von Verschwindenlassen stehen somit außerhalb eines gesetzlichen Rahmens. Die Aufgegriffenen sind keine Verschwundenen im politischen und rechtlichen Sinne, da die (Mit-)Verantwortung des Staates durch die Verwendung dieses Begriffes negiert wird. Mit der Umschreibung levantar wird in der Medienberichterstattung und in den Diskursen der Regierung suggeriert, dass alle levantados mit kriminellen Drogennetzwerken und der Narco-Violencia, der Gewalt ausgeführt von Mitgliedern der Drogenkartelle, in Verbindung stehen. So erfolgt eine sekundäre Viktimisierung der Opfer, indem diese zu Krimininellen degradiert werden, die selbst Schuld an ihrem Schicksal haben (vgl. Karl 2012). Diese Strategie gab es ebenso im Schmutzigen Krieg der Vergangenheit, als alle Verschwundenen zu Banditen und Kriminellen deklariert wurden. Ein ähnliches Phänomen im Sprachgebrauch ist die Verwendung des Begriffes narcofosas („Gräber der Drogenhändler“). In den letzten Jahren sind zahlreiche Massengräber mit Leichen gefunden worden. Für mexikanische ForensikerInnen14 ist dies eine neue und zum Teil unbewältigbare Situation, da viele dieser Körper aufgrund ihres Zustandes der Verwesung, der Zersetzung, der Zerstückelung nicht mehr identifizierbar sind. Bei diesen Körpern sprechen die ForensikerInnen von no nombres (ohne Namen). In der Kategorisierung von Körpern im aktuellen Drogenkrieg gibt es zusätzlich zu den no nombres auch die Bezeichnung no identificado (nicht identifiziert), die synonym mit no nombre verwendet wird. Bei den identifizierten Körpern sprechen die ForensikerInnen auch von no ratificados (nicht ratifiziert) für jene Körper, deren Identität zwar bekannt ist, jedoch von keinem Angehörigen reklamiert werden (Dávila 2011). Oft ist es die Angst, wie ForensikerInnen und Menschenrechtsorganisiationen meinen, die dazu führt, dass viele Körper nicht abgeholt werden. Es ist die Angst, in der aktuellen Stigmatisierung der Aufgegriffenen mit dem Drogenhandel in Verbindung gebracht zu werden und das nächte Opfer zu werden. Die vielen Körper ohne Namen werden in Gräbern auf öffentlichen Friedhöfen verscharrt und zu „reiner Statistik“, wie die mexikanische Journalistin Patricia Dávila (2011) es bezeichnete. Bis November 2012 gab es laut Nationaler Menschenrechtskommission (CNDH) 15.921 Fälle von solchen nicht identifzierten und anonym bestatteten Leichen (vgl. Turati 2012b).
14 Es handelt sich vor allem um die ForensikerInnen des staatlichen Servicio Médico Forense SEMEFO (Forensisches Medizinisches Institut).
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7.2 D AS G ESPENST
DER NATIONALEN
S ICHERHEIT
Gemeinhin werden zwei Konzepte genannt, die der aktuelle Krieg gegen Drogen mit dem vergangenen Schmutzigen Krieg gemeinsam hat. Es ist einerseits die Konstruktion eines internen Feindes, der die nationale Sicherheit bedroht, und es ist andererseits die Konstruktion von Chaos und Angst. Diese beiden Konzepte werden täglich in den Medien präsentiert, um die Militarisierung des Landes zu rechtfertigen. Diese Konstruktionen resultieren in zunehmender sozialer Kontrolle, der Kriminalisierung von sozialen und politischen Bewegungen und der Verletzung von Menschenrechten als Kollateralschäden auf dem Schlachtfeld der nationalen Sicherheit (vgl. Fazio 2011). Die Gefährdung der nationalen Sicherheit aus der Perspektive des mexikanischen Staates forcierte eine abermalige Stärkung des Militärs. Der Kampf gegen den Drogenhandel und ein neues Regierungsprogramm von Felipe Calderón lassen eine Aufklärung vergangener Verbrechen in noch weite Ferne rücken. Die mexikanische Regierung setzt als wichtigsten Verbündeten im Kampf um die Kontrolle des nationalen Territoriums auf das Militär (vgl. Rodríguez Castañeda 2010). Übergriffe auf die Zivilbevölkerung durch eine verstärkte Präsenz des Militärs in jenen ruralen Gebieten, wo bewaffnete Bewegungen operieren, erinnern an den Schmutzigen Krieg vor mehr als 30 Jahren. Deshalb betont der mexikanische Anthropologe Hernández Navarro, dass dieser Krieg kein Krieg gegen die Drogen sei, sondern „a war on the mexican people“ (Hernández Navarro 2010). Das militärische Programm zur Strategie der Rückeroberung der vom organisierten Verbrechen kontrollierten Territorien beschreibt auch, dass aus der Perspektive des mexikanischen Militärs die psychologische Kriegsführung in der Vergangenheit nicht erfolgreich war, dass also das Verschwindenlassen der politischen Oppositionellen nicht zur Eliminierung der Gruppen geführt, sondern dass in den ländlichen Gebieten immer noch bewaffnete Bewegungen mit denselben Zielen und Forderungen operieren wie vor 30 und 40 Jahren. In diesem Papier wird klar, dass die inoffizielle Strategie des Verschwindenlassens als Methode der Aufstandsbekämpfung zur Aufrechterhaltung der nationalen Sicherheit anerkannt war. So meinte Jorge Luis Sierra, Experte in Fragen zu nationaler Sicherheit in Mexiko: „[M]an dachte, dass sich mit dem Mittel der Gewalt, mit dem Verschwindenlassen der Kombattanten der bewaffneten Bewegungen der 1960er, 1970er und Beginn der 1980er Jahre das Problem erledigt hätte, aber es war nicht so. Die Bedingungen für die Entwicklung bewaffneter Bewegungen sind immer noch da (…). Die Tatsache, dass das Militär und die Regierung
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die ERPI [Ejército Revolucionario Popular Insurgente] in Guerrero bekämpft, zeigt, dass dort immer noch bewaffnete Bewegungen sind.“15 (Sierra zit. in: Flores 2009)
Sierra stellt fest, dass die Probleme im Süden des Landes diesselben wie vor 30 Jahren sind und es eine Art zyklische Wiederkehr bewaffneter Bewegungen gebe als Antwort auf die bestehenden sozialen Ungleichheiten. Die Antwort des mexikanischen Staates – Gewalt durch psychologische und militärische Kriegsführung – wiederholt sich ebenfalls. Die Streitkräfte „werden scheitern, genauso wie sie vor 30 Jahren und auch vor 80 Jahren gescheitert sind. Das Land hat es nicht geschafft, den Süden zu entwickeln, der weiterhin in Armut lebt, mit der Gewalt der Kaziken, mit der Ungerechtigkeit, mit der Ermordung von Führerpersonen und aktuell mit der Präsenz der organisierten Kriminalität. Dies bringt neue Perioden hervor: es vergehen zehn oder zwanzig Jahre und die Gewalt bricht erneut aus. Neue Zellen, neue bewaffnete Bewegungen, neue Konfrontationen, wie eine Spirale, die sich formiert. Die Gewalt nimmt nicht ab: Die betroffenen Zonen werden immer mehr, die Sabotagen sind immer schädlicher, sind intensiver, beeinträchtigen die Wirtschaft mehr. Für all das gibt es noch keine Lösung.“16 (Ebd.)
Auf Einladung der mexikanischen Regierung hielt die Arbeitsgruppe zu erzwungenem Verschwindenlassen der UNO ihre 93. Sitzung in Mexiko-Stadt ab. Diese Einladung war gemäß des historisch bekannten Diskurses der mexikanischen Regierung, der Menschenrechte und Demokratie als Kernelement hat, bezeichnend. Der Besuch der Arbeitsgruppe war gleichzeitig eine UN-Mission zur Untersuchung der aktuellen Lage der Situation der Verschwundenen in Mexiko. Die Arbeitsgruppe
15 „[S]e ha pensado que por la vía de la fuerza, con la desaparición de los militantes de los movimientos armados de las décadas de 1960, 1970 y principios de 1980 se había eliminado el problema, pero no fue así. Las condiciones para el desarrollo de grupos armados ahí están todavía [...]. El hecho de que el Ejército y el gobierno estén tratando de combatir al ERPI en Guerrero demuestra que ahí sigue habiendo movimientos armados.“ (Sierra zit. in: Flores 2009) 16 „[E]starán fallando, como fallaron hace 30 años y también hace 80 años. El país no ha logrado desarrollar el sur, que sigue estancado en la miseria, en la violencia de los caciques, en la injusticia, en el asesinato de los líderes y ahora con la presencia de la delincuencia organizada. Eso trae nuevos periodos: pasan 10 o 20 años y la violencia vuelve a surgir. Nuevas células, nuevos movimientos armados, nuevos enfrentamientos, en una espiral que se va desarrollando. La violencia no va retrocediendo: las zonas afectadas son cada vez mayores, los sabotajes que se hacen son cada vez más dañinos, más extensos, afectan más a la economía, y todo eso no ha terminado de resolverse.“ (Ebd.)
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forderte in ihrem Abschlussbericht von der mexikanischen Regierung, das Militär zurück in die Kasernen zu holen und aufgrund zahlreicher Menschenrechtsverletzungen nicht im Kampf gegen den Drogenhandel einzusetzen. Der Bericht zeigte, dass zwar viele Fälle von aktuellem Verschwindenlassen auf die organisierten kriminellen Netzwerke zurückgehen, dass aber auch Institutionen des Staates daran beteiligt sind. Außerdem fordert die UNO, dass das Verbrechen des erzwungenen Verschwindenlassens in die Bundesgesetzgebung aufgenommen werden sollte, so wie es die UN-Konvention gegen erzwungenes Verschwindenlassen vorsieht (vgl. Camacho Servín 2011). Nach Jahrzehnten der Empfehlungen spricht die UNO-Arbeitsgruppe aus, was die Opfer, die Angehörigen der Verschwundenen seit langem fordern. Präsident Calderón verteidigte im Juni 2011 jedoch abermals den Einsatz der Streitkräfte im Kampf gegen das organisierte Verbrechen. Das Militär, die Marine und die Polizei seien in diesem Kampf die stärksten und diszipliniertesten Waffen bei der Lösung dieser Probleme (vgl. Herrera Beltrán 2011). Es ist also nicht anzunehmen, dass die mexikanische Regierung dieses Mal die Empfehlungen umsetzen wird. Auch im März 2012 forderte die UN-Arbeitsgruppe zu erzwungenem Verschwindenlassen die Regierung Calderón auf, die Verbrechen aufzuklären und Präventionsmaßnahmen einzuleiten. In einem Bericht stellten sie eine besorgniserregende Situation in Mexiko fest: „Die Straflosigkeit ist ein chronisches Muster, präsent in den Fällen von erzwungenem Verschwindenlassen, und es werden nicht genügend Bemühungen unternommen, um das Schicksal oder den Aufenthaltsort der verschwundenen Personen ausfindig zu machen, die Schuldigen zu sanktionieren und das Recht auf Wahrheit und Entschädigung zu garantieren. (…) Es scheint, als ob Mexiko nicht den Willen oder die Fähigkeit besitzt, effiziente Untersuchungen in den Fällen von erzwungenem Verschwindenlassen durchzuführen.“17 (UN-Arbeitsgruppe zit. in: Díaz 2012)
Präsident Calderón verpflichtete sich vor der UNO-Arbeitsgruppe in einem Kommuniqué unterzeichnet von Innen- und Außenministerium und der Generalstaatsanwaltschaft, die Empfehlungen umzusetzen. Abermals ist nicht anzunehmen, dass diesen Lippenbekenntnissen Taten folgen werden. Indes hat sich eine breite Bewe-
17 „La impunidad es un patrón crónico y presente en los casos de desapariciones forzadas, y no se están realizando los esfuerzos suficientes para determinar la suerte o el paradero de las personas desaparecidas, sancionar a los responsables y garantizar el derecho a la verdad y la reparación. (…) Parecería que México no tiene la voluntad o es incapaz de realizar investigaciones efectivas en casos de desapariciones forzadas.“ (UNArbeitsgruppe zit. in: Díaz 2012)
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gung von Betroffenen und Opfern der Gewalt formiert, die national und international politischen Druck auf die Regierung Calderón ausüben.
7.3 D IE K ARAWANE DES F RIEDENS UND DER G ERECHTIGKEIT „Sind wir für sie Kollateralschäden?“18 (Frage von Javier Sicilia an das Kabinett von Präsident Calderón, 2011)
Am 23. Juni 2011 findet ein Dialog zwischen Präsident Felipe Calderón und dem mexikanischen Journalisten und Poeten Javier Sicilia im Castillo de Chapultepec in Mexiko-Stadt statt. Dabei konfrontiert Sicilia den Präsidenten und dessen Sicherheitskabinett mit der Frage, ob alle Opfer dieses neuen Krieges Kollateralschäden seien. Sicilias Sohn wurde von unbekannten Tätern Ende März 2011 ermordet. Dies war der Ausgangspunkt dafür, dass Sicilia eine nationale Protestbewegung gegen Calderóns Krieg initiierte. Die Karawane für Frieden und Gerechtigkeit zog im Mai und Juni 2011 angesichts der Tausenden von Toten und Verschwundenen durch das Land. Opfer, Angehörige und Überlebende schlossen sich an und traten in den öffentlichen Raum, um Gerechtigkeit und ein Ende der Gewalt zu fordern. Die Karawane zog von einer Stadt in die nächste, an jedem Ort hörten die TeilnehmerInnen erneut Geschichten von gewaltvollen Ermordungen, Exekutionen, Entführungen und Verschwundenen durch das organisierte Verbrechen, die Polizei, das Militär. Viele fordern ihre Angehörigen lebend zurück und rufen: „Calderón, was würdest du fühlen, wenn dein Sohn getötet oder verschwinden gelassen würde?“19 (Gil Olmos 2011) Fragen, die Angehörige auch vor 40 Jahren schon an Ex-Präsidenten Luis Echeverría und López Portillo und dann an deren Nachfolger stellten. Die Antwort blieb stets aus. Die Karawane brachte mit ihren Aktionen in eine breitere Öffentlichkeit, was oftmals von Regierungsseite verschwiegen wurde: „Die Karawane bestätigt eine Wahrheit, die die Regierung nicht wahrhaben will: das Land ist voller Toter, die Produkt des Fehlers sind, dem organisierten Verbrechen den Krieg zu erklären, ohne eine andere Strategie als die Gewalt zu haben. ,Wir wollen dich zurück zu Hause’, sagen die Frauen in ihrer Suche nach ihren Verschwundenen. ,Wir wollen Gerechtigkeit haben sie in Coahuila, Monterrey, Michoacán, Morelos, Chihuahua, San Luis Potosí geschrien. Auch auf den Straßen haben sie geschrien, wo die Karawane vorbeigezogen ist, die der Poet
18 „¿Les parecemos daños colaterales?“ (Sicilia zit. in: Gil Olmos/Rodríguez García 2011b) 19 „Calderón, ¿qué sentirías si te matan o desaparecen un hijo?“ (Gil Olmos 2011)
426 | K AMPF UM R EHUMANISIERUNG jene des ,Trostes‘ genannt hatte und die sich für viele in eine Hoffnung angesichts des Schweigens und der Unfähigkeit der Regierungen verwandelt hat.“20 (Gil Olmos 2011)
Beim Dialog am 23. Juni 2011 zwischen Präsident Felipe Calderón und Javier Sicilia im Castillo de Chapultepec wird dieser auch begleitet von RepräsentantInnen der Angehörigen von Ermordeten und Verschwundenen. Sicilia fordert von Calderón eine öffentliche Entschuldigung gegenüber allen Opfern seines Krieges, andere Opfer kritisieren die Nicht-Einhaltung von Versprechen hinsichtlich der Untersuchungn von Gewalttaten und die Korruption in Polizei und Militäreinheiten. Sie verlangen einen Strategiewechsel und fordern Calderón auf, testimonios der Erzählungen von Opfern, die sie während der Karawane für den Frieden und Gerechtigkeit aufgezeichnet haben, in den Schulen zu zeigen. Eine Antwort gab es darauf nicht. Indes betonte Calderón, dass er es vorziehe, als Präsident von Tausenden von Toten in die Geschichte einzugehen, als einer, der nichts unternommen habe, denn die Gewalt geht aus der Perspektive der Regierung nicht von Polizei und Militär aus: „Es gibt keine Gewalt, weil dort die Streitkräfte sind. Die Streitkräfte sind dort, weil es dort Gewalt gibt, eine Gewalt, die die lokalen Behörden nicht kontrollieren konnten.“21 (Calderón zit. in: Gil Olmos/Rodríguez García 2011c) Die Militarisierung des Landes sei also die Konsequenz der Gewalt und nicht deren Ursache.Er meinte, dass er zwar Schmerz für die Opfer fühlen würde, betonte gleichzeitig aber auch den Tod von mehr als 1.000 Polizisten, 263 Militärs und 409 Bundesbeamten (ebd.). Auf der anderen Seite gibt es zahlreiche Anklagen von Opfern staatlicher und parastaatlicher Gewalt. So etwa der Fall von Pedro Leyva Domínguez: „Das Dorf hat Aktionen der Aufstandsbekämpfung angezeigt, die von Drogenhändlern, Paramilitärs und Polizisten durchgeführt wurden; (…) seit mehr als zwei Jahren verfolgen, er-
20 „La Caravana está reafirmando una verdad que el gobierno no quiere reconocer, el país está lleno de muertos producto del error de haber declarado la guerra contra el crimen organizado sin una estrategia más que la violencia. ,Te queremos de regreso a casa ދdijeron las mujeres en busca de sus desaparecidos. ,Queremos justicia ދgritaron en Coahuila, Monterrey, Michoacán, Morelos, Chihuahua, San Luis Potosí y en las carreteras por donde pasaba la Caravana que el poeta ha llamado del ,consuelo ދy que, para muchas familias, se convirtió en una esperanza ante el silencio y la incapacidad de los gobiernos.“ (Gil Olmos 2011) 21 „No hay violencia porque estén ahí las fuerzas federales. Las fuerzas federales están ahí porque ahí hay violencia, una violencia que las autoridades locales no pudieron controlar.“ (Calderón zit. in: Gil Olmos/ Rodríguez Garcia 2011c)
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morden und lassen sie Mitglieder des Dorfes und der Nachbardörfer verschwinden unter völliger Straflosigkeit.“22 (Martínez Elorriaga/Torres 2011).
Am 6. Oktober 2011 wird der indigene Nahua-Aktivist Pedro Leyva Domínguez, der für Landrechte in seiner comunidad im Bundesstaat Michoacán kämpfte, ermordet. Er war außerdem Repräsentant der sozialen Bewegung Movimiento por la Paz con Justicia y Dignidad, die durch alle Bundesstaaten Mexikos zieht, um gegen den Drogenkrieg zu protestieren und die Geschichten der unsichtbaren und vergessenen Opfer dieses Konfliktes in der Öffentlichkeit sichtbar zu machen. Levya Domínguez' Tod reiht sich ein in eine unbestimmte Zahl von neuen Fällen von Verschwindenlassen und Ermordungen nicht nur in seinem Dorf, sondern in zahlreichen anderen Regionen Mexikos, wo politische und soziale Bewegungen aktiv sind. Die Täter bleiben meist unbekannt und agieren in völliger Straflosigkeit. Sie kommen aus den Reihen paramilitärischer Gruppen oder krimineller Netzwerke in Verbindung zu den Drogenkartellen, die auf Anordnung von lokalen oder federalen Politikern interne Feinde eliminieren sollen. Die schmutzige Arbeit macht im Gegensatz zum Schmutzigen Krieg der Vergangenheit nun also nicht mehr nur die Polizei und das Militär, sondern in Verbindung mit kriminellen parastaaatlichen Akteuren führen diese auf staatliche Anordnung die Methoden der Aufstandsbekämpfung durch. Die Gewalt geht in der staatlichen Argumentationsweise von Präsident Calderón immer von den anderen aus. Staatliche Akteure sind dabei lediglich jene, die im Kampf um interne und nationale Sicherheit der unkontrollierbaren Gewalt der anderen entgegentreten und dabei die wahren Opfer sind. Während des Treffens der Bewegung mit Präsident Calderón benannte jedoch María Elena Castro, Mutter von vier verschwundenen Söhnen aus Michoacán, hinsichtlich der Hindernisse bei der Aufklärung des Verschwindenlassens eine seit 40 Jahren zirkulierende Forderung der Angehörigen: „Wir wollen keinen Betrug mehr, wir fordern, dass sie ihre Versprechen einhalten und das Schicksal unserer Kinder aufklären.“23 (Elena Castro zit. in: Gil Olmos/Rodríguez García 2011a) Die Geschichte staatlicher Repression wiederholt sich in zyklischer Weise. Die Täter werden dabei zu Opfern, die Opfer zu Tätern konstruiert. Wer die politische Macht innehat, bestimmt die Art der Konstruktion und die Form der Aufklärung der Verbrechen und bestimmt in weiterer
22 „La comunidad ha denunciado acciones de contrainsurgencia a manos de grupos de narcotraficantes, paramilitares y policías; (…) que desde hace más de dos años persiguen, asesinan y desaparecen a integrantes de la comunidad y de los pueblos vecinos con total impunidad.“ (Martínez Elorriaga/Torres 2011) 23 „No queremos más engaños, exigimos nos cumplan y den con el paradero de nuestros hijos.“ (Elena Castro zit. in: Gil Olmos/Rodríguez García 2011a)
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Folge die Deutungsmacht über Erinnerungen und zukünftige Geschichtskonstruktionen eines vergangenen Konfliktes. Die gegenwärtige Dynamik von Opfer- und Täterkonstruktionen in diesem neuen Krieg zeigt abermals die zentrale Bedeutung der testimonios jener, deren Erinnerungen im nationalen Gedächtnis verschwiegen werden sollen. Auf Druck der Opferbewegungen hat schließlich im März 2012 der Senat das Gesetz zur nationalen Registrierung von Daten vermisster oder verschwundener Personen (Ley de Registro Nacional de Datos, Personas Extraviadas o Desaparecidas) beschlossen, das die Implementierung einer bisher fehlenden zentralen Datenbank für Fälle von Verschwundenen zum Ziel hat. Diese soll zur Aufklärung des Schicksals der Verschwundenen beitragen (vgl. Becerril/Ballinas (2012a). Ein Monat später, im April 2012, beschloss der Senat zudem ein Gesetz für die Opfer der aktuellen Gewalt: die Ley General de Víctimas (Allgemeines Opfergesetz). Durch das Gesetz wird festgelegt, dass den Angehörigen von Verschwundenen oder Ermordeten Aufklärung und Reparationszahlungen zustehen (vgl. Becerril/Ballinas 2012b). Auch gegen korrupte staatliche Akteure, die der Kollaboration mit kriminellen Netzwerken und Drogenkartellen verdächtigt sind, wurde verstärkt vorgegangen. So wurden etwa im Mai 2012 drei Generäle und ein Oberstleutnant festgenommen, die mutmaßlich mit einem Drogenkartell kooperierten (vgl. Carrasco Araizaga 2012). Hinsichtlich der Forderung, das Verbrechen des erzwungenen Verschwindenlassens in das nationale Strafrecht aufzunehmen, so wie es die UNKonvention vorsieht und zu deren Umsetzung sich die mexikanische Regierung verpflichtet hat, wurde dies bis November 2012 nur für die Strafgesetzbücher von neun Bundesstaaten umgesetzt, jedoch noch nicht für das nationale Strafrecht. Der neunte Staat, der das Verbrechen aufgenommen hat, war Nuevo León, wo Angehörigenorganisationen Druck auf die lokale Regierung ausgeübt hatten. Das mexikanische UNO-Menschenrechtsbüro begrüßte diese Entscheidung in einer Pressemitteilung und forderte abermals die Aufnahme dieses Verbrechens in die nationale Gesetzgebung: „Diese Reform inkorporiert die wichtigsten internationalen Standards zu diesem Thema und gibt der Bevölkerung von Nuevo León ein zentrales Mittel, um dieses schwer wiegende Verbrechen zu bekämpfen. Außerdem dient diese als Referenz und Motivation, damit andere Kongresse ihr Strafrecht den internatioalen Verpflichtungen, die Mexiko übernommen hat, anzupassen.“ (Pressemitteilung UNO, 13.11.2012)24
24 „Dicha reforma incorpora los principales estándares internacionales en la materia, dotando a la ciudadanía de Nuevo León de una herramienta esencial para combatir este grave delito. Además, sirve como referente y estímulo para que otros Congresos adecuen sus códigos penales a los compromisos internacionales asumidos por México.“ (Comunicado
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Es wird sich zeigen, ob diese neuen Gesetze und Maßnahmen in die Tat umgesetzt werden und den Opfern ein Minimum an Gerechtigkeit widerfahren wird oder ob diese Prozesse lediglich Teil von wahlkampfstrategischen Entscheidungen vor den Präsidentschaftswahlen im Juli 2012 waren. Inmitten dieser konfliktiven Prozesse im Kontext des Drogenkrieges führte ein anderer Wahlkampf dazu, dass die Forderungen von Angehörigen von Verschwundenen aus dem Schmutzigen Krieg der Vergangenheit ernst genommen wurden. Im Bundesstaat Guerrero wurde die erste Wahrheitskommission Mexikos eingesetzt.
7.4 W AHRHEITSKOMMISSION UND R EPARATIONSZAHLUNGEN : G EFAHREN STATT E RFOLGE ? „Wir wussten gar nichts vom Plan einer solchen Kommission! Ich verstehe nicht, wer sie machen soll und warum sie uns nicht fragen!“25 (María Felix Reyes, Atoyac 2010)
Wie María Felix Reyes waren auch andere Angehörige von Verschwundenen aus Atoyac de Álvarez überrascht, als sie von der Ankündigung der ersten Wahrheitskommission in Mexiko aus den Medien oder durch Gespräche mit Bekannten erfuhren. Viele reagierten mit Unverständnis und Wut, da sie nicht in den Entscheidungsprozess eingebunden und nicht darüber informiert wurden, obwohl sie doch die Betroffenen sind. Auf lokaler Ebene wurden so abermals die Konflikte sichtbar, die aus der Ankündigung von Transitional-Justice- Mechanismus entstehen können. Der neue Gouverneur von Guerrero Ángel Aguirre Rivero, der im April 2011 sein Amt übernommen hat, folgte den Forderungen der RepräsentantInnen von AFADEM und anderer sozialer Organisationen nach einer breit angelegten Wahrheitskommission zur Aufklärung aller Verbrechen politischer Gewalt der Vergangenheit im Bundesstaat. Rivero versprach die Einsetzung einer derartigen Kommission sollte er die Wahlen gewinnen. Nach seiner Amtsübernahme bat er sogleich um Geduld, da diese Prozesse kompliziert seien. Es sollen in dieser Wahrheitskommission nämlich neben den Verschwundenen der 1970er Jahre auch das Mas-
de Prensa ONU 13.11.2012). In: La ONU-DH saluda la reforma al Código Penal del estado de Nuevo León en materia de desaparición forzada de personas. Unter: http://hchr.org.mx/files/comunicados/2012/11/20121113_ComPrensa_ONUDH.pdf (letzter Zugriff 14.11.2012). 25 „¡Nosotros no sabíamos nada del plan de una tal comisión! No entiendo quien la va a hacer y porque no nos preguntan a nosotros“ (María Felix Reyes, Atoyac 2010)
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saker des Militärs im Jahr 1998 im Dorf El Charco an elf indigenen mixtecoKleinbauern, die der Zugehörigkeit der Guerilla EPR verdächtigt wurden, aufgeklärt werden. Aguirre war damals Interimsgouverneur und somit potenziell in das Massaker involviert. Im Juni 2011 traf sich Aguirre zu ersten Gesprächen mit möglichen Mitgliedern der Kommission, dem ehemaligen Rektor der Universidad Autónoma de Guerrero, José Enrique González Ruiz, der juristischer Berater von AFADEM war, und mit Octaviano Santiago Dionisio und Eloy Cisneros Guillén (De la O 2011a), den beiden Ex-Guerilleros und Mitbegründern der PRD (Partido de la Revolución Democrática). KritikerInnen der Einsetzung einer Wahrheitskommission verweisen darauf, dass ein derartiges Instrument keine legalen oder politischen Konsequenzen haben wird. Eine Wahrheitskommission in einem einzigen Bundesstaat könne zwar bestimmte Wahrheiten ans Licht bringen, nicht aber die Verantwortlichen der Verbrechen, die auf bundesstaatlicher Ebene zu finden sind, zur Rechenschaft ziehen. Soziale Organisationen fordern, dass Mitglieder einer potenziellen Wahrheitskommission Personen sein müssen, die keine (wahl-) politischen Interessen verfolgen, die also sauber sind. So sagt zum Beispiel Martínez Cruz, ehemaliger politischer Gefangener und Sprecher der Frente de Organizaciones Democráticas del Estado de Guerrero: „Aufgrund der Erfahrung anderer Länder wissen wir, eine Wahrheitskommission muss von Leuten getragen werden, die nicht beschmutzt sind und die keine politischen oder wahlkampftaktischen Interessen verfolgen. Falls es sich doch um jemand handeln sollte mit Beziehungen zu politischen Parteien, muss diese Person sehr sauber sein, obwohl so jemand schwierig zu finden sein wird.“26 (Martínez Cruz zit. in: Hernández 2011b)
Angehörige von Verschwundenen in Atoyac sind skeptisch. Während des Wahlkampfes drang die Nachricht zu den wenigsten. Kaum jemand wusste von den Verhandlungen der RepräsentantInnen der Verschwundenen von AFADEM mit dem Gouverneurskandidaten hinsichtlich einer Wahrheitskommission. Doña María, Tochter eines Verschwundenen aus Atoyac und Mitglied von AFADEM, wusste nichts von der Wahrheitskommission. Viele fühlen sich abermals exkludiert und marginalisiert von den Entscheidungen und Handlungen ihrer RepräsentantInnen. Jose Luis Arroyo Castro aus Atoyac kritisiert in einem Gespräch die politische Instrumentalisierung des Themas der Verschwundenen:
26 „Por la experiencia de otros países, una Comisión de la Verdad tiene que estar integrada por gente que no esté manchada y que no persiga fines políticos ni electorales, o si se trata de alguien que tiene relación con partidos políticos debe ser muy limpio, aunque será difícil encontrarla.“ (Martínez Cruz zit. in: Hernández 2011b)
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„Wieder einmal werden wir Angehörige von Verschwundenen als politischer Spielball im Wahlkampf benutzt, damit sie mit unseren Stimmen an die Macht kommen. Wir haben vom Vorschlag einer Wahrheitskommission aus der lokalen Zeitung erfahren, aber die Repräsentanten von AFADEM haben uns nicht gefragt, ob wir so etwas wollen. Sie müssten doch erst uns fragen und uns informieren und nicht wieder im Namen aller Angehörigen sprechen, ohne dass wir etwas davon erfahren.“ (Arroyo Castro, Atoyac, 2010)
Ranferi Hernández Acevedo vom Movimiento Social de Izquierda (MSI) schlug vor, Tita Radilla, Vizepräsidentin von AFADEM, solle die Vorsitzende der Wahrheitskommission werden. Tita Radilla lehnte eine solche Funktion jedoch mit folgender Begründung ab: „[W] wir sind am wenigsten geeignet, diese anzuführen, denn wir können nicht Richter und Ankläger zugleich sein. Wir sind die anklagende Seite.“27 (Radilla zit. in: Valadéz Luviano 2011) Radilla schlug indes vor, die Kontakte von AFADEM mit internationalen Menschenrechtsorganisationen zu nutzen und internationale ExpertInnen für eine Wahrheitskommission in Guerrero einzuladen. Sie unterstrich auch die Wichtigkeit, dass nur eine historische Etappe untersucht werden sollte, also nicht die Verschwundenen des Schmutzigen Krieges gemeinsam mit der politischen Gewalt in den 1990er Jahren. Radilla betonte auch, dass es nur um die Wahrheitsfindung gehen und nicht darum, dass jemand verurteilt werden sollte (ebd.). Auch in diesen Punkten wird es Meinungsverschiedenheiten zwischen den Angehörigen in Atoyac geben. Denn viele sehen einen Zusammenhang zwischen der politischen Gewalt des Schmutzigen Krieges und deren Kontinuität bis in die 1990er Jahre. Sie fordern daher auch eine Aufklärung des Massakers von Aguas Blancas 1996, welches in der Amtszeit von Gouverneur Ruben Figueroa28 lag, und des Massakers von El Charco 1998.29 Militarisierung und paramilitärische Übergriffe sowohl in den Dörfern im Bezirk Atoyac als auch in Aguas Blancas und El Charco sind jedoch nicht Vergangenheit, sondern bis in die Gegenwart Teil der sozialen Realität. Viele fordern daher mit der Einsetzung einer Wahr-
27 „[N]osotros somos los menos indicados para encabezarla porque no podemos ser juez y parte, porque nosotros somos la parte denunciante, acusadora.“ (Radilla zit. in Valadéz Luviano 2011) 28 In Aguas Blancas, einem Dorf im Bezirk Coyuca de Benítez, dem angrenzenden Bezirk von Atoyac de Álvarez wurden im Jahr 1996 Kleinbauern vom Militär ermordet, die der Zugehörigkeit der Guerilla EPR verdächtigt wurden (vgl. Kap. 4.2). Rubén Figueroa Figureroa ist der Sohn des Ex-Gouverneurs Rubén Figueroa Alcocer, der 1974 von der Partei der Armen entführt wurde und für die Repression während des Schmutzigen Krieges in Atoyac mitverantwortlich war (vgl. Kap 2.). 29 Die comunidad El Charco liegt im Bezirk Ayutla, Guerrero. Zu den Ereignissen rund um das Massaker am 7. Juni 1998 vgl. Kap.4.2.
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heitskommission nicht nur die Wahrheitsfindung, sondern auch eine Verurteilung der Täter, jener der Vergangenheit und der Gegenwart. Eine Wahrheitskommission sei eine historische Schuld des neuen Gouverneurs und solle keine Lügenkommission (comisión de la falsedad) werden, wie die Überlebenden von El Charco bei der Kommemorationsveranstaltung am Jahrestag des Massakers 2011 betonten (vgl. Meza Carranza 2011a). Der Kongressabgeordnete der PRD, Faustino Soto Ramos, legt schließlich Anfang Juli 2011 eine Gesetzesinitiative vor, in der vorgeschlagen wird, sowohl die Verbrechen des Schmutzigen Krieges der 1960er und 1970er Jahre als auch die Massaker von Aguas Blancas und El Charco zu untersuchen. Es solle außerdem nicht nur eine Wahrheitsfindung geben, sondern auch eine Bestrafung der Täter folgen. Dass extralegale Hinrichtungen und politische Gewalt in Guerrero immer noch Teil der gegenwärtigen Realität sind, zeigt der Mord an einer historisch symbolträchtigen Person. Eine Woche vor der geplanten Abstimmung zur Einsetzung der Wahrheitskommission wird am 3. Juli 2011 Isabel Ayala Nava, die Frau von Lucio Cabañas, ermordet. Isabel Ayala Nava und ihre Schwester Reyna verkauften gerade Essen an einem Sonntag vor der Kirche ihrer comunidad Xaltianguis in Guerrero, als unbekannte Täter aus einem Auto auf sie und ihre Schwester Reyna mehrere Schüsse abfeuerten und dann flohen. Danach erhielt auch ihre Tochter, die politische Aktivistin Micaela Cabañas Ayala, Morddrohungen.30 Die staatsterroristische Praxis der Eliminierung interner FeindInnen hat erneut ein Klima der Angst und des Terrors in Guerrero geschaffen, in der Flucht den Unterschied zwischen Leben und Tod ausmacht. Die MenschenrechtsorganisationenRed de Alerta Temprana, AFADEM, Fundación Diego Lucero, Liga Mexicana de Derechos Humanos, Asociación de Derechos Humanos del Estado de México sowie die Asociación Nacional de Abogados Democráticos fordern öffentlich eine Untersuchung der Ermordung von Isabel Ayala Nava und eine Bestrafung der Täter. Über die Gründe der Ermordung und der Morddrohungen vermuteten die sozialen Bewegungen in der Tageszeitung La Jornada Guerrero: „[D]ie Morddrohungen gegen ihre Tochter Micaela Cabañas, ein paar Minuten bevor Isabel Ayala ermordet wurde (…), lassen vermuten, dass der Mord an Isabel Ayala und ihrer Schwester Reyna ein politischer Mord ist. Dieser steht in Verbindung mit deren Aktivismus in der Verteidigung der Menschenrechte und der Aufklärung der Verbrechen gegen die Menschlichkeit während des Schmutzigen Krieges in Guerrero. Es ist ebenso ein Akt der Ein-
30 „Acribillan en Xaltianguis a la última esposa de Lucio Cabañas, La Jornada Guerrero vom 04.07.2011. Unter: http://www.lajornadaguerrero.com.mx/2011/07/04/ (Letzter Zugriff 30.04.2014).
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schüchterung gegenüber der sozialen Bewegungen im Bundesstaat.“31 (zit. in: Giles/Valadéz 2011b)
Schmutzige Kriege sind also in Mexiko kein Konflikt der Vergangenheit. Politischer Protest für die Aufklärung des Schicksals der Verschwundenen der Vergangenheit und der Gegenwart sind erneut zu einer riskanten Handlungsstrategie zwischen Dehumanisierung und Rehumanisierung geworden. Im Jahr 2003 hatte Isabel Ayala Nava das Schweigen gebrochen. Sie wurde im Jahr 1976 aus dem Militärlager Nr. 1 unter der Bedingung freigelassen, nicht über ihre Haft zu sprechen. Im Jahr 2003 im Zuge der FEMOSPP erstattete sie jedoch Strafanzeige wegen erzwungenen Verschwindenlassens von ihr und ihrer Tochter. Sie erhielt daraufhin Morddrohungen und musste das Land verlassen. Soziale Bewegungen aus Guerrero klagen an, dass der Mord auch mit dem Projekt der Wahrheitskommission zu tun habe. Isabel Ayala Nava wäre in ihrer Rolle als Opfer von Repression, Folter und Vergewaltigung durch den Ex-Gouverneur Rubén Figueroa und General Acosta Chaparro eine der wichtigen Zeuginnen für die Beweisführung gegen die Täter gewesen, wie auch der Abgeordnete der PRD, Soto Ramos, betonte. Es wird angenommen, dass sie Informationen über klandestine Gräber von exekutierten Verschwundenen und Namen von mehreren Tätern wusste, die sie bisher aber nicht öffentlich machte. Der Mord könne also im Zusammenhang mit der ungebrochenen politischen und ökonomischen Macht der Kazikenfamilie von Rubén Figueroa in Guerrero (Hernández 2011a) stehen. Soto Ramos hoffe nicht, dass die Todesschwadronen der Vergangenheit zurückgekehrt seien und forderte: „Wir wollen, dass die Behörden aufklären, ob es sich bei den Autoren des Doppelmordes um Paramilitärs oder Abgesandte der Vergangenheit handelte, die ein Interesse haben, Schlüsselzeugen zum Schweigen zu bringen.“32 (Soto Ramos zit. in: Giles/Valadéz 2011a)Vergleichbar mit dem Prozessen der FEMOSPP, wo der Zeuge Zacarias Barrientos (vgl. Kap. 4.3.8) ermordet wurde, wiederholt sich also nun die Eliminierung von wichtigen Zeugen mit dem Projekt Wahrheitskommission bereits im Vorfeld ihrer Einsetzung.
31 „[L]as amenazas de muerte contra su hija, Micaela Cabañas hechas minutos antes de matar a Isabel Ayala [...] hace suponer que el asesinato de Isabel Ayala y su hermana Reyna es un crimen político, relacionado con su activismo en defensa de los derechos humanos y por el esclarecimiento de los crímenes de lesa humanidad durante la llamada guerra sucia en Guerrero, así como un acto de intimidación en contra del movimiento social en el estado.“ (zit. in: Giles/Valadéz 2011b) 32 „[Q]ueremos que la autoridad aclare si fueron paramilitares o emisarios del pasado interesados en acallar testigos clave, quienes urdieron el doble homicidio.“ (Soto Ramos zit. in Giles/ Valadéz 2011a)
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Im April 2012 wurde schließlich die Kommission offiziell vereidigt. Ihre Mitglieder sind die Menschenrechtsanwältin María del Pilar Noriega, der Ex-Guerrillero Nicomedes Fuentes García, der Ex-Rektor der Universität von Guerrero Arquímedes Morales Carranza, der Rechtsanwalt und Aktivist Enrique Gonzáles Ruíz und die Direktorin der Menschenrechtskommission de la Voz de los sin Voz (von der Stimme jener ohne Stimme) Hilda Navarrete Gorjón. Die Regierung von Guerrero, die die Mitgleider ausgewählt hatte, rechtfertigte die Auswahl damit, dass es sich um Personen handeln würde, die sich durch ihren Einsatz für Menschenrechte ausgezeichnet haben und keiner politischen Partei angehören (vgl. Giles Sánchez 2012). Die Präsidentin der Wahrheitskommission sagte über das Ziel ihrer Arbeit, in allen Archiven, Dokumenten und notwendigen Orten zu forschen, um einen umfassenden Bericht über die Ereignisse und die Opfer in Guerrero im Zeitraum von 1969 bis 1979 zu erstellen. Auch sollen Biografien über jeden einzelnen der Verschwundenen verfasst und eine geeignete Form gefunden werden, diese zu würdigen. Darüber hinaus sei die Auszahlung von Reparationszahlungen an die Angehörigen ein Ziel der Kommission. Sie betonte, dass die Kommission unabhängig von staatlichen und politischen Machtstrukturen arbeiten und jede Entscheidung einzig bei den Mitgliedern der Kommission liegen werde. Dieses Instrument solle schließlich zur sozialen Versöhnung führen (ebd.). Die Angehörigen von Verschwundenen, geprägt durch die negativen Erfahrungen mit den bisherigen Transitionsregierungen, sind noch skeptisch. Julio Mata, der Vizepräsident von AFADEM aus Atoyac, hofft, dass die Kommission nicht dasselbe Schicksal ereilt wie zuvor FEMOSPP und es abermals zu keinen Resultaten für die Angehörigen der Verschwundenen komme. Er forderte, dass die Kommission mit juristischen Instrumenten ausgestattet werden solle, um neben der Aufklärung des Schicksals der Verschwundenen auch eine Bestrafung der Täter zu erzielen. Er betonte auch, dass das Team der Wahrheitskommission die bereits gewonnenen Informationen der FEMOSPP und der Nationalen Menschenrechtskommission berücksichtigen müsse. Ansonsten bestehe abermals die Gefahr der Reviktimisierung der Opfer (vgl. Valadéz Luviano 2012a). Einer der zentralen Täterfiguren wird nicht mehr vor die Wahrheitskommission treten und nicht mehr für seine Mitschuld am Verschwindenlassen von Menschen in Guerrero belangt werden können. Am 20. April 2012 wurde der pensionierte General Mario Acosta Chaparro ermordet. Ein unbekannter Täter tötete ihn von einem fahrenden Motorrad aus durch drei Kopfschüsse, als dieser sein Auto in einer Mechanikerwerkstatt in Mexiko-Stadt abholen wollte (vgl. Castillo/García/Cruz 2012). Es war unklar, was der Grund für die Tat war, vermutet wurde Acosta Chaparros Verbindungen zum Drogenhandel. Wie soziale Bewegungen betonten, wurde mit dem Tod von Acosta Chaparro ein weiterer Schleier über die Geschichte des Schmutzigen Krieges gelegt (vgl. Camacho Servín 2012a). Pilar Noriega meinte daher, dass trotz seines Todes und der nunmehrigen Unmöglichkeit, ihn strafrech-
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tlich zur Verantwortung zu ziehen, dennoch seine Taten aufgeklärt werden müssen. Denn die Rekonstruktion der historischen Wahrheit in Fällen, in den Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen wurden, sei von elementarer Bedeutung, besonders für die Angehörigen der Verschwundenen (vgl. Petrich 2012). So bedauerte auch Rosario Ibarra, Präsidentin von Comité Eureka, dass Acosta Chaparro gestorben sei, ohne für Folter, Mord und Verschwindenlassen von Menschen zur Verantwortung gezogen worden zu sein. Sie werden jedoch auch nach mehr als 40 Jahren nicht aufhören, für Gerechtigkeit zu kämpfen, um all die bereits verstorbenen Täter zu verurteilen. Auch wenn es nur mehr post mortem geschehen kann (vgl. Becerril 2012a, 2012b). Mitglieder der neu eingerichteten Wahrhheitskommission Comverdad von Guerrero fuhren erstmals im Sommer 2012 nach Atoyac, um mit den Angehörigen zu sprechen. Bei einigen Angehörigen gibt es geteilte Meinungen über die Vorgehensweise der Kommission. Während eine Gruppe dieser neuen Kommission positiv eingestellt ist, meinen andere, wie etwa Don Ruben aus Los Valles, Bruder eines Verschwundenen, dass ihm bisher nicht klar sei, was die Ziele dieser Kommission sein sollen. Auch kritisiert er, dass die Gesandten der Kommission den Angehörigen nicht bekannt und sie deswegen misstrauisch seien. Außerdem wüssten diese nicht, wie sie mit den Leuten in der Sierra sprechen sollten: „Die Wahrheitskommission, schau mal, wie die kommen, unbekannte Leute, die wir nicht kennen und dann wissen sie auch nicht, wie sie auf die Leute zugehen sollen!“33 (Don Rubén, Los Valles 2012) Nach einigen Gesprächen mit Angehörigen wird deutlich, dass bisher die Arbeit der Wahrheitskommission noch weit entfernt ist von der Realität und der Sprache der Menschen in der Sierra de Atoyac. Es wird sich zeigen, zu welchen Resultaten die Wahrheitskommission kommt und ob sie den Erwartungen der Angehörigen nach Aufklärung der Verbrechen gerecht werden kann. Ein Erfolg für die Angehörigen, der jedoch mit Risiken und Gefahren verbunden ist, stellen die ersten Reparationszahlungen in Atoyac dar. Am 26. September 2012 versammelten sich Beamte der Bundesstaatsanwaltschaft aus Mexiko-Stadt mit Angehörigen der Verschwundenen in Atoyac, um die Empfehlung 26/2001 der Nationalen Menschenrechtskommission (CNDH) umzusetzen. In dieser Empfehlung wurde im Jahr 2001 festgelegt, dass in 274 untersuchten Fällen von Verschwundenen Reparationszahlungen zugeteilt werden sollten. 19 Fälle sind nun abgeschlossen und die Angehörigen erhalten ihre Reparationszahlungen (vgl. Damían Rojas 2012). Die Beamten der Bundesstaatsanwaltschaft gaben dies bekannt und betonten jedoch, dass weder die Namen noch die Höhe der Reparationszahlung bekannt gegeben werden sollte und jene Angehörigen, die Geld bekommen würden,
33 „La comisión de la verdad, mira como llegan, ¡gente desconocida que uno ni conoce y luego ni saben como llegarle a la gente!“ (Don Ruben, Los Valles 2012)
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davon nichts erzählen oder zeigen sollten (Gespräch mit Don José, Atoyac 2012). In einem allgemeinen Klima der Unsicherheit und der Gewalt in der Region sei dies eine Sicherheitsvorkehrung. Die Beamten reagierten mit dieser Empfehlung auf einen Fall, der bereits traurige Realtität geworden war. Angehörige erzählten mit Wut und Angst, dass ein Angehöriger eines Verschwundenen aus Atoyac die Reparationszahlung erhielt. Daraufhin wurde sein 14-jähriger Sohn von unbekannten Tätern entführt und anschließend Erpressungsgeld gefordert. Der Vater bezahlte zwar die geforderte Summe, es war jedoch schon zu spät, sein Sohn wurde zuvor ermordet. Wer die Täter waren, blieb im Dunkeln. Kurz nach der Bekanntgabe der Tat wurden drei Männer tot aufgefunden, von denen die BewohnerInnen Atoyacs vermuten, dass diese den Jugendlichen entführt und ermordet hatten. Es wird vermutet, dass die Männer identifiziert und in einem Vergeltungsakt ermordet wurden (Gespräch mit Doña Marta, Atoyac 2012). Ein Angehöriger eines Verschwundenen erzählte auch, dass eine andere Angehörige, die bereits Reparationszahlungen erhalten hatte, eine Entführung angedroht worden war (Gespräch mit Don Rubén, Los Valles 2012). Trotz des Erfolges, nach jahrzehntelangen Bemühungen nun endlich einen Teil der Forderungen umgesetzt zu sehen, sind nun dennoch viele Angehörige verunsichert, ob der Erhalt einer Reparationszahlung nicht ein zu großes Sicherheitsrisiko für die betroffene Familie darstellt. In einer Versammlung der Angehörigen mit Mitgliedern der Wahrheitskommission, die Comverdad benannt wurde, in Atoyac im Oktober 2012 forderten die Angehörigen Sicherheitsvorkehrungen und Schutz von der Regierung vor diesen Übergriffen. Der Präsident der Comverdad, Enrique González Ruíz, betonte: „Wir üben Druck auf die Regierung aus, damit diese reagiert, aber man muss verstehen, dass dieser Organismus keine Staatsanwaltschaft und kein Richter ist, aber da es sich um ein Organ handelt, das vom Staat eingesetzt wurde, haben wir die Möglichkeit, diese Vorkehrungen zu fordern.“34 (González Ruíz zit. in: Valadéz Luviano 2012b)
Diese Bedrohungen, Gerüchte, Unsicherheiten und Ängste sind Teil der aktuellen Realität in der Region, in der sich die Aufarbeitung der Vergangenheit mit der Gewalt der Gegenwart im Zuge des „Drogenkrieges“ und der organisierten Kriminalität vermengen. Es wird sich zeigen, welche neuen konfliktiven Prozesse und Dynamiken sich im derzeitigen Klima der Angst entwickeln. Und es wird sich auch
34 „[E]stamos presionando al gobierno para que haga eso, pero se debe entender que este organismo no es Ministerio Público, ni juez, pero por ser un órgano creado por el estado, tiene facultades para pedir este tipo de medidas.“ (González Ruíz zit. in: Valadéz Luviano 2012b)
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zeigen, welche neuen Konflikte mit der Einsetzung der ersten Wahrheitskommission in Mexiko entstehen. Die machtpolitischen Verflechtungen, die Konflikte, die Polarisierungen, Spaltungen und Spannungen zeigen sich schon im Vorfeld. Ähnliche Entwicklungen und Friktionen wie jene auf nationaler Ebene rund um die Arbeit der FEMSOPP sind also zu erwarten. So prophezeien es zumindest viele Angehörige Verschwundener in Atoyac, die von der jahrzehntelangen Erfahrung mit der Kultur der Straflosigkeit für Täter in Mexiko geprägt sind. Die Kontinuitäten der Dehumanisierung zeigen sich in den zahlreichen Friktionen im Transitional-Justice-Prozess, die in den vorangegangenen Kapiteln beschrieben wurden. Alle eingesetzten Mechanismen blieben bisher ohne positive Ergebnisse für die Opfer, es gab keine machtpolitischen Veränderungen trotz der vermeintlich demokratischen Transition, der politische Einfluss der Täter (des Militärs) blieb bestehen, die Kultur der Straflosigkeit sowie eine De-Facto-Amnestie besteht weiter und es ist eine Kontinuität von Methoden des Schmutzigen Krieges im Kontext des „Drogenkrieges“ beobachtbar. Und dennoch bestätigen viele Angehörige weiterhin das, was Apolinar Castro Román, Frau eines Verschwundenen aus Atoyac immer betonte: „Der schlechteste Kampf ist der, der nicht geführt wird!“35 Den Kampf um Rehumanisierung der Verschwundenen werden sie auch in diesem neuen Kontext der Gewalt fortführen, von den Rändern des Staates (vgl. Das/Poole 2004) aus und mit einem konstanten Insistieren auf Gerechtigkeit.
35 „¡La peor lucha es la que no se hace!“ (Apolinar Castro Román, Colonia 18 de Mayo, 2009)
Fazit: Rehumanisierung als symbolische Umkehrung von Dehumanisierung „Mein Vater ist eine Sammlung von kaum zehn Fotos. Er ist die kontinuierliche Sorge der Großmutter. Er ist ein unbewegtes Gesicht, dessen Lächeln ich nicht kenne.“1 (Bello López 2004, Sohn eines Verschwundenen aus Atoyac)
Können Prozesse von Gewalt und Dehumanisierung umgekehrt oder gar rückgängig gemacht werden? Von wem würden diese Handlungen ausgehen und wie könnten derartige Umkehrungsprozesse aussehen? Bei der Betrachtung von Praktiken und Diskursen von Angehörigen Verschwundener und der Frage nach dem Ziel ihrer Handlungen, kann eine Antwort gefunden werden. Angehörige von Verschwundenen als Opfer von Dehumanisierung entwickeln durch ihren kontinuierlichen Versuch, das Schicksal ihrer verschleppten Familienmitglieder aufzuklären, Praktiken und Diskurse, die in ihrer Heterogenität als soziale Prozesse der Rehumanisierung beschrieben werden können. Wenn auch der konkrete Gewaltakt des Verschwindenlassens einer Person mit all den fortdauernden Konsequenzen eines ambivalenten Verlustes nicht rückgängig gemacht werden kann, formen die Angehörigen dennoch Handlungsstrategien, welche die zunächst individuell erfahrene Gewalt im öffentlichen Raum sichtbar macht und das Bild des Verschwundenen zu einem kollektiven Symbol gegen staatsterroristische Praxis transformiert. Ihre konstanten Versuche Gegen-Erinnerungen zu den offiziellen Versionen der Vergangenheit zu etablieren, sind zentrales Element der Rehumanisierung der Verschwundenen. Die Angehörigen sind so – entgegen weit verbreiteter Bilder von passiven und sprachlosen Opfern in gewalttätigen Konflikten – jene Akteure, die mit ihren politi-
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„Mi padre es una colección de fotos que no llegan a diez. Es sólo la preocupación perpetua de la abuela. Un rostro inmóvil del cual no sé su sonrisa.“ (Bello López 2004: 24)
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schen Ritualen (vgl. Kertzer 1988) versuchen, Dehumanisierungsprozesse symbolisch umzukehren. Wenn auch diese Praktiken nicht von allen Angehörigen öffentlich durchgeführt werden, da es unterschiedliche individuelle Formen der Aufarbeitung von Gewalt gibt und auch die Angst vor Repression in machtbesetzten Herrschaftsräumen Mexikos fortdauert, teilen doch alle Angehörigen (sichtbar oder unsichtbar) die Notwendigkeit der Rehumanisierung der Verschwundenen. Diesen Kampf um Rehumanisierung zu zeigen, war Ziel dieser empirischen Fallstudie zum erzwungenen Verschwindenlassen in Mexiko. Konflikte im (Post-)Konflikt: Kontinuitäten der Gewalt Mexiko steht gegenwärtig im Mittelpunkt der medialen Aufmerksamkeit vor allem aufgrund der Gewaltphänomene im Kontext des Krieges gegen den Drogenhandel. Mit der vornehmlichen Fokussierung auf den „Drogenkrieg“ wird jedoch ausgeblendet, dass es auch andere Prozesse der Gewalt in Mexiko gibt, nämlich die konfliktive Aufarbeitung des Schmutzigen Krieges der 1960er und 1970er Jahre und die Kontinuität vergleichbarer staatsterroristischer Methoden in der Gegenwart. Die Gewalt der Vergangenheit wird durch die Gewaltphänomene der Gegenwart überlagert und die Aufarbeitung der Vergangenheit rückt so in den Hintergrund der politischen Aufmerksamkeit. Die betroffenen Opfergruppen der Gewalt der Vergangenheit, die Angehörigen der Verschwundenen, die den Fokus dieser Studie bilden, sehen diese Entwicklungen kritisch, solidarisieren sich aber mit neuen Netzwerken von Angehörigen Verschwundener im Kontext des Drogenkrieges. Menschenrechtsverletzungen, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit liegen in Mexiko also nicht nur in der Vergangenheit, sondern sind Teil der Realität der Gegenwart. Dieser Konflikt im (Post-)Konflikt bildet eine der zentralen Friktionen im mexikanischen Transitional-Justice-Prozess. Das Verbrechen gegen die Menschlichkeit erzwungenen Verschwindenlassens ist im gegenwärtigen Konflikt zu einem eskalierenden Gewaltphänomen geworden, begangen von Tätern, die aus organisierter Kriminalität und staatlichen und parastaatlichen Gruppen kommen und weitgehend in einem rechtsfreien Raum agieren (vgl. Astorga 2007; Reveles 2010; Ravelo 2011; Hernández 2010; Sicilia 2011). Ein Aspekt für die Schwierigkeit der Aufarbeitung der Gewalt der Vergangenheit ist die zentrale machtpolitische Rolle des Militärs im aktuellen Konflikt, die auch die Täter des Schmutzigen Krieges der Vergangenheit sind. Das Militär wurde unter der Regierung Calderón (2006–2012) zu einem zentralen Akteur im Kampf gegen Drogen, deren Mitglieder weitgehend unter Straflosigkeit agieren, auch wenn es zahlreiche Anzeigen von Opfern wegen Gewaltübergriffen von Militär (und Poli-
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zei) gibt, wie mexikanische Menschenrechtsorganisationen oder die UNArbeitsgruppe für erzwungenes Verschwindenlassen konstatieren.2 Vor diesem Hintergrund stellt Mexiko einen spezifischen Fall einer Postkonfliktgesellschaft dar, in dem zwar Mechanismen von Transitional Justice eingesetzt wurden, diese jedoch bisher zu keinen zufriedenstellenden Resultaten für die Angehörigen der Verschwundenen führten. Die implementierten Instrumente haben aufgrund eigener machtpolitischer Konstellationen im Gegensatz zu anderen lateinamerikanischen Postkonfliktkontexten, wie vor allem in Argentinien (vgl. Robben 2012), keine Antworten für die Angehörigen über den Verbleib ihrer Verschwundenen gebracht. Trotz zahlreicher politischer Versprechungen der beiden Transitionsregierungen seit dem Jahr 2000, der Ratifizierung internationaler Menschenrechtsinstrumente3 und dadurch ausgelöster großer Hoffnungen bei den Opfern wurden keine unabhängigen Gerichtsprozesse gegen die Täter durchgeführt, der umstrittene Abschlussbericht der Untersuchungskommission FEMOSPP nie veröffentlicht, nur selektive Reparationszahlungen an Opfer getätigt, keine offiziellen Erinnerungsorte etabliert und den Angehörigen weiterhin die Exhumierung von Massengräbern, die Rückgabe sterblicher Überreste oder zumindest partielle Informationen über das Schicksal der Verschwundenen verweigert. Durch einen ethnographischen Zugang auf die Perspektive und Erfahrungswelt der Angehörigen von Verschwundenen konnten diese vielschichtigen Diskrepanzen des mexikanischen Aufarbeitungsprozesses gezeigt werden. Die Fallstudie zu Mexiko hatte sich dabei vier Ziele gesetzt: (1) den Konfliktverlauf des mexikanischen Schmutzigen Krieges der 1960er und 1970er Jahre und die (Post)Konfliktphase zu rekonstruieren; (2) eine Ethnographie politischer Gewalt im Sinne des compassionate turn (vgl. Robben/Sluka 2009) in der Kultur- und Sozialanthropologie zu verfassen. Der Fokus lag dabei auf den lokalen Erfahrungswelten und der Perspektive der Betroffenen von Gewalt und der Form, wie diese erinnert, erzählt und durch soziale Praxis externalisiert und repräsentiert wird; (3) einen Diskussionsbeitrag zur Analyse des erzwungenen Verschwindenlassens und der damit zusammenhängenden politischen Ritualpraxis von Angehörigen, die als Kampf um Rehumanisierung-
2
Vgl. UN-Bericht 14.03.2012: „Enforced disappearances in Mexico have happened in the past and continue to happen today“, the UN Working Group on enforced or involuntary disappearances warned, during the presentation of its reporton the country in Mexico City“.
Unter:
http://www.ohchr.org/EN/NewsEvents/Pages/DisplayNews.aspx?News
ID=11963&LangID=E (Letzter Zugriff: 01.12.2012). 3
Wie die für den Kontext der vorliegenden Arbeit wichtige Ratifizierung der Convención en Contra de Desaparición Forzada der Comisión Interamericana de Derechos Humanos im Jahr 2001. Oder die Unterzeichnung der UN-International Convention for the Protection of All Persons from Enforced Disappearance von 2007.
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definiert werden kann, zu liefern. Zudem sollen die hier vorgelegten Überlegungen zur Wechselwirkung von Dehumanisierungs- und Rehumanisierungsprozessen in Transitional Justice Kontexten die weitere Debatte anregen; (4) einen Beitrag zu Transitional-Justice-Studien zu leisten, die Dynamiken der transitionalen Friktionen (vgl. Hinton 2010) zwischen globalen Normen und lokalen Realitäten in diesen Prozessenaufzeigen. In der empirischen Forschung, in der die Aufnahme von testimonios von Angehörigen von Verschwundenen und Folteropfern in der am meisten von Gewalt betroffenen Region zur Zeit des Schmutzigen Krieges im Zentrum lag, des Bezirkes Atoyac de Álvarez im Bundesstaat Guerrero, wurde zudem die oftmals nicht erwähnte Heterogenität und Vielstimmigkeit der Bedürfnisse und Perspektiven der Opfer der Gewalt sichtbar gemacht. Trotz einer Analyse eines spezifischen lokalen Konflikts folgt diese Studie auch dem Ansatz einer Public Anthropology4 (vgl. Borofsky 2011), die entgegen einer zunehmenden Fragmentierung und Spezialisierung der Disziplin für eine holistische und komparative Analyse eintritt, in der soziale Probleme und machtpolitische hegemoniale Praktiken und Diskurse der Gegenwart angesprochen werden (vgl. Borofsky 2000, 2011) und für den Vergleich auch in anderen Kontexten offenstehen. Spezifika des Falles Mexiko: Aufarbeitung a la mexicana In der Fülle an Literatur zu Transitional-Justice-Prozessen zu unterschiedlichen Regionen der Welt (vgl. Teitel 2003; Orentlicher 2007; Van der Merwe/ Baxter/Chapman (2009); Shaw/Waldorf 2010; Hinton 2010; BuckleyZistel/Kater 2011; Buckley-Zistel/Koloma Beck/Braun/Mieth (2014) erfährt der Aufarbeitungsprozess in Mexiko kaum Aufmerksamkeit. Dies hängt einerseits mit der spezifischen Außenwahrnehmung des politischen Systems in Mexiko zusammen und hat andererseits in der Innenwahrnehmung mit der geringen Präsenz des Themas in den Medien und der Mehrheitsbevölkerung in Mexiko zu tun. In der internationalen Außenwahrnehmung galt Mexiko stets als ein Land mit einem demokratisch legitimierten politischen System, welches im Gegensatz zu anderen lateinamerikanischen Ländern keine Erfahrungen mit Militärdiktaturen oder Bürgerkriegen hatte. Im Gegenteil, bis zum Jahr 2000 erweckte Mexiko aufgrund der 71 Jahre lang regierenden PRI den Eindruck einer stabilen Demokratie mit fortschrittlichen sozialpolitischen Gesetzgebungen. Die Außenwahrnehmung trog jedoch und Mexiko wurde vielmehr von vielen MexikanerInnen stets als die perfekte Diktaturbezeichnet. Die mexikanischen Regierungen der PRI-Ära (1929 – 2000) waren
4
Vgl. Ansatz und Ziele auf der Seite des Center for a Public Anthropology: http://www.publicanthropology.org. (Letzter Zugriff: 24.04.2012).
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durch einen Doppeldiskurs charakterisiert, der nach innen und aussen zwei unterschiedliche Stoßrichtungen verfolgte und ein verzerrtes Bild der Realität vermittelte. Nach aussen war Mexiko ein Land, das durch einen ideologisch linksgerichteten revolutionären Diskurs politisch Verfolgten aus lateinamerikanischen Militärdiktaturen Asyl gab. Es ist auch ein Spezifikum des mexikanischen Kontextes, dass sich das Militär als Hüter der Mexikanischen Revolution (1910-1917) ebenso wie deren Feinde als revolutionär deklarieren und dieselben Helden aus der Vergangenheit, wie vor allem den ermordeten Revolutionär Emiliano Zapata, feiern (vgl. Kap. 1.1). Die jüngere Geschichte Mexikos war aber im globalen Kontext des Kalten Krieges von den 1960er bis 1980er Jahren trotz der nach Außen hin demokratischen Fassade, ebenso wie andere postkoloniale Staaten Lateinamerikas (zum Beispiel Chile, Argentinien, Guatemala, Brasilien, Uruguay), durch Kriege der Aufstandsbekämpfung und psychologische Kriegsführung gegen politische Oppositionsbewegungen geprägt. Diese Art der Kriegsführung, die illegitime Methoden auch gegen die Zivilbevölkerung einsetzt und in Lateinamerika gemeinhin als Schmutziger Krieg bezeichnet wird, wurde in Mexiko gegenüber politischen bewaffneten und zivilen Oppositionsbewegungen in den 1960er und 1970er Jahren angewandt. Der Unterschied zu lateinamerikanischen Militärdiktaturen bestand jedoch darin, dass diese Kriegsführung selektiver durchgeführt und der staatliche Terror nicht auf die Gesamtbevölkerung ausgeweitet wurde. Die Medienberichterstattung über die Gewalt war überwiegend zensiert (vgl. Rodríguez Munguía 2007) und so erhielt auch der Großteil der mexikanischen Bevölkerung, die nicht in den betroffenen Regionen oder Städten lebte, wenige Informationen darüber. Es gab also auch nach innen hin bei weiten Teilen der mexikanischen Bevölkerung das Bild, dass es Staatsterror nur in lateinamerikanischen Militärdiktaturen gab, nicht aber im eigenen Land (vgl. Rangel Lozano 2011). Diese Diskrepanz zwischen Schein und Realität wirkte bis in den Aufarbeitungsprozess der 2000er Jahre, wo viele MexikanerInnen erstmals von der Existenz mexikanischer Verschwundener erfuhren. Bisher wurden im lateinamerikanischen Kontext der Schmutzige Krieg in Mexiko und insbesondere das erzwungene Verschwindenlassen und dessen Aufarbeitung weitgehend außer Acht gelassen. Dies hängt einerseits mit der bereits erwähnten selektiven Außen- und Innenwahrnehmung zusammen und andererseits auch mit der Zahl der Verschwundenen. Im Gegensatz zu anderen Ländern Lateinamerikas, wie Argentinien, Chile oder Guatemala, ist diese wesentlich geringer (betrachtet man nur die Fälle aus der Vergangenheit und nicht jene des „Drogenkrieges“). Die genauen Zahlen sind in Mexiko unklar, da vermutet wird, dass nicht alle Fälle von den Angehörigen angezeigt und registriert wurden, Schätzungen von Angehö-
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rigenorganisationen gehen jedoch von etwa 1.350 Fällen aus, wobei rund 600 Fälle5 aus dem Bundesstaat Guerrero und davon etwa 450 aus der Sierra de Atoyac6 kommen. Das Comité Eureka hat ein Archiv mit 557 registrierten und dokumentierten Fällen von Verschwundenen.7 Aufgrund der spezifischen politischen Wahrnehmung Mexikos sowohl nach innen und nach außen ist auch die Transitionsphase im Jahr 2000 differenzierter zu betrachten. Im Unterschied zu anderen lateinamerikanischen Ländern gab es keine markante Transition von einer Konflikt- in eine Postkonfliktphase. Es gab keinen Bürgerkrieg und darauf folgende Friedensverhandlungen, wie etwa in Guatemala im Jahr 1996 (vgl. Oettler 2004, 2012; Manz 2005) oder in El Salvador im Jahr 1992 (vgl. Bourgois 2001). Es gab auch keine Militärdiktatur und eine darauf folgende demokratische zivile Regierung wie etwa in Chile nach Pinochet (vgl. Jelin 2003) oder in Argentinien nach Videla 1983 (vgl. Robben 2005, 2012; SúarezOrozco 1992). Die Transition in Mexiko im Jahr 2000 gestaltete sich vielmehr rund um den Präsidentschaftswahlkampf, der Abwahl der 71 Jahre regierenden PRI und der Wahl des Präsidenten Vicente Fox der Oppositionspartei PAN (vgl. Aguayo/Treviño 2007). Der Präsidentschaftskandidat Fox bediente in seinem Wahlkampf Diskurse von Menschenrechten und Transitional Justice und nahm die langjährigen Forderungen der Angehörigen der Verschwundenen auf. Er versprach eine durchgreifende Veränderung des gesamten politischen Systems – Veränderung (cambio) war daher auch sein Leitspruch. Der spezifische Fall Mexiko zeichnet sich aus der Retrospektive des bisherigen Transitional- Justice-Prozesses betrachtet dadurch aus, dass hier globale Normen auf lokaler Ebene für machtpolitische interne Interessen instrumentalisiert wurden. Opfern von Gewalt der Vergangenheit wurden lang ersehnte Veränderungen suggeriert und Hoffnungen und Erwartungen auf Aufklärung von Verbrechen, auf Entschädigungszahlungen, auf Anerkennung von vergangenem Leid geschürt. Die Rekonstruktion der Transitionsphase und der implementierten Transitional-JusticeMechanismen konnten zeigen, dass es sich nur um Wahlkampfrhetorik handelte und historische real- und machtpolitische Strukturen keineswegs durch eine derartige Transition verändert werden können.
5
Working
Group
on
Enforced
or
Involuntary
Disappearances.
Unter:
http://www.ohchr.org/EN/Issues/Disappearances/Pages/DisappearancesIndex.aspx (Letzter Zugriff: 20.01.2013). 6
Vgl. Report of the Working Group on Enforced or Involuntary Disappearances. Mission to Mexico. A/HRC/19/58/Add.2. 20.12.2011. Unter: http://www.ohchr.org/Documents/ HRBodies/HRCouncil/RegularSession/Session19/A-HRC-19-58-Add2_en.pdf. Zugriff: 15.01.2012),
7
Siehe unter: http://comiteeureka.org.mx/ (Letzter Zugriff: 20.01.2013).
(Letzer
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Die historisch tief im politischen System Mexikos verwurzelte Kultur der Straflosigkeit für Täter ist konstituierender Teil des bisherigen Scheiterns eines erfolgreichen Transitional- Justice-Prozesses: „The culture of impunity remains intact, and it has continued to erode and trivialize the culture of human right and justice, which, in Mexico, have become abused rhetorical concepts gradually emptied of political meaning.“ (Aguayo/Treviño/Pallais 2006: 65) Die zyklisch wiederkehrenden Rebellionen der Kleinbauern (vgl. Katz 1990, 2006; Bartra 2000; Montemayor 2007; Castellanos 2007), der Protest zahlreicher politischer und sozialer Bewegungen, der Kampf der Angehörigen der Verschwundenen werden vor dem Hintergrund dieser Kultur der Straflosigkeit kontinuierlicher Teil der mexikanischen Realität im Aushandlungsprozess für soziale Gerechtigkeit sein. Positiver Aspekt der Debatten und Konflikte rund um die Aufarbeitung der Vergangenheit war jedoch erstmals die Sichtbarkeit des Themas der Verschwundenen in einer breiteren Öffentlichkeit und die stärkere Aufmerksamkeit für die Anliegen der Angehörigen. Politischer Akteur Angehörige: Ohne Angehörige keine Verschwundenen Zu Beginn der Arbeit stellte sich die Frage, was erzwungenes Verschwindenlassen von Menschen für die Betroffenen der Gewalt bedeutet. Wie gehen die Opfer damit um? Welche Prozesse und Dynamiken werden dadurch ausgelöst? Und warum wird diese Form der politischen Gewalt als Methode staatsterroristischer Praxis eingesetzt? Anhand des Fallbeispiels Mexiko wurde die Komplexität der sozialen und politischen Prozesse dargestellt, die durch Verbrechen gegen die Menschlichkeit, wie es das Verschwindenlassen von Personen ist, ausgelöst werden. In der Rekonstruktion der Handlungen der Angehörigen wurden Kontinuitäten, aber auch Brüche deutlich. Kontinuitäten in dem Sinne, als die Angehörigen Verschwundener seit den 1970er Jahren bis in die Gegenwart kontinuierlich mit denselben Anliegen vor wechselnde staatliche Akteure treten, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen. Die Entwicklung globaler Normen von Transitional-Justice und ihr politisches Handelnhaben zu einer Implementierung staatlicher Transitional- JusticeInstrumente in Mexiko und zur Sichtbarkeit des Themas in der Öffentlichkeit geführt. Kontinuitäten auch deshalb, weil sich in den letzten Jahren auch Angehörige von Verschwundenen im Kontext des gegenwärtigen „Drogenkrieges“ in diese soziale Praxis integriert haben, ein Austauschprozess von Erfahrungen, Diskursen und Praktiken stattfindet und so die Aktualität der Problematik des erzwungenen Verschwindenlassens in Mexiko deutlich wird. Brüche wurden hingegen deutlich hinsichtlich eines heterogenen Umgangs der Angehörigen mit dem Gewaltakt. Denn trotz derselben Erfahrung des Verschwindenlassens eines Angehörigen lassen sich differenzierte Handlungsmuster beobachten, die mit den Optionen des Schweigens oder Sprechens über die Vergangenheit zusammenhängen. Viele Angehörige haben sich aus unterschiedlichen Gründen
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dem Protest der organisierten Angehörigen im öffentlichen Raum nicht angeschlossen oder haben sich später von diesem distanziert. Oder sie haben sich erst in späteren Phasen einem Netzwerk von Angehörigen angeschlossen. Die Gründe für eine Verneinung des Sprechens über die Vergangenheit sind multikausal und vielschichtig. Sie reichen von Angst vor staatlicher Repression über Resignation und Hoffnungslosikeit bis hin zu einem tiefen, historisch gewachsenen Misstrauen gegenüber staatlichen Akteuren und Institutionen. Die Angehörigen sind dennoch zentrale politische Akteure, die trotz zahlreicher Rückschläge kontinuierlich den mexikanischen Staat an dessen Verantwortung gegenüber den Opfern des vergangenen Konfliktes erinnert. Das unaufgeklärte Schicksal der Verschwundenen bleibt eine offene Wunde, individuell und kollektiv, die nicht geschlossen werden kann, solange deren Verbleib im Verborgenen liegt. Die konstante Erinnerung an die Gewalt der Vergangenheit steht im Mittelpunkt jeglichen politischen Protestes der Angehörigen und die partikularen Repräsentationen der Verschwundenen im öffentlichen Raum, deren Fotos und Namen wurden zur Metapher für staatsterroristische Praxis im Allgemeinen. „Es gibt keine Demokratie mit Verschwundenen“, der politische Kampfspruch der Angehörigen seit den 1970er Jahren muss nun für jede neue mexikanische Regierung, die sich Demokratie auf die Fahnen schreibt, ein Thema sein. Durch die Entwicklung spezifischer politischer Rituale (Kertzer 1988) wurden die Angehörigen der Verschwundenen vom historisch ersten Akteur in den 1970er Jahren zu einem gegenwärtig zentralen Akteur der Verteidigung der Menschenrechte in Mexiko. Dehumanisierung und Rehumanisierung: Kämpfe um das Wesen des Menschen Erzwungenes Verschwindenlassen ist eine Gewaltpraxis, die das Wesen des Menschen angreift. Die Subjektivität und Identität des Menschen wird ausgelöscht, das Opfer von seinem sozialen Gefüge separiert und eine Reintegration verhindert. Verschwundene Personen werden durch diese Praktiken depersonalisiert, desozialisiert und dehumanisiert. Durch die Verweigerung der Informationen über ihren SeinsZustand (tot oder lebendig) an ihre sozialen Netzwerke befinden sie sich in einem betwixt and between (Turner 1967), in einem liminalen Zustand, der sich auf die Angehörigen ausweitet. Die Angehörigen treten in einen Zustand der chronischen Ungewissheit (Afflito 2007) und der Ambivalenz, der sich dadurch auszeichnet, dass die Verschwundenen physisch abwesend, aber psychologisch anwesend sind. Ein Prozess, der auch als ambivalenter Verlust (Boss 2006) charakterisiert wird. Die Erinnerung an die Verschwundenen ist daher anders als die Erinnerung an tote Angehörige, die mit einem Ritual verabschiedet werden und die Angehörigen die Abwesenheit durch einen Trauerprozess abschließen können. Die Erinnerung an die
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Verschwundenen hingegen ist eine Erinnerung an präsente Lebende und nicht abwesende tote Menschen, da der Beweis für ihren Tod fehlt. Der Kampf um das Wesen der verschwundenen Menschen charakterisiert sich einerseits durch Prozesse der Eliminierung und des Absprechens von Menschsein durch staatliche Akteure und andererseits durch den Versuch der Rückgabe und der Zuerkennung von Menschsein durch die Angehörigen der Verschwundenen. „Sie waren doch keine Tiere, die man einfach irgendwohin werfen kann! Sie waren doch Menschen. (…) Überall haben wir ihn gesucht und jeden Stein umgedreht“8, sagte Doña Apolinar aus Atoyac de Alvárez, Angehörige eines Verschwundenen im Jahr 2009. In dieser Aussage werden zwei Prozesse deutlich, die zentral für erzwungenes Verschwindenlassen sind: die Kategorien Dehumanisierung und Rehumanisierung. Es sind dies Kategorien, die nicht dem Diskurs der Angehörigen der Verschwundenen entspringen, es sind also keineswegs emische Kategorien lokaler Erfahrungswelten. Vielmehr wurden diese beiden Analysekategorien herangezogen, um die Vielheit an Ereignissen, Praktiken und Diskursen zu strukturieren und zusammenzufassen. In der Beschreibung des Gewaltphänomens Verschwindenlassen wird deutlich, dass diese Methode besonders schwerwiegend ist, weil sie in universale kulturelle Rituale jeder Gesellschaft eingreift: in die Verweigerung von Totenritualen. Erzwungenes Verschwindenlassen wurde daher in dieser Arbeit mit Aspekten von Ritualtheorien analysiert (Van Gennep 2005/[1909]; Turner 1967, 1982/[1969]; Bloch 1986; Kertzer 2008). Zentrales Argument bei der Betrachtung dieser Gewaltmethode ist, dass sich aus dieser Verweigerung eine erzwungene Permanenz der Angehörigen Verschwundener in einer liminalen Phase, einer Übergangs- oder Schwellenphase ergibt. Aus diesem kontinuierlichen liminalen Zustand resultieren bestimmte Handlungen, die als Rehumanisierungspraktiken bezeichnet werden. Diese Praktiken in einem Kampf um Rehumanisierung haben das Ziel der staatlichen Praxis der Dehumanisierung entgegenzuwirken und diese Prozesse symbolisch umzukehren. Die Praktiken der Angehörigen in der Liminalität und von den marginalisierten Rändern des Staates (Das/Poole 2004) können daher auch als der konstante Versuch betrachtet werden, Anti-Struktur (Turner 1982/[1969]) zur staatlichen Herrschaftslogik zu bilden. Mit Dehumanisierung wurden Prozesse der Legitimierung von Gewalt beschrieben, in denen den GegnerInnen menschliche Qualitäten abgesprochen werden. Es sind dies im mexikanischen Kontext komplexe Phänomene, die mehrere Dimensionen umfassen. So wurden Dehumanisierungsprozesse vor, während und nach dem Schmutzigen Krieg beobachtet. Vor dem eigentlichen gewaltsamen
8
„¡No eran animales que puedes tirar adonde sea! Eran humanos. (…) Lo buscamos en todas partes y debajo de cada piedra.“ (Doña Apolinar, Atoyac de Alvárez, 2009)
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Konflikt waren Kleinbauern und Kleinbäuerinnen der Sierra de Atoyac struktureller Gewalt ausgesetzt, die sich in Form von Marginalisierung, ökonomischen Ausbeutungsverhältnissen und Repression von Seiten lokaler politischer Eliten, den Kaziken, äußerte. Während des Schmutzigen Krieges zeichneten sich die Dehumanisierungsprozesse durch die Militarisierung der gesamten Lebensrealität der BewohnerInnen der Sierra de Atoyac aus. Die Methoden der Aufstandsbekämpfung umfassten die Kontrolle der Bewegungsfreiheit, der ökonomischen und sozialen Aktivitäten und die Ausübung von illegitimer Gewalt sowohl gegen die KombattantInnen der Partei der Armen als auch gegen die Zivilbevölkerung. (Zwangs-)Rekrutierung von lokalen Kollaborateuren, militärische Check-Points, Geheimgefängnisse, illegale Verhaftungen, Exekutionen, sexuelle Gewalt, Folter und Verschwindenlassen waren zentraler Teil der Bekämpfung der als interne FeindInnen deklarierten Menschen. Nach dem Schmutzigen Krieg kommt es zu einer Fortführung der Dehumanisierung, der sich durch einen psychologisch schwierigen Prozess für die Angehörigen der Verschwundenen auszeichnet und durch Begriffe wie ambivalenter Verlust (Boss 2006), chronische Ungewissheit (Afflito 2007) oder Katastrophe für die Identität (Gatti 2008) umschrieben werden kann. Diese Prozesse zeichnen sich dadurch aus, dass eine permanente Ungewissheit darüber herrscht, ob die Verschwundenen tot oder lebendig sind. Durch die Verweigerung von Informationen über die Verschwundenen, von sterblichen Überresten, von Begräbnisritualen, von Trauer und Erinnerungsorten wird den Angehörigen die Möglichkeit zu zentralen soziokulturellen Ritualen entzogen, die einem psychologisch notwendigen Closure-Prozess dienen. Auch den Verschwundenen wurden diese zentralen Elemente menschlicher Würde verweigert, sie wurden entpersonalisiert und aus ihren sozialen Netzwerken desozialisiert. So wurden sowohl die Verschwundenen also auch die Angehörigen zum Ziel von symbolischen Dehumanisierungsprozessen auch nach dem konkreten Gewaltakt an sich. Aus diesen Dehumanisierungsprozessen entwickelte sich der Kampf der Angehörigen um die Wahrheit über das Schicksal der Verschwundenen. Es wird hier argumentiert, dass das soziale und politische Handeln mit durch staatliche Praxis verweigerten Ritualen zu tun hat. Das verweigerte Totenritual wurde in diesen Aktionen transformiert zu einem kommemorativen politischen Ritual mit spezifischen Elementen der Performanz. Bei den Erinnerungsakten um die Verschwundenen können zwei komplementäre Ziele unterschieden werden: ein primär politisches Ziel auf einer sichtbaren Ebene, das heißt die Forderung nach Aufklärung, nach Gerechtigkeit im Sinne der Bestrafung der Täter und nach Rückkehr der Verschwundenen oder deren sterblichen Überreste. Und andererseits ein sekundäres, und wie es hier genannt werden soll, anthropologisches Ziel, das auf einer symbolischen Ebene angesiedelt ist: die Rehumanisierung der Verschwundenen, die Rückgabe der versuchten Auslöschung von Identitäten und Subjektivitäten und das symbolische
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Auftauchen der Verschwundenen durch die politische Ritualpraxis der Angehörigen. Diese Praxis umfasst das Sprechen über die erfahrene Gewalt und die Verschwundenen in Form von testimonios, die Nennung der Namen der Täter, die individuelle und kollektive Suche nach ihnen, die Gründung von sozialen Netzwerken und Erinnerungsgruppen, die konstanten Wiederholungen der Forderungen nach Rückkehr der Verschwundenen, die Proteste im öffentlichen Raum, aber auch im privaten Raum mit den visuellen Repräsentationen der Verschwundenen und der Nennung ihrer Namen. Die individuellen und kollektiven Praktiken der Rehumanisierung der Angehörigen können zudem auch als eine Copingstrategie betrachtet werden, durch die die Angehörigen versuchen, den ambivalenten Verlust in den Alltag zu integrieren, damit umzugehen und ihn zu verarbeiten. Bei der Suche nach den Verschwundenen, zentraler Aspekt im Rehumanisierungsprozess, lassen sich über Zeit und Raum unterschiedliche Handlungsstrategien der Angehörigen beobachten, die in Orte der Suche, Zeitraum der Suche und Vorgehensweise der Suche unterschieden werden können. Die Suche nach den Verschwundenen wird zudem durch vier Aspekte charakterisiert: (1) eine emotionale Komponente, die sich durch Angst, Wut, Hilflosigkeit und Ohnmacht der Angehörigen ausdrückt, (2) eine soziale Komponente, die die Verpflichtung gegenüber den verschwundenen Verwandten und die Vernetzung mit anderen Angehörigen umfasst, (3) eine politische Komponente, die Formen des Protestes, des kollektiven Handelns, der Arten der Forderungen und Empowerment-Strategien der Angehörigen beschreibt und (4) eine ökonomische Komponente, die unterschiedliche Strategien der Ressourcenbeschaffung oder Ressourcenknappheit hinsichtlich der Suche nach den Verschwundenen umfasst. Die Erinnerung an die Gewalt der Vergangenheit spielt im Kampf um Rehumanisierung eine bedeutende Rolle. Die kontinuierliche Reaktivierung der Erinnerung an die Verschwundenen durch die Narrative über die Ereignisse aus der Zeit des Schmutzigen Krieges führt auch zu einer konstanten Erneuerung eines Projektes der Zukunft von Gerechtigkeit, Wahrheit und Würde für die Angehörigen und die Verschwundenen. Die kontinuierliche Erinnerungspraxis an die Verschwundenen ist so eine Praxis der Gegen-Erinnerung zu den hegemonialen Diskursen über die Vergangenheit in der Gegenwart. Es wird die Präsenz des Unfassbaren, die Präsenz der Abwesenheit fassbar gemacht in Erwartung einer Zeit, wo begangene Ungerechtigkeiten aufgelöst und Prozesse der Dehumanisierung und Desozialisierung aufgehoben werden sollen. Dieses Projekt der Zukunft ist aber auch einfach die Forderung nach Normalisierung des Lebensalltags für die Angehörigen der Verschwundenen. Normalisierung in dem Sinne als es um die Aufhebung ihres liminalen Zustandes – jener der Verschwundenen und jener der Angehörigen selbst – geht. Normalisierung muss jedoch angesichts der konstanten staatlichen Weigerungen nach Anerkennung der Forderungen der Opfer und nach Rehumanisierung als ein bisher nicht erreichtes Ziel betrachtet werden.
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Es stellt sich die Frage, ob das Ende des liminalen Zustandes der Verschwundenen und der Angehörigen auf einer Mikroebene nur dann eintreten kann, wenn auch auf der politischen Makroebene des Transitional-Justice-Prozesses der liminale Zustand beendet wird. Transitional-Justice-Prozesse können dem anthropologischen Ansatz von Hinton (2010) folgend ebenso als Schwellenphasen, Übergangsphasen und liminale Phasen bezeichnet werden. Diese Definition folgt den klassischen Theorien der Ritualforschung, insbesondere der Analyse von Übergangsritualen von Van Gennep (2005/[1909]). Übergangsrituale wie etwa Begräbnisrituale kennzeichnen sich immer durch eine Phase der Separation, der Liminalität und der Integration. Die Toten werden von der Gesellschaft separiert, befinden sich dann durch spezifische Rituale in einer Übergangsphase, in der sie weder Teil der Welt der Lebenden noch Teil der Welt der Toten sind, bis sie schließlich durch das Begräbnis in die Welt der Toten übergehen und der Übergang durch die Integration beendet wird. Die Frage bleibt offen, ob diese Übergangsriten übertragen auf einen Transitional-Justice-Prozess die letzte Phase der Integration – im Sinne des Van Gennep´schen Übergangsrituals von Separation, Liminalität und Integration – dann erreicht werden kann, wenn der Wille nach Anerkennung und Rehumanisierung der Opfer auch von den jeweiligen politischen Machthabern umgesetzt wird. Wenn es also zu Aufklärung des Schicksals der Verschwundenen, der Rückgabe der sterblichen Überreste und/oder Reparationszahlungen, und/oder Bestrafung der verantwortlichen Täter kommt. Findet die Anerkennung ihrer Forderungen, die Integration ihrer Erinnerungen im kollektiven Gedächtnis und die schließliche Rehumanisierung der Opfer nicht statt, entwickeln sich erneut Reviktimisierungsprozesse. Oder wie Adam meint: „Victims who remain unacknowledged are killed a second time. They have died in the collective memory.“ (Adam 2011: xv) Folglich kann das Ziel der Angehörigen, die Rehumanisierung der Verschwundenen, nur durch den politischen Willen staatlicher Akteure erreicht werden, durch jene also, die verantwortlich für die Gewaltpraxis und die Dehumanisierungsprozesse waren. Transitional Justice a la mexicana: Lokale Friktionen als Re-Dehumanisierung Entgegen der verbreiteten Annahme, die Implementierung globaler Normen von Transitional Justice würde zu politischem und sozialem Wandel, zu Demokratie, Frieden, Versöhnung und Konfliktprävention in unterschiedlichen lokalen Kontexten beitragen, hat das Fallbeispiel Mexiko gezeigt, dass dies keineswegs immer der Fall ist. Transitional-Justice-Mechanismen wurden dort mit ambivalenten politischen Interessen eingesetzt und führten zu zahlreichen Konflikten auf lokaler Ebene. Um diese unterschiedlichen Spannungen und Reibungen zwischen lokalen Realitäten und globalen Diskursen zu umschreiben, wurde das Konzept der transitionalen Friktionen von Hinton (2010) herangezogen. Diese Friktionen werden für den
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mexikanischen Fall als eine Fortführung von Dehumanisierung oder als ReDehumanisierung für die Angehörigen der Verschwundenen begriffen. Die Gruppe der Täter und deren politischer KomplizInnen in der Gegenwart versuchen weiterhin, den Dehumanisierungsprozess aufrechtzuerhalten, indem Informationen über die Verschwundenen kontinuierlich verweigert werden, mehrheitlich über die Gewalttaten der Vergangenheit geschwiegen bzw. diese geleugnet werden. Der mexikanische Fall zeigt auch, dass die neuen Konfliktlinien im Laufe von Aufarbeitungsprozessen von Gewalt nicht nur zwischen Opfer und Tätern verlaufen können, sondern es auf einer lokalen Ebene durch das Einsetzten von Transitional-JusticeInstrumenten auch zu Konfliktlinien zwischen den Opfern kommen kann. Eine der Erkenntnisse der ethnographischen Studie aus Mexiko ist auch, dass sich Opfer von Gewalt – in diesem Fall die Angehörigen von Verschwundenen – nicht in allen Fällen für die global postulierten Transitional-Justice-Normen von Sprechen, Erinnern und Aufarbeiten der Vergangenheit aussprechen und es durch diese Differenzen auch zu Konflikten zwischen den Angehörigen kommt. Diese Friktionen lassen sich durch einen ethnographischen Zugang auf differenzierte lokale Perspektiven und Praktiken von Transitional Justice sichtbar machen, in denen sich die Komplexität und die Heterogenität von Postkonfliktgesellschaften zeigen (vgl. Halbmayer/Karl 2012). In der Literatur zu Verschwindenlassen wird meist nur von der öffentlich sichtbaren Gruppe der Angehörigen gesprochen, nicht aber über jene, die schweigen bzw. nur im privaten Raum darüber sprechen. Entgegen den Erwartungen und der verbreiteten Darstellungsweise gibt es auch Angehörige von Verschwundenen, die nicht über die Vergangenheit sprechen wollen und schweigen und die sich nicht dem öffentlichen und sichtbaren Kampf um Rehumanisierung anschließen, den viele andere Angehörige führen. Die politisch aktiven Angehörigen repräsentieren jedoch auch die schweigenden und nicht sichtbaren Angehörigen, die nicht öffentlich gemachten Verschwundenen und kämpfen auch um die Aufklärung dieser Schicksale – eine Tatsache, die die unsichtbaren, schweigenden und marginalisierten Angehörigen nicht immer als positiv beurteilen. Fragen der Legitimität der Repräsentationen von Opfern stehen so im Mittelpunkt vieler Konflikte während des mexikanischen Transitional-Justice-Prozesses. Auch die Frage nach den Reparationszahlungen für die Verschwundenen spaltet die Angehörigen. Die Tatsache, dass sich eine Gruppe von Angehörigen für die Ausbezahlung von Entschädigungszahlungen für den materiellen Verlust während des Schmutzigen Krieges und für das zugefügte Leid aufgrund des Verschwindenlassens von Familienmitgliedern ausspricht, empört eine andere Gruppe von Angehörigen. Diese fordert die Aufklärung des Schicksals der Verschwundenen, die Bestrafung der Täter und die Rückkehr der Verschwundenen mit ihrem Leitspruch: „Lebend haben sie sie geholt, lebend wollen wir sie zurück!“ Eine Entschädigungszahlung für die Verschwundenen zu erhalten, lehnen sie vehement ab, da dies moralisch verwerflich sowie einer Verhöhnung
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und Beleidigung der Verschwundenen gleichkommen würde. Einige Angehörigen beschuldigen die BefürworterInnen von Entschädigungszahlungen einer Art von symbolischen Kannibalismus, da sie ihre Toten aufessen wollten, wenn sie Geld für sie annehmen würden. In dieser Studie geht es also vor allem um eine Lokalisierung von Transitional Justice im Sinne von Shaw, Waldorf und Hazan (2010) und um Transitional Justice from Below (McEvoy/McGregor 2008). Hinton (2010) sieht den anthropologischen Zugang, der diese Lokalitäten analysiert, als einen Weg, die Verortung dieser Friktionen auszumachen. Transitional-Justice-Prozesse können dabei aus anthropologischer Sicht mit einem Übergangsritus (Van Gennep 2005/[1909]) auf einer gesamtgesellschaftlichen Ebene verglichen werden, also als eine Zwischen-, Übergangsund liminale Phase einer Gesellschaft von Krieg und Konflikt hin zu Prozessen von Frieden (Hinton 2010). Warum diese letzte Phase jedoch meist nicht vollständig erreicht wird, kann dem Konzept der Friktionen folgend auch anhand des Fallbeispiels Mexiko illustriert werden. Es stellen sich für den Transitional-JusticeProzess in Mexiko folgende Fragen: Wie haben sich globale Diskurse in das lokale sozio-politische System eingebettet und wie wurden diese globalen Instrumente lokal transformiert? Wie sehen diese Friktionen auf lokaler Ebene aus? An welchen Orten, in welchen Dynamiken und Prozessen können diese festgestellt werden? Wie in der vorliegenden Arbeit gezeigt wird, führt die aus machtpolitischen Friktionen rührende Permanenz einer liminalen Phase von Transitional Justice auch zum Weiterbestand der liminalen Phase der Angehörigen der Verschwundenen. Für Mexiko können nun verschiedene Friktionen von Transitional Justice betrachtet werden, die im Laufe der Arbeit detailliert dargestellt wurden. Die Konflikte in diesen Prozessen sind keineswegs abgeschlossen. Die Kämpfe um die Deutungsmacht über die Vergangenheit gehen weiter und stellen heute einen alltäglichen Bestandteil der sozialen Realität tausender Angehöriger von Verschwundenen in Mexiko dar. Somit kann die Darstellung der Spannungen nur ein Zwischenresümee der bisherigen Entwicklungen sein. Die Friktionen der Transition in Mexiko zeigen, dass (1) die globalen Mechanismen und Diskurse von Transitional Justice von politischen Eliten auf lokaler Ebene instrumentalisiert wurden; (2) historisch bedingte soziale und strukturelle Ungleichheiten und Machtbeziehungen, die Ursache für den Konflikt in der Vergangenheit waren, nicht beseitigt wurden, sondern sich in Aufarbeitungsdynamiken reproduzieren. Die Kultur der Straflosigkeit setzt sich so aufgrund der Erhaltung eines lokalen politischen Systems mit postkolonialen Figuren der Machtausübung in Form von Kaziken und Caudillos fort; (3) dass es zu Reviktimisierungs-, Marginalisierungs- und konfliktiven Differenzierungsprozessen der Opfer gekommen ist; (4) hegemoniale Diskurse, die Interpretationsgrundlage für den vergangenen Konflikt waren, während der Transitonsphase fortbestehen; (5) strukturelle Bedingungen sozialer Ungleichheit und Machtbeziehungen zwischen Opfern und Tätern nicht durch die Implementierung von Transitio-
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nal-Justice-Instrumenten aufgehoben werden, sondern deren Kontinuität sichtbar wird; (6) die Kontinuität der Polarisierung, Differenz und Dichotomie zwischen den Kategorien Opfer/Täter, den strukturellen ökonomischen und politischen Differenzen arm/reich – Ohnmacht/Macht und den damit verbundenen Prozessen von Dehumanisierung/Rehumanisierung aufrechterhalten bleibt und durch den Transitional- Justice-Prozess offensichtlich wird; (7) dass also, solange die strukturelle, politische, ökonomische und soziale Ungleichheit aus der lokalen Perspektive der Betroffenen fortbesteht, der Einsatz eines Transitional-Justice-Instruments keinen sozialen oder politischen Wandel hervorbringen wird. Die institutionellen Ansätze von Transitional Justice lassen eines außer Acht, was im Falle Mexikos ein Grund für die konfliktiven Dynamiken ist: „A recognition of the importance of personalistic relationships and camarilla politics raises serious doubts about a conceptualization of transition that cannot incorporate factors driven by deep-seated cultural codes.“ (Pansters 1999: 259) Diese kulturellen Codes politischer Machtausübung in Mexiko ließen die hochgepriesene Veränderung lediglich zu einer abermaligen Kontinuität der Kultur der Straflosigkeit mutieren. In diesem Feld postkolonialer Systeme haben lokale und nationale Machtfiguren von Caudillos und Kaziken (vgl. Brading 1980; Lomnitz-Adler 1992; Krauze 1994) nach wie vor die hegemoniale Deutungshoheit über die Art und Weise, wie die Vergangenheit Mexikos aufgearbeibet wird. Solange die lebenden oder toten Verschwundenen nicht in die sozialen und kulturellen Netzwerke reinkoporiert werden können, werden Dehumanisierungsprozesse von Seiten staatlicher Akteure in Form der Verbindung von Tätern der Vergangenheit mit deren politischer Komplizen in der Gegenwart weiter bestehen. Solange bleibt die Präsenz der Abwesenheit der verschwundenen Körper der Vergangenheit und der Gegenwart eine offene Wunde in der mexikanischen Gesellschaft. Die transitionalen Friktionen werden so zu Prozessen der Reviktimisierung der Angehörigen der Verschwundenen und zu einer Form der Re-Dehumanisierung. Ausblicke: Drogenkriege und die Partei der Vergangenheit an der Macht – Kontinuitäten von Dehumanisierung und Rehumanisierung? Mit den Entwicklungen rund um den Krieg gegen den Drogenhandel und der massiven Militarisierung ruraler und urbaner Räume des Landes seit dem Jahr 2006 entwickeln sich neue soziale und kulturelle Traumata, die sich mit jenen der Opfer der Vergangenheit vergleichen lassen. Mexikos Opfer der alten und neuen Schmutzigen Kriege versuchen in diesen den Lebensalltag prägenden Gewalträumen Handlungen und Strategien der Rehumanisierung zu etablieren. Die nicht verstummen könnende Forderung „Lebend haben sie sie genommen, lebend wollen wir sie zurück“, stellt dabei angesichts der gegenwärtigen politischen Entwicklungen und
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dem erneuten massiven Einsatz staatsterroristischer Dehumanisierungspraktiken gegen interne FeindInnen eine mehr als aktuelle Forderung dar. Im Jahr 2012 verstarben zwei der Täter des Schmutzigen Krieges der Vergangenheit: General Mario Acosta Chaparro und Miguel Nazar Haro. Ersterer war verantwortlich für die paramilitärische Einheit Brigada Blanca, das Verschwindenlassen von Personen in Guerrero und die Todesflüge, in denen ermordete Personen über dem Pazifik abgeworfen wurden. Seine Person reflektiert jedoch auch die Kontinuität der Gewalt der Vergangenheit mit jener der Gegenwart. So wurde Acosta Chaparro in der Regierungszeit von Fox (2000 – 2006) auch der Prozess wegen vermuteter Verbindungen zum Drogenhandel gemacht. Er wurde jedoch freigesprochen und zu Präsident Calderóns militärischem Berater und Vermittler zwischen Drogenkartellen und Regierung. Nazar Haro war Direktor der Geheimpolizei Dirección Federal de Seguridad (DFS) und ordnete politische Verfolgung, Folter und Ermordungen an. Beide starben, ohne für ihre Verbrechen zur Verantwortung gezogen worden zu sein. Die Angehörigen der Verschwundenen reagierten mit Wut und Empörung. So schrieb etwa die Organisation der Kinder Verschwundener H.I.J.O.S.: „Heute wird es eine unwahrscheinliche Trauer geben, denn dieser gefährliche Kriminelle ist gestorben, ohne eine gerechte Strafe zu erfahren. Wir Mexikanerinnen und Mexikaner sind dabei hilflos. Aber dennoch, die Episode ist nicht geschlossen: die Aufgabe wird sein zu erreichen, dass die historische Gerechtigkeit eine beispielhafte Strafe verhängt, damit Fälle wie diese niemals wieder in unserem Land vorkommen.“9 (Kommuniqué H.I.J.O.S., 01.2012)
Und wie immer schließen sie ihre Kommentare mit den Worten: „Wir vergessen nicht. Wir verzeihen nicht. Wir versöhnen uns nicht. Gerechtigkeit und Strafe für die Schuldigen und deren Komplizen. Die Verschwundenen fehlen uns allen.“10 (ebd.) Aus der Perspektive der Angehörigen der Verschwundenen sind es nicht nur die Täter der Vergangenheit, die zur Rechenschaft gezogen werden sollen, sondern auch deren Beschützer in der Gegenwart. Von einem Komitee mexikanischer JuristInnen wurde daher im November 2011 ein Verfahren gegen Felipe Calderón wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor dem Internationalen Strafgerichtshof
9
„Hoy se da un luto improbable porque este peligroso criminal murió sin haber enfrentado un castigo justo. Ante esto las mexicanas y mexicanos nos quedamos en un clima de indefensión. Sin embargo, el episodio no está cerrado: la tarea será lograr que el juicio de la historia imponga esa condena ejemplar para que casos como éste no vuelvan a tener un lugar en nuestro país.“ (comunicado H.I.J.O.S., 01.2012)
10 „No olvidamos. No perdonamos. No nos reconciliamos. Juicio y castigo a los culpables y sus cómplices. Los desaparecidos nos faltan a todos.“ (ebd.)
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in Den Haag angestrengt. Nicht nur gegen ihn, sondern auch gegen Verteidigungsminister, Galván Galván, den Minister der Marine, Saynez Mendoza, den Minister für Öffentliche Sicherheit, García Luna und gegen den Chef des Sinaloa Drogenkartells, El Chapo Guzmán (vgl. Díaz 2011a). Am Ende seiner Amtszeit zeigte sich Präsident Calderón jedoch überzeugt davon, dass er seinem Land positiv gedient hatte, er betonte in seiner letzten Rede an die Nation am 28. November 2012: „Ich gehe im Bewusstsein, dass ich meine Pflicht und meine Verantwortung im Dienste Mexikos erfüllt habe. Ich habe daran gearbeitet, eine stärkere Nation mit einem besseren Justizsystem zu hinterlassen.“11 (Calderón zit. in: La Jornada vom 29.11.2012) Kurz zuvor eröffnete er in Mexiko-Stadt den Platz im Dienste der Patria (Plaza en Servicio a la Patria) im Militärlager Nr. 1, ein 6.900 m² großes Denkmal für die Gefallenen des Drogenkrieges, nicht in Gedenken an alle Opfer, sondern in Gedenken an die 205 gefallenen Soldaten, die als Helden im Kampf für die nationale Sicherheit gestorben waren (vgl. Arellano/Alzaga 2012). Die Angehörigen der Verschwundenen und Toten dieses Krieges protestierten gegen dieses Denkmal, das ihre Gewalterfahrungen abermals marginalisiert. Die modernen Antigones, wie die Angehörigen Verschwundener oftmals bezeichnet werden (vgl. Turati 2011b; Sant Cassia 2007), werden trotz aller Rückschläge weiterhin mit Nachdruck auf die Präsenz der Abwesenheit hinweisen. Die Verschwundenen aus Vergangenheit und Gegenwart transformierten sich durch ihr politisches rituelles Handeln zu einem wirkmächtigen Symbol für Staatsterrorismus und totalitäre Auslöschung. Denn Menschen können physisch eliminiert werden, gegen die Auslöschung sozialer, kultureller und ritueller Verbindungen zwischen Menschen über Generationen hinweg als anthropologischer Konstante können die Täter jedoch nicht ankämpfen. Die kontinuierliche Präsenz der Verschwundenen ist so auch Metapher der Unmöglichkeit der gänzlichen Elimination des Menschen. Mit der Forderung nach deren Rückkehr in welchem ontologischen Seins-Zustand auch immer – ob tot oder lebend, ob in Form eines Knochens oder des ganzen Körpers – werden daher auch in Zukunft die alten und neuen Täter konfrontiert werden. Bei den politisch stark umkämpften Präsidentschaftswahlen im Juli 2012 mit Vorwürfen des Wahlbetruges gegen die PRI – die verantwortlich für die Verbrechen der Vergangenheit war – wurde diese dennoch im Präsidentenamt bestätigt. Es bleibt abzuwarten und zu beobachten, wie sich der Umgang mit den Verbrechen der Vergangenheit gestalten und ob es stimmen wird, dass die „neue PRI“, wie der gewählte Präsident Enrique Peña Nieto oftmals betonte, sich von der PRI der Vergangenheit unterscheidet. Große Hoffnung haben die kritischen Stimmen in Mexiko
11 „Me voy con la conciencia de haber actuado en cumplimiento de mi deber y responsabilidad al servicio de México. He trabajado para dejar una patria más fuerte, con un mejor sistema de justicia (…).“ (Calderón zit. in: La Jornada, 29.11.2012)
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nicht, wie die Massendemonstrationen nach der Präsidentschaftswahl zeigten, die gegen eine Zukunft des Landes mit der PRI protestierten und mit Aussagen wie México lindo y herido12 (schönes und schmerzerfülltes Mexiko) in der Öffentlichkeit auftraten. Wie sich die PRI im territorialen Machtgefüge der Drogenkartelle positionieren und gegen Kontinuitäten schmutziger Kriege auftreten würde, blieb zunächst noch fraglich. Schnell zeigte sich jedoch, dass Präsident Peña Nieto die militärische Strategie Calderóns fortführte und die Zahl der Vertriebenen, Toten und Verschwundenen ähnlich hoch ist wie in der Amtszeit seines Vorgängers.13 Die Fortführung der Strategie der Militarisierung und der politischen Konstruktionen von Chaos und Angst diene auch den neoliberalen Strukturreformen der „neuen PRI“, wie etwa Javier Sicilia kritisiert (Sicilia 2014). Viele Angehörige, aus dem vergangenen und dem gegenwärtigen Konflikt, werden eine starke Stimme gegen jegliche Art der Menschenrechtsverletzungen bleiben. So wie Apolinar Castro Román aus Atoyac, Frau eines Verschwundenen betonte: „Aber ich sage euch, die Hoffnung stirbt zuletzt. Ich sage, ich werde bis zum Schluss kämpfen!“14 Und sicherlich wird auch das Lied der Angehörigen weiterklingen, indem es heißt: „Die schlechten Regierungen wollen vergessen, aber hier sind die Doñas, um ihre Erinnerung aufzufrischen!“15 Den Kampf um Rehumanisierung werden die Angehörigen der Verschwundenen aus der Position der subversiven Ränder des Staates (Das/Poole 2004) weiterführen, jene des vergangenen Schmutzigen Krieges und jene des aktuellen Krieges. Wie viele Angehörige betonen, werden sie weiterhin gegen staatliche Hegemonie und Deutungsmacht auftreten, um die Anerkennung ihrer Forderungen zu erreichen: durch individuelle und kollektive Handlungen, sichtbar und unsichtbar, im öffentlichen und im privaten Raum, auf lokaler, nationaler und globaler Ebene, durch politischen Protest, escraches oder kulturelle und künstlerische Ausdrucksformen, die Repräsentationen der Erinnerung an die Abwesenden darstellen. Die Prozesse der Dehumanisierung von Menschen werden durch die politische Ritualpraxis der Betroffenen der Gewalt symbolisch umgekehrt mit dem Ziel einer Reintegration der
12 Anstatt des bekannten Liedtextes México lindo y querido, schönes und geliebtes Mexiko. Inschrift auf Plakaten in Cuernavaca, Morelos im August 2012. 13 Siehe Berichte des Movimiento por la Paz con Justicia y Dignidad auf deren Seitehttp://movimientoporlapaz.mx/ (Letzter Zugriff 30.4.2014), wie etwa den Bericht an die UN-Arbeitsgruppe für erzwungenes Verschwindenlassen. 14 „Pero yo les digo, la esperanza muero al último. Digo, yo voy a luchar hasta el final (…).“ (Apolinar Castro Román, Colonia 18 de Mayo, Atoyac, 2009) 15 „Es que los malos gobiernos quieren borrar esta historia. Pero aquí están esas Doñas, pa [ra] refrescar la memoria.“ (Corrido-Lied von María del Rosario Piedra in: ¡Eureka! 2007, 2: 5)
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Filme EL CRÍMEN DE ZACARÍAS BARRIENTOS (2008, Frankreich, R: Ludovic Bonleux/K Production). 12.511 – CASO ROSENDO RADILLA. HERIDA ABIERTA DE LA GUERRA SUCIA EN MÉXICO (2008, Mexiko, R: CMDPDH/WITNESS). HALCONES. TERRORISMO DE ESTADO (2006, Mexiko, R: Carlos Mendoza/Canal Seis de Julio). LUCIO CABAÑAS. LA GUERRILLA Y LA ESPERANZA (2007, Mexiko, R: Gerardo Tort). TLATELOLCO. LAS CLAVES DE LA MASACRE (2002, Mexiko, R: Canal Seis de Julio). TRAZANDO ALEIDA. LA HISTORIA DE UNA BÚSQUEDA (2007, Mexiko, R: Christiane Burkhard).
L ITERATUR
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VIVOS LOS LLEVARON, VIVOS LOS QUEREMOS (2007, Mexiko, R: Cecilia Serna). CEMENTERIO DE PAPEL (2009, Mexiko, R: Mario Hernández, Spielfilm nach dem gleichnamigen Roman von Fritz Glockner 2006).
Abbildungsanhang
488 | K AMPF UM R EHUMANISIERUNG
Abbildung 1: Karte von Mexiko.
Quelle: http://mexico.catalogosdorados.com/guerrero.htm
Abbildung 2: Karte des Bundesstaates Guerrero.
Quelle: http://www.geographicguide.com/america-maps/mexico.htm
A BBILDUNGSANHANG
Abbildung 3: Karte des Bezirkes Atoyac de Alvárez. Bundesstaat Guerrero.
Quelle: Cardona Galindo 2010.
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490 | K AMPF UM R EHUMANISIERUNG Abbildung 4: Rosa Castro Velázquez zur Zeit des Schmutzigen Krieges mit ihrem Mann (Folteropfer und „zurückgekehrter Verschwundener”) und ihren Kindern. Immer noch kämpft sie um die Aufklärung des Schicksals ihres bis heute verschwundenen Bruders. Comunidad San Vicente de
Benítez, Sierra de Atoyac.
Quelle: Foto Sylvia Karl.
Abbildung 5: Doña Micaela und ihr Mann, der im Jahr 2009 verstorbene Kleinbauer Paulino García Sandoval, Folteropfer und „zurückgekehrter Verschwundener“. Comunidad El Quemado.
Quelle: Foto Sylvia Karl.
A BBILDUNGSANHANG
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Abbildung 6: Lucio Cabañas Barrientos,
Lehrer und Gründer der bewaffneten Bewegung Partei der Armen (Partido de los Pobres). Er wurde im Jahr 1974 vom mexikanischen Militär ermordet. Foto im Haus eines Vertreters des Consejo Cívico Comunitario Lucio Cabañas Barrientos in Atoyac de Alvarez.
Quelle: Foto Sylvia Karl.
Abbildung 7: Statue von Lucio Cabañas
Barrientos am Hauptplatz von Atoyac de Alvarez, errichtet 2002. In einer Urne wurde dort die Asche der sterblichen Überreste von Lucio Cabañas beigesetzt.
Quelle: Foto Sylvia Karl.
492 | K AMPF UM R EHUMANISIERUNG Abbildung 8: Tot oder lebend? Verschwundene in der Liminalität. Der im Jahr 1974 vom Militär verschleppte und verschwundene Mann von Doña Goya aus Atoyac. Foto zu Beginn der 1970er Jahre.
Quelle: Foto Sylvia Karl, aus Fotoalbum von Doña Goya.
Abbildung 9: Hochzeitsfoto der im Jahr 1974 verschleppten und bis heute verschwundenen Perla. Ihre Mutter und ihre Schwester haben bis zu deren Tod die Aufklärung ihres Schicksals gefordert.
Quelle: Foto Sylvia Karl, aus dem Fotoalbum ihrer Schwester Elvira Patiño Leyva.
A BBILDUNGSANHANG
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Abbildung 10: Tot oder lebend? Der 1974 verschleppte Ehemann von Doña Eufrosina.
Quelle: Foto Sylvia Karl aus dem Fotoalbum der Familie Manzanarez.
Abbildung 11: Doña Romana mit dem Foto ihres 1974 verschleppten Sohnes. Seit den 1970er Jahren kämpft sie um Aufklärung seines Schicksals. Aufgrund ihres mittlerweile hohen Alters führt ihr Enkel (s. Abb.12) nun den Kampf weiter. Comunidad El Ticui.
Quelle: Foto Sylvia Karl.
Abbildung 12: Don Rodrigo aus der
comunidad El Ticui mit dem Foto seines im Jahr 1974 verschleppten Vaters. Mitglied von AFADEM, er führt den Kampf seiner Großmutter weiter (s. Abb.11.).
Quelle: Foto Sylvia Karl.
494 | K AMPF UM R EHUMANISIERUNG Abbildung 13: Aufzeichnen von testimonios mit dem mexikanischen Forschungspartner José Luis Arroyo Castro (rechts). Don Rubén sichtet vor seinem Haus Dokumente über den Kampf um seinen verschwundenen Bruder.
Quelle: Foto Sylvia Karl.
Abbildung 14: Aufzeichnen des testimonios von Doña Apolinar, Frau eines
Verschwundenen (Forschungspartner José Luis Arroyo Castro mit der Autorin).
Quelle: Foto Anonym.
A BBILDUNGSANHANG
Abbildung 15: Erinnerungsorte. Doña Maria blickt auf den Bas-
ketballplatz, wo ihr Bruder im Jahr 1974 verschleppt wurde. Diese Sportplätze wurden im Zuge der staatlichen „Sozialkampagnen“ während des Schmutzigen Krieges in den meisten Dörfern der Sierra de Atoyac gebaut und dienten dem Militär als Hubschrauberlandeplätze. Comunidad San Juan de las Flores.
Quelle: Foto Sylvia Karl.
Abbildung 16: Fehlende Erinnerungsorte: Friedhof der comunidad San Martín de las Flores. Die Gräber der Verschwundenen fehlen. „Meine Eltern liegen hier. Sie sind gestorben ohne jemals etwas von meinen beiden verschwundenen Brüdern erfahren zu haben“, sagte Don Roberto, San Martín de las Flores, im Jahr 2009.
Quelle: Foto Sylvia Karl.
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496 | K AMPF UM R EHUMANISIERUNG Abbildung 17: Kampf um Rehumanisierung. Protest der Angehörigen der Verschwundenen in Mexiko-Stadt in den 1970er und 1980er Jahren.
Quelle: Comité Eureka (comiteeureka.org.mx).
Abbildung 18: „Wir finden Sie!“ Protest vor dem Nationalpalast in Mexiko-
Stadt in den 1970er Jahren.
Quelle: Comité Eureka (comiteeureka.org.mx).
A BBILDUNGSANHANG
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Abbildung 19:Kampf um Rehumanisierung. Angehörige eines Verschwundenen bei
einem Protest in Mexiko-Stadt, 1978.
Quelle: Comité Eureka (comiteeureka.org.mx).
Abbildung 20: „Es gibt keine Demokratie mit Verschwundenen“ steht auf dem Transparent bei Protesten der Angehörigen Verschwundener in den 1970er und 1980er Jahren in Mexiko-Stadt.
Quelle: Comité Eureka (comiteeureka.org.mx).
498 | K AMPF UM R EHUMANISIERUNG
Abbildung 21: „Freiheit für die Verschwundenen“. Protest der Angehörigen vom Comité EUREKA in den 1980er Jahren am Hauptplatz von Mexiko-Stadt.
Quelle: Comité Eureka (comiteeureka.org.mx).
Abbildung 22: „Hier drinnen sind die Verschwundenen!“ steht auf dem Transparent bei einem Protest in den 1980er Jahren von Comité Eureka vor dem Campo Militar Nr. 1. in Mexiko-Stadt. Im Vordergrund Rosario Ibarra, Vorsitzende des Comité Eureka.
Abbildung 23: Rosario Ibarra, Vorsitzende von Comité Eureka. Im Jahr 1975 wurde ihr Sohn verschleppt. Seit Ende der 1970er Jahre repräsentiert sie auf nationaler und internationaler Ebene die Verschwundenen Mexikos.
Quelle: Comité Eureka (comiteeureka.org.mx).
Quelle: Comité Eureka (comiteeureka.org.mx).
A BBILDUNGSANHANG
Abbildung 24: „Die Mütter weinen nicht mehr, sie kämpfen jetzt“. Plakat Anfang der 1980er Jahren vom Comité Nacional Pro Defensa de Presos, Perseguidos, Desaparecidos y Exilia-
dos Políticos.
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Abbildung 25: „Die Stimme des Schweigens“. „Du wirst kommen, von irgendeinem Ort, irgendwo, um mich zu empfangen und zu umarmen, und in dieser Umarmung werde ich all die Sonnen zurückbekommen, die sie mir gestohlen haben.“ Plakat aus 1985 von Comité Eureka.
Quelle: Comité Eureka (comiteeureka.org.mx).
Quelle: Comité Eureka (comiteeureka.org.mx).
500 | K AMPF UM R EHUMANISIERUNG Abbildung 26: Protest der Angehörigen von AFADEM aus Atoyac de Álvarez
vor der Kathedrale in Mexiko-Stadt im Jahr 2006.
Foto: AFADEM (www.cmdpdh.org).
Abbildung 27: Protest der Angehörigen aus Atoyac de Álvarez am Hauptplatz von Mexiko-Stadt im Jahr 2006: „Die Angehörigen der Verschwundenen der 1970er Jahre fordern von Vicente Fox die (…) Aufklärung der Tatsachen und die Bestrafung der Schuldigen. Lebend haben sie sie geholt, lebend wollen wir sie zurück.“
Foto: AFADEM (www.cmdpdh.org).
A BBILDUNGSANHANG
Abbildung 28: Sara Dúarte von Comité Eureka verteilt Informationsblätter
(s. Abb. 29) beim monatlichen Protest vor dem Obersten Gerichtshof in Mexiko-Stadt: „Viele glauben immer noch, wir wären Angehörige von Verschwundenen aus Argentinien“, sagt sie.
Quelle: Foto Sylvia Karl.
Abbildung 29: „Die Verschwundenen fehlen uns allen.“ „Lebend haben sie sie geholt, lebend wollen wir sie zurück!" Flugblatt von Comité Eureka.
Quelle: Comité Eureka (comiteeureka.org.mx).
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502 | K AMPF UM R EHUMANISIERUNG Abbildung 30: Plakate mit den Fotos von Verschwundenen im öffentlichen Raum. Sicherheitskräfte beobachten den Protest der Angehörigen von Comité Eureka und H.I.J.O.S. vor dem Obersten Gerichtshof in Mexiko-Stadt.
Quelle: Foto Sylvia Karl.
Abbildung 31: „Gerichtsprozess und Bestrafung“. „Genozideur“ steht auf dem Foto von Ex-Präsident Luis Echeverría (rechts) beim monatlich stattfindenden Protest von Comité Eureka und H.I.J.O.S. vor dem Obersten Gerichtshof in Mexiko-Stadt. Den Mitgliedern des Obersten Gerichtshofes wird Komplizenschaft mit den Tätern der Vergangenheit vorgeworfen (Plakat links).
Quelle: Foto Sylvia Karl.
A BBILDUNGSANHANG
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Abbildung 32: Protestform Escrache: Orientierungskarte vom „Campo Militar Nr.1“ in Mexiko-Stadt: „Sie befinden sich hier...und die Verschwundenen auch“. Protest von Comité Eureka und H.I.J.O.S. vor dem Militärlager.
Quelle: Foto: H.I.J.O.S. (www. hijosmexico.org).
Abbildung 33: Escraches von H.I.J.O.S.: „Die Verschwundenen fehen uns allen...Carlos auch“. Fotos von Verschwundenen fotografiert mit JournalistInnen und KünstlerInnen in Mexiko-Stadt.
Abbildung 34: Escraches von H.I.J.O.S.: „Die Verschwundenen fehlen uns allen...Fernando auch“. Fotos von Verschwundenen fotografiert mit PassantInnenn in einem öffentlichen Park in Mexiko-Stadt.
Quelle: www. hijosmexico.org.
Quelle: www. hijosmexico.org.
504 | K AMPF UM R EHUMANISIERUNG
Abbildung 35: Lokale und transnationale Kämpfe. Tita Radilla, Tochter des Verschwundenen Rosendo Radilla (s. Abb. 36) und Vizepräsidentin von AFADEM bei einer Protestveranstaltung in Atoyac de Alvarez. In Zusammenarbeit mit der mexikanischen Menschenrechtsorganisation CMDPDH brachte sie den Fall ihres Vaters vor den Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte.
Quelle: AFADEM (www.cmdpdh.org).
Abbildung 36: Rosendo Radilla Pacheco aus Atoyac de Alvarez, seit 1974 verschwunden. Erster Fall eines mexikanischen Verschwundenen vor dem Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte.
Abbildung 37: Exhumierungen? Nach Aufforderung des Interamerikanischen Gerichtshofes führte die mexikanische Regierung im Jahr 2008 Grabungen nach den sterblichen Überresten von Rosendo Radilla (S. Abb 36) und anderer Verschwundener im ehemaligen Militärlager von Atoyac de Álvarez durch. Die Grabungen führten zu keinen Ergebnissen, wurde doch nur 1 % des Areals untersucht. Weitere Grabungen erfolgten im Jahr 2013, ebenso ohne Erfolge.
Quelle: CMDPDH (www.cmdpdh.org). Quelle: AFADEM (www.cmdpdh.org).
A BBILDUNGSANHANG
Abbildung 38: Gedenktafel an Rosendo Radilla (s. Abb. 36) und die Opfer von Verschwindenlassen am Hauptplatz von Atoyac de Alvarez. Angebracht im Jahr 2011 von der mexikanischen Regierung nach dem Urteil und der Aufforderung des Interamerikanischen Gerichtshofes für Menschenrechte.
Quelle: Foto Sylvia Karl.
Abbildung 39: Gedenktafel an Rosendo Radilla und die Opfer von Verschwindenlassen am Hauptplatz von Atoyac de Alvarez. Eine Frau aus Atoyac war so freundlich, die Gedenktafel für das Foto sichtbar zu machen. Sie war von der mexikanischen Fahne verdeckt worden.
Quelle: Foto Sylvia Karl.
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506 | K AMPF UM R EHUMANISIERUNG
Abbildung 40: Transnationale Kämpfe: Aleida Gallangos Vargas brachte ihren Fall vor den Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte. Sie ist Tochter von verschwundenen Eltern (s. Abb. 41, 42), wurde adoptiert und erfuhr erst im Jahr 2001 von ihrer wahren Identität.
Quelle: Revista Cinefagia (www.revistacinefagia.com/2009/05/trazando-aleida/).
Abbildung 41. Polizeifoto von Roberto Gallangos Cruz im mexikanischen Nationalarchiv. Im Jahr 1975 verschleppter und verschwundener Vater von Aleida Gallangos (s. Abb. 40 ).
Quelle: National Security Archive.
Abbildung 42. Carmen Vargas Pérez, im Jahr 1975 verschleppte und verschwundene Mutter von Aleida Gallangos (s. Abb.40).
Quelle: National Security Archive.
A BBILDUNGSANHANG
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Abbildung 43: Lokale Kämpfe: Rosa Castro Velázquez erhält Ende 2010 ein Schreiben von der Staatsanwaltschaft. Ihr Fall ist aus Mangel an Beweisen geschlossen worden. Der Anzeige, die sie gegen die Täter des Verschwindenlassens ihres Bruders (1974) erstattet hat, wird nicht weiter nachgegangen. Ihr Sohn José Luis (Bild) unterstützt sie weiter in ihrem Kampf.
Abbildung 44: Lokale Kämpfe: Folteropfer Don Enrique aus Atoyac. Er leidet bis heute an den physischen und psychischen Langzeitfolgen der Folter in den 1970er Jahren. Gemeinsam mit seiner Mutter (Bild) kämpft er um Entschädigungszahlungen.
Quelle: Foto Sylvia Karl.
Quelle: Foto Sylvia Karl.
Abbildung 45: Über 30 Jahre Schweigen. Don Alfredo war Mitglied der „Partei der Armen“ von Lucio Cabañas (Bild im Hintergrund). Erst kurz vor seinem Tod im Jahre 2011 erzählte Don Alfredo seine Geschichte aus dem Schmutzigen Krieg. Bis dahin hatte er immer noch Angst vor staatlicher Repression.
Quelle: Foto Sylvia Karl.
508 | K AMPF UM R EHUMANISIERUNG Abbildung 46: Erinnerungsorte. Das „Haus der widerspenstigen Erinnerung“ an die Verschwundenen (Casa de la Memoria Indómita) im Zentrum von Mexiko-Stadt, eröffnet von Comité Eureka im Jahr 2012. Das Poster an der Außenwand des Museums zeigt den ersten Hungerstreik der Angehörigen im Jahr 1978 in Mexiko-Stadt.
Quelle: Foto Sylvia Karl.
Abbildung 47: Erinnerungsorte. Personalisierte Notizhefte für die Verschwundenen. In einem Raum des Museums können Angehörige oder BesucherInnen biografische Notizen des oder der Verschwundenen in ein Heft schreiben. Oder Gedanken an die Verschwundenen hinterlassen.
Quelle: Foto Sylvia Karl.
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Abbildung 48: Installationen mit persönlichen Objekten der Verschwundenen im Museum der „Casa de la Memoria Indómita“ in Mexiko-Stadt.
Abbildung 49: Wartesaal. Der so benannte Raum im Museum „Haus der widerspenstigen Erinnerung“ in Mexiko-Stadt soll das unaufhörliche Warten auf die Rückkehr der Verschwundenen symbolisieren (mit Fotos der Verschwundenen an den Wänden, einem Stuhl und einem Telefon).
Quelle: Foto Sylvia Karl.
Quelle: Foto Sylvia Karl.
510 | K AMPF UM R EHUMANISIERUNG Abbildung 50:„Wenn es keine Gerechtigkeit gibt, gibt es Escrache“. Symbolische Bestrafung der Täter durch die Angehörigen der Verschwundenen. General Acosta Chaparro hinter Gittern, angeklagt des Staatsterrorismus und Drogenhandels. Escrache von H.I.J.O.S. im „Museum der Widerspenstigen Erinnerung“. Einige ExPräsidenten (wie Díaz Ordaz, Echeverría), Militärs und Mitglieder des Geheimdienstes sind ebenfalls hinter Gittern dargestellt.
Quelle: Foto Sylvia Karl.
Abbildung 51: Symbolische Umarmung eines zurückgekehrten Verschwundenen. Wandbild im „Haus der Widerspenstigen Erinnerung“ in Mexiko-Stadt, gemalt von der mexikanischen Künstlerin „LaPiztola“.
Quelle: Foto Sylvia Karl.
A BBILDUNGSANHANG
Abbildung 52: Erinnerungsorte: Das Memorial del 68 in Mexiko-Stadt. Museum und Gedenkort an das Massaker von Tlatelolco am 2. Oktober 1968.
Quelle: Foto Sylvia Karl.
Abbildung 53: Dehumanisierung. Verhaftete am 2. Oktober 1968 in Tlatelolco, Mexiko-Stadt. Viele der verhafteten DemonstrantInnen wurden gefoltert, ermordet und/oder gelten bis heute als verschwunden. Foto im Museum „Memorial del 68“ (s. Abb. 52).
Quelle: Foto Sylvia Karl im Museum „Memorial del 68“.
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512 | K AMPF UM R EHUMANISIERUNG Abbildung 54: Kontinuitäten des Schmutzigen Krieges im aktuellen „Drogenkrieg“. Protestplakat sozialer Bewegungen in Guerrero: "Nein zur Militarisierung! Nein zum Krieg gegen das Volk! Präsentation der Verschwundenen! Strafe für die Mörder! Für Frieden mit Gerechtigkeit und Würde! (Transparent in Chilpancingo).
Quelle: Foto Sylvia Karl.
Abbildung 55: Kontinuitäten des Schmutzigen Krieges im „Drogenkrieg“. Plakat von Angehörigen der Verschwundenen des gegenwärtigen Konfliktes in Guerrero: „Für das Leben, die Freiheit, die Gerechtigkeit und die Bürgerrechte! Strafe den Mördern! Präsentation der Verschwundenen! Lebend haben sie sie geholt, lebend wollen wir sie zurück!“ (Transparent in Chilpancingo).
Quelle: Foto Sylvia Karl.
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Abbildung 56: "Verschwundene. Wo sind sie? Gerechtigkeit!" 1. Nationales Treffen der Bewegung für Frieden mit Gerechtigkeit und Würde (Movimiento por la Paz con Justicia y Dignidad) in Morelos, April 2012.
Quelle: Foto Proceso.
Abbildung 57: Neue Erinnerungsorte. Ofrenda (Altar) des Movimiento por La Paz con Justicia y Dignidad (Bewegung für Frieden mit Gerechtigkeit und Würde) in Gedenken an die Toten und Verschwundenen des „Drogenkrieges“ im Zentrum von Cuernavaca, Morelos 2012.
Quelle: Foto Sylvia Karl.
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Global Studies Philipp Casula Hegemonie und Populismus in Putins Russland Eine Analyse des russischen politischen Diskurses 2012, 350 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-2105-1
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