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German Pages 461 [464] Year 1991
STUDIEN ZUR DEUTSCHEN LITERATUR
Band
Herausgegeben von Wilfried Barner, Richard Brinkmann und Conrad Wiedemann
Renate Stauf
Justus Mosers Konzept einer deutschen Nationalidentität Mit einem Ausblick auf Goethe
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1991
Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort G m b H
Für meinen Lehrer Conrad
Wiedemann
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Stauf, Renate: Justus Mosers Konzept einer deutschen Nationalidentität : mit einem Ausblick auf Goethe / Renate Stauf. - Tübingen : Niemeyer, 1991 (Studien zur deutschen Literatur ; Bd. 114) NE: GT ISBN 3-484-18114-1
ISSN 0081-7236
© Max Niemeyer Verlag G m b H & Co. KG, Tübingen 1991 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Satz: Licht-Satz Walter, Tübingen Druck: Allgäuer Zeitungsverlag, Kempten Einband: Heinrich Koch, Tübingen
Inhaltsverzeichnis
Erster Teil EINLEITUNG: Forschungsgegenstand und Forschungsperspektiven
ι
KAPITEL I: Das Interesse an Moser als »Nationalschriftsteller«
3
KAPITEL II: Mosers nationales Denken im Spiegel der Kritik
19
Zweiter Teil DIE SUCHE NACH IDENTITÄT: M O S E R S N A T I O N A L E O R I E N T I E R U N G U M 1750
37
KAPITEL I: Positionen der nationalen und kulturellen Selbst- und Fremdeinschätzung vor 1750
39
KAPITEL II: Widerlegung des »Barbarenstereotyps«: Mosers Neuinterpretation einer germanischen Nationalkultur
49
KAPITEL III: »Arminius« (1749): Das Scheitern der nationalen Einheitsidee am Prinzip der »teutschen Libertät«
59
KAPITEL IV: »Lettre à Mr. de Voltaire contenant un Essai sur le caractère du Dr. Martin Luther et sa Réformation« (1750): Moser als Verteidiger des »nationalen« Genius gegen den französischen »bei esprit«
71
Dritter Teil MOSER U N D DIE DISKUSSION ÜBER DIE NATION IN D E N S E C H Z I G E R J A H R E N DES 18. J A H R H U N D E R T S
79
KAPITEL I: Voraussetzungen: Die Entwicklung der Kritik an dem französischen Kultur- und Gesellschaftsideal bis zu Montesquieu
81
KAPITEL II: Das problematische »Vaterland«: Patriotismus und Nationalgeist im Verständnis Zimmermanns, Abbts und Friedrich Carl von Mosers
95
KAPITEL III: Mosers Kritik an Reichspatriotismus und Reichsverfassung .
m
V
Vierter Teil IDENTITÄT DURCH GESCHICHTE: DER HISTORISCHE INDIVIDUALISMUS MÖSERS
125
KAPITEL I: Das patriotische Interesse an Geschichte in der bürgerlichen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts
127
KAPITEL II: Ästhetisierung, Individualisierung und Historisierung in Mosers Geschichtsauffassung
143
KAPITEL III: Die »Urstaatstheorie« der »Osnabrückischen Geschichte« als epochaler Entwurf einer nationalen Volksgeschichte und versäumten deutschen Freiheitsgeschichte
159
KAPITEL IV: Naturrechtliche, soziologische und sozialpsychologische Aspekte des Möserschen Frühzeitideals
171
KAPITEL V: Die Verfassung der germanischen Frühzeit als »Kunstwerk« . 201 Fünfter Teil INDIVIDUALITÄT U N D ORIGINALITÄT: DIE »PATRIOTISCHEN PHANTASIEN« ALS ZEIT-, SITTENU N D KULTURBILD DER D E U T S C H E N P R O V I N Z KAPITEL I: Absicht, Themen, Form und Gestaltung
215 217
KAPITEL II: Spiegelungen des Allgemeinen und Nationalen im Besonderen und Provinziellen 249 1. 2.
Mosers Verständnis des Individuellen Nation, Staat und Gesellschaft als Gegenstand von Empirie und Spekulation
249 267
Sechster Teil ASPEKTE EINER N A T I O N A L E N S C H Ö P F U N G S Ä S T H E T I K : MÖSERS AUFFASSUNGEN ÜBER LITERATUR U N D SPRACHE . 293 KAPITEL I: »Harlekin oder Verteidigung des Groteske=Komischen« (1761)
295
KAPITEL II: »Über die deutsche Sprache und Literatur« (1781)
323
Siebter Teil MÖSER U N D G O E T H E
345
KAPITEL I: Forschungsstand und -perspektive
347
KAPITEL II: Goethes Verhältnis zu Moser
353
VI
KAPITEL III: Mosers Bedeutung fur Goethes Werk
373
ι.
Überblick
373
2.
Nation und Geschichte: »Götz von Berlichingen«
378
3.
Nation, Staat und Politik: »Egmont«
392
4.
Nation und Gesellschaft: Goethes Romane
410
Literaturverzeichnis
429
VII
Erster Teil
Einleitung: Forschungsgegenstand und Forschungsperspektiven
Keine Nation gewinnt ein Urteil, als wenn sie über sich selbst urteilen kann. Z u diesem großen Vorteil gelangt sie aber sehr spät. Goethe (1821)
Kapitel I Das Interesse an Moser als »Nationalschriftsteller«
Die vorliegende Studie versteht sich ais Beitrag zum Verständnis der Patriotisierung und Nationalisierung des kulturellen Bewußtseins im 18. Jahrhundert. Ihr Gegenstand ist das Werk des Osnabrücker Staatsmannes und Publizisten Justus Moser. Das literaturwissenschaftliche Interesse an Moser als Nationalschriftsteller ist durchaus nicht selbstverständlich. Denn der 1720 geborene, wissenschaftlich überwiegend von Historikern, Juristen, Nationalökonomen und Pädagogen behandelte Autor ist - ungeachtet der vielzitierten Würdigung seines Werkes durch Goethe - von der Literaturwissenschaft bisher nur marginal zur Kenntnis genommen worden. Auch fur diese Untersuchung bildete das Interesse Goethes an Moser und dem Nationalisierungsaxiom zunächst den Ausgangspunkt. Die begründete Vermutung, daß eine der wichtigsten Entwicklungslinien im Konstituierungsprozeß der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts von Justus Moser zu Goethe führt, wurde zur Arbeitshypothese. Die Geschichte dieses Konstituierungsprozesses ist zugleich eine Geschichte der Auseinandersetzung mit dem Problem der nationalen Identität. Es kann als deutsche Besonderheit aufgefaßt werden, daß im Verlauf dieser Auseinandersetzung die Idee der Nation - im Gegensatz zur Idee des Staates - zunehmend an Bedeutung gewinnt. Sie ist nicht nur Ausdruck einer intensiven, mit dem kulturellen Selbstbewußtsein ständig wachsenden Identitätssuche der literarischen Intelligenz der Zeit, sondern bildet zugleich den Hintergrund der Forderung nach einer neuen Dichtung, die nicht mehr im Bannkreis der Gelehrsamkeit und des Hofes steht. In dieser Dichtung meldet sich eine national definierte Gesellschaft zu Wort, die nach ihren Ursprüngen zu forschen beginnt und die Frage des kulturellen und nationalen Selbstverständnisses in das Zentrum literarischer Reflexion rückt. Damit werden äußerst differenzierte ästhetische und gesellschaftliche Umwertungsprozesse in Gang gesetzt, die zur Ausbildung höchst unterschiedlicher, historisch und kultursoziologisch begründeter Konzeptionen von >Nationalliteratur< fuhren und am Ende des Jahrhunderts in den Begriffen »Klassik« und »Romantik« kulminieren. A u f Gestaltung und Verlauf dieses - etwa ab 1750 zu datierenden - Prozesses hat das Werk Justus Mosers - neben demjenigen Winckelmanns, Klopstocks und Herders - maßgeblichen Einfluß genommen. U m über die konstituierenden Faktoren des von Moser propagierten Nationalbildungskonzeptes Aufschluß zu
3
gewinnen, m u ß eine Reihe von Basisfragen mitbedacht werden, die zugleich den Untersuchungsrahmen dieser literatur- und mentalitätsgeschichtlich orientierten Analyse markieren: ι.
W i e läßt sich das verstärkte Eindringen patriotischer und nationaler Elemente
2.
W i e findet die deutsche Literatur ihre eigenen, nicht gesamteuropäischen
in die Literatur und Literaturdiskussion des 18. Jahrhunderts erklären? T h e m e n , d.h. welche Orientierungen werden für W a h l und Gestaltung dieser T h e m e n maßgeblich? 3.
Welche intellektuellen und mentalen Veränderungen zeichnen sich im Verlauf dieses literarischen
Individualisierungsprozesses
ab, welche
Selbst-
und
Fremdbilder entstehen bzw. werden fortgeschrieben? 4.
Welche soziokulturellen Vorstellungen verbinden sich mit der Forderung nach einer »nationalen« Literatur, d.h. welche ästhetischen und sozialen Implikationen hat sie, welches sind ihre Trägerschichten bzw. auf welches Staats- u n d Gesellschaftsverständnis zielt sie?
5.
Welcher Z u s a m m e n h a n g besteht zwischen der literarischen Orientierung an nationalen Gesichtspunkten im 18. Jahrhundert und der gesellschaftlichen Entwicklung, die in der bis heute andauernden Kontroverse u m den »deutschen Sonderweg« als eine problematische Ausnahmeentwicklung erscheint? 1 ' Vgl. dazu besonders: Helmuth Plessner. Die verspätete Nation. Über die politische Verfiihrbarkeit bürgerlichen Geistes. Stuttgart 1974; Hans-Ulrich Wehler, Deutscher Sonderweg oder allgemeine Probleme des westlichen Kapitalismus. In: Merkur 396, Mai 1981, S. 478 ff.; Heinrich August Winkler, Der deutsche Sonderweg. Eine Nachlese. In: Merkur 399, August 1981, S. 793 ff.; Dieter Langewiesche, Entmythologisierung des deutschen Sonderweges oder auf dem Weg zu neuen Mythen? In: Archiv fur Sozialgeschichte, Bd. 21, Bonn 1981, S. 527 ff. Bemerkenswert ist, daß in dieser Diskussion die Frage der nationalen Identität bis heute ein ungelöstes Problem geblieben ist. Ihre Bearbeitung ist nach dem Zweiten Weltkrieg aufgrund der Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus lange Zeit behindert worden. Erst sehr spät hat sich die Forschung wieder an das T h e m a gewagt. Interessanterweise ist gerade in neueren Arbeiten der Geschichts- und Politikwissenschaft ein Diskussionsprozeß in G a n g gekommen, der die Problematik unter den unterschiedlichsten Aspekten zur Sprache bringt. Vgl.: Iring Fetscher, Die Suche nach der nationalen Identität. In: Jürgen Habermas (Hrsg.), Stichworte zur »geistigen Situation der Zeit«, Bd. 1, Frankfurt/M. 1979, S. 115 ff; Gordon A. Craig, Über die Deutschen, München 1982; Peter Coulmas, Politische Kultur der Deutschen. In: Merkur 8.1983, S. 941 ff; Karl Korn, Wider die »neobrussische Legende«. In: Merkur 8. 1983, S. 937 ff.; Johannes Willms, Nationalismus ohne Nation. Deutsche Geschichte 1789-1914. Düsseldorf 1983.; Peter Steinbach, Die Deutschen. Gedanken zur politischen Kultur und historisch geprägten Identität der deutschen Nation. In: Politische Vierteljahresschrift: - Literatur 2/1983, S. 123 fr.; Klaus Hornung, Nation, Nationalismus, Nationalstaat. In: Wolfgang W. Mickel (Hrsg.), Handlexikon zur Politikwissenschaft, München 1983, S. 305 ff.; Werner Weidenfeld (Hrsg.). Die Identität der Deutschen. Fragen, Positionen, Perspektiven. München, Wien 1983; Klaus Weigelt (Hrsg.). Heimat und Nation. Z u r Geschichte und Identität der Deutschen. Mainz 1984.
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Diese Fragen sind gerade im Hinblick auf das Faktum der verspäteten Anerkennung deutscher Kunst und Kultur in Westeuropa von besonderer Relevanz. Gewinnt doch bekanntlich die deutsche Literatur erst dann an nationaler und europäischer Geltung, als sie sich ihrer individuellen nationalen Voraussetzungen bewußt wird und diese literarisch zu verarbeiten beginnt. Erst in dem Augenblick, in dem sie nationale Aufgabenstellungen formuliert und die Beziehung zwischen nationaler Literaturtradition und weltliterarischer Entwicklung reflektiert, wird sie auch fur andere Nationalliteraturen interessant und zum Korrespondenzpartner. Das heißt, der Prozeß der kulturellen und literarischen Selbstwahrnehmung und -darstellung ist aufs engste verknüpft mit der Entwicklung eines Bewußtseins für das Zusammen- und Widerspiel der europäischen Einzelliteraturen. Besinnung auf das national Eigene, wie sie sich ab 1750 bei vielen deutschen Schriftstellern nachweisen läßt, heißt aber zuallererst: Auseinandersetzung mit dem politischen und kulturellen Partikularismus. Man hat sich damit abzufinden, daß in Deutschland die modernen, zentralen Kulturinstitutionen der westlichen Nachbarn fehlen. In der literarischen Diskussion artikuliert sich dieser Mangel zunächst als »Leiden an Deutschland«. Die Klage über die fehlende Hauptstadt, das nicht vorhandene Nationaltheater, ein ungebildetes, unkritisches Publikum, die Unterschiedlichkeit der rechtlichen und politischen Verhältnisse, die soziale Situation der Schriftsteller, das Desinteresse fürstlicher Mäzene an deutscher Literatur und die Klage über deutsche Rückständigkeit überhaupt Die Literaturwissenschaft hat es dagegen bisher weitgehend versäumt, dieses Thema zu bearbeiten, obwohl gerade sie einen wesentlichen Beitrag dazu leisten könnte und sollte. Einmal aufgrund des größtenteils noch unerschlossenen, reichhaltigen Quellenmaterials, zum anderen nicht zuletzt gerade auch deshalb, weil ihr primärer Gegenstand, die Sprache - wie Gottfried Benn in seinem Essay »Probleme der Lyrik« kritisch darlegt - im Gegensatz zu allen anderen künstlerischen Ausdrucksformen »national verwurzelt« ist. Vgl.: ders., Probleme der Lyrik. In: Essays, Reden, Vorträge. Hrsg.: Dieter Wellershoff. Wiesbaden u. München 1977, S. 510. Erste Erträge neuerer literaturwissenschaftlicher Auseinandersetzung mit den oben bezeichneten Fragestellungen bieten die Bände: Nation und Gelehrtenrepublik. Lessing im europäischen Zusammenhang. Hrsg. v. Wilfried Barner und Albert M. Reh. München 1984; Conrad Wiedemann (Hrsg.). Rom, Paris, London. Erfahrung und Selbsterfahrung deutscher Schriftsteller und Künstler in den fremden Metropolen. Ein Symposion. Stuttgart 1988; Deutsche Literatur in der Weltliteratur. Kulturnation statt politische Nation? Hrsg. v. Franz Norbert Mennemeier u. Conrad Wiedemann. Tübingen 1986 (= Akten des VII. Internationalen Germanistenkongresses, Bd. 9, hrsg. v. Albrecht Schöne, Göttingen 1985); Peter Boerner (Hrsg.). Concepts of national identity. An interdisciplinary dialogue. Interdisziplinäre Betrachtungen zur Frage der nationalen Identität. Baden-Baden 1986; Irmtraud Sahmland. Christoph Martin Wieland und die deutsche Nation - Zwischen Patriotismus, Kosmopolitismus und Griechentum (Studien zur deutschen Literatur. Hrsg. v. Wilfried Barner, Richard Brinkmann, Conrad Wiedemann). Tübingen 1990. Vgl. auch den Aufsatz von Conrad Wiedemann. Deutsche Klassik und nationale Identität. Erscheint demnächst in: Klassik im europäischen Vergleich. Hrsg. v. Wilhelm Voßkamp. Stuttgart 1991
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finden
sich i m Repertoire fast aller Autoren - auch M o s e r bildet in seinen
schriftstellerischen A n f ä n g e n darin keine A u s n a h m e - , die nach 1750 schreiben. D i e Übertragung eines unglücklichen Gegenwartsbewußtseins auf den Problemkreis des Nationalen fuhrt bei einer ganzen Reihe von bedeutenden Dichtern der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bekanntlich zu Argumentationsmustern, in denen die Versöhnung mit der deutschen Realität nur über den U m w e g der geschichtsphilosophischen Reflexion möglich scheint. Das Bewußtsein einer kulturellen Rückständigkeit u n d das daraus resultierende nationale Inferioritätsgefiihl werden durch einen geschichtsphilosophisch legitimierten
Kulturoptimismus
kompensiert. Hölderlins späte, vaterlandsbegeisterte Lyrik, Schillers Gedichtfragment »Deutsche Größe« u n d Novalis' universalistisch-utopischer T r a u m v o n der Wiedererstehung eines goldenen Zeitalters aus dem religiösen Geist des Mittelalters unter deutscher Regie sind - ebenso wie Friedrich Schlegels G l a u b e an eine aus d e m Geist der Antike abgeleitete deutsche Führungsrolle in Wissenschaft u n d Kunst - beredte Zeugnisse fiir die Innovationskraft, aber auch fiir die Problematik des hier zum Ausdruck gebrachten nationalen Selbstverständnisses. N e b e n d e m Einfluß der Ideen Kants sind vor allem die patriotische B e w e g u n g unter den Pietisten sowie die Volks- und Ursprungsideologie Herders v o n nicht zu unterschätzender Bedeutung f ü r die Herausbildung dieses nationalen Sendungsbewußtseins u n d den Z u g zum Kulturimperialismus in der deutschen Geschiditsphilosophie gewesen. 2 H i n z u k o m m t die Bewertung der Folgeereignisse der Französischen R e volution. D i e deutsche Intelligenz glaubte sich zu den auf die kulturelle Führungsrolle der deutschen Nation gerichteten H o f f n u n g e n gerade deshalb berechtigt, weil der von vielen zunächst begeistert begrüßte, neue Gesellschaftsentwurf ausgerechnet in dem Land, das zuerst zum kulturellen Leit-, dann zum G e g e n b i l d geworden war, in ihren A u g e n als gescheitert betrachtet werden mußte. G e g e n ü b e r diesen kulturoptimistischen Visionen, die nicht frei von nationaler Selbstüberhebung sind u n d deshalb im 19. und 20. Jahrhundert v o n den Identifikationsanforderungen eines verspäteten, forcierten Nationalismus mühelos aufgesogen werden konnten 3 - wobei bekanntlich auf dem Wege nationaler Selbstbestätigung und Mythisierung das Element des Patriotischen in dieser Literatur einseitig u n d vielfach verfälschend dargestellt wurde - müssen Positionen, die wie z.B. diejenige Goethes eine entschiedene N e i g u n g zur nationalen Pragmatik u n d Selbstbescheidung erkennen lassen, besondere Aufmerksamkeit erregen. D i e Frage nach den Wurzeln seines nationalen Selbstverständnisses, das v o m realistischen Blick auf die deutschen Verhältnisse geprägt ist und auf eine 2
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Vgl. dazu vor allem die grundlegende Studie von Aira Kemilainen. Auffassungen über die Sendung des deutschen Volkes um die Wende des 18. und 19. Jahrhunderts. Helsinki 1956 Vgl. dazu besonders: Rudolf Vierhaus. »Patriotismus« - Begriff und Realität einer moralisch-politischen Haltung. In: ders. (Hrsg.) Wolfenbütt'eler Forschungen. Bd. 8. München 1980, S. 9 ff.
Mäßigung des Traumas deutscher Kulturunterlegenheit hinarbeitet, was den Verzicht auf geschichtsphilosophische Spekulationen und die bewußte Annahme und literarische Bewältigung der politischen und kulturellen Verhältnisse zur Voraussetzung hat, führt zu Justus Moser. Von seinem Nationalbildungskonzept - dies sei vorweg angemerkt - fuhrt kein Weg zu jenem oben angesprochenen, problematischen Riß zwischen Nation und Staat, wie er sich in den Werken Schillers und Hölderlins, aber auch in den Schriften der Romantiker abzeichnet. Ebensowenig finden sich in seinem Werk Ansätze eines kulturhegemonialen Denkens. Mosers Patriotismus unterscheidet sich von dem letztlich ins politisch Unbestimmte gerichteten Vaterlandsappell der pietistisch-religiös motivierten patriotischen Bewegung um Klopstock, und er versagt sich auch jeden kulturellen Fluchtweg, etwa in eine idealisierte Natur oder mythisch verklärte Antike. Als Folge seiner Montesquieu-Rezeption, mit der die Phase seines Suchens nach nationalen Individualitätskriterien ihren vorläufigen Endpunkt findet, entwickelt Moser ein Konzept nationalen Selbstverständnisses, nach dem jede Nation auf diejenige Verfassung und Kultur Anspruch hat, die am besten ihrer historischen, ethnischen und geographischen Eigenart entspricht. Für Deutschland bedeutet das ein entschiedenes Votum fur den politischen Status des Partikularismus und den kulturellen der Provinzialität. Und es hat schließlich die fast programmatische Hinwendung zum »kleinen Schauplatz«, in diesem Fall die Begrenzung des Blicks auf die Provinz Osnabrück zur Konsequenz. Das macht Moser nun keineswegs - ein Mißverständnis nicht nur der älteren Forschung - zu einem »provinziellen Denker«, geschweige denn zu einer provinziellen Figur. Im Gegenteil: In den sechziger Jahren beginnt er eine »Osnabrückische Geschichte« zu schreiben, die den Anspruch erhebt, nach Montesquieuschem Muster vorbehaltlos auf die Eigenart der deutschen Verhältnisse einzugehen und damit den elementaren Baustein einer als Entwicklungsgeschichte verstandenen deutschen Nationalgeschichte zu bilden. Und er verfaßt eine auf Osnabrück bezogene journalistische Artikelserie, die er - von Goethe dazu ermuntert - dem deutschen Publikum unter dem Titel »Patriotische Phantasien« in Buchform präsentiert. Die Untersuchung wird in beiden Werken Mosers unverminderte Aufgeschlossenheit für westeuropäisches Aufklärungsdenken und seine fortwährende Orientierung an universellen Gesichtspunkten nachweisen, und zwar eine Orientierung in empirischer und komparatistischer Absicht. Moser läßt hier keinen Zweifel daran, daß die vielbeklagte »Misere« der deutschen Verhältnisse nicht in der politischen Verfassung der Nation, sondern in der falschen Ausrichtung an fremden, scheinbar vollkommeneren Staats- und Kulturmodellen begründet ist. Die Gewinnung eines nationalen Selbstverständnisses, das das Fehlen eines einheitlichen Nationalstaates vom Stigma der Rückständigkeit befreit und das Trauma einer prinzipiellen Unterlegenheit gegenüber den westlichen Nachbarn gegenstandslos werden läßt, ist fur ihn nur über die Akzeptanz eines deutschen Eigenweges möglich. Diesem Selbstverständnis entsprechend bestimmt die Aus-
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einandersetzung mit dem Originalen, Besonderen und Unverwechselbaren bis in den Darstellungsstil hinein fast leitmotivisch Mosers Werk und verbindet sich mit einer Relativierung und Kritik normativen Aufklärungsdenkens. Die durch Moser repräsentierte Tradition nationalen Selbstverständnisses im 18. Jahrhundert verdient nicht nur deshalb Beachtung, weil sie zu der als Charakteristikum der deutschen Entwicklung vielfach berufenen und für die »Misere« des deutschen Nationalismus verantwortlich erklärten Trennung von Staat und Nation entscheidende Alternativen aufweist, sondern muß vor allem auch aufgrund des hier favorisierten Kulturmodelles interessieren: Durch eine Geschichts- und Gesellschaftsauffassung, die die Vielfalt individuell errungener und verantworteter Geistesfreiheit aus der durch die historische Entwicklung bedingten staatlichen Konstitution der Nation herleitet und sie als unverwechselbares Signum kultureller Eigenart definiert, wird das »Leiden« an den deutschen Verhältnissen gegenstandslos. Eine Untersuchung, die Moser diese bisher nicht gesehene Bedeutung im Konstituierungsprozeß der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts einräumen möchte, kann sich der Verpflichtung einer grundlegenden Auseinandersetzung mit dem vielschichtigen Werk dieses Autors ebensowenig entziehen wie der Frage nach seiner Rezeptionsgeschichte. Die Analyse wird zeigen, daß an dem von der überwiegend lokal oder fachspezifisch orientierten Möserforschung erstellten Möserbild entscheidende Korrekturen vorzunehmen sind. Bereits an den behandelten Schriften vor 1760 kann nachgewiesen werden, daß Mosers Hinwendung zum nationalen Denken und dessen spezifische Ausrichtung weder primär durch die beruflich und familiär bedingte Festlegung auf die Lebenswelt des Kleinstaates bestimmt sind noch in diesem engen Rahmen ihre Grenzen finden. Moser erweist sich im Gegenteil als ein Autor, dessen Schriften kulturelle und politische Fragen aufwerfen, denen gesamtnationale Bedeutung zukommt. Seine aus diesen frühen Ansätzen nationaler Orientierung sich sukzessive herausbildende Geschichtskonzeption ist nicht nur im Hinblick auf die historische Methode von Bedeutung, sondern auch als Identifikationsangebot an die literarische Intelligenz der Zeit interessant. Die vielfältigen Implikationen dieses Geschichtsverständnisses verweisen auf Mosers Absicht, der deutschen Kultur in der politischen Realität des umstrittenen »Reiches« ein sicheres Fundament zu geben. War in der Möserforschung - die im folgenden Kapitel im Überblick dargestellt wird - bisher der Eindruck vorherrschend, daß der in seinem Werk um 1750 sich deutlich abzeichnende Wandel von einer universalistischen zur nationalen und schließlich provinziellen Perspektive einer zunehmenden Verengung des Gesichtspunktes gleichkomme, so zeichnet sich in der vorliegenden Untersuchung aufgrund des übergreifenden methodischen Ansatzes eine völlig gegenläufige Tendenz ab. Je intensiver Moser mit der nationalen Frage befaßt ist und je enger er sie an provinzielle Inhalte bindet, desto universaler und komplexer gestaltet sich der Horizont ihrer Reflexion. Moser nimmt nicht nur Anteil an der 8
Nationalgeist-Diskussion der 6oer Jahre, er rezipiert in ihrem Kontext auch die fortschrittlichsten philosophischen Gedanken seiner Epoche und sucht sie in sein historisches Konzept der Nation zu integrieren. Sein kultur- und bildungspolitisches Interesse ist dabei von Anfang an auf Westeuropa fixiert und spiegelt das Bewußtsein der im Mangel einer Hauptstadt vielfach beklagten kulturellen und sozialen Ortslosigkeit der literarischen Intelligenz in Deutschland. Mit literarischem und ästhetischem Anspruch sucht Moser nach Möglichkeiten der nationalen Selbstvergewisserung und Selbstaufwertung angesichts des insbesondere von der französischen Literatur ausgehenden kulturellen Überlegenheitsanspruches. Dabei stellt sich ihm die Frage nach der nationalen Identität schon um 1750 als eine universale Kulturfrage, auf die nur unter Einbeziehung des historischpolitischen Kontextes eine Antwort gefunden werden kann. Dies zwingt ihn bereits früh zur Auseinandersetzung mit der Rolle der Individuation in der historischen Entwicklung und führt zu einer Identitätskonzeption, die in einer spezifischen Individualitätsvorstellung ihre Voraussetzung hat. Von der griechischen Kultur über das Mittelalter bis weit in die frühe Neuzeit hinein läßt sich zeigen, daß »Individualität« - sobald sie als Spätprodukt gewisser Entwicklungen im Bewußtsein eines Weltbildes auftaucht - keineswegs als auszeichnende Eigenschaft, sondern vielmehr als etwas Negatives, »Nicht-sein-Sollendes« erscheint.4 Die Genese einer positiven Bewertung des Individuellen wird demgegenüber gemeinhin in der Romantik angesetzt - wobei ihre Vorgeschichte (Rousseau und die Folgen) freilich häufig nicht genügend in den Blick kommt - , weil hier eine entscheidende Rehabilitation und Neudefinition des Individualitätsbegriffes erfolgt. Sein wesentliches Merkmal besteht nun darin, daß Individuelles im Allgemeinen nicht mehr bruchlos aufgeht, daß es - im Unterschied zum Besonderen - etwas bezeichnet, das vom Begriff des Ganzen aus niemals in einer logischen Kette von Ableitungen zu erreichen ist. Das Allgemeine wird ab jetzt zum »individuell gedeuteten Allgemeinen; sein universeller Anspruch bricht sich an der Unvordenklichkeit individueller Sinngebung«5. Ohne die Bedeutung der Romantik und ihres geistesgeschiditlichen Umfeldes als »Schwellenzeit« im Verständnis von Individualität in Abrede stellen zu wollen, habe ich unerkannte Anfänge eines in diesem Sinne »modernen« Individualitätsverständnisses in Mosers Werk nachweisen können - und zwar in seiner Geschichtsschreibung, seiner Charakterisierungstechnik und in seinen literaturtheoretischen Schrifien. In Mosers Geschichtsschreibung werden geschichtliche Formationen und Entwicklungen von Individualitäten geprägt, die ihrer inneren eigentümlichen Natur 4
5
Vgl. dazu die Beiträge in dem Band »Individualität«. Hrsg. v. Manfred Frank und Anselm Haverkamp (Reihe Poetik und Hermeneutik, Bd. XIII). München 1988, hier: Manfred Frank. Fragmente der Schlußdiskussion. Einleitung, S. 611 ff. Manfred Frank / Anselm Haverkamp. »Ende des Individuums - Anfang des Individuums?« In: Individualität, S. X I V
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ein äußeres Dasein verschaffen. Das zeigt sich am Einzelnen und der Nation. Ein wichtiger Ansatzpunkt der Gestaltung des Individuellen ist das historiographische Verfahren 6 , das von den aufeinanderfolgenden Begebenheiten zu der auseinanderfolgenden Einheit einer Handlung vordringt. Minutiöse Handlungsverknüpfung aber heißt, die Begebenheiten in einen Ursache-Wirkung-Zusammenhang zu bringen, ihre Entwicklung werdend zu erfassen, und das heißt, sie zu individualisieren. Der Entwicklungsaspekt impliziert nun ohne Frage auch die Vorstellung, daß die Identität, in deren Rahmen sich ein Individuum jeweils hält, geschichtlich und veränderlich ist, also nicht letztgültig sein kann. Von da aus aber ist nur mehr ein Schritt zu jenem modernen durch »Nicht-Identität« charakterisierten Individualitätsbegriff, zu einer Individualität als freiem Entwurf von Möglichkeiten, ohne vorherbestimmtes Wesen. Mosers Charakterisierungstedmik beruht bereits weitgehend auf der Preisgabe des Postulats objektiver Vollkommenheit zugunsten eines Individuums, das den Anspruch erheben darf, auch in seiner unvollkommenen Subjektivität wahr, einzigartig und im Ausdruck seiner selbst vollkommen zu sein 7 , eines Individuums, dessen Charakter nicht länger als Bestimmung seiner Natur, sondern als Bestimmung seiner Geschichte, sich selbst zum singularen Charakter zu bilden begriffen wird. Moser überwindet damit in Ansätzen jene von Theophrast begründete und von La Bruyère weiterentwickelte, auf Typisierung zielende Charakterisierung, die das Besondere in den Charakteren selbst wieder nur als partikulares Allgemeines zu bestimmen suchte. Indem er bestrebt ist, den einzelnen - anders als die Moralisten - nicht länger nach den allgemeinen Merkmalen seiner Besonderheit, sondern in den unvergleichlichen Zügen seiner Eigenart zu erfassen, hört er notwendigerweise zugleich auf Moralist zu sein. Es zeigt sich freilich auch, daß bei Moser individuelle Eigentümlichkeit und soziale Bedingtheit noch keinen Gegensatz bilden. Er spricht auch und gerade kollektiven Entitäten Individualität zu und favorisiert eine Individualitätsauffassung, die das Individuum freisetzt durch die Buntheit der Lebenswirklichkeit und zugleich einbindet in einen geselligen Lebenszusammenhang. 8 Das heißt, einerseits wird zwar noch die Entfaltung der Individualität zur sozialen Identität als gelungene
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Moser entwickelt hier bereits Individualitätskriterien, die im Werk Humboldts eine Erweiterung und Vertiefung erfahren. Zu Humboldts Geschichtsauffassung vgl. Hilmar Kallweit. Szenerien der Individualisierung. In: Individualität, S. 398 ff. Gemeinhin wird die Preisgabe des Postulates objektiver Vollkommenheit mit dem Entstehen der Genieästhetik in Zusammenhang gebracht. Vgl. Hans Robert Jauss. Vom plurale tantum der Charaktere zum singulare tantum des Individuums. In: Individualität, S. 260 Insofern er mit seinem Eintreten fur »Buntheit« zugleich fiir politische Gewaltenteilung votiert, gehört ohne Zweifel auch Moser in jene philosophische Tradition der Skepsis, die Odo Marquard in einem jüngst erschienenen Aufsatz skizziert hat. Vgl. ders. Sola divisione individuum. Betrachtungen über Individuum und Gewaltenteilung. In: Individualität, S. 21-35
Selbstfindung und Einfügung in die Gesellschaft befürwortet, indem aber Individuelles bereits einen positiven Wert an sich darstellt und nicht mehr als Schuld gegenüber einer Norm erfahren wird, ist andererseits jene Ö f f n u n g zur unendlichen Bewegung, die alle individuellen Möglichkeiten bis zum letzten ausspielt, prinzipiell schon angelegt. Dieser schrittweise Ubergang zu einem Individualitätsbegriff, der schöpferisch auf Neues zielt, läßt sich auch in Mosers literaturtheoretischen Schrifien exemplarisch verdeutlichen. So wird bereits in der Harlekin-Schrift, die in vielerlei Hinsicht noch ganz auf dem Boden des Klassizismus zu stehen scheint, der Einsicht Raum gegeben, daß Stil und Ausdruck je nach Individualität des Künstlers differieren und folglich nicht an allgemeinen Stilprinzipien gemessen werden können. Und in der 20 Jahre später verfaßten Erwiderungsschrift auf Friedrich II. Traktat über deutsche Sprache und Literatur wird die Literatur der jüngeren Generation - insbesondere Goethes »Götz« - in diesem Sinne verteidigt. Moser bricht hier für die schöpferische Individualität des Genies, das seinerseits der Individualität seiner Nation zum Ausdruck verhilft, eine Lanze. Die damit verbundene Zurückweisung der Konzeption des französischen Klassizismus als Vorbild und Orientierungsmaßstab für die deutsche Kultur hat wiederum ihre entscheidende Voraussetzung in seiner spezifischen Geschichtskonzeption. Schon in den frühen Schriften läßt sich nachweisen, daß Moser in seinem Bemühen, die deutsche Kultur vom Stigma der »Barbarei« zu befreien - so entschieden er sich dabei auch auf vergangene Epochen bezieht - , nicht der Versuchung erliegt, für die angestrebte nationale Selbstaufwertung Formen der Annäherung an Vergangenheit zu entwickeln, die einer emotionalen Kompensation Vorschub leisten könnten. Gerade die Widersprüche, in die er sich bei seinen
kulturellen
Rehabilitationsversuchen
zunächst verwickelt,
sind
ein
Zeugnis für seine Suche nach einer Möglichkeit, den erhobenen Anspruch auf das »Eigene« methodisch wirkungsvoll zu begründen. Der Verzicht auf nationale Heldenverehrung und die Enthaltung jeglichen Vaterlandsappells bei der Bearbeitung des Arminius-StofFes signalisieren bereits jene realistisch-pragmatische Annäherung an eine nationale Identität, die in seinem Geschichtswerk dann deutlich zutage tritt. Moser versucht der Konzeption einer Nationalgeschichte Geltung zu verschaffen, die weder auf eine Helden- noch auf eine Ereignisgeschichte zielt. Durch ihren zentralen Bezugspunkt, das freie Landeigentum, wird die Aufmerksamkeit auf wirtschaftliche, soziale und politische Faktoren konzentriert, die eine emotionale Identifikation von vorneherein ausschließen. Dennoch glaubt Moser an die identitätsstiftende Kraft dieses Bezugspunktes, weil durch ihn die Frage der »Einheit« der Nation auf verschiedenen Ebenen eine ganz neue Dimension erhält. Das betrifft zunächst die Vorstellung von der Einheit des Nationalcharakters. In der Gegenwart ist er angesichts des Dilemmas der politischen und kulturellen Zerrissenheit fiir Moser nicht mehr erkennbar, doch auch in der Geschichte kann er nur entdeckt werden, wenn sich
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die Geschichtsschreibung vom höfischen Schauplatz abwendet. Diese Gewähr bietet der neue Blickwinkel insofern, als er einen Schlüssel für die Erschließung völlig anderer Bereiche nationaler Bindungen an die Hand gibt. Indem das bäuerlich-bürgerliche Milieu als historischer Ort des Individuellen und Besonderen erscheint, wird es auf eine bis dahin nicht vorstellbare Weise ins Zentrum des nationalen Interesses gerückt, während gleichermaßen das höfische Leben an Bedeutung verliert. Ebenso bedeutungslos wird die Frage nach der politischen Einheit des Reiches im Hinblick auf die Fürstenpolitik. Sie gewinnt indes an Bedeutung im Zusammenhang ökonomischer Entwicklungsperspektiven, die mit der veränderten Vorstellung vom historischen Untersuchungsobjekt in den Blick gerückt werden. Eine weitere Dimension nationaler Identitätsbestimmung steckt in der Möglichkeit, den Blick auf das Eigenartige der Völker zu lenken und dabei in unterscheidender Absicht das national Eigene historisch zu ermitteln und bis hin zur Gegenwart zu verfolgen. Angesichts der verwandtschaftlichen Beziehungen und dynastischen Verflechtungen der europäischen Fürstenhäuser hätte sich in einer höfisch orientierten Geschichtsschreibung ein derartiger Ansatz von selbst verboten. Wird hingegen die bürgerliche Nation zum Subjekt der Geschichte erklärt und damit sozusagen die »Ständeklausel« auch im Bereich der Geschichtsschreibung aufgehoben, ändert sich das Bild in jeder Hinsicht. Nationsbildungsprozesse werden in ihren kollektiven und politisch-sozialen Strukturen erkennbar und voneinander unterscheidbar. Von hier aus spannt sich bei Moser dann der Bogen von der politisch-sozialen zur geistigen Kultur. Der über alle historischen Epochen hinweg mit sich selbst identisch bleibende Gegenstand seiner Geschichtsschreibung eröffnet nicht nur inhaltlich, sondern auch ästhetisch eine neue Dimension von Einheit: die Einheit in der Mannigfaltigkeit. Sie wird möglich durch die Einheit der Darstellung; eine Darstellung, die im Besonderen - der Geschichte des ursprünglich freien Landeigentums - das Allgemeine - die Geschichte der Nation - spiegelt. Wie die Untersuchung zeigen wird, orientiert sich der von Moser erhobene ästhetische Anspruch an Geschichtsschreibung am Epos, verfolgt er das ehrgeizige Ziel, einer Nationalgeschichtsschreibung den Weg zu bahnen, die ein modernes Nationalepos werden und damit Wesentliches zur Uberwindung des durch die Romaniafixierung ausgelösten Inferioritätskomplexes der Deutschen beitragen könnte. Moser appelliert in diesem Sinne, ohne den Wissenschaftsanspruch aufzugeben, an die dichterische Einbildungskraft des Historikers und - was aufgrund der von ihm selbst immer wieder hervorgehobenen Theoriefeindlichkeit häufig übersehen wurde - wagt Konstruktionen und Hypothesen, die ihn durchaus als Geschichtsphilosophen in der Tradition naturrechtlichen Denkens erkennen lassen. Dabei ist nicht zu übersehen, daß Mosers Urstaatstheorie und die mit negativen Vorzeichen versehene Darstellung der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft zwar unverkennbar unter dem Einfluß von Rousseaus Zivilisations12
kritik stehen, daß es ihm jedoch - anders als Rousseau - nicht um die Möglichkeit einer Selbstverwirklichung des Menschen angesichts seines fortschreitenden Entfremdungsprozesses von der Natur, sondern ganz konkret um die Erziehung eines selbstbewußten Staatsbürgers im Rahmen seiner nationalen und gesellschaftlichen Determination geht. Er relativiert deshalb unter Anwendung der von Montesquieu entwickelten empirisch-soziologischen Verfahren die Naturrechtslehre und deutet sie im Sinne seiner Individualismusvorstellungen um, konstruiert den Gesellschaftsvertrag also nicht nach dem Prinzip der Gleichheit auf der Grundlage eines allgemeinen Menschenrechtes, sondern als die spezifische Vereinbarung zwischen Adeerbauern auf der Basis ihres Eigentums. Dabei wird zugleich der von Rousseau mit dem Frühzeitideal reklamierte Freiheitsanspruch historisch lokalisiert und politisch konkretisiert. Dieser Konkretisierung entspricht ein mit der Anerkennung historischer Entwicklungen und historischen Wandels verbundener Realismus. Obwohl die von den Werten Eigentum, Freiheit und Ehre determinierte, als »Ideal« aufgefaßte Sozietät der deutschen Frühgeschichte im Sinne eines zeitenüberdauernden Orientierungsmaßstabes in Mosers Bild der Nation immer gegenwärtig bleibt, gelangt dieser über seine historische und nationale Selbstanalyse schließlich zur Akzeptanz des Territorialismus als einem entwicklungsgeschichtlich zwangsläufigen Ergebnis der permanenten Auseinandersetzung zwischen den rivalisierenden, die deutsche Geschichte bewegenden Kräften. Indem aber das Bewußtsein sowohl vom Substanzverlust, den der angenommene ehemalige Nationalgeist der Deutschen im Verlauf dieses Prozesses erlitten hat, als auch von der Möglichkeit seiner Reaktivierung unter veränderten historischen Bedingungen und in veränderter Gestalt jederzeit wachgehalten wird, wohnt dieser Akzeptanz von Anfang an ein Moment der Beunruhigung inne, das Entwicklungen in die Zukunft hinein offen läßt. Die Analyse wird zeigen, daß Mosers Rückblick auf die Geschichte der Nation zwar nicht das Gesamtkonzept einer neuen Gesellschaft im progressiven Sinne in sich birgt, daß er aber durchaus einen Reformwillen erkennen läßt, der über das Zustandekommen eines sich auf breiter föderativer Basis konstituierenden politischen Gestaltungswillens nach Realisierung strebt. Daß Moser in diesem politischen Gestaltungswillen nicht nur ein unverwechselbares Merkmal des deutschen Nationalgeistes, sondern auch die substantielle Grundlage der nationalen Kultur erkennt, hat zur Folge, daß er die Identitätsfrage integral anstatt dualistisch anzugehen vermag. Dies ist in der Diskussion um den grundlegenden Unterschied zwischen westeuropäischem und deutschem Nationsverständnis, der in den Gegensatzbegriffen »Staatsnation« und »Kulturnation« seine schärfste Umgrenzung fand, bisher zu wenig berücksichtigt worden. Mosers selbstbewußter Annäherung an die nationale Identität zufolge rückt die Verfassung als Ausdruck einer nationalen, ja lokalen Selbständigkeit in den Mittelpunkt des Interesses, indem sie als Zustand aktiver - wenn auch nicht gleicher - politischer Teilhabe des Bürgers am Gemeinwesen 13
aufgefaßt wird, einer Teilhabe, deren Handlungsmaßstäbe aus der Geschichte, nicht aus der deduktiv gewonnenen Norm entwickelt werden. Nur im Kontext dieses Willens zur politischen Teilhabe ist fur Moser die Entwicklung der nationalen Kultur vorstellbar, während ihm alle von dieser Ausgangsbasis abstrahierenden, ausschließlich kulturellen Entwürfe nationaler Selbstfindung fremd bleiben. Dies kann anhand seiner Zurückweisung der pietistisch-religiös motivierten Vaterlandsbegeisterung und Bardenromantik ebenso aufgezeigt werden wie anhand seiner Verweigerung gegenüber der Faszinationskralt des Griechenparadigmas. Denn so maßgeblich der Einfluß Winckelmanns Mosers Suche nach einer Geschichte von Ideen hinter der Oberflächengeschichte von Ereignissen auch bestimmt und so sehr er sich auch, durch Winckelmann angeregt, selbst der Tatsache bewußt ist, in seiner Geschichtskonzeption eine Konstruktion nach einer »idealen« Linie vorgenommen zu haben: als kulturell verpflichtende Orientierungsnorm für die Deutschen kann das Griechenparadigma seinen Beifall nicht finden. Moser versucht im Gegenteil durch die Entgegensetzung seines Germanenparadigmas dessen Wirkung zu schwächen, indem er die Verfassung der alten Deutschen als »Kunstwerk« versteht und sie als Kulturleistung sogar höher bewertet als die griechische Kunst. Daß der nationalen Frühgeschichte der Deutschen so lange das Stigma der Barbarei anhaften konnte, ist fur Moser nur die Folge eines universalen Kunstbegriffes, den es national zu relativieren gilt. Der künstlerische Ausdruckswillen einer Nation ist seiner Ansicht nach, wie alle ihre Lebensformen, von einer Vielzahl individueller Faktoren abhängig und suchte sich demgemäß in Griechenland andere Ausdrucksformen als im Norden. Aus dieser individualistischen Geschichtsauffassung leitet Moser ab, daß die Natur jeder Nation einen durchaus eigenen Weg zur kulturellen Größe vorgeschrieben hat, von dem sie nicht abweichen kann. Diesen Weg beschreibt er für die deutsche Kultur als einen Weg in den Partikularismus, womit, wie er in seinen publizistischen Essays und literaturkritischen Abhandlungen anhand vieler Beispiele vorführt, die Annahme der politischen und kulturellen Verfassung zur Bedingung und ihre produktive literarische Umsetzung in eine Mannigfaltigkeit der Formen und Gestalten zwingend wird. Seine Identitätsformel heißt dementsprechend »Einheit in der Mannigfaltigkeit«. So kann die geschichtliche Vergangenheit den Erfahrungsraum seines publizistischen Hauptwerkes, der »Patriotischen Phantasien«, erweitern und vertiefen, ohne sich als etwas Selbständiges von ihm abzulösen, kann der Schwerpunkt der nationalen und kulturellen Selbstanalyse ins Gegenwärtige verlagert und zugleich der Bezug zu Tradition und Geschichte gewahrt werden. Moser gelingt in den »Patriotischen Phantasien« eine Aktualisierung seiner historisch gewonnenen Einsichten über den Zusammenhang von Staat, Nation, Gesellschaft und Kultur, die neben Goethe auch viele andere Zeitgenossen tief beeindruckt hat. Seine Zeitschriftenaufsätze sind zunächst als ein Forum der 14
öffentlichen Meinungsbildung gedacht und stellen, da in ihnen nicht nur allgemeine kulturelle und gesellschaftliche Themen, sondern auch aktuelle politische Fragen und sogar spezielle, der Administration einer bestimmten Stadt und Landschaft obliegende Sachentscheidungen diskutiert werden, in ihrer Zeit ein wirkliches Novum dar. Die Analyse wird zeigen, daß Moser auch mit diesen Blättern - ähnlich wie mit seiner »Osnabrückischen Geschichte« - die Erziehung des Bürgers zur politischen Teilhabe am Gemeinwesen verfolgt und zugleich zeigen will, wie die besonderen Verhältnisse in einem deutschen Territorium dem Publikum der ganzen Nation interessant werden können. Neu und ungewöhnlich ist diese Gesellschaftsanalyse vor allem auch deshalb, weil Moser - unter gänzlichem Verzicht auf moralische Wertungen - sowohl die bedeutendsten als auch die geringsten Dinge des Alltagslebens mit hohem literarischen Anspruch behandelt. Die Untersuchung wird ferner zeigen, daß die Spiegelung des Allgemeinen und Nationalen im Besonderen und Provinziellen einen wesentlichen inhaltlichen und strukturbildenden Grundzug dieser Aufsätze bildet. Durch die bewußte Begrenzung auf den Raum eines einzelnen deutschen Territorialstaates gelingt es Moser, diesen mit konkreten Gestalten und Vorgängen seiner Erfahrung zu füllen und dabei zugleich die Kompositionstechnik eines Erzählens in lebendiger Anschaulichkeit und mannigfaltigen Formen zu entwickeln. Indem in den dargestellten Besonderheiten stets etwas Allgemeines sichtbar wird, bilden die »Phantasien« - obwohl eigentlich eine Sammlung von Aufsätzen disparatester Art schließlich doch ein geschlossenes Ganzes und vermitteln im facettenreichen Bild eines deutschen Provinzlebens im 18. Jahrhundert so etwas wie ein Muster der Alltagsrealität bzw. -mentalität der Nation. Dabei zeigt sich, daß Mosers sprachlich-stilistische Kraft, seine Freude am Fragmentarischen, sein Bemühen, Sprache, Ton und Erzählhaltung zu dem Dargestellten in ein individuelles, dem jeweiligen Gegenstand angemessenes Verhältnis zu bringen, wie auch die Vorliebe, sich als Erzähler immer wieder hinter einer Maske zu verbergen, dem Leser eine völlig neue und ihn häufig überfordernde produktive Rezeptionshaltung abverlangen, die vieles von der Genie- und Schöpfungsästhetik des Sturm und Drang antizipiert. Eine adäquate Lektüre dieser Blätter verlangt nicht nur ein Sich-Einlassen auf Spiel und Rolle, sondern auch den mitempfindenden, mitgestaltenden Leser und die Fähigkeit des intuitiven Erfassens verschiedener korrespondierender Darstellungsebenen und Sinnbezüge. Als zentrales inhaltliches Anliegen der »Phantasien« kristallisiert sich die Frage nach dem Wesen des Individuellen bzw. Originalen heraus. Moser behandelt alle Themen vor dem Hintergrund seiner Uberzeugung, daß nur dasjenige Anspruch auf Wahrheit und Gültigkeit haben kann, was der Umgebung bzw. den Umständen seiner Entstehung angemessen ist. Individualität bedeutet fur ihn somit, was die Eigenart historischer Konstellationen, landschaftlicher Gegebenheiten,
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sozialer Gruppen und künstlerischer Produktionen spiegelt, sich also allgemeinen Normen und Wertvorstellungen entzieht. Dies zielt aber nicht auf die Superiorität des Individuums über die Legalität oder Legitimität der gesellschaftlichen Institutionen, sondern im Gegenteil auf eine Versöhnung von privater und öffentlicher Existenz und damit auf die Uberwindung der Trennung von Gesellschaft und Staat. Da fur Moser der Mensch in seiner sozialen Gebundenheit das Maß aller Dinge ist, kann sich Individuelles nur im Allgemeinen, das notwendig immer den Charakter des Äußerlichen und Institutionellen hat, realisieren. Weil aber fur ihn das Wohlergehen des einzelnen eine permanente und weitgehende Anpassung an die Bedingungen der ihn umgebenden Umwelt verlangt, sind Individualität und Originalität nur in Verbindung mit einer Erziehung zum Gesellschaftlichen denkbar. Von dieser Erziehung fordert er, daß sie ihre Leitbilder nicht von »außen«, von fremden Nationen bezieht, sondern sich an den Bedürfnissen der eigenen Kultur, das heißt für Deutschland, der »Provinzkultur«, orientiert. Im Lichte dieser positiven Einstellung gegenüber einem provinziellen Kulturhabitus erscheint der im Schrifttum der Zeit vielfach beklagte politische und kulturelle Partikularismus nicht mehr als Hindernis, sondern im Gegenteil als wesentliche Voraussetzung einer florierenden Nationalkultur, ja wird die kleine staatliche Einheit zum Garanten für die Entwicklung aller kulturellen Kräfte der Nation. Schon Mosers frühe Verteidigung des Harlekin-Theaters als einer Spielart des Komischen und Lächerlichen unter vielen möglichen muß im Kontext seines Plädoyers für »Mannigfaltigkeit« und gestalterischen Reichtum gesehen werden. Dieses Eintreten für eine pluralistische Kultur steht in engem Zusammenhang mit der in den »Phantasien« immer wieder geübten Kritik an der Theoriegläubigkeit des Jahrhunderts. Moser bezeugt hier in vielfachen Variationen seine Skepsis gegenüber einem rationalistischen Geist, der, in allen Lebensbereichen nach Vereinheitlichung bzw. Klassifizierung und Zentralisierung strebend, die Nivellierung der partikularen Sitten, Rechte und Gewohnheiten fördert und damit in seinen Augen sowohl die Gefahr der kulturellen Eintönigkeit als auch der politischen Unterdrückung heraufbeschwört. Demgegenüber basiert die seinen Aufsätzen eingeschriebene Gesellschaftstheorie auf der Vorstellung von einer evolutionären Entwicklung der Ständegesellschaft im Rahmen des kleinen Staates, deren Verlauf durch eine allmähliche Auflockerung der Ständeschranken, eine sich schrittweise vollziehende Angleichung adliger und bürgerlicher Interessen und einen unverkrampften Umgang der Stände untereinander charakterisiert ist. Die Analyse wird zeigen, daß Mosers Rückbezug auf Geschichte auch in den »Phantasien« keineswegs - wie in der Forschung vielfach behauptet - nur als Instrument der historischen Legitimation gesellschaftlicher Ungleichheit fungiert, sondern auch zur politischen Waffe wird, wenn es darum geht, bedrohte Freiheitsräume zu verteidigen. Gerade auf nationalökonomischem Gebiet be16
zieht Moser eindeutig fortschrittlich-liberale Positionen und propagiert Formen bürgerlich-kooperativer Selbstorganisation, die den Bestand der alten ständischen Welt auf Dauer notwendig gefährden müssen. Indem er den bürgerlichen FreiheitsbegrifF aus dem ständischen Widerstandsrecht entwickelt und den neuartigen Gedanken von der Repräsentation des »ganzen« Landes durch die Stände zur Grundlage eines neuen bürgerlichen Selbstbewußtseins zu machen sucht, zeigt sich Moser an einer praktischen und zeitgemäßen Überwindung des landständischen Systems maßgeblich beteiligt. Sein patriotisches Interesse gilt somit der Erziehung eines mündigen, zum politischen und praktischen Handeln befähigten Bürgers. Die Eigenschaften dieses Staatsbürgers setzen eine Gesellschaft voraus, deren Angelegenheiten von jedem einzelnen überblickt und mitbefördert werden können, in der private und öffentliche, geistig-kulturelle und politischökonomische Interessen in eine fruchtbare Wechselbeziehung treten. In den »Phantasien« erscheint sie als eine aus der Auseinandersetzung mit Tradition und Gegenwart entwickelte Zukunftsprojektion. Für Goethes nationales und kulturelles Selbstverständnis ist - wie der im Rahmen dieser Arbeit nurmehr skizzenhaft mögliche Ausblick auf sein Verhältnis zu Moser zeigt - diese Entwicklungsperspektive der nationalen Verhältnisse konstitutiv geworden. Durch Moser wird er angeregt, die historisch-politischen Voraussetzungen für das Entstehen einer Nationalliteratur zu reflektieren. Die Analyse wird zeigen, daß die Bezüge auf Mosers Geschichts- und Gesellschaftsverständnis den Hintergrund für Goethes kritische und überaus produktive Auseinandersetzung mit dem Problem des politischen und kulturellen Partikularismus bilden. Die in Mosers Werk mannigfaltig zur Anschauung gebrachte Welt der deutschen Provinz wird in Goethes Dichtung zum Schauplatz, auf dem individuelle und gesellschaftliche Emanzipationsansprüche bürgerlicher Provenienz fiktiv erprobt werden können. Dabei wird Mosers Prinzip der Darstellung, das Spiegeln des Allgemeinen und Nationalen im Besonderen und Provinziellen, zu einer wichtigen Voraussetzung für die Entwicklung von Goethes symbolischem Denken. Mosers Werk präfiguriert die Möglichkeiten einer deutschen Nationalkultur, die gerade deshalb Geltung beanspruchen darf, weil sie ihre provinziellen Entstehungsbedingungen nicht mehr verleugnet. Den hier erhobenen Wahrheitsanspruch an nationale Kunst hat Goethe in besonderer Weise aufgegriffen. Dies läßt sich in seinem der Dialektik von Traditionalismus und Veränderung verpflichteten Geschichtsbild, in der Art seiner Milieuanalyse und in seiner Gestaltung des Nationalindividuellen erkennen.
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Kapitel II Mosers nationales Denken im Spiegel der Kritik
»Deutschland macht kein recht vereinigtes Ganze aus wie andre Reiche. Es hat keine Hauptstadt wie Frankreich und England, und folglich stehen diejenigen Personen, weldie dem Staate und gemeinen Wesen dienen oder auch sonst in stiller Größe leben, nicht auf der H ö h e und in dem Lichte, worin sie sich in jenen Reichen befinden. W i r können uns also nie schmeicheln, solche Biographen zu erhalten, wie unsre Nachbarn haben. W i r können höchstens Helden und Gelehrte (und dergleichen Muster brauchen wir so gar viel nicht), aber nie den Mann, der dem Staate im Kabinett und auf dem Rathaus dienet, zu einem Terray oder Beckford machen. Der Minister eines Bischofen oder Reichsgrafen mag seinem kleinen Staate noch so große Dienste leisten und zehntausend Untertanen glücklich machen; sein R u h m wird mit ihm bald in die Grube sinken, wenn er auf einen solchen Biographen warten soll, wie die Engländer und Franzosen haben.«' Hinsichtlich der Beachtung, die M o s e r s Person u n d W e r k bei den Zeitgenossen g e f u n d e n h a b e n , s c h e i n t diese i m R a h m e n e i n e r A u s e i n a n d e r s e t z u n g m i t d e n M ö g l i c h k e i t e n e i n e r » n a t i o n a l e n B i o g r a p h i e « v o n i h m selbst a n g e s t e l l t e Ü b e r l e g u n g ihre b e s o n d e r e B e r e c h t i g u n g z u h a b e n . D e r V e r w e i s a u f d i e k u l t u r e l l e n K o n s e q u e n z e n des p o l i t i s c h e n P a r t i k u l a r i s m u s b e r ü h r t d a r ü b e r h i n a u s e i n e n z e n t r a l e n G e g e n s t a n d d e r D i s k u s s i o n ü b e r n a t i o n a l e I d e n t i t ä t i m 18. J a h r h u n d e r t : das F e h l e n e i n e r H a u p t s t a d t , eines p o l i t i s c h e n u n d k u l t u r e l l e n Z e n t r u m s . H i e r w i r d es v e r a n t w o r t l i c h erklärt f ü r d e n M a n g e l a n P e r s ö n l i c h k e i t e n , die als I d e n t i f i k a t i o n s f i g u r e n eines g e s a m t n a t i o n a l e n Interesses d i e n e n k ö n n t e n , u n d es w i r d z u g l e i c h b e k l a g t , d a ß m a n b e s t e n f a l l s a u f l o k a l e G r ö ß e n v e r w i e s e n ist, d e r e n W i r k u n g s r a d i u s u n d B e k a n n t h e i t s g r a d in d e r R e g e l n i c h t ü b e r das U m f e l d eines m e h r o d e r w e n i g e r g r o ß e n T e r r i t o r i u m s h i n a u s r e i c h t . In e b e n d i e s e m
Sinne
a r g u m e n t i e r t a u c h N i c o l a i , d e r erste B i o g r a p h M o s e r s : »Der Biograph eines verdienten Mannes in England oder Frankreich darf voraussetzen, daß seine in der Hauptstadt versammelten vorzüglichsten Leser jenen persönlich kannten, oder wenigstens doch von Vielem, was ihn anging, einen anschauenden 1
Justus Mosers Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe in 14 Bänden. Hrsg. von der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Bd. IV. Bearbeitet von Ludwig Schirmeyer u. Werner Kohlschmidt. Oldenburg/Berlin 1943, S. 298 f. Im folgenden zitiert als: S W Bd., S. Alle weiteren, im Text nachgewiesenen Zitate aus Mosers Werken folgen - soweit nicht anders angegeben - dieser Ausgabe, deren Rechtschreibung modernisiert worden ist. D i e römischen Ziffern verweisen auf die entsprechende Bandnummer, die arabischen auf die Seitenzahl des betreffenden Bandes.
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Begriff haben. Der Biograph eines deutschen großen Mannes muß sich erinnern, daß der beträchtlichste Teil seiner Leser den Schriftsteller vielleicht nur obenhin, und den Menschen gar nicht kennt.« 1 M o s e r , der a m E n d e seines Lebens nicht n u r a u f eine f ü r bürgerliche Verhältnisse in D e u t s c h l a n d u n g e w ö h n l i c h e politische Karriere zurückblicken k o n n t e , sondern auch a u f beachtliche Leistungen f ü r das kleine Staatswesen Osnabrücks 3 , teilte w e i t g e h e n d dieses v o n i h m u n d N i c o l a i beklagte Schicksal einer »provinziellen Figur«. D e n n o b w o h l er u n e n t w e g t schriftstellerisch tätig war 4 u n d als Publizist breit u n d intensiv gewirkt hat, w i r d m a n nicht sagen k ö n n e n , daß er einen M i t t e l p u n k t i m geistigen L e b e n seiner Z e i t gebildet habe. Es fehlt - sieht m a n v o n G o e t h e zunächst einmal ab - eine wirklich tiefgreifende Erschließung seines Werkes durch die großen Zeitgenossen. 5 W o seine Schriften indes E r w ä h n u n g f i n d e n , geschieht dies w i e z.B. bei H a m a n n , Lessing, Herder, Lichtenberg oder Schubart ü b e r w i e g e n d voller B e w u n d e r u n g u n d A n e r k e n n u n g . 6
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Friedrich Nicolai. Leben Justus Mosers. In: Justus Mosers' sämmtliche Werke. Hrsg.: B. R. Abeken. ZehnterTheil. Berlin 1843, S. 5. Im folgenden zitiert als: S W (Abeken). Bd., S. Nicolai beklagt an anderer Stelle: »Zu bedauern ist es, daß er in Osnabrück selten einen für ihn interessanten Gesellschafter fand, daß besonders ihm Freunde fehlten, deren Ansichten und Kenntnisse er gegen die seinigen hätte austauschen können. Er mußte sich allenthalben auf seine eigenen Wahrnehmungen und auf Bücher verlassen. Die Einseitigkeit, die man hie und da in seinen Schriften bemerkt hat, ist ohne Zweifel Folge davon [...]« Ebd., S. 125 ' Vgl.: Reinhard Renger. Justus Mosers amtlicher Wirkungskreis. Z u seiner Bedeutung fiir Mosers Schaffen. In: Osnabrücker Mitteilungen. Bd. 77. 1970, S. 1-30; Joachim Runge. Justus Mosers Gewerbetheorie und Gewerbepolitik im Fürstbistum Osnabrück in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Bd. 2. Berlin 1966
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Moser, der vor allem durch seine »Osnabrückische Geschichte« und die zwischen 1774 und 1786 unter dem Titel »Patriotische Phantasien« in 4 Bänden gesammelt herausgegebenen Zeitschriftenaufsätze in der »Beilage zu den Osnabrückischen Intelligenzblättern« bekannt wurde, ist auch der Verfasser zahlreicher Gedichte, eines Dramas: »Arminius« (1749) und Autor von zwei bedeutenden literaturtheoretischen Essays: »Harlekin oder Verteidigung des Groteske=Komischen« (1761); »Uber die deutsche Sprache und Literatur. Schreiben an einen Freund nebst einer Nachschrift, die Nationalerziehung der alten Deutschen betreffend« (1781). Aus den Briefen und handschriftlichen Blättern seines Nachlasses ist ferner Mosers frühes Interesse für mittelalterliche Dichtung bezeugt. Siehe den Brief an Gleim vom 24. Juli 1756. In: Justus Moser. Briefe. Hrsg. v. Ernst Beins u. Werner Pleister. Hannover 1939, S. 83 f., im folgenden zitiert als: Justus Moser. Briefe, S. Vgl. auch: S W III, 205-239.
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Vgl.: Ludwig Schirmeyer. Das Möserbild nach neuen Briefen. In: Osnabrücker Mitteilungen. Bd. 59. 1939, S. 69 Vgl.: Ernst Hempel. Justus Mosers Wirkung auf seine Zeitgenossen und auf die deutsche Geschichtsschreibung. In: Osnabrücker Mitteilungen. Bd. 54. 1933, S. 15 ff. Hempels Studie verfolgt die Wirkung einzelner »historischer Lehrmeinungen« Mosers bis weit ins 19. Jahrhundert hinein, wo sie insbesondere in der frühliberalen Bewegung
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Lessing empfiehlt in der »Hamburgischen Dramaturgie« Mosers Abhandlung über das »Groteske-Komische« allen Lesern, die sie noch nicht kennen 7 , Hamann bekundet sein Vergnügen über Mosers gegen Voltaire gerichtete Lutherverteidigung 8 , Schubart rechnet ihn aufgrund der Schönheit und Leichtigkeit seiner Sprache zu den besten Prosaautoren Deutschlands und stellt ihn zugleich als großen Geschichtsschreiber neben Schlözer. 9 Der Empiriker Lichtenberg sieht in Moser nicht nur einen verwandten Geist, sondern bewundert in ihm »einen der vollkommensten Männer« in der Kunst des gesellschaftlichen Umgangs. 1 0 Herder schließlich erweist Moser als dem »Verfasser der ersten deutschen Geschichte mit deutschem Kopf und Herzen« die größte Ehre, indem er die Vorrede zur »Osnabrückischen Geschichte« in seine Programmschrift des Sturm und Drang »Von deutscher Art und Kunst« aufnimmt."
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große Resonanz finden. So bezeichnet sich zum Beispiel Friedrich List selbst als einen »zweiten Justus Moser«. Vgl.: Ebd., S. 50 Im Gegensatz zu Hempel wenig ergiebig ist der Aufsatz von Wilhelm Schoof. Justus Moser im Urteil seiner Zeitgenossen. In: Heimatland. Zeitschrift fur Heimatkunde, Naturschutz [...]. Heft7-8. 1957, S. 147-151, der neben Goethe nur Lichtenberg, Herder und Gleim anfuhrt. Vgl.: Gotthold Ephraim Lessing. Hamburgische Dramaturgie. Hrsg: Otto Mann. Stuttgart 1978, S. 74: »Harlekin hat, vor einigen Jahren, seine Sache vor dem Richterstuhle der wahren Kritik, mit ebenso vieler Laune als Gründlichkeit, verteidiget. Ich empfehle die Abhandlung des Herrn Moser über das Groteske-Komische allen meinen Lesern, die sie noch nicht kennen; die sie kennen, deren Stimme habe ich schon.« Vgl.: ders. in: Rudolf Unger. Hamann und die Aufklärung. Studien zur Vorgeschichte des romantischen Geistes im 18. Jahrhundert. Darmstadt 1963, S. 226: »Sein Brief über Luther ist vorzüglich, und ich habe ihn mit ungemeinem Vergnügen gelesen, weil ich einen Haufen meiner eigenen Gedanken darin gefunden.«
' Vgl.: Christian Friedrich Daniel Schubart. Deutsche Chronik auf das Jahr 1774. Deutsche Neudrucke. Reihe: Goethezeit. Bd. I. Heidelberg o.J., S. 534 f: »Moser gehört unter die besten deutschen Prosatoren, damit vereinigt er eine tiefe Einsicht in die Geschichte, vaterländische Rechte [...] Religion, Weltweisheit und schöne Wissenschaften. Seine Phantasie ist bilderreich, und sein Witz glänzend. Er hätte eben so leicht ein vortreflicher Dichter, als ein vortreflicher Prosator werden können. Seine Gedichte in den Musenalmanachen sind gewiß sehr schön.« IO Georg Christoph Lichtenberg. Brief v. 13.8.1773 an seinen Bruder. In: Gesammelte Werke. Hrsg.: Wilhelm Grenzmann. Bd. I, S. 611 f. Vgl. ebd., S. 1033 f.: »Dieser berühmte Mann ist recht fur den Umgang gemacht, munter und gefällig im höchsten Grad und spricht unverbesserlich gut, er weiß sich zu jedermanns Fähigkeiten herabzulassen und zu erheben, und oft weiß er den Reden andrer Personen so zu begegnen, daß sie sich wundern, solche Einfalle gehabt zu haben.« Vgl. demgegenüber auch: H. Poppe Marquard. Georg Christoph Lichtenberg und Osnabrück. Plaudereien. Aus des Professors Briefen. 1974, S. 128, der das Verhältnis zwischen Moser und Lichtenberg als »unklar« charakterisiert: »Sie scheinen zwar große Achtung voreinander gehabt zu haben, doch Freunde sind sie nicht gewesen.« Vgl. auch: ebd., S. 14,132, 109, 54 f. " Johann Gottfried Herder. Sämmtliche Werke. Hrsg.: Bernhard Suphan. Berlin 18771913. Bd. 5, S. 347. Herder bedauert an anderer Stelle, daß Mosers Schriften eine zu geringe Verbreitung in Deutschland hätten und nicht »in den Händen« seien, »in denen sie seyn sollten.« Ebd., Bd. 20, S. 342
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Fügt man diese Urteile zu einem Bild, so scheint Nicolais auf das private und politische Wirken Mosers bezogene Beobachtung, dal? »Jedermann [...] mit Mosern zufrieden« war12, kaum anzweifelbar. Zumindest m u ß es angesichts der vielfach gegen die führenden geistigen Theorien der Zeit gerichteten Auffassungen Mosers zunächst erstaunen, daß er unter seinen Zeitgenossen keinen bedeutenden Kritiker gefunden hat. 1 ' Die Freundschaft zu Thomas Abbt' 4 und Friedrich Nicolai bietet das beste Beispiel fur die große Wertschätzung, die Mosers Persönlichkeit selbst über weitreichende Meinungsverschiedenheiten hinaus entgegengebracht wird. Einen exemplarischen Eindruck vom Möserbild des 18. Jahrhunderts vermag Nicolais Beschreibung des »Leben Justus Mosers« zu vermitteln. 15 Im Rahmen dieser Untersuchung ist sie in doppelter Hinsicht von Interesse. Einmal bietet Nicolais Lebensbeschreibung - neben Goethes häufig zitierter Eloge Mosers in »Dichtung und Wahrheit«' 6 - in der Forschung vielfach Anlaß für ein übersteigertes und undifferenziertes »Möserlob«, an dem das Bestreben, Mosers Gestalt in die Interpretationsrichtung einer nationalen Mythisierung herausragender Persönlichkeiten der deutschen Geistesgeschichte zu integrieren als Perspektive deutlich wird. Z u m anderen läßt sich anhand von Nicolais Charakterisierung bereits jene vom Standpunkt aufgeklärten Denkens aus vorgetragene Skepsis gegenüber M o sers Werk erkennen, die bis in die jüngste Forschung hinein verfolgt werden kann. 17 a ,J
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Friedrich Nicolai. Leben Justus Mosers, S. 33 Entschiedene Kritik erfährt Moser erst in den neunziger Jahren von Seiten der Staatstheoretiker Gentz, Clauer und Biester, die sich im Namen der Menschenrechte vor allem gegen Mosers »Aktientheorie« als eine das Grundeigentum legitimierende Staatstheorie richten. D e n Anlaß hierfür bieten Mosers in der »Berlinischen Monatsschrift« publizierten Aufsätze, die Grundfragen der Französischen Revolution behandeln. Vgl.: E. Hempel, S. 6 ff. Vgl. dazu: Gertrud Brück. D i e Bedeutung Justus Mosers fur das Leben und D e n k e n Thomas Abbts. Würzburg 1937. Brück hebt die enge geistige Verwandtschaft zwischen Moser und A b b t hervor, verweist aber auch auf ganz entscheidende Gegensätze ihres Denkens. Vgl.: ebd., S. 61
" Vgl.: A n m . 2 16
Vgl.: Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke. Bd. 10. Hrsg.: Ernst Beutler. Zürich 1977, S. 651 ff. u. S. 702 ff. Alle weiteren, im Text nachgewiesenen Goethe-Zitate beziehen sich - soweit nicht anders angegeben - auf diese Ausgabe und werden wie folgt zitiert: Goethe, SW, Bandnummer, Seitenzahl
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So gibt es, wie Giesela Wagner in ihrem Forschungsbericht von 1981 konstatiert, bisher ungeachtet der zahlreichen Publikationen - noch immer kein gesichertes »Möser-Bild« in der Forschung. Die Beurteilungen bewegen sich im Gegenteil zwischen den einander widersprechendsten Extremen. Vgl.: dies. Z u m Stand der Möserforschung. Juli 1981. In: Osnabrücker Mitteilungen. Bd. 87. 1981. S. 114-137. Einen differenzierten Überblick über die Möserforschung bis 1971 - dem die folgenden Ausführungen in mancher Hinsicht verpflichtet sind - gibt: Heinrich Kanz. Der humane Realismus Justus Mosers. Wuppertal, Ratingen, Kastellaun 1971; Uber die jüngste Möserforschung informiert: Karl H . L. Walker. Möserliteratur der achziger Jahre. In: Das 18. Jahrhundert. Mitteilunger der Deutschen Gesellschaft fur die Erforschung des 18. Jhd. Jg. 14. H . 1. S. 6 2 - 7 2
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N i c o l a i , engster Vertrauter u n d Förderer Mosers, 1 8 ist vor allem v o n dessen Persönlichkeit beeindruckt. V o r d e m H i n t e r g r u n d eines in das Weltbild der A u f k l ä r u n g voll integrierbaren E n t w u r f e s h u m a n e r Menschlichkeit trägt er M o sers »Philosophie des Lebens« als eine Geisteshaltung vor, die n u r durch eine V e r a n k e r u n g in der »wirklichen Welt« e r w o r b e n werden konnte. 1 9 Seine Prädisposition f u r die E m p i r i e u n d seine A b n e i g u n g gegenüber philosophischen S p e k u lationen f u h r t N i c o l a i a u f die früheste B i l d u n g i m Elternhaus zurück. 2 0 H i e r habe M o s e r auch gelernt, »tolerant über M e i n u n g e n (zu) urteilen«, Fragen u n d Problem e zunächst v o m oppositionellen S t a n d p u n k t aus zu behandeln. 2 1 In M o s e r s Schriften, die f ü r ihn einen »originalen Charakter«
besitzen,
erkennt N i c o l a i einen ganz neuen, v o m Stil der »Moralischen Wochenschriften« höchst unterschiedlichen T o n , der dazu beigetragen habe, die bürgerliche Gesellschaft gegenüber d e m H o f selbstbewußter u n d ihre Ausdrucksweise »unbefangener u n d feiner zu machen.« 2 2 18
Nicolai war nicht nur der Verleger der »Patriotischen Phantasien«, er bot Mosers Aufsätzen darüber hinaus durch das Angebot der Mitarbeit bei der »Allgemeinen deutschen Bibliothek« und der »Berlinischen Monatsschrift« die Möglichkeit eines größeren Veröffentlichungsradius. Moser hat von dieser Möglichkeit insgesamt nur wenig Gebrauch gemacht. In der »ADB« veröffentlichte er insgesamt 3 Rezensionen, darunter die beiden berühmten zu Mosers und Bühlaus Schriften über den Nationalgeist der Deutschen, (Vgl.: S W III, 147-255) und eine Besprechung des Lustspiels von Anton Mattias Sprickmanns »Die natürliche Tochter«. (Vgl.: ebd., S. 255) Die von Gedike und Biester herausgegebene »Berlinische Monatsschrift« brachte zuerst im Juni 1786 einen Aufsatz Mosers, der mit der Bemerkung »Von dem Verfasser der Patriotischen Phantasien« unterzeichnet war, was gewisse Rückschlüsse auf den Bekanntheitsgrad dieser Aufsätze zuläßt. Es folgten seit 1787 die »Briefe aus Virginien« in Fortsetzungen und seine Aufsätze zur Französischen Revolution, nach der in den »Westphälischen Beyträgen zum Nutzen und Vergnügen« (= seit 1773 der umbenannte Titel von Mosers »Nützlichen Beylagen [...]«) publizierten Fassung.
'' »Der Mann war redlich, bieder, patriotisch, uneigennützig im höchsten Grade, menschenfreundlich, wahr, zuverlässig, fest ohne Eigensinn, nachgebend ohne Schwachheit, unverzärtelt ohne Rauhigkeit, gutherzig ohne Unbesonnenheit, froh und munter ohne Leichtsinn, gleichmüthig ohne Gleichgültigkeit, seines Wertes sich bewußt, ohne Egoismus, frugal ohne Geiz, mildthätig ohne Prahlerei, gastfrei ohne Verschwendung. Alles höchst wahr [...]« Friedrich Nicolai. Leben Justus Mosers, S. 79. Vgl.: ebd., S. 25, wo Moser als »Sachwalter der Unterdrückten im edelsten Sinne des Wortes« bezeichnet wird. Friedrich Nicolai. Leben Justus Mosers, S. 13 Friedrich Nicolai. Leben Justus Mosers, S. 12 11
»Daher findet man in Mosers Schriften nie weder den Dünkel, noch die Einseitigkeit unserer vielen theoretischen Stubengelehrten [...] Man findet bei Moser gründliche Gelehrsamkeit, selten aber in gelehrter Gestalt, nie die trockene Schulweisheit des Katheders, nie die beredseinsollende Wortfiille der Kanzel, oder den steifen Resolutionsstyl der Kanzlei, sondern allenthalben die Stimme der reifen Erfahrung, vereint mit dem schlichten gesunden Verstände, wodurch allein die menschliche Gesellschaft besteht und regiert wird. Alles lebt in diesen Aufsätzen, allenthalben sehen wir die mannigfaltige, wirkliche Welt vor uns, Alles können wir auf uns anwenden, Alles ist uns 23
Als ein epochemachendes Werk versteht er auch Mosers »Osnabrückische Geschichte«, obwohl ihm viele der daraus abgeleiteten Konsequenzen - aus der Perspektive der Aufklärung gesehen - problematisch erscheinen müssen. Besonders Mosers Stellungnahme gegenüber dem Leibeigentum kann nicht die Billigung des norddeutschen Aufklärers finden.1' Ebensowenig stimmt er mit Mosers Herausdifferenzierung einer nationalen Identität aus der politischen und sozialen Formation der Franken und Sachsen in vorkarolingischer Zeit überein. Nicolai, der im »Sebaldus Nothanker« die Existenz eines »deutschen Vaterlandes« ironisch in Frage stellt,24 steht der nationalen Bewegung insgesamt eher distanziert gegenüber. Z u m Fundament von Mosers Begriff der Nation, dem »Landeigentum«, merkt er skeptisch an, daß seiner Ansicht nach, »das, was eine Nation bildet, noch auf anderen Gegenständen beruhet, als auf der ursprünglichen Theilung des Bodens. «25 Was sich in Nicolais Aussagen über Mosers Leben und Werk als eine nicht genau abgrenzbare Mischung aus Bewunderung und vorsichtiger Skepsis abzeichnet, ist für die nachfolgende Möserbeurteilung symptomatisch geworden. Trotz zahlreicher Anstrengungen seitens der Fachdisziplinen, in denen Mosers Werk besonders breite Resonanz erfahren hat,26 sind die nationalen Komponenten des hier in Erscheinung tretenden Denkens bis in die Gegenwart hinein umstritten geblieben.
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nahe, ohne gemein zu sein; und wo auch der Gegenstand gemein wäre, wird er gehoben durch die Wichtigkeit des Einflusses, den uns der Schriftsteller mit großer, aber versteckter Kunst vor die Augen zu bringen weiß, und durch die mannigfaltige Art der Einkleidung, die dem Gegenstande so natürlich zusagt, daß sie nicht fur Einkleidung, sondern für einen Theil des Gegenstandes selbst zu gelten scheint. Moser hatte die Gabe, anmuthig zu sein, doch nicht fade, munter zu sein, ohne Gernwitz, freimüthig zu sein, ohne zu beleidigen, viel zu sagen, ohne Prätension [...]« Friedrich Nicolai. Leben Justus Mosers, S. 72 u. 74 So bedauert er zutiefst, »daß ein edler Moser über das Leibeigenthum nicht in eben dem menschenfreundlichen Tone schreiben konnte, mit welchem Voltaire die Leibeigenen auf dem Jura vertheidigte, und mit welchem Wilberforce noch jährlich im englischen Parlamente ftir die Freilassung der Neger spricht.« Leben Justus Mosers, S. 45 f. »[...] wo ist in unserm unter Krieg und Verheerung seufzenden Deutschlande jetzt wohl das Vaterland zu finden? Deutsche fechten gegen Deutsche. Das Kontigent unsres Fürsten ist bei dem einen Heere, und in unserm Ländchen wirbt man ftir das andere. Zu welchem sollen wir uns schlagen? Wen sollen wir angreifen? Wen sollen wir verteidigen? Für wen sollen wir sterben?« Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker. Hrsg.: Fritz Brüggemann. Leipzig 1938, S. 29 Friedrich Nicolai. Leben Justus Mosers, S. 50. Nicolai bezweifelt ebenso Mosers These von der Verfassung der »Landeigentümer« als der ersten »Anlage der Natur«. Ebd., S. 58 So zum Beispiel in der Geschichts-, Rechts-, und Staatswissenschaft, Volkswirtschaft, Volkskunde und Pädagogik. Auf die Vieldeutigkeit Mosers nehmen schon Karl Brandl (Vgl.: SWI, S. VII), anläßlich der Edition des ersten Bandes der historisch kritischen Möserausgabe und Wolfgang Hollmann. Justus Mosers Zeitungsidee und ihre Verwirklichung. München 1937, S. 5 f. Bezug.
Im 19. Jahrhundert interessiert sich die Volkskunde fur Mosers Werk. Sie prägt das Bild vom genialen, kulturgeschichtliche Studien des Volkslebens betreibenden Originalmenschen, würdigt aber auch zuerst die sozialgeschichtliche und -ökonomische Perspektive seiner Geschichtsauffassung. 17 Mosers Patriotismus wird unter Bezugnahme auf die pointierte Wendung gegen den französischen Einfluß überwiegend nationalistisch interpretiert.28 Die erste differenzierte Analyse des Möserschen Nationalbildungsgedankens leistet Wilhelm Dilthey. Im Kontext der geistigen Bewegungen des 18. Jahrhunderts erscheint Moser hier zu Recht neben Winckelmann, Herder, Hippel und Hamann als Geistesverwandter Montesquieus, als Begründer der historischen Rechtsschule und Nationalökonomie und als früher Vertreter des Organismusgedankens. Überbetont wird in dieser Studie jedoch Mosers Gegensatz zur Aufklärung. Unter Verweis auf seine Bodenständigkeit und Originalität stellt Dilthey Moser inmitten seiner Zeit als »einsame Größe«, als »gewaltigen Autochthonen« dar, der bei den meisten seiner Zeitgenossen mit seiner den Kern des modernen Staates treffenden Kritik auf Unverständnis stieß.19 Diltheys Ansatz wird aufgegriffen und erweitert durch Friedrich Meinecke und die pädagogische Fachliteratur. Letztere sieht in Moser einen »Vorläufer der Sozial-, National- und Gefühlspädagogik« 30 , einen Verkünder des »Idealbildes vom neuen Menschen«, demjenigen der Sturm- und Drangzeit nahekommend.' 1 Meinecke setzt demgegenüber neue Akzente in der Möserforschung, indem er die Entfaltung der Idee der Individualität und die Ausbildung des Entwicklungsgedankens in Mosers Geschichtsauffassung herausarbeitet. Auch ist er der erste, der die neue Erkenntnismethode Mosers, das intuitive Erfassen der Gegenstände durch »Totaleindrücke«, in ihrer Bedeutung für die Entwicklung des ästhetischen Sinnes erfaßt.32 Darüber hinaus erkennt Meinecke in Mosers Fähigkeit, gegebene 27
Vgl.: W. H. Riehl. Land und Leute. Stuttgart 1861, S. 14 ff.; Reinhold Hofmann. Justus Moser, der Vater der deutschen Volkskunde. In: Osnabrücker Mitteilungen. Bd. 32. 1907/8; R. A. Fritsche. Justus Moser und W. H. Riehl. Gedanken über Volkskunde. In: Hessische Blätter für Volkskunde. Bd. 7. H. 1. 1908 18 Vgl.: Reinhold Hofmann, S. 162. Die »Allgemeine deutsche Biographie« argumentiert in eben diesem Sinne: »Die praktischen, volksthümlichen und vor allem nationalen Tendenzen brachen sich in ihm Bahn.« Hrsg.: Königliche Akademie der Wissenschaften. Bd. 22. Leipzig 1885, S. 380 2 ' Wilhelm Dilthey. Gesammelte Schriften. Hrsg.: Paul Ritter. Bd. III. Stuttgart 1959, S. 242 f. 30
E. Richter. Justus Mosers Anschauungen über Volks- und Jugenderziehung im Zusammenhang seiner Zeit. Langensalza 1909, S. 120 '' Friedrich Buchholz. Justus Mosers Gedanken über Erziehung. Ein Beitrag zur Pädagogik der Sturm- und Drangperiode. Langensalza 1914, S. 1; ebd., S. 4: »Nicht in weltfremder contemplatio, nicht in der Enge der Studierstube bei dürren Spekulationen verharrt die neugewonnene Persönlichkeit, sondern es drängt sie hinaus in die Welt, sie mit der Kraft ungeteilter Einheit zu ergreifen und in sich zu ziehen.« 32 Vgl.: Friedrich Meinecke. Die Entstehung des Historismus. Hrsg. v. Carl Hinrichs. München 1959, S. 312.
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Entwicklungen entgegen einer ursprünglichen Idealvorstellung bedingt zu akzeptieren, eine wichtige, die Spannung zwischen konservativen und modernen Bestandteilen seiner Staatsvorstellung mildernde Eigenschaft." Dennoch gehen die relativistischen Ansätze Mosers nicht so weit, wie Meinecke annimmt. Moser akzeptiert zwar den Sieg der Territorialhoheit als Ergebnis des historischen Prozesses, nicht aber den Territorialabsolutismus.34 Treffend ist hingegen die Einschätzung Mosers als eines »reformerisch gesinnten Konservativen«35, der das erste Beispiel dafür bietet, »wie die Andacht zum Kleinen sich vertiefen kann, zu einer Weltansicht großen Stils.«36 Das von Meinecke differenziert behandelte Problem des Verhältnisses Mosers zur Aufklärung hat die Forschung immer wieder beschäftigt. Dabei erscheint das nationalhistorische Denken häufig als grundsätzlich unvereinbar mit den Maximen eines aufgeklärten und humanen Weltverständnisses. Hans Baron, der das Individualitätsprinzip in Mosers Schriften noch stärker herausstellt als Meinecke, hält die von Moser inaugurierte individualisierende Umbildung der Ethik, Kulturkritik und Kunstanschauung fur bedeutsamer als den in der Bildungswelt präsenteren Paradigmenwechsel Winckelmanns, beklagt aber zugleich, daß Moser keinen Anteil an jener »alle Bezirke des Daseins umfassenden Humanitätsbewegung des 18. Jahrhunderts« genommen habe.37 Schon früh etabliert sich im Gegensatz zu diesem die progressiven Elemente in Mosers Weltanschauung immerhin anerkennden Forschungsansatz eine Richtung der Möserdeutung, die den Osnabrücker Historiker als konservativen Begründer von »Vorurteilen, die schaudern machen«, zu etablieren sucht.3' Besonders die schon von Nicolai skeptisch beurteilte Definition der Nation auf der Basis des Landeigentums erfährt von Seiten der Staatswissenschaft scharfe Kritik.39 Peter Klassens Möserbiographie stellt die nationale Weltanschauung Mosers in den Zusammenhang einer kontinuierlichen Entfaltung bestimmter, bereits in " Vgl.: ebd., S. 336: »Darum konnte er am Schlüsse der Osnabrückischen Geschichte [...] dem absolutistischen Partikularstaate, in dem Gemeinfreiheit wie kaiserliche Macht und Größe untergegangen waren, ein Lob spenden [...]« Vgl. auch: ebd., S. 344 34 In der nachfolgenden Untersuchung wird dies belegt werden. 35 Friedrich Meinecke. Die Entstehung des Historismus, S. 353 36 Friedrich Meinecke. Die Entstehung des Historismus, S. 354. Vgl. dazu auch: ders. Uber Justus Mosers Geschichtsauffassung. In: Sitzungsberichte der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse 1. Berlin 1932, S. 2 ff. 37 Hans Baron. Justus Mosers Individualitätsprinzip in seiner geistesgeschichtlidien Bedeutung. In: Historische Zeitschrift. Bd. 130. 1924, S. 42. Vgl.: ebd., S. 34 38 B. Krusch. Justus Moser und die Osnabrücker Gesellschaft. In: Osnabrücker Mitteilungen. Bd. 34. 1909, S. 247 39 Vgl.: Johann Caspar Bluntschli. Geschichte der neueren Staatswissenschaft. Allgemeines Staatsrecht und Politik seit dem 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Aalen 1964 (= Neudruck der dritten Auflage. München 1881), S. 476: »Diese Ungerechtigkeit sollen wir uns als ein heiliges und unanfechtbares Erbteil deutscher Treue und gar deutscher Freiheit aufreden lassen! Das ist undenkbar.«
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den Jugendschriften erkennbarer Grundhaltungen 40 und versucht in Mosers Werk eine auf Einbildung und Gefühl beruhende Geistesverfassung nachzuweisen, die geniehafte Z ü g e trägt. Daß dabei zugleich Mosers Persönlichkeit mit einem »germanisch-heidnischen Nimbus« umgeben und als Urbild völkischdeutschen Wesens gefeiert wird, ist zu Recht auf Kritik gestoßen. 41 Daß zwischen 1933 und 1945 diese nationalistische Tendenz verstärkt und bis zur Inanspruchnahme Mosers und seines Werkes zum Zwecke nationalsozialistischer Propaganda gesteigert wird, ist nicht zu übersehen. Selbst ein so versierter Möserkenner wie Werner Pleister sieht in Moser den Verteidiger »germanischer Lebenswerte«, den völkischen Pädagogen und Protagonisten eines zu sich selbst gekommenen deutschen Wesens. 42 Sicher nicht unbeeinflußt von derartigen Mißdeutungen versteht Nayak ihn sogar als intellektuellen Wegbereiter des Nationalsozialismus. 43 Nach einer Phase der vorsichtigen Distanzierung ist die Möserforschung nach dem zweiten Weltkrieg um ein differenzierteres, entmythologisiertes Möserbild 40
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Vgl.: Peter Klassen. Justus Moser. Frankfurt/Main 1936. Diesen Verdienst von Klassens Biographie hat zuerst William Sheldon erkannt. Vgl.: ders. The Intellectual Development of Justus Moser. The Growth of a German Patriot. Osnabrück 1970, S. 126 Vgl.: Heinrich Kanz, S. 67 Vgl.: Werner Pleister. Einleitung zu: Justus Moser. Briefe, S. Χ Χ £ , XXV, XIX. Für die Frage nach dem nationalen Interesse des jungen Moser bis zur Abfassung der »Osnabrückischen Geschichte« bietet demgegenüber Pleisters Dissertation von 1928 wertvolle Einsichten. Sie informiert vor allem grundlegend über Mosers Lektüre während seiner Schulzeit und dokumentiert dessen umfassende Bildung. Mosers Jugendschriften sind nach Pleister angefüllt »mit Philosophie von der Bibel bis zu Hume, mit Literaturangaben aller bedeutenden englischen, französischen, italienischen und manchmal auch deutschen Schriftsteller«, Moser beweise durch sie »ein Verständnis fiir Malerei, Musik, Dichtung, überhaupt fur die Aufgaben der Kunst, das zeitlos, echt und werthaltig« sei. Ders.: Die geistige Entwicklung Justus Mosers. In: Osnabrücker Mitteilungen. Bd. 50. 1929, S. 83 Vgl.: Raghubhai Nayak. Idee und Gestalt der Nationalerziehung bei Justus Moser. Würzburg-Aumühle 1940, S. 21: »Die Auffassung Mosers von der Nation entwickelte sich, obwohl ihn manches mit Moser und Bühlau verband, unabhängig von ihnen. Sein Begriff ähnelt vielmehr in auffallender Weise dem, der sich in der Gegenwart in Deutschland durchgesetzt hat.« Auch Ernst Rudolf Huber mißversteht Mosers nationales Anliegen, wenn er behauptet: »Zugleich aber ist wesentlich, daß das neue Menschenbild der deutschen Bewegung, die Gestalt der in sittlicher Freiheit zur Vollendung ihrer eingeborenen Möglichkeiten strebenden Persönlichkeit, bereits in seinen Elementen gefaßt und mit Volkstum und Staatsidee zur Einheit verbunden ist. Lange bevor die politische Möglichkeit eines solchen auf Menschentum und Volkstum gegründeten Staates sich in den ersten Ansätzen ergab, mitten im Zerfall des deutschen Reiches und auf dem Höhepunkt des dynastisch-partikularen Territorialstaates, hat Moser die menschlichen u. nationalen Kräfte, die die Deutsche Bewegung zu entbinden im Begriffe war, geahnt und das Bild eines deutschen Staates der Zukunft entworfen.« Ders.: Lessing, Klopstock, Moser und die Wendung vom aufgeklärten zum historisch-individuellen Volksbegriff. In: Zeitschrift fur die gesamte Staatswissenschaft. Bd. 104. 1944, S. 146 f. 2
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bemüht. 44 Moser gerät nun als Künder der Humanität, des »gesunden Menschenverstandes« ins Blickfeld. 45 In seiner umfassenden Untersuchung zur Entwicklung des nationalen D e n kens in Europa grenzt Hans Kohn die nationale Perspektive in Mosers Denken zu Recht scharf gegenüber den nationalistischen Tendenzen des 19. Jahrhunderts ab 46 und betont Mosers N ä h e zur Aufklärung. Heinrich Kanz versucht in einem geistesgeschichtlichen Querschnitt die bis dahin bildungsgeschichtlich relevanten Möserbilder neu zu ordnen und nach verschiedenen Phasen - die er als »Heroisierung«, »Ideologisierung«, »Verbürgerlichung«, »Verniedlichung« und »Verwissenschaftlichung«47 charakterisiert - zu unterscheiden. Ihm geht es vor allem darum, eine weithin verkannte »Modernität« Mosers herauszustellen, indem er das Nationalerziehungskonzept seiner Schriften unter dem Begriff des »humanen Realismus« faßt48 und Bezüge zur Erziehungstheorie und -praxis der Gegenwart herstellt. Für eine Revision der bis in die jüngste Forschung tradierten Einstufung Mosers als eines »grundsätzlich Konservativen« setzt sich auch Göttsching entschieden ein. 49 Während Moser mit seinem Konzept der Nation in Carlo Antonis 44 45
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Vgl. Heinrich Kanz, S. 13 Vgl.: Ernst von Hippel. Künder der Humanität. Bonn 1946. S. 45-49.; Wilhelm Speal. Common sense oder Gesunder Menschenverstand und sein Ausdruck bei Justus Moser. Essen 1947. Weitere Literaturangaben bei Heinrich Kanz, S. 15 ff. Vgl.: ebd., S. 14: »Was nun zerstört wurde, war das falsche Bild der nationalistischen Verkennung.« Vgl.: Hans Kohn. Die Idee des Nationalismus. Ursprung und Geschichte bis zur französischen Revolution. Heidelberg 1950, S. 560: »Nur drei Gestalten aus der deutschen Literatur der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts - nämlich Klopstock, Justus Moser und Herder - kann man, jeden in seiner Art, als Vorläufer des deutschen Nationalismus ansprechen. Doch auch diese drei Gestalten wurzelten tief in der Aufklärung: Ihre Geisteshaltung war humanitär und in eben dem Maße kosmopolitisch wie national. Jeder von ihnen hatte ein starkes Freiheitsempfinden und eine universale Gedankenweite, die den typischen Vertretern des deutschen Nationalismus des 19. Jahrhunderts gänzlich fehlte.« Vgl.: Heinrich Kanz, S. 74. Kanz, der die bisherigen Möserbilder unter »erziehungshistoriographischen« Gesichtspunkten zusammenfaßt, räumt allerdings selbst ein, daß die Grenzen zwischen diesen Phasen schwer zu ziehen sind. Vgl.: ebd., S. 13 Vgl.: Heinrich Kanz, S. 32. Wenn Kanz versucht, aus der »Entmythologisierung der Gestalt Mosers« Anhaltspunkte für einen »etwaigen Einsatz Mosers in der Bildungsund Erziehungsverwirklichung der Gegenwart und Zukunft« zu entwickeln (S. 224) und sein Werk unter der didaktischen Zielsetzung einer Gewinnung von »Lebensbewältigungsstrategien« bearbeitet, erscheinen diese Aktualitätsbezüge allerdings mehr als fragwürdig. Vgl.: ebd., S. 227 Vgl.: Paul Göttsching. Geschichte und Gegenwart bei Justus Moser. Politische Geschichtsschreibung im Rahmen der Dekadenzvorstellung. In: Osnabrücker Mitteilungen. Bd. 83.1977, S. 95-116; ders. Zwischen Historismus und politischer Geschichtsschreibung. Zur Diskussion um Mosers Osnabrückische Geschichte. In: Osn. Mitt. Bd. 82.1976, S. 60-79; ders. »Bürgerliche Ehre« und »Recht der Menschheit« bei Justus Moser. Zur Problematik der Grund- und Freiheitsrechte im »aufgeklärten Ständetum«. In: Osn. Mitt. Bd. 84. 1978, S. 51-79
kritischem Rückblick auf die Entwicklung des deutschen Nationalgedankens, trotz aller Würdigung seiner Verdienste um »Originalität« und »Individualität«, als der »erste große europäische Reaktionär« erscheint50 und von Greiffenhagen, Mannheim und Epstein als Prototyp eines bewußten Konservatismus vor 1789 angeführt wird' 1 , ist er Göttschings Interpretation zufolge der Protagonist »einer neuen Deutung der Frühzeit aus sehr zeitgemäßen Vorstellungen und äußerst >fortschrittlichen< Tendenzen des 18. Jahrhunderts.« 52 Ungenügend berücksichtigt wurden nach Göttsching bisher vor allem Mosers Ansätze einer politischen, auf bürgerliche Emanzipation zielenden Geschichtsschreibung. 53 Dieser Ergebnisse ungeachtet, hat erst jüngst Richard Saage Moser noch einmal in die Reihe der konservativen Aufklärungskritiker eingereiht, dabei aber zugleich auf eine dieser Kritik immanente Dialektik verwiesen.' 4 Für William Sheldon ist die Frage nach der Situierung von Mosers nationalem Denken nur im Zusammenhang seiner geistigen Entwicklung, die er als eine organische versteht, zu beantworten. Er definiert Mosers Weltanschauung als »pragmatischen Idealismus« und zeichnet ihre Genese anhand eines dreistufigen Enwicklungsprozesses nach. Demnach gelangt Moser vom universal-moralischen über das national-historische zum lokal-politischen Denken. 55 Jeder dieser im Werk zu verfolgenden Phasen geistiger Neuorientierung korrespondiert eine 50
Carlo Antoni. Der Kampf wider die Vernunft. Zur Entstehungsgeschichte des deutschen Freiheitsgedankens. Stuttgart 1951 (Ubersetzung von Walter Goetz), S. 101. Vgl. audi: S. 122: »Krieg, Aberglauben, Intoleranz waren die Ungeheuer, die das Jahrhundert, das an den Frieden, an die Vernunft und an den Menschen glaubte, mit dem Fortschritt des Lichts zu vertreiben wünschte. Moser stellt die Begriffe auf den Kopf und geht zum andern Extrem über. Da man sich vorgenommen hatte, mit dem Licht die Finsternis verschwinden zu machen, so stellt er dem nicht nur die Ununterdrüdcbarkeit und Notwendigkeit der Finsternis entgegen, sondern er will das Licht ausgelöscht haben.«
'' Vgl.: Martin Greiffenhagen. Das Dilemma des Konservatismus in Deutschland. Frankfurt/M. 1986 (= ergänzte Taschenbuchausgabe Suhrkamp), S. 54-61; Karl Mannheim. Wissenssoziologie. Auswahl aus dem Werk. Eingeleitet und hrsg. ν. Κ Η. Wolff. Berlin, Neuwied 1964, S. 472 ff; Klaus Epstein. Justus Moser. Porträt eines vorrevolutionären Konservativen. In: ders. Die Ursprünge des Konservativismus in Deutschland. (aus dem Englischen v. J. Zischler). Berlin 1968, S. 345-391. " Paul Göttsching. »Bürgerliche Ehre [...], S. 63 " Vgl.: ders. Geschichte und Gegenwart [...] S. 95; Z u einer differenzierten Beurteilung von Mosers Konservatismus gelangt auch Hermann Bausinger. Vgl.: ders. Konservative Aufklärung - Justus Moser vom Blickpunkt der Gegenwart. In: Zeitschrift fur Volkskunde. Bd. 68. 1972, S. 161-178 54 Vgl.: ders. Absolutismus und Aufklärung in Deutschland. In: Handbuch der politischen Ideen. Hrsg.: Iring Fetscher. München 1985, S. 541 " Vgl.: William Sheldon. The Intellectual Development of Justus Moser. The Growth of a German Patriot. Osnabrück 1970, S. 1: »A >Weltanschauung< in Moser has the charakteristics of a bipolarity, that is, it consists of two poles which form a unit. In his youth the two poles were >universal< and >moralnational< and >historicallocal< and >politicalDeutschen Nationalgeist< hiebei und habe zugleich ein andres Stück, welches der Pedant zum >Nationalgeist< ist, beurteilt. In dieser Beurteilung sind einige starke Züge, welche à costi anstößig sein könnten, mit eingeflossen. Doch habe ich ihnen am Ende ein Korrektiv beigefügt.« Justus Moser. Briefe, S. 240 16 Johann Jacob Bühlau. Noch etwas [...], S. 2.14 17 Johann Jacob Bühlau. Noch etwas [...], S. 203. Da Mosers Schrift alle diese Fragen unberührt läßt, sollte sie nach Bühlau eher den Titel tragen: »Von der Unterthänigkeitspflicht der deutschen Reichsstände gegen ihren Kayser.« Ebd., S. 214 " Justus Moser. S W V I I , 235
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esse entgegen.19 Und wie jenem erscheint auch ihm die Reichspublicistik in dieser Hinsicht wenig konstitutiv. Die dort behandelten Streitfälle und Rechtsfragen veranlassen ihn vielmehr zu der Feststellung, die deutsche »Freiheit sei eine Mätresse, die mehr zu unterhalten koste, als eine ehrliche Frau, und doch einen rechtschaffenen Mann bisweilen ins Spital« bringe. Denn, so habe man sich zu fragen, »was ist die Freiheit aller großen und kleinen Reichsstände, wenn Millionen von Untertanen dadurch nicht glücklicher sind?«10 Für Mosers auf die Lebensbedingungen des Bauern- und Bürgerstandes gerichtete Perspektive sind die Spekulationen darüber, »ob wir als freie Reichsuntertanen glücklicher als Territorialuntertanen sein werden«, müßig, solange die sozialen und ökonomischen Probleme von dieser Frage nicht betroffen sind.21 Auch die Vorstellung, daß der Reichspatriotismus identitätsstiftend wirken könnte, weist Moser entschieden zurück. In seinen Äußerungen zum Thema des deutschen Nationalgeistes ist ein realistischer und pragmatischer Sinn zu erkennen, dem Mosers Appell, »unserer Phantasie ein solch begeisterndes Bild vorzuschieben, über dessen Reiz wir nicht nur unser gegenwärtiges Elend vergessen, sondern auch die Lust verlieren, uns mit glücklichern Menschen in Vergleichung zu setzen«", im Grunde fremd bleiben muß. Allen im Zusammenhang der Nationalgeistdiskussion erhobenen Forderungen nach »Einheit« und »Eintracht« kann der »Pragmatiker« nur mit Ironie und tiefer Skepsis begegnen. »Es ist eine besondere Sache um uns arme Deutschen; ohne Hauptstadt sollen wir ein eigenes Nationaltheater, ohne Nationalinteresse Patriotismus und ohne ein allgemeines Oberhaupt unsern eigenen Ton in der Kunst erlangen; wir, die wir auf die Bühne höchstens einen Provinzialnarren bringen, zum allgemeinen Reichsbesten dann und wann eine gute Hausanstalt machen und in den Kunstwerken selten mehr als eine Art von Bocksbeutel kennen, wo wir nicht Muster in der Fremde suchen.
Hinsichtlich der Konstitutierung eines deutschen Nationaltheaters und Nationalgeschmacks beurteilt Moser die Schwierigkeiten ähnlich, wie der zum Kreis um Bernstorff und Klopstock gehörende Helfrich Peter Sturz, der in seinem »Brief über das deutsche Theater an die Freunde und Beschützer desselben in Hamburg« die Hauptstadtproblematik anspricht. »Haben wir eine Hauptstadt, die uns alle versammelt, die uns mit uns selber bekannt macht? [...] Wir empfinden nachdrücklich genug die schwere Hand unsrer Beherrscher, [...] wir werden nach dem Ton ihrer Höfe untertänig erzogen, wie Bäume in geschmacklosen Gärten in schnörkelartige Gestalten verschnitten und nur sehr sparsam
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Z u Mosers kritischer Einstellung gegenüber dem Reich vgl. auch: Erwin Sadowski. Justus Moser als Politiker. Königsberg 1921, S. 37 ff. S W I I I , 289 S W I I I , 285 Friedrich Carl von Moser. Patriotische Briefe, S. 223 Justus Moser. S W I V , 255
durch den Staubregen ihrer Wohltaten erquickt. Was Wunder, wenn man auf dem deutschen Boden nur ungesunde Stauden und Buschwerk wahrnimmt.« 14
Sturz, der sich mit den Möglichkeiten einer spezifisch nationalen Tragödie und Komödie unter den Bedingungen dieser kulturellen Abhängigkeiten auseinandersetzt, ist wie Moser der Ansicht, daß die »alte nordische Geschichte reich an großen Begebenheiten« ist, und dem »Dichter, der das wahre Erhabene fühlt, fast mehr als die griechische wert« sein sollte.25 Unmöglich erscheint ihm indes eine Nationalisierung der »höheren Komödie«, denn »in der guten Gesellschaft« sind auch fur ihn wie für Moser »die Sitten nachgeahmt«, die »Einfälle übersetzt«, die Verhaltensweisen »aus französischer Seide gesponnen.«26 »Diese schielenden Geschöpfe« auf das Theater zu bringen, bedeutet seiner Ansicht nach nichts anderes als die Kopie zu kopieren.27 Für die »Unfruchtbarkeit der nationalen Charaktere« ist nach Sturz in erster Linie »die Regierungsform in Deutschland« verantwortlich. Aufgrund des Fehlens einer Metropole sind »der Witz des Umgangs, der geistvolle Scherz, die lachende Satire« in der Nation ebenso unbekannte Dinge wie der Begriff »Urbanität (eine Sache, die unsre Sprache noch nicht nennt)«.28 Daß Überlegungen zu diesen Problemen einer nationalen Charakterisierung nicht zuletzt den Anlaß fiir Mosers berühmte »Verteidigung des Groteske=Komischen« auf der deutschen Bühne bilden, ist bisher übersehen worden.29 Moser, der selbst in die Rolle eines - nicht mit dem possenreißenden Hanswurst zu verwechselnden - Harlekins schlüpft, sucht in Form des zwischen geistvollem Scherz und wissenschaftlicher Abhandlung changierenden Theatermonologs nicht nur jene oben bezeichnete »lachende Satire« anhand der Behandlung seines Gegenstandes vor Augen zu fuhren, sondern zugleich auch die Notwendigkeit stehender Charaktere fiir das deutsche Theater zu erweisen. Auf die Figur des Harlekin kann seiner Ansicht nach vor allem deshalb nicht verzichtet werden, weil die Deutschen »aus Mangel einer Hauptstadt wenig symbolische Worte, kein la Greve, kein Drury lane, kein Tyburn, keine genugsam bekannten Helden« haben.' 0 Harlekin hingegen, dem »gemeinen Mann« so bekannt »wie das Thier in der Fabel«, vermag in Deutschland dasjenige auf der Bühne zu leisten, was »Venus 14
Dieser Brief aus Kopenhagen, aus dem Jahre 1767 ist abgedruckt in: Dramaturgische Schriften des 18. Jahrhunderts. Hrsg.: Klaus Hammer. Berlin/DDR 1968, S. 149 ff. Vgl. das Zitat ebd., S. 152. Vgl. dazu auch: Lenz Prütting. Überlegungen zur normativen und faktischen Genese eines Nationaltheaters. In: Das Ende des Stehgreifspiels. Die Geburt des Nationaltheaters. Ein Wendepunkt in der Geschichte des europäischen Dramas. Hrsg.: Roger Bauer u. Jürgen Wertheimer. München 1983, S. 153-164 *5 Helfrich Peter Sturz. Brief über das deutsche Theater [...], S. 151 16 Helfrich Peter Sturz, S. 152 27 28 29
Helfrich Peter Sturz, S. 152 Helfrich Peter Sturz, S. 152 Die ästhetische Bedeutung der 1761 verfaßten Schrift (SW II, 306 ff.) wird im Zusammenhang der Analyse von Mosers ästhetischem Denken behandelt werden. S W I I , 342
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und Minerva in der Heldengeschichte leisten, nämlich, [...] den ganzen Charakter des Handelnden auf kürzestem Wege zur Intuition« zu bringen.' 1 Da die deutsche Sprache nicht über jene »allgemeinen und symbolischen Konventionalbegriffe« der französischen und englischen verfugt, würde seine Verbannung eine weitere Verarmung des nationalen Theaters zur Folge haben.32 Wie beschränkt dessen Möglichkeiten ohnehin sind, fuhrt Moser in einer »Patriotischen Phantasie« aus. »Wir kommen nicht einmal zu einem rechten Nationalfluche oder Scheltworte: jede Provinz schimpft und flucht anders oder verbindet mit dem Fluche oder Worte andre Begriffe; anstatt daß ein Fluch aus Paris nicht allein in Frankreich, sondern auch sogar in Deutschland in seinem völligen Ton verständlich ist. Der Pariser Galgen, Zuchthäuser und Spitäler sind so bekannt wie der Fuchs in der Fabel. Jede Allegorie, jede Allusion, so auf Grubstreet, Tyburn, Bedlam in der Komedie gemacht wird, ist völlig verständlich und sinnlich. Der dadurch bezeichnete Begriff kömmt zu einer hinlänglichen Intuition; einer nenne mir einmal einen deutschen Galgen, der so bezeichnet werden könnte. Alles, was bei uns auf die Bühne kömmt, ist noch zur Zeit provinzial; und so wenig Wien als Berlin und Leipzig haben ihren Ton zum Nationalton erheben können.«"
Sowohl Herder als auch Goethe berufen sich in ihrer Beurteilung der nationalen Komödie in diesem Sinne auf Moser. Herder, der in seinen Überlegungen zu der Frage »Haben wir eine französische Bühne?« dafür eintritt, das jede »Nation in der Welt die Komödien nach ihrer Art« ausbilden, »das Lächerliche« entsprechend der ihr eigenen Mentalität zeichnen soll, beklagt wie Moser, daß man in Deutschland, wo »man kaum mehr als den Arlekin« hatte, diesen vom »Theater gejagt, ehe man ihn zu brauchen gelernt und ehe man was Besseres hatte.«34 Moser, in der Maske eines »einsichtsvolle(n) und äußerst feine(n) Arlekjns« habe die »komische Welt« nicht nur von der Brauchbarkeit dieser Figur überzeugt, sondern die Theaterkritik zugleich von »dem Vorurteil [...], daß der mittlere Stand unter dem komischen Theater wäre«, befreit, indem er gezeigt habe, daß es »nicht auf das was, sondern wie es ausgebildet« werde, ankomme." Goethe greift Mosers Gedanken über das Lächerliche in »Wilhelm Meisters theatralischer Sendung« auf 3 i und entwickelt im Zusammenhang des bereits von Moser erkannten Problems der nationalen Charakterisierung den Plan einer spezifisch nationalen »commedia dell'arte«, die »der Grund eines deutschen Nationaltheaters« hätte werden können. '' Justus Moser. Briefe, S. 114 und S W I I , 342 Justus Moser. Briefe, S. 342 53 S W I V , 256 34 Johann Gottfried Herder. Aus den Fragmenten: Uber die neuere deutsche Literatur. In: Dramaturgische Schriften des 18. Jahrhunderts, S. 215 f. " Johann Gottfried Herder. Aus den Fragmenten [...], S. 216 36 Vgl.: Goethe. S W 8 , 649: »[...] und wie uns ein denkender Mann gesagt hat, daß Übelstand ohne Schmerz, Größe ohne Stärke, tiefe Quellen des Lächerlichen sind.« 118
»Wir sprachen oft über die Vorteile der italienischen Masken, über das Interesse, daß jeder einen bestimmten Charakter, Heimat und Sprache hat, über die Bequemlichkeit, daß ein Akteur sich in eine einzelne Personnage recht hinein studieren kann und alsdann, wenn er geistreich immer im gleichen Charakter handelt, statt das Publikum zu ermüden, jederzeit gewiß ist, es zu entzücken. Wir dachten auch etwas auf deutsche Weise in dieser Art hervorzubringen; unser Hanswurst war ein Salzburger, unsern Landjunker wollten wir aus Pommern nehmen, unsern Doktor aus Schwaben, unser Alter sollte ein niedersächsischer Handelsmann sein, wir wollten ihm eine Art von Matrosen als Diener geben, unsre Verliebten sollten Hochdeutsch sprechen und aus Obersachsen sein, und die schöne Leonore oder wie wir sie nennen wollten, sollte ein Leipziger Stubenmädchen als Columbine bei sich haben. Wir wollten den Schauplatz in Häfen, Handelsstädte, auf große Messen verlegen, um alle diese Leute geschickt zusammen zu bringen. Wir wollten selbst einen reisenden Arlekin, Pantalon, Brighella auffuhren und durch diese Kontraste unser Stück noch mannigfaltiger und reizender machen. Unser Einfall war nur obenhin. Wie vieles hätte man durch Zeit und Muße dazu gewinnen können!«37 Indem er stehende Charaktere entwirft, die im Sinne Mosers die Verschiedenartigkeit und Mannigfaltigkeit der Provinzialsitten und -sprachen mittels einer bestimmten Figur »auf dem kürzesten Wege zur Intuition« bringen, sucht Goethe die Nachteile der deutschen Provinzkultur für die Bühne in einen Vorteil zu verwandeln. Die Orte der Handlung sind dabei so geschickt gewählt, daß provinzielle Verschiedenheit und die ftir den individuellen »Nationalton« geforderten Gemeinsamkeiten gleichermaßen zur Integration gebracht werden können. Goethes Plan bezeichnet eines jener »großen Exempel unsrer Zeit«, die auch Herder im Blick hat, wenn er die Hoffnung ausspricht, daß ungeachtet einer Staatsverfasssung, die »die einzige von ihrer Art in der Welt ist«, die deutsche Bühne »an verschiedenen Höfen und in unterschiedenen Provinzen sich langsam, schwer, aber doch endlich zur Welt arbeiten« könnte.' 8 Diese auf Mosers Anregungen zurückgehenden kulturkritischen Ansätze zeigen deutlich, was dessen Nationalgeistkonzept von demjenigen der Reichspublicistik unterscheidet. Während für Moser, der in erster Linie die politischen Folgen des Partikularismus im Blick hat, die Neubesinnung auf einen deutschen Nationalgeist gleichbedeutend mit einer Bewußtseinsveränderung ist und er über
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Goethe. S W 8 , 669 f. '8 Johann Gottfried Herder. Aus den Fragmenten über die neuere deutsche Literatur. In: Dramaturgische Schriften des 18. Jahrhunderts, S. 217. Was die Kategorie des Komischen anbelangt, geht Herder sogar noch einen Schritt weiter als Moser: »Überhaupt, um die Laune einer Nation, den Charakter eines Theaters, ja ich darf sagen, den unterscheidenden Hauptton seines eigenen Genies festzusetzen, fange man immer vom Groben an; man verschließe sogar nicht dem altdeutschen Hans-Wurst das Theater; dies ist noch immer viel zu früh: noch immer ist Deutschland im Alter der Versuche, der Proben; [...] auf diese Versuche stützt sich endlich [...] der Dichter, der geboren ist, um, aber später, einem Theater den Namen zu geben, den Charakter einer ganzen Nation auf die Bühne zu bringen und seinen Geschmack zum Geschmack des Volks zu machen.« Ebd., S. 208 119
die Aktivierung des alten Reichsverbandes zu einer neuen Identität zu gelangen hofft, spannt Moser den Rahmen viel weiter. Hinsichtlich der Reichsfrage konstatiert er noch 1781 äußerst skeptisch: »Und wir haben höchstens nur Vaterstädte und ein gelehrtes Vaterland, was wir als Bürger und als Gelehrte lieben. Für die Erhaltung des deutschen Reichssystems stürzt sich bei uns kein Curtius in den Abgrund.«39 Zwar möchte audi Moser in den »Forderungen gegen die deutsche Nation unerschrocken fortgehen«4", aus dem bisher Ausgeführten geht jedoch hervor, daß er einen Weg sucht, an dessen Ende die Gewinnung eines nationalen Selbstverständnisses steht, das einerseits keinen Widerspruch zur Realität des politischen Partikularismus bildet, andererseits aber auch eine politische und kulturelle Selbstdarstellung ermöglicht, die frei ist vom Trauma des Überlegenheitsanspruches der französischen Kultur. Im Interesse dieser Zielsetzung erscheint es ihm notwendig, daß sich die Frage nach dem deutschen Nationalgeist noch auf andere Gegenstände erstreckt als auf das Verhältnis zwischen Reichsständen und Kaiser, daß vor allem der Zusammenhang von politischer Verfassung und Kultur nicht aus dem Blick gerät. Auch in dieser Hinsicht findet Bühlau, der im Unterschied zu anderen Kritikern Mosers dessen Bemühen um Identitätsfindung durchaus anerkennt41, das Gewicht seiner Analyse aber auf den Nationalgeist als einem unterscheidenden Merkmal zwischen den Völkern legt, Mosers Zustimmung.42 Mit Bühlaus Hauptforderungen an die Konzeption einer Untersuchung, die zu fruchtbaren Aussagen über den Nationalcharakter der Völker gelangen will, erklärt er sich weitgehend einverstanden. Diese beziehen sich auf die Vorstellung einer Abstraktion »des eigenthümlichen Charakters« der Nation aus »den Überlieferungen der Geschichte«, eines Vergleichs desselben mit den Sitten der Gegenwart43, einer Erforschung der Ursachen seiner Veränderung und auf die Erwartung von zukunftsweisenden Schlußfolgerungen aus diesen Analysen.44 Moser wendet allerdings ein, daß der »complexus aller der besonderen Eigenschaften, wodurch sich ein Volk von dem anderen unterscheidet«, nicht auf der Grundlage eines Kataloges rationaler Kriterien bestimmt werden dürfe.4' Denn die Wahrnehmung dieses Besonderen, Unverwechselbaren ist seiner Ansicht nach nur als »Totaleindruck« möglich und kann auch nur in Form von Totaleindrücken vermittelt werden. »L'esprit de l'esemble in einem Gemälde ist wie der esprit de physionomie; man empfindet ihn leicht, und erklärt ihn nie.«46 " Justus Moser. S W I I I , 74 S W I V , 256 41 Z u den zahlreichen negativen Beurteilungen vgl.: Bruno Renner, S. 54 ff. 42 Vgl.: Johann Jacob Bühlau, S. 38 43 Johann Jacob Bühlau, S. 38 u. 42 ff. 44 Vgl.: Johann Jacob Bühlau, S. 43 45 S W I I I , 252 46 S W I I I , 252 40
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Von diesen als Gesamteindrücke zustandegekommenen Empfindungen möchte Moser jedoch die Aussagen über den Charakter einer Nation keineswegs allein abhängig machen. Deshalb dringt für ihn auch Bühlau erst dann zum eigentlichen Kern der Sache vor, »wenn er sein metaphysisches Mikroskop wegwirft und zur Anwendung seines Textes schreitet«, d.h. wenn er im Sinne Montesquieus eine Untersuchung des Nationalcharakters fordert, die konkret bezogen ist auf private, gesellschaftliche, politische und ökonomische Handlungsmuster und ihre Bezüge untereinander, wenn er ferner die Konstitution der nationalen Rechte und Sitten untersucht haben will, in bezug auf Krieg und Frieden, »nach den mannigfaltigen Staatsinteressen unserer Nachbaren, im Handlungswesen, in der Schiffahrt, in der Gelehrsamkeit nach allen ihren verschiedenen Teilen, und dann in unserer allgemeinen Regimentsform, in den davon abhängenden zum Teil besonderen, in unserer großen und kleinen Rechtspflege, in unsern Religions-, Verteidigungs-, Polizei-, Beratschlagungs-, Münzverfassungen.«47 Daß Bühlau den Begriff des Nationalgeistes nicht nur politisch-historisch, sondern als universalen KulturbegrifF auffaßt 48 , findet Mosers Beifall vor allem deshalb, weil damit die für Moser zentrale Forderung nach Eintracht und Einheit ihre Relevanz weitgehend verliert. Mit Bühlau teilt Moser die Auffassung, daß die Spekulationen darüber, »wie es in Deutschland aussehen würde, wenn das Oberhaupt alle, und der Reichsfurst keine Macht hätte«49, absolut »nichts Tröstliches« zu Tage fördern50, da »die Regierungsformen nicht eine Minute nach der Linie laufen, welche ihnen der seufzende Gelehrte in seiner Studierstube anweiset.«'1 Er zitiert dementsprechend wörtlich jene Stelle, wo Bühlau auf die mit einer Stärkung der zentralen Reichsgewalt verbundene Gefahr des Despotismus aufmerksam macht52, eine Gefahr, die einzugehen für Moser einen zu hohen Preis für das Streben nach Einheit bedeuten würde. Will man die für »die Geschichte der Menschheit« so wichtige Frage, »ob man glücklicher unter großen als unter kleinen Herren sei, der Entscheidung näher bringen«, muß man sie nach Moser ganz anders stellen. Man habe dann nämlich danach zu fragen - und das auch im historischen Vergleich - , »ob denn nun unter 47
S W I I I , 253 Vgl. zu Bühlaus kulturellem Anspruch an einen deutschen Nationalgeist auch: Bruno Renner, S. 52 49 S W I I I , 253 >° S W I I I , 254 " S W I I I , 254 52 »[...] in was fiir einer Art von Einigkeit würden wir leben [...], wenn alle unsre Reichsstände gleich ohnmächtig wären? Würden wir die Einigkeit einer Familie haben, in der jedes Kind sich freuet, den Befehlen des gemeinschaftlichen Vaters zu gehorchen, die alle, unmittelbar auf das Beste seiner Söhne abzielen? Oder würden wir die Einigkeit einer Grenadierkompagnie dulden müssen, in der der Hauptmann Feldwebel und Korporale nach Belieben macht, und Spießruten und Pfahlstehen nach Willkür anordnet?« Ebd., S. 254 f. 48
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so viel kleinen Herren Wissenschaften, Künste, Handel und Gewerbe besser als unter den Mächtigen bliiheten; ob die Hintersassen freier, glücklicher und vermögender als andre; ob sie in ihren Rechtssachen geschwinder geholfen, gegen alle Vergewaltigung kräftiger geschützt; mit Steuern und Hilfsgeldern minder beschwert; mit Fronen und Diensten mehr verschont, und überhaupt in einem reichern und ruhigem Besitze von Freiheit und Eigentum als andre Menschenkinder wären.«" Auch diese kultur- und sozialkritischen Äußerungen belegen Mosers Engagement für die bäuerlich-bürgerlichen Schichten, deren soziale Probleme weder von der Geschichtsschreibung noch von der Publizistik der Zeit ins Zentrum der Betrachtung gerückt werden. In der ftir seine vermittelnde Grundhaltung typischen Art und Weise versteckt er jedoch den Radikalismus seiner Sozialkritik in der Schlußbemerkung zu der Bühlauschen Schrift - aus der Befürchtung heraus, diese Rezension könnte »a costi anstößig« wirken54 - hinter Ironie und nimmt ihr dadurch ihre ursprüngliche Schärfe. »Wir glauben, um auch unsre Meinung darüber zu sagen, daß das beste Mittel sein würde, alle Könige und Fürsten gar abzuschaffen, den Adel aus dem Lande zu jagen, Städte und Festungen niederzureißen, alles Geld ins Meer zu werfen, alle Gelehrte nach Lappland zu schicken, und ftinf sechstel aller Deutschen an die Bäume zu knüpfen, damit der übrige Teil einzeln, weit genug auseinander, bei Kartoffeln und Gerstenbier ruhig auf der Bärenhaut liegen könne. Dann komme Rousseau oder Tacitus und schildere unsem Nationalgeist.«55
Der hier angeschlagene, spöttische Ton sollte nicht darüber hinwegtäuschen, daß es Moser mit der Vorstellung, die Erkenntnis des Ursprungs einer Nation schließe eine Erkenntnis über ihr Wesen mit ein, durchaus ernst ist. Diese Vorstellung gewinnt in seinen Schriften ab Mitte der 6oer Jahre immer deutlicher Gestalt. In dem Hinweis auf Rousseau und Tacitus deutet sich eine kultur- und zivilisationskritische Perspektive seiner Geschichtsauffassung an, in deren Kontext die Entfernung der Nation von ihren Ursprüngen primär unter negativen Vorzeichen gesehen wird und der Geschichtsverlauf als Weg der Entfremdung und Dekadenz erscheint, in eine vom Identitätsverlust gezeichnete Gegenwart mündend. Doch wenn auch im Rückblick auf die Vergangenheit vom Standpunkt der Gegenwart aus zunächst nur zu konstatieren bleibt, daß »zu allen Zeiten, von dem ersten Augenblick an, da der deutsche Nationalgeist sich einigermaßen erheben wollen, bis auf die heutige Stunde ein feindseliges Genie gegen uns gestritten« hat' 6 , hält Moser es gerade im Interesse der Gegenwart ftir unerläßlich, den historischen Entwicklungsprozeß in seiner Dynamik zu verfolgen und das bewegte Spiel von " Vgl. Mosers Rezension von »Johann Jacob Mosers neueste(r) Geschichte der unmittelbaren Reichsritterschaft [...]« In: S W I I I , 286 54 Vgl. Anm. 14 in diesem Kapitel " S W I I I , 255 56 S W I V , 216
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Kräften und Gegenkräften aufzuzeigen, das fiir die kulturelle und politische Situation der Nation verantwortlich ist. Die Nationalgeistdiskussion der 6oer Jahre bestätigt ihn in diesem Vorhaben ganz entscheidend, weiß er sich doch mit der Ansicht, daß der einzige Weg fiir die Deutschen, »mit sich selbst bekannter und auf ihre eigenen Nationalangelegenheiten aufmerksamer« zu werden57, der Weg in die Vergangenheit sei, zunehmend weniger allein. In den folgenden Kapiteln soll dieses historisch begründete Konzept der Nation im Hinblick auf seine kulturellen und soziologischen Implikationen untersucht werden.
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So Dohm und Boie im »Deutschen Museum« 1777. i, S. 4. Vgl. dazu auch: Otto Dann. Das historische Interesse in der deutschen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts. Geschichte und historische Forschung in den zeitgenössischen Zeitschriften. In: Historische Forschung im 18. Jahrhundert. Organisation. Zielsetzung. Ergebnisse. Hrsg.: Karl Hammer u. Jürgen Voss. Bonn 1976, S. 411 123
Vierter Teil
Identität durch Geschichte: Der historische Individualismus Mosers
Kapitel I Das patriotische Interesse an Geschichte in der bürgerlichen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts.
Insofern Nationalbildungstheorien den Intellektuellen - und unter diesen insbesondere den Historikern - ganz allgemein die Rolle zuschreiben, durch ihre Schriften die Einstellungen und Werthaltungen zur Gestaltung der Zukunft einer Nation entscheidend zu prägen1, ist es im Hinblick auf Mosers Geschichtskonzept von Interesse, danach zu fragen, wie dessen Zielsetzung zu bewerten ist. Dies betrifft vor allem die Frage danach, welches Aufklärungspotential seine nationalen Vorstellungen bergen, welche politischen Zwecke er damit verfolgt und welche national-kulturellen Werte durch sie etabliert bzw. legitimiert werden sollen. Wie bereits im letzten Kapitel angesprochen wurde, zögert Moser die Publikation seiner beiden Rezensionen zur Nationalgeistdiskussion fur Nicolais »ADB« absichtlich bis ins Jahr 1768 hinaus, weil er sich dazu entschlossen hat, diese Arbeiten der literarischen Öffentlichkeit in unmittelbarem Zusammenhang mit seiner in den 60er Jahren entstandenen neuen Geschiditskonzeption bekannt zu machen.2 In der Vorrede zur ersten Ausgabe der »Osnabrückischen Geschichte« wird die alles in Bewegung bringende, neben Winckelmanns »Geschichte der Kunst des Altertums« (1764), Herders »Fragmenten über die neuere deutsche Literatur« (1767) und Lessings »Hamburgischer Dramaturgie« (1767-1769) eine Wende in der deutschen Geistesgeschichte vorbereitende Perspektive dieser Konzeption3 wie folgt formuliert: »Die Geschichte von Deutschland hat meines Ermessens eine ganz neue Wendung zu hoffen, wenn wir die gemeinen Landeigentümer, als die wahren Bestandteile der Nation, durch alle ihre Veränderungen verfolgen.« 4
' Vgl.: Gangolf Hübinger. Nationalkultur als Thema der Geschichtsschreibung. Fragen zur Repräsentativität Grégoires. In: Von der Aufklärung zum Historismus. Z u m Strukturwandel historischen Denkens. Hrsg.: Horst W. Blanke u. Jörn Rüsen. Paderborn, München, Wien, Zürich 1984, S. 219 2 Daß er den Rezensionen durch seine »Osnabrückische Geschichte« mehr »Gewicht« zu geben beabsichtigt, teilt er Nicolai am 11.2.1767 in einem Brief mit. Vgl.: Justus Moser. Briefe, S. 232. Vgl. dazu auch: Paul Göttsching. Geschichte und Gegenwart [...], S. 99 ' Diese Bedeutung fur die Ideengeschichte erkennt bereits Göttsching. Vgl.: ders. Vorwort zur »Osnabrückischen Geschichte«. S W XII, 1 , 1 2 4 S W X I I , ι, 34
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Mit dieser Beschränkung auf die Betrachtung des historischen Schicksals einer ganz bestimmten sozialen Gruppierung, die fur ihn den ursprünglichen Kern der Nation darstellt, glaubt Moser nicht nur die Frage nach dem deutschen Nationalcharakter zukunftsweisend beantworten zu können', sondern auch eine Revolution der Geschichtsschreibung auszulösen. Ist er doch bereits 1763 - vor seiner Abreise nach England - davon überzeugt, »eine ganz reizende Theorie erfunden« zu haben, die »alle bisherigen Systemen der Reichs- und Landesgeschichte völlig umstürze, die kayserl(ichen) und landesherrl(ichen) Rechte aus ganz neuen Grundsätzen einschränke.«' Wie bereits im letzten Kapitel dargelegt wurde, bedeutet diese Einschränkung, daß Moser nicht mehr wie die Reichspublicisten von dem Problem der Abgrenzung der Rechte des Landesherren oder der Landstände gegen den Kaiser ausgehen will, sondern eine Geschichte der seiner Ansicht nach staatstragenden Schicht fordert. Dies hat, wie Moser in einem Brief an Abbt deutlich zum Ausdruck bringt, die Abkehr von der auch Personen- und Charakterschilderungen einbeziehenden7 Fürstengeschichte zugunsten einer »Volksgeschichte« zur Konsequenz. »Ich verlange die Geschichte des Volks und seiner Regierungsform und sehe den Regenten als einen zufälligen Umstand an, der blos in so fern wesentlich wird, als er einigen Stof zur Veränderung in diesem oder jenem giebt.«8
Gefordert wird hier zum erstenmal die kontinuitätsverbürgende Darstellung der Nation als historisches Subjekt am Leitfaden eines Prinzips', durch welches die historischen Ereignisse und ihre Folgen in Zusammenhang gebracht werden. Bereits die zeitgenössischen Rezensionen der »Osnabrückischen Geschichte« zeigen, daß Mosers Werk nicht nur als ein auf landesgeschichtliche Forschung bezogenes aufgefaßt, sondern als historische Schau der ganzen Nation, als der eigentliche Beginn einer nationalen Geschichtsschreibung verstanden 1
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»Wir können sodenn [...] den Ursprung, den Fortgang und auch das unterschiedliche Verhältnis des Nationalcharakters unter allen Veränderungen mit weit mehrer Ordnung und Deutlichkeit entwickeln, als wenn wir bloß das Leben und die Bemühungen der Arzte beschreiben, ohne des kranken Körpers zu gedenken.« S W X I I , 1, 34. Vgl. dazu auch: Peter Schmidt. Studien [...], S. 120 Justus Moser. Briefe, S. 424 Moser bekennt in der Vorrede, daß er »die Charaktere der vorkommenden Personen niemals in einem besonderen Gemälde entworfen und nur selten einige Betrachtungen mit eingestreuet« habe. Denn er ist der Ansicht, daß »in der Geschichte, so wie auf einem Gemälde, bloß die Taten reden und Eindruck, Betrachtung und Urteil jedem Zuschauer eigen bleiben« müsse. S W XII, 1, 32 f. Justus Moser. Briefe, S. 190 Zur Bedeutung der Nation als Subjekt der Geschichte vgl. auch Tilman Mayers Studie zum Nationenbegriff. Leider wird hier der historischen Dimension der nationalen Frage aufgrund des streng systematisch orientierten Versuchs der Erstellung einer Nationentheorie kaum Beachtung geschenkt. Vgl.: ders. Prinzip Nation. Dimensionen der nationalen Frage. Dargestellt am Beispiel Deutschlands. Opladen 1986, S. 26 ff.
wird.10 In genau diesem Sinne hat Herder Moser als den ersten deutschen Historiker »mit deutschem Kopf und Herzen« bezeichnet." Bevor nun Mosers auf die »Edlen und Gemeinen« in ihrer Eigenschaft als Landeigentümer bezogener, epochaler Geschichtsentwurf dargestellt und sein sich im Spannungsfeld von aufgeklärter Naturrechtslehre, Reichspublicistik, römischer Rechtslehre, altständischem Rechts- und Freiheitsbewußtsein und empirisch-philosophischem Denken konstituierender NationsbegrifF analysiert wird, soll ein kurzer Überblick über den Stand der Historiographie im 18. Jahrhundert, sowie über die fur Moser entscheidenden geistigen Vorgänge vor Abfassung der »Osnabrückischen Geschichte« erfolgen. Denn nur vor diesem Hintergrund läßt sich die soziologisch-emanzipatorische und national-kulturelle Tragweite des historischen Neuansatzes ermessen, von dem Moser selbst sagt, daß er als »neue Reichsgeschichte« das »bisherige System unserer Rechtshistorie ziemlich durchlöchert« und mit »verfluchte(r) Verwegenheit vor einen Osnabrücker [...] Historie, Geographie und jus publicum über den Haufen« wirft.11 Im Hinblick auf die Frage nach dem historischen Interesse in der deutschen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts konstatiert Vierhaus 1976: »Eine gegenwärtigen Ansprüchen genügende Wissenschaftsgeschichte der Geschichtswissenschaft gibt es noch nicht. Sie müßte mehr und anderes sein als nur Literatur- und Ideengeschichte der Geschichtsschreibung, nämlich auch Geschichte der Institutionen und der Methoden der Geschichtswissenschaft, Sozialgeschichte der Historiker, aber auch Geschichte der allgemeinen Bildung, der leitenden Bildungsideen und der Aufnahme historiographischer Werke durch die Gesellschaft sowie Geschichte des Geschichtsbewußtseins.«''
Obwohl viele der hier postulierten Forderungen noch immer Desiderat der Forschung geblieben sind, ist doch infolge zahlreicher neuerer Arbeiten eine seit etwa 1900 tradierte Vorstellung längst revidiert worden, derzufolge der vom Rationalimus geprägten Gesellschaft der Aufklärung jeglicher Sinn für historische Entwicklungen und genetische Betrachtungsweisen abgesprochen wurde. Die Charakterisierung des 18. Jahrhunderts als unhistorisch bedarf keiner Widerle10
Eine eingehende Besprechung erfolgte durch den Göttinger Universitätshistoriker Johann C. Gatterer, der nach dem Erscheinen von Mosers »Allgemeiner Einleitung« diesem die Mitgliedschalt in seinem historischen Institut und einen Briefwechsel über die aufgeworfenen Fragen in seiner Zeitschrift anbot. Vgl.: Justus Moser. Briefe, S. 241 f. u. S W I X , 366 ff. Nicolais »ADB« würdigte Mosers »große Kenntnis des deutschen Altertums und eine männliche politische Philosophie [...]« (1769. IX. 1, S. 102 f.) Für Schubart hat Moser mit seinem weitreichenden und tragenden Entwurf einer deutschen Geschichte bewiesen, daß er neben Schlözer »die größte Anlage zu einem Hume oder Robertson« hat. (Deutsche Chronik, 1774, S. 534 ff.)
" Vgl. oben, Kapitel I: Mosers nationales Denken im Spiegel der Kritik, Anmerk. 11 " Justus Moser. Briefe, S. 146 u. 191 '' Ders. Geschichtsschreibung als Literatur im 18. Jahrhundert. In: Historische Forschung im 18. Jahrhundert, S. 416
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gung mehr, seit die Leistungen der deutschen Akademien, der Universitäten und der Publicistik im Hinblick auf die Herausbildung eines historischen Bewußtseins entsprechend gewürdigt worden sind.14 Dabei hat sich vor allem ergeben, daß hinter der Zuwendung zu historischen Fragestellungen auch in Deutschland der emanzipatorische Aufstieg bürgerlicher Schichten und der von diesen vertretene Anspruch auf politische Erziehung und Willensbildung stehen.1' Diese Zuwendung ist infolgedessen charakterisiert durch eine neue Einstellung zur Geschichte überhaupt und durch einen Wandel des historischen Interesses, der nach 1750 im Zuge des kumulierenden Interesses an nationalen Fragestellungen zu einer tiefgreifenden Umformung historischer Methoden und historischen Fragens führt. Deutlich sichtbar ist dieser Wandel in der Gattung der Universalgeschichte, nach Zedlers »Universallexicon« als »Erzählung aller Welt-Händel von dem Anbeginn der Welt bis auf unsre Zeit nach allen Reichen, Völkern und Zeiten« definiert.' 6 Mit der Frage nach dem Wesen des Menschen und dem Sinn seiner historischen Existenz erweitert die Aufklärung den universalen Bezugsrahmen dieser Gattung um die philosophische Dimension und vollzieht mit Voltaires »histoire des moeurs« darüberhinaus den ersten Schritt auf dem Weg zu einer modernen Kulturgeschichtsschreibung.'7 Bereits Voltaires Werk bedeutet ein Herausforderung für alle traditionellen Formen der Geschichtsschreibung, kann es doch nach seinem Versuch, mit der Zeichnung der Sitten und des Geistes der Menschheit die Gesamtdarstellung einer Epoche zu leisten und die Perioden in eine Kulturzyklentheorie einzuordnen, keine Selbstverständlichkeit mehr sein, das Schicksal der Fürstenhäuser sowie die Haupt- und Staatsaktionen als Gegenstand der Geschichte anzusehen.18 In diesem wichtigen Schritt auf dem Weg zu einer Neudefinition des historischen Subjekts liegt auch Voltaires Bedeutung für Moser als Historiker.'9 14
Vgl. bes.: Otto Dann. Das historische Interesse in der deutschen Gesellschaft [...], S. 387 f.; aber auch die anderen in dem Band »Historische Forschung im 18. Jahrhundert« publizierten Beiträge. Ferner sei verwiesen auf die grundlegende Studie von Andreas Kraus. Vernunft und Geschichte. Die Bedeutung der deutschen Akademien fiir die Entwicklung der Geschichtswissenschaft im späten 18. Jahrhundert. Freiburg, Basel, Wien 1963 und Notker Hammerstein. Jus und Historie, a.a.O. " Vgl.: Otto Dann, S. 414 16 Artikel »Universalgeschichte. Allgemeine Historie.« Bd. 49/50. 1746, Sp. 1748 17 Vgl.: Peter Schmidt. Studien [...], S. 37. Zur komplizierten und schwer rekonstruierbaren Entstehungsgeschichte von Voltaires »Essai sur les moeurs« vgl.: Henri Duranton. La genese de l'Essai sur les moeurs: Voltaire, Frederic II. et quelques autres. In: Voltaire und Deutschland, a.a.O., S. 257-269 " Vgl.: Peter Schmidt. Studien [...], S. 38 19 Die Etablierung des Kriteriums »Menschheit« als normative und empirische Bezugsgröße historischer Identität bildet nicht nur eine wichtige Voraussetzung für die kritische Abgrenzung gegenüber einer politischen Geschichte, die aus der partikularistischen Perspektive der Herrscher geschrieben wird, sondern ist zugleich der entscheidende Ansatzpunkt, der die kulturelle Konkretisation historischer Identitätsbildung im
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Daß infolge der Nationalgeistdiskussion ein neues Interesse an Geschichte geweckt wird, das auf eine unmittelbar praktische Funktion im Rahmen von Moral, Politik und Staatsrecht zielt, wurde im letzten Kapitel bereits angesprochen. Die historischen Zeitschriften - überwiegend zeitgeschichtlich orientiert erleben nach 1765 eine Blütezeit und leisten mit ihren Informationen zur Gesetzgebung, zu Fragen aus Kultur und Wirtschaft, einen wesentlichen Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung und Kritik. 20 Fruchtbar wird dieses bürgerlich-patriotische Interesse an Geschichte in Deutschland zunächst auf dem Gebiet der Landesgeschichtsschreibung, die um die Mitte des Jahrhunderts bereits bedeutende Leistungen aufzuweisen hat.21 Im Kontext der Suche nach nationaler Identität wird gerade in diesem Bereich zunehmend die Forderung nach geschichtlicher Selbstvergewisserung erhoben. Wichtige Impulse kommen auch hier aus der Schweiz. Bereits 1735 geben Bodmer und Breitinger »eine gemeinsame Liebe fur das Aufnehmen der vaterländischen Geschichten« als Begründung fur die Herausgabe ihrer »Helvetischen Bibliothek« an.22 Und es wird in landesgeschichtlichen Zeitschriften gewarnt vor Historikern, »welche die Jugend in das alte Griechenland und Römische Reich fuhren, da selbst alle Winkel zeigen, in ihrem eigenen Vaterland aber nicht zu Hause sind.«23 Das Bewußtsein, »in einem Jahrhundert zu leben, »in welchem sich Deutschland selbst erst recht zu kennen angefangen hat«24, initiiert allenthalben die Suche nach historischen Quellen, das Sammeln von Urkunden, Chroniken und Annalen und befördert den Prozeß der Verwissenschaftlichung des historischen Denkens. Über die Verbesserung und Vervollkommnung der Methoden in der Landesgeschichtsschreibung hofft man allgemein zu einer deutschen Nationalgeschichte zu gelangen. Ihr Fehlen wird mehr und mehr als Defizit der deutschen Geschichtsschreibung empfunden und ihre Erstellung als große Aufgabe für die Zukunft formuliert.25 In seinem »Allgemeinen Historischen Magazin« richtet Boysen 1767 die Bitte an »alle Geschichtsschreiber unsrer Nation, nicht eher an die Ausarbeitung einer pragmatischen Geschichte von Deutschland zu denken, bis ihr nicht durch die ausgebreitete Kultur der besonderen Geschichte der Weg ist gezeigt worden.«26 jeweils Besonderen der einzelnen Nationen ermöglicht. Vgl. dazu: Jörn Riisen. Von der Aufklärung zum Historismus. Idealtypische Perspektiven eines Strukturwandels. In: Von der Aufklärung zum Historismus [...], S. 44ff. Z u den Einflüssen Voltaires auf Mosers Geschichtskonzeption vgl. auch: Jean Moes, S. 454 ff. 10 Vgl.: Otto Dann, S. 393 ff. 21 Vgl.: Peter Schmidt. Studien [...], S. 38 " Zitiert nach Otto Dann, S. 410 ' ' Zitiert nach Otto Dann, S. 410 14 Friedrich Carl von Moser. Vorbericht zu den Diplomatischen und Historischen Belustigungen. Bd. I. Frankfurt und Leipzig 1753. Zitiert nach Otto Dann, S. 403 11 Vgl.: Otto Dann, S. 415 26 Bd. ι, Halle 1767. Vorrede. Zitiert nach Otto Dann, S. 406
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Es herrscht in den Kreisen der literarischen Intelligenz offenbar Übereinstimmung darüber, daß die Werke der älteren Reichshistorie27 dem Anspruch, der an eine Nationalgeschichte zu stellen ist, keinesfalls genügen. Aber auch bezüglich des Gegenstandes und der Zielsetzung derselben gehen die Ansichten weit auseinander. Noch 1786 konstatiert Ernst Ludwig Posselt in seiner Rede über »Teutsche Historiographie«, alle deutschen Geschichtsschreiber hätten bisher sowohl Ziel und Zweck als auch den wahren Begriff einer Nationalgeschichte verkannt. Obwohl die deutsche Geschichte der griechischen und römischen an Ereignissen durchaus ebenbürtig sei, verstehe es niemand, ihre Helden heroisch darzustellen.18 Da der Hauptzweck einer Nationalgeschichte darin bestehe, zu belehren, zu rühren, Bewunderung oder Abscheu hervorzurufen, komme es weniger auf das Was als auf das Wie des Erzählten an. Posselt, ein Gegner der pragmatischen Geschichtsschreibung, fordert an ihrer Stelle eine am Roman oder Schauspiel orientierte, »tiefe historisch-psychologische Darstellung«, die im Interesse der Wirkung auch »die liebenswürdige patriotische Lüge« einbeziehen sollte.19 Solange die deutsche Geschichte nur »mühsame Sammlung aller Begebenheiten, welche die gegenwärtige Form des Staats bestimmen«, ist, kann sie nach Posselt für die Nation nicht sein, was Geschichte bei den Alten war, nämlich »Lagerbuch der Weisheit und des Patriotismus.«30 Noch sieht Posselt »unter den zahllosen Geschichten derTeutschen das große Nationalwerk nicht, das uns wäre, was Livius' Geschichte den Römern war, Handbuch des Größten und Kleinsten im Volk, beyden gleich wichtig, das der Teutsche, wenn der Ausländer sein Volk schmäht, mit gerechtem Stolz, statt aller Antwort, ihm darbieten könnte.«31 Die Forderung nach einer Nationalgeschichte, die mehr ist als Reichs- und Fürstengeschichte, wird aber - und das bereits in den 60er Jahren - keineswegs nur im Bereich der Historiographie erhoben. Vor dem Hintergrund eines Bewußtseins, das Geschichte selbstverständlich auch als Gegenstand der sogenann-
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Vgl. zum Beispiel: N . H . Gundling. Abriß zu einer rechten Reichshistorie. Halle 1708; Johann Jacob Schmauß. Kurtzer Begriff der Reichshistorie. Leipzig 1720; Johann Jacob Mascov. Geschichte der Teutschen bis zum Abgang der Merowingischen Könige in 16 Büchern verfasset. Leipzig 1750. Burghard Gotthelf Struve. Einleitung zur TeutsdienReichshistorie. Jena 1747. Moser besaß alle diese Werke in seiner Bibliothek und war auch mit den historiographischen Gattungen der Statistik und Antquitätenforschung bestens vertraut. Vgl. dazu bes.: Peter Schmidt. Studien [...], S. 39 ff., aber auch: Horst Meyer. Bücher im Leben eines Verwaltungsjuristen. Justus Moser und seine Bibliothek. In: Buch und Sammler. Private und öffentliche Bibliotheken im 18. Jahrhundert. Heidelberg 1979, S. 154 ff. 28 Posselt meint hier vor allem Friedrich II. Vgl.: ders. Über Teutsche Historiographie, eine Rede bey der Jubelfeyer des Carlsruher akademischen Gymnasii [...] Durlach. 1786, S. 5. 29 Posselt, S. 5 f. Posselt, S. 12 u. S. 16 " Posselt, S. 16 132
ten »schönen Literatur« auffaßt 32 , bewegt die Frage der historischen Identität die Dichter und Philosophen ebenso wie die Geschichtsschreiber. In der Vorrede zu seinen politischen Dramen beklagt Bodmer, daß die Geschichtsschreibung seiner Zeit die Schicksale der Könige, Minister und Generäle erzähle, nicht aber die der Nation." Und auch Lessing artikuliert bereits 1759 seine Unzufriedenheit darüber, daß es »um das Feld der Geschichte in dem ganzen Umfange der deutschen Literatur noch am schlechtesten« bestellt sei. Den »schönen Geistern« mangele es an Stoff und Willen zu gelehrten Studien, während die Gelehrten nicht über ein ausreichendes Gestaltungsvermögen verfugten.34 Nach dem angemessenen Ton deutscher Geschichtsschreibung, »würdig unsres Vaterlandes und unsrer Zeit«, sucht vor allem Herder in seinem »historischen Spaziergang« durch die deutsche Reichsgeschichte. Im Gegensatz zu Historikern wie Posselt ist er der Ansicht, daß sich die »deutsche Geschichte nicht so schlechtweg á la Grecque oder á la Françoise behandeln lasse«35, da die Deutschen im Unterschied zu den Griechen und Römern nicht auf eine »Nationalmythologie«, auf »Origines ihres Volkes in einländischen alten Schriftstellern« zurückgreifen könnten. Nur durch »die Taciti unter den Römern« sei es ihnen möglich, sich über ihre Ursprünge zu unterrichten, durch Geschichtsschreiber also, die die Nation »nur über und von den Gränzen aus, nur als Fremde [...], als ungesittete Barbaren« gekannt hätten. Eine »Geschichte voll Geist und Thaten, wie die Alten« in Deutschland zu erwarten, hieße nach Herder, alle diese Faktoren nicht zur Kenntnis genommen zu haben. Wolle man eine »originale« deutsche Geschichte, so komme man an der Tatsache, daß diese vor allem »trockene Reichs- und Staatsgeschichte« sei, nicht vorbei36. »Eine Griechische und Römische war eine Geschichte von Republiken ganz andrer Art, oder einzelnen großen Welthändeln, eines großen Mannes, oder einer großen Versammlung, die das Triebrad der größten Begebenheiten waren. Deutschland im Verfolg seiner Jahrhunderte ist weder Athen noch Rom, weder eine Monarchie noch eine Republik, die der ganzen Welt (dieser orbis terrarum sei nun so groß, als er wolle) Ton gäbe: weder ein Schauplatz griechischer Kultur und Freiheit, noch des Römischen Eroberungsgeistes. Es ist in sich eingezogen ein werdendes heiliges Römisches Reich, das noch heute in seiner Einrichtung das Sonderbarste in Europa ist; es ist Jahrhunderte durch ein Chaos, aus dem sich Herzoge, Grafen und Herren, Bischöfe und Prälaten heben: ohne die es kein Deutschland gibt. Wie also eine Geschichte Deutschlands, die keine Staats- und Reichsgeschichte sei?«'7
Ebenso wie Herder die zeitgenössische Unterscheidung zwischen Reichsgeschichte und Geschichte Deutschlands, die ftir ihn zugleich eine Unterscheidung ' 2 Vgl.: Rudolf Vierhaus. Geschichtsschreibung als Literatur [...], S. 419 " Vgl. den Hinweis bei Carlo Antoni, S. 59 54 In: Briefe die neueste Literatur betreffend. Brief Nr. 52 vom 23.8.1759. Berlin, Stettin 1759, S. 133 f. " Herders Sämmtliche Werke. (Suphan). Bd. 3, S. 462 f. 36 Herders Sämmtliche Werke. (Suphan). Bd. 3, S. 463 f. 37 Herders Sämmtliche Werke. (Suphan). Bd. 3, S. 466
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»zwischen genauen Nachrichten von der jedesmaligen Staatsverfassung, und zwischen einer schönen Geschichte voll Charaktere und hübscher Moralischen Reflexionen« ist38, im Hinblick auf eine Nationalgeschichtsschreibung nicht akzeptiert, äußert er auch Skepsis gegenüber den Versuchen, die Geschichte zu literarisieren. »Uber die trockene Frage: wie ward jeder in Deutschland was er ist? Was ist er in jedem Zeitalter gewesen?« - läßt sich seiner Ansicht nach nicht »dichten«.'9 Herder fordert aber nicht nur eine deutsche Nationalgeschichte, die von der Reichsgeschichte nicht getrennt ist, sondern auch eine Geschichte der Nation, die, frei vom »Geist des Vernünfteins [...],fortgehende Aufklärung ihres ganzen Seyns« ist; d.h. für ihn vor allem, eine Geschichte, die anderen Gesetzmäßigkeiten gehorcht als die französische.4" Die deutsche Geschichte habe so original zu sein, wie die Reichsverfassung selbst.41 Gerade Herders Ansprüche an eine deutsche Nationalgeschichte verweisen darauf, wie eng die Entfaltung der Geschichtsschreibung im Zusammenhang mit der allgemeinen Entwicklung der Literatur in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gesehen werden muß. Das Verspätungsbewußtsein und Gefühl der Unterlegenheit gegenüber den westlichen Nachbarn artikuliert sich nicht nur im Hinblick auf das Werden und Wachsen der »schönen« Künste, sondern noch viel intensiver in bezug auf den Fortschritt in der Historiographie. Denn während sich im Bereich der Literatur in den 6oer und 70er Jahren ein neues Selbstbewußtsein zunehmend herausbildet, bleibt das Gefühl, auf dem Gebiet der Geschichtsschreibung im Rückstand zu sein, viel länger bestehen. Dem konzeptionellen, methodischen und literarischen Rang französischer und englischer Geschichtswerke konnte in den 60er und 70er Jahren noch kein deutsches Werk an die Seite gestellt werden.42 Eine Bestandsaufnahme »der historischen Litteratur in Teutschland« in Wielands »Teutschem Merkur« aus dem Jahr 1773, dokumentiert die »Verlegenheit« der deutschen Intelligenz, über deutsche Historiographie sprechen zu müssen. »Meinen Sie vielleicht, es sey gleich bequem, gleich angenehm, über Poesie oder über Historie zu rässonieren? [...] Ob ich gleich fiir meine Person beyden Wissenschaften herzlich gut bin [...], so urtheile ich doch in Gesellschaften und Briefen weit lieber über unsre Dichter als über unsre Geschichtsschreiber. Das ununterbrochene Glück, das jene seit zehn bis zwanzig Jahren, der Fühllosigkeit der Großen gegen teutschen Geist ohngeachtet, durch unsterbliche Werke gemacht haben, begeistert, hebt den Nationalstolz,
J9 40 41 41
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Herders Sämmtliche Werke. (Suphan). Bd. 3, S. 466 Herders Sämmtliche Werke. (Suphan). Bd. 3, S. 467 Herders Sämmtliche Werke. (Suphan). Bd. 3, S. 467 Herders Sämmtliche Werke. (Suphan). Bd. 3, S. 467 Vgl. z.B. Voltaires »Le siècle de Louis XIV« (1766) und sein »Essai sur les moeurs et l'esprit des nationes« (1769); Montesquieus »Considerations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur decadence« (1734) u. den »Esprit des Lois« (1748); Humes »History of England« (1754-62); Robertsons »History of the reign of Charles V.« (1769)
öffnet den Mund zu Lobeserhebungen und Kritiken: geschlossen bleibt er beim trägen Fortrücken der deutschen Historiker. Als Sie mein Werthester, uns verließen, übertrafen schon die Teutschen an guten Dichtern die Nation, unter der Sie nun fünf Jahre wandeln (gemeint ist England, d.V.), [...] Aber - unsre Geschichtsschreiber! Wo sind die Namen derer, die ich den Namen jener altern Dichter an die Seite stellen könnte? Hier stockt Nachdenken und Feder.«4'
Im Hinblick auf diesen Mangel an guten historiographischen Werken spricht Wieland begeistert über Mosers »Osnabrückische Geschichte«, deren Einleitung auch ihm als eine gelungene »Einleitung in die Geschichte der Teutschen« erscheint. Zugleich bedauert er es, daß die Konzeption Mosers noch nicht allgemein aufgegriffen und weitergeführt wird.44 Wie Schubart sieht Wieland in Moser neben Schlözer den einzigen deutschen Historiker, der die entscheidenden Voraussetzungen fur Geschichtsschreibung mitbringt, nämlich wissenschaftliche Solidität, verbunden mit philosophischem Weitblick und sprachlich-künstlerischer Gestaltungskraft. Die westeuropäische, insbesondere die englische Historiographie ist ihm ein in dieser Hinsicht bislang noch unerreichtes Vorbild. Insofern sie sich auf die gelehrte Pedanterie, territoriale Begrenztheit und inhaltliche Enge vieler deutscher Geschichtswerke bezieht, ist Wielands Suche nach einem deutschen Hume oder Robertson symptomatisch. Bei französischen oder englischen Schriftstellern, die sich von den deutschen Historikern vor allem durch ihre Orientierung an einer großräumigeren, dynamischen Umwelt unterscheiden, findet die deutsche Intelligenz jene zusammenfassende Sicht und kritische Analyse der Zusammenhänge von Politik, Gesellschaft: und Kultur, die in Kompetenz und Souveränität an die Schriftsteller der Antike erinnert. Sie bewundert hier jene pointierten Thesen und Theorien geschichtlicher Entwicklung, die die deutsche Historiographie, begrenzt auf die Darstellung dynastischer Verbindungen, auswärtiger Beziehungen und staatsrechtlicher Verhältnisse, weitgehend vermissen läßt.45 Um die gleiche Zeit, als Herder an der Möglichkeit einer nationalen Geschichte mit großem Blick und kühnem Zugriff aufgrund der fehlenden »Einheit« und »Evidenz« der deutschen Verhältnisse noch grundsätzliche Zweifel hegt, 4J
Christoph M . Wieland. Schreiben aus D. [...] an einen Freund in London über den gegenwärtigen Zustand der historischen Litteratur in Teutschland. In: Der Teutsche Merkur. Bd. II, 1773, S. 248 ff. Im Sinne Wielands beklagt bereits Gatterer in seiner »Allgemeinen historischen Bibliothek« (Bd. 1. Halle 1767) den Mangel einer nationalen Geschichtsschreibung und mißt diese an den Werken der Franzosen und Engländer. Vgl. dazu den Artikel »Historische Kunst. Eine Anecdote aus Frankreich, im Jahr 1764«, S. 1 - 1 4 und den Aufsatz »Vom historischen Plan und der sich darauf gründenden Zusammenftigung der Erzählung« S. 16, wo Gatterer ähnlich wie Wieland konstatiert: »Aber auch nur die Dichtkunst allein ist es, die von unserer Nation in der Muttersprache vortheilhaft bearbeitet worden: wenigstens ist die Muse, die der Geschichte vorstehet, unsern teutschen Genies noch nicht sonderlich günstig gewesen.«
44
Christoph M . Wieland. Schreiben aus D. [...], S. 259 Vgl.: Rudolf Vierhaus. Geschichtsschreibung als Literatur [...], S. 422
45
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glaubt Moser mit seinem Entwurf einer »Osnabrückischen Geschichte« den ersten Schritt in diese Richtung bereits getan zu haben. Ist er doch davon überzeugt, daß seine Idee einer ursprünglichen Landeigentümergesellschaft jenen »sicheren Bezugspunkt« einer deutschen Nationalgeschichte zu bilden vermag, um den die Diskussion noch in den späteren 90er Jahren vehement gefuhrt wird. 46 Und es ist bezeichnenderweise dann auch Herder, der unter den zeitgenössischen Rezensenten der »Osnabrückischen Geschichte« als einer der ersten erkennt, daß diese in der Tat das erste deutsche Geschichtswerk ist, das im Hinblick auf Konzeption und Ausführung verdient, der westeuropäischen Historiographie ebenbürtig an die Seite gestellt zu werden. Schon die Aufnahme der »Allgemeinen Einleitung« zu diesem Geschichtswerk in seine Programmschrift des Sturm und Drang »Von deutscher Art und Kunst«, unter dem Titel »Deutsche Geschichte«, kann als Indiz dafür angesehen werden, daß Mosers Werk nicht der Gattung »Geschichtsschreibung« im engeren Sinn zugerechnet wurde, sondern, ebenso wie Winckelmanns »Geschichte der Kunst des Altertums«, größte Bedeutung fur die Entwicklung der Literaturgeschichte besaß.47 Daß sich Moser als Schriftsteller wie als handelnder Staatsmann, als juristisch gebildeter Geist wie als sozial und kulturell interessierter Beobachter des privaten und öffentlichen Lebens der deutschen Provinz, von den meisten gelehrten Historikern in Deutschland grundsätzlich unterschied, hat schon Vierhaus zutreffend bemerkt.48 Es bleibt jedoch auf zwei ganz entscheidende Voraussetzun46
Vgl.: Ernst Ludwig Posselt. Über teutsche Historiographie [...], S. 19. »Aber wo hat der vaterländische Geschichtsschreiber seinen sicheren Bezugspunkt? Ist es etwa der große Vorsteher des Volks der Teutschen? - unsere Kaiser sind uns nicht, was den Römern die Cäsarn waren. Ist es die ganze Masse der Nation, in zehn Kreise vertheilt? - weh dem Geschichtsschreiber, der uns erzählen soll, wie der Österreicher mit dem Brandenburger zu gleichem Zwedc der Größe des Vaterlands handelt, oder der Westphale mit dem Schwaben! Verschiedener ist das Wasser nicht vom Feuer, als die besonderen Staaten Teutschlands und ihre Vorsteher und ihre Bürger an Denkungsart und Staatsvortheil und Verhältnis zum Ganzen und zu den einzelnen Gliedern sind. Über all diese Verfassungstheile nun und ihr Wiirken von innen nach außen historische Einheit verbreiten, ohne dunkel zu werden durch unvollständige, oder ermüdend durch allzubestimmte Angabe; welche Forderung der historischen Kunst kann schwerer sein?« Vgl. dazu auch: Herders Sämmtliche Werke (Suphan). Bd. 18, S. 382, wo dieser fragt: »Bei dem allen aber wo ist die Geschichte der Deutschen? Nicht Deutscher Kaiser, nicht Deutscher Fürstenhäuser, sondern der Deutschen Nation, ihrer Verfaßung, Wohlfahrt und Spradie?« Noch immer ist Herder davon überzeugt, daß das Ziel einer deutschen Nationalgeschichte nur über den Weg der Partikulargeschichtsschreibung zu erreichen ist, und noch immer gilt ihm Moser in dieser Hinsicht als Vorbild: »Indeß versuche man, was man vermag und schreibe »Partikular-Geschickte. Moser mit seiner Osnabrüáischen Geschichte ging voran [...], sodann fahre man auf diesem, dem geprüften Weg fort und schreibe. 1. Eine Geschichte der Nationen Deutschlands [...]« (siehe ebd., S. 382 f.)
47
Vgl. dazu auch: Rudolf Vierhaus. Geschichtsschreibung als Literatur [...], S. 425 u. Andreas Krauss. Vernunft und Geschichte [...], S. 68
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gen zu verweisen, die Mosers patriotisches Interesse an Geschichte in den 6oer Jahren bestärkt haben. Dies ist einmal seine in den vorhergehenden Kapiteln bereits ausfuhrlich dargestellte Teilnahme an der Entwicklung der Nationalcharakterdiskussion mit allen die Abgrenzung gegenüber dem Vorbild »Frankreich« betreffenden Problemen und Fragen, zum anderen aber auch seine Auseinandersetzung mit der englischen Kultur, Literatur und Geschichte, die besonders in diesen Zeitraum fällt und durch den unmittelbaren Eindruck des Englandaufenthaltes noch eine Erweiterung erfährt. Moser selbst führt die Vertiefung seines national-historischen Interesses in den 6oer Jahren auf die Erfahrungen zurück, die er als Syndikus der Ritterschaft, als Deputierter der Stände im Siebenjährigen Krieg und schließlich als Landesdeputierter am englischen Hof erwarb.49 Wie aus dem Briefwechsel mit Abbt hervorgeht, ist gerade die Begegnung mit der englischen Verfassungswirklichkeit und der englischen Kultur fur die Konzeption seiner Geschichtsauffassung konstitutiv geworden.50 Während seines Londonaufenthaltes vom November 1763 bis April 1764 findet Moser aufgrund der langwierigen diplomatischen Verhandlungen nicht nur Ruhe und Zeit, die Pläne zu seinem Geschichtswerk auszuarbeiten, sondern auch die Muße, das Theaterleben der Metropole zu genießen und den im Vergleich zu den deutschen Verhältnissen überwältigenden Büchermarkt zu studieren.Dabei verändert sich in dem Maße, in dem seine überwiegend literarisch vermittelte, vorbehaltlose Bewunderung für alles Englische eine Korrektur erfährt, auch sein Deutschlandbild. Offensichtlich ist vor allem, daß Mosers hochgespannte Erwartungen in die »Hauptstadt Europens« in jeder Hinsicht enttäuscht werden. Und zwar so sehr, daß er den Plan faßt - den er dann aber nicht ausfuhrt - , neue »Briefe über die Engländer« zu schreiben. Eine Absicht, die ohne Zweifel in der Tradition der Briefe über die Engländer seit Muralt gesehen werden muß.52 Ein Brief an Gleim läßt erkennen, in welcher Richtung sich Mosers Darstellung englischer Verfassung und Kultur bewegt haben würde. Wie er hier konstatiert, entspricht weder das politisch-öffentliche noch das kulturelle Leben den gängigen Stereotypen der Englandbeschreibungen. Die berühmten Londoner Theater erscheinen im klein und unbedeutend, ihre Schauspiele und Akteure mittelmäßig und keinesfalls besser als die deutschen. Im parlamentarischen Alltag kann Moser nichts als Neid und Korruption wahrnehmen, und die vielzitierte englische Pressefreiheit möchte er durch den Hin48
Vgl.: ders. Geschichtsschreibung als Literatur [...], S. 425 Vgl.: Justus Moser. Briefe, S. 242 so In dem oben zitierten Brief an einen unbekannten Adressaten teilt Moser, der es später stets bedauerte zu spät in die historische Schule gekommen zu sein, mit: »In London kaufte ich mir erst einige Collectiones Skriptorum, und hier war es, wo ich anfing, meine zerstreuten Entwürfe in Ordnung zu bringen.« Justus Moser. Briefe, S. 242 51 Vgl. den Brief über die Londoner Theater an Gleim vom 15. Dez. 1763, ebd., S. 131 ff. Vgl. auch: Horst Meyer. Bücher im Leben [...], S. 159 ' 1 Vgl.: Justus Moser. Briefe, S. 144
45
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weis, daß in Deutschland jeder schon lange so frei schreiben könne wie in England, als Chimere entlarven. 53 Der Vergleich mit Deutschland drängt sich Moser immer wieder auf. In der unmittelbaren Konfrontation mit der englischen Kultur wird sein Bewußtsein für das Individuelle und Besondere der deutschen Verhältnisse sensibilisiert. Vor allem das Selbstverständnis, mit dem die Engländer seiner Ansicht nach ganz gravierende Mängel ihrer Verfassung überspielen, indem sie diese, ohne einen Vergleich zu anderen Staaten anzustellen, als die freieste und beste in der Welt darstellen, fordert Mosers Patriotismus heraus. »Man kommt von der Anglomanie nicht besser zurück, als in England«, teilt er Abbt aus London mit. »Es wird so viel elendes Z e u g daselbst geschrieben als in Deutschland«. 54 Während hier " Vgl.: Justus Moser. Briefe, S. 131 f. u. S. 145. Gerade das parlamentarische Leben und die Pressefreiheit der Engländer haben im Gegensatz zu dieser Beurteilung Mosers immer wieder die Bewunderung der Deutschen erregt. Noch Karl Philipp Moritz berichtet in einem in der »Berlinischen Monatsschrift« (Bd. 1.1783, S. 298 ff.) publizierten Brief aus London ausfuhrlich über das Parlament, dessen Besuch er sich zum täglichen Vergnügen erkoren hat und »den meisten andern Vergnügungen« vorzieht, (vgl.: ebd., S. 302) In derselben Zeitschrift erscheint 1786 ein Aufsatz »Über den politischen Geist Englands«, der sich kritisch mit den Quellen, auf deren Grundlage sich das Urteil der Deutschen über die englische Verfassung stützt, auseinandersetzt und zu dem Ergebnis kommt, daß vom Geist der englischen Verfassung, »wodurch eigentlich England größtentheils das ist und bleibt, was es ist«, in Deutschland bisher nur wenig verstanden worden sei (vgl.: ebd. Viertes Stück, S. 105). In diesem Zusammenhang findet sich audi ein Hinweis auf Mosers Englandbeurteilung, wie sie dem literarischen Publikum vor allem aus zerstreuten Bemerkungen seiner »Patriotischen Phantasien« bekannt war, wobei zu bedenken ist, daß Moser sich hier niemals wieder in der Schärfe über England geäußert hat wie in den oben zitierten, privaten Briefen seines Londonaufenthaltes. Besagtes Urteil lautet: »Moser, der so tief und fein dachte als er viel und gut handelte, gab uns zerstreute Bemerkungen über einige Punkte des dortigen, bürgerlichen Lebens, die, wie alles, was von ihm kömmt, einzig in ihrer Art sind. Es war nicht in seinem Plan etwas Zusammenhängendes über den Geist der englischen Staatsverfassung zu sagen. Keiner hätte vielleicht von einer Seite so viel Gutes darüber sagen können als er, weil England durchaus kein deutscher Theoretiker beurtheilen kann, und man im Lande gewesen sein muß, um manche Ideen zu berichtigen und zu bestimmen.« Ebd., S. 107 54 Justus Moser. Briefe, S. 144. Z u Mosers Englandreise vgl. den jüngst erschienenen Aufsatz von Michael Maurer: Justus Moser in London (1763/64). Stadien seiner produktiven Anverwandlung des Fremden. In: Rom, Paris, London. Erfahrung und Selbsterfahrung deutscher Schriftsteller und Künstler in den fremden Metropolen. Ein Symposion. Hrsg. v. Conrad Wiedemann. Stuttgart 1988, S. 571-584 und die Diskussion u. Kritik der Thesen Maurers ebd., S. 680 ff. Zur Bedeutung der Englandreise für die Konstitution der Englandbegeisterung und Englandkritik vgl. auch: Robert Elsasser. Über die politischen Bildungsreisen der Deutschen nach England (vom 18. Jahrhundert bis 1815). Heidelberg 1917; »Der curieuse Passagier«. Deutsche Englandreisende des 18. Jahrhundens als Vermittler kultureller und technologischer Anregungen. Hrsg.: Colloquium der Arbeitsstelle 18. Jahrhundert. Gesamthochschule Wuppertal. Universität Münster. Heidelberg 1983; Heinz Brüggemann. »Aber schickt keinen Poeten nach London!« Großstadt und literarische Wahrnehmung im 18. u. 19. Jahrhundert. Texte und Interpretationen. Reinbeck bei Hamburg 1985
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nicht viel Aufhebens um Freiheit gemacht werde, weil sie längst eine Selbstverständlichkeit sei, komme dieser in England eine Bedeutung zu, die zu den wirklichen Verhältnissen in auffälligem Kontrast stehe. »Die Engländer sind Sklaven der Freyheit; sie bezahlen solche zu theuer mit einem großen Theile ihrer Ruhe und ihres Vermögens. Ihre Einbildung hält sie aber schadlos, indem sie die Verfassung andrer Länder so abmahlen, wie sie mit ihrer Freyheit am besten contrastiert. Auswärts sehen ist nichts als die Hölle. Sie meinen die Franzosen sind Sklaven, welche in ihren Fesseln tanzen, und die Deutschen ein gutes Zugvieh, das seine Last dahin zieht, ohne viel umzusehen. Diese ihre Einbildung leidet nicht, daß sie sich um die Erkenntnis auswärtiger Verfassungen einige Mühe geben, und ihre Unwissenheit ist in diesem Stück so gros, daß sie es als ein Mährgen ansehn, wenn man ihnen sagt, daß in den besten Staaten Deutschlands eine gleiche Freyheit herrsche, daß die Landes-Ordnungen und Steuren von den Landständen bewilliget werden, daß der Fürst nur die ausübende Macht habe, und daß man um deswillen dort nicht viel Lärm um Freyheit mache, weil man sie, wie das tägliche Brot ohne viel Kosten längst habe.«" Moser stellt hier eine Verbindung zwischen englischem Parlamentarismus und deutschem Ständestaat her, der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, im Hinblick auf die deutsche Suche nach einer Alternative zwischen dem fürstlichen Absolutismus und der insbesondere von der französischen Aufklärung entwickelten, rationalistisch-demokratischen StaatsaufFassung, großes Gewicht zukommt; und das hauptsächlich im hannoverschen Raum, in dem sich infolge der seit 1 7 1 4 bestehenden Personalunion des Kurfürstentums Hannover mit England, deutsches Ständetum und englische Verfassung nahe berühren. Nicht nur bei Moser, sondern auch bei den Staatstheoretikern Schlözer, Spittler, Brandes und Rehberg erscheinen die deutschen Landstände als Repräsentanten des politischen Volkswillens und werden als Institution angesehen, die in Deutschland eine ähnliche Funktion wie das englische Parlament erfüllen könnte.' 6 Christern, der in seiner aufschlußreichen Untersuchung zu dieser Perspektive die Frage erwogen hat, ob der Versuch der hannoveraner Politiker, der ständischen Verfassung in Deutschland neue Impulse zuzuführen, nicht daran scheiterte, daß »sich ihren Blicken gar nicht mehr die wirkliche Verfassung Englands mit ihrer aristokratischen Struktur und mit ihren vielen Licht- und Schattenseiten, sondern nur eine, auf Autoren wie Montesquieu, Locke, Bolingbroke, Blackstone, D e Lolme und Burke zurück-
" Justus Moser. Briefe, S. 147. Z u dem politischen Überlegenheitsbewußtsein, auf das Moser hier anspielt vgl. auch: Hermann Christern. Deutscher Ständestaat und englischer Parlamentarismus am Ende des 18. Jahrhunderts. München 1939, S. 208: »Der englische Staat hat immer ein starkes Bewußtsein seiner Überlegenheit besessen und er hat dieses Gefühl dem englischen Volke eingeimpft, auch dem Teil des Volkes, der an der Verfassung gar nicht mitwirkt. Der Engländer fühlt sich nicht isoliert, wenn auch alle kontinentalen Völker nach anderen Prinzipien regiert werden. Das Verhältnis eines englischen Politikers zu einem Deutschen konnte daher auch im 18. Jahrhundert nur das eines selbstsicheren Lehrers zu einem dankbar empfangenden Schüler sein.« s4 Vgl.: Hermann Christern, S. 173
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gehende, »rationale Theorie darbot«57, ist Mosers, dieser Theoriebildung geradezu entgegengerichtete Englandkritik entgangen.' 8 Daß Moser die gegenwärtigen Verfassungsverhältnisse Deutschlands in den Briefen aus London, im Gegensatz zu ihrer Darstellung in der »Osnabriickischen Geschichte«, fast idealisiert, ist ohne Zweifel auf seine Absicht zurückzufuhren, die literarisch vermittelte Stereotype des englischen Freiheitsstolzes, die auch in Montesquieus »Esprit des Lois« noch einmal eindrucksvoll bestätigt worden war, zu relativieren. Ganz offensichtlich hat er sich darüber geärgert, in England auf ähnliche Vorurteile gegenüber den Deutschen treffen zu müssen, wie sie in der französischen Literatur seit Bouhours das Bild der Nation im Ausland bestimmen. Nur daß diese Vorurteile weniger die deutsche Literatur betreffen - Moser berichtet zum Beispiel von der Rezeption Klopstocks in England" - als die Verfassung. Insbesondere durch Hume, einen Historiker, der in seinen Augen »außer sei(nem) Vaterland nichts kennet«60, wird Moser in seinem Wunsch nach Aufwertung der deutschen Verfassung entscheidend bestärkt. In Humes Werk glaubt er sowohl den Beweis fur die Abbt gegenüber erwähnte Borniertheit des englischen Wesens als auch für die Überlegenheit seines eigenen historischen Ansatzes gefunden zu haben. In fast übermütigem Ton teilt er jenem mit, sich in England »oft ergötzet zu haben«, wenn er »da, wo Hume seine Unwissenheit bekandt«, den »Knoten gelöset« habe. 1 Moser begründet diese Uberzeugung mit dem Argument der Erweiterungsfähigkeit seiner Konzeption. Wenn man, wie er vorschlage, in einer zukünftigen Geschichtsschreibung die »Schicksahle der Edlen und Gemeinen als der wahren Bestandtheile aller nordischen Nationen« verfolge62, lasse sich nicht nur die Provinzialgeschichtssdhreibung erweitern, sondern auch das Besondere und Individuelle der nationalen Geschichte »in beständiger Hinsicht auf die Edlen
" Hermann Christern, S. n . Vgl. auch: ebd., S. 12: »In dem Maße, in dem die Theorie der englischen Verfassung das geschichtliche Erscheinungsbild immer mehr überdeckte, indem sie zur >Musterverfassung< schlechthin wurde, verlor sie ihre Wirkung auf das ständische Denken in Deutschland und wurde sie zu einem Teil der universalistischen Verfassungstheorie, die seit der englischen Wahlreform des Jahres 1832 auch die englische Verfassungsentwicklung selbst immer stärker bestimmt hat.« si Christern schließt Mosers Werk aus seiner Untersuchung aus, weil er irrtümlicherweise davon ausgeht, dieser habe sich nicht als Reformer des politischen Lebens in Deutschland verstanden und weder der englischen Verfassung als Vorbild noch den Resten der ständischen Verfassung in Deutschland Bedeutung zugemessen. Vgl.: ders., S. 208 f. " Vgl.: Justus Moser. Briefe, S. 133: »Herrn Klopstock bitte ich, nebst meiner zärtlichen Empfehlung, zu sagen, daß sein Messias hier auch einen Übersetzer gefunden. Wie man mir sagt, so soll der Mann das Deutsche nicht verstehen, sondern sich den Text erst durch einen andern ins Französische übertragen lassen. Das wäre wirklich abenteuerlich; ich furchte recht, ihn völlig verstellt zu sehen.« 60 Justus Moser. Briefe, S. 146 61 Justus Moser. Briefe, S. 146. Vgl. auch: David Hume. Gesdiichte von Großbritannien. Bd. ι. Frankenthal 1786. 6 ' Justus Moser. Briefe, S. 146
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und Gemeinen in England, Frankreich, Schweden, Ungarn und Pohlen durch alle Zeitalter bis zum Ursprung der Territorial-Hoheit oder ihrer völligen Unterdriikkung« genau bestimmen. 6 ' Wenn Moser von einem »einzigen Interesse« seiner Geschichtskonzeption spricht64, so hat er, wie an dieser Stelle bereits deutlich wird, ein organisches Entwicklungsmodell 6 ' im Blick, das sowohl das Gemeinsame als auch das Unterscheidende der europäischen Nationen zu umfassen vermag. Aus dem Briefwechsel mit Abbt in den 6oer Jahren und aus verschiedenen Entwürfen zur »Osnabrückischen Geschichte« geht hervor, daß fur Moser die Frage, wie in die Geschichte der Nation »Einheit« zu bringen sei, ohne den Anspruch der Individualisierung aufzugeben, von zentraler Bedeutung ist. Die Idee der »pragmatischen Geschichtsschreibung«, wie sie vor allem von dem Göttinger Historiker Gatterer entwickelt wurde, wird fur ihn in diesem Zusammenhang ebenso wichtig wie die Auseinandersetzung mit Winckelmanns »Kunstgeschichte«. Im folgenden sollen Mosers Gedanken zur Form und Methode seiner Geschichtsschreibung im Kontext der verschiedenen Problemlösungsstrategien vorgestellt werden, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, im Hinblick auf den Anspruch nach Integration wissenschaftlicher und ästhetischer Kriterien in den Bereich der Historiographie, entwickelt werden.
64 6s
Justus Moser. Briefe, S. 147 Justus Moser. Briefe, S. 147 Zu Mosers Konzeption des Organischen vgl. bes.: William Sheldon. The Intellectual Development [...], S. 85
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Kapitel II Ästhetisierung, Individualisierung und Historisierung in Mosers Geschichtsauffassung
Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, daß die Bedeutung von Mosers nationaler Geschichtskonzeption für die Ideengeschichte des 18. Jahrhunderts vor allem auf ein Geschichtsverständnis zurückzufuhren ist, das Geschichte als Teil der allgemeinen Literaturgeschichte begreift. Entsprechend der umfassenden Bildungsbedeutung, die historischen Kenntnissen im 18. Jahrhundert zukommt, wird Mosers »Osnabrückische Geschichte« von Anfang an nicht nur von Historikern und lokalen Patrioten gelesen, sondern gerade auch von Dichtern und Philosophen. Aus dem oben charakterisierten Nachholbedarf heraus gehört ein kenntnisgesättigter Einblick in Geschichte, in die historische Konstitution der bestehenden Rechts-, Herrschafts- und Gesellschaftsverhältnisse des Reichs zu den Bedingungen patriotischer Teilnahme am öffentlichen Leben.1 Dabei kommt der Bewertung der Geschichtsschreibung auf der Grundlage ästhetischer Kategorien ein ganz entscheidendes Gewicht zu. Daß die Erzählung eines Historikers Kunst sei, ist - gemäß der Entwicklung der Geschichtsschreibung aus der älteren rhetorischen Tradition2 - bis hin zu Humboldt und Ranke eine Selbstverständlichkeit.3 Die Probleme der Historiographie werden gerade in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts als Probleme einer speziellen Art von Literatur diskutiert, ihre besonderen Merkmale erscheinen unter dem Vorzeichen literarischer Gattungseigenschaften.4 ' Vgl.: Rudolf Vierhaus. Geschichtsschreibung als Literatur [...], S. 431 Vgl. dazu: Jörn Rüsen. Geschichtsschreibung als Theorieproblem der Geschichtswissenschaft. Skizze zum historischen Hintergrund der gegenwärtigen Diskussion. In: Theorie der Geschichte. Hrsg.: Reinhart Kosellek u.a. München 1982, S. 15: »In der Entwicklung des historischen Denkens ist die Geschichtsschreibung auf höchst unterschiedliche Weise als Theorieproblem angesehen worden. Zunächst stand sie als literarische Veranstaltung im Mittelpunkt der Reflexionen über die Aufgabe des Historikers und die kulturelle Funktion des historischen Denkens. Zuständig fur diese Reflexion war die Rethorik. Sie legte dar, mit welchen sprachlichen Mitteln der Zweck der Geschichtsschreibung, den Erfahrungsraum des menschlicheen Handelns nach moralischen Kriterien zu erschließen, erreicht werden konnte und rückte dabei den Historiker in die Nähe des Dichters.« Vgl. auch: Wolfgang Hardtwig. Die Verwissenschaftlichung der Historie und die Ästhetisierung der Darstellung. In: Theorie der Geschichte [...], S. 152.
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' Vgl.: Wolfgang Hardtwig. Die Verwissenschaftlichung der Historie [...], S. 148 Vgl.: Wolfgang Hardtwig. Die Verwissenschaftlichung der Historie [...], S. 152
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Die seit etwa 1750 entstehende Theorie der »schönen« Kunst beschreibt ein Verfahren ästhetischer Wirklichkeitsproduktion, das sich abgelöst hat vom instrumentalistischen Verfahren der sich autonomisierenden Wissenschalten. In eben dem Maße aber, in dem rationales Wissen und ästhetisches Gefühl auseinandertreten, wird Kunst als Produkt der Subjektivität und Innerlichkeit des Menschen aufgefaßt.5 Diese, sich gleichzeitig und gegenläufig zur Autonomisierung der Historie als Forschung vollziehende Asthetisierung und Subjektivierung im Bereich der Kunst hat zur Konsequenz, daß die ästhetische Qualität der Historie zunehmend in einen deutlich herausgearbeiteten Gegensatz zu ihrer Eigenschaft als Forschung tritt und sich in der Arbeit des Historikers die ästhetischen Komponenten mit der Darstellung, die kritische Tätigkeit hingegen mit der Forschung verbindet. Als der ideale Historiker kann ab diesem Zeitpunkt nur noch gelten, wer beides, mühevolle Forschung und Schönheit der Darstellung zu verbinden vermag.6 Und diesen Anspruch stellt man insbesondere auch an die Konzeption einer Nationalgeschichte. Die epochemachende Wirkung von Mosers »Osnabrückischer Geschichte« ist nicht zuletzt auf den mit ihr erhobenen Anspruch, Geschichtsschreibung als Literatur im Sinne dieses ästhetischen Kunstbegriffes zu leisten, zurückzuführen. Wie sehr sich Moser diesem Kunstanspruch verpflichtet fühlt, geht aus jenen zahlreichen Stellen seines Werkes hervor, wo er betont, daß in die Darstellung der nationalen Geschichte Einheit gebracht werden müsse, daß in ihr wie in einem nationalen Epos alle Einzelheiten auf ein leitendes Thema hin zu ordnen seien. Die frühesten Belege für dieses zentrale Anliegen von Mosers Geschichtsschreibung finden sich im Briefwechsel mit Abbt. Bereits 1764 ermuntert Moser diesen um der »Einheit der Handlung zur historischen Epopee« willen zur Hypothesenbildung als Grundlage seiner Geschichtsschreibung.7 Immer wieder wird Abbt zum großen Blick aufgefordert, zur Verfolgung einer »Haupt-Linie« und »Hauptaction«.8 Um ihm deutlich vor Augen zu fuhren, was er unter der »Kunst« versteht, »einer Reihe von tausendjährigen Geschichtgen jene glückliche Einheit zu geben, welche von so mächtiger Würkung auf die Erzählung und den Stil ist und bisher nur noch 5
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Vgl.: Wolfgang Hardtwig. Die Verwissenschaftlichung der Historie [...], S. 183. Zum Aspekt der spezifisch neuzeitlichen Freisetzung von ästhetischer Erfahrung als einer von der Vernunfterkenntnis getrennten, eigenständigen Erfahrungsform vgl. auch: Joachim Ritter. Landsdiaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft. In: ders. Subjektivität. Frankfurt/M. 1974, S. 141-190 Vgl.: Wolfgang Hardtwig. Die Verwissenschaftlichung der Historie [...], S. 184 Justus Moser. Briefe, S. 150. Moser findet mit seinem Kunstanspruch an die Geschichtsschreibung bei Abbt besonders deshalb Gehör, weil dieser selbst bereits unter Berufung auf die antiken Geschichtsschreiber vom historischen Kunstwerk gefordert hatte, daß es wie ein episches Gedicht ausgearbeitet werde. Vgl.: Gertrud Brück, S. 30 u. Peter Schmidt. Studien [...], S. 127 Justus Moser. Briefe, S. 189
von Griechen und Römern [...] gebraucht worden« 9 , verwendet Moser häufig das Gleichnis des Berges. »Die Kunst, den Staat zu personificieren und sein Verhalten in den mancherley Krankheiten zu zeigen, ist noch nicht genug bekandt und muß sehr schwer seyn, [...] Es geht damit wie bei einem ungeheuren Berge. Stehen wir darauf und daran, so verwirren uns tausend höckerigte, unebene und überflüssige Dinge, aber in der Entfernung, wie rund, wie schön wird er nicht? Aber wir liefern gemeiniglich nur die Geschichte eines Dornstrauches und vergessen den Berg. Blieben wir bei letztern, so müßte alles Einheit bekommen. Der Berg in der Geschichte ist der Staat mit seinen Bürgern, mit seinem Boden, mit seinem Clima; und es kann nichts vorfallen, welches nicht glücklich in diese Vorstellung gebracht werden könnte, wenn es auch Eyer sind, die ein Vogel daran gelegt hat. Aber verfolge ich die Eyer allein, so hängen freylich die Dornen damit nicht zusammen. Aus einer gegebenen Verfassung alle möglichen Folgen zu erklären, ihre Krafit und Unkraffi gegen alle fremde Stösse zu zeigen, die Fehler und Vortheile, welche der Anlage wesentlich sind, Mosers Forderung nach »Einheit der Handlung« läßt, wie schon Peter Schmidt bemerkt, an eine Übernahme aus der Dramentheorie denken, wie sie Moser aus der Antike und der klassischen französischen Tragödie vertraut war." Und in der Tat lassen sich dramatische Elemente in Mosers Geschichtskonzeption auffinden, denen diese nicht zuletzt ihre Dynamik verdankt; so zum Beispiel das Grundmotiv des Konfliktes, gestaltet als die bewegte Geschichte der widerstreitenden territorialen Sonderinteressen und nationalen Einheitsbestrebungen, vorgeführt anhand eines neuen Gegenstandes - dem Schicksal der freien Landeigentümer oder das Darstellungsmittel der »Handlung«, anstelle der »Beschreibung«. Moser erhofft sich dadurch vor allem jene Abbt gegenüber erwähnte »mächtige Würkung« auf den Leser seines Geschichtswerkes. »Daher tut in der Geschichte die Handlung, wenn sie moralisch vorgestellet oder mit ihren Ursachen und Folgen erzählet wird und schnell und stark fortgehet, eben das, was sie auf der Schaubühne tut. Sie erweckt, nährt und füllet die Aufmerksamkeit der Zuschauer mehr als alle dabei angebrachte Sittenlehre, die oft zur Unzeit eine Träne von demjenigen fordert, der über die Handlung lachen muß.«' 1 ' Justus Moser. Briefe, S. 183 Justus Moser. Briefe, S. 183. Den erhöhten Gesichtspunkt soll Abbt nach Ansicht Mosers auch für seine beabsichtigte Universalgeschichte wählen: »Ich habe mir offi gewünscht, daß einer sich auf die Charte der beyden Globen setzen und also sitzend die Geschichte der Welt von jedem Jahrhundert beschreiben, ein Auge in Africa und ein Auge in America haben und immer so fortfahren mögte. Der Stuhl sollte neben dem Baume im Paradiese stehn [...]«. Justus Moser. Briefe, S. 184 " Vgl.: ders. Studien [...], S. 125f. 12 Justus Moser. S W X I I , 2, 47 Die Analogie von Mosers EinheitsbegrifFzur Literaturtheorie wird auch in einem Brief des. an Nicolai deutlich, wo er dessen Roman »Sebaldus Nothanker« nach dem Kriterium, daß die »Verbindung aller Figuren zu einem Hauptzweck [...] doch immer die Hauptsache in jedem Gemälde« bleibe, beurteilt. Justus Moser. Briefe, S. 259
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Der von Moser formulierte Anspruch nach ästhetischer Qualität steht in seiner Geschichtsschreibung in einem deutlichen Spannungsverhältnis zu dem gleichzeitig erhobenen neuen Wissenschaftsanspruch, wie er im Z u g e des von der Aufklärung geforderten Wahrheitspostulats, im oben bezeichneten Sinn, zunehmend an Bedeutung gewinnt. 13 Die Aufklärung rationalisiert die Subjektivität des Historikers nicht allein dadurch, daß sie ihn auf das Regelwerk der Quellenkritik verpflichtet, sondern nimmt ihn vor allem in die Pflicht, seine Methode gerade dort diskursiv zu rechtfertigen, w o sie mehr ist als Ermittlung von Tatsachen aus Quellen, w o es also darum geht, den Tatsachengehalt der Quellen in sinn- und bedeutungsvolle Geschichten zu verwandeln. 14 Insofern sich damit die Frage nach der dispositio, der Anordnung des historischen Stoffes neu stellt, wird für die historiographisch erzählten »Geschichten« die Herstellung des Zusammenhangs ihrer Ereignisse und Zustände durch eine Zeitfolge ebenso konstitutiv wie die begründete Herleitung des gegenwärtigen Zustandes aus der Vergangenheit. 15 In der Vorrede zur »Osnabrückischen Geschichte« problematisiert Moser in diesem Sinne das Verhältnis von historischer Forschung und Kunst. Sich des Wissenschaftsanspruches seines Werkes bewußt, betont er die Rolle der Forschung, indem er vorgibt, »überall unmittelbar zu den Quellen« gegangen zu sein. 16 Zugleich bekennt er sich aber auch zu einer subjektiven, intuitiven M e thode, zur Hypothesenbildung im Interesse des oben bezeichneten Kunstanspruches. »Daher kann einiges einen scheinbaren Hang nach der Hypothese behalten haben. Denn diese pflegt ihren ersten Liebhaber doch noch immer und heimlich zu verfolgen [...] Indessen glaube ich doch eben dadurch, daß ich auf eine sonderbare Art verfahren und nicht sofort den gewöhnlichsten Weg eingeschlagen bin, manches auf eine neue Art gewandt und viele historische Wahrheiten möglicher und wahrscheinlicher erzählet zu haben als andre, welche entweder mit Sammeln den Anfang machen und dann mit ermüdetem Geiste die Feder ansetzen oder bloß ein schlechtes Gebäude verbessern.«17
" In diesem Zusammenhang sollte nicht unberücksichtigt bleiben, daß fur die Überwindung der rhetorischen narratio-rei-gestae-Formel zugunsten eines neuen ästhetischen Verständnisses die Tatsache, daß sich diejenigen, die sich seit der Mitte des Jahrhunderts mit Geschichte beschäftigen, zunehmend als Forscher zu verstehen und bezeichnen beginnen, von ganz entscheidender Bedeutung ist. Vgl.: Wolfgang Hardtwig, S. 161 14 Vgl.: Jörn Rüsen. Von der Aufklärung zum Historismus, S. 31 '' Vgl.: Wolfgang Hardtwig, S. 170. Daß die Erstellung des »historischen Plans« auf der Basis empirischer Materialien zu erfolgen habe, fordert in diesem Sinne auch Gatterer: »Wenn der Geschichtsschreiber die mühsame Sammlung des historischen Stoffs zu einem Werk vollendet, [...] wenn also die Sammlung und Auswahl der Materialien geschehen ist, alsdann ist es Zeit, an den Plan zu denken, nach welchem alle großen und kleine Stücke, [...] Materialien eben hieher, und nicht an einen andern Ort gesetzet worden ist.« Ders. »Vom historischen Plan«. In: Allgemeine Historische Bibliothek. Bd. ι. Halle 1767, S. 22 f. 16 S W X I I , 2, 46 17 S W X I I , 2, 46;
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Im Vertrauen auf »ein gewisses Gefühl für die Wahrheit«'8, das auf die noch zu behandelnde Erkenntnismethode des »Totaleindruckes« zurückgeführt werden muß, befürwortet Moser eine Geschichtsschreibung, die nicht nur als Leistung der erklärenden Vernunft, sondern auch als eine der künstlerischen Einbildungskraft verstanden wird. Die Synthetisierungsleistung, die Zuordnung der Einzelfakten zu einem Deutungszusammenhang, wird zu einem großen Teil einem Vermögen übertragen, das der dichterischen Einbildungskraft nahekommt.' 5 Indem die schöpferische Leistung des Historikers weitgehend auch auf den Eindrücken seiner individuellen Empfindung, seinem »geschickten Genie«20 beruht, kann die Geschichtsschreibung stilbildend auf den Nationalgeschmack wirken. Die Einheit des Geschichtswerkes als ästhetische entsteht als Einheit des Plans erst durch den Kunstcharakter des historischen Werkes.11 In dem Fragment »Die Geschichte in der Gestalt einer Epopee« aus Mosers handschriftlichem Nachlaß22 wird in diesem Sinne ganz bewußt der ästhetische Charakter der Geschichte als »schöne Kunst« bejaht. Zugleich grenzt Moser seine Vorstellung einer ästhetischen Darstellung gegenüber den überkommenen Kunstformen der Geschichtsschreibung ab, insbesondere aber auch von der Historiographie in der Tradition Voltaires. Keinesfalls möchte er wie dieser das »Angenehme auf Kosten der Wahrheit« befördern 2 ' oder »wohl gar die Begebenheiten in einen Roman und die Apostelgeschichte in eine Messiade« verwandeln.24 Hier spielt Moser unverkennbar auf Klopstock an, dessen Ruhm 1748 durch die ersten Gesänge des »Messias«, seines erst 1773 abgeschlossenen geistlichen 18 19
Justus Moser. Briefe, S. 242 So zum Beispiel Mosers bereits von Meinecke hervorgehobene Methode des intuitiven, stufenweisen »Einfiihlens« in das historische Quellenmaterial, in enger Verbindung mit den gegenwärtigen Erfahrungen. Vgl.: Friedrich Meinecke. Die Entstehung des Historismus, S. 310 f. Dazu auch. Peter Schmidt. Studien [...], S. 105 f. Für Moser können sowohl bei dem Dichter als auch bei dem Historiker, insofern er sich als Künstler versteht, Worte und Gedanken nur »Ausdruck des unendlichen Totaleindrucks, nach welchem wir handeln und empfinden«, sein. Justus Moser. Briefe, S. 365
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S W X I V , ι, 169 " »Solange wir aber den Plan unsrer Geschichte auf diese oder eine andre Art nicht zur Einheit erheben, wird dieselbe immer einer Schlange gleichen, die, in hundert Stücke zerpeitscht, jeden Teil ihres Körpers, der durch ein bißgen Haut mit dem andern zusammenhängt, mit sich fortschleppt.« Justus Moser. S W V I I , 132
" Vgl.: S W X I V , ι, 167-170. Nach Göttsching konnte nicht eindeutig geklärt werden, ob die Entstehung dieser Niederschrift wie meist angenommen, um 1780 anzusetzen ist oder in die Epopöenprogrammatik der 60er Jahre fällt. Aufgrund der vielfach noch unbestimmten und zum Teil auch einen Widerspruch zu späteren Ansichten bildenden Gestalt der Möserschen Gedanken in diesem Fragment ist seine Entstehung vermutlich noch früher (zumindest vor dem Briefwechel mit Abbt und der Rezeption Windcelmanns) anzusetzen. Vgl.: ebd., S. 20 2 ' S W X I V , ι, 168 14 S W X I V , ι, 168
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Epos, begründet worden war. Klopstock hatte ursprünglich eine Anregung Bodmers aufgegriffen, der die Deutschen aufgefordert hatte, etwas dem Milton Vergleichbares zu schaffen, aber sein »Messias« war zugleich auch eine oppositionelle Antwort auf die Herausforderung durch die »Henriade«, jenes moderne »Nationalepos« der Franzosen, mit dem Voltaire 1723 (Neufassung 1728) den Anspruch erhob, den großen Epen der Antike etwas Ebenbürtiges an die Seite zu stellen, und in dem er die Stelle des Mythos durch Geschichte, die Stelle der Mythologie aber durch allegorische Figuren ersetzt zu haben glaubte. Der gefeierte Held dieses Epos war der geschichtliche Heinrich IV., seine Götter wurden versinnbildlicht in der Zwietracht, der Politik und dem Fanatismus.2' So sehr die »Henriade« im Verlauf ihrer Rezeption von der deutschen Kritik auch in Frage gestellt wurde, die Bewunderung dafür, daß Voltaire den Bestand der französischen Literatur um das »nationale Epos« vermehrt hatte, blieb erhalten. Sie läßt sich anhand einer ganzen Reihe von epischen und halbepischen »Nachahmungen« verfolgen, Versuchen, die wie Klopstocks Plan eines geschichtlichen Epos »Heinrich der Vogeler« gar nicht erst zur Ausführung gelangten oder sich im Nachhinein schnell als gescheitert erwiesen; gescheitert vor allem im Hinblick auf die Unmöglichkeit, eine fur die gesamte Nation repräsentative geschichtliche Figur zu finden. In Bezug auf diese mißlungenen Versuche eines nationalen Epos schreibt Klopstock bereits 1752 in deutlicher Ironie an Gleim: An die Franzosen. Z u stolze Gallier, schweigt nun und fleht um Gnade, Sonst brechen wir nun euch den Stab Und sprechen euch den Geist gebietrisch ab! Was habt ihr? eine Henriade! Was aber haben wir? Wir haben die Nimrodiade! Die flinke Friedrichiade! Die holde Schülerin Hermanniade! Und schließlich die Theresiade! Und ewig schade! Wir hätten auch die Hengst- und Horstiade, Wenn Schwabe! - doch vielleicht - genug, jene haben wir, Und können, das versprech ich mir! Durch unsern Fleiß und schnelle Gaben Leicht übermorgen mehr noch haben!' 6
Angesichts seiner erklärten Absicht, kein »Heldengedicht«, sondern eine »Volksgeschichte« schreiben zu wollen, räumt Moser selbst ein, daß seine Forderung, diese Geschichte solle in der »Gestalt einer Epopee« verfaßt werden, »vielen seltsam scheinen« müsse. Doch gerade darin liege die Herausforderung. Denn während es keine besondere Kunst erfordere, aus »einzelnen Stücken der Ge11 16
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Vgl.: H.A. Korff. Voltaire im literarischen Deutschland [...], S. 39 Zitiert nach H.A. Korff, S. 44
schichte«, aus »Lebensläufen besondrer Helden, [...] Beschreibungen großer Revolutionen, [...] Erzählungen gewisser Kriege, welche nur einen Endzweck gehabt haben«, ein Epos zu gestalten, beanspruche eine Geschichte der Nation, die sowohl in bezug auf das Prinzip der Einheit als auch im Hinblick auf ihren künstlerischen Anspruch einem nationalen Epos gleichkäme, einen Historiker, der in sich »alle Vorteile des Genies ohne die fast notwendig damit verknüpfte(n) Fehler« vereine.27 Wolle man der »Geschichte den Schwung der Epopee« geben, so habe man vor allem die »lange schleppende Reihe mehrer(er) nebeneinander herlaufender Begebenheiten, welche gar keine Verbindung miteinander haben, in keinem gemeinschaftlichen Knoten zusammenlaufen, [...] sich gleichsam wider die Hand des Dichters sträuben«28, zu vermeiden. Moser verweist auf die Möglichkeit der Periodisierung als einer Methode, aus der »ein geschicktes Genie« Vorteile ziehen könne. Doch diese Perioden sollten nicht wie bisher nach dynastischen Gesichtspunkten unterteilt werden, sondern »eine ganze Reichsveränderung enthalten«. Wenn der Historiker das Leben eines Königs als das Leben »eines Privatmannes« behandele und stattdessen die Geschichte der Nation am Faden des Prinzips der »Freiheit« und ihrer »Unterdrückung« verfolge, lasse sie sich »in eine Epopee zusammenflechten und fast alle untere(n) Begebenheiten als Episoden und Zierraten gebrauchen.«19 Was der deutschen Dichtung bisher nicht überzeugend gelungen ist, nämlich die Schaffung eines modernen Nationalepos, hofft Moser also mit völlig anderen Mitteln im Bereich der Geschichtsschreibung leisten zu können. Anregungen findet er diesbezüglich bereits in der von Gatterer entwickelten historischen Methode, sein großes Vorbild in den 6oer Jahren wird jedoch dann Winckelmann. Bezeichnend für seine Wertschätzung der von dem Werk beider Autoren ausgehenden methodischen Neuansätze ist der Abbt erteilte Rat, Gatterer zu lesen, ihm aber nicht zu folgen, Winckelmanns »Geschichte der Kunst« aber »neben sich« zu legen, »um dessen Blicke an gehörigen Orten mit einzubrinÎO
gen.« Von Gatterer übernimmt Moser den von ihm häufig gebrauchten Begriff einer »pragmatischen Geschichte«. Gatterer versteht darunter die Anwendung einer historischen Methode, die es ermöglicht, »die Veranlassungen und Ursachen 27
S W X I V , ι, 167 f. S W X I V , ι, 169 u. 168 2 ' S W X I V , ι, 169 50 Justus Moser. Briefe, S. 1184. Suzanne Therese Seiinger sieht die hier zum Ausdrude kommende Verbindung zwischen Winckelmann und Moser vor allem in einer verwandten Konzeption des »Volksgeist«-Begriffes begründet. Nicht hinreichend erkannt wird in ihrer Studie indes die - in den folgenden Ausführungen im Zentrum stehende - tiefgreifende methodische Bedeutung des Windcelmannschen Werkes für Mosers Geschichtskonzeption. Vgl.: dies. Winckelmann, Moser and Savigny. A Study in the Development of German Historicism. Diss. Yale University 1965. Vgl. hier besonders: S. 60-139 28
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einer merkwürdigen Begebenheit aufzusuchen, und das ganze System von Ursachen und Wirkungen, von Mitteln und Absichten [...] auf das Möglichste entwickelt darzustellen.«31 Das höchste Ziel einer pragmatischen Geschichtsschreibung sieht Gatterer in »der Vorstellung des allgemeinen Zusammenhangs der Dinge in der Welt.«'2 Insofern er dazu aufgefordert ist, einzelne, verstreute, zufällige Fakten und individuelle Begebenheiten in einen allgemeinen Verstehenszusammenhang einzuordnen und zu begründen, ist der pragmatische Historiker für ihn auch ein Philosoph." Philosophische Erklärungen über historische Anfänge sind seiner Auffassung zufolge in der pragmatischen Geschichtsschreibung mit der Schilderung einzelner Geschichtsabläufe so in Verbindung zu bringen, daß die Geschichte als Ort von Kausalität und nicht als chronologische Aufreihung personaler, geographischer und historischer Fakten verstanden wird.34 Mit der Hypothese, daß die ersten sächsischen Siedler sich als Landeigentümer in einem Sozialkontrakt zusammenfanden, bietet Moser eine philosophische Erklärung an, die der Intention nach diesen Anforderungen der pragmatischen Methode entspricht. Das Schicksal dieser Landeigentümer, das er in allen seinen Ausgestaltungen durch die verschiedenen Epochen deutscher Geschichte verfolgt, ist für ihn nicht durch eine Aneinanderreihung einzelner historischer Begebenheiten zu erfassen, sondern nur als eine jener »sistematischen Handlungen, welche die Geschichte pragmatisch machen.«35 Gatterer erkennt dies an, indem er bestätigt, Moser habe mit seinem Plan »einem künftigen deutschen Livius« in die Hand gearbeitet, »der aus dergleichen einzelen Geschichte einmal eine vollständige Reichshistorie ziehen soll, die den Gang und die Macht der Epopee haben könnte.« Moser wolle »indessen seinen Helden bilden und aus den heutigen einzelen Landeigenthümern zusammensetzen.«36 Es ist im Zusammenhang des Problems der Asthetisierung der historischen Darstellung fur das Verständnis von Mosers Geschichtsauffassung sicher nicht 31
Johann Christoph Gatterer. Vom historischen Plan, S. 80 Johann Christoph Gatterer. Vom historischen Plan, S. 85. Vgl.: ebd., S. 21, wo auch Gatterer die enge »Verwandtschalt der Dichtkunst und Historie« betont. 33 »Ist er endlich ein Philosoph, und dieser muß er schlechterdings seyn, wenn er pragmatisch werden will, so macht er sich allgemeine Maximen, wie die Begebenheiten zu entstehen pflegen, studiert mit steter Erinnerung an diese Maximen, die zuverläßigen Nachrichten von der Nation, die er beschreiben will, recht durch, sucht die Grundstützen auf, worauf der Staat ursprünglich errichtet worden, vergleicht die Begebenheiten, die diese Grundstützen entweder bevestigt oder erschüttert haben [...]«. Johann Chr. Gatterer. Vom historischen Plan, S. 84F. 34 Vgl.: Johann Chr. Gatterer. Vom historischen Plan, S. 79 ff. " Justus Moser. Briefe, S. 168. In der Vorrede zur »Osnabrückischen Geschichte« bezieht sich Moser ebenfalls in diesem Sinne auf Gatterers Pragmatismusbegriff: »Wie vieles wird aber auch ein Gatterer noch mit Recht fordern, ehe ein Geschichtsschreiber jene Höhe besteigen und sein ganzes Feld in vollkommenstem Lichte übersehen kann.« S W X I I , 2, 57 31
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Johann Christoph Gatterer. Allgemeine historische Bibliothek. Bd. 1, S. 78
von geringer Bedeutung, daß die von Gatterer propagierte, pragmatische Geschichtsschreibung in der Spätaufklärung Ähnlichkeiten mit speziellen, für den Roman entwickelten Erzählverfahren aufweist.37 Denn die Anwendung dieser Verfahren bedeutet in der Tat einen wichtigen Schritt hin zu der Entwicklung einer Hermeneutik des Historisch-Individuellen, die für die Ausbildung einer historischen und nationalen Identität im Rahmen der von Moser angestrebten »Nationalgeschichtsschreibung« zur entscheidenen Voraussetzung wird. Eine aus Blankenburgs »Versuch über den Roman« (1774) sich notwendig ergebende Konsequenz des Prinzips der Darstellung des Zusammenhangs von Ursache und Wirkung ist die Personenindividualisierung, wie sie dann in den Romanen Karl Philipp Moritz' und Goethes zur Vollendung gelangt. Die Personen in und aus ihren Umständen zu schildern, heißt aber nicht nur, sie - im Gegensatz zu ihrer typenhaften Darstellung als Staatsbürger im Epos - zu individualisieren, sondern auch ihre Entwicklung »werdend« zu erfassen. Wenn auch dieses entschiedene Vordringen zur Erfahrungswirklichkeit, das die pragmatische Erzähltechnik betreibt, zunächst in ein Verständnis vom Menschen eingebunden ist, das diesen von einer Konstanz moralischer Werte her begreift, so wird es doch fruchtbar im Hinblick auf das Identitäts- und Entwicklungsverständnis.38 Die Übertragung des individuellen Entwicklungsgedankens auf die historische Individualität von Nationen eröffnet einen nahezu unbegrenzten Raum der Vertiefung in das historisch jeweils Besondere und befördert den Prozeß des Verständnisses fur die in der Geschichte wirkenden Kräfte und Ideen. Dieser Dimension des Pragmatismusbegrififs - dem Aufzeigen von Ursachen und der Herstellung eines Ereigniszusammenhanges - kommt aufgrund der angeführten Individualisierungsmomente in Mosers Geschichtskonzeption größere Bedeutung zu als dem Aspekt des Nutzens, auf den der Begriff »pragmatische Historie« - vor allem im 19. Jahrhundert - häufig reduziert wurde.39 Die in 57
Vgl. dazu: Hilmar Kallweit. Erzähltheorie und Geschichtsphilosophie. Zur Charakterisierung der pragmatischen Geschichtsschreibung. In: Von der Aufklärung zum Historismus, S. 155-157 und: ders. Verzeitlidiung und Individualisierung. Bemerkungen zur Erzähltheorie des Romans in der Spätaufklärung. In: ebd., S. 160-162 Vgl.: Hilmar Kallweit. Verzeitlichung und Individualisierung [...], S. 161 ff.
" Auch im Hinblick auf Mosers Pragmatismusbegriff ist dieser Aspekt des Nutzens immer wieder besonders hervorgehoben worden. Daß Moser im Sinne einer Anwendung seiner Geschichtsschreibung auf die Institutionen und Begebenheiten der Zeit den »denkenden« Leser ansprechen möchte, ist keineswegs zu übersehen. Ohne durch moralische oder pädagogische Diskurse den erzählenden Zusammenhang zu durchbrechen, will auch seine »pragmatische« Historie den gegenwärtigen Zustand der Dinge aus den Notwendigkeiten früherer Zeiten erklären und zugleich transparent machen, wo auf Herausforderungen unangemessen reagiert wurde. Sie soll den verschiedenen Ständen Nutzen bringen, indem sie sie in Kenntnis setzt über die Veränderung des Bodens und seiner Eigentümer, sie soll darüberhinaus nicht nur dem Fürsten praktische Anregungen und dem Philosophen Stoff fur seine Betrachtungen liefern, sondern auch »manchem jungen Künstler anweisen können, seine Aufmerksamkeit dahin zu wen-
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der »Osnabriickisdien Geschichte« entwickelten G e d a n k e n z u m Verständnis der N a t i o n als historisches I n d i v i d u u m , als S u b j e k t der Geschichte, verdanken sich zu einem großen Teil der i m S i n n e Gatterers a n g e w a n d t e n pragmatischen M e t h o d e . N o c h entscheidender f u r die A u s b i l d u n g v o n M o s e r s Individualismusgedanken, sowie f ü r seine z u n e h m e n d e E r k e n n t n i s der den erzählend vergegenwärtigten E r e i g n i s z u s a m m e n h ä n g e n zugrundeliegenden T i e f e n d i m e n s i o n historischer B e w e g u n g e n , w i r d W i n c k e l m a n n s i m V o r ( b e ) g r i f f des Historismus 4 0 entstandene »Geschichte der K u n s t des Altertums« (1764). 4 1 In diesem W e r k f o r m u l i e r t W i n c k e l m a n n den später v o n M o s e r so begeistert a u f g e g r i f f e n e n G e d a n k e n der K o n s t r u k t i o n als einer n o t w e n d i g e n Voraussetzung f u r Geschichtsschreibung. »Ich habe mich mit einigen Gedanken gewagt, welche nicht genug erwiesen scheinen könnten, vielleicht aber können sie andern, die in der Kunst der Alten forschen wollen, dienen, weiter zu gehen, und wie oft ist durch eine spätere Entdeckung eine Mutmaßung zur Wahrheit geworden. 42 Mutmaßungen, aber solche, die sich wenigstens durch einen Faden an etwas Festem halten, sind aus einer Schrift dieser Art ebensowenig als die Hypotheses aus der Naturlehre zu verbannen. Sie sind wie das Gerüst zu einem Gebäude, ja sie werden unentbehrlich, wenn man, bei dem Mangel der Kenntnisse von der Kunst der Alten, nicht große Sprünge über viele leere Plätze machen will.«43 N o c h ehe M o s e r W i n c k e l m a n n s W e r k z u m ersten M a l e r w ä h n t , ist der E i n d r u c k , d e n die Lektüre bei i h m hinterlassen hat, z u erkennen. 4 4 Insbesondere zeigt er sich d a v o n begeistert, daß W i n c k e l m a n n , o b w o h l er den B e g r i f f des griechischen Stils als epochenspezifisches, d.h. d e m W a n d e l des historischen Kontextes u n t e r w o r f e -
den, wohin der Hang der Moden, des Geschmacks, des Eigensinns und der Staatsbedürfnisse mit einem nur scharfen Augen einleuchtenden Blick wendet.« (SWIV, 60) Mosers Auffassung über die Heranbildung eines politisch selbstbewußten Bürgers entsprechend sollten bereits die Kinder »durch die Geschichte sofort von dem Originalcontrackt, welchen die bürgerliche Gesellschaft, worin sie leben sollen, errichtet hat, belehret werden. Sie sollten frühzeitig lernen,was ein eigner, ein erbrecht eigner Heerd sey, was fur eine Stimme daraus zu den gemeinen Angelegenheiten gehe, wer solche an ihrer Stelle in dem engen Nationalausschusse führe, wie weit die Vollmacht dieses Stimmfuhrers gehe, und wieviel sie von ihrem Eigenthum und ihrer Freyheit zum gemeinen Besten aufgeopfert haben.« (Justus Moser. Briefe, S. 244). Vgl. auch: Peter Schmidt. Studien [...], S. 132 f. u. Volker Sellin. Justus Moser. In: Deutsche Historiker. Bd. IX. Hrsg.: H.-U. Wehler. Göttingen 1982, S. 35 ff. 40
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Vgl.: Wolfgang Ernst. J.J. Winckelmann im Vor(be)griff des Historismus. In: Von der Aufklärung zum Historismus, S. 255-261 Zitiert nach dem Auszug in der Ausgabe: Berlin und Weimar 1976 (Hrsg.: Helmut Holtzhauer), S. 165-313 Vgl.: Justus Moser. Briefe, S. 242, wo dieser dasselbe Argument gebraucht: »Indeß verlasse ich mich viel auf ein gewisses Gefiihl fur die Wahrheit, und bin darin oft bestärket worden, daß ich dasjenige, was mir zuerst bloß möglich geschienen, bey näherer Untersuchung wahr befunden habe.« J.J. Winckelmann. Geschichte der Kunst des Altertums, S. 177 Vgl. den Brief an Thomas Abbt vom 1. April 1765, S. 183
nes P h ä n o m e n entdeckt 4 5 , zugleich in einer A r t heuristischem K u n s t g r i f f die nie m e h r erreichte Perfektibilität der K u n s t des 5. J a h r h u n d e r t s v. C h r . als »Leitidee« beibehält. D i e s e M e t h o d e ü b e r n i m m t M o s e r in seiner »Osnabrückischen G e schichte«, i n d e m er, w ä h r e n d er das »Schicksal« der Landeigentümergesellschaft durch die verschiedenen E p o c h e n der deutschen Geschichte verfolgt, sein »Ideal« der sächsischen Frühzeit als O r i e n t i e r u n g s m a ß s t a b anlegt. A b e r auch f u r A b b t s Plan einer »Geschichte des menschlichen Geschlechts« 4 6 erscheint M o s e r ein V o r g e h e n nach der M e t h o d e W i n c k e l m a n n s der geeignetste W e g , w e n n er auch i m H i n b l i c k auf die M ö g l i c h k e i t des G e l i n g e n s eines derartigen Vorhabens einige B e d e n k e n äußert. »[...] so wird eine gewisse Haubt-Linie erfordert, welche gleichsam die Haubt-Action ausmacht, und wobey die übrigen als Episoden angebracht werden. Diese Haubt-Linie ist nicht allemahl die Historie eines Volkes, dem man alle andern Völker gleichsam aufopfert. Es ist etwas andres, was Sie wollen, und sie sehen zum Ex(empel) in der >Historie der Kunst< die Künste aller Völker nur als Episoden mit Durchspielen, nachdem der Verfasser einmahl die Geschichte eines Ideals zur Haubt-Action gemacht hat. Sollte sich nicht etwas ähnliches in der allgemeinen Geschichte thun lassen? Freylich, die Geschichte des Menschen ist hier eigentlich die grosse Absicht, und dieser Mensch wird ein Ideal. Allein wie? Hic stamus pisces. Ich fühle wohl, daß hier die historische Materie etwa diejenige seyn müßte, welche Montesquieu berührt. Allein ich fühle auch, daß, um den Fortgang der Künste, Wissenschaften, Meinungen, Regierungs-Formen, Gesetze etc. in eine Art von Epopee zu bringen, mehr als eines Menschen Kräffte erfordert werden würden.« 47 Dieser Brief an A b b t zeigt, daß M o s e r - w e n n auch nur beratend - durchaus A n t e i l n i m m t an den universal-historischen Bestrebungen seines Zeitalters. I n d e m er, unter B e r u f u n g a u f M o n t e s q u i e u u n d W i n c k e l m a n n , die U n t e r o r d n u n g der historischen Ereignisse unter einen G r u n d g e d a n k e n sowie den Verzicht a u f ihre Darstellung unter d e m G e s i c h t s p u n k t einer »Heldengeschichte«
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Ohne Zweifel ist Winckelmann hier von Montesquieu beeinflußt. Vgl.: Wolfgang Ernst, S. 255 Herrn Thomas Abbts Fragment der ältesten Begebenheiten des menschlichen Geschlechts, soweit selbige in Europa bekannt worden. Alte Historie. 1. Band. Halle 1767. Zitiert nach Gertrud Brück, S. 55 Justus Moser. Briefe, S. 189. Mosers Ausführungen in diesem Brief beziehen sich auf Abbts Bereitschaft, für Gebauer einen »Auszug aus der allgemeinen Welthistorie« anzufertigen. Diesem durch seinen frühen Tod schließlich verhinderten Plan stand Moser zwar mit Interesse (vgl.: Justus Moser. Briefe, S. 184), zugleich aber auch mit Skepsis gegenüber. Nicolai teilte er nach Abbts Tod mit, er habe diesem immer davon abgeraten, »einen Auszug aus andrer Leute Arbeit zu machen« und ihn dazu ermuntert, »selbst die Originalien anzusehen.« (Justus Moser. Briefe, S. 234). Daß er zunächst etwas ganz anderes als eine Philosophie über die Geschichte des menschlichen Geschlechts von Abbt erwartet hatte, geht aus den Ratschlägen an diesen, vor der Arbeit an seinem Werk einen »cursu juris« zu absolvieren, hervor. Vgl.: Gertrud Brück, S. 55 f.
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fordert48 und zugleich ein neues Periodisierungsschema vorschlägt, das es sowohl erlaubt die einzelnen Perioden als Ganzes zu sehen - »Tableaux Historiques des Periodes« zu geben - als auch den Eigenwert jedes Zeitalters und jeder Kultur zu bestimmen, versucht er, der »Universal History« eine auf die Geschichtsphilosophie Herders vorausdeutende Richtung zu geben.49 Der durch Montesquieu und Winckelmann eingeleitete Paradigmenwechsel vom antiquarischen zum historischen Bewußtsein ermöglicht es Moser, jede Epoche der deutschen Geschichte aus ihren eigenen Voraussetzungen heraus zu verstehen und zugleich alle diese Epochen einer über die Zeiten hinweg gültigen Norm, einem Ideal zu unterwerfen. W i e aus der Korrespondenz mit Nicolai hervorgeht, erwartete er in diesem Sinne von Abbt eine die politische Geschichte einbegreifende Kulturgeschichtsschreibung. »Was er mit den Ansichten, die ihm (Abbt, d.V.) Herr Winkelmann gegeben, sagen wollen, kann ich nicht mit Gewißheit bestimmen. Vielleicht gedachte er dessen Geschichte der Kunst mit der politischen in Verbindung zu bringen, die Werke die Freyheit mit den Denkmälern der skalvisch gehaltenen Völker zu vergleichen, die Wirkungen jeder politischen Verfassung auf den Stil, die Kühnheit und den Adel der Kunst zu zeigen, und die Reife eines jeden Staats, einer jeden Sprache und überhaupt eines jeden Nationalgenies aus der Geschichte der Kunst mit zu erweisen. Wenigstens würde ich solches von ihm erwartet haben.«io Moser ist davon überzeugt, daß sich auch mit dem Plan seiner »Osnabrückischen Geschichte« dieser von ihm selbst nicht eingelöste Anspruch einer Kulturgeschichtsschreibung vorzüglich verbinden ließe. »Das Costume der Zeiten, der Stil jeder Verfassung, jedes Gesetzes, und ich mögte sagen, jedes antiken Worts, muß den Kunstliebenden vergnügen. Die Geschichte der Religion, der Rechtsgelehrsamkeit, der Philosophie, der Künste und schönen Wissenschaften ist auf sichere Weise von der Staatsgeschichte unzertrennlich und würde sich mit obigem Plan vorzüglich gut verbinden lassen. Von Meisterhänden versteht sich. Der Stil aller Künste, ja, selbst der Depeschen und Liebesbriefe eines Herzogs von Richelieu, steht gegeneinander in einigem Verhältnis. Jeder Krieg hat seinen eigenen Ton, und die Staatshandlungen haben ihr Kolorit, ihr Costume und ihre Manier in Verbindung mit der Religion und den Wissenschaften.«5' 48
Vgl.: Justus Moser. Briefe, S. 198: »Machen Sie die Helden in der Geschichte nicht zu groß! Stecken Sie solche bisweilen auf die Nadelspitze, damit sie einige Männchen vor dem philosophischen Microscopio machen, und veredlen immerfort den Menschen, wo Sie ihn finden.« 49 Vgl.: Justus Moser. Briefe, S. 190 u. 185 5 ° Justus Moser. Briefe, S. 235 ''Justus Moser. S W X I I , 2, 57f. Zum kulturgeschichtlichen Anspruch von Mosers Geschichtsauffassung siehe auch: Clemens A. Hoberg. »Historische Logik«. Ein Beitrag zu Mosers Geschichtsauffassung. In: Historische Zeitschrift. Bd. 158, 1938, S. 492 ff. und: Georg Stefansky. Justus Mosers Geschichtsauffassung im Zusammenhang der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts. In: Euphorion. Zeitschrift f. Literaturgeschichte. Bd. 28. 1927, S. 21-34.
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In dieser Antizipation eines »Ganzen« ist die Präfiguration eines Geschichtsverständnisses zu erkennen, das nach einer Geschichte von »Ideen« hinter der Oberflächengeschichte von Ereignissen sucht.52 W i e für Winckelmann ist audi fur Moser die Arbeit mit Projektionen dafür eine unerläßliche Voraussetzung. Sie besteht bei beiden Autoren in der Rekonstruktion imaginärer, im Grunde nur als Idee existierender »Originale« bzw. »originaler Urzustände«.53 Gerade der G e danke, die »Geschichte eines Ideals zur Haubt-Action« 54 zu machen, dieses Ideal aber nicht in der griechischen Antike, sondern in einer Frühzeitepoche der deutschen Kultur anzusiedeln, übt auf Moser eine besondere Faszinationskraft aus. A n Nicolai schreibt er in diesem Sinne: »Es giebt mehrere Arten von Antiken als diejenigen, welche Herr Winkelmann zu seinem Gegenstande erwählt; ich meine diejenigen, welche Montesquieu in ein großes und vortreffliches Gemälde gefügt hat, ohne gleichwohl eine einzige einzelne Figur mit dem gehörigen Fleiße und der erforderlichen Treue behandelt zu haben. Von diesen hatten wir oft gesprochen und gewünscht, daß ein Winkelmann, der Philosophie und Historie genug besäße, solche mit einem schärfern Auge betrachten möchte.«" In Ansätzen versteht Moser sich selbst als Historiker, der diesen Ansprüchen gerecht zu werden versucht, wenn er auch seine Grenzen kennt und in der Einleitung in die »Osnabrückische Geschichte« genau bezeichnet. Anstelle der von Winckelmann entwickelten ästhetischen Norm der »edlen Einfalt und stillen Größe« bezieht sich Moser auf die politische Norm von »Freiheit und Ehre«, die er als Ideal in den germanischen Altertumsstaat projiziert, ohne - wie noch zu zeigen sein wird - den ästhetischen Anspruch aufzugeben. Das Winckelmann'sche Paradigma der Deutung von Kunst durch Untersuchung ihrer historischen Voraussetzungen wird zur Bestimmung der Geschichte selbst durch die Kunst umgedeutet.56
" Vgl.: Wolfgang Ernst, S. 256 " Winckelmann bemerkt dazu: »Ich bin in der Geschichte der Kunst schon über ihre Grenzen gegangen [...] Wir haben, wie die Geliebte, gleichsam nur einen Schattenriß von dem Vorwurfe unserer Wünsche übrig; desto größere Sehnsucht nach dem Verlorenen erweckt derselbe, und wir betrachten die Kopien der Urbilder mit größerer Aufmerksamkeit [...]«. Geschichte der Kunst des Altertums, S. 393. Vgl. dazu auch: Wolfgang Ernst, S. 256 54 Justus Moser. Briefe, S. 189 " Justus Moser. Briefe, S. 235. In bezug auf die Konzeption und Methode ihres Werkes hat Moser Winckelmann und Montesquieu als Vorbilder immer wieder in engen Zusammenhang gebracht, weil sie ihm »einerlei Größe und einerlei Fehler gehabt zu haben« schienen. Vgl.: SWIII, 81 56 Vgl. dazu: Wolfgang Ernst, S. 256: »In (rhetorischer?) Inversion der >Geschichte der Kunst [...]< von 1764 zur Kunstgeschichte des 19. Jahrhunderts wird aus der ästhetischen Kategorie Kunst im historischen Kontext die Historie ihrerseits zur ästhetischen Kategorie [...] Versuche der Ent-Asthetisierung von Historie im 20. Jahrhundert fuhren zum Verlust eben jener Identität, der unser Begriff >Geschichte< seine Bedeutung verdankt.«
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Durch Winckelmann sich der Tatsache bewußt geworden, daß er in seiner »Osnabrückischen Geschichte« eine Konstruktion nach einer »idealischen Linie« vorgenommen hat, versucht Moser durch die Errichtung seines normhaften Frühzeitideals der nationalen Kultur weitere Quellen zu erschließen. So wie Winckelmann griechische Kunst als ein aus den besonderen Bedingungen des Klimas, der Sitten und Gewohnheiten hervorgegangenes Phänomen beschreibt, das nur durch den Versuch der Einfühlung in den Stil der einzelnen Werke zu erfassen ist, setzt auch Moser einfühlendes Verständnis fur die individuellen Zustände und Bedürfnisse in den verschiedenen Epochen der sozialen Kultur der Nation, ihre Verfassung und Rechtsentwicklung voraus. Indem er die deutsche Geschichte zum ersten Mal am Faden des fortlaufenden Wandels eines einzigen Gegenstandes verfolgt, der als solcher in allen seinen Veränderungen mit sich selbst identisch bleibt, vollzieht er zugleich einen entscheidenden Schritt auf dem Weg zu einem organischen Geschichtsverständnis und zur Ausbildung des Entwicklungsgedankens. Durch das Postulat eines die Nation einheitlich verbindenden Elements, das angeblich ihren ursprünglichen Charakter zu veranschaulichen vermag, wird die Perspektive einer Identifikation mit der eigenen Geschichte auf der Basis einer am »Nationalepos« der Alten orientierten Geschichtsdarstellung eröffnet. Diese Geschichtsschreibung hat nach Moser - wie die deutsche Kultur überhaupt - dem Prinzip der »Einheit in der Mannigfaltigkeit« zu folgen, wenn sie zur Größe gelangen will. Die dabei zu überwindenden Schwierigkeiten sieht er in Relation zu der erzielten Wirkung. Denn fur ihn gilt die Uberzeugung: »Ist es gleich schwerer, unter einer großen Menge zu wählen und gewählte, unzählbare Sachen zu einem großen Zwecke zu vereinigen, als einen unförmigen Kranz von Rosenknospen zu binden; so ist auch die Wirkung davon viel größer, wenn die Wahl und Zusammenstellung wohl geraten ist [...]«"
W i e aus den obigen Ausführungen hervorgegangen ist, darf der Historiker nach Moser in einer Geschichte der Nation bei der »Wahl und Zusammenstellung« seiner Gegenstände die historisch vorgegebenen Bedingungen der nationalen Existenz keineswegs abstrahierend überspringen, sondern ist zu einer Orientierung an den individuellen historischen Tendenzen aufgefordert, die zu den gegenwärtigen Lebensverhältnissen geführt haben und diese in die Zukunft hinein bewegen. Dieser Individualisierungskategorie entsprechend, geht Moser in der Einleitung zu seiner »Osnabrückischen Geschichte« von der Prämisse aus, daß Ursprung und bewegende Kraft der deutschen Geschichte in dem sozialen Kriterium der »Nationalfreiheit« und in dem wirtschaftlichen Faktor des »Nationaleigentums« zu sehen sind. Er bietet hier ferner in konzentrierter Form einen epochalen Überblick über den Verlauf der deutschen Geschichte bis zu seiner 57
156
S W I I I , 81
Gegenwart und setzt sich mit Fragen der Periodisierung und des historischen Wandels auseinander. Dabei interessiert ihn die Geschichte der Nation nicht nur im Hinblick auf ihren realen Verlauf, sondern gerade auch in bezug auf die »Hauptwendungen, welche sie hätte nehmen können.«' 8 Diesem letzten Gesichtspunkt kommt, wie im folgenden zu zeigen sein wird, angesichts des zunächst vorherrschenden Eindrucks, daß Moser eine Verfalls- und Verlustgeschichte »deutscher Freiheit« schreibt, besonderes Gewicht zu.
s8
SWXII, 2, S. 54 157
Kapitel III Die »Urstaatstheorie« der »Osnabrückischen Geschichte« als epochaler Entwurf einer nationalen Volksgeschichte und versäumten deutschen Freiheitsgeschichte
In der Vorrede seines Geschichtswerkes1 unterbreitet Moser den »Plan«, nach dem er die Veränderung und zunehmende Beschränkung des freien Landeigentums durch vier Perioden der deutschen Geschichte verfolgen will. Dabei kristallisiert sich als roter Faden in der Gestaltung dieses historischen Prozesses die permanente Auseinandersetzung zwischen Zentralgewalt und lokalen Gewalten heraus, deren Verhältnis sich in Deutschland ganz anders als in England und Frankreich entwickelte. Dieses Verhältnis bildet fur Moser den Grund für die unlösbare Verbindung von Reichs- und Landesgeschichte. Von der Untersuchung des Wechselspiels zwischen territorialer Sonderung und nationaler Einigung im Spannungsfeld von Freiheits- und Machtstreben erhofft er sich nicht nur Aufschluß über "Wesen und Entwicklung des deutschen Nationalgeistes im Unterschied zum französischen und englischen, sondern zugleich auch eine »Nationalgeschichte«, die im oben beschriebenen Sinne höchsten ästhetischen und philosophischen Ansprüchen gerecht wird. »Der mächtige und reißende Hang großer Völkervereinigungen zur Monarchie und die unsägliche Arbeit der Ehre, oder, nach unsrer Art zu reden, der Freiheit, womit sie jenem Hange begegnen, oder ihrer jetzt fallenden Säule einen bequemen Fall hat verschaffen wollen, ist das prächtigste Schauspiel, was dem Menschen zur Bewunderung und zur Lehre gegeben werden kann; die Berechnung der auf beiden Seiten wiirkenden Kräfte und ihre Resultate sind für den Philosophen die erheblichsten Wahrheiten."
Indem er die Geschichte der Nation als ein bewegtes Spiel von Kräften und Gegenkräften zu gestalten beabsichtigt, will Moser vor allem jenem Mangel an nationaler Spannung entgegenwirken, der ihm noch 1781 fur den mangelnden Schwung im deutschen Geistesleben bezeichnend erscheint.3 ' Vgl.: S W X I I , ι, 31-49 und Bd. XII, 2, S. 45-63. Mit der Ausarbeitung hatte Moser bereits 1764 begonnen. Bogenweise abgedruckt wurde es Anfang 1765. 1768 erfolgte dann die erste Ausgabe mit der in diesem Jahr geschriebenen Vorrede. Zwischen 1778 und 1780 arbeitete er verschiedene Teile um und führte das Werk weiter. Teil II. und III. erschienen dann 1780. Vgl.: S W X I I I 1 S W X I I , 2, 57 ' Vgl.: S W I I I , 74: »Wenn wir aber so wenig große Begebenheiten haben, als mit der gehörigen Lebhaftigkeit empfinden, wie wollen wir dann zu dieser Höhe der Gedanken und des Ausdrucks gelangen, welche andre Nationen auszeichnet? Kann die schlaffe Seele eben das was die hochgespannte wirken?«
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Der Ausgangspunkt jenes für die nationale Geschichte charakteristischen dynamischen Prozesses liegt nach Moser am Ende eines Zeitalters, das er als das goldene der Nation bezeichnet. Gemeint ist jene »güldene Zeit« der ersten sächsischen Siedler, in der »jeder deutsche Ackerhof mit einem Eigentümer, oder Wehren besetzt« und »nichts als hohe und gemeine Ehre der Nation bekannt« ist.4 Diese Zeit, die bis zu Karl dem Großen dauert, zeigt die Nation in einer später nie wieder erreichten Freiheit, Einheit und Größe. Jedes ihrer Mitglieder verfügt in dieser Periode über einen eigenen Landbesitz, von dem aus sich das ganze Netz der gesellschaftlichen Beziehungen verzweigt, von dem Freiheit, Ehre, aber audi die Verpflichtungen gegenüber der Gemeinschaft abhängen. Außerhalb dieser Eigentumsgesellschaft - die in den nächsten Kapiteln noch näher zu charakterisieren ist - gibt es keine Freiheit. In diesem Sinne frei zu sein, d.h. frei von Besitz und Verpflichtung, bedeutet nach Moser im Gegenteil, den Verlust der gemeinen Ehre erlitten zu haben und ist bei den alten Deutschen folglich ein schimpflicher Zustand. 5 Das Gemeinwesen ist auf der Basis des Eigentums demokratisch strukturiert, der Zusammenschluß erfolgt allein zum Zweck seiner Erhaltung und Verteidigung. Letztere ist fest an die Person des Eigentümers gebunden. »Wenn sie auszogen, geschähe es unter der Fahne Gottes und nicht unter der Fahne eines Herrn. Ihr erwählter Richter zu Hause war ihr Oberster im Felde. Sie dienten, wenn man es einen Dienst nennen kann, ohne Eid und ohne Sold und fochten für ihren eigenen Herd, Bruder bei Bruder, Nachbar bei Nachbar.«6
Den ersten entscheidenden Einschnitt in diese ursprüngliche Verfassung bildet die Unterwerfung der Sachsen durch Karl den Großen. Hier setzt nach Moser eine Entwicklung ein, in deren Verlauf der alte Heerbann der Freien und Gleichen sich auflöst und durch adlige Dienstmannschaften ersetzt wird, während die freien Landeigentümer durch Steuerpflichtigkeit in zunehmende Abhängigkeit geraten. Demzufolge ist dann die zweite Periode der deutschen Geschichte unter Ludwig dem Frommen bereits charakterisiert durch deren soziale Degeneration, was wiederum eine Zersetzung der Reichsregalien und den Verlust von gemeiner Freiheit und Ehre nach sich zieht. Jene ursprünglich freien Landeigentümer, »die bloß ihren Herd und ihr Vaterland bei eigner Kost und ohne Sold verteidigen wollten«, werden sukzessive »aus Einfalt, Andacht, Not und falscher Politik« den Geistlichen, Bedienten und Reichsvögten« aufgeopfert, und die Bischöfe und Grafen verfahren »mit dem Reichsgut nach Gefallen«.7 Obwohl Heinrich der Vogeler dieses zurückzugewinnen sucht und den »Heerbann mit einigen Veränderungen« vorübergehend wiederherstellt, ist der Zerfall des Landeigentums langfristig nicht aufzuhalten. Otto der Große veräußert das 4
S W X I I , 2, 49
5
Vgl.: S W X I I , 2, 449
6
S W X I I , ι, 8i S W X I I , 2, 49 f.
7
i6o
gemeine Gut fur geleistete Kriegsdienste an seine Vasallen und glaubt der im Heerbann zusammengeschlossenen Landeigentümer nicht mehr zu bedürfen. 8 Die Indizien ihres Niederganges treten in der nun folgenden dritten Periode der deutschen Geschichte immer deutlicher zutage. Alle Versuche der Reichsgewalt, »der kaiserlichen Krone, worin ehedem jeder gemeiner Landeigentümer ein Kleinod war, durch bloße Dienstleute ihren alten Glanz wiederzugeben«, scheitern. 9 Auch die Bemühungen der Zentralgewalt, im Bündnis mit Bürgern und Städten ihre Maditbasis zu festigen und zu erweitern, bleiben aufgrund ihrer Halbherzigkeit ohne wirklichen Erfolg. »Die verbundenen Städte und ihre Pfahlbürger geben zwar der Nation Hoffnung zu einem neuen gemeinen Eigentum. Allein, die Hände der Kaiser sind zu schwach und schlüpfrich, und anstatt diese Bundesgenossen mit einer magna carta zu begnadigen und sich aus allen Bürgern und Städten ein Unterhaus zu erschaffen, welches auf sichere Weise den Untergang der ehemaligen Landeigentümer wieder ersetzt haben würde, müssen sie gegen solche Verbindungen und alle Pfahlbürgerschaft ein Reichsgesetz übers andere machen.«10
Moser spielt hier offensichtlich auf die »Goldene Bulle« Karls IV. und die in ihr enthaltenen städtefeindlichen Bestimmungen an. Durch dieses Gesetzeswerk wird, aufgrund entscheidender Zugeständnisse an die Kurfürsten des Reiches, deren bis dahin nur de facto bestehende Ubermacht rechtskräftig bestätigt." In dieser Zeit Karls IV. und seiner Nachfolger Wenzel und Sigismund erfolgt nach Moser die Weichenstellung fur den unaufhaltsamen Sieg der Territorialhoheit in Deutschland. Er betont zugleich, daß es, gemessen an der Entwicklung anderer Staaten, ein »Sonderweg« ist, auf den die Nation durch falsche Politik gelenkt wird. Denn während »in Dänemark der Landeigentum sich wieder unter die Krone fuget; in Spanien der neue Heerbann, oder die Heermandad, der mittlem Gewalt mit Hülfe der klugen Isabelle das Gleichgewicht abgewinnt, und in der Schweiz drei Bauern gemeine Ehre und Eigentum wiederherstellen, wurde die 8
SWXII, 2,50 ' SW XII, 2, 50. Moser bemerkt ebd. über diese Periode: »Man verliert sogar den Namen und den wahren Begriff des Eigentums, und der ganze Reichsboden verwandelt sich überall in Lehn-, Pacht-, Zins- und Bauerngut, so wie es dem Reichsoberhaupt und seinen Dienstleuten gefällt. Alle Ehre ist im Dienst.« " SWXII, 2, 50 f. 11 Vgl.: Die Goldene Bulle. Das Reichsgesetz Kaiser Karls IV. vom Jahre 1356. Deutsche Übersetzung v. Wolfgang D. Fritz. Weimar 1978, hier insbesondere die Kapitel z: » Über die Wahl des Römischen Königs«; 9: »Uber Gold-, Silber- und andere Bergwerke; 16: »Uber die Pfahlbürger« (= Bezeichnung für außerhalb der Stadt wohnende Inhaber des Bürgerrechts, d.V.) Vgl. dazu auch: B.U. Hergemöller. Die goldene Bulle Karls IV. und die Kunst des Möglichen. In: Kaiser Karl IV., Staatsmann und Mäzen. Hrsg. E Seibt. Nürnberg u. Köln 1978/79, S. 143-146 u. ebd. P. Moraw. Monarchie und Bürgertum, S. 43-63. Vgl. auch: K. Ruser. Die Städtepolitik Karls IV. und die Politik der Reichsstädte. Diss. phil. Freiburg 1960
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Absicht des Bundschuhes und andrer nicht undeutlich bezeichneter Bewegungen von den Kaisern kaum empfunden.« 12 Aber auch die Städte, »diese anomalischen Körper«, sind nach Moser fur den Niedergang des freien Landeigentums mitverantwortlich. 13 Laut seiner Kontraktidee zu einem Zeitpunkt entstanden, als Grund und Boden bereits verteilt waren und daher keine »ursprünglichen Kolonien« 14 , stellen die Städte von Anbeginn an für die Landeigentümer eine Bedrohung dar. Die weit auseinander lebenden ersten Siedler, von denen jeder »auf seinem H o f als König herrschte«1', versuchen dementsprechend ihr Entstehen mit aller Macht zu verhindern. »Aus einem eben so großen Bewegungsgrunde duldeten sie keine Städte, ja nicht einmal zwei Hauptwohnungen auf einem Hofe. Fast alle übrigen Nationen haben sich in Städten zusammengezogen, und der Erfolg davon war, daß eine Stadt immer die andre bekriegte, in jeder Feldherrn und Tyrannen entstanden und die gemeinen Bürger nach und nach zu Sklaven der Großen gemacht wurden. Der Sachse allein sähe die Gefahr der Städte ein; er erkannte, daß die Erhaltung der Nationalfreiheit nicht möglich sei, ohne alle Städte aus seinem Plan zu verbannen [...]«'* Es wurde bereits erwähnt, daß Mosers Vorbehalte gegenüber den Städten vor allem auf der dort beobachteten Nachahmung französischer Moden und Verhaltensweisen beruhen, von der er die Originalität und Individualität des N a tionalcharakters bedroht sieht. So warnt er auch in der »Osnabrückischen G e schichte« seine Leser davor, »sich den Städter, diese mißlungene Kopei einer Nation, die beinahe das Gegenteil von der unsrigen ist«, im »Betragen und in der Sprache [ . . . ] zum Muster zu erwählen«. 17 Es ist das im Bild des Hausvaters charakterisierte Ideal der freien Persönlichkeit'8, das nach Moser mit der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft 11
S W X I I , 2, 51 " S W X I I , 2, 52 14 S W X I I , 2, 65 " S W X I I , 2, 69 ' 6 S W I X , 267 f. Zur Städtefeindschaft: der Landeigentümer vgl. auch: Bd. VI, S. 299 u. Bd. X, S. 113: »So hielten es unsre Vorfahren und die alten Deutschen. Sie haßten die Städte wie den bösen Feind; und würden sich eher alle Finger abgebissen haben, ehe sie eine versammlete Menge erlaubt hätten, Mauern um sich aufzuwerfen und den einzelnen Wohnern zu trotzen.« Gatterer bezweifelt in seiner Rezension der »Osnabrückischen Geschichte« unter Berufung auf Tacitus gerade diese These Mosers: »Tacitus, der Rom und lauter grosse verschlossene Städte vor sich hatte [...] mag also wohl recht haben, daß die Teutschen keine solche Städte hatten, aber vicos hatten sie doch, worunter wir uns wenigstens Gesichtslinien von Gebäuden gedenken, aus denen vielleicht alle heutigen kleinen Landstädte und Weichbilde in Westphalen entstanden sind.« Ders. Allgemeine historische Bibliothek. Bd. 1, S. 77 17 SWXII, 2,149 '* S W X I I , 2, 69, wo Moser dieses Ideal wie folgt beschreibt: »Solche einzelne Wohner waren Priester und Könige in ihren Häusern und Hofmarken. Sie richteten über das Leben ihrer Familien und Knechte, ohne einander Rechenschaft zu geben. Jeder Hof war gleichsam ein unabhängiger Staat, der sich von seinem Nachbarn mit Krieg oder
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unwiederbringlich verloren geht. In dieser Gesellschaft verliert die alte »Ehre«, die der »Geist der deutschen Verfassung gewesen und ewig bleiben sollen«, ihren Wert. 1 ' Waren ursprünglich nur die Landeigentümer im Besitz staatsbürgerlicher Rechte und Freiheiten, so bahnt sich nun eine Verfassung an, »worin allmählich jeder Mensch, eben wie unter den spätem römischen Kaisern, zum Bürger und Rechtsgenossen aufgenommen und seine Verbindlichkeit und Pflicht auf der bloßen Eigenschaft von Untertanen gegründet werden sollten.« 10 Die negativen Vorzeichen, unter denen Moser die Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft betrachtet, erinnern nicht von ungefähr an Rousseaus Zivilisationskritik. »Religion und Wissenschaften hoben immer mehr den Menschen über den Bürger, die Rechte der Menschheit siegten über alle bedungenen oder beglichenen Rechte. Eine bequeme Philosophie unterstützte die Folgerungen aus allgemeinen Grundsätzen besser als diejenigen, welche nidit ohne Gelehrsamkeit und Einsicht gemacht werden konnten. Und die Menschenliebe ward mit Hilfe der chrisdichen Religion eine Tugend, gleich der Bürgerliebe, dergestalt, daß es wenig fehlte, oder die Reichsgesetze selbst hätten die ehrlosesten Leute aus christlicher Liebe ehrenhaft und zunftfähig erklärt.«1' Auch Rousseau sieht wie Moser im Christentum keine Bürgerreligion, sondern die Religion de l'homme, die den Menschen als Bürger freisetzt und zum Bürger des Universums macht. Es löst damit zugleich den politischen Monismus der Antike auf, wie er als Ideal in der griechischen Polis bestand." »Jesus errichtete auf Erden ein geistliches Reich, das, indem es das theologische System vom politischen trennte, bewirkte, daß der Staat aufhörte einer zu sein, und der so die inneren Spaltungen verursachte, die die chrisdichen Völker unablässig in Unruhe bringen.« 1 ' Friede sdiied. Jeder Hausvater handhabete seinen eignen Hausfrieden, und wie sie sich mehrer Sicherheit hafber enger verbanden, ward diese Befugnis nicht aufgehoben.« Vgl. dazu auch: O. Brunner. Das »Ganze Haus« und die alteuropäische »Ökonomik«. In: Ders. Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte. Göttingen 1980 (3. Aufl.), S. 33-61 Daß Moser Urbanität und Gefährdung der freien Persönlichkeit in engem Zusammenhang sieht, wird besonders auch in jenen Aussagen deutlich, die sich auf Ausnahmen von dieser Regel beziehen. So läßt er zum Beispiel eine Dame der Gesellschaft die Aufforderung an ihren Briefpartner riditen: »Gestehen Sie endlich, daß es auch in dem städtischen Zirkel bisweilen eine schöne Natur gebe, die eine heilige Betrachtung verdient! Ich bin davon ganz enthusiasmiert [...] auch mir ist dabei eine süße Träne entfallen.« S W V I , 39 " S W X I I , 2, 55 f. îo S W X I I , 2, 53 11 S W X I I , 2, 56 " Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf den vorzüglichen Aufsatz von Robert Spaemann. Natürliche Existenz und politische Existenz bei Rousseau. In: Collegium Philosophicum. Studien Joachim Ritter zum 60. Geburtstag. Stuttgart 1965. Vgl.: ebd., S· 379 J.J. Rousseau. Contract social. Ed. Garnier. Paris i960, S. 329. Zit. nach Robert Spaemann, S. 379 163
Da nach Rousseau aufgrund dieser Entwicklung »alle gute Politie« und damit auch eine als totale Integration gedachte politische Erziehung unmöglich geworden ist, muß der moderne Mensch die Option treffen, ob er, wie es zu Beginn des »Emil« heißt, »einen Bürger oder einen Menschen machen will, denn man kann nicht beides zugleich.«24 Bekanntlich votiert Rousseau für die Erziehung zum Menschen, eine Erziehung, die, da sie die Prämisse zur Voraussetzung hat, der Mensch habe um jeden Preis mit sich selbst identisch zu sein, den Weg des elitären einzelnen beschreibt, die Entzweiung von Menschsein und Bürgersein aber nicht überwindet. Nachdem die bürgerliche Gesellschaft Natur als ein Spätprodukt, als in der Individualerziehung des Menschen verbürgte Subjektivität erst freigesetzt hat, ist es in Rousseaus Augen die höchste Rechtfertigung dieser Gesellschaft, daß sie einem bestimmten Typ von Individuen erlaubt, das höchste Glücksgefühl durch den Rückzug aus ihr, der Gesellschaft, d.h. durch ein Leben an ihrem Rande zu genießen. Verkörpert wird diese Existenz z.B. im modernen Selbstverständnis des Künstlers, der ohne soziale Verantwortung und gewissermaßen außerhalb der Gesellschaft doch eben diese Gesellschaft und ihre Kultur als Conditio sine qua non voraussetzt.2' Moser hingegen - und das unterscheidet ihn grundsätzlich von Rousseau widmet sein ganzes Werk der Erziehung des Bürgers. Rousseaus Ideal der absoluten Identität des Menschen mit sich selbst, das die Spannung zwischen natürlicher und politischer Existenz erst eigentlich hervorbringt 2 , hat für Moser keine Bedeutung. Während nach Rousseau für die gegenwärtige Sozietät nicht erzogen werden kann, ohne den Menschen mit sich selbst zu entzweien und deshalb die oben beschriebene Option zu einer Notwendigkeit wird, unterscheidet Moser streng zwischen Mensch und Bürger ohne diese Trennung als problematisch zu empfinden. 27 So bezieht sich die im obigen Zitat angeführte Kritik der bürgerlichen Gesellschaft ausschließlich auf die historische Existenz des Menschen als Bürger und auch seine häufig mißverstandene Zurückweisung des Menschenrechtes erfolgt - wie noch zu zeigen sein wird - immer nur im Hinblick auf diese bürgerliche Existenz des Menschen. Während Moser also in seinem entwicklungsgeschichtlichen Entwurf der deutschen Verfassung einerseits das Aufkommen von Geldwirtschaft, Städten und bürgerlicher Gesellschaft für ihre Niedergang verantwortlich macht, sieht er 14
Zitiert nach Robert Spaemann, S. 377 Vgl.: Robert Spaemann, S. 385 ff. *6 Vgl.: Robert Spaemann, S. 381 17 Interessant sind in diesem Zusammenhang William Sheldons Ausführungen zu Mosers Persönlichkeit. Er beschreibt diesen als einen Charakter, in dem die Bipolarität von Vernunft und Gefühl, von Bürgerpersönlichkeit und Künstlerselbstverständnis zwar Spannungen erzeugt, die Vernunft über das Gefühl und der Bürger über den Künstler aber immer die Oberhand behalten. Nach Sheldon hat Moser dementsprechend nur dem Künstler, nicht aber dem Bürger erlaubt, die »Regeln« zu verletzen. Vgl.: ders. The Intellectual Development of Justus Moser, S. 37 und 129 15
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andererseits gerade mit dieser Entwicklung der wirtschaftlichen Potenz des Bürgertums die erste große historische Chance gegeben, den Zerfall des Reiches aufzuhalten. Eine Chance, die zu seinem Bedauern versäumt wurde. »Eine Verfassung, wobei Deutschland hätte glücklich werden können, wenn es seine Größe immerfort auf die Handlung gegründet, diese zu seinem Hauptinteresse gemacht und dem persönlichen Fleiße und baren Vermögen in bestimmten Verhältnissen gleiche Ehre mit dem Landeigentum gegeben hätte, indem alsdann die damals verbundene und mächtige Städte das Nationalinteresse auf dem Reichstage mehrenteils allein entschieden, Schiffe, Volk und Steuren bewilligt, und die Zerreißung in so viele kleine Territorien, deren eins immer seinen Privatvorteil zum Nachteil des andern sucht, wohl verhindert haben würden.«28
Mit dem hier angesprochenen Niedergang der Hanse, den Moser in zahlreichen Aufsätzen immer wieder beklagt hat, ist die erfolgreiche Umstrukturierung Deutschlands vom Agrar- zum bürgerlich fortschrittlichen Handelsstaat auf lange Zeit gescheitert. Mosers in dieser sich widersprechenden Beurteilung der deutschen Verfassungsentwicklung zum Ausdruck kommende Ambivalenz gegenüber dem Fortschrittsgedanken hat für seine Beurteilung des deutschen Territorialismus und Provinzialismus eine wichtige und bisher häufig übersehende Konsequenz. Immer dann, wenn er Probleme anspricht, die der Kleinstaat allein nicht zu lösen vermag - und das sind meist ökonomische Probleme - , setzt er sich für Zentralisierungsmaßnahmen, fur eine Stärkung der Reichsgewalt und fur die Vereinheitlichung des Rechts ein, werden der Bürger und die Stadt wichtiger als der Bauer und das Land. So fordert Moser die Konzentration des Handwerks in größeren Städten 29 , plädiert ftir eine »allgemeine Vereinigung der Reichsfursten« in Handelsfragen und will angesichts der »Menge von kleinen Territorien und ihr(em) beständige(n) heimliche(n) Krieg gegeneinander« an »Reichs- und Kreistagen die gemeine deutsche Wohlfahrt in Handel und Wandel in einige Betrachtung gezogen« wissen. 30 Sähe er es als Befürworter des Individuellen und Besonderen einerseits am liebsten, wenn jedes kleine deutsche Städtchen seine eigene Verfassung haben könnte' 1 , so verurteilt er in bezug auf Wirtschaftsfragen alle separatistischen Tendenzen scharf und beklagt häufig, daß »jedes Dorf auf S W X I I , 2, 53. Vgl. auch: ebd. Bd. IV, S. 217: »Nein, die Territorialhoheit stritt gegen die Handlung. Eine von beiden mußte unterliegen; und der Untergang der letztern bezeichnet in der Geschichte den Aufgang der erstem. Wäre das Los umgekehrt gefallen: so hätten wir jetzt zu Regenspurg ein unbedeutendes Oberhaus, und die verbundenen Städte und Gemeinden würden in einem vereinigten Körper die Gesetze handhaben, welche ihre Vorfahren, mitten in dem heftigsten Krieg gegen die Territorialhoheit, der übrigen Welt auferlegt hatten. Nicht Lord Clive, sondern ein Ratsherr von Hamburg würde am Ganges Befehle erteilen.« 29
Vgl.: S W I V , 166 S W I V , 172 * Vgl.: S W V I , 64 fr. 165
sein Privatinteresse sieht und kein großes Ganzes vorhanden« ist.32 »Solange man das Werk nicht mit gesamter Hand angreift«, sind nach Moser »alle Bemühungen einzelner kleiner Kreisstände in Handlungs- und Polizeisachen« vergeblich, und er befürwortet deshalb, daß alle ökonomischen Maßnahmen »einzig und allein von dem allerhöchsten Reichsoberhaupt beurteilet und verordnet« werden sollten." Nur vor dem Hintergrund dieser Bemühungen um die Schaffung eines einheitlichen Wirtschaftsraumes zugunsten der Entwicklung von Handel und Gewerbe - ein Ziel, das erst mit der Gründung des Zollvereins 1834 erreicht wird'4 - wird verständlich, warum Moser in retrospektiver Sicht der deutschen Verhältnisse beklagt, daß mit dem Niedergang der Hanse jener »große Geist der Nation [...], welcher sich gewiß von beiden Indien Meister gemacht und den Kaiser zum Universalmonarchen erhoben haben würde [...], von den Reichsfursten nicht ohne Ursache verfolgt« und »allezeit übereilt ersticket« wurde." Doch nicht nur die Entwicklungen im ökonomischen Bereich, sondern auch die Veränderungen im Militärwesen verhindern nach Moser in jener 3. Periode deutscher Geschichte das Zusammenwachsen der Nation: Während die ausländischen Monarchien aufgrund einer der Erhaltung des Landeigentums förderlichen Politik weiterhin in der Lage bleiben, »sich auf die gemeine Hülfe« zu erheben, scheitern im Reich vereinzelte, aus der Not geborene Versuche, »alles Lehn-, Pacht-, Zins- und Bauernwesen von Reichswegen wieder aufzuheben und von jedem Manso den Eigentümer zur Reichsverteidigung aufzumahnen.«'6 Eine »so große Revolution« wäre nach Moser das »Werk eines Bundschuhes gewesen« und hat deshalb keine Chance im Reich.57 An ihrer Stelle wird durch Vermehrung »der J1
S W I V , 176 " S W I V , 176 ' 4 Z u Mosers Zollpolitik im einzelnen vgl.: Heinz Zimmermann. Staat, Recht und Wirtschaft bei Justus Moser. Jena 1933, S. 80 ff; Hinweise auf Mosers Förderung des deutschen Städtewesens bereits bei: Karl Biedermann. Deutschlands politische, materielle und sociale Zustände im 18. Jahrhundert. Leipzig 1854, S. 67 ff. Vgl. dazu auch: Robert R. Ergang. Moser and the rise of national thought in Germany. In: The Journal of Modern History. V,i. 1933, S. 183 ff. Über die besondere, föderative Struktur der zollund handelspolitischen Einigung in Deutschland - an der die süddeutschen Mittelstaaten, aber auch Kleinstaaten wie das Königreich Westfalen maßgeblichen Einfluß hatten - informiert vorzüglich: Helmut Berding. Die Reform des Zollwesens im rheinbündischen Deutschland. In: Deutschland zwischen Revolution und Restauration. Hrsg. v. H. Berding u. H.-P. Ullmann. Düsseldorf 1981, S. 91-108 " S W I V , 17. Wenn Moser diese Entwicklung bedauert, so deshalb, weil die innere Einheit der Nation auf breiter genossenschaftlicher Basis durch sie verhindert wurde, nicht, wie Hölzle annimmt, im Hinblick auf eine mögliche »Großmachtbildung« des Reichs. Vgl.: ders. Justus Moser über Staat und Freiheit. In: Aus Politik und Geschichte. Gedächtnisschrift f. Georg v. Below. Berlin 1928, S. 177 j6 S W X I I , 2, 51 57 S W X I I , 2, 51
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Zahl der Dienstleute mit unbelehnten, unbegüterten und zum Teil schlechten Leuten« ein Weg eingeschlagen, der »nachgehends zu den stehenden Heeren führte« und man sieht sich gezwungen, »Zuflucht zu den Lehnleuten und Gutsherrn« zu nehmen, »um sich von ihnen eine außerordentliche Beihülfe zu erbitten.«'8 Auf diese Weise entstehen Landstände und Landschalten, während alle freien Landeigentümer ununterscheidbar in die Untertanenschaft der neuzeitlichen Territorialhoheit mit eingehen, durch die dann die vierte und letzte der von Moser unterschiedenen Perioden charakterisiert ist. Moser bezeichnet sie, ungeachtet der Tatsache, daß er den bisherigen Geschichtsverlauf überwiegend unter negativen Vorzeichen dargestellt hat, als eine Periode der »glücklichen Landeshoheit«.39 Der Widerspruch erscheint noch größer, wenn man berücksichtigt, daß fur diese bis in Mosers Zeit hineinreichende Periode deutscher Geschichte die Feststellung, daß sich alle Begriffe von Ehre und Eigentum, worauf sich die sächsische Gesetzgebung ehedem gründete, »verwirreten und verdunkelten«40, erst recht gilt. Daß Moser den Prozeß der Auflösung des Reichssystems in die Landeshoheit - wenn auch mit Vorbehalten - befürwortet, muß vor allem im Zusammenhang der grundlegenden Skepsis gesehen werden, die er in bezug auf alternative Entwicklungsmöglichkeiten der deutschen Geschichte hegt. Um das Entstehen der Territorialhoheit zu verhindern, hätte es seiner Ansicht nach einer starken, ständigen Kontrolle aller Reichsbeamten bedurft. Doch weder die ursprünglichen Landeigentümer noch eigens zu diesem Zweck eingesetzte »Staathalter« der Provinzen noch ein auf das Bündnis der Handelsstädte gegründetes »neues Reichsunterhaus« wären seiner Darstellung zufolge in der Lage gewesen, diese Kontrolle auf Dauer zu gewährleisten.41 Auch die Reformation als letzte der angeführten versäumten Möglichkeiten einer deutschen »Freiheitsgeschichte« beurteilt Moser ambivalent. Obwohl er einerseits keinen Zweifel daran hegt, daß Luthers, »der gemeinen Freiheit« günstige Lehre, bei »unvorsichtiger Anwendung [...] hätte hundert Thomas Münzers erwecken, und dem Kaiser die vollkommenste Monarchie zuwenden können, wenn er die erste Bewegung recht genutzt, alles Pacht-, Lehn- und Zinswesen im Reiche gesprengt, die Bauern zu Landeigentümern gemacht und sich ihres wohlgemeinten Wahns gegen ihre Landes-, Gerichts- und Gutsherren bedienet hätte«, zögert er andererseits doch, dieser Entwicklungsperspektive rückblickend seine uneingeschränkte Zustimmung zu geben. Vor allem * S W X I I , 2, 52 " S W X I I , 2,53 40 S W X I I , 2, 52. Z u m Ergebnis des entwicklungsgeschichtlichen Prozesses führt Moser an anderer Stelle aus: »In Frankreich haben die Monarchen, in England die Edlen und Freien; in Deutschland die Kronbediente gesieget. Die Vollkommenheit einer jeden von diesen drei Verfassungen ist das Hauptwerk, welches durch mehr als tausendjährige Arbeiten gewiirket worden.« S W X I V , 1, 169 41 S W X I I , 2, 54 f.
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weil er sich nicht sicher ist, ob die sich aus der gewaltsamen Umwälzung ergebenden Konsequenzen dieselbe im Nachhinein als die »größte« oder die »treuloseste« Unternehmung deutscher Geschichte hätten erscheinen lassen. 42 Vor dem Hintergrund dieser Zweifel tendiert Mosers Beurteilung der deutschen Verfassungsentwicklung letztlich doch zum Positiven hin, so sehr auch die Umstände beklagt werden, die zur Auflösung des ursprünglichen Nationalverbandes führten. Angesichts der Größe des Reichs und der Konstitution der bürgerlichen Gesellschaft erscheint ihm dessen Auflösung in einzelne Territorien schließlich sogar als die vielleicht »beste Lösung«, vorausgesetzt, jeder Landesfiirst orientiert seine Politik am Wohl der »ihm anvertrauten Reichsgemeinen« und findet an »dem allerhöchsten Reichsoberhaupte noch einigen Widerstand.« 43 Das Aufzeigen des Dualismus zwischen Zentralgewalt und lokalen Gewalten am Faden der historischen Entwicklung des Landeigentums bezeichnet demnach den zentralen Punkt, an dem Mosers als »Verfallsgeschichte« konzipierte Darstellung Züge einer organischen Entwicklungsgeschichte trägt. So erscheint die Ausbildung der Territorialhoheit in dem Maße als zwangsläufige Entwicklung, in dem Freiheit und Ehre des ursprünglichen Landeigentums und damit das Reich als Nation sinken. Ihre Anerkennung kommt einer weitgehenden Korrektur des im Rahmen der Dekadenzvorstellung angelegten Geschichtsbildes Mosers gleich. 44 Ubersehen werden darf jedoch nicht, daß diese Anerkennung der Territorialhoheit keine absolute im Sinne eines Status-quo-Denkens ist. Dem widerspricht zum einen die als Orientierungsmaßstab immer gegenwärtige »Norm« der postulierten Frühzeitidealität, zum anderen die Konsequenz, mit der diese Akzeptanz von dem Ausmaß ständischer Mitspracherechte in den einzelnen Territorien und von dem zur Verfügung stehenden Raum für einen Ausbau des Selbstverwaltungs- und Genossenschaftsprinzips abhängig gemacht wird. 4 ' Wenn 42
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S W XII, 2, 55. Nur in völliger Verkennung dieser ambivalenten Haltung gegenüber der historischen Möglichkeit eines einheitlichen deutschen Nationalstaates konnte Moser in der älteren Forschungsliteratur als »Verteidiger und Künder der Grundlinien und Lehren des Staates der Deutschen«, als Begründer eines Nationsbegriffs, der bereits »Sprache des Blutes« sei, in Anspruch genommen werden. So bes. bei H.U. Scupin. Volk und Reich bei Justus Moser. In: Zeitschrift fiir öffentliches Recht. Bd. 19. 1939, S. 638 ff. S W X I I , 2, 55 Vgl.: Paul Göttsching. Geschichte und Gegenwart [...], S. 101 ff. Den Aspekt des Organischen in Mosers Geschichtsauffassung betont auch Sheldon, vgl.: ders. The Intellectual Development [...], S. 85 ff. Mosers »Optimismus fiir die jetzige Ständische Territorialverfassung«, den bereits Gatterer konstatiert (vgl.: ders. in »Allgemeine Historische Bibliothek, Bd. 1, S. 100), ist zu einem großen Teil bedingt durch seine positive Bewertung der Osnabrücker Verfassung, die er in einem Brief an Nicolai als ein System gegenseitiger Machtkontrolle und Machtbalance charakterisiert, als kleines Staatswesen, in »dem immer ein Theil gegen den andern Wacht hält und die geringsten Uberschritte bemerkt« werden. Justus Moser. Briefe, S. 355
es zum Beispiel darum geht, die zentralistischen und absolutistischen Bestrebungen einzelner Landesfursten zu kritisieren, hält Moser an seiner tragischen Geschichtsauffassung fest. Während das Fürstbistum Osnabrück immer wieder als Beispiel für die »glückliche Landeshoheit« angeführt wird, bietet der preußische Staat das beste Anschauungsmaterial zur Erstellung einer düsteren Prognose in bezug auf die »Geschichte des künftigen Jahrhunderts«.46 Nirgendwo lassen sich nach Moser die Folgen der alle Unterschiede nivellierenden, abstrakt-rationalistischen Aufklärungsphilosophie besser absehen als in Preußen, wo »kein Landeigentümer mehr zu finden« ist, weil die Steuerpolitik alles Landeigentum zerstört hat. Selbst der Adel werde hier vom Landesherren wie von einem Löwen verachtet, der »nichts weiter als Ameisen unter sich erkenne«. Ein Staat aber, in dem der »König ein Löwe und alle übrigen Einwohner Ameisen sind«, hat fur Moser selbst dann keine »Reizungen«, wenn er nach den besten Maximen der Aufklärungsphilosophie regiert wird.47 Dort hingegen, wo »man aus der Hütte zum Throne auf sanften Stufen gelangen kann«4', haben sich seiner Ansicht nach Reste jener »gemeinen Freiheit« seines Urstaatsentwurfs bewahrt. Im Sinne dieser Auffassungen ist die Erkenntnis des deutschen Territorialismus in seiner gegenwärtigen und zukünftig möglichen Gestalt fur Moser eine der wichtigsten Erkenntnisse, die sich aus dem Studium seines Geschichtsentwurfs gewinnen lassen. Inwieweit dieser Territorialismus fiir das Unheil der deutschen Nationalgeschichte verantwortlich erklärt werden muß, ist seiner Ansicht zufolge keine Frage, die die reichsständische Libertät der Landesfursten betrifft, sondern in hohem Maße davon abhängt, wie die durch »Nutzung des gemeinen Reichseigentums« überall mächtiger gewordene Landeshoheit in den einzelnen Territorien gestaltet ist.49 Indem Moser die Idee der »teutschen Libertät« an das Landeigentum und dessen historische Veränderungen bindet, sie von einer Verbreiterung des politischen Selbstbestimmungsrechts bäuerlicher und bürgerlicher Bevölkerungs-
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S W I X , 365 ff. S W I X , 365 f. Vgl. auch: S W V , 139, wo Moser beklagt, daß »die Leute, weldie am Ruder des Staats klimpern, kein Gefühl von der gemeinen Ehre haben; und nachdem sie sich auf eine gewisse Höhe geschwungen, den Rest der Menschen fiir einen Haufen Gewürm ansehen.« Audi jenes Reichsgesetz von 1731, das die Zunftbestimmungen zugunsten unehelicher Kinder lockerte, kritisiert Moser in diesem Sinne. Die Nivellierung von Standesunterschieden aus »dem unpolitischen Gesichtspunkt der Menschenliebe« bedeutet fiir ihn in jeder Beziehung einen weiteren Schritt auf dem Weg in einen despotischen Staat. Gerade die Aufhebung ständischer Differenzierungen auf der untersten sozialen Ebene erscheint ihm paradigmatisch fiir die Gesinnung von Herrschern, deren einziges Interesse der Hervorbringung von Untertanengeist gilt: » Die Verfasser des Reichsabschiedes standen auf der Höhe; und was unten am Berg war, schien ihnen nur aus Mücken zu bestehen.« S W IV, 241 S W I X , 366 S W X I I , 2, 57
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schichten abhängen läßt, löst er sie weitgehend vom Reich und seinen tragenden Institutionen. Damit gewinnt sein Freiheitsbegriff zugleich eine spezifisch moderne Dynamik. Er bildet nicht nur die einzige historische Bezugsgröße, auf die hin alle Aussagen zum Nationalcharakter und zur geschichtlichen Entwicklung als eine mehr oder weniger große Annäherung an ein Ideal ihren Sinn erhalten50, sondern ermöglicht darüber hinaus eine wirkungsvolle Gegenwartskritik. Die erste Verfassung der Nation bleibt das eigentlich Wünschbare, obwohl mit der Anerkennung des historisch notwendigen Wandels sozialer Strukturen aufgrund des »veränderten Staatsinteresses« zugleich ihre Ubertragbarkeit über Raum und Zeit hinweg von vorneherein als völlig ausgeschlossen erscheint.51 Die »Verfallsgeschichte« kann nur auf der Grundlage dieser Anerkenntnis zur »Entwicklungsgeschichte« umgeformt und der Norm die Einsicht in die Unaufhaltsamkeit des historischen Prozesses entgegengestellt werden. Den idealischen Charakter seines Urstaatsentwurfs hat Moser selbst in diesem Sinne gegenüber seinen Kritikern gerechtfertigt und dabei die Notwendigkeit der Hypothesenbildung als Voraussetzung seiner historischen Methode betont. »Einige haben es nicht gebilliget, daß ich mit der Voraussetzung, diese erste Vereinigung sei unter lauter Landeigentümern geschlossen worden, hineingegangen bin. Aber gesetzt auch, daß diese Voraussetzung in ihrer höchsten Richtigkeit eine idealische Linie wäre, so würde sie doch immer zur Richtschnur dienen müssen. Der Mathematiker nimmt zur Berechnung der krummen eine vollkommen gerade Linie an, wenn diese sich auch nirgends in der Welt findet; eben das tut der Geschichtsschreiber, der den ursprünglichen Staat auf Freiheit und Eigentum gründet; und wenn auch alle Begebenheiten, welche die Geschichte aufstellet, nichts als Annäherungen oder Abweichungen von der Hauptlinie sind, so kann doch derjenige, der sie erzählet, die Sklaverei nicht zur Regel nehmen und die Freiheit als Abweichung zeichnen.«5'
Im folgenden sollen die Motive, die Moser bewegen, den Ursprung der nationalen Geschichte mit den Begriffen Freiheit und Eigentum zu verbinden und die ihnen zugrundegelegte Bedeutung einer näheren Untersuchung unterzogen werden.
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Vgl. dazu auch: Volker Sellin, S. 34 " Vgl.: S W X I I I , 33 52 S W X I I I , 45 f.
Kapitel IV Naturrechtliche, soziologische und sozialpsychologische Aspekte des Möserschen Frühzeitideals
Eine der wichtigsten Voraussetzungen für Mosers »Hypothesen« und »Vermutungen« zur Entstehung der Nation bildet die nationale Umdeutung und Relativierung der Naturrechtslehre. Als Theorie von der »Freiheit« und »Gleichheit« aller Menschen bereits in der Antike entstanden und seit dem 16. und 17. Jahrhundert verstärkt aufgenommen und fortentwickelt, war diese im 18. Jahrhundert zu einem festen Bestandteil des Aufklärungsdenkens geworden. Ihre Anwendung erfolgte vor allem in der kritisch-emanzipatorischen Absicht, rationale Kriterien zu entwickeln, an denen die bestehenden Zustände zu messen wären. 1 Indem er von einem ursprünglichen Zustand herrschaftsfreier Anfänge ausgeht, folgt auch Moser zunächst weitgehend dieser Intention. W i e bereits dargelegt wurde, beginnt seine Anteilnahme an der Entstehung staatlicher Strukturen jedoch nicht bei der allgemeinen Betrachtung menschlicher Eigenschaften und Einrichtungen, sondern ganz konkret dort, wo der »gemeine Landeigentümer« zum ersten Mal historisch in Erscheinung tritt. O b w o h l er einräumt, daß sich, »sobald man in die Zeiten steigt, worin die Deutschen noch keine Kriege mit den Römern führten [...], von der Herkunft unserer Vorfahren und von ihren ersten Einrichtungen und Kriegen [...] nur allgemeine Vermutungen wagen lassen«1, sucht er doch davon zu überzeugen, daß diesen »Vermutungen« nicht nur hypothetische, sondern auch empirische Wahrscheinlichkeit
zukommt.
Denn für die Annahme, daß jeder sich »am Anfang so viel genommen [...], als
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Vgl.: Jürgen Schlumbohm. Freiheit. D i e Anfänge der bürgerlichen Emanzipationsbewegung in Deutschland im Spiegel ihres Leitwortes (ca. 1760-1800). Düsseldorf 1973, S. 84. Vgl.: ebd., eine Definition der Naturrechtslehre aus dem Ausbildungsstoflf fur preußische Referendare (1754-1759): »Als die Menschen noch ohne bürgerliche Verfassung und Republiken waren, lebten sie in dem Stande der natürlichen Freiheit und Gleichheit, w o man weder Obere noch Niedere, weder Herren noch Knechte, weder Regenten noch Untertanen, folglich auch keine positiven Gesetze, keinen Richter und keine Strafen hatte.« Vgl. auch die Arbeiten von Diethelm Klippel: Politische Freiheit und Freiheitsrechte im deutschen Naturrecht des 18. Jahrhunderts. Paderborn 1976 und: Naturrecht als politische Theorie. Zur politischen Bedeutung des deutschen Naturredits im 18. und 19. Jahrhundert. In: Aufklärung als Politisierung - Politisierung der Aufklärung. Hrsg. v. E. Bödeker u. U . Hermann. H a m b u r g 1987, S. 267-295
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er nötig gehabt und gewinnen können«, sprechen sowohl die Anlagen der bäuerlichen Siedlungen in ihrem gegenwärtig noch bestehenden Zustand als auch ganz allgemein die »erste Anlage der Natur«. 5 Mosers Auffassung zufolge gibt der Mensch als ein sozial veranlagtes Wesen, das die Gemeinschaft sucht 4 , dieser eine seinen natürlichen Bedürfnissen entsprechende Ordnung, welche ihrerseits - und hier ist Montesquieus Einfluß unverkennbar - in mannigfaltigen Bezügen zur geographischen Lage des Landes, zum Klima und zu den Sitten seiner Bewohner steht.® Weil Moser als Schüler Montesquieus von der Unterschiedlichkeit der Völker und Nationen überzeugt ist und dementsprechend nach den individuellen Entstehungsbedingungen der deutschen Nation fragt, ist für ihn der Mensch im »rohen«, d.h. im unzivilisierten Naturzustand ohne jedes Interesse. Gegen »die Philosophen, welche den natürlichen Menschen in seinem wilden Zustand so sehr erheben«, richtet er sich immer wieder. 6 In einer »Patriotischen Phantasie« heißt es diesbezüglich: »Ich habe die ganze Nacht über Ihre wilden Männer nicht schlafen können. Ihre rauhen Helden mit den schweren Keulen, Ihre Cyklopen — schwebten mir immer vor Augen, und ich sähe nichts als Recken und Hünen [...] Unmöglich kann ich Ihnen, liebster Freund, darin beipflichten, daß die Zeit, worin diese Ungeheuer lebten, so sehr unsre Bewunderung verdiene. Die Tugenden dieser Menschen mögen noch so groß und edel gewesen sein, wie sie wollen; ich bewundre Löwen, aber ich verlange nicht mit ihnen umzugehen; und ein bißchen crème à la glace ist mir lieber als ein ganzer Eisberg, so prächtig er auch immer sein mag.«7 Mosers ironische Kritik richtet sich hier ganz offenbar gegen jenes Ideal des »edlen Wilden«, das durch Rousseaus Schriften ein große Verbreitung in der zeitgenössischen Literatur gefunden hatte. Rousseaus Theorie des H o m m e naturel, die sich zuerst in seiner zweiten Preisschrift über den Ursprung der Ungleichheit
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S W X I I , 2, 64. Vgl. auch: ebd. Bd. IX, S. 284 Vgl.: S W V I , 64: »Der Mensch ist zur Gesellschaft bestimmt, und es fruchtet wenig, ihn in seinem einzelnen Zustande zu betrachten. Der rohe Einsiedler mag, mit der Keule in der Hand und mit einer Löwenhaut bedeckt, noch so stark, glücklich und groß sein: so bleibet er doch immer ein armseliges Geschöpf in Vergleidiung der großen Gesellschaften, die sich überall wider ihn verbunden haben und ewig wider ihn verbinden werden.« Vgl.: S W X I I , ι, 137: »Die Einrichtung eines Landes hängt gar sehr von der Natur seines Bodens und seiner Lage ab. Die Bedürfnisse der Menschen werden allein dadurch erweckt und befriediget. Sitten, Gesetze und Religion müssen sich nach diesen Bedürfnissen richten. Die Marktrechte eines Landes verändern sich mit seinem Boden, die Policeiverordnungen mit seiner Fruchtbarkeit und die Sitten vielfältig mit seiner Lage; die Religion eines Bergmanns unterscheidet sich von dem Glauben des Hirten; und der Feldbauer ist nicht so kriegerisch als ein Volk, das von der Jagdt lebt. Der aufmerksame Gesetzgeber nimmt seine Wendungen nach allen diesen Umständen.« S W X , 194 S W X , 194
unter den Menschen findet8, muß vor allem deshalb auf Mosers Ablehnung treffen, weil Natur dort nicht teleologisch, d.h. von der geschichtlich kulturellen Existenz des Menschen gedeutet wird, sondern zunächst durch radikale Abstraktion von dieser. Rousseaus »Naturmensch« ist im Gegensatz zu der aristotelischen Definition des Menschen durch Asozialität und Sprachlosigkeit gekennzeichnet. Seine spätere geschichtlich-soziale Existenz zeigt ihn bereits in einem d e naturiertem Zustand, der nicht in einer als Entelechie verstandenen Natur vorgezeichnet und antizipiert, sondern nur negativ durch eine gewisse Instinktoffenheit und eine dadurch bedingte perfectibilite' ermöglicht wurde.' Während Moser einem klassischen Verständnis des Menschen verpflichtet bleibt, demnach des Menschen Sprache und geschichtlich soziale Existenz nur die Entfaltung der natürlichen, nämlich entelechialen Bestimmung des Menschen sind und insofern seine Geschichte immer schon umgriffen und überholt von seiner Natur ist, wird der Mensch bei Rousseau, indem aus dem Begriff der Natur des Menschen alles Geschichtliche eliminiert wird, in seinem faktischen Dasein zu einem ausschließlich nur geschichtlich zu begreifenden Wesen, womit zugleich die Geschichte selbst als Heraustreten, als Emanzipation aus der Natur verstanden wird. Das heißt aber zugleich auch, daß, gerade weil Geschichte eine von der Natur selbst ermöglichte, aber keineswegs notwendige, sondern auf zufällige Faktoren rückführbare Entfernung von der Natur ist, ihre Gestalten an einem bestimmten Ideal von Natürlichkeit gemessen und beurteilt werden können. Zugleich wird umgekehrt durch die Unbestimmheit dieses Naturzustandes, im Rückzug und unter Berufung auf ihn, die Desavouierung jeder bestimmten Gestalt geschichtlichpolitischer Verwirklichung des Menschseins jederzeit möglich.10 Moser geht im Gegensatz dazu in seiner nationalen Ursprungstheorie von einem Verständnis des Menschen aus, das im Sinne Piatons dessen historischpolitische Existenz nicht als Vernichtung, sondern als Erfüllung der menschlichen Physis begreift. Insofern er es überhaupt ablehnt, sich den Menschen im unzivi-
8
Vgl.: Jean Jaques Rousseau. Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit. In: ders. Schriften. Hrsg.: Henning Ritter. Frankf./M., Berlin, Wien 1981 S.165-303 9 Vgl.: Robert Spaemann, S. 383. Die Ablehnung von Rousseaus hypothetischer Konstruktion eines menschlichen Urzustandes teilt Moser mit Moses Mendelssohn, Iselin und Wieland. Auch diese glauben, daß der dem Menschen angeborene »Trieb zur Geselligkeit« den von Rousseau angenommenen asozialen, ursprünglichen Zustand unmöglich mache. Vgl.: Karl S. Guthke. Zur Frühgeschichte des Rousseauismus in Deutschland. In: Zeitschrift für deutsche Philologie. Bd. 77. 1958, S. 386 ™ Vgl.: Robert Spaemann, S. 383 ff. Für Rousseau beginnt die negative Entwicklung des Menschen mit seiner Existenz als geschichtlich-soziales Wesen: »[...] sowie er (der Mensch, d.V.) gesellig und sklavisch wird, so wird er schwach, feige und kriechend, und seine weichliche und verzärtelte Lebensart schwächt endlich völlig seinen Mut und seine Stärke.« Ders. Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit [...], S. 201.
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lisierten, d.h. im »Naturzustand« vorzustellen, geschweige denn, diesem Zustand etwas Positives abzugewinnen, vermag er auch den germanischen Ursiedler nicht als wilden Barbaren zu sehen, sondern beschreibt ihn - gemäß der von der Aufklärung weiterentwickelten Lehre vom »Gesellschaftsvertrag« - als den Begründer eines »Sozialkontraktes«. Das Entstehen dieses Kontraktes führt er auf ein der Natur des Menschen entsprechendes Verhalten im oben bezeichneten Sinne zurück. Uber die erste Markeneinteilung der »güldenen Zeit« heißt es entsprechend: »Natur und Bedürfnis scheinen allein die Einteilung gemacht zu haben.«11 Moser modifiziert die naturrechtliche Vertragslehre und bildet sie im Sinne seiner Individualismusvorstellung um. Erklärungsbedürftig sind demnach nicht die Anfänge der menschlichen Gesellschaft schlechthin, sondern die Ursprünge der deutschen Nation unter den besonderen Voraussetzungen, die zur Bildung einer Agrargesellschaft gefuhrt haben. Alle noch vorhandenen Einrichtungen weisen nach Moser darauf hin, daß die ersten sächsischen Siedler sich nach der Landnahme zwecks der gemeinsamen Verteidigung ihres Eigentums bei gleicher Pflicht und Leistung in einem Schutzvertrag als »Landaktionäre« zusammenfanden, einer Art Aktiengesellschaft also. Die in die Gesellschaft eingebrachte Aktie bestand zunächst im Landeigentum oder »Wehrgut«, später jedoch, als in die Landschaft allmählich neue Anwohner hineinwuchsen, der Boden aber bereits verteilt war, in einer Steuer oder Dienstpflicht. Damit die städtische Bevölkerung als Inhaber einer »Geldaktie« den Status gleichberechtigter Bürger neben den alten Landaktionären erlangen konnte, mußte allerdings der ursprüngliche Kontrakt modifiziert werden, d.h. für das Recht, Handwerk und Handel zu treiben, verpflichteten sich die Zuwanderer, die keinen Landbesitz zu verteidigen hatten, aber dennoch des Schutzes bedurften, zu einer Staatsbeihilfe in anderer Form. Allein diese, in welcher Form auch immer in den Staat eingebrachte Aktie, bestimmte Rechte und Pflichten des Aktionärs; ohne ihren Besitz konnte es für niemanden Freiheit und Ehre im Staat geben. »Vereinigte Landbesitzer machen eine Kompanie aus, und sie mögen nun durch einen besonders errichteten Sozialkontrakt oder stillschweigend, es sei wie es wolle, vereiniget sein: so ist ein jeder nach dem Verhältnis seines Mansus zu gemeinem Vorteil und Schaden berechtigt und verpflichtet. Er ist ein ganzer, viertel oder halber Aktionist, nachdem er viel oder wenig Land besitzt.«'1
Weder Menschenliebe noch Religion können einen Menschen nach Moser zum »Mitgliede einer solchen Gesellschaft« machen, und er läßt keinen Zweifel daran aufkommen, »daß wir in die offenbarsten Fehlschlüsse verfallen, sobald " S W X I I , z, 70 " S W V I , 259
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wir den Aktionisten oder den Bürger mit dem Menschen oder Christen verwechseln.«13 Daß Moser weder bei Tacitus noch bei den anderen römischen Historikern, die über die alten Deutschen berichten, Hinweise zu finden vermag, die seine eigenwillige Theorie vom ursprünglichen Sozialkontrakt der Landeigentümer stützen könnten, spricht seiner Ansicht nach keineswegs gegen diese. Habe man doch im Hinblick auf die Zuverlässigkeit jener Quellen stets zu berücksichtigen, daß es außenstehende Beobachter waren, die dem »starken deutschen Körper ein ganz fremdes Kolorit« gaben. 14 Ganz anders - so Mosers Argument - sähe vermutlich eine ursprünglich deutsche Uberlieferung aus, zumal niemand den Beweis zu führen imstande sei, daß die alten Deutschen nicht »ebensogut als andre Völker ihre Helden und Dichter« hatten, und daß heute einfach nur »beides, Taten und Lieder vergessen« seien. 1 ' Aus der fremdsprachigen Überlieferung ergibt sich für Moser darüberhinaus ein begriffsgeschichtliches Problem. Weil deutschsprachige Quellen erst für eine Zeit existieren, in der die »Lehnsverfassung die gemeine Freiheit schon gefesselt und die Sprache der vorigen Verfassung teils verdunkelt, teils zu einem andern Verstände umgebildet und teils unverständlich gemacht« habe, sei die deutsche Sprache selbst »eine Verräterin der edlen Freiheit geworden«, habe sie den »Ausdruckverloren«, der zu den Begriffen seiner Ursprungstheorie passe.16 Insofern leistet die Kontraktidee Moser eine wichtige Hilfsfunktion. Sie ermöglicht es ihm, von einem hypothetisch konstruierten Urzustand gesellschaftlichen Lebens der Nation auszugehen und diesen dann zur verpflichtenden Norm zu erklären, an der " SWVI, 255. Zu Mosers Aktientheorie vgl. auch: Heinz Zimmermann. Recht und Wirtschaft bei Justus Moser, S. 15 ff.; Erwin Hölzle. Justus Moser über Staat und Freiheit, S. 172 ff.; Paul Göttsching. »Bürgerliche Ehre« und »Recht der Menschheit« bei Justus Moser, S. 69; Georg Stefansky, S. 25 ff.; H.U. Scupin. Volk und Reich bei Justus Moser, S. 592 ff. Scupin erkennt zwar richtig, daß der Sozialkontrakt für Moser nicht nur ein heuristisches Prinzip ist, sondern konkrete Bezüge auf historische Entwicklungen enthält, er irrt jedoch, wenn er annimmt, Mosers Abhängigkeit von den rationalistischen Staatstheorien sei nur eine formale. Vgl.: ebd., S. 597 14 SWXII, 2, 48. Vgl. audi: ebd., S. 66, wo Moser ebenfalls anzweifelt, daß Cäsars oder Tacitus' Darstellung der alten Deutschen auf »die alte germanische Verfassung« passe. " SWXII, 2, 63 ,6 SWXII, 2, 48. In einem Brief an Nicolai verdeutlicht Moser seine begriffsgeschichtlichen Zweifel anhand des Freiheitsbegriffs und seines Bedeutungswandels: »Freyheit z.B. ist das Recht der Bettler in einer Periode, wo die Landbesitzer von ihrem Acker zu Felde ziehen und ihre Ehre in diese ihre Schuldigkeit setzen. Daher werden in den Urkunden einer gewissen Zeit liberi et pauperes allezeit zusammengesetzt. Freyheit wird aber ein Vorzug, wenn die Monarchie alles unter ihrer Macht faßt, und Freyherr ward ein Ehrentitel', nachdem die Territorialhoheit den Adel beschattete. Ich könnte unzählige Worte anfuhren, welche ein gleiches Schicksal gehabt haben und den politischen Begebenheiten zur Kontrolle dienen. Es ist unglaublich, wie arm unsre Sprache ist, wenn es auf den Ausdruck gewisser politischer Verfassungen ankömmt.« Justus Moser. Briefe, S. 236
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die historische Entwicklung jeweils zu messen ist. Weil Moser davon ausgeht, daß jedes Volk die ihm zweckentsprechende Form fur seine Staatsgründung wählt und die deutsche Nation sich demnach nur als Agrargesellschaft konstituiert haben kann, beansprucht er fur seine Annahme eines auf Freiheit und Eigentum gegründeten Urstaates der Deutschen auch das Kriterium der empirischen Wahrheit. Angesichts der seiner Urstaatstheorie zugrundeliegenden Prämisse, daß eine »Gesellschaft von Jägern und Hirten« sich unter ganz anderen Bedingungen vereinigen« muß, »als eine von Ackerbauern«, erscheint es Moser als ein »eitles Spielwerk, Socialkontrakte fur idealische Menschen, die [...] unter keine Umstände gesetzet werden [...] auszusinnen.«17 Die Gesetze, »welche Moses den ziehenden Israeliten« gab, konnten seiner Uberzeugung zufolge unter einem seßhaften Volk niemals von selbst entstehen, sondern den »erbgesessenen Landeigentümern unter Begünstigung« jener oben dargestellten »Vermischung der Geld- und Landaktie« nur nach und nach aufgenötigt werden.18 Würden in der Staatsbildungstheorie jene »Umstände« berücksichtigt, gäbe es nach Moser überhaupt keinen Zweifel an der Annahme, daß die gesamteuropäische Gesellschaft ursprünglich aus Landbauern bestand und daß folglich die Menschenrechte hier niemals die Grundlage des Staates bilden konnten. Wo hingegen die Umstände daraufhinwirkten - und hier fuhrt Moser als Beispiel Paraquay an -, hält er es nicht fur ausgeschlossen, daß ein Staat auch »auf die bloße Menschheit gegründet« werden konnte.1' Daß daraus jedoch keine Rückschlüsse auf Europa gezogen werden können, hat Moser besonders in seinen auf das Ereignis der französischen Revolution Bezug nehmenden, späteren Schriften immer wieder betont. »[...] es mag ein Recht der Menschheit geben oder nicht: so ist mir doch jetzt in Europa kein Staat bekannt, welcher darauf gegründet wäre; und ich will die Franzosen fur das erste Volk der Welt erkennen, wenn sie auf dem Wege ihrer Theorie vom Rechte der Menschheit etwas Fruchtbarliches und Dauerhaftes zustande bringen.« 10
Bereits vor den Ereignissen der Revolution wendet sich Moser mit seiner nationalen Relativierung und Umdeutung der Naturrechtslehre ausdrücklich gegen Rousseau, den »großen Philosophen [...], welcher die Freiheit und Gleichheit der Menschen soviel möglich zur einzigen Grundlage aller bürgerlichen Einrichtungen zu machen wünschte.«21 Die auf Rousseaus Einfluß zurückgeführten Gedan17
S W X , 156 f. S W I X , 144 " S W I X , 158 10 S W I X , 140 11 S W I X , 162. Auf diesen grundsätzlichen Gegensatz zwischen Rousseaus und Mosers Freiheitsvorstellungen beruft: sich R Kaiser, um daraus die unzutreffende Verallgemeinerung abzuleiten, es handele sich bei Mosers Geschichtsauffassung zugleich um einen fundamentalen Gegensatz zwisdien germanischer und romanischer Staatsauffassung. Vgl.: ders. Justus Moser über germanische und romanische Freiheit. In: Monatshefte der Comenius-Gesellschaft fur Kultur- und Geistesleben. Neue Folge 9. 1917, S. 72 18
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ken, daß »alle Menschen gleich wären und von Natur gleiche Rechte hätten, welche ihnen auf keinerlei Weise entzogen werden könnten«, müssen ihm aufgrund der oben dargelegten Auffassung nicht nur falsch, sondern auch gefährlich erscheinen, könnten sie doch eine »grausame Gärung« bewirken, »wovon sich die Folgen noch nicht absehen lassen.«12 Rousseau verwechselt Mosers Auffassung zufolge in seiner Gleichheitstheorie den religiösen Standpunkt mit dem politischen, während er selbst nur dem letzteren in einer historisch-philosophischen Argumentation Bedeutung zukommen läßt. Die Geschichte, so betont er immer wieder, habe keine »Lehrerin der Moral, sondern der Politik« zu sein.23 Daß er sich mit dieser Forderung außerhalb des zeitgenössischen »main stream« bewegt, hat Moser anläßlich einer Rechtfertigung seiner Urstaatstheorie selbst bekannt. Die Geschichte, so konstatiert er hier, sei zur Zeit »ein Lieblingsstudium philosophischer Köpfe«, alles laufe darauf hinaus, »die Menschen, welche sich in der Gesellschaft befinden, als Kontrahenten« des ursprünglichen »Originalkontraktes« anzusehen.24 Die praktischen Auswirkungen dieser Philosophie könne man in Amerika beobachten, wo man ebenfalls in den Fehler gefallen sei, den »neuen Staat aus bloßen Menschen und nicht Menschen von einem gewissen Vermögen« zu bilden.25 Nichts aber erscheint Moser zweifelhafter als die Frage, »ob diese Einrichtung als ein Muster vor alle Zeiten gelten können und in solcher Maße das laute Lob unsres philosophischen Jahrhunderts verdiene; ob diese völlige Ausgleichung aller Menschen, wodurch aller Unterscheid zwischen Adel, Erbgesessenheit, Bürgerschaft und bloßer Einliegerei mit allen ihren verschiedenen Graden völlig aufgehoben wird, etwas Wünschenswertes sei?«26 Aus seiner retrospektiven Sicht erscheint ihm diese »Ausgleichung« nur möglich unter einer Verletzung aller historisch begründeten Rechte. »Soviel wir aus der Erfahrung wissen, sind überall, wenigstens in Europa, in jede Kolonie, Rotisseau mag sagen was er will, einige früher und andere später gekommen und geboren; und wo die ersten alles erobert hatten, war es unmöglich, daß die letztern mit den ersten zu gleichen Rechten gelangen konnten.« 17 22 23
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S W I X , 368 Justus Moser. Briefe, S. 243. Vgl. auch: ebd., S. 321 und: S W V I I , 73, 105; ebd. Bd. VI, S.71 S W I X , 366 S W I X , 377 S W IX, 377. Vgl. auch: ebd., S. 309 f. S W IX, 180. Auf Mosers gegen Rousseaus Gleichheitstheorie gerichteten Äußerungen wird in einem Artikel der »Berlinischen Monatsschrift« (viertes Stück, April 1786) bereits in konservativer Auslegung Bezug genommen: »Jedermann weiß, daß es nach dem Jahre 1770 in Deutschland Mode ward, und bei einer zwar sehr kleinen Partei noch ist, ein wildes, dumpftönendes Geschrei von Freiheit! Freiheit! zu erhalten [...] und sprachen in hohen Worten viel von Hermann, Fürstenhaß, freien Deutschen und Vaterlandsliebe [...] Keiner hat besser als Moser auseinandergesetzt, wie sehr Menschenrechte und Bürgerrechte unterschieden sind, und welche Verwirrung aus der gänzlichen Gleichheit entspringen würde.«
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D a der Gesellschaftsvertrag unter den die deutsche Geschichte konstituierenden Umständen zwischen Landeigentümern geschlossen wurde, muß das Recht der Menschheit nach Moser hier anders definiert werden. »Freiheit und Eigentum wird der Deutsche sagen, sind die heiligen, ursprünglichen Rechte der Menschen; jeder kann davon soviel nachgeben, als er will und das Beste der Gesellschaft erfordert. Aber alles, was ihm außerdem davon genommen wird, ist Raub. 28 Allein der Wille, Freiheit und Eigentum zu schützen, veranlaßte die ursprünglich angenommenen einzelnen deutschen »Wohner« zum staatlichen Zusammenschluß. Außerhalb des von ihnen geschlossenen Vertrages war ab diesem Zeitpunkt keine freie Existenz mehr möglich. Gegen Rousseau, der im zweiten Diskurs mit dem Aufkommen des Eigentums und seiner Verteidigung den Beginn des Verlustes persönlicher und gesellschaftlicher Freiheit ansetzt und den Ubergang des M e n schengeschlechts aus dem »jugendlichen Weltalter« einer Fischer- und Jägergesellschaft in das Zeitalter des Ackerbaus mit dem Aufkommen der Sklaverei gleichsetzt29, behauptet Moser, daß allein das Eigentum den freiheitlich-demokratischen Charakter der deutschen Urverfassung zu garantieren vermochte. Während Rousseau den ersten Menschen, der seinen Besitz umzäunte, für die Stiftung der bürgerlichen Gesellschaft mit allen ihren der Freiheit nachteiligen Konsequenzen verantwortlich erklärt30, sieht Moser in der Erhaltung und Verteidigung des Besitzes die Gewährleistung der bürgerlichen Freiheit im staatlich-gesellschaftlichen Verband. 31 Nicht Freiheit und Gleichheit, sondern Freiheit und Eigentum sind für ihn unveräußerliche Menschenrechte. Uber Rousseaus Freiheit als »Stand der Wildheit« vor der menschlichen Seßhaftigkeit - vermag er nur mit Verachtung zu sprechen. Der Begriff »frei« hat für ihn in diesem Sinne einen »unrühmlichen Ursprung«. 32
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W I X , 373. Vgl. auch: ebd., S. 160: »Nach meiner Meinung besteht das Recht der Menschheit in der Befugnis, alles Ledige zu erobern und alles solchergestalt Eroberte zu verteidigen. Außer diesem Falle kollidiert ein Mensch gleich mit andern und muß sich bald durch Quasikontrakte und zuletzt durch Kontrakte, deren Form von der gesellschaftlichen Vereinigung abhängt, helfen, wenn er es nicht auf die Faust ankommen lassen will.« Vgl.: Jean Jaques Rousseau. Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit, S. 239
Vgl.: Jean Jaques Rousseau. Abhandlung über den Ursprung [...], S. 230. Es sollte nicht übersehen werden, daß Rousseau im Gegensatz zu dieser Auffassung in seinem Enzyklopädie-Artikel zur politischen Ökonomie die Meinung vertritt, daß das »Eigentumsrecht [...] das heiligste aller Bürgerrechte, und in gewisser Hinsicht wichtiger als die Freiheit« ist. Zit. nach Reinhard Brandt. Rousseaus Philosophie der Gesellschaft. Stuttgart-Bad Cannstadt 1973, S. 66 f. '' Wie Rousseau in seinem Enzyklopädie-Artikel ist ohne Zweifel auch Moser in der Ansicht, daß der Staat primär die Funktion einer Eigentumssicherung hat, von der neueren englischen Philosophie, insbesondere von Locke beeinflußt worden. Dieser hatte »die gegenseitige Erhaltung ihres Lebens, ihrer Freiheit und ihrer Güter« als den »Zweck der Vereinigung« von Menschen zur Gesellschaft bezeichnet. (Vgl.: Second Treatise § 123). Zitiert nach Reinhard Brandt, S. 66 32 S W X , 135 u. S . 6 7 178
W i e die individuelle Freiheit ist auch die Ehre des einzelnen, die in Mosers Urstaatstheorie eine zentrale Stelle einnimmt, an das Eigentum als dem Fundament sittlicher Selbstverantwortung und damit an eine bürrgerliche Existenz des Menschen gebunden. Der Mensch im Naturzustand ist nicht nur »unfrei«, sondern auch »unehrlich«, denn die »Ehre nimmt ihren Anfang mit der Gesellschaft.«'3 Sie ist demnach für Moser ebenfalls ein politisches, kein moralisches Kriterium. Vor allem aber erscheint Ehre als ein spezifisches, die bürgerlichen Beziehungen untereinander und das Verhalten des Bürgers gegenüber dem Staat regelndes Prinzip.34 Seine ideale Ausgestaltung erfährt der Ehrbegriff wie der FreiheitsbegrifF in der Urgesellschaft und wie dieser verdunkelt er sich mit dem Aufkommen der »Geldaktie« zunehmend. Die »gemeine Ehre« des Stadtbürgers, des Inhabers dieser Geldaktie, steht, da er nicht in eigener Person an der gemeinsamen Landverteidigung teilhaben kann, in keiner unmittelbaren Beziehung zum Staat und ist daher von Anbeginn an größeren Gefährdungen ausgesetzt. Das Bewußtsein des einzelnen, Träger einer besonderen »Standesehre« zu sein, m u ß in dem M a ß e verloren gehen, in dem das »Geld mehr gilt, als eigener Herd«, in dem »die Belohnungen aller Verdienste [...] zum Nachteil des Staats beständig mit Gelde geschehen müssen.«3' Moser weiß, daß die Entwicklung der Geldwirtschaft nicht aufzuhalten ist, und will sie auch nicht aufhalten.' 6 Dennoch kämpft er gegen die den alten " S W X , 66. Für Moser ist sogar der Mensch in der »christlichen Religion unehrlich, weil keine menschliche Ehre vor G o t t gilt.« Ebd., S. 66 34
So bestand die »ursprüngliche Ehre« der sächsischen Landeigentümer zum Beispiel darin, einen Beitrag zur gemeinsamen Verteidigung ihres Besitzes leisten zu können, zugleich aber auch in der Freiheit, außer der »gemeinsamen Verteidigung« zu keiner Kriegsleistung verpflichtet zu sein. S W I X , 268 u. ebd., S. 276
35 S W V , 58 f. >6 S W V , 59: » Die Zeitumstände sind nicht so beschafFen, um nach dem Beispiel eines Lykurgs alles Geld zu verbannen oder alle Bedienungen in rühmliche Reihelasten zu verwandeln und den Staat von der drückenden Last täglich anwachsender Besoldungen zu befreien. Es giebt keine unbesuchte Wildnisse mehr, w o man sich auf einen neuen Kontrakt anbauen könnte; und die Sitten der Menschen in einem kleinen europäischen Ländgen, was mit schadenfrohen Nachbarn umgeben ist, lassen sich nicht nach den strengen Vorschriften William Penns bilden.« In seiner realistischen Beurteilung der gegenwärtigen Verhältnisse und in der Bereitschaft zur bedingten Anpassung an dieselben unterscheidet sich Moser zum Beispiel von Rousseau, dem er in der »Phantasie«: »Trostgründe bei dem zunehmenden Mangel des Geldes« ( S W I V , 144 ff.) mit deutlicher Ironie unterstellt, die moderne Zivilisation abbauen zu wollen, um wieder zu dem alten Zustand der Dinge zurückkehren zu können. Vgl. dazu auch: Jean Moes. Education et critique des moeurs chez Moser et Rousseau. In: Littérature et culture allemands. 59. 1985, S. 62 ff. Tatsächlidi versucht Rousseau im »Contrat Social« in der von ihm propagierten Republik den Gebrauch des Geldes möglichst zu restringieren und erwartet vom Staatsbürger (ganz ähnlich wie Moser) daß er seine Pflichten in eigener Person und freiwillig erfüllt, sie nicht durch Geldzahlungen ersetzt. W i e Moser sucht auch er dadurch das Verhältnis jedes Bürgers zur Gesellschaft in seiner Unmittelbarkeit zu erhalten. Vgl.: Reinhard Brandt, S. 107 ff.
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Ehrbegriff zerstörende »Vermischung« der Stände infolge der ökonomischen Umstrukturierungen.37 Die Ehre, die Moser erneuern möchte, ist, indem sie ein Verhältnis beschreibt, in dem das Selbstverständnis abhängt von der kollektiven Einschätzung durch andere, »existenzbegründend« im Sinne von Norbert Elias.'8 Sie ist zugleich eine, den Bürger in seiner politischen Kompetenz bestätigende Kraft, die ihn befähigt, Partizipationswünsche gegenüber einer furstlich-despotischen Obrigkeit durchzusetzen ohne damit zugleich die Stabilität des gesellschaftlich-nationalen Verbandes ernsthaft zu gefährden.39 Auf der Grundlage dieser integrativen Funktion der Ehre erhebt Moser die Forderung, daß bereits die Kinder durch politisch-historischen Unterricht dazu befähigt werden sollten, ihre mit der Ehre des Standes, dem sie angehören, verbundenen Rechte der Obrigkeit gegenüber wahrzunehmen und setzt sich dafür ein, daß vor allem der Bauer, als minder geachteter, aber staatstragender Stand die »Geschichte nutzen sollte«, um »daraus sehen« zu können, »ob und wo ihm die bestehenden Einrichtungen Recht oder Unrecht tun.«4° In diesem Sinne sucht Moser auch eine neue Selbstachtung des Bürgers im absolutistisch organisierten deutschen Teilstaat zu begründen. Dieser sollte Ehre »als ein Recht, als ein Resultat unsres Eigentums im Staat« und nicht als einen fürstlichen Gnadenerweis besitzen.41 Es ist das Verdienst von Göttsching, die im Hinblick auf diese Konsolidierung eines selbstbewußten Bauern- und Bürgerstandes erfolgte Umdeutung der feudalen altständischen Ordnung des Reiches in die Begriffe einer modernen Nation als eine herausragende Leistung Mosers gewürdigt zu haben. 41 Mosers auf der retrospektiven Sicht eines herrschaftsfreien Urstaates beruhender Ehrbegriff läßt sich keinesfalls nur auf die von Greiffenhagen angesprochene »Ehrfurcht vor dem î7 j8
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Vgl.: S W X , 64-66 und: ebd., Bd. V, S. 59 ff. Vgl.: Norbert Elias. Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie mit einer Einleitung: Soziologie und Geschichtswissenschaft. Hrsg.: Heinz Maus u.a. Darmstadt/Neuwied 1981 (fünfte Auflage), S. 145 ff. vgl. dazu auch: Klaus Siblewski. Ritterlicher Patriotismus und romantischer Nationalismus in der deutschen Literatur 1770-1830. Zur konservativen Rezeption der Reformation, des Bauernkrieges und der Aufstandsbewegung des niederen Adels. München 1981, S. 143 Vgl.: Klaus Siblewski, S. 132 ff S W X I I I , 46. Vgl. auch: Justus Moser. Briefe, S. 244 Justus Moser. Briefe, S. 244. Vgl. dazu auch: Paul Göttsching. »Bürgerliche Ehre« und »Recht der Menschheit« [...], S. 72 Vgl.: Paul Göttsching. »Bürgerliche Ehre« und »Recht der Menschheit« [...], S. 73: »In seinen grundsätzlichen Rechtsvorstellungen hat Moser mit der Übernahme der Kategorie der >civil society< im Geiste der europäischen Aufklärung den Bruch mit der feudalen Vergangenheit vollzogen. Als ihr kostbarstes Erbe hat er die >Ehre< übernommen und seiner Nation der Zukunft eingepflanzt. Auch in Mosers bürgerlicher >Nation< soll die >Ehre< regieren, die Montesquieu vorher als beherrschende Tugend der Monarchie zugeordnet hatte. Jetzt sollte sie die Triebfeder für den bürgerlichen Staat werden.«
was Ehre stiftet«, also auf eine »angemessene Haltung der Tradition gegenüber« reduzieren.43 Er zielt vielmehr darauf ab, den von allen politischen Entscheidungsbefugnissen abgedrängten Bauern und Bürgern hinreichende Integrationskapazitäten zur Verfügung zu stellen und zugleich die Möglichkeit politischen Widerstandes gegen despotische Fürstenwillkür zu eröffnen. 44 Insofern sie diesen Mittelweg sucht, unterscheidet sich Mosers Feudalismuskritik von derjenigen Rousseaus, in ihrer Radikalität ist sie dieser aber grundsätzlich vergleichbar. Gegenüber den freien und in ihrer spezifisch an den Besitz gebundenen Freiheit auch gleichen Eigentümern der idealen Urverfassung 45 läßt Moser sowohl die besitzlosen Leute als auch den Adel als historische Ausgliederungen nach oben und nach unten erscheinen. Das heißt, die tragende Mitte, die eigentliche »Nation« bilden nur jene Freien, die als solche Träger des demokratisch-genossenschaftlichen Staates sind. 46 Auf diese allein überträgt Moser sein Freiheitsideal in Verbindung mit der bewußten Einführung eines modernen Eigentumsbegriffes. 47 Gemäß der fallenden Linie seiner Geschichtsschreibung kann von der Höhe dieses normhaft fixierten Ideals im Verlauf der historisch-empirischen Entwicklung nur abgestiegen werden. »Bemerken Sie das Alter jeder Verfassung bey der mindern oder mehrern Freyheit!«, fordert er in einem Brief an Abbt, »Freyheit ist die Jugend und Despotismus das Alter.«48 Wie bereits angesprochen wurde, bewegt sich Moser mit diesem Aufzeigen eines Widerspruchs zwischen Frühzeitidealität und Gegenwart in der Tradition eines seit dem Humanismus stetig wachsenden Dekadenzbewußtseins, das auf die Entwicklung des modernen Geschichtsdenkens ebenso großen Einfluß ausübte wie der Fortschrittsoptimismus im Zeichen der Säkularisation des christlichen Vorsehungsglaubens. Ahnlich wie bei Rousseau und Herder trägt auch bei Moser die Idealisierung der Frühzeit Züge eines Ursprungsmythos, der zum Instrument der 4J
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Martin Greiffenhagen. Das Dilemma des Konservatismus [...], S. 160. Zur Ehre als »Standesbegriff« vgl. grundsätzlich: Hans Reiner. Die Ehre. Kritische Sichtung einer abendländischen Lebens- und Sittlichkeitsform. Darmstadt 1956 Insofern irrt Siblewski, wenn er meint, nach Mosers Ehrbegriff sei es »moralisch unzulässig« politische Forderungen an den Staat zu richten. Vgl.: ders., S. 143 Diese »Gleichheit« bedeutet jedoch nicht, daß es in dieser Urverfassung keinerlei ständische Differenzierungen gab: »So kann der Unterschied der Stände in einem Staate oder Verein sein, welcher noch gar keine Obrigkeit und hödistens einen Herold kennet, der ein Wort des Friedens von einem souveränen Landeigentümer zum anderen trägt; worin sich weder Lehnsherrn noch Vasallen finden und worin der Richter, wie bei den alten Deutschen, zur Verhütung aller Erbwürden, jährlich von neuem gewählt wird.« Der Unterschied der Stände, auf den Moser sich hier bezieht, beruht allein auf der unterschiedlichen Größe des Landbesitzes. (SWIX, 193) Vgl.: Paul Göttsching. Zwischen Historismus und politischer Geschichtsschreibung [··.], S. 64 Vgl.: Paul Göttsching. Zwischen Historismus und politischer Geschichtsschreibung [···]> S. 73 Justus Moser. Briefe, S. 198 181
Zukunftserwartung wird. 49 Während jedoch Rousseaus Fixierung dieses Urzustandes auf das Menschengeschlecht als Ganzes bezogen ist und Herder sich auf der Suche nach den Quellen der nationalen Sprache und Kultur in die Geschichte zurückwendet, geht es Moser nicht nur um die nationale Relativierung des mit dem Frühzeitideal reklamierten Freiheitsanspruches, sondern vor allem auch um dessen historische Lokalisierung und politische Konkretion. Dabei kann er sich insbesondere auf den berühmten Satz Montesquieus berufen, wonach der Geist dieser Freiheit - den Montesquieu in der für ihn vorbildlichen englischen Verfassung wiederzufinden glaubt - seinen Ursprung in den germanischen Wäldern gefunden hat. 50 Gerade die Erkenntnis von der prinzipiellen Unbestimmtheit dieses oft berufenen germanischen Freiheitsgeistes hat offenbar Mosers Bemühen bestärkt, ihm eine durch naturrechtliche Prinzipien abgesicherte politische Gestalt zu geben, die auch vor den Ansprüchen einer aufgeklärten Vernunft Bestand hat.' 1 Wie schon in der Vorrede zum »Arminius« zögert Moser auch in seiner Urstaatstheorie nicht, seine römischen Geschichtsquellen - insbesondere Tacitus - teilweise zu ignorieren oder umzudeuten, um dieses Ziel zu erreichen. Seiner Interpretation der germanischen Verhältnisse zufolge spiegelt sich der deutsche Freiheitsgeist nicht im kriegerischen Heldenmut, sondern in den »großen Anstalten«, wodurch sich jene Vorfahren »in ihren politischen Verfassungen Freiheit und Eigentum zu erhalten gewußt« haben.52 Selbst die Überreste ihrer Institutionen geben noch Zeugnis von »der größten Anstrengung des menschlichen Verstandes und von einem Gebäude, das in allen seinen Teilen nach dem höchsten Ideal aufgefuhret worden.« 55 In politischer Hinsicht wird mit diesem Ideal die »gesetzgebende Macht des Volks« geschichtlich und rechtlich legitimiert. 54 Insofern die germanische Urverfassung fur ihn eine immer verpflichtende Norm fur die Gegenwart bleibt, sucht Moser nach Institutionen, die den Volkswillen in seiner Zeit wirkungsvoll repräsentieren könnten. Er findet sie in den landständischen Korporationen und setzt sich ihren Ausbau und ihre Reform zum Ziel seiner Politik. Uber die Reform des Ständetums glaubt Moser nicht nur eine Stärkung der mittleren Gewalten im Staat zu erreichen, sondern auch einen Ubergang vom altständischen Reich in ei49
Vgl.: Paul Göttsching. Geschichte und Gegenwart bei Justus Moser, S. 104 ° Vgl.: SWXII, ι, 78, Anm. d), wo Moser unter Bezug auf die germanische, auf der »gesetzgebenden Macht des Volks« beruhende Rechtssprechung anmerkt: »Und Montes(quieu) im Espr. des Loix XI. 6 bemerkt mit Recht, daß die Angelsachsen diesen Geist der Freiheit aus den deutschen Wäldern mitgebracht hätten.« " Vgl. Mosers Ausführungen zur Unbestimmtheit und Relativität des Freiheitsbegriffes in: SW X, 67 ff. Unter anderem heißt es hier: »Es giebt wenig Wörter, die so oft gebraucht und so wenig bestimmt sind, als das Wort Freiheit [...] Die Freiheit ist ein Gut, das wir alle schätzen, und doch ist ihre Geschichte noch nicht beschrieben, ob es gleich ihre Schicksale wohl verdienet hätten.« 51 SWIX, 264 " SWIX, 265 !4 SWXII, ι, 77 s
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nen modernen Nationalstaat fur die Zukunft vorbereiten zu können, der das Volk nicht als egalisierte Masse von Untertanen am Staatsleben beteiligt, sei es nun in dem von ihm gleichermaßen gefurchteren monarchischen oder demokratischen Despotismus." Aufgrund dieser unverkennbar ständischen Ausrichtung von Mosers Reformwillen hat jüngst Knudsen versucht, Moser als beispielhaften Protagonisten eines spezifischen Kompromisses darzustellen, den die Aufklärung in Deutschland bis zum Ausbruch der Französischen Revolution aufgrund ihrer fehlenden »bürgerlichen« Basis mit den Institutionen des alten Systems, seinen Werten und seiner Sprache Schloß, wobei er Mosers Leistung vor allem darin sieht, daß dieser um der Erhaltung traditioneller Institutionen willen, die ständische Welt in der Sprache der Aufklärung zu reinterpretieren versucht.' 6 Knudsen wertet jedoch die traditionellen Elemente in Mosers Geschichtsauffassung zu stark und übersieht völlig, daß dessen Frühzeitideal ein M o m e n t der Beunruhigung enthält, das zu einem unreflektierten traditionellen ständischen Selbstverständnis einen permanenten W i derspruch bildet. 57 Daß es Moser nicht mehr nur um ständische Politik im überkommenen Sinn geht, wird insbesondere in seiner Ablehnung der Grundherrschaft deutlich. Seiner Ansicht nach kann die Repräsentation des politischen Willens der Nation aus derselben nicht abgeleitet werden, sondern sollte, von den Herzögen, Grafen und Gutsherren bis hinauf zum Kaiser allein auf der Vollmacht der freien bäuerlichen Eigentümer beruhen. »Der Grund aber blieb und bleibt allemal, daß die Quelle der allerhöchsten Reichsobermacht keine Grundherrschaft, sondern eine Vollmacht der gemeinen Wehren sei, welche ihr vom Kaiser angeordneter Repräsentant in den Provinzen unter den Namen von Ständen noch jetzt zusammenrufen läßt.«s! " Vgl.: S W I X , 182 Vgl.: Jonathan Knudsen. Justus Moser and the German Enlightenment. Cambridge 1986, S. 149: »Moser is best understood as a part of the moderate reform movement I have labeled the >corporatist EnlightementA propos! Cousine, Eure Hochzeit wird bald sein, hier habt ihr, was ich Eudi vorerst mitzugeben gedenke, aber nun laßt mich mit allen Anstalten ungeschoren. Macht alles so gut ihr könnt und wollt, ich will es bezahlen, aber nun nichts mehr davon hören. Versteht Ihr mich?< Die arme Hexe gieng furchtsam weg, sähe, das ihr der gute Onkel zehntausend Taler zum Brautschatz geschenkt hatte, und durfte es doch nicht wagen, ihm dafür zu danken. Beim Abendessen faßte sie seine Hand und benetzte solche mit einer dankbaren Träne. Zum Unglück fur sie war er eben in ein wichtiges Projekt vertieft; er fuhr also auf, und wie er ihre Rührung sähe, sagte er weiter nichts als: >Mach ich es denn immer unrecht?< In der Eilfertigkeit womit sie sich zurückzog, warf sie ein Glas Wein um, das vor ihr auf dem Tische stand. Hier forsdite er mit der größten Sorgfalt nach, ob sie sich auch erschrocken oder Schaden getan hätte, beruhigte sie mit den freundlichsten Worten und erzählte ihr, um sie zu trösten, wie es ihm heute ebenso mit der Brille ergangen wäre [...] Der alte gute Rat.«' 4
Mit dieser kleinen Erzählung, die einen Menschen in seiner besonderen, individuellen Erscheinung und im Rahmen seiner spezifischen Umwelt anschaulich darstellt, gelingt Moser eines jener kunstvollen Prosastücke, die - wie noch zu zeigen sein wird - Goethes Bewunderung vor allem auch im Hinblick auf ihre Form finden. Daneben verfaßt Moser freilich auch eine ganze Reihe von Ge6z
Vgl.: Brigitte Lorenzen, S. 116 u. 119 ' ' Vgl.: Brigitte Lorenzen, S. 55 S W V , 298 f. 231
schichten, in denen die Figuren kein Leben gewinnen, der mühelose Ton nicht getroffen scheint.6' Es ist sicher richtig beobachtet, daß Erziehungsabsicht und Nützlichkeitsdenken hier stärker hervortreten. 66 Dennoch sollte nicht übersehen werden, daß die Blässe und Unanschaulichkeit bestimmter Figuren in Mosers »Phantasien« geradezu beabsichtigt ist, daß Menschen dargestellt werden sollen, die »weder Größe noch Charakter noch Erfindung« zeigen.67 So wird zum Beispiel in der als Gegenbild zur vorhergehenden konzipierten Erzählung »Der junge Rat« ein Hofmann geschildert, der kein einziges individuelles Merkmal aufweisen, kein eigenständiger Charakter sein kann, weil er das Produkt einer »feinen Welt« geworden ist, die »eine gewisse allgemeine Sprache, worin sich bei jeder Gelegenheit etwas Angenehmes und Gefälliges sagt«, entwickelt hat.68 Eine Sprache aber, die der »Einfältige [...] so gut wie der Witzige« spricht, fuhrt nach Moser unweigerlich zu einer gleichförmigen, alles Individuelle nivellierenden Form des Betragens, eines Betragens, das der junge Rat vollendet beherrscht.69 Individualisierende Elemente in Mosers Charakterisierungen sind also nichts Zufälliges, sondern abhängig von Ort, Zeit und Umgebung der geschilderten Person. Der alte Rat gehört im Grunde bereits einer vergangenen Zeit an. Er lebt nicht am Hof, sondern sucht den Fürsten nur auf, wenn dieser ihn ruft. Er wahrt selbst ihm gegenüber seine Individualität, ohne dabei seine Pflichten zu vernachlässigen. Der junge Rat hingegen verfällt dem äußeren Glanz des Hoflebens, wird zum austauschbaren Höfling, der schließlich am Mangel wahrer Verdienste scheitert. 70 Uber die Kunst und Möglichkeit der Personenindividualisierung stellt Moser in einer seiner »Phantasien« theoretische Überlegungen an, die sich wie Vorüber65
Vgl.: S W IV: »Die gute selige Frau« (S. 106 ff.); »Die allerliebste Braut« (S. 110 ff.) Vgl.: Brigitte Lorenzen, S. 52: »Moser bewegt sich mit viel mehr Behagen und Leichtigkeit in der Sphäre reiner Darstellung, die nicht so unmittelbar an Zwecke gefesselt ist.« 67 S W V , 301 68 S W V, 299. Über den jungen Rat wird weiter ausgeführt: »Man kann dergleichen Leute nicht hassen, solange ihr Betragen nicht aus Falschheit herrührt; man muß sie auch dulden, wenn es nicht ins Abgeschmackte fällt; bei dem allen aber ist es doch das Zeichen eines kleinen Genies, so vieles auf den bloßen Ausdruck zu geben und, anstatt sich Wahrheiten und Tugenden zu erwerben, nur immer den Grazien der Figur nachzustreben. Selimor gehörte völlig in diese Klasse. Außer jener allgemeinen Sprache und den geläufigen Freundschaftsbezeugungen gegen alle seine Mitbürger in der feinen Welt hatte er die Kunst, gefällig zu sein, aufs höchste gebracht.« " Vgl.: S W V , 300 70 »Selimor, der so vielen Unglücksfällen nicht widerstehen konnte, entzog sich endlich der feinen Welt und starb, weil er niemanden mehr gefallen konnte. Der einzige Hofbildhauer erbarmte sich seiner und setzte ihm ein Denkmal, woran jeder die Draperie bewunderte und die Figur, welche weder Größe noch Charakter und Erfindung zeigte, mit Gleichgültigkeit ansah.« S W V, 301 66
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legungen zur Romantechnik Goethes lesen.71 Er wendet sich hier zunächst gegen Erzählungen, die nichts weiter als eine in Sprichwörtern übermittelte, »landläufige Wahrheit« zu ihrem Thema machen.71 Seien derartige moralische Ermahnungen fur die Jugend noch angebracht, entbehrten sie für den Bürger in mittleren Jahren jeglichen Reizes. Voltaire, Marmontel, Wieland und Haller hätten zwar den Anspruch erhoben, bürgerliche Literatur in diesem Sinne zu verfassen, das Ergebnis bleibe jedoch unbefriedigend, da auch sie in ihren Erzählungen »mehrenteils solche Gegenstände erwählt, welche bloß den Philosophen, den Staatsmann und andre feine Kenner interessieren.« Der Bürger sei »dabei fast noch immer leer ausgegangen.«75 Ein Vorbild fur einen Erzählstil, der den Bürger anzusprechen vermag, ist fur Moser Diderot. Eine seiner Erzählungen dient ihm zur Illustration dessen, was er deutschen Schriftstellern zur Ausbildung ihres literarischen Stils empfehlen möchte: die Auseinandersetzung mit dem Wesen des Individuellen. Indem er ein Beispiel Diderots zitiert, versucht Moser die literarische Technik des Individualisierens, die er als »Hauptregel« in »Absicht auf die Manier« seiner Erzählung erkennt, zu veranschaulichen. »Ein Künstler malt einen Kopf; alle Formen sind stark, groß und regelmäßig, es ist das vollkommenste, auserlesenste Ganze. Wenn ich es betrachte, so fiiihl idi Ehrfurcht, Bewunderung, Schrecken. Ich suche das Modell dazu in der Natur und finde es nicht. In Vergleichung dazu ist alles schwach, klein, nichtsbedeutend. Dieses ist ein Idealkopf, fiihl idi bei mir selber. Aber der Künstler lasse mich eine kleine Narbe an der Stime dieses Kopfs oder eine Warze am Schlaf, eine unmerkliche Naht an der Unterlippe wahrnehmen - und der Kopf, der mir ein Ideal zu sein schien, wird Augenblicklich ein Portrait. Ein Merkmal von Pocken im Augenwinkel oder neben der Nase - und dieses Weibergesicht ist nicht mehr das Gesicht der Venus, es ist das Gesicht einer Nachbarin.«74
In der kleinen Abweichung von der Norm, dem Ideal, liegt also das Individuelle, das Besondere begründet. In der Erzählung über den alten Rat finden wir es im Motiv des Umgangs mit einer Brille. Gerade hier wird aber auch deutlich, wie subtil Moser die Technik des Individualisierens handhabt. Obwohl die Figur des alten Rates alle Merkmale eines eigenwilligen und unverwechselbaren Charakters aufweist, tendiert ihre Wirkung an keiner Stelle - was bei dem Motiv mit der Brille leicht denkbar wäre - ins Komische. Moser bewegt sich niemals in der Nähe der Karikatur und ist sich der Gefahr der Übertreibung stets bewußt. 71
Vgl. die Vorrede, die Moser unter dem Titel »Eine bürgerliche Erzählung« dem Abdruck der Diderotschen Erzählung: Unterredung eines Vaters mit seinen Kindern oder: Von der Gefahr sich über die Gesetze wegzusetzen« voranstellt. Sie erschien in seinem inzwischen umbenannten Wochenblatt am 8. Juni 1776. Vgl.: SWIX, 97 ff. 72 Vgl.: SWIX, 97 7 ' S W I X , 97 74 S W I X , 98
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»Nichts ist abgeschmackter als eine Affektation in diesem Stück; und so natürlich es auch allen Menschen ist, zum Wahrzeitben viele kleine Nebenumstände in eine Erzählung zu mischen, um sie soviel glaubhafter zu machen: so gelingt es doch nur sehr wenigen, in der Wahl solcher kleinen Umstände das rechte Mittel zu treffen.«75
Moser gelingt es manchmal meisterhaft. In vielen seiner »Phantasien« finden sich Ansätze der von ihm treffend beschriebenen Kunst des Individualisierens, die bekanntlich dann erst von Goethe zu einem bis dahin unerreichten Höhepunkt geführt wird. Gerade jener von ihm beschriebenen Fähigkeit des glücklichen Anbringens »kleiner Nebenumstände« verdanken so unnachahmlich individuelle Romanfiguren wie zum Beispiel Philine im »Wilhelm Meister« ihre sinnliche Anschaulichkeit. Daß in den »Patriotischen Phantasien« dem Problem der Gestaltung zentrale Bedeutung zukommt, daß Moser diese in ganz besonderem Sinne als literarisches Werk verstanden wissen will, ist infolge der Konzentration auf Inhaltliches bisher zu wenig beachtet worden. Moser hat offenbar immer wieder Aufsätze zurückgewiesen, die ihm mit der Bitte um Publikation zugegangen waren, weil sie seine ästhetisch-stilistischen Ansprüche nicht erfüllten und somit »zur Absicht dieser Blätter nicht« paßten. 76 Er wendet sich gegen Satire und Parodie77, fordert, daß man keine Überlegungen anstelle, die »bloß niederreißen«, sondern solche, die »zugleich etwas Neues liefern, sich durch eine gute Wendung unterscheiden und mit Geschmack geschrieben sind.«78 Nur wenige der ihm zugegangenen Arbeiten werden diesem Anspruch gerecht. Und obwohl er Nicolai gegenüber einräumt, daß »das Phantasieren aus dem Kopfe [...] besser von der Hand« gehe, als das Verfassen historischer Arbeiten, da man es sozusagen »auf dem Stuhle« verrichten könne 79 , warnt Moser davor, »zu glauben, daß die dann und wann in diese Blätter eingerückte satirische Stücke so leicht sind, wie sie scheinen, [...] daß es ohne Mühe gelingen werde, Kompagnons dazu zu liefern.«80 Er sieht sich veranlaßt zu betonen: 75
S W I X , 98. Wer die Technik nicht beherrsche, vermeide auch ihre Anwendung: »Dafür ist es besser, eine Geschichte [...] trocken zu erzählen oder einen Marmontel nzàizuahmen, den man immer gern hört; so unangenehm es auch ist, sich des Vergnügens der Illusion beraubt zu sehen, wenn alle miteingemischten kleinern Umstände sofort ihre völlige Bestimmung verraten.« Ebd., S. 98 76 S W V 1 I , 109 77 Vgl.: Justus Moser. Briefe, S. 248: »Unsre bisherigen Parodien, die französischen mit eingeschlossen, haben diesen Fehler (der Einförmigkeit, d.V.) gehabt. Man hat sich höchstens mit Kontrastieren beholfen, einer Manier, die beym öfiftern Gebrauch ungemein auffällt und selbst bey einem Voltaire missfällt; [...] Überhaupt glaube ich nicht, dass unsre gelehrte Sprache reich genug an Bildern und Ausdrücken sey, um verschiedene Scenen des gemeinen Lebens, welche in der Parodie hervorstechen müssen, edel und kräfitig zu mahlen.« 7 ' S W V I I I , 110 79 Justus Moser. Briefe, S. 38 80 S W V I I I , 320
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»Das schlechteste ökonomische Stück, sobald es nur einen wahren neuen Gedanken oder eine einzige neue Erfahrung enthält, ist uns allezeit willkommen. Aber in Werken des Geschmacks ist das mittelmäßige, besonders, wenn es keine großen Wahrheiten enthält, kaum erträglich.«'1 Für Moser, der völlig neue und zunächst scheinbar unzugängliche Stoffe für die Erzählkunst erschließt, ist das Erzählen der »kleinen« Wahrheiten eine gesellige Kunst, die es besonders zu kultivieren gilt und die eine ganz besondere Art der Behandlung erforderlich macht. Wenn schon nicht mit einer »wichtigen Wahrheit«, sollte die »Begierde des Zuhörers« doch zumindest »mit einer vernünftigen Freude, so wie sie von einer solchen kleinen Erzählung zu erwarten ist«,82 gesättigt werden. Dies kann aber nur geschehen, wenn der Frage der Gestaltung gleiche Aufmerksamkeit zukommt wie dem Mitzuteilenden selbst. »Nur wenige denken daran, wie sie zu einer Erzählung die Anlage machen sollen; um die Erfindung der Wahrheit, welche dadurch gelehrt werden soll und deren Wichtigkeit fast ihren ganzen Wert entscheidet, bekümmern sie sich am wenigsten; und die Art der Behandlung ist ihnen fast gleichgültig, da sie nicht einmal vorher überlegen, ob die Wahrheit, so sie vortragen wollen, eine lustige oder ernsthafte Einkleidung erfordere; und doch ist nichts Gewissers, als daß die größte Würkung von der Art der Behandlung abhange.«'5 Wenn Stil, Sprache und Erzählweise dazu in einem angemessenen Verhältnis stehen, erscheint Moser keine Frage, kein politisches, ökonomisches oder soziales Problem zu gering, um darüber zu handeln. Selbst in der Betrachtung des kleinsten und provinziellsten Gegenstandes versteht er durch die »Art der Behandlung« etwas Allgemeines transparent zu machen. 84 Dabei ist jedoch bezeichnend, daß Moser, was seine Einstellung zum Stoff oder den Stil und Ton seiner Arbeiten anbelangt, niemals allgemeine Regeln aufstellt, sondern sich ganz im Gegenteil auf die dichterische Intuition des Augenblicks beruft. Im Briefwechsel mit Nicolai klagt er mehrfach über den allmählichen Verlust seines Humors, der ihm fur die Abfassung seiner kleinen Aufsätze eine unentbehrliche Voraussetzung ist.85 M i t der ästhetischen Qualität einiger seiner »Phantasien« ist er so wenig zufrieden,
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S W V I I I , 320 S W V I , 136. In der Vorrede zum zweiten Band seiner Sammlung wird ausdrücklich daraufhingewiesen, daß viele Aufsätze nur im Hinblick auf das ästhetische Vergnügen des Lesers verfaßt wurden: »Zum Vergnügen derjenigen, welche eine gefällige Kleinigkeit einer ernsthaften Betrachtung vorziehen, habe ich gleichwohl auch verschiedenes eingemischt, was ich nach meinem Geschmack ihres Beifalls wert geschätzt habe. Ist einiges darunter, was weiter nichts als das Verdienst eines neuen Liedgens hat, was man des Abends, wenn man aus der Operette kommt, noch einmal singt: so hat doch auch dieses seinen Wert vor das Vergnügen dieses Abends, und meine Leser sind nicht verbunden, sich mehr als einmal daran zu ergötzen.« S W V, 10
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' S W V I , 136 Vgl. z.B.: S W V I , 178 ff.: »Vom Hüten der Schweine« 85 Vgl.: Justus Moser. Briefe, S. 280
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d a ß ihm die Weiterarbeit zuweilen sinnlos erscheint. 86 »Aufsätze dieser Art«, schreibt er diesbezüglich an Nicolai, »erfordern ihren eigenen Augenblick; fehlt dieser, so wird alles steif u n d lahm, und man wird pédagogue ohne Beruf.« 87 V o m »Phantasieren« halten ihn aber auch die politische Tätigkeit und seine historischen Studien ab. Beides, so klagt er gegenüber Nicolai, belaste »die freudige Einbildung zu sehr.«88 D i e »Phantasie« mit d e m Titel, »Wie man zu einem guten Vortrage seiner Empfindungen gelange«, gewährt einen detaillierten Einblick in Mosers Schreibwerkstatt. 8 ' Es handelt sich dabei aber zugleich auch um einen wichtigen Neuansatz zum Verständnis von Dichtung, der den Gedanken Herders nahe verwandt ist. W i e Herder®0 setzt sich auch Moser mit zwei zunächst völlig gegensätzlich erscheinenden Formen des Schreibens auseinander: dem induktiven, auf die glückliche Stunde angewiesenen Schöpfiingsprozeß und d e m deduktiven, von der Ratio geleiteten Schreibvorgang. Z u letzterem merkt er an: »Die mehrsten unter den Schreibenden begnügen sich damit, ihren Gegenstand mit aller Gelassenheit zu überdenken, sodann eine sogenannte Disposition zu machen und ihren Satz darnach auszufuhren; [...]«*' Uber die zweite M e t h o d e heißt es weiter: »[...] oder sie nützen die Heftigkeit des ersten Anfalls und geben uns aus ihrer glühenden Einbildunskraft ein frisches Gemälde, was oft bunt und stark genug ist und doch die Würkung nicht tut, welche sie erwarteten.«'1 Vgl.: Justus Moser. Briefe, S. 294, wo Moser Nicolai mitteilt: »Einen dritten Band meiner »Phantasien« kann ich nicht weiter versprechen. Was ich jetzt mache, gefallt mir nicht, und es ist besser, ich höre auf zu schreiben, ehe andre aufhören zu lesen.« 87 Justus Moser. Briefe, S. 280 81 Justus Moser. Briefe, S. 282 Vgl.: SW VII, Ii ff. Vgl. dazu auch die Miszelle von Erich Haarmann. Über Mosers Art zu schaffen, mit einer Bemerkung über B.R. Abekens editorische Tätigkeit. In: Historische Zeitschrift. Bd. 140. 1929, S. 87 ff. Vgl. besonders: »Auszug aus einem Briefwechsel über Oßian und die Lieder alter Völker«. Sämmtliche Werke. (Suphan). Bd. V, S. 183 ff. " S W V I I , II SW VII, π. Herder trifft im »Briefwechsel über Oßian« in bezug auf die Dichtkunst eine ähnliche Unterscheidung: »Mich dünkt, nach der Lage unsrer gegenwärtigen Dichtkunst sind hierinn zwei Hauptfälle möglich. Erkennet ein Dichter, daß die Seelenkiäfte, die theils sein Gegenstand und seine Dichtungsart fordert, und die bei ihm herrschend sind, vorstellende, erkennende Kräfte sind: so muß er seinen Gegenstand und den Inhalt seines Gedichts in Gedanken so überlegen, so deutlich und klar faßen, wenden und ordnen, daß ihm gleichsam alle Lettern schon in der Seele gegraben sind, und er gibt in seinem Gedichte nur den ganzen, redlichen Abdruck. Fordert sein Gedicht aber Ausströmung der Leidenschaft und der Empfindung, oder ist in seiner Seele diese Klasse von Kräften die würksamste, die geläufigste Triebfeder, ohne die er nicht arbeiten kann: so überläßt er sich dem Feuer der glücklichen Stunde, und schreibt und bezaubert.« Sämmtliche Werke (Suphan). Bd. V, S. 184 86
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Moser, der sich schon in den 40er und 50er Jahren gegen eine allein auf Vernunft begründete Ethik gewandt hatte93 und in die Definition des Menschlichen das Emotionale miteinbezogen wissen wollte, schließt für seine eigene literarische Produktion die erste der beiden oben angeführten Arbeitsweisen, so sehr er sie auch im allgemeinen akzeptiert, vollkommen aus. »Mir mag eine Wahrheit, nachdem ich midi davon aus Büchern und aus eignem Nachdenken unterrichtet habe, noch so sehr einleuchten, und ich mag midi damit noch so bekannt dünken: so wage ich es doch nicht, sogleich meine Disposition zu machen und sie darnach zu behandeln; vielmehr denke ich, sie habe noch unzählige Falten und Seiten, die mir jetzt verborgen sind, und idi müßte erst suchen, solche soviel möglich zu gewinnen, ehe ich an irgend einen Vortrag oder an Disposition und Ausführung gedenken dürfe.«' 4 Aber auch die zweite von ihm bezeichnete Form des Schreibens, das Vertrauen auf den »ersten Wurf«, die glückliche Intuition, findet nicht seinen uneingeschränkten Beifall. Was er demgegenüber befürwortet, ist eine ideale Kombination beider Verfahren. Sie läßt sich seiner Ansicht nach am besten durch ein differenziertes und wiederholtes Bearbeiten der ersten, im Uberschwang der Begeisterung niedergeschriebenen Fassung erreichen. »Diesemnadi werfe ich zuerst, sobald ich mich von meinem Gegenstande begeistert und zum Vortragen geschickt fühle, alles, was mir darüber beifällt, aufs Papier. Des andern Tags verfahre ich wieder so, wenn mich mein Gegenstand von neuem zu sich reißt, und das wiederhole ich so lange, als das Feuer und die Begierde zunimmt, immer tiefer in die Sache einzudringen. Sowie ich eine Lieferung auf das Papier gebracht und die Seele von ihrer ersten Last entlediget habe, dehnt sie sich nach und nach weiter aus und gewinnet neue Aussichten, die zuerst noch von nähern Bildern bedeckt wurden. Je weiter sie eindringt und je mehr sie entdeckt, desto feuriger und leidenschaftlicher wird sie fur ihren geliebten Gegenstand. Sie sieht immer schönere Verhältnisse, fühlt sich leichter und freier zum Vergleichen, ist mit allen Teilen bekannt und vertraut, verweilet und gefällt sich in deren Betrachtung und höret nicht eher auf, als bis sie gleichsam die letzte Gunst erhalten hat.«'5 So sehr also Moser einerseits an der starken Empfindung, an Bewegung und seelischer Gestimmtheit als Voraussetzung fur den ästhetischen Produktionsprozeß festhält' 6 , so entschieden warnt er andererseits davor, sich das Ringen " Vgl. vor allem die Schrift: »Uber den Wert wohlgewogener Neigungen und Leidenschaften«, in der Moser seine Nähe zu Shaftesbury und den Schweizern zu erkennen gibt, indem er der sittlichen Kraft der Leidenschaft einen der Vernunft ebenbürtigen Rang zuerkennt. S W II, 223 ff. Siehe dazu auch J.J. Bodmer in: Critisdie Betrachtungen über die poetischen Gemälde der Dichter, S. 310-363 ' 4 S W V I I , 12 " S W V I I , 12 96 Freilich mit der Einschränkung, daß es eine besondere Gabe sei, über die nicht jeder verfuge: »Unter Millionen Menschen ist vielleicht nur ein einziger, der seine Seele so zu pressen weiß, daß sie alles hergiebt, was sie hergeben kann. Viele, sehr viele haben eine Menge von Eindrücken, sie mögen nun von der Kunst oder von der Natur herrühren, bei sich verborgen, ohne daß sie es selbst wissen; man muß die Seele in eine Situation
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um den besseren Ausdruck, die geeignetere Disposition gänzlich zu ersparen und sich allein auf das dichterische Genie, die Eingebung des Augenblicks zu verlassen. U n d er verweist hier ausdrücklich auf das große Leitbild der jüngeren Generation, auf Rousseau, dessen literarischen Stil er nicht mißverstanden wissen will. »Rousseau gab nie etwas von den ersten Aufwallungen seiner Seele; wer nur diese und nichts mehr giebt, der trägt nur solche Wahrheiten vor, die den Menschen insgemein auffallen und jedem bekannt sind. Er hingegen arbeitete oft zehnmal auf die Art, wie ich es Ihnen vorgeschlagen habe, und hörte nicht auf, solange noch etwas zu gewinnen übrig war. Wenn dieses ein großer Mann tut: so kann man ziemlich sidier sein, daß er weiter vorgedrungen sei als irgend ein andrer vor ihm. Sooft Sie sich mächtiger in der Empfindung als im Ausdruck fühlen, so glauben Sie nur dreist, Ihre Seele sei faul, sie wolle nicht alles hervorbringen. Greifen Sie dieselbe an, wenn sie fühlen, daß es Zeit ist, und lassen sie arbeiten. Alle Ideen, die ihr jemals eingedruckt sind und die sie sich selbst aus den eingedruckten unbemerkt gezogen hat, müssen in Bewegung und Glut gebracht werden; sie muß vergleichen, schließen und erfinden, was sie auf andre Art ewig nicht tun wird, sie muß verliebt und erhitzt werden gegen ihren großen Gegenstand.«' 7 W i e Herder ist auch Moser der Ansicht, daß jedes wirkliche Genie Kopf und Herz auf eine glückliche A r t und Weise zu verbinden weiß' 8 , daß seine H a n d das, »was die erhitzte Einbildung [ . . . ] mächtig fühlt, auch mächtig und feurig malt, ohne dabei einer besonderen Leitung zu bedürfen.« 99 Mosers »Patriotische Phantasien« sind vor dem Hintergrund dieser Auffassung vom Wesen der Dichtung entstanden. Ihnen kommt deshalb auch in seinem eigenen Verständnis ein dichterischer Eigenwert zu, der weit über die inhaltliche Bedeutung hinausreicht und vor allem an den Rezipienten besondere Ansprüche stellt. Weil Moser sich immer wieder mit dem Problem auseinandergesetzt hat, inwieweit Sprache ein adäquates Ausdrucksmittel für Empfindungen und Vorversetzen, um sich zu rühren, man muß sie erhitzen, um sich aufzuschließen, und zur Schwärmerei bringen, um alles aufzuopfern. Horaz empfohl den Wein als ein gelinde Tortur der Seele, andre halten die Liebe zum Gegenstande für mächtiger oder den Durst zu Entdeckungen: jeder muß hierin sich selbst prüfen.« S W V I I , 14. Wie sehr Moser seine eigene literarische Produktion in diesem Sinne als schöpferischen Vorgang begreift, geht aus einer andern Stelle hervor: »Ich bedenke nie, was ich schreibe, und lese nur, was ich geschrieben habe [...]« Ebd., S. 30 97
S W V I I , 14 f. ' 8 Bei Herder heißt es dazu: »[...] und überhaupt verbindet sie (vorstellende, erkennende Kräfte und Ausströmung der Leidenschaft und Empfindung, d.V.) in gewissem Maasse jeder glückliche Kopf; denn so entfernt beide Arten am Anfange scheinen; so wenig Ein Genie sich der Art des Andern aus dem Stehgreife bemächtigen kann: so kommen sie doch endlich beide überein; lange und stark und lebendig gedacht, oder schnell und würksam empfunden - im Punkte der Thätigkeit wird beides impromtu, oder bekömmt die Vestigkeit, Wahrheit, Lebhaftigkeit und Sicherheit desselben [...]« Sämmtliche Werke (Suphan). Bd. V, S. 185 99 S W VII, 13 238
Stellungen des Menschen sein kann100, ist sein literarischer Stil der Prämisse verpflichtet: »Empfindung kann nur durch Wiederempfindung völlig gefaßt und nicht durch Worte ausgedrückt werden.«101 Daß heißt, Moser fordert einen »produktiven« Leser, der, wie er es ausdrückt, in der Lage ist, sich zu dem Verfasser »hinaufzuempfinden«. Denn die Worte, zunächst nur tote, unvollkommene Zeichen auf dem Papier, bedürfen dieser intuitiven Einfühlung durch den Leser ebenso wie des rationalen Erfassens ihres Sinnes. »Allein, auch jene Zeichen haben ihre Begleitungen fur den empfindenden und denkenden Leser, und wer die Musik versteht, wird die Noten nicht sklavisch vortragen. Audi der Leser, wenn er anders die gehörige Fähigkeit hat, kann an den ihm vorgeschriebenen Worten sich zu dem Verfasser hinaufempfinden und aus dessen Seele alles herausholen, was darin zurückblieb.«'01
Daß Moser mit diesem Appell an eine anspruchsvolle Rezeptionshaltung nicht nur seine Osnabrücker Leserschalt, sondern auch das literarische Publikum, dem er seine »Phantasien« in Buchform präsentierte, vielfach überfordert hat, mußte er selbst erfahren. So sieht er sich immer wieder veranlaßt, seine Sprechweise, die ein Spiel auf verschiedenen Ebenen darstellt, ein Verständnis für die Mehrschichtigkeit der Sprache und für das Spiel voraussetzt10', seinen Lesern zu erklären und anhand von Beispielen zu erläutern. Häufig fuhrt er - wie zum Beispiel in der Behandlung der Frage des Leibeigentums104 - landespolitische Rücksichten als Gründe fxir die Verstellungen und gewählten »Masken« an und sucht damit zugleich auch Verständnis fur die provinzielle Perspektive seines Erzählens zu wecken. »Die Leser dieser Phantasien müssen sich allezeit erinnern, daß sie aus wöchentlichen Blättern erwachsen sind, welche in einem kleinen Lande, worin man den Verfasser derselben leicht erriete, zur Beförderung verschiedener politischer Verbesserungen 100
In dem oben angeführten Aufsatz stellt er sich zum Beispiel die Frage, ob die Inkongruenz von Vorstellung und Ausdruck »einen Mangel der Sprache zur Ursache habe« und räumt ein: »Freilich sind alle Worte, besonders die toten auf dem Papier, welchen es wahrlidi sehr an Physiognomie zum Ausdrucke fehlt, nur sehr unvollkommene Zeichen unsrer Empfindungen und Vorstellungen [...]« S W V I I , 11
"" S W V I I , 28 S W V I I , Ii 103 Vgl.: Brigitte Lorenzen, S. 125. »Das Verständnis setzt aus, sobald der Leser die Worte mit einem naiven Ernst aufnimmt. Die Kette der daraus erwachsenen Mißverständnisse ist vom Erscheinen des Werkes an zu verfolgen und hat bis heute der Interpretation des öfteren im Wege gestanden.« 104 Vgl.: S W V I , 10: »Das Sonderbarste aber ist, das man mich daheim als den größten Feind des Leibeigentums und auswärts als den eifrigsten Verteidiger desselben angesehen hat [...] Die entfernten Leser einer Predigt urteilen ganz anders als die Zuhörer derselben [...] Ich erinnere dieses, sowohl um das Urteil zu berichtigen, das auswärts von diesen Phantasien gefället ist, als auch um andre geschickten Männer [...] zu warnen, sich durch die Forderungen des großen Publikums nicht verleiten zu lassen, es mit ihrem kleinen zu verderben.« 102
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bekanntgemacht wurden. Hier erforderte manchens, was man nicht bloß vorschlagen, sondern auch ausführen wollte, eine besondere Schonung der Personen und eine eigene Behandlung der Sachen. Oft nahm ich denjenigen, die sich in ihre eigenen Gründe verliebt hatten und sich bloß diesen zu Gefallen einer neuen Einrichtung widersetzten, die Worte aus dem Munde und trug ihre Meinung noch besser vor, als sie solche selbst vorgetragen haben würden; diese beruhigten sich dann entweder mit der ihnen erzeigten Aufmerksamkeit oder verloren etwas von der Liebe zu ihren Meinungen, deren Eigentum ihnen auf diese Weise zweifelhalt gemacht wurde. O f t durfte ich auch die Gründe fur eine Sache nicht geradezu heraussagen, um nicht da als Advokat zu erscheinen, wo ich als Richter mit mehrerm Vorteil sprechen konnte, und bisweilen mußte idi mich stellen, als wenn ich das Gegenteil von demjenigen glaubte, was ich würklich fur wahr hielt [...] Mir war mit der Ehre, die Wahrheit frei gesaget zu haben, wenig gedienet, wenn ich nichts damit gewonnen hatte; und da mir die Liebe und das Vertrauen meiner Mitbürger ebenso wichtig waren als das Recht und die Wahrheit: so habe ich, um jene nicht zu verlieren und dieser nichts zu vergeben, manche Wendung nehmen müssen, die mir, wenn ich für ein großes Publikum geschrieben hätte, vielleicht zu klein geschienen haben würde.« 10 ' Uber das Kräftespiel und die Hintergründe der Landespolitik hinaus versucht Moser also, wenn er sich als Erzähler an das »große Publikum« wendet, eine Beziehung zu seinem Leser herzustellen, die in der Distanz zum behandelten Gegenstand auf eine besondere Form des Einverständnisses zielt. Das heißt, der Leser soll den hinter seiner Maske halbversteckten Erzähler durchschauen und soll sich zugleich auf seinen besonderen Ton einlassen. Die Maskierungen und Rollen gewährleisten einerseits ein Eingehen auf das Besondere, Provinzielle, auf den »kleinen« Gegenstand, während sie andererseits, gerade vor dem Hintergrund des Bewußtseins um Spiel und Rolle, eine Distanz schaffen, die dem Leser Raum für eigenes Empfinden, fiir die eigene Urteilsbildung läßt. Brigitte Lorenzen hat zu Recht daraufhingewiesen, daß Mosers kleine provinzielle Welt, die er vor den A u gen des Lesers entstehen läßt, einem »theatrum mundi« gleicht, daß er in diesem Sinne häufig die Metaphern von Bühne, Theater, Acteurs und Rolle gebraucht. 106 "* S W V I , 9 Vgl.: dieselbe, S. 108 f.: »Aber nicht mehr als das theatrum dei - das Puppenspiel Gottes; der Topos hat seinen transzendentalen Bezug verloren, Erzähler und Leser sind Akteure und Zuschauer zugleich. Unter diesem Blickpunkt der reinen Innerweltlichkeit wird das, was zuvor als bloßer Schein galt, zum eigentlichen Sein. Diese Verwandlung von Schein in Sein ist aber nur der erste Schritt. In der Hand des Erzählers trennen sich aus der Freiheit von Maske, Spiel und Ironie innerhalb dieser Welt Schein und Sein erneut. Doch ist jetzt die Einsicht und richtige Erkenntnis nicht mehr verschlossen [...] Es wird auf verschiedenen Ebenen gespielt: in der Politik selbst, aber auch in ihrer Darstellung zwischen Moser und seinen Mitbürgern; der Erzähler spielt eine Rolle, aber auch die Rollenfigur eine zweite [...] So, wie der Erzähler hinter einer Maske nur halb verborgen ist, bleiben auch die Spielebenen offen. Sie werden nicht von der nächsten zugedeckt, d.h. aufgehoben - wie es in der ironisdien Haltung geschieht sondern bleiben in der Verknüpfung von Witz und Grazie nebeneinander bestehen, durchsichtig und überschaubar fur den Leser. Er ist der Eingeweihte des Erzählers und soll mit ihm das Ganze übersehen, mag auch im Erzählten selbst der Kreis der Mitwisser verschieden groß sein.«
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In der sprachlichen Gestaltung dieser Welt erscheint »nichts schwerer«, als die »besonderen Absichten«, welche oft hinter der vordergründigen Darstellung der Gegenstände verborgen sind und »die Hauptschwierigkeit ausmachen, zu berühren [...].« Doch gerade die Fähigkeit, »jene vorzutragen, diese aber zu verhehlen«, hält Moser für das Maßgebliche seines Schreibens und zudem fur ein »Lustspiel [...], wovon keiner den Knoten kennt.«107 In diesem Sinne also bedarf Moser als Autor der »Phantasien« der Ergänzung durch sein Publikum. Erst im Bezug zum mitgestaltenden Leser können die einzelnen Aufsätze, so disparat ihre jeweiligen Gegenstände auf den ersten Blick auch erscheinen mögen, wiederum ein »Ganzes« bilden. Zerreißt diese besondere, über die sprachliche und stilistische Gestaltung zustandekommende Verbindung, so zerfällt die provinzielle Welt der »Phantasien« in Bruchstücke, die, allein und einzeln betrachtet, ihren auf ein Allgemeines hindeutenden Sinn verlieren.108 Von den Zeitgenossen erkennt - wie noch zu zeigen sein wird - im Grunde genommen nur Goethe als ein wirklich tiefgreifend erfassender Leser diesen Anspruch der »Patriotischen Phantasien«. Das mag vor allem auch dadurch begründet sein, daß Moser den seine Vorstellung von Gestaltung zentral determinierenden Begriff des »Totaleindrucks« - der nicht nur fur das Verständnis der »Phantasien« zum Schlüsselbegriff wird, sondern zugleich ein neues Menschenund Weltbild, sozusagen eine neue »WeltaufFassung« umfaßt - erst später und überwiegend in brieflichen Äußerungen expliziert.109 Dieser Begriff bezeichnet eine wissensdiaftskritische Form des menschlichen Wahrnehmungsvermögens, wonach dem emotional bedingten, unmittelbaren und intuitiven Gesamteindruck gegenüber den rational zergliedernden Einzelbeobachtungen Priorität eingeräumt, Herz und Erfahrung höher als die Reflexion bewertet werden. An Sophie von La Roche schreibt Moser am 8. Mai 1782: »Dasjenige, was man von seinen eigenen Empfindungen zu deutlichen Vorstellungn erheben und ausrücken kann, wird allemahl nur ein unendlich kleiner Theil des Ganzen seyn, und die umständlichste Beschreibung einer Physionomie von Lavater niemals den Total=Eindruck, welchen eine Person auf uns macht, darstellen können. Verzeihen Sie mir also, edle Frau, wenn ich ihnen nichts von der dankbaren Freude sage, welche ich bey Durchlesung Ihres so unvermutheten als angenehmen Schreibens empfunden habe. So wie es von Herzen gekommen ist, so ist es auch wieder zu Herzen gegangen, und dieses ist alles, was Sie von den Lesern Ihrer Schriften fordern, die bey jedem Zuge Ihres Ausdrucks dasjenige hinzuempfinden, was sich nahmentlich nicht mittheilen läßt. 107 lo! 109
S W V I , 86 Vgl.: Brigitte Lorenzen, S. 125 In den »Phantasien« wird der Begriff in einem 1780 zuerst erschienenen Aufsatz (»Also soll der handelnde Teil der Menschen nicht wie der spekulierende erzogen werden«) das erste Mal erwähnt, nachdem er in der Phantasie »Über das Kunstgefiihl« (ebenfalls 1780 zuerst erschienen) bereits umschrieben worden war. Vgl.: S W VII, 15 ff. und S. 26 ff. Auch die brieflichen Äußerungen fallen in die achtziger Jahre. Vgl. bes.: Justus Moser. Briefe, S. 360, 365, 379 u. 393
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Erlauben Sie mir also, edle Frau, bey dem Schlüsse Ihres gütigen Briefes die Bemerkung zu machen, daß es eben ein so gar übler Tausch nicht sey, wenn man ein Stüde Herz statt Hirns von der Natur erhalten hat. Jenes enthält die Summe aller Totaleindrücke, welche die Natur oder die Gegenstände in derselben auf uns machen. Dieses hingegen enthält davon nichts weiter, als was sich nahmentlich denken und ausdrücken läßt. Jenes combinirt unendliche Grössen mit unendlichen Grössen, und ihr Product, das sich in unseren Handlungen zeigt, ist unendlich. Diese aber kann blos aus bekannten und bestimmten Zahlen oder Zeichen schliessen.«"0 Dieser Brief belegt, daß das Gebiet des Totaleindrucks für Moser in der psychologischen Erkenntnissphäre liegt. Nicht die Vernunft, sondern Herz und Gefühl sind in erster Linie dafür maßgeblich. Weil er davon überzeugt ist, daß im ausschließlichen Vertrauen auf die rationale Erkenntnis alles Inkommensurable notwendigerweise ausgeklammert wird" 1 , widerstrebt es ihm - wie er Nicolai gegenüber erwähnt - »von Sachen zu schreiben, deren Wahrheit und Nutzbarkeit ich nicht lebhaft empfinde.«" 2 Insofern zwischen der Empfindung der
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Justus Moser. Briefe, S. 360. Die Gegenüberstellung von Kopf und Herz, sowie die Entdeckung des Herzens (im engeren Sinn der neueren Zeit), wie sie bei Sophie von La Roche in Erscheinung treten, gehören durchaus der Aufklärung an und sind keineswegs etwa erst antiaufklärerische Reaktionen. Die Aufwertung des Empfindungslebens ist vermittelt durch religiös-pietistisches Denken, vor allem aber auch seit den vierziger Jahren durch Autoren wie Marivaux, Richardson und Sterne. Vgl. dazu: Peter Michelsen. Laurence Sterne und der deutsche Roman des achtzehnten Jahrhunderts. Göttingen 1962, S. 31 u. 69; bes. auch: Michael Maurer. Aufklärung und Anglophilie in Deutschland. Göttingen, Zürich 1987, S. 142 ff. Sophie von La Roche hatte den um zehn Jahre älteren Moser 1782 bei einem Kuraufenthalt in Bad Pyrmont kennengelernt, und sie war eine Bewunderin seiner Schriften. In ihrem seit 1766 entstehenden und 1771 durch Wieland herausgegebenen Roman »Geschichte des Fräuleins von Sternheim« gibt es so viele verblüffende Parallelen zu Mosers in den »Patriotischen Phantasien« zutage tretenden Ansichten, daß sich die Vermutung aufdrängt, die Autorin habe aus ihnen geschöpft. Leider ist von dem vermutlich nach der persönlichen Begegnung einsetzenden Briefwechsel bisher nur ein einziger Brief Mosers an Frau von La Roche aufgefunden worden. (Vgl. obiges Zitat). Ihrer Freundin, Elise zu Solms-Laubach, schreibt diese jedoch, offenbar gerade in bezug auf jenen Brief, Moser habe ein tiefes Verständnis fur ihre schriftstellerische Disposition gezeigt: »Denn ich bin mehr Herz als Kopf. Moser sagte mir, ich solle zufrieden darüber sein, denn das Herz berechne unendliche Größen, der Kopf nur endliche. Dieser Ausspruch war ein herrlicher Trost fiir mich [...]« Aber bereits an Anton Matthias Sprickmann hatte sie am 22.10.1779 über ihre Moser-Verehrung in einer Weise geschrieben, die auf eine große Vertrautheit mit Mosers Werk schließen läßt. In bezug auf Sprickmanns Beziehung zu Mosers Tochter Jenny bittet sie diesen: »Sagen Sie Ihrer würdigen Freundin Voigts, daß ihr Beifall und Wunsch nach meiner Freundschaft mir sehr schätzbar sei, daß ich und La Roche ihren Herrn Vater innig verehren und daß ich mich ohnendlich freuen soll, etwas für Frau von Voigts zu sein und in irgend einem Verhältnis zu stehen.« Zit. nach: »Ich bin mehr Herz als Kopf«. Sophie von La Roche. Ein Lebensbild in Briefen. Hrsg.: Michael Maurer. München 1983, S. 249 und 218.
'" Vgl.: Brigitte Lorenzen, S. 93 Justus Moser. Briefe, S. 308
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Wahrheit und ihrem sprachlichen Ausdruck fur Moser immer eine schwer überbrückbare Kluft besteht, umschreibt der Begriff »Totaleindruck« zugleich auch eine Wahrnehmungs- und Erkenntnisfähigkeit des Menschen, die niemals ganz, sondern stets nur fragmentarisch zur Darstellung gebracht werden kann."' Erst die angemessene Rezeptionshaltung, das »Hinzuempfinden« des Lesers, ermöglicht die gewünschte Ergänzung, läßt das, was vielfältig anklingt, aber bewußt offengehalten wird, eine geschlossene Gestalt gewinnen. Gerade die »Phantasien« sind in diesem besonderen Sinne auch als »Fragmente« zu verstehen, nämlich als Stücke, die, so unfertig sie nach Form und Inhalt auch in mancher Hinsicht scheinen mögen, dem Anspruch eines »Ganzen« stets verpflichtet bleiben." 4 Moser findet somit relativ spät einen Begriff fur Gedanken, die ihn bereits bei der Konzeption seiner ersten Wochenschrift bewegen" 5 und später immer wieder anklingen." 6 Die diesbezüglichen Einflüsse sind vielfältig. Sie reichen zurück auf Leibniz und Schaftesbury und werden durch die sich ausbildende Geschmacksdiskussion in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auf breiter Ebene vertieft. 117 Moser steht dabei in jener auf die Schweizer Schule und auf Baumgartens Ästhetik zurückgehenden Tradition, die einer Emanzipation der sinnlichen und anschauenden Erkenntnis auf dem Gebiet der Kunst den W e g
"' Wie gezeigt werden konnte, bestimmt diese Erkenntnis auch fundamental sein Selbstverständnis als Historiker. Denn auch hier vertraut er auf die Intuition, das »Gefühl« für Wahrheit. Auch hier wird ihm, wie er an Nicolai 1767 schreibt, die Inkongruenz von Sprache und Ausdruck zum Problem: »[...] weil ich alle Augenblicke fühle, daß das Kostüm der Worte und der damit verknüpften modernen Begriffe dem Geschichtsschreiber unendliche Mühe macht.« Justus Moser. Briefe, S. 235 f. " 4 Daß heißt, er ist nicht »Fragmentist« im Sinne Haarmanns, der diese Bezeichnung wählt, weil Moser disparate Stücke verfaßte und zahlreiche unvollendete, von ihm selbst nicht publizierte Entwürfe hinterließ. Vgl.: ders., S. 88: »Moser war von Natur Fragmentist und dem entsprechen seine Arbeiten nach Form und Inhalt: die zwanglos erscheinenden Zeitungsartikel, die später - nicht von ihm! - zu den Patriotischen Phantasien zusammengefaßt wurden und die inhaltlich eine buntschillernde Vielseitigkeit zeigen, entsprachen ihm und seinen kurzen periodischen Energiesteigerungen. Umfassende Werke hat Moser nur ungern fortgeführt und keins abgeschlossen.« "5 Vgl.: S W I , 344: »[...] eine jede Sache muß in sich ein Ganzes ausmachen und aus wohlgefugten Theilen bestehen. Sie muß eine Größe haben, zu welcher sidi in einem gesetzten Ebenmaß alle Theile verhalten.« " 6 So sagt er zum Beispiel in seiner 1746 geschriebenen und 1756 gedruckten Schrift über den »Wert wohlgewogener Neigungen und Leidenschaften«, es gehe »mit dem Gemische unsrer Leidenschaft oftmal wie mit einer rührenden Musik [...], wovon wir die Schönheit des Ganzen empfinden, ohne die einzelnen Töne zu zählen.« S W II, 243. 117 Vgl. dazu auch: Friedrich Meinecke. Die Entstehung des Historismus, S. 33 u. 310 f.; Alfred Baeumler. Das Irrationalitätsproblem in der Ästhetik und Logik des i8. Jahrhunderts bis zur Kritik der Urteilskraft (Neudruck). Darmstadt 1967; Alexander von Bornmann (Hrsg.). Vom Laienurteil zum Kunstgefühl. Texte zur deutschen Geschmacksdebatte im 18. Jahrhundert. Tübingen 1974 2
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bereitet." 8 Die im Zentrum der neuen Geschmacksdiskussion stehenden Probleme um den Ausgleich der Ansprüche von Empfindung und Vernunft, des Sinnlichen und des Rationalen, um die Vermittlung von unterem (= sinnliches) und oberem (= intellektuelles) Erkenntnisvermögen sowie das Problem der Stellung der Beurteilungskraft im Gesamtsystem der Seelenvermögen werden in seiner Auseinandersetzung mit dem Begriff »Totaleindruck«, die zugleich eine Auseinandersetzung mit der Besonderes und Allgemeines auf einmal fassenden Vorstellung einer ungeteilten Anschauung ist, widergespiegelt." 9 Es geht Moser um eine Anschauung des Ganzen, die als klare Vorstellung unzerstückelt in der Seele schwebt, um eine Erkenntnis ohne merkliche Entwicklung der Begriffe, die als eigene Form der Welt-, Menschen- und Kunstauffassung neben die diskursive des Verstandes tritt; eines Verstandes, der nur Einzelheiten aufnimmt und summiert, ohne jemals das Ganz zu erfassen. 120 M i t seinem Begriff des »Totaleindrucks« nimmt er nicht nurTeil an der Ausbildung des Genie- und Individualitätsgedankens, sondern er gibt auch entscheidende Impulse hinsichtlich der Einsicht in die komplexe und vielschichtige Beziehung zwischen dem Allgemeinen und Besonderen und gelangt dabei fast in die N ä h e der kritischen Philosophie. 121 Alle Erscheinungen der Natur, alle Menschen und alle die von ihnen hervorgebrachten Dinge können nach Moser Ausgangspunkte für Totaleindrücke bil" 8 So formuliert bereits Martin Resewitz in seinem »Versuch über das Genie« 1759: »Man muß aber durch anschauende Erkenntnis nicht bloß eine sinnliche, oder durch die Sinne erlangte Erkenntnis verstehen, sondern eine jede Erkenntnis, die uns die Sache selbst darstellt, welche durch die Worte bezeichnet wird; eine solche, welche nicht bey den Worten der Definition stehen bleibt, sondern ein inneres Bild in der Seele von dem Gegenstande enthält [...] oder, wenn ich mich philosophisch ausdrücken soll; es ist diejenige Erkenntnis, vermöge welcher wir die Sache in concreto erblicken, mit ihren Wirkungen, Zufälligkeiten und Veränderungen [...]« In: Vom Laienurteil zum Kunstgefühl, S. 76 f. " ' Z u den angesprochenen Problemen der ästhetischen Diskussion vgl.: Alfred Baeumler, S. 92 ff. u. 242 ff. 120 In diesem Sinne fuhrt Christian Garve 1769 über »>Plötzliche Aufklärungen« - die glücklichen Sprünge der Einbildungskraft« aus: »Die Seele muß das Vermögen haben, die ganze Reihe mit Einem Blick und einer Art von unmittelbarem Anschauen zu übersehen. Ideen, die entwickelt eine ganze Wissenschaft ausmachen, müssen sich zusammendrängen, ein Ganzes ausmachen und sich gleichsam in ein Bild vereinigen.« In: Vom Laienurteil zum Kunstgefuhl, S. 86 121 So hat zum Beispiel die berühmte Definition des Genies in Kants »Kritik der Urteilskraft« $46 (»Genie ist das Talent [Naturgabe], welches der Kunst die Regel gibt«) in Mosers Wochenschrift »Die Deutsche Zuschauerin« bereits ihr historisches Vorspiel, wenn es heißt, daß die Größe der Natur den Künstler berechtige, alle Regeln zu verletzen, wenn »das Schöne in seinem exzentrischen Schwünge« ihn erfülle. ( S W I , 342 f.) Bereits hier weist Moser daraufhin, daß es nur die »bekannten« Regeln seien, die das Genie verletzt habe, und er fuhrt diesen Gedanken später weiter, indem er formuliert, daß auch das Genie von einem höheren Gesichtspunkt aus betrachtet einer Regel, nämlich der seiner eigenen Erfährung, folge und auf diese Weise »Schöpfungsgeist« beweise. Vgl.: S W X , 299
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den. In den 6oer Jahren resümiert er in diesem Sinne in einer Phantasie über den »moralischen Gesichtspunkt«: »Können Sie mir ein einziges Stück aus der physikalischen Welt nennen, welches unter dem Mikroskopio seine vorige Schönheit behielte? Bekömmt nicht die schönste Haut Hügel und Furchen, die feinste Wange einen fürchterlichen Schimmel und die Rose eine ganz falsche Farbe? Es hat also jede Sache ihren Gesichtspunkt, worin sie allein schön ist; und sobald Sie diesen verändern, sobald Sie mit dem anatomischen Messer in das Eingeweide schneiden: so verfliegt mit dem veränderten Gesichtspunkt die vorige Schönheit. Das, was Ihnen durch das Vergrößerungsglas ein rauhes Ding, eine fürchterliche Borke, ein häßlicher Quark scheinet, wird dem ungewaffneten Auge eine süße und liebliche Gestalt [...] Wann dieses in der physikalischen Welt wahr ist, warum wollen wir denn diese Analogie in der moralischen verkennen? Setzen Sie Ihren Helden einmal auf die Nadelspitze und lassen Sie ihn diesesmal unter ihrem moralischen Mikroskopio einige Männgen machen! Nicht wahr, Sie finden ihn recht schwarz, grausam, geizig und seinem Bruder untreu [...] Aber treten Sie zurück, wie groß, wie wundernswürdig wieder?«'" Im ästhetischen Bereich illustriert Moser die unter dem Begriff »Totaleindruck« gefaßte Wahrnehmungsweise in der fur sein Bemühen um konkrete Vorstellungen typischen Art und Weise anhand des Bildes einer Weinprobe, d.h. er wählt ein ganz alltägliches Ereignis als Synonym für eine künstlerische Geschmacksdiskussion. Kunstgeschmack und damit die ästhetische Kompetenz zur Beurteilung von Kunstwerken gewinnt man demzufolge auf dieselbe Weise wie Weingeschmack, nämlich aufgrund unzähliger Erfahrungen, die im Moment der »Probe« auf einmal wirksam werden. Wichtig ist dabei die Ausbildung von »Tangenten« ein Begriff, den Moser häufig verwendet für das von ihm intendierte, vielfältig berührende Umgreifen der Form. 12 ' Von Jugend an gilt es, diese Tangenten in einem Empfindungsfähigkeit und Verstandestätigkeit wechselseitig ausbildenden Prozeß zu finden, um große Gegenstände ganzheitlich erfassen zu können; sei es den Geschmack des Weines, ein Kunstwerk oder die menschliche Physiognomie. Uberall kommt es darauf an, möglichst viele dieser Tangenten auszubilden. So wie echten Weingeschmack nur derjenige erwirbt, der »um zu hohen Idealen der Vollkommenheit zu gelangen [...] lange die Keller besucht und fleißig geschmeckt« hat, kann Kunstgeschmack sich nur auf der Grundlage eines reichen Fundus' entsprechender Eindrücke entwickeln, die von Jugend an auf das Individuum einwirken. 124 Erziehung und Selbsterziehung sollten deshalb zielgerichtet 122 123
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SWIV, 97 f. Vgl.: ebd. Bd. VII, S. 15 ff, die Phantasie »Über das Kunstgefuhl. Von einem Weinhändler.« Vgl. dazu auch: Brigitte Lorenzen, S. 88 u. Friedrich Meinecke, S. 312 Vgl.: SW VII, 17 u. S. 18, wo es heißt: »Dieses bewiese der Italiener, der täglich gute Gebäude und Gemälde schauete und schöne Musik hörte; durch die Eindrücke, so er davon erhielte, gelangte er zu vielen und richtigen Tangenten, und es gienge ihm mit dem Geschmack in der Musik und der Baukunst wie mir mit dem Weine. Das Vergleichen und Entscheiden folge von selbst, sobald man vieles kenne und nebeneinander stelle; und es fehle nur da an Kunstgefuhl und Geschmack, wo man keine Gelegenheit hätte, sich Tangenten zu erwerben.«
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e i n e m E r f a h r u n g s p r o z e ß u n t e r w o r f e n w e r d e n , der v o m K o n k r e t e n u n d B e s o n deren zum Abstrakten u n d A l l g e m e i n e n f u h r t u n d nicht u m g e k e h r t . " ' D a ß M o s e r die D i s k u s s i o n u n d K r i t i k zu den F o r m e n des menschlichen E r kenntnis- u n d Beurteilungsvermögens nicht n u r a u f den ästhetischen oder philosophischen Bereich bezieht, m u ß als eine originäre Leistung angesehen w e r d e n . D e r M e n s c h e m p f i n d e t u n d handelt seiner A n s i c h t nach nicht n u r viel h ä u f i g e r nach Totaleindrücken, als m a n g e m e i n h i n a n n i m m t , er urteilt a u f g r u n d dieser E i n d r ü c k e zumeist auch richtiger; sei es i m Bereich des Arbeitslebens 1 1 , der Erziehung oder Rechtssprechung. 1 2 7 Insbesondere ist die richtige Beurteilung des M e n s c h e n - u n d hier bezieht sich M o s e r kritisch auf Lavaters 1 7 7 4 - 1 7 7 8 publizierte »Physiognomische F r a g m e n t e zur B e f ö r d e r u n g der M e n s c h e n k e n n t n i s u n d Menschenliebe« - v o n Totaleindrücken abhängig. S o läßt er seinen W e i n h ä n d l e r argumentieren: »Lavater hat auch Gründe angegeben, um die Physionomien zu erkennen und die guten von den schlechten zu unterscheiden. Aber beim Element, wann ich einem Kerl ins Gesicht schaue: so will ich tausendmal eher wissen, was der Knabe im Schilde führet, als alle diejenigen, so ihn nach den von jenem großen Meister angegebenen Gründen beurteilen. Ich habe mehr Menschengesichter gesehen, als ich Weine geschmecket habe, und die Eindrücke, so ich von ihnen behalten habe, dienen mir zu so viel Werkzeugen der Menschenerkenntnis. Mit allen diesen Werkzeugen berühre ich den Kerl auf einmal, mein ganzes Gefühl fließt um seine Form. Und idi drücke ihn damit so ab, das ich ihn habe, wie er dasteht, von innen und von außen; aber die Gründe davon klar zu denken, sie in einen dünnen elenden Faden auszuspinnen und andern mitzuteilen, daß verstehe ich so wenig, daß ich vielmehr glaube, es sei nicht möglich und unsre Sprache sei so wenig das Werkzeug, alle Empfindungen, die wir durch unsre fünf Sinne erhalten, auszudrücken, als die vier Species das Mittel sind, unendliche Größen zu berechnen. Hier gieng nun der Streit von neuem an; ich behauptete, daß einer, der des Menschen Gesicht in einem Hui mit zehntausend, obgleich unerklärbaren Tangenten berührte, richtiger davon urteilte, als ein andrer, der immer nur ein einzelnes Fühlhorn ausstrecken und dasjenige, was er dadurch empfände, deutlich beschreiben könnte. Und 115
116
"7
246
»[...] und daß es der Hauptfehler unsrer heutigen Erziehung sei, daß wir unsre Jugend früher zur Wissenschaft als zur Kunst anführen.« S W V I I , 19 So führt Moser einen Garnhändler an, der wie der Weinhändler die Weine, die Garne aufgrund langjähriger Erfahrung auf Anhieb zu unterscheiden weiß, die »Hand der Familie, welche es gesponnen hat« auf den ersten Blick erkennt. S W V, i n »Ein strenger Moralist wird niemals ein guter Minister werden, weil er immer sein Verhalten mehr nach abstrahierten Regeln als nach Totalbegriffen einrichten wird; und doch ziehen manche Fürsten bei Besetzung der Ministerialstellen den regelmäßig gelehrten dem praktischen Manne vor. Gewiß würden sie dadurch zu tausend Ungerechtigkeiten Gelegenheit geben, die jeder natürlicher Weise begeht, der nach seinem kurzen abstrakten Maßstab eine menschliche Handlung abmißt, wenn nicht zum Glück die mehrsten abgezogenen Regeln in dem Augenblick der Handlung und Entscheidung dem mächtigen Totaleindrucke weichen müßten. In den mehrsten Ländern werden die Verbrecher noch nach abstrahierten Gesetzen verdammt; aber in England erkennen zwölf Totaleindrücke über die konkrete Tat.« S W V I I , 29
hieraus zog idi sodann die Folge, daß es notwendig in allen Arten des Geschmacks darauf ankäme, wieviel einer Tangenten hätte und ob solcherichtigwären?«11* Weil Moser davon ausgeht, daß nicht nur »bey der Anatomie der Totaleindrücke [...] vieles von dem Eindrucke des Ganzen verloren« geht 119 , sondern auch die Wiedergabe dieses Ganzen einer Begrenzung durch Sprache unterliegt 130 , konzipiert er seine »Phantasien« mit der oben charakterisierten Offenheit zum Leser hin. 131 Jedem der immanent vollkommenen Aufsätze liegt ein Totaleindruck zugrunde, und in gewissem Sinn zielt er auch beim Leser auf einen solchen. Es fällt auf, daß Moser selbst in seinen in die Nähe literarisch-poetischer Darstellung rückenden Erzählungen niemals Landschaften, Farben oder ein Gesicht beschreibt. Stattdessen beschwört er in seinen Stücken mittels charakteristischer, individueller, sozusagen anekdotischer Vorgänge im oben bezeichneten Sinn jene Aura des Besonderen und Unverwechselbaren, an deren Zustandekommen die Phantasie des Lesers maßgeblich beteiligt wird. Insofern ist auch die Beschränkung des Thematischen in Mosers »Patriotischen Phantasien« auf das - wie er es bezeichnet - »Provinzialtheater« eine sehr bewußte Eingrenzung. Denn nur in der Provinz verfügt er über jene überschaubare Bühne, die sich mit den konkreten Gestalten seiner Erfahrung, mit im »Totaleindruck« erfaßten Charakteren und Vorgängen im Zusammenhang einer bestimmten und selbsterfahrenen Umwelt füllen läßt. 1 ' 2 Nur das kleine Land ermöglicht ihm die Kompositionstechnik eines Erzählens in lebendiger Vielheit und mannigfaltiger Form sowie die Ausbildung des Blickes für das Besondere in seiner ihm gemäßen Gestalt. Indem Moser bewußt provinziell sein will, gelingt ihm schließlich eine weitaus eindrucksvollere Allgemeingültigkeit und Universa-
129 1.0
1.1
132
SWVII, 17 f. Justus Moser. Briefe, S. 393 Vgl.: Justus Moser. Briefe, S. 365: »Indem ich dieses niederschreibe, fällt mir ein, daß unsre Worte und Gedanken nur bestimmte Zahlen oder Zeichen sind, die zum Ausdruck des unendlichen Total=Eindrucks, nach welchem wir handeln und empfinden, nicht hinreichen.« Ahnlich ebd., S. 379: »Es werden Resultate von Total=eindriicken erfordert, um Total=eindrücken zu widerstehen. Dazu gelangen wir blos durch Handeln und Erwerben, nicht durch Zählen und Wiegen und am wenigsten durch das Rechnen in bekannten Zahlen, wie unsre Wörter sind, wenn wir der unendlichen Größe des Total=eindrucks durch Regeln und Moral begegnen wollen.« Diese Offenheit, die auf Mitwirkung und -gestaltung des Lesers zielt, läßt an Sterne denken. Wie aus Lichtenbergs Tagebuchblättern übermittelt ist (Vgl.: Gesammelte Werke. Bd. 1, a.a.O., S. 1034), waren Moser Sternes Romane bestens vertraut, und es wäre eine eigene Untersuchung wert, den Einfluß dieser Sterne-Rezeption auf die Erzählhaltung und die Kompositionstechnik der »Patriotischen Phantasien« zu überprüfen. Weder bei Peter Michelsen (Vgl. a.a.O.) noch in der neueren Untersuchung von Alain Montandon finden sich Hinweise auf Moser. Vgl.: ders. La Reception de Laurence Sterne en Allemagne. Associaton des Publications de la Faculté des Lettres et Siences Humaines de Clermont-Ferrand (France), 1985 Vgl. dazu auch: Brigitte Lorenzen, S. 86 247
lität als jenen Wochenschriften, die letztere in bezug auf den Menschen zum Programm erheben, dabei aber über eine blasse, rationalistisch-absichtsvolle Konstruktion nur selten hinausgelangen. Im folgenden soll der strukturbildende Grundzug dieses Spiegeins des Allgemeinen im Besonderen anhand der von Moser in den »Phantasien«, aber auch in seinen literaturkritischen Schriften behandelten Themen Nation, Staat, Gesellschaft, Literatur, Kunst und Sprache dargestellt werden.
248
Kapitel II Spiegelungen des Allgemeinen und Nationalen im Besonderen und Provinziellen
II. ι.
Mosers Verständnis des Individuellen
Nicht nur Form, Gestaltung und Absicht der »Patriotischen Phantasien«, sondern auch eine ganze Reihe der in ihnen abgehandelten Themen sind durch Mosers Auseinandersetzung mit der Frage des »Individuellen« bzw. »Originalen« bestimmt. Dabei ist deutlich eine doppelte Perspektive zu erkennen: Einerseits werden spezifische Bedingungen der nationalen Kultur und Gesellschaft durch den Rückgriff auf die der Geschichtskonzeption zugrundeliegende, individualisierte Vertragslehre erklärt; zum anderen wird den durch den Zeitgeschmack bestimmten französischen Moden und Manieren ein der nationalen Mentalität und den örtlichen Gewohnheiten entsprechender individueller Geschmack kontrastiert. Ob es nun um Moden, gesellschaftliche Verhaltensformen, um die Lebensweise überhaupt oder um Kunst und Literatur geht, Moser versucht in allen Briefen, Dialogen, Anekdoten, Erzählungen und Abhandlungen, die sich mit dem Problem des Individuellen befassen, davon zu überzeugen, daß nur dasjenige wirklich gefallen könne, was der Umgebung und den Umständen seiner Entstehung angemessen sei. Dabei ist es fur sein pragmatisches Aufklärungsverständnis charakteristisch, daß er diese Individualitätsaufassung an keiner Stelle als geschlossene Theorie darbietet. Eine Theorie des Individuellen sucht man in seinem Werk vergeblich. Zwar ist ohne Zweifel auch Mosers Individualismuskonzeption theoretisch begründet - das läßt sich leicht an der Übernahme Montesquieuscher Theoreme nachweisen - , auf eine Reflexion dieser theoretischen Voraussetzungen wird jedoch weitgehend verzichtet. Dieser Verzicht auf Theorie erklärt sich - abgesehen von jener im letzten Kapitel dargestellten, besonderen Konzeption und Absicht der »Patriotischen Phantasien« - aus Mosers grundsätzlicher Einstellung zur Philosophie. Seinem Selbstverständnis als »Volksaufklärer« zufolge geht es ihm vor allem darum, jene bereits vom jungen Herder im Interesse einer Ausbildung der nationalen Kultur erhobene Forderung nach Vermittlung der Philosophie mit der Praxis zu erfüllen. Nach Herder genügt es nicht, wenn Philosophie die Welt zu erklären und zu beschreiben vermag, sondern diese sollte darüber hinaus, indem sie an den unmittelbaren Interessen und Realitätserfahrungen des gemeinen Volkes anknüpft, auch einen Beitrag zu ihrer Veränderung leisten. 249
»Freilich muß unsre Philosophie sich von den Sternen zu den Menschen herablassen; der abstrakte Theil muß fur sich unangetastet, unverstiimmelt bleiben, aber gibt's nicht ausser ihm eine Philosophie, die unmittelbar nützlich ist ftir das Volk: eine Weltweisheit des gesunden Verstandes. Ich muß zu dem Volk in seiner Sprache, in seiner Denkart, in seiner Sphäre reden, seine Sprache sind Sachen und nicht Worte; seine Denkart lebhaft, nicht deutlich, gewiß, nicht beweisend; seine Sphäre wirklicher Nutzen in Geschäften, Grundlagen zum Nutzen; oder lebhaftes Vergnügen. - Siehe! das muß die Philosophie thun, um eine Philosophie des gemeinen Volks zu seyn; wer erkennt unsre bei diesem Gemälde?«1
Im westeuropäischen Vergleich bleibt Deutschland nach Herder in dieser Hinsicht weit zurück. Denn während England »voll tiefsinniger Beobachter der Natur, voll Naturphilosophen, Staatskünstler, Mathematiker; Frankreich voll schöner Geister, voll Künstler, Staats- und Meßkundiger, voll Männer« ist, hat das »fleißige Deutschland« nur eine »einzige Nationalvollkommenheit«, nämlich die, »Weltweise« zu sein. »Für jeden, der deutsches Blut in Adern und einen deutschen philosophischen Geist hat«, sollte sich deshalb die Aufgabe stellen, »dies patriotische Thema zu entwickeln, zu zeigen, wie sich denn die Philosophie mit der Staatslehre, der Größenlehre, den schönen Wissenschaften stehe, um jener und ihrem Range nichts zu vergeben.«2 Auf der einen Seite wird also eine unbestreitbare philosophische Kompetenz der deutschen Gelehrten konstatiert, auf der anderen ihre problematishe Praxisferne beklagt, die es zu überwinden gilt, ohne das erreichte philosophische Niveau zu gefährden. Für Moser stellt sich dieses Problem zunächst als ein sprachliches. In der Erzählung »Die verfeinerten Begriffe«3 veranschaulicht er anhand des Dialoges zwischen dem Erzähler, einem Müller und einem Pfarrer die verfehlte Wirkung eines den Bildungshorizont des Angesprochenen außer acht lassenden Sprechens. Bezeichnenderweise ist es zunächst der Müller, der einfache Mann aus dem Volk, der Fachbegriffe seiner Berufspraxis gebraucht, die seinen beiden Gesprächspartnern völlig unverständlich sind. Dies veranlaßt sie zu einer kritischen Reflexion ihres eigenen Sprachgebrauchs und gewährt ihnen die Einsicht, daß das, was für die Rede des Müllers galt, auch auf den philosophischen Diskurs zutrifft. Beide Sprechweisen sind innerhalb einer Fachwelt durchaus am Platze, richten aber außerhalb derselben Verwirrungen an. Die diesbezügliche Argumentation gleicht einem Kommentar zu der oben zitierten Feststellung Herders. ' J . G . Herder zum »Problem: wie die Philosophie zum Besten des Volkes allgemeiner und nützlicher werden kann«. Diese Frage der patriotischen Gesellschaft zu Bern, gestellt im 16. Teil der »Litteraturbriefe«, S. 139, veranlaßte Herder zu der obigen Stellungnahme. Vgl.: Herders Sämmtliche Werke. (Suphan). Bd. 32/33, S. 49 u. 533 f. Vgl. dazu auch: Volkmar Braunbehrens. Nationalbildung und Nationalliteratur. Zur Rezeption der Literatur des 17. Jahrhunderts von Gottsched bis Gervinus. Berlin 1974, S. 49 2 J . G . Herder. Wie kann die Philosophie mit der Menschheit und Politik versöhnt werden, so daß sie ihr auch wirklich dient? Sämmtliche Werke. (Suphan). Bd. 32/33,
S. 34 ' S W V I , 220 ff.
250
»Aber mich dünkt, die wenigsten unter den Schriftstellern, welche jetzt für das Publikum schreiben, beweisen diese Mäßigung. Auch die besten unter ihnen schreiben nicht mehr vor das gemeine Auge, ihre Worte sind nach ihrer zu scharfen Einsicht gestimmt, ihre Begriffe sind zu tief aus der Sache geschöpft, sie beziehen sich auf Verhältnisse, die nur den Baumeistern bekannt sind, und es kömmt mir oft so vor, als wenn sie durch ein Vergrößerungsglas arbeiteten und die Dinge in einem ganz andern Lichte, in einem so außerordentlichen Verhältnisse sähen, worin sie sonst niemand erblickt. Man kann doch, wenn man sich unterrichten, erbauen und vergnügen will, nicht immer auch sein Vergrößerungsglas vor sich haben oder, wenn man krank ist, den feinen Zergliederer dem nützlichen Arzt vorziehen. Die natürliche Folge jenes Verfahrens ist, daß sie auch ihre Empfindungen erhöhen und da jauchzen oder heulen, wo ein andrer ehrlicher Mann, der das nicht siehet, was sie sehen, ganz gleichgültig bleibt. Ja, ich kenne ihrer viele, die durch die neuentdeckten Ähnlichkeiten und Verhältnisse in dem Unendlichen der Natur in eine für den gemeinen Leser ganz unbegreifliche Schwärmerei versetzt werden. Die Wissenschaft sollte meiner Meinung nach für den Meister und die Frucht derselben fur das allgemeine Beste sein.«4
Daß sich Mosers theoriekritischen Äußerungen auch in den »Phantasien« - wo sie gehäuft: auftreten - nicht gegen die Theorie als solche richten, sondern nur gegen jene Theoretiker, deren »idealischen Fanale« im oben bezeichneten Sinn so »hoch« stehen, »daß kein Steuermann solche entdecken und sich darnach richten kann«5, ist in der Forschung häufig übersehen worden. Noch in seiner Auseinandersetzung »Über Theorie und Praxis« mit Kant in den neunziger Jahren räumt Moser ein, daß »jeder Erfahrene [...] unstreitig eine Theorie zugrunde« legt und bestreitet zugleich, daß »ein vernünftiger Empiriker [... ] jemals die Theorie selbst verachtet oder auch nur einen Augenblick daran gezweifelt haben« könnte, »daß dasjenige, was in der Theorie richtig ist, in der Anwendung auf die Praxis gewiß auch nicht fehlschlagen könne.«6 Dieser Prämisse zufolge geht es Moser in erster Linie um eine veranschaulichende Umsetzung des theoretisch erkannten »National-Individuellen« in die gesellschaftliche Praxis. Aufgrund dieses Gesellschaftsbezuges unterscheidet sich der von ihm erhobene Individualitätsanspruch grundlegend von jener durch den Pietismus inaugurierten »geisterfiillten« Innerlichkeit, die es dem Individuum nur mit einer gewissen Superiorität gegenüber der Legitimität oder Legalität der Gesellschaft und ihrer Institutionen, in einer Art mystischen Identifikation mit dem göttlichen Geist ermöglicht, sich selbst zu bewahren.7 Der durch Mystik und Pietismus in Gang gesetzte Durchbruch individuellen Denkens im 18. Jahrhundert geht in eine ganz andere Richtung. Mit der hier maßgeblichen Norm des Geistes und der Innerlichkeit wird ein Prinzip der Abstraktheit etabliert, das mit Mosers ganz konkreten Individualitätsvorstellungen völlig inkompatibel ist. Da für ihn 4 5 6 7
S W V I , 222 S W X , 143 f. S W X , 149 Vgl. dazu: Richard Brinkmann. Zur Genese des modernen Individualitätsbegriffes. Goethes »Werther« und Gottfried Arnolds »Kirchen- und Ketzerhistorie.« In: Wirklichkeiten. Essays zur Literatur. Tübingen 1982, S. 105 251
der Mensch in seiner soziologischen Gebundenheit das Maß aller Dinge ist, kann sich das Individuelle nur in einem Allgemeinen, das notwendig immer den Charakter des Äußerlichen und Institutionellen hat, realisieren. Moser fehlt - ungeachtet der zahlreichen Bezüge auf die Macht des menschlichen Herzens und die schöpferische Kraft der Leidenschaften - ein wirklicher Sinn fur die inneren Krisen des Menschen. Individualität, das bedeutet fur ihn vor allem, sich für die besondere Eigenart geschichtlicher Konstellationen, landschaftlicher Gegebenheiten und sozialer Gruppen einzusetzen und in ihrem Interesse allgemeine Norm- und Wertvorstellungen zu relativieren. Die Entwicklungsperspektive der historischindividuellen Geschichtskonzeption wird nicht auf den Menschen selbst, auf sein Inneres übertragen. Mosers Interesse am Individuellen zielt auf die Versöhnung von privater und öffentlicher Existenz, auf eine Uberwindung der Trennung von Individuum, Gesellschaft und Staat. Auch die Religion hat fur ihn nur im Hinblick auf ihre gesellschafts- und staatserhaltende Funktion wirkliche Bedeutung. 8 Wie sehr sich Moser einem »öffentlichen« Bewußtsein verpflichtet fühlt, wird vor allem dann offenbar, wenn man nach der privaten Dimension seiner Existenz, nach dem »eigentlichen« Moser fragt. Weder in seinen Werken noch in seiner Korrespondenz tritt dieser deutlich in Erscheinung. Bezeichnenderweise existiert - von dem kleinen fragmentarischen Entwurf einer Lebensbeschreibung abgesehen9 - kaum autobiographisches Material, das diesbezüglich befriedigende Aufschlüsse geben könnte. Moser selbst spricht über seine Unfähigkeit, Persönliches und Privates zu offenbaren. In allen seinen Äußerungen behält die selbstgewählte Rolle des gesellschaftlichen Menschen, die eine permanente und weitgehende Anpassung an die Bedingungen der ihn umgebenden Umwelt verlangt, das Übergewicht.10 Existenzielle, innere Konflikte - so hat es den Anschein - gab 8
In diesem Sinne versucht Moser im »Schreiben an den Herrn Vicar von Savoyen, abzugeben bei dem Herrn Johann Jacob Rousseau« (SW III, 15) gegen die Vorstellung einer natürlichen, nur dem menschlichen Gewissen verpflichteten Religiosität, die Notwendigkeit einer geoffenbarten Religion für jede bürgerliche Gesellschaft nachzuweisen. Im Interesse dieser bürgerlichen Gesellschaft darf nach Moser »keine Religion auf bloßen Vernunftschlüssen beruhen [...] Denn dieses kann nicht geschehen, ohne eines jeden Menschen Vernunft zum Richter zu machen.« (S. 28) Insofern Rousseaus »natürliche« Religion »der Absicht der bürgerlichen Gesellschaft widerspricht, ist sie fur Moser eine »ärgerliche Wahrheit«. Vgl. zu dieser Frage auch: S W III, 105 f. u. 125 f., Bd. IX, S. 212 u. 220 und: Justus Moser. Briefe, S. 171. Vgl. dazu auch: Giesela Wagner. Justus Mosers Verhältnis zu Kirche und Christentum. In: Osnabrücker Mitteilungen. Bd. 89. 1983, S. 122-138
9
Vgl. dazu die »Beilagen« 1 und 2 in: Abeken. Sämmtliche Werke. ZehnterTheil, S. 87 f. Beilage 1 ist unter der Rubrik »Zum eigenen Leben« in der Historisch-kritischen Ausgabe Bd. X, S. 239 f. wiederabgedruckt. Vgl.: ebd., Moser über sein »Nervenleiden«, S. 244 ff. Vgl. dazu auch: Justus Moser. Briefe, S. 359, 367, 391 u. 399 f. In dem besagten Entwurf einer Lebensbeschreibung heißt es: »Es scheint vielen Männern sehr leicht geworden zu sein, ihr eignes Leben zu beschreiben; mir aber wird es schwer [...], weil ich die Aufrichtigkeit in allen liebe und, da ich von mir selbst reden soll, solche nicht allemal beachten kann.« S W X, 239
252
es in Mosers Leben nicht. Anläßlich seines fünfzigjährigen Amtsjubiläums schreibt er an seinen Freund Nicolai - rückblickend auf ein anstregendes und ausgefülltes berufliches Leben - , er müsse aufrichtig bekennen, daß ihn »vieles erfreuet, wenig betrübt und nichts gekränkt habe«." Angesichts dieses Verbergens der individuellen Existenz hinter der gesellschaftlichen Rolle versteht es sich fast von selbst, daß Ansätze zu einer MöserBiographie den Kontext des Gesellschaftlichen, mithin die Verhältnisse des Osnabrücker Kleinstaaates ins Zentrum stellen." Mosers in den »Patriotischen Phantasien« vorgestellte Bildung des Individuellen läßt sich demnach zunächst als eine, jede moralisierende Tendenz vermeidende Erziehung zum Gesellschaftlichen treffend beschreiben. Bereits in der Schrift »Der Wert wohlgewogener Neigungen und Leidenschaften« hatte Moser die »Liebe zur Gesellschaft« als etwas genuin Menschliches charakterisiert.13 In einer Rezension14 wird die Unterscheidung zwischen Mensch und Bürger - auf die Moser sich, wie gezeigt werden konnte, häufig bezieht - als eine zwar in der Theorie mögliche, aber in die Praxis nicht umsetzbare Trennung bezeichnet. »Der individuelle Mensch, und der Genösse steckt mit dem Bürger in einer Haut, und läßt sich in abstracto ganz gut, aber in concreto niemals trennen.«'5
Die »Patriotischen Phantasien« erteilen dieser Prämisse zufolge dem Menschen als Individuum und Bürger Anschauungsunterricht in der Kunst gesellschaftlichen Verhaltens. Dabei läßt Moser sein Publikum keinen Augenblick darüber im Zweifel, daß die Orientierungsnormen für Gesellschaftlichkeit in einer Nation, die weder über einen glanzvollen Hof noch über eine große Metropole verfügt, notwendig provinziell sind und gibt zugleich zu verstehen, wie wichtig die individuelle Ausbildung dieser provinziellen Gesellschaftskultur fur die Entwicklung der nationalen Kultur ist. Zunächst geht es ihm vor allem darum, jene Steifheit, Gezwungenheit und Langeweile16 aus dem gesellschaftlichen Umgangston zu verbannen, die er in einem ursächlichen Zusammenhang mit der unangemessenen Nachahmung ausländi" Justus Moser. Briefe, S. 411. Bezeichnend fur Mosers Zurückhaltung der privaten, ihn ganz persönlich betreffenden Angelegenheiten ist die Mitteilung des Todes seines einzigen Sohnes an Nicolai am 3. Nov. 1773. Selbst diesem vertrauten Freund gegenüber hält er an der in der Todesanzeige angegebenen Version, sein Sohn sei an einer Masernerkrankung gestorben, fest. In Wirklichkeit fand Ernst Justus Moser - im Alter von 20 Jahren - in einem Duell zu Göttingen den Tod. Vgl.: Justus Moser. Briefe, S. 259; vgl. dazu auch: Ludwig Bäte, S. 51 12 So bereits Ludwig Bäte und zuletzt wieder Jonathan B. Knudsen. " SW II, 243 14 »Teutsches geistliches Staatsrecht abgeteilt in Reichs- und Landrecht, von Johan Christian Mayer beider Rechten Doktor und der Weltweisheit öffentlichem Lehrer zu Jena« (1772). S W i l l , 256 f. " SW III, 260 * Vgl.: SW V, 210 2-53
scher - und hier insbesondere französischer - Verhaltensweisen sieht. Doch die Ablehnung dieser Nachahmung bedeutet nicht, daß zugleich die gesellschaftliche Rollenexistenz als solche in Frage gestellt wird. Im Gegenteil, Moser unternimmt alles, um seine Leser von der Notwendigkeit eines gesellschaftlichen Rollenspiels zu überzeugen. Nur kommt es ihm darauf an, daß die »richtigen«, d.h. die den individuellen Besonderheiten der Provinzkultur angemessenen Rollen gespielt werden. Dieses Rollenspiel erfordert zwar im Interesse der Rolle eine weitgehende Subordination persönlicher Empfindungen und verlangt dem einzelnen psychologisches Gespür für Situationen und Personen ab, nicht aber die Nivellierung individueller Eigenart oder den gänzlichen Verzicht auf »Natürlichkeit«. Gemäß dem »Rat einer guten Tante an ihre junge Niece« gelingt keine Rolle besser, als »diejenige, wozu man von Natur aufgelegt ist.«17 Allerdings kann durch die verwandelnde Kraft der Rolle auch ein anfänglich künstliches in natürliches Verhalten übergehen - vorausgesetzt, die Rolle steht in einem angemessenen Verhältnis zu Personen und Umständen. »Es war, als wenn sich auf einmal ein ganz neuer Geist unser bemeistert hätte, und was erst bloß Rolle war, hatte sich dergestalt in Natur verwandelt, daß wir würklich alles dasjenige fühlten, was wir anfangs nur spielen wollten.« 1 '
Die Gewinnung eines Vergnügens, dessen Quelle nicht die tändelnden Tugenden der Rokokogesellschaft, sondern »redliche Freuden« sind 1 ', ist nach Moser das erste Ziel des gesellschaftlichen Rollenspieles. Damit diese »redliche« Freude aufkommen kann, ist die Kunst zu erlernen, geringe und wenig beachtete Personen so in das gesellige Gespräch einzubeziehen, daß sie sich in ihrem Wert erhoben fühlen können. 20 Spiel und Rolle sollten dementsprechend im gesellschaftlichen Umgang nicht der Festschreibung, sondern der Nivellierung von Standesgrenzen dienen. Moser verweist hier auf kulturelle »Verbindungen« der nationalen Vergangenheit - wie zum Beispiel »den alten Geckorden« - und erklärt ihren »Geist« in einem seinen Zielvorstellungen entsprechenden Sinn. »Der Geist des Geckenordens war unstreitig, daß der Herzog sogleich seine Durchlauckt, der Graf seine Exzellenz und der Ritter seine Gnade, um in dem heutigen Stil zu sprechen, verbannete, alle sich in Brüder von gleichen Kappen verwandelten und nun keine steife Verbeugung, keine untertänigste Ehrfurcht, keine gnädigste Erlaubnis, diese schrecklichen Feinde aller guten Freunde, sich, ohne lächerlich zu werden, sehen lassen durfte. Die vollkommenste Freiheit, so wie sie ausgesuchte Leute zu gebrauchen wissen, war notwendig damit verknüpft.«11
Dieses Einlassen auf Spiel und Rolle erfordert - so wird im »Schreiben einer Dame an ihren hitzigen Freund« deutlich - eine »Manier des Vortrages«, die zwar 17
S W V , 198 " S W V , 206 " Vgl.: S W V , 208 20 Vgl.: S W V I I , 67 21 S W V , 209
254
lebendig und unterhaltend, niemals aber selbstgerecht wirken sollte." In diesem Fall wird die Berufung auf Individualität entschieden zurückgewiesen. Daß z.B. »polternde Hitze ein Naturfehler sei, den man übersehen müsse«, läßt die Dame des oben zitierten Schreibens als Entschuldigung ftir die Verletzung der Rolle durchaus nicht gelten.2' Abeken berichtet, daß Moser selbst die Kunst, eine provinzielle Gesellschaft, die sich durch nichts als durch das »Besprechen häuslicher und bürgerlicher Angelegenheiten« auszeichnete, geistreich zu unterhalten, vorzüglich verstand. Weiß er doch von einer »osnabrückischen Matrone von altem Schlag« zu erzählen, die sich begeistert an »ein Gastmahl« erinnerte, »bei weldiem Moser die Gesellschaft unterhielt, und die Empfänglichen ahnden ließ, was eine Gesellschaft sein könne.« 24 Aber auch ein so berufener Zeitgenosse wie Lichtenberg bezeugt Mosers diesbezügliches Talent. »Die große und untrügliche Kunst, sich in Gesellschaft allgemein lieben, ja selbst verehren zu machen, ist sicherlich nicht die, eigenen Witz, Verstand und Kenntnisse an den Tag zu legen, sondern: ohne Zudringlichkeit und, als brächte es die Natur und Unterredung so mit sich, jedem der Gegenwärtigen womöglich Gelegenheit zu geben, zu zeigen, daß er Witz oder Verstand oder Kenntnisse besitze. Jedem nach seiner Art. Wenn doch dies beherziget würde, was würde nicht aus den Gesellschaften werden? Diese große, aber freilich etwas seltene Gabe, die immer in dem Subjekte Menschenliebe und Weltkenntnis und überdies bescheidenes Gefühl von einem anerkannten Wert voraussetzt, wird nicht leicht jemand in einem höheren Grade besitzen können, als sie unser unsterblicher Moser besessen hat. Wahrlich sagte einmal ein Mann von Geist zu uns, wenn man mit Mosern oft in Gesellschaft kommt, so fängt man an zu glauben, man wisse etwas und sei etwas.«15 Als letztes Zeugnis dafür, daß Moser in den »Patriotischen Phantasien« ein Ideal von Geselligkeit propagiert, das er selbst lebte, sei die wenige Jahre nach seinem Tod (1798) erschienene Schrift »Ueber Moser und dessen Verdienste um's Vaterland« von Winold Stühle angeführt. Stühle schreibt: »Moser war mein Freund [...] Sein Haus stand jedem offen, jeder fand ihn in seinem Studierzimmer neben der Wohnstube seiner eben so menschenfreundlichen Gattin gewöhnlich am Schreibtische. Kein stolzer, verlegener, finsterer, in wichtige Staatsgeheimnisse gehüllter Blick kontrastierte hier mit der frohen Erwartung und zutraulichen Hoffnung des Sollicitanten: So wie alles im Möserschen Hause einem heiteren Frühlingsmorgen glich; so heiter war es auch immer um den geschäftigen Moser, wenn er ftir das Wohl seines Vaterlandes arbeitete, und Werke schrieb, die ganz Deutschland bewundert. Keine Art von Arbeit, kein widriges Ereigniß, selbst nicht die Schmerzen seiner allzusehr reizbaren Nerven, woran er öfterts litt, war vermögend, seinen hellen, offenen Blick zu verfinstern. Er empfing damit jeden, der ihn besuchte, ließ sich wol bey solchen Besuchen, deren unbedeutende Absicht er ahnden konnte, aber niemals vor 22 23 24 25
SW VII, 56; vgl. auch: ebd. Bd. IX, S. 134 u. 154 Vgl.: S W V I I , 54 B.R. Abeken. Sämmtliche Werke. Erster Theil, S. 57 G.Chr. Lichtenberg. Gesammelte Werke. Bd. II, S. 424
*55
dem sogenannten gemeinen Manne, dem steuerbaren Landmanne verleugnen, Körte jeden mit Aufmerksamkeit an, unterrichtete jeden in der sanften ruhigen Gemüthsverfassung, die ihm bis zum Ende ganz eigen blieb, und erfüllte gewiß und sobald er nur konnte, dasjenige, was er versprach. Auch seine Erholungsstunden waren die lehrreiche Schule des gesellschaftlichen Umgangs. Man sah ihn nur selten in den Zirkeln der Großen, er liebte das Natürliche, Ungezwungene, und war in Gesellschaft rechtschaffener Bürger kein geheimnisvoller, bedeutender Staatsmann, kein isolierter Gelehrter, sondern der wahre, theilnehmende Mitbürger.« 16
Die »Patriotischen Phantasien« sind auf der Grundlage dieses bürgernahen Selbstverständnisse Mosers geschrieben. Weil er davon ausgeht, daß jeder einzelne die Gesellschaft braucht und in allen seinen Handlungen elementar von ihr bestimmt wird 27 , beurteilt Moser individuelles Verhalten immer im Kontext von Gesellschaft und Öffentlichkeit. Er fordert aber auch die individualistische Entgegensetzung zur Gesellschaft, wenn das Individuum zu der Erkenntnis gelangt, daß jene in ihrem Verhalten durch falsche Leitbilder bestimmt wird. Individualität in diesem Sinne bedeutet vor allem Mut zu einer Originalität, die ihren Maßstab aus dem selbständigen Urteil des mündigen Menschen bezieht. Dieses Urteil sollte sowohl auf Vernunft als auch auf Erfahrungen gegründet sein und insbesondere auf solche Erfahrungen, die sich zurückfuhren lassen auf die historisch verbürgten Lebensgewohnheiten und die individuelle Mentalität einer jeweils besonderen Umwelt. In Paris, der vielbewunderten Metropole des guten Geschmacks, läßt Moser in einer seiner »Phantasien« einen Reisenden aus der deutschen Provinz die Erfahrung machen, daß es »allezeit sicherer« ist, »Original als Kopei zu sein.«28 Sein Entschluß, »sich selbst getreu zu bleiben« und damit die offiziellen Normen des französischen Geschmackes zu durchbrechen, wird von der schönsten Dame der glanzvollen Pariser Gesellschaft, in die er sich begeben hat, mit folgenden Worten honoriert: »Es ist doch kein abgeschmackter Ding in der Welt als ein junger Pariser. Er hat die Vernunft einzusehen, daß er selbst das lächerlichste Original sei, und will doch, daß Fremde sich nach ihm bilden sollen. Er ist stolz genug zu glauben, daß seine Narrheit unnachahmlich sei; allein um das boshafte Vergnügen zu haben, sich gegen einige Kopeien halten zu können, beredet er andre zur Nachahmung, welche, wenn sie seine Vorzüge erreichen könnten, ihn rasend machen würden. Er glaubt zu gefallen, wenn wir ihn zur Puppe erniedrigen und seinen Anzug in eben der Absicht loben, womit wir unserm Schoßhündgen die Ohren zerren. Sie mein Herr [...] werden hoffentlich dem bessern Teil unsrer Nation die Ehre erweisen und sich dadurch nicht irren lassen. Wenn Sie einige besondre Torheiten aus Ihrem Vaterlande mitgebracht haben: so gönnen Sie 26
27
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W. Stühle. Ueber Moser und dessen Verdienste um's Vaterland, nebst verschiedener Bemerkungen über Staatsverfassung. Osnabrück 1798, S. 13 f. So auch die Vaterlandsliebe, vgl. dazu die Phantasie »Was ist die Liebe zum Vaterland?« S W V I I , 73 f. S W V , 190 ff.
uns das Vergnügen, den Kontrast zu bemerken, und sein versichert, daß wir auch unter demselben Verdienste zu erkennen wissen.« 2 '
Dieses Erlebnis des deutschen Reisenden in der französischen Metropole wird von Moser in der für seine Sprechweise typischen, humorvoll ironisierenden, jeden moralisierenden Ton vermeidenden Art und Weise erzählt. Dahinter steht die Uberzeugung, daß es derartiger Beispiele bedarf, »um die stille Größe zu erheben und die prächtigen Toren von dem Thron ihrer Einbildung zu stürzen.«50 Die Erfahrung dieses Reisenden, daß die Gefahr, lächerlich zu wirken, dort am größten ist, wo man, um Spott zu vermeiden, Eigenes sichtlich zu überdecken versucht, wird in den »Phantasien« auf die mannigfaltigste Weise ins Bild gebracht. Kann doch der Satz, »Die mehrsten machen sich lächerlich aus Furcht, lächerlich zu werden«'1, an den Verhaltensweisen der deutschen Provinzgesellschaft erst recht exemplizifiert werden. Denn hier trifft die Beobachtung, daß natürliche Veranlagung, Stand und Umgebung zu der Nachahmung französischer Verhaltensmuster in einem unangemessenen Verhältnis stehen und deshalb »lächerlich« wirken, im besonderen zu. Nur jene Persönlichkeiten, die den Mut aufbringen, ihren individuellen Empfindungen und Verhältnissen entsprechend »sich selbst zum Original zu bilden«'2, können erfahren, daß es weit »schmeichelhafter« ist, »Exempel zu geben, als Exempel zu nehmen.«" Doch auch dem Originalitätsstreben setzt Moser Schranken. Die diesem Thema verpflichteten »Phantasien« bringen klar zum Ausdruck, daß die oben bezeichnete Vorbildfunktion nur dann gewährleistet ist, wenn der Originalitätsanspruch nicht vor dem Hintergrund exzentrischer Profilierungswünsche, sondern auf der Grundlage einer maßvollen und mündigen Urteilsfindung erhoben wird. »Unser eigenes Urteil soll die Entscheidung verrichten; wir wollen nicht strenge, aber auch keine solche Kinder sein, die sich von jedem Toren am Gängelbändgen leiten lassen.«'4
Das »Unspektakuläre« der auf diese Weise gewonnenen Originalität wird im »Schreiben eines reisenden Gasconiers an den Herrn Schulmeister«" wie auch »Im Schreiben eines reisenden Franzosen an seinen Wirt in Westfalen«'6 anhand einer amüsant-ironischen Schilderung deutscher Provinzialität aus französischer Perspektive vor Augen gefuhrt. Der reisende Gasconier sucht in der ganzen Provinz Westfalen vergeblich nach »Originalnarren« bzw. »besondre(n) lächerliche(n) " S W V , 193 30 S W V, 191 " S W V , 196 S W V , 196 " S W V , 197 i4 S W V, 197 35 S W IV, 208 ff. 36 S W V , 187 ff. 257
Charakteren«, die ihm Vorbild und Anregung für seine Komödien sein könnten.' 7 Dabei erweist er sich als verwöhnter, durch das Leben in Paris überdrüssig gewordener Exzentriker, dem alles, was ihm in der deutschen Provinz begegnet, langweilig und eintönig erscheinen muß. Denn fiir das Natürliche, Einfache und von daher wirklich Originale der einheimischen Sitten ist ihm der Sinn völlig abhanden gekommen. W i e immer in derartigen Stücken enthält sich Moser jeder Bewertung des dargestellten Betragens, läßt den Sprechenden durch die Art und Weise seines Sprechens sich selbst entlarven. So in der Klage über die »Eintönigkeit« in der deutschen Provinz: »Anfangs glaubte ich, der Fehler dieser Einförmigkeit wäre bloß den gemeinen Leuten in Ihrem Lande eigen, und ich hoffte noch immer, unter den Vornehmen oder doch wenigstens unter den Damen etwas zu finden, was sich in meine Sammlung von seltenen Tieren schicken würde. Allein, auch hier schlug meine Vermutung fehl. Ich traf einen vornehmen Edelmann an, der mit seinen Leibeignen als mit vernünftigen Menschen umgieng; der ihre Bedürfnisse fühlte; ihnen mit Rat an die Hand gieng; ' ihnen in der Not Vorschuß tat und sich um ihr ganzes Hauswesen mit einer väterlichen Sorgfalt bekümmerte. Die Frau vom Hause verließ mich mitten in einer interessanten Erzählung, um mit einer armen Frau zu sprechen. Und was ich beinahe fur etwas Originales gehalten hätte: so gieng das gnädige Fräulein aus dem Zimmer in den Keller, um den Wein auszulangen; ohnerachtet ich ihr eben eine neumodische Karikaturhaube vorzeichnete.«'8
Ahnliche Erlebnisse beschreibt jener andere französische Reisende in dem Brief an den westfälischen Wirt. Auch er ist unfähig zu begreifen, »wie es sich in einem solchen Lande leben läßt, wo die Leute nichts tun als arbeiten, essen, schlafen und sich wohl befinden. Wo man keinen König zu bedauren, keinen Minister zu verfluchen, keine Gräfin zu kreuzigen, keine Kommis zu spießen, keine Verordnungen zu verspotten, keine Freunde zu stürzen, keine Großen zu hassen, keine Parteien zu erheben und keine Krankheiten zu erzählen hat.« 39 Mit dieser Kritik und Verachtung provinzieller Lebensumstände aus französischer Sicht verfolgt Moser ein doppeltes Ziel. Einmal läßt sie die französische Gesellschaftskultur als eine oberflächliche, von Hofintrigen und Moden bestimmte Kultur erscheinen, zum anderen werden gerade durch diese Kritik die provinziellen Verhältnisse in Deutschland idealisiert. Denn jene Verhaltensweisen, die den Spott des Franzosen herausfordern - das einfache Leben, der »Hang zum Vernünftigen und Nützlichen« 40 , die patriarchalische Fürsorge der Obrigkeit usw. - kann der Leser als die ihm vertrauten und im Grunde audi wertvolleren erkennen. Dabei verläßt sich Moser ohne Zweifel auf die Wirkung Rousseaus. Vor dem Hintergrund der Rousseauschen Zivilisationskritik verlieren die Bemerkungen über provinzielle Rückständigkeit - »so entfernt seid ihr noch von den 37
S W I V , 208 S W IV, 208 f. " S W V , 190 40 S W V , 188 38
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herrlichen Kunsttrieben und Kunsttugenden, die sich doch zu den natürlichen wie eine Pastete von La Boulaye zu euren großen Bohnen verhalten« 4 ' - ihren diskriminierenden Charakter und provozieren eine ganz neue Wertschätzung des Verspotteten. In weiteren Stücken der »Phantasien« wird diese positive Bewertung der »provinziellen Lebensart« verstärkt, indem der Partikularismus als wesentliche Voraussetzung einer innovativen Nationalkultur erscheint.42 Jedem »Städtgen seine besondre politische Verfassung« 43 und Rechtssprechung, seine Sitten und seine Sprache zu belassen 44 , bedeutet demnach fur die Nation, sich nicht nur mit ihren historisch gewachsenen Strukturen, sondern auch mit einem Naturprinzip - dem Prinzip der Mannigfaltigkeit - im Einklang zu befinden. Ist doch bereits durch den »Ruhm der vielen kleinen griechischen Republiken« bezeugt, daß sich Einrichtungen, die die nationalen »Kräfte zu einer außerordentlichen Größe« bringen, »im Großen gar nicht machen« lassen, sondern »bloß das glückliche Spiel kleiner Städte oder Kotterien« sind. 45 Darüber hinaus kann Mosers Auffassung zufolge das, was einem reisenden Franzosen, dessen Wahrnehmungsmuster von der Metropole Paris vorgeprägt sind, notwendig verborgen bleiben muß, nämlich »auf jeder Station gleichsam eine besondere Art von Menschen zu sehen«, den unvoreingenommenen Reisenden durch die deutschen Provinzen nur begeistern. »Wieviele Philosophen«, so fragt er, »würden nicht reisen, um das mannigfaltigste Kunstwerk, den Menschen in seinen je besonderen Verhältnissen zu studieren?« 46 Insofern es auf der Grundlage derartiger Erfahrungen beruht, ist ein philosophisches Urteil für Moser durchaus akzeptabel. Seine Einwände gegen die Philosophie der Aufklärung reduzieren sich dementsprechend auf den immer wiederkehrenden Vorwurf der Verallgemeinerung als dem Grundwidersprudi zur Natur. »Die Aufklärung ebnet alles und raubt der Natur ihre Mannigfaltigkeit.« 47
Moser trifft diese Feststellung wiederholt im Rückbezug auf vergangene Epochen. Solange Nationen »in ihrem Plan alles, was ihnen die Natur gegeben, auf das schärfste genutzt« und »bloß von ihren Bedürfnissen geleitet, nach der Richtung arbeiteten, welche zu ihrem Ziele führte«, befanden sie sich auf einem Weg, der zu Größe und Ruhm führte. 48 Seit jedoch »allgemeine Religionen, Sittenlehren 41
S W V , 188 S W X , 284 4J S W V I , 64 ff. 44 Vgl.: S W I X , 344; Bd. V, S. 14, 26 u. 157 4 ' S W V I , 65 u. 68 4i S W V I , 68 47 S W X , 289 48 S W V I , 65 42
2
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und Systeme diese eigenen Falten jeder besondern Völkerschaft« glätteten und die »Art der Menschen zu denken und zu handeln einförmiger« machten, seit »die allgemeine Menschenliebe und die große Nationalehre die besondre Ehre jedes Städtgens« überlagerte, steht die Entwicklung unter negativen Vorzeichen.49 Von den »einförmigen philosophischen Theorien« droht Gefahr, weil sie »das ganze menschliche Geschlecht immer einförmiger machen, ihm seine wahre Stärke rauben und in den Werken der Natur wie in den Werken der Kunst manches Genie ersticken.«50 Durch den »Hang zu allgemeinen Gesetzen und Verordnungen« gefährdet man nicht nur die »gemeine Freiheit«, sondern entfernt sich immer weiter »von dem wahren Plan der Natur, die ihren Reichtum in der Mannigfaltigkeit zeigt.«'1 In der Erzählung »Die Spinnstube, eine osnabrückische Geschichte«, gibt Moser dieser Argumentation für die Pflege und den Fortbestand provinzieller Besonderheiten Gewicht, indem er sich auf Homer beruft. »Wodurch aber war Homer ein solcher Maler geworden? Wahrlich nicht dadurch, daß er alles in einen prächtigen aber einförmigen Modeton gestimmt und sich in eine einzige Art von Nasen verliebt! Nein, er hatte zu seiner Zeit die Natur überall, wo er sie angetroffen, studiert. Er war auch unterweilen in die Dorfschenke gegangen, und der schönste Ton seines ganzen Werks ist dieser, daß er die Mannigfaltigkeit der Natur in ihrer wirklichen und wahren Größe schildert und durch übertriebene Vergrößerungen oder Verschwörungen sich nicht in Gefahr setzt, statt hundert Helden nur einen zu behalten.«51
Deutlich klingt hier an, daß fur Moser das Ja zur Provinz auch das unverkrampfte Miteinanderumgehen der Stände untereinander beinhaltet. Im Anschluß an die Charakterisierung Homers wird darauf verwiesen, daß es ein Fehler sei, »die edle Einfalt als etwa Niedriges« zu betrachten oder »sich seines braunen Tuchs« zu schämen, daß es ferner keinem zur Ehre gereiche, mit dem »niedrigsten Stande nicht umgehen zu können«, ohne »seine Würde zu verlieren.«53 Auch in den Aufsätzen »Die gute selige Frau« und »Die allerliebste Braut« kontrastiert Moser einheimische Sitten dem adaptierten französischen Betragen.54 Er propagiert damit zugleich einen neuen Frauentyp, den er den mit ihrem Französisch und ihrer Bildung brillierenden »jetzigen Schönheiten« positiv gegenüberstellt.55 Eine Frau ist demnach dann »in ihrer Art vollkommen, sie ist Original«'6, wenn sie ihr Streben danach richtet, »alles Notwendige in der größten
45 50
" 51
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S W V I , 65 S W V I , 64 S W V , 22 S W I V , 49 S W IV, 45 u. 50 S W IV, 106 ff. S W IV, 110 S W IV, 114
Vollkommenheit zu besitzen.«'7 Das heißt, sie hat ihre Kleidung, ihre Bildung und ihren Lebensstil ganz auf die Umstände ihrer ökonomischen Situation und ihrer gesellschaftlichen Stellung abzustimmen. Für die gesellschaftlich bescheidenen Verhältnisse der Provinz bedeutet das, daß von Frauen und Mädchen in erster Linie haushälterisch-nützliche Fähigkeiten erwartet werden. Moser will zwar - wie er einen Witwer in »seiner altdeutschen Laune« ausführen läßt' 8 - »den vornehmen Damen einiges Klapperwerk« erlauben, »um einigen vornehmeren Kindern die Langeweile zu vertreiben«59, nicht aber den Frauen aus dem niederen Landadel, dem Bürgertum oder gar dem Bauernstand. Für diese errichtet er das Ideal der arbeitswilligen, bescheidenen und naiven, in ihrer Erscheinung auf eine ganz neue Weise anziehenden Frau, die ihre Autonomie und Würde nicht aus »Büchern und philosophischen Gründen« sondern aus einer auf Tradition und Erfahrung gegründeten Selbstgewißheit bezieht. Die ideale Verkörperung erfährt dieser Frauentyp in Selinde, jenem im Zentrum der Erzählung »Die Spinnstube« stehenden Landmädchen. »Man fand das schönste Gartengewächse nur bei Seiinden. Ihre Rüben giengen den märkischen weit vor; und der Bischof hatte keine andre Butter auf seiner Tafel, als die von ihrer Hand gemacht war. Was man von ihrer Kleidung sehen konnte, war klares oder dichtes Linnen, ungestickt und unbesetzt, jedoch so nett von ihr gesäumt, daß man in jedem Stiche eine Grazie versteckt zu sein glaubte. Das einzige, was man an ihr Überflüssiges bemerkte, war ein Heideblümgen in den lichtbraunen Locken.«6'
Die von Moser hier stilisierte Weiblichkeit hat in der Literatur des Sturm und Drang ein vielfaches positives literarisches Echo gefunden. An dieser Stelle soll nur auf Goethe - insbesondere auf den »Werther«-Roman - verwiesen werden. Der mit Selinde ins Bild gebrachte Frauentyp findet in Goethes Figur der Lotte bis ins Detail gehende Entsprechungen. Wie Selinde hat auch Lotte Freude am häuslichen Leben, schränkt ihre Lektüre nach ganz bestimmten Grundsätzen ein 1 57
SW IV, 43 SW IV, Π5 " SW IV, 115; vgl. auch: ebd., S. 235 ff., die »Antwort des Herrn Kommandeurs auf das Schreiben einer Dame über den Gebrauch ihrer Zeit«, wo mit gewissen Einschränkungen auch das »müßige« Leben einer Hofdame als gesellschaftlich notwendig anerkannt wird. 60 SW IV, 113 61 SW IV, 43 61 Selinde ist durch ihren Vater, einen »Mann von vieler Erfahrung [...] in Ansehung der Bücher« auf das den unmittelbaren häuslichen Erfahrungsraum nicht Überschreitende festgelegt worden (Moser. SW IV, 43), bei Lotte beruht diese Einschränkung auf einem selbstständigen Entschluß: »Doch da ich so selten an ein Buch komme, so muß es auch recht nach meinem Geschmack sein. Und der Autor ist mir der liebste, in dem ich meine Welt wieder finde, bei dem es zugeht wie um mich, und dessen Geschichte mir doch so interessant und herzlich wird als mein eigen häuslich Leben, das freilich kein Paradies, aber doch im Ganzen eine Quelle unsäglicher Glückseligkeit ist.« Goethe. S W 4 , 399 58
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und duldet an ihrer Kleidung nur wenig überflüssigen Schmuck. 6 ' Naiv, aber dennoch würdig und selbstbewußt verkörpert sie ohne Zweifel eines jener »ländlichen, unverdorbenen und unverstelleten Originale«, von denen Moser sagt, daß der Umgang mit ihnen - »wenn wir dächten, wie wir denken sollten« - ein »weit angenehmer Schauspiel geben« könne, »als die Bühne, worauf einige abgerichtete Personen ein auswendig gelerntes Stück in einem geborgten Affekte daher schwatzen.«64 Und es ist sicher kein Zufall, daß Werther Lotte zum ersten Mal inmitten einer häuslichen Szene erblickt, die ihm als »das reizendste Schauspiel in die Augen« fällt, das er »je gesehen« hat. 6 ' Ländliche Originale in diesem Möserschen Verständnis begegnen Werther auch in den unteren Bevölkerungsschichten, so zum Beispiel in jener jungen Mutter, die ihre Kinder in Abwesenheit des Vaters von einem Tag zum nächsten mühsam durchzubringen versucht, ohne ihre Heiterkeit und Zuversicht einzubüßen. Wieder ist es der »Anblick«, die ins Bild gebrachte weibliche Naivität, die Werther so zu entzücken vermag, daß er seine eigene innere Zerrissenheit vorübergehend nicht spürt. 66 Auch das Bild dieser Frau, die »in glücklicher Gelassenheit den engen Kreis« ihres »Daseins hingeht, von einem Tag zum andern sich durchhilft, die Blätter abfallen sieht und nichts dabei denkt, als daß der Winter kommt« 67 , ist in Mosers »Phantasien« präfiguriert. »In der letzten Ernte sähe ich die Frau eines Heuermanns, deren Mann ein Hollandsgänger ist, welche selbst mähete und band und ihr vierteljähriges Kind neben sich in der Furche liegen hatte, wo es so geruhig als in der besten Wiege schlief. Nach einer Weile warf sie mutig ihre Sense nieder, setzte sich auf eine Garbe, legte das Kind an die gesunde Brust und hieng mit einem zufriedenen und mütterlichen Blicke über den saugenden Knaben. Wie groß, wie reich, dachte ich, ist nicht diese Frau?«68
Moser sieht in diesem Bild eine »homerische Allegorie fur die Arbeitsamkeit ohne Caylus und Winckelmann.« 6 ' Homer, der »die Natur überall, wo er sie angetroffen studiert« und zu diesem Zweck sogar »unterweilen die Dorfschenke« besuchte70, wird für ihn zum Bürgen des neuen Blickes auf provinzielle Eigenart und einer neuen Haltung gegenüber den unteren Ständen. Diese gipfelt in der Erkenntnis: »Ich erniedrige mich nicht zu ihnen; ich erhebe sie zu mir.«7'
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Bei Sehnde erhält die schlichte Kleidung durch die Blume im Haar, bei Lotte durch die blaßroten Schleifen einen zusätzlichen Reiz. 64 S W IV, 50 65 Goethe. S W 4, 397 66 Vgl.: Goethe. S W 4, 393 67 Goethe. S W 4, 393 68 SW IV, 69 f. * S W IV, 70 70 S W IV, 49 71 S W IV, 47
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Bezeichnenderweise ist auch Werthers Umgang mit den »geringen Leuten des Ortes« durch seine Homer-Lektüre beeinflußt. Und seine Kritik jener »Leute von einigem Stande«, die »sich immer in kalter Entfernung vom gemeinen Volke halten, als glaubten sie durch Annäherung zu verlieren«72, erfolgt ganz im Ton der »Patriotischen Phantasien«. Auf die Beziehung Moser - Goethe soll an dieser Stelle noch nicht näher eingegangen werden. Die Verweise vermögen aber bereis einen Eindruck davon zu vermitteln, wie jener »Naturstoff« beschaffen ist, den Goethe »unter der Politur« des nationalen Charakters zu finden hofft, wenn er in kritischer Auseinandersetzung mit überkommenen Beschreibungsklischees die literarische Intelligenz ganz im Sinne Mosers dazu auffordert, anstelle der »schönen Herren und Damen« lieber »den Mann in seiner Familie, den Bauern auf seinem Hof, die Mutter unter ihren Kindern, den Handwerksmann in seiner Werkstatt, den ehrlichen Bürger bei seiner Kanne Wein und den Gelehrten und Kaufmann in seinem Kränzchen oder seinem Kaffeehaus zu sehen.«73 Mosers Darstellungen provinzieller Alltagssituationen bieten in dieser Hinsicht reichhaltiges Quellenmaterial. Sie vermitteln vor allem die Vorstellung, daß die individuelle Mannigfaltigkeit und Originalität provinzieller Sitten nur auf der Grundlage eines veränderten Schönheitsbegriffes Ausdruck finden kann und die Zurückweisung klassizistischer Schönheitsregeln notwendig zur Voraussetzung hat. Für Moser sind auch hier die Griechen Vorbild. »An den griechischen Künstlern lobt man es, daß sie ihre Werke nach einzelnen schönen Gegenständen in der Natur ausgearbeitet und es nicht gewagt haben, eine allgemeine Regel des Schönen festzusetzen und ihren Meißel nach dieser zu führen.« 74
Moser findet immer wieder neue Bilder, um das von ihm propagierte Individualitätsprinzip nicht nur zu legitimieren, sondern auch seine Überlegenheit im Ästhetischen und Politischen zu erweisen. Zur Verdeutlichung der positiven Auswirkungen des politischen Partikularismus auf die »gemeine Freiheit« gebraucht er zum Beispiel das Bild der »Maschine«. »Zwar lobt man an einer jeden Maschine den einfachen Hebel; und die größte Menge der Würkungen ist nicht bewundernswürdiger, als wenn sie durch die kleinste Kraft (minimum) hervorgebracht wird. Allein, kein vernünftiger Mensch wir leugnen, daß da, wo hunderttausend zusammengesetzte Hebel zugleich das Verdienst der kleinsten Kraft erhalten, die Würkungen unendlich schöner und größer sein müssen.«75
7i 73
74 75
Goethe. S W 4, 386 Goethe. Frankfurter gelehrte Anzeigen. In: Goethes Werke. Hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie v. Sachsen. 37. Bd. Weimar 1896, S. 275 f. S W V , 22 f. S W V , 26
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I m ästhetischen Bereich w i r d dieses Verhältnis v o n Kraft u n d W i r k u n g durch den R ü c k g r i f f a u f jenen, nach Voltaire fast z u m literarischen T o p o s g e w o r d e n e n Vergleich zwischen englischem u n d französischem G a r t e n 7 6 ins B i l d gebracht. »In jenem (dem englischen Garten, d.V.) finden Sie, eben wie in Shakespeares Stücken, Tempel, Grotten, Klausen, Dickichte, Riesensteine, Grabhügel, Ruinen, Felsenhöhlen, Wälder, Wiesen, Weiden, Dorfschaften, und unendliche Mannigfaltigkeiten wie in Gottes Schöpfung durcheinander vermischt; in diesem (dem französischen Garten d.V.) hingegen schöne gerade Gänge, geschorene Hecken, herrliche, schöne Obstbäume, paarweise geordnet oder künstlich gebogen, Blumenbeete wie Blumen gestaltet, Lusthäuser im feinsten Geschmack - und das alles so regelmäßig geordnet, daß man beim Auf- und Niedergehen sogleich alle Einteilungen mit wenigen Linien abzeichnen kann, und mit jedem Schritte auf die Einheit stößt, welche diese wenigen Schönheiten zu einem Ganzen vereinigt.«77 D i e natürliche M a n n i g f a l t i g k e i t des englischen G a r t e n s bietet nach M o s e r ein treffendes B i l d f ü r die problematische deutsche Nationalkultur. Diese v e r m a g durchaus - v o n e i n e m höheren G e s i c h t s p u n k t aus gesehen - eine E i n h e i t zu bilden, o h n e daß die jeweils besondere K u l t u r einer Provinz zugunsten allgemeingültiger, abstrakter Orientierungsmaßstäbe
eliminiert w e r d e n
m u ß . In
der
»Macht, w o m i t der G e s c h m a c k an den englischen G ä r t e n jetzt ganz E u r o p a überwältigt«, findet er die Bestätigung f u r seine B e h a u p t u n g , »daß der W e g zur M a n n i g f a l t i g k e i t der w a h r e W e g zur G r ö ß e sei.« 78 Dieser W e g sollte nach M o s e r ungeachtet der G e f a h r der »Verwilderung« u n d ungeachtet der Schwierigkeiten, »unter eine großen M e n g e zu w ä h l e n u n d gewählte, unzählbare Sachen zu einem großen Z w e c k zu vereinigen« 7 9 , v o n den D e u t s c h e n beschritten werden. D e n n d e m A n s p r u c h der französischen Ästhetik steht seiner A n s i c h t nach die »unstreitbare Wahrheit« gegenüber, daß tausend M a n n i g f a l t i g k e i t e n zur E i n h e i t gestimmt, m e h r W i r k u n g tun, als eine Einheit, w o r i n nur f ü n f versammelt sind.« 8 0 76
In den Moser bestens vertrauten »Philosophischen Briefen« hatte ihn Voltaire im Zusammenhang seiner Beurteilung des englischen Theaters bereits als Allegorie fur die gegensätzlichen Nationalcharaktere von Franzosen und Engländern gebraucht: »Es scheint, daß die Engländer bisher nur dazu gemacht waren, unregelmäßige Schönheiten hervorzubringen. Die brillanten Ungetüme Shakespeares machen tausendmal mehr Spaß als die moderne Gescheitheit. Bis jetzt gleicht das poetische Genie der Engländer einem buschigen, von der Natur gepflanzten Baum, der gelegentlich tausend Äste zugleich sprießen läßt und ungleich mit Kraft wächst; er stirbt, wenn Sie seine Natur bezwingen und ihn zu einem Baum der Gärten von Marly-le-Roi stutzen wollen.« a.a.O., S. 86. Dieser Gartenvergleich findet sich später im Zusammenhang der Shakespeare-Rezeption und -Kritik bei Autoren wie Mercier, Sturz und Schink. Vgl. dazu auch: Eva Maria Inbar. Shakespeare-Rezeption im deutschen bürgerlichen Drama des 18. Jahrhunderts. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift. Neue Folge. Bd. 30. Heft 2. 1980, S. 132 f.
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SW SW SW SW
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III, III, III, III,
79 f. 80 81 80
Das Kriterium »Wahrheit« bildet den wichtigsten Faktor in Mosers Verteidigung nationaler Individualität. Denn die Frage nach dem Verhältnis von Original und Kopie stellt sich fur ihn zuallererst als Frage nach der Wahrheit des Ausdrukkes. »Außerdem aber hat das Nachahmen fremder Nationen leicht den innerlichen Fehler aller Kopien, die man um deswillen geringer als ihre Originale schätzt, weil der Kopist natürlicherweise immer mehr oder weniger ausdrückt, als der rechte Meister empfunden hat; es macht uns unwahr: und nichts schadet dem Fortgange der schönen Künste mehr als diese Unwahrheit [...]« 8 ' Gemäß diesem Wahrheitsanspruch kann der deutsche Nationalcharakter nach Moser weder mit Hilfe der Franzosen noch mit Hilfe der Engländer, den »alten Brüdern« der Deutschen, definiert werden. 82 Auch fur das Verhältnis zu den Engländern gilt die Maxime: »Ohne nun in den nämlichen Verhältnissen zu stehen und die Bedürfnisse zu fühlen [...] werden wir nie wie sie empfinden.« Sä Daß Moser ungeachtet seiner Verweise auf die Verwandtschaft zwischen englischem und sächsischem Geist 84 der zunehmenden Begeisterung fur alles Englische in diesem Sinne ebenso kritisch gegenübersteht wie der Nachahmung französischer Vorbilder darf nicht übersehen werden.8* Seine diesbezügliche Distanz zeigt sich nicht nur in der Zurückweisung des englischen Kultur- und Freiheitsanspruches in den beiden London-Briefen 86 , sondern auch in der Phantasie »Das englische G ä n gen« 87 , die den Versuch, einen ehemaligen Kohlgarten in der Provinz nach dem Vorbild des englischen Gartens zu gestalten, der Lächerlichkeit preisgibt. Weil in Deutschland die Provinz die Maßstäbe vorgibt und nicht eine »unermeßliche 81 81 85 84 85
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S W III, 82 S W III, 80 S W III, 83 Vgl. auch: S W VIII, 272 Auf Mosers sachlich-realistisches Verhältnis zu England weist bereits N. Horton Smith hin. Vgl.: ders. Justus Moser and the British. In: German Life and Letters. 5. 1951/52, S. 47-56. Für Michael Maurer ist Moser demgegenüber trotz aller kritischen Äußerungen ein typischer Anglophiler. Die massive Englandkritik basiert demnach nur auf dem vorübergehenden, überwältigenden Eindruck des Großstadterlebnisses, das der produktiven Anverwandlung des Fremden im Interesse des national Eigenen - nach Maurer vollzieht sich dieser Prozeß in drei Stufen - nicht im Wege steht. Dem ist angesichts der oben dargestellten, grundsätzlichen Einstellung Mosers zur Frage der Nachahmung jedoch entgegenzuhalten, daß die englische Kultur zwar insofern Vorbildcharakter für Moser hat, als sich an ihr alle Merkmale eines originalen Selbst- und Nationalbewußtseins ablesen lassen, daß aber eine tiefgreifende Anverwandlung englischer Elemente in die deutsche Nationalbildung außer Betracht bleiben muß. Vgl.: Michael Maurer. Aufklärung und Anglophilie in Deutschland. Göttingen. Zürich 1987, S. m f. und ders. Justus Moser in London. a.a.O. Vgl. dazu auch das Kapitel: Das patriotische Interesse an Geschichte [...] Vgl.: S W V, 281 ff. 265
Hauptstadt« wie London 88 , ist die Anglophilie, insofern sie als metropolitanes Verhalten in Erscheinung tritt, für Moser äußerst fragwürdig. Die »Patriotischen Phantasien« sind dementsprechend - auch was die Möglichkeit und den Ton öffentlicher Kritik betrifft - bewußt auf den »kleinen« Schauplatz beschränkt. So sehr Moser den patriotichen Geist englischer Publizistik auch bewundert, auf die Verhältnisse in kleinen Staaten läßt er sich seiner Ansicht nach nicht ohne weiteres übertragen. »In England, worauf Sie mich verwiesen haben, lebt man wie in einem großen Walde, wo man den Löwen brüllen, den Hengst wiehern, die Krähe krächzen, den Heger schreien und den Frosch quaken läßt und sich an dieser mannigfaltigen Stimme der Natur ergötzt; dabei aber doch nicht mehr erhält, als man bezahlen kann. Allein, in dem kleinen Gartenzimmer, worin wir Nachbarskinder uns versammlen, ist auch das Gezische einer Heime empfindlich.« 8 ' Auch in dem bisher kaum beachteten Fragment »Uber Nachahmung« gibt Moser deutlich zu verstehen, daß sich seine Warnungen vor kultureller Überfremdung keineswegs nur auf die »modische« Nachahmung französischer Manieren beziehen. »Der große Fehler der Deutschen ist, daß sie große Männer nachzuahmen suchen und bald Young, bald Yorick sein wollen, ohne wie Young und Yorick zu empfinden. Man sieht das Hohle, Leere, Unbedeutende und Kraftlose. Einer versuche es und ahme nur die geringste Wendung einer großen Person nach, ohne den Geist derselben damit zu vereinigen, so wird gleich das Geborgte, Unangemessene, Gezierte durchscheinen. Er wird zwar diejenigen, welche außerstande sind, eine Vergleichung zwischen dem Original und der Kopie anzustellen, verfuhren; aber diese Verfuhrung wird keine Dauer haben und nicht in dem Maße wirken, wie das Original wirken würde. Wenn die Arbeit der Nachahmung vorüber, so fängt die Seele an zu urteilen und den Ursachen nachzuforschen, warum dieses so und nicht anders ist. Diese Nachforschung fuhrt zur Wahrheit, als dem edelsten Teil aller Vorstellungen [...]«'"
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Vgl.: S W V , 146 S W VI, 87. Vgl. auch: ebd. Bd. VI, S. 146 f., wo Moser, um den »Unterschied der Ehre in großen und kleinen Städten« aufzuzeigen, einen öffentlichen Brief Lovells an den Politiker und Vorkämpfer der englischen Volksfreiheiten, John Wilkes, aus der »London=Chronik« vom 19.-23. Okt. 1773 zitiert, der sich auf eine publizistische Auseinandersetzung bezieht, in der gegenseitige Anschuldigungen wie »niederträchtiger Betrüger«, »Spitaldieb«, »Ministerial=Heuerling« oder »Räuber« an der Tagesordnung sind. Während man - so Moser - in London darüber lache, würde »in Deutschland sich alles gegen den Verfasser und Drucker solcher unter öffentlicher Autorität bekannt gewordenen Aufsätze auflehnen.« (Ebd., S. 147). Moser spricht hier aus eigener Erfahrung. Im Juli 1764 übersandte er Abbt jene berüchtigte Nr. 45 des »North Briton«, in der Wilkes sogar den König einer Lüge beschuldigt hatte - worauf gegen ihn scharfe behördliche Maßnahmen einsetzten, die wiederum Volksaufstände zur Folge hatten. Abbt fertigte von dieser Nummer eine deutsche Übersetzung an und bot diese am 8.8.1764 Nicolai zum Druck an. Dieser aber verweigerte die Publikation. Vgl.: Justus Moser. Briefe, S. 167 u. 169. Vgl. auch den Brief Mosers aus London an Abbt, S. 143 S W III, 185
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Daß sich diese, in den »Patriotischen Phantasien« in mannigfaltigen Facetten gespiegelte Originalitäts- und Individualitätsauffassung nur dann dem Verständnis erschließt, wenn man Mosers Intention »keine große(n) und auffallende(n) Wahrheiten [...], welche sich jedem Auge frei darstellen und ohne Kunst einleuchten«, vortragen zu wollen, sondern nur das, »was nach Beschaffenheit der Umstände, insbesondere aber des Bodens [...] sicher richtig ist«, berücksichtigt, ist in den obigen Ausführungen deutlich geworden.91 Im folgenden wird zu zeigen sein, daß auch die Staats-, Zeit- und Gesellschaftskritik Mosers innerhalb des von ihm selbst bezeichneten provinziellen Rahmens angesiedelt ist, daß dieser Begrenzung aber zugleich eine dialektische Spannung innewohnt, die das »Besondere« der Provinzkultur zum »Allgemeinen« der Nationalkultur in Beziehung setzt.
II. 2. Nation, Staat und Gesellschaft als Gegenstand von Empirie und Spekulation Im Zusammenhang der Diskussion um Mosers Konservatismus ist seine Verteidigung staadicher Hierarchie ebenso häufig kritisiert worden wie sein Eintreten für die ständische Gliederung der Gesellschaft. Verstanden wurde diese Grundhaltung immer wieder als Beharren und Festhalten am einmal Bestehenden, während die Beziehungen zwischen seinem Geschichts- und Gegenwartsbewußtsein fast völlig unberücksichtigt blieben. Daß Mosers Bezug auf Geschichte keineswegs nur als Instrument zur historischen Legitimation gesellschaftlicher Ungleichheit fungiert, wird in den »Patriotischen Phantasien« besonders evident. Gerade im Hinblick auf die nationalökonomische Entwicklung werden hier eindeutig Positionen bezogen und fortschrittlich-liberale Vorstellungen hinsichtlich der Fragen bürgerlich-korporativer Selbstorganisation entwickelt, die den Bestand der ständischen Welt auf Dauer notwendig gefährden müssen. Die theoretische Überwindung des landständischen Systems war ja schon in der Behauptung, jeder Hof sei ursprünglich mit einem freien Eigentümer besetzt gewesen, angelegt. An der praktischen und zeitgemäßen Modernisierung dieses Systems zeigt sich Moser als Politiker maßgeblich beteiligt, indem er den bürgerlichen Freiheitsgedanken aus dem ständischen Widerstandsrecht entwickelt und 91
S W V, 254. Den Anlaß dieser Äußerungen bietet - wie meist in den »Phantasien« eine ganz konkrete Frage, die Frage nämlich, ob es »ratsamer« sei, »die Wege zu bessern als auszuflicken.« Moser läßt hier - wie er es häufig tut - zwei gegensätzliche Ansichten zu Wort kommen. Dabei gewinnt - was ebenso häufig geschieht - die zunächst um ein ganz konkretes, alltägliches Problem kreisende Auseinandersetzung unvermerkt eine philosophische Dimension. Unschwer ist Moser selbst hinter der Maske jenes »Altflikkers« zu erkennen, der sich im Interesse des Bodens, »auf dem er flickt und schreibt«, fur die Erhaltung der »alten« Wege einsetzt und einem Bau völlig »neuer« Straßen äußerst skeptisch gegenübersteht.
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den neuartigen Gedanken der Repräsentation des ganzen Landes durch die Stände zur Grundlage eines neuen ständischen Selbstbewußtseins zu machen sucht.1 Hans-Joachim Behr verweist in einer neueren Studie auf ein bisher unveröffentlichtes Manuskript, in dem Moser seine Pläne bezüglich der gewünschten bürgerlichen Selbstverwaltung und Teilhabe am Staat durch den Entwurf eines Systems gewählter Vertretungskörperschaften auf allen Ebenen bis hin zum Reichstag entwirft, den er zum »Haus der Gemeinen«, zum Unterhaus nach englischem Muster umbilden will. 2 In einer ganzen Reihe seiner »Phantasien« unterbreitet Moser ferner Vorschläge zu einer, die Zuständigkeit einzelner Territorien weit übergreifenden, einheitlichen und konzentrierten Wirtschaftspolitik 3 , zwecks einer gezielten Förderung von Landwirtschaft, Handwerk und Handel. Dabei ist nicht zu übersehen, daß hier ein »Patriot« das Wort ergreift, der den Zusammenhang zwischen politisch-rechtlichen und ökonomischen Verhältnissen in aller Schärfe sieht, dem die ökonomische Rückständigkeit Deutschlands als das größte und am schwierigsten zu überwindende Hindernis fur die Bildung einer bürgerlichen Nation erscheint.4 Moser 1
Vgl.: SW VII, 174: »Denn der Begriff des Landstandes entsteht nur alsdenn, wenn die Repräsentanten nicht mehr für sich und die Ihrige, sondern für alles, was auf dem Landesboden sitzt und von ihnen nicht verschonet ward, bewilligen.« * Vgl.: ders. Selbstverwaltung bei Moser und Stüve und die Hannoversche Städteordnung von 1851/58. In: Helmut Naunin (Hrsg.). Städteordnungen des 19. Jahrhunderts. Beiträge zur Kommunalgeschichte Mittel- und Westeuropas. Köln, Wien 1984, S. 165 f. ' Vgl. bes.: S W I V , 15 ff.: »Gedanken über den Verfall der Handlung in den Landstädten«; ebd., S. 155 ff.: »Vom Verfall des Handwerks in kleinen Städten«; ebd., S. 197 f.: »Von der Steuerfreiheit in Städten, Flecken und Weichbildern«; ebd., S. 215 ff.: »Also sollen die deutschen Städte sich mit Genehmigung ihrer Landesherrn wieder zur Handlung vereinigen«; ebd., S. 255 ff.: »Vorschlag zu einer Korn=Handlungskompanie auf der Weser«; ebd., S. 300 f f : »Vorstellung zu einer Kreisvereinigung, um das Brannteweinsbrennen bei dem zu besorgenden Kornmangel einzustellen«; ebd. Bd V, S. 114 f f : »Beantwortung der Frage: Was muß die erste Sorge zur Bereicherung eines Landes sein? Die Verbesserung der Landwirtschaft? oder die Bevölkerung des Landes? oder die Ausbreitung der Handlung? Womit muß der Anfang gemacht werden?«; ebd., S. 271 ff.: »Vorschlagzum bessern Unterhalt des Reichskammergerichts«; ebd., S. 2 7 4 ® : »Vom öffentlichen Kredit und dessen großem Nutzen«; ebd., S. 278 ff.: »Vorschlag zu einer Zettelbank« 4 Dieser Aspekt ist bei der Würdigung Mosers als Nationalökonom bisher kaum zur Sprache gekommen, ungeachtet des frühen Interesses an seinen Auffassungen zur Wirtschafts- und Sozialpolitik. Vgl. dazu die älteren Arbeiten von: Wilhelm Rocher. Geschichte der National-Oekonomik in Deutschland. München 1874; Ludwig Ruppredit. Justus Mosers soziale und volkswirtschaftliche Anschauungen in ihrem Verhältnis zur Theorie und Praxis seines Zeitalters. Stuttgart 1892; Carl Wilhelm Ouvrier. Der ökonomische Gehalt der Schriften Justus von Mosers. Diss. Gießen 1928; Heinz Zimmermann. Recht, Staat und Wirtschaft bei Justus Moser, a.a.O.; aber auch: Reinhard Renger. Landesherr und Landstände im Hochstift: Osnabrück in der Mitte des 18. Jahrhundert, a.a.O.; Pia-Angela Lorenzi. Die ökonomische Geschichtsauffassung und Justus Moser. Eine soziologische Studie. Diss. Konstanz 1958; Joachim Runge. Justus Mosers Gewerbetheorie und Gewerbepolitik im Fürstbistum Osnabrück in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhundert, a.a.O.; Jonathan Knudsen, a.a.O. 268
orientiert seine Pläne zur ökonomischen Stabilisierung der Landwirtschalt und zum Aufbau eines leistungsfähigen Handwerks und Handels entsprechend dieser Schwierigkeiten nach zwei Richtungen. E r sucht einmal in der deutschen G e schichte nach Maßstäben, an denen bürgerlicher Unternehmungsgeist in seiner Zeit gemessen werden kann, zum anderen richtet er sein Interesse mit dem wachen Blick des Empirikers auf modellfähige Entwicklungen in den westeuropäischen Nationalstaaten. In historischer Hinsicht sind es die Zeiten des Hansischen Bundes, deren Renaissance Moser wohl wünscht, aber nicht für realistisch hält. »Jedoch diese giildnen Zeiten der deutschen Handlung kommen wohl niemals wieder. Sie werden kaum mehr geglaubt; so sehr haben wir uns von ihnen entfernt. Das Besonderste dabei ist, daß alle Handwerker zugleich ausgeartet und der fliehenden Handlung nadigefolget sind. Man sehe nur auf die alten Arbeiten an Altären, Einfassungen der Reliquien [...] man gedenke an das Dauerhafte, Kühne und Prächtige der gotischen Stüdce, welche um deswillen, daß sie nach einem besonderen Zeitgeschmack gearbeitet sind, ihren Kunstwert nicht verloren haben. So wird man sehen, daß zur Zeit der Hansischen Handlung eine Periode in Deutschland gewesen, worin es die größten Meister in jedem Handwerke gegeben habe. Und man kann dreiste behaupten, daß die Deutschen die Handlung und den damaligen gotischen Stil der Kunst zu gleicher Zeit aufs höchste gebracht hatten. Man würde jetzt Mühe haben, einen einzigen solchen Meister in Ebenholz, Elfenbein und Silber wieder aufzubringen, dergleichen vor dreihundert Jahren in allen Städten angetroffen wurden. Fast alle deutsche Arbeit hat zu unser Zeit etwas Unvollendetes, dergleichen wir an keinem alten Kunststück und gegenwärtig an keinem rechten engelländischen Stücke antreffen. So sehr ist das Handwerk zugleich mit der Handlung gesunken. Die einzige Aufmunterung der Handwerke kommt jetzt von den Höfen; und was sollen einige wenige, mit Besoldungen angelockte Hofarbeiter gegen Handwerker, die während des Hanseatischen Bundes vor die ganze Welt in die Wette arbeiteten?«' Was den Vergleich mit den westeuropäischen Nachbarn anbelangt, ist in der Tat die Bedeutung des englischen Vorbildes für Moser augenfällig.
Die positiven
Auswirkungen der in England gezielt betriebenen Politk zur Förderung von Handwerk, Handel und Industrie hatte Moser auf seiner Reise selbst in Augenschein nehmen können 7 , und er sieht auch die Gefahr, die von der wirtschaftlichen Potenz dieses Landes fiir die Entwicklung eines deutschen Marktes aus5
6 7
S W I V , 218 f. Vgl. dazu auch: Karl Brandi. Justus Moser und die Hanse. In: Hansische Geschichtsblätter. Hrsg. vom Hansischen Geschichtsverein 64. Jahrgang 1940, S. 69-80 Vgl. dazu auch: Michael Maurer, Aufklärung und Anglophilie [...], S. 126f. »Nichts giebt der Stadt London ein prächtiger Ansehen als die Buden der Handwerker. Der Schuster hat ein Magazin von Schuhen, woraus sogleich eine Armee versorgt werden kann. Beim Tischler findet man einen Vorrat von Sachen, welche hinreichen, ein königliches Schloß zu meublieren. Bei den Goldschmieden ist mehr Silberwerk, als alle Fürsten in Deutschland auf ihren Tafeln haben; und durch den Stadtschmied leben hundert Dorfschmiede, die ihm in die Hand arbeiten und ihm die Menge von Waren liefern, welchen er die letzte Feile und seinen Namen giebt. Solche Handwerker dörfen es wagen, den königlichen Prinzen ihr Gilderecht mitzuteilen.« S W I V , 31
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geht.8 Besonders beeindruckt zeigt er sich von der Tendenz des englischen Adels, sich zu verbürgerlichen. Er unterbreitet in dem Aufsatz »Warum bildet sich der deutsche Adel nicht nach dem englischen?« Vorschläge, die keinesfalls darauf hinauslaufen, den Adel als Stand zu stabilisieren.9 Seine Empfehlung, den adligen Titel nur dem Familienältesten zuzugestehen, den übrigen Familiengliedern dagegen nur die Beibehaltung der Adelsfähigkeit, bedeutet im Gegenteil fur deutsche Verhältnisse einen radikalen Bruch mit dem traditionellen Standesbewußtsein dieser Klasse. Mosers Absicht besteht offenbar darin, durch gezielte Reformen einem Stand, der sich im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung stärker als in früheren Zeiten vermehrte, ohne dabei gleichermaßen seine Subsistenzmittel vermehren zu können, neue, bürgerliche Formen des Erwerbs zu erschließen. Eine Aufhebung der alten Restriktionen erweist sich aus seiner Sicht gerade für die Masse des Landadels, dessen wirtschaftliche und gesellschaftliche Stellung im 18. Jahrhundert deutlich im Sinken begriffen ist, als unumgänglich. In dem Aufsatz »Der Staat mit einer Pyramide verglichen«, spricht Moser sich deutlich dagegen aus, daß der »unbegüterte Adel« vermehrt in den Militär- und Staatsdienst drängt und befürwortet »eine andre politische Einrichtung [...], nach welcher die jüngeren Kinder Stand und Wapen ablegen und sich dem Gewerbe oder Ackerbau ergeben könnten.« 10 Nicht nur der adlige, auch der bürgerliche Stand würde von diesen Reformen profitieren. Denn, wie es in der Phantasie »Reicher Leute Kinder sollten ein Handwerk lernen« heißt, können Handwerk und Handel nur dann zu neuem bürgerlichem Ansehen gelangen, »wenn es sich die vornehmsten einer Stadt gefallen« lassen, »das Gilderecht anzunehmen«, wenn fürstliche Räte Zunftgenossen werden und es keinen Widerspruch bedeutet, »zugleich ein guter Bürger und ein guter Kanzler zu sein.«" Den »Abfall der gemeinen Ehre« rechnet Moser zu den wesentlichen Ursachen der ökonomischen Schwäche des deutschen Bürgertums. Sie zu heben erfordert nicht nur eine Annäherung des Gelehrtenstandes an den Handwerkerstand 12 , son' Vgl.: SWIV, 22 f. Vgl.: SWVII, 211 f. wo Moser ausführt: »[...] Kann man endlich eine Muskete auf die Schulter nehmen und doch dabei sein Wapen behalten: so sehe ich nicht ab, warum sich die Adelsfähigkeit in einer andern Vermischung weniger als in jener erhalten lassen sollte? [...] Auch ist die Gefahr fur vermischte Heiraten so groß nicht, als man sich solche vorstellet. Denn sobald jene Wege geöffnet sind: so wird man auch eben wie in England edelgeborne Kaufleute und edelgeborne Pächter finden, die ihren Söhnen und Töchtern die Wapenbürtigkeit durch das Heroldsamt erhalten haben [...] und fast mögte idi sagen, daß es bloß der Eigennutz des Adels sei, der die Zahl der Adelsfähigen zu vermindern sucht, um die Präbenten jedesmal zur Versorgung oder Aufopferung seiner jungen Kinder gebrauchen zu können.« Vgl. auch Michael Maurer, Aufklärung und Anglophilie [...], S. 134 und Helmut Naunin, S. 165 SWV, 217 " SWIV, 2 12 Vgl.: ebd., S. 39; vgl. dazu auch die Phantasie »Also sollte jeder Gelehrter ein Handwerk lernen.« Ebd., Bd. VI, S. 116 ff 9
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dem auch die Zulassung des letzteren zum Waffendienst. 1 ' Der diesbezügliche Vorschlag, »alle Bürger in Uniforme« zu setzen, mußte angesichts der deutschen Militärverfassung fast ebenso revolutionär erscheinen wie Mosers Aufforderung an den Adel, Handwerk oder Handel zu betreiben.'4 Anhand der Ausführungen über die Errichtung einer »Nationalmiliz« wird besonders deutlich, wie Moser sich eine allmähliche Auflockerung der Standesgrenzen vorstellt: Der Adel soll sich verbürgerlichen, während dem Bürgertum Zugang zu den militärischen Amtern und damit auch zu politischer Mitverantwortung ermöglicht wird. In dem oben zitierten Aufsatz von der Bildung des Adels hatte Moser, im Zusammenhang seiner Kritik am Militärstand als einem Versorgungsreservoir für mittellose Adlige, Tapferkeit als eine ausschließlich moralische, vom jeweiligen Stand völlig unabhängige Eigenschaft definiert.'5 Sein Plädoyer für den »Bürger in Uniform« greift diesen Gedanken auf und fuhrt ihn zu einer bemerkenswerten Konsequenz. »In der Tat ist auch gar kein hinlänglicher Grund anzugeben, warum der Bürger und Landwirt zwischen zwanzig und fiinfzig Jahren nicht sowohl einen roten oder blauen als braunen Rock tragen könne? Warum unsre Kinder auf Schulen und Universitäten nicht ebenso gut das Exerzieren als Reiten, Tanzen und Fechten lernen sollten? [...] Mancher wird zwar gedenken, es sei gefährlich, so vielen Leuten das Recht der Waffen zu erlauben und selbige den regulären Truppen gleich zu üben. Allein, dies ist die Politik der Despoten (meine Hervorhebung), die ihren freien Untertanen das Recht zu klagen, nicht aber das Recht, ihren Worten Nachdruck zu geben verstatten wollen. Fürsten, welche anders denken, tragen keine Bedenken, eine wohlgeübte Nationalmiliz zu unterhalten; und nichts ist gewisser, als daß nach der Wendung, welche die Sachen nehmen, in hundert Jahren die Nationalmiliz überall das Hauptwesen ausmachen und Freiheit und Eigentum, welche sonst bei Fortdauer unser jetzigen Verfassung zu Grunde gehen muß, von neuem befestigen werde.« 1 ' Beklagt wird vor allem auch, daß das Bürgertum sich an Hof und Adel orientiert, »daß die besten Genies und bemittelsten Leute unter ihnen Glück und Ehre im " SWIV, 169 SWIV, 168. In seiner Militärkritik ist Moser ohne Zweifel beeinflußt von Ideen Montesquieus und Rousseaus. Montesquieu analysierte in seinem »De l'Esprit des Lois« nicht nur den Zusammenhang von absolutistischer Staatsgewalt und stehendem Heer, sondern vertrat den Gedanken einer Identität von Volk und Heer. Auch Rousseau stellte in seinem 1755 für Diderots »Encyclopädie« geschriebenen Artikel »Economie (Morale & Politique)« den Waffendienst des freien Bürgers dem stehenden Heer im absolutistischen Regime entgegen. Den Gedanken eines Bürgerheeres propagierte in diesem Sinne auch bereits Thomas Abbt in seiner oben zitierten Schrift »Vom Tod fürs Vaterland«, und er wurde dann in der Literatur des Sturm und Drang, so zum Beispiel in J.M.R. Lenz' Reformschrift »Uber die Soldatenehen«, Teil einer allgemeinen Adelskritik. Diese erfolgte gerade bei Lenz, analog den Vorstellungen Mosers, im Rückgriff auf vorabsolutistische societas- und civis-Zustände der altgermanischen Verfassung. Vgl. dazu: Paul Michael Lützeler. Jakob Michael Reinhold Lenz: Die Soldaten. In: Dramen des Sturm und Drang. Interpretationen. (Reclam) Stuttgart 1987, S. 140 f.
14
" Vgl.: S W V I I I , 211 f. " SWIV, 168 u. 169 f.
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Herrendienste der gemeinen bürgerlichen Ehre vorziehen.«17 Die mit der Errichtung einer Bürgerwehr fur den Bürger verbundene Ehre soll demgegenüber verhindern, daß zukünftig »bürgerliche Belohnungen« aus »Not, aber zum Verderben des Staats in Adelsbriefen und Titeln gesucht werden.«18 Moser erweist sich in diesem Aufsatz als früher Kritiker jener, in der Diskussion um den »deutschen Sonderweg« vielfach beklagten Entwicklung, die in Deutschland das Aufkommen eines wohlhabenden, selbstbewußten, die politischen Verhältnisse mitgestaltenden und mitbestimmenden Bürgertums verhinderte und das Bemühen bürgerlicher Schichten um Angleich an Lebenshaltung und Auftreten des Adels auf verhängnisvolle Weise begünstigte.19 Wie sehr sein ständisches Denken auch als ein erweitertes bürgerliches Denken 10 aufgefaßt werden muß, zeigt sich in der oben zitierten Äußerung am Eintreten für eine Nationalmiliz, die bewaffneten Bürgern die Möglichkeit bietet, ihre Rechte gegenüber despotischen Fürsten nicht nur auf dem Weg der Klage, sondern auch unter Androhung militärischer Gewalt geltend zu machen. In Mosers Verständnis stehen bürgerliches Denken und das Eintreten fur bürgerliche Interessen nicht im Widerspruch zur Verteidigung ständischer oder patrimonialer Einrichtungen. Denn ihm erscheinen gerade die ständisch-regionalen und korporativ-lokalen Organe im Hinblick auf die Schaffung des fur die Realisierung bürgerlicher Vorstellungen notwendigen Freiheitsraumes weitaus entwicklungs- und aktionsfähiger als die im Zuge aufgeklärt-rationaler Verwaltungsreformen zustandegekommenen neuen Institutionen. Mit der ständischen Libertät gefährden diese Reformen kollektive und persönliche Freiheiten, ohne etwas anderes an ihre Stelle zu setzen. Dies erkennt und kritisiert Moser. Ubersehen werden sollte dabei freilich nicht, daß Moser die Freiheit des einzelnen stets den korporativen Freiheiten unterordnet, daß er als Staatsmann immer mehr den Vorteil des Staates als das individuelle Wohlergehen des Staatsbürgers im Auge hat.21 Seine auf einen geschichtlichen Fortgang der Verfassung, 17
S W I V , 167 " S W I V , 169 19 Vgl. dazu: Helmut Berding und Hans Peter Ulimann. Veränderungen in Deutschland an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. In: Deutschland zwischen Revolution und Restauration. Hrsg. v. dens. Düsseldorf 1981, S. 27. Berding und Ullmann sehen im Fehlen eines starken Bürgertums eine der wesentlichsten Ursachen dafür, daß der deutsche Adel auch in den Jahren der französischen Herrschaft - ungeachtet seiner Einbußen an Privilegien - seine herausragende Stellung in Staat, Gesellschaft und Wirtschaft behaupten konnte. 10 Zum weitgespannten Bedeutungsspektrum der Begriffe »Bürger«, »Bürgerlichkeit« und »bürgerliches Bewußtsein« in der deutschen Aufklärung vgl. die Beiträge in: Rudolf Vierhaus (Hrsg.). Bürger und Bürgerlichkeit im Zeitalter der Aufklärung. Heidelberg 1981 " Vgl.: S W V I , 256 f., wo Moser in diesem Sinne das Sachrecht dem Personenrecht überordnet und ebd., S. 311, wo der »Staatsvorteil« ganz entschieden in den Mittelpunkt gerückt wird.
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im Sinne gegliederter bürgerlicher Freiheit zielende Sozialanalyse ordnet dort, wo es um den Bestand, Erhalt oder Vorteil des Staates geht, das Personenrecht dem Sachrecht unter. Auf die »Person des Besitzers« ist laut Mosers Aktientheorie die »letzte Rücksicht zu nehmen, wenn ein dauerhaftes und vollständiges Bürger=, Bauer= oder Landredit entworfen werden soll.«22 Gerade auch an der Behandlung von Rechtsfragen in den »Patriotischen Phantasien« zeigt sich, daß Moser den zeitgenössischen Bestrebungen zur Vereinheitlichung und Kodifizierung des Rechts durchaus Rechnung trägt, wenn auch in einer der absolutistischen Herrschaftspraxis und den rationalistischen Zeitströmungen entgegengerichteten Art und Weise.2' So macht er sich in dem »Vorschlag zu einer Sammlung einheimischer Rechtsfälle« zum Fürsprecher eines aus Erfahrungssätzen des geltenden Rechts zusammengestellten Landrechtes, das dem traditionellen einheimischen Recht eine ähnliche Geltung verschaffen soll wie dem römischen.24 In der Bewahrung germanischer Urformen des Rechts durch eine freie Vereinigung von Rechtsgelehrten mit lokaler Praxis sieht Moser ein Bollwerk zur Abwehr landesherrlicher Ubergriffe und absolutistischer Tendenzen, während die an philosophischen Prinzipien orientierte Rechtsvereinheitlichung im Zuge der Aufklärung seiner Ansicht nach die gesellschaftliche Selbstorganisationsfähigkeit untergräbt und die gerade im Bereich der Rechtssprechung so wichtige »Gewaltenteilung« unterminiert. Weder gelehrte Juristen noch die »aufgeklärten« landesherrlichen Räte der Fürsten noch der Kaiser selbst haben nach Moser ein Recht, Rechtsstreitigkeiten allein nach »der Vernunft, nach der Billigkeit, nach ihrer Weisheit zu entscheiden.«25 Denn die »Weisheit grenzt so nahe an die Willkür, daß man unmittelbar von der einen zur andern übergehen kann; und wo Weisheit und Macht in einer Hand sind, da ist des Herrn Wille natürlicher Weise allezeit die Weisheit selbst. Wenigstens ist kein sterblicher Mensch imstande die Furche anzuweisen, wo die Willkür sich an der Weisheit scheidet.«26 Auf dem Gebiet des Rechtswesens ist Mosers Eintreten fur die Autonomie der Provinzen, das ihn in einen deutlichen Gegensatz sowohl gegenüber den Verfechtern der Souveränität der Territorialfiirsten als auch den Befürwortern einer starken zentralistischen Reichsgewalt bringt, besonders augenfällig. »Euer Kaiserlich Majestät Reich ist zu weitläufig, und die Untertanen, welche das Glück haben, unter allerhöchst deroselben Szepter zu stehen, sind in ihren Sitten, Nahrungs12
S W V I , 260 ' ' Siehe dazu auch Michael Maurer, Aufklärung und Anglophilie [...], S. 131 f. 14 »Meine Absicht ist hier nicht dem römischen Rechte eine Lobrede zu halten, sondern nur den Wunsch zu rechtfertigen, daß wir unsere eignen Erfahrungen auf gleiche Art sammlen und nutzen, nicht aber so sehr dem Hang zu allgemeinen Gesetzen und Verordnungen folgen mögten.« S W V , 184 15 S W I V , 249 26 S W I V , 249
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arten, Gebräuchen und Bedürfnissen zu unterschieden, um sie nach einerlei Gesetzen zu regieren. Es würde daher zuträglicher sein, wenn jede Provinz ihre eigne Gesetze vorschlüge, Ihro Kaiserliche Majestät aber solche bestätigten und die Richter anwiesen, jeder nach seinen Gesetzen Recht zu sprechen. Jeder Privatmann hat das Recht zu fordern, daß der Richter ihm nach dem Kontrakte Recht spreche, welchen er eingegangen. Die Gesetze jeder Provinz sind ihre Kontrakte. Es würde daher überhaupt am besten sein, wenn jede Provinz unter allerhöchster Bestätigung ihre eigne Gesetze machte und das kaiserliche Amt bloß daraufhielte, daß jedem nach seinen eignen Gesetzen Recht gesprochen würde.« 17
Wenn Moser, wie in dem »Schreiben eines alten Rechtsgelehrten über das sogenannte Allegieren«, die traditionelle Methode der Juristen, Autoritäten der Rechtswissenschaft zu zitieren, der Tendenz, »nach der gesunden Vernunft« zu richten, positiv gegenüberstellt, hat er keinesfalls nur die Absicht ein altes Herkommen zu verteidigen, sondern verweist auch auf fortschrittlich-demokratische Funktionen dieser Rechtstradition in den Stiften und Reichsstädten, in England und Holland18. »Die Frage: Was ist Wahrheit? ist sehr alt; und nachdem man einige tausend Jahr sich darüber gezankt hat, ist man endlich in den neuern Zeiten auf den alten Grundsatz zurückgekommen: der sicherste Probierstein sei die Mehrheit der Stimmen in der größten Versammlung sachverständiger Männer [.. .]«*'
Der »neuen Mode, eine Sache durch Raisonnements auszufuhren« mißtraut Moser demgegenüber vor allem deshalb, weil sie von den absolutistischen Fürsten zwecks Durchsetzung ihrer despotischen Interessen leicht vereinnahmt werden kann. So äußert er den Verdacht, daß »die gesunde Vernunft, nach welcher jetzt alles behandelt und entschieden werden soll [...] eine gefällige Schmeichlerin der Mächtigen und jene Pedanterie (der Rechtsgelehrten, d.V.) eine ziemliche Stütze der Freiheit sei.«30 Mosers Vorbehalte gegenüber einer auf ausschließlich abstrakten Prinzipien beruhenden Urteilsfindung und Rechtssprechung gehen so weit, daß er auch Juristen und Gelehrten nur eine beratende Funktion, nicht aber das Amt der Rechtssprechung selbst zubilligt. Was er befurchtet, sind Richter, »die auf Gesetze und Ordnung schweren und an dem traurigen Buchstaben kleben müssen«31, den einzelnen Menschen aber und die besonderen Umstände seiner Rechtsübertretung darüber völlig aus den Augen verlieren. So sehr er sich einerseits in dem Aufsatz »Von dem wichtigen Unterscheide des wirklichen und förmlichen Rechts«32 dafür einsetzt, daß »dasjenige, was ein Mensch fiir Recht oder Wahrheit erkennet, nie eher als Recht gelten solle, bevor es nicht das Siegel der Form erhal17
S W I X , 344 Vgl.: S W I V , 116-119 29 S W I V , 118 S W I V , 118 f. 31 S W I V , 248 " Vgl.: S W V I I , 98 fif. 11
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ten«33, so sehr ist er andrerseits bemüht zu beweisen, daß jeder Angeklagte das Recht habe, von Richtern seines Standes gerichtet zu werden, daß ein ihm »ebenbürtiger und genosser M a n n nach seinem Gutdünken sage, wie es sein solle.«34 Vor allem, wenn es um Interpretation und Auslegung der Gesetze gehe, sollte gewährleistet sein, daß die Richter nicht nur dem sozialen Erfahrungsbereich des Angeklagten angehören 3 ', sondern sich bei ihrer Urteilsfindung auch durch einen »Totaleindruck«, das heißt, durch eine unverkürzte, nicht theoretisch reduzierte Wahrnehmung der Rechtsübertretung leiten lassen. »Der Mann, der ein Gesicht anschauet, fühlt tausendmal mehr durch seinen Anblick, als ihm alle Regeln des Lavaters sagen werden; und der Richter empfindet bei dem Falle, den er vor sich hat, eine größere Summe von Punkten als je ein menschlicher Gesetzgeber, der nicht mit Engelzungen redet, ausdrücken kann. Der Reichtum und die Macht des dunklen Begriffs oder des Gefühls, welche eine Sache mit mehr als Millionen Fühlhörnern auf einmal berührt und empfindet, übertrifft die kleinlichen und armseligen Regeln des Gesetzgebers unendlich und empört sich fast in jedem Falle gegen die Bettelei der deutlichsten Abstraktion, welche nie stolz genug ist, sich in Worten äußern und ihr Empfundenes auf das Papier bringen zu wollen. Das hindert nun freilich nicht, daß wir nicht gewisse allgemeine Regeln festsetzen; aber es zeigt doch, wieviel Veränderungen in dem Falle liegen, die wir mit unseren fünf Sinnen wohl erreichen.«'' Nicht nur die germanischen Vorfahren, auch ein moderner Staat wie England orientiert nach Moser seine Rechtspraxis an diesen Vorstellungen, die fur ihn dem Ideal einer (standes)genossenschaftlichen Demokratie entsprechen. 37 So fuhrt er an, daß im englischen Geschworenenprozeß zum einen »zwölf Totaleindrücke über die konkrete Tat« erkennen 38 , zum anderen die Form der Prozeßordnung ausschließt, daß der Staat selbst auf eine Anzeige hin tätig wird und sich dann von sich aus um die Wahrung des Rechts bemüht. W o (wie im »Inquisitionsprozeß«) letzteres der Fall ist, ist für Moser die Folter eine zwangsläufige Folge des Verfahrens, während dort, w o ein Kläger seinen Vorwurf entweder beweisen oder " S W V I I , 99 S W I V , 248 " Vgl.: S W I V , 248, wo Moser anfuhrt, daß Fürsten nur über die Sachen von Fürsten, Edelleute über die von Edelleuten, Bürger über die von Bürgern und Bauern über die von Bauern gerecht zu urteilen vermögen, »außer in dem Falle, wo der Edelmann, der Bürger oder der Landmann sich dergleichen (nicht ihrem Stand angehörige, d.V.) Richter von freien Stücken gewählt und sein Vertrauen darauf gesetzt hatte.« * S W X , 35 37 Vgl. dazu auch die neuere Studie von Jan Schröder. Justus Moser als Jurist. (= Osnabrücker rechtswissenschaftliche Abhandlungen 5). Köln, Berlin, Bonn, München 1986. Schröder stellt Mosers Rechtsauffassung in den Kontext zeitgenössischer Vorstellungen und untersucht ihre Wirkung auf die Rechtslehre und Justizkritik des 19. u. 20. Jahrhunderts. Dabei werden unter Berücksichtigung seines eigenwilligen Naturrechtsbegriffs und seiner geistigen und materiellen Bindung an den Ständestaat Mosers reformpolitische und liberale Ansätze besonders gewürdigt. 38 S W V I I , 29: vgl. dazu auch Michael Maurer, Aufklärung und Anglophilie [...], S. 132 34
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der Beklagte freigesprochen werden muß (wie im von ihm befürworteten »Accusationsprozeß«) »niemals auf die Folter erkannt werden« kann.39 Wenn Moser auch die Schwierigkeiten, diese traditionelle Prozeßordnung in einer sich beschleunigt differenzierenden Gesellschaft beizubehalten, realistisch einschätzt, plädiert er doch im Interesse von Humanität und »allgemeiner Freiheit« dafür, sie nicht »ohne die höchste Not« preiszugeben.40 Daß Mosers Rekurs auf Geschichte und Herkommen nicht auf die starre Haltung eines Status-quo-Denkens reduziert werden kann, zeigt sich insbesondere auch in jenen »Phantasien«, die sich mit Fragen und Problemen der unteren sozialen Schichten, vor allem des Bauernstandes befassen. Seine Argumentation zielt hier auf eine Entwicklung der Staats- und Wirtschaftsordnung, die der konstitutiven Funktion des Landeigentums für die staatliche Ordnung Rechnung trägt.41 Ein Agrarstaat muß demnach seine erste Sorge darauf richten, die freien Hofe zu erhalten42, dem Verfall und der Unterdrückung des Landeigentums Grenzen setzen4' und die »Ausheuerung« der Bauernhöfe zu verhindern suchen.44 Auch bei der Frage einer Ablösung aus überkommenen Abhängigkeitsverhältnissen geht es Moser bezeichnenderweise zuallererst um diese Sicherstellung einer ökonomischen Existenzgrundlage, die er keinesfalls gewährleistet sieht, wenn zum Beispiel die Ablösung aus der Leibeigenschaft den Hofherren allein überlassen bleibt. Realistisch konstatiert Moser hier, daß eine derartige »Freilassung« mehr dem Eigeninteresse der Grundherren als der Freiheit der Leibeigenen dienen könnte, da diese ihre alten Schutzrechte verlieren, ohne über eine entsprechende materielle Basis zur Sicherung der neugewonnenen Freiheit zu verfugen.45 William Sheldon hat kürzlich aufgrund eines neuaufgefundenen Gutachtens, das Moser 1779 für Joseph II. über die Leibeigenschaft Osnabrücks erstellte, überzeugend dargelegt, daß Moser sich nicht nur mit der Position der Aufklärung zum Problem der Leibeigenschaft ausführlich auseinandergesetzt hat, sondern auch ganz konkrete Vorschläge zu deren Aufhebung unterbreitete.46 Dabei wird einmal mehr Mosers Skepsis gegenüber allen theoriegebundenen Konzepten deutlich, aber auch sein Eintreten für den organisch-evolutionären Ubergang von der Leibeigenschaft in das neue Herrschaftsverhältnis der »freien 39 40 41
41 4J 44 45 46
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S W V I , 78 S W V I , 80 Vgl. dazu auch: Werner Conze. Bauer, Bauernstand, Bauerntum. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Hrsg. v. O. Brunner, W. Conze, R. Kosellek. Stuttgart 1974, S. 419 ff. Vgl.: S W V I I , 183 Vgl.: S W V I I , 287 f. Vgl.: S W V I , 238 f. Vgl.: S W V I , 198 f., S. 270 f. und ebd. Bd. IX, S. 162 ff., die Erzählung »Der arme Freie« Vgl.: ders. Z u m Problem der Leibeigenschaft bei Justus Moser. In: Dienst für die Geschichte. Gedenkschrift fur Walther Hubatsch. Hrsg. v. M . Salewski u. J. Schröder. Göttingen, Zürich 1985, S. 64
Erbpacht«, von dem er glaubt, daß es dem Bauern seine »persönliche« Freiheit sichert, ohne ihn landlos zu machen oder zum Heuerling zu degradieren. 47 Neben der Erhaltung der reihepflichtigen Höfe zielt Moser mit seinen
Reform-
vorschlägen vor allem auf eine Stärkung des Ehrgefühls, des Selbstbewußtseins und des Ansehens des bäuerlichen Standes. 48 Wirtschaftlich abgesichert, aber weiterhin des Schutzes durch eine patriarchalische Gesellschaftsordnung gewiß, sollen die Bauern schrittweise an ein größeres M a ß an Freiheit und politische Mitverantwortung herangeführt werden. Zwar geht aus dem erwähnten Gutachten und aus anderen Äußerungen Mosers unmißverständlich hervor, daß er den Bauern seiner Zeit noch keineswegs fur mündig und voll emanzipationsfähig hält, mit den wesentlichen Neuerungen seines Modells (persönliche Freiheit und Freizügigkeit) schafft er desungeachtet durch die Möglichkeit des Eigentumserwerbs entscheidende Voraussetzungen fur zukünftigen wirtschaftlichen und damit auch politischen Einfluß. Sind doch seiner historisch-rechtlichen Argumentation zufolge an jede A r t von Landbesitz die Inanspruchnahme politischer Rechte und die Ausübung politischer Verantwortung notwendig gebunden. Mosers Ständegedanke ist nicht statisch, sondern dynamisch. Gerade im Bild des Staates als Pyramide wird dies deutlich. Die gesicherte ökonomische Basis der unteren Stände erzwingt die soziale Durchlässigkeit der Ständeschranken. »Mit Macht dringt sich Gesundheit, Fleiß und Stärke immer von unten auf gegen die Höhe; die eisernen Tugenden des unteren Teils der Pyramide schieben täglich eine Menge zum Schafte hinaus [...] die Hauptstädte werden immer von dem dauerhaften Flugstande bevölkert, in der Handlung zählt man immer mehr gewordene als erzeugte Reiche; und selbst von den Gelehrten will man angemerkt haben, daß die von 47
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Das Versäumnis, Regelungen fiir den Besitz des Freigelassenen zu treffen, lastet Moser demgegenüber dem unter Voltaires Einfluß 1779 in Frankreich von Necker erlassenen Edikt an, das die entschädigungslose, sofortige Aufhebung der Leibeigenschaft auf den königlidien Domänen anordnete. Vgl.: William F. Sheldon. Zum Problem der Leibeigenschaft [...], S. 65 u. 67 In dem fiktiven »Schreiben einer Gutsfrau, die Freilassung ihrer Eigenbehörigen betreffend« werden dieser Absicht entsprechend negative Folgen unbedachter Freilassungen kritisiert: »Einige unsrer Nachbarn, welche ihre Leibeigne auch in Erbpächter verwandelt haben, haben verschiedenes von der Knechtschaft beibehalten und unter andern auch die Erlaubnis erhalten, ihre sogenannten Freien, wenn sie etwas verbrechen, mit Gefängnis, auch wohl mit dem spanischen Mantel bestrafen zu dürfen. Allein, Leute, die nach der Willkür eines Schutzherrn unter solchen Strafen stehen, sind keine wahre Freie, sondern Zwitter, die so wenig den Ton als den Mut rechtlicher Leute bekommen werden; und wo dieser Endzweck verfehlt wird, da ist es weit besser, die ganze Leibeigenschaft in ihrer völligen Strenge beizubehalten. Meines Mannes Absicht ist, den Seinigen ein richtiges Gefühl der Ehre beizubringen und sie durch dieses zu guten Haushältern und vermögenden Pächtern zu machen, die ihm das Seinige mit dankbarer Freude geben sollen.« S W V I , 205; vgl. auch: William F. Sheldon. Zum Problem der Leibeigenschaft [...], S. 66; zu Mosers Bauernpolitik vgl. bes. auch die ältere Arbeit von Otto Hatzig. Justus Moser als Staatsmann und Publizist, S.35-91
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geringstem Herkommen in ihrer Jugend den mehrsten Fleiß, als Männer die wahre Dauer zur Arbeit und am seltensten den Fehler der Hypochondrie haben.«49
Gelingt eine ökonomische Sanierung bürgerlicher und bäuerlicher Schichten, dann hat das fur Moser auch ganz entschiedene Folgen in sozialpsychologischer Hinsicht. Denn die Neigung des Bürgertums, »Ehre« allein im Dienst zu suchen und den fürstlichen Dienern überall große Vorzüge einzuräumen«, ist fur ihn nur die Folge seiner ökonomischen Schwäche. 50 »Die Tyrannei, welche darin steckt, wenn Fürnehmere sich alles erlauben und den geringem alles untersagen wollen«, könnte mit einer Verbesserung dieser ökonomischen Situation ebenso aufgebrochen werden wie die »Befugnis«, die »Bürger eines Staats in willkürliche Klassen abzuteilen.« 51 Mit wachsender ökonomischer Potenz bürgerlich-bäuerlicher Schichten stellt sich die überkommene Rang- und Wertfrage ganz neu. »Alle sprechen von furnehmen und geringen Bürgern. Wer ist aber der ftirnehme und geringe? Der Mann, der aus seinem Comtoir der halben Welt Gesetze und Königen Kredit giebt, oder der Pflastertreter, der in einem langen Mantel zu Rate geht? Der Handwerker, der tausend dem Staate gewinnt, oder der Krämer, der sie herausschickt? Der Mann, der von seinen Zinsen, oder der, so von Besoldung lebt und dem gemeinen Wesen in der Futterung gegeben ist? Der Taugenichts, der seines wohledlen Großvaters Rang noch mit geerbten Stock und Degen behauptet, oder der Meister, der die beste Arbeit macht?«51
Erst vor dem Hintergrund dieser offensichtlichen Priorität ökonomischer Gesichtspunkte in der Bewertung sozialer Geltung wird Mosers eigenwilliger, von jeder moralischen Emphase freier Patriotismusbegriff voll verständlich. Im Gegensatz zum Patriotismusverständnis der Aufklärung, das den uneigennützigen Dienst am Gemeinwesen in den Vordergrund stellte, die »Verläugnung [ . . . ] des eigenen Nutzens oder Schadens«53 geradezu forderte, ist für Moser die Entwicklung des bürgerlichen Erwerbssinnes und damit der »Eigennutz« Grundlage fur echten Patriotismus. Weil die Philosophen »in dem Gemälde und Charaker des Patrioten auch nicht einen Strich von Eigennutz dulden«, finden sie ihn seiner Ansicht zufolge »nirgends anders als in ihrem Kopf oder höchstens auf dem Papier«. 54 Da für ihn nicht die moralische Vollkommenheit den Wert des Bürgers bestimmt 55 , plädiert er dafür, »dem Menschen immer einen Teil seiner menschlichen Schwachheiten und so auch dem Patrioten einen Teil von Eigennützigkeit« zu lassen, »wenn nur sein Eigennutz das gemeine Beste zugleich mit befördert 49
S W V , 216 S W I V , 131 " S W I V , 132 52 S W I V , 131
50
" Friedrich Carl von Moser. Beherzigungen, S. 247 S W VIII, 253 55 Vgl. die Phantasie »Verdienten sie die Krone oder nicht? Ein moralisches Problem.« S W V I I , 69-73
54
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oder es wenigstens nicht störet oder hindert.«®6 Denn »keiner kehrt aus Liebe zum Lande oder seiner Verfassung zurück, und keiner malt sich dasselbe reizender als ein fremdes Land, wenn es ihn verhindert, seine Knöpfe und Schnallen zu zeigen.«®7 Nationalinteresse braucht konkrete Bezugspunkte. Und das heißt für Moser vor allem, die bürgerliche Gesellschaft ökonomisch, politisch und praktisch zu bilden und es heißt auch, jene Tendenzen zu bekämpfen, die diese pragmatische Zielsetzung gefährden könnten. Eins der wesentlichen Elemente in Mosers Zeit- und Gesellschaftskritik bildet dementsprechend seine Kritik bürgerlicher Empfindsamkeit. Mit dieser Kritik steht er in einer Tradition, die sich Anfang der siebziger Jahre von Seiten der Aufklärung in den einschlägigen periodischen Schriften der Zeit, sozusagen als Frontstellung gegen die zunächst positive Rezeption der sentimentalen SterneNachfolge und der sanft-zärtlichen Liebes- und Freundschaftspoesie formierte.®8 Bezeichnenderweise richtet sich Mosers Opposition nicht gegen Gefiihlsbetontheit als solche, d.h. nicht gegen den Durchbruch leidenschaftlicher, aufbegehrendaktiver Gefühle, wie sie sich dann in der Literatur des Sturm und Drang verwirklichten, sondern nur gegen jene weichliche, selbstgenüßliche, passive, in formelhafter und modischer Äußerlichkeit verharrende Gefiihlsschwärmerei, die infolge der Rezeption von Goethes »Werther« gesellschaftliches Gewicht erhalten hatte, indem sie den Charakter einer neuen Geisteshaltung und sozialen Verhaltensweise annahm." Diese mußte schon deshalb auf Mosers Mißbilligung treffen, weil sie zur Passivität verführte und notwendiges Handeln mit wort- und gestenreichen Reflexionen über das Handeln kompensiert.60 Nicolai, dessen »Allgemeine deutsche Bibliothek« in den siebziger und achtziger Jahren Wesentliches dazu beitrug, die Mode- und Zeitkrankheit »Empfindsamkeit« in die Nähe des Pathologischen, Morbiden, Abartigen und Exzentrischen6' zu rücken, konnte mit seiner vor dem Hintergrund dieser Kritik entstandenen »Werther«-Parodie auf Mosers volle Zustimmung rechnen. Dieser schreibt ihm im Februar 1775: »Die >Freuden des jungen Werthers< haben hier, wie überall, einen lauten Beyfall gefunden, und ich wünsche, daß solche der neuen Ausgabe der >Leiden6 An Johanna Fahimer am 14. Februar 1776 und an Herder im Juli 1772. Johann Wolfgang Goethe. Briefe. Bd. 1. Hrsg.: K.R. Mandelkow, S. 207 u. 132 " Vgl. dazu bes.: Albert Fuchs. Goethe im Staatsdienst 1776-1786. In. ders. GoetheStudien, S. 197-225 und Wilhelm Mommsen, S. 34-90 Vgl. dazu: Volkmar Braunbehrens. Egmont, das lang vertrödelte Stück, S. 85 19 Vgl.: Anm. 47 oben 60 Vgl.: Albert Fuchs, S. 202 61 Vgl. dazu auch: Wilhelm Mommsen, S. 39 und Albert Fuchs, S. 216 f.
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dessen Abneigung gegen die Bürokratie. 61 Ganz im Sinne Mosers bringt er dem Volk als Masse kein politisches Vertrauen entgegen, dafür aber den »kleinen« Leuten in ihrer privaten Existenz die größte Aufmerkamkeit und wärmste Symphatie. 63 W i e Moser stellt auch Goethe die Idee des Adels und die ständische Gliederung der Gesellschalt innerhalb seiner Amtstätigkeit niemals in Frage, fordert dabei aber zugleich die »bürgerliche« Selbsttätigkeit des einzelnen, die intelligente, wohlunterrichtete, handelnde Teilnahme am Gemeinwesen. 64 In diesem Sinne schreibt er noch 1784 an Carl August: »Man muß Hindernisse wegnehmen, Begriffe aufklären, Beyspiele geben, alle Theilhaber zu interessieren suchen, daß ist freylich beschweerlicher als befehlen, indessen die einzige Art in einer so wichtigen Sache zum Zwecke zu gelangen, und nicht verändern wollen sondern verändern.«65 M i t dem an Moser geschulten Blick sucht Goethe in den kleinen Dingen seines politischen Alltags die hier angesprochenen Veränderungen durchzusetzen, ohne die Einsicht in die Gesamtzusammenhänge zu verlieren. 66 Eine Tagebuchnotiz aus dem Jahre 1 7 7 9 verrät freilich auch etwas von den Schwierigkeiten, die dieser Orientierung an dem Prinzip der »Einheit in der Mannigfaltigkeit« im täglichen Leben immer wieder entgegenstehen. »Ich darf nicht von dem mir vorgeschriebnen Weeg abgehn, mein Daseyn ist einmal nicht einfach, nur wünsch ich, dass nach und nach alles anmasliche versiege, mir aber sdiöne Kraffi übrig bleibe die wahren Röhren neben einander in gleicher Höhe aufzuplumpen. Man beneidet jeden Menschen den man auf seine Töpferscheibe gebannt sieht, wenn vor einem unter seinen Händen bald ein Krug bald eine Schaale, nach seinem Willen hervorkommt. Den Pundct der Vereinigung des manigfaltigen zu finden bleibt immer ein Geheimniss, weil die Individualitet eines ieden darinn besonders zu Rathe gehn muss und niemand anhören darf.«67 Auch der oben artikulierte Wille, den einzelnen im Sinne Mosers zur politischen Selbstständigkeit und Mitverantwortung zu erziehen, läßt sich in der politischen 61
Goethe sucht sich auf für ihn charakteristische Art und Weise mit dem Land durch unmittelbare Kontakte vertraut zu machen, bereist zu diesem Zweck inkognito das Herzogtum zu Fuß oder Pferd. An Frau von Stein schreibt er 1779: »Wenn nur die Fürsten seyn könnten wie Bürger [...] Mit denen Leuten leb ich, red ich, und lass mir erzählen. Wie anders sieht auf dem Piazze aus was geschieht als wenn es durch die Filtrir Trichter der Expeditionen eine Weile läufft.« Johann Wolfgang von Goethe. Briefe. Bd. ι. Hrsg.: K.R. Mandelkow, S. 263 f. Vgl. dazu auch: Albert Fuchs, S. 216
6j
Von seiner Harzreise im Winter 1777 schreibt Goethe an Frau von Stein in diesem Sinne von seiner »Liebe zu der Klasse von Menschen [...] die man die niedre nennt.« Johann Wolfgang von Goethe. Briefe. Bd. 1. Hrsg.: K.R. Mandelkow, S. 242. Mosers Einfluß ist jedoch audi zu spüren, wenn Goethe desungeachtet die Besitzlosen und Asozialen als Belastung für die Gesellschaft empfindet und sie aus dem sachsenweimarischen Gebiet abzuschieben versucht. Vgl.: Albert Fuchs, S. 208
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Vgl.: Albert Fuchs, S. 206 ff. u. S. 213 Johann Wolfgang von Goethe. Briefe. Bd. 1. Hrsg.: K.R. Mandelkow, S. 461 Vgl.: Wilhelm Mommsen, S. 45 Goethes Tagebücher. 1. Bd. 1775-1787. (Sophien-Ausgabe) Weimar 1887, S. 89
6> 66 67
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Praxis nicht so leicht realisieren. Goethe, der den Staatsdienst in Weimar nicht zuletzt deshalb wählte, weil die Kleinheit des Staatswesens und die Persönlichkeit Carl Augusts eine Gewähr fiir eine Regierungsarbeit jenseits von Despotismus und politischen Machtinteressen zu bieten schien, mußte bald die - gerade auch durch die Kleinheit der Verhältnisse bedingten - Grenzen seiner Möglichkeiten in der Reformpolitik 68 und seines Einflusses auf den Fürsten erkennen. Bei aller Aufgeschlossenheit fiir Reformvorhaben war der Herzog keinesfalls gewillt, die Regierungsverantwortung aus den Händen zu geben und zeigte in der Fürstenbundpolitik eine, die eigene außenpolitische Ohnmacht unterschätzende Tendenz zur Einmischung in die große Politik, die Goethe, ungeachtet aller grundsätzlichen Unterstützung, die er Carl August in diesen Verhandlungen zukommen ließ, nur mit Skepsis beurteilen konnte. 6 ' In den Tagebucheintragungen und Briefen nach 1778 ist zunehmend ein gereizter, resignierter und schließlich verbitterter Ton zu erkennen, der dem anfänglichen Enthusiasmus fiir das »tätige Leben« diametral entgegengerichtet ist.70 Die Gefahr, in »Lässigkeit und Untätigkeit« zu verfallen 71 , wird beschworen, Enttäuschung, Ermüdung und Verzweiflung an den Einrichtungen und Menschen artikuliert.72 Die stockende, immer wieder in Angriff genommene Arbeit am »Egmont« demonstriert den vergeblichen Versuch, sich im Medium des historischen Stoffes Klarheit über die Weimarer Erfahrungen, über den eigenen Anteil am politischen Geschehen zu verschaffen.73 Zugleich bricht jener - stets latent vorhandene - innere Konflikt zwischen bürgerlicher und künstlerischer Existenz wieder auf, den Goethe 1774 mit seiner Entscheidung fiir den Staatsdienst zu überwinden gehofft hatte. 1782, in eben dem Jahr, in dem Goethe über den wiederaufgenommenen Kontakt zu seiner Tochter Moser fiir eine Diskussion über seine Stücke zu gewinnen sucht, erreicht der auf ihm lastende, existentielle Zwiespalt einen ersten Höhepunkt. »Wieviel wohler wäre mir's«, schreibt er im Juli an Charlotte von Stein, »wenn ich von dem Streit der politischen Elemente abgesondert in deiner Nähe meine Liebste, den Wissenschaften und Künsten wozu ich gebohren bin, meinen Geist zu wenden könnte.«74 Im September teilt er derselben mit, daß er nicht mehr 2 Goethe. S W 7 , 528 " Goethe. S W 7 , 539
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In den »Wahlverwandtschaften«, dem ursprünglich als Teil der »Wanderjahre« gedachten Roman, unternimmt Goethe - einer Tagebuchnotiz Riemers entsprechend - laut eigener Aussage den Versucht, »sociale Konflikte und die Verhältnisse derselben symbolisch gefaßt darzustellen.«'4 Und in der Tat wird hier auf mehreren Ebenen das Scheitern von Menschen vor dem Hintergrund ihrer Entwurzelung aus sozialen Bindungen durchgespielt. Das verdichtende, verweisende, mehrschichtige und mehrdeutige Erzählen des Romans rückt einen Adelsstand ohne Zukunft in den Blick, der sich den sozialen und öffentlichen Funktionen des überkommenen Feudalverhältnisses nicht mehr verpflichtet weiß, aber ebensowenig bereit ist, die durch den Wandel der Verhältnisse bedingten Herausforderungen der neuen Zeit anzunehmen. Nicht nur in Eduards schroffer Zurückweisung sozialer Verantwortung gleich zu Beginn des Romans »Ich mag mit Bürgern und Bauern nichts zu tun haben, wenn ich ihnen nicht geradezu befehlen kann [...]«"
- wird die trügerische Idyllik eines Lebens offenbar, das sich durch nichts »Hinderndes, Fremdes« gestört sehen möchte' 6 , sondern auch in jener empfindsamen, hingebungsvollen Kultivierung der Parkanlagen des Landguts, die das fast hermetisch abgeschlossene Szenarium, sozusagen das gesellschaftliche Vakuum bilden, innerhalb dessen sich zunächst die lebensvolle Gestaltung der »Wahlverwandtschaften«, schließlich aber auch die problematische Entwicklung der Beziehungen vollzieht. Goethes Orientierung an Mosers Geschichts- und Gesellschaftsverständnis ist gerade hinsichtlich dieser zeit- und gesellschaftskritischen Elemente unverkennbar. Die gesellschaftlichen Probleme, die der Roman aufwirft, ohne sie zu einer Lösung zu führen, wie auch die unbewältigten privaten Konflikte, sind Ausdruck von Krisensymptomen der Gegenwart, die in den »Phantasien« Mosers als Phänomene des gesellschaftlichen Wandels diskutiert werden: der Verlust von Unmittelbarkeit und Erfahrung, die Auflösung überkommener sozialer Bindungen und Ehrbegriffe, die Veränderung der Sitten und Lebensgewohnheiten, der gesellschaftlichen Leitvorstellungen, die Orientierungsungewißheit, die Verkennung der Zusammenhänge von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die Unfähigkeit zu einem wirklich »tätigen« Leben, zur Übernahme von öffentlicher und sozialer Verantwortung. Nicht nur in den Gesprächen mit dem Architekten anläßlich der Neugestaltung des Friedhofs und der Restaurierung der Kapelle, sondern auch in Ottiliens Tagebuch bildet die Wiederaufnahme dieser Diskussionen aus Mosers »Phantasien« die Folie, auf der der »innere« Zustand einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe ausschnitthaft entfaltet und transparent ' 4 Zitiert nach Karl Otto Conrady, S. 353 " Goethe. S W 9 > 55 36 Goethe. S W 9 , 14
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gemacht wird.' 7 Nie im eigentlichen Sinne »tätig«, sondern nur damit beschäftigt, ihren Liebhabereien nachzugehen, die selten mehr als eine angenehme Zerstreuung bieten, bewegen sich die Figuren des Romans in einer noch weitgehend der Vergangenheit angehörenden, der Wirklichkeit auf eine fast »traumhafte« Weise entrückten Welt, sowohl die Züge ihres Verfalls als auch die Zeichen einer heraufziehenden neuen Epoche konstatierend, jedoch unfähig zu einer durchdringenden Analyse ihrer Situation. Der in den Asthetisierungs- und Restaurationsbemühungen zum Ausdruck kommenden Sehnsucht nach »einem verschwundenen goldenen Zeitalter« korrespondiert die zentrale Frage, »ob man denn wirklich in der neueren Zeit lebe, ob es nicht ein Traum sei, daß man nunmehr in ganz andern Sitten, Gewohnheiten, Lebensweisen und Uberzeugungen verweile«.'8 Insofern dieses Erinnern von Vergangenem den Gestalten des Romans zum isolierenden Selbstzweck gerinnt und nicht im Sinne Mosers zum Leitfaden für eine Gegenwart wird, an dem das aktive Handeln im Hinblick auf die Perspektive einer besseren Zukunft ausgerichtet werden könnte, sind sie exemplarisch für eine Gesellschaft, die in sich unsicher und von daher auch nicht lebensfähig ist, erscheinen Versuche wie derjenige Ottiliens, »eine Freistatt da zu suchen, wo wir tätig sein können«' 9 , von vorneherein aussichtslos. Vor dem Hintergrund der Möserschen Geschichts- und Gesellschaftsauffassung gelesen, sind die »Wahlverwandtschaften« sowohl ein Roman scheiternder Konfliktbewältigung als auch mißlingender sozialer Integration. In den »Wanderjahren«, jener kaum mehr im üblichen Sinne als Roman zu bezeichnenden Dichtung Goethes, bildet dieses durch Moser angeregte Fragen nach den Möglichkeiten sozialer Integration angesichts der historischen Wandlungsprozesse das eigentliche Zentrum. Unter vielfachen Bezügen auf Mosers Werk werden hier soziale Integrationsmodelle erprobt, die eine Ausbildung des Menschen zur Lebenstüchtigkeit gewährleisten könnten, ohne ihm seine Individualität zu rauben und ohne ihn jenem Leiden an den bürgerlichen Verhältnissen zu überantworten, dem in allen früheren Romanen Goethes ein zentraler Stellenwert zukommt und das - als entwicklungstheoretischer Befund z.B. bei Autoren wie Schiller oder Hölderlin die entscheidende Dominante der Gegenwartsbefindlichkeit darstellt. Ein wichtiges Moment dieser zahlreichen sozialen Diskurse in den »Wanderjahren« ist die in Mosers Schriften präfigurierte 37
W i e differenziert und subtil die Verarbeitung einer derartigen, in den »Patriotischen Phantasien« geführten Diskussion im einzelnen erfolgt, hat Klaus Lindemann am Beispiel der Auseinandersetzung u m die Neugestaltung des Friedhofs gezeigt. Vgl.: ders. a.a.O.
' ' Goethe. S W 9 , 1 4 4 , 1 9 8 u. 143. E b d . , S. 39 f. klagt Eduard in diesem Sinne darüber, »daß man jetzt nichts mehr fur sein ganzes Leben lernen« könne, daß man »alle f ü n f Jahre neulernen« müsse. " Goethe. S W 9 , 249
42.3
- oben ausfuhrlich dargestellte 40 - Einsicht in die Notwendigkeit des Verzichtes auf allseitige Persönlichkeitsbildung und die damit verbundene Hinnahme beruflicher Spezialisierung in einer zunehmend arbeitsteilig organisierten Gesellschaft. Das Thema der Entsagung, der Selbstbeschränkung klingt bereits in den »Lehrjahren« an, wenn Jarno das Aufgehen im Kollektiven als das Ziel einer geglückten Individualbildung formuliert. »Es ist gut, daß der Mensch der erst in die Welt tritt, viel von sich halte, daß er sich viele Vorzüge zu erwerben denke, daß er alles mögliche zu machen suche; aber wenn seine Bildung auf einem gewissen Grade steht, dann ist es vorteilhaft, wenn er sich in einer größeren Masse zu verlieren lernt, wenn er lernt um anderer willen zu leben, und seiner selbst in einer pflichtmäßigen Tätigkeit zu vergessen. Da lernt er erst sich selbst kennen, denn das Handeln eigentlich vergleicht uns mit andern.«4'
In den »Wanderjahren« wird dieses in der Erkenntnis, daß »nur alle Menschen [ . . . ] die Menschheit [...], nur alle Kräfte zusammengenommen die Welt« ausmachen 42 kulminierende Bildungskonzept mit erheblich erweiterter historischer und sozialer Perspektive verifiziert. Obwohl auch hier die Geschichte Wilhelms weitererzählt wird, steht nicht mehr seine individuelle Entwicklung, sondern die der Gesellschaft als ganzes im Vordergrund. 4 ' Die sich den Herausforderungen einer im Wandel begriffenen Zeit nicht verschließende Societät des Turms folgt nicht mehr dem Wahlspruch »Den Meisten das Beste«, sondern der neuen Maxime »Vielen das Erwünschte« 44 . Anhand der Stationen von Wilhelms Wanderschaft vermittelt der Roman das Bild einer in Bewegung geratenen Gesellschaft zwischen Tradition und Moderne, gibt einen differenzierten Einblick in die in ihr möglichen Lebensformen, diskutiert ihre kulturellen und sozialen Bedürfnisse und erprobt die in ihr praktizierten, unterschiedlichsten Produktions- und Wirtschaftsweisen im Hinblick auf Zukunftsperspektiven. In Anknüpfung an Mosers Leitgedanken einer organisch-evolutionären Fortbildung des Bestehenden werden soziale und ökonomische Probleme, Fragen der Erziehung und Bildung wie auch der individuellen und gesellschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten diskursiv entfaltet, niemals aber zu einer eindimensionalen Lö40
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Vgl. dazu meine Ausführungen über Mosers Staats- und Gesellschaftsauffassung in den »Patriotischen Phantasien«. Goethe. S W 7 , 529 f. Goethe. S W 7, 592 Auch fur Wilhelm sind seine »Wanderjahre« nicht in erster Linie Mittel weiterer Individualbildung, sondern »Lehrjahre« des »Äußeren«, d.h. sie bilden die Voraussetzung für seine am Ende gelungene Integration in die bürgerliche Gesellschaft. Entsprechend versteht er selbst den Zweck seines Wanderns: »Wohin Sie mich senden begeb' ich mich gern; ich ging aus zu schauen und zu denken, bei Ihnen hab' ich mehr erfahren und gelernt, als ich hoffen durfte, und bin überzeugt, auf dem nächsten eingeleiteten Wege werd' ich mehr als ich erwarten kann gewahr werden und lernen.« Goethe. SW 8, 90 Goethe. S W 8 , 75
sung gefuhrt4'. Dabei findet Mosers Vorstellung von der »Einheit in der Mannigfaltigkeit« ihre wohl differenzierteste Ausgestaltung. Ihr entspricht das Bild einer Gesellschaft, die durch das Nebeneinander einer Vielzahl unterschiedlichster Existenzformen charakterisiert ist und dem einzelnen, obwohl sie ihm das Opfer des Verzichts auf eine individuelle Ausbildung aller seiner Fähigkeiten abverlangt, ein Leben im »Ganzen« ermöglicht, in dem die unabwendbare Reduktion individuellen Entfaltungsspielraumes durch lebendige gesellschaftliche Beziehungen aufgefangen wird. Entwicklungsträger dieses Gesellschaftskonzeptes, das auf Heranbildung und Erziehung von »wahrhaft Tüchtigen, sich selbst und anderen Nützlichen«4' zielt, ist jener Bund reformfreudiger Adliger, der sich bereits in den »Lehrjahren« ganz im Sinne Mosers unternehmerisch planend und handelnd mit öffentlich-bürgerlichen Angelegenheiten befaßt und damit - unter bestimmten Bedingungen - die Bündnisfähigkeit von Adel und Bürgertum erwiesen hatte.47 In den »Wanderjahren« werden die sich hier abzeichnenden sozialen Integrationsmodelle noch wesentlich erweitert. Die Gesellschaft vom Turm schließt ein Bündnis mit Lenardos Handwerkerbund, plant zugleich den großen Aufbruch nach Amerika, der die Möglichkeit zu völlig neuen Existenz- und Sozialformen eröffnet, unterhält ein äußerst bewegliches Kommunikationssystem, das flexible Reaktionen auf veränderte Situationen erlaubt und steht in engem Kontakt zur »pädagogischen Provinz«, einer großen nationalen Erziehungsanstalt, wo sich jene vom Abbé vertretene Maxime von einer kollektiven Ausbildung und Entwicklung aller menschlichen Anlagen zur umfassenden Theorie und Praxis entfaltet hat.48 Parallelen zu Moser finden sich in den »Wanderjahren« nicht nur hinsichdich der sozialen Wahrnehmungen und Wertungen Goethes, sondern auch in bezug auf die Beurteilung des Gesellschaftsprozesses als Ganzes. Wie Moser sucht 4Ï
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Goethe hat hier vor allem auf »Phantasien« Mosers Bezug genommen, die im Kapitel über seine Staats- und Gesellschaftsauffassung behandelt werden. Goethe. S W 8 , 263; vgl. auch: ebd., S. 306 Vgl. dazu insbesondere Mosers »Phantasie«: »Warum bildet sich der deutsche Adel nicht nach dem englischen?«, in der die »Verbürgerlichung« des deutschen Adels im Interesse des Gemeinwohls gefordert wird. Justus Moser. S W VII, 203-213 Vgl.: Goethe. S W 7 , 592, wo Jarno die Erziehungsgrundsätze des Abbé wie folgt beschreibt: »Vom geringsten tierischen Handwerkstriebe bis zur höchsten Ausübung der geistigen Kunst [...], alles das und weit mehr liegt im Menschen, und muß ausgebildet werden; aber nicht in einem, sondern in vielen. Jede Anlage ist wichtig und sie muß entwickelt werden.« Moser fuhrt seine in den »Phantasien« vielfach variierten Gedanken über Erziehung und Bildung in dem Fragment »Erziehung und Anlage« auf eben diesen Grundsatz zurück: »Die Erziehung tut freilich vieles - sehr vieles, liebster Freund, aber man muß doch nicht erwarten, daß sie aus jedem alles machen soll: Es verhält sich mit den Menschen eben wie mit dem Boden des Landes; einiger bringt bessern Weizen, der andre bessern Hafer, und ein aufmerksamer Hauswirt bedüngt, bearbeitet und bestellet jeden nach seiner natürlichen Anlage; er sucht keinen Weizen vom Haferlande zu erzwingen: Diesem muß der Erzieher folgen [...]« Justus Moser. S W X , 290 425
Goethe nach Lösungen, die den mit dem historischen Wandel sich notwendig abzeichnenden Entwicklungsweg sowohl für den einzelnen als auch ftlr die Gesellschaft akzeptierbar machen. So wird einerseits der Mosers Geschichtsverständnis verpflichtete Gedanke »wie bedenklich die Entfernung vom Überlieferten sein müsse, an welches von Jugend auf sich soviel angeschlossen«49, in zahlreichen Varianten vor Augen gefuhrt, andererseits aber zugleich auch dem Entwicklungsaspekt, demjenigen, »was in der Welt so schnell wechselt und sich verändert« in vielfältiger Weise Rechnung getragen.50 Auch die am Ende des Romans aufscheinenden Alternativen, das Auswandern nach Amerika und der Entschluß, in und mit der Nation voranzukommen, beruhen auf zentralen Vorstellungen Mosers. Im Zusammenhang seiner Sozialkontrakt-Theorie berührt dieser nicht nur mehrfach die Auswanderungsproblematik, sondern betont immer wieder, daß eine bestehende Verfassung nicht ohne Verletzung aller historisch verbürgten Rechte geändert werden kann, bei der Neugründung einer Kolonie hingegen es den Kolonisatoren völlig frei steht, sich über die ihren Umständen und Bedürfnissen am besten entsprechende Verfassung zu verständigen.'1 Wenn sich am Ende der »Wanderjahre« die Gesellschaft in zwei Gruppen teilt, entsprechen die Erwartungen der jeweiligen Fraktion genau diesen Vorstellungen. Goethe hat sie im Roman bereits im ersten Buch expliziert. »Hier entwickelte sich die Maxime, daß eine in sich abgeschlossene in Sitten und Religion herkömmlich übereinstimmende Nation vor aller fremden Einwirkung, vor aller Neuerung sich wohl zu hüten habe; daß aber da, wo man auf frischem Boden viele Glieder von allen Seiten her zusammen berufen will, möglichst unbedingte Tätigkeit im Erwerb, und freier Spielraum der allgemein sittlichen und religiösen Vorstellungen zu vergönnen sei.«'*
Es würde im Rahmen dieser Ausführungen zu weit fuhren, all jene Bezüge zu Vorstellungen Mosers anzuführen, die sich sowohl in den Vorträgen Lenardos als auch Odoardos zur jeweiligen Societät der Auswanderer und der Daheimgebliebenen finden. Hinsichtlich der Darstellung und Bewertung der Sozial- und Wirtschaftsordnung, des Handels, Handwerks und aufkommenden Fabrikwesens in der sich im Übergang von der mittelalterlichen Ordnung zu der des 19. 45 50 51
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4z6
Goethe. S W 8 , 453 Goethe. S W 8 , 1 5 8 Vgl. dazu insbesondere Mosers Aufsätze: »Schreiben über ein Projekt unserer Nachbaren, Kolonisten in Westfalen zu ziehen« (SWIV, 288); »Etwas zur Naturgeschichte des Leibeigentums« (SW VII, 255 ff.); »Wann und wie mag eine Nation ihre Konstitution verändern?« (SW IX, 179 ff.) Ebd., S. 182 ff: »Über die Einwendungen des Herrn K. im Februar dieses Jahres«; vgl. dazu auch: »Über die allgemeine Toleranz. Briefe aus Virginien an Herrn Geheimen Justizrat Moser«, deren Autor Moser selbst ist (SW III, 105 ff.) und »Über das Recht der Menschheit als den Grund der neuen französischen Konstitution« sowie »Über das Recht der Menschheit, insofern es zur Grundlage eines Staates dienen kann. Schreiben an Herrn Bibliothekar Biester« (SW IX, 140 ff und
S. 155 ff)
Goethe. S W 8 , 91
Jahrhunderts befindlichen, vorindustriellen und vorkapitalistischen deutschen Gesellschaft werden Mosers Ansichten nicht nur aufgenommen und diskutiert, sondern zum Teil auch in Frage gestellt. So zum Beispiel, wenn die von Moser aus Besitz und Eigentum abgeleiteten, traditionellen Bindungen, Verpflichtungen, Rechte und Freiheiten nicht mehr nur als Garanten einer stabilen und wünschenswerten Sozialordnung, sondern auch als fundamentale Beschränkung erscheinen, als Hindernisse, die es zu überwinden gilt, wenn in der »alten Welt« Räume fiir jene ja gerade auch von Moser geforderte bürgerliche Teilhabe am Gemeinwesen erschlossen werden sollen. »Hier ist überall ein teilweiser Besitz schon ergriffen, mehr oder weniger, durch undenkliche Zeit das Recht dazu geheiligt; und wenn dort (in Amerika, d.V.) das Grenzenlose als unüberwindliches Hindernis erscheint, so setzt hier das Einfachbegrenzte beinahe noch schwerer zu überwindende Hindernisse entgegen [...] Achtung fiir Vorfahren, Abneigung gegen den Nachbar und hunderterlei Dinge sind es, die den Besitzer starr und gegen jede Veränderung widerwillig machen. Je älter dergleichen Zustände sind, je verflochtener, je geteilter, desto schwieriger wird es, das Allgemeine durchzuführen, das, indem es dem einzelnen etwas nähme, dem Ganzen und durch Rück- und Mitwirkung auch jenem wieder unerwartet zugute käme.«5'
Die Realisierung der von Odoardo formulierten Reformvorhaben, seine Hoffnung, es »werde sich eine vereinte Tätigkeit nach allen Seiten von nun an ausbreiten«54, wird angesichts dieser Beschränkungen durch Traditionen - und dies wiederum ganz im Sinne Mosers - dem weiteren Verlauf der historischen Entwicklung überantwortet. »Das Jahrhundert muß uns zu Hülfe kommen, die Zeit an die Stelle der Vernunft treten.«"
Daß Goethe sich gerade in den »Wanderjahren« erneut auf differenzierte Weise mit Mosers Geschichts- und Gesellschaftsauffassung auseinandersetzt, liegt auch angesichts der Zeitereignisse besonders nahe. Das Erlebnis der Französischen Revolution wie auch der Napoleonischen Kriege, die Veränderungen im wirtschaftlichen Leben, wie sie durch die Anfänge der Verwandlung Deutschlands vom Agrar- zum Industriestaat eingeleitet werden, müssen ihm die Bedeutung der Entwicklung von Staat und Gesellschaft für das Leben des einzelnen erneut ins Bewußtsein bringen. Für einen Autor, der wie Goethe kein Verlangen nach radikalen Umgestaltungen der Gesellschaft hat, bieten Mosers Auffassungen, die auf einer Theorie des historischen Wandels basieren, die sowohl die Herausforderungen einer sich verändernden Gesellschaft als auch deren traditionellen Werte und Leitvorstellungen reflektiert, gerade angesichts der revolutionären Realität und ihrer Folgen wieder interessante Anknüpfungspunkte. Verpflichtet sie doch den einzelnen nicht nur auf die deutsche Wirklichkeit, sondern auch auf einen " Goethe. S W 8 , 438 Goethe. S W 8 , 440 " Goethe. S W 8 , 440
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neuen Gemeinschaftssinn, auf ein Leben in der Gesellschaft, in dem, obwohl die ständischen Unterschiede weiterhin respektiert werden, »alle brauchbaren Menschen [...] in Bezug untereinander stehen.«'6 Vor dem Hintergrund dieses Möserschen, zwischen Tradition und Fortschritt vermittelnden Entwicklungskonzeptes gelesen, sind die »Wanderjahre« auch als »Lehrjahre« einer Gesellschaft zu verstehen, die ihre soziokulturellen Probleme nur zu einer befriedigenden Lösung bringen kann, wenn sie einerseits nicht dem Irrtum verfällt, zu glauben, die sich abzeichnenden Entwicklungen durch starres Festhalten am Bestehenden aufhalten zu können, andererseits aber bei der Entwicklung von Modernisierungs-Konzepten auch die nationale Tradition als Orientierungsmaßstab nicht aus den Augen verliert. Die Bedeutung von Goethes Möser-Rezeption muß vor allem darin gesehen werden, daß es Goethe wie keinem anderen Autor zwischen 1770 und 1830 gelingt, dieses Verhältnis von Tradition und Moderne - über die Auseinandersetzung mit traditionellen bzw. modernen ästhetischen Verfahren hinaus - mit spezifisch national-soziokulturellen Entwicklungsproblemen in Zusammenhang zu bringen und - freilich unter der Voraussetzung des Verzichtes auf revolutionäre Lösungen - Alternativen auszuarbeiten, die den sich abzeichnenden Entwicklungsweg einer noch überwiegend traditionell bestimmten Gesellschaft hinnehmbar und förderungswürdig erscheinen lassen.
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Goethe. S W 8 , 419
Literaturverzeichnis
Quellen
ι. Moser - Textausgaben, Briefe, etc. Justus Mosers Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe in 14 Bänden. Herausgegeben von der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Oldenburg, Berlin 1943 ff. Erste Abteilung: Dichterisches Werk, philosophische und kritische Einzelschrifien Bd. I: Wochenschriften. Bearbeitet von Werner Kohlschmidt. 1943 Bd. II: A. Gedichte. B. Drama: Arminius. C. Vermischte Schriften. Teil I. Bearbeitet von Oda May. 1981 Bd. III: Vermischte Schriften. Teil II. Bearbeitet von Oda May. 1986 Zweite Abteilung: Patriotische Phantasien und Zugehöriges Bd. IV: Patriotische Phantasien I. Bearbeitet von Ludwig Schirmeyer, unter Mitwirkung von Werner Kohlschmidt. 1943 Bd. V: Patriotische Phantasien II. Bearbeitet von Ludwig Schirmeyer, unter Mitwirkung von Werner Kohlschmidt. 1945 Bd. VI: Patriotische Phantasien III. Bearbeitet von Ludwig Schirmeyer, unter Mitwirkung von Werner Kohlschmidt. o.J. [1954] Bd. VII: Patriotische Phantasien IV. Bearbeitet von Ludwig Schirmeyer, unter Mitwirkung von Werner Kohlschmidt. o.J. [1954] Bd. VIII: Den Patriotischen Phantasien verwandte Aufsätze 1755-1772. Bearbeitet von Ludwig Schirmeyer, unter Mitwirkung von Eberhard Crusius. 1956 Bd. IX: A. Den Patriotischen Phantasien verwandte Aufsätze 1773-1794. B. Den Patriotischen Phantasien verwandte Handschriften. Sachgruppen: Religion, Staat. Bearbeitet von Ludwig Schirmeyer, unter Mitwirkung von Eberhard Crusius. 1958 Bd. X: Den Patriotischen Phantasien verwandte Handschriften. Bearbeitet von Ludwig Schirmeyer und Eberhard Crusius. 1968 Bd. XI: Kommentar. Erarbeitet von Gisela Wagner. 1988 Dritte Abteilung: Osnabrückische Geschichte und historische Einzelschrifien Bd. XII, i: Osnabrückische Geschichte. Allgemeine Einleitung 1768. Bearbeitet von Paul Göttsching. 1964 Bd. XII, 2: Osnabrückische Geschichte. Erster Teil 1780. Bearbeitet von Paul Göttsching. 1965 Bd. XIII: Osnabrückische Geschichte. Zweiter Teil 1780. Dritter Teil. Bearbeitet von Paul Göttsching. 1971 Bd. XIV, 1: A. Historische Aufsätze 1753-1791. B. Historische Handschriften. Bearbeitet von Paul Göttsching. 1976 Justus Mosers sämmtliche Werke. Neu geordnet und aus dem Nachlasse desselben gemehrt durch B.R. Abeken. Berlin 1842 ff. Justus Moser. Patriotische Phantasien. In einer Auswahl herausgegeben v. Kurt Jagow. Berlin 1910 Justus Moser. Gesellschaft und Staat. Eine Auswahl aus seinen Schriften. Hrsg. v. Karl
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Brandi. München 1921 Justus Moser. Ausgewählte pädagogische Schriften. Hrsg. v. Heinrich Kanz. Paderborn 1965 Justus Moser. Anwalt des Vaterlands. Ausgewählte Werke. Wochenschriften. Patriotische Phantasien. Aufsätze. Fragmente. Ausgewählt und herausgegeben von Friedemann Berger. Leipzig und Weimar 1978 Justus Moser. Briefe. Hrsg. v. Ernst Beins und Werner Pleister. Hannover 1939 Diese Edition ist unvollständig. William F. Sheldon hat inzwischen den kompletten Briefnachlaß Mosers neu ediert. Die noch nicht im Druck erschienene Ausgabe kann eingesehen werden in der Möser-Dokumentationsstelle Osnabrück (Leitung: Winfried Woesler). Neue Moser-Briefe. Hrsg. v. Horst Meyer. In: Osnabrücker Mitteilungen. Bd. 80. 1972, S. 202-210 und Bd. 81. 1974, S. 192-203 Neue Möserbriefe. Hrsg. v. Ernst Beins. In: Osnabrücker Mitteilungen. Bd. 59. 1939, S. 45-55 Verzeichnis der Möserschen Bibliothek. Nds. Staatsarchiv Osnabrück. Dep. 58 d. A L X X V I I . Angelegt von Bernhard Rudolf Abeken. Osnabrück 1817
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