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German Pages 368 [369] Year 1996
D. LOOSCHELDERS / W. ROTH
Juristische Methodik im Prozeß der Rechtsanwendung
Schriften zur Rechtstheorie Heft 176
Juristische Methodik im Prozeß der Rechtsanwendung Zugleich ein Beitrag zu den verfassungsrechtlichen Grundlagen von Gesetzesauslegung und Rechtsfortbildung
Von Dr. Dirk Looschelders Dr. Wolfgang Roth, L L . M .
Duncker & Humblot · Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Looschelders, Dirk: Juristische Methodik im Prozess der Rechtsanwendung : zugleich ein Beitrag zu den verfassungsrechtlichen Grundlagen von Gesetzesauslegung und Rechtsfortbildung / von Dirk Looschelders ; Wolfgang Roth. - Berlin : Duncker und Humblot, 1996 (Schriften zur Rechtstheorie ; H. 176) ISBN 3-428-08722-4 NE: Roth, Wolfgang; GT
Alle Rechte vorbehalten © 1996 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0472 ISBN 3-428-08722-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 ©
Vorwort Die vorliegende Arbeit erwuchs aus einem gemeinsamen Aufsatz der Autoren zur Notwendigkeit einer verfassungskonformen Reduktion des § 565 Abs. 2 S. 2 BGB, der im Jahre 1995 in der Juristenzeitung erschienen ist. Bei dessen Ausarbeitung bestand die Schwierigkeit, daß wesentliche Grundfragen der juristischen Methodik, namentlich die Auslegung und Korrektur von Rechtsnormen betreffend, nach wie vor weitgehend ungeklärt sind und daß es dementsprechend keine allseits anerkannten methodischen Grundsätze gibt, die der Lösung eines konkreten Problems unbesehen zugrundezulegen wären; es erschien deshalb geboten, vorab die eigenen methodischen Grundpositionen darzulegen. Die diesbezüglichen " Vorüberlegungen " nahmen jedoch alsbald einen solchen Umfang an, daß sie den Rahmen des geplanten, auf eine spezifische Problematik hin ausgerichteten Aufsatzes gesprengt hätten. Wir haben uns deshalb dazu entschlossen, die methodischen Erwägungen in jenem Beitrag auf das zur Lösung des konkreten Problems unverzichtbare Maß zu beschränken und unsere allgemeinen Überlegungen zur juristischen Methodik in einer gesonderten Arbeit zu veröffentlichen, die hiermit vorgelegt wird. Die Entstehungsgeschichte der Arbeit und die enge Verflechtung zwischen den einzelnen Problemkreisen haben es mit sich gebracht, daß eine echte Aufgabenteilung zwischen den Autoren nicht stattfand. Trotz der Vielzahl der behandelten Fragen handelt es sich also um ein echtes Gemeinschaftswerk, bei dem jeder Autor für den gesamten Inhalt die volle wissenschaftliche Verantwortung trägt. Herrn Professor Dr. Norbert Simon danken wir für die Aufnahme der Arbeit in die "Schriften zur Rechtstheorie" des Verlages Duncker & Humblot und allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Verlages für die freundliche Betreuung der Veröffentlichung.
Mannheim, im März 1996 Dirk Looschelders
und Wolf gang Roth
Inhaltsübersicht A.Einleitung
1
Β. Grundlagen
5
I.
Das Gesetz als Entscheidungsmaßstab
5
II. Funktion und Maßstab der Auslegung
21
III. Hermeneutik und richterliches "Vorverständnis" im Prozeß der Rechtsanwendung C. Grundstrukturen juristischen Denkens I.
Der Prozeß der Normanwendung
71 86 86
II. Logische Schlußformen im Prozeß der Rechtsanwendung
99
III. Wissenschaftstheoretische Aspekte juristischen Denkens
112
D. Die Auslegung von Gesetzen I.
Der Prozeß der Auslegung
119 119
II. Methoden der textinternen Auslegung
130
III. Methoden der textexternen Auslegung
153
IV. Verhältnis der Interpretationsmethoden
192
V. Sonderfragen der Auslegung
198
E. Richterliche Rechtsfortbildung
220
I.
Fallgruppen der Rechtsfortbildung
220
II. Abändernde Rechts fortbildung
224
III. Ergänzende Rechts fortbildung
280
IV. Rechts fortbildung und Gewohnheitsrecht
321
Literaturverzeichnis
325
Beispielsverzeichnis
341
Sachverzeichnis
344
Inhaltsverzeichnis Α. Einleitung
1
Β. Grundlagen
5
I.
Das Gesetz als Entscheidungsmaßstab
5
1. Entscheidungs- und Maßstabssetzungskompetenz
5
2. Die Verhaltenssteuerungsfunktion der Gesetze
10
3. Materiellrechtliche Prinzipien als Korrektiv
15
II. Funktion und Maßstab der Auslegung 1. Der Text des Gesetzes a) Der Gesetzestext als Ausgangspunkt der Auslegung
21 21 21
b) Mögliches Ungenügen rein textinterner Auslegung: Normkern und Normhof c) Unverzichtbarkeit weiterer Auslegung 2. Der Wille des Gesetzgebers als Maßstab der textexternen Auslegung
23 26 28
a) Subjektive und objektive Auslegungstheorien
29
b) Die Untauglichkeit "objektiver" Auslegungsmaßstäbe
32
aa) Allgemein akzeptierte Auslegungsmaßstäbe
32
bb) Die "Idee der Gerechtigkeit"
33
cc) Der objektive Zweck des Gesetzes
38
dd) Zwischenergebnis
41
c) Irrelevanz des Mehrheitswillens des Volkes
42
d) Die Auslegungsmaßstabskompetenz des Gesetzgebers
45
aa) Der Wille des Gesetzgebers als "fingiertes Einheitsbewußtsein" ...46 bb) Der Vorrang des gesetzgeberischen gegenüber dem richterlichen Willen bei der Gesetzesauslegung 48 (1) Der Zusammenhang von Entscheidungsmaßstabs- und Auslegungsmaßstabskompetenz (2) Demokratische Legitimation des Gesetzes durch den Gesetzgeber
48 50
Inhaltsverzeichnis
(3) Art. 20 Abs. 3 und Art. 97 Abs. 1 GG
51
(4) Das Rangverhältnis zwischen den Gewalten
53
(5) Gleichmäßigkeit der Rechtsanwendung
54
(6) Loyalitätspflicht des Richters zur Kompensation gesetzgeberischer Unzulänglichkeiten
56
(7) Der Rechtsgedanke des § 133 BGB
58
(8) Zwischenergebnis
61
cc) Maßgeblichkeit des dynamisch verstandenen Willens des historischen Gesetzgebers
62
dd) Der mutmaßliche Wille des Gesetzgebers als subsidiärer Auslegungsmaßstab 3. Die Grenzen der Auslegung
65 66
III. Hermeneutik und richterliches "Vorverständnis" im Prozeß der Rechtsanwendung C. Grundstrukturen juristischen Denkens I.
86
Der Prozeß der Normanwendung
86
1. Die Struktur der Rechtsnorm
87
2. Juristischer Syllogismus und Subsumtion
89
3. Probleme der Rechtsanwendung jenseits des Tatbestandes
97
II. Logische Schluß formen im Prozeß der Rechtsanwendung 1. Argumente aus dem Sachverhalt
99 99
a) Argumentum e simile und argumentum e contrario
100
b) Argumentum a fortiori
104
2. Argumente aus den Folgen
107
3. Bedeutung der logischen Schluß formen
109
III. Wissenschaftstheoretische Aspekte juristischen Denkens
112
1. Deduktives und induktives Denken im Prozeß der Rechtsanwendung
112
2. Juristische Methodik und wissenschaftstheoretisches Falsifikationsmodell
115
D. Die Auslegung von Gesetzen I.
71
119
Der Prozeß der Auslegung
119
1. Der Gang des Gesetzgebungsprozesses
119
Inhaltsverzeichnis
XI
2. Die Stufen der Auslegung
120
3. Die Auswirkung gesetzgeberischer Umsetzungsfehler auf die Auslegung
125
4. Charakterisierung der einzelnen Auslegungsstufen
126
II. Methoden der textinternen Auslegung
130
1. Grammatische Auslegung
130
a) Problembereiche der grammatischen Auslegung
130
aa) Unbestimmtheit verwendeter Ausdrücke
131
(1) Ausdrücke mit mehreren Bedeutungen
131
(2) Unscharf begrenzte Begriffe
133
(3) Ausfüllungsbedürftige Wertbegriffe
135
bb) Sonstige Unklarheiten in der Formulierung
137
b) Vorgehensweise bei der grammatischen Auslegung
137
aa) Wortlautuntersuchung
138
bb) Kontextuntersuchung
141
cc) Strukturuntersuchung
144
c) Fazit: Leistungsfähigkeit der grammatischen Auslegung
145
2. Systematische Auslegung
149
III. Methoden der textexternen Auslegung
153
1. Historische und genetische Interpretation
153
a) Charakterisierung
153
b) Die historische Interpretation
155
c) Die genetische Interpretation
157
2. Teleologische Interpretation
160
a) Charakterisierung
160
b) Struktur der teleologischen Interpretation
165
aa) Analyse: Ermittlung der Auslegungsvarianten und der korrespondierenden Wertentscheidungen
167
bb) Synthese: Ermittlung der (mutmaßlichen) gesetzgeberischen Wertentscheidung cc) Notwendigkeit der Feststellung der mutmaßlichen Wertentscheidung c) Der Auswahlvorgang bei der teleologischen Auslegung aa) Innere Kohärenz
170 172 173 174
I
nhaltsverzeichnis
bb) Äußere Kohärenz (1) Absolutes Kohärenzkriterium: Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht
176 177
(2) Relatives Kohärenzkriterium: Vereinbarkeit mit den anderen gleichrangigen Normen zugrundeliegenden Wertentscheidungen cc) Interessenabwägung
180 181
d) Teleologische Auslegung bei inkohärenter Wertentscheidung oder gesetzgeberischem Umsetzungsfehler
188
e) Schematische Darstellung des Verlaufs der teleologischen Interpretation
191
IV. Verhältnis der Interpretationsmethoden
192
V . Sonderfragen der Auslegung
198
1. Die Auslegung ausfüllungsbedürftiger Wertbegriffe
198
2. Die Auslegung von Verfassungsrecht
204
a) Maßgeblichkeit der allgemeinen Grundsätze der Gesetzesauslegung.. 204 b) Zum Problem des Bedeutungswandels von Verfassungsnormen 3. Zur Auslegung "außerkonstitutioneller" Gesetze
209
a) Auslegung vorkonstitutioneller Gesetze
210
b) Auslegung von DDR-Gesetzen
213
c) Auslegung europäischen Rechts
215
aa) Bedeutung
215
bb) Besonderheiten
216
d) Auslegung ausländischer Gesetze E. Richterliche Rechtsfortbildung I.
207
Fallgruppen der Rechts fortbildung
II. Abändernde Rechtsfortbildung 1. Das Bedürfnis für Gesetzeskorrekturen a) Die Korrekturlage: Divergenz von Wertentscheidung und Gesetz b) Die Wertentscheidung des Gesetzgebers als Korrekturmaßstab
219 220 220 224 224 224 226
aa) Die Maßgeblichkeit der Wertentscheidung
226
bb) Die Ermittlung der Wertentscheidung
230
cc) Die irrtumsbereinigte Wertentscheidung
231
Inhaltsverzeichnis
dd) Die dynamisch fortentwickelte Wertentscheidung c) Gründe für eine Abweichung von Norminhalt und Wertentscheidung aa) Divergenzbegründende Irrtümer des Gesetzgebers
XIII
233 236 236
bb) Nachträgliche Änderung der tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse
239
d) Die konkrete Begründung der Gesetzeskorrektur
240
aa) Teleologisch gebotene Gesetzeskorrektur
241
bb) Teleologisch erlaubte Gesetzeskorrektur 2. Die Befugnis zur Gesetzeskorrektur
242 244
a) Problemstellung
244
b) Die konkrete Normenkontrolle gemäß Art. 100 Abs. 1 GG
246
aa) Korrekturbefugnis oder Vorlagepflicht
246
bb) Die Grenze der Korrekturbefugnis
249
c) Das Gewaltenteilungsprinzip
250
d) Das Interesse der Normunterworfenen an der Möglichkeit einer Gesetzeskorrektur
253
e) Die Absage des Grundgesetzes an einen strikten Gesetzespositivismus f) Resümee: Rechtsfortbüdung contra legem
255 258
3. Die Korrekturmethoden: Reduktion, Extension, Modifikation
258
4. Fallgruppen der Gesetzeskorrektur
261
a) Die teleologische Reduktion
261
b) Die teleologische Extension
267
aa) Grundsatz bb) Abgrenzung zur ergänzenden Rechts fortbildung c) Die teleologische Modifikation
267 268 272
d) Kombinations falle, insbesondere die Auflösung von Normwidersprüchen 5. Zusammenfassende Übersicht III. Ergänzende Rechtsfortbildung 1. Das Bedürfnis für eine Ergänzung des Gesetzes
273 278 280 280
a) Fallgruppen phänomenologischer Regelungslücken
280
b) Normative Regelungslücken
281
2. Die Befugnis zur ergänzenden Rechts fortbildung
286
I
nhaltsverzeichnis
a) Die prinzipielle richterliche Lückenschließungsbefugnis
286
b) Die Wertentscheidungen des Gesetzgebers als Grenze der Rechtsfortbildung c) Materiellrechtliche Grenzen der ergänzenden Rechts fortbildung, insbesondere das strafrechtliche Analogieverbot
288 293
d) Der Wille des Gesetzgebers als Maßstab der ergänzenden Rechtsfortbildung e) Die Stellung des Richters im Fall der ergänzenden Rechtsfortbildung 3. Methoden der ergänzenden Rechts fortbildung
298 301 304
a) Einzelanalogie
304
b) Gesamtanalogie
310
c) Ergänzende Rechts fortbildung auf der Grundlage allgemeiner Prinzipien der Rechtsordnung
311
d) Ergänzende Rechtsfortbildung unter Rückgriff auf die Natur der Sache
314
e) Verhältnis der verschiedenen Methoden der ergänzenden Rechtsfortbildung 4. Die Lückenschließung als Interpolations verfahren IV. Rechts fortbildung und Gewohnheitsrecht
316 317 321
Literaturverzeichnis
325
Beispielsverzeichnis
341
Sachverzeichnis
344
Abkürzungs Verzeichnis1 AP
Nachschlagewerk des Bundesarbeitsgerichts
ARSP
Archiv fur Rechts- und Sozialphilosophie
BAfoG
Bundesausbildungsförderungsgesetz
BK
Kommentar zum Bonner Grundgesetz (Bonner Kommentar)
BWPolG
Baden-Württembergisches Polizeigesetz
Ch.
Chancery (Law reports of the Chancery Division of the High Court of Justice - England)
DB
Der Betrieb
DRiG
Deutsches Richtergesetz
DtZ
Deutsch-Deutsche Rechts-Zeitschrift
DWiR
Deutsche Zeitschrift fur Wirtschaftsrecht
EGV
Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft vom 25. März 1957 (i. d. F. des Vertrags über die Europäische Union vom 7. Februar 1992)
EuGH
Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften
EuGVÜ
Brüsseler EWG-Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 27. September 1968
EUV
Vertrag über die Europäische Union vom 7. Februar 1992
EuZW
Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht
FG
Festgabe
FS
Festschrift
GBl. DDR
Gesetzblatt der Deutschen Demokratischen Republik
GeschO BT
Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages
1
Dieses Abkürzungsverzeichnis beschränkt sich auf die weniger geläufigen Abkürzungen. Die übrigen Abkürzungen sind allgemein gebräuchlich; auf ihre Aufnahme wurde daher verzichtet. Vgl. diesbezüglich etwa Kirchner, Abkürzungsverzeichnis der Rechtssprache, 4. Aufl. 1992.
XVI GrdstVG
Abkürzungsverzeichnis
Gesetz über Maßnahmen zur Verbesserung der Agrarstruktur und zur Sicherung land- und forstwirtschaftlicher Betriebe (Grundstücksverkehrsgesetz) vom 28. Juli 1961
GrS
Großer Senat
GS
Gedächtnisschrift
HWiG
Gesetz über den Widerruf von Haustürgeschäften und ähnlichen Geschäften vom 16. Januar 1986
LK StGB
Leipziger Kommentar zum Strafgesetzbuch
LKV
Landes- und Kommunalverwaltung
MilRegG
Μ ilitärregierungsgesetz
Mot.
Motive zum BGB
MünchKomm BGB
Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch
MünchKomm ZPO
Münchener Kommentar zur Zivilprozeßordnung
NZA
Neue Zeitschrift für Arbeits- und Sozialrecht
PrALR
Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten vom 1. Juni 1794 mit Anhang vom 1. April 1803, Neue Ausgabe 1817 in 4 Bänden.
PrFDG
Preußisches Gesetz betreffend den Forstdiebstahl vom 15. April 1878 (PrGS, S. 222 [Nr. 8566])
PrGS
Gesetz-Sammlung fur die Königlichen Preußischen Staaten
Prot.
Protokolle der Kommission für die II. Lesung des Entwurfs des BGB
RabelsZ
Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht, begründet von Ernst Rabel
RGRK
Kommentar zum BGB, herausgegeben von Reichsgerichtsräten und Bundesrichtem
SK StGB
Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch
SK StPO
Systematischer Kommentar zur Strafprozeßordnung zum Gerichtsverfassungsgesetz
sig.
Sammlung des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften
UWG
Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb
VB1BW
Verwaltungsblätter für Baden-Württemberg
VerbrKrG
Verbraucherkreditgesetz vom 17. Dezember 1990
VersG
Versammlungsgesetz
VersR
Zeitschrift für Versicherungsrecht
und
Abkürzungsverzeichnis
WDStRL
XVII
Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer
WEG
Gesetz über das Wohnungseigentum und das Dauerwohnrecht vom 15. März 1951
WiB
Wirtschaftsrechtliche Beratung
wistra
Zeitschrift für Wirtschaft. Steuer. Strafrecht.
W^RV
Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919 (Weimarer Reichsverfassung)
ZG
Zeitschrift für Gesetzgebung
ZGB
schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. 12. 1907
ZVglRWiss
Zeitschrift für Vergleichende Rechtswissenschaft
ZZP
Zeitschrift fur Zivilprozeß
Α. Einleitung Die Beachtung methodischer Grundsätze ist fur eine rationale sowie die Bindung des Rechtsanwenders an "Gesetz und Recht" (Art. 20 Abs. 3 GG) wahrende Rechtsfindung unerläßlich1. Ein Gericht verstieße infolgedessen gegen das Grundgesetz, wenn es zu seiner Entscheidung "auf einem methodischen Wege gelangte, der die dem Richter bei der Rechtsfindung gezogenen verfassungsrechtlichen Grenzen mißachtete", selbst wenn das Ergebnis als solches dem Grundgesetz nicht widerspräche 2. Von den verfassungsrechtlichen Implikationen einer methodisch inkorrekten Rechtsanwendung abgesehen, stellt sich aber ohnehin die grundsätzliche Frage nach der richtigen - und das heißt in diesem Zusammenhang vor allem gesetzmäßigen3 - Entscheidung konkreter Fälle. Streit- und Zweifelsfragen hinsichtlich der juristischen Methodik, namentlich die Auslegung, Korrektur und Ergänzung von Rechtsnormen betreffend, haben daher keineswegs bloß theoretische Relevanz. Wenn angesichts dieser eminenten Bedeutung der Methodik in der Literatur mitunter die praktische Brauchbarkeit der herkömmlichen juristischen Methoden in Zweifel gezogen4 oder gar gesagt wird, "für jedes ... Urteil kann man sich ein gegenteilig ausgefallenes Urteil vorstellen, das methodologisch nicht weniger überzeugend begründet wäre" 5, so belegt dies eindrucksvoll, daß - und in welchem Maße - wesentliche Probleme der Rechtsanwendung bis heute ungeklärt sind6. 1
Zur Notwendigkeit der Beachtung methodischer Grundsätze bei der Rechtsfindung vgl. Bydlinski, AcP 188 (1988), 485 ff.; Engisch, Einführung, S. 242 f. Anm. 82d; Hassold, Larenz-FS (1983), S. 211 ff.; Larenz, Methodenlehre, S. 6 f., 210 f.; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 31 f.; Looschelders, Anpassung, S. 76; Säcker, in MünchKomm BGB, Einl. Rn 96; Raisch, Nutzen, S. 25 ff.; Wank, Rechtsfortbildung, S. 78 f.; speziell zum Problem der Rechtsfindung durch Losentscheid Depenheuer, JZ 1993, 171 ff. 2
BVerfGE 34, 269, 280; ferner BVerfGE 49, 304, 314.
3
Vgl. BVerfGE 54, 117, 125 zum Verständnis der Richtigkeit einer Entscheidung als deren Gesetzmäßigkeit. 4 Vgl. etwa Esser, Vorverständnis, S. 7, 126 ff.; Hesse, Verfassungsrecht, Rn 59; Krawietz, JuS 1970, 430 f.; Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 24 ff.; Ryffel, Rechts- und Staatsphüosophie, S. 393. 5 Ädomeit, JZ 1980, 344. 6 Vgl. hierzu statt vieler Bydlinski, AcP 188 (1988), 480 f.; Engisch, Einführung, S. 96, 242 f. Anm. 82d; Schroth, Hermeneutik, S. 364; ferner Depenheuer y JZ 1993, 1 Looscheldcrs / Roth
2
Α. Einleitung
Zur Erarbeitung einer juristischen Methodik kommen verschiedene Ansatzpunkte in Betracht. So ließe sich der Versuch unternehmen, auf der Grundlage allgemeiner rechtsphilosophischer oder hermeneutischer Erwägungen eine juristische Methodenlehre zu entwickeln, die für alle Zeiten und Rechtsgemeinschaften gültig ist. Die Schwäche eines solchen Ansatzes wäre indes, daß sich aus generellen und insofern auch vagen Prinzipien nur schwerlich spezifische Vorgaben fur eine juristische Methodik in einer konkreten Rechtsordnung ableiten lassen; je allgemeiner die Ausgangshypothesen sind, desto allgemeiner müssen die noch stringent begründbaren Folgerungen sein. Versteht man die juristische Methodik hingegen nicht in einem solchen übergreifenden Sinn, sondern als Handwerkszeug7, mit dessen Hilfe Ziele verfolgt werden sollen, die von einer konkreten Rechts- und insbesondere Verfassungsordnung vorgegeben werden 8, so erhellt, daß die Methodik der Rechtsanwendung maßgeblich durch die jeweiligen (verfassungs-) rechtlichen Verhältnisse geprägt sein muß, in welche die Anwendung der Gesetze eingebettet ist 9 . Je ähnlicher sich zwei Rechtsordnungen sind, umso ähnlicher werden zwar auch die Handwerksmittel sein, derer sich die jeweils in diesen Rechtsordnungen arbeitenden Juristen bedienen; gleichwohl mag es auch hier Besonderheiten geben, denen nur bei einem auf die konkreten Verhältnisse bezogenen methodischen Ansatz in angemessener Weise Rechnung getragen werden kann 10 . Durch die Bezugnahme auf eine konkrete (Verfassungs-) Rechtsordnung wird zwar einerseits der Anspruch einer Methodenlehre relativiert 11 . Andererseits ist es auf dieser Basis aber möglich, eine Reihe methodi171: "Die Vielfalt anerkannter sowie angewandter Interpretationsmethoden vermittelt nicht nur Außenstehenden den Anstrich von Zufälligkeit, ja Beliebigkeit der juristischen Entscheidungsfindung". 7 Vgl. Fikentscher, Methoden I, S. X I X ("Methodik ist Handwerkszeug, nicht mehr"); ferner Esser, JZ 1975, 555 f.; Wank, Rechtsfortbildung, S. 78 ff.
® Zur Bedeutung verfassungsrechtlicher Vorgaben für die Methodik der Rechtsanwendung vgl. Engisch, Einfuhrung, S. 94 f.; Göldner, Larenz-FS (1983), S. 199 ff.; Koch/Rüßmann y Juristische Begründungslehre, S. 179, 182 ff.; Neuner, Rechtsfindung, S. 88 ff.; Roellecke, W D S t R L 34 (1976), 7, 38 f.; Schlehofer, JuS 1992, 572 ff.; Wank, Rechtsfortbildung, S. 82 ff.; Zippelius, Methodenlehre, S. 44 ff. 9 Vgl. Staudinger/Coing, BGB, Einl. Rn 137. Roellecke, FG BVerfG II, S. 24 unterscheidet dementsprechend zwischen "verfassungstranszendenten" Auslegungsregeln, die in jeder Rechtsordnung herangezogen werden können, und "verfassungsimmanenten" Regeln, die sich allein aus einer bestimmten Ordnung ergeben; zweifelhaft erscheint allerdings, inwieweit die von ihm als "verfassungstranszendent" angesehenen Regeln wirklich allgemein gelten. 10 Zu den besonderen Problemen bei der Auslegung und Anwendung von europäischem und ausländischem Recht s. unten D. V. 3. c) und d). 11 Vgl. Engisch, Einführung, S. 92 ff., 242 Anm. 82d; ferner Sax, Analogieverbot, S. 75: "Relativität der Auslegung", die "die Ableitung allezeit und allerorts, nicht da-
Α. Einleitung
3
scher Zweifelsfragen eindeutig zu beantworten oder zumindest Leitlinien fur ihre Lösung zu entwickeln. Die vorliegende Arbeit stellt die Grundsätze der juristischen Methodik deshalb vor dem Hintergrund der in Deutschland geltenden Verfassungsordnung dar. Eines ihrer wesentlichen Ziele liegt darin, die verfassungsrechtlichen Vorgaben fur die juristische Methodik herauszuarbeiten und die Folgerungen darzulegen, die sich hieraus für die praktische Arbeit des Rechtsanwenders, namentlich des Richters, ergeben. Die Rechtsanwendung wird dabei als ein gedanklicher Prozeß verstanden, der in mehreren aufeinander aufbauenden Stufen verläuft, die der Rechtsanwender nacheinander zu beschreiten hat, damit er die ihm unterbreiteten Lebenssachverhalte in methodisch korrekter Weise beurteilen kann. Überlegungen zur Methodik sind notwendigerweise ziemlich abstrakt, da sie nicht die Lösung konkreter Probleme zum Gegenstand haben, sondern sich auf jene "Werkzeuge" beziehen, mit denen im konkreten Fall operiert werden kann; wenn diese Werkzeuge aber in einer unüberschaubaren Vielzahl von Fällen einsetzbar sein sollen, so müssen sie schon ihrer Natur nach abstrakt sein. Deshalb erschien es sinnvoll, die konkrete Handhabung der juristischen Methoden an zahlreichen Beispielen zu demonstrieren. Diese Beispiele wurden bewußt samtlichen großen Rechtsgebieten entnommen, da die im Prozeß der Rechtsanwendung zu beachtenden methodischen Grundsätze für alle Rechtsgebiete gleich sind; auf etwaige materiellrechtliche Besonderheiten, die den Rechtsanwendungsprozeß beeinflussen können (wie etwa das strafrechtliche Analogieverbot), wird an geeigneter Stelle hingewiesen. Die zum Teil recht ausfuhrliche Erörterung der Beispiele soll und kann nicht die Herleitung und Begründung der methodischen Grundsätze ersetzen. Sie soll aber die bei der Untersuchung konkreter Fallprobleme einzuschlagende Vorgehensweise verdeutlichen und illustrieren sowie die praktische Brauchbarkeit der hier entwickelten juristischen Methodik im Prozeß der Rechtsanwendung aufzeigen. Die Arbeit beginnt mit einer Untersuchung der Frage, zu welchem Zweck die juristischen Methoden im Prozeß der Rechtsanwendung überhaupt eingesetzt werden (B.), denn nach diesem Zweck müssen sich Verständnis, Funktionsweise und konkreter Einsatz der verschiedenen Methoden bestimmen. Ausgangspunkt ist die Funktion des Gesetzes, dem Rechtsanwender als Entscheidungsmaßstab zu dienen (Β. I.). Damit das Gesetz diese Funktion erfüllen kann, muß der Rechtsanwender seinen Inhalt durch Auslegung ermitteln. Die zentrale Weichenstellung für die gesamte juristische Methodik ist, an gegen jetzt und hier eindeutig richtiger Ergebnisse unmöglich macht" (Hervorhebungen im Original). Zur unterschiedlichen Methodik in den einzelnen Rechtskreisen eingehend Fikentscher, Methoden I - III; zu den historischen Wandlungen der Methodenlehre vgl. Raisch, Methoden, S. 5 ff. 1*
4
Α. Einleitung
welchen Maßstäben er sich bei dieser Inhaltsermittlung zu orientieren hat. Diese Frage steht daher im Vordergrund der weiteren Überlegungen (Β. II.); dabei werden auch die Erkenntnisse der juristischen Hermeneutik und das Problem des richterlichen Vorverständnisses mit in die Betrachtung einbezogen (B. III.). Im weiteren Gang der Untersuchung werden zunächst die Grundstrukturen juristischen Denkens erörtert, in denen ein großer Teil der Tätigkeit des Rechtsanwenders erfolgt und die folglich sämtliche seiner Methoden durchziehen (C.). Dabei wird insbesondere auf die Struktur der Rechtsnorm und das Verfahren der Subsumtion (C. I.) sowie die Bedeutung logischer Schlußformen im Prozeß der Rechtsanwendung eingegangen (C. II.); des weiteren wird zu einzelnen wissenschaftstheoretischen Aspekten der juristischen Tätigkeit Stellung genommen (C. III.). Die Untersuchung wendet sich sodann der Gesetzesauslegung zu (D.). Diese wird als mehrstufiger Prozeß verstanden, der sich aus einer gedanklichen Inversion des Gesetzgebungsprozesses ergibt (D. I.). Auf der Grundlage dieses Verständnisses werden die einzelnen Auslegungsmethoden und ihr Verhältnis zueinander dargestellt (D. II. - IV.) sowie verschiedene Sonderfragen der Auslegung erörtert (D. V.). Im letzten Teil der Arbeit (E.) geht es um die Problematik der Rechtsfortbildung. Dabei werden im Anschluß an eine Skizzierung der diesbezüglichen Fallgruppen (E. I.) Fragen der abändernden Rechtsfortbildung im Wege der Korrektur von Rechtnormen (Ε. II.) sowie der ergänzenden Rechtsfortbildung zur Schließung von Regelungslücken (E. III.) eingehend behandelt. Abschließend wird dann die Frage erörtert, ob und unter welchen Voraussetzungen ein im Wege richterlicher Rechtsfortbildung entwickelter Entscheidungsmaßstab zu Gewohnheitsrecht erstarken kann (E. IV.).
Β. Grundlagen Das Verständnis einer juristischen Methodik kann sich nur dann erschließen lind die Handhabung der als Handwerkszeug des Juristen verstandenen Methoden nur dann gelingen, wenn über die mit eben diesem Handwerkszeug zu verfolgenden Ziele Klarheit besteht. Nur wenn man sich bewußt macht, zu welchem Zweck von den verfugbaren Methoden Gebrauch zu machen ist, kann geklärt werden, auf welche Weise dies zu erfolgen hat. Ehe in die Erörterung einzelner Methodenfragen eingetreten werden kann, ist daher nachfolgend zunächst die Funktion aufzuzeigen, die die juristische Methodik, namentlich die der Gesetzesauslegung, im Prozeß der Rechtsanwendung zu erfüllen hat. Dabei soll insbesondere auf die Maßstäbe eingegangen werden, an denen der Rechtsanwender sich bei der Auslegung und Anwendung von Rechtsnormen orientieren muß. Denn hierbei handelt es sich um eine Frage, die für die gesamte juristische Methodik vonrichtungsweisender Bedeutung ist.
I . Das Gesetz als Entscheidungsmaßstab Die juristische Methodik dient der richtigen Rechtsanwendung, und damit insbesondere der richtigen Gesetzesanwendung, als welche die Rechtsanwendung unter den heutigen Bedingungen aufgrund der geringen Bedeutung des Gewohnheitsrechts in erster Linie erscheint1. Das Verständnis der Methodik setzt deshalb zuallererst voraus, sich die Funktion von Gesetzen zu verdeutlichen, denn eine Methodik der Gesetzesanwendung kann nur dann richtig sein, wenn sie der Realisierung dieser Funktion dient.
1. Entscheidungs- und Maßstabssetzungskompetenz Ausgangspunkt jeder Rechtsanwendung ist ein konkreter Lebenssachverhalt, in dem bestimmte Probleme und Konflikte hervortreten. Angesichts eines sol1 Zur schwindenden Bedeutung des Gewohnheitsrechts vgl. Engisch, Einfuhrung, S. 44; Enneccerus/Nipperdey, BGB AT 1/1, S. 262; Stern, Staatsrecht II, S. 579 f.; speziell fur den Bereich des Privatrechts schon Mugdan, Materialien I, S. 361.
6
Β. Grundlagen
chen konkreten Streit- oder Zweifelsfalles stellen sich für die Rechtsanwendung zwei Kernfragen. Zum einen geht es um die Entscheidungskompetenz (Wer entscheidet im konkreten Fall?), zum anderen um die Maßstabssetzungskompetenz (Wer setzt die Maßstabe für die zu treffende Entscheidung?). Die auf den ersten Blick vielleicht naheliegende Koppelung, daß deijenige, der zur Entscheidung eines Rechtsstreites berufen ist, auch die hierzu erforderlichen Maßstabe setze, trifft bei genauerer Betrachtung jedenfalls in dem vom Grundgesetz konstituierten Gewaltenteilungssystem der Bundesrepublik Deutschland so nicht zu. Ein wesentliches Merkmal der grundgesetzlichen Gewaltenteilung ist vielmehr die Entkoppelung und Trennung von Entscheidungsmacht und Maßstabssetzung. Die Kompetenz zur verbindlichen, der Rechtskraft fähigen und jedenfalls in der letzten Instanz endgültigen Entscheidung etwaiger auftretender rechtlicher Streitfragen obliegt den Gerichten, denen die rechtsprechende Gewalt anvertraut ist (Art. 92 GG) und denen in dieser Hinsicht daher der Vorrang vor den Verwaltungsorganen zukommt2. Ungeachtet ihrer Entscheidungskompetenz steht den Gerichten nach der Vorstellung des Grundgesetzes indessen nicht zugleich die Kompetenz zu, die Entscheidungsmaßstabe zu setzen. In dem vom Grundgesetz konstituierten gewaltenteiligen System darf der Richter die zu beurteilenden Probleme und Konflikte nämlich nicht nach seinem eigenen Rechtsempfinden lösen, sondern ist bei seiner Entscheidung an "Gesetz und Recht" gebunden. Mithin ergibt sich aus der Gesetzesbindung der Gerichte (Art. 20 Abs. 3, 97 Abs. 1 GG), daß die die Gesetze erlassende Legislative dem Richter die Entscheidungsmaßstäbe vorgibt 3. Der Richter hat diesen 2 Vgl. Kirchhof, Heidelberg-FS, S. 11 ff.; Meyer, in v. Münch, GG, Alt. 92 Rn 8; Stern, Staatsrecht II, S. 896 ff. Im Bereich des Verwaltungsrechts sind zunächst oftmals die Behörden aufgerufen, Entscheidungen für konkrete Fälle zu treffen. Diese Entscheidungen sind aber nicht aus sich heraus letztverbindlich. Denn ein Verwaltungsakt hat zwar potentielle Bestandskraftwirkung, kann aber nicht in Rechtskraft erwachsen. Eine behördliche Entscheidung, und zwar selbst eine Widerspruchsentscheidung, wird für die Beteiligten nur verbindlich, wenn sie von ihnen allen akzeptiert und nicht vor Gericht angefochten wird. Gegen eine letztinstanzliche Gerichtsentscheidung ist den Parteien hingegen kein Rekurs zu einer anderen Gewalt mehr eröffnet. Deshalb wird, wenn im folgenden von der Entscheidungskompetenz die Rede ist, dies auf die Gerichte bezogen. 3 Vgl. BVerfGE 34, 269, 287 ("gesetzgeberische Weisungen"); Engisch, Einführung, S. 95 (Gesetze als "Direktiven"); Ennecc er us/Nipperdey y BGB A T 1/1, S. 337 (Gesetz als "Anweisung zur Entscheidung"); Herzog, in Maunz/Dürig, GG, Art. 20 (Lfg. 1980) Rn V I 45 ("Steuerungsinstrument"); Hesse y Verfassungsrecht, Rn 506 (Gesetz als "Anordnung der gesetzgebenden Körperschaft"); Kirchhof HeidelbergFS, S. 11 ("Maßstab des Rechtsprechens ist das Gesetz"); Kratzmann y Volkssouveränität, S. 41, 58 ("Richt-Linie"); Larenz y Methodenlehre, S. 250; Larenz/Canaris,
I. Das Gesetz als Entscheidungsmaßstab
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Vorgaben des Gesetzgebers als der ihm vorgeordneten Gewalt zu folgen und darf sich nicht "aus der Rolle des Normanwenders in die einer normsetzenden Instanz begeben"4. Dieser grundgesetzlichen Kompetenzverteilung (den Gerichten gebührt die Entscheidungskompetenz, dem Gesetzgeber die Maßstabssetzung) liegen folgende Überlegungen zugrunde: Der parlamentarische Gesetzgeber ist durch die Wahl unmittelbar demokratisch legitimiert (Art. 38 Abs. 1 GG) und nimmt als das dem Volk als Träger aller Staatsgewalt (Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG) nächstverbundene Staatsorgan vor allen anderen Staatsorganen und -gewalten eine Vorrangstellung ein. Deshalb soll der formelle Gesetzgeber bei seiner Tätigkeit auch nur der vom Souverän sanktionierten Verfassung unterworfen und ansonsten in der Gestaltung der Rechtsordnung frei sein, während die anderen Gewalten eben auch an die vom Gesetzgeber erlassenen Gesetze gebunden sind (Art. 20 Abs. 3 GG). Diese Gesetzesbindung hat eine demokratietheoretisch nicht zu vernachlässigende Bedeutung: Zwar sind auch die Exekutive und die Judikative unter dem Grundgesetz - wenngleich nur in mittelbarer Weise - demokratisch legitimiert 5. Diese mittelbare demokratische Legitimation ist freilich zunächst nur eine persönliche und besagt insofern nur, daß der betreffende Amtsinhaber hoheitliche Gewalt ausüben darf 6 . Dadurch nun, daß Verwaltung und Rechtsprechung den vom Gesetzgeber vorgegebenen Entscheidungsmaßstäben zu folgen haben, werden ihre Entscheidungen an den Gesetzgeber rückgebunden und erfahren so die erforderliche zu-
Methodenlehre, S. 71; Papier, in Isensee/Kirchhof, HStR V I , § 153 Rn 17 (Gesetze als "normative Kontrollmaßstabe"); Ramm, Einfuhrung in das Privatrecht, S. 23. 4 BVerfGE 87, 273, 280. 5 Vgl. BVerfGE 49, 89, 125 f.; 68, 1, 89; 77, 1, 40; Herzog, in Maunz/Dürig, GG, Art. 20 (Lfg. Juni 1978) Rn II 50 ff. ("ununterbrochene Kette individueller Berufungsakte"); Kratzmann, Volkssouveränität, S. 67 ff.; Roth, Faktische Eingriffe, S. 504 f. 6 Die Frage der persönlichen Legitimation des Richters durch seine Wahl bzw. Ernennung durch ihrerseits demokratisch legitimierte Amtsträger ist von der Frage nach seiner sachlichen Legitimation zum Treffen verbindlicher Entscheidungen zu unterscheiden: wenn auch die persönliche demokratische Legitimation eines Amtsträgers nach der Ordnung des Grundgesetzes unabdingbare Voraussetzung dafür ist, ihm sachliche Entscheidungsbefugnisse zu übertragen, so folgen diese Entscheidungsbefugnisse doch nicht aus jener persönlichen Legitimation. Die sachliche Entscheidungskompetenz ergibt sich vielmehr aus der mit der Übertragung des Richteramtes naturgemäß verbundenen Notwendigkeit, Recht zu sprechen; ihre Basis findet diese sachliche Legitimation in der Bindung des Richters an Gesetz und Recht. Vgl. hierzu Böckenförde, in Isensee/Kirchhof, HStR I, § 22 Rn 23; Kratzmann, Volkssouveränitat, S. 70; Roellecke, W D S t R L 34 (1976), 30 f.
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Β. Grundlagen
sätzliche inhaltlich-sachliche demokratische Legitimierung7. Dem durch das Demokratieprinzip gebotenen demokratischen " LegitimationsniveauH genügt nämlich nur das Zusammenwirken von persönlicher und inhaltlich-sachlicher Legitimation8, weil die Gerichte ohne diese Bindung an die Gesetze eine eigenständige, dem Inhalt nach vom legitimierenden Volk völlig losgelöste Herrschaftsgewalt ausübten9. Die Gesetzesbindung der Exekutive und Judikative besitzt außer dieser demokratischen zugleich auch eine rechtsstaatliche und freiheitssichernde Komponente: Aufgrund der notwendigen Allgemeinheit der Gesetze gewährleisten Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes die Gleichmäßigkeit der Rechtsanwendung, während ohne Gesetzesbindung der Rechtsanwendungsorgane die Rechtssubjekte nicht mehr dem Gesetz, sondern der Willkür anderer unterworfen wären 10 . Die richterliche Gesetzesbindung stellt somit "ein im Interesse der Rechtssicherheit notwendiges Gegenstück zur richterlichen Unabhängigkeit" dar 11 . Besondere Bedeutung hat dieser Gedanke traditionell im Strafrecht, wo sich denn auch eine besonders strenge Ausprägung der Gesetzesbindung findet 12 . Der Primat des Gesetzgebers vor den anderen Gewalten bedeutet allerdings keine Allzuständigkeit. Nach der Vorstellung des Grundgesetzes soll der Gesetzgeber durch den Erlaß abstrakt-genereller Normen über die Auflösung regelungsbedürftiger Interessenkonflikte bestimmen13, nicht aber soll er die Entscheidung konkreter Fälle durch den Erlaß von konkret-individuellen
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Vgl. Böckenförde, in Isensee/Kirchhof, HStR I, § 22 Rn 23; Meyer, in v. Münch, GG, Art. 97 Rn 18; Roellecke, W D S t R L 34 (1976), 32. Zu den unterschiedlichen Formen der Legitimation vgl. BVerfGE 83, 60, 72; Böckenförde y in Isensee/ Kirchhof, HStR I, § 22 Rn 14 ff. 8
BVerfGE 83, 60, 72. Böckenförde, in Isensee/Kirchhof, HStR I, § 22 Rn 23; ferner Hillgruber, 1996, 118; Isensee, Heymanns-FS, S. 582 f.; Krey, JZ 1978, 467. 9
JZ
10 Zu dieser Bedeutung der Gesetzesbindung vgl. BVerfGE 64, 389, 394; Eser/ Burkhardt, Strafrecht I, Nr. 2 Rn A 1 ("Ausschluß richterlicher Willkür mittels Bindung an das Gesetz"); Jakobs, Strafrecht AT, Rn 4/2; Krey, JZ 1978, 465; Ramm, Einführung in das Privatrecht, S. 27; Roth, Faktische Eingriffe, S. 496 f., 500. 11 BVerfGE 49, 304, 318; ferner Krey, JZ 1978, 467; Meier-Hayoz, JZ 1981, 422; Meyer, in v. Münch, GG, Art. 97 Rn 14. 12 s. dazu unten Β. I. 3. und E. III. 2. c). 13
Isensee, Heymanns-FS, S. 579 f. betont zutreffend, daß Gesetze Entscheidungen treffen müssen und ihre friedensstiftende Integrationswirkung einbüßen, wo sie bloße semantische Formelkompromisse darstellen; vgl. ferner Depenheuer, DVB1. 1987, 810 mit besonderem Blick auf das Verfassungsrecht.
I. Das Gesetz als Entscheidungsmaßstab
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Einzelfallgesetzen an sich ziehen 14 . Durch seinen demokratietheoretisch fundierten Primat ist der Gesetzgeber zwar legitimiert, in Form von Gesetzen die grundlegenden Wertentscheidungen zu treffen 15 und diese den anderen Gewalten als Entscheidungsmaßstäbe vorzugeben. Über die Vorgabe der Maßstäbe hinaus auch letztverbindliche Entscheidungen im Einzelfall zu treffen, kann hingegen nicht Aufgabe des Gesetzgebers sein, weil er regelmäßig nicht die Umstände des konkreten Falles kennen und der einzelne auch nicht seine Interessen gegenüber dem Gesetzgeber geltend machen kann; es wäre aber unerträglich, träfe den einzelnen die verbindliche Entscheidung eines Organs, das gar nicht in der Lage ist, die individuellen Umstände zu berücksichtigen 16 . So wie nämlich die Setzung abstrakt-genereller Entscheidungsmaßstäbe die Abwägung vielfaltigster Interessen einzelner und der Allgemeinheit voraussetzt und dabei "unter Umständen die Berücksichtigung einer großen Zahl von wirtschaftlichen, sozialen und politischen Faktoren [erfordert], die selten in dem einem Gericht unterbreiteten Einzelfall sämtlich erkennbar werden" 17 , so erfordert umgekehrt die gerechte Entscheidung eines Einzelfalles nicht selten die Berücksichtigung besonderer Umstände, die der Gesetzgeber nicht bedacht hat und auch gar nicht bedenken konnte 18 . Eben aus diesem Grunde ist die Konkretisierung und Anwendung der Gesetze im Einzelfall wesensmäßig Sache der Gerichte, gebührt ihnen das "letzte Wort" bei der Entscheidung konkreter streitiger Rechtsverhältnisse19, wobei sie aber infolge ihrer Gesetzesbindung den im Gesetz normierten Entscheidungsmaßstäben gehorchen 14 Vgl. Herzog, in Maunz/Dürig, GG, Alt. 20 (Lfg. 1980) Rn V 83, 111, Art. 97 (Lfg. 1977) Rn 22; Kirchhof,\ Heidelberg-FS, S. 26 ff.; Roth, Faktische Eingriffe, S. 505 ff. Für grundrechtseingreifende Gesetze ist dies durch Art. 19 Abs. 1 S. 1 GG ausdrücklich verboten. 15 Zur (politischen) Wertentscheidung als vornehmlichster Aufgabe des Parlaments vgl. BVerfGE 4, 219, 236; 59, 231, 263; Bettermann, Evangelisches Staatslexikon, Sp. 2019 ("Akte politischer Gestaltung"); Hesse, Verfassungsrecht, Rn 503, 506; Roth, Faktische Eingriffe, S. 471 ff.; Schenke, in BK, Art. 19 Abs. 4 (Zweitb. 1982) Rn 370; ferner Isensee, in Isensee/Kirchhof, HStR III, § 57 Rn 90. 16
Vgl. Kirchhof, Heidelberg-FS, S. 29 f.; Roth, Faktische Eingriffe, S. 507 f., 510; ferner Bryde, in v. Münch/Kunig, GG, Alt. 14 Rn 75; Kratzmann y Volkssouveränität, S. 5. 17 BVerfGE 4, 219, 236; vgl. ferner Meier-Hayoz, JZ 1981, 421; Picker, JZ 1984, 156 ("Beschränktheit der Arbeitsmittel und Erkenntnisquellen des Richters"). Zur Methodik der gesetzgeberischen Entscheidungsfindung vgl. Deckert, ZG 1995, 240 ff.; Zippelius, Die experimentierende Methode, S. 5 ff. 18 Vgl. Picker, JZ 1984, 155: "Beurteilung der konkreten Konstellationen, die den Interessen der individuellen Parteien in ihrer einzigartigen und vielleicht ganz untypischen Lebensbeziehung gerecht wird"; Roth, Faktische Eingriffe, S. 507; Staudinger/ Coing f BGB, Einl. Rn 234. 19
Meyer, in v. Münch, GG, Alt. 92 Rn 8; Stern, Staatsrecht II, S. 896.
Β. Grundlagen
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müssen, sofern nicht aufgrund der Besonderheiten des konkreten Falles der gesetzliche Entscheidungsmaßstab unanwendbar bleiben muß. Der grundgesetzlichen Gewaltenteilung entspricht somit eine Rollenverteilung derart, daß der Richter die (rechtskraftfähige und in der letzten Instanz jedenfalls endgültige) Entscheidung über einen konkret-individuellen Streitfall trifft, während der Gesetzgeber durch seine Gesetze hierfür abstrakt-generelle Entscheidungsmaßstäbe vorgibt 20 .
2. Die Verhaltenssteuerungsfunktion der Gesetze Die vorstehend beschriebene Funktion der Gesetze, dem Rechtsanwender Entscheidungsmaßstäbe vorzugeben, ist nicht als die alleinige oder auch nur primäre Gesetzesfunktion zu verstehen. In erster Linie kommt den Gesetzen vielmehr eine Verhaltenssteuerungsfunktion zu, die darin besteht, die staatliche und gesellschaftliche Ordnung zu konkretisieren sowie das Leben und den Verkehr der Rechtssubjekte untereinander nach den Vorstellungen des Gesetzgebers zu ordnen und zu gestalten21. Gesetze sind in ihrem Verhältnis zu den Normadressaten zunächst als Bestimmungsnormen zu verstehen, mit denen der Gesetzgeber versucht, das Verhalten der Adressaten in der gewünschten Weise zu beeinflussen 22, indem er ihnen Verhaltensmaßstäbe vorgibt 2 3 . Dabei rechnet der Gesetzgeber damit, daß die Gesetze jedenfalls ganz überwiegend freiwillig befolgt werden. Diese Erwartung ist regelmäßig auch berechtigt, weil eine Bestimmungsnorm nicht einfach ein Gebot oder Verbot aufstellt, sondern vielmehr ihrerseits auf Bewertungen (Billigungen und Miß-
2 0 Vgl. Bett ermann, Evangelisches Staatslexikon, Sp. 2018; Herzog, in Maunz/ Dürig, GG, Art. 92 (Lfg. 1971) Rn 24; Stern, Staatsrecht II, S. 896; ferner Hesse, Verfassungsrecht, Rn 488 f., 503 ff., der die spezifische Funktionenverteilung zwischen den verschiedenen Gewalten allerdings nicht primär demokratietheoretisch und von der Stellung des Bürgers her, sondern mit der jeweiligen Organstruktur begründet, welche Aufgaben die Organe aufgrund ihrer Zusammensetzung, inneren Struktur und äußeren Stellung am besten wahrnehmen können (vgl. hierzu BVerfGE
68, 1, 86). 2 1
Allgemein zur Funktion des Rechts in der Gesellschaft Henkel, Rechtsphüosophie, S. 45 ff.; Zippelius, Methodenlehre, S. 2 ff. 2 2 Vgl. Bydlinski, Methodenlehre, S. 191 ff.; Going, Rechtsphüosophie, S. 216 ff.; Engisch, Einführung, S. 21 ff.; Henkel, Rechtsphüosophie, S. 41 ff.; Münzberg, Verhalten, S. 49 ff.; Roth, Faktische Eingriffe, S. 97 ff., 210 f.; Ryffel, Rechts- und Staatsphüosophie, S. 399 ff.; Zippelius, Methodenlehre, S. 2 ff.; ders., Rechtsphüosophie, S. 10 ff. 2 3
Norm, von lat. "norma" = Winkelmaß, Richtschnur, Maßstab.
I. Das Gesetz als Entscheidungsmaßstab
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billigungen) beruht 24 , mithin in einer Bewertungsnorm wurzelt 25 ; jedenfalls dann, wenn die Normadressaten diese Bewertungen des Gesetzgebers teilen, werden sie der getroffenen Bestimmung im allgemeinen freiwillig folgen 26 . Erst wenn Gesetze nicht (freiwillig) befolgt werden oder es zum Streit über ihre Befolgung und Anwendung kommt, erweist sich ihre weitere - und für viele Zwecke praktisch bedeutsamere - Funktion, nämlich dem dann fur die Entscheidung des konkreten Falles zuständigen staatlichen Organ (Gericht, Behörde) verbindliche Entscheidungsmaßstäbe vorzugeben. Rechtsnormen haben insofern also zwei Adressatenkreise: zum einen die Bürger (oder sonstige Rechtssubjekte27), die zu einem bestimmten Verhalten veranlaßt werden sollen, zum anderen die Rechtsprechungs- und Verwaltungsorgane, die über etwaige auftretende Streitfragen zu entscheiden haben 28 . Die genannten Funktionen der Gesetze dürfen nicht strikt voneinander getrennt gesehen werden. Eine solche Trennung wäre schon deshalb nicht sachgerecht, weil die Funktion der Gesetze, als Entscheidungsmaßstab zu dienen, notwendigerweise Vorwirkungen hinsichtlich ihrer Verhaltenssteuerungsfunktion hat. Die Verknüpfung beider Gesetzesfunktionen wird durch die Tätigkeit der Gerichte bewirkt 29 , deren zentrale Rolle in Ansehung der gesetzlichen Verhaltenssteuerungsfunktion deshalb nicht verkannt werden darf. Zwar wendet sich der Gesetzgeber mit den von ihm erlassenen Gesetzen direkt und ohne Vermittlung durch die Gerichte an die Bürger. Indessen ist 2 4
Going, Rechtsphilosphie, S. 222 ff. Zur Rechtsnorm als Bestimmungs- und Bewertungsnorm vgl. Bydlinski, Methodenlehre, S. 273 Fn 193; Engisch y Einführung, S. 27 f.; Henkel, Rechtsphilosophie, S. 553; Armin Kaufmann, Bindings Normentheorie, S. 74 ff.; Lenckner, in Schönke/ Schröder, StGB, vor § 13 Rn 49; Münzberg, Verhalten, S. 49 ff.; Roxin, Strafrecht AT I, § 10 Rn 93; ferner Roth, Faktische Eingriffe, S. 98 f., 102. 2 5
2 6 Vgl. Bydlinski, Methodenlehre, S. 195; Henkel, Rechtsphilosophie, S. 121, 267; LarenZy BGB AT, S. 36 f.; Ryffel, Rechts- und Staatsphilosophie, S. 400; ferner Benda/Kreuzer, JZ 1972, 497 f. Zu den vielfaltigen Bedingungen der Wirksamkeit gesetzlicher Verhaltenssteuerung s. näher Zippelius, Die experimentierende Methode, S. 12 ff. 2 7 Als Adressaten von Normen kommen neben einzelnen natürlichen Personen auch juristische Personen sowohl des Privat- wie des öffentlichen Rechts und ferner Vereinigungen ohne Rechtsfähigkeit in Betracht. Aus Gründen der sprachlichen Einfachheit sollen nachfolgend aber nur die Bürger ausdrücklich genannt werden. 2 8
Zur Unterscheidung der Funktionen des Gesetzes als Verhaltensnorm für den Bürger und als Beurteilungsnorm (Entscheidungsnorm) für den Richter vgl. Bettermann, Evangelisches Staatslexikon, Sp. 2020; Herzog, in Maunz/Dürig, GG, Art. 20 (Lfg. 1980) Rn V I 35 f., 45, Art. 92 (Stand 1971) Rn 28; Larenz, Methodenlehre, S. 250; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 71; D. Lorenz, Staatslexikon, 4. Bd., Sp. 728; Stern, Staatsrecht II, S. 896; Zippelius, Methodenlehre, S. 3. 2 9
Vgl. Bett ermann. Evangelisches Staatslexikon, Sp. 2018.
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Β. Grundlagen
rechtlicher Träger des Gesetzes der Staat als solcher, und nicht etwa das Legislativorgan, das für den Staat die Gesetze erläßt. Von daher darf die Beziehung des Bürgers zum Gesetzgeber von vornherein nicht isoliert und unter Ausblendung der anderen Staatsgewalten verstanden werden; vielmehr ist der funktionelle Zusammenhang zu beachten, der zwischen Gesetzgebung und Rechtsprechung besteht30. In der Beziehung des Bürgers zum Staat ist von Bedeutung, daß der Staat nach dem Verständnis des Grundgesetzes keine monolithische Einheit darstellt, sondern nach den verschiedenen Funktionen und Gewalten31 organisatorisch gegliedert ist. Deshalb gilt das staatliche Gesetz für den Bürger so, wie es vom Gesetzgeber erlassen und von den Gerichten in methodisch richtiger Weise konkretisiert und letztverbindlich interpretiert wird 3 2 . Diese gesetzeskonkretisierende Funktion der Rechtsprechung darf nicht etwa als unstatthafter Ubergriff in die Kompetenzen des Gesetzgebers und Usurpation legislativer Macht verstanden werden 33 , sondern folgt aus dem Wesen der den Richtern anvertrauten rechtsprechenden Gewalt (Art. 92 GG) als notwendiger Bestandteil ihrer Rechtsprechungsaufgabe 34. Das "nackte" Gesetz ist demgegenüber häufig zu abstrakt, um dem einzelnen hinreichend konkrete Verhaltensmaßstäbe zu setzen, so daß sich seine Eignung zur Verhaltenssteuerung oft nur in Verbindung mit der konkretisierenden Rechtsprechimg ergibt. Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Leitfunktion, die den Entscheidungen namentlich der obersten Gerichte zukommt 35 . Hat ein Gericht ein Gesetz in einem bestimmten Einzelfall in dieser oder jener Weise konkretisiert, so ist es nach dem Gleichheitssatz gehalten, jeden gleichartigen Fall künftig nach den gleichen Grundsätzen zu entscheiden36. Gelangt das Gericht zu der Einsicht, daß die bisherige Auslegung verfehlt war, so ist es an
3 0 Kirchhof Heidelberg-FS, S. 11 ff., 16 ff.; Maunz/Zippelius, Deutsches Staatsrecht, S. 90, 342; Schmidt-Aßmann, in Maunz/Dürig, GG, Art. 103 Abs. 2 (30. Lfg. Dez. 1992) Rn 224. 3 1
Vgl. Achterberg, in BK, Art. 92 (Zweitbearb. 1981) Rn 54 f. zu den Begriffen der Funktionenordnung und der Gewaltenteilung. 3 2 Zur gesetzeskonkretisierenden Funktion der Rechtsprechung vgl. Bleckmann, JZ 1995, 685; Brohm y JZ 1985, 502; Kirchhof Heidelberg-FS, S. 16 ff.; Schenke, in BK, Ait. 19 IV (Zweitbearb. 1982) Rn 338; ders. y DÖV 1986, 316. 3 3 3 4 3 5 3 6
D. Lorenz, Staatslexikon, 4. Bd., Sp. 728. Kirchhof Heidelberg-FS, S. 14 ff.; Stern, Staatsrecht II, S. 583. Vgl. Kirchhof Heidelberg-FS, S. 15 f., 27.
Vgl. Kirchhof Heidelberg-FS, S. 15 f.; Larenz> Methodenlehre, S. 429; Larenz! CanariSy Methodenlehre, S. 252 f.; Maunz/Zippelius, Deutsches Staatsrecht, S. 91; Pawlowskiy Methodenlehre, Rn 103.
I. Das Gesetz als Entscheidungsmaßstab
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diese Auslegung zwar nicht mehr gebunden37; die Änderung der Rechtsprechung muß dann jedoch wiederum allgemein sein und für alle gleichgelagerten künftigen Fälle gelten. Infolge dieser unter Gleichheits- wie auch Rechtssicherheitsaspekten notwendigen Konstanz und Einheitlichkeit der gesetzeskonkretisierenden Rechtsprechung kann der Bürger vorhersehen, wie sein Verhalten beurteilt werden würde, und dementsprechend sein Handeln ausrichten. Obgleich letztlich allein das Gesetz maßgeblich ist, ist die Bedeutung der Rechtsprechung insoweit also nicht zu unterschätzen. Daß die Verhaltenssteuerung durch die an den Bürger adressierten Normen erfolgen soll, und es deshalb eigentlich auf dessen Verständnismöglichkeit ankommen müßte, steht mit dem Umstand, daß die Auslegung und Anwendung dieser verhaltenssteuernden Normen im Einzelfall den Gerichten obliegt, in einem Spannungsverhältnis. Diese Erkenntnis darf aber nicht dazu verleiten, die juristische Methodik nach dem Horizont des Normadressaten auszugestalten, anstatt auf die Funktion und Arbeitsweise der Gerichte abzustellen, oder gar unterschiedliche methodische Ansätze zu postulieren, je nachdem ob es um die (auf die Normadressaten bezogene) Verhaltenssteuerungs- oder die (auf den Richter bezogene) Entscheidungsmaßstabsfunktion geht 38 . Sowenig der einzelne Normadressat zur Entscheidung seines Falles berufen ist, sowenig ist seine Sicht auch maßgeblich für die Auslegung und Anwendung der Gesetze39. Sein Handeln ist Gegenstand, nicht Maßstab der rechtlichen Beur3 7
Vgl. BVerfGE 84, 212, 227; Staudinger/Coing, hierzu unten E. IV.
BGB, Einl. Rn 227; näher
3 8 So aber anscheinend Häberle, JZ 1975, 304 f. in bezug auf die Verfassungsauslegung: "funktionelle Richtigkeit der Verfassungsinterpretation fuhrt zu praktischer Verschiedenheit der Verfassungsinterpretation. Es hängt ja jeweils vom Organ, seinem Verfahren, seiner Funktion, seinen Qualifikationen ab, wie - richtig - interpretiert wird ... dann muß das auslegende Organ aufgrund seiner spezifischen Kompetenzen anders auslegen als ein anderes Organ mit anderen Kompetenzen" (Hervorhebung im Original). Demgegenüber ist einzuwenden, daß es bei der Auslegung nicht um deren bloß "funktionelle" Richtigkeit geht, die eine rein relative und unterschiedliche wäre, sondern sich die Richtigkeit der Auslegung nach dem Maßstab des Normgebers bestimmt und als solche für alle gleich ist. Kompetentiell und funktional wird die als richtig zugrundezulegende Auslegung durch die Entscheidung des letztinstanzlich zuständigen Gerichts ermittelt, bei der Auslegung des Grundgesetzes also des BVerfG. Es entspricht nicht der grundgesetzlichen Vorstellung von Gewaltenteilung und der Rolle der Gerichte, deren Prüfungskompetenz auf die bloße Kontrolle jeweils "funktionell richtiger" Normauslegung zu reduzieren. 3 9 Vgl. Flume , BGB AT II, S. 293; harem, Methodenlehre, S. 347; Larenz/Canaris , Methodenlehre, S. 167 f.; Säcker, in MünchKomm BGB, Einl. Rn 115; ferner Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 352, wonach die "Wahl" zwischen verschiedenen Auslegungsmöglichkeiten durch den Bürger für das rechtsanwendende Organ nicht verbindlich ist und daher stets unter der Gefahr erfolgt, "von diesem Organ als irrig an-
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Β. Grundlagen
teilung und kann nicht die eindeutigen oder durch Auslegung ermittelten Anforderungen einer Rechtsnorm verdrängen 40. Deshalb kann die juristische Methodik, auch wenn sie der Verhaltenssteuerungsfunktion der Gesetze Rechnimg tragen muß, nicht danach ausgestaltet werden, daß sie von dem (womöglich) rechtsunkundigen Bürger selbst nachvollzogen werden könnte. Dies verbietet sich schon deshalb, weil der (mit Hilfe dieser Methodik zu ermittelnde) Sinn des Gesetzes für alle Adressaten gleich sein muß 4 1 : denn anderenfalls bliebe die essentielle Forderung nach der Allgemeinheit des Gesetzes unerfüllt, die außer der Allgemeinheit des Adressatenkreises auch die Allgemeinheit des Gesetzesinhalts einschließt42. Der Bürger ist vielmehr in Zweifelsfallen gehalten, rechtskundigen Rat einzuholen, bevor er eine bestimmte Handlung vornimmt 43 . Erweist sich der Inhalt eines Gesetzes auch aus Sicht des rechtskundigen Beraters als zweifelhaft, so hat er zu dessen Ermittlung die gleichen Methoden wie der Richter anzuwenden. Denn sofern eine verbindliche Entscheidung erforderlich wird, sind es die Gerichte, die nach der Aufgabenverteilung des Grundgesetzes letztlich über den vorliegenden Zweifelsfall entscheiden müssen, und zwar nach der für sie maßgeblichen Methodik. Die auf das Verhältnis zwischen Gesetzgeber und Richter bezogenen Gewaltenteilungsgrundsatze schlagen insofern also auf das Verhältnis des Bürgers zum Staat durch 44 . Gerade weil die Auslegung der Gesetze nicht lediglich eine rein interne Frage der Gewaltenteilung betrifft, sondern im Verhältnis des Staates zu den normunterworfenen Rechtssubjekten die dargelegte Außenwirkung besitzt, weisen Methodenfragen eine eminente demokratietheoretische Tragweite auf. Vor diesem Hintergrund bedarf es besonders sorgfaltiger Überlegung, wie die Methodik auszugestalten ist, damit das Gesetz seine vom Gewaltenteilungsprinzip her vorgegebene und durch das
gesehen zu werden, so daß das auf ihr beruhende Verhalten des Individuums als Delikt beurteilt wird". 4 0 Vgl. BVerfGE 91, 148, 171 mit Bezug auf das Verhältnis von Staatspraxis und Verfassungsrecht. 41 Flume , BGB AT II, S. 293; lsensee, Heymanns-FS, S. 578; ferner Depenheuer, Der Wortlaut als Grenze, S. 15: "Wie auch immer das Ziel der Gesetzesinterpretation bestimmt wird - sei es der Wille des Gesetzes oder der des Gesetzgebers -, in jedem Fall vermittelt der Wortlaut der Norm einen vorgegebenen und identischen Sinn, den es durch Interpretation aufzudecken und für die konkrete Interpretation fruchtbar zu machen güt" (Hervorhebung durch Verf.). 4 2
lsensee, Heymanns-FS, S. 579. Vgl. BGH, NJW 1970, 463 , 464; Bleckmann, JZ 1995, 686; Cramer , in Schönke/Schröder, StGB, § 17 Rn 18; Hanau, in MünchKomm BGB, § 276 Rn 124; Staudinger/Löwisch, BGB, § 285 Rn 29. 4 3
4 4 Vgl. Kirchhof Heidelberg-FS, S. 16 ff.; Schmidt-Aßmann, GG, Alt. 103 Abs. 2 (30. Lfg. Dez. 1992) Rn 224.
in Maunz/Dürig,
I. Das Gesetz als Entscheidungsmaßstab
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Demokratieprinzip legitimierte Aufgabe, als Entscheidungsmaßstab insbesondere für den Richter zu dienen, bestmöglich erfüllen kann.
3. Materiellrechtliche Prinzipien als Korrektiv Auch wenn die Sicht des Normadressaten fur die Ausgestaltung der juristischen Methodik als solche unbeachtlich ist, so heißt dies doch keineswegs, daß die Position des Bürgers bei der Anwendung der Gesetze außer acht zu lassen wäre. Die gebotene Berücksichtigung dieser Position hat jedoch nicht methodisch, sondern materiellrechtlich zu erfolgen. Da die juristische Methodik lediglich Handwerkszeug ist, um die Zwecke des materiellen Rechts möglichst wirksam umzusetzen, darf sie nicht verabsolutiert und gar über das materielle Recht gestellt werden. Vielmehr müssen bei der Auslegung und Anwendung der Gesetze die materiellrechtlichen Grenzen beachtet werden, die insbesondere durch die Verfassung vorgegeben sind. Zu nennen sind hier Prinzipien wie das Bestimmtheitsgebot, das Rückwirkungsverbot und der Grundsatz des Vertrauensschutzes. Daß die Positionen der betroffenen Rechtssubjekte materiellrechtlich und nicht methodisch zu berücksichtigen sind, begründet einen Unterschied von nicht unerheblicher Bedeutung. Die Methodik der Rechtsanwendung ergibt sich vorrangig im Hinblick auf das Verhältnis der Gewalten untereinander, namentlich im Hinblick auf die Stellung des Richters gegenüber dem Gesetzgeber, und ist deshalb bei jeder Rechtsanwendung dieselbe. Materiellrechtlich zu berücksichtigende Positionen hingegen hängen von den konkret Betroffenen und dem fraglichen Rechtsverhältnis ab, so daß die hieran anknüpfenden Korrektive nicht notwendig allgemein gelten. Die Auswirkungen solcher Korrektive auf die Rechtsanwendung im konkreten Fall können im Rahmen dieser Arbeit nicht vertieft werden. Im folgenden soll aber wenigstens beispielhaft auf einige Problemfelder eingegangen werden. Das Spannungsverhältnis zwischen der Verhaltenssteuerungsfunktion der Gesetze und der Zuständigkeit der Gerichte für die verbindliche Gesetzesauslegung wird besonders deutlich, wenn der Bürger bei der Auslegung eines Gesetzes trotz aller zumutbarer Anstrengungen zu einem anderen Verständnis gelangt ist, als die Gerichte im nachhinein verbindlich für richtig erklären. Dies kann zum einen darauf beruhen, daß sich hinsichtlich der Auslegung einer mehrdeutigen Norm noch keine feststehende Rechtsprechung herausgebildet hatte, an welcher der Normadressat sich hätte orientieren können. Zum anderen mag sich vom Zeitpunkt des Handelns des Normadressaten bis zum Zeitpunkt der Beurteilung dieses Handelns durch das Gericht aber auch die Rechtsüberzeugung wandeln; legt nun das Gericht seiner Entscheidung die
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Β. Grundlagen
neue Rechtsüberzeugung zugrunde, so bedeutet dies aus Sicht des Normadressaten i m Ergebnis eine Rückwirkung, nicht anders, als wenn das Gesetz selbst geändert worden w ä r e 4 5 . In solchen Fällen gibt es i m Rahmen des materiellen Rechts zahlreiche Möglichkeiten, um einem etwaigen berechtigten Vertrauen des Bürgers in eine bestimmte Rechtslage Rechnung zu tragen 4 6 . Von Bedeutung ist hier vor allem das Schuldprinzip, dem i m Strafrecht und - mit gewissen Einschränkungen - auch i m Zivilrecht maßgebliche Bedeutung zukommt 4 7 . In methodischer Hinsicht ist dabei die Erkenntnis wichtig, daß nicht etwa die Auslegung und Anwendung des Gesetzes der Sicht des Bürgers angepaßt wird; die Verletzung des in Frage stehenden Gesetzes wird nicht in Frage gestellt, sie mag jedoch nicht für schuldhaft zu erachten sein. Beispiel (1): Im Strafrecht wird von dem Grundsatz ausgegangen, daß der Täter straflos bleiben muß, wenn sein Verhalten nach der zur Tatzeit einhelligen Rechtsprechung nicht strafbar war; da er bei Einholung rechtskundiger Auskunft in seinem fehlenden Unrechtsbewußtsein nur bestärkt worden wäre, sei ihm ein unvermeidbarer Verbotsintum zuzubilligen, der nach § 17 S. 1 StGB die Schuld ausschließt 48 . Bei der Auslegung neuer Strafgesetze ist dem Täter regelmäßig schon dann kein Schuldvorwurf zu machen, wenn sich das Gesetzesverständnis, zu dem er sich nach pflichtgemäßer Prüfung durchgerungen hat, im Rahmen der vertretbaren Auslegungsmöglichkeiten hält . Beispiel (2): Mit Urteil vom 23. 10. 1984 hat der BGH die bis dahin allgemein für maßgeblich erachteten Anforderungen an die Pistensicherungspflicht von Schleppliftunternehmern beträchtlich verschärft. Dem beklagten Unternehmer war danach objektiv eine Verkehrssicherungspflichtverletzung anzulasten. Sein Verhalten wur4 5 Bleckmann, JZ 1995, 686; Stauding er/Coing y BGB, Einl. Rn 231. Ausführlich zum Problem der Rückwirkung von Rechtsprechung Medicus, NJW 1995, 2577 ff.; ferner speziell zum Strafrecht Eser/Burkhardt, Strafrecht I, Nr. 2 Rn A 50 ff.; Jakobs, Strafrecht AT, Rn 4/80 ff; Roxin y Strafrecht AT I, § 5 Rn 59. Vgl. auch BVerfGE 38, 386, 397; 84, 212, 227, wonach eine zahlreiche und von namhaften Autoren vertretene Kritik an einer Rechtsprechung das berechtigte Vertrauen in deren Fortbestand ausschließe. 4 6
Vgl. hierzu BVerfGE 59, 128, 165 f.; 74, 129, 152; 84, 212, 227; BAGE 66, 228, 236 ff.; 71, 29, 44 f.; BGH, NJW 1996, 924, 925. 4 7 Zur Bedeutung des Schuldprinzips vgl. für das Strafrecht BVerfGE 20, 323, 331; BGHSt 2, 194; Lenckner y in Schönke/Schröder, StGB, vor § 13 Rn 103, 109; für das Zivilrecht Larenz, Schuldrecht I, S. 275 ff.; Larenz/Canaris y Schuldrecht II/2, S. 351 ff. 4 8
KG, NJW 1992, 182, 783; Cramer , in Schönke/Schröder, StGB, § 17 Rn 20. Cramer , in Schönke/Schröder, StGB, § 17 Rn 19. Der Lösung von Bleckmann, JZ 1995, 687 f., solchenfalls nicht lediglich die Schuld, sondern schon die Rechtswidrigkeit entfallen zu lassen, steht entgegen, daß sich bei diesem Ansatz unangemessene Einschränkungen für das Notwehrrecht des Opfers ergeben. 4 9
I. Das Gesetz als Entscheidungsmaßstab
17
de jedoch nicht als schuldhaft i. S. d. § 276 BGB angesehen, weil er den Pflichtverstoß bei Anwendung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt im Zeitpunkt seines Handelns nicht hatte erkennen können 50 . In gleichem Sinne hat der BGH in neuerer Zeit entschieden, daß die bisher an Eisenbahnwaggons angebrachten Blitzpfeile zwar nicht ausreichen, um vor der Gefahr eines tödlichen Stromschlags bei Beklettern des Waggons und Annäherung an die Oberleitung zu warnen, den Bahnunternehmer aber kein Verschulden treffe, weil er zum Zeitpunkt des Unfalls darauf vertrauen durfte, daß die Blitzpfeile nach der Rechtsprechung zur Warnung ausreichten 5*. Auch außerhalb von Verschuldensfragen kann berechtigtes Vertrauen auf eine bestimmte Rechtsprechung in Ausnahmefallen die Entwicklung besonderer Rückwirkungsregeln gebieten 5 2 , namentlich von Übergangs- und Stichtagsregelungen. Beispiel (3): In jahrzehntelanger Rechtsprechung hatte das BAG Betriebsvereinbarungen gebilligt, die mit einer Verfallklausel für den Fall des vorzeitigen Ausscheidens des Arbeitnehmers aus dem Betrieb versehen waren, und zwar selbst bei Kündigung durch den Arbeitgeber. Nachdem das BAG seine Rechtsprechung dahin änderte, daß die erdiente Versorgungsanwartschaft jedenfalls nach mehr als 20 Jahren Betriebszugehörigkeit unverfallbar sei und zumindest bei einer Kündigung durch den Arbeitgeber erhalten bleibe 53 , sah es sich infolge der finanziellen Auswirkungen und des entsprechenden Vertrauens der Betriebe an der Anerkennung einer generellen Rückwirkung gehindert und "sich deshalb gezwungen, im Wege der weiteren Rechtsfortbildung einen Anfangstermin zu setzen: Die mit der Entscheidung anerkannte Unverfallbarkeit gilt nur für solche Fälle, in denen nach der Verkündigung dieses Urteils ... Arbeitnehmer ... ausscheiden"54. Der Kläger selbst wurde dieser Stichtagsregelung freilich nicht unterworfen, da er die Änderung der Rechtsprechung erstritten hatte 55 . A u f einen solchen Vertrauensschutz können sich nicht lediglich Privatrechtssubjekte berufen. I n besonderen Fällen können materiellrechtliche Erwägungen vielmehr auch zum Schutz eines später als rechtswidrig erkannten Handelns von Staatsorganen fuhren. Beispiel (4): Mit Beschluß vom 11. 10. 1994 entschied das BVerfG, daß die bis dahin geübte und auch allgemein für zulässig erachtete Praxis der Bundesregierung, Rechtsverordnungen im schriftlichen UmlaufVerfahren als beschlossen anzusehen, wenn innerhalb der gesetzten Frist kein Mitglied der Bundesregierung Widerspruch 5 0 BGH, NJW 1985, 620. Allgemein zu den Voraussetzungen für die Annahme eines unverschuldeten Rechtsirrtums im Zivilrecht Hanau, in MünchKomm BGB, § 276 Rn 123 ff.; Staudinger/Löwisch, BGB, § 276 Rn 52 ff., § 285 Rn 20 ff. 5 1
BGH, NJW 1995, 2631; dazu Möllers, VersR 1996, 153 ff., 159.
5 2
Vgl. BAGE 33, Vgl. BAGE 24, BAGE 24, 177, BAGE 24, 177,
5 3 5 4 5 5
2 Looschelders / Roth
140, 159 f. 177, 179 ff.; 24, 204, 207 ff. 194; bestätigt in BAGE 26, 333, 336 ff. 194; vgl. ferner BAGE 23, 292, 319 f.
Β. Grundlagen
18
erhob, verfassungswidrig ist; die Zustimmung dürfe im Falle des Schweigens nicht unterstellt oder gar fingiert werden 56 . Gleichwohl erachtete das BVerfG die auf diese Weise erlassenen Rechtsverordnungen nicht für nichtig: Der Verfahrensfehler sei nicht evident gewesen, habe vielmehr standiger, unbeanstandeter Staatspraxis entsprochen, Verwaltung und Adressaten hätten auf die Gültigkeit der so beschlossenen Normen veitraut. Wären die betreffenden Rechtsverordnungen unanwendbar, "so müßte das zu einer Lage führen, die mit der Verfassungsordnung noch weniger in Einklang stünde als die Hinnahme der verfassungswidrigen Staatspraxis für die Vergangenheit. ... Mit der Klarstellung der Rechtslage durch diese Entscheidung ist der verfassungsrechtliche Mangel jedoch für die Zukunft evident" 57 .
Es darf freilich nicht aus den Augen verloren werden, daß die Berücksichtigung materiellrechtlicher Korrektive nur in Ausnahmefällen die Gesetzesanwendung, so wie sie nach methodisch korrekter Erkenntnis eigentlich vorzunehmen wäre, (übergangsweise) ausschließen kann. Als allgemeines Prinzip kann dies nicht anerkannt werden. Denn dem Vertrauen der einen Partei auf den Fortbestand einer bestimmten Rechtsprechung steht der grundsätzlich gewichtigere Anspruch der anderen Partei auf eine richtige Gesetzesanwendung gegenüber. Infolgedessen wäre nicht einsichtig, warum die Partei, die im Vertrauen auf die Herbeiführung einer zutreffenden Änderung der Rechtsprechung klagt, regelmäßig deijenigen unterliegen sollte, die nur auf den Fortbestand der unrichtigen Rechtsprechung vertraut 58. Deshalb sind im Einzelfall genau die Vor- und Nachteile abzuwägen, um zu bestimmen, ob ausnahmsweise das Vertrauen in eine unrichtige Rechtsprechung vorzugswürdig sein soll 59 . Anzustreben ist "ein angemessener Ausgleich zwischen dem Vertrauen auf den Fortbestand der bisherigen Rechtslage, der Bedeutung des gesetzgeberischen Anliegens für die Allgemeinheit und der grundrechtsgemäßen Ausgewogenheit zwischen den Beteiligten"60. Speziell für die Anwendung von Strafrechtsnormen ist das Bestimmtheitsgebot des Art . 103 Abs. 2 GG von besonderer Bedeutung61. Hier ist zwischen zwei Fragestellungen zu unterscheiden: der Bestimmtheit der Norm als solcher und der Bestimmtheit ihrer Auslegung. Was den ersten Problemkreis betrifft, so kommt man auch in bezug auf Strafrechtsnormen nicht an der Erkenntnis vorbei, daß wegen "der Notwendigkeit, der Vielgestaltigkeit des Lebens Rechnung zu tragen", oftmals selbst auf eine "Verwendung von Begriffen, die in besonderem Maße der Deutung durch den Richter bedürfen", nicht 5 6
BVerfGE 91, 148, 169 f.
5 7
Ebda., S. 175 f. Vgl. BAGE 23, 292, 319 f. Vgl. BVerfGE 91, 148, 175. BVerfGE 74, 129, 155; BAGE 66, 228, 236.
5 8 5 9 6 0 6 1
Zu einer weiteren Ausprägung des Art. 103 Abs. 2 GG - dem sog. Analogieverbot - s. unten E. III. 2. c).
I. Das Gesetz als Entscheidungsmaßstab
19
verzichtet werden kann 62 . Art. 103 Abs. 2 GG besagt also nicht, eine Strafrechtsnorm müsse schon ihrem Wortlaut nach so bestimmt sein, daß sich jede (weitere) Auslegung erübrigt 63. Erforderlich ist aber, daß "sich mit Hilfe der üblichen Auslegungsmethoden, insbesondere durch Heranziehung anderer Vorschriften desselben Gesetzes, durch Berücksichtigung des Normzusammenhangs oder aufgrund einer gefestigten Rechtsprechung eine zuverlässige Grundlage für die Auslegung und Anwendung der Norm gewinnen läßt, so daß der Einzelne die Möglichkeit hat, den durch die Strafhorm geschützten Wert sowie das Verbot bestimmter Verhaltensweisen zu erkennen und die staatliche Reaktion vorauszusehen"64. Strafrechtsnormen, die diese Anforderungen verletzen, sind gemäß Art. 103 Abs. 2 GG nichtig; bei nachkonstitutionellen Normen darf der Richter dies freilich nicht selbst feststellen, sondern ist gehalten, nach Art. 100 Abs. 1 GG zu verfahren 65. Beispiel (5): Das bayrische Gesetz Nr. 3 vom 16. 10. 1945 sah in Ziff. 21 vor, daß mit Gefängnis, Haft oder Geldstrafe, in schweren Fällen mit Zuchthaus bestraft wird, "wer gegen die öffentliche Ordnung verstößt". Der BayVerfGH hat diese Vorschrift wegen Verstoßes gegen das Bestimmtheitsgebot zu Recht für nichtig erklärt 6 6 .
Für die Methodik der Rechtsanwendung ist der zweite Problemkreis von größerem Interesse: Gibt es für die erforderliche Auslegung einer Strafrechtsnorm mehrere Alternativen, von denen eine bestimmt, eine andere hingegen so vage ist, daß der Bürger auf ihrer Grundlage nicht mehr mit hinreichender Sicherheit vorhersehen könnte, welches Verhalten verboten sein soll und welches nicht, so verstößt zwar nicht das Gesetz als solches gegen das Bestimmtheitsgebot, wohl aber wäre die in Frage stehende vage Auslegungsmöglichkeit mit dem Bestimmtheitsgebot nicht zu vereinbaren 67; nach den Grundsätzen der verfassungskonformen Auslegung68 müßten sich die Gerichte dann für die andere, hinreichend bestimmte Auslegungsalternative entscheiden. 6 2 BVerfGE 47, 109, 120 f.; 75, 329, 341; 87, 209, 224; 92, 1, 12. Zur Frage der Statthaftigkeit von unbestimmten, auslegungsbedürftigen Eingriffsermächtigungen ferner BVerfGE 11, 234, 237; 33, 1, 11; Jarass/Pieroth, GG, Alt. 20 Rn 39; Maunz/ Zippelius, Deutsches Staatsrecht, S. 94; Roth, Faktische Eingriffe, S. 606 ff.; Schnapp, in v. Münch/Kunig, GG, Art. 20 Rn 25. 6 3
Vgl. Rärin, Strafrecht AT I, § 5 Rn 28. BVerfGE 45, 363, 371 f.; 87, 363, 391 f.; BGHSt 28, 312, 313. Ausfuhrlich zum Bestimmtheitsgebot Baumann/Web er/Mitsch, Strafrecht AT, § 9 Rn 6 ff.; Es er, in Schönke/Schröder, StGB, § 1 Rn 17 ff.; Eser/Burkhardt, Strafrecht I, Nr. 2 Rn A 10 ff.; Roxin, Strafrecht AT I, § 5 Rn 28. 6 4
2*
6 5
s. dazu E. II. 2. b).
6 6
BayVerfGH, BayVGH n. F. 4 (1951) II, 194.
6 7
Vgl. Alivater,
6 8
Zur verfassungskonformen Auslegung s. unten D. III. 2. c) bb) (1).
NStZ 1995, 278; Gusy, JZ 1995, 783.
Β. Grundlagen
20
Beispiel (6): In seiner zweiten Entscheidung zur Strafbarkeit von Sitzblockaden als Nötigung hat das BVerfG dargelegt, daß § 240 StGB als solcher hinsichtlich der hier allein einschlägigen Gewaltalternative zwar mit Art. 103 Abs. 2 GG vereinbar sei, die "erweiternde Auslegung" des Gewaltbegriffs des § 240 Abs. 1 StGB im Zusammenhang mit Sitzblockaden aber gegen Art. 103 Abs. 2 GG verstoße 69 . Wenn das BVerfG damit fur vorstellbar hält, daß die Auslegung einer selbst hinreichend bestimmten Strafrechtsnorm zu unbestimmt sein kann, so ist dies in methodischer Hinsicht nicht zu beanstanden. Unzutreffend ist aber die These der Senatsmehrheit, daß die bislang von der Rechtsprechung der Strafgerichte befürwortete Auslegung des Gewaltbegriffs "nicht mehr mit ausreichender Sicherheit vorhersehen [lasse], welches körperliche Verhalten, das andere psychisch an der Durchsetzung ihres Willens hindert, verboten sein soll und welches nicht" 70 . Gerade die Teilnehmer an Sitzblockaden haben aufgrund der Rechtsprechung namentlich des BGH sehr wohl vorhersehen können - und zumeist auch real vorhergesehen -, daß ihr Verhalten strafbar sein sollte 71 . Als Fazit ist festzuhalten, daß die Auswirkungen materiellrechtlicher Prinzipien bei der Betrachtung des Prozesses der Rechtsanwendung keineswegs aus dem Auge verloren werden dürfen, weil sie die methodischen Erwägungen i m Hinblick auf die gerechte Beurteilung praktischer Fälle in wesentlichen Punkten ergänzen. Auch eine methodisch an sich korrekt gefundene Gesetzesauslegung darf nicht unbesehen und ohne materiellrechtliche Kontrolle der Entscheidung des konkreten Falles zugrunde gelegt werden. I n methodischer Hinsicht kommt dabei dem Institut der verfassungskonformen Auslegung eine maßgebliche Bedeutung zu. Indes gilt die Notwendigkeit einer Überprüfung an materiellrechtlichen Prinzipien für jegliche Frage der Rechtsanwendung und stellt somit keine Besonderheit gerade für die juristische Methodik dar.
6 9 BVerfGE 92, 1, 13 ff.; anders noch BVerfGE 73, 206, 239 ff. in seiner ersten Entscheidung zur Strafbarkeit von Sitzblockaden. 7 0 BVerfGE 92, 1, 18. 7 1
Zur Kritik vgl. BVerfGE 92, 1, 20 ff. - Sondervotum; Altvater , NStZ 1995, 279; Arne lung t NJW 1995, 2584, 2587; Krey, JR 1995, 265 ff.; Roellecke , NJW 1995, 1525 ff.; Schroeder , JuS 1995, 875 ff.; früher bereits Brohm, JZ 1985, 503 ff. Dem BVerfG zustimmend hingegen F. Müller , Juristische Methodik, S. 193 ff.
I I · Funktion und Maßstab der Auslegung Ein Gesetz kann seine Funktion, Entscheidungsmaßstabe zu setzen, nur erfüllen, wenn es vom Rechtsanwender so verstanden wird, daß er über die Einschlägigkeit der Norm und die Bedeutung der in ihr ausgesprochenen Rechtsfolgeanordnung nicht im Zweifel bleibt. Den Prozeß zur Erlangung dieses Verständnisses des Gesetzes nennt man Auslegung. Ziel der Auslegung ist also die Klarstellung des für die Entscheidung maßgebenden Gesetzesinhalts1. Dieses Ziel muß um der Uberzeugungskraft der Entscheidung und des Rechtsfriedens willen in einem rationalen und nachprüfbaren Verfahren angestrebt werden 2. Hierzu muß ein unter Umstanden mehrstufiger Auslegungsprozeß durchlaufen werden, bei dem schrittweise verschiedene Auslegungskriterien heranzuziehen sind.
1. Der Text des Gesetzes a) Der Gesetzestext als Ausgangspunkt der Auslegung Die Ermittlung des Inhalts einer geschriebenen Rechtsnorm geht notwendig von dem Gesetzestext aus; dieser ist Ausgangspunkt und primäres Mittel der Auslegung3. Die Auslegung eines Gesetzes mit dem Gesetzestext zu beginnen, ist keine bloße Konvention und beruht auch nicht etwa schlicht darauf, daß der Gesetzestext regelmäßig leicht und rasch greifbar ist, sondern ergibt sich als Konsequenz der verfassungsrechtlichen Lage, wonach (formelle) Gesetze nur in dem verfassungsrechtlich vorgesehenen (formlichen) Gesetzge-
1
Enneccerus/Nipperdey, BGB AT 1/1, S. 323, 324. In gleichem Sinne schon v. Savigny, System des heutigen Römischen Rechts I, S. 216 f.: "Ist es nun Aufgabe der Auslegung, uns den Inhalt des Gesetzes zum Bewußtseyn zu bringen ... ". 2 Vgl. Hesse, Verfassungsrecht, Rn 51; Stern, Staatsrecht I, S. 124. 3 Vgl. BVerfGE 71, 81, 115; 92, 1, 12; BGHZ 46, 74, 76; BGHSt 3, 259, 262 ("Alle Auslegung fangt beim Worte an"); Depenheuer, Der Wortlaut als Grenze, S. 15; Larenz, Methodenlehre, S. 313; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 141; Raisch, Methoden, S. 139 ff. Zur Auslegung ungeschriebener (gewohnheitsrechtlicher) Normen Bier ling, Prinzipienlehre IV, S. 299 ff.; Larenz, Methodenlehre, S. 356 ff.; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 176 ff.
22
Β. Grundlagen
bungsverfahren erlassen werden können (für formelle Bundesgesetze vgl. Art. 76 ff., 82 Abs. 1 GG). Hiernach müssen die Gesetzgebungsorgane über einen als Gesetzesvorlage eingebrachten Text beschließen; der beschlossene Text bedarf sodann der förmlichen Ausfertigung (mit welcher u.a. die Übereinstimmung des zu veröffentlichenden Textes mit dem beschlossenen bestätigt wird 4 ) und schließlich der Publikation im Gesetzblatt. Aus diesen grundgesetzlichen Vorgaben ergibt sich, daß Gesetz nur etwas sein kann, dessen Text auf die bezeichnete Weise beschlossen, ausgefertigt und publiziert worden ist. Oder umgekehrt: was nicht in der dargestellten Weise in das Gesetzblatt gelangt ist, kann nicht Gesetz sein5. Die verfassungsrechtliche Ausgestaltung des Gesetzgebungsverfahrens stellt keine bloße verfahrenstechnische Beliebigkeit dar, sie ist vielmehr materiell begründet. Da das Gesetz ein Produkt des verfassungsmäßig berufenen Gesetzgebungsorgans und nicht ein solches der einzelnen Mitglieder desselben ist, kann der Organwille nur durch einen gemeinsamen Akt kundgetan und dementsprechend nicht als die bloße Summierung der Vorstellungen der einzelnen an der Gesetzgebung beteiligten Personen verstanden werden 6. Radbruch führt hierzu treffend aus: "Gesetzgeber sind nicht die Gesetzesverfasser, Wille des Gesetzgebers nicht der Kollektivwille der an der Gesetzgebimg Beteiligten, vielmehr der Wille des Staates. Der Staat aber spricht nicht in den persönlichen Äußerungen der an der Entstehung des Gesetzes Beteiligten, sondern nur im Gesetze selbst"7. Nur der Text, über den abgestimmt worden ist, stellt dementsprechend die authentische Formulierung des Willens des Gesetzgebungsorganes dar. Gesetz und Gesetzestext können folglich auch nicht dergestalt voneinander gesondert werden, daß es einen jenseits des Gesetzestextes liegenden Gesetzesinhalt gäbe; denn mangels Einschließung in den Text wäre ein solcher Inhalt nicht von der authentizierenden und le-
4
Zu dieser zentralen Funktion der Ausfertigung vgl. etwa Hesse, Verfassungsrecht, Rn 521; Jarass/Pieroth, GG, Art. 82 Rn 2. Zur Bedeutung der - bei neueren Gesetzen freilich kaum einmal zweifelhaften - Authentizität des Gesetzestextes für die Auslegung vgl. Enneccerus/Nipperdey, BGB AT 1/1, S. 322 f. 5 In diesem Sinne schon RGZ 27, 409, 411: "Der Gesetzgeber kann nur in einer Sprache sprechen, durch Publikation des Gesetzes. Was nicht aus dem Gesetze entnommen werden kann, ist nicht gesetzliches Recht" (Hervorhebungen im Original). Vgl. hierzu auch Stauding er/Coing, BGB, Einl. Rn 134 m. w. N. 6 Vgl. BVerfGE 10, 234, 244; Enneccerus/Nipperdey, BGB A T 1/1, S. 206, 329. Ferner Larenz y Methodenlehre, S. 329 mit dem Hinweis, daß die an der Abfassung des Gesetzes beteiligten Personen "weder einzeln, noch in ihrer Gesamtheit 'der Gesetzgeber'" sind. 1 Radbruch, Rechtsphüosophie, S. 207; zustimmend BVerfGE ferner BVerfGE 54, 277, 298.
11, 126, 130;
Π. Funktion und Maßstab der Auslegung
23
gitimierenden Wirkung des Gesetzesbeschlusses erfaßt, wäre nicht im Gesetzblatt publiziert, wäre nicht als Gesetz bindend.
b) Mögliches Ungenügen rein textinterner
Auslegung: Normkern und Normhof
Es gibt eine Vielzahl von Gründen, weswegen sich allein mit Hilfe des Gesetzestextes - durch dessen grammatische und systematische Auslegung8 nicht samtliche Zweifel über den Inhalt der Norm klären lassen mögen9. Da sich der Gesetzgeber der Sprache bedienen muß 1 0 , um die seinem Willen gemäße Regelung zu normieren, sind zunächst einmal gesetzgeberische Fehlleistungen in Rechnung zu stellen, aufgrund derer jener Wille unvollkommen oder gar unzutreffend im Text wiedergegeben sein mag 11 . Doch selbst ohne solche gesetzgebungstechnischen Fehlleistungen ist oftmals unvermeidlich, daß auch nach Abschluß der textinternen (grammatischen und systematischen) Auslegung ein (mehr oder weniger großer) Normbereich verbleibt, innerhalb dessen die Subsumierbarkeit eines Sachverhaltes oder die Bedeutung der Rechtsfolgeanordnung zweifelhaft erscheint 12. Dies kann beispielsweise auf der Normierung von Generalklauseln beruhen, die vom Gesetzgeber bewußt offen und flexibel gestaltet werden, um den Behörden und Gerichten eine angemessene Reaktion auch in solchen Fällen zu ermöglichen, in denen eine detailliertere gesetzliche Regelung an der Vielgestaltigkeit und UnÜberschaubarkeit der Konstellationen scheitert 13. Wichtigster Grund für textintern verbleibende Bedeutungszweifel ist jedoch der Umstand, daß die meisten Ausdrücke mehrere Bedeutungen haben können und auch innerhalb dieser verschiedenen Bedeutungsmöglichkeiten mehr oder weniger unbestimmt sind. Liegt nun der konkrete Sachverhalt nach dem Ergebnis der textinternen Auslegung nicht als sicherer Anwendungsfall der Norm im "Normkern sondern 8
Dazu eingehend unten D. II. 1. und 2.
9
Ausführlich zu diesen Unklarheitsgründen unten D. II. 1. a). Zu beachten ist im übrigen, daß nicht schon eine solche Unbestimmtheit zur Nichtigkeit des Gesetzes fuhrt; vielmehr bewirkt erst die Unbestimmbarkeit des Gesetzesinhalts aufgrund einer inhärenten und unbehebbaren Unbestimmtheit des Gesetzes dessen Nichtigkeit (Roth , Faktische Eingriffe, S. 438), doch dieses Verdikt setzt jedenfalls den Abschluß auch der textexternen Auslegung voraus. 10
Zur Bedeutung der Sprache für die Staatlichkeit und das Recht s. Isensee , Heymanns-FS, S. 571 ff., 577 ff. 11 12
Vgl. Kelsen , Reine Rechtslehre, S. 348; Obermayer , NJW 1966, 1886 f.
Vgl. Köhler , BGB AT, S. 29. 13 Zum Begriff der Generalklausel vgl. Engisch , Einführung, S. 120 ff.; Larenz , BGB AT, S. 25 f.; Roth, Faktische Eingriffe, S. 606 ff.; speziell zum Problem der Konkretisierung von "Wertbegriffen" in Generalklauseln s. unten D. II. 1. a) aa) (3) und D. V. 1.
24
Β. Grundlagen
in dem aus den genannten Gründen bei nahezu allen Normen bestehenden "Normhof " 1 4 , so kann man bei diesem Ergebnis nicht stehen bleiben; es besteht vielmehr Anlaß für weitere Auslegung. Auch bei scheinbarer Klarheit des Wortlauts kann übrigens Anlaß zu weiterer Auslegung bestehen. Führt das (vorläufig gefundene) Ergebnis der textinternen Auslegung nämlich zu unsinnigen, unbilligen oder sogar verfassungswidrigen Folgen, so ist eine Überprüfung angezeigt, ob die der Norm zugeschriebene Bedeutung in der Tat die zutreffende Auslegung darstellt oder ob man nicht vielmehr zu einem vielleicht prima facie naheliegenden, aber keineswegs zwingenden Verständnis des Gesetzestextes gelangt ist 1 5 . Aufgrund der etwaigen Vieldeutigkeit einer sprachlichen Fixierung von Gedanken muß der Rechtsanwender stets der Möglichkeit gewärtig sein, daß eine im Gesetzestext gebrauchte Formulierung auch eine Bedeutung haben kann, die er zunächst nicht bedacht hat, die sprachlich vielleicht sogar durchaus fernlag. Jedenfalls bei unannehmbaren Ergebnissen ist deshalb eine Rückversicherung angezeigt, ob das vorläufige Ergebnis als definitives Auslegungsergebnis Bestand haben kann oder ob die scheinbare Eindeutigkeit des Wortlauts getrogen hat 1 6 . Der Prozeß der Auslegung kann deshalb nicht abgeschlossen werden, ehe das Auslegungsergebnis auf seine Konsequenzen in der konkreten Rechtsanwendung untersucht worden ist 1 7 . Beispiel (1): Nach der Rechtsprechung des IX. Zivilsenats des BGH soll die Bürgschaft nicht unter den Schutz des HWiG fallen, weü es sich nicht um einen Vertrag über eine entgeltliche Leistung i.S.d. § 1 Abs. 1 HWiG handele 18 . Bei dieser Auslegung stützt sich der Senat auf den scheinbar klaren Wortlaut der Vorschrift: Da die Bürgschaft "eine von der Verbindlichkeit des Hauptschuldners verschie-
14 Zur parallelen Unterscheidung zwischen Begriffskern und Begriffshof s. unten D. II. 1. a) aa) (2). 15 So auch Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 169; vgl. ferner etwa BGH Ζ 105, 222, 225. 16 Zu der Frage, inwieweit sich die Mehrdeutigkeit erst aus den unsinnigen Konsequenzen eines scheinbar eindeutigen Wortlauts ergeben kann, vgl. Engisch, Einführung, S. 233 Anm. 74a; Kriele, Rechtsgewinnung, S. 215 ff. 17
Zur Berücksichtigung des "Wertes" des Ergebnisses im Rahmen der Auslegung vgl. Engisch, Einführung, S. 77; Enneccerus/Nipperdey, BGB AT 1/1, S. 334 f.; Looschelders , Anpassung, S. 72 f.; Nierwetberg, JZ 1983, 239; Säcker, in MünchKomm BGB, Einl. Rn 87, 128; Stauding er/Coing, BGB, Einl. Rn 149. Zur Zurückhaltung mahnend v. Savigny, System des heutigen Römischen Rechts I, S. 225: "Der innere Werth des Resultates endlich ist unter allen Hülfsmitteln das gefahrlichste, indem dadurch am leichtesten der Ausleger die Gränzen seines Geschäftes überschreiten und in das Gebiet des Gesetzgebers hinübergreifen wird". 18 BGHZ 113, 287, 288 ff.; BGH, NJW 1991, 2905; offengelassen in BGH, NJW 1996, 513; s. nunmehr Vorlagebeschluß BGH, NJW 1996, 930.
Π. Funktion und Maßstab der Auslegung
25
dene, eigene, einseitig übernommene Verbindlichkeit des Bürgen" darstellt, sei die Bürgschaftserklärung keine auf den Abschluß eines entgeltlichen Vertrages gerichtete Willenserklärung 19. Da das Bedürfnis nach Schutz vor Überrumpelung bei der Bürgschaft indessen eher größer erscheint als bei dem Abschluß eines gegenseitigen Vertrages, erscheint dieses Ergebnis grob unbillig 20 . Es stellt sich daher die Frage, ob es hinsichtlich des Merkmals "entgeltliche Leistung" nicht eine weitere Auslegungsmöglichkeit gibt, auf deren Grundlage ein solches unbilliges Ergebnis vermieden werden kann. Dies ist in der Tat der Fall: Zunächst ist festzuhalten, daß § 1 Abs. 1 HWiG gerade nicht von einer Leistung in einem "gegenseitigen Vertrag" i.S.d. §§ 320 ff. BGB spricht; die Leistung und das dafür zu entrichtende Entgelt müssen daher nicht in dem engen Verhältnis eines Synallagma stehen, vielmehr genügt auch eine losere Beziehung. Deshalb kann in einem weiteren Sinne schon dann von einer entgeltlichen Leistung gesprochen werden, wenn die Verpflichtung zur Leistung an die Bedingung irgendeiner anderen Leistung geknüpft ist oder wenn diese andere Leistung als Zweck der eigenen Leistung vereinbart w i r d 2 1 ; an wen diese andere Leistung zu erbringen ist, spielt dabei keine Rolle. Bei diesem weiteren Verständnis, das in neuerer Zeit vom XI. Zivilsenat des BGH befürwortet w i r d 2 2 , fallen Bürgschaftsverträge jedenfalls dann in den Anwendungsbereich des HWiG, wenn eine solche Verknüpfung zwischen der Bürgschaftserklärung und der Leistung des Bürgschaftsnehmers an den Hauptschuldner besteht, was in der Praxis regelmäßig der Fall sein wird 2 3 . Der Wortlaut des § 1 Abs. 1 HWiG läßt demnach zwei Auslegungsmöglichkeiten zu; welche dieser Alternativen zutreffend ist, muß durch weitere Auslegung geklärt werden 24 .
Soweit sich auch nach Durchführung der gebotenen " Rückversicherung " der Wortlaut des Gesetzes als eindeutig erweist, läßt sich einer etwaigen Unbil19
BGHZ 113,287, 288.
2 0
Zur Kritik dieser Rechtsprechung vgl. Erman/Klingsporn , BGB, § 1 HWiG Rn 4a ff.; Klingsporn , NJW 1991, 2259 f.; Schanbacher , NJW 1991, 3263 f. 2 1 Vgl. Klingsporn , NJW 1991, 2260; a. A. Schanbacher , NJW 1991, 3263, der aber eine analoge Anwendung des HWiG befürwortet. 2 2 BGH, NJW 1993, 1594, 1595; NJW 1996, 55, 56. 2 3 Erman/Klingsporn , BGB, § 1 HWiG Rn 4a. Der IX. Senat des BGH hat diese in der Literatur schon vor seiner ersten Entscheidung zu dieser Frage aufgezeigte Auslegungsmöglichkeit freilich nicht übersehen, sondern mit dem unverständlichen Argument abgelehnt, die Vertreter jener Auffassung würden verkennen, "daß die Verpflichtung des Hauptschuldners von deijenigen des Bürgen getrennt und selbständig ist und keine Gegenleistung für die Verpflichtung des Bürgen darstellt" (BGHZ 113, 287, 289). Dieses Argument liegt indes völlig neben der Sache, weil es sich gegen eine Position wendet, die zwar gewiß unhaltbar und verfehlt wäre, aber auch von niemandem vertreten wird, um die "Entgeltlichkeit" des Bürgschaftsvertrages zu begründen (krit. insofern auch Schanbacher , NJW 1991, 3263); das "Entgelt" für die Bürgschaftserklärung liegt selbstverständlich nicht in der Pflicht des Hauptschuldners, das Darlehen zurückzuzahlen, sondern in der Bereitschaft des Bürgschaftsnehmers, dieses Darlehen überhaupt zu gewähren bzw. nicht auf dessen sofortiger Rückzahlung zu bestehen (a.A. insoweit BGH, NJW 1996, 930, 931). 2 4
s. dazu unten D. III. 2. c) aa).
Β. Grundlagen
26
ligkeit oder Verfassungswidrigkeit des Ergebnisses nicht mehr auf der Auslegungsebene begegnen; indessen stellt sich dann die Frage, ob eine Korrektur des Gesetzes möglich und geboten ist oder ob das Gesetz gegen die Verfassung verstößt und daher nicht angewendet werden darf 25 .
c) Unverzichtbarkeit
weiterer Auslegung
Erbringt die textinterne Auslegung keinen zweifelsfreien Aufschluß über den Inhalt des Gesetzes, so stellt sich dem Rechtsanwender die Frage des weiteren Verfahrens. Ein Verzicht auf weitere Auslegung kommt nicht in Betracht. Zwar ist der Gedanke an einen solchen Verzicht keineswegs so fernliegend, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Im Zeitalter der Aufklärung entsprach es vielmehr einer verbreiteten Auffassung, daß der Richter zur Auslegung von Gesetzen nicht befugt sei, weil er nicht der Gesetzgeber ist 2 6 . Diese Auffassung schlug sich etwa in dem ursprünglichen Versuch des PrALR von 1794 nieder, richterliche Gesetzesauslegung möglichst zu unterbinden 27 . Lange konnte dieses weitgehende Verbot selbständiger richterlicher Gesetzesauslegung freilich nicht aufrecht erhalten werden. Schon mit dem Publikationspatent vom 1. April 1803 wurde dem PrALR ein Anhang beigefügt, dessen § 2 dem Richter erlaubte, den vorliegenden Fall "nach den allgemeinen Regeln wegen Auslegung der Gesetze" zu entscheiden, wenn er den Sinn des Gesetzes zweifelhaft finde 28. Damit war der historisch wohl 2 5
s. dazu unten Ε. II. 2. b) aa).
2 6
Vgl. dazu Engisch, Einführung, S. 106 ff.; Lehmann/Hübner, BGB AT, S. 57; Raischy Methoden, S. 91 ff.; Roxin y Strafrecht AT I, § 5 Rn 26; Schwab, Einführung, Rn 100; Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S. 331 f. 2 7
In der Bestimmung Nr. X V I I I des Publikationspatentes vom 5. Februar 1794 seitens des Königs hieß es ziemlich deutlich: "[U]nd es soll von dem bestimmten Zeitpunkte an, kein Collegium, Gericht oder Justizbedienter sich unterfangen ... am allerwenigsten aber von klaren und deutlichen Vorschriften der Gesetze, auf den Grund eines vermeinten phüosophischen Raisonnements, oder unter dem Vorwande einer aus dem Zwecke und der Absicht des Gesetzes abzuleitenden Auslegung, die geringste eigenmächtige Abweichung, bey Vermeidung Unserer höchsten Ungnade und schwerer Ahndung, sich zu erlauben". Die Einleitung zum PrALR bestimmte hierzu weiter: "§ 46. Bey Entscheidungen streitiger Rechtsfälle darf der Richter den Gesetzen keinen anderen Sinn beüegen, als welcher aus den Worten, und dem Zusammenhange derselben, in Beziehung auf den streitigen Gegenstand, oder aus dem nächsten unzweifelhaften Grunde des Gesetzes, deutlich erhellet. § 47. Findet der Richter den eigentlichen Sinn des Gesetzes zweifelhaft, so muß er ... seine Zweifel der Gesetzcommission anzeigen, und auf deren Beurtheüung antragen". 2 8
Die Vorschrift lautete: "Findet der Richter den Sinn des Gesetzes zweifelhaft, so liegt es ihm zwar ob, den vorliegenden Fall nach den allgemeinen Regeln wegen
Π. Funktion und Maßstab der Auslegung
27
wichtigste - wenn auch nicht letzte 29 - Versuch gescheitert, die richterliche Auslegungskompetenz zu beschneiden und den Richter - allenfalls noch unter Berücksichtigung des "nächsten unzweifelhaften Grundes" des Gesetzes - auf die Anwendung des "klaren und eindeutigen" Wortlautes zu beschränken. Auch der so um Perfektion bemühte Gesetzgeber des PrALR konnte sich nicht der Erkenntnis verschließen, daß er nicht alle Fälle unmißverständlich erfassen und regeln konnte und der Richter deshalb das Recht (und die Pflicht) zu weiterer Auslegung haben mußte 30 . Ein Verzicht auf weitere Auslegung könnte im übrigen auch insofern nicht überzeugen, als der Rechtsanwender in diesem Falle nur die Alternative hätte, eine unklar gebliebene Norm entweder nach ihrem weitestmöglichen Wortverständnis bis an die Grenze des Normhofes anzuwenden oder aber nach dem engstmöglichen Verständnis ihr Anwendungsgebiet strikt auf den Normkern zu beschränken und sie schlicht unangewendet zu lassen, sobald sich in bezug auf das Verständnis der Norm mit Blick auf den betreffenden Sachverhalt Zweifel ergeben 31; beides wäre indes offensichtlich nicht sachgerecht: Eine unbestimmte Norm schlicht bis an die äußerste Grenze ihres Normhofes anzuwenden, wäre dem Normunterworfenen gegenüber nicht zu rechtfertigen; er würde hierdurch ohne zwingende Not einer Regelung unterworfen, die der Auslegung der Gesetze zu entscheiden, und findet die Anfrage an die Gesetzcommission während des Laufes des Prozesses nicht mehr Statt; er muß aber die vermeinte Dunkelheit des Gesetzes ... zum Behuf der künftigen Legislation anzeigen". 2 9 Ähnliche Tendenzen zur Beschneidung der richterlichen Auslegungsbefugnis finden sich für das Bayerische StGB von 1813; ein Publikationspatent vom 19. 10. 1813 verbot hier die wissenschaftliche Kommentierung und beschränkte den Richter auf die Benutzung der amtlichen Anmerkungen zum Gesetz (vgl. Roxin, Strafrecht AT I, § 5 Rn 14, 26). 3 0
Vgl. Engisch , Einfuhrung, S. 93: Auslegungsverbote als "Denkmäler gesetzgeberischer Naivität". 3 1 Keine echte Alternative büdet demgegenüber die Annahme von Kelsen , Reine Rechtslehre, S. 346 ff., daß die Auslegung bei textinterner Unbestimmtheit des Gesetzes lediglich einen "Rahmen" aufzeigen könne, "innerhalb dessen mehrere Möglichkeiten der Anwendung gegeben sind". Da der Richter sich für eine dieser Möglichkeiten entscheiden muß, stellt sich nämlich auch für Kelsen die Frage, nach welchen Maßstäben diese Entscheidung zu treffen ist. Wenn Kelsen dem rechtsanwendenden Organ hier die Befugnis zuspricht, sich zwischen den verschiedenen Auslegungsmöglichkeiten durch einen "Willensakt" zu entscheiden, so führt dies zu keinen anderen Ergebnissen, als wenn man für die weitere Auslegung auf den Willen des Rechtsanwenders abstellt. Mit den Vorgaben des Grundgesetzes, insbesondere hinsichtlich des Verhältnisses zwischen der Legislative und den anderen Gewalten, ist ein solches Vorgehen freilich nicht zu vereinbaren (s. dazu näher unten Β. II. 2. d) bb); zur Kritik der Konzeption Kelsens vgl. Betti , Auslegungslehre, S. 629; Bydlinski , Methodenlehre, S. 454; Enneccerus/Nipperdey , BGB A T 1/1, S. 317, 326 f. Fn 9; Larenz , Methodenlehre, S. 77 ff., 80.
28
Β. Grundlagen
Gesetzgeber möglicherweise auf ihn gar nicht angewendet sehen wollte. Aber auch eine Beschränkung der Norm derart, daß sie nur noch innerhalb ihres Normkernes Befolgung fände und ansonsten außer acht zu lassen wäre, könnte nicht überzeugen. Dies bedeutete nämlich eine zu weitgehende Zurückdrängung des Gesetzgebers in seiner Kompetenz, Entscheidimgsmaßstäbe vorzugeben 32 . Da der Richter durch eine solche restriktive Auslegung der Norm nicht von seiner Pflicht entbunden würde, den Rechtsstreit zu entscheiden, stellte sich zudem die schwierige Frage, nach welchen Maßstäben er seine Entscheidung zu treffen hat. Durch eine pauschal restriktive Auslegung unnötigerweise "Gesetzeslücken" zu produzieren, schafft nur eine Fehlerquelle bei der dann notwendigen Lückenschließung. Zwar ist das Schließen von Regelungslücken im Wege der Rechtsfortbildung durchaus Bestandteil der richterlichen Tätigkeit 33 . Es liegt aber auf der Hand, daß ein methodisches Vorgehen, das durch eine jeweils am Buchstaben des Gesetzes haftende engstmögliche Auslegung ohne Not eine Vielzahl von Regelungslücken erzeugt, wenig sachgerecht ist und auch der deutschen Rechtstradition nicht entspricht 34.
2. Der Wille des Gesetzgebers als Maßstab der textexternen Auslegung Bedarf es aus den genannten Gründen in vielen Fällen einer weiteren Auslegung, so stellt sich die Frage, nach welchen oder wessen Maßstäben diese zu erfolgen hat. Wenn die textinterne Auslegung zu keinem definitiven Ergebnis geführt hat, können solche Maßstäbe nur außerhalb des Gesetzestextes gefunden werden; da mithin Erkenntnisquellen außerhalb des Gesetzestextes heranzuziehen sind, kann hier von textexterner Auslegung gesprochen wer3 2 3 3 3 4
s. hierzu oben Β. I. 1. s. hierzu ausführlich unten E. III.
Vgl. Mugdan, Motive I, S. 365: "eine Bestimmung, welche nicht mehr bezwekken würde, als anzuerkennen, daß der Auslegende nicht an dem Worte haften dürfe, ist überflüssig, weü selbstverständlich". Anders stellt sich die Situation beispielsweise im englischen Rechtsraum dar, wo die Gerichte zu einer möglichst engen Auslegung von Gesetzen tendieren, um dem common law einen möglichst weiten Anwendungsbereich zu erhalten. Die parlamentarische Gesetzgebung wird hier von den Gerichten gewissermaßen als (unerwünschte) Störung des richter- und gewohnheitsrechtlich entstandenen common law betrachtet und dementsprechend restriktiv interpretiert. Die methodischen Vehikel zur Bewerkstelligung dieses Resultates sind zum einen eine strikte Wortlautinterpretation, zum anderen der Vermutungssatz, daß das Parlament das bestehende Recht nicht habe ändern wollen, wenn der Gesetzestext dies nicht ausdrücklich und unmißverständlich besage (vgl. hierzu Fikentscher, Methoden II, S. 111 ff.; Lloyd/Freeman, Introduction to Jurisprudence, S. 1142 f.; Radbruch, Der Geist des englischen Rechts, S. 28; Walker/Ward, English Legal System, S. 43; ferner krit. Zander, The Law-Making Process, S. 93).
Π. Funktion und Maßstab der Auslegung
29
den 35 . Es handelt sich dabei zwar nicht mehr um "Auslegung" im strikten Sinne, weil der Norminhalt nicht allein dem Gesetzestext entnommen, sondern zusätzlich außerhalb des Textes gefundenes Material zur Bestimmung des maßgeblichen Sinngehaltes der Norm herangezogen wird. Da es indessen, wie sich aus der nachfolgenden Erörterung der Maßstäbe und Grenzen dieser textexternen Auslegung ergibt, keineswegs darum gehen kann, dem Gesetz fremde Inhalte zu unterschieben, erscheint es gleichwohl gerechtfertigt, auch insoweit noch von Auslegung (in einem weiteren Sinne) zu sprechen.
a) Subjektive und objektive Auslegungstheorien Die Frage, worauf zum Zwecke der Auslegung eines textextern weiter auslegungsbedürftigen Gesetzes abzustellen ist, bildet den Gegenstand des seit langem währenden Streits zwischen objektiven und subjektiven Auslegungstheorien 36. Während die subjektiven Theorien das Ziel der Auslegung darin sehen, den "subjektiven Willen des historischen Gesetzgebers" zu ermitteln 37 , und diesen auch dann für maßgeblich erachten, wenn er im Text des Gesetzes nicht oder nur unvollständig zum Ausdruck gekommen ist, stellen die objektiven Theorien auf den "objektiven" bzw. "objektivierten" Willen "des Gesetzes" 38 ab und erklären den hiervon abweichenden Willen des Gesetzgebers je-
3 5
In der Literatur wird zumeist lediglich zwischen grammatischer, systematischer, historischer und teleologischer Auslegung unterschieden (vgl. etwa Jescheck , Strafrecht AT, S. 137); die hier befürwortete Einteüung nach textinterner und textexterner Auslegung hat demgegenüber den Vorzug, daß sie den verfassungsrechtlich begründeten Vorrang des Gesetzestextes klarer hervortreten läßt. Ähnlich wie hier Engisch , Einführung, S. 78, der zwischen der "Auslegung nach dem Wortsinn" und der "Auslegung nach dem sonstwie zu bestimmenden Sinn" unterscheidet. 3 6 Zum Meinungsstand vgl. Bydlinski , Methodenlehre, S. 428 ff.; Depenheuer , Der Wortlaut als Grenze, S. 20 ff.; Engisch , Einführung, S. 88 ff.; Enneccerus/Nipperdey , BGB AT 1/1, S. 324 ff.; Fikentscher , Methoden III, S. 662 ff.; Hassold , ZZP 94 (1981), 192 ff.; Koch/Rüßmann , Juristische Begründungslehre, S. 176 ff.; Larenz , Methodenlehre, S. 316 ff.; Larenz/Canaris , Methodenlehre, S. 137 ff.; Staudinger/ Going , BGB, Einl. Rn 132 ff.; Zippelius , Methodenlehre, S. 18 ff. 3 7
So z. B. Depenheuer , Der Wortlaut als Grenze, S. 55; Engisch , Einführung, S. 88 ff., 96; Enneccerus /Nipper dey , BGB AT 1/1, S. 324 ff.; Hassold , ZZP 94 (1981), 210; Heck , Gesetzesauslegung S. 64 ff. ( = Studien und Texte II, S. 75 f.); Naucke , Engisch-FS, S. 274 ff.; Säcker , in MünchKomm BGB, Einl. Rn 65, 108 ff.; ders. y ZRP 1971, 146; Stein , Staatsrecht, S. 37; vgl. ferner BGHZ 121, 116, 120. 3 8
So z. B. Baumann/Weber/Mitschy Strafrecht AT, § 9 Rn 76; Lackner , StGB, § 1 Rn 6; Ryffel, Rechts- und Staatsphüosophie, S. 387; Schenke y AöR 103 (1978), 580 f.; Scherner , BGB AT, S. 10; Schlink , Der Staat 1980, 101; Wessels , Strafrecht AT, Rn 57; Wolff/Bachof/Stober y Verwaltungsrecht I, § 28 Rn 60.
30
Β. Grundlagen
denfalls bei eindeutigem Gesetzestext für unbeachtlich 39 . I n der neueren Rechtsprechung und Literatur werden zumeist Auslegungslehren befürwortet, die eine Kombination von subjektiven und objektiven Elementen enthalten 4 0 ; dabei wird häufig der "normative Sinn" des Gesetzes fur maßgeblich erk l ä r t 4 1 . Diesen in verschiedenen Ausprägungen vertretenen "Vereinigungstheorien" 4 2 dürften sich auch das BVerfG zuordnen lassen, nach dessen Ansicht das Ziel der Auslegung darin besteht, den "objektivierten Willen des Gesetzgebers" zu ermitteln 4 3 ; was genau unter einem solchen "objektivierten Willen" zu verstehen ist, bleibt indessen u n k l a r 4 4 . Die i m Hinblick auf das Ziel der Auslegung bestehenden Unsicherheiten und Divergenzen sind umso mißlicher, als es sich hierbei um eine entscheidende Weichenstellung für die gesamte Auslegungslehre handelt. D a nämlich die verschiedenen Auslegungsmethoden lediglich Hilfsmittel sind, um das Auslegungsziel zu erreichen, muß die hier vertretene Sichtweise Auswirkungen hinsichtlich der Präferenz
3 9
In diesem Sinne etwa BGHSt 1, 74, 76: "Führt die Anwendung eines Gesetzes aus sich selbst heraus zu einem eindeutigen Ergebnis, so kann der abweichende sogenannte Wille des Gesetzgebers regelmäßig keine Beachtung finden" (Hervorhebung im Original); BVerwGE 90, 265, 269: "Es können von der Rechtsprechung ... bei der Auslegung und Anwendung der Gesetze nämlich nur diejenigen Motive und Vorstellungen des Gesetzgebers berücksichtigt werden, die im Wortlaut ihren Niederschlag gefunden haben; jede Auslegung des Gesetzes findet ihre absolute Schranke dort, wo der klare Wortlaut ihr entgegensteht". 4 0 So z. B. Brugger, AöR 119 (1994), 19; Bydlinski, Methodenlehre, S. 436; Depenheuer, DVB1. 1987, 812; Engisch, Einführung, S. 249 f. Anm. 106b; Eser, in Schönke/Schröder, StGB, § 1 Rn 44; Eser/Burkhardt, Strafrecht A T I, Nr. 1 Rn A 10; Hassold, ZZP 94 (1981), 192 ff., 209 f.; Hübner, BGB AT, Rn 103; Jescheck, Strafrecht AT, S. 139 f.; Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 166 ff., 178; Köhler, BGB AT, S. 29; Larenz, Methodenlehre, S. 316 ff., 343 f.; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 137 ff.; Lehmann/Hübner, BGB AT, S. 61; Starck, in Isensee/Kirchhof, HStR VII, § 164 Rn 21 f.; Staudinger/Going, BGB, Einl. Rn 137; Stern, Staatsrecht I, S. 124; Zimmermann, NJW 1954, 1630; ferner Alexy, Argumentation, S. 304 ff. (auf der Grundlage eines "diskurstheoretischen" Ansatzes); F. Müller, Juristische Methodik S. 254 ff. (auf der Grundlage der "Strukturierenden Rechtslehre"). 4 1 So insbesondere Larenz, Methodenlehre, S. 318 f.; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 139; ähnlich BVerfGE 86, 288, 350 (Sondervotum Mahrenholz); BGHSt 10, 157, 159 f.; Eser/Burkhardt, Strafrecht I, Nr. 1 Rn A 10; Obermayer, NJW 1966, 1888 f.; ders., JZ 1986, 4; Rehbinder, Einführung, S. 76. 4 2
Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 178; Larenz/Canaris, denlehre, S. 139 Fn 15. 4 3
Metho-
BVerfGE 1, 299, 312; 11, 126, 129 ff.; 71, 81, 106; 79, 106, 121; desgleichen BGHZ 46, 74, 76; 49, 221, 223; Leibholz/Rinck/Hesselberger, GG, Einf. Rn 8; Palandt/Heinrichs, BGB, Einl. Rn 34. 4 4
Krit. Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 178.
Π. Funktion und Maßstab der Auslegung
31
fur bestimmte Methoden haben. Denn die verschiedenen Auslegungstheorien linterscheiden sich zwar nicht grundsätzlich in der Frage der Anerkennung und Handhabung der jeweiligen Auslegungsmethoden, wohl aber führt die Uneinigkeit über das Ziel der Auslegung zu Differenzen bezüglich der Relevanz und des Gewichts der mit den betreffenden Auslegungsmethoden zu gewinnenden Erkenntnisse, namentlich was ihre Maßgeblichkeit für den Richter betrifft. Aus diesem Grund sind die dem Theorienstreit zugrundeliegenden Fragen nachfolgend eingehender zu erörtern. Da die textexterne Auslegungsbedürftigkeit des Gesetzes den Richter nicht von seiner Entscheidungspflicht entbindet, ob und wie das Gesetz Anwendung finden kann, kann die Frage letztlich nur sein, welche Maßstäbe für die weitere Auslegung maßgeblich sind. Die Entscheidung des Streites zwischen subjektiver und objektiver Auslegungstheorie kann dabei nicht dadurch zugunsten einer objektiven Theorie ausfallen, daß man unter Hinweis auf die grundgesetzlichen Vorschriften über das Gesetzgebungsverfahren sagt, es gehe um die Ermittlung des Inhalts des Gesetzes, so wie es erlassen worden ist . Denn daß das Gesetz mit dem Inhalt bindet, mit dem es erlassen worden ist, ist kaum zu bezweifeln und steht dementsprechend auch außer Streit. Die eigentliche Streitfrage ist vielmehr, wonach sich die Entscheidung richtet, mit welchem Inhalt das Gesetz erlassen ist 4 5 . Maßgebliches Kriterium fur die Entscheidung dieser Streitfrage muß sein, welche Lösung am besten mit den grundgesetzlichen Wert - und Ordnungsvorstellungen harmoniert. Um entscheiden zu können, nach welchen oder wessen Maßstäben ein textextern auslegungsbedürftiges Gesetz auszulegen sein soll, ist es hilfreich, sich die denkbaren Alternativen vor Augen zu führen. Erstens könnte sich die Auslegung nach dem Willen des Gesetzgebers richten, zweitens nach dem Willen des Volkes, drittens nach dem Willen des Richters, viertens nach dem Willen der Normadressaten, und fünftens könnte die Auslegung nach bestimmten "objektiven" Maßstäben erfolgen. Daß eine Auslegung gemäß dem Willen der Normadressaten von vornherein nicht in Betracht kommen kann, wurde bereits dargelegt 46. Für die Entscheidung zwischen den verbleibenden vier Alternativen enthält das Grundgesetz zwar keine ausdrückliche Regelung; aus der Funktion der Gesetze sowie dem Demokratie- und dem Gewaltenteilungsprinzip läßt sich jedoch ableiten, daß der Wille des Gesetzgebers als Maßstab textexterner Auslegung heranzuziehen ist. Die für diese These maßgeblichen Gründe sind nachfolgend im einzelnen darzulegen.
4 5 4 6
Enneccerus/Nipperdey s. oben Β. I. 2.
, BGB AT 1/1, S. 327 f.
32
Β. Grundlagen
b)Die Untauglichkeit
"objektiver"
Auslegungsmaßstäbe
Ein Gesetz bei Bedarf "objektiv" und seinem "normativen Sinn" nach auszulegen, ist auf den ersten Blick bestechend, weil es auf diese Weise möglich scheint, erstens den Gesetzestext in seiner von der Verfassung vorgegebenen Bedeutung47 in den Mittelpunkt zu stellen, nämlich als alleinigen Träger des Gesetzesbefehls zu betonen und als maßgeblichen Mittler des Gesetzesinhalts zu verstehen, und zweitens eine subjektiv verzerrende Nonnauslegung und anwendung auszuschließen. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch, daß ein Abstellen auf "objektive" anstelle subjektiver Auslegungsmaßstäbe letztlich nicht konsequent durchzuhalten ist. Die Entscheidung, wem die Auslegungsmaßstabskompetenz zustehen soll, ist am Ende unausweichlich; durch die Einschiebung vermeintlich "objektiver" Auslegungsmaßstabe kann sie zwar um einen Schritt hinausgeschoben, womöglich auch verdunkelt, nicht aber wirklich vermieden werden.
aa) Allgemein akzeptierte Auslegungsmaßstäbe Erwägenswert ist zunächst, ob sich der Unterschied zwischen objektiven und subjektiven Auslegungstheorien dadurch überbrücken läßt, daß man die "Objektivität" des Auslegungsmaßstabs im Sinne einer allgemeinen Akzeptanz versteht, d. h. einer Vorstellung über den richtigen Auslegungsmaßstab, die allen am Rechtsleben beteiligten Subjekten (Normgeber, Normanwender, Normadressat) gemeinsam ist, auf die sich sozusagen alle Subjekte einigen können, und die damit zwar nicht von jedwedem Subjekt, aber doch von jedem einzelnen Subjekt losgelöst werden kann 48 . Bei einem solchen Verständnis der "Objektivität" als Inter-Subjektivität 49 des Auslegungsmaßstabs könnten die unter Heranziehung desselben gefundenen Ergebnisse allerdings nicht von jenen der subjektiven Theorien abweichen; da der in Frage stehende Maßstab als der inter-subjektiv gültige von allen geteilt werden müßte, könnte man folglich auch gleich davon absehen, einen solchermaßen verstandenen "objektiven" Maßstab zu postulieren, und statt dessen einfacher auf den Wil4 7
s. oben Β. II. 1. a). Vgl. Rawls , Theorie der Gerechtigkeit, S. 21: "Zwischen Menschen mit verschiedenen Zielen schafft eine gemeinsame Gerechtigkeitsvorstellung den Bürgerfrieden; das allgemeine Gerechtigkeitsstreben setzt der Verfolgung anderer Ziele Grenzen. Man kann sich eine gemeinsame Gerechtigkeitsvorstellung als das Grundgesetz einer wohlgeordneten menschlichen Gesellschaft vorstellen". Die "wirklichen Gesellschaften" sind freilich auch nach Ansicht von Rawls (ebda.) "selten in diesem Sinne wohlgeordnet, denn was gerecht und ungerecht sei, ist gewöhnlich umstritten". 4 8
4 9 Zu dieser Verständnismöglichkeit vgl. Zippelius, Methodenlehre, S. 19; ders., Rechtsphüosophie, S. 19 f., 139.
Π. Funktion und Maßstab der Auslegung
33
len irgendeines Beteiligten abstellen, namentlich den des Gesetzgebers. Denn so schwierig die Bestimmung des gesetzgeberischen Willens als Auslegungsmaßstab auch sein mag, so ist diese Aufgabe doch allemal leichter zu lösen, als einen allgemein akzeptierten Auslegungsmaßstab feststellen zu wollen. "Objektivität" als "Inter-Subjektivität" verstehen zu wollen, erscheint infolgedessen weder sinnvoll noch zweckmäßig. Die sich als Gegensatz zu den auf den Willen des Gesetzgebers abstellenden subjektiven Theorien verstehenden objektiven Theorien ergeben somit von vornherein nur dann einen Sinn, wenn durch die Berufung auf den "objektiven" Auslegungsmaßstab der Wille des Gesetzgebers als Auslegungsmaß stab ausgeschaltet werden soll 50 . Damit handelt es sich aber nicht mehr um einen inter-subjektiven Auslegungsmaßstab, so daß der Anspruch auf eine so verstandene "Objektivität" verfehlt würde. Die "Objektivität" eines Auslegungsmaßstabs kann daher sinnvoll nicht in einem inter-subjektiven Sinn definiert werden, sondern muß als Bezugnahme auf Kriterien verstanden werden, die von den Vorstellungen aller beteiligten Rechtssubjekte überhaupt unabhängig und diesen vorgegeben sind.
bb) Die "Idee der Gerechtigkeit" Bei der Suche nach objektiven Auslegungsmaßstäben könnte man daran denken, auf die "Idee der Gerechtigkeit" abzustellen51: Die Maxime würde dann lauten, bei textintern unlösbaren Zweifelsfragen jene Auslegungsalternative zu wählen, durch welche die Idee der Gerechtigkeit am besten verwirklicht wird. Gegen einen solchen Ansatz ist jedoch einzuwenden, daß hinsichtlich der Frage, was gerecht oder ungerecht ist, in vielen - und zwar gerade den problematischen - Fällen unterschiedliche Ansichten bestehen52,
5 0 Vgl. Heck , Gesetzesauslegung, S. 62: "Wer sich der objektiven Theorie anschließt, nimmt ... die bewußte Vereitelung legislativer Absichten in sein Programm auf' (Hervorhebung im Original); ferner Roellecke , FG BVerfG II, S. 26: "die sogenannte 'objektive Theorie' [ist] nicht objektiver als die 'subjektive', sondern [hat] nur den Sinn, die Autorität der Meinungen zu bestreiten, die im Gesetzgebungsverfahren geäußert wurden". 5 1 Zu der Idee der Gerechtigkeit und dem Problem ihrer Erkenntnis vgl. statt vieler Burckhardt , Methode, S. 244 ff.; Engisch , Gerechtigkeit, S. 154 ff.; Fikentscher , Methoden IV, S. 188 ff.; Henkel , Rechtsphüosophie, S. 392 ff.; Larenz, Methodenlehre, S. 173 ff.; ders.y Richtiges Recht, S. 37 ff.; Radbruch , Rechtsphüosophie, S. 119 ff.; Rawls , Theorie der Gerechtigkeit, S. 21 ff. 5 2
Treffend Adomeit , Rechts- und Staatsphüosophie I, S. 104: "Unter Gerechtigkeit begreifen keineswegs alle dasselbe, selten viele auch nur halbwegs"; vgl. ferner Brox, BGB AT, Rn 1 ("Was unter Gerechtigkeit zu verstehen ist, wird immer streitig bleiben"); Looschelders , Anpassung, S. 74, 84 f. ("Relativität" der materiellen Gerech-
3 Looschelders / Roth
34
Β. Grundlagen
weil es diesbezüglich keinen eindeutigen, unverrückbar feststehenden Beurteilungsmaßstab gibt 53 . Es erscheint bereits zweifelhaft, inwieweit es selbst auf einer sehr allgemeinen, abstrakten Ebene gelingen kann - und sei es auch nur bis zu einem gewissen Grad - Einigkeit über Gerechtigkeitsprinzipien zu erzielen, die der Auslegung einer konkreten Norm zur Entscheidung eines konkreten Streitfalles zugrundegelegt werden könnten. Schon Aristoteles hat auf die Mehrdeutigkeit des Begriffs der Gerechtigkeit hingewiesen54, und das Grunddilemma der Gerechtigkeit, einen Ausgleich zwischen der austeilenden und der ausgleichenden Gerechtigkeit55 schaffen zu müssen, sowie das noch schwierigere Problem, ob und inwieweit im Rahmen der austeilenden Gerechtigkeit der Staat an die Bürger das gleiche oder nicht das gleiche austeilen soll 5 6 , sind in der philosophischen Diskussion über die Jahrtausende hinweg letztlich nicht gelöst worden 57 . Von daher erscheint es aussichtslos, unter unmittelbarem Rückgriff auf die Idee der Gerechtigkeit die Auslegung einer konkret vorgegebenen Norm mit Blick auf konkrete Problemfalle durchfuhren zu wollen 58 . Gewiß mögen sich auch "Vertreter der verschiedensten Geistesrichtungen und Weltanschauungen" über das abstrakte Ziel, die Idee der Gerechtigkeit zu verwirklichen, einig sein 59 , und sie mögen sich sogar auf gewisse konkrete
tigkeit); Rehbinder, Einführung, S. 156 ("Gerechtigkeit ist ... zwiespältig und ungewiß"). 5 3 Vgl. Depenheuer, JZ 1993, 171; Henkel, Rechtsphüosophie, S. 529 ff., 563; Obermayer, JZ 1986, 4; ferner Klug, Juristische Logik, S. 153, wonach das "Unternehmen der Rechtsfindung" keine Gewißheit über den Inhalt der - als bestehend vorausgesetzten - absoluten (überpositiven) teleologischen Axiome zu erbringen vermag. 5 4 Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1129a. 5 5 Zu dieser Unterscheidung Aristoteles, ebda., 1129a ff. 5 6 Aristoteles, ebda., 1130b f. Vgl. ferner Platon, Gesetze, 744, 757, für den Gerechtigkeit darin besteht, im Rahmen der wahrhaften sog. "geometrischen" Gleichheit (die sich von der sog. "arithmetischen" Gleichheit nach Maß, Gewicht und Zahl abhebt) jedem dasjenige zu gewähren, was ihm zukommt, also das "verhältnismäßig Gleiche". 5 7
Ausführlich zum Ganzen Adomeit, Rechts- und Staatsphüosophie I, S. 104 f.; Coing, Rechtsphüosophie, S. 193 ff.; Henkel, Rechtsphüosophie, S. 391 ff.; Radbruch, Rechtsphüosophie, S. 121 ff.; Zippelius, Rechtsphüosophie, S. 89 ff., 200 ff. 5 8 Vgl. Henkel, Rechtsphüosophie, S. 416 ("Das Gerechtigkeitsprinzip stellt keine Norm dar, an Hand deren man unmittelbar Entscheidungen für das einzelne Rechtsproblem oder den einzelnen Rechtsfall treffen könnte"); ferner Burckhardt, Methode, S. 244 Fn 7 ("Die Gerechtigkeit ist selbst keine Norm, sondern gibt nur die Richtung an zur Findung der Normen"). 5 9
Vgl. BVerfGE 3, 225, 233 f. zu der Arbeit des Parlamentarischen Rates.
Π. Funktion und Maßstab der Auslegung
35
Gerechtigkeitsvorstellungen einigen und festlegen können 60 . Jedoch erfolgt dies zum einen als geschichtlicher Akt in einem geschichtlich geprägten Zeitpunkt, so daß nicht klar ist, inwieweit diese Einigkeit in die Zukunft trägt, wenn immer neue Probleme und Interessenkonflikte zu bewältigen und immer neue hierauf reagierende Gesetze zu handhaben sind. Zum anderen muß diese Kompromißfahigkeit letztlich doch Grenzen aufweisen (sonst handelte es sich schwerlich um Vertreter verschiedener Weltanschauungen), bedarf es also jenseits dieser Grenzen doch der Mehrheitsentscheidung61. Spätestens wenn es um die Beurteilung konkreter Streitfalle geht, in denen oft widerstreitende und gegenläufige Gerechtigkeitsprinzipien abzuwägen sind, zeigen sich daher die Grenzen jener Einigkeit, was denn nun die gerechte Entscheidung des Einzelfalles darstelle 62, und dann hilft die Invokation der Gerechtigkeitsidee nicht mehr weiter, sondern bedarf es eines durchfuhrbaren und effektiven Entscheidungsmechanismus : "Vermag niemand festzustellen, was gerecht ist, so muß jemand festsetzen, was rechtens sein soll" 63 . Der Rückgriff auf die (objektive) "Idee der Gerechtigkeit" fuhrt somit letzten Endes unweigerlich zu der Frage, wessen (subjektive) Sicht für die Entscheidung maßgeblich sein soll, was in concreto der Gerechtigkeit am besten entspricht: die des Gesetzgebers, die (der Mehrheit) des Volkes oder die des Richters. Daher läßt sich auch unter Bezugnahme auf die Idee der Gerechtigkeit keine objektive Auslegungstheorie begründen. Gegen einen unmittelbaren Rückgriff auf die Idee der Gerechtigkeit als Auslegungsmaßstab spricht im übrigen auch die Erwägung, daß es nach unserer Verfassungsordnung - ebenso wie nach den meisten anderen modernen Verfassungsordnungen - Aufgabe des (demokratisch legitimierten) Gesetzgebers ist, diese Idee in bezug auf die je vorhandene Gesellschafts- und Staatsordnung 64 zu konkretisieren 65, und zwar durch den Erlaß von Gesetzen66. 6 0
Vgl. Zippelius , Rechtsphüosophie, S. 139 f.
6 1
Vgl. Zippelius , Die experimentierende Methode, S. 18 f., der zwar davon ausgeht, man könne sich "auch über Gerechtigkeitsvorstellungen verständigen und zu einem mehr oder minder breiten Konsens gelangen", dies aber selbst dahin relativiert, daß "wenigstens für wechselnde Mehrheiten auch eine vernunftgeleitete Einigung erzielt werden" könne. Daß es erstrebenswert ist, möglichst große Übereinstimmung über vernünftige und gerechte Problemlösungen zu erzielen, kann nicht zweifelhaft sein (vgl. hierzu Zippelius , Rechtsphüosophie, S. 141 ff.), nur muß man sich die Grenzen bewußt machen, die der Erreichung dieses Zieles gesetzt sind. 6 2 Vgl. Zippelius y Rechtsphilosophie, S. 140 f.; ders. f Die experimentierende Methode, S. 19 f. 6 3 Radbruchy Rechtsphüosophie, S. 175. 6 4 Zum Bezug der Gerechtigkeit auf die tatsächlichen Verhältnisse in der zu ordnenden Gesellschaft vgl. Burckhardty Methode, S. 246; Coing y Rechtsphüosophie, S. 159; Henkel, Rechtsphüosophie, S. 417; Looschelders , Anpassung, S. 85.
3'
36
Β. Grundlagen
"Ein Recht zu schaffen, das den Idealen der sozialen Gerechtigkeit, Gleichheit und Billigkeit entspricht, ist eine ewige Aufgabe des Gesetzgebers" 67 . Besteht die Aufgabe des Gesetzgebers aber in dem Versuch, die "objektive Gerechtigkeit" durch den Erlaß von Gesetzen zu konkretisieren 68 , so hat auch der Richter die für seine Entscheidung relevanten Gerechtigkeitsmaßstabe nicht unmittelbar der Idee der Gerechtigkeit zu entnehmen 69 ; er hat vielmehr danach zu fragen, in welcher Weise der Gesetzgeber es mit dem vorliegenden Gesetz unternommen hat, die Idee der Gerechtigkeit zu verwirklichen. Denn es erschiene wenig konsequent, zwar die Verfolgung der Idee der Gerechtigkeit zunächst dem Gesetzgeber zu überantworten, die Gestaltung der Staatsund Gesellschaftsordnung also in erster Linie durch Gesetze vorzunehmen, dann aber, sobald die Auslegung eines solchen Gesetzes infrage steht, unmittelbar auf die Idee der Gerechtigkeit abzustellen, und damit die Auslegung an
6 5
Vgl. BVerfGE 3, 225, 233: Bemühen des Parlamentarischen Rates, "im Grundgesetz die Idee der Gerechtigkeit zu verwirklichen". 6 6 Vgl. Burckhardt , Methode, S. 243 ff.; Going, Rechtsphüosophie, S. 194; Engisch, Gerechtigkeit, S. 154 f.; Henkel, Rechtsphüosophie, S. 563. Zippelius, Rechtsphüosophie, S. 146 ff.; ders. y Die experimentierende Methode, S. 22 erkennt in der Übertragung der Entscheidung an den der öffentlichen Kontrolle unterliegenden und aufgrund periodischer Wahlen einem "Legitimationsdruck" ausgesetzten repräsentativen Gesetzgeber eine wesentliche "institutionelle Absicherung" rationaler Entscheidung über möglichst gerechte Problemlösungen. 6 7
BVerfGE 1, 97, 100; vgl. ferner Larenz, Methodenlehre, S. 316 und Larenz/ Canaris, Methodenlehre, S. 137 f.: Gesetz als "Ausdruck eines auf die Schaffung einer nach Möglichkeit gerechten und den Bedürfnissen der Gesellschaft entsprechenden Ordnung gerichteten Willens des Gesetzgebers". 6 8
Vgl. Zippelius, Die experimentierende Methode, S. 7 ff. dazu, daß sich der Gesetzgeber, wenn es um die Bewältigung immer neu auftretender Problemstellungen geht, oftmals experimentierenden Vorgehens bedienen muß, entweder realiter oder im Wege eines "Gedankenexperimentes", indem die verschiedenen (hypothetischen) Lösungsmöglichkeiten (gedanklich) auf ihre (wahrscheinlichen) Folgen untersucht werden. BVerfGE 5, 85, 135 charakterisiert denn auch das Wesen der freiheitlichen Demokratie dahin, in "a process of trial and error" durch "ständige gegenseitige Kontrolle und Kritik die beste Gewähr für eine (relativ) richtige politische Linie als Resultante und Ausgleich zwischen den im Staat wirksamen politischen Kräften" zu bieten. Zur Zulässigkeit gesetzlicher, "zeitlich und örtlich begrenzter Versuche" "zur Sammlung von Erfahrungen" angesichts komplexer Sachverhalte vgl. BVerfGE 16, 147, 187 f.; 33, 171, 189; 54, 173, 202; 57, 295, 324; 70, 1, 34; 75, 108, 162. Der Gesetzgeber muß die Auswirkungen solcher "Versuchsgesetze" ebenso wie die Prognosen, auf denen seine Gesetze basieren, freilich stets überprüfen und gegebenenfalls zu einer "Nachbesserung" des betreffenden Gesetzes schreiten (vgl. hierzu BVerfGE 33, 171, 189 f.; 54, 173 , 201 f.; 75, 108, 163 f.; 84, 239, 272; 92, 365, 396 f.; Zippelius, ebda., S. 12, 15 ff.). 6 9
Vgl. Coing y Rechtsphüosophie, S. 194.
Π. Funktion und Maßstab der Auslegung
37
einem Maßstab auszurichten, den zu verwirklichen und zu konkretisieren der Gesetzgeber berufen und mit eben diesem Gesetz bemüht war. Dies heißt gewiß nicht, daß die Sicht des Gesetzgebers von der "objektiven" Gerechtigkeit stets verbindlich sein müßte: Gerade die Zeit des nationalsozialistischen Regimes in Deutschland hat gelehrt, "daß auch der Gesetzgeber Unrecht setzen kann" 70 , daß also "gesetzliches Unrecht" möglich ist 7 1 . Auf der Grundlage unserer Verfassungsordnung ist für solche Fälle freilich vorgesorgt: Wenn "der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als 'unrichtiges Recht1 der Gerechtigkeit zu weichen hat" 7 2 , so verstößt das betreffende Gesetz jedenfalls auch gegen das Grundgesetz und ist schon von daher als nichtig anzusehen; ein unmittelbarer Rückgriff auf die Idee der Gerechtigkeit ist insofern also nicht erforderlich, um die Ungültigkeit des Gesetzes zu begründen 7 3 . Soweit der Gesetzgeber sich aber in dem durch die Verfassung vorgegebenen Rahmen hält, ist daran festzuhalten, daß seine Sicht für die Frage maßgeblich ist, was als gerecht oder ungerecht anzusehen ist.
7 0
BVerfGE 3, 225, 232.
7 1
Zum Problem des "gesetzlichen Unrechts" vgl. statt vieler Engisch , Gerechtigkeit, S. 76 ff.; ders. , Einführung, S. 167; Henkel, Rechtsphüosophie, S. 563 ff.; Radbruch, Rechtsphüosophie, S. 328 f., 344 ff.; Raisch , Methoden, S. 126 ff. Schon Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1137a hat darauf hingewiesen, daß die "Gesetzesbestimmungen" nicht identisch mit der Gerechtigkeit seien. Anders demgegenüber auf der Grundlage einer streng positivistischen Auffassung Kelsen , Reine Rechtslehre, S. 201, wonach "jeder beliebige Inhalt Recht sein" kann. 7 2 So die berühmte Radbruchsche Formel, vgl. Radbruch , Rechtsphüosophie, S. 345; BVerfGE 3, 225, 232 f.; ferner Engisch , Einführung, S. 175 f.; Herzog , in Maunz/Dürig, GG, Art. 20 (Lfg. 1980) Rn V I 53; Arthur Kaufmann , NJW 1995, 81 ff.; Raisch , Methoden, S. 126 f. 7 3 Vgl. Herzog , in Maunz/Dürig, GG, Art. 20 (Lfg. 1980) Rn V I 54; Kirchhof Heidelberg-FS, S. 13; Krey, JZ 1978, 465 f.; Obermayer , NJW 1966, 1892. Der Rückgriff auf "objektive" Gerechtigkeitskriterien kann hingegen geboten sein, wenn Gesetze zu beurteüen sind, die nicht am Maßstab des Grundgesetzes gemessen werden können, wie etwa Normen der ehemaligen DDR. So greift der BGH (BGHSt 39, 1, 16; BGH, NJW 1995, 2728, 2730 f.) bei der strafrechtlichen Würdigung der Tötungshandlungen durch Grenzsoldaten an der innerdeutschen Grenze u. a. auf die Radbruchsche Formel zurück, um die Unbeachtlichkeit etwaiger in den Gesetzen der ehemaligen DDR vorgesehener Rechtfertigungsgründe in bezug auf diese Handlungen zu begründen (vgl. dazu Raisch , Methoden, S. 131).
38
Β. Grundlagen
cc) Der objektive Zweck des Gesetzes Da die Idee der Gerechtigkeit in den meisten modernen Rechtsordnungen durch Gesetze konkretisiert ist, suchen die Vertreter der objektiven Theorien den Auslegungsmaßstab denn auch ganz überwiegend nicht in dieser Idee selbst, sondern in dem jeweiligen auslegungsbedürftigen Gesetz, indem sie auf dessen "objektiven Zweck" abstellen. Hiergegen ist aber grundsätzlich einzuwenden, daß ein Gesetz keinen Zweck "an sich" hat, den man seiner Auslegung zugrunde legen könnte, sondern nur den Zweck haben kann, den ein bestimmtes Subjekt mit ihm verfolgt 74 . Ebensowenig wie dem Gesetz als solchem ein eigener "objektiver Wille" zukommen kann 75 , ist denkbar, daß es einen Zweck hat, der ihm nicht von einer bestimmten Person oder Personenmehrheit beigelegt worden ist. Vom "Zweck einer Norm" kann daher sinnvoll nur gesprochen werden, wenn man dies als Kurzformel fur den von einem Subjekt mit der Norm verfolgten Zweck verwendet 76. Dieses zweckverfolgende Subjekt ist zunächst einmal deijenige, der das in Frage stehende Gesetz erlassen hat, also der Gesetzgeber. Wollte man nun das Gesetz von dem es legitimierenden Gesetzgeber trennen und einen angeblichen "objektiven Sinn" des Gesetzes unabhängig vom telos des Gesetzgebers annehmen, so verlöre das Gesetz in Wahrheit seine Ζweckhaftigkeit ; ein Argument aus seinem Zweck heraus setzte dann voraus, daß sich ein anderer an die Stelle des Gesetzgebers setzt und dem Gesetz erst wieder einen - und zwar womöglich seinen, des Interpreten - Zweck zuweist77. Damit würde der Rechtsanwender 7 4 In diesem Sinne auch Koch/Rüßmann , Juristische Begründungslehre, S. 169 f.; Krey , JZ 1978, 366; Maunz/Zippelius , Deutsches Staatsrecht, S. 44; Roxin , Strafrecht AT, § 5 Rn 32 ("Die Annahme, es gebe einen davon [d. h. von der "rechtspolitischen Wertentscheidung des historischen Gesetzgebers"] unabhängigen 'objektiven Sinn' des Gesetzes, ist logisch nicht nachvollziehbar"); Stein , Staatsrecht, S. 36; Zimmermann, NJW 1954, 1629; vgl. ferner Larenz y Methodenlehre, S. 316; Larenz/Canaris , Methodenlehre, S. 137 f. (Gesetz als "Ausdruck eines auf die Schaffung einer nach Möglichkeit gerechten und den Bedürfnissen der Geseüschaft entsprechenden Ordnung gerichteten Willens des Gesetzgebers"); Zippelius , Methodenlehre, S. 19 (Gesetze als "Ausdruck menschlicher Vorstellungen"). Zutreffend weist Depenheuer , DVB1. 1987, 813 darauf hin, daß jedenfalls der '"Wille des Gesetzes' den 'Wülen des Gesetzgebers' an Realitätsferne noch übertrifft". Krit. ferner F. Müller , Juristische Methodik, S. 255 ("der 'Wille des Gesetzes' ist ein Phantom"), der freilich auch den Wülen des Gesetzgebers als "Chimäre" ansieht (zu letzterem s. unten Β. II. 2. d) aa). 7 5 Vgl. Larenz/Canaris , Methodenlehre, S. 140, die den Ausdruck "Wille des Gesetzes" zu Recht als "ungerechtfertigte Personifizierung des Gesetzes" bezeichnen; ferner E. Wolf\ BGB AT, S. 448. 7 6
In diesem Sinne etwa Krey , JZ 1978, 366: "Unter ratio legis ist ... der vom historischen Gesetzgeber verfolgte Regelungszweck zu verstehen". 7 7 In diesem Sinne auch Roxin , Strafrecht AT I, § 5 Rn 32, wonach die Annahme eines objektiven Sinns des Gesetzes nur "verschleiert ..., daß es sich ... um subjektive
Π. Funktion und Maßstab der Auslegung
39
freilich aufhören, Interpret zu sein, und - zwecksetzend - zu einem Quasi-Gesetzgeber werden 78 . Daß eine solche Verdrängung des Gesetzgebers hinsichtlich der Bestimmung des Gesetzesinhalts durch einen anderen unstatthaft ist, wird nachfolgend zu zeigen sein; hier genügt zunächst die Feststellung, daß es sich jedenfalls nicht mehr um einen objektiven Auslegungsansatz handelte, und die Frage, wessen Sicht maßgebend sein soll, nur hinausgeschoben ist. Ein anderes ergibt sich auch nicht aus dem von den Vertretern der objektiven Auslegungstheorie angeführten Gedanken, das Gesetz sei häufig klüger als der Gesetzgeber79. Diese Aussage trifft zwar in dem Sinne zu, daß ein Gesetz in der Tat auch Fälle erfassen kann, die der Gesetzgeber bei seinem Erlaß gar nicht bedacht hat. Gleichwohl ist diese Formulierung unglücklich. Denn das Gesetz als solches kann schwerlich etwas anderes enthalten, als der Gesetzgeber in es hineingetan hat 8 0 , und folglich läßt sich ihm auch kein "Mehr* entnehmen, sofern nicht zuvor etwa Neues hineingelegt worden ist. Hinter der angeblichen Klugheit des Gesetzes verbirgt sich daher in Wahrheit die Klugheit des Interpreten. Daß der Gesetzesanwender klüger sein kann als der Gesetzgeber, ist allerdings richtig, schon weil der Gesetzesanwender auf eine längere Erfahrung mit dem Gesetz zurückblicken kann als der, der eben dieses Gesetz erließ, und weil er mitunter Konstellationen meistern muß, die der Gesetzgeber nicht erkannt hat. In solchen Situationen entspricht es durchaus dem Willen des Gesetzgebers, das Gesetz "klug" auszulegen und gegebenenfalls fortzubilden. Die Berufung auf die "Klugheit des Gesetzes" rechtfertigt aber nicht die Annahme, daß ihm ein objektiver Zweck zukäme, der von jedem Subjekt losgelöst wäre. Wenn man gleichwohl die Existenz eines vom Willen eines bestimmten Subjektes losgelösten objektiven Zweckes des Gesetzes postulieren wollte, so müßte man sich fragen, woraus sich dieser Zweck denn ergäbe. Nachdem der Rückgriff auf die Idee der Gerechtigkeit nicht weiterhilft, müßte sich dieser postulierte "objektive Zweck" allein aus der Rechtsnorm ableiten lassen, und zwar genauer: ausschließlich aus dem Normtext, weil ja durch einen Rückrichterliche Zwecksetzungen handelt"; desgleichen Schwab , Einführung, Rn 108 ("In Wirklichkeit ist der gegen den Willen des Gesetzgebers ins Feld geführte 'Wille des Gesetzes' nichts anderes als der Wille des Gesetzesanwenders"); Zimmermann , NJW 1954, 1629. 7 8 Roth, Faktische Eingriffe, S. 230. 7 9 Vgl. etwa BVerfGE 36, 342, 362; Engisch , Einfuhrung, S. 90; Isensee , Heymanns-FS, S. 583; Arthur Kaufmann , Analogie, S. 41; Radbruch , Rechtsphüosphie, S. 207; Stern , Staatsrecht I, S. 125; Wotff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, § 28 Rn 60; krit. demgegenüber Neuner , Rechtsfindung, S. 110; Säcker , in MünchKomm BGB, Einl. Rn 81 ff.; ders, y ZRP 1971, 146. 8 0
So auch Säcker , in MünchKomm BGB, Einl. Rn 83.
40
Β. Grundlagen
griff auf außertextliche Maßstabe doch wieder außertextliche Kriterien einfließen müßten. Hierin zeigt sich aber die grundsätzliche Verfehltheit der Annahme, ein solcher "objektiver Zweck" lasse sich für die Auslegung der Norm fruchtbar machen: Welchen Zweck eine Norm hat, kann - wenn als einziger Maßstab die Norm zugelassen ist - nur vom Inhalt der Norm her bestimmt werden; ist aber gerade der Inhalt zu ermitteln, so kann man auch diesen Zweck nicht kennen. Da die im Rahmen der textexternen Auslegung zu lösende Problematik nun gerade darauf beruht, daß der Normtext für sich betrachtet keine hinreichend klaren Vorgaben für die Behandlung des infrage stehenden Sachverhalts macht, müßte das Abstellen auf einen derart bestimmten objektiven Normzweck letztlich in einen Zirkelschluß münden. Denn aus dem Normtext allein läßt sich als Zweck nur ableiten, daß die Norm gerade die Fälle regeln soll, die von ihr tatbestandlich erfaßt werden. In diesem Sinne mag die Norm ihren "Zweck" aber auch schon durch die Regelung jener Sachverhalte erfüllen, die zweifelsfrei in ihren Anwendungsbereich fallen, und würde durch die (ggfs. teilweise) Ausblendung ihres Normhofes insofern jedenfalls nicht zwecklos werden 81 . Ob und inwieweit auch außerhalb des Normkerns liegende Fälle erfaßt werden, kann nur mit Hilfe eines Maßstabs bestimmt werden, der jenseits des bloßen Normtextes liegt und über diesen hinausweist. In Betracht kommt insofern vor allem die hinter dem "Normzweck" stehende Wertentscheidung des Gesetzgebers, deren Verwirklichung die Norm dienen soll. Das bloße Argumentieren mit dem "Zweck der Norm" legt demgegenüber nicht offen, daß notwendigerweise Überlegungen einzufließen haben, die sich aus dem Normtext allein nicht ergeben, sondern die Norm transzendieren müssen. Um dem Zirkelschluß-Einwand zu entgehen, könnte man freilich noch daran denken, den Zweck der Norm nicht aus dieser selbst heraus zu bestimmen, sondern aus den Zwecken, die der Rechtsordnung als solcher zugrundeliegen. Gegen eine solche Argumentation wäre jedoch prinzipiell einzuwenden, daß die Rechtsordnung als solche ebensowenig einen Zweck verfolgen kann wie die einzelnen Normen, aus denen sie besteht, weil der Gesamtheit aller Rechtsnormen nicht eine Wesenseigenschaft zukommen kann, die den einzelnen Rechtsnormen gänzlich fehlt; auch insoweit kann es daher nur um die Zwecke gehen, die der Gesetzgeber mit den die Rechtsordnung konstituierenden Normen verfolgt. Davon abgesehen ist zu beachten, daß die auszulegende Norm selbst Teil eben jener Rechtsordnung ist, deren Zwecke nach diesem Ansatz ihrer Auslegung zugrundezulegen wären. Da die einzelnen Rechtsnormen einander in vielfaltiger Weise inhaltlich voraussetzen und be81
Ähnlich die Kritik von Herzberg , NJW 1990, 2526, wonach sich durch teleologische Auslegung nicht klären läßt, innerhalb welcher Grenzen der "Zweck der Norm" verfolgt werden soll.
Π. Funktion und Maßstab der Auslegung
41
dingen 82 , ließen sich die postulierten Zwecke der Rechtsordnung als solcher nur dann zutreffend bestimmen, wenn man dabei auch die Norm berücksichtigte, deren Auslegung infrage steht. Dies setzte aber wiederum voraus, daß der Inhalt der auszulegenden Norm bereits bekannt wäre. Stellt man zur Auslegung einer Norm auf die Zwecke der Gesamtrechtsordnung als solcher ab, so mündet dies also letztlich ebenfalls in einen Zirkelschluß. Versucht man aber, diesem Zirkelschluß dadurch zu entgehen, daß man die auszulegende Norm bei der Bestimmung der Zwecke der Rechtsordnung ausblendet, so konnte man bestenfalls den "Zweck" einer unvollständigen "Restrechtsordnung" ermitteln, der dadurch erheblich verfälscht wäre, daß darin gerade die interessierende auszulegende Rechtsnorm fehlte. Auch dies könnte schwerlich befriedigen.
dd) Zwischenergebnis Ein Rückgriff auf "objektive" Auslegungsmaßstäbe kann nicht überzeugen. Denn entweder existieren solche objektiven Auslegungsmaßstäbe schon gar nicht, so daß es letztlich auf subjektive Kriterien ankommen muß, oder aber ihre Existenz ist zwar als solche anzuerkennen, es bedarf aber eines Subjektes, das sie verbindlich feststellt und formuliert. Die objektiven Theorien sind von daher nicht konsequent durchfuhrbar. Sie sind abzulehnen, weil sie den Anspruch erheben, man könne konkrete geschaffene Gesetze anhand abstrakt vorgegebener, objektiv feststellbarer Maßstäbe auslegen, ohne daß dieser Anspruch zu erfüllen wäre. Sie sind gefahrlich, weil sie den Anschein einer Objektivität erwecken, die es so gar nicht gibt 83 . Praktisch stellt die objektive Theorie, und zwar in allen ihren Ausprägungen, letztlich stets auf irgendwelche subjektiven Vorstellungen ab. Das ist zwar unvermeidlich. Da die objektiven Theorien dies jedoch nicht offenlegen, womöglich sich dies auch gar nicht bewußt machen, umgehen sie die notwendige Diskussion, wessen subjektive Sicht den Auslegungsmaßstab bilden soll. Damit aber bergen sie die Gefahr in sich, daß der Rechtsanwender die eigentlich relevanten Maßstäbe unreflektiert durch seine eigenen Maßstäbe und Vorstellungen ersetzt 84.
8 2
Zu den wechselseitigen Beziehungen zwischen den einzelnen Normen einer Rechtsordnung vgl. Engisch , Einheit, S. 26 ff.; Larenz , Methodenlehre, S. 264 ff., 437 ff.; Looschelders , Anpassung, S. 87, 135; Pawlowski , Methodenlehre, Rn 486; Roth, Faktische Eingriffe, S. 457 f. 83
Vgl. auch Roellecke , FG BVerfG II, S. 26: die objektive Theorie ist "nicht objektiver" als die subjektive. 8 4
Vgl. Bydlinski , Methodenlehre, S. 434 f.; Koch/Rüßmann , Juristische Begründungslehre, S. 170 f.; Säcker , ZRP 1971, 146.
42
Β. Grundlagen
c) Irrelevanz
des Mehrheitswillens
des Volkes
Ist es nach dem Vorstehenden letztlich unumgänglich, daß irgendein Rechtssubjekt den Auslegungsmaßstab bestimmt, und bedarf insbesondere die Idee der Gerechtigkeit der konkretisierenden Festlegung, wenn sie als Maßstab fur die Auslegung konkreter Rechtsnormen fruchtbar gemacht werden soll, so liegt die Überlegung durchaus nahe, daß die "fur die Mehrheit des Volkes konsensfähigen Gerechtigkeitsvorstellungen " 8 5 den Auslegungs86 maßstab bilden sollen . Auf den "Willen des Volkes" abzustellen87 erscheint auf den ersten Blick zumal deshalb angebracht, weil das Volk als Souverän Träger aller Staatsgewalt (Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG) und damit letztlich auch Träger der auslegungsbedürftigen Rechtsnormen ist. Bei näherer Betrachtung sprechen gegen diesen Ansatz jedoch gewichtige Bedenken: Zu beachten ist zunächst, daß es bei der praktischen Rechtsanwendung kaum möglich ist, die fur die Mehrheit des Volkes konsensfahigen Gerechtigkeitsvorstellungen sicher festzustellen. Man könnte den Richter insofern zwar auf die Durchfuhrung von repräsentativen Meinungsumfragen verweisen 88; die auf diese Weise ermittelten Gerechtigkeitsvorstellungen wären jedoch auf der Grundlage unserer Verfassungsordnung nicht geeignet, eine richterliche Entscheidung zu legitimieren. Zwar ist das Volk als Souverän Träger aller Staatsgewalt. Die Ausübung dieser Staatsgewalt kann jedoch nicht nach Belieben erfolgen, sondern nur in der verfassungsmäßig vorgesehenen Art und Weise. Unter dem Grundgesetz übt das Volk seine souveräne Gewalt aber nur in "Wahlen und Abstimmungen" unmittelbar aus; ansonsten handelt es lediglich mittelbar durch besondere Organe der Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung (Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG). Meinungsumfragen oder sonstige (statistische) Erhebungen 89, gar auf einen bloßen Teil des Volkes beschränkte, sind keine nach dem Grundgesetz vorgesehenen Äußerungsformen der souveränen Gewalt 90 . Zwar haben solche Erhebungen als Mittel zur Erforschung der öffentlichen Meinung durchaus ihren Platz im po8 5 In diese Richtung etwa Zippelius, Methodenlehre, S. 21 (Hervorhebung im Original); ders. t Rechtsphüosophie, S. 148 f. 8 6 Krit. zu diesem Ansatz Pawlowski, Einführung, Rn 232 ff. 8 7 So Stein, Staatsrecht, S. 36 f., der dann bei der teleologischen Auslegung aber doch die "Absichten des demokratischen Gesetzgebers" heranziehen will. 8 8
In diesem Sinne Benda/Kreuzer, JZ 1972, 498 f.; Kratzmann, Volkssouveränität, S. 78 f.; Zippelius, Rechtsphüosophie, S. 154; krit. Pawlowski, Einführung, Rn 235 ff., 240. Daß die "Entscheidungsgrundlage aber nicht schon durch bloßes Abfragen einer vordergründigen Mehrheitsmeinung gefunden werden" kann, hebt auch Zippelius, Rechtsphüosophie, S. 149 hervor. 8 9 Zu diesen Instrumenten vgl. BVerfGE 8, 104, 111 f. 9 0
Vgl. Benda/Kreuzer,
JZ 1972, 500.
Π. Funktion und Maßstab der Auslegung
43
litischen Willensbildungsprozeß derjenigen Staatsorgane, die zur Gestaltung des politischen und gesellschaftlichen Lebens berufen sind und hierbei nicht ohne Rücksicht auf die Akzeptanz in der Bevölkerung agieren können 91 . Die Ergebnisse solcher Erhebungen können aber stets nur ein Faktor unter vielen sein, die die schließliche Entscheidung des zustandigen Staatsorgans beeinflussen 92. Sie können diese Entscheidung indes niemals ersetzen und dürfen sie auch nicht präjudizieren. Die öffentliche Meinung und die Gerechtigkeitsvorstellungen des Volkes können nicht mit der staatlichen Willensbildung, namentlich der Willensäußerung eines Staatsorgans in amtlicher Form, gleichgesetzt werden 93 . Deshalb kann sich ein zur Entscheidung berufenes Staatsorgan seiner verfassungsrechtlichen Verantwortung nicht durch die Berufung auf den "Volkswillen" entziehen. Keine Rolle würde dabei spielen, ob man der erhobenen Meinung ohne weiteres rechtliche Verbindlichkeit zusprechen wollte oder ob sie eine verfassungsrechtlich gleichermaßen nicht vorgesehene - rechtlich nicht bindende Teilhabe an der Staatsgewalt darstellte 94. Denn eine solche Meinung wäre politisch allemal von großem Gewicht 95 , und infolgedessen wäre auch nicht auszuschließen, daß sie aus diesem Grund geeignet wäre, eine richterliche Entscheidung de facto zu beeinflussen. Freilich sind die Gerichte ohnehin stets einem faktischen "Legitimationsdruck" ausgesetzt, weil sie ohne Akzeptanz ihrer Entscheidungen riskieren, ihre Autorität einzubüßen96. Dieser "Druck" ist indessen als Gefahr für die innere Unabhängigkeit der Richter und damit als Gefahr für die Prozeßbeteiligten einzuschätzen, die ein legitimes Anrecht darauf haben, ihre Sache nach Gesetz und Recht entschieden zu bekommen, und nicht nach dem (mehrheitlichen) öffentlichen Erwartungsdruck 97 . Das Grundgesetz verbietet deshalb jedem Staatsorgan die Erhebung von Meinungsumfragen wie auch die Abhaltung (verfassungs-) rechtlich nicht vorgesehener Plebiszite, wenn dies etwa zu dem Zweck geschieht, ein Gericht bei seiner Entscheidung unter Druck zu setzen98. Auch das Gericht selbst ist
9 1 9 2
Vgl. Benda/Kreuzer , JZ 1972, 497 f., 501. Vgl. BVerfGE 8, 104, 113.
9 3
Vgl. BVerfGE 8, 104, 113.
9 4
Vgl. hierzu BVerfGE 8, 104, 114 f. Vgl. hierzu Benda/Kreuzer , JZ 1972, 497 f., 501; ferner BVerfGE 8, 104,
9 5
112 f. 9 6 9 7 9 8
Zippelius , Rechtsphüosophie, S. 150. Vgl. Schenke , NJW 1979, 1326 f.; bedenküch insofern Häberle , JZ 1975, 300 f.
Vgl. in diesem Zusammenhang BVerfGE 8, 122, 135 ff. zur Unzulässigkeit "amtlicher Befragungen" der Gemeindebewohner durch die Gemeinden mit dem Ziel, politischen Druck gegen den verfassungsmäßig gebildeten Bundesstaatswillen auszuüben.
44
Β. Grundlagen
nicht befugt, auf diesem Wege seine Entscheidimg zu präjudizieren. Infolgedessen scheidet ein Rückgriff auf die tatsächliche Mehrheitsmeinung im Volk schon aufgrund der Unmöglichkeit aus, diese in einem verfassungskonformen Verfahren zu erheben und in den richterlichen Auslegungs- und Entscheidungsprozeß einzubringen. Eine hierauf gestützte richterliche Entscheidung wäre also nicht legitimiert. Ein Rückgriff auf die im Volk herrschenden Gerechtigkeitsvorstellungen zur Auslegung von Rechtsnormen verbietet sich indessen nicht nur aufgrund der verfahrensrechtlichen Unmöglichkeit ihrer bindenden Erhebimg und Einführung in das Verfahren. Ein solches Vorgehen verkennte darüber hinaus die vom Grundgesetz konstituierte repräsentative Demokratie in ihrem Wesenskern. In der repräsentativen Demokratie ist es ausgeschlossen, die Entscheidungen der Rechtsanwendungsorgane unter unmittelbarem Rückgriff auf die (Mehrheits-) Vorstellungen des Volkes zu legitimieren. Wie bereits dargelegt", ist es nach unserer Verfassungsordnung Aufgabe des Gesetzgebers, die Idee der Gerechtigkeit durch den Erlaß von Gesetzen zu konkretisieren. Bei dem Versuch, diese Aufgabe zu verwirklichen, wird der Gesetzgeber sich zwar regelmäßig schon aus politischen Rücksichten sowie im Hinblick auf die notwendige Akzeptanz seiner Regelungen darum bemühen, den für die Mehrheit des Volkes konsensfahigen Gerechtigkeitsvorstellungen Rechnung zu tragen 1 0 0 ; er ist jedoch aus verfassungsrechtlichen Gründen keineswegs gehalten, sich "an der großen Linie der öffentlichen Meinung zu orientieren" 101 . 9 9
s. oben Β. II. 2. b) bb).
1 0 0
Vgl. Benda/Kreuzer , JZ 1972, 497; Pawlowski , Einführung, Rn 241; Zippelius , Rechtsphüosophie, S. 149 f. 101 So aber Zippelius , Methodenlehre, S. 21, der das Spannungsverhältnis zwischen seinem auf die herrschenden Gerechtigkeitsvorstellungen bezogenen Ansatz und dem Repräsentativprinzip dadurch zu entschärfen sucht, daß er zwar auf die Zielund Zweckmäßigkeitsvorstellungen des Gesetzgebers abstellt, diese aber so interpretiert, wie der Gesetzgeber sie "als Repräsentant der in der Gemeinschaft herrschenden Vorstellungen denken mußte oder wenigstens denken durfte". Auf diese Weise wird zwar formal dem Repräsentativprinzip Rechnung getragen; es bleibt jedoch der Einwand, daß der Gesetzgeber aus verfassungsrechtlichen Gründen keineswegs verpflichtet ist, stets nur die in der Gemeinschaft herrschenden Gerechtigkeitsvorstellungen umzusetzen. Bedenklich erscheint ferner, wenn Zippelius (ebda.) davon ausgeht, der Rechtsanwender übe insofern "gegenüber dem Gesetzgeber eine Kontrolle legitimer Repräsentation aus" (Hervorhebung im Original); krit. auch Raisch y Methoden, S. 147 Fn 61. Denn in der Konsequenz dieses Gedankens liegt es, dem Rechtsanwender das Recht (oder sogar die Pflicht) einzuräumen, den Entscheidungen des Gesetzgebers auch diesseits der Grenze der Verfassungswidrigkeit den Gehorsam zu verweigern, wenn und weü sie nicht Ausdruck "legitimer Repräsentation" seien. Lehnt das Volk die verfassungsmäßig ergangenen Entscheidungen des Gesetzgebers ab, so ist es indes aüein seine Sache, dies bei den nächsten Wahlen zum Ausdruck zu brin-
Π. Funktion und Maßstab der Auslegung
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Ein wesentliches Kennzeichen der grundgesetzlich konstituierten repräsentativen Demokratie liegt nämlich darin, daß "daß die vom Volk eingesetzten und in seinem Namen handelnden Staatsorgane bei ihren Entscheidungen nicht an den jeweils feststellbaren Volkswillen gebunden sind" 1 0 2 . Dies gilt schon deshalb, weil die politische Willensbildung des Volkes und die Bildung des Staatswillens nach dem Grundgesetz zu unterscheiden sind 1 0 3 , somit aber auch die Ergebnisse divergieren können. Für den Deutschen Bundestag wird dies durch Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG bestätigt, wonach die Abgeordneten "Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen" sind. Wenn die Abgeordneten Vertreter des ganzen Volkes sind, dann dürfen sie sich nicht einmal ausschließlich am Willen der Mehrheit des Volkes orientieren; sie müssen vielmehr auch die berechtigten Interessen der Minderheit wahrnehmen und auch Gerechtigkeitserwägungen Raum geben, die im Prozeß der öffentlichen Meinungsbildung oftmals nicht hinlänglich berücksichtigt werden 104 . Spiegeln die Gesetze aber nicht notwendig den Willen der Mehrheit des Volkes wider, so ist es auch nicht gerechtfertigt, zu ihrer Auslegung maßgeblich auf diesen Willen abzustellen105.
d) Die Auslegungsmaßstabskompetenz des Gesetzgebers Da die Berufung auf "objektive" Auslegungsmaßstäbe letztlich stets auf ein Subjekt zurückfuhrt und ein unmittelbares Abstellen auf den Willen der Mehrheit des Volkes in der durch das Grundgesetz konstituierten repräsentativen Demokratie unzulässig ist, spitzt sich der Meinungsstreit hinsichtlich der Maßstäbe der textexternen Auslegung im Kern auf die Frage zu, welchem verfassungsrechtlich legitimierten Organ die Kompetenz zustehen soll, diese
gen; keinesfalls darf der Rechtsanwender sich dazu aufschwingen, die Entscheidungen des Gesetzgebers auf ihre Übereinstimmung mit den (angeblich) herrschenden Gerechtigkeitsvorstellungen zu überprüfen. 10 2
Herzog , in Maunz/Dürig, GG, Art. 20 (Lfg. Juni 1978) Rn II 3 (Hervorhebungen im Original); vgl. ferner Pawlowski , Einführung, Rn 242, wonach "sich aus der Verfassung unseres Staates keinesfalls ergibt, daß die Wertungen der Mehrheit der Rechtsgenossen mit denen der Mehrheit der Mitglieder der Gesetzgebungsorgane immer übereinstimmen sollte. " 103
BVerfGE 8, 104, 113. 104 Ygi Zippelius , Rechtsphüosophie, S. 148 ff. zu den Gefahren eines schlichten Abstellens auf "vordergründige Mehrheitsmeinungen" und der Notwendigkeit einer rationalen "Abklärung" derselben. 105 In diesem Sinne auch Pawlowski , Einführung, Rn 242; Säcker , ZRP 1971, 150.
Β. Grundlagen
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Maßstäbe zu setzen: dem Gesetzgeber oder dem Richter 106 . Hat man sich erst einmal von der irreführenden Fixierung auf die Alternative "objektive" oder "subjektive" Auslegung gelöst, so spricht alles dafür, daß der Wille des Gesetzgebers den Auslegungsmaßstab bilden muß 1 0 7 .
aa) Der Wille des Gesetzgebers als "fingiertes Einheitsbewußtsein" Gegen die Heranziehung des Willens des Gesetzgebers als Auslegungsmaßstab könnte man in grundsätzlicher Weise einwenden, daß es in einer parlamentarischen Demokratie von vornherein ausgeschlossen sei, bei der Auslegung auf den Willen des Gesetzgebers abzustellen, weil das Legislativorgan als solches überhaupt keinen Willen haben könne (Willensargument) 108 . Dieser Einwand greift jedoch nicht durch. Zwar ist es in der Tat richtig, daß ein als Kollektivorgan konstituierter Gesetzgeber keinen Willen im natürlichen Sinne haben kann. Einen solchen natürlichen Willen haben nur die einzelnen Mitglieder des Gesetzgebungsorgans, nicht aber dieses selbst. Dies läßt jedoch nicht den Schluß zu, daß es in einer parlamentarischen Demokratie von vornherein ausgeschlossen wäre, bei der Auslegung auf den Willen des Gesetzgebers abzustellen109. Vom "Willen des Gesetzgebers" kann hier nämlich mittels eines "fingierten Einheitsbewußtseins"110 gesprochen werden, und zwar in dem Sinne, daß vom individuellen Willen der einzelnen Mitglieder abstrahiert und ein einheitlicher, normativer Wille des
106
In diesem Sinne auch Zimmermann, NJW 1954, 1630: "Hinter dem Streit um die Auslegungsmethode verbirgt sich also die eigentlich entscheidende Frage, wessen Sicht der rechtlichen Bildungsfaktoren für die Gesetzesauslegung maßgeblich sein soll, die des Gesetzgebers oder die des Richters". 1 0 7 Ausdrücklich auf den Willen des Richters abstellend aber Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 346 ff.; in diese Richtung auch Esser, Vorverständnis, S. 7, 17 ff. und passim; Hassemer, Rechtssystem und Kodifikation, S. 259 f.; Schlink, Der Staat 1980, 105. Zu der in den 60er und 70er Jahren geführten Diskussion um den "politischen Richter" vgl. Krey, JZ 1978, 430 ff. m. w. N. 108 V g l die diesbezüglichen Einwände gegen die subjektive Auslegungstheorie bei Alexy, Argumentation, S. 293; Hesse, Verfassungsrecht, Rn 56; Heun, AöR 116 (1991), 205 f.; lsensee, Heymanns-FS, S. 583; Jakobs, Strafrecht AT, Rn4/21; Maunz/Zippelius, Deutsches Staatsrecht, S. 43; F. Müller, Juristische Methodik, S. 255; E . Wolf BGB AT, S. 448. 1 0 9
So auch Depenheuer, Der Wortlaut als Grenze, S. 55 Fn 198; Engisch, Einführung, S. 95; Enneccerus/Nipperdey, BGB AT 1/1, S. 329; Hassold, ZZP 94 (1981), 192, 207; Heck, Gesetzesauslegung, S. 67 ff., 77 ff. ( = Studien und Texte II, S. 77 ff.); Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 180. 1 1 0
Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 207.
Π. Funktion und Maßstab der Auslegung
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Gesetzgebers fingiert wird 1 1 1 . Daß es sich dabei nur um einen fingierten Willen handelt, rechtfertigt es keineswegs, ihn als irrelevant oder gar als nicht existent anzusehen. Denn es handelt sich um eine (demokratietheoretisch gebotene) rechtliche Fiktion, und was das Recht fingiert oder anerkennt, ist fur die Rechtsordnung nicht minder existent als reale Gegenstände innerhalb der sinnlich wahrnehmbaren W e l t 1 1 2 . Es ginge daher in grundlegender Weise an der Natur des Legislativorgans als (verfassungs) rechtlich konstituiertem Organ vorbei, nach seinem natürlichen Willen zu fragen, anstatt richtigerweise auf seinen (verfassungs) rechtlich maßgeblichen normativen Willen abzustellen. Deshalb greift auch der Pluralitätseinwand nicht durch. Gewiß mag es eine Vielzahl unterschiedlicher natürlicher Willenspositionen bei den einzelnen Mitgliedern des Legislativorgans geben, die in einem natürlichen Sinn nicht miteinander in Einklang zu bringen sind. Wenn es aber gar nicht um diesen natürlichen, sondern um den rechtlichen fingierten Willen geht, dann kann auch die natürliche Meinungspluralität nicht der Annahme einer normativen Willenseinheit entgegenstehen. Bei der Konstituierung dieser normativen Willenseinheit geht es nicht um die bloße Zusammenfassung der einzelnen geäußerten Ansichten; denn wie das Parlament nicht lediglich die Summe seiner Mitglieder i s t 1 1 3 , so ist der Wille dieses Organs auch nicht die Summe der Vorstellungen der beschließenden Abgeordneten. Die (verfassungs)rechtlich relevante Willensäußerung des Gesetzgebungsorgans erfolgt bei der Abstimmung; im Abstimmungsakt drückt sich der normative Wille jedenfalls der Mehrheit aus, und an diesen kann angeknüpft werden. Die parlamentarische Demokratie lebt von der Geltung des Mehrheitsprinzips gerade auch im Gesetzgebungsorgan selbst. So wie das Zustandekommen des Gesetzes durch Gegenstimmen nicht verhindert wird, so kann auch der für die Auslegung eben dieses Gesetzes heranzuziehende - gesetzgeberische Wille durch Gegenmeinungen nicht ohne weiteres ausgeschaltet werden. Der Wille des Gesetzgebers setzt daher keine tatsächliche Willensübereinstimmung der Organmitglieder voraus, sondern ist als der im Gesetzgebungsorgan zur 111 Vgl. Enneccerus/Nipperdey , BGB AT 1/1, S. 205 f., 326, 329; Hübner, BGB AT, Rn 101; Lehmann/Hübner , BGB AT, S. 60; auf einen nicht psychologisch, sondern normativ verstandenen gesetzgeberischen Willen abstellend auch schon Heck, Gesetzesauslegung, S. 50, 62, 77 und passim. 1 1 2
Vgl. Roth, Faktische Eingriffe, S. 91. Bei juristischen Personen nur "reales Existentes" gelten zu lassen, würde deren besonderer Rechtsnatur nicht gerecht. Solange sich eine bestimmte Eigenschaft einer juristischen Person rechtlich zuschreiben läßt, spielt es keine Rolle, ob diese Eigenschaft in einem natürlichen Sinne "real" ist oder nicht. 113 BVerfGE 90, 286, 342 f.
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Β. Grundlagen
Herrschaft gelangte Wille zu verstehen 114. Zwar mag es sich gelegentlich so verhalten, daß sich infolge der tatsachlichen Meinungsverhältnisse unter den Mitgliedern des Legislativorgans auch in diesem notwendigerweise fingierten Sinne kein gesetzgeberischer Wille feststellen läßt. Dies stellt aber ein methodisches Problem im jeweiligen Einzelfall dar und begründet keinen prinzipiellen Einwand gegen die Heranziehung des Willens des Gesetzgebers als Auslegungsmaßstab115.
bb) Der Vorrang des gesetzgeberischen gegenüber dem richterlichen Willen bei der Gesetzesauslegung Ist es nach dem Vorstehenden prinzipiell möglich, zu Auslegungszwecken auf den Willen des Gesetzgebers abzustellen, so bedarf es nunmehr der Entscheidung, ob es hinsichtlich des Auslegungsmaßstabs auf den Gesetzgeber oder den Richter ankommen soll. Die Untersuchung ergibt dabei, daß dem gesetzgeberischen Willen der Vorrang gegenüber dem richterlichen Willen gebührt und sich die Auslegung daher primär nach dem Willen des Gesetzgebers richten muß.
(1) Der Zusammenhang von Entscheidungsmaßstabsund Auslegungsmaßstabskompetenz Für die Frage der Auslegungsmaßstabskompetenz ist zunächst die oben dargestellte Funktion der Gesetze bedeutsam, Entscheidungsmaßstäbe zu setzen 1 1 6 . Diese Funktion gerät in dem Maße in Gefahr, und die Bindung des Richters an das Gesetz droht in dem Maße leerzulaufen, in dem das Gesetz von seinem Text her unbestimmt ist. Denn ein Gesetz kann dem Richter nur insoweit Entscheidungsmaßstäbe liefern, wie es inhaltlich hinreichend bestimmt oder zumindest bestimmbar ist. Die textexterne Auslegung hat deshalb die Aufgabe, ein auslegungsbedürftiges Gesetz seinem Inhalt nach so zu bestimmen, daß es seine Funktion als Entscheidungsmaßstab erfüllen kann. Daraus folgt aber, daß deijenige, der den Auslegungsmaßstab setzt, zugleich mittelbar den Entscheidungsmaßstab bestimmt und damit letztlich über die Gesetzesanwendung befindet. Wenn nun aber der Gesetzgeber berufen ist, Entscheidungsmaßstäbe vorzugeben, so muß sein Wille auch dann maßgeblich
1 1 4 115 1 1 6
Enneccerus/Nipperdey, BGB AT 1/1, S. 206, 329. In diesem Sinne auch Bydlinski, Methodenlehre, S. 406 ff. s. obenB. I. 1.
Π. Funktion und Maßstab der Auslegung
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sein, wenn es um die Auslegung dieser Maßstabe geht, weil sonst seine Entscheidungsmaßstabskompetenz weitgehend entwertet wäre 1 1 7 . Bei der Bindung des Rechtsanwenders an die vom Gesetzgeber vorgegebenen Entscheidungsmaßstäbe geht es nicht etwa bloß - oder auch nur vornehmlich - um den Ausschluß richterlicher Willkür. Daß sich der Richter von Willkür freihalten und seine Entscheidung auf rationale Argumentation stützen m u ß 1 1 8 , versteht sich in einem Rechtsstaat ohnehin von selbst 119 . Die Zuerkennung der Auslegungsmaßstabskompetenz an den Gesetzgeber bedeutet vielmehr viel grundsätzlicher, daß sein Wille für die Auslegung auch dort maßgeblich sein muß, wo es durchaus vernünftige Gründe gäbe, den konkreten Streitfall durch eine hiervon abweichende Auslegung der Norm anders zu entscheiden, als es sich bei Zugrundelegung des gesetzgeberischen Willens ergibt. Indessen setzt sich auch hier die Gesetzesbindung des Richters fort: Wenn ein Gesetz nicht gerade verfassungswidrig oder korrekturbedürftig ist, muß es der Richter selbst dann entsprechend dem Willen des Gesetzgebers anwenden, wenn er durchaus Anlaß hat, das Gesetz für (rechtspolitisch) verfehlt zu halten, und seine Problemlösung mit guten Gründen sogar für die bessere erachtet werden kann 1 2 0 . Der Richter ist nun einmal dem Gesetzgeber untergeordnet, und auch die Betroffenen müssen es im Rahmen der Verfassung hinnehmen, wenn die demokratisch legitimierte Mehrheit eine unzweckmäßigere oder sonst schlechtere Lösung ihres Konfliktes gewählt hat. Solange sich der Gesetzgeber im Rahmen der Verfassung hält, haben die Gerichte nicht zu prüfen, ob er im einzelnen die zweckmäßigste, vernünftigste oder gerechteste Lösung gefunden hat 1 2 1 . Was nun aber für den Entscheidungsmaßstab gilt, muß konsequenterweise auch für den Auslegungsmaßstab gelten.
1 1 7 Vgl. Engisch , Einführung, S. 248 Anm. 105a; a. A. Kratzmann , Volkssouveränität, S. 13, 17, 56. 118
BVerfGE 34, 269,287. Zu Rechtsfindungstechniken, bei denen die "Richtigkeit" des Ergebnisses von der Persönlichkeit des Richters und der anderen Beteüigten abhängt, vgl. Pawlowski , Methodenlehre, Rn 37 ff. 1 1 9
1 2 0
Vgl. RGZ 74, 69, 71 f.; ferner Looschelders, Anpassung, S. 162 (gegen die Ausschaltung "legislatorisch mißratener" inländischer Normen in Fällen mit Auslandsberührung) . 121 BVerfGE 10, 354, 371; 17, 319, 330; 50, 42, 47; 80, 182, 186; 83, 111, 117; Hesse, Verfassungsrecht, Rn 570.
4 Looschelders / Roth
50
Β. Grundlagen
(2) Demokratische Legitimation des Gesetzes durch den Gesetzgeber Für die Auslegungsmaßstabskompetenz des Gesetzgebers spricht auch die Erwägung, daß ein Gesetz seine demokratische Legitimation (und den hierin begründeten Befolgungsanspruch) nicht aus sich selbst heraus besitzt, sondern nur aus der (unmittelbaren oder mittelbaren) demokratischen Legitimation des Gesetzgebers ableiten kann 1 2 2 . Bezieht ein Gesetz seine demokratische Legitimation aber von dem Gesetzgebungsorgan, so muß im Ausgangspunkt auch im Falle seiner Auslegungsbedürftigkeit der Wille des Gesetzgebers maßgeblich sein, wenn es um die Bestimmung des Gesetzesinhalts geht 1 2 3 , weil ja auch der durch Auslegung ermittelte Gesetzesinhalt demokratisch legitimiert sein muß. Wer nun das Gesetz erlassen hat und ihm die demokratische Legitimation verleiht, ist näher als jeder andere daran, den Maßstab für die Klärung von Zweifeln über den Inhalt des Gesetzes vorzugeben. Ein anderes methodisches Vorgehen würde die Ermittlung des Gesetzesinhalts vom Willen des Gesetzgebers abkoppeln und einen angeblichen "objektiven Sinn" des Gesetzes oder gar den Willen des Rechtsanwenders über den telos des Gesetzgebers stellen 124 . Demgegenüber läßt sich die Maßgeblichkeit des gesetzgeberischen Willens nicht mit dem Argument verneinen, daß dieser im Falle der Notwendigkeit einer textexternen Auslegung im Gesetz keinen Niederschlag gefunden habe und daher nicht bindend sein könne. Mag nämlich der Wille des Gesetzgebers keinen vollständigen Ausdruck im Gesetzestext gefunden haben, so ist doch nicht zu bezweifeln, daß der Wille des Rechtsanwenders (etwa des Richters) erst recht keinen Ausdruck im Gesetz gefunden haben kann, da er das Gesetz nicht erlassen hat. Da der Rechtsanwender dem Gesetz jedenfalls ferner steht und zudem keine bessere demokratische Legitimation besitzen kann als der Gesetzgeber, ist nicht ersichtlich, aus welchem Grund seinem Willen bei der Auslegung Vorrang gegenüber dem Willen des Gesetzgebers zukommen sollte 125 . 1 2 2
Zur demokratischen Legitimation von Gesetzen vgl. Herzog, in Maunz/Dürig, GG, Art. 20 (18. Lfg. 1980) Rn II 74 ff., 83 ff., V I 35; Hesse, Verfassungsrecht, Rn 502 ff., 508; Roth, Faktische Eingriffe, S. 496 ff., 503 ff. 123 So auch Säcker, in MünchKomm BGB, Einl. Rn 65, 83, 105. In diese Richtung wohl auch Maunz/Zippelius, Deutsches Staatsrecht, S. 44. 1 2 4 In diesem Sinne auch Deckert, JA 1994, 412, 419; Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 7, 182; Neuner, Rechtsfindung, S. 112 f.; Säcker, in MünchKomm BGB, Einl. Rn 65; Schlehofer, JuS 1992, 572, 577. 125 Mit den Vorgaben des Grundgesetzes nicht zu vereinbaren ist schon aus diesem Grunde die Auffassung von Schlink, Der Staat 1980, 101, der Gesetzgeber mache "ja die Gesetze nicht für sich und für den unbefangenen (!) Interpreten, sondern für eine ihr Gewicht kennende und ihre (!) Interessen verfolgende Verwaltung und für eine
Π. Funktion und Maßstab der Auslegung
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(3) Art. 20 Abs. 3 und Art. 97 Abs. 1 GG Daß der W i l l e des Gesetzgebers als Auslegungsmaßstab heranzuziehen ist, wird mittelbar durch Art. 20 Abs. 3 und Art. 97 Abs. 1 G G bestätigt 1 2 6 . Zwar sprechen beide Bestimmungen ausdrücklich nur von einer Bindung des Richters an Gesetz und Recht, und nicht auch von einer Bindimg an den W i l len des Gesetzgebers. Das heißt aber nicht, daß der Richter außerhalb dessen, was sich schon dem Gesetzestext entnehmen läßt, frei wäre, nach eigenen Maßstäben zu entscheiden. Z u m einen begründet die "Bindung an" Gesetz und Recht bzw. die "Unterwerfung unter" das Gesetz zwar eine diesbezügliche Beachtenspflicht, impliziert aber nicht, daß es in diesem Rahmen keine weiteren Bindungen gäbe. Vor allem aber darf die Bindung des Richters an das "Gesetz" nicht i m Sinne einer Bindung an den bloßen Wortlaut des Gesetzes verstanden w e r d e n 1 2 7 ; dem materiellen Gehalt nach geht es hierbei vielmehr um die Bindung an die i m Gesetz ausgedrückten Entscheidungen des dem Richter übergeordneten Gesetzgebers 128 .
selbstbewußte und verantwortungsbewußte Rechtsprechung. Er gibt seine Gesetze sehenden Auges in ein Rechtssystem hinein, das seine eigenen Vorgaben und Vorstellungen hat ... Der Gesetzgeber kann eigentlich nichts anderes gemeint und gewollt haben, als was das Rechtssystem aus seinen Gesetzen macht". - Als ironische Charakterisierung einer häufig anzutreffenden Praxis hätte diese Beschreibung einiges für sich, als normatives Postulat und als Begründung einer objektiven Theorie erscheint sie indes unhaltbar. Nicht zu überzeugen vermag zunächst die Ausgangsthese, der Gesetzgeber mache die Gesetze nicht "für sich": Gewiß macht der Gesetzgeber die Gesetze primär für den Normadressaten, aber dabei verfolgt er doch seine Zwecke. Befremdlich ist sodann die Vorsteüung, er mache die Gesetze für den "befangenen Interpreten"; nach dem Leitbüd des Grundgesetzes erfüllt der Richter seine Aufgaben vielmehr "in Unabhängigkeit, Unparteilichkeit und Unbefangenheit und gewinnt dadurch sachliche Offenheit und gedankliche Freiheit für das Verstehen des Gesetzes" (Kirchhof \ Heidelberg-FS, S. 35). Und mit der grundgesetzlichen Vorstellung von Gewaltenteüung unvereinbar ist schließlich die Ansicht, die Verwaltung dürfe "ihre" Interessen mit den Gesetzen verfolgen: zuallerst ist sie nämlich Exekutive, die die Gesetze auszuführen und dadurch die Vorstellungen des Gesetzgebers zu verwirklichen hat. 1 2 6
Vgl. Krey , JR 1995, 222. BVerfGE 35, 263, 278 f.; Enneccerus/Nipperdey holz/Rinck/Hesselberger , GG, Einf. Rn 9. 1 2 7
, BGB AT 1/1, S. 317; Leib-
1 2 8 So auch Deckerty Rechtstheorie 26 (1995), 117; Larenz y Methodenlehre, S. 316 f.; Larenz/Canaris , Methodenlehre, S. 138; Neuner , Rechtsfindung, S. 85 ff., 112. Anders Hassemer y Rechtssystem und Kodifikation, S. 260: "Sobald das Gesetz erlassen ist, stehen seine Anweisungen dem richterlichen Handeln zur Disposition". Hassemer will damit zwar das Postulat der Gesetzesbindung als solches nicht in Frage stellen, geht jedoch davon aus, daß der Richter aus prinzipiellen Gründen nicht in der Lage ist, diesem Postulat nachzukommen. Zur Kritik dieser These s. unten B. III.
*
52
Β. Grundlagen
Art. 20 Abs. 3 GG würde seinem Gehalt nach zu eng verstanden, sähe man in der Bestimmung über die Gesetzesbindung der Rechtsprechung lediglich eine Aussage über das Verhältnis von Gesetz und Rechtsprechung. Die Vorschrift ist nämlich im Zusammenhang mit Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG zu sehen: Während dort die Gewaltenteilung statuiert wird, legt Art. 20 Abs. 3 GG das grundsätzliche Verhältnis der Gewalten fest; indem er die Rechtsprechung an die Gesetze bindet, trifft er zugleich eine fundamentale Aussage über das Verhältnis von Gesetzgeber und Gerichten, nämlich daß dem Gesetzgeber der Primat zukommen solle. Deshalb legt Art. 20 Abs. 3 GG zumindest nahe, diesen Primat auf die Auslegungskompetenz zu übertragen und den Auslegungsmaßstab vorrangig beim Gesetzgeber zu suchen 129 . Dieser Schluß wird nicht durch Art. 97 Abs. 1 GG widerlegt, wonach der Richter "unabhängig" und "nur" dem Gesetz unterworfen ist. Gemeint ist hiermit zwar neben der persönlichen auch die sachliche Unabhängigkeit in der Entscheidung des Rechtsstreites, doch betrifft das nur die Unzulässigkeit fallbezogener Weisungen der Exekutive wie auch der Legislative 130 und postuliert selbstverständlich nicht die Freiheit von gesetzgeberischen Entscheidungs- bzw. Auslegungsvorgaben generell-abstrakter Natur. Auch die Unterwerfung "nur" unter das Gesetz bedeutet nicht, der Richter brauche sich bei der Auslegung nicht am Willen des Gesetzgebers zu orientieren; dieser Wille soll nämlich nicht aus sich selbst heraus und für sich allein, unabhängig vom Gesetz, verbindlich gelten, sondern nur dazu herangezogen werden, den Inhalt des erlassenen Gesetzes klarzustellen. Den grundgesetzlichen Bestimmungen ist somit nicht zu entnehmen, daß die Gesetzesbindung bei unbestimmten Gesetzen im Effekt entfallen solle. Vielmehr entspricht es den Wertentscheidungen des Grundgesetzes am besten, im Falle der Auslegungsbedürftigkeit einer Norm methodisch jenen Weg zu wählen, durch den sich die Gesetzesbindung ihrem Sinn nach bestmöglich realisieren läßt, und das heißt der gesetzgeberische Entscheidungsmaßstab weitestmöglich umgesetzt wird; damit ist aber der gesetzgeberische Wille als Auslegungsmaßstab heranzuziehen. Nur auf diese Weise läßt sich auch die richterliche Unabhängigkeit legitimieren; denn es wäre mit unserem gewaltenteiligen System nicht zu vereinbaren, den Richtern die Befugnis zu verleihen, bei ihren Entscheidungen die eigenen
1 2 9 Insoweit ähnlich Kratzmann, Volkssouveränität, S. 66; ferner Engisch, Einführung, S. 95. 1 3 0
BVerfGE 12, 67, 71; 38, 1, 21; Enneccerus,/Nipperdey, BGB A T I / 1 , S. 316; Jarass/Pieroth, GG, Art. 97 Rn 5; Kirchhof Heidelberg-FS, S. 14; Meyer, in v.Münch, GG, Art. 97 Rn 7.
Π. Funktion und Maßstab der Auslegung
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Zweck- und Wertvorstellungen zum Tragen zu bringen und ihnen gleichzeitig persönliche und sachliche Unabhängigkeit einzuräumen 131.
(4) Das Rangverhältnis zwischen den Gewalten Nicht nur bei der Gesetzgebung als Maßstabssetzung, sondern auch bei der Auslegung geht es um die Verwirklichung der demokratischen Idee der Souveränität des Volkes, das zuallererst durch seinen unmittelbar legitimierten Gesetzgeber handelt und sich auf diese Weise seine innere Ordnung gestaltet. Gewiß sind auch die Richter unter dem System des Grundgesetzes (jedenfalls mittelbar) demokratisch legitimiert 132 , und deshalb spricht die Volkssouveränität nicht prinzipiell dagegen, auch dem Richter eine gewisse Kompetenz zur Bildung von Entscheidungsmaßstäben zuzubilligen, wie dies bei der Rechtsfortbildung 133 ja auch in erheblichem Umfang geschieht. Die eigentliche Frage ist von daher nicht so sehr eine des "Ob" dieser Kompetenz, sondern sozusagen eine des "Wieviel", genauer des Rangverhältnisses zwischen Legislative und Judikative bei der Festlegung der Auslegungsmaßstäbe 134 . Und eben hier ergibt sich aufgrund des Legitimationsvorsprungs des unmittelbar gewählten Parlamentes auch ein Primat hinsichtlich der Festlegung von Auslegungsmaßstäben. Da nahezu jedes Gesetz Normhöfe aufweist und insofern auslegungsbedürftig ist, hätte es beträchtliche Auswirkungen auf das Rangverhältnis zwischen den Gewalten, wenn man den Gesetzgeber zwar innerhalb des Normkernes dem Richter vorordnete (weil der Richter insoweit ja unzweifelhaft an die darin formulierten Entscheidungsmaßstäbe gebunden ist), im Bereich des Normhofes jedoch den Richter von dieser Bindung losspräche und ihn dadurch effektiv über den Gesetzgeber stellte, indem man ihm zubilligte, selbst zu entscheiden, was die vom Gesetzgeber geschaffene Norm bedeuten soll. Die Maßstabssetzung darf daher nicht auf den Normkern beschränkt sein, sondern muß ebenso den Normhof erfassen; dies impliziert aber, daß sich auch der Auslegungsmaßstab, der ja vor allem Bedeutung für den Normhof besitzt, primär nach dem Willen des Gesetzgebers zu richten hat. Als Argument für die Maßgeblichkeit des Richterwillens im Rahmen der Auslegung läßt sich auch nicht ins Feld fuhren, wenn der Gesetzgeber nun einmal versäumt habe, seinen Vorstellungen klar und eindeutig Ausdruck zu 131 Vgl. Böckenförde, in Isensee/Kirchhof, HStR I, § 22 Rn 23; Kissel, NJW 1982, 1781, 1785; Krey> JR 1995, 222. s. hierzu bereits oben Β. I. 1. 1 3 2 s. oben Β. I. 1. 133 Dazu unten E. 1 3 4
Vgl. Engisch, Einführung, S. 107.
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Β. Grundlagen
verleihen, so müsse er es hinnehmen, daß der Richter nunmehr - innerhalb gewisser Grenzen - die erforderlichen Entscheidungsmaßstabe selbst setze und hierzu über die Auslegung entscheide. Es ist zwar unverkennbar und liegt letztlich in der Natur der Sache, daß der Gesetzgeber durch den Erlaß unbestimmter und deshalb auslegungsbedürftiger Gesetze einen Teil seiner Macht einbüßt, Entscheidungsmaßstabe zu setzen; dem entspricht auf der anderen Seite notwendig ein entsprechender Machtzuwachs des Richters 135 . Gleichwohl darf dies nach der grundgesetzlichen Vorstellung über die Hierarchie der Gewalten nicht zum Anlaß genommen werden, das Rangverhältnis in größerem als dem unvermeidlichen Maße abzuändern oder es gar umzukehren. Die Erkenntnis, daß der Gesetzgeber seine Entscheidungsmaßstabskompetenz infolge der Unbestimmtheit der von ihm erlassenen Normen mitunter nur unvollkommen realisiert, bietet keine Rechtfertigimg, sie ihm deswegen gleich ganz zu nehmen, indem die Auslegungsmaßstabskompetenz der Judikative zugesprochen wird. Das Demokratie- wie das Gewaltenteilungsprinzip gebieten vielmehr, die Wertungen des Gesetzgebers auch in einer solchen Situation tunlichst umzusetzen; und dies heißt, daß der Richter dem Gesetzgeber auch bei der Auslegung untergeordnet sein muß. Bei der Suche nach dem richtigen Auslegungsmaßstab geht es im übrigen nicht um eine Bestrafung für gesetzgeberisches Unvermögen im Verhältnis zu den anderen Gewalten, insbesondere der Gerichtsbarkeit, in dem Sinne, daß der Gesetzgeber es sich selbst zuzuschreiben habe, wenn er aufgrund eigenen Unvermögens einen Teil seiner Maßstabskompetenz verliere. Vielmehr dreht es sich auch im Falle der Auslegungsbedürftigkeit von Gesetzen im Verhältnis zu dem betroffenen Bürger um die Frage, wer demokratisch legitimiert ist, den Entscheidungsmaßstab zu setzen. Aus der Sicht des Volkes als dem Souverän verwirkt aber der Gesetzgeber seine durch die Unmittelbarkeit der Wahl begründete Vorrangstellung vor den anderen Gewalten nicht dadurch, daß er es versäumt hat, seinen Vorstellungen im Gesetzestext eindeutig Ausdruck zu verleihen.
(5) Gleichmäßigkeit
der Rechtsanwendung
Nur wenn man den Willen des Gesetzgebers als primären Auslegungsmaßstab ansieht, läßt sich schließlich der auf dem Gleichheitssatz beruhende Gedanke verwirklichen, daß vergleichbare Sachverhalte nach denselben materiellen Maßstäben beurteilt werden sollen und daß nicht womöglich gesetzestechnisch oder formulierungsmäßig bedingte Zufälligkeiten darüber entschei-
135 Ygi lsensee, Heymanns-FS, S. 585: "Die Kompetenz, das Recht verbindüch auszulegen, bedeutet in der Tat ein Stück Macht".
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den dürfen, ob ein Sachverhalt - weil in den Normkern fallend - dem Entscheidungsmaßstab des Gesetzgebers unterliegt, oder ob er - weil im Normhof liegend - nach ihrerseits wiederum nicht einheitlichen Auslegungsmaßstäben der jeweils zur Entscheidung berufenen Richter behandelt wird. Gewiß muß die A n n a h m e einer Kompetenz des Richters, Auslegungsmaßstäbe zu setzen, im Ergebnis nicht zu einem Gleichheitsverstoß fuhren; ein solcher bleibt vielmehr aus, wenn der Richter dieselben Maßstäbe wählt wie der Gesetzgeber. Der Gerechtigkeits- und Gleichheitsgedanke verträgt sich indessen nicht mit solchen Zufälligkeiten. Zumindest wäre die Gefahr von Abweichungen nicht mehr ausschließbar und würden Gleichheitsverstöße in Kauf genommen, wenn man es ernst meinte, daß der Wille des Richters und nicht der des Gesetzgebers den Auslegungsmaßstab ausmachen solle 136 . Das Gleichheitsproblem stellte sich, wenn man die Auslegungsmaßstabskompetenz den Gerichten zubilligte, nicht nur im Verhältnis zwischen den vom Normkern erfaßten und jenen im Normhof liegenden Sachverhalten, sondern ebenso dringlich im Verhältnis der verschiedenen Spruchkörper untereinander. Denn verschiedene Richter können ja durchaus unterschiedlicher Ansicht sein, wie eine Norm in ihrem "Hof" richtigerweise auszulegen ist. Auf welche Instanz soll es hier ankommen, welcher Spruchkörper soll den Maßstab fur die Auslegung vorgeben? Auf die jeweils letzte (eröffnete oder tatsächlich angerufene) Instanz abzustellen, hätte die merkwürdige Folge, daß die Richtigkeit (und nicht nur die Verbindlichkeit) der Normanwendung vom jeweiligen Instanzenzug abhinge. Zudem würde die notwendige Konsequenz dieser These befremden, daß sich die zutreffende Auslegung einer Norm etwa durch einen Richterwechsel im Senat eines Obergerichts ändern müßte. Die Auslegungsmaßstabskompetenz deshalb gleich jedem Richter für die von ihm anzuwendenden auslegungsbedürftigen Normen zuzusprechen, könnte freilich noch weniger befriedigen. Denn da es bei einem solchen Verständnis keinen vom jeweils erkennenden Richter losgelösten "Richtigkeitsmaßstab" gäbe, müßte bei konsequenter Durchführung dieses Ansatzes jede Entscheidung für "richtig" erachtet werden, die der Rechtsanwender unter Beachtung des von ihm selbst entwickelten Auslegungsmaßstabs träfe; auch die Obergerichte könnten dann nur schwer eine einheitliche Rechtsprechung gewährleisten, weil es zumindest begründungsbedürftig wäre, warum sie befugt sein sollten, "richtige" Entscheidungen der Instanzgerichte aufzuheben. Wenn die Einrichtung eines Instanzenzuges die Chance auf eine richtige Gesetzesanwendung verbessern soll, so liegt dem offensichtlich die Überzeugung zugrunde, daß sich die "Richtigkeit" der Gesetzesanwendung nicht nach der Vorstellung der beteiligten Richter bemißt, sondern nach einem diesen vorge-
1 3 6
Ähnlich Bydlinski , Methodenlehre, S. 453 f.
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Β. Grundlagen
gebenen Maßstab, der hier nur vom Gesetzgeber stammen kann. Eine gleichmäßige Gesetzesanwendung wäre jedenfalls schon rechtstheoretisch nicht mehr erreichbar, billigte man die Maßstabssetzung den Gerichten zu. (6) Loyalitätspflicht des Richters zur Kompensation gesetzgeberischer Unzulänglichkeiten Allerdings wächst mit der Unbestimmtheit eines Gesetzes die Gefahr, daß der Richter auch bei aller Sorgfalt das Gesetz bei seiner Entscheidung anders anwendet, als der Gesetzgeber intendiert hat 1 3 7 . Insofern zahlen die Bürger unvermeidlich den Preis für Mängel der Gesetzesformulierung. Der Gesetzgeber kann sich von dem Vorwurf, infolge schlechter und unzureichender Gesetzesformulierungen sei einer Partei Unrecht widerfahren - in dem Sinne, daß sie eine Rechtsfolge ertragen muß, die so vom legitimierenden Willen des Gesetzgebers nicht gedeckt ist -, nicht durch einen Verweis auf den Richter entziehen, der sich eben besser um die zutreffende Ermittlung des gesetzgeberischen Willens hätte bemühen müssen: wer Anlaß zu Mißverständnissen gibt, muß sich auch die negativen Konsequenzen zurechnen lassen. Das ändert aber nichts an der Pflicht des Richters, sich um die zutreffende Ermittlung jenes gesetzgeberischen Willens zu bemühen. Verfehlt er dieses Ziel trotz Beachtung aller sachgerechten Auslegungsmethoden, so kann ihm zwar nicht der Vorwurf gemacht werden, er habe das Gesetz "unrichtig" ausgelegt, denn mehr als ein methodisch korrektes Vorgehen kann vom Interpreten nicht verlangt werden 138 . Gerade weil der Gesetzgeber oftmals auslegungsbedürftige Gesetze erläßt, in vielen Fällen auch gar nicht umhin kann, unbestimmte Formulierungen zu verwenden, trifft den Richter jedoch die Pflicht, solche (unvermeidlichen) Unzulänglichkeiten zu kompensieren. Anstatt ihn aus seiner Gesetzesbindung zu entlassen, führt die Unbestimmtheit des Gesetzes also im Gegenteil erst recht dazu, daß sich der Richter bei der Auslegung in besonderer Weise um die Befolgung des Willens des Gesetzgebers zu bemühen hat. Zwar sitzt der Richter, eben weil die Gesetzesanwendung der Gesetzgebimg notwendig nachfolgt und auch vom Gesetzgeber nicht vorhergesehene Konstellationen auftreten können, in gewisser Weise stets am längeren Hebel, der ihn faktisch in die Lage versetzt, den gesetzgeberischen Entscheidungsmaßstab im Wege der Auslegung auszuhebein. Indes verstärkt die objektive
137 Vgl V m Savigny, System des heutigen Römischen Rechts I, S. 216, wonach der Erfolg der Auslegung "theüs von der Kunst des Auslegers, theüs aber auch von der Kunst des Gesetzgebers, in dem Gesetze viel von sicherer Rechtskenntniß niederzulegen", abhängt. 1 3 8 Vgl. Larenz y Methodenlehre, S. 294; Larenz/Canaris, f.; Scherner, BGB AT, S. 89.
Methodenlehre, S. 115
Π. Funktion und Maßstab der Auslegung
57
Theorie, indem sie die Auslegungsmaßstabskompetenz (unausgesprochen) dem Richter zuweist, diese (potentielle) Hebelwirkung in einem inakzeptablen Maße. Die Aushebelung des gesetzgeberischen Entscheidungsmaßstabs kann nach ihr nicht mehr nur - wie auch bei der subjektiven Theorie unvermeidlich - Folge einer gesetzgeberischen Fehlleistung oder eines (methodischen) Fehlers des Interpreten sein, sondern wird nachgerade zum Prinzip erhoben. Müßte der Gesetzgeber damit rechnen, daß der Richter bei jeder textinternen Unbestimmtheit seine eigenen Auslegungsmaßstabe heranzieht, so wäre er gezwungen, sich zur Verwirklichung seiner Ziele auf das - aussichtslose Unterfangen gesetzestechnischer Perfektion einzulassen und den Versuch zu unternehmen, für jeden Einzelfall eine schon dem Wortlaut nach eindeutige Regelung zu treffen. Jedes Gesetz müßte beispielsweise eine Vielzahl der umständlichsten Definitionen enthalten, um die Gerichte zu der Auslegung zu zwingen, die dem Willen des Gesetzgebers entspricht. Außerdem wäre dem Gesetzgeber der Gebrauch von Generalklauseln und der Regelbeispielsmethode in weitem Umfang verschlossen; stattdessen müßte er Zuflucht zu langen Enumerationskatalogen suchen, stets unter der Gefahr, irgendeine Fallkonstellation zu übersehen oder nicht zweifelsfrei ein- bzw. auszuschließen. Ein solches Vorgehen würde sowohl den Gesetzgeber überfordern als auch die Gesetzgebung ad absurdum fuhren 139 . Denn in letzter Konsequenz haben die objektiven Theorien mit der faktisch dahinter stehenden Auslegungsmaßstabskompetenz der Gerichte die absurde Folge, daß der Gesetzgeber sich gezwungen sehen kann, vor Erlaß einer Norm Anhörungen durchzuführen, wie die Norm in der Praxis wohl ausgelegt werden wird. Räumt man nämlich dem angeblichen "objektiven" Sinn und Zweck des Gesetzes - so wie er von den Gerichten verstanden wird - Vorrang gegenüber dem vom Gesetzgeber Intendierten ein, dann kann der Gesetzgeber subjektiv gar nicht wissen, was er nach Auffassung der Interpreten - "objektiv" gewollt haben wird. Um eine Verfälschung seines Willens nach Möglichkeit auszuschließen, bleibt ihm dann nur übrig, die Gesetzesanwender vorab über den Inhalt des geplanten Gesetzes zu befragen 140 . Damit büßt der Gesetzgeber freilich einen großen Teil der ihm nach dem Grundgesetz zukommenden Gestaltungsmacht ein, zumal er nicht einmal eine Garantie dafür besitzt, daß die Norm in praxi später tatsächlich so ausgelegt und angewendet wird, wie ihm bei der Anhörung in Aussicht gestellt wurde. Der Versuch, die Entscheidungsmaßstabskompetenz des Gesetzgebers durch Erlaß "perfekter" Gesetze zu sichern, ist nach aller Erfahrung zum Scheitern verurteilt. Dies wird sowohl durch die einschlägigen historischen Versuche in 139
Kirchhof
1 4 0
Treffend hierzu Depenheuer , DVBl. 1987, 809 f., 811 f.
Heidelberg-FS, S. 27 f.
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Β. Grundlagen
Deutschland141 als auch durch einen Blick etwa in den englischen Rechtsraum belegt, wo die an der Gesetzgebung beteiligten Personen beklagen, "daß die Gerichte insgesamt unseren Zielen nicht sympathisch gegenüberstehen, daß sie vielmehr einen Spaß daran finden, uns zu zeigen, um wieviel klüger sie sind als wir, und wie lächerlich unsere Gesetze sind" 142 . Lehnen die Gerichte den Primat des Gesetzgebers ab, so kann auch eine noch so ausgefeilte Gesetzgebungstechnik letztlich nicht verhindern, daß die vom Gesetzgeber verfolgten Zwecke bei der Auslegung und Anwendung seiner Gesetze unterlaufen werden. Wenn der Gesetzgeber seine Ziele erreichen will, so ist er demnach auf die Loyalität der Gerichte angewiesen. Indem das Grundgesetz dem Gesetzgeber die Vorrangstellung einräumt, macht es den Gerichten diese Loyalität zur Pflicht.
(7) Der Rechtsgedanke des § 133 BGB Die hier zur Auslegung von Gesetzen vertretene Auffassung entspricht dem Grundsatz des § 133 BGB, daß sich die Auslegung möglichst um die Ermittlung des "wirklichen Willens" des Erklärenden bemühen soll, und eine Erklärung nicht etwa nach dem Willen des Interpreten ausgelegt werden darf. § 133 BGB formuliert mit dieser Aussage einen allgemeinen Rechtsgedanken143; auch bei der Auslegung von Gesetzen ist nicht am buchstäblichen Sinn des Ausdrucks zu haften, sondern der "wirkliche Wille des Gesetzgebers" zu erforschen 144. Die Berufung auf § 133 BGB wird allerdings von bedeutenden Stimmen in der Literatur unter Hinweis auf die Verschiedenartigkeit der Situationen abge141
s. obenB. II. 1. c. Sir W. Graham Harrison , zitiert nach Fikentscher, Methoden II, S. 132. Die Reaktion des Parlamentes auf diese Lage hat Radbruch, Der Geist des englischen Rechts, S. 28 wie folgt treffend beschrieben: "Freüich trifft das Parlament seinerseits Maßnahmen gegen die Gefahr, daß das Gesetz durch solche Interpretationskünste seinem ursprünglichen Zwecke und Geiste entfremdet werde. Dazu soll die vorsichtige und umständliche englische Gesetzestechnik dienen, die Auflösung in vielfaltige Kasuistik, die Häufung bedeutungsähnlicher Ausdrücke, die Definitionen mögüchst aller im Gesetz verwendeten Worte, eine Gesetzestechnik außerordentlich schwerfälliger und unschöner Art." 1 4 2
143
RGZ 89, 187 f.; 96, 326, 327; 139, 110, 112; BGHZ 2, 176, 184; Krüger-Nieland/Zöller> RGRK-BGB, § 133 Rn 1, 50; Palandt/Heinrichs, BGB, Einl. Rn 34. 1 4 4
BGHZ 2, 176, 184; 3, 82, 84; 13, 28, 30; Brox y BGB AT, Rn 60; Enneccerus/ Nipperdey, BGB AT 1/1, S. 320; Heck, Gesetzesauslegung, S. 94, 152 ( = Studien und Texte II, S. 85, 101). Vgl. ferner die in vorstehender Fußnote Genannten, die allerdings unter Bezugnahme auf § 133 BGB eher objektivierend vom "wirklichen Willen des Gesetzes" sprechen.
Π. Funktion und Maßstab der Auslegung
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lehnt: Bei der rechtsgeschäftlichen Willenserklärung gehe es in aller Regel um Auslegung in der Zweierbeziehung von Erklärendem und Erklärungsempfänger, während der Gesetzgeber durch das Gesetz zu einer unüberschaubaren Zahl von Adressaten spreche 145. Dieser Einwand kann indes nicht darüber hinwegtäuschen, daß zwischen der Auslegung von Willenserklärungen bzw. Verträgen und der Auslegung von Gesetzen eine deutliche Parallele besteht 146 , die sich u. a. daran zeigt, daß bei der Vertragsauslegung natürlich auch der Kontext und die Entstehungsgeschichte (Vorverhandlungen, bestehende oder frühere Geschäftsbeziehungen) sowie die Äußerungen und Erklärungen der Verhandlungsführer vor und bei Vertragsschluß bedeutsam sind 1 4 7 . Richtig ist freilich, daß eine unbesehene Übertragung der rechtsgeschäftlichen Auslegungslehre auf die Auslegung von Gesetzen nicht in Betracht kommt. Insbesondere kann für die Gesetzesauslegung, im Unterschied zur Auslegung rechtsgeschäftlicher Willenserklärungen, nicht auf den Empfangerhorizont abgestellt werden, da dies angesichts der Vielzahl potentieller Normadressaten mit je unterschiedlichen "Horizonten" zu einer inakzeptablen Mehrdeutigkeit der Gesetzesauslegung fuhren müßte 148 . Allerdings gilt die Bezugnahme auf den Empfangerhorizont ja auch für privatrechtliche Willenserklärungen nur nachrangig 149; die eigentliche Aussage des § 133 BGB ist, daß sich der Erklärungsempfänger zuallererst redlich um die Ermittlung des "wirklichen Willens" des Erklärenden bemühen muß 1 5 0 , und diese Aussage
145 Ygi Larenz, Methodenlehre, S. 346 f.; Larenz/Canaris , Methodenlehre, S. 167 f.; Mayer-Maty , in MünchKomm BGB, § 133 Rn 38 (Berufung auf § 133 BGB als "Griff nach einer Krücke"); Soergel/Hefermehl , BGB, Anh. § 133 Rn 1; die Unterschiede zwischen der Auslegung von Gesetzen und Willenserklärungen betont auch Median , BGB AT, Rn 307 ff. 146
Staudinger /Dilcher,
BGB, §§ 133, 157 Rn 25.
1 4 7
Vgl. Erman/Brox , BGB, § 133 Rn 300; Larenz , BGB AT, S. 539 f.; Mayer Maty , in MünchKomm, BGB, § 133 Rn 7; Pawlowski , BGB AT, Rn 431; Staudinger/ Diktier , BGB, §§ 133, 157 Rn 25 ff. 1 4 8 s. dazu schon oben Β. I. 2. 1 4 9 Vgl. Erman/Brox , BGB, § 133 Rn 19; Larenz , BGB AT, S. 340 f.; Palandt/ Heinrichs , BGB, § 133 Rn 9. 1 5 0 Diese Bedeutung des § 133 BGB darf auch nicht unter Hinweis auf die Möglichkeit der Irrtumsanfechtung (§119 BGB) des Erklärenden relativiert werden. Denn es ist nicht § 119 BGB, der die Auslegungslast verteüt, sondern vielmehr regelt § 133 BGB die Frage, wer anfechten muß, und zwar dahin, daß es Sache des Erklärungsempflngers ist, sich redlich um ein richtiges Verstehen zu bemühen; versäumt er dies, so muß er ggf. seine eigene, durch ein etwaiges Mißverständnis veranlaßte Willenserklärung nach § 119 BGB anfechten. Den Erklärenden trifft die Anfechtungslast nur, wenn der Erklärungsempfanger die Erklärung trotz allen redlichen Bemühens nicht so versteht, wie sie der Erklärende meinte. Die Auslegung hat Vorrang vor der Anfechtung. Vgl. hierzu Erman/Brox , BGB, § 133 Rn 19; Krüger-Nieland/
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Β. Grundlagen
trifft auch für die Gesetzesauslegung zu. Daß die Erforschung des "wirklichen Willens" des Erklärenden an Grenzen stoßen kann, liegt in der Natur der Sache, rechtfertigt aber nicht, diese Defizienz zum Prinzip zu erheben und den Willen des Erklärenden schon gar nicht mehr für maßgeblich zu erachten. Wenn eine Rechtsordnung einer Erklärung rechtliche Bedeutung zumißt (sei es nun der rechtsgeschäftlichen Willenserklärung innerhalb der Privatrechtsordnung, sei es der "Willenserklärung" des Gesetzgebers im Rahmen der Verfassungsordnung), so dient dies in erster Linie dem Interesse des Erklärenden , dem die Verwirklichung seiner Zwecke ermöglicht werden soll, und nicht etwa dem Interesse des Erklärungsempfängers 151. Wird aber der Willenserklärung primär im Interesse des Erklärenden rechtliche Bedeutung zugemessen, so ist es folgerichtig, bei etwaigen Verständnisschwierigkeiten und Zweifeln vorrangig auf den Willen des Erklärenden abzustellen, weil nur so gewährleistet ist, daß der von ihm mit der Erklärung verfolgte Zweck weitestmöglich verwirklicht werden kann. Dies gilt auch für die Gesetzesauslegung, denn die Befugnis zum Erlaß von Gesetzen steht dem Gesetzgeber nach dem Grundgesetz zu, damit er die staatliche und gesellschaftliche Ordnung nach seinen Zwecken und Wertvorstellungen ordnen kann. Aus der bei Gesetzen u. U. sehr großen Zahl von Adressaten und damit Erklärungsempfangern folgt nicht die Notwendigkeit, die Gesetzesauslegung stärker zu objektivieren, als dies bei der Auslegung rechtsgeschäftlicher Willenserklärungen der Fall ist 1 5 2 . Daß nicht auf die vielen Erklärungsempfanger abgestellt werden kann, versteht sich, wie gesagt, von selbst, da es einer einheitlichen Auslegung bedarf. Indessen ermöglicht eine auf den Willen des Gesetzgebers abstellende und in diesem Sinne subjektivierende Auslegung die erforderliche Einheitlichkeit der Auslegung durchaus, und zwar, weil sie einen einheitlichen Bezugspunkt hat, sogar besser als die bezugspunktlose objektivierende Auslegung. Letztere muß nämlich für die Gesetzesauslegung allein auf allgemeine Zwecke und Rechtsprinzipien zurückgreifen, deren Heranziehung und Abwägung bei der Auslegung einer konkreten Norm schwierig sein und eine Mehrzahl von Deutungen zulassen kann. Bei einem objektivierenden Ansatz ist die Gefahr divergierender Auffassungen über die zutreffende Gesetzesauslegung deshalb größer als bei einem Abstellen auf den Willen des Gesetzgebers. Somit hat die in § 133 BGB gebrauchte Formel, es sei "der wirkliche Wille [des Erklärenden] zu erforschen", ihre Berechtigung durchaus auch in Kommunikationssituationen, in denen dem Erklärenden eine Vielzahl von Empfangern gegenübersteht. Zöller , BGB-RGRK, § 133 Rn 12; Pawlowski , BGB AT, Rn 440 f.; Scherner , BGB AT, S. 88. 151 Vgl. Erman/Brox , BGB, § 133 Rn 1; Scherner , BGB AT, S. 87. 1 5 2 So aber Mayer-Mafy , in MünchKomm BGB, § 133 Rn 38.
Π. Funktion und Maßstab der Auslegung
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(8) Zwischenergebnis Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, daß es den Gerichten i m Falle der Auslegungsbedürftigkeit von Gesetzen "von Verfassungs wegen verwehrt [ist], die gesetzgeberische Entscheidung i m Wege der Auslegung zu unterlaufen" 1 5 3 und "dem Gesetz einen Sinn zu unterlegen, den der Gesetzgeber ... nicht hat verwirklichen w o l l e n " 1 5 4 . Wenn also der Richter schon auch vor dem Hintergrund des Verbots der Entscheidungsverweigerung 155 eine Entscheidung darüber treffen muß, ob und wie das Gesetz in concreto angewendet werden kann, so hat er sich - sofern irgend möglich - zu jener Auslegung durchzuringen, durch die dem Willen des Gesetzgebers soweit Gefolgschaft geleistet wird, wie es der verabschiedete, obschon weiter auslegungsbedürftige Gesetzestext e r l a u b t 1 5 6 . Damit wird natürlich die Ermittlung dieses für die Auslegung maßgebenden gesetzgeberischen Willens zu einem zentralen Anliegen der juristischen M e t h o d i k 1 5 7 . Beispiel (2): Bei § 263a StGB war früher umstritten, ob die Alternative "unbefugte Verwendung von Daten" die Benutzung einer ec-Codekarte mit persönlicher Geheimnummer durch den Nichtberechtigten erfaßt. Der Wortlaut des Gesetzes ist insoweit nicht eindeutig; den Gesetzesmaterialien läßt sich jedoch klar entnehmen, daß der Gesetzgeber durch Einfügung dieser Alternative gerade den Codekartenmißbrauch erfassen wollte 1 5 8 . Geht man mit dem BGH und der h. M . davon aus, daß der (in der Tat ungeschickt gefaßte) Wortlaut des § 263a StGB den Codekar-
153
BVerfGE 63, 266, 289 (mit Bezug auf die Auslegung von Grundrechtseingriffsermächtigungen) . 1 5 4
BVerfGE 86, 59, 64. 155 v g l Radbruch , Rechtsphüosophie, S. 207. Vgl. ferner Koch/Räßmann , Juristische Begründungslehre, S. 181, die die "objektiv-teleologische Auslegung" mit dem Verbot der Entscheidungsverweigerung rechtfertigen wollen; dies verkennt indes, daß das Verbot der Entscheidungsverweigerung nicht geeignet ist, eine bestimmte Auslegungsmethode zu rechtfertigen: Selbst der Verzicht auf jegliche textexterne Auslegung hätte höchstens zur Folge, daß die betreffende Norm dann wegen Unbestimmbarkeit nicht angewendet werden könnte; dies implizierte aber keineswegs eine Entscheidungsverweigerung, weü die damit auftretende Gesetzeslücke immer noch im Wege der Rechtsfortbüdung geschlossen werden könnte. 156 In gleichem Sinne Brugger , AöR 119 (1994), 2; Koch/Rüßmann , Juristische Begründungslehre, S. 167 ff., 181, 210 ff.; Nettesheim , AöR 119 (1994), 263; Zippelius , Methodenlehre, S. 56; vgl. ferner BVerfGE 54, 277, 297 f.; Bydlinski , Methodenlehre, S. 430; Engisch , Einführung, S. 249 f. Anm. 106b; Larenz , Methodenlehre, S. 328, 344. 1 5 7 1 5 8
s. dazu unten D. III. Vgl. BT-Drucks. 10/5058, S. 30.
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Β. Grundlagen
tenmißbrauch (gerade noch) erfaßt 1 5 9 . so muß die Vorschrift dem Willen des Gesetzgebers entsprechend auf diese Fälle angewendet werden 1 6 0 .
cc) Maßgeblichkeit des dynamisch verstandenen Willens des historischen Gesetzgebers Soweit nach dem Vorstehenden der Wille des Gesetzgebers als Auslegungsmaßstab heranzuziehen ist, muß hierbei auf den Willen des historischen Gesetzgebers abgestellt w e r d e n 1 6 1 . A u f den Willen des jeweiligen aktuellen Gesetzgebers 1 6 2 kann es demgegenüber nicht ankommen, weil das Gesetz seine Legitimation von dem Gesetzgeber ableitet, der es erlassen hat, und der W i l l e des aktuellen Gesetzgebers zudem naturgemäß nicht in das Gesetz eingeflossen sein und seinen Inhalt bestimmt haben kann. Davon abgesehen wäre es befremdlich, einem Gesetz allein deshalb einen anderen Inhalt beizumessen, weil sich (ζ. B. nach einer Wahl) die politischen Mehrheitsverhältnisse i m Parlament geändert haben. Soweit der aktuelle Gesetzgeber die Entscheidungen des historischen Gesetzgebers nicht teilt, muß er sie durch Änderung des Gesetzes in dem verfassungsrechtlich vorgesehenen Verfahren korrigier e n 1 6 3 . Der Erlaß neuer Gesetze kann zudem über das teleologische Interpre-
1 5 9
BGHSt 38, 120, 121; Cramer , in Schönke/Schröder, StGB, § 263a Rn 18; Lackner/Kühl StGB, § 263a Rn 11 ff., 14; Wessels, Strafrecht BT-2, Rn 577 ff.; a. A. LG Wiesbaden, NJW 1989, 2551; Kleb-Braun, JA 1986, 259; Ranft, wistra 1987, 83, die hier von einer gänzlichen gesetzgeberischen FehUeistung ausgehen. 1 6 0 Vgl. BGHSt 27, 45, 50: "Läßt aber ... der vom Gesetzgeber verwendete Wortlaut mehrere Auslegungsmöglichkeiten zu, so ist zur Auslegung der gesetzgeberische Wille mit heranzuziehen". 161 So auch Depenheuer, Der Wortlaut als Grenze, S. 55; Engisch, Einführung, S. 88 ff., 96; Enneccerus/Nipperdey, BGB AT 1/1, S. 324 ff.; Roellecke, Der Staat 1995, 417; Säcker, in MünchKomm BGB, Einl. Rn 65, 108; vgl. ferner BGHZ 121, 116, 120. Zu Sonderfragen bei der Auslegung von Gesetzen, die nicht durch einen nach dem Grundgesetz konstituierten Gesetzgeber erlassen worden sind, s. unten D. V . 3. 1 6 2 Hierauf abstellend Maunz/Zippelius, Deutsches Staatsrecht, S. 44; Wank, Rechtsfortbüdung, S. 68 f.; Zippelius, Methodenlehre, S. 22; vom Grundansatz her auch Pawlowski, Methodenlehre, Rn 486; ders., Einfuhrung, Rn 182, 191, der freilich bei älteren Gesetzen nicht darauf verzichtet, die Zwecke des historischen Gesetzgebers zu ermitteln, das Ergebnis dieser "ersten Auslegungsstufe" aber korrigieren will, wenn sich aus späteren bzw. "höheren" (d. h. in der Verfassung verankerten) Bewertungen des Gesetzgebers etwas anderes ergibt. 163 Vgl. BGHSt 40, 30, 33 f. Nicht überzeugend daher insoweit Maunz/Zippelius, Deutsches Staatsrecht, S. 44; Zippelius, FG BVerfG II, S. 118, nach denen die Legitimationsgrundlage des heute zu praktizierenden Rechts nicht in der Vergangenheit, sondern in der Gegenwart liege, was sich insbesondere an der Verfügungsmacht der
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tationskriterium der Einheit der Rechtsordnung164 die Auslegung älterer Gesetze beeinflussen 165, doch auch hier ist eben ein Aktivwerden des aktuellen Gesetzgebers erforderlich; nicht etwa wird schlicht der Wille des historischen Gesetzgebers obsolet und durch den des aktuellen ersetzt. Aufgrund der Maßgeblichkeit des Willens des historischen Gesetzgebers für die Auslegung eines Gesetzes kann auch nicht ein bloßes Schweigen des (späteren) Gesetzgebers zu einer bestimmten richterlichen Gesetzesauslegung als Billigung und legislatorische Übernahme dieser Interpretation verstanden werden 166 ; erkennt das Gericht die Verfehltheit seiner Auslegung, so wird es deshalb durch ein solches Schweigen nicht an der Berichtigung seiner Rechtsprechung gehindert. Etwas anderes gilt nur dann, wenn der aktuelle Gesetzgeber im Zuge einer Gesetzesänderung die betreffende Norm nicht nur einfach ungeändert fortbestehen läßt, sondern sie im Wege einer positiven Entscheidung in die Konzeption seines neuen Gesetzes übernimmt. Hier kann diese Übernahme im Rahmen der historischen Interpretation oder - sofern sich die Zustimmung zu der gerichtlichen Auslegung der alten Norm aus den Materialien ergibt - auch im Wege der genetischen Interpretation 167 bei der Auslegung der Neufassung zugrundegelegt werden. Nur setzt dies eben ein aktives Tätigwerden des aktuellen Gesetzgebers voraus; bloßes Schweigen allein genügt nicht, da das gesetzgeberische Schweigen zu einer gerichtlichen Norminterpretation dieser keine normändernde Wirkung verleihen kann 1 6 8 . Gegen die Zugrundelegung des Willens des historischen Gesetzgebers wird freilich häufig eingewandt, daß dies die notwendige Berücksichtigung der aktuellen rechtlichen oder tatsächlichen Verhältnisse ausschließe und somit zu einer "Versteinerung" der Gesetze führe 169 . Dieser Einwand greift jedoch deswegen nicht durch, weil der Wille des historischen Gesetzgebers nicht als
gegenwärtigen Rechtsgemeinschaft über das überkommene Recht zeige. Diese Verfügungsmacht besteht nämlich nur darin, daß die überkommenen Gesetze im ordnungsgemäßen Verfahren geändert werden können, nicht aber bedeutet sie, außerhalb dessen Gesetzesänderungen im Wege der Interpretation herbeiführen zu können. 1 6 4
s. unten D. III. 2. c) bb) (2). BGHSt 40, 191, 194 ("Tendenz der neueren Gesetzgebung"); vgl. auch Enneccerus/Nipperdey, BGB AT 1/1, S. 320; Kratzmann, Volkssouveränität, S. 81 ff. 1 6 6 Vgl. BVerfGE 78, 20, 25; Leibholz/Rinck/Hesselberger, GG, Einl. Rn 8; a. A. V G H Kassel, NVwZ 1988, 857, 859; wohl auch Brohm, JZ 1985, 502 f. 1 6 7 Zur historischen und genetischen Interpretation s. unten D. III. 1. 168 Vgl. BVerfGE 78, 20, 25; vgl. ferner BVerfG, NJW 1995, 2615, 2620, wonach gesetzgeberisches Unterlassen nicht die Konzeption des geltenden Gesetzes verändern kann. 165
169 Vgl. etwa Schlink, Der Staat 1980, 102; Wotff/Bachof/Stober, I, § 28 Rn 62; ferner Kratzmann, Volkssouveränität, S. 21 ff.
Verwaltungsrecht
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Β. Grundlagen
statisch begriffen werden darf. Jeder Gesetzgeber ist sich bewußt, daß die von ihm erlassenen Gesetze aufgrund der Entwicklung der gesellschaftlichen und technischen Umstände einen "Alterungsprozeß" durchmachen 1 7 0 ; sein W i l l e ist deshalb dynamisch zu verstehen als auf eine jeweils zeitangemessene Gesetzesauslegung gerichtet 1 7 1 . Der ursprüngliche Wille des historischen Gesetzgebers bildet insofern zwar stets den Ausgangspunkt der textexternen Auslegung; er ist jedoch mit Blick auf die aktuellen tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse "fortzuschreiben" 172 . Damit besteht durchaus die Möglichkeit einer Anpassung der Gesetze an den "Wandel der Normsituation" 1 7 3 . Beispiel (3): Nach der Rechtsprechung des BGH kann der behandelnde Arzt in den Fällen einer schuldhaft mißlungenen Sterilisation sowie eines verhinderten oder mißlungenen Schwangerschaftsabbruchs aus embryopathischer oder kriminologischer Indikation wegen der Belastung der Eltern mit dem Kindesunterhalt auf Schadensersatz in Anspruch genommen werden. Der BGH ist sich dabei bewußt, daß es sich hier um eine Problematik handelt, welche "die herkömmliche Rechtsauffassung vor Anforderungen stellt, die der Gesetzgeber bei Schaffung des Bürgerlichen Gesetzbuches nicht vorher bedenken konnte". Das gesetzliche Haftungs- und Schadensrecht sei jedoch so zu interpretieren, daß es auf den medizinischen Fortschritt in der Fortpflanzungsmedizin "eine der hierfür von der Medizin in Anspruch genommenen Einwirkungs- und Steuerungskompetenz angepaßte Antwort geben" könne174.
1 7 0 BVerfGE 34, 269, 288; 82, 6, 12; Larenz, Methodenlehre, S. 350; a. A. Kratzmann, Volkssouveränität, S. 22, der jedoch zu Unrecht das Gesetz schlicht mit dem (natürlich nicht alternden) Gesetzestext gleichsetzt. 171
So auch Betti, Auslegungslehre, S. 632 ff., 640 ff.; Depenheuer, Der Wortlaut als Grenze, S. 56 f.; Enneccerus/Nipperdey, BGB AT 1/1, S. 320, 344 ff.; Eser/ Burkhardt, Strafrecht I, Nr. 1 A 10; Heck, Gesetzesauslegung, S. 87 ff., 176 ff.; Kratzmann, Volkssouveränität, S. 54 f.; Larenz, Methodenlehre, S. 318 f., 350 ff.; Lehmann/Hübner, BGB AT, S. 60 f.; Säcker, in MünchKomm BGB, Einl. Rn 108 f.; Schlehofer, JuS 1992, 576; Stauding er/Going, BGB, Einl. Rn 161; Stern, Staatsrecht I, S. 125; zur Problemstellung vgl. weiter BVerfGE 34, 269, 288 f.; BGHZ 52, 251, 255; BGHSt 10, 157, 159 f.; Brugger, AöR 119 (1994), 26 f.; Neuner, Rechtsfindung, S. 116 ff.; Pawlowski, Methodenlehre, Rn 100 ff., 463; Zippelius, Methodenlehre, S. 21 ff. 1 7 2 Vgl. Betti, Auslegungslehre, S. 632; Eser/Burkhardt, Strafrecht I, Nr. 1 Rn A 10; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 140; Zimmermann, NJW 1956, 1263 f. ("aktualisierter Wille" des Gesetzgebers). 17 3
Larenz, Methodenlehre, S. 350. BGHZ 124, 128, 144. Zu einem weiteren Beispiel für die Notwendigkeit eines dynamischen Verständnisses des gesetzgeberischen Willens s. unten Β. II. 3. Beispiel (4). 1 7 4
Π. Funktion und Maßstab der Auslegung
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dd) Der mutmaßliche Wille des Gesetzgebers als subsidiärer Auslegungsmaßstab Wenn nach dem Vorstehenden der Wille des Gesetzgebers als Auslegungsmaßstab herangezogen werden soll, so kann dies ersichtlich nur insoweit gelingen, als dieser Wille bekannt und in bezug auf das betreffende Auslegungsproblem hinreichend aussagekräftig ist. Deshalb erhebt sich unweigerlich die Frage, was zu geschehen hat, wenn sich der Wille des Gesetzgebers nicht oder jedenfalls nicht mit hinreichender Sicherheit ermitteln läßt oder wenn der ermittelbare Wille fur das in concreto zu lösende Auslegungsproblem nichts hergibt. In solchen Fällen wächst dem Rechtsanwender, namentlich dem Richter, zwangsläufig die bedeutsame Kompetenz zu, den notwendigen Auslegungsmaßstab selbst zu entwickeln. Denn ein noch auslegungsbedürftiges, weil inhaltlich imbestimmtes Gesetz kann aus logischen Gründen nicht auf einen konkreten Sachverhalt angewendet werden. Steht der Inhalt des Gesetzes nicht fest, so kann die Subsumtionsentscheidung nicht getroffen, die Rechtsfolgeanordnung nicht befolgt werden. Da diese Problematik auch dem Gesetzgeber gewärtig ist, kann vorausgesetzt werden, daß es durchaus seinem Willen entspricht, wenn der Richter das Gesetz notfalls nach von ihm zu entwickelnden Maßstäben auslegt, anstatt es ohne weitere Auslegung unrichtig oder überhaupt nicht anzuwenden. Die Legitimation zur Bildung solcher Auslegungsmaßstäbe ergibt sich dabei aus dem Wesen der Rechtsprechimg: Hat man erst einmal erkannt, daß Auslegungsverbote nichts fruchten und daß auch der (feststellbare) Wille des Gesetzgebers nicht für jede Auslegungsfrage eine eindeutige Antwort vorgibt, so muß dem Richter die Kompetenz zustehen, etwa fehlende Auslegungsmaßstäbe selbst herauszubilden. Die mittelbare demokratische Legitimation des Richters ist dann ausreichend, um das nach dem von ihm entwickelten Maßstab ausgelegte Gesetz mit diesem Inhalt als verbindlich zu betrachten. Die Tätigkeit des Richters erschöpft sich deshalb keineswegs in einem bloßen Nachvollzug der gesetzgeberischen Entscheidungs- und Auslegungsmaßstäbe, sondern beinhaltet durchaus auch bedeutsame eigenständige wertende und schöpferische Elemente 175 . Auch soweit der Richter den Auslegungsmaßstab hiernach selbst entwickeln muß, ist er allerdings nicht völlig frei, weil seine diesbezügliche Kompetenz ja gegenüber dem Willen des Gesetzgebers nur subsidiär ist. Er hat daher zum einen die gesetzgeberischen Vorgaben zu beachten und darf sich nicht über 175 Vgl. BVerfGE 34, 269, 287; Achterberg , in BK, Alt. 92 (Zweitb. 1981) Rn 129; Engisch , Einführung, S. 106 ff.; Hesse, Verfassungsrecht, Rn 56; Kirchhof \ Heidelberg-FS, 11 ff.; Larenz , Methodenlehre, S. 293 ff., 346; Larenz/Canaris , Methodenlehre, S. 114 ff., 166 f.; Roth , Faktische Eingriffe, S. 645.
5 Looschelders / Roth
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Β. Grundlagen
den feststellbaren Willen des Gesetzgebers hinwegsetzen. Zum anderen muß sich der Richter stets bewußt sein, daß die Auslegung mittelbar den Entscheidungsmaßstab bestimmt; da dessen Vorgabe aber wesensmäßig Aufgabe des Gesetzgebers ist, darf die Auslegung ebensowenig wie die Rechtsanwendung überhaupt nach dem individuellen Gerechtigkeitsgefühl des jeweiligen Richters erfolgen, sondern muß stets so vorgenommen werden, daß sie die demokratisch legitimierende Zustimmung des Gesetzgebers finden kann. Die Auslegung ist daher so durchzufuhren, wie der Rechtsanwender Grund hat anzunehmen, daß sie vom Gesetzgeber gewollt ist; sie muß sich mit anderen Worten am mutmaßlichen Willen des Gesetzgebers orientieren 176 . Infolgedessen läßt sich der Wille des Gesetzgebers generell als Auslegungsmaßstab heranziehen, wenn man sich darüber im klaren ist, daß es sich in Ermangelung eines feststellbaren tatsächlichen Willens um einen mutmaßlichen Willen handeln muß. Die Bestimmung dieses mutmaßlichen Willens ist dabei das schwierigste methodische Problem im Auslegungsprozeß177.
3· Die Grenzen der Auslegung Die vorstehend dargelegte Maßgeblichkeit des gesetzgeberischen Willens im Rahmen der textexternen Auslegung findet ihre Grenze im Gesetzestext, darf somit nicht dahin mißverstanden werden, daß mittels der Auslegung die vom Wortlaut des Gesetzes gezogenen Grenzen überschritten werden dürften. Formal kann dies schon damit begründet werden, daß die Auslegung nur Zweifel über den Inhalt des Gesetzes beheben soll, bei Überschreiten des Wortlautes aber sogar der Normhof verlassen wird und insofern gerade kein Zweifel vorliegt, vielmehr - vorbehaltlich der Möglichkeit einer Korrektur 178 - die Unanwendbarkeit der Norm feststeht. Der materielle Grund für diese Limitierung der Auslegung ist wiederum in den Vorschriften des Grundgesetzes über die Gesetzgebung zu sehen, wonach Gesetz eben nur das ist, was mittels des vorgeschriebenen Gesetzgebungsverfahrens ordnungsgemäß ins Gesetzblatt gekommen ist 1 7 9 . Der Wille des Gesetzgebers als solcher kann demgegenüber keine Bindungswirkung entfalten, weil nur der Gesetzestext Gegenstand der Beschlußfassung gewesen ist 1 8 0 . Ein streng subjektivistisches 1 7 6 1 7 7 178 1 7 9 1 8 0
Vgl. Looschelders /Roth, JZ 1995, 1046. s. hierzu unten D. III. 2. s. dazu unten Ε. II. s. hierzu oben B. II. 1. a).
Ähnlich Lackner, Heidelberg-FS, S. 56. Zum Vorrang des (eindeutigen) Wortsinns gegenüber dem Willen des Gesetzgebers im Rahmen der Auslegung vgl. Engisch, t Einführung, S. 249 f. Anm. 106b; Koch/Rüßmann, Juristische Begründungs-
Π. Funktion und Maßstab der Auslegung
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Auslegungsverständnis, wonach Auslegungsziel die Ermittlung des Inhalts des Gesetzes wäre, so wie es vom Gesetzgeber gewollt war, reduzierte den Gesetzestext zu einem bloßen Indiz iur diesen Willen, neben das weitere gleichoder sogar vorrangige Indizien t r ä t e n 1 8 1 ; dies stellte eine mit den grundgesetzlichen Vorgaben nicht zu vereinbarende Abwertung des Gesetzestextes dar. Der Vorrang des Gesetzestextes wird hiernach dadurch gewahrt, daß der Wortlaut des Gesetzes als Auslegungsgrenze zu beachten b l e i b t 1 8 2 . Was jenseits des noch möglichen Wortsinns liegt, mit ihm auch bei weitestem Wortlautverständnis nicht mehr vereinbar ist, kann nicht als Inhalt des Gesetzes gelten, so wie es erlassen worden i s t 1 8 3 . Der Übergang von der textinternen zur textexternen Auslegung hat somit zur Folge, daß der Text des Gesetzes seine Funktion wechselt: Er ist nicht mehr Mittel der Auslegung, sondern bildet dessen Grenze 184. Beispiel (4): Die Begrenzungsfunktion des Gesetzeswortlauts gegenüber der Berücksichtigung des Willens des Gesetzgebers zeigte sich bei der Frage, ob der Qualifikationstatbestand des § 3 Abs. 1 Nr. 6 Preuß. Gesetz betr. den Forstdiebstahl (PrFDG) vom 15. 4. 1 8 7 8 1 8 5 die Ausführung eines Forstdiebstahls unter Verwendung eines Kraftfahrzeugs erfaßte. Ihrem Wortlaut nach setzte die Vorschrift voraus, daß "zum Zwecke des Forstdiebstahls ein bespanntes Fuhrwerk, ein Kahn oder ein Lastthier mitgebracht ist". Der Gesetzgeber wollte mit dieser Aufzählung sämtliche Transportmittel erfassen, mit deren Hüfe sich größere Mengen Diebesgut fortschaffen lassen; Kraftfahrzeuge wurden nur deshalb nicht genannt, weü sie in der damaligen Zeit nicht verfügbar waren. Die Erfassung des Forstdieblehre, S. 182; F. Müller , Juristische Methodik, S. 182 ff.; a. A. Säcker , in MünchKomm BGB, Einl. Rn 98 ff. 181 So ausdrücklich Säcker , in MünchKomm BGB, Einl. Rn 100; Zimmermann, NJW 1956, 1263; in gleichem Sinne schon Heck , Gesetzesauslegung, S. 138 ff., 152, 156 f. 1 8 2 Vgl. Bydlinski , Methodenlehre, S. 441, 467 f.; Canaris , Lücken, S. 21 ff.; Engisch y Einführung, S. 100, 104 f., 150, 249 f. Anm. 106b; Enneccerus/Nipperdey , BGB A T 1/1, S. 320, 325 Fn 3, 330; Hassold , Larenz-FS (1983), S. 218; Jescheck, Strafrecht AT, S. 142; Koch/Rüßmann , Juristische Begründungslehre, S. 182; Larenz , Methodenlehre, S. 322, 343; F. Müller , Juristische Methodik, S. 183 ff.; Nettesheim , AöR 119 (1994), 263; Neuner , Rechtsfindung, S. 90 ff., 102 f.; Raisch , Nutzen, S. 29; ders ., Methoden, S. 142 ff.; Ramm, Einführung in das Privatrecht, S. 29; Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, § 28 Rn 58; Zippelius , Methodenlehre, S. 43; ferner BVerfGE 71, 81, 115; 83, 130, 144; 87, 209, 224; 92, 1, 12; BGHZ 46, 74, 76; BGHSt 40, 272, 279; BVerwGE 90, 265, 269. Zur Bedeutung der Wortlautgrenze im Strafrecht s. unten E. III. 2. c). 183
Larenz , Methodenlehre, S. 343. 184 vgl. Depenheuer , Der Wortlaut als Grenze, S. 17 f., 58, der allerdings davon ausgeht, der Wortlaut des Gesetzes könne nicht zugleich Gegenstand und Grenze der Auslegung darstellen. 185 PrGS, S. 222 (Nr. 8566). 5*
68
Β. Grundlagen
stahls mit Kraftfahrzeugen entspräche somit offensichtlich dem (mutmaßlichen) Willen des Gesetzgebers 186. Der BGH hat § 3 Abs. 1 Nr. 6 PrFDG dementsprechend fur anwendbar erklärt 1 8 7 . In Anbetracht der insoweit eindeutigen Wortlautgrenze hätte die Vorschrift jedoch nicht im Wege der Auslegung auf den Forstdiebstahl mit Kraftfahrzeugen erstreckt werden dürfen, denn diese sind nun einmal keine "bespannten Fuhrwerke" 188 ; der Wille des Gesetzgebers wäre nur durch ergänzende bzw. korrigierende Rechtsfortbüdung zu verwirklichen gewesen, was im Strafrecht indes im Hinblick auf Art. 103 Abs. 2 GG problematisch i s t 1 8 9 . Hätte der Gesetzgeber des PrFDG die Strafschärfung hingegen nicht an die Benutzung eines "bespannten Fuhrwerks" geknüpft, sondern allgemeiner von einem "Fahrzeug" gesprochen, so bestünden keine vernünftigen Zweifel darüber, daß auch die Verwendung eines PKW von der Norm erfaßt worden wäre. Der Wortlaut hätte dann der Berücksichtigung des entsprechenden gesetzgeberischen Willens nicht entgegengestanden. Zwar konnte sich der Gesetzgeber von 1878 unter einem "Fahrzeug" womögüch nur ein Pferdefuhrwerk vorstellen, so daß der historische Wille in diesem Sinne zu verstehen wäre. Da jedoch davon auszugehen ist, daß der Gesetzgeber auch alle technischen Fortentwicklungen von Transportmitteln hätte erfassen wollen, fielen bei einem dynamisch verstandenen historischen Willen auch PKW unter den Fahrzeugbegriff des historischen Gesetzgebers.
In der Literatur wird mitunter angenommen, der Wille des Gesetzgebers stelle neben dem möglichen Wortsinn eine zweite Grenze der Auslegung dar 1 9 1 . Dies ist insofern mißverständlich, als der Wille des Gesetzgebers bei der Auslegung nur innerhalb der Wortlautgrenze berücksichtigt werden kann 1 9 2 , dort dann allerdings auch eingrenzend. Bei eindeutigem Wortlaut läßt sich eine einschränkende Auslegung einer zu weit gefaßten Norm daher
186
So auch Decken, JA 1994, 412, 415; Schlehofer, JuS 1992, 572, 576.
1 8 7
BGHSt 10, 375.
188
Vgl. G. Wolf, JuS 1996, 194. Α. A. Jakobs, Strafrecht AT, Rn 4/34, wonach "bespanntes Fuhrwerk zum juristischen terminus technicus für gezogene und angetriebene Landfahrzeuge interpretiert werden kann"; gegen einen derart "esoterischen" Sprachgebrauch zu Recht Roxin, Strafrecht AT I, § 5 Rn 37. 1 8 9 Ablehnend gegenüber der Entscheidung deshalb Eser, in Schönke/Schröder, StGB, § 1 Rn 56; Roxin, Strafrecht AT I, § 5 Rn 34; G. Wolf JuS 1996, 194; dem BGH zustimmend hingegen Jakobs, Strafrecht AT, Rn 4/41; Jescheck, Strafrecht AT, S. 142. Ausführlich zum Problem des strafrechtlichen "Analogieverbots" unten E. III. 2. c). 1 9 0
Zur Notwendigkeit eines dynamischen Verständnisses des gesetzgeberischen Willens s. oben Β. II. 2. d) cc). 191
So Hassold, Larenz-FS (1983), S. 211 ff., 220; Larenz,
Methodenlehre,
S. 318. 1 9 2 So auch BVerfGE 54, 277, 297 f.; Engisch, Einführung, S. 249 f. Anm. 106b; Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 215, 217; anders auf der Grundlage einer rein subjektiven Auslegungstheorie Heck, Gesetzesauslegung, S. 152 f., 156; Säcker, in MünchKomm BGB, Einl. Rn 98 ff.
19
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nicht mit der Erwägung rechtfertigen, der betreffende Fall solle nach dem Willen des Gesetzgebers nicht erfaßt werden 193 . Die Reichweite einer Norm wird also nicht gleichrangig durch Wortlaut und Willen des Gesetzgebers begrenzt, vielmehr besteht bei der Auslegung eine klare Stufenfolge zwischen dem primär relevanten Wortlaut und dem bloß hilfsweise relevanten Will e n 1 9 4 . Insoweit aber der Wortlaut des Gesetzes einen Auslegungsspielraum läßt, ist zu dessen Ausfüllung auf den Willen des Gesetzgebers abzustellen, der in diesem Sinne dann auch eine auslegungsbegrenzende Funktion erhält. Mißverständlich ist dabei jedoch, wenn von den Vertretern der sog. "Andeutungstheorie " formuliert wird, der Wille des Gesetzgebers könne für die textexterne Auslegung nur insoweit Bedeutung haben, als er im Gesetzestext "angedeutet" sei, in diesem seinen (wenngleich unvollkommenen) Ausdruck bzw. Niederschlag gefunden habe 195 . Solche Formulierungen erwecken den Eindruck, als sei für die Berücksichtigungsfahigkeit des gesetzgeberischen Willens im Rahmen der Auslegung mehr erforderlich als die bloße Vereinbarkeit mit dem Text des Gesetzes, als müsse dieser Text nachgerade auf den Willen des Gesetzgebers hindeuten. Dies ist aber nicht zutreffend, denn so sehr es wünschenswert ist, daß der Gesetzgeber seinem Willen im Gesetzestext möglichst eindeutig Ausdruck verleiht, so genügt es den verfassungs-
193
So auch Larenz , Methodenlehre, S. 391; Zippelius , Methodenlehre, S. 56. Abweichend etwa BGHSt 39, 36, 38, wonach der Wortlaut einer Vorschrift zwar die "äußerste Grenze einer ausdehnenden Auslegung" darstellt, einer "mit Hüfe der üblichen Methoden vorgenommenen einschränkenden Auslegung" aber zugänglich sei. Infrage kam allenfalls eine Restriktion der Norm. Da Art. 103 Abs. 2 GG auch einer zugunsten des Angeklagten eingreifenden teleologischen Reduktion nicht entgegensteht, wirkte sich die unzutreffende methodische Einordnung im konkreten Fall zwar nicht auf das Ergebnis aus; daß es sich gleichwohl keineswegs um eine rein terminologische Frage handelt, zeigt sich indes spätestens dann, wenn es um die Restriktion einer strafbarkeitseinschränkenden oder -ausschließenden Norm geht, weü insofern zwar eine einschränkende Auslegung im Rahmen des Wortlautes grundsätzlich möglich ist, eine wortlautüberschreitende Restriktion zu Lasten des Angeklagten im Hinblick auf Art. 103 Abs. 2 GG aber allenfalls unter strengen Voraussetzungen zulässig sein kann (s. unten E. III. 2. c). Im übrigen ist zu beachten, daß die in BGHSt 39, 36 und BGHSt 39, 330 begründete "einschränkende Auslegung" der §§ 239a, 239b StGB durch BGHSt (GrS) 40, 350, 355 ff. auch in sachlicher Hinsicht.überholt ist. 1 9 4 Theoretisch ist sogar denkbar, daß der Wortlaut einer Norm keinen Fall erfaßt, der nach dem Willen des Gesetzgebers erfaßt werden sollte. Hier ist es nicht so, daß die Norm keinen (möglichen) Anwendungsfall hat; vielmehr bestimmt sich der Anwendungsbereich solchenfalls allein nach dem vom Wortlaut klar bezeichneten Normkern. Der abweichende Wille des Gesetzgebers kann freilich eine Korrektur des Gesetzes rechtfertigen. 195
Vgl. Enneccerus/Nipperdey , BGB AT 1/1, S. 325; Engisch , Einführung, S. 249 Anm. 106b; Hassold , Larenz-FS (1983), S. 211, 218 f.; ferner BVerfGE 86, 59, 64.
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Β. Grundlagen
rechtlichen Anforderungen doch, wenn der Text überhaupt ein Wortverständnis zuläßt, das sich mit diesem Willen deckt, der mögliche Wortsinn also einer dem Willen des Gesetzgebers gemäßen Auslegung nicht entgegensteht. Wenn letzteres der Fall ist, dann kann der Wille des Gesetzgebers nicht mit der Begründung fur unbeachtlich erklärt werden, er finde sich im Gesetzestext nicht wieder. Sofern nämlich ein bestimmter Sachverhalt nach einem möglichen Textverständnis von der auszulegenden Norm erfaßt wird, kann man schlecht behaupten, der Wille des Gesetzgebers, eben diesen Sachverhalt zu erfassen, habe keinen "Ausdruck" im Gesetz gefunden. Innerhalb der Grenze des noch möglichen Wortsinns können und müssen somit nach Abschluß der textinternen Auslegung verbleibende Zweifelsfragen im Wege der Auslegung unter Heranziehimg des gesetzgeberischen Willens entschieden werden 196 . Bereits an dieser Stelle sei aber darauf hingewiesen, daß der Wille des Gesetzgebers selbst dort, wo der Gesetzestext eindeutig ist oder jedenfalls der Berücksichtigung des gesetzgeberischen Willens schon bei der Auslegung entgegensteht, keineswegs irrelevant ist. Wie noch zu zeigen sein w i r d 1 9 7 , kommt ihm nämlich bei der - nicht an die Wortlautgrenze gebundenen - Korrektur von Gesetzen maßgebliche Bedeutung zu, und zwar sowohl zur Rechtfertigung wie zur Begrenzung der Statthaftigkeit solcher Korrekturen. Der Vorrang des Gesetzestextes betrifft also lediglich die Phase der Norminterpretation und bedeutet keineswegs eine sklavische Unterwerfung der Normanwendung unter den Gesetzeswortlaut.
196 1 9 7
Zu den dabei maßgeblichen Auslegungsmethoden s. unten D. III. s. unten E. II. 1. b).
I I I . Hermeneutik und richterliches "VorVerständnis" im Prozeß der Rechtsanwendung Die vorstehend hergeleiteten Aussagen, daß der Gesetzgeber dem Rechtsanwender durch die Gesetze Entscheidungsmaßstabe vorgibt und daß sich die zur Behebung etwaiger Unklarheiten über den Gesetzesinhalt erforderliche Auslegung nach dem Willen des Gesetzgebers zu richten hat, setzen stillschweigend voraus, daß es dem Rechtsanwender jedenfalls grundsätzlich möglich ist, den Gesetzgeber richtig zu verstehen, d. h. so, wie dieser seine Gesetze verstanden sehen wollte. Wie und unter welchen Bedingungen es einem Erklärungsempfänger möglich ist, die von einem anderen abgegebene Erklärung im selben Sinn zu verstehen wie der Erklärende, ist Untersuchungsgegenstand der Hermeneutik^. Der Begriff "Hermeneutik" wird freilich, worauf zur Vermeidung von Mißverständnissen hinzuweisen ist, in unterschiedlichem Sinne gebraucht. In einem spezifischen Sinne steht "Hermeneutik" für eine bestimmte philosophische Richtung, die die Bedingungen der Möglichkeit von Sinnverstehen überhaupt beschreibt und insofern als "Transzendentalphilosophie"2 bezeichnet werden kann3. Die Auswirkungen dieser philosophischen Richtung auf das theoretische Verständnis der juristischen Auslegungsmethodik können hier nicht näher untersucht werden. Für die praktische Gesetzesanwendung ist jedenfalls vorauszusetzen, daß ein solches Verstehen möglich ist 4 . Könnte der Rechtsanwender nämlich den Gesetzgeber aus prinzipiellen Gründen nicht verstehen, so wäre Gesetzgebung weitgehend sinnlos und eine durch gesetzliche Entscheidimgsmaßstäbe geleitete Rechtsanwendung ausgeschlossen5. Von der Möglichkeit eines solchen
1
Vgl. Hassold, Larenz-FS (1983), 213 f.; Neuner, Rechtsfindung, S. 89; Winkler, JuS 1995, 1058. 2
Kant, Kritik der reinen Vernunft, 2. Aufl. 1787, in: Gesammelte Schriften III, Β 25: "Ich nenne alle Erkenntnis transzendental, die sich nicht so wohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen, so fern diese a priori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt. Ein System solcher Begriffe würde Transzendental-Phüosophie heißen". 3 Vgl. Arthur Kaufmann, Problemgeschichte der Rechtsphüosophie, S. 121 ff., 160 f.; ferner Raisch, Methoden, S. 205 f.; Schroth, Hermeneutik, S. 344 ff. 4 In diesem Sinne auch Depenheuer, DVB1. 1987, 812; Roxin, Strafrecht A T I, § 5 Rn 37. 5
In diesem Sinne aber etwa Hassemer, Rechtssystem und Kodifikation, S. 259:
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Β. Grundlagen
Verstehens geht ersichtlich auch das Grundgesetz aus, wenn es den Richter in Art. 20 Abs. 3 und Art. 97 Abs. 1 an Gesetz und Recht bindet: Zwar bliebe die Bindung an das Recht bestehen, die Bindung an das Gesetz liefe aber leer, wenn es ohnehin nicht zu verstehen wäre 6. Gewiß vermag auch das Grundgesetz keine hermeneutischen und erkenntnistheoretischen Zweifelsfragen zu entscheiden. Indessen wäre es nicht statthaft, unter Berufung auf eine bestimmte philosophische Richtung diese verfassungsrechtlichen Kernaussagen als effektiv gegenstandslos betrachten zu wollen. Dies gilt umso mehr, als die Beobachtung der Praxis keineswegs ergibt, daß sich der Gesetzgeber durch die Gerichte in zahlreichen Fällen mißverstanden fühlte, denn sonst müßte es viel öfter klarstellende und die Rechtsprechung korrigierende Gesetze geben. Für die praktische Rechtsanwendung ist deshalb nicht so sehr von Bedeutung, ob Gesetze überhaupt richtig verstanden werden können, sondern vor allem, wie dies zu bewerkstelligen ist und welche Probleme dabei bestehen. Um solche Fragen geht es der Hermeneutik in einem allgemeineren Sinne als Lehre vom richtigen Verstehen schriftlich oder auf andere Weise fixierter Geisteswerke7; die Auslegung juristischer Texte ist in diesem Sinne eine hermeneutische Problemstellung 8. Eine in theoretischer Hinsicht sehr interessante Frage ist, inwieweit die methodischen Grundsätze, die für die Interpretation von Geisteswerken aus anderen Bereichen (Religion, Philosophie, Literatur) entwickelt worden sind, auch bei der Auslegung textlich fixierter Rechtsnormen zu beachten sind, d. h. inwieweit es allgemeine hermeneutische Gesichtspunkte gibt, die für jede Textinterpretation gelten9. Soweit sich solche allgemeingültigen hermeneutischen Gesichtspunkte feststellen lassen, dürfen sie natürlich auch bei der Handhabung der juristischen Methodik nicht vernachlässigt werden. Vor einer unbesehenen Übernahme methodischer Erkenntnisse aus anderen Gebieten der Geisteswissenschaft ist allerdings zu warnen 10. Denn es ist durchaus ein Un-
"Es ist offenbar widersinnig, entgegen den Erkenntnissen zur Vagheit und Porosität von Gesetzesbegriffen oder zum je differenten richterlichen Vorverständnis darauf zu beharren, der Richter müsse sich streng an das Gesetz halten. Er kann es nicht". 6
So auch Depenheuer , DVB1. 1987, 812; Neuner , Rechtsfindung, S. 88: "Die richterliche Bindung an das Gesetz gem. Art. 20 III GG setzt die Möglichkeit des Verstehens von Rechtstexten voraus". Zur Kritik an der Konzeption von Hassemer vgl. ferner Larenz, Methodenlehre, S. 155 f. 7
Vgl. Fikentscher , Methoden III, S. 429 ff.; Mayer-Maly , Rechtswissenschaft, S. 58. 8 Vgl. Coing , Rechtsphilosophie, S. 261. 9 Vgl. dazu Betti , Auslegungslehre, S. 600 ff.; Coing , Rechtsphüosophie, S. 261 ff. 10
Vgl. Engisch , Einfuhrung, S. 92; Schroth , Hermeneutik, S. 349 f.
. Hermeneutik und richterliches "Vorverstndnis"
73
terschied, ob beispielsweise ein poetischer Text ästhetische Gefühle im Leser wecken soll, ob eine philosophische Schrift Erkenntnisse in bezug auf bestimmte Grundfragen der menschlichen Existenz vermitteln, dabei aber auch zu Widerspruch und Weiterdenken einladen soll, ob ein religiöser Text Einsichten in tiefere Seinsschichten und das transzendentale Wesen Gottes ausdrücken soll, das für je verschiedene Menschen unterschiedlich erfahrbar sein mag, oder ob ein Gesetzestext einen grundsätzlich unbedingten normativen Achtungs- und Befolgungsanspruch gegenüber jedermann erhebt 11 . Der Verbindlichkeitsgrad ist im letzteren Falle ersichtlich ungleich größer, die interpretative Freiheit dementsprechend ungleich kleiner, als dies bei anderen Textgattungen der Fall sein mag, und dieser Unterschied kann nicht ohne Folgen für die Wahl und die Ausgestaltung der Methoden der Textbehandlung bleiben 12 . Von grundsätzlicher Bedeutung für die Einschätzung der juristischen Methodik ist die Erkenntnis der Hermeneutik, daß jeder Interpret mit einem gewissen "Vorverständnis" an seine Aufgabe herangeht und daß das von ihm zu gewinnende Verständnis von der (schriftlichen) Erklärung daher nicht völlig unbeeinflußt von den subjektiven Vorstellungen und Wertungen sein kann, die er in den Auslegungsprozeß einbringt 13. In diesem Zusammenhang wird auch von dem "hermeneutisehen Zirkel" des Verstehensprozesses gesprochen 14 : Dieser "Zirkel" ergibt sich aus der Erwägung, daß niemand etwas verstehen kann, von dem er im Ausgangspunkt überhaupt kein Wissen und keine Vorstellungen hat; es bedarf nämlich bereits eines gewissen Vorwissens oder Vorverständnisses in bezug auf den zu erkennenden Gegenstand, um den Verstehensprozeß erst einmal einzuleiten15. Das Vorwissen oder Vorver-
11 Vgl. Betti, Auslegungslehre, S. 613 ff., 627; F. Müller, Juristische Methodik, S. 124. 12
Zu den für die Auslegung von Gesetzen maßgeblichen juristischen Methoden s. unten D, 13
Vgl. Engisch, Einführung, S. 98; Esser, Vorverständnis, S. 7, 23 f., 122 ff., 136 ff.; Hassemer, Einführung, S. 84 ff.; Heun, AöR 116 (1991), 202 f.; Larenz, Methodenlehre, S. 207 ff.; ders., E. R. Huber-FS, S. 296 ff.; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 27 ff.; Radbruch/Zweigert, Einführung, S. 169; Schenke, AöR 103 (1978), 578; Seibert, FamRZ 1995, 1457. 14 Vgl. Bydlinksi, Methodenlehre, S. 443; Esser, Vorverständnis, S. 122, 135 ff.; Fikentscher, Methoden III, S. 430; Arthur Kaufmann, Problemgeschichte der Rechtsphüosophie, S. 6, 162; Larenz, Methodenlehre, S. 206 ff.; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 27 ff.; Pawlowski, Einführung, Rn 232; ders., Rechtswissenschaft, S. 64 ff., 67; krit. Kuhlen, Die Objektivität von Rechtsnormen, S. 117 ff. 15
Vgl. Kant, Logik, 1800, in: Gesammelte Schriften IX, Einl. IX, S. 75: "Die vorläufigen Urtheile sind sehr nöthig, ja unentbehrlich für den Gebrauch des Verstandes bei allem Meditiren und Untersuchen. Denn sie dienen dazu, den Verstand bei
Β. Grundlagen
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ständnis ermöglicht insofern die Bildung einer Ausgangshypothese über den Inhalt des zu verstehenden Textes, die in einer - vielleicht noch sehr vagen Sinnerwartung besteht16. Erweist sich die Ausgangshypothese bei näherer Prüfung als unzutreffend, so ist sie entsprechend zu korrigieren; der weiteren Untersuchung ist dann diese korrigierte Hypothese zugrundezulegen. Wird die Ausgangshypothese hingegen bestätigt, so ist der Interpret doch keineswegs an seinen Ausgangspunkt zurückgelangt, denn seine anfangliche Vermutung hat sich in Gewißheit verwandelt 17. Der Prozeß des Verstehens stellt somit keinen wirklichen Zirkel dar, sondern schreitet in der Form einer "Spirale" oder "Schraube" von Annahmen und Vermutungen aus zu immer genauerem Wissen fort 18 . Ob der Prozeß des Verstehens wirklich zu einem solchen Erkenntnisfortschritt führen kann, muß freilich noch geklärt werden. Der "hermeneutische Zirkel" könnte sich nämlich auch als echter Zirkel erweisen, als "circulus vitiosus", in dem der Interpret befangen ist und aus dem es kein wirkliches Entrinnen gibt 19 . Eine solche negative Sichtweise des hermeneutischen Zirkels wird dadurch nahegelegt, daß der Begriff "Vorverständnis" - zumal wenn er als Synonym zu "Vorurteil" gebraucht wird 2 0 - tendenziell negativ besetzt ist 2 1 . Es stellt sich insofern die Frage, ob jemand, der mit einem gewissen seinen Nachforschungen zu leiten und ihm hierzu verschiedene Mittel an die Hand zu geben"; ferner Depenheuer, Der Wortlaut als Grenze, S. 15; Fikentscher, Methoden III, S. 430; Larenz, E. R. Huber-FS, S. 297; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 29; F. Müller, Juristische Methodik, S. 164 f.; Pawlowski, Studium der Rechtswissenschaft, S. 64 ff.; Seifferty Hermeneutik, S. 211 ff. 16
Vgl. Esser, Vorverständnis, S. 136 ff.; Arthur Kaufmann, Problemgeschichte der Rechtsphilosophie, S. 6, 161 f.; Larenz, Methodenlehre, S. 206 ff.; Larenz/ CanariSy Methodenlehre, S. 27 ff. 17
Larenz, Methodenlehre, S. 207; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 28. Vgl. Fikentscher, Methoden III, S. 430; Larenz, Methodenlehre, S. 206 f.; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 28 f.; Pawlowski, Studium der Rechtswissenschaft, S. 62 ff., 67; ders. y Einführung, Rn 232 Fn. 147; Seiffert, Hermeneutik, S. 211 ff. 18
19 Krit. insoweit Kuhlen, Die Objektivität von Rechtsnormen, S. 118, der die neueren Hermeneutiker dahingehend versteht, daß. "der Einfluß des Vorverständnisses auf das Ergebnis des Verstehensprozesses in dessen Verlauf allenfalls modifiziert, nicht aber ausgeschaltet werden kann", und ebda., S. 125 darauf hinweist, daß "mit der Rede vom Zirkel ... bestritten zu werden [scheint], daß die vorgefaßten Meinungen im Verlauf des Interpretationsverfahrens an von ihnen unabhängigen Überprüfungsinstanzen scheitern können"; ferner Picker, JZ 1988, 6. 2 0 So etwa Hassemer, Einführung, S. 86; Hesse, Verfassungsrecht, Rn 62 f.; Arthur Kaufmann, Problemgeschichte der Rechtsphüosophie, S. 2 f., 31; Winkler, JuS 1995, 1060. 21 Kant, Logik, 1800, in: Gesammelte Schriften IX, Einl. IX, S. 75: "Ein jedes Vorurtheil ist als ein Princip irriger Urtheüe anzusehen"; vgl. ferner Larenz, Metho-
. Hermeneutik und richterliches "Vorverstandnis"
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Vorverständnis oder Vorurteil an die Auslegung eines Textes herangeht, nicht immer nur ein durch sein Vorverstehen bedingtes Textverständnis erlangen kann; auch wenn das so gewonnene Textverstandnis modifizierend auf das Vorverstandnis zurückwirkt, mag diese Rückwirkung vielleicht keinen echten Erkenntnisfortschritt bewirken, da sie ja ihrerseits vorverständnisbedingt ist. Wäre diese Vorstellung zutreffend, so erschiene eine juristische Methodik, die maßgeblich auf den Willen des Gesetzgebers abstellt, von vornherein als undurchführbar und vom Ansatz her fragwürdig, weil es dem in seinem Vorverständnis befangenen Rechtsanwender gar nicht möglich wäre, den Willen des Gesetzgebers zutreffend zu ermitteln. Von daher stellt sich die Frage, welche Bedeutung dem Vorverständnis des Rechtsanwenders, namentlich also des Richters, im Prozeß der Rechtsanwendung zukommt. Um diese Frage beantworten zu können, ist zunächst genau zu unterscheiden, worauf sich ein etwaiges "Vorverständnis" des Rechtsanwenders beziehen kann: Der Rechtsanwender mag erstens ein Vorverständnis in bezug auf den konkreten Sachverhalt mit seinen Beteiligten und Vorkommnissen haben 2 2 und deshalb versucht sein, diesen einer bestimmten Lösung zuzuführen; hierbei handelte es sich um ein echtes Vorurteil, bei dem Sympathien und Antipathien die unvoreingenommene Rechtsfindung stören. Zweitens kann der Rechtsanwender ein Vorverständnis hinsichtlich des Inhalts der fraglichen Rechtsnorm besitzen, insbesondere über die Auslegung des Tatbestandes und damit die Frage, welche Sachverhalte sie erfaßt (Norm-Vorverständnis) 23. Drittens kann sich das Vorverständnis auf das Ergebnis beziehen, nämlich darauf, welche Rechtsfolge in Fällen der vorliegenden Art als angemessen und gerecht anzusehen ist (Ergebnis-Vorverständnis) 24.
denlehre, S. 208; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 30 mit dem Hinweis, daß der Begriff "Vorurteil" nicht in einem solchen negativen Sinne gemeint sei. Krit. Picker, JZ 1988, 7, nach dessen Ansicht "sich das 'Vorverständnis' in dieser Doktrin zu jenem Vor-Urteil im gewöhnlichen Sprachsinn verschoben [hat], das sich der Korrektur der vorgefaßten eigenen Sinnerwartung verschließt". 2 2 Vgl. Feiber y in MünchKomm ZPO, § 42 Rn 5 (Befangenheit als "die unsachliche innere Einstellung des Richters zu den BeteÜigten oder zum Gegenstand des konkreten Verfahrens"); ferner Hassemer, Einfuhrung, S. 88: "Naiv und gefahrlich wäre auch die Vorstellung - gerade für den Strafjuristen - man habe selber in harter Arbeit an sich selbst solche Vor-Verständnisse und Vor-Urteüe abgelegt und könne den Gegenständen - etwa den Fällen und den an ihnen beteiligten Personen - nun 'vorurteilslos' gegenübertreten" (Hervorhebungen durch Verf.). 2 3
Vgl. Jakobs, Strafrecht AT, Rn 4/18; Arthur Kaufmann, Problemgeschichte der Rechtsphüosophie, S. 161 f. 2 4 Hierauf abstellend insbesondere Esser, Vorverständnis, S. 7, 23 f., 126; zu den Auswirkungen dieses Verständnisses auf das Problem der "Methodenwahl" s. unten D. IV.
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Β. Grundlagen
Wie sich die verschiedenen Vorverständnisebenen auf den Prozeß der Rechtsanwendung auswirken, hängt zunächst von ihrem Verhältnis zueinander ab. Sie müssen keineswegs alle in dieselbe Richtung weisen und können sich insofern im Einzelfall durchaus auch weitgehend neutralisieren. Es ist aber unverkennbar, daß das Vorverständnis um so zwingender wird, je mehr seine drei Teilbereiche zusammenfallen. Gehen die Vorverständnisse sowohl hinsichtlich des Sachverhalts als auch des Inhalts der Rechtsnorm und des "gerechten" Ergebnisses in die gleiche Richtung, so ist die Entscheidung oft schon so gut wie gefallen, und es bedarf dann schon eines großen Maßes an Selbstdisziplin, am Ende doch noch zu einem anderen Ergebnis zu gelangen. Im einzelnen sind die verschiedenen Kategorien des Vorverständnisses unterschiedlich zu bewerten. Vorurteile sind, namentlich wenn sie bestimmte Sachverhaltsbeteiligte begünstigen oder benachteiligen, zweifellos illegitime Entscheidungsfaktoren und daher so weit als irgend möglich aus dem Rechtsanwendungsprozeß auszuschließen25. Institutionell besteht eine Sicherung gegen Vorurteile in Gestalt der verfahrensrechtlichen Ausschluß- und Befangenheitsvorschriften 26. Als methodische Sicherung gegen die Beeinflussung der Entscheidung durch Vorurteile ist zunächst der Zwang zu nennen, die Entscheidungen nach dem Maßstab der allgemeinen - und das heißt eben: ohne Ansehung der Person geltenden - Gesetze zu treffen 27. Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang ferner der Begründungszwang mit der Notwendigkeit, die Entscheidung auf grundsatzlich auch in anderen Fällen geltende und verallgemeinerungsfähige Gründe zu stützen28; jeder nicht von der konkreten Identität abstrahierbare Entscheidungsgrund ist danach illegitim 29 . Daß 2 5 Vgl. § 38 Abs.l DRiG, wonach der Richter u. a. zu geloben hat, "nach bestem Wissen und Gewissen ohne Ansehen der Person zu urteilen und nur der Wahrheit und der Gerechtigkeit zu dienen"; ferner Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 32 f.; Radbruch > Rechtsphilosophie, S. 327: "Recht ist der Wüle zur Gerechtigkeit. Gerechtigkeit aber heißt: ohne Ansehen der Person richten, an gleichem Maße alle messen". 2 6 Zum Zweck der Ausschluß- und Befangenheitsvorschriften vgl. BVerfGE 21, 139, 146; 46, 34, 37; ferner Feiber, in MünchKomm ZPO, § 41 Rn 1, § 42 Rn 1, 5; Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, vor § 22 Rn 1; Kopp, VwGO, § 54 Rn 1. 2 7 Das Prinzip der Allgemeinheit des Gesetzes stellt einen wesentlichen Schutz gegen willkürliche Einzelmaßnahmen dar, vgl. Roth, Faktische Eingriffe, S. 496 f. 2 8
Vgl. Raisch, Methoden, S. 135 ff.; Schwab, Einführung, Rn 113. Isensee, Heymanns-FS, S. 590 führt als Sicherungskriterium gegenüber Sympathie- bzw. antipathiebestimmte Entscheidungen zurecht den kategorischen Imperativ Kants an. Vgl. hierzu Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 1785, in: Gesammelte Schriften IV, S. 421: "Der kategorische Imperativ ist also nur ein einziger und zwar dieser: handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde"; entsprechend güt für Kant, Die Metaphysik der Sitten, 2. TheÜ, Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre, 1797, in: Gesammelte Schriften V I , S. 395 als das "oberste Princip der Tugendlehre": "Handle 2 9
. Hermeneutik und richterliches "Vorverstandnis"
77
Vorurteile schädlich sind, ist freilich keine neue Erkenntnis; die Diskussion des Vorverständnisproblems in der Literatur bezieht sich daher zumeist auf die wesentlich subtiler wirkenden anderen beiden Faktoren. Eine differenzierte Bewertung der anderen " Vorverständnisfaktoren " erfordert eine Klärung, wie der Rechtsanwender zu seinem "Vorverständnis M kommt. Ein Vorverständnis hinsichtlich des Inhalts einer bestimmten Rechtsnorm kann der Rechtsanwender bei der Behandlung eines konkreten Falles nur dann mitbringen, wenn er sich mit dieser oder einer ähnlichen Norm zuvor schon befaßt hat. Das Norm-Vorverständnis ist also ein Produkt von Studium, wissenschaftlicher Betrachtung und praktischer Erfahrung. Als solches ist es aber eine legitim gewonnene Erkenntnis, die fur das ordentliche Funktionieren des Rechtswesens unabdingbar ist; es wäre nachgerade abwegig, dem Rechtsanwender aufzugeben, sich mit einer Norm jeweils so zu befassen, als lese er sie zum ersten Mal, obgleich er sie schon vielfach angewandt hat. In diesem Sinne ist das Norm-Vorverständnis nicht nur unumgänglich, sondern durchaus positiv zu bewerten. Der Rechtsanwender muß sich dabei freilich stets bewußt sein, daß sein bisheriges Normverständnis verfehlt und korrekturbedürftig sein kann. Er muß daher ein offenes Ohr für die diesbezüglichen Argumente haben, die von den Prozeßbeteiligten vorgetragen oder in der wissenschaftlichen Diskussion geäußert werden. Die unreflektierte Berufung auf eine "ständige Rechtsprechung" genügt daher nicht den Anforderungen, die an die Bereitschaft des Rechtsanwenders zur Überprüfung seines NormVorverständnisses zu stellen sind. Besonders schwierig zu beurteilen ist die Bedeutung des Ergebnis- Vorverständnisses. Wer ein bestimmtes Vorverständnis darüber hat, wie ein Fall gerecht zu beurteilen ist, tendiert dazu, Rechtsnormen so zu lesen, daß sie zu diesem Ergebnis führen; dies gilt insbesondere in bezug auf Rechtsnormen, die imbestimmte Rechtsbegriffe enthalten oder sonst für das Einfließenlassen von Wertungen offen sind 30 . Hier trifft die Frage des Vorverständnisses in der Tat den Kern des Auslegungsproblems, weil der Rechtsanwender Gefahr läuft, seine eigenen Wertungen an die Stelle derer des Gesetzgebers zu setzen und so das Gesetz nach seinen Maßstäben auszulegen anstatt nach dem Willen des Gesetzgebers. Gleichwohl kann auch ein Ergebnis-Vorverständnis nicht ohne weiteres als illegitim angesehen werden. Ganz allgemein wird ja jeder Mensch in eine bestehende Rechtsordnung hineingeboren und wächst in dem durch diese Rechtsordnung maßgeblich - wenn auch gewiß nicht ausschließ-
nach einer Maxime der Zwecke, die zu haben für jedermann ein allgemeines Gesetz sein kann". 3 0
s. hierzu unten D. II. 1. a) aa) (3) und D. V. 1.
78
Β. Grundlagen
lieh - geprägten gesellschaftlichen und sozialen Umfeld auf 3 1 , von dem er seinerseits (zumindest teilweise) durch Erziehung und Erfahrung seine Wertprägungen erhält, die dann später als Ergebnis-Vorverständnis in die Auslegung einfließen können. In noch stärkerem Maße gilt dies für den Juristen, dessen durch Studium, wissenschaftliche Betrachtung und praktische Erfahrung geschultes Rechtsgefilhl notwendigerweise durch die Gesetze (mit)geprägt Deshalb mag zwar das Ergebnis-Vorverständnis der Gesetzesanwendung vorausgehen, die Gesetze gehen aber ihrerseits diesem Vorverständnis voraus, das von daher eher als "Nachverständnis" erscheint. Der sogenannte "hermeneutische Zirkel" ist also ein doppelter: das Gesetzesverständnis ist (auch) vom Vorverständnis abhängig, dieses wiederum ist aber (auch) gesetzesgeprägt. Die wechselseitigen Beziehungen sind hierbei regelmäßig so eng, daß man auch von einem "hermeneutisehen Knoten" sprechen könnte. Es ist daher nicht als grundsätzlich negativ zu beurteilen, wenn der Rechtsanwender über sein geschultes Rechtsgefühl ein gewisses Ergebnis-Vorverständnis in den Prozeß der Rechtsanwendung mitbringt. Ein gutes Judiz spielt eine überaus bedeutsame Rolle für die Kontrolle von Entscheidungen32, nämlich als Instrument zur Reflexion der Ergebnisse der Gesetzesauslegung und -anwendung: Denn wer keine Vorstellung von der Gerechtigkeit hat, kann auch nicht auf das Problem stoßen, daß das gefundene Resultat infolge einer unrichtigen Auslegung oder der Korrekturbedürftigkeit einer Norm unrichtig sein kann. Das Rechtsgefühl kann und muß gegebenenfalls vor voreiligen Entscheidungen warnen und Anlaß bieten, das zunächst gefundene Auslegungsergebnis auf seine Richtigkeit hin zu überprüfen 33 oder an eine Rechtsfortbildung zu denken 34 . Wenn nämlich das methodisch-dogmatische Auslegungsergebnis und das Rechtsgefühl auseinanderklaffen, so ist dies in vielen Fällen ein Indiz für einen Fehler, der durch genaueres Nachdenken vermieden werden kann. Das Rechtsgefühl kann somit helfen, eine übersteigert positivistische, strikt dem Buchstaben des Gesetzes verhaftete Rechtsanwendung zu verhindern, die Unrecht schafft, ohne es zu bemerken 35. Beispiel (1): Ein besonders schlimmes Beispiel für ein offensichtliches Versagen des Rechtsgefühls liefert die frühere Rechtsprechung des BVerwG zur Kontrolle von Prüfungsentscheidungen, wonach es keinen allgemeingültigen Bewertungsgrundsatz geben sollte, der es verböte, Richtiges als falsch und vertretbare AnWorten als unvertretbar zu bewerten, und dessen Verletzung gerichtlich überprüfbar 3 1
Zum Einfluß des Rechts auf die gesellschaftlichen und sozialen Verhältnisse in einer Gesellschaft vgl. Zippelius , Rechtsphilosophie, S. 70 ff. 3 2 Zur Bedeutung des Rechtsgefühls vgl. Bydlinski , Methodenlehre, S. 561 f.; Obermayer , JZ 1986, 1 ff.; Zippelius , Rechtsphüosophie, S. 124 ff. 3 3 Vgl. oben B. II. 1. b). 3 4 s. unten E. I. 3 5 Vgl. Larenz/Canaris , Methodenlehre, S. 170.
ist.
. Hermeneutik und richterliches "Vorverstandnis"
79
wäre 3 6 . Berücksichtigt man, welche eminente Bedeutung die Entscheidung über das Bestehen oder Nichtbestehen einer Prüfung bzw. das Prüfungsergebnis für den weiteren Berufs- und Lebensweg des Kandidaten haben kann, so erscheint es völlig unverstandlich, wie die beteiligten Richter meinten, es den Betroffenen gegenüber verantworten zu können, deren Lebensplanung mittels einer solchen Begründung zu zerstören. Erst das BVerfG hat dieser Rechtsprechung unter Hinweis auf die Bedeutung der Grundrechte ein (spätes) Ende gesetzt3'. Ein waches Rechtsgefuhl hätte die beteüigten Richter freüich schon zuvor warnen müssen, daß ihre stereotype Berufung auf den - zweifelsohne unvermeidbaren - Beurteüungsspielraum des Prüfers der Gerechtigkeit dort Hohn spricht, wo dem Prüfer sachliche Fehler unterlaufen, die mit bloßen Bewertungsform nichts mehr zu tun haben. Dieses Versagen des BVerwG macht beispielhaft deutlich, wie im Kern berechtigte Rechtsfiguren (wie der Beurteüungsspielraum des Prüfers) Unrecht bewirken können, wenn sie ohne genaue Betrachtung der konkreten Problemlage verabsolutiert werden.
Auch wenn ein gutes Judiz somit oftmals eine unabdingbare Voraussetzung ist, um ungerechte Entscheidungen zu vermeiden, so ist doch nicht zu vergessen, daß das Rechtsgefühl des Rechtsanwenders nicht über den Gesetzen steht und ihn deshalb auch nicht von der Gesetzesbindung befreien kann. Wenn der Rechtsanwender auch bei erneuter Überprüfung zu dem Ergebnis kommt, daß eine bestimmte Entscheidung vom Gesetzgeber gewollt ist, so ist dieses Ergebnis maßgeblich und nicht das, was sein etwa hiervon abweichendes Rechtsgefuhl sagt. Hier liegt die eigentliche Problematik des Ergebnis-Vorverständnisses: daß nämlich der Rechtsanwender sein Gerechtigkeitsverständnis für allein maßgeblich halten und deshalb meinen könnte, auf die methodisch geleitete Rechtsfindung verzichten zu können. Bei einem solchen Vorgehen führt der Rechtsanwender nicht mehr das von dem demokratisch legitimierten Gesetzgeber gewollte, sondern das von ihm für richtig gehaltene Ergebnis herbei; der Richter betriebe somit nicht Rechtsanwendung, sondern Rechtspolitik 38, obwohl ihm hierfür sowohl das demokratisch legitimierte Mandat als auch die verfahrensmäßigen Voraussetzungen fehlen 39 . Besonders für den Richter gilt, daß er Gesetz und Recht zu verwirklichen hat und nicht sich selbst oder seine jeweiligen politischen und weltanschaulichen Auffassungen40. Die Legitimität eines Ergebnis-Vorverständnisses bemißt sich des3 6
St. Rspr., vgl. etwa BVerwG, DÖV 1980, 380; NJW 1984, 2650, 2651; DVB1. 1985,61,63. 3 7
BVerfGE 84, 34, 54 f.; 84, 59, 79.
3 8
Für eine - wenn auch kontrollierte - "Suspendierung dogmatischer Autorität zugunsten 'rechtspolitischen' Argumentierens über die Sachgerechtigkeit" etwa Esser, Vorverstandnis, S. 19. 3 9
Vgl. Kissel , NJW 1982, 1778; Picker, JZ 1984, 157, 160. Zur unterschiedlichen Verfahrensweise von Legislative und Judikative s. oben Β. I. 1. 4 0 Vgl. Meyer, in v. Münch, GG, Art. 97 Rn 15; ferner Larenz, Methodenlehre, S. 210; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 32, die zu Recht darauf hinweisen, daß in
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Β. Grundlagen
halb nicht danach, ob es in einem höheren Sinne als "gerecht" oder "ungerecht" zu verstehen ist, sondern danach, ob es mit der vom Richter anzuwendenden bestehenden Rechtsordnung in Einklang steht. Auch wer rechtspolitisch ein anderes Ergebnis für vorzugswürdig hält, ist als Richter gehindert, dieses im Mantel der Rechtsanwendung zu verwirklichen, und seine Meinung an Stelle der gesetzgeberischen Entscheidung für die Parteien verbindlich zu machen41. Es ist das Verdienst der hermeneutischen Diskussion, auf die besondere Problematik hingewiesen zu haben, daß ein Ergebnis-Vorverständnis den Rechtsanwender auch unbewußt bei der Rechtsfindung beeinflussen kann 42 . Dieser braucht sich nämlich keineswegs darüber im klaren zu sein, daß sein Rechtsgefühl nicht in jedem Fall mit der bestehenden Rechtsordnung übereinstimmen muß. Eine bedeutsame institutionelle Sicherung gegen unzulässige Ergebnis-Vorverständnisse stellt die Besetzung der Spruchkörper namentlich der oberen Gerichte mit mehreren Richtern dar, denn die plurale - und damit auch hinsichtlich der das Ergebnis-Vorverständnis prägenden Wertanschauungen pluralistische - Zusammensetzung der Spruchkörper ist nicht zuletzt auch darauf angelegt, mit der Rechtsordnung unvereinbare Ergebnis-Vorverstandnisse zu eliminieren 43. Nicht zu verkennen ist freilich, daß diese institutionelle Sicherung nur begrenzt leistungsfähig ist. Gerade wenn Gerichte höchst strittige und zweifelhafte Fragen mit denkbar knappen Mehrheiten entscheiden, können sich auch u. U. illegitime Ergebnis-Vorverständnisse durchsetzen. Die Frage ist daher, welche Folgerungen für die juristische Methodik aus dieser Erkenntnis zu ziehen sind. Es gibt zwar keine Methodenlehre, auf deren Grundlage die Beeinflussung der Rechtsanwendung durch Vorverständnisse völlig auszuschließen wäre 44 ; auch die Rückbindung an den Willen des Gesetzgebers vermag dies nicht zu gewährleisten. Da die Möglichkeit einer solchen subjektiven Beeinflussung bei jeder Auslegungsmethodik gegeben ist, stellt dies aber kein Argument gegen die hier entwickelte Konzeption dar, weil es ohnehin nur darum gehen kann, den Einfluß subjektiver Wertungen des Rechtsanwenders möglichst geeinem solchen Vorgehen "ein gutes Stück richterlicher Überheblichkeit [steckt] - der Richter, der so verfahrt, hält sich aufgrund seines 'Vorverständnisses ' für klüger als das Gesetz und die an es anknüpfenden Ergebnisse der jurisprudentiellen Interpretation"; ähnlich Krey, JZ 1978, 431: "elitäre Überbewertung 'jurisprudentieller Weisheit' gegenüber parlamentarischer Gesetzgebungskunst". 41
Meyer , in v. Münch, GG, Art. 97 Rn 15. So auch Picker, JZ 1984, 155; ders., JZ 1988, 72; vgl. ferner Schneider , DÖV 1975, 447 f. 4 3 Vgl. Schwab , Einführung, Rn 113. 4 4 Isensee , Heymanns-FS, S. 586 f. 4 2
III. Hermeneutik und richterliches "Vorverstandnis"
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ring zu halten 45 . In dieser Hinsicht hat die Rückbindimg der Auslegung an den Willen des Gesetzgebers immerhin den Vorzug, dem Richter eine - wenn auch vielleicht unvollkommene - Richtschnur an die Hand zu geben, von der zugleich auch eine disziplinierende Wirkung ausgeht. Richterliche Vorverständnisse sind - ungeachtet ihrer unleugbaren positiven Aspekte - im Hinblick auf die Bindung des Richters an Gesetz und Recht als Gefahr zu erkennen, die es so weit als möglich einzudämmen gilt, und nicht etwa zum Prinzip zu erheben, indem man von vornherein auf jeden Versuch verzichtet, das Gesetz nach dem Willen des Gesetzgebers auszulegen46. Die Feststellung etwaiger Vorverständnisse als hermeneutische Grundbefindlichkeit darf daher nicht dazu verleiten, solche Vorverständnisse zum Maßstab der Auslegung zu machen und hiermit den Gesetzesinhalt bestimmen zu wollen 47 . Es bedarf vielmehr des Gegengewichts der juristischen Methodik 48 und der Bindung an den Willen des Gesetzgebers, gerade um den Einfluß etwaiger Vorverständnisse möglichst gering zu halten. Die Erkenntnisse der Hermeneutik sind infolgedessen also keineswegs ein Grund, die juristische Methodik in eine topische Beliebigkeit aufzulösen, in der letztlich nicht mehr Gesetz und Gesetzgeber zählen, sondern die Einschätzung von Argumenten, die die am Prozeß der Rechtsanwendung beteiligten Personen austauschen, ohne danach zu fragen, ob die Berücksichtigung der vorgebrachten Gesichtspunkte überhaupt gesetzlich sanktioniert ist 4 9 . Der bloße Meinungskonsens als faktische Gegebenheit
4 5
Vgl. Roth, Faktische Eingriffe, S. 230 f. Vgl. Depenheuer, DVB1. 1987, 812; Engisch, Einführung, S. 208 Anm. 36; Enneccerus/Nipperdey, BGB AT 1/1, S. 327; Larenz, Methodenlehre, S. 210; Larenz/ Canaris, Methodenlehre, S. 32; Looschelders, Anpassung, S. 76; Picker, JZ 1988, 72. 4 7 Böckenförde, NJW 1976, 2098; Canaris, JZ 1993, 390; Isensee, Heymanns-FS, S. 588 f.; Picker, JZ 1988, 6 f., 72. 4 6
4 8
Vgl. Engisch, Einführung, S. 209 f. Anm. 36; Picker, JZ 1988, 72; ferner Esser, Vorverständnis, S. 19 f.; Raisch y Methoden, S. 209; Thieme, Jura 1995, 641. Heun y AöR 116 (1991), 207 f. hält die Begrenzung der Interpretationsmacht für letztlich nicht auf methodischem Weg durchführbar, sondern stellt auf die "kritische Aufmerksamkeit" und Kontrolle der (juristischen) Öffentlichkeit und der anderen Staatsorgane ab. 4 9
Für Verwendung einer "topischen Methode" in der Rechtswissenschaft Viehweg, Topik; ferner Esser, Vorverständnis, S. 19, 27, 154 ff.; Heun y AöR 116 (1991), 203 f.; Kriele y Theorie der Rechtsgewinnung, S. 133 ff. 153; Ryffel, Rechts- und Staatsphüosophie, S. 393 ff.; Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S. 596 f. Zur Kritik vgl. Alexy y Argumentation, S. 39 ff.; Böckenförde, NJW 1976, 2093 f.; Canaris, Systemdenken , S. 141 ff.; Engisch, Einführung, S. 193 ff.; Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 115, 175; Krey y JZ 1978, 432; Larenz, Methodenlehre, S. 145 ff., 489; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 317; Pawlowski, Einführung, Rn 132 ff., 141; Staudinger/Coing y BGB, Einl. Rn 171 ff.; Stein, Staatsrecht, S. 45.
6 Looscheldcrs / Roth
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Β. Grundlagen
kann nicht normativ maßgebend für die Auslegung und damit mittelbar für den Gesetzesinhalt sein 50 , er kann die methodisch hergeleiteten Erkenntnisse über den Gesetzesinhalt nicht ersetzen 51. Die Unverzichtbarkeit einer solchen Konsensbildung läßt sich auch nicht damit begründen, daß der Inhalt des Gesetzes in Worten fixiert sei, über deren Bedeutung sich die Beteiligten erst einigen müßten. Zwar handelt es sich bei Worten zunächst um eine bloße Abfolge von Lauten oder Zeichen, denen erst durch Konvention der am Kommunikationsprozeß Beteiligten eine gemeinsam verstandene Bedeutung zuwächst. Dieser sprachwissenschaftlich-hermeneutische Befund darf jedoch nicht unbesehen auf die Problematik der Gesetzesauslegung übertragen werden. Denn der Gesetzgeber greift zur Gesetzesformulierung auf Worte zurück, denen bereits außerhalb des Gesetzgebungs- und Gesetzesauslegungsprozesses Bedeutung zukommt. Damit knüpft er an ein in der betreffenden Sprachgemeinschaft schon vorhandenes Begriffsverständnis an. Erst recht befindet sich der Gesetzesinterpret nicht in einer ursprünglichen, vor-sprachlichen Situation, in der die Beteiligten den Worten nach ihrem Belieben Bedeutungsgehalte zuweisen könnten. Aus diesem Grunde überzeugt auch nicht die Vorstellung einer "offenen Gesellschaft der (Verfassungs)Interpreten" 52, in der alle irgendwie am rechtlichen Leben Beteiligten durch ihre Handlungen sowie ihre Beiträge zum und Einflußnahmen auf den Rechtsanwendungsprozeß die Norminterpretation beeinflussen. Die "Einbeziehung der Wirklichkeit in den Interpretationsvorgang" 53 bedeutet, insbesondere wenn man sie gar mit der Vorstellung verbin5 0 So aber etwa Haft, Recht und Sprache, S. 281: "Der Konsens - genauer: Die Chance des Konsenses - ist das letzte Richtigkeitskriterium der juristischen Entscheidung" . 5 1 Vgl. Böckenförde, NJW 1976, 2098; Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 176. Dies konzediert letztlich auch Adomeit, JZ 1980, 344 ff., der dogmatische Aussagen aUerdings nicht nach den Maßstäben von wahr/falsch oder richtig/unrichtig beurteüen will, sondern für ihre Bewertung den "Zertitätswert" als Angabe über den Grad der Akzeptanz dieser Aussage unter Juristen vorschlägt. Zwar trifft die Beobachtung zu, daß der Argumentationsaufwand mit sinkendem Zertitätswert steigt, und ein bedächtiger Rechtsanwalt wird diesen auch berücksichtigen, ehe er seinem Mandanten zu einem Prozeß rät. Aber auch Adomeit spricht dem Zertitätswert keine Bindungswirkung zu; selbst bei hoher Akzeptanz einer Meinung ist der Richter an diese nicht gebunden (ebda., S. 345). 5 2 Häberle, JZ 1975, 297 ff. Gegen diese Konzeption etwa Böckenförde, NJW 1976, 2093 f.; Isensee, in Isensee/Kirchhof, HStR VII, § 162 Rn 48; Starck, in Isensee/Kirchhof, HStR VII, § 164 Rn 25; vgl. ferner Riedel, Schneider-FS, S. 397. 5 3 Häberle, JZ 1975, 300; ferner Kratzmann, Volkssouveränität, S. 75, nach dem "erst die Verbindung zwischen Gesetzesnorm und der zu regelnden Wirklichkeit als verbindliche Vorlage für Verwaltung und Justiz" anzusehen ist.
ΠΙ. Hermeneutik und richterliches "Vorverstandnis"
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det, daß der "erweiterte Kreis" der Interpreten "ein Stück dieser pluralistischen Wirklichkeit" konstituiert 54, eine nicht hinnehmbare Relativierung der Normativität jedes Gesetzes, insbesondere auch der Verfassung 55. Denn wenn der Normgeber befugt sein soll, die staatliche Ordnung und gesellschaftliche Wirklichkeit gemäß dem demokratisch legitimierten Mehrheitswillen zu gestalten, so darf nicht der Rechtsanwender die Maßgeblichkeit dieser Vorgaben unter Berufung auf eben jene Wirklichkeit abschwächen können, zumal wenn er sich auch noch selbst als Teil jener "Wirklichkeit" versteht. Dies liefe letztlich darauf hinaus, dem Gesetzgeber die demokratisch geschuldete Gefolgschaft versagen zu können, wenn man meint, seine Gesetze gingen an der Wirklichkeit - so wie man sie selber sieht - vorbei 56 . Ein solches Vorgehen ist auch dann unzulässig, wenn sich die "Gesellschaft der Interpreten" einig ist; denn wie "geschlossen" oder "offen" diese "Gesellschaft" auch sein mag, so steht sie doch auf der Rechtsanwendungsseite und ist damit dem Gesetzgeber untergeordnet. Die disziplinierende Wirkung eines methodischen Vorgehens besteht im übrigen keineswegs lediglich darin, irgendwelche intuitiv oder nach dem Ergebnis-Vorverständnis des Rechtsanwenders gefundenen Entscheidungen anschließend methodisch zu rechtfertigen 57. Eine solche Sichtweise unterschätzt die Bedeutung eines methodischen Vorgehens für das Finden von Entscheidungen58. Dies gilt nicht nur für Fallkonstellationen, die so ungewöhnlich oder neuartig sind, daß man ohnehin schwerlich ein "Vorverständnis" mitbringt 59 und nur auf methodischem Weg überhaupt zu einem Ergebnis kommen kann. Es erscheint vielmehr auch generell als bedenklich und wenig rational, erst intern für sich eine Entscheidung zu treffen und sodann zu versuchen, diese extern zu rechtfertigen: Bedenklich ist ein solches Vorgehen im 5 4
Häberle, JZ 1975, 300. Gegen solche Versuche einer Relativierung der Normativität speziell des Verfassungsrechts Böckenförde, NJW 1976, 2098; lsensee, in Isensee/Kirchhof, HStR VII, § 162 Rn 48; Starck, in Isensee/Kirchhof, HStR VII, § 164 Rn 25 f. 5 5
5 6
Zutreffend weist Roellecke, FG BVerfG II, S. 26 gegenüber einer "Anpassung des Rechtes an veränderte Zustände" darauf hin, daß "man nicht vergessen darf, daß sich die Zustände dem Recht anpassen soUten". 5 7 In diesem Sinne aber Esser, Vorverständnis, S. 19; Schlink, Der Staat 1980, 87 ff., 91; ferner Gusy, JZ 1989, 515 f.; Winkler, JuS 1995, 1060. Vgl. zu diesem Ansatz auch unten C. III. 2. 5 8 Krit. insofern auch Koch y Rechtstheorie 4 (1973), 199; Larenz, Methodenlehre, S. 210 f., 348 f.; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 31 f., 169; F. Müller, Juristische Methodik, S. 315 ff.; Neuner, Rechtsfindung, S. 70. 5 9 Zur notwendigen "Beschränktheit" des Rechtsgefühls vgl. Zippelius, Rechtsphilosophie, S. 157 f.; ferner - speziell mit Blick auf Fälle mit Auslandsberührung Looschelders, Anpassung, S. 76.
6*
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Β. Grundlagen
Hinblick auf die damit möglicherweise verbundene Voreingenommenheit des Rechtsanwenders. Wer nämlich subjektiv schon eine bestimmte Entscheidung gefallt hat, mag zwar nach außen verpflichtet sein, sie auch methodisch zu rechtfertigen; indessen wird er alles daran setzen, diese Rechtfertigung zu liefern, und deshalb nicht mehr unbefangen agieren, sondern sich die Gesetze nach Möglichkeit passend zurechtlegen60. Dies wird ihm umso leichter gelingen, wenn er ohnehin die praktische Brauchbarkeit der juristischen Methodik fur begrenzt und die verschiedenen Auslegungsmethoden fur untereinander weitgehend austauschbar hält 61 . Deshalb stellt es eine nicht unerhebliche Gefahr fur eine unvoreingenommene Rechtsanwendung dar, zuerst - intuitiv nach einem Ergebnis zu suchen und dann die Rechtfertigung nachzuschieben. Wenig rational ist ein solches Vorgehen deshalb, weil - sofern die Rechtfertigung aufrichtig betrieben wird - die Möglichkeit besteht, daß das bereits gefundene "Ergebnis" verworfen werden muß. Abgesehen davon, daß dies ein zweifelhaftes Licht auf das Rechtsgefühl des Rechtsanwenders werfen kann, begründet es jedenfalls die Notwendigkeit, nun mit geläutertem Rechtsgefühl erneut intuitiv ein (anderes) Ergebnis suchen zu müssen, womit der gesamte Prozeß von vorne beginnt. Rationaler dürfte es hingegen sein, jene Methoden, die die Herleitung eines Ergebnisses gestatten, gleich zu diesem Zweck zu benutzen, statt sie auf bloße Falsifikations- oder Rechtfertigungsverfahren zu reduzieren. Dies bedeutet nicht, daß das Rechtsgefühl auszuschalten sei. Zum einen wäre es - wie die hermeneutische Diskussion gezeigt hat, ein Selbstbetrug, an die Möglichkeit einer völligen Ausblendung desselben zu glauben; zum anderen leistet das Rechtsgefühl bei der Ergebniskontrolle wichtige Dienste. Erforderlich ist jedoch, das Rechtsgefühl auf die ihm zukommende legitime Rolle zu beschränken, einen Anstoß zur Überprüfung des methodisch gefundenen Ergebnisses auf etwaige verborgene Fehler in der Begründung zu geben; entscheidend muß aber stets die korrekte dogmatische Entscheidungsbegründung sein, und nicht das möglicherweise von der geltenden Rechtslage abweichende persönliche Rechtsgefühl. Auch wenn sich dem Rechtsanwender bei der Bearbeitung eines Falles vom Rechtsgefühl her eine bestimmte Lösung geradezu aufdrängt, muß er sich stets bewußt machen, daß dies nur eine vorläufige, erste intuitive Annäherung sein kann und keine endgültige innere Festlegung beinhalten darf. Denn nur wer sich die Entscheidung innerlich offen hält, indem er sich die Notwendigkeit methodischen Vorgehens verge6 0
Zu dieser Gefahr vgl. Engisch , Einführung, S. 208 Anm. 36; Larenz , E. R. Huber-FS, S. 300; Picker , JZ 1988, 7. 6 1 So namentlich Esser , Vorverständnis, S. 7, 23 f., 126 ff.; krit. Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 175; Larenz , Methodenlehre, S. 210; Larenz/ CanariSy Methodenlehre, S. 31 f.
. Hermeneutik und richterliches "Vorverstndnis"
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genwärtigt, ist hinreichend frei, sich nicht von seinem Rechtsgefühl bestimmen zu lassen und eben auch dieses einer Korrektur anhand des Gesetzes unterziehen zu können, und diese Freiheit ermöglicht es ihm, mit größerer Wahrscheinlichkeit zum richtigen Ergebnis zu kommen. Da Findung und Begründung der Entscheidung hiernach nicht als Gegensätze aufzufassen sind 62 , muß schon bei der Entscheidungsfindung methodisch vorgegangen werden. Das Vorverständnisproblem ist zwar letztlich auch methodisch nicht zu lösen, aber die Erkenntnis des Problems stellt einen Appell an die intellektuelle Redlichkeit und Aufrichtigkeit jedes Rechtsanwenders dar 6 3 , vor allem sein Ergebnis-Vorverständnis stets auf seine Vereinbarkeit mit den anzuwendenden Gesetzen zu hinterfragen und das Betreiben von Rechtspolitik dem Gesetzgeber zu überlassen. Wesentliches Mittel dieser Selbstkontrolle ist die Offenlegung deijenigen Weitungen, aufgrund derer der Rechtsanwender ein bestimmtes Ergebnis für gerecht und billig erachten mag. Entgegen dem Eindruck, den manche Stellungnahmen zur Hermeneutik und Topik zu erwecken geeignet sind, genügt jedoch die Offenlegung solcher Wertungen allein ebensowenig wie der argumentative Versuch der Verständigung hierüber den Anforderungen, die das Grundgesetz an die Rechtsanwendung stellt 64 . Maßgeblich sind schließlich nicht die Wertungen der Rechtsanwender, sondern die gesetzlich normierten Entscheidungsmaßstäbe. Die Verständigung der Rechtsanwender, welches die gesetzlichen Entscheidungsmaßstäbe sind, begründet zwar eine starke Vermutung dahin, daß diese zutreffend erfaßt sind, vermag aber nicht, die normative Anordnung zu verdrängen oder zu ersetzen, und stellt daher auch keinen selbständigen Maßstab dar. Mit der grundgesetzlichen Vorstellung von der Gesetzesbindung des Richters sind deshalb letztlich nur Methoden vereinbar, die die gesetzgeberischen Entscheidungen herauszuarbeiten versuchen. Dies mag in Grenzfällen schwierig und fehleranfallig sein, doch rechtfertigt dieses hermeneutische Problem nicht den Verzicht auf einen solchen Versuch. In dieser Arbeit sollen daher die Auslegungsmethoden in ihrer Ausrichtung auf den maßgeblichen Willen des Gesetzgebers betrachtet werden.
6 2
Engisch, Einführung, S. 49.
6 3
Vgl. Engisch, Einführung, S. 208 Anm. 36 ("subjektive Redlichkeit" als "Maßstab für die Unterscheidung von echter Begründung und Scheinbegründung"); Esser, JZ 1975, 557 ("Mindestanforderungen methodischer Redlichkeit"); Hesse, Verfassungsrecht, Rn 59 ("sich Rechenschaft über das eigene Tun ... geben"); Isensee, Heymanns-FS, S. 590 (Auflösung des hermeneutischen Zirkels "durch das Ethos des Interpreten"). 6 4
Vgl. Böckenförde,
NJW 1976, 2098.
C. Grundstrukturen juristischen Denkens Im vorhergehenden Teil dieser Arbeit (B.) wurde das Gesetz als Entscheidimgsmaßstab fur den Rechtsanwender dargestellt und die Bedeutung des Willens des Gesetzgebers als Auslegungsmaßstab herausgearbeitet. Ehe nun die Methoden betrachtet werden, mit deren Hilfe diese Gesetzesfunktion realisiert werden kann (nachfolgend D.), erscheint es sinnvoll, wenigstens in den Grundzügen einige Strukturen aufzuzeigen, die das juristische Denken im Prozeß der Rechtsanwendung leiten und die als solche auch sämtliche juristischen Methoden durchziehen. Denn methodisch interessiert nicht nur, was man tut und wozu man es tut, sondern auch, wie man dabei gedanklich vorgeht. Eine wichtige Rolle spielt insofern selbstverständlich logisches Denken, in der Rechtswissenschaft nicht anders als in allen anderen Wissenschaften. Hier kann es zwar nicht um eine Darstellung der juristischen Logik gehen. Für das Verständnis des Normanwendungsprozesses mag es aber hilfreich sein, vorab die logische Struktur der Norm und der Subsumtion des Sachverhalts unter ihren Tatbestand zu skizzieren (I.) sowie einige bei der Rechtsanwendung gebräuchliche logische Schlußformen darzustellen, die auf allen Stufen der Rechtsanwendimg und im Rahmen sämtlicher juristischer Methoden Bedeutung erlangen können (II.). Anschließend soll noch kurz auf einige wissenschaftstheoretische Aspekte des juristischen Denkens eingegangen werden (III.).
I . Der Prozeß der Normanwendung Die Rechtsanwendung stellt einen komplexen, mehrstufigen Prozeß dar 1 , der stets mit der Suche nach Rechtsnormen beginnt, die einen Entscheidungsmaßstab für den zu beurteilenden Sachverhalt bereithalten. Hierzu muß der Rechtsanwender diejenigen Rechtsnormen, welche zur Lösung der "Fallfrage" ernsthaft in Betracht kommen2, daraufhin prüfen, ob der betrachtete Sachver1 2
Zu einem Verlaufsmodell der Rechtsanwendung vgl. Tkieme, Jura 1995, 639 ff.
Die Auswahl der emsthaft in Betracht kommenden Normen ist nicht auf methodisch vorgezeichnetem Wege durchführbar; vielmehr kommt es bei dieser Vorselektion entscheidend auf die Intuition und Urteüskraft des Rechtsanwenders an, so daß diese Aufgabe letztlich nur mit einem erheblichen Maß an Rechtskenntnissen und Erfahrung zu bewältigen ist. Vgl. dazu Bier ling y Prinzipienlehre IV, S. 45 ff.;
I. Der Prozeß der Normanwendung
87
halt unter ihren Tatbestand subsumiert werden kann. Bei dieser Prüfung wird ein Prozeß der wechselseitigen Zuordnung von Sachverhalt und Norm 3 durchlaufen, an dessen Ende die Entscheidung über die Subsumierbarkeit steht, mit deren Bejahung zugleich die Einschlägigkeit der Rechtsfolgeanordnung feststeht 4. Der Kern jeder Normanwendung besteht in der Feststellung der konkreten Geltung oder in der Befolgung der vom Gesetzgeber in der Norm angeordneten Rechtsfolge 5. Für den Rechtsanwender, etwa den Richter, bedeutet dies, daß er die einschlägige Norm seiner Entscheidung als Maßstab zugrundezulegen hat.
1. Die Struktur der Rechtsnorm Gesetzgeberische Rechtsfolgeanordnungen ergehen nie unbedingt, generell. Sie sind vielmehr durchweg dadurch bedingt, daß sie nur für den Fall der Erfüllung bestimmter, normativ festgesetzter Voraussetzungen eintreten sollen 6 . Diese Voraussetzungen definiert der Gesetzgeber im Tatbestand seiner Norm 7 . Die Rechtsfolgeanordnung soll daher nach dem Willen des Gesetzgebers nur gelten, wenn der betrachtete Lebenssachverhalt solche Merkmale aufweist, daß die im Tatbestand der Norm aufgestellten Bedingungen erfüllt sind. Die logische Struktur einer Rechtsnorm läßt sich deshalb, wenn man den betrachteten konkreten Lebenssachverhalt mit SV*, die Tatbestandsseite der Hruschka, Konstitution des Rechtsfalles, S. 55 ff.; Larenz, Methodenlehre, S. 281 ff.; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 102 ff.; F. Müller, Juristische Methodik, S. 315; Zippelius, Methodenlehre, S. 83. 3
Zu der Notwendigkeit, die Interpretation einer Norm stets auf ein konkretes Problem zu beziehen, vgl. Hesse, Verfassungsrecht, Rn 64. - "Konkret" darf dabei allerdings nicht im Sinne eines realen Lebenssachverhalts verstanden werden; auch fiktive Probleme können konkret sein und - etwa im Rahmen der wissenschaftlichen Diskussion - Gesetzesinterpretation veranlassen. 4 Vgl. dazu statt vieler Engisch, Einfuhrung, S. 15 ff., 35 ff., 43 ff., 216 ff. Anm. 54; Larenz, Methodenlehre, S. 271 ff.; Zippelius, Methodenlehre, S. 83. 5 Vgl. Bydlinski, Methodenlehre, S. 395 ff.; Engisch, Einführung, S. 15 ff., 35 ff.; Larenz, Methodenlehre, S. 271 ff.; Looschelders, Anpassung, S. 108 f., 140; Zippelius, Methodenlehre, S. 83. 6 Vgl. hierzu Engisch, Einführung, S. 32 ff.; Larenz, Methodenlehre, S. 251 f.; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 72 f., Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 19; Roth, Faktische Eingriffe, S. 93; Zippelius, Methodenlehre, S. 25. 7
Vgl. Engischy Einführung, S. 15 ff.; Mayer-Maly, Rechtswissenschaft, S. 32; Lorenz, Methodenlehre, S. 250 ff.; Looschelders, Anpassung, S. 73; Roth, Faktische Eingriffe, S. 92 f.; Zippelius, Methodenlehre, S. 25. Zur Abgrenzung zwischen Tatbestands- und Rechtsfolgenseite der Norm Engisch, Einführung, S. 33; Looschelders, Anpassung, S. 141 Fn 37.
C. Grundstrukturen juristischen Denkens
88
untersuchten Rechtsnorm mit TB und ihre Rechtsfolgenseite mit RF bezeichnet, allgemein wie folgt darstellen8: SV* e TB
>
RF
Der Tatbestand (TB) einer Norm beschreibt nämlich durch die einzelnen verwendeten Tatbestandsmerkmale (TBM) abstrakt eine Menge von Sachverhalten {SV}, zu der genau jene Lebenssachverhalte gehören, fur die gilt, daß auf sie diese Tatbestandsmerkmale zutreffen, und die somit sämtliche Zugehörigkeitsbedingungen erfüllen 9. Der Tatbestand hat somit folgende Struktur: TB =
{ SV I T B M ! , T B M 2 , ..., T B M n }
10
Die Aussage, daß ein konkreter Lebenssachverhalt unter den Tatbestand einer Norm fallt, ist gleichbedeutend mit der Aussage, er sei ein Element jener durch den Tatbestand definierten Menge von Sachverhalten: SV* e TB
11
Die abstrakte Rechtsfolgeanordnung RF läßt sich als Funktion verstehen, mit der der Normgeber anordnet, daß fur den konkreten Lebenssachverhalt SV* eine bestimmte, konkrete Rechtsfolge rf Platz greifen soll 1 2 , daß mithin 8
Roth, Faktische Eingriffe, S. 90 f. Fn 3. Ähnlich Engisch, Einführung, S. 56. 10 Da eine Rechtsnorm mindestens 1 Tatbestandsmerkmal haben muß, güt η ^ 1. Mehrere Tatbestandsmerkmale können auf verschiedene Weise miteinander verknüpft sein (ζ. B. kumulativ, alternativ, exklusiv). Tatbestandsmerkmale können auch negativer Natur sein in dem Sinne, daß sie nicht vorliegen dürfen, soll der Tatbestand erfüllt sein. Diesen Fragen braucht hier nicht weiter nachgegangen zu werden. 9
11
Larenz, Methodenlehre, S. 271 schreibt SV = TB, räumt jedoch ein (ebda. Fn 34), daß das Gleichheitszeichen das Gemeinte nur schlecht treffe (krit. insoweit auch Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 64; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 92 verzichten deshalb nunmehr ganz auf den Versuch, den SyUogismus auf formalisierte Weise auszudrücken). Das aus der Mengenlehre geläufige e·-Zeichen ("ist Element von") beschreibt das Verhältnis von Sachverhalt und Tatbestand hingegen präzise (Roth, Faktische Eingriffe, S. 90 f. Fn 3). 12
Zur Unterscheidung zwischen Rechtsfolgeanordnung (abstrakter Rechtsfolge) und (konkreter) Rechtsfolge vgl. Engisch, Einführung, S. 18 f.; Roth, Faktische Eingriffe, S. 90.
89
I. Der Prozeß der Normanwendung
der Rechtsanwender seine Entscheidung so treffe, daß die Rechtsfolge rf verwirklicht wird, also RF:
SV*
>
rf(SV*)
Kombiniert man diese einzelnen Komponenten der Normanwendung, so ergibt sich als vollständige logische Beschreibung der Anwendung einer Rechtsnorm auf einen konkreten Lebenssachverhalt: SV* e { S V I TBMj ... T B M n }
>
rf(SV*)
Die (abstrakte) Rechtsfolgeanordnung der Norm gilt also konkret (rf) fur jeden konkreten Lebenssachverhalt (SV*), der ein Element (e) jener Menge von Sachverhalten {SV} ist, welche die Tatbestandsmerkmale der Norm (TBMj ... T B M n ) erfüllen.
2. Juristischer Syllogismus und Subsumtion Die Anwendung von Rechtsnormen erfolgt in der logischen Form eines Syllogismus, der als eine gültige Schlußregel auf Aristoteles zurückgeht und einen aus drei Urteilen (Sätzen) bestehenden Schluß vom Allgemeinen auf das Besondere darstellt 13. Der logischen Struktur nach werden dabei zwei Prämissen - der Ober- und der Untersatz - zugrundegelegt, aus denen dann der Schlußsatz (conclusio) abgeleitet wird. Beide Prämissen müssen einen gemeinsamen Begriff - den sog. Mittelbegriff - aufweisen, der die logische Verknüpfung zwischen ihnen herstellt. Im juristischen Syllogismus bildet nun die Rechtsnorm den Obersatz; der Untersatz besteht in dem (wertenden) Urteil, daß der konkrete Lebenssachverhalt ein Element jener Sachverhaltsmenge ist, die vom Normtatbestand beschrieben wird. Gemeinsamer Mittelbegriff des juristischen Syllogismus ist der Tatbestand der Norm (bzw. die von diesem umschriebene Sachverhaltsmenge). Da alle Sachverhalte, welche Element der vom Normtatbestand definierten Sachverhaltsmenge sind, die in der Norm angeordnete Rechtsfolge nach sich ziehen sollen (Obersatz), läßt sich aus der Feststellung, daß der konkrete Lebenssachverhalt Element jener Menge ist
13
Vgl. hierzu Hoffineister,
Wörterbuch der phüosophischen Begriffe, S. 590 ff.
90
C. Grundstrukturen juristischen Denkens
(Untersatz), der syllogistische Schluß ziehen, daß die in der Norm angeordnete Rechtsfolge auch fur diesen Lebenssachverhalt gelten soll (conclusio)14. Obersatz: Untersatz:
TB > RF SV* e TB
Conclusio:
RF: SV*
> rf(SV*)
Für die Durchfuhrung des syllogistischen Schlusses muß geklärt werden, ob im Untersatz der gemeinsame Mittelbegriff tatsächlich verwirklicht ist, über welchen dann der Bezug zum Obersatz hergestellt wird. Ehe sich der Rechtsanwender der Frage zuwenden kann, was der Gesetzgeber mit der Rechtsfolgeanordnung gemeint hat und in welcher Weise sie im konkreten Fall umzusetzen ist, muß er deshalb prüfen, ob der Tatbestand der Norm erfüllt ist, ob also der betrachtete Lebenssachverhalt SV* Element der vom Tatbestand TB umschriebenen Menge von Sachverhalten ist, d. h. ob SV* e TB gilt; diese Prüfung ist Gegenstand der Subsumtion15. Die Subsumtion stellt einen überaus komplexen gedanklichen Prozeß dar, dessen Schwierigkeit darin begründet ist, daß es in seinem Rahmen sowohl eine gedanklich-theoretische als auch eine sprachlich-praktische Kluft zu überwinden gilt. In gedanklich-theoretischer Hinsicht besteht das grundsätzli14 Zur Struktur des juristischen Syllogismus vgl. Bydlinski, Methodenlehre, S. 395 ff.; Engisch, Einführung, S. 47 ff., 68 ff.; Gast, Juristische Rhetorik, Rn 281 ff.; Koch/Rüßmann y Juristische Begründungslehre, S. 14 ff.; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 92 ff.; U. Neumann, Juristische Logik, S. 293 f., 298; Pawlowski, Methodenlehre, Rn 124 ff; ders. y Einführung, Rn 104 ff.; Zippelius, Methodenlehre, S. 90 f. 15 Roth, Faktische Eingriffe, S. 91 Fn 3; vgl. ferner Bydlinski, Methodenlehre, S. 395 ff.; Koch/Rüßmann y Juristische Begründungslehre, S. 14 ff., 63 ff.; Larenz, Methodenlehre, S. 271 ff.; Looschelders, Anpassung, S. 140. Abweichend Engisch y Logische Studien, S. 26; ders. y Einführung, S. 55 ff., 213 Anm. 45a, wonach sich die Subsumtion auf eine Gleichsetzung des neuen Falles mit den bislang schon anerkannten Anwendungsfallen der Norm gründe. Soweit diese Auffassung dazu führt, den Bezugspunkt der Subsumtion von der Norm auf die anerkannten Anwendungs falle der Norm zu verlagern, kann dem nicht gefolgt werden, weü ja auch jene "anerkannten" Anwendungs falle im Wege der Subsumtion bestimmt worden sein müßten; jedenfalls theoretisch mag es auch keinen einzigen anerkannten Anwendungs fall geben, und dennoch kann eine Subsumtion erfolgen. Richtig ist freilich, daß die Vergleichbarkeit zwischen dem fraglichen Fall und etwaigen anerkannten Anwendungs fallen der Norm im Rahmen der Auslegung Bedeutung gewinnen kann (s. dazu unten C. II. 1. a). Kritisch zur "Gleichsetzungslehre" auch Bydlinski, Methodenlehre, S. 397; Fikentscher, Methoden III, S. 752 f.; Larenz, Methodenlehre, S. 275; Looschelders, Anpassung, S. 140 Fn 30.
I. Der Prozeß der Normanwendung
91
che Problem der Subsumtion darin, daß die Norm, unter deren Tatbestand zu subsumieren ist, und der Lebenssachverhalt, den es zu subsumieren gilt, auf gänzlich verschiedenen Ebenen existieren 16: Die Norm ist als Teil der Rechtsordnung Bestandteil einer normativen, rechtlich konstituierten Wirklichkeit, der Lebenssachverhalt ist Teil der (äußeren und inneren) Wirklichkeit, die als solche vor und jenseits der Normenwirklichkeit besteht17. Von daher besteht eine wesensimmanente Kluft zwischen den im Subsumtionsprozeß zusammenzuführenden Seiten: die Kluft zwischen Sein und Sollen 18 . Diese Wesensverschiedenheit darf freilich nicht zu dem Mißverständnis verleiten, daß die Subsumtion logisch unmöglich wäre, weil ein Gegenstand nur Element einer aus wesensgleichen Gegenständen bestehenden Menge sein kann und deshalb nur Gleiches unter Gleiches zu subsumieren wäre 19 . Denn, wie schon gesagt, der Tatbestand beschreibt nur eine Menge von Sachverhalten, und unter diese kann der betrachtete Sachverhalt als wesensgleich durchaus zählen 20 . Subsumtion heißt daher nicht, Normtatbestand und Sachverhalt gleichzusetzen, sondern den Lebenssachverhalt unter die vom Tatbestand definierte Sachverhaltsmenge einzuordnen. Eine vollständige "Assimilation" beider Seiten ist somit nicht zu erreichen 21; insoweit verbleibt vielmehr stets eine "Kluft", die nur durch den Subsumtionsschluß wertend überwunden werden kann 22 . Da hierbei ein qualitativer Wesensunterschied zu überwinden und ein Übergang zwischen verschiedenen Ebenen zu bewerkstelligen ist, kann auch von einem "Subsumtionssprung" gesprochen werden.
16
Zur Problemsteüung vgl. Arthur Kaufmann, Problemgeschichte der Rechtsphüosophie, S. 162. 17 Zu diesen Kategorien vgl. Roth, Faktische Eingriffe, S. 91 f., 161 ff. 18 Dazu Kant, Kritik der reinen Vernunft, 2. Aufl. 1787, in: Gesammelte Schriften III, Β 575 f.; ders., Logik, 1800, in: Gesammelte Schriften IX, Einl. Anh., S. 86; ferner Bydlinski, Methodenlehre, S. 44 ff.; Engisch, Einführung, S. 21 ff., 33; Henkel, Rechtsphüosophie, S. 25 ff.; Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 5 ff., 196; Looschelders, Anpassung, S. 82 f., 85 f., 117 ff.; Mayer-Maly, Rechtswissenschaft, S. 33 ff.; Roth, Faktische Eingriffe, S. 162 ff.; Zippelius, Rechtsphüosophie, S. 10, 15 ff. 19
Vgl. zu diesem Einwand Engisch, Einfuhrung, S. 56.
2 0
Ähnlich Engisch, Einführung, S. 56: Subsumtion als "Einordnung dieses Sachverhalts, des 'Falles', in die Klasse der durch den Rechtsbegriff bzw. durch den abstrakten Tatbestand des Rechtssatzes bezeichneten Fälle" (Hervorhebung im Original). 2 1 So aber Arthur Kaufmann, Analogie, S. 29; ders., Problemgeschichte der Rechtsphüosophie, S. 162, wonach Fall und Norm zwar "ursprünglich nicht gleich sind", im Verlauf des Rechtsanwendungsprozesses aber durch einen "aktiv gestaltenden Akt 'gleichgesetzt' werden". Zur Kritik vgl. Fikentscher, Methoden III, S. 750, 752 f. 2 2
Vgl. Kasper, JZ 1995, 747 Fn 25.
92
C. Grundstrukturen juristischen Denkens
Die Durchführung der Subsumtion wird dadurch erleichtert, daß der Normtatbestand die Sachverhaltsmenge auf einer Ebene definiert, der auch der Lebenssachverhalt angenähert werden kann. Von Bedeutung ist hierfür die Sprache, deren gedankliche Begrifflichkeit eine Vermittlungs- und Transmissionsfunktion zwischen der normativen und der Lebenswirklichkeit zu übernehmen vermag: Die sprachliche Fixierung des Normgehalts auf der einen und die sprachliche Erfassung des Lebenssachverhalts23 auf der anderen Seite nähern Norm und Sachverhalt so an - ohne dabei freilich ihre Wesensverschiedenheit aufzuheben -, daß der Subsumtionsschluß möglich wird. Von diesem rechtstheoretischen Problem abgesehen ergeben sich auch vielfaltige praktische Schwierigkeiten bei der Subsumtion. Diese beruhen vor allem darauf, daß die gesetzlichen Tatbestande oftmals mittels recht abstrakter Begriffe formuliert werden, weil sie die gesamte Menge deijenigen Sachverhalte umschreiben müssen, für welche die Rechtsfolgeanordnung gelten soll; dies bedingt zusätzlich zu der ohnehin bestehenden wesensmäßigen auch noch eine mehr oder weniger große sprachliche "Kluft" zu jenen Ausdrücken, die gemeinhin zur Beschreibung konkreter Lebenssachverhalte verwendet werden 24 . Zur Überbrückung dieser sprachlichen Kluft ist im Verlauf des Subsumtionsprozesses von beiden Seiten aus vorzugehen 25: Zum einen ist der juristisch abstrakt formulierte Tatbestand seinem Inhalt nach zu erfassen und die Bedeutung seiner einzelnen Merkmale mit Blick auf den untersuchten Lebenssachverhalt so weit als möglich zu konkretisieren, um die Zuordnung des Lebenssachverhaltes zu erleichtern; dies ist wesentliches Ziel der Auslegung, die insofern einen Konkretisierungsvorgang darstellt 26. Zugleich ist der zunächst 2 3 Zur Unterscheidung zwischen dem Sachverhalt als Lebensvorgang und dem Sachverhalt als Aussage vgl. Larejiz, Methodenlehre, S. 274; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 94, die der sprachlichen Fixierung des Sachverhalts freilich nicht lediglich eine Vermittlungs- und Transmissionsfunktion beimessen, sondern allgemein davon ausgehen, daß nicht der Lebenssachverhalt als solcher, sondern "Aussagen über einen Sachverhalt als einen geschehenen" subsumiert werden. Gegen dieses Verständnis spricht aber, daß der Gesetzgeber die Rechtsfolgen an tatsächliche Sachverhalte anknüpft, nicht an Aussagen über Sachverhalte, und daß deshalb auch für die Tatbestandsverwirküchung eher der Sachverhalt interessiert als eine Aussage darüber. 2 4
Vgl. Haft, Recht und Sprache, S. 269; Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 15, 25, 64 f.; Larenz, Methodenlehre, S. 274; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 94; Looschelders, Anpassung, S. 139. 2 5 Vgl. Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht AT, § 9 Rn 58 ff.; Engisch, Logische Studien, S. 13 ff.; Looschelders, Anpassung, S. 139 f. 2 6 Zur Auslegung als Konkretisierungsvorgang vgl. Hesse, Verfassungsrecht, Rn 60; Kasper, JZ 1995, 747 ("Präzisierung" der Norm); Stein, Staatrecht, S. 43; Zippelius, Methodenlehre, S. 92; ferner F. Müller, Juristische Methodik, S. 153 ff., 166 ff., der sich freilich ebda. S. 30 dezidiert gegen die Vorstellung wendet, "eine vor dem Rechts fall schon vorhandene Norm werde auf diesen hin individualisiert,
I. Der Prozeß der Normanwendung
93
umgangssprachlich erfaßte und fixierte Lebenssachverhalt so aufzubereiten, daß eine Entscheidung über die Zuordenbarkeit möglich wird. Zu diesem Zweck sind zunächst die tatbestandsrelevanten Elemente des Sachverhalts herauszuarbeiten27; diese müssen sodann abstrahiert und in eine subsumtionsfahige Begrifflichkeit transformiert werden 28 . Dieser Prozeß der wechselseitigen Annäherung ist, gegebenenfalls durch wiederholten Wechsel zwischen beiden Seiten, so lange fortzusetzen, bis eine wertende (positive oder negative) Entscheidung über die Subsumierbarkeit möglich ist 2 9 . Der Sachverhalt ist dann unter den Tatbestand der Norm zu subsumieren, wenn eine eindeutige Zuordnung der Tatbestandsmerkmale zu den Sachverhaltselementen möglich ist, d. h. wenn jedes Tatbestandsmerkmal seine Entsprechimg in einem Element des betrachteten Lebenssachverhalts findet 30. Die Reihe solcher "Einzelsubsumtionen" bildet praktisch zumeist den Schwerpunkt der Rechtsanwendung31. Sie ist so lange fortzusetzen, bis entweder ein Tatbestandsmerkmal keine Entsprechung in einem Sachverhaltselement gefunden hat (und damit die Subsumtion gescheitert ist) oder bis sämtliche Tatbestandsmerkmale dem Sachverhalt zugeordnet worden sind. In einem allgemeinen Sinne versteht man unter Subsumtion die Unterordnung eines Begriffs von engerem Umfang unter einen Begriff von weiterem
'konkreter' gemacht"; vielmehr gehe es bei der Konkretisierung um die Konstruktion einer Norm mit Blick auf den zu lösenden Fall, wobei die "Formulierung der erzeugten Rechtsnorm ... notwendig konkreter als der üblicherweise so genannte Gesetzeswortlaut" sei. 2 7
Ein Lebenssachverhalt besteht an sich aus beliebig vielen Elementen, je nachdem, welche Faktoren betrachtet werden. Juristisch interessant sind aber nur jene Elemente, denen im Angesicht einer bestimmten Norm rechtliche Bedeutung zugemessen werden kann. Die übrigen Sachverhaltselemente können zum Zweck der Subsumtion unter die fragliche Norm ausgeblendet werden, mögen aber für andere Normen durchaus Bedeutung besitzen. Zu dieser Selektionsfunktion des Tatbestandes vgl. Bydlinski, Methodenlehre, S. 419; Engisch, Einführung, S. 17; Roth, Faktische Eingriffe, S. 92. 2 8
Looschelders, Anpassung, S. 140.
2 9
Zum "Hin- und Herwandern des Blickes" zwischen Sachverhalt und gesetzlichem Tatbestand vgl. Engisch y Logische Studien, S. 14 f.; ders. y Einführung, S. 210 Anm. 36, 216 ff. Anm. 54; speziell für die Verfassungsauslegung Schenke, AöR 103 (1978), 586. 3 0
Umgekehrt ist nicht erforderlich, daß jedes Element des Lebenssachverhalts einem Tatbestandsmerkmal zugeordnet werden kann. Denn die Erfüllung des Tatbestandes kann nicht daran scheitern, daß der betrachtete Lebenssachverhalt auch diesbezüglich irrelevante Merkmale aufweist. 3 1
Vgl. Bydlinski,
Methodenlehre, S. 396; Engisch, Einführung, S. 68 ff.
94
C. Grundstrukturen juristischen Denkens
Umfang 32 . In diesem Sinne läßt sich etwa der Begriff "Hund" (im biologischen Sinne) ohne weiteres unter den Begriff "Tier" (im biologischen Sinne) subsumieren, weil er alle tatsächlichen Merkmale aufweist, die fur die Definition von "Tier" erforderlich sind. Es wäre nun freilich ein Mißverständnis anzunehmen, die juristische Subsumtion würde sich in solchen rein begrifflichen Zuordnungsakten erschöpfen. Ein derartiges Verständnis wäre schon deshalb verfehlt, weil die bei der juristischen Subsumtion einander gegenüberstehenden Begriffe nach dem Vorstehenden auf unterschiedlichen Ebenen liegen: auf der einen Seite handelt es sich um Rechtsbegriffe, auf der anderen Seite um die sprachliche Beschreibung von Elementen eines tatsächlichen Lebenssachverhalts. So ist etwa der Begriff "Tier" in § 833 S. 1 BGB ein Rechtsbegriff, der nicht notwendig mit dem Begriff "Tier" im biologischen Sinne deckungsgleich sein muß 33 . Die genaue Reichweite eines solchen Rechtsbegriffs ist vielmehr eine normative Frage, die im Wege der Auslegung beantwortet werden muß. Die juristische Subsumtion erfordert deshalb eine wertende Zuordnung des beschriebenen faktischen Sachverhaltselements zu dem definierten normativen Tatbestandsmerkmal34. In dieser wertenden Zuordnung liegen die eigentlichen Probleme der Subsumtion35; ist sie einmal erfolgt, so ist der Subsumtionsschluß als solcher, mit dem die Verwirklichung des Tatbestandsmerkmals festgestellt wird, nachgerade trivial 3 6 . T B M X (Definition) — wertende Zuordnung
SVE X (Beschreibung) TBMX
> SVE X
Nachdem der Rechtsanwender auf diese Weise sämtliche Einzelsubsumtionen durchgeführt hat, kann er zur " Gesamtsubsumtion" schreiten. Diese er3 2 Vgl. Hoffineister, Wörterbuch der phüosophischen Begriffe, S. 588; ferner Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 94. 3 3 Vgl. etwa Erman/Schiemann, BGB, § 833 Rn 2 und Palandt/Thomas, BGB, § 833 Rn 5, jeweüs zu der Frage, ob Mikroorganismen unter den Begriff "Tier" i.S.d. § 833 S. 1 BGB fallen. 3 4
Vgl. Pawlowski, tion" spricht. 3 5
Methodenlehre, Rn 277 ff., 376 ff., der hier von "Qualifika-
Vgl. Bydlinski, Methodenlehre, S. 396; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 94. Zur logischen Stringenz des Subsumtionsschlusses vgl. Bydlinski, Methodenlehre, S. 396; Arthur Kaufmann, Problemgeschichte der Rechtsphüosophie, S. 157; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 94. 3 6
I. Der Prozeß der Normanwendung
95
fordert kein besonderes logisches Verfahren, sondern besteht vielmehr lediglich in der Zusammenfügung der Ergebnisse der Einzelsubsumtionen: Haben sich sämtliche Tatbestandsmerkmale der Norm den entsprechenden Sachverhaltselementen zuordnen lassen, so heißt dies, daß der konkrete Lebenssachverhalt Element des Tatbestandes ist.
SVEj
BGB AT, Rn 59, der hier von einem Redaktions versehen spricht. 5 7
5 8
s. oben D. II. 1. a) aa) (1) Beispiel (2). BGHSt 27, 45, 50. 6 0 Lackner/Kähly StGB, § 259 Rn 13; Ruß, in LK StGB, § 259 Rn 26, 30; Samson, in SK StGB, § 259 Rn 26; Stree, in Schönke/Schröder, StGB, § 259 Rn 32. 5 9
143
Π. Methoden der textternen Auslegung
Hintergrund erscheint es sprachlich durchaus vertretbar, bei dem Merkmal "absetzen" ebenfalls auf den Eintritt eines Absatzerfolges zu verzichten 61 . Auch der Inhalt ausfüllungsbedürftiger Wertbegriffe läßt sich durch kontextuale Auslegung nicht selten wenigstens partiell erhellen. Dies gilt insbesondere dann, wenn der Wertbegriff i m Zusammenhang mit anderen Merkmalen steht, die sich als gesetzliche Beispiele desselben darstellen. Beispiel (11): Nach § 211 Abs. 2 StGB liegt der Tatbestand des Mordes u. a. dann vor, wenn der Täter "aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, aus Habgier oder sonst aus niedrigen Beweggründen" einen Menschen tötet. Das Merkmal "niedrige Beweggründe" ist ein ausfüllungsbedürftiger Wertbegriff, der auf die "in der Rechtsgemeinschaft als sittlich verbindlich anerkannten Anschauungen" verweist 62 . Bei der Auslegung dieses Begriffs ist zu beachten, daß die anderen Mordmekmale der 1. Gruppe gesetzliche Beispiele niedriger Beweggründe sind ("sonst") 63 ; sie können daher zur Konkretisierung der "niedrigen Beweggründe" herangezogen werden. Den Merkmalen "Mordlust", "Befriedigung des Geschlechtstriebs" und "Habgier" ist gemeinsam, daß zwischen dem jeweiligen Tatmotiv - dem mit der Tötung verfolgten Ziel - und der dadurch motivierten Tat - der Tötung eines Menschen - ein besonders krasses Mißverhältnis besteht und der Täter das Opfer quasi als "Objekt" behandelt, um durch dessen Tötung bestimmte extrem eigensüchtige Zwecke zu verwirklichen. Dieser Gedanke läßt sich aufgrund des kontextualen Zusammenhangs auch für die Auslegung des Merkmals "niedrige Beweggründe" fruchtbar machen 64 . Erfaßt werden danach alle nicht schon von einem spezieüeren Mordmerkmal der 1. oder 3. Gruppe geregelten FäUe, in denen die Tötung eines anderen Menschen als Mittel eingesetzt wird, um nichtige oder kraß eigensüchtige Ziele zu erreichen. Soweit die kontextuale Auslegung keinen definitiven Aufschluß über die Bedeutung eines bestimmten Ausdrucks zu geben vermag und es daher zur Ermittlung des Norminhalts weiterer Auslegung bedarf, bedeutet dies natürlich nicht, daß die mit Hilfe der kontextualen Auslegung gewonnenen Erkenntnisse bedeutungslos wären. Diese Erkenntnisse sind vielmehr auf den weiteren Auslegungsstufen zu berücksichtigen. So läßt sich aus dem kontextualen Zusammenhang des in Frage stehenden Begriffes mit anderen Gesetzesbegriffen nicht selten eine bestimmte Wertentscheidung des 6 1
Vgl. Lackner , Heidelberg-FS, S. 61.
6 2
Eser y in Schönke/Schröder, StGB, § 211 Rn 18; ablehnend G. Wolf JuS 1996, 192 f., der das Merkmal "niedrige Beweggründe" zu Unrecht als "Freibrief für den Richter, im Einzelfall so zu entscheiden, wie er will", und als "Einladung an ihn [sc. den Richter], entweder seiner moralischen Entrüstung über den Angeklagten freien Lauf zu lassen, oder aber - immerhin bei der Tötung eines Menschen - Verständnis für ihn aufzubringen", kritisiert. 6 3 Eser y in Schönke/Schröder, StGB, § 211 Rn 14; Lackner/Kühl 4; Roxin, Strafrecht AT I, § 5 Rn 74. 6 4
Vgl. Horn, in SK StGB, § 211 Rn 8 ff., 15; Schroeder
y
y
StGB, § 211 Rn
JuS 1985, 275 ff.
144
D. Die Auslegung von Gesetzen
Gesetzgebers abstrahieren, von welcher dann im Zuge der teleologischen Interpretation auf die Bedeutung des betreffenden Begriffes zurückgeschlossen werden kann. Beispiel (12): Bei § 823 Abs. 1 BGB ist die Bedeutung des Merkmals "sonstiges Recht" fraglich, weil es sich hier um einen weitgehend unbestimmten Rechtsbegriff handelt. Den übrigen von § 823 Abs. 1 BGB geschützten Rechten und Rechtsgütern ist jedoch gemeinsam, daß ihr Inhaber jeweils im Rahmen der Gesetze nach Belieben mit ihnen verfahren und jeden anderen von der Einwirkung ausschließen kann (vgl. § 903 S. 1 BGB) 6 5 . Hieraus laßt sich die Wertentscheidung des Gesetzgebers abstrahieren, durch § 823 Abs. 1 BGB solche Rechtspositionen - und nur solche zu schützen, welche einen entsprechenden Zuweisungsgehalt und eine entsprechende Ausschlußfunktion haben. Der Ausdruck "sonstig" deutet nun darauf hin, daß das Merkmal "sonstiges Recht" alle Rechtspositionen erfassen soll, welche die betreffenden Eigenschaften aufweisen, ohne in § 823 Abs. 1 BGB ausdrücklich benannt zu sein6". Dementsprechend sind etwa die beschrankten dinglichen Rechte sowie die dinglichen Aneignungsrechte und die Immaterialgüterrechte als "sonstige Rechte" i. S. d. § 823 Abs. 1 BGB anzusehen, nicht aber Gestaltungs- und Forderungsrechte oder das Vermögen als solches67.
cc) Strukturuntersuchung Eng mit der Kontextuntersuchimg verwandt ist die strukturelle Interpretation einer Rechtsnorm. Während aber die kontextuale Interpretation eher vom einzelnen Ausdruck ausgeht und auf dessen textliches Umfeld abstellt, betrachtet die strukturelle Interpretation den Satz eher in seiner Gesamtheit und versucht, seinen Sinngehalt von seiner inneren Struktur her zu bestimmen. So kann die innere Struktur eines Satzes Anhaltspunkte dafür liefern, wie sich bestimmte Tatbestandsmerkmale zueinander verhalten, etwa ob sie im Verhältnis des spezielleren zum allgemeinen stehen, ob es sich aus Sicht des Gesetzgebers um zentrale Merkmale der Norm handelt oder ob ihnen eine Auffangfunktion zukommt. Aufschlußreich kann insofern insbesondere sein, ob ein bestimmtes Merkmal sich an einer besonders hervorgehobenen Stelle findet oder schon von seiner Stellung im Satzbau her als eher nachgeordnet erscheint. Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang ferner, ob sich der Gesetzgeber der Regel-Ausnahme-Technik bedient hat. Zwar gibt es keinen all-
6 5
Dazu, daß diese Charakteristika nicht nur fur das Eigentum, sondern auch für die Rechtsgüter Leben, Körper und Gesundheit zutreffen, s. Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, S. 373 f. 6 6 Vgl. Larenz/Canaris, Komm BGB, § 823 Rn 101. 6 7 Vgl. Palandt/Thomas,
Schuldrecht II/2, S. 356, 392 ff.; Mertens, in MünchBGB, § 823 Rn 11 ff.
Π. Methoden der textternen Auslegung
145
gemeingültigen Satz, daß Ausnahmetatbestände "eng" auszulegen seien 68 ; vielmehr unterliegt deren Auslegung denselben Maßstaben wie die Auslegung aller Normen 69 . Allerdings kann die Regel-Ausnahme-Struktur einer Norm in dem Sinne eine enge Auslegung des Ausnahmetatbestandes indizieren, als die Ausnahme ja nicht die Regel obsolet werden lassen soll 70 . Zu beachten ist freilich, daß nicht jede als Ausnahme formulierte Vorschrift auch inhaltlich als Ausnahmeregelung zu betrachten ist, da die Regel-Ausnahme-Formulierung auch bloß die Bedeutung einer Beweislastverteilung haben kann 71 .
c) Fazit: Leistungsfähigkeit
der grammatischen Auslegung
Die vorstehenden Erwägungen ermöglichen eine Stellungnahme zu der umstrittenen Frage nach der Leistungsfähigkeit der grammatischen Auslegung. In der Literatur wird teilweise davon ausgegangen, daß die grammatische Auslegung keine große Bedeutung habe, weil der sprachliche Sinn eines Ausdrucks nahezu beliebig manipulierbar sei; hiermit einher geht zumeist die Auffassung, daß der mögliche Wortsinn nicht geeignet sei, die Grenzlinie zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung zu markieren 72. Die These von der beliebigen Manipulierbarkeit des möglichen Wortsinns trifft jedoch nur dann zu, wenn man nicht auf den Sinn abstellt, den die im Gesetz verwendeten Worte haben, sondern auf jenen, der ihnen beigelegt werden kann 73 . Denn zwar ist es dem Gesetzgeber an sich unbenommen, einen bestimmten Ausdruck in einem spezifisch juristischen, vom normalen Sprachgebrauch abweichenden
6 8
So aber ζ. B. BGHZ 11, 135, 143. In diesem Sinne auch BVerfGE 37, 363, 404: "Für jede Vorschrift, auch für eine Ausnahmevorschrift, güt, daß sie korrekt und das heißt hier ihrem eindeutigen Inhalt und Sinn entsprechend auszulegen ist. Der Charakter einer Ausnahmevorschrift verbietet nur, sie über ihren eindeutigen Inhalt und Sinn hinaus auszulegen; mehr gibt die Formel 'Ausnahmevorschriften sind eng auszulegen' nicht her". Vgl. ferner BGHZ 17, 266, 282; Bydlinski , Methodenlehre, S. 440; Enneccerus/Nipperdey , BGB A T 1/1, S. 297 Fn 6; F. Müller , Juristische Methodik, S. 210 f.; Palandt/Heinrichs , BGB, Einl. Rn 45. 6 9
7 0
Vgl. Canaris , Lücken, S. 181. Ausführlich zum Ganzen Engisch , Einführung, S. 102 ff.; Larenz , Methodenlehre, S. 355 f. Zur Bedeutung der Normstruktur bei der Auslegung von Grundrechtsbestimmungen Roth, Faktische Eingriffe, S. 242 f. 7 1
7 2
In diesem Sinne etwa Jakobs , Strafrecht AT, Rn 4/35; Arthur Kaufmann , Analogie, S. 4 ff.; Kriele , Theorie der Rechtsgewinnung, S. 223; Säcker , in MünchKomm BGB, Einl. Rn 98 ff.; skeptisch auch Isensee , Heymanns-FS, S. 587, weü der Wortlaut stets der "interpretierte Wortlaut" sei. 7 3
So Jakobs , Strafrecht AT, Rn 4/37.
10 Looschelders / Roth
146
D. Die Auslegung von Gesetzen
Sinne zu verwenden und etwa ein Auto als "bespanntes Fuhrwerk" 74 zu bezeichnen oder den Ausdruck "Mann" in einer solchen Weise zu verwenden, daß auch Frauen gemeint sind 75 . Ausgangspunkt der grammatischen Auslegung muß jedoch stets der natürliche Sprachgebrauch sein; von einem hiervon abweichenden spezifisch juristischen Sprachgebrauch darf nur dann ausgegangen werden, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür bestehen, daß der Gesetzgeber den Ausdruck in einem solchen Sinne verwendet hat 7 6 . Der Rechtsanwender ist daher keineswegs befugt, dem Gesetzgeber im Rahmen der Auslegung einfach einen "esoterischen" Sprachgebrauch zu unterstellen 77 oder dem in Frage stehenden Ausdruck gar einen anderen Sinn "beizulegen", als ihm nach den Vorstellungen des Gesetzgebers zukommen sollte. Gesetzgeberische Fehlleistungen und Irrtümer bei der Formulierung von Normen berechtigen den Rechtsanwender auch nicht, den Wortsinn zu manipulieren; zu prüfen ist allenfalls, ob eine Korrektur der Norm in Betracht kommt 78 . Berücksichtigt man ferner, daß bestimmte Bedeutungsmöglichkeiten eines Ausdrucks aufgrund seines Kontextes sowie der Struktur der Norm oftmals von vornherein ausscheidein79, so läßt sich mit Hilfe der grammatischen Auslegung regelmäßig zumindest ein Rahmen festlegen, der die weitere Auslegung deutlich begrenzt. Im übrigen darf man sich nicht im Hinblick auf die in der Rechtsprechimg oder Wissenschaft diskutierten Problemfälle zu dem Mißverständnis verleiten lassen, die Ermittlung des sprachlichen Sinnes des Gesetzestextes sei gewöhnlich unsicher. Die Zahl der wirklich problematischen Fälle ist - auch wenn diese natürlich das besondere Interesse des Juristen verdienen - im Verhältnis zur Gesamtzahl aller rechtlich geregelten Fälle vergleichsweise gering. Schon 7 4
Vgl. Jakobs, Strafrecht AT, Rn 4/34, 4/41. Zweifelhaft insofern Engisch, Einführung, S. 249 Anm. 106b und Larenz/ Canaris, Methodenlehre, S. 144, wonach eine Frau nicht unter den "Rechtsbegriff Mann" faüe könne. Daß eine Frau nicht unter den Begriff "Mann" fallen kann, trifft nicht einmal umgangssprachlich für sämtliche Gesprächssituationen zu, vgl. etwa Redewendungen wie "Mann über Bord", "alle Mann an Deck", "Kosten von 5 Mark pro Mann" (Duden, Deutsches Universalwörterbuch, S. 985 f.; ferner Jakobs, Strafrecht AT, Rn 4/35); daß ein solches Verständnis in einem rechtlichen Kontext ausgeschlossen sei, kann aber jedenfalls nicht gesagt werden. 7 5
7 6 Ähnlich Hruschka, Strafrecht, S. X V I I f. ("Wir als Leser eines Textes - des Gesetzestextes - können über den Sinn der Wörter nicht beliebig verfügen"); vgl. ferner Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 7, 163 f.; Säcker, in MünchKomm BGB, Einl. Rn 113. 7 7
Roxin, Strafrecht AT, § 5 Rn 37.
7 8
s. dazu unten B. II. 3. Beispiel (4); speziell zur Korrektur strafrechtlicher Normen unten E. III. 2. c). 7 9
s. oben D. II. 1. b) bb).
. Methoden der textternen Auslegung
147
ihrem Text nach hat jede Norm einen eindeutigen Anwendungsbereich, einen Normkern, in dessen Rahmen keine Zweifel über die Normbedeutung besteh e n 8 0 ; umgekehrt gibt es jeweils auch eine Bedeutungsgrenze, jenseits derer ein Sachverhalt nach keinem denkbaren Verständnis von der N o r m erfaßt wird. I n der Praxis sind diese klaren Anwendungs- bzw. Nichtanwendungsfalle der Norm, die schon aufgrund der grammatischen Auslegung feststehen, keineswegs selten. Soweit in solchen Fällen feststeht, ob und in welcher Weise die N o r m den betreffenden Sachverhalt regelt 8 1 , hat der Rechtsanwender den gesuchten Entscheidungsmaßstab gefunden und es damit für die Auslegung sein Bewenden 8 2 . Eine andere Frage ist, ob die N o r m mit diesem durch Auslegung gefundenen Inhalt auch tatsächlich anzuwenden ist, oder ob eine Korrektur derselben erforderlich w i r d 8 3 . Beispiel (13): Die Komplexität und Schwierigkeit, aber auch Ertragsfahigkeit der grammatischen Auslegung läßt sich abschließend gut an der sehr strittigen Frage demonstrieren, ob der Verlust eines inneren Organs wie z.B. einer Niere unter § 224 StGB subsumiert werden kann. Daß eine Niere dem Woitsinn nach als "wichtiges Glied des Körpers" angesehen werden kann, aber nicht unbedingt muß, wurde bereits gesagt 84 . Zu untersuchen ist deshalb, ob sich aus dem Kontext dieses Ausdrucks oder der inneren Struktur des § 224 StGB eine Aussage zu diesem Problem herleiten läßt. Der BGH hat gemeint, aus dem Kontext ergäbe sich zwingend, daß der Verlust innerer Organe als solcher nicht von § 224 StGB erfaßt werde: "Außerdem werden in § 224 StGB Organe des Körpers insofern gesondert berücksichtigt, als die Beseitigung ihrer Funktionen den Tatbestand verwirkücht, so bei Geschlechtsorganen und bestimmten Sinneswerkzeugen (Augen, Ohren). Hier zählt die Vorschrift abschließend auf, welche Einbuße der körperlichen Fähigkeiten vorausgesetzt wird. Soweit sonst die Funktionsuntüchtigkeit innerer Organe in Betracht kommt, genügen allein Siechtum, Lähmung oder Geisteskrankheit den Erfordernissen des Tatbestandes"85. Diese Argumentation verkennt indes Kontext und Struktur des § 224 StGB und geht deshalb fehl. Zu beachten ist zunächst, daß § 224 StGB in seiner zweiten Fallgruppe entgegen der Ansicht des BGH keineswegs vom Verlust von Organen handelt, sondern von der Einbuße bestimmter Körperfunktionen; es geht hier nicht um den Verlust der Augen, der Ohren, der Sprach- oder Fortpflanzungsorgane, sondern um das Sehvermögen, das Gehör, das Sprachvermögen oder die Fortpflanzungsfahigkeit. Alle 8 0
Zur Unterscheidung zwischen Normkern und Normhof s. oben B. II. 1. b). Entsprechend den Normbestandteüen läßt sich jeweÜs auf der Tatbestands- und der Rechtsfolgenseite ein "Kern" bzw. "Hof' ausmachen; über die Anwendung der Norm besteht kein Zweifel, wenn der Sachverhalt in den Tatbestandskern fallt und nur eine in den Anordnungskern fallende Rechtsfolge in Frage steht. 81
8 2 83 8 4
Ähnlich Wotff/Bachof/Stobery Verwaltungsrecht I, § 28 Rn 56. s. dazu unten E. I. und Ε. II. 2. b) aa).
s. oben D. II. 1. a) aa) (1) Beispiel (1). BGHSt 28, 100, 102; zustimmend Ebert, JA 1979, 279; Hirsch, in LK StGB, § 224 Rn 8; Lenckner, in Schönke/Schröder, StGB, § 224 Rn 2. 85
10*
148
D. Die Auslegung von Gesetzen
diese Fähigkeiten können eingebüßt werden, ohne daß das entsprechende Organ verloren gehen müßte (z. B. das Sehvermögen durch Durchtrennung des Sehnerves, auch ohne Schädigung des Auges). Da die bloße Einbuße der Funktionsfähigkeit eines Körpergliedes ohne dessen physischen Verlust nicht die erste Alternative des § 224 StGB erffiüt 86 , kann auch nicht gesagt werden, der Geschädigte habe etwa durch Einbuße der Sehfähigkeit das Auge selbst verloren. Gerade aufgrund der Erkenntnis, daß eine Körperverletzung, auch ohne den Verlust eines wichtigen Güedes zu bewirken, den Verletzten durch die Einbuße wichtiger Körperfunktionen nicht minder gravierend beeinträchtigen kann, hat der Gesetzgeber die Alternativen 2 - 4 in § 224 StGB aufgenommen. Erfaßt aber die zweite Faügruppe hiernach die Funktionseinbuße eines Organes auch - und gerade auch - ohne dessen Verlust, so ist nicht zulässig, dieser Faügruppe im Umkehrschluß - wie es der BGH getan hat zu entnehmen, die erste Alternative solle keine Organe erfassen. Deshalb mögen zwar die Alternativen 2 - 4 abschließend aufzählen, welche Funktionseinbußen innerer Organe den Tatbestand des § 224 erfüllen; hinsichtlich des Verlustes derselben geben sie aber nichts her. Dem Merkmal des "wichtigen Gliedes" wird damit nicht etwa unzulässigerweise eine Auffangfunktion beigemessen, die dem abschließenden Charakter der nachfolgenden Aufzählung widerspricht 8'. Hier ist nämlich die innere Struktur des § 224 StGB zu beachten. Der Verlust des wichtigen Gliedes ist an erster SteUe genannt, was darauf hindeutet, daß der Gesetzgeber dies für den praktisch bedeutsamsten und deshalb zuvörderst regelungsbedürftigen Faü erachtet hat. Die weiteren Alternativen sollen nur dem Umstand Rechnung tragen, daß Verletzungsfolgen auch ohne Verlust eines Gliedes überaus schwerwiegend sein können. Sollen diese weiteren Alternativen aber ihrem - aus ihrer strukturellen Stellung ersichtlichen - Sinn und Zweck nach sonst drohende Strafbarkeitslücken verhindern, so ist es unstatthaft, aus ihnen eine Einschränkung der ersten Alternative abzuleiten und hierdurch gerade eine Strafbarkeitslücke zu schaffen. Als Ergebnis der grammatischen Interpretation ist hiernach festzuhalten: Der Ausdruck "Glied des Körpers" kann seinem Wortsinn nach auch eine Niere erfassen, der Kontext dieses Ausdrucks erfordert nicht, innere Organe auszunehmen, und die innere Struktur des § 224 StGB spricht dagegen, aus den Alternativen 2 - 4 eine Einschränkung der ersten Alternative abzuleiten. Somit kann die Niere sprachlich sehr wohl unter § 224 StGB faUen. Die Auslegung ist daher auf den nächsten Stufen fortzusetzen. Hierbei muß freüich berücksichtigt werden, daß der Verlust eines wichtigen Gliedes - wie sich aus dem Kontext der in § 224 StGB verwendeten Begriffe ergibt - ähnlich schwerwiegend sein muß wie die ausdrücklich spezifizierten Folgen, d. h. daß der Verlust des wichtigen Gliedes den Verletzten in seiner Lebensqualität ebenfalls dauernd empfindlich beeinträchtigen muß 8 8 . Dies ist hinsichtlich des Verlustes einer Niere kaum 8 6 BGH, NJW 1988, 2622; RGSt 3, 33, 34; Lackner/Kühl y StGB, § 224 Rn 2; a. A. Ebert, JA 1979, 279; Hirsch, in LK StGB, § 224 Rn 12; Horn, in SK StGB, § 224 Rn 8; Maurach/Schroeder/Maiwald, Strafrecht BT-1, Rn 9/21; Stree, in Schönke/ Schröder, StGB, § 224 Rn 2. 8 7 So aber Hirsch, in LK StGB, § 224 Rn 8. 8 8 Lenckner, in Schönke/Schröder, StGB, §224 Rn 1; Rudolphi, in SK StGB, § 224 Rn 4.
Π. Methoden der textternen Auslegung
149
zu bezweifeln 89 . Laßt aber der Wortlaut des § 224 StGB die Erfassung des Verlustes einer Niere zu, und entspricht diese Art der Verletzung auch dem in § 224 StGB zum Ausdruck gekommenen Schweregrad, so kann - mangels entgegenstehender Hinweise auf einen anderslautenden tatsächlichen Willen des Gesetzgebers angenommen werden, daß diese Vorschrift auch den unbestritten in erhöhtem Maße strafwürdigen Faü des Verlustes innerer Organe 90 durch das Merkmal des "wichtigen Gliedes" erfassen soüte. § 224 StGB ist deshalb so auszulegen, daß eine schwere Körperverletzung auch dann vorliegt, wenn beispielsweise der Verlust einer Niere eintritt 91 .
2. Systematische Auslegung Im Unterschied zur grammatischen Auslegung setzt die systematische Auslegung nicht bei der auszulegenden Norm als solcher an, sondern versucht, deren Inhalt durch Rückschlüsse aus ihrer Stellung im Gefüge des betreffenden Gesetzes oder aus dem Inhalt anderer Normen zu bestimmen92. In methodischer Hinsicht besteht eine enge Verwandtschaft mit der "kontextualen Auslegung"93; der Unterschied liegt lediglich darin, daß das Auslegungsmaterial nicht allein der auszulegenden Norm selbst entnommen wird 9 4 . Die systematische Auslegung erhält ihre Rechtfertigung aus dem Gedanken, daß jedes Gesetz, aber auch die Rechtsordnung als solche, ein geschlossenes Ganzes darstellt, dessen einzelne Teile weitgehend aufeinander abgestimmt sind und einander in vielen Bereichen inhaltlich bedingen95; eine einzelne Norm kann insofern nicht sinnvoll verstanden werden, ohne ihre Bezüge zu den übrigen Normen des betreffenden Gesetzes sowie den anderen Teilen der Rechtsordnung zu berücksichtigen. Dabei ist insbesondere zu beachten, "daß einzelne Rechtssätze, die der Gesetzgeber in einen sachlichen Zusammenhang gestellt hat, grundsätzlich so zu interpretieren sind, daß sie logisch miteinander vereinbar sind. Denn es ist davon auszugehen, daß der Gesetzgeber sach-
8 9
BGHSt 28, 100, 102; Ebert , JA 1979, 278. Dies konzediert auch BGHSt 28, 100, 102; vgl. ferner Ebert , JA 1979, 278; Lenckner , in Schönke/Schröder, StGB, § 224 Rn 2. 9 0
9 1 So i. E. auch OLG Neustadt/W., NJW 1961, 2076, 2077; Ebert , JA 1979, 279; Otto , Grundkurs Strafrecht BT, S. 73; Wessels, Strafrecht BT-1, Rn 271. 9 2 Vgl. Staudinger/Coing, BGB, Einl. Rn 143 ff. 9 3 Vgl. Zippelius, Methodenlehre, S. 48 ff., der die systematische Auslegung unter dem Stichwort "Argumente aus dem Kontext" behandelt. 9 4
Bydlinski, Methodenlehre, S. 442. Vgl. Engisch, Einheit, S. 26 ff.; Larenz , Methodenlehre, S. 264 ff., 437 ff.; Looschelders, Anpassung, S. 87; Pawlowski, Methodenlehre, Rn 486; ders., Einführung, Rn 190; Roth, Faktische Eingriffe, S. 3 f. 9 5
150
D. Die Auslegung von Gesetzen
lieh Zusammenhängendes so geregelt hat, daß die gesamte Regelung einen durchgehenden, verständlichen Sinn ergibt" 96 . In einem weitergehenden Verständnis wird eine Aufgabe der systematischen Interpretation vielfach darin gesehen, die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnimg auch dann zu gewährleisten, wenn eine tatsächliche Abstimmung zwischen den einzelnen Gesetzen oder Normen gerade nicht vorausgesetzt werden kann oder sogar offensichtlich fehlt 97 . Man kann insoweit auch mit Engisch davon sprechen, daß die Einheit der Rechtsordnimg hier nicht der Auslegung als Axiom zugrundegelegt wird, sondern diese als Postulat leitet 98 . Da es hierbei allerdings nicht mehr darum geht, die vom Gesetzgeber vorgegebene Systematik nachzuvollziehen99, sondern vielmehr darum, die betreffende Norm in sinnvoller Weise in das gesamte Normensystem einzubinden und dadurch eine sinnvolle Systematik erst herzustellen, handelt es sich eigentlich um eine Maxime der teleologischen Auslegung 100 , die besser als systematisierende Auslegung bezeichnet würde 101 . Mit Hilfe der systematischen Auslegung lassen sich vielfältige Erkenntnisse gewinnen, welche auf jeder Stufe der Auslegung relevant sein können. So ist der Vergleich mit anderen Normen desselben Gesetzes nicht selten geeignet, Aufschluß über den Sprachgebrauch des Gesetzgebers geben. Beispiel (14): Nach Ansicht des BGH güt § 142 Abs. 2 Nr. 2 StGB auch für den Unfallbeteiligten, der sich in Unkenntnis des Unfalls vom Unfallort entfernt, aber noch innerhalb eines zeitlichen und räumlichen Zusammenhangs von dem Unfall Kenntnis erlangt h a t 1 0 2 . Ein bedeutender Teü der Literatur sieht hierin eine Verletzung der Wortlautgrenze, weü das unvorsätzliche Sich-Entfernen vom UnfaUort 9 6
BVerfGE 48, 246, 257; vgl. ferner Bydlinski, Methodenlehre, S. 442 ff. ("systematisch-logische Auslegung"); Engisch, Einführung, S. 79; Hassold, Larenz-FS (1983), S. 223; Jescheck, Strafrecht AT, S. 138; Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 167; Larenz, Methodenlehre, S. 324. 9 7
So Älexy, Argumentation, S. 295, 302; gischt, Einführung, S. 79; Koch/Rüßmann, Wolff/Bachof/Stober y Verwaltungsrecht I, lösung von Normwidersprüchen unten E. II. 4. 9 8
Canaris, Systemdenken, S. 116 ff.; EnJuristische Begründungslehre, S. 167; § 28 Rn 57. Speziell zum Problem der Aufd).
Engisch, Einheit der Rechtsordnung, S. 69.
9 9
Vgl. insoweit Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 167. Vgl. Älexy, Argumentation, S. 295; Engisch, Einführung, S. 79; Larenz, Methodenlehre, S. 327 f.; Stauding er/Coing, BGB, Einl. Rn 146; vgl. ferner Raisch, Methoden, S. 149, der allerdings gerade umgekehrt die "objektiv-teleologische Auslegung als UnterfaU systematischer Auslegung" ansieht. 1 0 0
101 1 0 2
s. dazu unten D. III. 2. c) bb).
BGHSt 28, 129; ebenso Dreher/Tröndle, StGB, § 142 Rn 43; Franke, JuS 1978, 456 ff.; Küper, Heidelberg-FS, S. 451, 454 ff.; Wessels, Strafrecht AT, Rn 977.
Π. Methoden der textternen Auslegung
151
nicht als "berechtigt oder entschuldigt" angesehen werden könne 1 0 3 . Dieser Einwand wäre durchgreifend, wenn der Terminus "entschuldigt" in § 142 Abs. 2 Nr. 2 StGB gemäß dem in der neueren Strafrechtsdogmatik üblichen Sprachgebrauch ausschließlich auf Entschuldigungsgründe bezogen werden müßte, denn das Fehlen des Vorsatzes stellt sicher keinen Entschuldigungsgrund im technischen Sinne d a r 1 0 4 . Ob der Gesetzgeber einen solchen spezifischen Sprachgebrauch zugrundegelegt hat, ist durch systematische Auslegung zu klären: Wie dem Wortlaut der §§ 17, 20, 35 StGB zu entnehmen ist, unterscheidet der Gesetzgeber des StGB terminologisch nicht zwischen Schuldausschließungs- und Entschuldigungsgründen. Nach seinem Sprachgebrauch kann das Merkmal "entschuldigt" bei § 142 Abs. 2 Nr. 2 StGB daher durchaus auf alle Fälle bezogen werden, in denen sich der Täter "ohne Schuld" vom UnfaUort entfernt h a t 1 0 5 . "Ohne (Vorsatz-) Schuld" handelt ein Unfallbeteiligter deshalb auch dann, wenn er sich in Unkenntnis des Unfalls vom Unfallort entfernt, wobei es letztlich nicht ausschlaggebend ist, ob man den Vorsatz ausschließlich auf der Tatbestands- bzw. der Schuldebene ansiedelt oder ihm insofern eine "Doppelstellung" zuerkennt 106 . Ob § 142 Abs. 2 Nr. 2 StGB das unvorsätzliche Sich-Entfernen vom Unfallort erfaßt, ist damit zwar noch nicht geklärt; fest steht aber, daß eine solche Auslegung jedenfalls nicht die Wortlautgrenze überschritte.
Häufig gibt die Betrachtung der Gesetzessystematik aber nicht nur wichtige Hinweise auf die mögliche Begrifflichkeit des Gesetzes, sondern zugleich Aufschluß über das vom Gesetzgeber tatsächlich zugrundegelegte Wortverständnis oder gar über den Inhalt der Norm als solchen. Dies ist dann der Fall, wenn die systematische Einordnung der Norm in das Gesetz nur unter Zugrundelegung eines bestimmten Normverständnisses Sinn macht. Beispiel (15): Bei Art. 19 Abs. 4 GG ist streitig, ob die Vorschrift Rechtsschutz auch gegen Gesetze gewährleistet 107 . Dies hängt davon ab, ob der Begriff "öffentliche Gewalt" in Art. 19 Abs. 4 GG die Gesetzgebung umfaßt. Für eine solche Auslegung spricht u. a. die systematische Stellung des Art. 19 Abs. 4 GG am Ende des ersten Abschnitts des Grundgesetzes im unmittelbaren Anschluß an die materiellen Grundrechte. Aus dieser SteUung läßt sich als Zweck der Vorschrift herleiten, die materiellen Grundrechte verfahrensmäßig abzusichern. Da die Grundrechte gem. Art. 1 Abs. 3 GG auch den Gesetzgeber binden, wäre die verfahrensmäßige Absi-
10 3
Cramer , in Schönke/Schröder, StGB, § 142 Rn 47a; Krey y Strafrecht BT-2, Rn 645 f.; Lackner/Kühl, StGB, § 142 Rn 25; Rudolphi , in SK StGB, § 142 Rn 40. 1 0 4 Zur Unterscheidung zwischen Schuldausschließ ungs- und Entschuldigungsgründen vgl. Eser/Burkhardt , Strafrecht I, Nr. 18 Rn A 9; Lenckner, in Schönke/ Schröder, StGB, vor § 32 Rn 108. 105
So überzeugend Franke , JuS 1978, 457; vgl. auch BGHSt 28, 129, 132.
106
Zur dogmatischen Stellung des Vorsatzes im Verbrechensaufbau vgl. Jescheck , Strafrecht AT, S. 214 ff., 218; Lenckner , in Schönke/Schröder, StGB, vor § 13 Rn 52 ff., 120; Roxin y Strafrecht AT I, § 10 Rn 61 ff., 68 f.; zur Irrelevanz dieser Frage für die Auslegung des § 142 Abs. 2 Nr. 2 StGB BGHSt 28, 129, 132; Franke , JuS 1978, 458; Küper , Heidelberg-FS, S. 466. 1 0 7
Zum Streitstand vgl. Jarass/Pieroth
y
GG, Art. 19 Rn 25 m.w.N.
152
D. Die Auslegung von Gesetzen
cherung der Grundrechte unvollständig, wenn Art. 19 Abs. 4 GG nicht auch Rechtsschutz gegen Gesetze gewährleistete 108. Über diese sprachliche Ebene hinaus läßt die systematische Auslegung ebenso wie die grammatische vielfach Rückschlüsse auf die hinter der N o r m stehende Regelungs- oder Wertentscheidung des Gesetzgebers zu. D i e mittels systematischer Interpretation gewonnenen Erkenntnisse sind deshalb selbst dann, wenn die textinterne Auslegung zu keinem definitiven Ergebnis fuhrt und es damit einer textexternen Auslegung bedarf, regelmäßig von größter Bedeutung. Beispiel (16): Bei § 164 StGB ist streitig, ob die Einwilügung des Verdächtigten die Rechtswidrigkeit der Tat ausschließt 109 . Dies hängt davon ab, ob § 164 StGB nur den einzelnen davor schützen soll, Opfer ungerechtfertigter staatlicher Maßnahmen zu werden, oder ob die Vorschrift zumindest auch dem Schutz der Funktionsfähigkeit der innerstaatlichen Rechtspflege als solcher dienen soü; legt man das letztere Verständnis zugrunde, so ist die Einwilügung des Verdächtigten unbeachtlich, weü er insoweit nicht zur Verfügung über das geschützte Rechtsgut befugt ist. Systematisch steht § 164 StGB im Gesetz unter den Straftaten gegen Gemeinschaftswerte im unmittelbaren Anschluß an die Aussagedelikte. Dies deutet darauf hin, daß die Vorschrift jedenfalls nicht ausschließlich dem Schutz des einzelnen dienen s o l l 1 1 0 . Die h. M . geht dementsprechend zu Recht davon aus, daß die Einwilligung des Betroffenen bei § 164 StGB unbeachtlich ist.
108 Ausführlich hierzu Schenke, in BK GG, Art. 19 IV (Zweitbearb. Dez. 1982) Rn 253. 1 0 9
Zum Streitstand vgl. Lenckner, in Schönke/Schröder, StGB, § 164 Rn 23; Rudolphi, in SK StGB, § 164 Rn 1 f., jeweüs m.w.N. 1 1 0 Vgl. Maurach/Schroeder/Maiwald, Strafrecht BT-2, § 99 Rn 5; Rudolphi, in SK StGB, § 164 Rn 2.
I I I . Methoden der textexternen Auslegung Soweit sich der Inhalt des Gesetzes nicht schon durch grammatische oder systematische Auslegung feststellen läßt, muß der Rechtsanwender versuchen, ihn durch textexterne Auslegung zu bestimmen. Da der Wille des Gesetzgebers für eine solche weitere Auslegung den Maßstab bildet1, kommt dessen Ermittlung bei der textexternen Auslegung zentrale Bedeutung zu. Das Wesen der textexternen Auslegung besteht insofern in der Suche nach Indizien, die einen Schluß auf die maßgebliche Regelungsentscheidung zulassen, aus der dann ihrerseits der Norminhalt abzuleiten ist. Zu beachten ist freilich, daß die gesetzgeberische Regelungsentscheidung im Rahmen der Auslegung nur insoweit berücksichtigt werden kann, wie der Gesetzeswortlaut dem nicht entgegensteht. Erkenntnisse über den Willen des Gesetzgebers, die mit dem Wortlaut des Gesetzes unvereinbar sind, müssen nach den oben2 dargelegten Grundsätzen bei der Bestimmung des Norminhalts außer Betracht bleiben; sie können jedoch auf der Korrekturebene Bedeutung gewinnen. Der Wille des Gesetzgebers ist unter Heranziehung der anerkannten Auslegungsmethoden zu ermitteln 3. Je nachdem, ob es um die Ermittlung des tatsächlichen oder des mutmaßlichen gesetzgeberischen Willens geht, kann dabei zwischen der historischen und der genetischen Interpretation auf der einen Seite und der teleologischen Interpretation auf der anderen Seite unterschieden werden.
1. Historische und genetische Interpretation a) Charakterisierung Läßt sich der Inhalt einer Norm allein mit Hilfe des Gesetzestextes nicht eindeutig bestimmen, so muß der Rechtsanwender sich primär darum bemühen, den tatsächlichen Willen des Gesetzgebers festzustellen, soweit dieser für die Auslegung der Norm mit Blick auf den in Frage stehenden Sachverhalt 1
s. oben B. II. 2.
2
D. I. 3. Vgl. BVerfGE 63, 266, 288 f.
3
154
D. Die Auslegung von Gesetzen
aussagekräftig ist. Daß einer Norm nicht schon textintern zweifelsfrei entnommen werden kann, ob und wie sie auf einen bestimmten Sachverhalt anwendbar sein soll, bedeutet keineswegs, daß es ausgeschlossen wäre, einen fur die textexterne Auslegung maßgeblichen tatsächlichen gesetzgeberischen Willen festzustellen, sei es im Sinne der tatsächlichen Regelungsentscheidung, welche der Bestimmung des Norminhaltes zugrundezulegen ist, sei es im Sinne der tatsächlichen Wertentscheidung, von welcher auf die Regelungsentscheidung zu schließen wäre. Allerdings kann in solchen Fällen der tatsächliche Wille des Gesetzgebers, eben weil er sich nicht direkt aus dem Gesetzestext ergibt, nur auf indirekte Weise, sozusagen im Wege des Indizienbeweises, ermittelt werden. Diesbezüglich liegt freilich kein wesensmäßiger Unterschied zu dem Willen einer natürlichen Person vor, der ja regelmäßig auch keines direkten Beweises zugänglich ist, sondern auf den aus anderen, namentlich äußeren Umständen zurückgeschlossen werden muß 4 . So wie auch sonst der Hörer und Erklärungsempfänger bei jeder K o m m u n i kation die spezifische Kommunikationssituation berücksichtigen muß und der Sprecher und Erklärende auch darauf vertrauen darf, daß der Kontext, in dem die Erklärung abgegeben wird, bei der Ermittlung seines Willens bedacht wird 5 , so darf auch der Gesetzgeber auf eine Berücksichtigung der zeit- und entstehungsgeschichtlichen Umstände seiner Gesetzgebung vertrauen. Zwar stellt den unmittelbaren Kontext eines Gesetzes nur das Gesetzblatt dar, in dem es steht. Deshalb, und weil ein zukunftsgerichtetes Gesetz ohnehin mehr auf eine Loslösung von seinem Entstehungskontext gerichtet ist als etwa eine Spontanäußerung zwischen Personen, tut der Gesetzgeber allerdings gut daran, seine Gesetze möglichst abstrakt (im Sinne von kontext- und situationsunabhängig) zu formulieren. Andererseits ist es völlig ausgeschlossen, sämtliche historischen und zeitgeschichtlichen Rahmenbedingungen und Gegebenheiten, die in das Gesetz einfließen und darin vorausgesetzt werden, ausdrücklich in den Gesetzestext aufzunehmen. Von daher kann eine um ein richtiges Normverständnis bemühte Interpretation gar nicht umhin, den weiteren Kontext des Gesetzes zu berücksichtigen, und das heißt in diesem Zusammenhang den Entwicklungs- und Entstehungskontext, in welchen der Gesetzgeber die Norm hineingestellt hat, sowie auch die Erklärungen, die die am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Personen in dessen Verlauf abgegeben haben. Auch die gesetzgebenden Organe selbst erheben übrigens durchaus den Anspruch, die geäußerten Ansichten mögen bei der Interpretation Berücksichtigung finden. Ohnehin schiene die Annahme seltsam, die Veröffentlichung der 4
Vgl. Freund, Normative Probleme, S. 3 ff., 12 ff.
5
Vgl. zur Bedeutung des § 133 BGB oben B. II. 2. d) bb) (7).
ΠΙ. Methoden der textexternen Auslegung
155
Gesetzesmaterialien solle nur dem politisch interessierten Zeitgenossen oder dem künftigen Historiker dienen, richte sich aber nicht auch an den Rechtsanwender. Vielmehr dürfte die Darlegung des Berichterstatters von Mangoldt in seinem Hauptausschußbericht für das Plenum des Parlamentarischen Rates als repräsentativ für die Haltung nicht nur der Schöpfer des Grundgesetzes, sondern für wohl jeden Gesetzgeber gelten können: "Denn für die Auslegung und Anwendung der Grundrechte wird die Kenntnis gewisser Einzelheiten aus ihrer Entstehungsgeschichte und Ausfuhrungen über den ihnen nach den Beratungen zu Grunde liegenden Sinn häufig nicht zu missen sein"6. Jedenfalls sind Gesetzgeber, die ihre Motive nicht als Auslegungsmittel verwendet sehen wollten, stets bemüht gewesen, die Materialien nicht zu veröffentlichen, so daß aus der Veröffentlichung wohl der Schluß gezogen werden kann, daß eine historische und genetische Interpretation gewollt ist. Insoweit bei Notwendigkeit textexterner Auslegung der Wille des Gesetzgebers nicht schon im Gesetzestext eindeutig zum Ausdruck gekommen ist, wird seine Ermittlung in der Praxis nicht immer einfach sein; um den Vorrang des Gesetzgebers zu wahren und Entscheidungen nach den subjektiven Wertungen des Rechtsanwenders nach Möglichkeit auszuschließen, kann hierauf gleichwohl nicht verzichtet werden. Zur Klarstellung sei im übrigen nochmals darauf hingewiesen7, daß von einem tatsächlichen Willen nur dann gesprochen werden kann, wenn dieser sich mit hinreichender Sicherheit ermitteln läßt; soweit bei der Ermittlung des tatsächlichen Willens Zweifel verbleiben, kann nur auf den mutmaßlichen Willen abgestellt werden. Methodische Mittel zur Feststellung des tatsächlichen Willens des Gesetzgebers (und zwar sowohl der Regelungs- als auch gegebenenfalls der Wertentscheidung) sind die historische und die genetische Auslegung8. Beide Methoden sind eng miteinander verwandt, haben jedoch unterschiedliche Anknüpfungsgegenstande.
b) Die historische Interpretation Die historische Interpretation fragt nach den Vorläufern und der Entwicklungsgeschichte der Norm und sucht von dem Verständnis, welches
6
v. Mangoldt, Schriftlicher Bericht, S. 6. Vgl. bereits oben D. I. 2. 8 Zur Unterscheidung zwischen historischer und genetischer Interpretation vgl. F. Müller, Juristische Methodik, S. 204; ferner Brugger, AöR 119 (1994), 26; Deckert, JA 1994, 415 f.; Engisch, Einfuhrung, S. 235 Anm. 79a; Hassold, Larenz-FS (1983), S. 226; Roth, Faktische Eingriffe, S. 246 Fn 77; Wotff/BachofYStober, Veiwaltungsrecht I, § 28 Rn 59 f. 7
156
D. Die Auslegung von Gesetzen
den Normvorläufern beigelegt worden ist, sowie von der gesamten Entwicklungstendenz des betreffenden Rechtsgebietes her, den gesetzgeberischen Willen beim Erlaß der aktuellen Norm zu bestimmen9. Sie macht sich dabei insbesondere die Erfahrungssätze zunutze, daß der spätere Gesetzgeber sofern nicht gegenteilige Anhaltspunkte vorhanden sind - einen eingeführten und feststehenden Rechtsbegriff im bisherigen Sinne verstehen will, wenn er ihn unverändert übernimmt 10; ferner ist regelmäßig anzunehmen, daß der Gesetzgeber keinen Rückschritt beabsichtigt hat 1 1 , namentlich daß er nicht hinter einen einmal erreichten sozialen12, rechtsstaatlichen oder freiheitlichen Entwicklungsstand zurückfallen möchte13. Beispiel (1): Das BVerfG hat zur Bestimmung des Konzepts der geltenden Vermögensteuer auf die historischen Vorläufer des heutigen VermögensteuerG und die diesen zugemessene Bedeutung abgestellt14: "Die geltende Vermögensteuer führt die mit dem Preußischen Ergänzungsteuergesetz geschaffene Konzeption einer ergänzenden Besteuerung des fundierten Einkommens fort". Jenes Gesetz aber sei ausweisüch seiner Materialien von dem Gedanken einer "ergänzenden Abgabe" geprägt gewesen. Auch das ReichsvermögensteuerG von 1922 habe die Steuer als laufende, aus dem Einkommen zu tragende Vermögensteuer ausgestaltet, die nicht zu einer "schleichenden Vermögenskonfiskation" fuhren soUte. Mit diesem Verständnis entspreche die geltende Vermögensteuer im Prinzip den verfassungsrechtlichen Anforderungen.
Voraussetzung für die historische Interpretation ist die Kenntnis der Normvorläufer. Dafür bedarf es zum einen der Kenntnis jener alten Gesetzestexte, zum anderen aber auch der Kenntnis, wie diese Gesetze verstanden und gehandhabt worden sind, denn dies bezeichnet das Umfeld, in dem der Gesetzgeber bei der Änderung der früheren oder dem Erlaß einer neuen Norm tätig geworden ist 1 5 . Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die (höchstrichterliche) Rechtsprechung, die zu der früheren Norm ergangen war, ferner anerkannte Kommentierungen und Lehrbücher. Die frühere Rechtslage kann, besonders wenn sie lange zurückliegt, nur schwer zu ermit9
Vgl. etwa BGHSt 28, 224, 230. Vgl. BVerfGE 3, 248, 252 ("überlieferter Rechtssatz"); 3, 407, 415; BGHZ 121, 116, 120; Engisch, Einführung, S. 81 ("traditioneller Gehalt"); Maunz/Zippelius, Deutsches Staatsrecht, S. 44 ("vorrechtliches Leitbüd"); Starck, in Isensee/Kirchhof, HStR V I I , § 164 Rn 57 f. 10
11 12
Enneccerus/Nipperdey, BGB AT 1/1, S. 351. Zu einem Beispiel aus dem Mietrecht vgl. Looschelders/Roth,
JZ 1995, 1045.
13
Zur Bedeutung dieser Annahme bei der Grundrechtsinterpretation vgl. Roth, Faktische Eingriffe, S. 246 ff.; ferner Stein, Staatsrecht, S. 39 ff. 14 15
BVerfG, NJW 1995, 2615, 2618.
Vgl. z. B. BVerfGE 74, 51, 57 ff. (bezüglich des geschichtlich gewachsenen Verständnisses vom Asyl); 84, 34, 48; ferner Neuner, Rechtsfindung, S. 105.
Ι . Methoden der textexternen Auslegung
157
teln sein; nicht selten mag sich zudem ergeben, daß sie zweifelhaft oder umstritten war. In solchen Fällen ist es kaum möglich, mit Hilfe der historischen Interpretation Erkenntnisse zu gewinnen, die das Verständnis der betrachteten (neuen) Norm fordern.
c) Die genetische Interpretation Die genetische Interpretation setzt bei den Gesetzesmaterialien (Entwürfe, Motive, Denkschriften, Begründungen) und der Entstehungsgeschichte der Norm (Parlamentsdebatten, Verhandlungen in Ausschüssen) an 1 6 und versucht, aus den veröffentlichten Motiven der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Personen17 auf die hinter der Norm stehende Regelungsentscheidung bzw. die der Norm zugrundeliegende Wertentscheidung des Gesetzgebers zu schließen: Ein solcher Schluß beruht auf der Vermutung, daß die für die Erarbeitung und Behandlung des Gesetzentwurfs maßgeblichen Erwägungen auch für die schließliche Plenarabstimmung über das Gesetz bestimmend waren 1 8 . Erforderlich ist somit ein wertender und qualitativer Sprung von den geäußerten Ansichten einzelner Beteiligter auf den zu fingierenden Einheitswillen 1 9 des Gesetzgebungsorgans. Gegen die Statthaftigkeit eines solchen Schlusses kann rechtstheoretisch zwar eingewandt werden, daß einzelne am Gesetzgebungsverfahren beteiligte Personen allenfalls - aber nicht einmal immer 20 - Mitglieder, nicht aber Vertreter des Gesetzgebungsorganes sind und daß ihr Wille deshalb nicht der Gesamtheit zugerechnet werden dürfe. Bei der genetischen Auslegung geht es
16 Zur Bedeutung der Entstehungsgeschichte der Norm für die Auslegung vgl. BVerfGE 1, 117, 127; 54, 277, 297 f.; 63 , 266, 289 ff.; 92, 365, 409 f.; BGHZ 46, 74, 79 ff.; Alexy, Grundrechte, S. 503; Engisch, Einführung, S. 81 f.; Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 167 f.; Larenz, Methodenlehre, S. 330; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 150 ff.; Raisch, Methoden, S. 145 ff. 17 Zur Bedeutung der Normvorstellungen der an der Vorbereitung und Abfassung des Gesetzes beteiligten Personen für die Auslegung des Gesetzes vgl. Engisch, Einführung, S. 95 f.; Larenz, Methodenlehre, S. 328 f., 344; ferner Enneccerus/Nipperdey, BGB A T 1/1, S. 329 ff. 18
Vgl. Coing, Rechtsphüosophie, S. 267 f.; Engisch, Einführung, S. 95; Säcker, in MünchKomm BGB, Einl. Rn 124; Schlehofer, JuS 1992, 576. 19 2 0
Vgl. hierzu oben B. II. 2. d) aa).
Vgl. Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 234 f., die den Stellenwert der ProtokoUe der 2. Kommission im Hinbück auf die Auslegung des BGB u. a. deshalb für gering erachten, weü "die 2. Kommission nicht etwa ein Ausschuß des Reichstags, sondern lediglich ein Expertengremium und also mit dem Gesetzgebungsgremium nicht unmittelbar verbunden war".
158
D. Die Auslegung von Gesetzen
indes auch gar nicht darum, den Willen einzelner als solchen der Gesamtheit zu behandeln; die Äußerungen einzelner können und sollen nur als Indiz fur den im Gesetzestext nicht eindeutig zum Ausdruck gebrachten Willen des Gesetzgebungsorgans verwendet werden, und fur ihre Indizwirkung kommt es auf die rechtliche Stellung der Beteiligten nicht entscheidend an. Rechtstatsächlich ist diese Indizwirkung und damit die Tauglichkeit der genetischen Interpretationsmethode besser begründbar, als es bei formeller Betrachtung nach dem genannten Einwand den Anschein haben mag. Die parlamentarische Tätigkeit in der Bundesrepublik Deutschland zeichnet sich durch eine so hohe Arbeitsbelastung aus, daß die inhaltliche Gestaltung von Gesetzen nur durch Arbeitsteilung zu bewältigen ist 2 1 . Innerhalb der Fraktionen schließen sich die Fachleute für bestimmte Bereiche zu Arbeitskreisen zusammen; da die übrigen Fraktionsmitglieder (notgedrungen, weil kein Abgeordneter alle Bereiche überblicken kann) hinsichtlich ihres Abstimmungsverhaltens auf ihre Fraktionsfachleute vertrauen (müssen), bestimmen die Arbeitskreise effektiv die Haltung der Fraktionen im Plenum. Da es auch jene Fachleute sind, die von den Fraktionen in die Parlamentsausschüsse entsandt werden, und die inhaltliche Parlamentsarbeit weitgehend auf die Ausschüsse übergegangen ist, deren Empfehlungen die Parlamentsentscheidungen der Sache nach vorformen 22, hängen die Beschlüsse des Parlaments im Ergebnis weitgehend von der Willensbildung in den Arbeitskreisen der Regierungsfraktionen ab, sind die Parlamentsentscheidungen hierdurch vielfach präjudiziell 2 3 . Es ist deshalb rechtstatsächlich regelmäßig davon auszugehen, daß der Wille des Plenums sich mit den in den Fraktionsarbeitskreisen und im Parlamentsausschuß gebildeten und in der Beschlußempfehlung und dem Ausschußbericht (vgl. § 81 Abs. 1 S. 2 GeschO BT) niedergelegten Ansichten der eigentlichen Gesetzesverfasser deckt 24 . Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang auch die Rolle der Exekutive im Gesetzgebungsverfahren. Da sie aufgrund ihrer personellen und sachlichen Ausstattung dem Parlament in vielerlei Hinsicht überlegen ist, hat sich die Entscheidungsfindimg in großen Teilen vom Parlament auf die Exekutive verlagert, wodurch die Regierung über die von ihr eingebrachten Gesetzent-
2 1 Vgl. hierzu BVerfGE 44, 308, 316 f.; Leibholz/Rinck/Hesselberger, 20 Rn 201. 2 2 2 3
GG, Art.
BVerfGE 44, 308, 318.
Vgl. hierzu Hesse, Verfassungsrecht, Rn 578 ff.; Stein, Staatsrecht, S. 76; Stern, Staatsrecht I, S. 1031 f. 2 4 Zu dieser sog. "Paktentheorie" vgl. Coing, Rechtsphüosophie, S. 267 f.; Engisch, Einführung, S. 95; Neuner, Rechtsfindung, S. 104; Säcker, in MünchKomm BGB, Einl. Rn 124; Schlehofer, JuS 1992, 576.
ΠΙ. Methoden der textexternen Auslegung
159
würfe in weitem Umfang die Entscheidungen des Parlaments vorwegnimmt 25; schon deshalb wäre es wirklichkeitsfremd, die parlamentarische Gesetzgebung von der Entstehungsgeschichte des Gesetzentwurfs abtrennen zu wollen 26 . Berücksichtigt man zudem die zumeist vorhandene politische Deckungsgleichheit zwischen Regierung und sie tragender Parlamentsmehrheit 27 sowie die regelmäßig bereits im Vorfeld gegebene Beteiligung der Fachleute der Mehrheitsfraktionen bei der Erarbeitung von Regierungsentwürfen, so spricht eine ähnlich starke tatsächliche Vermutung dafür, daß die Begründung eines Regierungsentwurfes für die Plenarentscheidung zumindest maßgeblich mitbestimmend war, wie dafür, daß die Berichte und Empfehlungen der Parlamentsausschüsse die Plenarabstimmung maßgeblich mitgeprägt haben. Welches Gewicht einzelnen Materialien im konkreten Fall für die Ermittlung des Willens des Gesetzgebers beizumessen ist, hangt von verschiedenen Aspekten ab, die bei der gebotenen Gesamtwürdigung zu berücksichtigen sind 28 : die Nähe des Beteiligten oder Organs, von dem die Äußerung stammt, zum schließlichen Gesetzgebungsakt, sowie seine Stellung im Gesetzgebungsverfahren, ferner die Frage, ob hinsichtlich des Gesetzes eine einheitliche oder doch zumindest deutlich überwiegende Auffassung herrschte, so daß auch einzelne Äußerungen als repräsentativ für die herrschend gewordene Auffassung verstanden werden können, oder ob das Gesetz sehr umstritten und letztlich nur das Ergebnis eines unklaren Formelkompromisses war, hinter dem eine eindeutige gesetzgeberische Entscheidung nicht auszumachen ist 2 9 . In letzterem Fall ist die Aussagekraft der Materialien recht begrenzt, doch liegt ein solcher Streitfall eher selten vor. In der ganz überwiegenden Zahl der im Konsens oder jedenfalls von einer in sich einigen Mehrheit verabschiedeten Gesetze stellt die genetische Methode eine sehr wichtige Auslegungsmethode dar, die vielleicht nicht über jede Einzelheit des Gesetzes und nicht zu jedem denkbaren Auslegungsproblem, aber doch zumindest regelmäßig über den vom Gesetzgeber mit einer Norm verfolgten Zweck und die ihr zugrundeliegende Regelungs- oder auch Wertentscheidung verläßlich Aufschluß geben kann 30 .
2 5 Herzog, in Maunz/Dürig, GG, Art. 97 (Lfg. 1977) Rn 17 spricht sogar davon, daß "das Parlament vorwiegend die von der Regierung erarbeiteten Gesetzentwürfe 'ratifiziert'". 2 6 2 7
Schenke, AöR 103 (1978), 599 f.
Stern, Staatsrecht I, S. 1037 f. Vgl. Enneccerus/Nipperdey, BGB AT 1/1, S. 330. 2 9 Vgl. Schenke, AöR 103 (1978), 580; ferner Deckert, ZG 1995, 245. 3 0 In diesem Sinne auch Neuner, Rechtsfindung, S. 105; vgl. ferner BVerfGE 54, 277, 298; 74, 102, 116; 79, 127, 143 f.; 92, 365, 409 f.; Depenheuer, DVB1. 1987, 813; Roellecke, FG BVerfG II, S. 26. 2 8
160
D. Die Auslegung von Gesetzen
2. Teleologische Interpretation a) Charakterisierung In der Praxis kommt es nicht selten vor, daß der tatsächliche Wille des Gesetzgebers hinsichtlich des Inhalts einer Norm in Ansehung gewisser Sachverhalte auch nach Heranziehung der vorgenannten Methoden nicht mit hinreichender Sicherheit zu ermitteln ist. Dies kann zum einen darauf beruhen, daß der Gesetzgeber zwar einen tatsächlichen Willen gebildet hat, der fur die Behandlung des infrage stehenden Falles aussagekräftig wäre, der Rechtsanwender diesen aber nicht mit genügender Sicherheit feststellen kann, weil seine diesbezüglichen Erkenntnismöglichkeiten begrenzt sind (z. B. bei Unergiebigkeit der Materialien). Zum anderen besteht häufig das Problem, daß der Gesetzgeber überhaupt keine tatsächliche Entscheidung getroffen hat, die im Hinblick auf die Behandlung solcher Sachverhaltskonstellationen aussagekräftig wäre 31 . Die in der Theorie mögliche klare Unterscheidung dieser zwei Ungewißheitsgründe ist für die praktische Rechtsanwendimg freilich ohne Belang, weil der Rechtsanwender in beiden Fällen nach den gleichen methodischen Grundsätzen vorgehen muß, um den Inhalt der Norm zu bestimmen und damit ein Scheitern der Auslegung zu vermeiden 32. Läßt sich eine tatsächliche Wertentscheidimg des Gesetzgebers nicht feststellen, so muß im Wege der teleologischen Auslegung 33 versucht werden, seine mutmaßliche Wertenschei3 1 3 2
s. dazu oben B. II. 2. d) dd), D I. 2.
Vgl. Säcker, in MünchKomm BGB, Einl. Rn 84 Fn 208. 3 3 Zur teleologischen Interpretation vgl. allgemein Alexy, Argumentation, S. 295 ff.; Brugger, AöR 119 (1994), 28 ff.; Bydlinski, Methodenlehre, S. 453 ff.; Engisch, Einführung, S. 79 ff., 249 f. Anm. 106b; Hassold, Larenz-FS (1983), S. 227 ff., 239 f.; Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 170, 182, 233; Larenz, Methodenlehre, S. 333 ff., 344; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 153 ff., 165; Pawlowski, Einführung, Rn 160 ff.; Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, § 2 8 Rn 60; Zippelius, Methodenlehre, S. 46 ff. Unhaltbar ist der Versuch von G. Wolf, JuS 1996, 194, die teleologische Auslegungsmethode als eine "angebliche Auslegungsmethode" und tragenden Bestandteü der "nationalsozialistischen Rechtslehre" zu diskreditieren. Daß eine bestimmte Methode - zumal wenn sie eine wertende Betrachtung erfordert mißbraucht werden kann, um eine menschenverachtende Ideologie zur Geltung zu bringen, nötigt zwar zu einer Besinnung auf ihre Grenzen und Bedingungen, nicht aber zu ihrer Verwerfung. Dies güt umso mehr, als die historische Betrachtung zeigt, daß die teleologische Auslegung - entgegen der Insinuation von G. Wolf - keineswegs eine als spezifisch nationalsozialistisch charakterisierbare Methode ist: Sehr deutliche Erwägungen zum "Grund" bzw. "Zweck" des Gesetzes finden sich schon im Jahre 1840 bei v. Savigny (System des heutigen Römischen Rechts I, S. 216 ff.). Die zentrale Bedeutung des Zwecks im Recht wurde sodann gegen Ende des 19. Jahrhunderts maßgeblich von v. Jhering (Der Zweck im Recht) herausgearbeitet; hierauf aufbauend
ΠΙ. Methoden der textexternen Auslegung
161
dung zu ermitteln, um von dieser auf den Inhalt der Norm zu schließen34. Die Frage lautet dann also, welche Entscheidung der Gesetzgeber in Ansehung von Sachverhaltskonstellationen der fraglichen Art mutmaßlich getroffen hatte, wenn sie von ihm bedacht worden wären. Schon in dieser Fragestellung klingt die Besonderheit, aber auch die spezifische Schwierigkeit der teleologischen Auslegung im Vergleich zu den anderen Auslegungsmethoden an. Während diese auf die Ermittlung des Textsinnes bzw. des tatsächlichen Willens des Gesetzgebers als Auslegungsmaßstab gerichtet sind und damit ein real vorgegebenes Erkenntnisziel haben, steht der im Wege der teleologischen Auslegung zu bestimmenden mutmaßlichen Wertentscheidung des Gesetzgebers im Gesetzgebungsprozeß kein reales Korrelat gegenüber, welches vom Rechtsanwender festgestellt werden könnte 35 , weil die gesuchte Wertentscheidung entweder zwar existiert, aber nicht ermittelt werden kann, oder weil sie tatsächlich gar nicht getroffen worden ist. Auch im Hinblick auf den Anknüpfungsgegenstand unterscheidet sich die teleologische Interpretation grundlegend von den anderen Auslegungsmethoden. Während die grammatische und die systematische Interpretation vom Text der Norm bzw. des Gesetzes ausgehen, die historische und die genetische Interpretation bei der Entwicklungs- und der Entstehungsgeschichte ansetzen, um den Inhalt der Norm entweder direkt über den Text des Gesetzes oder indirekt über die Regelungsentscheidung des Gesetzgebers zu bestimmen, knüpft die teleologische Interpretation nicht an etwas tatsächlich Vorgegebenes an, um die mutmaßliche Wertentscheidung des Gesetzgebers zu bestimmen, sondern mißt die denkbaren Zwecke der Norm und die dahinterstehenden denkbaren Wertentscheidungen an dem bloß gedanklichen Substrat der Wertentscheidungen, Prinzipien und Ordnungsvorstellungen, die in dieser Norm, in anderen Rechtsnormen oder in der Gesamtrechtsordnung zutage treten. Da die durch teleologische Interpretation zu ermittelnde mutmaßliche gesetzgeberische Wertentscheidung im Gesetzgebungsprozeß kein (feststellbares) tatsächliches Korrelat aufweist und dementsprechend weder im Text des Gehaben schließlich die Vertreter der lnteressenjurisprudenz {Heck, Rümelin u. a.) zu Beginn unseres Jahrhunderts die teleologische Auslegungsmethode entwickelt (zur historischen Entwicklung vgl. Fikentscher, Methoden III, S. 677; Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S. 574 ff.). 3 4 Zur teleologischen Auslegung als Mittel zur FeststeUung des mutmaßlichen gesetzgeberischen Willens vgl. Engisch, Einführung, S. 96, 208 Anm. 36; Larenz, Methodenlehre, S. 333 f., 347; Looschelders/Roth, JZ 1995, 1046; Staudinger/Coing, BGB, Einl. Rn 149. Zum mutmaßüchen gesetzgeberischen Willen s. auch oben B. II. 2. d) dd). 3 5
s. dazu oben D. I. 2.
11 Looschelders / Roth
162
D. Die Auslegung von Gesetzen
setzes36 noch anderswo einen (hinreichend eindeutigen) Niederschlag gefunden hat, kann man sich fragen, ob ihre Heranziehung als Auslegungsmaßstab überhaupt geeignet ist, die verfassungsrechtlich vorgeschriebene Gesetzesbindung des Rechtsanwenders zu wahren 37. Auch und gerade bei der teleologischen Interpretation ist jedoch zu bedenken, daß die Auslegung sich stets innerhalb der Grenzen des Gesetzeswortlauts zu bewegen hat 3 8 . Die teleologische Interpretation kann daher die Anwendung einer Norm nur dann rechtfertigen, wenn der infrage stehende Sachverhalt von ihrem Wortlaut (noch) erfaßt wird. Hat der Gesetzgeber aber eine Norm erlassen, die den betreffenden Sachverhalt ihrem Wortlaut nach regeln könnte, so entspricht es dem Demokratie- und Gewaltenteilungsprinzip eher, etwaige Zweifel über die Anwendbarkeit der Norm unter Zugrundelegung der mutmaßlichen gesetzgeberischen Wertenscheidung zu beheben, anstatt das Gesetz - und dies wären ja wiederum die einzigen Alternativen 39 - entweder stets nach dem weitesten Verständnis anzuwenden, das nach dem Wortlaut und dem (feststellbaren) tatsächlichen gesetzgeberischen Willen möglich ist, bzw. es schlicht unangewendet zu lassen, sobald der Wortlaut mehrdeutig ist und ein diesbezüglicher tatsächlicher Wille des Gesetzgebers nicht festgestellt werden kann, oder aber dem Richter die an seinen eigenen subjektiven Zweckmäßigkeits- und Wertvorstellungen orientierte Entscheidung zuzubilligen, welchen Inhalt das Gesetz im Rahmen des möglichen Wortsinn und des (feststellbaren) tatsächlichen gesetzgeberischen Willens haben solle 40 . Die notwendige Bindung des Rechtsanwenders an den mutmaßlichen Willen des Gesetzgebers und die darin liegende Begrenzung seiner Entscheidungsfreiheit gibt freilich noch keinen hinreichenden Eindruck von seiner Rolle im Rahmen der teleologischen Auslegung. Die Einschätzung dieser Rolle ist eng verknüpft mit der Frage, ob es hinsichtlich der Ermittlung der mutmaßlichen Wertentscheidung stets nur eine "richtige" Lösung gibt, die dem Rechtsanwender vorgegeben ist und die er nur noch im Wege der teleologischen Interpretation ausfindig machen muß. Zur Beantwortung dieser Frage ist die unterschiedliche Entscheidungssituation ex ante und ex post zu bedenken. Wenn der Gesetzgeber einen bestimmten Interessenkonflikt regeln will, so werden sich ihm hierfür oftmals mehrere Lösungsmöglichkeiten anbieten, die vor dem Hintergrund jener Maßstäbe und Kriterien, die diese Auswahl vernünftiger3 6
Vgl. Roth, Faktische Eingriffe, S. 230 Fn 1.
3 7
Vgl. die diesbezüglichen Bedenken gegen die teleologische Auslegung bei Koch/ Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 169. 3 8 Vgl. - spezieU mit Blick auf Art. 103 Abs. 2 GG - Schmidt-Aßmann, in Maunz/ Dürig, GG, Art. 103 Abs. 2 (30. Lfg. 1992) Rn 228. 3 9
Vgl. hierzu bereits oben B. II. 1. c).
4 0
In diesem Sinne auch Bydlinski,
Methodenlehre, S. 453 f.
ED. Methoden der textexternen Auslegung
163
weise leiten (und die deshalb auch vom Rechtsanwender bei der teleologischen Auslegung heranzuziehen sind 41 ), als mehr oder weniger akzeptabel erscheinen. A priori ist keine dieser Lösungsmöglichkeiten "richtig" oder "falsch", und es obliegt der rechtspolitischen Beurteilung des Gesetzgebers, fur welche er sich entscheiden will. Diese Entscheidimg ist aber auch unumgänglich. Kann oder will der Gesetzgeber nicht auf die betreffende Regelung verzichten, so muß er sich notgedrungen zu einer Wertentscheidung durchringen, welche die zu treffende Regelung tragen kann. Dies ist fur die vom Gesetzgeber erkannten Konflikte selbstverständlich, gilt aber - freilich im mutmaßlichen Sinne - auch fur die nicht erkannten: die Entscheidung des Gesetzgebers ist hier zwar nur eine hypothetische, doch auch bei hypothetischer Betrachtung kann ein Konflikt nur in einer Weise aufgelöst werden. Da die Rechtsanwendung dem Erlaß der Norm stets nachfolgt, gibt es idealiter nur eine richtige Auslegungsmöglichkeit 42f nämlich diejenige, die mit der tatsächlichen oder mutmaßlichen Wertentscheidung des Gesetzgebers bei Erlaß der Norm übereinstimmt bzw. - im Falle eines Umsetzungsfehlers 43 - dieser doch wenigstens am nächsten kommt und daher als die relativ "beste" Auslegungsvariante anzusehen ist. Läßt sich die Wertentscheidung des Gesetzgebers insofern aber gerade nicht ermitteln, so wird der Rechtsanwender effektiv in die ex ante-Situation versetzt, in der es noch mehrere a priori mögliche und insofern "richtige" Entscheidungsalternativen gab 44 . Das heißt zwar nicht, daß dem Rechtsanwender der Spielraum zuwüchse, den der Gesetzgeber in dieser Situation hatte; dies scheidet schon deshalb aus, weil die Norm nun einmal schon mit einem bestimmten Inhalt erlassen worden ist. Deshalb muß sich der Rechtsanwender vor Augen führen, daß er keineswegs dazu befugt ist, nach seinem rechtspolitischen Dafürhalten zu entscheiden. Gleichwohl besteht dann, wenn es eine tatsächliche Entscheidung des Gesetzgebers in bezug auf den betreffenden Interessenkonflikt nicht gibt oder sich eine solche zumindest nicht feststellen läßt, für den Rechtsanwender ein gewisser Spielraum; sofern die verschiedenen verbleibenden Lösungsmöglichkeiten nach den maßgeblichen Maximen und Kriterien wirklich als gleichwertig zu erachten sind, können sie dementsprechend sämtlich als "vertretbar" angesehen werden 45 . 4 1
s. hierzu unten D. III. 2. c). So auch Bleckmann, JZ 1995, 686, 687; Frisch, NJW 1973, 1348; Lorenz/ Canaris, Methodenlehre, S. 116, 256; Roth, Faktische Eingriffe, S. 645; Schenke, in BK, Art. 19 IV (Zweitbearb. 1982) Rn 337. 4 2
4 3
s. hierzu nachfolgend D. III. 2. d). Vgl. Schenke, DÖV 1986, 316; ferner Roth, Faktische Eingriffe, S. 645. 4 5 Vgl. Bleckmann, JZ 1995, 686; Blei, Strafrecht AT, S. 30; Arthur Kaufmann, Problemgeschichte der Rechtsphüosophie, S. 156; Palandt/Heinrichs, BGB, Einl. Rn 4 4
1*
164
D. Die Auslegung von Gesetzen
Aus diesem Umstand erhellt, daß besonders die teleologische Interpretation keinen bloßen (nachvollziehenden) Erkenntnisakt darstellt, sondern durchaus auch schöpferische Elemente beinhaltet46, und Akte des "bewertenden Erkennens, dem auch willenhafte Elemente" auf Seiten des Rechtsanwenders nicht fehlen, erfordern kann 47 . Die im Demokratieprinzip begründete Bindung der Auslegung an den (mutmaßlichen) Willen des Gesetzgebers darf dementsprechend nicht zu der Annahme verleiten, die Entscheidung sei stets durch den Gesetzgeber exakt vorprogrammiert; sie hindert den Rechtsanwender aber daran, der Entscheidung seine persönlichen Wertvorstellungen zugrundezulegen und damit die feststellbaren gesetzgeberischen Wertentscheidungen zu überspielen. Für die teleologische Auslegung bedeutet dies, daß der Rechtsanwender von den feststellbaren tatsachlichen Wertentscheidungen des Gesetzgebers ausgehen und sie mit Blick auf den infrage stehenden Sachverhalt "weiterdenken" muß, daß er also nicht nur zu rekonstruieren hat, sondern auch selbst konstruieren muß 48 . Da die feststellbaren tatsächlichen Entscheidungen des Gesetzgebers bei Notwendigkeit teleologischer Auslegung zumeist keinen stringenten Schluß auf die mutmaßliche Wertentscheidung zulassen werden, kommt der eigenen Wertung des Richters hier eine wichtige, wenn auch nur subsidiäre Funktion zu 4 9 . Auch diese eigene Wertung ist freilich nicht auf der Grundlage persönlicher Wert- und Zweckvorstellungen zu treffen, sondern aus der Sicht des Gesetzgebers vorzunehmen, in welche sich der Richter insofern hineindenken muß. In terminologischer Hinsicht ist zu beachten, daß der Begriff "teleologische Interpretation" auf unterschiedliche Weise verstanden werden kann: In einem weiteren Sinne kann von teleologischer Interpretation immer dann gesprochen werden, wenn der Inhalt der Norm mit Hilfe der tatsächlichen oder mutmaßlichen Wertentscheidung des Gesetzgebers - und in diesem Sinn über den telos
33, 38; aügemein zum Beurteüungsspielraum des Richters ferner Larenz, Methodenlehre, S. 217, 293 ff.; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 39, 114 ff. Vgl. auch BVerwGE 39, 197, 203 für den SonderfaU echter Beurteüungsspielräume. 4 6
Vgl. BVerfGE 34, 269, 287; Brugger, AöR 119 (1994), 28 ff.; Engisch, Einführung, S. 106 ff.; Hesse, Verfassungsrecht, Rn 56; Kratzmann, Volkssouveränität, S. 50 ff.; Larenz, Methodenlehre, S. 346; Maunz/Zippelius, Deutsches Staatsrecht, S. 45; Pawlowski, Methodenlehre, Rn 181 ff.; Roth, Faktische Eingriffe, S. 645. Allerdings ginge es zu weit, in jedweder Rechtsanwendung eine wertende Tätigkeit zu sehen (so aber Arthur Kaufmann, Problemgeschichte der Rechtsphüosophie, S. 31), da es in vielen Fäüen keine Beurteüungsalternative gibt, und es somit schHcht bei einem inteUektueUen Erkenntnisakt bleibt (vgl. Palandt/Heinrichs y BGB, Einl. Rn 33). 4 7
BVerfGE 34, 269, 287; s. hierzu auch oben B. II. 2. d) dd).
4 8
Maunz/Zippelius,
4 9
So auch Engisch, Heidelberg-FS, S. 9; ferner Heck, Grundriß, S. 14.
Deutsches Staatsrecht, S. 43.
ΠΙ. Methoden der textexternen Auslegung
165
der Norm 5 0 - bestimmt wird; da für die Ermittlung dieser Wertentscheidung die Erkenntnisse aller Auslegungsmethoden relevant sind, ließen sie sich insofern sämtlich als "teleologisch" verstehen 51, was freilich wenig unterscheidungskräftig wäre. In einem engeren Sinne stellt die teleologische Auslegung hingegen ein spezifisches Verfahren dar, um die mutmaßliche Wertentscheidung des Gesetzgebers zu ermitteln. Dieses engere Verständnis liegt zugrunde, wenn im folgenden von teleologischer Auslegung gesprochen wird.
b) Struktur der teleologischen Interpretation Ausgangsüberlegung der teleologischen Interpretationsmethode ist die Zweckhaftigkeit jeder Norm, d. h. der Umstand, daß der Gesetzgeber als wie vorausgesetzt werden kann - rational handelndes Subjekt mit dem Erlaß einer Norm einen bestimmten Zweck verfolgt 52 . Dieser Zweck besteht darin, einen bestimmten Interessenkonflikt so aufzulösen, wie es der Wertentscheidung des Gesetzgebers entspricht 53. Der "Zweck der Norm" darf also nicht mit den einzelnen Interessen der betroffenen Rechtssubjekte und der Allgemeinheit gleichgesetzt werden, die der Gesetzgeber bei seiner Wertentscheidimg berücksichtigt hat. Denn es mag zwar mehrere unterschiedliche oder sogar gegensätzliche Interessen geben, die der Gesetzgeber als grundsätzlich legitim anerkannt hat; da die Wertentscheidung aber gerade darin besteht, den Konflikt zwischen diesen Interessen in einer bestimmten Weise aufzulösen und das eine Interesse (bis zu einem gewissen Grad) zu Lasten des anderen zu bevorzugen, kann die Norm stets nur einen, nämlich den dieser Wertentscheidung korrespondierenden Zweck haben.
5 0
Dazu, daß vom Zweck der Norm nur als Kurzformel für den vom Gesetzgeber mit der Norm verfolgten Zweck gesprochen werden kann, s. oben B. II. 2. b) cc). 5 1 Vgl. Jescheck, Strafrecht AT, S. 138 f. ("die anderen Methoden sind im Grunde nur besondere Wege, auf denen man sich der Sinndeutung annähern kann"); Stein, Staatsrecht, S. 37 (es gibt nicht "vier klassische Auslegungsmethoden, sondern nur eine einzige, die teleologische, deren drei Elemente die sprachüche, die historische und die systematische Interpretation sind"); ferner Bydlinski, Methodenlehre, S. 454 ("teleologisch-systematische Auslegung"); Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 167 ff. (historische und genetische Auslegung als Anwendungsfaüe der " subjektiv-teleologischen Auslegung " ). 5 2 5 3
Vgl. Bydlinski,
Methodenlehre, S. 406.
Vgl. Zippelius, Rechtsphüosophie, S. 143: Die Auslegung "soll den 'Gesetzeszweck ' verwirklichen. Dies hat eine rationale Grundlage in der staatlichen Funktionenteüung: Es soüen die Zweck- und Zweckmäßigkeitsvorsteüungen verwirkücht werden, die dem Gesetzgeber insbesondere nach der Vor- und Entstehungsgeschichte der Norm zu unterstellen sind".
166
D. Die Auslegung von Gesetzen
Im Falle der Unbestimmtheit und Auslegungsbedürftigkeit der Norm droht die Verwirklichung des vom Gesetzgeber mit ihr verfolgten Zwecks vereitelt zu werden, weil hier die Gefahr besteht, daß der auf einen Entscheidimgsmaßstab angewiesene Richter den betrachteten Sachverhalt in einer Weise entscheidet, die mit der Wertentscheidung des Gesetzgebers nicht in Einklang steht. Um solche Zweckverfehlungen zu vermeiden, hat der Richter bei etwaigen Unklarheiten den Zweck der Norm mit der dahinterstehenden Wertentscheidimg in einem Prozeß von Analyse und Synthese zu ermitteln 54 und die so gefundene Wertentscheidung sodann bei der Auslegung der Norm zugrundezulegen. Dabei sind die Erkenntnisse zu berücksichtigen, welche die grammatische, die systematische, die historische und die genetische Interpretation erbracht haben. Diese mögen wichtige Anhaltspunkte für die Bestimmung der mutmaßlichen Wertentscheidung liefern; soweit der sprachliche Sinn des Gesetzestextes oder der tatsachliche Wille des Gesetzgebers auf ihrer Grundlage schon definitiv festgestellt werden konnte, kommt ihnen zudem eine die teleologische Auslegung begrenzende Wirkung zu. Denn auf die mutmaßliche Wertentscheidung des Gesetzgebers kann bei der Auslegung nur insoweit abgestellt werden, wie es der mögliche Wortsinn und der schon ermittelte tatsächliche Wille des Gesetzgebers zulassen55. Um die mutmaßliche gesetzgeberische Wertentscheidung in dem durch die Ergebnisse der vorigen Auslegungsstufen vorgegebenen Rahmen aufzuhellen, bedarf es zunächst einer Analyse der in Betracht kommenden Interessenkonflikte und der bei Zugrundelegung der verschiedenen denkbaren Normzwecke jeweils durchscheinenden Wertungen. Der entscheidende Schritt im Zuge der teleologischen Interpretation besteht sodann in der Synthese jener Interessen und Wertungen zu der (mutmaßlichen) gesetzgeberischen Wertentscheidung,
5 4
Vgl. Roth, Faktische Eingriffe, S. 259. s. oben D. I. 2. Den Vorrang des tatsächüchen gegenüber dem mutmaßlichen Wülen des Gesetzgebers betonen auch Engisch, Einführung, S. 250 Anm. 106b; Hassold, ZZP 94 (1981), 192 ff., 209 f.; Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 182 ff.; Larenz, Methodenlehre, S. 344; soweit die genannten Autoren statt von dem "mutmaßlichen Willen des Gesetzgebers" von dem "objektiven Zweck des Gesetzes" sprechen, ergeben sich diesbezüglich keine sachlichen Unterschiede. Zu dem vergleichbaren Problem, daß auch bei der ergänzenden Vertragsauslegung der hypothetische Parteiwüle nicht in Widerspruch zu dem tatsächlichen angenommen werden darf, vgl. BGHZ 9, 273, 278; 90, 69, 77; Larenz, BGB AT, S. 539; Mayer-Maly, in MünchKomm BGB, § 157 Rn 41; Palandt/Heinrichs, BGB, § 157 Rn 8; Soergel/ Wolf, BGB, § 157 Rn 125. Zum parallelen Problem des Verhältnisses zwischen tatsächlichem und mutmaßlichem Willen des Geschäftsherrn bei der Geschäftsführung ohne Auftrag vgl. Medicus, Bürgerüches Recht, Rn 423; Steffen, in BGB-RGRK, vor § 677 Rn 73. 5 5
ΠΙ. Methoden der textexternen Auslegung
167
nach welcher sich dann bestimmt, welche Auslegungsalternative fur zutreffend zu erachten ist.
aa) Analyse: Ermittlung der Auslegungsvarianten und der korrespondierenden Wertentscheidungen Hat die grammatische, systematische, historische und genetische Interpretation noch zu keinem definitiven Auslegungsergebnis geführt, so heißt dies, daß noch mehrere Auslegungsmöglichkeiten in Betracht kommen 56 . Der erste Schritt bei der Analyse muß daher sein, diese mit den Ergebnissen der bisher erfolgten Auslegung verträglichen "Normvarianten" 57 oder "Auslegungsalternativen " 58 klar herauszuarbeiten. Denn die teleologische Interpretation kann angesichts ihrer gedanklichen Abstraktheit nicht gelingen, wenn die Bedingungen und Voraussetzungen, unter der sie stattfindet, nicht geklärt werden. Jeder dieser herauszuarbeitenden " Normvarianten " korrespondiert nun genau ein Zweck, den der Gesetzgeber mit dem Erlaß der in der fraglichen Weise verstandenen Norm verfolgt haben könnte, und dem auch genau eine gesetzgeberische Wertentscheidung entspricht, denn je nachdem, welche Auslegungsalternative zuträfe, regelte die Norm (teilweise) andere Interessenkonflikte bzw. den infrage stehenden Interessenkonflikt in (teilweise) anderer Weise. Daß nach dem bisherigen Auslegungsergebnis mehrere "Normvarianten" übriggeblieben sind, ist daher gleichbedeutend mit der Aussage, daß die betreffende Rechtsnorm Ausdruck verschiedener Wertentscheidungen sein könnte, daß es also entsprechend den "Normvarianten" mehrere Möglichkeiten für die Wertentscheidung gibt. Es ist ein zentrales Element der Analyse, diese "Wertentscheidungsvarianten" präzise herauszuarbeiten, d. h. für jede nach dem bisherigen Auslegungsergebnis mögliche "Normvariante" die zu ihr passende Wertentscheidung genau zu formulieren. Zwar kann der Gesetzgeber tatsächlich nur eine Wertentscheidung getroffen haben, und auch soweit diese nicht nicht feststellbar ist, kann lediglich eine mutmaßliche Wertenscheidung angenommen werden. Dieser Umstand entbindet aber nicht von der Notwendigkeit, sich die denkbaren Alternativen vor Augen zu führen. Denn die für die teleologische Interpretation entscheidende Frage lautet, welche der hypothetisch in Betracht kommenden Möglichkeiten 5 6
Vgl. Hesse, Verfassungsrecht, Rn 68; Starck, § 164 Rn 18. 5 7 BVerfGE 40, 88, 94; Bydlinski, von "Normhypothesen".
in Isensee/Kirchhof, HStR VII,
Methodenlehre, S. 404, 425 spricht hier auch
5 8 Ρalandt/Heinrichs, BGB, Einl. Rn 38; Zippelius, Die experimentierende Methode, S. 10; ferner Heck, Gesetzesauslegung, S. 33 ( = Studien und Texte II, S. 60): " Auslegungshypothesen ".
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D. Die Auslegung von Gesetzen
dieser einen - wenn auch nur mutmaßlichen - Wertentscheidung entspricht. Diese Frage ist im Rahmen der Synthese zu lösen, die damit die entscheidende Rolle im Prozeß der teleologischen Auslegung spielt. Gleichwohl darf die Bedeutung der Analyse nicht unterschätzt werden. Die synthetische Ermittlung der gesetzgeberischen Wertentscheidung baut auf den analytisch gefundenen Möglichkeiten auf, und deshalb kann die Synthese nicht erfolgreich durchgeführt werden, wenn das in diese einzubringende Material unrichtig zusammengestellt ist. Wenn etwa der Rechtsanwender bestimmte Auslegungsmöglichkeiten übersieht oder die den erkannten Auslegungsmöglichkeiten jeweils korrespondierenden Wertentscheidungen unzutreffend oder unzulänglich herausarbeitet, so kann auch der folgende Schritt nicht überzeugend gelingen, muß die Bestimmung der zutreffenden Wertentscheidung Ergebnis eines Zufalls bleiben oder gar fehlschlagen 59. Bei der Analyse ist deshalb Wert auf die präzise Herausarbeitung und Formulierung der den jeweiligen Normvarianten korrespondierenden Wertentscheidungen zu legen. Werden diese nicht hinreichend differenziert bestimmt, so muß die nachfolgende Synthese letztlich in einer willkürlichen Auswahl unter den Normvarianten enden. Sieht man beispielsweise hinter sämtlichen Auslegungsvarianten einer Norm nur pauschal die Wertentscheidung, die "Gerechtigkeit" zu verwirklichen, so kann der Rechtsanwender im nächsten Schritt praktisch nach seinem Belieben die Variante auswählen, die er persönlich für gerecht hält, weil dieses Kriterium so vage ist, daß es die Auswahl nicht begrenzen oder steuern kann. Legt man hingegen die denkbaren Wertentscheidungen in der gebotenenen Weise inhaltlich präziser fest (also z. B. wie und wodurch das Gerechtigkeitsziel in den verschiedenen Normvarianten verfolgt werden soll), so kann auch die nachfolgende Synthese fruchtbarer durchgeführt werden. Die genaue Herausarbeitung der Wertentscheidungsvarianten stellt eine nicht immer leichte Aufgabe dar. Dies liegt aber in der abstrakten Natur des Gegenstandes, an den die teleologische Interpretation anknüpft, begründet. Auch insofern unterscheidet sich die teleologische Interpretation beträchtlich von den anderen Auslegungsmethoden: Die grammatische und die systematische Interpretation knüpfen an den Gesetzestext an; ihre Durchführung setzt deshalb nur die Ermittlung dieses Textes voraus, was jedenfalls bei der großen Mehrzahl der heute praktisch relevanten Gesetze keine Probleme bereitet, da ein Blick ins Gesetzblatt genügt. Nicht ganz so einfach ist demge5 9
Deshalb betont Heck, Grundriß, S. 15 auch zurecht, daß der Richter die ihm gesteüten Aufgaben nur lösen kann, "wenn er das Recht und das Leben und den Zusammenhang kennt, der zwischen Recht und Leben besteht", und daß die Erkenntnis einer Norm das Erkennen des Interessengehaltes voraussetzt, der Wirkung, die sie auf diese Interessen ausübt.
. Methoden der textexternen Auslegung
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genüber zwar die Ermittlung der Gesetzesmaterialien und die Feststellung des Verständnisses, welches den Vorläufern der betrachteten Norm beigelegt worden ist; immerhin lassen sich aber auch diese Anknüpfungsgegenstände der genetischen und historischen Auslegung noch mit Hilfe realer Anhaltspunkte gewinnen. Bei der teleologischen Interpretation liegt demgegenüber eine Hauptschwierigkeit schon in der Ermittlung der denkbaren Normzwecke. Bloße Textbetrachtung genügt hier ebensowenig wie die Feststellung der tatsächlichen historischen bzw. entstehungsgeschichtlichen Umstände; vielmehr erfordert bereits diese Zweckermittlung einen erheblichen gedanklichen Aufwand. Der analytische Prozeß, den der Rechtsanwender zur Ermittlung der verschiedenen Wertentscheidungsalternativen zu durchlaufen hat, ist für jede Normvariante derselbe, die Fragestellung jeweils die gleiche: Für jede Normvariante ist zu untersuchen, welche Sachverhaltskonstellationen die Norm bei diesem Verständnis erfassen und in welcher Weise sie diese regeln würde. Sodann muß man sich fragen, welchen Zweck ein rationaler Gesetzgeber vernünftigerweise verfolgen könnte, wenn er solche Sachverhalte in solcher Weise zu regeln suchte60. Insofern ist hier ein analytisches "Gedankenexperiment" 61 vorzunehmen, bei dem sich der Interpret in die Rolle des Gesetzgebers hineinversetzen und in bezug auf jede Normvariante die korrespondierende Wertentscheidung gedanklich nachvollziehen muß, wobei selbstverständlich alle Erkenntnisse zu berücksichtigen sind, die auf den vorhergehenden Auslegungsstufen gewonnen wurden. Bei dieser Analyse muß man sich vergegenwärtigen, daß mit einer Norm häufig mehrere unterschiedliche Interessen geschützt werden, manchmal sogar solche, die zueinander in einem Spannungsverhältnis stehen62, wohingegen der Gesetzgeber aber nur eine Wertentscheidung getroffen haben kann, mit der die etwaigen zu schützenden Interessen untereinander in eine Rangfolge bzw. zu einem Ausgleich gebracht werden. Die herauszuarbeitenden Wertentscheidungsalternativen werden sich daher regelmäßig durch eine mehr oder weniger große Komplexität auszeichnen, da sie die vielfaltigsten Interessen berücksichtigen können. Gegenüber einer pauschalierenden und unzulässig vereinfachenden Formulierung der möglichen Wertentscheidungen ist deshalb Skepsis angebracht, da eine solche ersichtlich nicht dem Umstand gerecht würde, daß in die Entscheidung über den Erlaß einer Norm oftmals vielfaltigste Erwägungen einfließen. Die Formulierung einer völlig unspezifischen
6 0
Treffend Bydlinski,
6 1
Bydlinski,
6 2
Methodenlehre, S. 403, 408, 454.
Methodenlehre, S. 403.
Vgl. Herzberg, der Norm spricht.
NJW 1990, 2526 ff., der aber von verschiedenen "Zwecken"
170
D. Die Auslegung von Gesetzen
Wertentscheidungshypothese wird daher selten der wirklichen Wertentscheidung des Gesetzgebers nahe kommen können.
bb) Synthese: Ermittlung der (mutmaßlichen) gesetzgeberischen Wertentscheidung Sind im Wege der Analyse die Wertentscheidungsalternativen herausgearbeitet worden, die mit dem bisherigen Auslegungsergebnis vereinbar sind und insofern der Norm zugrundeliegen könnten, so ist im zweiten Schritt im Wege der Synthese die zutreffende (mutmaßliche) Wertentscheidimg zu bestimmen, d. h. diejenige, von der man mit den besten Gründen annehmen kann, daß sie der wirklichen Wertentscheidung des Gesetzgebers entspricht. Die Synthese darf jedoch nicht einfach dahin verstanden werden, daß ein Kompromiß zwischen den überhaupt in Betracht kommenden Wertentscheidungsvarianten zu suchen wäre. Dies ist schon deshalb nicht möglich, weil die unterschiedlichen Auslegungsalternativen häufig für gänzlich verschiedene, wenn nicht gar gegenläufige Wertungen stehen. Davon abgesehen sind Kompromißlösungen regelmäßig auch gar nicht sachgerecht, weil davon ausgegangen werden muß, daß der Gesetzgeber eine bestimmte Wertentscheidung tatsächlich getroffen hat bzw. mutmaßlich getroffen hätte, wenn ihm der infrage stehende Interessenkonflikt bewußt geworden wäre, auch wenn die betreffende Regelung voti ihrem Text her auch für eine andere Wertentscheidung stehen könnte. Diese eine mutmaßliche gesetzgeberische Wertentscheidung darf nicht durch Vermengung mit anderen (hypothetischen) Wertentscheidungen verwässert oder verfälscht werden. Eine Synthese, verstanden als die Vereinigung zweier Gegenstände, kann nur erfolgen, wo sich die zusammenzuführenden Gegenstände vertragen; letzteres ist indes hinsichtlich der verschiedenen Varianten möglicher Wertentscheidungen nicht der Fall: Da der Gesetzgeber nur eine Wertentscheidung treffen kann, schließen sich die Alternativen gegenseitig logisch aus. Es ist deshalb unzulässig, bei der textexternen Auslegung eine Wertentscheidung zugrundezulegen, die sich - etwa im Sinne der Herbeiführung einer praktischen Konkordanz - als Kompromiß zwischen allen auf der Grundlage des Gesetzestextes denkbaren Wertentscheidungen darstellt. Der Konkordanzgedanke63 hat seinen Platz dort, wo es um die unausweichliche Notwendigkeit geht, kollidierende Prinzipien so zu einem Ausgleich zu bringen, daß nicht
6 3 Vgl. dazu Hesse, Verfassungsrecht, Rn 72, 318; ferner BVerfGE 35, 202, 225; 41, 29, 51; 83, 130, 143; Alexy, Grundrechte, S. 152; Looschelders, Anpassung, S. 171 f.; Roth, Faktische Eingriffe, S. 457 f.; Stern, Staatsrecht III/2, S. 603 ff.; Zippelius, Methodenlehre, S. 51.
. Methoden der textexternen Auslegung
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etwa das eine gänzlich hinter dem anderen zurückzutreten hat, sondern jedes so viel nachgeben muß, wie erforderlich ist, damit auch das andere so weit als möglich seine Wirksamkeit behält. Bei der teleologischen Auslegung geht es jedoch nicht darum, die verschiedenen denkbaren Wertentscheidungen zu einem Ausgleich zu bringen, sondern vielmehr darum, unter ihnen eine Auswahl zu treffen 64 , und zwar so, daß sie der mutmaßlichen Wertentscheidung des Gesetzgebers (bestmöglich) entspricht. Die vorzunehmende Synthese bezieht sich somit auf das Verhältnis der verschiedenen denkbaren Wertentscheidungen zu den anderweitig feststellbaren Wertentscheidungen des Gesetzgebers sowie den Prinzipien und Ordnungsvorstellungen, die in der gesamten übrigen Rechtsordnung zutage treten 65 . Als (mutmaßliche) gesetzgeberische Wertentscheidung ist diejenige Wertentscheidungsalternative auszuwählen, die in Verbindung mit den sonstigen Wertungen das sinnvollste und vernünftigste Ganze ergibt, sich mit jenen sonstigen Wertungen am besten vereinbaren läßt 66 . Denn bei Fehlen gegenteiliger Anhaltspunkte ist davon auszugehen, daß der betrachteten auslegungsbedürftigen Norm die Wertentscheidung zugrundeliegt, welche sich bestmöglich in die Gesamtrechtsordnung einfügt, daß dem Gesetzgeber also nicht schon bei der Bildung seiner Wertentscheidung Irrtümer, Wertungswidersprüche und Systembrüche unterlaufen sind 67 , sondern daß sich die der Norm zugrundeliegende Wertentscheidung so in das Umfeld einfügt, daß sich ein kohärentes Wertungssystem ergibt 68 . Da der Rechtsanwender im Zweifel davon ausgehen kann, daß der Gesetzgeber eine Wertentscheidung getroffen hat bzw. getroffen hätte, die sich solcherart in die Gesamtrechtsordnung einfügt, entspricht eine so verstandene teleologische Auslegung zugleich dem Grundsatz, daß der Wille des Gesetzgebers den Auslegungsmaßstab bildet.
6 4
Vgl. Kasper , JZ 1995, 748 (Auswahl unter "Normentwürfen"); Maunz/Zippelius , Deutsches Staatsrecht, S. 43 ("Wahl der zutreffenden Wortbedeutung"); Zippelius , FG BVerfG II, S. 108 f. 6 5
Vgl. Canaris , Systemdenken, S. 91: "Argumentation aus dem inneren System des Gesetzes". 6 6
Vgl. Kasper , JZ 1995, 748; Larenz , Methodenlehre, S. 334 f., 344; Larenz/ Canaris , Methodenlehre, S. 157 f., 165; Säcker , in MünchKomm BGB, Einl. Rn 125; Staudinger/Coing y BGB, Einl. Rn 149. 6 7 6 8
Vgl. Bydlinski , Methodenlehre, S. 410.
Zur Bedeutung des Kohärenzgedankens für die Auslegung und Rechtsfortbüdung vgl. Bydlinski , Methodenlehre, S. 410; Canaris , Systemdenken, S. 16 ff., 86 ff.; Larenz , Methodenlehre, S. 437 ff.; Larenz/Canaris , Methodenlehre, S. 263 ff.; ferner unten E. III. 2. d) spezieü in bezug auf die ergänzende Rechtsfortbüdung.
172
D. Die Auslegung von Gesetzen
Die Auswahl der zutreffenden Wertentscheidungsalternative bereitet noch größere Schwierigkeiten als die vorausgehende Ermittlung der zu den jeweiligen Normvarianten gehörigen möglichen Wertentscheidungen, aus denen die Auswahl zu erfolgen hat. Das Problem besteht darin, festzustellen, welche Bedeutung den an anderer Stelle zum Ausdruck gelangten Wertentscheidungen und generellen Ordnungsvorstellungen des Gesetzgebers im Hinblick auf die vorliegende Norm beizumessen ist und wie die verschiedenen denkbaren Zwecke vor diesem Hintergrund zu bewerten sind. Daß diese Feststellungen sich nicht immer stringent treffen lassen, liegt auf der Hand. Je mehr Auslegungsmöglichkeiten und damit korrespondierende denkbare Zwecke und Wertentscheidungen aufgrund der Ergebnisse der anderen Auslegungsmethoden in Betracht kommen, desto unsicherer ist daher die teleologische Interpretation. Ziel der Synthese ist die Bestimmung deijenigen Wertentscheidungsalternative, welche den sonstigen Wertentscheidungen des Gesetzgebers am besten entspricht. Bei der praktischen Rechtsanwendung besteht freilich das Problem, daß sich eine solche optimale Alternative nur selten in einem positiven Sinne sicher feststellen läßt. Demgegenüber fällt es häufig leichter, negativ festzustellen, daß eine bestimmte Wertentscheidungsalternative mit den sonstigen Wertentscheidungen des Gesetzgebers unvereinbar ist. Bei der Durchführung der Synthese empfiehlt sich daher, in einem ersten Schritt ein Eliminationsverfahren durchzufuhren, bei dem jene Wertentscheidungsalternativen ausgeschieden werden, die mit den sonstigen Wertentscheidungen des Gesetzgebers nicht harmonieren 69; bleibt aufgrund dieses Verfahrens nur eine Wertentscheidungsalternative übrig, so ist die Lösimg gefunden. Kommen hingegen auch nach Durchführung des Eliminationsverfahrens noch mehrere Wertentscheidungsalternativen ernsthaft in Betracht, so ist eine positive Bestimmung der "besten" Alternative unumgänglich. Zu diesem Zweck hat der Rechtsanwender in einem zweiten Schritt zu versuchen, die Interessenabwägung zu (rekonstruieren, die der Gesetzgeber in Ansehung des vorliegenden Interessenkonflikts mutmaßlich getroffen hätte; vorzugswürdig ist danach jene Wertentscheidungsalternative, die sich am ehesten als Ausfluß eben dieser (hypothetischen) Interessenabwägung des Gesetzgebers darstellt.
cc) Notwendigkeit der Feststellung der mutmaßlichen Wertentscheidung Gegen das hier entwickelte Verständnis der teleologischen Interpretation läßt sich nicht einwenden, daß es sich um einen gedanklichen Umweg handele, weil man ja, sofern der Zweck der Norm bekannt sei, sogleich über ihre 6 9
Vgl. zu diesem Eliminationsverfahren Bydlinski,
Methodenlehre, S. 410 ff.
. Methoden der textexternen Auslegung
173
Auslegung befinden könne, ohne erst noch die mutmaßliche gesetzgeberische Wertentscheidung heranzuziehen. Dieser Einwand vermöchte zum einen schon deshalb nicht zu überzeugen, weil eine Norm keinen Zweck an sich haben kann, sondern immer nur einen solchen, der von einem bestimmten Subjekt (tatsächlich oder mutmaßlich) mit ihr verfolgt wird 7 0 . Zum anderen ist zu beachten, daß einer Norm, deren Inhalt sich mit Hilfe der übrigen Auslegungsmethoden noch nicht definitiv klären läßt, mehrere denkbare Zwecke zugrundeliegen können. Der wirkliche, gesetzgeberisch gewollte Zweck der Norm steht insofern also gerade noch nicht fest, sondern muß erst aus den verschiedenen denkbaren Normzweckvarianten ausgewählt werden. Insofern erweist sich, daß es mit der Feststellung der denkbaren Zwecke, welche mit der Norm verfolgt werden können, keineswegs sein Bewenden haben kann. Der Rechtsanwender darf sich auch nicht etwa damit begnügen, aus diesen denkbaren Zwecken einen auszuwählen, der nach seinen eigenen Vorstellungen am wichtigsten oder "wertvollsten" erscheint, und die Norm dann so auslegen, daß eben dieser Zweck erreicht werden kann 71 . Es bedarf vielmehr einer eingehenden Bewertung der infrage kommenden Zwecke, die in Anbetracht der prinzipiellen Auslegungsmaßstabskompetenz des Gesetzgebers72 an dessen Willen ausgerichtet werden muß. Das Problem besteht dabei freilich darin, daß eben dieser Wille - in Gestalt der Wertentscheidung - auf den vorangegangenen Stufen der Auslegung noch nicht ermittelt werden konnte. Da nun jedem der denkbaren Zwecke eine je andere (mutmaßliche) Wertentscheidung entspricht, geht es bei der teleologischen Interpretation im Kern darum, eine Auswahl zwischen den denkbaren Wertentscheidungen zu treffen. Wollte man hingegen allein auf den objektiven Zweck des Gesetzes abstellen, so führte dies letztlich dazu, daß die gebotene Bewertung der infrage stehenden Zwecke entweder gänzlich unterbliebe oder aber an einem anderen Maßstab nämlich den persönlichen Wert- und Zweckvorstellungen des Rechtsanwenders - ausgerichtet würde. Die Rückbindung an die hinter der Norm stehende (sei es auch nur mutmaßliche) Wertentscheidung des Gesetzgebers stellt demnach einen notwendigen gedanklichen Zwischenschritt dar, um eine sachgerechte Handhabung der teleologischen Auslegung zu gewährleisten.
c) Der Auswahlvorgang bei der teleologischen Auslegung Leitgedanke der teleologischen Auslegung ist es, die der auslegungsbedürftigen Norm zugrundeliegende mutmaßliche Wertentscheidung dadurch zu
7 0
s. oben B. II. 2. b) cc).
7 1
Krit. insofern auch Herzberg, NJW 1990, 2525, 2527. s. oben B. II. 2.
7 2
174
D. Die Auslegung von Gesetzen
ermitteln, daß aus den nach dem Ergebnis der bisherigen Auslegung überhaupt denkbaren Wertentscheidungen jene ausgewählt wird, die am besten mit den sonstigen Entscheidungen des Gesetzgebers harmoniert. Dabei ist zuallererst auf die innere Stimmigkeit der Wertentscheidung zu achten; Bezugspunkte ergeben sich insofern aus den Feststellungen über den Inhalt der Norm, die auf den vorherigen Auslegungsstufen getroffen worden sind. Soweit die betreffende Norm in enger Beziehung zu anderen Normen steht, von denen die zugrundeliegende Wertentscheidung bekannt ist, ist die Kohärenz aber auch an diesen äußeren Bezugspunkten zu messen. Schwieriger stellt sich die Lage dar, wenn solche spezifischen Bezugspunkte fehlen oder die in Betracht kommenden Wertentscheidungen der anderen Normen zu unspezifisch sind, um schon für sich eine Auswahl nach dem Kohärenzgedanken zu gestatten. Dann ist auf zusätzliche Zielvorgaben zurückzugreifen, an denen sich der Gesetzgeber - wie unterstellt werden kann - bei der Auflösung des infrage stehenden Interessenkonflikts selbst gehalten hat bzw. gehalten hätte und an denen demzufolge auch die gesuchte mutmaßliche Wertentscheidung zu messen ist. Als solche Zielvorgaben für die Bewertung der kollidierenden Interessen haben sich verschiedene Interessenwertungskriterien herausgebildet, von denen der Rechtsanwender im Zweifel annehmen kann, daß sich auch der Gesetzgeber daran orientiert hat. Die Auswahl der hiernach für zutreffend zu erachtenden Wertentscheidungshypothese erfolgt in einem erforderlichenfalls mehrstufigen Prozeß, bei dem zunächst schrittweise die Hypothesen eliminiert werden, die unter dem Aspekt der inneren oder äußeren Kohärenz oder wegen Unvereinbarkeit mit einer Interessenwertungsmaxime nicht in Betracht kommen; bleiben nach diesem Eliminationsverfahren noch mehrere Hypothesen übrig, die den genannten Auswahlkriterien genügen, so muß der Rechtsanwender positiv bestimmen, welche von ihnen den betreffenden Kriterien am besten entspricht.
aa) Innere Kohärenz Da man bei der Gesetzesauslegung davon ausgehen muß, daß die Norm von einem rationalen Gesetzgeber erlassen wurde, ist als oberstes Auswahlprinzip auf die innere Kohärenz und Stimmigkeit der Wertentscheidung zu achten. Deshalb sind alle Auslegungsvarianten auszuscheiden, denen eine in sich widersprüchliche und unstimmige Wertentscheidung zugrunde liegen müßte; vorzugswürdig ist die Auslegungsvariante, die mit den sonstigen Feststellungen über den Inhalt der Norm am besten harmoniert. Besondere Bedeutung als Auswahlkriterium erlangt das Prinzip der inneren Kohärenz im Hinblick auf das Verhältnis von Normkern und Normhof. Wie bereits dargelegt worden ist, besitzt praktisch jede Rechtsnorm einen bestimmten, als Normkern zu bezeichnenden Bereich, innerhalb dessen die er-
III. Methoden der textexternen Auslegung
175
faßten Sachverhalte und die angeordneten Rechtsfolgen unzweifelhaft sind 73 . Auch soweit nun im Bereich des Normhofes diese Punkte Zweifeln unterliegen, so kann doch in bezug auf den Normkern im Wege des bereits genannten Gedankenexperiments74 sinnvoll gefragt werden, was ein vernünftiger Gesetzgeber gewollt haben kann und welche Wertentscheidung er getroffen haben muß, wenn er jedenfalls solche Sachverhalte im Auge hatte und in der betreffenden Weise geregelt hat 7 5 . Wie auch immer diese aus dem Normkern abzuleitende Wertentscheidung aussieht - im Bereich des Normhofes darf die Norm jedenfalls nicht so ausgelegt werden, daß sich ein innerer Wertungswiderspruch ergäbe. Als gesetzgeberische Wertentscheidung muß vielmehr eine solche angenommen werden, die die im Normkern und die etwaigen im Normhof liegenden Sachverhalte in einer in sich konsistenten Weise regelt. Das heißt, soweit der Normhof bestimmte Sachverhalte erfaßt, müßte auf sie ebenfalls jene Wertentscheidung zutreffen, die sich aus der Betrachtung der im Normkern liegenden Sachverhalte ergibt. Ein positiver Schluß vom Normkern auf den Normhof ist freilich nur in bezug auf solche Sachverhalte möglich, die allein aufgrund der - vielleicht unglücklichen - Gesetzesformulierung dem Normhof zuzuordnen sind, sich von der Interessenlage her betrachtet aber in keiner irgendwie relevanten Weise von jenen Sachverhalten unterscheiden, die im Normkern liegen; hier muß aus Gründen der inneren Kohärenz davon ausgegangen werden, daß die Wertentscheidung des Gesetzgebers auf eine einheitliche Behandlung beider Sachverhaltsgruppen gerichtet ist. Beispiel (2): Die Struktur eines solchen positiven Schlusses vom Normkern auf den Normhof läßt sich anhand der bereits oben 7 6 aufgeworfenen Frage verdeutlichen, ob die Bürgschaft einen "Vertrag über eine entgeltliche Leistung" i.S.d. § 1 HWiG darstellt und somit vom Schutzbereich dieses Gesetzes erfaßt wird. In den Normkern des § 1 HWiG fallt unzweifelhaft der Abschluß eines gegenseitigen Vertrages, etwa eines Kaufvertrages nach § 433 BGB, soweit dieser nicht schon unter das VerbrKrG fällt (§ 5 Abs. 2 H W i G ) 7 7 . Im Hinblick auf solche im Normkern liegenden Sachverhalte liegt der Zweck des in § 1 HWiG eingeräumten Widerrufsrechts auf der Hand: Es geht dem Gesetzgeber offensichtlich darum, den - geschäftlich häufig unerfahrenen - Verbraucher vor einer Überrumpelung zu schützen, die dadurch herbeigeführt wird, daß ihm in einer bestimmten Situation überraschend die Aussicht auf einen in einer Leistung des anderen Vertragspartners bestehenden Vorteü eröffnet wird 7 8 . Da die Bürgschaft nach einer Auslegungsalternative von 7 3 7 4 75 7 6
s. oben D. II. 1. c). s. vorstehend D. III. 2. b) aa). Vgl. Bydlinski, Methodenlehre, S. 403, 408. B. II. 1. b) Beispiel (1).
7 7
Vgl. Palandt/Putzo,
7 8
Vgl. Schanbacher, NJW 1991, 3264.
BGB, Einl. HWiG Rn 5.
176
D. Die Auslegung von Gesetzen
§ 1 HWiG erfaßt wird, nach einer anderen hingegen nicht, fallt sie in den Normhof. Der fur die im Normkern liegenden Verträge maßgebliche Schutzzweck trifft auf sie aber jedenfalls dann zu, wenn der Bürge die Bürgschaftserklärung in der Erwartung abgibt, ihm oder einem bestimmten Dritten werde daraus irgendein Vorteil erwachsen 79 . Es ist daher davon auszugehen, daß der Gesetzgeber solche im Normhof liegenden Bürgschaftsverträge nicht anders behandelt sehen woüte wie die im Normkern Hegenden gegenseitigen Verträge. Diese Auslegung wird auch durch den Grundsatz der gemeinschaftsrechtskonformen Interpretation® 0 indiziert: Denn die vom Rat der EG erlassene Richtlinie vom 20. 12. 1985 betreffend den Verbraucherschutz im Falle von außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen (85/577/EWG) 8 1 beschränkt das Widerrufsrecht des Verbrauchers nicht auf Verträge "über eine entgeltliche Leistung", sondern spricht vielmehr in ihrer 1. Begründungserwägung einseitige Verpflichtungserklärungen ausdrücklich als Regelungsanlaß der Richtlinie a n .
Anders verhält es sich, wenn die Interessenlage bei den im Normhof liegenden Sachverhalten zumindest partiell von jener abweicht, die bei den zum Normkern gehörigen Sachverhalten besteht. Je nachdem, ob man davon ausgeht, der Gesetzgeber habe die Gemeinsamkeiten oder die Unterschiede betonen wollen, kann die Norm hier in bezug auf ihren "Hof" durchaus unterschiedlich ausgelegt werden, ohne daß sich hierdurch ein Widerspruch zur Behandlung der im Normkern liegenden Sachverhalte ergeben muß. Bei dieser Sachlage ermöglicht es das Kriterium der inneren Kohärenz zwar nicht, eine einzige Wertentscheidungshypothese als zutreffende zu ermitteln. Bei der Elimination unzutreffender Auslegungshypothesen stellt das Kriterium der inneren Kohärenz aber auch hier einen ersten Filter von größter Bedeutung dar.
bb) Äußere Kohärenz Soweit nach dem Prinzip der inneren Kohärenz noch mehrere Auslegungsalternativen nebst den ihnen jeweils entsprechenden Wertentscheidungshypothesen in Betracht kommen, hat die weitere Auswahl nach dem Prinzip der äußeren Kohärenz zu erfolgen, d. h. es ist ein wertungsmäßiger Einklang in bezug auf andere Normen sowie die Rechtsordnung überhaupt anzustreben. Hier7 9 8 0 81 8 2
BGH, NJW 1993, 1594, 1595. Dazu sogleich D. III. 2. c) bb) (1). Abgedruckt in Erman/Klingsporn,
BGB, Anh. nach § 9 HWiG.
Vgl. BGH, NJW 1993, 1594, 1595; NJW 1996, 55, 56; Erman/Klingsporn, BGB, § 1 HWiG Rn 4c. Da der Inhalt der Richtlinie 85/577/EWG insofern nicht ganz eindeutig ist, hat der IX. Zivüsenat des BGH, da er an seiner bisherigen restriktiven Auffassung festhalten möchte, die Frage, ob der Bürgschaftsvertrag des deutschen Rechts zu den Verträgen gehört, auf die die EG-Richtlinie anwendbar ist, zurecht gemäß Art. 177 Abs. 3 EGV dem EuGH zur Vorabentscheidung vorgelegt (BGH, NJW 1996, 930).
. Methoden der textexternen Auslegung
177
nach sind diejenigen Varianten auszuscheiden, die sich nicht harmonisch mit den anderen Rechtsnormen vereinbaren lassen oder sich nicht stimmig in das Gesamtsystem der Rechtsordnimg einfügen. Dabei kann zwischen absoluten und relativen Kohärenzkriterien differenziert werden. (1) Absolutes Kohärenzkriterium:
Vereinbarkeit
mit höherrangigem Recht
An erster Stelle steht der Grundsatz, daß dem Gesetzgeber bei Fehlen zwingender gegenteiliger Anhaltspunkte nicht unterstellt werden darf, er habe oder hätte eine Wertentscheidung getroffen, die im Widerspruch zu höherrangigem Recht steht. Die Auswahl unter den Wertentscheidungshypothesen muß daher von der Maxime geleitet werden, keine gegen höherrangiges Recht verstoßende Auslegungsalternative zu wählen. Diese Maxime entspricht dem gesetzgeberischen Normerhaltungsinteresse 83: Da eine Norm grundsätzlich nicht angewendet werden darf, wenn sie gegen höherrangiges Recht verstößt, kann der Gesetzgeber mit ihr auch nicht den an sich verfolgten Zweck verwirklichen; es ist daher in seinem Interesse, wenn die Norm so ausgelegt wird, daß ein solcher Verstoß ausbleibt. Eine Auslegungsmöglichkeit, der eine höherrangigem Recht widersprechende Wertentscheidung zugrundeliegen müßte, ist daher von vornherein nicht in Betracht zu ziehen 84 . Die Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht stellt somit eine absolute Grenze der teleologischen Auslegung dar, die unbedingten Vorrang vor den weiteren teleologischen Erwägungen hat; man kann daher von einem absoluten Kohärenzkriterium sprechen. Eine praktisch besonders wichtige Ausprägung des absoluten Kohärenzkriteriums ist die verfassungskonforme Auslegung, nach der die denkbaren Wertentscheidungen des Gesetzgebers an den Prinzipien und Wertentscheidungen der Verfassung zu messen sind. Von mehreren ansonsten denkbaren Auslegungsmöglichkeiten müssen danach solche ausscheiden, welche zu einem verfassungswidrigen Ergebnis fuhren 85. "Denn das Grundgesetz ist als
83
BVerfGE 48, 40, 45 f.; 49, 148, 157; 69, 1, 55; Klein, in Umbach/Clemens, BVerfGG, § 80 Rn 51; Zippelius, FG BVerfG II, S. 110 f. 8 4 Vgl. Bettermann, Die verfassungskonforme Auslegung, S. 20; Löwer, in Isensee/Kirchhof, HStR II, § 56 Rn 111; Zippelius, Methodenlehre, S. 56. 85
BVerfGE 19, 1, 5; 40, 88, 94; 48, 40, 45; 88, 145, 166; Bydlinski, Methodenlehre, S. 455 ff.; Engisch, Einführung, S. 83, 238 ff. Anm. 82b; Enneccerus/Nipperdey, BGB AT 1/1, S. 319; Hesse, Verfassungsrecht, Rn 79 ff.; Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 217, 266 ff.; Larenz, Methodenlehre, S. 339; Larenz/ Canaris, Methodenlehre, S. 160; Mayer-Maty , Rechtswissenschaft, S. 62; Neuner, Rechtsfindung, S. 128 ff.; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn 87 ff., 656 f.; Schenke, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 40 f.; Schiaich, Bundesverfassungsgericht, Rn 405 ff.;
12 Looschcldcrs / Roth
178
D. Die Auslegung von Gesetzen
ranghöchstes innerstaatliches Recht nicht nur Maßstab fur die Gültigkeit von Rechtsnormen aus innerstaatlicher Rechtsquelle; auch inhaltlich ist jede dieser Rechtsnormen im Einklang mit dem Grundgesetz auszulegen"86. Zunehmende Bedeutung gewinnt das verwandte Prinzip gemeinschaftsrechtskonformer Auslegung, wonach nationale Rechtsnormen möglichst so auszulegen sind, daß sie nicht in Widerspruch zu EG-Recht geraten 87. Zwar führt der Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht nicht zur Nichtigkeit, sondern lediglich zur Unanwendbarkeit der betreffenden innerstaatlichen Norm 8 8 , aber der Gesetzgeber hat ein Interesse nicht nur an der Geltung seiner Norm, sondern natürlich auch an ihrer Anwendbarkeit, und dies rechtfertigt aus mitgliedstaatlicher Sicht eine - zur Erreichung dieses Zieles erforderliche - Auslegung im Einklang mit EG-Recht. Im übrigen gilt angesichts des besonderen Charakters der Europäischen Gemeinschaft bzw. nunmehr der Europäischen Union 8 9 der dem anerkannten Grundsatz völkerrechtskonformer Auslegung 90 zugrundeliegende Gedanke, daß ein Verstoß gegen internationale Verpflich-
Starck, in Isensee/Kirchhof, HStR VII, § 164 Rn 31 f.; Stern, Staatsrecht I, S. 135 ff.; Zippelius, Methodenlehre, S. 49; ders., FG BVerfG II, S. 108 ff; vgl. ferner die zahlreichen Beispiele bei Leibholz/Rinck/Hesselberger, GG, Einf. Rn 13 f., 20. Mit der Einordnung als Kohärenzkriterium im Rahmen der teleologischen Auslegung dürfte sich auch das Bedenken von Bettermann, Die verfassungskonforme Auslegung, S. 20 ff., 25 ff. erledigen, die verfassungskonforme Auslegung vermenge Auslegung und Verfassungsprüfung, sei nicht Norminterpretation, sondern in Wahrheit vorgezogene NormenkontroUe. Richtig ist aüerdings seine Kritik, daß die verfassungskonforme Auslegung nicht zu einer Nichtrespektierung des Willens des Gesetzgebers führen darf. Widerspricht die Norm bei jeder möglichen Deutung der Verfassung, so ist sie für nichtig zu erklären, sofern auch eine verfassungskonforme Reduktion undurchführbar ist (BVerfGE 9, 291, 297 ff., 302). Zur Unterscheidung zwischen verfassungskonformer Auslegung und verfassungskonformer Gesetzeskorrektur vgl. unten E. II. 1. d) bb). 8 6 BVerfGE 51, 304, 323; vgl. ferner Bettermann legung, S. 19 f.
y
Die verfassungskonforme Aus-
8 7
Vgl. hierzu EuGH, Slg. 1984, 1891 Tz 26; 1990, 1-4135 Tz 8; EuGH, NJW 1994, 921, 922; BVerfGE 75, 223, 237; BGHZ 63, 261, 264 f.; 87, 59, 61; BGH, NJW 1993, 1594, 1595; Di Fabio , NJW 1990, 948 ff.; Götz, NJW 1992, 1853 ff.; Jarass, NJW 1990, 2421; ders. y EuR 1991, 211 ff.; Nettesheim, AöR 119 (1994), 267 ff.; Ress y DÖV 1994, 489 ff.; Wolff/Bachof/Stober y Verwaltungsrecht I, § 2 8 Rn 59. 8 8
s. unten E. II. 2. b) bb). Vgl. hierzu Beutler/Bieber/Pipkorn/Streil manny Europarecht, Rn 772 ff. 8 9
y
Europäische Union, S. 68 ff.; Opper-
9 0 Vgl. hierzu Jarass/Pieroth y JuS 1983, 193 f. 9
s. oben B. II. 2. Vgl. BVerfGE 49, 304, 318; 82, 286, 301; Krey , JZ 1978, 465; Zippelius , FG BVerfG II, S. 121 f.; unklar BVerfGE 9, 89, 102; 9, 109, 118, wo der klar erkennbare Wüle des Gesetzgebers lediglich als Grenze der Auslegung bezeichnet, hierunter wohl aber auch der Korrekturfall gefaßt wird. 10
11 12
s. obenB. II. 2. d) bb). s. oben B. II. 2. c) dd).
Π. Abändernde Rechtsfortbildung
227
ist. D i e Vornahme einer Gesetzeskorrektur ist somit nur dann gerechtfertigt, wenn der Gesetzgeber dieselbe gutheißen oder billigen würde, wenn also sein tatsächlicher oder mutmaßlicher Wille auf die fragliche Korrektur gerichtet ist. Anders als bei der Auslegung ist bei der Korrektur eines Gesetzes allerdings nicht auf die Regelungsentscheidung des Gesetzgebers abzustellen, sondern direkt auf seine Wertentscheidung; diese stellt den Korrekturmaßstab dar, an ihr ist jede Gesetzeskorrektur zu messen 13 . Die Maßgeblichkeit der Wertentscheidung i m Rahmen der Korrektur erklärt sich aus der spezifischen Rolle des Gesetzgebers. Charakteristikum des demokratisch konstituierten Gesetzgebers ist einerseits sein (unmittelbares oder mittelbares) Hervorgehen aus einer Mehrheitsentscheidung des Volkes als dem obersten Souverän des Staat e s 1 4 , andererseits aber auch sein eigenes Agieren nach dem Mehrheitsprinzip.
13
Looschelders/Roth, JZ 1995, 1044 f. Ähnlich BVerfGE 8, 28, 34 f.; 8, 210, 220 f.; 35, 263 , 279 f. (auf das "gesetzgeberische Ziel" absteüend); 82, 6, 15; 86, 288, 320 f. ("die prinzipieUe Zielsetzung des Gesetzgebers" muß gewahrt bleiben, das, was er "vor aUem zu erreichen bestrebt war"); BGHZ 2, 176, 187 (Abweichung vom Wortlaut nur "unter Berücksichtigung der [der] Norm zugrundeliegenden Werturteüe" des Gesetzgebers; "Berücksichtigung des einer Vorschrift zugrundeliegenden Rechtsgedankens"); 121, 116, 122 (eine "Grundsatzentscheidung des Gesetzgebers" darf nicht durch eine richterliche ersetzt werden); Enneccerus/Nipperdey, BGB A T 1/1, S. 320 (der Richter ist "zur abändernden Rechtsfindung berechtigt und verpflichtet, wenn ... auch vom Standpunkt des Gesetzgebers aus eine Neuordnung ... erfolgen müßte", Hervorhebung im Original), S. 334 Fn 10 ("Auf die Erkenntnis der Gründe des Gesetzgebers, der "Gebotsgrundlagen" ist das größte Gewicht zu legen. Ihnen muß der Ausleger folgen. Die Wertungen des Gesetzes darf er nicht verschieben.", Hervorhebungen im Original); Heck, Grundriß, S. 14 (an die "Werturteüe" und "Absichten des Gesetzgebers" gebunden); Krey, JZ 1978, 367; ders., JR 1995, 223; Stern, Staatsrecht II, S. 584; Wolff/Bachof YStober, Verwaltungsrecht I, § 28 Rn 71 ("die Gerichte dürfen einem Rechtssatz die Anwendung nicht deshalb verweigern, weü sie seine [des Gesetzgebers] Motive nicht billigen"); Zippelius, FG BVerfG II, S. 118 ff. (die "Ziel- und Zweckmäßigkeitsentscheidungen des Gesetzgebers" auch als Grenze legitimer Rechtsfortbüdung); Vgl. ferner Heck, Gesetzesauslegung, S. 223 ( = Studien und Texte II, S. 129), nach dessen Ansicht der Richter von den "den Gesetzesworten nächsten Gebotsvorstellungen (Inhaltsvorsteüungen)" des Gesetzgebers abweichen darf, um dessen normativen WÜlen zu gehorchen. Canaris, Systemdenken, S. 92 Fn 23 weist dementsprechend zutreffend darauf hin, daß es auch der subjektiven Theorie nicht darum geht, die "Vorstellungen des historischen Gesetzgebers in allen Einzelheiten [zu] verwirklichen, sondern dessen Zwecken zur Durchsetzung [zu] verhelfen". Unklar Hassold, Larenz-FS (1983), S. 220, wonach die Rechtsfortbüdung nicht an den "Wülen des Gesetzgebers" gebunden sein soll: dies trifft zwar für die Regelungsentscheidung des Gesetzgebers zu, nicht aber für seine Wertentscheidung. 14 Vgl. Alt. 20 Abs. 2 S. 1, 28 Abs. 1 S. 2, 38 Abs. 1 GG sowie die entsprechenden Vorschriften der Verfassungen der Länder.
15'
E. Richterliche Rechtsfotbildung
228
Gerade die Mehrheitsentscheidung hat nun ihre originäre Berechtigung im Bereich der Wertentscheidungen, die definitionsgemäß nicht nach den Kategorien von wahr und falsch, sondern nach denen von gut und schlecht oder allenfalls nach jenen von sinnvoll und unsinnig zu beurteilen sind; wenn also schon eine Frage nicht nach Wahrheitskategorien zu beantworten ist, sondern nach der politisch zu verantwortenden Bewertung von Entscheidungsmöglichkeiten, so stellt ihre Übertragung an die Mehrheit die beste Alternative dar 1 5 . Wesensmäßige Aufgabe des Gesetzgebers ist also das Treffen von Wertentscheidungen, während deren Konkretisierung in Regelungsentscheidungen sowie die anschließende Umsetzung in Gesetze demgegenüber eine Aufgabe eher technischer Natur darstellt, der nur untergeordnete Bedeutimg zukommt. Da die Regelungsentscheidung lediglich auf die Umsetzung der getroffenen Wertentscheidung in eine konkrete Rechtsnorm gerichtet, die Wertentscheidung der Regelungsentscheidung mithin übergeordnet ist, muß es auf die Wertentscheidung ankommen, wenn sich bei diesem Umsetzungsversuch eine Divergenz ergeben hat. Die von der Mehrheit verantwortete Wertentscheidung ist dann aber auch für den Richter maßgeblich, zumal in die gesetzgeberische Wertentscheidung eine Abwägung der vielfaltigsten Interessen einfließt, was "unter Umständen die Berücksichtigung einer großen Zahl von wirtschaftlichen, sozialen und politischen Faktoren [erfordert], die selten in dem einem Gericht unterbreiteten Einzelfall sämtlich erkennbar werden" 16 . Zwar ist die Einräumung einer Korrekturbefugnis zur Kompensation gesetzgeberischer Unzulänglichkeiten unumgänglich, doch verleiht dies den anderen Gewalten nicht das Recht, gesetzgeberische Wertentscheidungen allein deshalb zu mißachten, weil sie womöglich eine andere Wertentscheidung getroffen hätten 17 . "Hat der Gesetzgeber eine eindeutige Entscheidung getroffen, darf der Richter diese nicht aufgrund eigener rechtspolitischer Vorstellungen verändern und durch eine judikative Lösung ersetzen, die so im Par-
15 In diesem Sinne stellt sich die Selbstbeschränkung der Gerichte bei der Kontrolle von Prognoseentscheidungen (BVerfGE 50, 290, 332 f.; v. Münch, in v. Münch/Kunig, GG, Vorb. Rn 66 f.; vgl. hierzu Roth , Faktische Eingriffe, S. 529 f.) als eine echte Ausnahme dar, die freilich darin ihre Berechtigung findet, daß die Wahrheitsermittlungsfunktion der Gerichte dort an ihre Grenze stößt, wo tatsächliche Entwicklungen prognostiziert werden müssen. Ist die Sachlage gegenwärtig unaufklärbar, so kann es vernünftig sein, die diesbezügliche Entscheidung in gleicher Weise wie Wertentscheidungen dem gesetzgebenden Mehrheitswülen zu überantworten. Vgl. dazu Hesse, Verfassungsrecht, Rn 320; Schenke , in BK, Art. 19 Abs. 4 (Zweitb. 1982) Rn 370 ff. 16
BVerfGE 4, 219, 236.
17
Vgl. BVerfGE 49, 304, 320.
Π. Abändernde Rechtsfortbildung
229
lament nicht erreichbar w a r " 1 8 . Es ist den anderen Gewalten dementsprechend gleichfalls verwehrt, durch Berufung auf einen angeblichen "objektiven telos des Gesetzes" ihre eigene Wertentscheidung an die Stelle derer des Gesetzgebers zu setzen und die Norm hiernach zu korrigieren. Deshalb ist nicht nur bei der Auslegung, sondern auch und erst recht i m Rahmen einer etwaigen Gesetzeskorrektur auf den Willen des Gesetzgebers, hier aber seine Wertentscheidimg, und nicht auf eine hypothetische objektive Wertentscheidung des Gesetzes abzustellen 19 . Beispiel (1): Der Vorrang der Wert- gegenüber der Regelungsentscheidung ist etwa für die Zulässigkeit einer Korrektur des § 400 BGB relevant: § 400 BGB schließt seinem eindeutigen Wortlaut nach die Abtretung einer jeden Forderung aus, soweit sie der Pfändung nicht unterworfen ist. Die der Vorschrift zugrundeliegende Wertentscheidung besteht darin, den Gläubiger einer unpfandbaren Forderung vor dem Verlust seiner Lebensgrundlage zu schützen20. Bei Erlaß des § 400 BGB ist der Gesetzgeber offenbar davon ausgegangen, diese Wertentscheidung am besten durch ein generelles Abtretungsverbot verwirklichen zu können; das uneingeschränkte Verbot der Abtretung entspricht daher durchaus seiner Regelungsentscheidung. Gleichwohl ist die Einschränkung des Abtretungsverbots zulässig, wenn der Gläubiger vom Zessionar eine wirtschaftlich gleichwertige Leistung erhält 21 . Da der Schutz des Gläubigers in diesem FaU gewährleistet bleibt, wird die Wertentscheidung des Gesetzgebers nicht verletzt. Beispiel (2): Gemäß § 57a Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StGB ist die Voüstreckung des Restes einer lebenslangen Freiheitsstrafe auszusetzen, wenn nicht u. a. die "besondere Schwere der Schuld" die weitere Voüstreckung gebietet. Die Beurteüung dieser besonderen Schwere obliegt nach der Regelung in §§454 Abs. 1, 462a StPO der StrafvoUstreckungskammer. Nach Ansicht des BVerfG ist die Übertragung dieser Entscheidung an die StrafvoUstreckungskammer aufgrund der prozessualen Gegebenheiten mit dem Grundgesetz unvereinbar; die Entscheidung über das Vorliegen einer "besonderen Schwere der Schuld" müsse vielmehr schon bei der Verurteüung durch das erkennende Gericht getroffen werden 22 . Hält man nun dafür, daß sich die der Regelung zugrundeliegende Wertentscheidung des Gesetzgebers, was also
18
BVerfGE 82, 6, 12. Ähnüch BVerfGE 4, 219, 236; 49, 304, 322; 69, 315, 372: "Das Gericht darf nicht eigene rechtspolitische Auffassungen entgegen der gesetzlichen Regelung zur Geltung bringen". 19 Vgl. Enneccerus/Nipperdey, BGB AT 1/1, S. 324 ff., 329: "Gebotsvorsteüung des Gesetzgebers", verstanden als "der im Gesetz zum Ausdruck gelangte Wille des Gesetzgebers". Auf die "Zwecksetzungen des Gesetzgebers" abstellend auch Koch/ Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 267. Zur Untauglichkeit objektiver Maßstäbe s. auch oben Β. II. 2. b). 2 0 Vgl. BGHZ 4, 153; Palandt/Heinrichs, BGB, § 400 Rn 1. 2 1 Vgl. BGHZ 4, 153; 13, 360, 367 ff.; 59, 109, 115; Larenz, Schuldrecht I, S. 584; Palandt/Heinrichs, BGB, § 400 Rn 3. Näher dazu unten Ε. II. 4. a) Beispiel (11). 2 2
BVerfGE 86, 288, 315 ff.; s. dazu auch BGHSt (GrS) 40, 360, 366 ff.
230
E. Richterliche Rechtsfotbildung
"der Gesetzgeber mit der ... Gesamtregelung vor allem zu erreichen bestrebt w a r " 2 3 , auf die materiellrechtliche Seite der möglichen Strafaussetzung bezog, während die verfahrensrechtliche Seite lediglich eine Frage der technischen Umsetzung betraf, so war eine verfassungskonforme Korrektur der § 57a Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StGB i. V. m. §§ 454, 462a StPO statthaft 24. Andernfalls wäre nur eine Teilnichtigerklärung in Betracht gekommen 25 .
bb) Die Ermittlung der Wertentscheidung D a die Wertentscheidung des Gesetzgebers den Korrekturmaßstab darstellt, ist auf ihre Ermittlung besondere Sorgfalt zu verwenden. Dabei sind grundsätzlich dieselben Methoden wie bei der Auslegung heranzuziehen 26 . Der Rückgriff auf diese Methoden 2 7 ist gerechtfertigt, weil sich mit ihrer Hilfe Gesichtspunkte ermitteln lassen, die nicht nur für die Auslegung, sondern auch für die Gesetzeskorrektur relevant sind 2 8 . Dies darf jedoch nicht über den wesensmäßigen Unterschied hinwegtäuschen, der zwischen der Ausle-
2 3
BVerfGE 86, 288, 321 (Hervorhebung durch Verf.). So BVerfGE 86, 288, 320 ff., wo allerdings zu Unrecht von einer verfassungskonformen "Auslegung" die Rede ist. Zur Kritik dieser Terminologie s. unten E. II. 1. d) bb). 2 5 So BVerfGE 86, 288, 348 f. - Sondervotum Mahrenholz - mit dem Einwand, ein "Rekurs auf das, was [der Gesetzgeber] vor allem zu erreichen bestrebt war", führe "ein Interpretament ein, das nicht zur verfassungskonformen Auslegung des Gesetzes führt, sondern zur 'verfassungskonformen Auslegung' eines vom Senat festgestellten Willens des Gesetzgebers, der im Gesetz keinen Ausdruck gefunden hat". Diesem Einwand ist zuzugeben, daß die Senatsmehrheit in der Tat keine "Auslegung" des Gesetzes vorgenommen hat, sondern eine (wortlautmodifizierende) Korrektur desselben. Nicht durchgreifend ist die Kritik allerdings insofern, als sie auch eine an der Wertentscheidung des Gesetzgebers orientierte Korrektur der eher technischen Verfahrensregelung ausschließen will. Daß die Verfahrensseite vom Gesetzgeber nur als untergeordnet betrachtet wurde und nicht Gegenstand seiner Wertentscheidung war, ergibt sich aus den Materialien, wo diese Problematik gar nicht vertieft diskutiert und die Änderung des § 454 StPO als lediglich redaktioneüer Natur verstanden wird (BT-Drs. 8/3218, S. 5 ff., 8: "enthält lediglich derartige Anpassungen"). Die eigentliche Kritik am BVerfG ist daher nicht methodischer Art, sondern betrifft die materiellrechtliche Frage, ob das vom BVerfG favorisierte Verfahren wirklich besser ist. Dieses Problem kann hier nicht diskutiert werden; vgl. dazu BVerfGE 86, 288, 355 ff. - Sondervotum Winter; Lackner, StGB, § 57a Rn 2 m. w. N. 2 6 Vgl. Engisch, Einführung, S. 150; Koch/Rüßmann , Juristische Begründungslehre, S. 257; Larenz, Methodenlehre, S. 366; Looschelders/Roth, JZ 1995, 1045. 2 4
2 7 2 8
Hierzu oben D. II. und III.
Vgl. Alexy, Argumentation, S. 288 ff., 300, der die "canones der Auslegung" als "Argumentformen" bezeichnet, die in einer Vielzahl weiterer KonsteUationen benutzt werden können.
Π.
ä n e n d e Rechtsfortbildung
231
gung und der Korrektur einer Rechtsnorm besteht, und der auch in terminologischer Hinsicht eine klare Differenzierung gebietet29. Dieser Unterschied zeigt sich vor allem darin, daß die Zulässigkeit einer Korrektur von spezifischen Voraussetzungen abhängt, die für die auslegungsweise Bestimmung des Gesetzesinhalts nicht gelten. Dafür ist der Rechtsanwender im Rahmen der Gesetzeskorrektur aber auch nicht an die Grenzen der Auslegung gebunden. Bei der Ermittlung der Wertentscheidung kann und muß er vielmehr auch solche Erkenntnisse berücksichtigen, die im Rahmen der Auslegung außer Betracht bleiben müssen, weil sie mit dem Wortlaut oder der Regelungsentscheidung des Gesetzgebers unvereinbar sind. Bei Vorliegen eines gesetzgeberischen Umsetzungsfehlers kann die auf der Korrekturebene ermittelte Wertentscheidung insofern beträchtlich von jener relativ besten Wertentscheidungshypothese abweichen, die bei der Bestimmung des Gesetzesinhalts im Rahmen der teleologischen Auslegung zugrundegelegt werden mußte 30 . Ebenso wie bei der Auslegung muß der Rechtsanwender sich auch auf der Korrekturebene in erster Linie darum bemühen, die tatsächliche Wertentscheidung des Gesetzgebers zu ermitteln, ehe auf die mutmaßliche abgestellt wird. Von besonderer Bedeutung ist insofern wiederum die Betrachtung der Entstehungsgeschichte der Norm sowie der Gesetzesmaterialien. Bleibt die tatsächliche Wertentscheidung des Gesetzgebers auch nach Erschöpfung aller Ermittlungsmethoden unklar, so muß der Richter unter Beachtung der den einschlägigen teleologischen Auslegungskriterien entsprechenden Prinzipien und Grundannahmen die mutmaßliche Wertentscheidung des Gesetzgebers ermitteln und bei der Korrektur der Norm zugrundelegen.
cc) Die irrtumsbereinigte Wertentscheidimg Bei der Prüfung von Korrekturmöglichkeiten darf man sich nicht auf die bloße Feststellung der vom Gesetzgeber tatsächlich getroffenen Wertentscheidung beschränken, sondern muß den Versuch unternehmen, diese von etwaigen Irrtümern zu bereinigen. Die Wertentscheidimg des Gesetzgebers kann nämlich auf einem "Motivirrtum" 31 beruhen, der dadurch zustande gekommen ist, daß der Gesetzgeber die seiner Wertentscheidung zugrundeliegende 2 9
Vgl. Canaris, Lücken, S. 21 ff., Engisch, Einführung, S. 100, 250 Anm. 106b, jeweüs m. N. zu einem weiteren Verständnis von "Auslegung"; ferner Hassold, Larenz-FS (1983), S. 220 f.; Looschelders, Anpassung, S. 60 f.; Looschelders/Roth, JZ 1995, 1044; Neuner, Rechtsfindung, S. 102 f. BVerfGE 71, 106, 116; 73 , 206, 236 setzt daher den Begriff "Interpretation" zu Recht in Anführungszeichen, wenn es von der "über den erkennbaren Wortsinn hinausgehenden 'Interpretation'" spricht. 3 0 31
s. dazu oben D. II. 2. d). Engisch, Einführung, S. 176 ff.; Heck, Gesetzesauslegung, S. 150, 215 f.
232
E. Richterliche Rechtsfotbildung
tatsächliche oder rechtliche Ausgangslage unzutreffend bzw. unvollständig erfaßt hat 3 2 . Soweit sich die gesetzgeberische Wertentscheidung auf eine bestimmte Konflikt- und Interessenlage bezieht, entfallt aber, wenn diese unrichtig erfaßt wird, die Basis der Wertentscheidung. Deshalb kann nur eine " irrtumsbereinigte" Wertentscheidung als Maßstab der Korrektur angesehen werden, mag auch die irrtumsbedingt zustandegekommene "Wertentscheidung" noch so klar zum Ausdruck gekommen sein. Von solchen Motivirrtümern streng zu unterscheiden sind erstens gesetzgeberische Irrtümer über die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes; da die Verfassung den allgemeinen Rahmen gesetzgeberischen Handelns darstellt und die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes nicht als solche Motiv für ein Gesetz sein kann, stellt ein etwaiger Irrtum über die Verfassungsmäßigkeit keinen die Gesetzeskorrektur eröffnenden Motivirrtum, sondern einen Rechtsirrtum des Gesetzgebers dar, der auf der Korrekturebene nicht behebbar ist. Zweitens sind auch bloße rechtspolitische Fehlwertungen wegen der Prärogative des Gesetzgebers im Bereich der Wertentscheidungen bei der Rechtsanwendung keiner Korrektur zugänglich33. Rechtsirrtümer über die Verfassungsmäßigkeit sowie Fehlwertungen, die das Ausmaß eines Verfassungsverstoßes annehmen, können gegebenenfalls freilich die Anwendbarkeit des Gesetzes ausschließen 34 . Beispiel (3): Nach § 1671 Abs. 4 S. 1 BGB ist das Sorgerecht über ein gemeinschaftliches Kind im Faüe der Scheidung zwingend einem Elternteü aüein zu übertragen. Diese Regelung ist insoweit nicht mit Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG zu vereinbaren, als sie auch Fälle erfaßt, in denen beide Elternteüe gewillt und in der Lage sind, die elterliche Sorge zum Wohle des Kindes weiterhin gemeinschaftlich auszuüben. Auf die Vorlagebeschlüsse mehrerer Amtsgerichte hin hat das BVerfG die Vorschrift denn auch für nichtig erklärt 35 . In methodischer Hinsicht steUt sich indes die Frage, ob die vorlegenden Gerichte nicht befugt gewesen wären, die Vorschrift verfassungskonform einzuschränken. Der eindeutige Wortlaut des § 1671 Abs. 4 S. 1 BGB stünde zwar einer dahingehenden Auslegung der Vorschrift, nicht aber einer solchen Korrekturiösung entgegen; für diese ist vielmehr entscheidend, wel3 2
Vgl. BVerfGE 35, 263, 279 f., wo darauf abgestellt wird, "daß der Gesetzgeber nicht alle Konsequenzen der von ihm ... gewählten Gesetzesfassung bedacht hat. ... Es gibt keinen Anhaltspunkt dafür, daß der Gesetzgeber auch dann keine einschränkende Formulierung gewählt haben würde, wenn er das Problem erkannt hätte"; ferner BVerfGE 70, 35, 57; Enneccerus/Nipperdey, BGB AT 1/1, S. 346. 3 3 s. vorstehend E. II. 1. b) aa); a. A. Zimmermann, NJW 1952, 960, der zwar ebenfalls zwischen "Anschauungsfehlern" ( = Motivintümern) und "Wertungsfehlern" des Gesetzgebers unterscheidet, dabei aber davon ausgeht, daß der Richter auch zur Berichtigung von Wertungsfehlem befugt sei. Letzteres jedoch ist mit den dargesteUten grundgesetzlichen Vorgaben nicht zu vereinbaren. 3 4 Zur Nichtanwendung eines Gesetzes nachfolgend E. II. 2. b) bb). 3 5 BVerfGE 61, 358, 371 ff.
Π.
ä n e n d e Rechtsfortbildung
233
che Wertentscheidung der Gesetzgeber getroffen hat. Ausweislich der Gesetzesmaterialien 36 hat der Gesetzgeber die Möglichkeit, daß beide Eiternteile voll erziehungsfahig sind, gleichstarke emotionale Bindungen an das Kind haben und die Verantwortung weiter gemeinschaftlich tragen wollen, klar gesehen. Er hat gleichwohl die Wertentscheidung getroffen, daß die Schaffung klarer Verhältnisse auch hier im Interesse des Kindeswohls notwendig sei. Der Gesetzgeber ist dabei zwar davon ausgegangen, daß dies "auch nicht verfassungsrechtlich angreifbar" sei; hierbei handelt es sich jedoch um keinen Motivirrtum, sondern um einen bloßen Rechtsirrtum, der keine Korrekturmöglichkeit eröffnet. Eine richterliche Gesetzeskorrektur war somit wegen der klaren, wenngleich verfassungswidrigen Wertentscheidung des Gesetzgebers unstatthaft, die Vorlage an das BVerfG gemäß Art. 100 Abs. 1 GG daher in der Tat unumgänglich.
dd) Die dynamisch fortentwickelte Wertentscheidung Die Wertentscheidung des Gesetzgebers braucht der Korrektur des Gesetzes ferner dann nicht entgegenzustehen, wenn eine nach Erlaß der N o r m eingetretene Änderung der tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse der Wertentscheidung des Gesetzgebers nachträglich die "Geschäftsgrundlage" entzog e n 3 7 , die ratio legis zum Wegfall gebracht 38 oder ihr zumindest teilweise die Berechtigung genommen h a t 3 9 . Denn nicht nur die Gesetze selbst sind einem "Alterungsprozeß" unterworfen 4 0 , auch die ihnen zugrundeliegende Wertentscheidung kann sich überholen und ist in diesem Sinne dynamisch zu versteh e n 4 1 . Dies setzt freilich die Feststellung voraus, daß die betreffenden Ver3 6
BT-Drucks. 8/2788, S. 63.
3 7
Vgl. BGHZ 85, 64, 67 f.; BGHSt 30, 105, 121; ferner die Nachweise zur Berücksichtigung von Änderungen der tatsächlichen oder rechtüchen Verhältnisse im Rahmen der Auslegung oben Β. II. 2. d) cc). 3 8 Daß mit dem Wegfall des Grundes für das Gesetz zugleich die Berechtigung für seine Anwendung entfallen kann, entspricht dem anerkannten Grundsatz "cessante ratione legis, cessat lex ipsa" (vgl. hierzu Enneccerus/Nipperdey, BGB A T 1/1, S. 334 Fn 10 mit dem Hinweis, daß die ratio legis als der "höhere im Gesetz liegende Gedanke" nicht mit der occasio legis, dem Anlaß für die Regelung, zu verwechseln ist). Zahlreicher als die FäUe eines gänzlichen Unwirksamwerdens des Gesetzes infolge eines nachträglichen völligen Entfallens sämtlicher ursprünglicher Gründe des Gesetzgebers sind jedoch die, in denen lediglich das Bedürfnis zu einer gewissen Gesetzeskorrektur zwecks Anpassung an die veränderten Umstände entsteht. 3 9
Vgl. BVerfGE 88, 145, 167; BGHZ 116, 233, 239 f.
4 0
BVerfGE 34, 269, 288; 82, 6, 12.
41
s. oben B. II. 2. d) cc). Wenn Hillgruber, JZ 1996, 121 sich dagegen wendet, "aus Veränderungen tatsächlicher, sozialer Verhältnisse unmittelbar eine Änderung der Rechtslage" abzuleiten, weil "diese soziologisch inspirierte Auffassung unzulässigerweise einen Schluß von einem bloßen Faktum auf das Sollen" ziehe, so geht dies an dem Umstand vorbei, daß die durch Berücksichtigung der veränderten Verhältnis-
234
E. Richterliche Rechtsfortbildung
hältnisse für die in Frage stehende Wertentscheidung von so maßgeblicher Bedeutung waren, daß der Gesetzgeber für Konstellationen der aktuell zu beurteilenden Art mutmaßlich selbst eine andere Interessenbewertung und Konfliktlösung getroffen hätte, wenn die Veränderung von ihm vorausgesehen worden w ä r e 4 2 . D i e Relevanz der Veränderung ist dabei nach strengen Maßstäben zu beurteilen 4 3 ; es bedarf einer grundlegenden Veränderung der Verhältnisse 44 . Die Berücksichtigung einer Änderung der tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse darf i m übrigen nur zu einer den veränderten Verhältnissen angemessenen Fortschreibung der bestehenden gesetzgeberischen Wertentscheidung führen. Eine etwaige Neubewertung, die den betreffenden Interessenkonflikt einer grundsätzlich anderen Lösimg zuführte und die gesetzgeberische Grundkonzeption veränderte, ist allein dem Gesetzgeber vorbehalten und nicht Aufgabe der Gerichte 4 5 . Keinesfalls darf deshalb der Richter eine Veränderung der Normsituation zum willkommenen Anlaß neh-
se ermöglichte Normkorrektur ledigüch einen bereits bestehenden Sollenssatz modifiziert, keineswegs aber ein SoUen allein aus dem Sein ableitet. Da jedes SoUen an die vorgegebenen Fakten anknüpfen muß und ohne Berücksichtigung dieser Vorgegebenheiten sinnlos wäre, spricht nichts dagegen, die unter bestimmten Voraussetzungen faktischer Natur getroffenen gesetzgeberischen Wertentscheidungen und damit die hierauf gegründeten Normen an eine Änderung dieser Voraussetzungen anzupassen und adäquat fortzuschreiben. 4 2
Vgl. BGHZ 2, 176, 187; 85, 64, 67 f.; Enneccerus/Nipperdey, BGB A T 1/1, S. 346; ferner Betti , Auslegungslehre, S. 632; Deckert, JA 1994, 415; Kratzmann, Volkssouveränität, S. 76; Schlehofer, JuS 1992, 576. 4 3 Dogmatisch besteht hier eine Paraüele zu der zivilrechtlichen Figur des Wegfalls der Geschäftsgrundlage: Die Anpassung einer Norm bzw. eines Vertrages an die veränderte Sach- oder Rechtslage ist nur dann zulässig, wenn keine ernsthaften Zweifel daran bestehen, daß der Gesetzgeber bzw. die Parteien eine andere Regelung getroffen hätten, wenn sie die Änderung vorausgesehen hätten (in diesem Sinne zum Wegfall der vertraglichen Geschäftsgrundlage Palandt/Heinrichs, BGB, § 242 Rn 125). 4 4
BVerfGE 88, 145, 167 ("tiefgreifende Änderungen"); BGHZ 23, 184, 196 f.; 85, 64, 67 f. ("tiefgreifender Wandel... der Normsituation"); 116, 233, 239 f. 4 5 Vgl. BVerfG, NJW 1995, 2615, 2620. Insoweit zutreffend Hillgruber, JZ 1996, 121, der jedoch zu weitgehend den Gerichten jede Fortschreibung der gesetzgeberischen Wertentscheidung in Anpassung an veränderte Verhältnisse verwehren will, weü auch dies Aufgabe des Gesetzgebers sei. Dies geht jedoch an der Einsicht vorbei, daß der Gesetzgeber gerade in pluralistischen Gesellschaftssystemen oft außerstande sein kann, rechtzeitig zu reagieren und veraltete Gesetze anzupassen (zutreffend Soergel/Hefermehl, BGB, Anh. § 133 Rn 15; skeptisch gegenüber der "Reaktionsfähigkeit" des Gesetzgebers auch Fr owein, Heidelberg-FS, S. 564); solche auf politischen oder anderen Gründen, vieüeicht auch schlicht gesetzgeberischer Unfähigkeit beruhende Anpassungsschwierigkeiten dürfen jedoch nicht zu Lasten der betroffenen Rechtssubjekte gehen.
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men, sich über eine von ihm für unangemessen erachtete Wertentscheidung des Gesetzgebers hinwegzusetzen. Beispiel (4): Bei einem rechtswidrigen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht steht dem Verletzten nach dem eindeutigen Wortlaut des § 253 BGB kein Anspruch auf Ersatz des immaterieUen Schadens zu. Der Ausschluß des Schmerzensgeldanspruchs beruhte auf einer klaren gesetzgeberischen Wertentscheidung, die vor aUem damit begründet wurde, "es widerstrebe der herrschenden Volksauffassung, die immaterieUen Lebensgüter auf gleiche Linie mit den Vermögensgütern zu steUen und einen idealen Schaden mit Geld aufzuwägen" 46; daneben wurde der Gesetzgeber von der Besorgnis geleitet, daß der Richter durch aUgemeine Anerkennung eines Entschädigungsanspruchs wegen Verletzung nichtvermögensrechtUcher Interessen eine allzu souveräne SteUung erlange 47 . Nach Ansicht des BGH ist es gleichwohl geboten, dem Geschädigten bei schweren, schuldhaften Verletzungen des aUgemeinen Persönlichkeitsrechts einen Anspruch auf Ersatz des immaterieUen Schadens zuzubilligen 48 . Wenn der BGH dies damit begründet, daß die dem Wülen des historischen Gesetzgebers entsprechende Versagung des Schmerzensgeldanspruchs in solchen FäUen nicht mit der durch das Grundgesetz anerkannten Bedeutung des aUgemeinen PersönUchkeitsrechts (Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 1 GG) zu vereinbaren sei, so steUt er auf eine Änderung der (verfassungs-) rechtlichen Verhältnisse ab; da es den heutigen Anschauungen auch keineswegs mehr widerstrebt, einen ideeUen Schaden mit Geld aufzuwägen, dürfte im übrigen auch eine Änderung der tatsächlichen Verhältnisse vorUegen. Geht man nun davon aus, daß diese Änderungen der seinerzeitigen gesetzgeberischen Wertentscheidung die "Geschäftsgrundlage" entzogen haben, so ist die vom BGH vorgenommene einschränkende Korrektur des § 253 BGB zulässig. Die Einschränkung des § 253 BGB ergibt als solche freüich noch keine Grundlage für einen Schmerzensgeldanspruch des Betroffenen bei schweren PersönHchkeitsVerletzungen. Eine solche Anspruchsgrundlage muß vielmehr in einem zweiten Schritt erst noch geschaffen werden, sei es durch Ausweitung der in §§ 823 Abs. 1, 249 BGB vorgesehenen Rechtsfolge auf den Ersatz
4 6
Prot. II, S. 622; vgl. ferner den Bericht der Reichstagskommission über den Entwurf eines BürgerUchen Gesetzbuchs und Einführungsgesetzes, 1896, S. 98: "Nach der aUgemeinen Volksauffassung sei es nicht ehrenvoU, sich Beleidigungen durch Geld abkaufen zu lassen, und deijenige habe wenig Ehre zu verUeren, der die Verletzung derselben durch eine Klage auf Geld zu repariren suche. " 4 7 Mot. II, S. 22; zusammenfassend E. Kaufmann, AcP 162 (1963), 435; Looschelders, ZVglRWiss 95 (1996), 50 f. 4 8
Grundlegend BGHZ 26, 349 (Herrenreiter); 35, 363 (Ginseng); 39, 124 (Fernsehansagerin). Krit. hinsichtUch der verfassungsrechtUchen Begründung der Entscheidungen Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, S. 494 f.; dies., Methodenlehre, S. 249 f.; Medic us, BürgerUches Recht, Rn 615; gegen die Annahme eines grundlegenden Wertewandels Kratzmann, Volkssouveränität, S. 78 f. Grunsky, in MünchKomm BGB, § 253 Rn 6, Hillgruber, JZ 1996, 120 und Palandt/Heinrichs, BGB, § 253 Rn 1 erachten die Durchbrechung des § 253 BGB bei PersönUchkeitsverletzungen sogar für unzulässig; nach BVerfGE 34, 269 (Soraya) ist die Rspr. des BGH aus verfassungsrechtUcher Sicht aber jedenfaUs nicht zu beanstanden.
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immaterieller Schäden, sei es durch analoge Anwendung des § 847 BGB auf Persönlichkeitsverletzungen49 .
Der Bezug der gesetzgeberischen Wertentscheidungen auf die bei Erlaß der Norm herrschenden tatsächlichen Verhältnisse ist auch fur die Frage relevant, in welcher Weise die in der "alten" Bundesrepublik erlassenen Gesetze auf die teilweise abweichenden Verhältnisse in den neuen Bundesländern anzuwenden sind 50 . Eine modifizierte Anwendung kann insbesondere bei wirtschafts- und arbeitsrechtlichen Vorschriften gerechtfertigt sein, die naturgemäß nicht auf die besonderen Probleme der Umwandlung einer Plan- in eine Marktwirtschaft zugeschnitten sind 51 . Der Gesetzgeber hat dem freilich zum Teil selbst durch entsprechende Sonderregelungen Rechnimg getragen (vgl. etwa Art. 232 § 5 EGBGB 52 ); mit zunehmender Vereinheitlichung der Verhältnisse in den alten und neuen Bundesländern wird das Problem im übrigen bald obsolet sein.
c) Gründe für eine Abweichung von Norminhalt und Wertentscheidung aa) Divergenzbegründende Irrtümer des Gesetzgebers Die sonach maßgebliche Wertentscheidung des Gesetzgebers steht der Korrektur des Gesetzes insoweit nicht entgegen, wie das Gesetz sich aufgrund eines Irrtums des Gesetzgebers gar nicht als getreue Verwirklichung seiner Wertentscheidimg darstellt 53. Regelmäßig stimmt die bei der Auslegung zugrundegelegte Wertentscheidung zwar mit der wahren Wertentscheidung des Gesetzgebers überein; etwas anderes kann jedoch gelten, wenn dem Gesetzgeber im Zuge des Gesetzgebungsprozesses ein Fehler oder Irrtum unterlaufen ist. Es ist hier wiederum daran zu erinnern, daß die Auslegung sich stets innerhalb der Wortlautgrenze halten muß, und daß der Auslegung infolgedessen 4 9
Die Argumentation des BGH ist insoweit schwankend (vgl. Schwerdtner, in MünchKomm BGB, § 12 Rn 288). Teüweise wird unmittelbar auf § 823 Abs. 1 BGB abgestellt (so BGHZ 35, 363; BGH, NJW 1985, 1617), teüweise wird eine analoge Anwendung des § 847 BGB befürwortet (so BGHZ 26, 349; BGH, L M § 847 BGB Nr. 43). 5 0 Zur ProblemsteUung vgl. Looschelders, Anpassung, S. 83 Fn 27; Udke y DtZ 1991, 52 ff. 5 1 5 2 5 3
Vgl. Looschelders, WiB 1995, 75. s. dazu oben D. I. 2.
Auf der Grundlage einer streng subjektiven Auslegungslehre könnte das Problem des Irrtums nicht auftreten, weü hier eine Divergenz zwischen dem Inhalt des Gesetzes und dem "Wülen des Gesetzgebers" ausgeschlossen ist (vgl. Heck, Gesetzesauslegung, S. 152 f. [ = Studien und Texte II, S. 101]).
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mitunter ein "Wertentscheidungskonstrukt" zugrundegelegt werden muß, das von der eigentlichen Wertentscheidung des Gesetzgebers abweicht54. Für die Statthaftigkeit einer Korrektur kommt es dann selbstverständlich nicht auf die fur Auslegungszwecke konstruierte Wertentscheidung, sondern auf die "wahre" Wertentscheidung des Gesetzgebers an. Daß der Norminhalt nicht von der im Auslegungsprozeß "konstruierten" Wertentscheidung abweichen kann, versteht sich von selbst, weil er ja mit ihrer Hilfe bestimmt worden ist. Wenn hier von der Divergenz zwischen Norminhalt und Wertentscheidimg gesprochen wird, ist mit letzterer daher die nicht durch die Restriktionen des Auslegungsprozesses beschränkte und deshalb womöglich verfälschte, sondern eben die "wahre" Wertentscheidung gemeint. Eine die Statthaftigkeit einer Gesetzeskorrektur begründende Divergenz von Wertentscheidung und Gesetz kann auf verschiedenen Gründen beruhen je nachdem, auf welcher Stufe im Prozeß der Umsetzung der Wertentscheidung in eine Regelungsentscheidung und sodann in eine konkrete gesetzliche Regelung der Fehler unterläuft. Fehler auf der letzten Umsetzungsstufe betreffen die Fälle, in denen die Wertentscheidung zwar durch die Regelungsentscheidung zutreffend konkretisiert wird, letztere aber das in Frage stehende Gesetz nicht (vollständig) deckt. Dies kann zum einen auf einem sog. Redaktionsversehen55 beruhen, das man in Anlehnung an die Terminologie der zivilrechtlichen Irrtumslehre auch als "Erklärungsirrtum" bezeichnen kann 56 , sowie zum anderen darauf, daß der Gesetzgeber einem "Inhaltsirrtum " erlegen ist, indem er den Bedeutungsgehalt der von ihm verwendeten Worte und Sätze verkannt hat 57 : Bei einer solchen Divergenz zwischen Regelung und Regelungsentscheidung mag ein klarer Wortlaut zwar einer umdeutenden "Auslegung" entgegenstehen58, eine Berichtigung im Sinne des eindeutig fest5 4
s. dazu oben D. I. 2., D III. 2. d).
5 5
Dazu Brox y BGB AT, Rn 59; Engisch, Einführung, S. 172 f., 176; Enneccerus/ Nipperdey y BGB AT 1/1, S. 322; Fikentscher, Methoden III, S. 658; Jescheck, Strafrecht AT, S. 142; Riedl, AöR 119 (1994), 642 ff. 5 6
V g l . Bydlinskiy
Methodenlehre, S. 393; Heck, Gesetzesauslegung, S. 150; Riedl,
AöR 119 (1994), 643 f. 5 7 Vgl. Enneccerus/Nipperdey, BGB AT 1/1, S. 325 Fn 3; ferner Heck y Gesetzesauslegung, S. 150 ff., der solchen Irrtümern freilich im Rahmen der Auslegung Rechnung tragen will. 5 8
In der Literatur wird die Korrektur eines Gesetzes zwecks Berichtigung von Erklärungs- und Inhaltsirrtümern überwiegend als FaU der Auslegung betrachtet (vgl. in bezug auf Redaktionsversehen Engisch y Einführung, S. 173, 176; Fikentscher, Methoden III, S. 658; Jeschecky Strafrecht AT, S. 142; Schlehofer, JuS 1992, 574 f.). Dem kann indes nicht gefolgt werden, weü auch bei einer solchen Berichtigung der Wortlaut überschritten wird und der Terminus "Auslegung" daher eher verdunkelt, daß es immerhin um eine Korrektur eines Fehlers des Gesetzgebers geht und nicht le-
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stellbaren Willens des Gesetzgebers ist aber jedenfalls denkbar 5 9 . D i e Korrektur des Gesetzes ist ferner statthaft i m Falle einer Divergenz zwischen Wert- und Regelungsentscheidung. Eine solche Divergenz entsteht, wenn sich der Gesetzgeber schon beim Treffen seiner Regelungsentscheidung irrt, und zwar über die Eignung einer bestimmten Regelung zur Umsetzung seiner Wertentscheidimg 60 ; da der Irrtum hier eine Eigenschaft der in Frage stehenden Regelung betrifft, kann von einem *Eigenschaftsirrtum
" gesprochen wer-
den61. Beispiel (5): Ein Erklärungsirrtum ist dem Gesetzgeber bei § 1511 Abs. 3 S. 1 BGB unterlaufen: Die Vorschrift verweist auf § 1500 BGB, gemeint ist aber § 1501 BGB62. Beispiel (6): Auf einem Inhaltsirrtum dürfte es beruhen, wenn § 283 Abs. 6 StGB die Bestrafung wegen Bankrotts davon abhängig macht, daß der "Täter" seine Zah-
diglich um einen gewöhnlichen Akt der Auslegung. Präziser sprechen insofern Enneccerus/Nipperdey, BGB AT 1/1, S. 322 hinsichtlich der Korrektur von Redaktionsversehen von "abändernder Auslegung". 5 9
BVerfGE 11, 139, 149 ("berichtigende Auslegung" bei einem "technischen Versehen" bei der Verkündung, das ungewollt zu einem rückwirkenden Gesetz führte); BayVGH n. F. 31, 60, 62 f.; ferner Riedl, AöR 119 (1994), 651 ff. Von der Korrektur eines verkündeten Gesetzes durch den Rechtsanwender zu unterscheiden ist die Frage, ob die am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organe (z. B. der Bundespräsident), wenn sie einen Gesetzes fehler bemerken, bevor das Gesetz verkündet worden ist, diesen korrigieren können. Angesichts der Formalitäten des Gesetzgebungsverfahrens dürfte dies nur bei offenbaren Unrichtigkeiten durch das den Fehler bemerkende Organ statthaft sein; ansonsten muß das Organ, dem der Fehler unterlaufen ist, den fraglichen Schritt wiederholen. Vgl. hierzu im einzelnen Maurer, in BK, Art. 82 (Zweitbearb. 1988) Rn 115 f. m. w. N. 6 0
Vgl. Canaris, Systemdenken, S. 92 Fn 23, wonach man sich über die feststeübaren Vorstellungen des Gesetzgebers hinwegsetzen kann, wenn diese zur Erreichung des von ihm angestrebten Zwecks ungeeignet sind. 6 1 Daß eine gesetzliche Regelung generell ungeeignet ist, die Wertentscheidung des Gesetzgebers umzusetzen, dürfte eher selten sein. Die meisten "Eigenschaftsirrtümer" werden dadurch ersichtlich, daß die betreffende Regelung in bestimmten FäUen nicht geeignet ist, die Wertentscheidung des Gesetzgebers zu verwirklichen. Dies kann sogar soweit gehen, daß die unveränderte Anwendung des Gesetzes in ihrer konkreten Wirkung die Wertentscheidung des Gesetzgebers konterkariert. Die Wertentscheidung zwingt dann nachgerade zu einer Korrektur. Zu den Voraussetzungen einer solchen teleologisch gebotenen Korrektur s. unten E. II. 1. d) aa). 6 2
Vgl. Brox, BGB AT, Rn 59; Palandt/Diedrichsen, BGB, § 1511 Rn 5; Staudinger/W: Thiele/B. Thiele, BGB, § 1511 Rn 26; ferner Fikentscher, Methoden III, S. 658; Schlehofer, JuS 1992, 575. Solche Divergenzen können auch nachträglich entstehen, wenn bei aufeinander verweisenden Normen die eine "umnumeriert" wird, ohne die andere redaktionell anzupassen, Enneccerus/Nipperdey, BGB A T 1/1, S. 322 Fn 2.
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lungen eingestellt hat oder daß über sein Vermögen das Konkursverfahren eröffnet oder der Eröffnungsantrag mangels Masse abgewiesen worden ist. Der Gesetzgeber hat hier offenbar übersehen, daß nur der Schuldner zu Zahlungen verpflichtet ist und deshalb nur er "seine" Zahlungen einstellen kann, so daß, wenn eine juristische Person Schuldnerin ist, die Bedingung des § 283 Abs. 6 StGB strictu senso gar nicht eintreten kann, weil Täter und Schuldnerin nicht identisch sind: die juristische Person kann nicht Täterin sein, der handelnde Täter hingegen ist nicht Schuldner und kann deshalb "seine" Zahlungen nicht einstellen. Dies hätte zur Folge, daß der Geschäftsführer einer GmbH nach dem Wortlaut der Vorschrift nicht wegen Bankrotts bestraft werden könnte, wenn die GmbH als Schuldnerin die Voraussetzungen des Abs. 6 erfüllt 63 . Die Wertentscheidung des Gesetzgebers steht einer Korrektur des § 283 Abs. 6 StGB dahin, "Täter" sinngemäß als "Schuldner" zu lesen, ersichtlich nicht entgegen64. Die eigentlichen Probleme der Korrektur liegen hier vielmehr im materiellrechtlichen Bereich. Denn einer solchen Gesetzeskorrektur zu Lasten des Angeklagten könnte Art. 103 Abs. 2 GG entgegenstehen65. Beispiel (7): Als Beispiel für einen "partiellen" Eigenschaftsirrtum ist § 400 BGB zu nennen: Der Gesetzgeber hat hier verkannt, daß das Abtretungsverbot hinsichtlich unpfandbarer Forderungen in manchen Fällen nicht geeignet ist, den intendierten Schutz des Gläubigers zu verwirklichen, sondern dieses Ziel nachgerade konterkariert 66.
bb) Nachträgliche Änderung der tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse D i e Divergenz von Regelung und Wertentscheidung muß nicht notwendig eine ursprüngliche sein. Denkbar ist durchaus, daß der Gesetzgeber seine Wertentscheidung zunächst richtig umgesetzt hat, sich dann jedoch i m Laufe der Zeit die maßgeblichen rechtlichen, wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Verhältnisse so weit ändern, daß die Norm nunmehr den vom Gesetzgeber verfolgten Zweck verfehlte, und die gesetzgeberische Wertentscheidung deshalb dynamisch fortzuschreiben i s t 6 7 . Hier kann man zwar nicht eigentlich von einem "Irrtum" des Gesetzgebers sprechen, es sei denn, der Gesetzgeber habe sich über die hinreichende Offenheit der gewählten Formulierung getäuscht, auch künftigen Entwicklungen angemessen Rechnung tragen zu kön6 3
Zur ProblemsteUung vgl. Labsch, wistra 1985, 3 f.; ferner Schlehofer, JuS 1992, 574 f., der hier allerdings von einem Redaktionsversehen ausgeht. 6 4 Vgl. Dreher/Tröndle, StGB, vor §283 Rn21; Lackner/Kühl, StGB, §283 Rn 26; Stree, in Schönke/Schröder, StGB, § 283 Rn 59a, die "Täter" hier sinngemäß als "Schuldner" lesen bzw. eine "berichtigende Auslegung" befürworten. 6 5
Vgl. die Kritik an der "berichtigenden Auslegung" des § 283 Abs. 6 StGB von Labsch, wistra 1985, 4. Allgemein zum Problem des strafrechtlichen Analogieverbots unten E. III. 2. c). 6 6 Grundlegend BGHZ 4, 153; zur Problemstellung s. schon oben E. II. 1. b) aa) Beispiel (1). 6 7
s. hierzu oben B. II. 2. d) cc).
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nen. Diese nachträglich entstandene Divergenz der als solche unverändert fortbestehenden Regelung zu der dynamisch fortzuschreibenden Wertentscheidung gestattet eine Gesetzeskorrektur aber - vorbehaltlich etwaiger materiellrechtlicher Grenzen - allemal 68 . Beispiel (8): Die Regelung des § 3 Abs. 1 Nr. 6 PrFDG entsprach im Zeitpunkt ihres Erlasses genau der Wertentscheidung des Gesetzgebers, sämtliche damals gebräuchlichen Transportmittel zu erfassen, mit deren Hilfe sich größere Mengen Diebesgut fortschaffen lassen 69 . Erst das Aufkommen von motorgetriebenen Fahrzeugen führte zu einer Divergenz zwischen Regelung und Wertentscheidung, weü nun eine praktisch besonders wichtige Gruppe solcher Transportmittel nicht mehr erfaßt wurde. Da bei dynamischem Verständnis und Fortschreibung der ursprünglichen Wertentscheidung natürlich auch technische Neuentwicklungen erfaßt werden soüen, liegen die Voraussetzungen für eine Korrektur an sich vor; es fragt sich nur, ob das "Analogieverbot" des Art. 103 Abs. 2 GG einer solchen Korrektur materiellrechtlich entgegensteht70.
d) Die konkrete Begründung der Gesetzeskorrektur Die aus den vorstehend genannten Gründen mögliche Abweichimg des Norminhalts von der (tatsächlichen oder mit hinreichender Sicherheit ermittelbaren mutmaßlichen) Wertentscheidung des Gesetzgebers kann sich in zweierlei Weise auswirken, was wiederum Auswirkungen auf die konkrete Begründung der durchzuführenden Gesetzeskorrektur hat: Zum einen ist denkbar, daß der Norminhalt der Wertentscheidimg in einer Weise zuwiderläuft, daß diese schon selbst die Korrektur gebietet; zum anderen mag die Korrektur durch sonstige normative, insbesondere verfassungsrechtliche Gründe nahegelegt werden. Zwar findet die Gesetzeskorrektur ihre Grenze in jedem Fall in der Wertentscheidung des Gesetzgebers; sie muß insofern also stets mit dem vom Gesetzgeber mit der Norm verfolgten Zweck konform gehen und kann in diesem Sinne auch immer als teleologisch verstanden werden. Gleichwohl ergibt sich eine wichtige Unterscheidung danach, ob die Gesetzeskorrektur teleologisch geboten oder ob sie teleologisch lediglich erlaubt und durch sonstige Gründe geboten ist 7 1 . Die Bedeutung dieser Unterschei6 8
Vgl. BVerfGE 88, 145, 167 f.; BGHZ 116, 233, 239 f. s. hierzu oben B. II. 3. Beispiel (4). 7 0 s. dazu unten E. III. 2. c). 7 1 Vgl. Looschelders/Roth, JZ 1995, 1046 Fn 131. Ähnlich Canaris, Lücken, S. 82 ff., 88 f., der zwischen der unmittelbar durch die ratio legis gebotenen und der durch andere Wertungen des positiven Rechts, insbesondere den Gleichheitssatz gebotenen Reduktion unterscheidet; vgl. ferner Fikentscher, Methoden IV, S. 312; Larenz, Methodenlehre, S. 397 ff.; Looschelders, Anpassung, S. 105, 197; Roth, Faktische Eingriffe, S. 570. 6 9
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dung wird schon von v. Savigny treffend hervorgehoben. Bei seinen Ausfuhrungen über das Problem, "daß der wirkliche Gedanke des Gesetzes erkannt, und darnach der Ausdruck berichtigt wird", differenziert er zwischen solchen Fällen, in denen "die buchstäbliche Auslegung des Ausdrucks auf einen Widerspruch mit dem anerkannten Grund [des Gesetzes] fuhren würde", und solchen, "da wir den Ausdruck berichtigen, nicht gerade um einen Widerspruch mit dem Grunde zu verhüten, sondern nur um die wahre Gränze der Anwendung zu finden, also damit nicht die Anwendung auf eine unvollständige oder überflüssige Weise geschehe": während die Korrektur in den Fällen der ersten Gruppe "am unbedenklichsten geschieht", seien die Fälle der zweiten Gruppe "häufiger ... und zugleich schwieriger" 72.
aa) Teleologisch gebotene Gesetzeskorrektur Die Vornahme einer Gesetzeskorrektur ist teleologisch geboten, wenn das Gesetz, so wie es erlassen worden ist, ohne diese Korrektur den vom Gesetzgeber mit seinem Erlaß verfolgten Zweck verfehlte. In der stärksten Variante würde die Anwendung des Gesetzes in unkorrigierter Weise die Wertentscheidung des Gesetzgebers jedenfalls in concreto nachgerade konterkarieren, nämlich einen Erfolg herbeiführen, den der Gesetzgeber gerade vermeiden wollte. In der schwächeren Variante liefe die unkorrigierte Gesetzesanwendung dieser Wertentscheidimg zwar nicht zuwider, ließe sich jedoch der vom Gesetzgeber mit der Norm verfolgte Zweck schlechterdings nicht verwirklichen, wäre der Versuch des Gesetzgebers fehlgeschlagen, seinen telos umzusetzen. Die gesetzgeberische Wertentscheidung steht in beiden Alternativen einer entsprechenden Gesetzeskorrektur nicht nur nicht entgegen, sondern gebietet sie geradezu, d.h. der Rechtsanwender ist zur Gesetzeskorrektur verpflichtet, um die gesetzgeberische Wertentscheidung zu verwirklichen 73. Wenn nun zwar die Grenze des Gesetzeswortlauts ausschließt, dem Willen des Gesetzgebers bereits auf der Auslegungsebene Rechnung zu tragen, so entspricht es doch eindeutig dem Willen des Gesetzgebers, daß seine eigentliche Wertentscheidung notfalls im Wege der Korrektur des Gesetzes durchgesetzt wird, und dies rechtfertigt die Vornahme der Korrektur 74.
7 2
v. Savigny, System des heutigen Römischen Rechts I, S. 233 f.
7 3
Vgl. BGHZ 2, 176, 187: "Nur wenn die Berücksichtigung des einer Vorschrift zugrundeliegenden Rechtsgedankens eine einschränkende Auslegung des bloßen Wortsinns einer Vorschrift gebietet, ist ein Abweichen von dem buchstäblichen Sinn des Ausdrucks vertretbar."; Heck, Grundriß, S. 14 f.: Verwirküchung der "erkennbaren Absicht des Gesetzgebers". 7 4
Vgl. BVerfGE 35, 263, 279 f.
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bb) Teleologisch erlaubte Gesetzeskorrektur Läuft der Gesetzesinhalt der gesetzgeberischen Wertentscheidung nicht zuwider, so kann die Gesetzeskorrektur zwar nicht aus Gründen des telos geboten sein. Das heißt jedoch nicht, daß die gesetzgeberische Wertentscheidung hier einer Korrektur zwingend entgegenstünde, denn die Wertentscheidung des Gesetzgebers mag sich hinsichtlich der Möglichkeit bzw. Notwendigkeit einer bestimmten Korrektur auch neutral verhalten. Die Abweichung des Norminhalts von der Wertentscheidung kann schlicht in einem gewissermaßen "überschießenden" Inhalt bestehen, welcher - ohne deshalb die Wertentscheidung gleich zu konterkarieren - so doch jedenfalls von der Wertentscheidung nicht gefordert und daher der Korrektur zugänglich ist. Beispiel (9): Geht man davon aus, daß die den § 57a Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StGB i. V . m. §§ 454, 462a StPO zugrundeliegende Wertentscheidung des Gesetzgebers nur die materiellrechtliche Seite der möglichen Strafaussetzung betrifft 75 , so verhält sich diese Wertentscheidung hinsichtlich der Möglichkeit bzw. Notwendigkeit einer Korrektur der zuständigkeitsbezogenen Komponente der Regelungen neutral. Eine entsprechende Gesetzeskorrektur ist damit erlaubt.
Im Unterschied zur teleologisch gebotenen Korrektur kann die Gesetzeskorrektur hier nicht schon mit der gesetzgeberischen Wertentscheidung selbst begründet werden. Vielmehr bedarf der Rechtsanwender jeweils besonderer Gründe für die Durchfuhrung der Korrektur 76. Denn allein der Umstand, daß die Wertentscheidung des Gesetzgebers einer bestimmten Korrektur nicht entgegensteht, rechtfertigt dieselbe noch nicht 77 . Zur Rechtfertigimg einer teleologisch erlaubten Korrektur kommen insbesondere verfassungsrechtliche Gründe in Betracht 78, namentlich die Vermeidung eines Verfassungsverstoßes: Verletzte das anzuwendende Gesetz die Verfassung und steht die gesetzgeberische Wertentscheidung der Korrektur nicht entgegen, so ist das Gesetz verfassungskonform zu korrigieren. Hierin wird der Unterschied zur "verfassungskonformen Auslegung" deutlich: Während diese nur der Behebung von Unklarheiten auf der Auslegungsebene
7 5
s. oben E. II. 1. b) aa) Beispiel (2). Vgl. BVerfGE 9, 89, 104 f.: "Auch wenn ein eindeutiger Wille des Gesetzgebers zugunsten der wörtlichen Anwendung ... fehlt, kann eine vom Wortlaut abweichende einschränkende Auslegung nur statthaft sein, wenn eine sinnvolle Anwendung des Gesetzes sie fordert"; ferner BVerfGE 88, 145, 166 f. 7 6
7 7
Zu eng aber BVerwGE 90, 265, 270, das eine Gesetzeskorrektur u. a. auch deshalb ablehnt, weÜ eine diesbezügliche Absicht des Gesetzgebers "nicht konkret feststellbar" sei, und BGHZ 2, 176, 187, der anscheinend "nur" teleologisch gebotene Korrekturen zulassen will. 7 8
Vgl. BVerfGE 35, 263, 279 f.; 51, 304, 323.
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dient, d.h. der Auswahl zwischen zwei oder mehreren Auslegungsalternativen, von denen wenigstens eine aus verfassungsrechtlichen Gründen auszuscheiden hat 7 9 , setzt die verfassungskonforme Korrektur voraus, daß das Gesetz, so wie es erlassen worden ist, mit der Verfassimg nicht zu vereinbaren ist 8 0 . Dieser Unterschied wird verdunkelt, wenn das BVerfG auch dann noch von "verfassungskonformer Auslegung" oder "Interpretation" spricht, wenn es ein Gesetz entgegen der Wortlautgrenze einschränkt oder modifiziert 81 . Offenbar will das Gericht damit die Aussage vermeiden, das in Frage stehende Gesetz sei, so wie es erlassen worden ist, verfassungswidrig. Wie noch im einzelnen aufzuzeigen sein wird 8 2 , ist eine solche Aussage indes selbst seitens einfacher Gerichte unbedenklich, weil dem Gesetzgeber damit noch nicht der Vorwurf gemacht wird, er habe eine verfassungswidrige Wertentscheidung getroffen. Vielmehr ist gerade umgekehrt davon auszugehen, daß die Vornahme der Korrektur durchaus dem mutmaßlichen Willen des Gesetzgebers entspricht, weil ja sonst das Gesetz fur nichtig erklärt werden müßte und die der Norm zugrundeliegende Wertentscheidung somit nicht verwirklicht werden könnte. Jenseits der verfassungsrechtlich gebotenen Korrektur ist eine abändernde Rechtsfortbildung schließlich auch dann statthaft, wenn sonstige schwerwiegende Gründe zu der Annahme zwingen, die Anwendung der Norm auf Fälle der vorliegenden Art entspreche nicht dem mutmaßlichen Willen des Gesetzgebers. Bei dieser Prüfung sind die gleichen Gesichtspunkte maßgeblich, die bei der teleologischen Auslegung als "Auslegungskriterien" heranzuziehen sind 83 , vor allem also innere und äußere Kohärenzerwägungen sowie die Betrachtung der betroffenen schutzwürdigen Interessen. Ein wesentlicher Unter7 9
Vgl. oben D. III. 2. c) bb) (1).
8 0
Zur Unterscheidung zwischen verfassungskonformer Auslegung und verfassungskonformer Rechtsfortbüdung vgl. Looschelders /Roth, JZ 1995, 1044; ferner Göldner, Larenz-FS (1983), S. 200 ff.; Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 266 ff.; Krey, JZ 1978, 365; Larenz y Methodenlehre, S. 340 f.; Larenz/ Canaris, Methodenlehre, S. 161; ablehnend gegenüber der Möglichkeit einer verfassungskonformen Gesetzeskorrektur hingegen J. Ipsen, Richterrecht, S. 178 ff.; Raisch, Methoden, S. 180. Verfassungskonforme Auslegung und verfassungskonforme Korrektur können im übrigen nicht nebeneinander vorgenommen werden, da ein Gesetz, das - im Unklarheitsfaüe - verfassungskonform ausgelegt werden kann, keinen verfassungsrechtlichen Korrekturanlaß mehr bieten kann. 8 1 Vgl. etwa BVerfGE 8, 210, 221; 35, 263, 278 f.; 69, 315, 347 f.; 85, 69, 74 f.; ebenso BGHZ 2, 176, 187: vom Wortlaut abweichende "Auslegung". Richtig hingegen BVerfGE 51, 304, 323, wo zwischen Auslegung und Rechtsfortbüdung unterschieden wird.
*
8 2
s. unten Ε. II. 2. b) aa).
8 3
Dazu oben D. III. 2. c).
244
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schied zur teleologischen Auslegung besteht freilich darin, daß jede Gesetzeskorrektur eine nicht unerhebliche Beeinträchtigung der Rechtssicherheit mit sich bringt, weil sie den durch Auslegung ermittelten Inhalt des Gesetzes verändert und regelmäßig sogar mit einer Durchbrechung der auch bei restriktiver oder extensiver Auslegung noch eingehaltenen Wortlautgrenze einhergeht 84. Vor diesem Hintergrund darf man sich nicht leichtfertig zu einer Gesetzeskorrektur entschließen; es bedarf hierfür vielmehr sehr gewichtiger Gründe, welche die unveränderte Gesetzesanwendung auch bei gebührender Berücksichtigung der Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes als unangemessen oder unannehmbar erscheinen lassen85. Soweit solche Gründe vorliegen und eine entgegenstehende Wertentscheidung des Gesetzgebers nicht feststellbar ist, wird die Vornahme der Korrektur jedoch auch außerhalb verfassungsrechtlicher Erwägungen durch die Annahme gerechtfertigt, daß der Gesetzgeber eine vernünftige und sachgerechte Entscheidung des Einzelfalles will. Welche Gründe auch immer die teleologisch erlaubte Korrektur eines Gesetzes rechtfertigen mögen: sie darf in keinem Fall weiter gehen, als in concreto unerläßlich ist, um das Korrekturziel zu erreichen 86. Der Richter darf also nicht über das Ziel hinausschießen, und eine Korrekturanlaß bietende Konstellation zu einer "Totalrevision" des Gesetzes nutzen, zumal hierbei die Gefahr bestünde, daß er diesbezüglich die Wertentscheidung des Gesetzgebers mißachtet und seine eigenen Anschauungen zur Geltung bringt.
2. Die Befugnis zur Gesetzeskorrektur a) Problemstellung Auch wenn eine Situation vorliegt, in der nach dem Vorstehenden eine Korrekturbedürfnis zu bejahen ist, weil eine solche Abweichung des Norminhalts von der Wertentscheidung vorliegt, daß letztere schon selbst die Korrektur gebietet oder dieselbe wenigstens gestattet, während andere Gründe für die Durchführung der Korrektur sprechen, so folgt hieraus doch noch nicht zwingend die Korrekturbefugnis des Rechtsanwenders, namentlich des Richters.
8 4
Vgl. Canaris, Lücken, S. 192 f.; Larenz, Methodenlehre, S. 392; Looschelders, Anpassung, S. 111; Zippelius, Methodenlehre, S. 60 f. 85
Vgl. Maunz/Zippelius, Deutsches Staatsrecht, S. 94: "Um die Bindung an den Wortlaut des Gesetzes zu überschreiten, bedarf es aber sehr gewichtiger Gründe des Rechts". 8 6
Vgl. BVerfGE 34, 269, 292.
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Daß dem Gesetzgeber ein Fehler oder Irrtum bei der Umsetzung seiner Wertentscheidimg unterlaufen ist, mag - so könnte man argumentieren wollen gewiß ein bedauerliches Versehen sein, doch sei dann eben der Gesetzgeber aufgerufen, diesen Fehler im Wege einer Gesetzesänderung zu reparieren, nicht aber sei der Richter befugt, sich einfach über das Gesetz hinwegzusetzen 8 7 . Stellt eine Gesetzeskorrektur nämlich in jedem Falle eine Abweichung vom Inhalt des Gesetzes dar, so wie es vom Gesetzgeber erlassen worden ist, so ist eine Befugnis der anderen Gewalten, namentlich der Judikative, zu einer solchen - womöglich sogar den Wortlaut übersteigenden - abändernden Rechtsfortbildung keineswegs selbstverständlich88, sondern durchaus begründungsbedürftig. Bedenken erweckt eine Gesetzeskorrektur in erster Linie im Verhältnis der staatlichen Gewalten zueinander, da sie unverkennbar die Gewaltenteilungsebene betrifft und Einwände vom Demokratieprinzip her provoziert. Auch scheint es das Prinzip des Vorrangs des Gesetzes (Art. 20 Abs. 3 GG) im Kern zu verletzen, gestünde man den anderen Gewalten die Befugnis zu, Gesetze zu korrigieren. Zudem erheben sich Fragen hinsichtlich der Bedeutung des Gesetzestextes, wenn es möglich wäre, ein Gesetz wortlautüberschreitend zu korrigieren, ohne das verfassungsrechtlich vorgesehene Verfahren zur Änderung von Gesetzen einzuhalten. Bedenken bestehen aber nicht nur im Verhältnis der staatlichen Gewalten zueinander, sondern ebenso im Hinblick auf den einzelnen Normunterworfenen. Insoweit stellt sich nämlich zusätzlich zu der Frage nach dem Vorrang des Gesetzes auch noch das Problem des Vorbehalts des Gesetzes89, jedenfalls wenn ein Eingriff in (Grund-) Rechte des Be-
8 7
Zu einer solchen im anglo-amerikanischen Rechtsraum verbreiteten Argumentation Frowein, Heidelberg-FS, S. 563 f. Vgl. ferner Adomeit, JZ 1978, 2, wonach der positivistische Richter "einem gewissen Rückkoppelungseffekt vertrauen [kann]: bei der positivistischen, mehr instrumentativen Handhabung des Gesetzes merkt dessen Gesetzgeber genau, was er versäumt oder sonst falsch gemacht hat und wird zu Nachbesserungen herausgefordert". 8 8
Ablehnend etwa BVerwGE 90, 265, 269: "Es können von der Rechtsprechung angesichts ihrer Bindung an Gesetz und Recht, Art. 20 Abs. 3 GG, bei der Auslegung und Anwendung der Gesetze nämlich nur diejenigen Motive und Vorstellungen des Gesetzgebers berücksichtigt werden, die im Wortlaut des Gesetzes ihren Niederschlag gefunden haben" (Hervorhebungen durch Verf.); ebenso Achterberg, in BK GG, Art. 92 (Zweitb. 1981) Rn 132; krit. auch Stern, Staatsrecht II, S. 584 unter Hinweis auf Art. 97 Abs. 1 GG. 8 9
Zu Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes vgl. Herzog, in Maunz/Dürig, GG, Art. 20 (18. Lfg. 1980) Abschn. V I Rn 35 ff., 55 ff.; Hesse, Verfassungsrecht, Rn 200 ff., 508; Roth, Faktische Eingriffe, S. 496 ff.
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troffenen in Frage steht90. Während sich die Bindung an das Gesetz letztlich von selbst versteht, weil das (verfassungsmäßig erlassene) Gesetz die Anordnung der Bindung in sich trägt 91 , ist rechtfertigungsbedürftig, weshalb jemand an ein korrigiertes Gesetz gebunden sein soll, welches mit diesem Inhalt von den Gesetzgebungsorganen gar nicht erlassen worden ist. Die genannten Bedenken stehen jedoch der Anerkennung einer richterlichen Befugnis zur Gesetzeskorrektur nicht entgegen.
b) Die konkrete Normenkontrolle
gemäß Art. 100 Abs. 1 GG
aa) Korrekturbefugnis oder Vorlagepflicht Im geschriebenen Verfassungsrecht finden sich keine ausdrücklichen Bestimmungen über eine richterliche Kompetenz zur Korrektur von (formellen) Gesetzen. Die Vorschrift, die noch am nächsten diesen Themenkreis betrifft, Art. 100 Abs. 1 GG, steht der Annahme einer solchen Kompetenz jedenfalls nicht entgegen. Zwar ließe sich für formelle nachkonstitutionelle Gesetze92 auf den ersten Blick der Umkehrschluß ziehen, daß es außerhalb der durch Art. 100 Abs. 1 GG eröffneten Befugnis des BVerfG, ein Gesetz im Falle seiner Verfassungswidrigkeit für nichtig zu erklären, eine Korrekturbefugnis weder des BVerfG noch gar der Fachgerichte gebe, daß vielmehr jenseits der dort geregelten Ausnahme der Vernichtbarkeit ein Gesetz von den Gerichten stets strikt mit dem durch Auslegung ermittelten Inhalt anzuwenden sei 93 . Dieser Umkehrschluß überzeugt indes nicht, wenn man Sinn und Zweck des Art. 100 Abs. 1 GG beachtet. Grundgedanke und wesentliche Aufgabe des Verfahrens der konkreten Normenkontrolle ist nämlich, "zu verhüten, daß ein einzelnes Gericht sich über den Willen des Gesetzgebers hinwegsetzt"94, um so den "Schutz des Gesetzgebers vor einer Desavouierung durch die Ge9 0 Zur Notwendigkeit der Beachtung von Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes sowohl im Verhältnis zwischen den einzelnen Gewalten als auch im Staat-BürgerVerhältnis Herzog , in Maunz/Dürig, GG, Art. 20 (18. Lfg. 1980) Abschn. V I Rn 56. 9 1 Wenn die Staatsgewalt gem. Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG "durch besondere Organe der Gesetzgebung" ausgeübt wird, so impliziert dies die Unterwerfung unter die in Gesetzes form erscheinende Staatsgewalt. 9 2 Zum Begriff des Gesetzes i. S. d. Art. 100 GG vgl. BVerfGE 1, 184, 189 ff.; 2, 124, 128 ff.; Jarass/Pieroth , GG, Art. 100 Rn 4 ff.; Pestalozza , Verfassungsprozeßrecht, § 13 Rn 8 ff. 9 3
In diesem Sinne Hillgruber , JZ 1996, 119; J. lpsen , Richterrecht, S. 190 ff., 235 ff.; Schneider , DÖV 1975, 448 f., 452. 9 4
BVerfGE 63, 131, 141 (Hervorhebung durch Verfasser), st. Rspr. seit BVerfGE 1, 184, 197 f.; 4, 331, 340; 10, 124, 127; vgl. auch Jarass/Pieroth , GG, Art. 100 Rn 1.
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richte"95 sicherzustellen und damit "die Autorität des unter der Herrschaft des Grundgesetzes tätig gewordenen Gesetzgebers zu wahren" 96 , indem die "Überprüfung des Gesetzgebers" beim BVerfG konzentriert wird 9 7 . Art. 100 Abs. 1 GG geht es nach diesem Verständnis im Kern nicht um die Befolgung des Gesetzes um seiner selbst willen, sondern um die Achtung des hinter dem Gesetz stehenden gesetzgeberischen Willens 98 . Soll mithin Art. 100 Abs. 1 GG verhindern, daß einfache Gerichte den "ursprünglichen Willen des Gesetzgebers"99 mißachten, so muß nach dem vom Verfassungsgeber mit der Vorschrift verfolgten Zweck zwar auch jede Korrekturbefugnis des Richters durch den Willen des Gesetzgebers100 begrenzt sein, eine generelle Verneinimg der Befugnis zu einer von Inhalt und Wortlaut des einschlägigen Gesetzes abweichenden (und insofern korrigierenden) Rechtsanwendung wird hierdurch aber keineswegs impliziert. Im Gegenteil läßt sich aus Art. 100 Abs. 1 GG sogar mittelbar herleiten, daß die Gerichte eine - den Willen des Gesetzgebers achtende - Korrekturbefugnis besitzen müssen. Denn ein Gericht, das "ein Gesetz, auf dessen Gültigkeit es bei seiner Entscheidung ankommt, für unvereinbar mit einer Rechtsnorm höheren Ranges hält, darf ... das Bundesverfassungsgericht nach Art. 100 Abs. 1 GG nur anrufen, wenn seine eigene Prüfungszuständigkeit nicht ausreicht, um das Gesetz für die Entscheidung des konkreten Rechtsstreits auszuschalten"101. Das bedeutet: Zunächst muß jedes Gericht prüfen, ob es ein verfassungswidriges Gesetz durch Korrektur selbst "ausschalten" kann; 9 5
Stern, in BK GG, Art. 93 (Zweitb. 1982) Rn 199; ferner Bettermann, Die verfassungskonforme Auslegung, S. 31 f. 9 6 9 7
BVerfGE 22, 373, 378. BVerfGE 17, 208, 210; BVerfG, NJW 1988, 1902 (Hervorhebung im Original).
9 8
Vgl. BVerfGE 48, 40, 44 f. Das Ziel der Vermeidung von Rechtsunsicherheit und Rechtszerspütterung (BVerfGE 1, 184, 199; 54, 47, 51; 58, 300, 322; Jarassi Pierothy GG, Art. 100 Rn 1) hat im Rahmen des Art. 100 Abs. 1 GG zwar insofern Bedeutung, als es das Verwerfungs/nono/w/ des BVerfG motiviert; es vermag das Vorlagerecht als solches allein jedoch nicht zu begründen, sondern kommt nur zum Tragen, wenn und soweit die Durchführung des konkreten Normenkontroüverfahrens aus anderen Gründen geboten ist (vgl. BVerfGE 54, 47, 51). Gerade dies aber ist nur insoweit der Fall, wie der Wüle des (nachkonstitutionellen formellen) Gesetzgebers zu schützen ist. Begründete aUein der "Einheitlichkeitsgedanke" die Vorlage, so müßten auch Rechtsverordnungen und vorkonstitutioneÜe Gesetze vorgelegt werden, was von Art. 100 Abs. 1 GG aber gerade nicht gefordert wird (BVerfGE 1, 184, 195 ff.; 2, 124, 129 ff.; krit. insoweit Hesse, Verfassungsrecht, Rn 686; Stern, in BK GG, Art. 100 [Zweitbearb. 196η Rn 60). 9 9
BVerfGE 2, 124, 127; 4, 331, 340.
1 0 0
Zu der Frage, ob es beim Willen als Korrekturgrenze auf die Wert- oder die Regelungsentscheidung des Gesetzgebers ankommt, s. unten E. II. 1. b) aa). 101
BVerfGE 10, 124, 127.
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dabei darf es freilich keine Korrektur vornehmen, die dem Willen des Gesetzgebers widerspräche, denn insoweit greift die Sperrwirkung des Art. 100 Abs. 1 GG, der eine Mißachtung des gesetzgeberischen Willens ausschließen soll. Soweit sich die einfachen Gerichte indes gar nicht über diesen Willen hinwegsetzen wollen, greift Art. 100 Abs. 1 GG seinem Zweck nach nicht ein. Die Desavouierung des Gesetzgebers in den Augen des Volkes und der übrigen Verfassungsorgane, vor der Art. 100 Abs. 1 GG schützen soll, droht nämlich nicht bei der bloßen Aussage eines Gerichts, der Gesetzgeber habe sich bei der Formulierung und Umsetzung seines Willens geirrt und deshalb ungewollt eine verfassungswidrige Norm erlassen; sie ergäbe sich erst als Folge der Feststellung, der Gesetzgeber habe eine verfassungswidrige Wertentscheidung getroffen. Eine solche Feststellung würde nämlich das Ansehen des Gesetzgebers und das Vertrauen in seine Tätigkeit besonders stark beeinträchtigen, weil es hier nicht mehr um bloße, nie völlig vermeidbare Fehler und Irrtümer ginge, sondern um die Unfähigkeit des Gesetzgebers, bei der Bildimg seiner Wertentscheidungen die Vorgaben der Verfassung zu beachten. Die von Art. 100 Abs. 1 GG geschützte Autorität des Gesetzgebers bleibt demgegenüber gewahrt, solange die diesem vorbehaltene Wertentscheidung nicht angetastet wird. Dementsprechend ist die Aussage des BVerfG, Art. 100 Abs. 1 GG solle einer Mißachtung des Willens des Gesetzgebers durch die einfachen Gerichte vorbeugen 102, im Sinne des Schutzes der Wertentscheidung des Gesetzgebers zu verstehen. Soweit die Gerichte den schwerwiegenden Vorwurf, der Gesetzgeber habe eine verfassungswidrige Wertentscheidung getroffen, gar nicht erheben und sich nicht über die gesetzgeberische Wertentscheidung hinwegsetzen wollen, sind sie deshalb zur Vorlage nicht nur nicht verpflichtet, sie sind nicht einmal dazu berechtigt. Konsequenterweise muß den Gerichten dann aber eine Befugnis zur wertentscheidungskonformen Korrektur von Gesetzen zukommen; infolge der Unzulässigkeit einer Vorlage bestünde andernfalls - entgegen dem offenkundigen Sinn des Art. 100 Abs. 1 GG - keine Möglichkeit, den Willen des Gesetzgebers zu realisieren, wenn das Gesetz in seinem Wortlaut von dieser Wertentscheidung abweicht. Solange ein Gericht sich im Rahmen dieser Wertentscheidung hält, kann es demnach ein Gesetz korrigieren, ohne nach Art. 100 Abs. 1 GG vorlegen zu müssen. Besteht eine solche Korrekturbefugnis schon bei formellen nachkonstitutionellen Gesetzen, so ist sie im übrigen erst recht in Ansehung aller sonstigen Gesetze anzuerkennen.
1 0 2 BVerfGE 2, 124, 129; 4, 331, 340; Jarass/Pieroth, Hesse, Verfassungsrecht, Rn 686.
GG, Ait. 100 Rn 1; krit.
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bb) Die Grenze der Korrekturbefiignis Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich zugleich, wo die Befugnis des Richters zu einer Gesetzeskorrektur endet und er gegebenenfalls zur Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG verpflichtet ist: nämlich bei Vorliegen einer auch nach Bereinigung eventueller Irrtümer und der Berücksichtigung einer etwaigen dynamischen Fortentwicklung - entgegenstehenden gesetzgeberischen Wertentscheidung. Ist der Richter in einem solchen Fall der Ansicht, daß die Anwendung eines Gesetzes in concreto zu unangemessenen Ergebnissen führt, so hängt das weitere Vorgehen davon ab, ob das betreffende Gesetz gegen die Verfassung verstößt oder lediglich allgemein (rechtspolitisch) fragwürdig erscheint. In letzterem Fall muß der Richter das Gesetz anwenden, da er im Rahmen der Verfassung an die Wertentscheidung des Gesetzgebers gebunden ist und insoweit auch rechtspolitische Fehlwertungen hinzunehmen h a t 1 0 3 . Soweit sich das in Frage stehende Gesetz hingegen als verfassungswidrig darstellt, darf der Richter es nicht befolgen. Da ihn allerdings auch eine verfassungswidrige Wertentscheidimg des Gesetzgebers an einer Korrektur des Gesetzes hindert, kann diese Nichtbefolgung nur darin bestehen, daß er das Gesetz als nichtig behandelt104. Bei nachkonstitutionellen formellen Gesetzen ist er freilich nach Art. 100 Abs. 1 GG gehindert, die Verfassungswidrigkeit selbst festzustellen; er muß das Verfahren aussetzen und die Entscheidung des BVerfG (bzw. bei Verletzung einer Landesverfassung des zuständigen Landesverfassungsgerichts) einholen. Denn nur den Verfassungsgerichten ist erlaubt, den Vorwurf zu erheben, der formelle Gesetzgeber habe (bewußt oder unbewußt) eine verfassungswidrige Wertentscheidung getroffen 105 . Hält ein Gericht dafür, daß eine deutsche Rechtsnorm gegen europäisches Gemeinschaftsrecht verstößt, und kann dieser Verstoß weder durch gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung ausgeschlossen noch durch eine entsprechende Korrektur beseitigt werden, so ergibt sich als ein bedeutsamer Unterschied zur Lage im Falle einer Grundgesetzverletzung, daß eine Vorlage an das BVerfG gemäß Art. 100 Abs. 1 GG ausscheidet, da diesem die Verwerfungskompetenz nur bezüglich der Unvereinbarkeit mit dem Grundgesetz vorbehalten i s t 1 0 6 . Auch eine Vorlage an den EuGH gemäß Art. 177 EGV kommt nicht in Betracht, da der EuGH in diesem Verfahren lediglich Gemeinschaftsrecht auslegt, keinesfalls aber über die Geltung nationalen Rechts
103 1 0 4 105 106
Vgl. Enneccerus/Nipperdey, BGB AT 1/1, S. 346 f. Vgl. BVerfGE 4, 219, 236. Vgl. Looschelders/Roth, JZ 1995, 1045. BVerfGE 31, 145, 174 f.
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befindet 107 . Aufgrund des Anwendungsvorrangs des Gemeinschafts- vor dem nationalen Recht hat das Gericht in einer solchen Lage vielmehr ohne weiteres das gemeinschaftsrechtswidrige deutsche Gesetz außer Anwendung zu las-
c) Das Gewaltenteilungsprinzip Das vor dem Hintergrund des Zweckes des Normenkontrollverfahrens nach Art. 100 Abs. 1 GG gefundene Ergebnis einer richterlichen Korrekturbefugnis wird durch das Gewaltenteilungsprinzip bestätigt. Zwar hat es zunächst den Anschein, die Wahrung der von Art. 20 Abs. 3 GG intendierten Vorrangstellung des Gesetzgebers spreche gegen die Annahme einer richterlichen Korrekturbefugnis: Eine Gesetzeskorrektur könnte nämlich als Verfälschung des gesetzgeberischen Willens erscheinen, wohingegen es die Position des Gesetzgebers weniger zu beeinträchtigen scheint, wenn ein Gesetz fur nichtig erklärt und ihm dadurch Gelegenheit zur Neuregelung gegeben w i r d 1 0 9 . Die Nichtigerklärung eines Gesetzes beeinträchtigt den Gesetzgeber jedoch nur auf den ersten Blick weniger stark als eine Gesetzeskorrektur. Erstens ist der Gesetzgeber selbstverständlich nicht gehindert, auch dann eine (klarstellende) Neuregelung zu verabschieden, wenn er mit der von den Gerichten vorgenommenen Korrektur seiner Gesetze nicht einverstanden ist. Und zweitens ist es eine gänzlich irreale A n n a h m e , der Gesetzgeber könne Gesetze erlassen, die sämtlichen Lebenssachverhalten gerecht werden könnten; in Wahrheit verbürge sich hinter einem solchen Ansinnen eine hoffnungslose Überforderung des Gesetzgebers, die zu einer wesentlich größeren Zahl von Nichtigerklärungen fuhren müßte. Dies aber stünde ersichtlich nicht im Interesse des Gesetzgebers. Die Nichtigerklärung eines Gesetzes schafft, weil ja der konkrete Fall entscheidungsbedürftig bleibt, zumeist nur eine Regelungslücke, und bei deren Ausfüllung gerät die Prärogative des Gesetzgebers in zumindest keine geringere Gefahr als bei einer Gesetzeskorrektur. Da eine Gesetzeskorrektur immerhin die Möglichkeit gibt, den gesetzgeberischen
1 0 7
EuGH, Slg. 1964, S. 1251, 1268 "Costa/ENEL"; 1992, S. 1-5045 Tz 12 "Van der Tas"; Geiger, EGV, Art. 177 Rn 5; Wohlfahrt, in Grabitz/Hüf, EUV, Art. 177 Rn 25. 1 0 8 Vgl. EuGH, Slg. 1964, S. 1251, 1269 ff. "Costa/ENEL"; 1978, S. 629 Tz 21/23 f. "Simmenthai"; BVerfGE 75, 223 , 244; 85, 191, 203; Geiger, EGV, Art. 5 Rn 22; Oppermann, Europarecht, Rn 540. 109
In diesem Sinne Brohm, JZ 1985, 503; Hesse, Verfassungsrecht, Rn 83; Klein, in Umbach/Clemens, BVerfGG, § 80 Rn 52 ff.; Krey, JR 1995, 222; Schiaich, Bundesverfassungsgericht, Rn 415 f.; Stuth, in Umbach/Clemens, BVerfGG, § 78 Rn 10.
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Willen weitestmöglich zu realisieren, ist die Vornahme einer Gesetzeskorrektur gegenüber der Erzeugimg von Gesetzeslücken vorzugswürdig. Der Gefahr der Verfälschung des gesetzgeberischen Willens wird statt dessen durch die Beachtung der Korrekturgrenzen begegnet. Selbstverständlich muß auch die Gesetzeskorrektur von der verfassungsrechtlich vorgegebenen Ordnung der Gewalten ausgehen, wonach der Erlaß von Gesetzen den Gesetzgebungsorganen obliegt, während die anderen Gewalten (Judikative und Exekutive) an diese Gesetze gebunden sind (Art. 20 Abs. 3 GG) und deshalb keine Korrektur von Gesetzen nach ihrem persönlichen Dafürhalten vornehmen dürfen 110 . Infolgedessen ist der Rechtsanwender allerdings daran gehindert, seine Wertanschauungen über die Wertentscheidungen des Gesetzgebers zu stellen und diesen rechtspolitisch zu korrigieren. Indessen ist ja bereits dargelegt worden, daß die Gesetzeskorrektur ohnehin nur innerhalb der Grenzen der gesetzgeberischen Wertentscheidung stattfinden kann, weil sie von dieser entweder schon geboten oder - wenn sie anderweitig indiziert ist - doch zumindest erlaubt sein muß. Von daher begründet eine methodisch statthafte Gesetzeskorrektur keinen Verstoß gegen Art. 20 Abs. 3 GG. Überhaupt verkennt die Berufung auf Art. 20 Abs. 3 GG als Argument gegen eine richterliche Befugnis zur Gesetzeskorrektur 111 die Tragweite dieser Verfassungsbestimmung. Art. 20 Abs. 3 GG bindet Exekutive und Judikative nicht an den Wortlaut der Gesetze, sondern an die vom Gesetzgeber mit denselben verfolgten Zwecke 112 . Art. 20 Abs. 3 GG soll, wie oben gezeigt 113 , den Primat des Gesetzgebers in dem Sinne sichern, daß dieser den anderen Gewalten Entscheidungsmaßstäbe vorgeben kann. Dem hierin liegenden Gesetzesbefehl ist aber nicht "blind" zu gehorchen 114, wie die Rechtsordnung ja generell keinen blinden, sondern - entsprechend dem in § 665 S. 1 B G B 1 1 5 ausgedrückten allgemeinen Rechtsgedanken 116 - nur denkenden Gehorsam
1 1 0 So vom Grundansatz her auch BVerfGE 49, 304, 318; 65, 189, 190 ff.; 87, 273, 280; Canaris, Dietz-GS, S. 201 ff.; Engisch, Einführung, S. 94; Enneccerus/ Nipperdey, BGB AT 1/1, S. 315 ff., 346 f.; Fikentscher, Methoden III, S. 704 ff.; Koch/Rüßmann , Juristische Begründungslehre, S. 253 ff.; Larenz, Methodenlehre, S. 368 f.; Schneider, DÖV 1975, 446 ff.; Zippelius, Methodenlehre, S. 76 ff. 111
So etwa BVeiwGE 90, 265, 269; Hillgruber,
JZ 1996, 122.
1 1 2
Vgl. Neuner, Rechtsfindung, S. 85 ff., 112. 113 s. obenB. II. 2. d) bb) (3). 1 1 4 Vgl. Heck, Grundriß, S. 355; Lehmann/Hühner, BGB AT, S. 60. 115 Zu §665 S. 1 BGB als Ausdruck des Prinzips denkenden Gehorsams vgl. Heck, Grundriß, S. 354 f.; Seiler, in MünchKomm BGB, § 665 Rn 2; Staudinger/ Wittmann, BGB, § 665 Rn 1. 116
Enneccerus/Nipperdey,
BGB AT 1/1, S. 345.
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kennt 1 1 7 . Deshalb steht die in Art. 20 Abs. 3 GG normierte Gesetzesbindung bei rechtem Verständnis einer etwaigen Gesetzeskorrektur nicht nur nicht entgegen, sondern gebietet sie geradezu, wenn der Sinn des Gesetzes eine Abweichung vom ergangenen Gesetzesbefehl rechtfertigt oder gar erfordert. Daß dies nur unter bestimmten Voraussetzungen und unter Einhaltung gewisser noch darzulegender Grenzen erfolgen darf, versteht sich dabei von selbst. Auch die verfassungsrechtlichen Vorschriften über Gesetzesänderungen stehen der Zulassung von Gesetzeskorrekturen nicht entgegen. Dies folgt schon daraus, daß sich die Vorschriften über das Gesetzgebungsverfahren (im VII. Abschnitt des GG) an die Gesetzgebungsorgane richten, hingegen nichts über die Handlungsmöglichkeiten und -formen der den anderen Staatsgewalten zugehörigen Organe aussagen, etwa welche Befugnisse die (im IX. Abschnitt des GG behandelten) Gerichte haben sollen. Gewiß darf dieses formale Argument nicht überbewertet werden, da auch solche Verfahrensregelungen als Teil des Gesamtgefüges der Verfassung Bedeutung für die Stellung anderer Organe haben können. Indessen müßte eine solcherart übergreifende Wirkung materiell vom Sinn und Zweck der Verfahrensvorschriften her begründbar sein, und dies ist hier nicht der Fall. Nicht zu verkennen ist zwar, daß die Anerkennung einer Befugnis zur Gesetzeskorrektur eine gewisse Relativierung der Vorschriften über das Gesetzgebungsverfahren bedeutet. Die Bestimmungen über das Gesetzgebungsverfahren sind indessen kein Selbstzweck. Sie dienen vielmehr der Garantie der Authentizität des Gesetzestextes und der Sicherstellung, daß der Gesetzestext vom Willen des Gesetzgebers getragen w i r d 1 1 8 . Ergibt sich in einem konkreten Verfahren jedoch, daß dieser Zweck verfehlt wurde, d.h. kann der Richter mit Gewißheit feststellen, daß der Inhalt des Gesetzes, so wie es verabschiedet wurde, vom Willen des Gesetzgebers gerade nicht gedeckt ist, dann darf auch nicht die Berufung auf das Verfahren der Gesetzesänderung der Korrektur entgegenstehen. Vielmehr ist die unvermeidbare Relativierung des Gesetzestextes im Interesse des mit der Gesetzeskorrektur verfolgten Zieles materieller Gerechtigkeit hinzunehmen. Das Grundgesetz gebietet dem Richter m. a. W. nicht, "formale Gesetzestreue auch um den Preis einer erheblichen Einbuße an Gerechtigkeit im Einzelfall" zu üben 1 1 9 .
117
Lehmann/Hübner, BGB AT, S. 60.
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s. obenB. II. 1. a). BVerfGE 34, 269, 292.
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d) Das Interesse der Normunterworfenen an der Möglichkeit einer Gesetzeskorrektur Daß eine Befugnis zur Gesetzeskorrektur grundsätzlich auch im Interesse der Normunterworfenen notwendig ist, wird besonders deutlich, wenn es um die Einschränkimg einer belastenden, vielleicht sogar strafbarkeitsbegründenden Rechtsnorm geht. Denn bei Verneinung einer Korrekturbefugnis würde der Bürger hier ohne zwingenden Grund einer Belastung unterworfen, die der Gesetzgeber für ihn vielleicht gar nicht wollte. Die Möglichkeit einer Nichtigerklärung des betreffenden Gesetzes hülfe dem Bürger nicht in jedem Fall weiter, weil die korrigierende Einschränkung einer belastenden Norm auch dort in Betracht kommen mag, wo ein nachgerader Verfassungsverstoß nicht ausgemacht werden kann. Davon abgesehen schösse die Nichtigerklärung des Gesetzes auch über das Ziel einer gerechten Einzelfallentscheidung hinaus und würde nicht selten ein Gesetz "vernichten", dessen wortlautgetreue Anwendung im Regelfall durchaus zu angemessenen und verfassungsrechtlich unbedenklichen Ergebnissen führt. Zu bedenken ist ferner, daß die Nichtigerklärung eines Gesetzes häufig nur eine Regelungslücke schafft, so daß eine verfassungsrechtlich haltbare und möglichst sinnvolle und gerechte Entscheidung des konkreten Falles auf diesem Wege nicht erreicht werden kann. Selbst wenn die Korrekturbedürftigkeit einer Norm auf unsauberer Gesetzestechnik oder einem sonstigen Versagen des Gesetzgebers beruht, muß man sich stets vergegenwärtigen, daß die Rechtsanwendung nicht auf eine Erziehung oder Bestrafung des Gesetzgebers zu Lasten der beteiligten Parteien abzielen darf. Eine Norm nur zu dem Zweck wortlautmäßig anzuwenden, um dem Gesetzgeber eine Lektion zu erteilen oder ihn zu einer Gesetzesänderung zu veranlassen, ist inakzeptabel, da die unmittelbaren Folgen hiervon nicht den Gesetzgeber, sondern die belastete Partei treffen 120 . Eine unsaubere Gesetzestechnik kann zwar richterliche Appelle an den Gesetzgeber in Form von obiter dicta rechtfertigen, nicht aber sachlich verfehlte Entscheidungen. Ein allzu starres Haften am Wortlaut des Gesetzes ist Kennzeichen unentwickelter Rechtssysteme, die strikt auf Formalitäten und äußerliche, sinnlich wahrnehmbare Vorgänge abstellen und (noch) keinen Raum für gedankliche Abstraktionsprozesse bei der Rechtsanwendung lassen 121 . In einem entwik1 2 0
Ähnlich Zander, The Law-Making Process, S. 93. Enneccerus/Nipperdey, BGB AT 1/1, S. 324; Zander, The Law-Making Process, S. 92 f. Seinen Grund dürfte dieses Phänomen nicht zuletzt darin haben, daß in Gesellschaften, in denen die Kunst des Lesens und Schreibens nur wenigen Personen vorbehalten ist, das geschriebene Wort etwas Ehrfurcht Gebietendes gewinnt, zumal dann, wenn es im juristischen Kontext steht und das Recht als letztlich göttlichen Ur121
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E. Richterliche Rechtsfortbdung
kelten Rechtssystem ist es hingegen fur die Rechtssubjekte nicht überzeugend, dem Buchstaben unterworfen zu werden. Im übrigen ist zu bedenken, daß es der unabdingbaren Achtung der Bürger vor dem Gesetzgeber sehr abträglich wäre, würde dieser von den Gerichten so hingestellt, als wolle er sein Gesetz wortlautgemäß angewendet wissen, selbst wenn dies zu unsinnigen oder unbilligen Ergebnissen führt. Auch der Gesetzgeber hat - dem in § 133 BGB formulierten allgemeinen Rechtsgedanken entsprechend - Anspruch darauf, daß das Gesetz als seine Willenserklärung nicht nach dem "buchstäblichen Sinn des Ausdrucks" gehandhabt werde 122 . Es ist daher nicht zu rechtfertigen, unter Berufung auf den "eindeutigen Wortlaut" des Gesetzes eine unangemessene Entscheidung zu treffen und dabei womöglich noch die "rechtspolitische Fehlentscheidung" des Gesetzgebers zu beklagen oder anzuprangern, ohne zuvor genau zu prüfen, ob eine wortlautgetreue Gesetzesanwendung wirklich dem Willen des Gesetzgebers entspricht 123. Soweit letzteres nicht der Fall ist, ist der Richter zu einer Korrektur des Gesetzes nicht nur berechtigt, sondern sogar verpflichtet. Die Frage nach einer Gesetzeskorrektur kann sich freilich nicht nur zu Gunsten eines Bürgers stellen, sondern auch zu seinen Lasten, beispielsweise im Strafrecht oder bei gesetzlichen Ermächtigungen zu Grundrechtseingriffen, aber auch im Zivilrecht, wenn infolge einer Gesetzeskorrektur einer Partei ein Anspruch aberkannt oder sie mit einem Anspruch belastet wird. Hierbei handelt es sich aber nicht um ein spezifisch methodisches Problem der Rechtsfortbildung, sondern um eine Frage der materiellrechtlichen Grenzen, die bei jeder Rechtsanwendung zu beachten sind 1 2 4 . Insbesondere aus den Grundrechten betroffener Bürger sowie aus den allgemeinen Rechtsstaatsprinzipien, namentlich des Vertrauensschutzes, der Vorhersehbarkeit und der Bestimmtheit, können sich materielle Grenzen für die Zulässigkeit von Gesetzeskorrekturen ergeben. Ferner ist das Prinzip des Vorbehalts des Gesetzes ebenso sprungs verstanden wird (vergleichbare Verabsolutierungen der reinen Wortsinninterpretation finden sich daher nicht zufallig bei religiösen Schriften). 1 2 2 RGZ 89, 187 f.; BGHZ 2, 176, 184; 3, 82, 84; 13, 28, 30; Enneccerus/Nipperdey, BGB A T 1/1, S. 320; Krüger-Nieland/Zöller, RGRK-BGB, §133 Rn 1; Ρalandt/Heinrichs, BGB, Einl. Rn 34. Daß das Gesetz nicht buchstäblich auszulegen und anzuwenden ist, wird auch von den Autoren betont, die sich bei der Auslegung gegen eine Bezugnahme auf § 133 BGB wenden (ζ. B. Larenz, Methodenlehre, S. 346 f.; Mayer-Mafy, in MünchKomm, BGB, § 133 Rn 38; Soergel/Hefermehl, BGB, Anh. § 133 Rn 1). Zur Relevanz des § 133 BGB für die Auslegung s. oben B. II. 2. d) dd) (7). 123 1 2 4
In diesem Sinne auch Neuner, Rechtsfindung, S. 163.
Allgemein zum Einfluß materiellrechtlicher Prinzipien auf den Prozeß der Rechtsanwendung oben Β. I. 3.; spezieü zum Problem des strafrechtlichen Analogieverbots unten E. III. 2. c).
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ä n e n d e Rechtsfortbildung
zu beachten125 wie die speziellen Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG fur den Bereich des Strafrechts. Es ist daher durchaus möglich, daß eine Gesetzeskorrektur, obschon ihr im Verhältnis der staatlichen Gewalten untereinander weder das Gewaltenteilungs- noch das Demokratieprinzip entgegenstünde, im Verhältnis des Staates zum betroffenen Bürger an dessen Grundrechten in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (z.B. Vertrauensschutz, Vorhersehbarkeit) scheitern kann. Dies stellt freilich eine materiellrechtliche Frage dar und betrifft insofern wiederum nur die konkrete Zulässigkeit einer bestimmten Gesetzeskorrektur, begründet aber nicht etwa ihre prinzipielle methodische UnStatthaftigkeit.
e) Die Absage des Grundgesetzes an einen strikten
Gesetzespositivismus
Für die grundsätzliche Befugnis des Richters zur Korrektur von Gesetzen spricht nicht zuletzt die Erwägung, daß das Grundgesetz keine "wert-lose" Ordnung darstellt, die einem strikten Gesetzespositivismus huldigte und deshalb keine Korrektur des positiven Gesetzes zuließe. Vielmehr liegt dem Grundgesetz - insbesondere den Grundrechten 126 - die Vorstellung einer der Gerechtigkeit verpflichteten 127 objektiven Wertordnimg zugrunde 128 , deren Verwirklichung die Legitimationsgrundlage für Gesetzeskorrekturen darstellt. Auch (und gerade) in einer Demokratie besteht keine Fiktion gesetzgeberischer Vollkommenheit, und deshalb sind Vorkehrungen dafür zu treffen, daß dem Gesetzgeber Irrtümer unterlaufen mögen. Davon abgesehen liegt es letztlich in der Natur der Sache, daß der Gesetzgeber aufgrund der notwendigen Allgemeinheit seiner Gesetze nicht jedwedem Einzel- und Sonderfall gerecht werden kann 1 2 9 . Es vertrüge sich nun aber schlecht mit den Wertvor125
Vgl. insoweit Hillgruber, JZ 1996, 123, der jedoch in FäUen von Grundrechtskollisionen zu Unrecht von der Geltung des Vorbehalts des Gesetzes ausgeht (vgl. hierzu Looschelders/Roth, JZ 1995, 1042 Fn 83; eingehend Roth, Faktische Eingriffe, S. 482 ff., 515 ff.). 126
Vgl. dazu BVerfGE 7, 198, 205; 39, 1, 41; 42, 64, 74; Därig, in Maunz/ Dürig, GG, Art. 1 (Lfg. 1958) Rn 1 ff.; v. Münch, in v. Münch/Kunig, GG, Vorb. Rn 22; Roth, Faktische Eingriffe, S. 412, 564 f. 1 2 7 128
Vgl. auch Art. 1 Abs. 2, 20 Abs. 1, 23 Abs. 1 S. 1, 28 Abs. 1 S. 1 GG.
Vgl. BVerfGE 3, 225, 233. 129 Diese Erkenntnis findet sich schon bei Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1137b: "In Wirküchkeit entsteht die Problematik dadurch, daß das Gütige zwar ein Gerechtes ist, aber nicht im Sinne der durch das Gesetz gewährleisteten Gerechtigkeit, sondern es ist eine Berichtigung der Gesetzes-Gerechtigkeit. Das hat seinen Grund darin, daß jegliches Gesetz aügemein gefaßt ist. Aber in manchen EinzelfäUen ist es nicht mögüch, eine aügemeine Bestimmung so zu treffen, daß sie richtig ist. In
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E. Richterliche Rechtsfortbildung
Stellungen des Grundgesetzes, die Lasten aus gesetzgeberischen Irrtümern bzw. gesetzgebungstechnisch unumgänglichen Verallgemeinerungen die normunterworfenen Rechtssubjekte tragen zu lassen, ohne hier eine Korrekturmöglichkeit zu eröffnen. Wie der Gesetzgeber nicht das "letzte Wort" bei der Entscheidung konkreter Einzelfalle haben kann 1 3 0 , so kann auch das Gesetz nicht das "letzte Wort" bei der Rechtsanwendimg bleiben. Vielmehr muß den Besonderheiten eines konkreten Sachverhalts notfalls durch Abweichung von dem notwendigerweise typisierenden und verallgemeinernden Gesetzesinhalt Rechnung getragen werden 131 . Die verfassungsmäßige Ordnung ist insgesamt der Idee gerechter und vernünftiger Gesetze verpflichtet, und die Verwirklichung dieser Leitidee ist nicht nur Sache des Gesetzgebers, sondern obliegt auch den anderen Gewalten. Wenn nach Art. 20 Abs. 3 GG Exekutive und Judikative an "Gesetz und Recht" gebunden sind, so stellt dies eine ausdrückliche Absage an jeden engen Gesetzespositivismus d a r 1 3 2 und impliziert damit notwendig die Befugnis und Pflicht, wo immer möglich Gesetze nicht in Konflikt mit dem Recht geraten zu lassen, sondern sie tunlichst damit in Einklang zu bringen. Erforderlichenfalls hat daher das in der Verfassungsordnung als Sinnganzem enthaltene "Mehr an Recht" als "Korrektiv" des positiv gesetzten Rechts zu wirken 1 3 3 . Eine strikte Bindung an die Wortlautgrenze vertrüge sich daher solchen FäUen nun, wo es notwendig ist sich aügemein auszudrücken, dies aber doch nicht so geschehen kann, daß alles richtig ist, da nimmt das Gesetz die FäUe sozusagen en bloc ohne aUerdings zu übersehen, daß damit eine Fehlerquelle gegeben ist. Und trotzdem ist dieses Verfahren richtig, denn der Fehler liegt nicht im Gesetz und im Gesetzgeber, sondern in der Natur der Sache, denn so ist nun einmal die FüUe dessen, was das Leben bringt". In gleichem Sinne BGHZ 14, 138, 144: "Es liegt in der Natur der Sache, daß jedes Gesetz verallgemeinert, dh daß der Gesetzgeber stets, um zu einer Regel zu kommen, von gewissen Besonderheiten der einzelnen Fälle, die geregelt werden soUen, absehen muß" (Hervorhebungen im Original). Vgl. hierzu auch Radbruch/Zweigert, Einführung, S. 37 f. 1 3 0 s. hierzu oben B. I. 1. 131 Vgl. Meyer, in v. Münch, GG, Art. 97 Rn 18. 1 3 2 BVerfGE 34, 269, 286; v. Hoyningen-Huene, Heidelberg-FS, 356; Roth, Faktische Eingriffe, S. 447; Säcker, in MünchKomm BGB, Einl. Rn 134. 133
BVerfGE 34, 269, 287; Zippelius, Methodenlehre, S. 60 f., 76 ff.; zur "gesetzeskorrigierenden Funktion" des Art. 20 Abs. 3 GG ferner Fikentscher, Methoden I V , S. 327, 347. Krit. hinsichtlich dieser Argumentation F. Müller, Heidelberg-FS, S. 67 f. mit der Begründung, es werde übersehen, daß der Richter nach Art. 97 Abs. 1 GG "nur dem Gesetze unterworfen" sei (Hervorhebung durch Verf.). Dem ist zwar insofern zuzustimmen, als eine allein auf den Wortlaut des Art. 20 Abs. 3 GG gestützte Rechtfertigung der richterlichen Korrekturbefugnis in der Tat zu kurz griffe. Indessen kann aus Art. 97 Abs. 1 GG weder im Umkehrschluß gefolgert werden, der Richter sei nicht auch dem Recht unterworfen, noch darf daraus abgeleitet werden,
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nicht mit Art. 20 Abs. 3 G G 1 3 4 . Die Legislative stellt nach der Ordnung des Grundgesetzes keine absolute Gewalt dar; sie ist vielmehr in ein Gewaltenteilungssystem eingebunden (Art. 1 Abs. 3, 20 Abs. 2 S. 2, Abs. 3 GG), das fur die Annahme einer (richterlichen) Befugnis zur Korrektur von Gesetzen Raum gibt. Diese Korrekturbefugnis besteht nicht nur dem Gesetzgeber, sondern gleichfalls den Normadressaten gegenüber. Denn wenn der Richter an Gesetz und Recht gebunden ist - und das heißt: wenn er bei seinen Entscheidungen nicht nur das Gesetz, sondern eben auch das Recht zugrundezulegen hat -, so müssen auch die Normunterworfenen (mittelbar) an das Recht gebunden sein, weil der Richter sein Urteil ja sonst nicht hierauf stützen könnte. Mit dieser Bindimg des Richters auch an das Recht hat das Grundgesetz eine fundamentale Aussage über das Verhältnis des nach den Gewalten gegliederten Staates zu den Rechtssubjekten getroffen, nämlich daß die Bürger nicht nur dem Gesetz unterworfen sind, sondern daß darüber - und insoweit eben auch für die Bürger verbindlich - das Recht steht. Die Bindung an Gesetz und Recht begründet daher nicht nur die Statthaftigkeit einer Gesetzeskorrektur dem Normgeber gegenüber, sondern legitimiert die Korrektur auch im Hinblick auf den Normunterworfenen. Nach alledem ist es auch verfassungsrechtlich sanktioniert, richterliche Gesetzeskorrekturen unter den beschriebenen Voraussetzungen für statthaft zu erachten 135.
der Gesetzgeber selbst sei nicht an die in der Verfassung konkretisierten Prinzipien des Rechts gebunden oder der Richter gehindert, im Falle eines Widerspruchs das Gesetz in jene Grenzen zu weisen. Art. 97 Abs. 1 GG garantiert die Unabhängigkeit des Richters gegenüber Weisungen im EinzelfaU (Kirchhof\ Heidelberg-FS, S. 14; s. ferner oben Β. II. 2. d) bb) (3), entbindet ihn aber nicht von seiner Verpflichtetheit auf die Idee des Rechts, wie sie insbesondere in der Verfassung spezifiziert ist. 1 3 4
Vgl. BVerfGE 35, 263, 278 f.; 88, 145, 166 f.; ferner BVerfGE 82, 6, 11 f.
135
Die Befugnis des Richters zur abändernden Rechtsfortbüdung ist auf der Grundlage der Verfassungsordnung des Grundgesetzes ganz überwiegend anerkannt; vgl. etwa BVerfGE 34, 269, 286 ff.; 49, 304, 318; 75, 223, 243 f.; 88, 145, 166 f.; BGHZ 4, 153, 158; BGHSt 30, 105, 121; Engisch, Einführung, S. 171 ff., 179; Enneccerus/Nipperdey, BGB AT 1/1, S. 319 f., 325 f., 344 ff.; Fikentscher, Methoden I V , S. 325 ff., 346 ff.; Flume , BGB AT II, S. 297; Krey, JZ 1978, 366; ders., JR 1995, 222 f.; Larenz, Methodenlehre, S. 366 ff., 391 ff.; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 187 ff., 210 ff.; Neuner, Rechtsfindung, S. 162 ff.; Säcker, in MünchKomm BGB, Einl. Rn 131 ff., 134; Soergel/Hefermehl, BGB, Anh. § 133 Rn 15; Zippelius, Methodenlehre, S. 58 ff. Ablehnend hingegen Hillgruber, JZ 1996, 119 ff.; J. Ipsen, Richterrecht, S. 190 ff., 235 ff.; Schneider, DÖV 1975, 448 f., 452.
17 Looscheldcrs / Roth
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f) Resümee: Rechtsfortbildung
contra legem
Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich zugleich die Antwort auf die Frage nach der Zulässigkeit einer richterlichen Rechtsfortbildung contra legem 1 3 6 . Der hierzu bestehende Meinungsstreit leidet darunter, daß nicht immer klar danach unterschieden wird, wogegen genau die Rechtsfortbildung erfolgt: den Wortlaut des Gesetzes, die Regelungsentscheidung des Gesetzgebers oder seine Wertentscheidung 137 . Nach den hier entwickelten Grundsätzen kann eine Rechtsfortbildung gegen den Wortlaut des Gesetzes und die Regelungsentscheidung des Gesetzgebers zulässig sein, eine Korrektur des Gesetzes gegen die Wertentscheidung des Gesetzgebers ist hingegen stets ausgeschlossen138.
3· Die Korrekturmethoden: Reduktion, Extension, Modifikation Welche Methode der Rechtsanwender im Einzelfall anzuwenden hat, um eine durch die gesetzgeberische Weitentscheidung selbst gebotene oder aufgrund sonstiger Umstände gerechtfertigte Gesetzeskorrektur durchzufuhren, hängt davon ab, welcher Art der Irrtum war, der die Korrekturlage überhaupt begründet hat, und in welcher Weise sich dieser Irrtum im Verhältnis der korrekturbedürftigen Norm zum fraglichen Sachverhalt ausgewirkt hat. Denn
1 3 6
Zur Problemsteüung vgl. Krey, JZ 1978, 361 ff., 428 ff., 465 ff.; Neuner, Rechtsfindung, passim; ferner Engisch, Einfuhrung, S. 171 ff.; Gusy, JuS 1983, 194; Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 255; Larenz, Methodenlehre, S. 428; Radbruch, Rechtsphüosophie, S. 344 ff. 1 3 7 Neuner, Rechtsfindung, S. 1 bezeichnet den Terminus "Rechtsfindung contra legem" dementsprechend zu Recht als einen der "schÜlerndsten" Begriffe der juristischen Methodenlehre. Er selbst versteht den Begriff als Entscheidung gegen die "Regelungsabsicht" bzw. die "Zwecksetzung" des Gesetzgebers (vgl. Neuner, ebda., S. 132, 184 f.). 13 8
Looschelders/Roth, JZ 1995, 1044 f.; ähnlich BVerfGE 35, 263, 280: Eine "Auslegung contra legem" stellte nur dann "einen verfassungsrechtlich unhaltbaren Eingriff in die Kompetenz des Gesetzgebers" dar, wenn dem Gesetz hierdurch ein "das gesetzgeberische Ziel in einem wesentlichen Punkt verfehlender oder verfälschender Sinn gegeben würde". Methodisch unzutreffend BGHSt 40, 371, 372, wo § 73d Abs. 1 S. 1 StGB entgegen den klaren Intentionen des Gesetzgebers verfassungskonform dahingehend ausgelegt wird, daß die "ganz hohe Wahrscheinlichkeit" der deliktischen Herkunft eines Gegenstandes nicht ausreiche, um den erweiterten Verfall zu rechtfertigen; wenn der BGH davon ausgeht, daß die der gesetzgeberischen Wertentscheidung gemäße Anwendung des § 73d Abs. 1 S. 1 StGB Grundrechte des Angeklagten verletzte, so mußte er nach Art. 100 Abs. 1 GG verfahren. Krit. zu Recht auch Katholnigg, JR 1995, 297 ff.
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welcher methodische Ansatz gewählt wird, steht nicht im Belieben des Rechtsanwenders, sondern ist von dem Korrekturziel vorgegeben, den gesetzgeberischen Irrtum auszugleichen und den Norminhalt in Einklang mit der der Norm zugrundeliegenden Wertentscheidung zu bringen. Je nach der Auswirkung des Irrtums kann die Korrektur der Norm sowohl deren Tatbestands- als auch deren Rechtsfolgenseite betreffen. Zum einen kann der gesetzgeberische Irrtum oder Fehler sich nämlich auf die Tatbestandsseite der Norm auswirken. Da der Tatbestand einer Norm die Aufgabe hat, zu bestimmen, auf welche Sachverhalte die Norm Anwendung finden soll 1 3 9 , bedeutet ein solcher Irrtum, daß der Anwendungsbereich der Norm nicht korrekt festgelegt worden ist. Dabei kann der Anwendungsbereich entweder weiter oder enger geraten sein, als es der hinter der Norm stehenden tatsächlichen Wertentscheidung des Gesetzgebers entspricht 140. Ein zu weiter Tatbestand erfaßt auch Sachverhalte, die zu erfassen nach dieser Wertentscheidung nicht geboten ist. Ein zu enger Tatbestand läßt hingegen Sachverhalte außen vor, deren Erfassung der gesetzgeberischen Wertentscheidung entspräche. Ein Irrtum kann sich auch in mehrfacher Weise auswirken. So mag etwa der Anwendungsbereich einer Norm teils zu eng, teils zu weit sein, weil der Tatbestand einerseits Sachverhalte außen vor läßt, die nach der Wertentscheidung zu erfassen sind, dafür aber andererseits Sachverhalte erfaßt, die eigentlich nicht erfaßt werden sollen. Betrifft der Irrtum hingegen die Rechtsfolgenseite der Norm, so bedeutet dies, daß die Norm zwar genau die Sachverhalte erfaßt, die nach der Wertentscheidung geregelt werden sollen, daß die diesbezüglich angeordnete Rechtsfolge jedoch (teilweise) von dem abweicht, was der Wertentscheidung entspräche 141. Entsprechend den dargestellten möglichen Fehlerfolgen lassen sich drei Korrekturmethoden unterscheiden: die Reduktion, die Extension und die Rechtsfolgenmodifikation 142: Ist der Anwendungsbereich der Norm weiter geraten, als nach der tatsächlichen Wertentscheidimg des Gesetzgebers geboten war, kommt ihre Reduktion (Restriktion) in Betracht 143 . Hierbei wird der 1 3 9 Zur Abgrenzungsfunktion des Tatbestands vgl. Bydlinski, Methodenlehre, S. 480; Engischy Einführung, S. 17; Looschelders, Anpassung, S. 74; Roth, Faktische Eingriffe, S. 92, sowie oben C. I. 1. 1 4 0
Vgl. Enneccerus/Nipperdey, heutigen Römischen Rechts I, S. 231.
BGB AT 1/1, S. 335; v. Savigny,
System des
141 Enneccerus/Nipperdey, BGB AT 1/1, S. 336 sprechen hier von "qualitativer Verschiedenheit" des Wülens und seines Ausdrucks. 1 4 2 Ähnüch Enneccerus/Nipperdey, BGB AT 1/1, S. 335 f. 143
Vgl. hierzu Bydlinski, Methodenlehre, S. 480 f.; Canaris, Lücken, S. 82 ff.; Engisch, Einführung, S. 176 ff.; Enneccerus/Nipperdey, BGB A T 1/1, S. 344 ff.; Fikentscher y Methoden IV, S. 311 f.; Gast y Juristische Rhetorik Rn 335; Larenz> *
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Tatbestand der Norm in der Weise modifiziert, daß einzelne Sachverhalte oder auch ganze Sachverhaltsgruppen, die nach dem Ergebnis der Auslegung von der Norm erfaßt würden, aus deren Anwendungsbereich ausgeschieden werden. Von Reduktion oder Restriktion spricht man deshalb, weil auf diese Weise der Anwendungsbereich der Norm verkleinert wird. Infolge einer solchen tatbestandsbezogenen Korrektur wird eine dem Wortlaut nach an sich einschlägige Norm auf den betreffenden Sachverhalt nicht mehr angewendet. Dies kann zu einer "Lücke" im Gesetz fuhren, die dann nach den allgemeinen Grundsätzen der Gesetzesergänzung geschlossen werden muß 1 4 4 . Ist der Anwendungsbereich der Norm hingegen enger geworden als nach der tatsächlichen Wertentscheidung intendiert, so ist eine Gesetzeskorrektur in Gestalt einer Extension denkbar, mittels welcher der Anwendungsbereich der Norm auf die Sachverhalte erstreckt wird, welche nach dem Gesetzesinhalt nicht erfaßt sind. Die in dieser Konstellation vorliegende Regelungslücke145 beruht also nicht auf der Wertentscheidung des Gesetzgebers, sondern lediglich auf deren ungenügenden Umsetzung. Eine solche "Umsetzungslücke" stellt nicht nur phänomenologisch, sondern in jedem Falle auch im normativen Sinne eine Regelungslücke dar, da die gesetzgeberische Wertentscheidung ihre Schließung verlangt. Rechtstechnisch erfolgt diese Lückenschließung in der Weise, daß entweder neue, alternativ geltende Tatbestandsmerkmale hinzugefügt oder bislang einschränkende Tatbestandsmerkmale ausgeklammert werden; beides bewirkt, daß der (extendierte) Tatbestand nunmehr zusätzliche Sachverhalte erfaßt. Betrifft der gesetzgeberische Irrtum hingegen die Rechtsfolgenseite, so bedarf es weder einer Einschränkung noch einer Ausweitung des Anwendungsbereichs der Norm, sondern einer Modifikation der Rechtsfolgeanordnung. Hierzu können insbesondere einzelne in der Norm verwendete Begriffe (wortlautüberschreitend) verändert werden. Möglich ist aber auch, die Rechtsfolgeanordnung inhaltlich derart zu beschränken, daß die eigentlich vorgesehenen Rechtsfolgen nicht mehr uneingeschränkt Platz greifen, oder aber sie inhaltlich auszuweiten, indem dem Tatbestand weitere, an sich nicht vorgesehene Rechtsfolgen zugeordnet werden 146 . Bei Korrekturen auf der Rechtsfolgenseite ist allerdings Zurückhaltung geboten: Solche Korrekturen führen dazu, daß die veränderte Rechtsfolge für sämtliche vom Tatbestand erfaßten Sachverhalte eintritt, es also keinen potentiellen Anwendungsfall für die unveränderte Norm mehr gibt, der ursprünglichen Anordnung des Gesetzgebers Methodenlehre, S. 391 ff.; Pawlowski, Methodenlehre, Rn 490 ff.; ders. y Einführung, Rn 168 f.; Zippelius, Methodenlehre, S. 63. 1 4 4
s. unten E. III.
145
Zum Lückenbegriff s. schon oben E. I.; ausführlich unten E. III. 1. Vgl. Zippelius, Methodenlehre, S. 64.
146
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somit überhaupt kein Anwendungsbereich mehr verbleibt. Einer derart umfassenden Korrektur wird regelmäßig die Wertentscheidung des Gesetzgebers entgegenstehen. Deshalb geht mit einer Korrektur auf der Rechtsfolgenseite zumeist eine Korrektur des Tatbestandes einher, so daß die unveränderte Norm einen Anwendungsbereich behält und die in der Rechtsfolge modifizierte Norm einen hiervon abgegrenzten Anwendungsbereich erhält. Es kommt m. a. W. zu einer Normspaltung mit einem reduzierten Anwendungsbereich der ursprünglichen Norm mit der unveränderten Rechtsfolgeanordnung und einem neu abzugrenzenden Anwendungsbereich für eine abgespaltene Norm mit modifizierter Rechtsfolgeanordnimg. Beispiel (10): Vor dem Hintergrund der hier entwickelten Grundsätze erscheint es zumindest mißverständlich, wenn der BGH in seiner bekannten Entscheidung zur Strafbarkeit des heimtückischen Mordes bei "außergewöhnlichen Umständen" von einer "den Tatbestand des Mordes nicht berührende[n] Ergänzung der Rechts folgenseite" spricht 147 . Denn der BGH muß ja angeben, wann ein minder schwerer Fall des Mordes anzunehmen ist, und diese Abgrenzung ist eine Tatbestands frage. In Wahrheit nimmt der BGH hier eine Aufspaltung des § 211 StGB vor: Durch die Einführung eines Tatbestandsmerkmals "außergewöhnliche Umstände" wird der Anwendungsbereich des § 211 StGB in zwei Bereiche aufgespalten; in dem reduzierten güt unverändert die Rechtsfolge der lebenslangen Freiheitsstrafe, in dem abgespaltenen güt die durch Inkorporation des Strafrahmens des § 49 Abs. 1 Nr. 1 StGB modifizierte Rechtsfolge.
4. Fallgruppen der Gesetzeskorrektur Die für die praktische Rechtsanwendung bedeutsamen Fallgruppen zulässiger Gesetzeskorrekturen ergeben sich aus der Verknüpfung der verschiedenen Abweichungskonstellationen mit den ihnen jeweils gemäßen Korrekturmethoden und Rechtfertigungsgründen.
a) Die teleologische Reduktion Die teleologische Reduktion einer Norm begegnet zunächst in den Fällen einer teleologisch gebotenen Korrektur. Hierbei erfaßt die Norm Sachverhalte, die zu erfassen zwecks Verwirklichung der feststellbaren gesetzgeberischen Wertentscheidung nicht nur nicht nötig ist, sondern deren Erfassimg dieser Wertentscheidung sogar zuwiderläuft. Der Anwendungsbereich der
1 4 7
BGHSt 30, 105, 120. Zur methodischen Kritik vgl. Gunther, NJW 1982, 356; Köhler, JuS 1984, 763 , 769; Looschelders, Anpassung, S. 73 f.; F. Müller, Heidelberg-FS, S. 73.
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Norm ist hier nicht nur größer als nach der Wertentscheidung erforderlich; es ist vielmehr sogar so, daß die darüber hinaus erfaßten Sachverhalte gemäß derselben gar nicht der von der betreffenden Norm vorgesehenen Rechtsfolge unterworfen werden dürfen . Um die gesetzgeberische Wertentscheidung zu verwirklichen, ist der Rechtsanwender verpflichtet, das Gesetz durch Reduktion seines Anwendungsbereiches zu korrigieren 148 . In diesem Sinne fuhrt schon v. Savigny treffend aus: "Ist also z. B. ein Rechtssatz eingeführt, zur Begünstigung gewisser Personen, so wird jede einzelne Anwendimg zu ihrem Schaden mit dem Grunde im Widerspruch stehen, und dieses muß verhütet werden durch eine einschränkende Auslegung des zu allgemeinen Ausdrucks" 149 . Soweit es um die Einschränkung einer Norm gegen ihren Wortlaut geht, sollte man freilich aus Gründen der terminologischen Klarheit nicht mehr von "einschränkender Auslegung", sondern von teleologischer Reduktion sprechen. Beispiel (11): Das Abtretungsverbot des § 400 BGB güt nach h. M . 1 5 0 u. a. nicht für unpfändbare Unfallrentenansprüche, wenn der neue Gläubiger dem Rentenberechtigten ohne Rechtspflicht laufend Bezüge zum jeweiligen Fälligkeitstermin in Höhe der jeweüs fallig gewordenen abgetretenen Ansprüche gewährt. Die Einschränkung des § 400 BGB wird damit begründet, daß "sonst der vom Gesetz verfolgte Zweck, den Rentenberechtigten zu schützen, in sein Gegenteü verkehrt würd e " 1 5 1 . Es handelt sich mithin um eine durch Sinn und Zweck des § 400 BGB gebotene Reduktion. Beispiel (12): Teleologisch geboten ist ferner die Reduktion des § 181 BGB für Insichgeschäfte eines gesetzlichen Vertreters, die dem Vertretenen lediglich einen rechtlichen Vorteü bringen 1 5 2 . Der gesetzgeberische Zweck der Vorschrift, den Vertretenen vor einer Benachteiligung durch Insichgeschäfte zu schützen, würde nämlich in sein Gegenteü verkehrt, wenn die Anwendung der Vorschrift zur Nichtigkeit eines Rechtsgeschäfts führte, welches für den Vertretenen lediglich einen rechtlichen Vorteü begründet.
Die teleologische Reduktion hat ihre Bedeutung ferner in Fällen, in denen die Korrektur zwar nicht schon durch die tatsächliche Wertentscheidung geboten wird, der Anwendungsbereich der Norm aber dennoch zu weit geraten
1 4 8
Vgl. BVerfGE 88, 145, 167; BGHZ 4, 153, 154; Enneccerus/Nipperdey A T 1/1, S. 348. 149
, BGB
v. Savigny , System des heutigen Römischen Rechts I, S. 234.
1 5 0
BGHZ 4, 153; 13, 360, 367 ff.; 59, 109, 115; Ρalandt/Heinrichs , BGB, § 400 Rn 3. Ausführlich hierzu aus methodischer Sicht Engisch , Einführung, S. 173, 176 ff.; Koch/Rüßmann , Juristische Begründungslehre, S. 252; Larenz , Methodenlehre, S. 393 ff.; Raisch , Methoden, S. 163 f.; zur Zulässigkeit einer solchen Korrektur des § 400 BGB s. oben E. II. 1. b) aa) Beispiel (1). 151
BGHZ 4, 153, 157.
1 5 2
Vgl. BGHZ 59, 236; Larenz , Methodenlehre, S. 392 f.
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ist und gewichtige Gründe für seine Reduktion sprechen. V o n besonderer Bedeutung ist hier die verfassungskonforme Reduktion 153: sofern die feststellbare gesetzgeberische Wertentscheidung nicht entgegensteht, die Korrektur also erlaubt ist, sind mittels dieser Rechtsfigur jene Sachverhalte aus dem Anwendungsbereich der N o r m auszuscheiden, die aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht erfaßt werden dürfen. Steht die feststellbare Wertentscheidung des Gesetzgebers dieser Reduktion nicht entgegen, so kann davon ausgegangen werden, daß ihre Vornahme dem mutmaßlichen Willen des Gesetzgebers entspricht, denn dieser hat j a ein Interesse daran, daß die von ihm erlassenen Gesetze möglichst nicht mit höherrangigen Normen in Konflikt geraten. Beispiel (73J 1 5 4 : Wer die Absicht hat, eine öffentüche Versammlung unter freiem Himmel oder einen Aufzug zu veranstalten, muß dies nach § 14 Abs. 1 VersG spätestens 48 Stunden vor der Bekanntgabe anmelden. Dies güt nach dem Wortlaut der Vorschrift auch dann, wenn die Versammlung aus aktueüem Anlaß ohne einen Vorlauf von 48 Stunden durchgeführt werden soU. Da solche Spontan- bzw. Eüversammlungen durch das Fristerfordernis unmöglich gemacht würden, verstieße § 14 Abs. 1 VersG bei uneingeschränkter Anwendung partieü gegen Art. 8 G G 1 5 5 . Sofern ein Veranstalter vorhanden ist, kommt eine verfassungskonforme Auslegung i. S. einer Ausklammerung von Eüversammlungen aufgrund des entgegenstehenden Wortlauts nicht in Betracht; es fragt sich jedoch, ob eine verfassungskonforme Korrektur zulässig i s t 1 5 6 . Dies hängt von der Wertentscheidung des Gesetzgebers ab. Ausweislich der Materialien ging der Gesetzgeber des VersG von 1953 davon aus, daß der Veranstalter einer "Spontankundgebung" nach § 2 7 VersG (a. F.; entspricht § 26 Nr. 2 VersG n. F.) bestraft werden könne 1 5 7 ; da § 27 VersG auf § 14 Abs. 1 VersG Bezug nahm, sollten mithin auch Eüversammlungen dem Anmeldeerfordernis unterliegen. Bei der Beratung des Gesetzes zur Änderung des VersG vom 25. 9. 1978 wurde zwar erörtert, ob "Spontanversammlungen" einer Sonder-
153 BVerfGE 88, 145, 168; Jarass/Pieroth, GG, Einl. Rn 5; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 161; Looschelders/Roth, JZ 1995, 1044 f. 1 5 4
Zu einem weiteren Beispiel - verfassungskonforme Reduktion des § 565 Abs. 2 S. 2 BGB - vgl. ausführlich Looschelders/Roth, JZ 1995, 1034 ff. 155 Zur Problemstellung vgl. BVerfGE 69, 315, 347 ff.; Kniesel, in Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, Rn Η 222 ff.; Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn 138 f. 156
Das BVerfG (BVerfGE 69, 315, 347 f.; 85, 69, 74 f.) und die h. M . (Geis, N V w Z 1992, 1025 ff.; Herzog, in Maunz/Dürig, GG, Ait. 8 (Lfg. 1987) Rn 84; Kniesel, in Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, Rn Η 226, Η 242; Ott, VersG, § 14 Rn 4; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn 89, 776; Rühl, in Ridder u. a., VersG, § 14 Rn 5) sprechen bei § 14 Abs. 1 VersG zwar von "verfassungskonformer Auslegung"; der Sache nach befürworten sie jedoch eine verfassungskonforme Korrektur des Gesetzes. 1 5 7 BT-Drucks. 1/1102, S. 11; vgl. hierzu auch Dietel/Ginzel/Kniesel, strations- und Versammlungsfreiheit, § 14 Rn 24.
Demon-
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regelung bedürfen 158 ; gleichwohl enthält auch das VersG von 1978 keine entsprechende Ausnahme vom Anmeldeerfordernis. Der Gesetzgeber hat eine solche Ausnahme offenbar für entbehrlich gehalten, weil eine Versammlung nach § 15 Abs. 2 VersG nicht allein wegen Verstoßes gegen das Anmeldeerfordernis aufgelöst werden könne 1 5 9 . Diese Erwägung geht indes fehl, da die partielle Verfassungswidrigkeit des § 14 Abs. 1 VersG schon darin begründet ist, daß dem Veranstalter rechtswidriges Handeln vorgeworfen w i r d 1 6 0 . Insoweit liegt ein bloßer Rechtsirrtum des Gesetzgebers über die Verfassungsmäßigkeit des uneingeschränkten Anmeldeerfordernisses vor, der die Maßgeblichkeit der vom Gesetzgeber getroffenen Wertentscheidung als Korrekturgrenze nicht entfallen läßt. Geht man nach allem davon aus, daß das Anmeldeerfordernis des § 14 Abs. 1 VersG nach der Wertentscheidung des Gesetzgebers auch Eilversammlungen erfassen soll, so besteht für eine verfassungskonforme Reduktion kein Raum; § 14 Abs. 1 VersG ist vielmehr als partiell verfassungswidrig anzusehen 161 . Beispiel (14): Nach § 100c Abs. 1 Nr. 2 StPO darf das nichtöffentlich gesprochene Wort bei Vorliegen eines qualifizierten Anfangsverdachts ohne Wissen des Betroffenen mit technischen Mitteln abgehört werden. Dem Wortlaut nach läßt die Vorschrift auch das Abhören in Wohnungen zu; da dies jedoch mit Art. 13 GG nicht vereinbar wäre, geht die ganz h. M . 2 davon aus, daß § 100c Abs. 1 Nr. 2 StPO lediglich das Abhören außerhalb von Wohnungen gestatte. Dem ist der Sache nach zuzustimmen: Aufgrund des klaren Wortlauts ist eine verfassungskonforme Auslegung zwar auch hier ausgeschlossen. Den Gesetzesmaterialien läßt sich jedoch eindeutig entnehmen, daß der Gesetzgeber in § 100c Abs. 1 Nr. 2 StPO das Abhören innerhalb von Wohnungen nicht regeln wollte; eine entsprechende Klarstellung wurde nur deshalb abgelehnt, weil "sich dies aus dem Gesetzeszusammenhang und der Entstehungsgeschichte ergebe" 1 6 3 . Die hierin zum Ausdruck kommende Geringschätzung des Gesetzeswortlauts durch den Gesetzgeber selbst ist zwar befremdlich; dies ändert aber nichts daran, daß die Wertentscheidung des Gesetzgebers einer verfassungskonformen Reduktion nicht entgegensteht. 158
Vgl. BT-Drucks. 8/1845, S. 7.
1 5 9
Vgl. BT-Drucks. 8/1845, S. 10. 1 6 0 Schenke , Polizei- und Ordnungsrecht, Rn 139. Für die Bejahung eines Grundrechtseingriffs ist nämlich unerheblich, ob die auferlegte Rechtspflicht erzwingbar oder sanktionsbewehrt ist, vgl. BVerfGE 79, 69, 76; Roth, Faktische Eingriffe, S. 181 f. 161
So i. E. auch BVerfGE 85, 69, 77 f. (Minderheitsvotum); Frowein , NJW 1969, 1086; Schenke , Polizei- und Ordnungsrecht, Rn 138; ders ., JZ 1986, 35 f., die allerdings ohne Bezugnahme auf die gesetzgeberische Wertentscheidung lediglich mit der Eindeutigkeit des Wortlauts argumentieren. 16 2
Beulke, Strafprozeßrecht, Rn 265; Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, § 100c Rn 5 f.; Nack, in Karlsruher Kommentar StPO, § 100c Rn 3; Rudolphi, in SK StPO, § 100c Rn 3. Zur verfassungsrechtlichen Problematik des Abhörens in Wohnungen zum Zwecke der Strafverfolgung vgl. ferner Herdegen , in BK GG, Art. 13 (71. Lfg. Okt. 1993) Rn 86 ff.; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn 945, 953; Raum/Palm, JZ 1994, 447 ff. 163
BT-Drucks. 12/2720, S. 46.
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Auch ohne verfassungsrechtlich geboten zu sein, wird in vielen Fällen von einer teleologischen Reduktion Gebrauch zu machen sein. Erfaßt etwa eine N o r m bestimmte Sachverhalte lediglich deshalb, weil der Gesetzgeber den Tatbestand der Norm versehentlich weiter gefaßt hat, als es nach der Wertentscheidung erforderlich war, so wird der mutmaßliche W i l l e des Gesetzgebers auf eine Reduktion des Anwendungsbereichs der Norm gerichtet sein, wenn dies zur Erzielung vernünftiger und billiger Ergebnisse notwendig ist. Denkbar ist zwar, daß die Norm, obschon insofern nur zufällig, die betreffenden Sachverhaltskonstellationen durchaus sinnvoll regelt, und dann kann es hiermit sein Bewenden haben. Ist dies aber nicht der Fall, so darf der Richter nicht am Wortlaut haften; seine Befugnis und Pflicht, Gesetz und Recht anzuwenden, gestattet in solchen Situationen vielmehr die Vornahme der Reduktion, die zur Ermöglichung einer gerechten Entscheidimg erforderlich ist. Beispiel (15) 164: Gemäß § 184 Abs. 1 BGB wirkt die Genehmigung grundsätzlich auf den Zeitpunkt zurück, zu dem das genehmigte Rechtsgeschäft vorgenommen worden ist. Der Gesetzgeber hat hier die Wertentscheidung getroffen, daß das kraft Genehmigung wirksam gewordene Rechtsgeschäft rechtlich so zu behandeln sei, als wäre es bereits bei seiner Vornahme wirksam gewesen 165 . Eine solche Rückwirkung führt jedoch in einigen Situationen zu unbilligen Ergebnissen. Bezieht man die Rückwirkung etwa auch auf den Beginn der Veijährung von Gewährleistungsansprüchen, so kommt es zu einer ungerechtfertigten Verkürzung, wenn nicht gar völligen Abschneidung dieser Fristen, weü der Berechtigte ja seinen Anspruch erst nach Genehmigung geltend machen kann. Eine solche Verkürzung läuft zwar nicht gerade dem Zweck des § 184 Abs. 1 BGB zuwider; da jedoch auch nicht davon ausgegangen werden kann, daß sie dem Wülen des Gesetzgebers entspricht, bedarf es einer teleologischen Reduktion der Vorschrift dergestalt, daß die Rückwirkung nicht für den Beginn von Verjährungsfristen g ü t 1 6 6 . Beispiel (16): Gemäß § 17b Abs. 1 S. 2 GVG (ggf. i.V.m. § 83 VwGO) bleiben die Wirkungen der Rechtshängigkeit (ζ. B. Veijährungsunterbrechung) bestehen, wenn der Rechtsstreit, nachdem die Klage vor einem unzuständigen Gericht erhoben wurde, von diesem rechtskräftig an das zuständige Gericht verwiesen wurde. Damit soU gewährleistet werden, daß der Kläger keine Nachteüe erleidet, wenn er sich bei der möglicherweise schwierigen Beurteüung der Zuständigkeitsfrage irrt. Ihm soU aber nicht die zumutbare sorgfaltige Arbeit abgenommen werden. Deshalb ist die Vorschrift zu restringieren und nicht auf schuldhaft bei einem unzuständigen Gericht erhobene Klagen anzuwenden 167 .
1 6 4 Zu weiteren Beispielen der teleologisch erlaubten Reduktion vgl. Larenz, Methodenlehre, S. 394 ff.; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 214 ff. 165 166
Vgl. Schramm, in MünchKomm BGB, § 184 Rn 11.
Vgl. RGZ 65, 245, 248; Larenz, BGB AT, S. 487; Soergel/Leptien § 184 Rn 7; Stauding er/Dilcher, BGB, § 184 Rn 9.
y
BGB,
1 6 7 Vgl. hierzu OVG Koblenz, NJW 1981, 1005; V G Augsburg, BayVBl. 1994, 606; Kopp, VwGO, § 83 Rn 20.
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Die Notwendigkeit der teleologischen Reduktion einer Norm kann sich gelegentlich auch aus ihrem Zusammentreffen mit einer anderen Norm ergeben, und zwar unter dem Gesichtspunkt der Stimmigkeit und Kohärenz des Rechtssystems. Dies kann dann der Fall sein, wenn die der zweiten Norm zugrundeliegende Wertentscheidung der uneingeschränkten Anwendung der ersten Norm entgegensteht168. Beispiel (17): Nach § 167 Abs. 2 BGB bedarf die Erteilung einer Vollmacht nicht der Form, welche für das Rechtsgeschäft bestimmt ist, auf das sie sich bezieht. Bei Grundstücks Verkäufen könnte die uneingeschränkte Anwendung dieser Vorschrift den Schutzzweck des § 313 BGB vereiteln, die Vertragsschließenden vor Übereilung zu schützen. Im Hinblick auf diese hinter § 313 BGB stehende Wertentscheidung ist deshalb § 167 Abs. 2 BGB jedenfaUs dann zu reduzieren, wenn die VoUmachterteüung in bezug auf ein nach § 313 BGB formbedürftiges Geschäft bereits eine rechtliche oder tatsächliche Bindung begründet 169 .
Nicht selten ergibt sich, daß sowohl verfassungsrechtliche als auch sonstige gewichtige Gründe für eine Reduktion sprechen. Dies ist insbesondere in Bereichen, in denen Grundrechtseingriffe infrage stehen, auch nicht verwunderlich: Erfaßt eine Norm gewisse Sachverhalte lediglich deshalb, weil der Gesetzgeber beim Versuch der Umsetzung seiner Wertentscheidung den Tatbestand der Norm versehentlich weiter als notwendig gefaßt hat, so besteht auch aus Sicht des Gesetzgebers keine materielle Rechtfertigung für diese Regelung, so daß schon allgemeine Erwägungen für ihre Reduktion sprechen. Greift nun die Norm zudem noch in Grundrechte ein oder ermächtigt sie zu solchen Eingriffen, so ergibt sich hieraus ein Verfassungsverstoß, da ein nicht durch objektive Gründe materiell gerechtfertigter Eingriff in ein Grundrecht dasselbe verletzt 170 . Da hier die Reduktion auf beide Begründungsstränge zu stützen ist, erübrigt sich praktisch eine dogmatisch strikte Trennimg; beide Argumente können einander unterstützend herangezogen werden, um zu begründen, daß die Vornahme einer teleologischen Reduktion dem mutmaßlichen Willen des Gesetzgebers entspricht. Beispiel (18): § 54 BGB verweist für nicht rechtsfähige Vereine auf die Vorschriften über die BGB-Gesellschaft und mißachtet damit bewußt "den der Natur der Sache entsprechenden körperschaftlichen Charakter des nicht rechtsfähigen
168 Ygi Gast, Juristische Rhetorik Rn 335; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 214; ferner BGHZ 4, 153, 158. 169
RGZ 110, 319, 320; BGH, L M 167 Nr. 18; BGH, NJW 1979, 2306; Larenz , BGB AT, S. 621; Palandt/Heinrichs, BGB, § 313 Rn 20 f. 1 7 0 Vgl. Looschelders/Roth , JZ 1995, 1043. Zur Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen eingehend Roth, Faktische Eingriffe, S. 555 ff., 573 ff.
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Vereins" 1 7 1 . Da die damit verbundene Diskriminierung nicht rechtsfähiger Vereine mit dem Grundgesetz (Art. 9 GG) nicht vereinbar ist, beschränkt die h. M . 1 7 2 die Verweisung zumindest bei nicht wirtschaftlichen Vereinen auf solche gesellschaftsrechtlichen Vorschriften, welche der körperschaftlichen Struktur des Vereins nicht zuwiderlaufen. In methodischer Hinsicht handelt es sich hierbei um eine an der "Natur der Sache" orientierte verfassungskonforme Reduktion des § 54 B G B 1 7 3 . Die Wertentscheidung des historischen Gesetzgebers steht einer solchen Lösung nicht entgegen, da die fur die unbeschränkte Verweisung auf das Recht der BGBGesellschaft maßgeblichen Erwägungen heute jedenfalls für Idealvereine obsolet sind174.
b) Die teleologische Extension aa) Grundsatz D i e Extension
einer N o r m ist teleologisch geboten, wenn das Gesetz zu
kurz greift, also nicht sämtliche Fälle erfaßt, deren Erfassimg erforderlich ist, u m den mit dem Erlaß der N o r m verfolgten Zweck vollständig zu verwirklic h e n 1 7 5 . Diese Lage tritt ein, wenn dem Gesetzgeber bei der Umsetzung seiner Wertentscheidung ein Fehler dergestalt unterläuft, daß aufgrund einer zu engen Tatbestandsfassung
Sachverhalte aus dem Anwendungsbereich
der
N o r m ausgeklammert werden, auf deren Einbeziehimg es ihm eigentlich ankam. U m die gesetzgeberische Wertentscheidung auch bei solchen Umsetzungslücken zu verwirklichen, hat der Rechtsanwender die erforderliche E x tension vorzunehmen. Beispiel (19): Lies "Schuldner" statt "Täter" in § 283 Abs. 6 S t G B 1 7 6 .
1 7 1 BGHZ 42, 210, 216; 50, 325, 328 f. Zu den hierfür maßgeblichen Erwägungen des historischen Gesetzgebers vgl. Reuter, in MünchKomm BGB, vor § 21 Rn 49 ff.; Roth, Faktische Eingriffe, S. 250 f. 1 7 2 Palandt/Heinrichs, BGB, § 54 Rn 1; Reuter, in MünchKomm BGB, § 54 Rn 2 ff.; Steffeny in RGRK BGB, § 54 Rn 7; aus der Rechtsprechung BGHZ 42, 210, 216 ff.; 50, 325, 328 ff.; BGH, NJW 1979, 2304, 2305. 1 7 3
Zu den methodischen Grundlagen für die Reduktion des § 54 BGB vgl. Larenz, Nikisch-FS, S. 281 ff.; ders. t NJW 1965, 6 f.; ders., Methodenlehre, S. 419 f. 1 7 4 Vgl. Reutery in MünchKomm BGB, § 5 4 Rn 2 ff.; Staudinger/Weicky BGB, § 54 Rn 2; Steffen, in RGRK BGB, § 54 Rn 3; ferner Pawlowski, Methodenlehre, Rn 171, 182, 201 f. 1 7 5 Zu den methodischen Grundlagen der teleologischen (d. h. teleologisch gebotenen) Extension vgl. Canaris, Lücken, S. 89 ff.; LarenZy Methodenlehre, S. 397 ff.; Pawlowskiy Methodenlehre, Rn 497 ff.; ferner Looschelders, Anpassung, S. 196 f. 1 7 6
Vgl. E. II. 1. c) aa) Beispiel (6).
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E. Richterliche Rechtsfortbildung
Beispiel (20): Nachdem der Gesetzgeber realisiert hatte, daß die nach dem BAföG vorgesehene Förderungshöchstdauer angesichts der schlechten äußeren Studienbedingungen zu kurz bemessen und in der Praxis in vielen Fällen nicht einzuhalten ist, und daß der Zwang zur Erwerbstätigkeit gerade in der Prüfungsphase zu einer unerwünschten zusätzlichen Verlängerung der Studienzeiten führt, entschloß er sich, Abhilfe in Form einer Studienabschlußforderung zu schaffen; diese soll den Studierenden zugute kommen, die sich bereits in einem so weit fortgeschrittenen Stadium ihres Studiums befinden, daß sie dieses innerhalb eines Jahres nach Ablauf der regulären Förderungshöchstdauer tatsächlich abschließen können 1 7 7 . Um sicher gehen zu können, daß das Studium tatsächlich die Prüfungsphase erreicht hat, schrieb der Gesetzgeber in § 15 Abs. 3a BAföG als eine Voraussetzung für den Erhalt von Studienabschlußförderung vor, der Studierende müsse innerhalb der Förderungshöchstdauer zur Abschlußprüfung zugelassen worden sein. Dabei hat der Gesetzgeber übersehen, daß es nach der Prüfungsorganisation in manchen Studiengängen nicht möglich ist, sich im Vorsemester für eine im folgenden Semester stattfindende Abschlußprüfung anzumelden. Dort wo die Prüfungsanmeldung im jeweiligen Prüfungssemester stattfindet, könnte kein Studierender in den Genuß der Studienabschlußförderung kommen, wenn § 15 Abs. 3a BAföG unkorrigiert angewendet würde. Um dem erklärten Willen des Gesetzgebers gerecht werden zu können, jedem Studierenden in der Prüfungsphase eine Studienabschlußförderung zu ermöglichen, ist deshalb § 15 Abs. 3a BAföG für solche Fallkonstellationen teleologisch zu extendieren 178 .
bb) Abgrenzung zur ergänzenden Rechtsfortbildung Die Extension als spezifische Methode der abändernden Rechtsfortbildung in ihrer lückenschließenden Funktion kommt nur bei Umsetzungslücken in Betracht, nicht auch in anderen Fällen von (normativen) Regelungslücken; deren Schließung ist Sache der ergänzenden Rechtsfortbildung 179 . Zwar könnte man in einem weiteren Sinne auch dort von "Extension" sprechen, wo zwar der Anwendungsbereich einer Norm nicht tatbestandlich erweitert, ihre Rechtsfolge aber auf andere, vom Tatbestand nicht erfaßte Sachverhalte übertragen wird, wie dies bei der Analogie geschieht 1 8 0 . Dennoch empfiehlt sich i m Interesse terminologischer Klarheit, von Extension nur zu sprechen, wenn tatsächlich der Tatbestand einer Norm ausweitend korrigiert wird. Denn obwohl Extension und Analogie denselben Effekt haben, nämlich daß die Rechtsfolgeanordnung einer Norm für Sachverhalte zur Geltung gebracht wird, die von ihrem Tatbestand nicht erfaßt sind, unterscheiden sie sich doch in ihrer theoretischen Begründungsstruktur deutlich: 1 7 7 Vgl. hierzu BT-Drucks. 11/5961, S. 14; 12/5423, S. 9; ferner OVG Münster, FamRZ 1991, 1490, 1491; 1993, 370, 371. 178 179 1 8 0
Ausführlich dazu Roth, FamRZ 1996, 574 f. s. dazu unten E. III. Zur Analogie als Methode der ergänzenden Rechtsfindung unten E. III. 3. a).
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Die Extension einer Norm dient der Schließung solcher Lücken, die auf der unzureichenden Umsetzung eben jener gesetzgeberischen Wertentscheidung beruhen, welche der betreffenden Norm zugrundeliegt. Zur Rechtfertigimg der Extension ist daher nachzuweisen, daß dem Gesetzgeber bei der Umsetzung seiner Wertentscheidung ein Fehler unterlaufen ist; die " Umsetzungslükke" stellt somit zwar eine Regelungslücke dar, beruht aber nicht auf dem Fehlen einer diesbezüglichen Wertentscheidung. Infolge der Tatbestandsextension wird der betreffende Sachverhalt von der Norm unmittelbar erfaßt. Bei der Analogie muß hingegen die Anwendung der Rechtsfolgeanordnung auf Sachverhalte begründet werden, die von der der Norm zugrundeliegenden Wertentscheidung nicht erfaßt werden 181 - hierzu können namentlich verfassungsrechtliche, aber auch sonstige Überlegungen zur Herbeiführung gerechter Entscheidungen dienen. Die ergänzende Rechtsfortbildung reagiert mithin auf Regelungslücken, die ihren Grund bereits in der Abwesenheit einer die fehlende Norm tragenden Wertentscheidung haben. Während es also bei der Extension darum geht, der Wertentscheidung des Gesetzgebers volle Geltung zu verschaffen, steht der Rechtsanwender bei der ergänzenden Rechtsfortbildung vor dem Problem, daß der vorliegende Sachverhalt nicht nur von keiner die fragliche Rechtsfolge anordnenden Norm erfaßt wird, sondern auch von keiner auf eine solche Norm bezogenen Wertentscheidung. Die ergänzende Rechtsfortbildung muß deshalb noch viel größere Herausforderungen meistern als die abändernde Rechtsfortbildung in Form der Extension. Ist hiernach die Extension als Korrekturmethode notwendig durch die Wertentscheidung vorgezeichnet und findet sie ihre Grenze in dieser Wertentscheidung, so kann eine korrigierende Ausweitung nicht in Betracht kommen, wenn der Anwendungsbereich der Norm der Wertentscheidung entspricht, also nicht zu eng geraten ist. Damit ist aber eine Extension entweder teleologisch geboten (weil der Normanwendungsbereich zu eng ist) oder unstatthaft (weil der Normanwendungsbereich der Wertentscheidung entspricht und seine Ausweitung somit die zulässige Grenze überschritte). Daß es bei der Extension anders als bei der ersten Form der abändernden Rechtsfortbildung - der Reduktion - nur die teleologisch gebotene, nicht aber die teleologisch erlaubte (und aus anderen Gründen gebotene) Korrektur gibt, mag zwar auf den ersten Blick unstimmig erscheinen; bei genauerer Betrachtung erweist sich jedoch, daß hier kein Systembruch vorliegt. Die fehlende Parallelität ist nämlich eine Konsequenz der unterschiedlichen Ausgangssituationen: 181 Ähnlich bereits v. Savigny, System des heutigen Römischen Rechts I, S. 292 f., der zwischen der Berichtigung des "unrichtig gewählten Ausdruck[s] eines Gesetzes aus dessen wirklichem Gedanken" im Wege der "ausdehnenden Auslegung" und der Analogie bei gänzlichem Fehlen des "wirklichen Gedanken[s] irgend eines leitenden Gesetzes" unterscheidet. Krit. zu dieser Differenzierung Raisch y Methoden, S. 106.
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Wird ein Sachverhalt vom Tatbestand einer Norm erfaßt und ist der Eintritt der von dieser Norm angeordneten Rechtsfolge aus bestimmten Gründen unannehmbar, so kann nur auf eine Weise Abhilfe geschaffen werden: durch Korrektur, d. h. inhaltliche Veränderung der fraglichen Norm. Dabei ist unerheblich, ob man sich die teleologische Reduktion konstruktiv als Modifikation des Tatbestandes der Norm oder als Bildung eines neuen Rechtssatzes vorstellt, der einen Ausnahmetatbestand enthält ("das gilt nicht, wenn ..."), denn auch in letzterem Fall tritt eine inhaltliche Veränderung des Anwendungsbereichs jener Norm ein, welche den Sachverhalt an sich erfaßt. Erscheint hingegen das McAteintreten einer bestimmten Rechtsfolge bedenklich, so gibt es zwei verschiedene Losungsansätze: erstens die extendierende Korrektur einer bestehenden Rechtsnorm, und zweitens die Bildimg eines neuen Entscheidungssatzes im Wege der ergänzenden Rechtsfortbildung, der die betreffende Rechtsfolge anordnet, ohne den Inhalt einer bestehenden Rechtsnorm zu verändern. Indessen ist es nur im Falle einer Umsetzungslücke möglich, stringent zu begründen, daß die Schließung der Lücke gerade durch die ausweitende Korrektur des Tatbestands der betroffenen Norm zu erfolgen hat: Bleibt der Anwendungsbereich einer Norm hinter dem zurück, was gerade die dieser Norm zugrundeliegende Wertentscheidung verlangt, so erscheint als nächstliegende Abhilfemöglichkeit die Tatbestandsextension. In allen anderen Fällen, wenn also nicht teleologische, sondern sonstige Gründe den Nichteintritt einer bestimmten Rechtsfolge als bedenklich erscheinen lassen, kann hingegen allenfalls festgestellt werden, daß die Rechtsfolge , die eine Norm für die von ihr erfaßten Sachverhalte anordnet, auch für die anderen Sachverhalte eingreifen soll. Daß dies gerade durch Ausweitung des Tatbestands der betreffenden Norm zu bewerkstelligen ist, läßt sich in solchen Fällen nicht begründen. Dementsprechend ist hier die Bildung eines neuen Entscheidungssatzes angezeigt, aus welchem sich die vermißte Rechtsfolge ergibt. Bei der Analogie geschieht dies z. B. dadurch, daß die von der Ausgangsnorm angeordnete Rechtsfolge auf den betrachteten Sachverhalt übertragen wird. So klar der dogmatische Unterschied zwischen teleologischer Extension und ergänzender Rechtsfortbildung als solcher auch ist, so schwierig kann die konkrete methodische Zuordnung einer Fallösung werden. Die teleologische Extension wird zwar notwendig durch die Wertentscheidung geboten, die einer bestehenden Norm zugrundeliegt, die ergänzende Rechtsfortbildung nicht. Gleichwohl haben die Wertentscheidungen des Gesetzgebers auch im Rahmen der ergänzenden Rechtsfortbildung ihre Bedeutung. Erstens findet die ergänzende Rechtsfortbildung ihre Grenze in den gesetzgeberischen Wertentscheidungen; beispielsweise scheidet daher die analoge Anwendung einer Norm aus, wenn der Gesetzgeber sie als abschließend gewollt hat, d. h. die Rechtsfolge eben nur für die tatbestandlich erfaßten Sachverhalte und für keine anderen eintreten sehen wollte 1 8 2 . Zweitens kommt auch der zur Recht-
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fertigung der ergänzenden Rechtsfortbildung notwendige Vergleich zwischen den normativ geregelten Sachverhalten und dem konkret regelungsbedürftigen Sachverhalt nicht ohne Bezugnahmen auf die den bestehenden Normen zugrundeliegenden Wertentscheidungen aus, soweit diese eben feststellbar sind. Aber während die teleologische Extension notwendig durch die hinter einer bestimmten Norm stehende Wertentscheidung des Gesetzgebers geboten wird, muß der Rechtsanwender den im Wege der ergänzenden Rechtsfortbildung zu bildenden neuen Entscheidungssatz nach Gründen formulieren, die diese normbezogene Wertentscheidung tanszendieren. Ob der Rechtsanwender die Norm extendieren muß oder eine ergänzende Rechtsfortbildung in Betracht zu ziehen hat, hängt letztlich von dem Generalisierungs- bzw. Spezifizierungsgrad der Wertentscheidung im Verhältnis zu dem durch Auslegung ermittelten Anwendungsbereich der Norm ab: Je weiter die Wertentscheidimg zu verstehen ist, umso eher wird sie den Anwendungsbereich der Norm übersteigen und eine Extension gebieten; je spezifischer sie ist, desto weniger wird der Anwendungsbereich der Norm von ihr abweichen, so daß dann nur eine ergänzende Rechtsfortbildung in Betracht kommt 1 8 3 . Angesichts der Schwierigkeiten, die mit der Ermittlung der gesetzgeberischen Wertentscheidung verbunden sind, wird die dogmatisch an sich klare Unterscheidung in der Praxis oft nicht leicht zu treffen sein. Insoweit beide Methoden zu gleichen Ergebnissen fuhren, sollte diesbezüglich freilich nicht zuviel Aufwand betrieben werden. Beispiel (21): Nach § 463 S. 2 BGB kann der Käufer Schadensersatz verlangen, wenn der Verkäufer einen Fehler der verkauften Sache "arglistig verschwiegen" hat. Dem Wortlaut nach ist der Faü, daß der Verkäufer die Abwesenheit eines solchen Fehlers arglistig vorgetäuscht hat, nicht erfaßt. Freilich ist der Angriff auf die irrtumsfreie Wülensbüdung des Käufers sogar noch schwerwiegender, wenn ihm ein erheblicher Umstand nicht nur arglistig verschwiegen, sondern gar noch dessen Gegenteü arglistig vorgetäuscht wird. Wenn schon das Verschweigen die Schadensersatzpflicht auslöst, so muß dies erst recht für das spiegelbüdliche Vortäuschen gelten. Dieses Ergebnis ist aUgemein anerkannt 184 . Die dogmatische Begründung hängt von dem Verständnis der gesetzgeberischen Wertentscheidung ab: Sieht man die dem § 463 S. 2 BGB zugrundeliegende Wertentscheidung lediglich darin, daß der Käufer gegen arglistiges Unterlassen von Aufklärung zu schützen sei, ohne daß damit zugleich eine Entscheidung über die FäUe positiver Täuschung getroffen werden sollte, so deckt sich der Anwendungsbereich des § 463 S. 2 BGB mit dieser Wertentscheidung; für die Fälle der positiven Täuschung ist dann eine Analogie an-
1 8 2
s. dazu unten E. III. 3. a).
183
Zum unterschiedlichen Generalisierungsgrad der gesetzgeberischen Wertentscheidung s. oben D. I. 2. 1 8 4
Vgl. statt vieler Palandt/Putzo,
BGB, § 463 Rn 12.
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zunehmen 185 . Versteht man die Wertentscheidung hingegen weiter, nämlich auf den Schutz des Käufers gegenüber jedem argüstigen Verhalten des Verkäufers gerichtet, und hätte der Gesetzgeber lediglich verkannt, daß er mittels der in § 463 S. 2 BGB getroffenen Regelung seine Wertentscheidung nur partiell realisieren kann, so ist eine Extension der Vorschrift schon vom telos her geboten; der Schadensersatzanspruch ist dann unmittelbar auf § 463 S. 2 BGB zu stützen. Für die Zwecke der Praxis kann die Frage letztlich dahinstehen; als Formulierung der Anspruchsgrundlage könnte sich insoweit "§ 463 S. 2 BGB (analog)" anbieten.
Insofern es einmal aus materiellrechtlichen Gründen auf die genaue Abgrenzung von Extension und ergänzender Rechtsfortbildung ankommt (z. B. bezüglich der Reichweite des Analogieverbots gemäß Art. 103 Abs. 2 G G 1 8 6 ) , ist zu erinnern, daß sich die teleologische Extension als notwendigerweise gebotene Korrektur an der Wertentscheidung des Gesetzgebers ausrichtet, während die ergänzende Rechtsfortbildung als nicht schon teleologisch gebotene Maßnahme auf Gründen beruht und nach Maßstäben zu erfolgen hat, die jene ermittelte Wertentscheidimg transzendieren und daher vom Rechtsanwender selbst zu formulieren sind. Wo sich die gesetzgeberische Wertentscheidung nicht sicher feststellen läßt, kommt folglich nur eine ergänzende Rechtsfortbildung in Betracht.
c) Die teleologische Modifikation Außer der Reduktion bzw. Extension können auch andere Modifikationen eines Gesetzes aus teleologischen Gründen geboten sein. Dies ist der Fall, wenn zwar der Anwendungsbereich der Norm der Wertentscheidung des Gesetzgebers entspricht, der Inhalt der Norm aber modifiziert werden muß, weil er aus anderen Gründen der Wertentscheidung widerspricht. Insbesondere ist denkbar, daß dem gesetzlichen Tatbestand eine weitere, an sich nicht vorgesehene Rechtsfolge zugeordnet werden muß, um der Wertentscheidung des Gesetzgebers gerecht zu werden 187 . Umgekehrt kann aber auch eine Einschränkung der Rechtsfolgeanordnung erforderlich werden, um der Wertentscheidung des Gesetzgebers Rechnung zu tragen. Beispiel (22): Lies " 1501" statt "1500" in § 1511 Abs. 3 B G B 1 8 8 .
185
So im Ergebnis die h. M.; vgl. hierzu aus methodischer Sicht Canaris, Lücken, S. 20 f.; 56, 99, 148 ("notwendige Analogie"); Larenz, Methodenlehre, S. 382; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 203. 186 s. dazu unten E. III. 2. c). 187 vgl. dazu Zippelius, Methodenlehre, S. 64. 18 8 Enneccerus/Nipperdey, Beispiel (5).
BGB AT 1/1, S. 322 Fn 2; s. oben E. II. 1. c) aa)
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Beispiel (23): Gemäß § 844 Abs. 2 BGB hat der Schädiger im Falle der Tötung einer unterhaltspflichtigen Person dem Unterhaltsberechtigten "insoweit Schadensersatz zu leisten, als der Getötete während der mutmaßlichen Dauer seines Lebens zur Gewährung des Unterhalts verpflichtet gewesen sein würde". Die Verpflichtung des Schädigers ist dem Wortlaut nach also auf die mutmaßliche Lebensdauer des Getöteten begrenzt. § 844 Abs. 2 BGB schafft somit keinen Ausgleich für den FaU, daß der Getötete durch den vorzeitigen Tod daran gehindert worden ist, für den Unterhalt der Angehörigen nach seinem Tod Vorsorge zu treffen. Nach der dem § 844 Abs. 2 BGB zugrundeliegenden Wertentscheidung soU der Unterhaltsberechtigte indes durch die Tötung des Unterhaltsverpflichteten keine finanzieUen Nachteüe erleiden. Der Schutzzweck der Vorschrift erfordert deshalb die Ausdehnung der Schadensersatzpflicht auf sämtliche Nachteüe, die durch den vorzeitigen Tod des Unterhaltsverpflichteten entstehen 189 . Ebenso wie bei der teleologischen Reduktion ist es auch in den Fällen der teleologischen Modifikation möglich, daß die Durchführung der Korrektur zwar nicht durch den telos der Norm selbst, wohl aber durch andere Gründe geboten wird. So kann die Notwendigkeit einer teleologischen Modifikation nicht zuletzt auch verfassungsrechtlich begründet sein. Beispiel (24): Nach §§ 57a StGB, 454, 462a StPO steht die Zuständigkeit für die Feststeüung der "besonderen Schwere der Schuld" der StrafvoUstreckungskammer zu. Hält man diese Zuweisung für nicht mit dem Grundgesetz vereinbar 1 9 0 , so ist die Rechtsfolgeanordnung der betreffenden Normen aus verfassungsrechtlichen Gründen dergestalt zu modifizieren, daß die Strafvollstreckungskammer zwar für die Entscheidung über die Strafaussetzung zuständig bleibt, die Feststeüung der besonderen Schwere der Tat aber der Strafkammer obliegt.
d) Kombinationsfälle,
insbesondere die Auflösung von Normwidersprüchen
Schließlich ist darauf hinzuweisen, daß nicht selten mehrere Korrekturmethoden gleichzeitig in bezug auf verschiedene Normen anzuwenden s i n d 1 9 1 . So führt die Reduktion der einen Norm häufig zu einer "Lücke" i m Gesetz, die durch Extension einer anderen Norm zu schließen sein mag. Umgekehrt zwingt die Extension einer Norm oftmals dazu, den Anwendungsbereich anderer Normen i m Wege der Reduktion zu verengen. Schließlich kann auch die Rechtsfolgenmodifikation einer Norm mit der sonstigen Modifikation einer anderen Norm einhergehen.
1 8 9
Grundlegend BGHZ 32, 346; vgl. dazu Canaris, Lücken, S. 90 f.; Larenz, Methodenlehre, S. 397 f.; Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, S. 588 f.; Palandt/ Thomas, BGB, § 844 Rn 13; ferner krit. Herzberg, NJW 1990, 2526 f. 1 9 0
s. oben E. II. 1. b) aa) Beispiel (2).
191
Larenz/Canaris,
18 Looscheldcrs / Roth
Methodenlehre, S. 214.
274
E. Richterliche Rechtsfortbildung
D i e kombinierte Anwendung verschiedener Korrekturmethoden kann insbesondere zur Auflösung etwaiger Normwidersprüche erforderlich w e r d e n 1 9 2 : W i r d der konkrete Sachverhalt dem Auslegungsergebnis nach von mehreren Rechtsnormen erfaßt, so besteht die Gefahr widersprüchlicher Ergebnisse, deren Vermeidimg eine Gesetzeskorrektur notwendig machen k a n n 1 9 3 . Z u beachten ist freilich, daß das Entstehen etwaiger Normwidersprüche regelmäßig schon auf der Auslegungsebene zu vermeiden i s t 1 9 4 . So mag die Auslegung etwa ergeben, daß die eine Norm lex specialis zu der anderen ist und letztere daher derogiert wird; in gleicher Weise sorgt der lex posterior-Satz für die Vermeidung korrekturbedürftiger Normwidersprüche 1 9 5 , 1 9 6 . Außerdem kann der Normwiderspruch auch dadurch entfallen, daß eine der konfligierenden Normen aus irgendwelchen Gründen schon für sich allein zu korrigieren ist, etwa weil dem Gesetzgeber diesbezüglich ein Irrtum unterlaufen ist.
192 Vgl Looschelders, Anpassung, S. 195 ff. 193 Zur Problemstellung vgl. Alexy, Grundrechte, S. 77 f.; Canaris, Lücken, S. 65 f.; Engisch, Einführung, S. 162 ff.; Heck, Grundriß, S. 15; Larenz, Methodenlehre, S. 334 f.; Looschelders, Anpassung, S. 7; Neuner, Rechtsfindung, S. 123 ff.; Paulson, ARSP 66 (1980), 487 ff.; Stern, Staatsrecht III/2, S. 603 ff; Wieder in, Rechtstheorie 21 (1990), S. 311 ff.; Zippelius, Methodenlehre, S. 37. 1 9 4 Engisch, Einführung, S. 162; Looschelders, Anpassung, S. 7. 195 Zu solchen (verfassungsrechtlich fundierten) "Vorrangregeln" vgl. Alexy, Grundrechte, S. 78; Bydlinski, Methodenlehre, S. 465; Canaris, Lücken, S. 65; ders., Systemdenken, S. 116 f.; Engisch, Einführung, S. 162 f.; Enneccerus/Nipperdey, BGB AT 1/1, S. 351; Larenz, Methodenlehre, S. 266 ff.; Neuner, Rechtsfindung, S. 127 f.; Stern, Staatsrecht III/2, S. 604; Zippelius, Methodenlehre, S. 35 ff.; speziell zum lex posterior-Satz ferner Herzog, in Maunz/Dürig, GG, Art. 20 (18. Lfg. 1980) Abschn. V I Rn 36. 1 9 6
Hinsichtlich der Sätze des lex posterior derogat legis priori, des lex superior derogat legis inferiori und des lex specialis derogat legis generalis ist übrigens ein bedeutsamer dogmatischer Unterschied zu beachten, der durch die unterschiedslose Verwendung des Wortes "derogare" verwischt wird. Während nämlich das spätere Gesetz das frühere und das höhere Gesetz das niedrigere aufliebt, wird das aügemeinere Gesetz durch das speziellere ledigüch verdrängt. Der Unterschied wird relevant, wenn das derogierende Gesetz später selbst aufgehoben wird: Während das frühere bzw. das niedrigere Gesetz in einem solchen FaU nicht wieder in Kraft tritt, sondern aufgehoben bleibt, wenn das spätere bzw. höhere Gesetz aufgehoben wird, tritt bei einer Aufhebung des spezieüeren Gesetzes das - zuvor ledigüch zurückgedrängte allgemeinere Gesetz wieder auf den Plan. Dieser Unterschied ergibt sich daraus, daß der Gesetzgeber mit dem Erlaß des späteren bzw. höheren Gesetzes das entgegenstehende frühere oder niedrigere Gesetz beseitigen, es nicht fortgelten lassen will. Das spezieüere Gesetz hat keine so weitgehende Bedeutung; vielmehr geht es gerade von der Fortgeltung des allgemeineren Gesetzes im übrigen aus. Güt dieses aber fort, so steht auch nichts entgegen, es mit dem WegfaU der Spezialregelung wieder auf seinen ursprüngüchen Anwendungsbereich zu erstrecken.
Π.
ä n e n d e Rechtsfortbildung
275
Es können jedoch auch echte Normwidersprüche auftreten, die nicht durch Auslegung oder eine aus sonstigen Gründen gebotene Korrektur zu beheben sind und daher vor dem Hintergrund des Prinzips der Widerspuchsfreiheit der Rechtsordnimg 197 einen eigenen Korrekturanlaß bieten. Die widerspruchsauflösende Korrektur kann beispielsweise durch Einschränkung des Anwendungsbereichs einer oder sämtlicher an sich einschlägigen Normen erfolgen 198 . Entfallt durch die Reduktion einer dieser Normen der bestehende Widerspruch, so kann es damit sein Bewenden haben, weil dann jedenfalls die andere Norm Anwendung finden kann. Wird der Normwiderspruch hingegen durch Einschränkung bzw. Nichtanwendung sämtlicher konfligierender Normen aufgelöst, so ergibt sich eine Regelungslücke199. Um den gesetzgeberischen Willen bestmöglich zu verwirklichen, kommt zur Ausfüllung einer solchen Lücke in erster Linie die Bildung eines neuen Rechtssatzes in Betracht, der die Wertentscheidungen, welche den verschiedenen an sich einschlägig gewesenen Normen zugrundeliegen, nach dem Prinzip der praktischen Konkordanz 200 zu einem Ausgleich zu bringen sucht 201 ; soweit dies nicht durchführbar ist, muß die Lücke nach allgemeinen methodischen Grundsätzen 202 geschlossen werden. Von besonderer praktischer Relevanz ist die Behandlung von Normwidersprüchen in Fällen mit Auslandsberührung, wenn aufgrund der Verweisungen der inländischen Kollisionsnormen (Art. 3 ff. EGBGB) einander widersprechende Normen aus verschiedenen Rechtsordnungen für denselben Sachverhalt maßgeblich werden. Bei der notwendigen Auflösung dieser Widersprüche 1 9 7 Dazu Canaris, Systemdenken, S. 16 f., 112 ff.; Engisch, Einführung, S. 160 ff.; Looschelders, Anpassung, S. 114 f.; Roth, Faktische Eingriffe, S. 203, 567 f. 1 9 8
Vgl. Larenz y Methodenlehre, S. 335; Looschelders, Anpassung, S. 195, 203. Zur ProblemsteUung vgl. Zippelius, Methodenlehre, S. 37; ferner Canaris y Lücken, S. 65 f.; ders. y Systemdenken, S. 121 ff.; Engisch, Einführung, S. 163; Enneccerus/Nipperdey, BGB AT 1/1, S. 339, 352, die das Vorliegen einer Regelungslücke damit begründen, daß die einander widersprechenden Normen bzw. Rechtsfolgeanordnungen sich im Effekt gegenseitig aufheben. 1 9 9
2 0 0 Zum Prinzip der praktischen Konkordanz vgl. Hesse, Verfassungsrecht, Rn 72, 318; ferner BVerfGE 41, 29, 51; 83, 130, 143; Älexy, Grundrechte, S. 152; v. Münch, in v. Münch/Kunig, GG, Vorb. Rn 47; Roth, Faktische Eingriffe, S. 456 ff. 2 0 1
Die Situation, daß zwei konfligierende Normen gleichzeitig den Anspruch erheben, auf einen Sachverhalt anwendbar zu sein, und in der die diesen beiden Normen zugrundeüegenden Wertentscheidungen kollidieren und zu einem Ausgleich zu bringen sind, darf nicht mit jener Lage im Rahmen der teleologischen Interpretation verwechselt werden, in der im Wege der Auswahl unter den denkbaren Wertentscheidungsalternativen erst noch die der einen auslegungsbedürftigen Norm zugrundeliegende eine Wertentscheidung zu bestimmen ist, und wo daher der Konkordanzgedanke keine Roüe spielt (s. dazu oben D. III. 2. b) bb). 2 0 2
*
s. nachfolgend E. III.
276
E. Richterliche Rechtsfortbildung
handelt es sich um das Problem der Anpassung (Angleichung), dessen Behandlung im internationalprivatrechtlichen Schrifttum seit langem sehr umstritten ist 2 0 3 . Da die konfligierenden Normen nicht unter dem Dach ein- und derselben Rechtsordnung stehen, lassen sich zwischen ihnen zwar keine materiellrechtlichen Vorrangregeln aufstellen. In erster Linie ist aber zu versuchen, den Normwiderspruch im Wege der materiellrechtlichen Anpassung durch eine den Besonderheiten des Auslandssachverhalts gemäße Anwendung der berufenen Sachnormen zu vermeiden 204 . Es ist nämlich zu beachten, daß der Gesetzgeber materiellrechtliche Normen regelmäßig fur den Normalfall reiner Inlandssachverhalte und damit vor dem Hintergrund der gesamten inländischen Rechtsordnung konzipiert 205 ; seine Wertentscheidung wird daher in vielen Fällen einer Korrektur der Sachnorm zwecks Berücksichtigung der Besonderheiten des Auslandssachverhalts nicht entgegenstehen206. Beispiel (25): Nach deutschem Recht hat ein nichteheliches Kind keine Unterhaltsansprüche gegen die Erben seines Vaters; seine Unterhaltsansprüche gegen den Vater erlöschen vielmehr gemäß §§ 1615 Abs. 1, 1615a BGB mit dessen Tod. Der Gesetzgeber hat indes nur deshalb auf die Einräumung von Unterhaltsansprüchen gegen die Erben verzichtet, weü nichteheliche Kinder nach dem heute geltenden deutschen Recht erbrechtlich hinreichend versorgt sind 2 0 7 . Steht einem nichteheüchen Kind nun auf der Grundlage eines ausländischen Erbstatuts kein gesetzliches Erbrecht zu, so ist der Richter nicht gehindert, ihm auf der Grundlage des deutschen Rechts im Wege der materiellrechtlichen Anpassung einen Unterhaltsanspruch gegen die Erben seines Vaters zuzusprechen 208.
Gelingt eine solche materiellrechtliche Anpassung nicht, so läßt sich der Normwiderspruch nur durch Korrektur der kollisionsrechtlichen Verweisung beheben. Erforderlich ist mithin eine teleologische Reduktion, durch die der 2 0 3
Vgl. dazu statt vieler Kegel, IPR, S. 259 ff.; Raape/Sturm, eingehend dazu Looschelders, Anpassung.
IPR I, S. 259 ff.;
2 0 4
Zur Notwendigkeit einer den Besonderheiten des Auslandssachverhalts entsprechenden Anwendung der berufenen (inländischen oder ausländischen) Sachnormen vgl. aügemein E. Lorenz, FamRZ 1987, 647; näher Looschelders, Anpassung, S. 93 ff. 2 0 5 Vgl. C. v. Bar, IPR I Rn 220; Kropholler, sung, S. 82 ff.
IPR, S. 24; Looschelders, Anpas-
2 0 6 Ausführiich zu den Grenzen der materiellrechtlichen Anpassung Looschelders, Anpassung, S. 165 ff.
207 Ygi § 1712 BGB a.F., wonach dem nichteheüchen Kind vor Inkrafttreten des NEhelG ein Unterhaltsanspruch gegen die Erben seines Vaters zustand, weü es in erbrechtlicher Hinsicht leer ausging. 2 0 8 So OLG Oldenburg, IPRspr. 1975, Nr. 95 Fn 1; Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht Hamburg, G 6/72, FamRZ 1973, 56; Sonnenberg er, in MünchKomm BGB, Einl. IPR Rn 433; ausführlich hierzu Looschelders, Anpassung, S. 351 ff.
Π.
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Anwendungsbereich einer oder aller an sich einschlägigen Kollisionsnormen eingeschränkt wird (kollisionsrechtliche Anpassung) 2 0 9 . D i e hierdurch entstehende Lücke ist durch Extension einer der an sich einschlägigen Kollisionsnormen oder durch eine Ersatzanknüpfung zu schließen, die zur Anwendbarkeit einer dritten ("neutralen") Rechtsordnung fuhrt. Beispiel (26): Nach der erneuten Heirat des geschiedenen A seien die Unterhaltsansprüche seiner früheren Ehefrau E gemäß Art. 18 Abs. 4 i. V . m. Art. 17 Abs. 1 S. 1 EGBGB nach dem Recht des Staates X , die Unterhaltsansprüche seiner neuen Ehefrau D hingegen gemäß Art. 18 Abs. 1 EGBGB nach dem Recht des Staates Y zu beurteüen. Das Recht des Staates X räume der geschiedenen Ehefrau unterhaltsrechtlichen Vorrang gegenüber der neuen Ehefrau ein (so etwa § 1582 BGB), das Recht des Staates Y privüegiere hingegen die neue Ehefrau. Da den divergierenden Regelungen in einem solchen Faü gegensätzüche Wertentscheidungen zugrundeliegen, ist eine materiellrechtliche Anpassung nicht möglich. Zur Auflösung des Normwiderspruchs erscheint es geboten, die Vorrangfrage - dem Schutzgedanken des § 1582 BGB entsprechend - im Wege der kollisionsrechtlichen Anpassung allein nach dem Recht zu entscheiden, das für die Unterhaltsansprüche der E maßgeblich ist. Methodisch geschieht dies durch eine Reduktion des Art. 18 Abs. 1 EGBGB und eine entsprechende Extension des Art. 18 Abs. 4 i. V . m. 17 Abs. 1 S. 1 E G B G B 2 1 0 . I n Ausnahmefallen kann zur Lückenfullung auch einmal die Bildung eines besonderen materiellen Rechtssatzes notwendig werden, der die Wertungen der konfligierenden Normen auf der Grundlage des inländischen Rechts nach dem Grundsatz der praktischen Konkordanz zu einem Ausgleich bringt. Anders als in reinen Inlandsfallen ist eine solche am Konkordanzgedanken orientierte Lösung i m Verhältnis zwischen mehreren Rechtsordnungen nur hilfsweise zulässig, weil der Ausgleich zwischen den Wertungen der konfligierenden Normen hier nicht i m Rahmen der regulär anwendbaren Rechtsordnungen geschaffen werden kann, sondern auf der Grundlage eines "neutralen" - nämlich des inländischen - Rechts vorgenommen werden m u ß 2 1 1 . Beispiel (27): Ein 50-jähriger Franzose und seine 10 Monate jüngere englische Ehefrau finden bei einem Schiffsunglück den Tod. Beide haben sich gegenseitig testamentarisch zu Erben eingesetzt. Bei der Prüfung der erbrechtüchen Verhältnisse durch ein deutsches Gericht steUt sich diesem die Vorfrage, ob einer der Verunglückten den anderen überlebt hat. Diese Frage ist gemäß Art. 9 S. 1 EGBGB nach dem Heimatrecht eines jeden Betroffenen zu beurteüen 212 . Lassen sich die genauen Todeszeiten nicht feststellen, so ist nach dem französischen Personalstatut des Mannes von dessen Überleben auszugehen, weü bei einem Altersunterschied von nicht 2 0 9 Zur kollisionsrechtlichen Anpassung als Fall der teleologischen Reduktion vgl. Looschelders, Anpassung, S. 195 ff. 2 1 0
Vgl. Looschelders, Anpassung, S. 383 ff.; Lüderitz, IPR Rn 192, 198.
2 1 1
Vgl. Looschelders, Anpassung, S. 171 f. Staudinger/Dörner, BGB, Art. 25 EGBGB Rn 87.
2 1 2
278
E. Richterliche Rechtsfortbildung
mehr als einem Jahr das Überleben des männlichen Beteiligten vermutet wird (Art. 722 Abs. 1 Code Civil). Nach dem englischen Personalstatut der Frau ist dagegen zu vermuten, daß diese als die jüngere den Mann überlebt h a t 2 1 3 . Das Nebeneinander beider Rechtsordnungen führt also zu dem "widersprüchlichen" Ergebnis, daß jeder Verunglückte den anderen überlebt hat. Zur Auflösung des Normwiderspruchs hat das deutsche Gericht eine besondere Sachnorm zu entwickeln, welche die Wertungen der konfligierenden Normen auf der Grundlage des deutschen Rechts zu einem Ausgleich bringt. Im Ergebnis ist danach davon auszugehen, daß keiner der Beteiligten den anderen überlebt h a t 2 1 4 .
5. Zusammenfassende Übersicht Hinsichtlich der Rechtsanwendung innerhalb der Grenzen des Wortlauts einer Rechtsnorm besteht die methodische Problematik allein in der richtigen Bestimmung des Norminhalts im Wege der Auslegung. Dieser Auslegungsprozeß als komplexer mehrstufiger Vorgang kann den Interpreten vor schwierige Fragen stellen, die anschließende Anwendung der ausgelegten Norm stellt kein methodisches Problem mehr dar. Wird jedoch (aus teleologischen, verfassungsrechtlichen oder sonstigen schwerwiegenden Gründen) eine Rechtsanwendung jenseits des durch Auslegung ermittelten Norminhaltes oder gar außerhalb des Wortlauts erforderlich, so stellen sich auch in methodischer Hinsicht wieder mehrere Fragen, weil zur Durchfuhrung einer solchen (abändernden oder ergänzenden) Rechtsfortbildung verschiedene Methoden zur Verfügung stehen, deren Anwendungs- und Einsatzbereiche voneinander abzugrenzen sind. Die Korrektur einer Rechtsnorm (und zwar sowohl in der Form einer Extension bzw. Reduktion als auch Modifikation) kann zum einen durch die der Norm zugrundeliegende Wertentscheidung des Gesetzgebers nachgerade geboten sein, zum anderen kann sie aber auch durch diese lediglich erlaubt und durch andere Gründe gerechtfertigt sein. In letzterem Falle kommen aber nur Korrekturen in Gestalt der Reduktion oder Modifikation in Betracht. Die Funktion, die der "teleologisch erlaubten Extension" entspräche, nimmt die ergänzende Rechtsfortbildung wahr; von Extension im Sinne einer abändernden Rechtsfortbildung wird hier nicht gesprochen, weil nicht begründet werden kann, daß diese Rechtsfortbildung gerade durch eine erweiternde Ande-
2 1 3
Section 184 Law of Property Act von 1925, abgedruckt bei Ferid/Firsching/ Lichtenberger, Internationales Erbrecht, Großbritannien (Stand 1. 9. 83) Texte 19. Vgl. hierzu In re Rowland, [1963] 1 Ch. 1, 5, 8; Kegel, IPR, S. 391. 2 1 4 So auch Birk, in MünchKomm BGB, Art. 25 EGBGB Rn 194; Kegel, IPR, S. 270; Staudinger/Dörner, BGB, Art. 25 EGBGB Rn 95; ausführlich dazu Looschelders, Anpassung, S. 11 f., 117 f., 379 ff.
Π.
279
ä n e n d e Rechtsfortbildung
rung des Tatbestands zu erfolgen hätte, sondern vielmehr die bloße Übertragung der Rechtsfolgeanordnung ausreicht. Die nachfolgende Tabelle mag das Verhältnis der verschiedenen Methoden veranschaulichen.
Methoden der abändernden Rechtsfortbildung
gesetzgeberische Wertentscheidung als Korrekturgrund
als Korrekturgrenze
Extension
teleologisch gebotene Extension
(ergänzende Rechts fortbildung)
Reduktion
teleologisch gebotene Reduktion
teleologisch erlaubte Reduktion
Modifikation
teleologisch gebotene Modifikation
teleologisch erlaubte Modifikation
I I I . Ergänzende Rechtsfortbildung Liegt phänomenologisch eine Regelungslücke vor 1 , d. h. wird nach dem Ergebnis der Auslegung oder nach Durchführung etwaiger Gesetzeskorrekturen bzw. infolge der Nichtigkeit einer Rechtsnorm2 der Sachverhalt von keiner Norm (mehr) erfaßt, welche die interessierende Rechtsfolge anordnete, und stellt sich diese Regelungslücke auch nicht als bloße Umsetzungslücke dar, die schon im Wege der abändernden Rechtsfortbildung zu schließen wäre 3 , so erhebt sich die Frage, ob es hiermit sein Bewenden haben kann oder ob und wie diese Regelungslücke im Wege der ergänzenden Rechtsfortbildung zu schließen ist.
1. Das Bedürfnis für eine Ergänzung des Gesetzes Ein Bedürfnis für eine Ergänzung des Gesetzes im Wege ergänzender Rechtsfortbildung kann nur angesichts des Vorliegens einer Regelungslücke bestehen. Das bloß phänomenologische Vorliegen einer solchen Lücke genügt jedoch nicht; Voraussetzung ist das Bestehen einer normativen Regelungslücke.
a) Fallgruppen phänomenologischer Regelungslücken Für das Entstehen phänomenologischer Regelungslücken gibt es verschiedene Gründe. Ob und wie auf eine konstatierte Regelungslücke zu reagieren ist, läßt sich leichter erfassen, wenn man sich zuvor die Konstellationen vor Augen führt, die diesbezüglich in Betracht kommen: Außerhalb der bereits behandelten Umsetzungslücken, in denen der betreffende Fall zwar von der gesetzgeberischen Wertentscheidung, nicht aber vom Tatbestand der Norm erfaßt wird 4 , kann eine Regelungslücke nur darauf beruhen, daß der Gesetzgeber - imbewußt oder auch bewußt - schon gar keine Entscheidung dahin ge-
1 2 3 4
Zum phänomenologischen Lückenbegriff s. oben E. I. Vgl. BVerfGE 80, 1, 34. Vorstehend E. II. 4. b) bb). s. oben E. II. 4. b) aa).
ΙΠ. Ergänzende Rechtsfortbildung
281
troffen hat, Fälle der vorliegenden Art durch Erlaß der interessierenden Norm zu regeln. Häufig entstehen Regelungslücken als Folge eines unbewußten Unterlassens von Seiten des Gesetzgebers, wenn dieser Fälle der betreffenden Art mit ihrer spezifischen Problematik schlicht nicht erkannt oder vorhergesehen hat und deshalb auch keine Wertentscheidung über die Auflösimg der darin zutage tretenden Interessenkonflikte treffen konnte. Es gibt freilich viele Fälle, in denen der Gesetzgeber ganz bewußt auf die besondere Normierung eines gesetzlichen Entscheidungsmaßstabs verzichtet und damit eine Regelungslücke beläßt. Gelegentlich geschieht dies, obwohl dem Gesetzgeber das betreffende Problem durchaus bekannt ist, weil er sich zum Erlaß der in Frage stehenden Norm außerstande sieht, sei es, weil über die sinnvollste Regelung Zweifel bestehen und die Herausarbeitung von Lösungen deshalb der Rechtsprechung und der Rechtswissenschaft überantwortet bleiben soll 5 , sei es, weil ein bestimmter Bereich - wie beispielsweise weite Teile des Arbeitsrechts - rechtspolitisch so sensibel ist, daß sich für eine gesetzliche Regelung keine Mehrheiten finden lassen6. Der tatsächlich häufigste Grund für phänomenologische Regelungslücken ist freilich der, daß der Gesetzgeber eine bestimmte Norm gerade deshalb nicht erläßt, eine bestimmte Rechtsfolge gerade deshalb nicht vorsieht, weil er die ohne jene Norm bestehende Rechtslage für angemessen und gerecht hält, sei es, weil er den Fall durch die schon existierenden Normen für adäquat geregelt erachtet, sei es, weil er die betreffende Angelegenheit überhaupt im rechtsfreien Raum belassen will.
b) Normative Regelungslücken Nicht jede phänomenologisch konstatierte Regelungslücke ist bei normativer Betrachtung schließungsbedürftig und in diesem Sinne als normative Regelungslücke zu verstehen. Daß ein Beteiligter eine Rechtsnorm vermißt, die ihm in der gegebenen Situation das von ihm Gewünschte zuspricht, heißt nämlich nicht, daß diese Rechtsnorm bei rechtlich wertender Betrachtung wirklich fehlt. Gewiß ließe sich eine streng positivistische Auffassimg, wonach bespielsweise eine Klage stets abzuweisen sei, wenn es an einer ausdrücklichen gesetzlichen Grundlage für den geltend gemachten Anspruch fehle, auf der Grundlage der heute in Deutschland geltenden Rechts- und Ver-
5
Vgl. Engisch, Einführung, S. 141; Enneccerus/Nipperdey, Krey, JZ 1978, 365; Lehmann/Hübner, BGB AT, S. 63.
BGB AT 1/1, S. 338;
6 Vgl. dazu Söllner, ZG 10 (1995), 1 ff.; Staudinger/Richardis ff. Rn 662 ff., 739 ff.
BGB, vor §§ 611
282
E. Richterliche Rechtsfortbildung
fassungsordnung nicht mehr vertreten 7. Gerade aber die Fälle, in denen der Gesetzgeber bewußt vom Erlaß der betreffenden Norm abgesehen hat, weil er die Rechtslage genau so wollte, wie sie sich ohne diese Norm darstellt, machen bereits deutlich, daß eine Lückenschließung nicht allein deshalb in Betracht kommen kann, weil ein Beteiligter dies so wünscht. Ob im konkreten Fall eine normative Regelungslücke vorliegt, die durch ergänzende Rechtsfortbildung zu schließen ist, oder es bei dem Nichteintritt der infrage stehenden Rechtsfolge zu bleiben hat, kann nur aufgrund einer wertenden Betrachtung festgestellt werden8. Der Maßstab ist den Wertentscheidungen des Gesetzgebers zu entnehmen, die in den bestehenden Rechtsnormen des betrachteten Gesetzes selbst oder in anderen Teilen der Gesamtrechtsordnung zum Ausdruck gekommen sind9. Bei normativer Betrachtung ist eine Regelungslücke gegeben, wenn ohne ihre Schließung eine sachlich nicht zu rechtfertigende 10 Störung der Kohärenz des rechtlichen Systems vorläge 11 , das durch die Gesamtheit dieser Wertentscheidungen und die hieraus zu abstrahierenden allgemeinen Rechtsprinzipien konstituiert wird 1 2 . Beispiel (1): Das Fehlen eines Schadensersatzanspruchs des Käufers bei arglistigem Vorspiegeln der Fehlerfreiheit der Sache ist - sofern man hier nicht schon eine bloße Umsetzungslücke annimmt - als normative Regelungslücke anzusehen, weü der Gesetzgeber für den vergleichbaren FaU des "arglistigen Verschweigens" die Wertentscheidung getroffen hat, daß der Verkäufer schadensersatzpflichtig sein soll 1 3 und es daher inkohärent wäre, für den (noch gravierenderen) FaU des arglistigen Vortäuschens keinen Schadensersatz zu gewähren.
7
Vgl. dazu Canaris, Lücken, S. 49 ff.; Engisch, Einführung, S. 142 f. Zur Absage des Grundgesetzes an einen strengen Gesetzespositivismus s. oben E. II. 2. e). 8 Vgl. Canaris, Lücken, S. 16, 31 ff.; Engisch, Einführung, S. 142; Esser, Grundsatz und Norm, S. 252 Fn 56; Larenz, Methodenlehre, S. 374; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 195; Soergel/Hefermehl, BGB, Anh. § 133 Rn 12. 9
Vgl. BVerfGE 82, 6, 13.
10
Vgl. Stauding er /Rie har di , BGB, § 611 Rn 746. Ausführlich zur Bedeutung der Systembüdung für die Auslegung und Fortbüdung des Rechts Canaris, Systemdenken; vgl. ferner Larenz, Methodenlehre, S. 437 ff.; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 263 ff.; Zippelius, FG BVerfG II, S. 122 ("axiologische Inkonsequenzen der Rechtsordnung"). 11
12
In der Sache ähnüch wird in der Literatur auf "die Regelungsabsicht und die immanente Teleologie des Gesetzes selbst" abgesteüt (so Larenz, Methodenlehre, S. 374; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 195); aUerdings ist diese Formulierung tendenzieU mißverständlich, denn ebensowenig wie eine Rechtsnorm als solche Zwecke verfolgen kann, kann ein Gesetz als solches eine Regelungsabsicht haben (s. oben B. II. 2. b] cc]). 13
Vgl. Canaris, Lücken, S. 56 f., 145 f.
Π . Ergänzende Rechtsfortbildung
283
Beispiel (2): Desgleichen ergibt sich das Vorliegen einer normativen Regelungslücke in den Fällen der positiven Vertragsverletzung nicht schon daraus, daß der Geschädigte gerne seinen Schaden ersetzt bekäme (das begründet die Regelungslücke nur phänomenologisch), sondern daraus, daß der Gesetzgeber für ähnliche FäUe Schadensersatzansprüche vorgesehen hat und das Begehren des Geschädigten deshalb auch normativ berechtigt erscheint 14 .
Die Feststellung, ob eine Regelungslücke in diesem Sinne vorliegt, kann erhebliche Schwierigkeiten bereiten. Trotz phänomenologischen Vorliegens einer Regelungslücke fehlt es zunächst an einer Regelungslücke im normativen Sinne, wenn die betreffende Angelegenheit dem rechtsfreien Raum 15 zuzuordnen ist. Die Rechtsordnung muß nämlich nicht in dem Sinne "geschlossen" sein, daß sie alle Lebensverhältnisse umfassend regelt und auf alle denkbaren Konflikte selbst eine Antwort gibt 16 ; der Gesetzgeber kann sich vielmehr in bestimmten Grenzen auch dafür entscheiden, die Regelung gewisser Konflikte dem außerrechtlich-sozialen Bereich zu überlassen17, was durch den Rechtsanwender zu respektieren ist. Je gravierender ein Konflikt in seinen möglichen Folgen ist, insbesondere im Hinblick auf grundrechtlich geschützte Positionen, um so weniger kann sich die Rechtsordnung freilich einer Regelung enthalten18. Besondere Schwierigkeiten bereitet die Feststellung normativer Lücken bei Gesetzen, die schon ihrer Natur nach unvollständig und lückenhaft sind, mit denen der Gesetzgeber also gar nicht den Anspruch erhebt, ein Rechtsgebiet oder eine bestimmte Materie vollständig zu regeln. Soll nämlich ein Gesetz nach dem Willen des Gesetzgebers keine umfassende Regelung treffen, so kann es auch keineswegs in vollem Umfang der ergänzenden Rechtsfortbildung unterliegen. Es kommt deshalb zunächst darauf an, ob das betreffende Gesetz nach der Intention des Gesetzgebers eine Kodifikation des fraglichen Rechtsgebietes darstellen, also eine vollständige und systematisch geschlossene, umfassende Regelung desselben bilden sollte. Bei einem solchen Gesetz 14
Vgl. Larenz/Canaris,
Methodenlehre, S. 193 f.
15
Canaris, Lücken, S. 40 ff.; Engisch, Einführung, S. 140, 142; Enneccerus/Nipperdey, BGB A T 1/1, S. 337 Fn 4; Larenz, Methodenlehre, S. 371, 376; Larenz/ Canaris, Methodenlehre, S. 192, 197. 16 Zum Prinzip der "Geschlossenheit" der Rechtsordnung vgl. Engisch t Einführung, S. 159. 1 7
Vgl. Larenz, Methodenlehre, S. 371; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 192; ferner Willoweit, JuS 1984, 909 mit dem zutreffenden Hinweis, daß sich die "sozialen Kontakte in einer Geseüschaft zum überwiegenden Teü in Formen ab [spielen], die nicht durch rechtliche Bindung und Sanktion ... gekennzeichnet sind". 18
Vgl. hierzu BVerfGE 39, 1, 42; 88, 203, 251; Alexy, Grundrechte, S. 410 ff.; Jarass/Pieroth y GG, Vorb. vor Art. 1 Rn 5; Pieroth/Schlinky Grundrechte, Rn 92 ff.; Rothy Faktische Eingriffe, S. 413 ff.
284
E. Richterliche Rechtsfortbildung
kann man nicht annehmen, es sei schon von Hause aus lückenhaft gedacht, und infolgedessen begründen systematische Brüche und Inkohärenzen zugleich normative Regelungslücken. Innerhalb von Kodifikationsgesetzen ist daher eine lückenschließende Rechtsfortbildung zur Behebung von Inkohärenzen unter Einhaltung der sonstigen Voraussetzungen - zulässig19. Außerhalb solcher Kodifikationsgesetze ist die Annahme normativer Regelungslücken zwar nicht schlechterdings ausgeschlossen, darf jedoch nicht das vom Gesetzgeber als unvollständig und abschließend gewollte Gesetz im Ergebnis zu einer umfassenden Kodifikation dessen werden lassen, was der Gesetzgeber vielleicht hätte regeln können oder gar besser geregelt hätte, aus rechtspolitischen Gründen aber eben ungeregelt lassen wollte. Beispiel (3): Das StGB ist seiner Natur nach ein unvollständiges und in diesem Sinne "lückenhaftes Gesetz": nicht jedes verwerfliche Verhalten soU bestraft werden, sondern nur jene Verhaltensweisen, die vom Gesetzgeber aus kriminalpolitischen Erwägungen ausdrücklich unter Strafe gestellt worden sind 2 0 (§ 1 StGB). Insofern liegt schon normativ keine schließungsfahige Lücke vor, wenn eine Tat in Frage steht, die sich in ihren charakteristischen Merkmalen von den gesetzlich vertypten Unrechtstatbeständen deutlich unterscheidet. Eine ergänzende Rechtsfortbüdung ist hier schon methodisch ausgeschlossen, mag der Rechtsanwender das Ergebnis der Straflosigkeit einer bestimmten verwerflichen Tat auch mit guten Gründen für rechtspolitisch verfehlt erachten.
Bei unvollständig gewollten Gesetzen kann eine normative Regelungslücke deshalb nur angenommen werden, wenn das Fehlen einer entsprechenden Regelung nicht eine Folge der vom Gesetzgeber intendierten Unvollständigkeit des Gesetzes ist, sondern eine ungewollte, sozusagen überschießende Unvollständigkeit darstellt. Während im Bereich von Kodifikationsgesetzen in aller Regel ohne weiteres angenommen werden kann, daß die Schließimg etwa auftretender Regelungslücken dem mutmaßlichen Willen des Gesetzgebers entsprechen wird, ist bei unvollständigen Gesetzen jeweils anhand des Kohärenzgedankens genau zu prüfen, ob der mutmaßliche Wille auf eine Lückenschließung im Wege der ergänzenden Rechtsfortbildung gerichtet ist. Maßgeblich für die Abgrenzung ist die Überlegung, ob eine vom Gesetzgeber gewollte Unvollständigkeit des Gesetzes oder eine ungewollte Unvollkommenheit der Normierung vorliegt. Beispiel (4): Dem § 242 StGB liegt die Wertentscheidung zugrunde, den Diebstahl beweglicher Sachen zu bestrafen. Der Reichsstrafgesetzgeber von 1871 hat - aus historisch naheliegenden Gründen - nicht daran gedacht, daß auch Strom entzogen werden kann, und infolgedessen den Wortlaut des § 242 StGB so eng gefaßt, daß 19
Vgl. Ramm, Einführung in das Privatrecht, S. 30. Vgl. Roxin, Strafrecht AT I, § 2 Rn 28 ff., der im Anschluß an Binding von der "fragmentarischen" Natur des Strafrechts spricht. 2 0
Π . Ergänzende Rechtsfortbildung
285
der Stromentzug nicht erfaßt wird 2 1 . Die Vergleichbarkeit des Stromentzuges mit dem Sachdiebstahl ist aber so stark, daß die Kohärenz die Annahme nahelegt, der Gesetzgeber hätte auch ersteren unter Strafe gestellt, wäre ihm das Problem bewußt gewesen. Die vor Einführung des § 248c StGB im Jahre 1900 bestehende Regelungslücke beruhte also nicht auf der an sich durchaus gewoüten UnvoUständigkeit des StGB, sondern auf der ungewoüten Unvollkommenheit der Normierung des Diebstahls. Folglich lag hier eine normative Regelungslücke vor, die methodisch eine ergänzende Rechtsfortbüdung geboten hätte 22 . Materiellrechtlich stand einer solchen Rechtsfortbüdung freilich das Analogieverbot entgegen 23 , so daß der Täter insofern straflos bleiben mußte.
Ein besonderes Problem wirft die Frage normativer Verfassungslücken auf. Da die Lückenschließung durch ergänzende Rechtsfortbildung den Rang des betreffenden Gesetzes hat, führt die Annahme einer Verfassungslücke nämlich dazu, daß ihre Schließung durch Richterspruch sogar formellen Gesetzen vorgeht 24 . Die Problematik gründet darin, daß die Verfassung lediglich eine Rahmenordnung 25 darstellen soll, die nur die Grundzüge der Staats- und Gesellschaftsordnung festlegt, im übrigen aber vom Verfassungsgeber bewußt unvollständig gelassen ist, weil ja dem einfachen Gesetzgeber nicht jeder Spielraum genommen werden, sondern ihm vielmehr die nähere Gestaltung des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens überantwortet bleiben soll 2 6 . Von einer normativen Regelungslücke kann man daher nicht sprechen, wo die Verfassung "planmäßig"27 nach dem Willen des Verfassungsgebers der politischen Gestaltung durch den Gesetzgeber Raum läßt. Anders verhält es sich, wenn die Verfassung nach dem Willen des Verfassungsgebers eine bestimmte Materie regeln sollte, er aber die Problemlage unvollständig erfaßt und infolgedessen zu bestimmten Problemen schon gar keine Wertentscheidung gebil-
2 1
RGSt 29, 111, 115 f.; 32, 165, 186; Radbruch/Zweigert, Einführung, S. 153; Roxin, Strafrecht AT I, § 5 Rn 33, 39; Wessels, Strafrecht BT-2, Rn 65; krit. Eser, Strafrecht IV, Nr. 1 Rn A 38. 2 2
Daß hier in der Tat eine Regelungslücke vorlag, wird dadurch bestätigt, daß der Gesetzgeber alsbald nach Bekanntwerden des Problems die zutage getretene Lücke in Gestalt des § 248c StGB schloß. 2 3
s. unten E. III. 2. c) Beispiel (11). Vgl. BVerfGE 28, 66, 79. 2 5 Böckenförde, NJW 1976, 2091, 2099; lsensee, in Isensee/Kirchhof, HStR V I I , § 162 Rn 43 f.; Starck, in Isensee/Kirchhof, HStR VII, § 164 Rn 5 ff. 2 4
2 6
Isensee, in Isensee/Kirchhof, HStR VII, § 162 Rn 43 f., 51; Maunz/Zippelius, Deutsches Staatsrecht, S. 46; Seibert, FamRZ 1995, 1458; Starck, in Isensee/Kirchhof, HStR VII, § 164 Rn 5 ff., 21; vgl. auch BVerfGE 1, 14, 32; 89, 214, 234; Roth, Faktische Eingriffe, S. 412 Fn 86. 2 7
Isensee, in Isensee/Kirchhof, HStR VII, § 162 Rn 43, 51.
286
E. Richterliche Rechtsfortbdung
det hat 2 8 ; wurde aus diesem Grund die Regelung so unvollständig getroffen, daß sie erst durch eine Lückenschließung vollziehbar oder folgerichtig wird 2 9 , so ist eine am Kohärenzgedanken ausgerichtete ergänzende Rechtsfortbüdung statthaft. Wenn hingegen die Verfassung nach der Entscheidung des Verfassungsgebers - im Einklang z. B. mit der Rechtstradition oder internationalen Vorbildern - auf die Regelung einer bestimmten Frage verzichtet, so kann keine schließungsfahige normative Regelungslücke angenommen werden 30 . Ob eine normative Regelungslücke vorliegt, ist hiernach im Wege einer systematischen, vergleichenden Betrachtung der bestehenden Rechtsnormen desselben Gesetzes oder auch anderer Teile der Rechtsordnung nebst den darin zum Ausdruck gekommenen gesetzgeberischen Wertentscheidungen zu ermitteln. Wenn es im Interesse eines kohärenten Gesamtsystems vernünftigerweise geboten erscheint, den fraglichen Fall einer bestimmten Rechtsfolge zu unterwerfen, ohne daß eine dahingehende Gesetzesnorm vorliegt, so ist auch im normativen Sinne eine Regelungslücke gegeben.
2. Die Befugnis zur ergänzenden Rechtsfortbildung a) Die prinzipielle
richterliche
Lückenschließungsbefugnis
Die Befugnis namentlich des Richters zur Schließung normativer Regelungslücken durch ergänzende Rechtsfortbildung entspricht deutscher Rechtstradition 31 und ist in Rechtsprechung und Literatur allgemein anerkannt. Sie
2 8
Andernfalls - d. h. bei getroffener Wertentscheidung und bloßem Versäumen ihrer Umsetzung - läge ledigUch eine Umsetzungslücke vor, die schon im Wege der abändernden Rechtsfortbüdung zu schließen wäre, s. oben E. II. 4. b) bb). 2 9 Maunz/Zippelius, Deutsches Staatsrecht, S. 46. 3 0 Vgl. Roellecke, Der Staat 1995, 424. 3 1 Vgl. dazu bereits § 49 Einl. PrALR: "Findet der Richter kein Gesetz, welches zur Entscheidung des streitigen FaUes dienen könnte, so muß er ... nach den in dem Landrechte angenommenen aügemeinen Grundsätzen, und nach den wegen ähnlicher Fäüe vorhandenen Verordnungen, seiner besten Einsicht gemäß, erkennen"; ferner Mugdan, Materialien I, S. 365. Gegen die Berufung auf die Rechtstradition als Begründung für die richterliche Rechtsfortbüdungsbefugnis wendet sich Hillgruber, JZ 1996, 118 f. mit dem Argument, die rechtshistorische Betrachtung lasse nicht ohne weiteres Rückschlüsse auf die richterlichen Befugnisse "unter den grundlegend veränderten rechtlichen Rahmenbedingungen des demokratischen Verfassungsstaates" zu. In der Tat kann eine rechtshistorische Argumentation nur insoweit tragen, wie sie mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Daß aber das Grundgesetz mit einem Schlag mit dieser seit Jahrhunderten anerkannten Rechtsfortbüdungsbefugnis brechen wollte, ist
Π . Ergänzende Rechtsfortbildung
287
ist schon insofern unverzichtbar, als das Fehlen einer ausdrücklichen gesetzlichen Regelung für den betrachteten Sachverhalt den Richter selbstverständlich nicht von seiner Entscheidungspflicht entbindet32. Das gewohnheitsrechtlich anerkannte33 und verfassungsrechtlich fundierte Verbot der Entscheidungsverweigerung 34 bedeutet zwar zunächst nur formal, daß der Richter auf das Schweigen des Gesetzes hin nicht einfach jede Entscheidung unterlassen darf, indem er beispielsweise eine Klage überhaupt nicht bescheidet und die Parteien darauf verweist, eine etwaige Regelung solcher Interessenkonflikte durch den Gesetzgeber abzuwarten 35. Die richterliche Entscheidungspflicht geht jedoch über diesen formalen Gehalt hinaus und beinhaltet materiell ein Verbot der Rechts(schutz)verweigerung. Danach ist es dem Richter nicht erlaubt, in Ermangelung gesetzlicher Entscheidungsmaßstäbe stets Entscheidungen negativer Art zu treffen 36, etwa jede Klage schlichtweg abzuweisen, sobald es an einem diesbezüglichen Gesetz fehlt 37 . Der Richter ist gemäß Art. 20 Abs. 3 GG an Gesetz und Recht gebunden; er darf sich daher nicht lediglich auf die Ausfuhrung (und ggf. Korrektur) der Gesetze beschränken, sondern muß das Recht, das ein Mehr gegenüber den Gesetzen darstellen kann 3 8 , auch im Falle der Lückenhaftigkeit des Gesetzes verwirklichen. Die Gerichte werden somit durch die Lückenhaftigkeit des Gesetzes nicht von der ihnen durch das Grundgesetz auferlegten Pflicht entbunden, "jeden vor sie gebrachten Rechtsstreit sachgerecht zu entscheiden"39. Ihre verfassungsrechtliche Le-
nicht ersichtlich, zumal den Schöpfern des Grundgesetzes alles weniger als eine Schwächung gerade der Gerichtsbarkeit vorgeschwebt haben dürfte. 3 2
Vgl. Hübner, BGB AT, Rn 106; Kirchhof richs, BGB, Einl. Rn 46.
Heidelberg-FS, S. 30; Palandt/Hein-
3 3
Vgl. Enneccerus/Nipperdey, BGB AT 1/1, S. 336 Fn 2. Positiviert findet es sich in Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK. 3 5 Vgl. Kissel , NJW 1982, 1780. 3 6 Gegen die Annahme eines "aUgemeinen negativen Grundsatzes", nach dem keine Rechtsfolgen eintreten können, die nicht von einer geschriebenen Rechtsnorm ausdrücklich begründet worden sind, auch Bydlinski, Methodenlehre, S. 236, 472 f.; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 199. 3 4
3 7 So auch BVerfGE 82, 286, 304 f.; Larenz, Methodenlehre, S. 370 Fn 9, 372; Neuner, Rechtsfindung, S. 50 ff., 67. Teüweise abweichend Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 193, der das Verbot der Rechtsverweigerung auf seinen formalen Gehalt beschränkt und deshalb in der Abweisung der Klage wegen Fehlens einer gesetzüchen Grundlage keinen Verstoß gegen das Rechtsverweigerungsverbot sieht, wohl aber i.d.R. einen Verstoß gegen das Gebot, Gleiches gleich zu behandeln. 3 8 3 9
s. oben E. II. 2. e).
BVerfGE 84, 212, 226 f. (Hervorhebung durch Verf.); vgl. auch Esser, Vorverständnis, S. 18; Kratzmann, Volkssouveränität, S. 35 ff.; Söllner, ZG 10 (1995), 8.
288
E. Richterliche Rechtsfortbdung
gitimation findet die ergänzende Rechtsfortbildung mithin ebenso wie die richterliche Korrekturbefugnis 40 in Art. 20 Abs. 3 G G 4 1 .
b) Die Wertentscheidungen des Gesetzgebers als Grenze der Rechtsfortbildung Von der Feststellung einer normativen Regelungslücke und der Anerkennung einer prinzipiellen richterlichen Lückenschließungsbefugnis zu unterscheiden ist die Zulässigkeit der konkreten Lückenschließung im Wege ergänzender Rechtsfortbildung. Bei der ergänzenden Rechtsfortbildung ist zunächst - nicht anders als bei der abändernden - der Wille des Gesetzgebers als Grenze zu beachten42. Abzustellen ist dabei auf die gesetzgeberischen Wertentscheidungen, die hinter den bestehenden Rechtsnormen des betrachteten Gesetzes und der Gesamtrechtsordnung stehen. Die ergänzende Rechtsfortbildung ist danach unzulässig, wenn die normativ gegebene Regelungslücke auf einer bewußten Entscheidung des Gesetzgebers beruht, die betreffende Rechtsfolge für Fälle der fraglichen Art gerade nicht eintreten zu lassen; diese Möglichkeit besteht, weil der Gesetzgeber - innerhalb gewisser verfassungsrechtlicher Grenzen - Systembrüche und Inkohärenzen in Kauf nehmen darf, um anderweitige Ziele zu verwirklichen. Es darf also nicht "der erkennbare Wille des Gesetzgebers beiseite geschoben und durch eine autark getroffene richterliche Abwägung der Interessen ersetzt" werden 43 . Vor diesem Hintergrund ist hinsichtlich der Zulässigkeit der ergänzenden Rechtsfortbildung entsprechend den Fallgruppen von Regelungslücken wie folgt zu unterscheiden: Unproblematisch zulässig ist die ergänzende Rechtsfortbildung bei Vorliegen einer unbewußten Regelungslücke: Hat der Gesetzgeber das Problem schlicht übersehen und nur deshalb keine Wertentscheidung hinsichtlich seiner Auflösung gebildet (und keine dahingehende Regelung erlassen), so kann er sich auch nicht positiv gegen den Eintritt der in Frage stehenden Rechtsfolge entschieden haben; vielmehr wird es nachgerade seinem mutmaßlichen Willen entsprechen, die auftretende Regelungslücke so zu schließen, daß die Kohä-
4 0
s. oben E. II. 2. c) und e). BVerfGE 34, 269, 286 ff.; 82, 6, 12; 88, 145, 166 f.; Deckert, Rechtstheorie 26 (1995), 118; Fikentscher, Methoden IV, S. 327 ("gesetzesübersteigende Bedeutung" des Art. 20 Abs. 3 GG); v. Hoyningen-Huene, Heidelberg-FS, 356; Maunz/Zippelius, Deutsches Staatsrecht, S. 94; Neuner, Rechtsfindung, S. 67; Papier, in Isensee/ Kirchhof, HStR V I , § 154 Rn 10; Roth, Faktische Eingriffe, S. 447 f.; Staudinger/Coing, BGB, Einl. Rn 210. 4 1
4 2 4 3
Vgl. BVerfGE 8, 28, 33; 38, 386, 396. BVerfGE 82, 6, 12 f.
Π . Ergänzende Rechtsfortbdung
289
renz und die Systemgerechtigkeit des betreffenden Rechtsgebietes gewahrt bleiben 44 . Dasselbe gilt bei einer bewußten Regelungslücke, wenn der Gesetzgeber nur deshalb von einer Normierung abgesehen hat, weil er sich über die sinnvollste Regelung im unklaren war und die Entscheidung der Streitfrage Wissenschaft und Rechtsprechung überlassen wollte. Hier besteht geradezu ein gesetzgeberischer Auftrag zur ergänzenden Rechtsfortbildung. Insofern zeigt sich auch eine gewisse Mißverständlichkeit der oft gebrauchten Formel, die ergänzende Rechtsfortbildung sei nur bei einer "planwidrigen" bzw. "imbewußten" und "ungewollten" Lücke im Gesetz zulässig45. In nicht wenigen Fällen ist dem Gesetzgeber nämlich sehr wohl bewußt, daß das Gesetz keine Regelung enthält - und manchmal will er dies auch, weil er sich zu keiner Regelung in der Lage sieht und die Lösung den Gerichten überlassen will -, ohne daß daraus zu schließen wäre, er wolle den Gerichten die lückenschließende Rechtsfortbildung untersagen. Entscheidend ist daher nicht das gesetzgeberische Bewußtsein von der Lückenhaftigkeit des Gesetzes, sondern ob die Lücke einer positiven Entscheidung des Gesetzgebers entstammt, für die nicht erfaßten Sachverhalte eben gerade nicht die infrage stehende Rechtsfolge vorzusehen. Dementsprechend kann selbst der eindeutige Wortlaut einer Vorschrift allein nicht den Umkehrschluß (argumentum e contrario) rechtfertigen, die Rechtsfolgeanordnung der Norm dürfe nicht auf den in Frage stehenden Sachverhalt erstreckt werden 46 ; entscheidend ist vielmehr, ob die Rechtsfolge nach der Wertentscheidung des Gesetzgebers nur in den tatbestandlich erfaßten Fällen eintreten soll 47 . Läßt sich jedoch eine positive Entscheidung des Gesetzgebers feststellen, die "vermißte" Vorschrift nicht zu erlassen, namentlich weil er die ohne diese Vorschrift bestehende Rechtslage als angemessen ansah, so sind die bestehenden Regelungen als abschließend zu verstehen mit der Folge, daß die ergän4 4
Vgl. Mugdan, Materialien I, S. 365: "Kern Gesetz kann in dem Sinne vollständig sein, daß es für jedes denkbare, in den Rahmen des von ihm behandelten Rechtsstoffes faUende Verhältniß eine unmittelbar anwendbare Vorschrift an die Hand gibt. Der Versuch, eine VoUständigkeit dieser Art zu erreichen, wäre verkehrtes Beginnen. Das HGB muß im BedürfnißfaUe aus sich selbst, aus dem in ihm enthaltenen Rechtssysteme ergänzt werden". 4 5
Vgl. etwa Bydlinski, Methodenlehre, S. 473; Canaris, Lücken, S. 39; Engisch, Einführung, S. 141; Eser/Burkhardt, Strafrecht I, Nr. 2 Rn A 29; Hillgruber, JZ 1996, 120; Larenz, Methodenlehre, S. 373; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 194; Wolff/Bachof YStober, Verwaltungsrecht I, § 28 Rn 66. 4 6 Zur Kritik an solchen aUein auf den Buchstaben des Gesetzes gestützten Umkehrschlüssen vgl. Bydlinski, Methodenlehre, S. 476; Lehmann/Hübner, BGB AT, S. 64; s. ferner oben C. II. 1. a). 4 7 Zu den Voraussetzungen des e contrario-Schlusses s. oben C. II. 1. a). 19 Looschelders / Roth
290
E. Richterliche Rechtsfortbildung
zende Rechtsfortbildung unzulässig ist. M a n mag die Entscheidung des Gesetzgebers in einem solchen Fall vielleicht als "rechtspolitischen Fehler" betrachten und bedauern; der Richter ist jedoch keineswegs befugt, sich über diese (negative) Wertentscheidimg des Gesetzgebers hinwegzusetzen 48 . Er ist daher insbesondere daran gehindert, die Rechtsfolgeanordnung einer N o r m zur Ausfüllung von Regelungslücken auf solche Sachverhalte zu übertragen, die nach der der betreffenden Norm zugrundeliegenden Wertentscheidung des Gesetzgebers die infrage stehende Rechtsfolge gerade nicht nach sich ziehen sollen 4 9 . Beispiel (5): Vor Inkrafttreten des WEG vom 15. 3. 1951 enthielt das bürgerliche Recht keine Regelungen über das Eigentum an Wohnungen und sonstigen Gebäudeteüen. Das Fehlen solcher Regelungen steüte jedoch keine Regelungslücke dar, die im Wege der ergänzenden Rechtsfortbüdung hätte geschlossen werden dürfen. Denn der Gesetzgeber des BGB von 1896 hatte sich zur Wahrung der Übersichtlichkeit der Rechtsverhältnisse an Grundstücken bewußt dagegen entschieden, ein derartiges dingliches Sonderrecht an Wohnungen oder sonstigen Gebäudeteüen zuzulassen50. Beispiel (6): Die Entwicklung von Regeln über die Sicherungsübereignung durch die Rechtsprechung wird in der Literatur nicht selten als ergänzende Rechtsfortbüdung contra legem betrachtet, was mittlerweüe freilich gewohnheitsrechtlich sanktioniert sei 5 1 . Ob und inwieweit diese QuaHfikation zutreffend ist, erscheint jedoch zweifelhaft. Zum einen ist nämlich zu beachten, daß die Übereignung beweglicher Sachen durch Besitzkonstitut vom Wortlaut des § 930 BGB auch dann gedeckt wird, wenn sie zu Sicherungszwecken erfolgt 52 . Zum anderen erscheint das Argument, die Anerkennung der Sicherungsübereignung widerspreche der in § 1205 BGB verankerten Entscheidung des Gesetzgebers, keine besitzlosen Pfandrechte zuzulassen53, keineswegs zwingend. Denn nicht nur hat der Gesetzgeber selbst mit dem Eigentumsvorbehalt (§ 455 BGB) ein besitzloses Sicherungsrecht ausdrücküch anerkannt. Vielmehr läßt sich den Gesetzesmaterialien sogar ganz klar entnehmen, daß die Anwendung des § 930 BGB auf Sicherungsgeschäfte jedenfalls nach Ansicht der Gesetzesverfasser nicht zu einer Umgehung der Vorschriften über das Be4 8 Vgl. Hillgruber, JZ 1996, 120; Obermayer, NJW 1966, 1888; zur Abgrenzung von Regelungslücken und rechtspolitischen Fehlern Larenz, Methodenlehre, S. 374; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 195. 4 9 Vgl. BVerfGE 82, 6, 12 f.; BGHZ 121, 116, 121 f.; Enneccerus/Nipperdey, BGB A T I / 1 , S. 341. 5 0 Vgl. Larenz, Methodenlehre, S. 370, 373 f.; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 191, 194. 5 1 So z. B. Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 235. 5 2 Dies erkennen auch Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 234 an, die sich deshalb für eine auf die Wertung des § 1205 BGB gestützte teleologische Reduktion des § 930 BGB aussprechen. 5 3
In diesem Sinne etwa Baur/Stärner, ris, Methodenlehre, S. 233 f.
Sachenrecht, S. 609 ff., 618; Larenz/Cana-
ΠΙ. Ergänzende Rechtsfortbildung
291
sitzpfandrecht fuhrt 54 . Im übrigen zeichnen sich besitzlose Pfandrechte ja dadurch aus, daß Besitz und Eigentum in einer Hand bleiben, was die Skepsis des BGB-Gesetzgebers, in einer solchen Lage gleichwohl ein dingliches Sicherungsrecht vorzusehen, verständlich erscheinen läßt; bei der Sicherungsübereignung faüen Besitz und Eigentum aber gerade auseinander, so daß sich die rechtliche Lage durchaus von jener unterscheidet, die bei Zulassung besitzloser Pfandrechte bestünde. Der Vorwurf des "contra-legem-Judizierens" 55 erscheint hier also nicht gerechtfertigt 56. Auch bei der ergänzenden Rechtsfortbildung ist allerdings zu beachten, daß die Wertentscheidungen des Gesetzgebers dynamisch verstanden werden müss e n 5 7 . Selbst wenn der Gesetzgeber daher bei Erlaß einer N o r m die Entscheidung getroffen hat, daß die darin angeordnete Rechtsfolge für bestimmte Sachverhalte gerade nicht gelten soll, so kann eine ergänzende Rechtsfortbildung insoweit doch zulässig sein, als die betreffende Entscheidung aufgrund einer Änderung der tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse für obsolet zu erachten ist, der Gesetzgeber heute also mutmaßlich selbst nicht mehr daran festhielte. Beispiel ( D 5 8 : Der Gesetzgeber hat sich bei der Schaffung des § 569a BGB im Jahre 1964 darauf beschränkt, den Eintritt von Famüienangehörigen in das Mietverhältnis zu regeln, obgleich ihm nichteheliche Lebensgemeinschaften als Erscheinung durchaus bekannt waren. Inzwischen ist jedoch die Zahl der nichtehelichen Lebensgemeinschaften erheblich angestiegen, auch werden sie geseUschaftlich weithin akzeptiert. Da der Gesetzgeber diese Entwicklung nicht voraussehen 5 4 Vgl. Prot. III, S. 200 f.: Ein Antrag, die Übereignung im Wege des Besitzkonstituts ausdrücklich auszuschließen, wenn die Übereignung Sicherungszwecken dient, wurde mit der Erwägung abgelehnt, daß eine solche Durchbrechung des Abstraktionsprinzips nur aus dringenden Gründen vorzunehmen sei, die hier nicht vorlägen. Die Sicherungsübereignung unterscheide sich von der Begründung beschränkter dinglicher Rechte an einer Sache dadurch, daß sie die "besonders bedenkliche Begründung konkurrierender Rechte für mehrere Gläubiger nicht zulasse". Deshalb liege in der Sicherungsübereignung auch keine Umgehung der Vorschriften betreffend die Übergabe bei der Pfandrechtsbestellung (so bereits RGZ 26, 180, 182). Im übrigen seien auch die Gläubiger "ganz im aUgemeinen nicht berechtigt, sich darauf zu verlassen, daß aUe im Besitze des Schuldners befindüchen Sachen diesem auch gehörten". Ausführiich zum Ganzen Gaul, AcP 168 (1968), 357 ff.; vgl. ferner Larenz/ Canaris, Methodenlehre, S. 234 f., nach deren Ansicht der Stellenwert der Gesetzesmateriaüen hier indes gering ist. 5 5
Larenz/Canaris,
Methodenlehre, S. 235.
5 6
So auch Gaul, AcP 168 (1968), 357; Jauernig, BGB, § 930 Anm. 5 A a aa; Staudinger/Wiegand, BGB, Anh. §§ 929 ff. Rn 54 f. 5 7 s. oben B. II. 2. d) cc). 5 8
Zu einem weiteren Beispiel zulässiger ergänzender Rechtsfortbüdung entgegen der seinerzeitigen gesetzgeberischen Wertentscheidung s. oben E. II. 1. b) dd) Beispiel (4): analoge Anwendung des § 847 BGB bei schwerwiegenden Persönüchkeitsverletzungen.
*
292
E. Richterliche Rechtsfortbildung
konnte, steht die seinerzeitige bewußte Nichtaufnahme nichtehelicher Lebensgemeinschaften in § 569a BGB einer analogen Anwendung der Vorschrift auf solche Fälle heute nicht mehr entgegen59.
Zusätzliche Probleme ergeben sich dann, wenn die Entscheidung des Gesetzgebers, die betreffende Regelung überhaupt zu unterlassen bzw. die interessierende Sachverhaltskonstellation aus dem Anwendungsbereich einer Norm auszuklammern, für verfassungswidrig zu erachten ist. Diese Entscheidung ist für den Richter zunächst einmal genauso verbindlich wie eine verfassungswidrige Norm und kann daher nicht einfach ignoriert werden, sofern es sich nicht um ein vorkonstitutionelles Gesetz handelt, in welchem Fall sich jedes Gericht über die verfassungswidrige Abschließlichkeit der Norm hinwegzusetzen und den verfassungsgemäßen Zustand im Wege der Rechtsfortbildung herbeizufuhren hat 6 0 . Bei formellen nachkonstitutionellen Gesetzen hingegen bietet Art. 100 Abs. 1 GG verfahrensmäßige Abhilfe 61 . Das BVerfG kann nämlich die Verfassungswidrigkeit der Entscheidung feststellen, die fragliche Regelung zu unterlassen62, und damit das Hindernis beseitigen, das einer ergänzenden Rechtsfortbildung entgegenstünde. Zwar erlaubt die Feststellung der Verfassungswidrigkeit gesetzgeberischen Unterlassens dem Richter oftmals noch nicht unmittelbar die ergänzende Rechtsfortbildung. Bestehen im Rahmen der Verfassung nämlich verschiedene Möglichkeiten, die Regelungslücke zu schließen, weil die Verfassung dem Gesetzgeber die Entscheidung beläßt, wie er die Frage regeln will, so darf ein Gericht (und zwar auch das BVerfG) diesen gesetzgeberischen Auswahlspielraum nicht durch Vorgabe eines spezifischen Lösungskonzeptes beschneiden63. Freilich gilt diese Einschränkung der Rechtsfortbüdungsbefugnis nicht absolut: Ist die zu treffende Entscheidung so dringlich, daß nicht bis zum Erlaß einer gesetzlichen Regelung gewartet werden kann, oder hat der Gesetzgeber die ihm einzuräumende Frist zur Regelung der betreffenden Frage verstreichen lassen, so darf - und muß der Richter die Regelungslücke selbst nach den allgemeinen Grundsätzen der Rechtsfortbildung schließen64.
5 9
BGHZ 121, 116, 121 ff.; BVerfGE 82, 6, 13 ff.; dazu Raisch , Methoden, S. 156 ff.; ablehnend Hillgruber , JZ 1996, 119 f. 6 0
Vgl. BVerfGE 2, 336, 340 f.
6 1
Vgl. BVerwGE 79, 154, 157; 92, 132, 143 f.; ferner Hillgruber, JZ 1996, 120. Vgl. BVerfGE 39, 316, 333; 87, 234, 262; 91, 389, 404; Roth , Faktische Eingriffe, S. 441; ferner Meyer, in v. Münch, GG, Art. 100 Rn 19; Schenke , in BK, Art. 19 IV (Zweitbearb. 1982) Rn 272 ff. 6 2
6 3
Vgl. BVerfGE 39, 316, 332 f.; 80, 1, 34; BVerwGE 79, 154, 156 f.; 92, 132,
141. 6 4 Vgl. BVerfGE 80, 1, 34; BVerwGE 92, 132, 144; ferner BVerfGE 87, 234, 262 f.; 91, 389, 404 f.; Roth, Faktische Eingriffe, S. 441 f.
Π . Ergänzende Rechtsfortbildung
293
Beispiel (8): Aufgrund der Bedeutung berufsbezogener Prüfungen fur die Ausübung der durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützten Berufswahlfreiheit und der nur in Grenzen möglichen gerichtlichen KontroUe von Prüfungsentscheidungen hat der Prüfling einen verfassungsrechtlichen Anspruch darauf, seine Einwände gegen die erfolgte Bewertung in einem veiwaltungsinternen Kontrollverfahren geltend machen und so ein Überdenken der Entscheidung durch die Prüfungsbehörde erreichen zu können 6 5 . Solange eine gesetzüche Regelung des erforderüchen verwaltungsinternen Kontrollverfahrens fehlt, haben die Prufungsbehörde und das Gericht übergangsweise ein selbst zu entwickelndes Verfahren einzuschlagen, das den verfassungsrechtüchen Anforderungen genügt. So müssen die Prüfer eine Nachkorrektur vornehmen, und die Prüfungsbehörde hat die Prüfungsentscheidung in eigener Zuständigkeit zu überprüfen und gegebenenfaUs abzuändern. Das Gericht muß entsprechende Hinweise geben und erforderiichenfaUs das Verfahren aussetzen, damit die verwaltungsinterne Kontrolle nachgeholt werden kann 6 6 .
c) Materiellrechtliche
Grenzen der ergänzenden Rechtsfortbildung,
insbesondere das strafrechtliche
Analogieverbot
D i e Zulässigkeit einer ergänzenden Rechtsfortbildung kann schließlich auch durch besondere materiellrechtliche Gründe ausgeschlossen werden. Es handelt sich hierbei freilich um keine Besonderheit der ergänzenden Rechtsfortbildung, sondern um eine Ausprägung des schon i m zweiten Teil dieser Arb e i t 6 7 herausgestellten Grundsatzes, daß eine sachgerechte Entscheidimg konkreter Fälle nur dann möglich ist, wenn neben den methodischen Grundsätzen der Rechtsanwendung auch die einschlägigen materiellrechtlichen Prinzipien berücksichtigt werden. Eine spezifische Schranke für die Zulässigkeit der ergänzenden Rechtsfortbildung ergibt sich i m Bereich des Strafrechts aus dem sog. Analogieverbot des Art. 103 Abs. 2 G G 6 8 , das eine besonders strenge Ausprägung des Vorbehalts des Gesetzes darstellt 69 . Die genaue Reichweite dieses Verbots ist un6 5 6 6
BVerfGE 84, 34, 45 ff.; BVerwGE 92, 132, 136 ff. Vgl. BVerwGE 92, 132, 144 ff.; BVerwG, BayVBl. 1995, 86, 88.
6 7
Oben Β. I. 3. Vgl. dazu BVerfGE 71, 108, 114 ff.; 87, 209, 224; 87, 363, 391; 92, 1, 11 f.; Eser, in Schönke/Schröder, StGB, § 1 Rn 24 ff.; Es er/Burkhardt, Strafrecht I, Nr. 2 A 28 ff.; Gribbohm, in LK StGB, § 1 Rn 72 ff.; Lackner, Heidelberg-FS, S. 39 ff.; F. Müller, Juristische Methodik, S. 194; Radbruch/Zweigert, Einführung, S. 152 ff.; Roxin, Strafrecht AT I, § 5 Rn 26 ff.; Wessels, Strafrecht AT, Rn 52 ff.; ferner Canaris, Lücken, S. 177 ff.; Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 256; Mayer-Maly, Rechtswissenschaft, S. 64; Pawlowski, Methodenlehre, Rn 627 ff.; Raisch, Methoden, S. 151 ff.; Zippelius, Methodenlehre, S. 61. 6 8
6 9 BVerfGE 92, 1, 12; Jarass/Pieroth, Grundrechte, Rn 1172 f.
GG, Art. 103 Rn 43; Pieroth/Schlink,
294
E. Richterliche Rechtsfortbildung
sicher und streitig. Die h. M . geht davon aus, daß die Rechtsanwendung zu Lasten des Angeklagten durch den möglichen Wortsinn der Strafrechtsnorm begrenzt s e i 7 0 ; in der Praxis lassen sich jedoch zahlreiche Entscheidungen nachweisen, bei denen die Einhaltung der Wortlautgrenze zumindest zweifelhaft erscheint 71 , was mitunter durch den Begriff der "berichtigenden Ausleg u n g " 7 2 verdeckt wird. Teilweise wird eine Berichtigung des Gesetzes auch ganz offen für zulässig erklärt, freilich nur für bestimmte Ausnahmekonstellationen 7 3 . Demgegenüber mißt eine Mindermeinung der Wortlautgrenze i m Rahmen des Art. 103 Abs. 2 G G keine maßgebliche Bedeutung bei und stellt statt dessen auf den "(wahren) Sinn des Gesetzes" a b 7 4 . Nach einer sehr weitgehenden Ansicht ist die Analogie i m Strafrecht sogar stets zulässig, selbst wenn sie der "strafbegründenden oder strafverschärfenden Rechtssatzerstrek7 0 BVerfGE 47, 109, 124; 71, 108, 114 ff.; 73, 206, 234 ff.; 82, 236, 269; 87, 363, 391 f.; 92, 1, 12; BGHSt 14, 144, 148; 28, 224, 230; Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht AT, § 9 Rn 84 ff.; Engisch , Einführung, S. 153; Eser , in Schönke/Schröder, StGB, § 1 Rn 55; Eser/Burkhardt, Strafrecht I, Nr. 2 Rn A 32 a; Jescheck , Strafrecht AT, S. 142; Lackner , StGB, § 1 Rn 6; ders., Heidelberg-FS, S. 54 ff.; F. Müller , Juristische Methodik, S. 194; Roxin, Strafrecht AT I, § 5 Rn 28 ff.; Pieroth/ Schlink , Grundrechte, Rn 1172; Rudolphi , in SK StGB, § 1 Rn 35; Schmidt-Aßmann, in Maunz/Dürig, GG, Ait. 103 Abs. 2 (30. Lfg. Dez. 1992) Rn 225 ff.; Wessels , Strafrecht AT, Rn 57; teüweise abweichend Jakobs , Strafrecht AT, Rn 4/37 ff., nach dessen Ansicht "die Grenze der Auslegung nicht der Sinn ist, den die Begriffe des Rechts haben, sondern der ihnen beigelegt werden kann" (Hervorhebung im Original). 7 1 Vgl. Roxin , Strafrecht AT I, § 5 Rn 34 m. w. N.; G. Wolf JuS 1996, 194; ferner Schmidhäuser , Studienbuch AT, Rn 3/53 mit der Bemerkung, daß "die auch von der Wissenschaft hingenommene Strafrechtspraxis hier immer wieder das 'Unmögliche' möglich macht". 7 2 Bekannt ist insofern vor aüem die sog. "kleine berichtigende Auslegung" bei § 246 StGB (vgl. BGHSt 4, 76, 77; 35, 152, 161; Eser , in Schönke/Schröder, StGB, §246 Rn 1; Wessels , Strafrecht BT-2, Rn 274); vgl. ferner Lackner/Kühl, StGB, § 283 Rn 26: "berichtigende Auslegung" des § 283 Abs. 6 StGB. Krit. Hruschka , Strafrecht, S. X I X Fn 8, der den Begriff "berichtigende Auslegung" zu Recht als "contradictio in adiecto" bezeichnet. 7 3 So Jescheck , Strafrecht AT, S. 142, der eine Gesetzesberichtigung zu Lasten des Angeklagten für zulässig hält, wenn "der Gesetzgeber seinem erkennbaren Willen einen zu engen Ausdruck gegeben hat, weü eine Faügruppe übersehen wurde", oder wenn "der Sinn des Gesetzes deshalb keinen auf die Dauer hinreichenden Ausdruck gefunden hat, weü die spätere Entwicklung darüber hinweggegangen ist". 7 4
So Stratenwerth , Strafrecht AT I, Rn 98; Zimmermann , NJW 1956, 1262 ff.; ähnlich Maurach/Zipf, Strafrecht AT I, § 9 Rn 21 ff.; Schmidhäuser , Studienbuch AT, Rn 3/52. In gleichem Sinne BGHSt 6, 394, 396 ("Aber durch den Wortlaut ist die Auslegung der Bestimmung nicht begrenzt; es kommt vielmehr auf den Sinn und Zweck an, den der Gesetzgeber - nach ihrer SteUung im Gesetz - erkennbar verfolgt hat"); BGHSt 10, 375.
Π . Ergänzende Rechtsfortbildung
295
kung dient; ein ' Analogieverbot ' besteht nicht" 75 : von Art. 103 Abs. 2 GG verboten sei lediglich die freie Rechtsfindung 76. Da es sich bei den Grenzen der Rechtsfortbildung im Strafrecht um ein schwieriges und vielschichtiges Sonderproblem handelt, ist eine abschließende Würdigung desselben im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht möglich. Es sei jedoch kurz darauf hingewiesen, wie die Problemstellung sich auf der Grundlage der hier entwickelten Methodik darstellt. Zu beachten ist zunächst, daß die Bestimmung der Grenzen der Rechtsanwendung im Strafrecht vornehmlich ein materiellrechtliches und kein methodisches Problem ist. Es erscheint daher nicht sinnvoll, sich von vornherein auf eine Frontstellung zwischen zulässiger Auslegung und unzulässiger Analogie zu fixieren 77; Ausgangspunkt der Erwägungen muß vielmehr die Frage nach dem Zweck sein, den der Verfassungsgeber mit Art. 103 Abs. 2 GG verfolgt hat. Von daher muß dann geklärt werden, welches methodische Vorgehen von Art. 103 Abs. 2 GG verboten wird. Art. 103 Abs. 2 GG dient nach dem Willen des Verfassungsgebers zwei unterschiedlichen Zwecken: Zum einen soll gewährleistet werden, daß der (formelle) Gesetzgeber selbst - und nicht etwa der Richter - über die Frage entscheidet, ob und in welchem Umfang ein bestimmtes Rechtsgut gerade mit den Mitteln des Strafrechts geschützt werden soll; Art. 103 Abs. 2 GG dient insofern also der Abgrenzung der Kompetenzen zwischen Gesetzgeber und Richter, indem er für den besonders grundrechtsrelevanten Bereich des Strafrechts den Gesetzesvorbehalt, speziell in Gestalt des Parlamentsvorbehalts expliziert. Zum anderen soll der Bürger schon auf der Grundlage des Wortlauts der Strafgesetze erkennen können, welches Verhalten mit Strafe bedroht ist bzw. zumindest bei welchem Verhalten ein Strafbarkeitsrisiko besteht78. Art. 103 Abs. 2 GG hat insofern also den Zweck, den Bürger vor einer für ihn unabsehbaren Ausweitung der Strafbarkeitsgrenzen durch den Richter zu schützen, und ist so eine besondere Ausprägung des Vertrauensschutzprinzips. Auf dieser Grundlage ist zunächst festzustellen, daß eine Analogie im eigentlichen Sinne - verstanden als Erstreckung der Rechtsfolge einer Norm auf 7 5
Sax , Analogieverbot, S. 152; ähnüch Arthur Kaufmann, Analogie, S. 4 f., 61 ff.
7 6
Sax , Analogieverbot, S. 153 f.
7 7 Insoweit weist BVerfGE 92, 1, 12 zutreffend darauf hin, daß das Problem der Analogie bei Art. 103 Abs. 2 GG "nicht im engeren technischen Sinn zu verstehen ist". 7 8
Zu diesen beiden Funktionen des Art. 103 Abs. 2 GG vgl. BVerfGE 47, 109, 120; 71, 108, 115 f.; 78, 374, 382; 87, 363, 391; 92, 1, 12; Eser/Burkhardt, Strafrecht I, Nr. 2 Rn A 1 ff.; Jarass/Pieroth, GG, Art. 103 Rn 43; Roxin, Strafrecht AT I, § 5 Rn 19 ff.; Schmidt-Aßmann, in Maunz/Dürig, GG, Art. 103 Abs. 2 (30. Lfg. Dez. 1992) Rn 178 f.
296
E. Richterliche Rechtsfortbildung
Sachverhalte, die von der dieser Norm zugrundeliegenden Wertentscheidung des Gesetzgebers nicht erfaßt werden - zu Lasten des Angeklagten auf keinen Fall in Betracht kommen kann. Denn eine Ausweitung der Strafbarkeit auf Fälle, die von der gesetzgeberischen Wertentscheidung nicht erfaßt sind, widerspräche dem Anliegen, daß die Entscheidung über die Strafbarkeit eines bestimmten Verhaltens dem Gesetzgeber vorbehalten sein soll 79 . Demgegenüber wäre es mit diesem Grundsatz durchaus vereinbar, den Anwendungsbereich der Norm zu Lasten des Angeklagten im Wege der teleologischen Extension auf Fälle zu erstrecken, die zwar nicht vom Wortlaut der Norm erfaßt werden, wohl aber von der dahinter stehenden gesetzgeberischen Wertentscheidung80. In diesem Zusammenhang gewinnt jedoch das zweite Standbein des Analogieverbots, nämlich der Schutz des Bürgers vor einer unabsehbaren Ausweitung der Strafbarkeit zentrale Bedeutung. Da das Strafbarkeitsrisiko für den Bürger schon auf der Grundlage des Gesetzestextes erkennbar sein muß 8 1 . ist der h. M. grundsätzlich darin zuzustimmen, daß der mögliche Wortsinn die Rechtsanwendung zu Lasten des Angeklagten begrenzt. Zu beachten ist freilich, daß der Text des Gesetzes auch über den möglichen Sinn der einzelnen Worte hinaus einen Sinn ausdrücken kann, der dem Normadressaten ohne weiteres erkennbar ist. Ist dem Gesetzgeber bei der Umsetzung seiner Wertentscheidung in die gesetzliche Regelung ein Fehler unterlaufen, der in concreto so offensichtlich ist, daß das vom Gesetzgeber Gewollte sich trotz der fehlerhaften Formulierung dem Text des Gesetzes klar entnehmen läßt, so bestehen keine grundsätzlichen Bedenken, den Grundsatz des falsa demonstratio non nocet 82 auch auf Gesetze anzuwenden, und zwar im Strafrecht auch zu Lasten des Angeklagten83. Denn Art. 103 Abs. 2 GG soll dem Täter zwar das Risiko eines vom Gesetzgeber verursachten Mißverständnisses abnehmen, er soll ihn aber nicht auch dort vor Strafe bewahren, wo die vom 7 9
Vgl. Jakobs , Strafrecht AT, Rn 4/33: "Generalisierungsverbot".
8 0
Zur Abgrenzung der dogmatischen Figuren der teleologischen Extension und der Analogie s. oben E. II. 4. b) bb). 81 Vgl. BVerfGE 71, 108, 115; 82, 236, 269; 92, 1, 12. 8 2
Vgl. hierzu BGHZ 20, 109, 110; BGH, NJW 1994, 1528, 1529; Larenz , BGB AT, S. 339; Lehmann/Hübner , BGB AT, S. 213; Medicus , Bürgerliches Recht, Rn 124; Palandt/Heinrichs , BGB, § 133 Rn 8; Soergel/Hefermehl , BGB, § 133 Rn 17; Staudinger/Dilcher, BGB, §§ 133, 157 Rn 20; ablehnend Scherner , BGB AT, S. 92 ff. 83 Ähnlich Jescheck , Strafrecht AT, S. 142, der eine Korrektur des Wortlauts bei "Redaktions versehen" für zulässig hält. Vgl. ferner Eser/Burkhardt, Strafrecht I, Nr. 2 Rn A 32a, wonach die Grenze der Auslegung "jedenfalls dort überschritten [wird], wo die Einbeziehung eines Falles über den möglichen Wortsinn nicht nur hinausgeht, sondern ihm geradezu entgegensteht"; dies impliziert, daß es Fälle geben mag, die außerhalb des möglichen Wortsinns liegen, ohne daß ihre Einbeziehung in den Anwendungsbereich der Norm dadurch ausgeschlossen wäre.
Π . Ergänzende Rechtsfortbdung
297
Gesetzgeber verwendete Formulierung ersichtlich anders als nach ihrem bloßen Wortlaut zu verstehen ist und vom Täter auch tatsächlich in der vom Gesetzgeber gewollten Weise zutreffend verstanden wird. Die hier vertretene Auffassung fuhrt nicht dazu, daß die Grenze des möglichen Wortsinns im Strafrecht jegliche Bedeutung verliert. Zu beachten ist nämlich, daß zur Bestimmung des Inhalts der Norm im Rahmen des möglichen Wortsinns jede der allgemein anerkannten Auslegungsmethoden - einschließlich der teleologischen Interpretation - verwendet werden darf 84 . Soweit es hingegen darum geht, dem Gesetz einen jenseits der Wortlautgrenze liegenden Sinn zu entnehmen, muß dieser sich im Anwendungsbereich des Art. 103 Abs. 2 GG unmittelbar aus dem Gesetzestext ergeben; die Erkenntnisse der textexternen Auslegungsmethoden haben insofern außer Betracht zu bleiben. Die hier vertretene Auffassung entspricht im Ergebnis weitgehend dem, was auch von der h. M. befürwortet wird; es erscheint jedoch sachgerechter, statt den Begriff der Auslegung zu überdehnen ("berichtigende Auslegung") oder gar den möglichen Wortsinn zu manipulieren 85, offen von einer Korrektur des Gesetzes zu sprechen86. Denn nur auf diese Weise läßt sich rational diskutieren und entscheiden, welche Grenzen einer wortlautüberschreitenden Rechtsanwendimg zu Lasten des Angeklagten zu setzen sind. Beispiel (9): Bei § 283 Abs. 6 StGB läßt sich schon durch kontextuale und systematische Auslegung feststeUen, daß "Täter" nur im Sinne von "Schuldner" gemeint sein kann. Die von der h. M . befürwortete Anwendung der Vorschrift etwa auf GmbH-Geschaftsführer 87 ist daher in Gestalt einer teleologischen Extension der Vorschrift zulässig. Beispiel (10): Berücksichtigt man bei § 3 Abs. 1 Nr. 6 PrFDG den Entstehungszeitpunkt der Vorschrift, so läßt sich den Merkmalen "bespanntes Fuhrwerk", "Kahn" und "Lastthier" in ihrer Gesamtheit entnehmen, daß der Gesetzgeber sämtüche Transportmittel erfassen woUte, mit denen der Täter größere Mengen Diebesgut fortschaffen kann, ohne primär auf die menschüche Arbeitskraft angewiesen zu sein, wie dies etwa bei einem Schubkarren der FaU wäre; die Nichterfassung von Kraftfahrzeugen erweist sich insofern also eindeutig als zeitgeschichtüch bedingt 88 . Es erscheint daher zumindest vertretbar, den Anwendungsbereich der Vorschrift im Wege der teleologischen Extension auf FäUe zu übertragen, in denen der Täter den Diebstahl mit einem Lastkraftwagen ausführt. Daß sich der Sinn der Vorschrift erst bei Berücksichtigung des Entstehungszeitpunkts erheUt, steht der Zulässigkeit der 8 4
Vgl. BVerfGE 87, 363, 391 f.; Schmidt-Aßmann, in Maunz/Dürig, GG, Art. 103 Abs. 2 (30. Lfg. Dez. 1992) Rn 228. 85 8 6 8 7
Zur Kritik solcher Ansätze s. oben D. II. 1. c). In diesem Sinne auch Hruschka, Strafrecht, S. XIX. s. oben E. II. 1. c) aa) Beispiel (6).
8 8 Vgl. Jescheck, Strafrecht AT, S. 142: "sekundärer Redaktionsfehler". Zur ProblemsteUung s. oben B. II. 3. Beispiel (4).
298
E. Richterliche Rechtsfortbildung
Korrektur nicht entgegen, weil sich auch der Entstehungszeitpunkt unmittelbar aus dem Gesetz ergibt. Beispiel (11): Im Hinblick auf die Strafbarkeit der Stromentziehung erscheint es demgegenüber zweifelhaft, ob sich die dem § 242 StGB zugrundeliegende Wertentscheidung des Gesetzgebers von 1871 auch auf elektrische Energie bezog 89 . Es handelt sich hier um einen jener Zweifels falle, bei denen die Abgrenzung zwischen teleologischer Extension und Analogie davon abhängt, wie spezifisch die gesetzgeberische Wertentscheidung zu verstehen ist 9 0 . Die Existenz solcher Zweifels falle spricht indes nicht gegen die hier vorgeschlagene Konzeption, denn Art. 103 Abs. 2 GG steht danach schon dann einer Bestrafung entgegen, wenn eine Wertentscheidung des Gesetzgebers, daß Verhaltensweisen der betrachteten Art bestraft werden soUen, nicht sicher feststeUbar ist. Im Hinblick auf die vorliegende Fragestellung kommt hinzu, daß auch dem Wortlaut des § 242 StGB über den Wortsinn des Merkmals "bewegliche Sache" hinaus keineswegs sicher entnommen werden kann, daß die Entziehung von elektrischer Energie erfaßt werden solle. Der h. M . ist also nach allem darin zuzustimmen, daß die Entziehung elektrischer Energie vor Einführung des § 248c StGB straflos war.
d) Der Wille des Gesetzgebers als Maßstab der ergänzenden Rechtsfortbildung Liegt eine normative Regelungslücke vor, und würde der Richter durch Schließung derselben die vorgenannten Grenzen der Rechtsfortbildung nicht verletzen, so stellt sich die Frage, wie die Rechtsfortbildung konkret durchzuführen und an welchen Maßstäben sie auszurichten ist. Als Grundsatz gilt hier, daß sich der Richter nach dem mutmaßlichen Willen des Gesetzgebers zu richten und die Regelungslücke deshalb in einer Art und Weise zu schließen hat, von der er annehmen darf, daß der Gesetzgeber sie schlösse, wenn er denn zu einer gesetzlichen Regelung schritte 91 . Diese Rückbindung an den (wenngleich nur mutmaßlichen) Willen des Gesetzgebers hat auch bei der ergänzenden Rechtsfortbildung die Funktion, den Richter daran zu erinnern, daß er keineswegs befugt ist, seine persönlichen Zweck- und Wertvorstellungen zu verwirklichen, sondern vielmehr den Wertungen des Gesetzgebers Rechnung tragen m u ß 9 2 .
8 9 9 0
Zur ProblemsteUung s. oben E. II. 1. c) bb) Beispiel (8). s. dazu oben E. II. 4. b) bb).
9 1 Treffend Hübner , BGB AT, Rn 106, wonach sich der Richter bei der Lückenschließung in die RoUe des Gesetzgebers hineinzudenken hat. In gleichem Sinne schon Heck, Gesetzesauslegung, S. 230 ff. ( = Studien und Texte II, S. 132 ff.). 9 2 BVerfGE 38, 386, 396; Deckert , Rechtstheorie 26 (1995), 118; Larenz/Canaris , Methodenlehre, S. 247.
Π . Ergänzende Rechtsfortbildung
299
Wenn hier anders als bei der (teleologischen) Auslegung oder der Gesetzeskorrektur nicht von der gesetzgeberischen Regelungs- bzw. Wertentscheidung, sondern ganz allgemein vom "Willen des Gesetzgebers" als Maßstab gesprochen wird, so beruht dies auf der Überlegung, daß sich sowohl die Regelungs- als auch die Wertentscheidung als gesetzgeberische Entscheidungen stets auf eine konkrete (erlassene) Norm beziehen, wohingegen die ergänzende Rechtsfortbildung gerade außerhalb der erlassenen Normen und der hinter denselben stehenden gesetzgeberischen Entscheidungen stattfindet. Aus diesem Grunde ist im Bereich der ergänzenden Rechtsfortbildung nicht nur die Unterscheidung zwischen Regelungs- und Wertentscheidung gegenstandslos, es erscheint auch nicht sinnvoll, die Existenz einer gesetzgeberischen Wertentscheidung zu postulieren, die dem im Wege ergänzender Rechtsfortbildung zu entwickelnden Entscheidungsmaßstab zugrundezulegen ist. Bei der Auslegung bewegt sich der Rechtsanwender innerhalb der Wortlautgrenze, und wenn ein Sachverhalt noch vom Wortlaut erfaßt wird, zumindest also im Normhof liegt, müßte der Gesetzgeber der Idee nach eine Regelungsentscheidung darüber getroffen haben, wie derselbe zu behandeln ist; hat er dies versäumt oder ist seine Regelungsentscheidung insoweit nicht feststellbar, so hat der Rechtsanwender diese ggf. mit Hilfe der Wertentscheidimg des Gesetzgebers in dessen mutmaßlichem Sinne zu ergänzen 93. Desgleichen bezieht sich die abändernde Rechtsfortbildung auf eine konkrete Norm mit der dahinterstehenden gesetzgeberischen Wertentscheidung, so daß sie ebenfalls an der mutmaßlichen Wertentscheidung auszurichten ist. Bei der ergänzenden Rechtsfortbildung hat der Gesetzgeber hingegen gerade keine Wertentscheidung für Sachverhalte der fraglichen Art getroffen, wollte er den betreffenden Interessenkonflikt nicht regeln. Es existiert also schon der Idee nach keine gesetzgeberische Wertentscheidung, die der ergänzenden Rechtsfortbildung zugrundegelegt werden könnte. Der hier erscheinende Unterschied ist also nicht nur ein terminologischer, sondern liegt auch in der teilweise abweichenden Natur der ergänzenden Rechtsfortbildung gegenüber der Auslegung wie auch der abändernden Rechtsfortbildung begründet. Diese Verschiedenheit impliziert freilich keinen wesentlichen Unterschied in der praktischen Vorgehensweise; vielmehr verläuft die ergänzende Rechtsfortbildung nach ähnlichen Grundsätzen wie die teleologische Interpretation bzw. die Gesetzeskorrektur. Denn der für die ergänzende Rechtsfortbildung maßgebliche mutmaßliche Wille des Gesetzgebers muß in erster Linie auf der Basis und mit Hilfe jener gesetzgeberischen Wertentscheidungen bestimmt werden, die in den bestehenden Rechtsnormen des betrachteten Gesetzes und der Gesamtrechtsordnung verankert sind.
9 3
s. oben D. I. 2.
300
E. Richterliche Rechtsfortbildung
Da der Richter die ergänzende Rechtsfortbildung entsprechend dem mutmaßlichen Willen des Gesetzgebers vorzunehmen hat, hat er sich bei ihrer konkreten Durchfuhrung möglichst eng an die vorhandenen gesetzgeberischen Wertentscheidungen zu halten 94 . Die Rechtsfortbildung ist so vorzunehmen, daß die neu entwickelte Regel sich folgerichtig in das bestehende Wertungssystem einfugt und dessen Kohärenz wahrt 95 . Das Kriterium der normativen Kohärenz ist deshalb nicht nur für die Frage maßgeblich, ob eine normative Regelungslücke vorliegt, zu deren Ausfüllung der Richter befugt ist, sondern ergibt darüber hinaus häufig auch schon den Maßstab für die konkrete Durchführung - das "Wie" - der ergänzenden Rechtsfortbildung. Beide Fragen gehen bisweilen sogar derartig ineinander über, daß dieselben Erwägungen, die für das "Ob" der ergänzenden Rechtsfortbildung maßgeblich sind, letztlich bereits das "Wie" ihrer Durchführung vorgeben 96. Beispiel (12): Steüt man bei § 463 S. 2 BGB fest, daß das Fehlen eines Schadensersatzanspruchs bei arglistigem Vorspiegeln der Fehlerfreiheit der Kaufsache eine normative Regelungslücke darsteüt, so kann die Lösung nur darin bestehen, dem Käufer im Wege der Analogie auch hier einen Schadensersatzanspruch gegen den Verkäufer zu gewähren 97 .
Zumeist erfordert die Entscheidung über die konkrete Form der ergänzenden Rechtsfortbildung jedoch weitere Erwägungen. Die Schwierigkeiten, denen der Richter dann begegnet, stehen den Problemen namentlich der teleologischen Auslegung einer Norm mit der dort oftmals nötigen Berücksichtigung der verschiedensten Kriterien und Interessen98 in keiner Weise nach. Die ergänzende Rechtsfortbildung ist eher mit noch größeren Unsicherheiten als die teleologische Auslegung behaftet, die sich immerhin auf eine bestimmte Rechtsnorm bezieht, während die Rechtsfortbildung ja gerade dadurch gekennzeichnet ist, daß sie innerhalb eines nicht normierten Raumes stattfindet. Soweit dieser Raum durch normative Vorgaben eng umgrenzt ist, wird freilich seine Ausfüllung geringe Probleme bereiten. Handelt es sich aber um einen nur wenig normierten Rechtsbereich, so erfordert die sachgemäße Durchführung der ergänzenden Rechtsfortbildung sehr komplexe Erwä9 4
Vgl. BGHZ 4, 153, 158 (Rechtsfortbüdung "im Einklang mit dem Geist, den Wertungen und den Interessenabwägungen des Normensystems"); Maunz/Zippelius, Deutsches Staatsrecht, S. 46; Stauding er/Coing, BGB, Einl. Rn 215. 9 5 Vgl. Canaris, Systemdenken, S. 97 ff.; ferner Mugdan, Materialien I, S. 365: "Das HGB muß im BedürfnißfaUe aus sich selbst, aus dem in ihm enthaltenen Rechtssysteme ergänzt werden" (Hervorhebung durch Verf.). 9 6 Zum Zusammenhang zwischen Lückenfeststellung und Lückenfüllung vgl. Bydlinski, Methodenlehre, S. 474; Canaris, Lücken, S. 71 ff., 148 ff.; Larenz, Methodenlehre, S. 401 f.; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 220 f. 9 7 9 8
Vgl. Canaris, Lücken, S. 148. s. oben D. III. 2. c).
Π . Ergänzende Rechtsfortbdung
301
gungen99; dementsprechend sind hier besonders hohe Anforderungen an die schöpferische Tätigkeit eines verantwortungsbewußten Richters gestellt 100 . Die ergänzende Rechtsfortbildung muß dort enden, wo die konkrete Form der Lückenfüllung mit keinen spezifisch rechtlichen Erwägungen - insbesondere den in den bestehenden Rechtsnormen verankerten Wertentscheidungen des Gesetzgebers, den Grundrechten und der Wertordnung des Grundgesetzes sowie den allgemeinen Prinzipien der Rechtsordnung - mehr begründet werden kann 1 0 1 . In solchen Fällen gebietet die Achtung vor der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers, es allein diesem zu überlassen, bei Bedarf eine konkrete, an politischen Erwägungen und Zweckmäßigkeitsgedanken orientierte, der Idee der Gerechtigkeit verpflichtete Regelung zu schaffen 102. Auch das BVerfG ist insoweit nicht befugt, den Wertentscheidungen des Gesetzgebers vorzugreifen 103.
e) Die Stellung des Richters im Fall der ergänzenden Rechtsfortbildung Soweit der Richter infolge des Schweigens des Gesetzgebers gezwungen ist, selbst Entscheidungsmaßstäbe zu entwickeln, wird teilweise davon gesprochen, er werde quasi in die Rolle eines "Ersatzgesetzgebers" gedrängt 104 , 9 9 Enneccerus/Nipperdey, BGB AT 1/1, S. 343 beschreiben die Komplexität des Gedankengangs treffend: "Wir fragen daher nach aügemeinen Rechtsgrundsätzen, beherrschenden rechtlichen Ordnungsgesichtspunkten, sachlogischen Strukturen, anerkannten rechtlichen oder außerrechtüchen Wertungen und Maßstäben, anerkannten Institutionen, sowie nach Ansätzen für die Lösung in der bewährten Lehre, der überüeferten Rechtsüberzeugung und der gefestigten Judikatur; wir fragen weiter nach der wirtschaftlichen Zweckmäßigkeit, der Praktikabüität, der Zumutbarkeit, nach der Verkehrssitte und dem Bedürfnis des Verkehrs, nach der Übereinstimmung mit Treu und Glauben (§ 242 BGB) und unseren sittlichen Anschauungen. Wir suchen dem Zweck und der Natur des Rechtsverhältnisses, den berechtigten (zu ermittelnden) Interessen der Personen und den Besonderheiten des Faües, der Natur der Sache, den Erfordernissen der Rechtssicherheit möglichst gerecht zu werden und die Denk- und Handlungsweise verständiger, treuer, pflichtbewußter Menschen zur Richtschnur zu nehmen".
100 Vgl Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 221 ff.: "Lückenergänzung als Leistung schöpferischer Erkenntnis". 101
So zutreffend Larenz, Methodenlehre, S. 427 f.; ferner Soergel/Hefermehl, BGB, Anh. § 133 Rn 15. 1 0 2 Vgl. hierzu Roth, Faktische Eingriffe, S. 471 ff. 103
Vgl. BVerfGE 8, 28, 36 ff.; 20, 162, 219. So z. B. BAGE (GrS) 23, 292, 319; Benda/Kreuzer, JZ 1972, 498; Söllner, ZG 10 (1995), 1 ff.; Staudinger/Coing, BGB, Einl. Rn 210; Stauding er/Richar di, BGB, vor § 611 Rn 739; krit. Pawlowski, Einführung, Rn 117 ff. 1 0 4
E. Richterliche Rechtsfortbildung
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schaffe gar "gesetzesvertretendes Richterrecht" 105. So sehr diese Bezeichnung auf die konkrete Maßstabssetzung passen mag, so mißverständlich und gefahrlich, weil fehlleitend, ist sie auch. Zunächst ist nämlich zu beachten, der Richter zur ergänzenden Rechtsfortbildung zwar einen Entscheidungssatz aufstellen muß; dieser stellt jedoch keine Rechtsnorm dar 1 0 6 . Bedeutsam ist dieser Unterschied etwa hinsichtlich der Bindungswirkung, denn solange sich kein Gewohnheitsrecht herausgebildet hat, ist der Richter auch an eine ständige Rechtsprechung der obersten Gerichte nicht rechtlich gebunden 107 . Des weiteren darf nicht verkannt werden, daß die rechtsergänzende und lückenfüllende Tätigkeit des Richters wesensmäßig stets von der des Gesetzgebers verschieden bleibt 1 0 8 . Der Unterschied liegt im Kern darin begründet, daß die Rechtsprechung sich notwendigerweise an Einzelfällen orientiert und entwickelt, sie also nicht jene Gesamtsicht zu gewinnen vermag, wie sie speziell der parlamentarischen Gesetzgebung entspricht, die die unterschiedlichsten Interessen sichten, bewerten und gegeneinander abwägen muß 1 0 9 . Das Gericht muß den konkreten Streit zweier individueller Parteien entscheiden und nicht eine Ordnung für das Gemeinwesen aufstellen. Zwar soll der Richter auch zur Lösung des konkreten Falles eine verallgemeinerungsfahige Regel formulieren und insofern eben nicht lediglich eine billigkeitsorientierte Einzelfallentscheidung treffen 110 ; nur ist die Verallgemeinerungsfahigkeit gerichtlich aufgestellter Entscheidungssätze oftmals eben begrenzt. Der wichtigste Unterschied zwischen Gesetzgebung und ergänzender Rechtsfortbildung liegt indes darin, daß das Gericht bei der Ausfüllung von Regelungslücken keineswegs so frei ist wie der Gesetzgeber es wäre, entschlösse dieser sich zu einer Regelung. Während der Gesetzgeber nämlich demokratisch legitimiert - in den Grenzen der Verfassung frei entscheiden kann, welche Lösung ihm am gerechtesten und zweckmäßigsten erscheint, hat
105
BAGE 23, 292, 320.
106
BAGE 33, 140, 159; 66, 264, 278; Enneccerus/Nipperdey , BGB A T 1/1, S. 344; Larenz , Methodenlehre, S. 430 ff.; Larenz/Canaris , Methodenlehre, S. 255 ff.; Picker , JZ 1984, 154 ff.; ders. y JZ 1988, 72 ff.; Staudinger/Richardi, BGB, vor §611 Rn 744. 1 0 7
s. dazu unten E. IV. Vgl. Kratzmann , Volkssouveränität, S. 45 ff.; StaudingerfCoing Rn 234; Staudinger/Richardi y BGB, vor §§ 611 ff. Rn 741 ff. 1 0 8
y
BGB, Einl.
10 9 Meier-Hayoz , JZ 1981, 412 f.; Picker , JZ 1984, 154 ff.; ders. y JZ 1988, 71 f.; ferner Pawlowski , Einführung, Rn 121: "Der Richter hat weder die Erkenntnis- noch die Gestaltungsmöglichkeiten, die dem Gesetzgeber zur Verfügung stehen". Allgemein zu den unterschiedlichen Bedingungen richterlicher und gesetzgeberischer Arbeit oben Β. I. 2. 1 1 0
Vgl. Enneccerus/Nipperdey
, BGB AT 1/1, S. 342 Fn 32; ferner oben Β. I. 2.
Π . Ergänzende Rechtsfortbdung
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der Richter sämtliche Vorgaben auch des einfachen Gesetzgebers zu beachten 1 1 1 . Der Gesetzgeber kann das Bestehende umgestalten und neu ordnen, der Richter nicht. Gewiß wird auch der Gesetzgeber regelmäßig bestrebt sein, Regelungslücken in einer mit der sonstigen Rechtsordnung harmonierenden Weise zu schließen, zwingend ist dies jedoch nicht, weil eine solche in bezug auf das bestehende Recht "inkohärente" Regelung ja gerade eine Umgestaltung des Wertungssystem einleiten mag. Der Richter hingegen muß die bestehenden gesetzlichen Vorgaben einhalten; ihm fehlt die Befugnis abzuweichen 1 1 2 . Aus diesem Grunde ist die Formel, im Falle von Regelungslücken müsse der Richter nach der Regel entscheiden, die er als Gesetzgeber aufstellen würde 1 1 3 , zumindest mißverständlich. Der Richter muß vielmehr den Entscheidungssatz so aufstellen, wie er angesichts der im übrigen feststellbaren gesetzgeberischen Wertentscheidungen sowie der in der Rechtsordnung verankerten Prinzipien Grund hat anzunehmen, daß der Gesetzgeber die Frage regeln würde, entschlösse er sich - ohne Umgestaltungstendenz - zu einer Normierung 114 . Treffend ist deshalb, die Tätigkeit des Richters bei der ergänzenden Rechtsfortbildung dahin zu beschreiben, er habe den Entscheidungssatz "unter Berücksichtigung bewährter Lehre und Überlieferung, sowie nach Maßgabe allgemeiner Rechtsgrundsätze mit dem Ziel aufzustellen, daß die von ihm geschaffene Regel die Anerkennung der communis opinio finden und deshalb auch von anderen Richtern der Entscheidung gleichartiger Fälle zugrunde gelegt werde" 115 .
111
Vgl. BAGE 33, 140, 160; ferner /fee*, Grundriß, S. 14. Vgl. Staudinger/RichardU BGB, vor § 611 Rn 745. 113 So etwa Enneccerus/Nipperdey, BGB AT 1/1, S. 344; desgleichen Art. 1 Abs. 2 Schweiz. ZGB. Lehmann/Hübner, BGB AT, S. 63, 66 beschränken diese Formel daher zu Recht auf den FaU, daß das Gesetz und die darin enthaltenen Wertungen den Richter "im Stich" lassen. 1 1 2
1 1 4 In diesem Sinne schon treffend Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1137b: "Wenn nun das Gesetz eine allgemeine Bestimmung trifft und in diesem Umkreis ein FaU vorkommt, der durch die aUgemeine Bestimmung nicht erfaßt wird, so ist es ganz in Ordnung, an der SteUe, wo uns der Gesetzgeber im Stiche läßt und durch seine vereinfachende Bestimmung einen Fehler verursacht hat, das Versäumnis im Sinne des Gesetzgebers selbst zu berichtigen: so wie er selbst die Bestimmung getroffen hätte, wenn er im Lande gewesen wäre und wie er sie, wenn ihm der FaU bewußt geworden wäre, in sein Gesetz aufgenommen hätte" (Hervorhebungen durch Verf.). 115
Enneccerus/Nipperdey,
BGB AT 1/1, S. 342.
304
E. Richterliche Rechtsfortbildung
3. Methoden der ergänzenden Rechtsfortbildung a) Einzelanalogie Die praktisch wichtigste Methode der ergänzenden Rechtsfortbildung ist die (Einzel-) Analogie. Ihrem Wesen nach handelt es sich dabei um die richterliche Bildung eines neuen Entscheidungsmaßstabs in Anlehnimg an eine bestehende gesetzliche Norm dergestalt, daß die Rechtsfolge der Norm auf Sachverhalte erstreckt wird, die zwar nicht dem Tatbestand der Norm unterfallen, den dort geregelten Sachverhalten aber so hinlänglich ähnlich sind, daß es gerechtfertigt ist, sie derselben Rechtsfolge zu unterwerfen 116. Während bei der teleologischen Extension 117 der Tatbestand der Norm dahin erweitert wird, daß er der Wertentscheidimg des Gesetzgebers entspricht, geht es bei der Analogie darum, die der betreffenden Norm zugrundeliegende Wertentscheidung des Gesetzgebers weiterzudenken, den vom Gesetzgeber eingeschlagenen Weg weiterzugehen, um so zu einem Grundgedanken zu gelangen, der auch auf die gesetzlich nicht geregelten und von der gesetzgeberischen Weitentscheidung nicht erfaßten Fälle zutrifft, und nach dem diese dem mutmaßlichen Willen des Gesetzgebers gemäß sinnvoll entschieden werden können 118 . Im Unterschied zur teleologischen Extension findet die Analogie ihre Rechtfertigung also nicht schon in dem vom Gesetzgeber mit der betreffenden Norm verfolgten Zweck selbst, sondern bedarf einer anderweitigen Begründung. Diese Begründung ist nicht selten verfassungsrechtlicher Natur; da der Richter freilich auch jenseits des verfassungsrechtlich Gebotenen eine sinnvolle und gerechte Entscheidung des betreffenden Falles zu treffen hat, kommen jedoch auch sonstige "vernünftige" Gründe in Betracht. Von besonderer Bedeutung für die Rechtfertigung einer Analogie ist der Gleichheitssatz des Art. 3 G G 1 1 9 . und zwar in seiner positiven Komponente, nach der wesensmäßig gleiche Sachverhalte gleich zu behandeln sind 1 2 0 . Es 116 Vgl. BVerfGE 82, 6, 12; Bydlinski, Methodenlehre, S. 475; Enneccerus/Nipperdey, BGB AT 1/1, S. 339; Klug, Juristische Logik, S. 109 f.; Larenz y Methodenlehre, S. 381; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 202; Lehmann/Hübner, BGB AT, S. 63 f.; Looschelders, Anpassung, S. 94, 196. 1 1 7
Vgl. hierzu oben E. II. 4. b) aa).
1 1 8
Vgl. Enneccerus/Nipperdey,
BGB AT 1/1, S. 340; Lehmann/Hübner, BGB AT,
S. 64. 1 1 9
Zum Gleichheitsrecht als grundrechtliches Abwehrrecht vgl. Roth, Faktische Eingriffe, S. 401 ff. 1 2 0 Zur Rechtfertigung der Analogie mit dem Gebot der Gleichbehandlung wesensmäßig gleicher Sachverhalte vgl. Canaris, Lücken, S. 71 ff.; Dürig, in Maunz/ Dürig, GG, Art. 3 I (Lfg. 1973) Rn 401; Engisch, Einführung, S. 287 Anm. 166c;
Π . Ergänzende Rechtsfortbdung
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gibt jedoch zahlreiche Fälle, in denen die Übertragung der Rechtsfolge einer Norm auf einen von ihrem Tatbestand nicht erfaßten Sachverhalt nicht schon durch den Gleichheitssatz geboten wird, sondern schlicht auf der Notwendigkeit beruht, eine sinnvolle und gerechte Entscheidung des Einzelfalles zu ermöglichen 121 . Die Grenzen zwischen diesen beiden Begründungen der Analogie sind freilich fließend. So wird häufig gesagt, die Analogie sei berechtigt, wenn sich der geregelte von dem nicht geregelten Sachverhalt nur in solchen Hinsichten unterscheide, die für die fragliche Vorschrift nicht wesentlich seien 122 , wenn der betreffende Sachverhalt also vor dem Maßstab der gesetzgeberischen Wertentscheidung mit den vom Tatbestand erfaßten Sachverhalten wesensmäßig gleich ist 1 2 3 . Geht man nun aber von dem Verständnis des Gleichheitssatzes aus, daß wesensmäßig Gleiches gleich behandelt werden /nwj3 124 , so wäre eine Situation, in der die vorgenannte Beschreibung zutrifft, stets eine solche, in der die Analogie bereits durch Art. 3 GG geboten ist. Wenn nämlich selbst aus der Sichtweise des Gesetzgebers zwei Fälle wesensmäßig gleich sind, so verstieße es fraglos gegen den Gleichheitssatz, sie unterschiedlichen Rechtsfolgen zu unterwerfen 125. Da aber andererseits eine Analogie offensichtlich nicht in Betracht zu ziehen ist, wo sich zwei Fälle wesensmäßig unterscheiden 126, könnte zweifelhaft erscheinen, ob es für eine Analogie außerhalb des Gleichheitssatzes noch einen Anwendungsbereich gibt. Dies ist indes zu bejahen, weil die Analogie keine wesensmäßige Gleichheit voraussetzt, sondern eine Ähnlichkeit der Sachverhalte genügt 127 .
Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 260; Larenz, NJW 1965, 4; ders., Methodenlehre, S. 381; Looschelders, Anpassung, S. 105; Zippelius, Methodenlehre, S. 62. 121
Eine ähnliche Differenzierung findet sich bei Canaris, Lücken, S. 144 ff., der zwischen "notwendiger" und "möglicher" Analogie unterscheidet: Während die "notwendige Analogie" durch den Gleichheitssatz geboten sei, steUe die "mögliche Analogie" nur eine von mehreren denkbaren Lösungen dar, um eine bestimmte offene Rechtsfrage zu beantworten. 12 2 Enneccerus/Nipperdey, BGB AT 1/1, S. 341; Larenz, Methodenlehre, S. 381 f.; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 202. 123
Vgl. Bydlinski, Methodenlehre, S. 476; Engisch, Einführung, S. 148 ff.; Staudinger/Coing, BGB, Einl. Rn 157. 1 2 4
Vgl. BVerfGE 3, 58, 135; 87, 1, 36; Gubelt, in v. Münch/Kunig, GG, Art. 3
Rn 11. 125
Vgl. BVerfGE 34, 103, 115; 67, 70, 84; Herzog, in Maunz/Dürig, GG, Anh. Ait. 3 (Lfg. 1994) Rn 21; Jarass/Pieroth, GG, Art. 3 Rn 19. 126 Vgl. statt vieler Engisch, Einführung, S. 148: "Dort, wo die Ähnlichkeit aufhört, wo ein wesentlicher Unterschied hervortritt, hat die Analogie ihre Grenze". 127 Ygi Engisch, Einführung, S. 147, wonach bei der Analogie "der vieldeutige Begriff der Ähnlichkeit zum Angelpunkt des Schließens" wird.
20 Looschelders / Roth
306
E. Richterliche Rechtsfortbildung
Verschiedene Lebensverhältnisse können nie in allen, sondern stets nur in einzelnen Merkmalen gleich sein, denn sonst wären sie eben nicht verschieden 1 2 8 . Insoweit kann es nur um die Festlegung eines Ahnlichkeitsgrades auf einem Kontinuum zwischen den (theoretischen) Eckpunkten absoluter Identität und völliger Verschiedenheit gehen, um die Angabe eines Maßes an Gleichheit oder Ungleichheit 129 . Allerdings knüpft Art. 3 GG in seiner Geltung für den Gesetzgeber lediglich an die "Natur der Sache" a n 1 3 0 , bindet den Gesetzgeber also nur dahin, die den Regelungsgegenständen immanenten Eigenheiten sachgerecht zu beachten131. Jenseits dieser Vorgegebenheiten steht dem Gesetzgeber die Entscheidung zu, auf welche Vergleichsmerkmale er abstellen oder welche Unterschiede er betonen will; bei dieser notwendigen Wertungsfrage 132 kommt dem Gesetzgeber eine weitgehende Gestaltungsfreiheit z u 1 3 3 , "die Merkmale als Vergleichspaar zu wählen, an denen er Gleichheit oder Ungleichheit der gesetzlichen Regelung orientiert" 134 . Diese Struktur des Gleichheitssatzes gilt grundsätzlich nicht nur für den Gesetzgeber, sondern auch für die anderen Gewalten 135 . Allerdings stellt der Gleichheitssatz für den Richter dadurch eine zusätzliche Bindung auf, daß er den Vergleichsmaßstab der gesetzgeberischen Wertentscheidung zu entnehmen hat, sich bei der Entscheidung über die Vergleichbarkeit zweier Sachverhalte in
1 2 8
Vgl. BVerfGE 87, 1, 36; Gubelt, in v. Münch/Kunig, GG, Art. 3 Rn 16a; Hesse, Verfassungsrecht, Rn 432; Arthur Kaufmann, Problemgeschichte der Rechtsphüosophie, S. 158; LarenZy Methodenlehre, S. 381; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 202. 12 9
Roth, Faktische Eingriffe, S. 401. Zu der Struktur dieses Vergleichens s. oben C. II. 1. a). 1 3 0 Zur Geltung der Natur der Sache für den Gesetzgeber vgl. Radbruch/Zweigert, Einführung, S. 34 f. 131 Vgl. BVerfGE 9, 201, 206; 75, 108, 157; 80, 109, 118; Gubelt, in v. Münch/ Kunig, GG, Art. 3 Rn 30; Leibholz/Rinck/Hesselberger y GG, Art. 3 Rn 26, 34; Rüfner y in BK GG, Art. 3 I (Lfg. 1992) Rn 5, 45; ferner Dürig y in Maunz/Dürig, Art. 3 I (Lfg. 1973) Rn 306 ff. (mit der Mahnung, über das Kriterium der "Sachgerechtigkeit" nicht die dahinter stehenden betroffenen Menschen zu vergessen; vgl. dazu BVerfGE 88, 87, 96). 1 3 2
Dürig y in Maunz/Dürig, GG, Art. 3 I (Lfg. 1994) Rn 1 f.; Gubelt, in v. Münch/Kunig, GG, Art. 3 Rn 17, 20; Rüfner y in BK GG, Art. 3 I (Lfg. 1992) Rn 44. 133 BVerfGE 9, 201, 206; 80, 109, 118; Gubelt, in v. Münch/Kunig, GG, Ait. 3 Rn 23; Herzog y in Maunz/Dürig, GG, Anh. Art. 3 (Lfg. 1994) Rn 23; Rüfnery in BK GG, Art. 3 I (Lfg. 1992) Rn 80. Zur Abstufung der Weite dieses Gestaltungsspielraums je nach den Auswirkungen der Ungleichbehandlung BVerfGE 60, 123, 134; 88, 87, 96 f.; 91, 389, 401. 1 3 4
BVerfGE 9, 201, 206; ferner BVerfGE 50, 57, 77; 71, 39, 53; 75, 108, 157; 87, 1, 36; Jarass/Pieroth, GG, Art. 3 Rn 11. 135 Vgl. BVerfGE 74, 129, 149; Jarass/Pieroth y GG, Art. 3 Rn 11.
ΠΙ. Ergänzende Rechtsfortbdung
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Ansehung einer Norm also nach der dieser zugrundeliegenden Wertentscheidung richten muß 1 3 6 . Auch bei der Beurteilung der richterlichen Entscheidung gemäß den Vorgaben des Gleichheitssatzes ist aber dessen Struktur zu beachten: Der Gleichheitssatz knüpft an zwei Markierungen auf dem Kontinuum an, die sich zwischen den Eckpunkten der vollständigen wertungsmäßigen Identität und der totalen wertungsmäßigen Divergenz befinden. Unterhalb der Sachverhalte, die vollständig von der gesetzgeberischen Wertentscheidung erfaßt werden und die insofern auch wertungsmäßig identisch sind 1 3 7 , finden sich jene, die dieser Wertentscheidung zwar nicht in toto, aber doch in ihren wesentlichen Punkten entsprechen; solche im wesentlichen gleiche Fälle müssen nach dem Gleichheitssatz gleich behandelt werden. Spiegelbildlich hierzu gibt es am anderen Ende des Kontinuums jene Fälle, die wertungsmäßig nicht nur nicht im wesentlichen gleich, sondern sogar wesentlich verschieden sind. Der negativen Komponente des Gleichheitssatzes zufolge, nach der wesensmäßig Ungleiches seiner Ungleichheit entsprechend ungleich zu behandeln ist, wird hier eine analoge Anwendung der Norm durch Art. 3 GG sogar verboten. Zwischen diesen beiden Eckpunkten befindet sich jenes Spektrum von Fällen, die zwar hinreichende wertungsmäßige Gemeinsamkeiten mit den klaren Anwendungsfallen der Norm aufweisen, um sie nicht in den Bereich des Ungleichen einordnen zu können, die aber andererseits nicht genügende Gemeinsamkeiten besitzen, um sie in den Bereich des Gleichen zu ziehen. In diesem Bereich läßt Art. 3 GG anerkanntermaßen einen Spielraum, ob eine Gleichoder Ungleichbehandlung erfolgen soll; allein vom Gleichheitssatz her ist keine dieser Lösungen geboten oder verboten 138 . Dies ist mithin der Bereich, in dem eine Analogie in Betracht kommt, ohne nach Art. 3 GG zwingend geboten zu sein. Hier kann einerseits nicht schon aus einer wesensmäßigen Gleichheit der Sachverhalte im Wege des argumentum e simile auf die Berechtigung der Analogie geschlossen werden, andererseits läßt sich die Zulässigkeit der Analogie aber auch nicht aufgrund der wesensmäßigen Ungleichheit der Sachverhalte im Wege des argumentum e contrario ausschließen139. Der Richter muß daher unter Beachtung der gesetzgeberischen Vorgaben und unter Abwägung des Für und Wider darüber entscheiden, ob die Vornahme
1 3 6
Vgl. Gubelt, in v. Münch/Kunig, GG, Art. 3 Rn 36, 43. Sofern ein solcher Sachverhalt infolge eines gesetzgeberischen Fehlers nicht von der Norm erfaßt wird, ist eine teleologische Extension des Anwendungsbereichs der Norm vorzunehmen (s. hierzu oben E. II. 4. b) aa). 1 3 7
1 3 8 139
Vgl. BVerfGE 3, 58, 135.
Zur logischen Struktur des argumentum e simüe und des argumentum e contrario s. oben C. II. 1. a).
20*
308
E. Richterliche Rechtsfortbdung
einer Analogie zur Erzielung eines vernünftigen und gerechten Ergebnisses angebracht ist. wertungsmäßige Identität
Bereich wertungsmäßiger wesenüicher Gleichheit
Bereich weitungsmäßiger Ähnlichkeit
Bereich wertungsmäßiger wesentlicher Ungleichheit
Analogie durch positive Komponente des Gleichheitssatzes geboten (argumentum e simile)
Analogie durch Gleichheitssatz weder geboten noch verboten
Analogie durch negative Komponente des Gleichheitssatzes verboten (argumentum e contrario)
Das verfassungsrechtliche Problem besteht ersichtlich darin, die verschiedenen Bereiche voneinander abzugrenzen; denn von der konkreten Grenzziehung kann die Frage einer möglichen Verletzung des Art. 3 GG abhängen. Da die Wertentscheidung des Gesetzgebers die Grenze jeder ergänzenden Rechtsfortbildung darstellt, scheidet die Vornahme einer Analogie zwar auch dann aus, wenn der Gesetzgeber sich dafür entschieden hat, zwei wesensmäßig gleiche Sachverhalte unterschiedlich zu behandeln. Da die Analogie hier durch Art. 3 GG geboten wäre, sind die einfachen Gerichte aber auch daran gehindert, die Klage einfach abzuweisen; sie müssen vielmehr nach Art. 100 Abs. 1 GG verfahren 140 . Die Unterscheidung zwischen Gleichheit, Ähnlichkeit und Ungleichheit bedarf letztlich einer Wertung, die sich an der der Norm zugrundeliegenden Wertentscheidung des Gesetzgebers sowie den Wertungen des Art. 3 GG auszurichten hat. Auf die hiermit verbundenen Fragen kann in dieser Arbeit nicht weiter eingegangen werden. In methodischer Hinsicht entschärft sich das Problem jedenfalls durch die Erkenntnis, daß die Schnittstelle zwischen Gleichheit und Ähnlichkeit zwar über die rechtliche Begründung der Analogie, nicht aber über deren Zulässigkeit als solche entscheidet. Ist ein Sachverhalt so gelagert, daß sogar ernsthaft in Frage steht, ob nicht Art. 3 GG die Analogie gebietet, so ist die Ähnlichkeit jedenfalls groß genug, daß die Analogie sich ohne Schwierigkeiten durch die sonstigen Gründe rechtfertigen läßt, sofern sie im Interesse einer gerechten Entscheidung angebracht erscheint. In diesem Zusammenhang gewinnen nicht selten auch andere Verfassungsnormen als Art. 3 GG Bedeutung. Auch bei bloßer Ähnlichkeit der Sachverhalte wird 1 4 0
s. dazu oben E. II. 2. b) bb).
Π . Ergänzende Rechtsfortbildung
309
eine Analogie nämlich durch das Grundgesetz geboten, wenn es ohne die analoge Anwendung der Rechtsfolge einer an sich unanwendbaren Norm zu einem verfassungs- und insbesondere grundrechtswidrigen Ergebnis käme. Beispiel (13): Die Wiedereinsetzungsvorschrift des § 60 VwGO ist über den vom Gesetzeswortlaut erfaßten Fall der Versäumung einer gesetzlichen Frist hinaus auf Fälle der Versäumung richterlich gesetzter Fristen analog anzuwenden, wenn dies zur Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) erforderlich i s t 1 4 1 . Beispiel (14): Nach der neueren Rechtsprechung des BAG gelten die Grundsätze über die Beschränkung der Arbeitnehmerhaftung fur alle Arbeiten, die durch den Betrieb veranlaßt sind und aufgrund eines Arbeitsverhältnisses geleistet werden, auch wenn diese Arbeiten nicht gefahrgeneigt sind 1 4 2 . Dogmatisch wird die Beschränkung der Arbeitnehmerhaftung auf die entsprechende Anwendung des § 254 BGB gestützt. Die Analogie zu § 254 BGB wird dabei nicht mit dem telos der Vorschrift oder der positiven Komponente des Gleichheitssatzes begründet; maßgeblich ist vielmehr die Erwägung, daß "die Beschränkung der Arbeitnehmerhaftung durch entsprechende Anwendung des § 254 BGB ... im HinbUck auf die verfassungsrechtliche Gewährleistung der Berufsfreiheit (Art. 12 I GG) und der aUgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 I GG) geboten" s e i 1 4 3 .
Die Zulässigkeit der analogen Anwendung einer Rechtsnorm findet wie jede ergänzende Rechtsfortbildung ihre Grenze in der gesetzgeberischen Wertentscheidung. Geht diese dahin, daß die fragliche Rechtsfolge nur für die von der Norm ausdrücklich geregelten Sachverhalte gelten soll, so ist der Umkehrschluß gerechtfertigt, daß ein im Gesetz nicht ausdrücklich geregelter Sachverhalt die betreffende Rechtsfolge nicht nach sich ziehen soll. Ob in einem bestimmten Fall eine Analogie oder ein Umkehrschluß gerechtfertigt ist, läßt sich den Gesetzen der juristischen Logik allein nicht entnehmen144; für die Entscheidimg dieser Frage ist vielmehr ein materieller Maßstab erforderlich. Da es einen solchen Maßstab in Form des (tatsächlichen oder mutmaßlichen) Willens des Gesetzgebers gibt, ist die Entscheidung zwischen Analogie und Umkehrschluß aber entgegen einer manchmal vertretenen Ansicht keineswegs beliebig 145 .
141 1 4 2 143
BVerwG, NJW 1994, 673, 674; Kopp, VwGO, § 60 Rn 4. BAG (GrS), NJW 1995, 210. BAG (GrS), NJW 1995, 210, 212.
1 4 4
Vgl. Going, Rechtsphüosophie, S. 283 f.; Engisch, Einführung, S. 149; Klug, Juristische Logik, S. 145 ff.; Pawlowski, Einführung, Rn 115, 200. s. dazu schon oben C. II. 1. a). 145 In diesem Sinne auch Bydlinski, Methodenlehre, S. 476; Enneccerus/Nipperdey, BGB AT 1/1, S. 341 Fn 29; Larenz, Methodenlehre, S. 391 gegen Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 350, nach dessen Ansicht es "kein Kriterium dafür gibt, wann das eine oder das andere Pnterpretationsmittel] zur Anwendung kommt".
310
E. Richterliche Rechtsfortbildung
Beispiel (15): Nach § 651a Abs. 1 BGB gelten die Vorschriften des Reisevertragsrechts unmittelbar nur fur solche Reiseverträge, die auf eine Gesamtheit von Reiseleistungen gerichtet sind. Es stellt sich daher die Frage, ob die §§ 651a ff. BGB auf Veranstaltungsverträge, die auf die Bereitstellung einer Ferienunterkunft als alleiniger Reiseleistung gerichtet sind, entsprechend angewendet werden können. Dies wäre ausgeschlossen, wenn der Gesetzgeber in § 651a Abs. 1 BGB die Wertentscheidung getroffen hätte, daß die Vorschriften des Reisevertragsrechts nicht auf solche Reiseverträge angewendet werden sollen. Der BGH hat letzteres mit der Begründung verneint, daß es dem Gesetzgeber in § 651a Abs. 1 BGB der Sache nach darum gegangen sei, den Reiseveranstaltungsvertrag als einen Vertrag mit gesteigerter Haftung und Verantwortung vom Reisevermittlungsvertrag abzugrenzen, der vom Reisevertragsrecht nicht erfaßt werden sollte; wenn der Reiseveranstaltungsvertrag dabei mit der Pauschalreise gleichgesetzt worden sei, so habe der Gesetzgeber übersehen, daß die wesentlichen Merkmale einer Veranstalterreise auch dann voriiegen können, wenn nur eine einzige Reiseleistung gebucht w i r d 1 4 6 . Folgt man dieser Argumentation, so steht die Wertentscheidung des Gesetzgebers der entsprechenden Anwendung der §§ 651a ff. BGB auf solche Veranstalterreisen nicht entgegen, geht sein mutmaßlicher Wüle vielmehr auf eine entsprechende Anwendung in vergleichbar schutzbedürftigen Situationen.
b) Gesamtanalogie Als weitere bedeutsame Methode der ergänzenden Rechtsfortbildung ist die Gesamtanalogie zu n e n n e n 1 4 7 . Bei ihr geht es darum, den hinter mehreren Einzelvorschriften jeweils stehenden gesetzgeberischen Wertentscheidungen einen gemeinsamen Grundgedanken zu entnehmen, der auch auf den zu regelnden Sachverhalt zutrifft und der es daher rechtfertigt, die übereinstimmende Rechtsfolgeanordnung der betreffenden Vorschriften auf diesen Sachverhalt zu übertragen. Der Unterschied zur Einzelanalogie liegt dabei in der Abstraktionsebene: Während die Einzelanalogie auf die einer einzelnen N o r m
146
BGHZ 119, 152, 163 f.; BGH, NJW 1995, 2629, 2630. Zur Unterscheidung zwischen Gesamtanalogie ("Rechtsanalogie") und Einzelanalogie ("Gesetzesanalogie") vgl. Engisch , Einführung, S. 151; Enneccerus/Nipperdey , BGB AT 1/1, S. 339 f.; Larenz , Methodenlehre, S. 383 ff.; Staudinger/Coing , BGB, Einl. Rn 157; Wolff /Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, § 28 Rn 67. Krit. gegenüber der Bezeichnung "Gesamtanalogie" Canaris , Lücken, S. 98 und Larenz/ Canaris , Methodenlehre, S. 205 mit der Erwägung, daß es hier nicht wie bei der Analogie um einen Schluß vom Besonderen auf Besonderes gehe, sondern um "Induktion". Dieser Einwand vermag jedoch nicht zu überzeugen, weü auch die Einzelanalogie - wie Larenz/Canaris , ebda, übrigens selbst einräumt - nicht unmittelbar von einem Besonderen auf ein anderes Besonderes schließt, sondern der Vermittlung eines "AUgemeinen", nämlich des auf beide Sachverhalte zutreffenden Grundgedankens der Norm, bedarf; auch die Einzelanalogie enthält insofern also induktive Elemente (s. dazu oben C. III. 1.). 1 4 7
Π . Ergänzende Rechtsfortbildung
311
zugrundeliegende Wertentscheidung bezogen ist, deren Grundgedanke auch auf den rechtsergänzend zu regelnden Sachverhalt zutrifft, weil dieser eine hinreichende Ähnlichkeit mit den von der Norm geregelten Sachverhalten aufweist, wird bei der Gesamtanalogie aus den hinter mehreren Normen stehenden Wertentscheidungen ein gemeinsamer Grundgedanke abstrahiert 148; trifft dieser gemeinsame Grundgedanke auf den regelungsbedürftigen Sachverhalt zu, so kann die übereinstimmende Rechtsfolgeanordnung der betreffenden Normen auf ihn übertragen werden 149 . Es versteht sich von selbst, daß die Abstraktion eines solchen gemeinsamen Grundgedankens umso eher und sicherer möglich ist, je ähnlicher die fraglichen Normen einander sind; je verschiedener die Normen sind, desto höher muß die Abstraktion werden, um einen gemeinsamen Grundgedanken finden zu können, weshalb dann die Deduktion der ergänzenden Regel unsicherer wird. Beispiel (16)^: Eine der bekanntesten Gesamtanalogien liegt der heute gewohnheitsrechtlich anerkannten Haftung aus positiver Vertragsverletzung zugrunde. Der BGH abstrahierte dabei aus den §§ 280, 286, 325, 326 BGB den gemeinsamen Grundgedanken, daß jede schuldhafte Verletzung einer Leistungspflicht eine Verpflichtung zum Schadensersatz begründet 151 . Beispiel (17): Desgleichen ist die Haftung wegen culpa in contrahendo im Wege der Gesamtanalogie entwickelt worden, indem aus den §§ 122, 179, 307, 309, 463 S. 2, 663 BGB der gemeinsame Grundgedanke abstrahiert wurde, daß bereits der Eintritt in Vertragsverhandlungen gewisse (vorvertragliche) Sorgfaltspflichten begründet, bei deren schuldhafter Verletzung Schadensersatzpflichten entstehen, für welche die Grundsätze der Vertragshaftung gelten 1 5 2 .
c) Ergänzende Rechtsfortbildung auf der Grundlage allgemeiner Prinzipien der Rechtsordnung Auf einer noch höheren Abstraktionsstufe als die Gesamtanalogie steht die Rechtsfortbildung durch Rückgriff auf allgemeine Prinzipien der Rechtsord148 Vgl Bydlinski, Methodenlehre, S. 478; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 205 ("Rückgang auf die aüen Einzelvorschriften gemeinsame 'ratio legis' sowie deren VeraUgemeinerung"); Obermayer, NJW 1966, 1890; zum Wesen der Abstraktion als Suche nach dem gemeinsamen telos vgl. Roth, Faktische Eingriffe, S. 258. 149 Vgl. Bydlinski, Methodenlehre, S. 478. 1 5 0 Weitere Beispiele bei Enneccerus/Nipperdey, BGB AT 1/1, S. 340. 151 1 5 2
BGHZ 11, 80, 83.
Vgl. Palandt/Heinrichs, BGB, § 276 Rn 65 m. w. N.; ferner - aus methodischer Sicht - Engisch, Einführung, S. 151. Krit. Jauernig/Vollkommer, BGB, § 276 Anm. V I 1 c und Lorenz, Schuldrecht I, S. 107, wonach die bei der culpa in contrahendo herangezogenen Vorschriften als Grundlage einer Gesamtanalogie untauglich seien.
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E. Richterliche Rechtsfortbildung
nung 1 5 3 wie etwa den Grundsatz von Treu und Glauben, den Vertrauensgrundsatz oder den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Bei der Herausarbeitung solcher Prinzipien besteht methodisch eine nahe Verwandtschaft zur Gesamtanalogie154; ein wesentlicher Unterschied liegt jedoch darin, daß eine Gesamtanalogie nur dann möglich ist, wenn der Gesetzgeber bereits mehrfach tätig geworden ist und mehrere gesamtanalogiefähige Normen erlassen hat, während das allgemeine Rechtsprinzip der Gesamtrechtsordnung inhärent ist und der Rechtsfortbildung selbst dann zugrundegelegt werden kann, wenn es vom Gesetzgeber bislang noch gar nicht oder nur einmal positiviert wurde 1 5 5 . Freilich haben allgemeine Rechtsprinzipien, eben weil sie fur eine Vielzahl von Fällen Geltung beanspruchen, meistens ihren Niederschlag in einer Vielzahl von Einzelvorschriften gefunden 156. Erforderlich ist dies zur Annahme eines allgemeinen Rechtsprinzips jedoch nicht, obschon eine vielfache Positivierung die Gefahr eines Irrtums bei der Rechtsfortbildung vermindert; grundsätzlich sollte man mit der Annahme gesetzlich überhaupt nicht positivierter allgemeiner Rechtsprinzipien sehr zurückhaltend sein. Zumeist werden deshalb allgemeine Rechtsprinzipien dadurch gewonnen, daß man aus den hinter einer oder mehreren Rechtsnormen stehenden Wertentscheidungen einen allgemeinen, für eine Vielzahl weiterer Fälle gültigen Grundgedanken abstrahiert, von dem man sich dann bei der Ergänzung des Gesetzes leiten läßt 1 5 7 . In methodischer Hinsicht bestätigt sich insofern die enge Verwandtschaft mit der Gesamtanalogie, jedoch kann es im Unterschied zur Gesamtanalogie hier nicht damit bewenden, eine etwaige übereinstimmende Rechtsfolgeanordnung der Ausgangsvorschriften auf den betreffenden Sachverhalt zu
153 Ausführlich hierzu Bydlinski, Methodenlehre, S. 481 ff.; Canaris, Lücken, S. 93 ff.; Engisch, Einführung, S. 153 ff.; Esser, Grundsatz und Norm, S. 252 ff.; Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 261 f.; Larenz, Methodenlehre, S. 413 ff.; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 232 ff. 15 4
Larenz, Methodenlehre, S. 383 ff., 421; Larenz/Canaris,
Methodenlehre,
S. 205. 155
Vgl. Canaris, Lücken, S. 100; Larenz, Methodenlehre, S. 388 f.; Larenz/ Canaris, Methodenlehre, S. 207 f. 156 Allgemein zur Unterscheidung zwischen Normen (Regeln) und Prinzipien (Grundsätzen) Alexy, Grundrechte, S. 71 ff., 78 ff.; Esser, Grundsatz und Norm, S. 49 ff., 73 ff.; Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 78 ff., 97 ff., 244 ff.; Larenz y Richtiges Recht, S. 23 ff.; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 303; Looschelders, Anpassung, S. 171 f. 1 5 7 Vgl. Canaris, Lücken, S. 98 f.; LarenZy Richtiges Recht, S. 26.
Π . Ergänzende Rechtsfortbildung
313
erstrecken; es bedarf vielmehr der Entwicklung einer völlig neuen Regelung 1 5 8 . Die allgemeinen Prinzipien des Rechts sind nicht nur aufgrund ihrer Geltung fur eine Vielzahl von Fällen allgemeingültig, sie sind zugleich auch "allgemeinH im Sinne von unspezifisch 159. Infolgedessen ist die Deduktion spezifischer Sätze zur Regelung konkreter Sachverhalte aus allgemeinen Prinzipien mit einem großen Unsicherheitsfaktor behaftet 160 . Entsprechend dem Abstraktionsgrad handelt es sich demnach um eine Methode, bei der das Spannungsverhältnis zwischen den für eine Ergänzung des Gesetzes streitenden Gründen und den Geboten der Rechtssicherheit besonders klar hervortritt. Der Richter hat in einer solchen Situation - ähnlich wie im Rahmen der teleologischen Auslegung bei der Heranziehung der verschiedenen Auslegungskriterien - die allgemeinen Rechtsgrundsätze unter Beachtung der anerkannten Rechtsinstitute sowie Wert- und Ordnungsvorstellungen und unter Berücksichtigung der bewährten Lehre und gefestigten Rechtsprechung sorgfältig herauszuarbeiten und so zu konkretisieren, daß eine gerechte Entscheidung des Streitfalles ermöglicht wird. Er hat mithin nach der Regel zu entscheiden, von der er Grund hat anzunehmen, daß der Gesetzgeber sie aufstellen würde, entschlösse er sich zu einer Normierung 161 . Ist eine ergänzende Rechtsfortbildung besonders gut gelungen, so zeigt sich dies mitunter daran, daß die gerichtlich aufgestellte Regel später tatsächlich als Gesetz erlassen w i r d 1 6 2 . Beispiel (18): Auf einer Rechtsfortbüdung aus aUgemeinen Prinzipien der Rechtsordnung beruht die Regelung des strafrechtUchen Verbotsirrtums. Bis zum Inkrafttreten des 2. Strafrechtsreformgesetzes am 1. 1. 1975 war der Verbotsirrtum im deutschen StGB nicht geregelt. Bei der AusfüUung dieser Lücke hat sich der BGH auf das Schuldprinzip gestützt und daraus abgeleitet, "daß die wissentliche und wiUentliche Verwirklichung der tatbestandsmäßigen rechtswidrigen Tat dem Täter zur Schuld zuzurechnen ist, wenn er das Unrecht der Tat kannte oder bei der ihm zumutbaren Anspannung des Gewissens hätte kennen können und sich trotzdem in Freiheit zu ihr entschloß, und daß der Verbotsirrtum, wenn er unüberwindlich ist, die Schuld ausschließt, - wenn er überwindlich ist, sie mindert, aber den Tatvorsatz
158 Vgl Bydlinski, Methodenlehre, S. 485; zur Unterscheidung zwischen Gesamtanalogie und ergänzender Rechtsfortbüdung auf der Grundlage aUgemeiner Rechtsprinzipien ferner Canaris, Lücken, S. 97 ff. 159 Vgl. Larenz, Richtiges Recht, S. 24. 1 6 0 Vgl. Enneccerus/Nipperdey, BGB AT 1/1, S. 342 f. 161 s. oben E. III. 2 d) und e). 1 6 2 Vgl. BGHZ 90, 17, 30 f. Zu diesem und weiteren Kriterien "geglückter" richterlicher Rechtsfortbüdung vgl. v. Hoyningen-Huene, Heidelberg-FS, S. 357 ff.
314
E. Richterliche Rechtsfortbildung
nicht beseitigt" 163 . Diese aus dem Schuldprinzip abgeleiteten Rechtssätze sind nunmehr in §§ 16, 17 StGB kodifiziert.
d) Ergänzende Rechtsfortbildung
unter Rückgriff
auf die Natur der Sache
Nach herrschender Meinung können schließlich auch der "Natur der Sache" 1 6 4 Leitlinien für die ergänzende Rechtsfortbildung entnommen werden 1 6 5 . Damit ist nicht ein Rückgriff auf Naturrechtslehren 166 gemeint 167 ; die "Natur der Sache" als Kriterium ergänzender Rechtsfortbildung knüpft zwar an die Natur des Menschen und der Dinge als tatsächliche "Vorgegebenheiten des Rechts" 168 a n 1 6 9 , betrachtet diese aber nicht in einem überpositiven Rechtsraum, sondern versteht die zu beurteilende Frage konkret in ihrer Beziehung zur vorgegebenen Rechtsordnung sowie in ihrer Einbettung in die normativ und sozial vorgeformte Gesellschaftsordnung 170. Die "Natur" eines Gegenstandes ergibt sich mithin nicht allein aus ihm selbst oder seiner "Wesenheit an und für sich", sondern auch und vor allem aus seiner Relation zu den bestehenden Rechtsinstituten und Rechtsnormen; es geht darum, die Angelegenheit so zu regeln, daß sie sich harmonisch in das Rechtssystem einfügt und keine vermeidbaren Friktionen im Verhältnis zu bestehenden Instituten verursacht werden. Aus diesem Grunde darf die Argumentation aus der "Natur der Sache" nur sehr vorsichtig gehandhabt werden 171 . Es besteht nämlich die Gefahr, daß das Argument aufgrund eines Vorverständnisses 172 von jener "Natur" letztlich zu einer petitio principii wird und die genaue Analyse der rechtlichen Rahmenbedingungen unterbleibt 173 .
163 BGHSt 2, 194, 209; ausführlich dazu Eser/Burkhardt, ferner aus methodischer Sicht Canaris , Lücken, S. 105 f.
Strafrecht I Nr. 14. Vgl.
1 6 4
Zur Bedeutung der Natur der Sache im Rahmen der teleologischen Auslegung s. oben D. III. 2. c) bb) (2). 165 Vgl. Canaris , Lücken, S. 118 ff.; Enneccerus/Nipperdey , BGB A T 1/1, S. 343 Fn 41; Esser , Grundsatz und Norm, S. 101 ff.; Larenz , Nikisch-FS, S. 275 ff.; ders. t Methodenlehre, S. 417 ff. Vgl. schon Mugdan y Materialien I, S. 365 f.: "Die Berücksichtigung der sog. Natur der Sache ist dabei nicht ausgeschlossen". 1 6 6
Vgl. hierzu Enneccerus/Nipperdey
1 6 7
Vgl. Zippelius , Rechtsphüosophie, S. 95 f.
16 8
Henkel , Rechtsphüosophie, S. 377. Zippelius , Rechtsphüosophie, S. 45 ff. Vgl. Enneccerus/Nipperdey , BGB AT 1/1, S. 343 Fn 41.
16 9 1 7 0 171 1 7 2
, BGB AT 1/1, S. 215 ff.
In diesem Sinne auch E. Kaufmann , JuS 1987, 852.
Zu diesem Problemkreis s. oben B. III. 173 vgl. E. Kaufmann , JuS 1987, 851: "Die Formel von der objektiven, 'sachlogischen' Struktur einer Entscheidungsgrundlage verdeckt ledigUch die subjektiv gepräg-
DI. Ergänzende Rechtsfortbildung
315
Beispiel (19): In einer sehr frühen Entscheidung hielt das BVerfG dafür, Verfassungsbeschwerden (§ 90 BVerfGG) gegen eine Unterlassung des Gesetzgebers seien "vor aUem" nach der "Natur der Sache" ausgeschlossen; anderenfaüs werde die SteUung der gesetzgebenden Gewalt unzulässig geschwächt 174 . Der abschließende Hinweis: "Auch aus der Rechtsprechung des bayrischen, des schweizerischen und des Verfassungsgerichts der Vereinigten Staaten ist kein FaU bekannt, der eine Unterlassung des Gesetzgebers zum Gegenstand gehabt hätte" 1 7 5 , deutet auf ein rechtssystemunabhängiges, aügemeingültiges Verständnis von der "Natur der Sache" hin. Wie irrig diese Argumentation und wie wenig tragfahig diese angebliche "Natur" der Verfassungsgerichtsbarkeit war, zeigt sich daran, daß das BVerfG nur knapp 5 Jahre später diese Ansicht aufgab und Verfassungsbeschwerden gegen gesetzgeberisches Unterlassen - unter gewissen Voraussetzungen - fortan zuüeß1 . Beispiel (20): Nach § 217 StGB Hegt ein privüegierter FaU des Totschlags vor, wenn eine Mutter ihr nichteheliches Kind in oder gleich nach der Geburt tötet. Diese Privüegierung scheint aus der Natur der Sache zu folgen, trägt sie doch dem besonderen psychischen Zustand der Mutter eines nichtehelichen Kindes bei der Geburt Rechnung 177 . Diese Einschätzung wird jedoch fragwürdig, wenn man berücksichtigt, daß der "Kindsmord" in früherer Zeit als besonders verwerflicher Fall der Tötung angesehen und dementsprechend besonders grausam bestraft w u r d e 1 7 8 . Auch diese QuaUfizierung ließ sich aus der Natur der Sache, nämlich der besonderen Hüflosigkeit und Schutzbedürftigkeit des neugeborenen Kindes begründen. Die Argumentation mit der Natur der Sache hängt hier also offenbar davon ab, welche "Sache" man in den Vordergrund steUt: die Lage der Mutter oder jene des Kind e s 1 7 9 . Zu beachten ist im übrigen, daß die Einschätzung der Natur der Sache maßgeblich von den jeweiligen tatsächlichen Verhältnissen abhängt, die in der GeseUschaft herrschen. So kann man sich in Anbetracht der heute in Deutschland bestehenden sozialen Verhältnisse fragen, ob die Privüegierung des § 217 StGB noch ihre Berechtigung besitzt 180 .
Zu beachten ist deshalb, daß die "Natur der Sache" allein regelmäßig nicht geeignet ist, dem Rechtsanwender hinreichende Vorgaben für die Entwicklung einer konkreten Rechtsregel zu liefern 181 ; denn Schlußfolgerungen aus der Natur der Sache werden nur selten "begriffsnotwendig sein und eine be-
te Wülensentscheidung, die der Jurist trifft, wenn etwa positives gesetztes Recht ihn im Stich läßt". 1 7 4
BVerfGE 1, 97, 100. Ebda., S. 101. 1 7 6 BVerfGE 6, 257, 264; 11, 255, 261; 56, 54, 70. 1 7 7 Zur ratio der Privüegierung vgl. Lackner/Kühl, StGB, § 217 Rn 1. 1 7 8 Zur rechtsgeschichtlichen Entwicklung der strafrechtlichen Beurteüung der Kindstötung vgl. Kastner, NJW 1991, 1443 ff. 175
179 1 8 0 181
Vgl. E. Kaufmann, JuS 1987, 852. Zur Reformdiskussion vgl. Lackner/Kühl, StGB, § 217 Rn 1 m.w.N. Henkel, Rechtsphüosophie, S. 381; Larenz, Methodenlehre, S. 418.
316
E. Richterliche Rechtsfortbildung
stimmte Lösung unter Ausschluß anderer Möglichkeiten sachgerechter Lösimg zwingend fordern" 1 8 2 . Durch Rückgriff auf die "Natur der Sache" lassen sich somit zumeist nur "Ordnungs- und Gestaltungselemente" 183 gewinnen, welche die anderen Leitgedanken der ergänzenden Rechtsfortbildung unterstützen. Beispiel (21): Das BVerfG geht in standiger Rechtsprechung davon aus, daß sich in engem Rahmen aus der "Natur der Sache" eine in Art. 70 ff. GG nicht (ausdrücklich) vorgesehene Gesetzgebungskompetenz des Bundes ergeben könne 1 8 4 . Eine Bundeskompetenz kraft "Natur der Sache" wird dabei etwa für die Bestimmung des Sitzes der Bundesverfassungsorgane und die Entscheidung über Bundessymbole angenommen, weü es sich hier um Aufgaben handele, "die sich unmittelbar aus dem Wesen und der verfassungsmäßigen Organisation des Bundes ergeben ('natürHche Bundesaufgaben')" und von vornherein nicht durch die Länder - gleichlautend oder abweichend - geregelt werden könnten 185 . Beispiel (22): In neuerer Zeit hat das BVerfG ferner eine aus der "Natur der Sache" folgende Gesetzgebungskompetenz des Bundes für die mit der Vereinigung Deutschlands "zwangsläufig verbundenen, unaufschiebbaren gesetzgeberischen Aufgaben", insbesondere die Regelung der Beschäftigungsverhältnisse der Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst, bejaht. Maßgeblich war hier die Erwägung, daß die neuen Bundesländer nicht in der Lage waren, diese Fragen in angemessener Zeit zu regeln, da sie selbst noch über keine Gesetzgebungsorgane verfugten und insofern handlungsunfähig waren 1 8 6 .
e) Verhältnis
der verschiedenen Methoden der ergänzenden Rechtsfortbildung
I n welchem Verhältnis die verschiedenen Methoden der ergänzenden Rechtsfortbildung zueinander stehen, ist weitgehend ungeklärt. Letztlich kann diese Frage ebensowenig i m Sinne einer generellen Rangordnung beantwortet werden wie die Frage nach dem Verhältnis der verschiedenen Auslegungsmethoden 1 8 7 . Aus den oben dargelegten verfassungsrechtlichen Vorgaben ergibt sich aber als Leitprinzip, daß die Prärogative des Gesetzgebers auch i m Bereich der ergänzenden Rechtsfortbildung soweit eben möglich zu achten ist. D i e "Wahl" der Methode ist daher daran zu orientieren, auf welche Weise die 1 8 2
Vgl. die diesbezüglichen Anforderungen von BVerfGE 11, 89, 99; 22, 180, 217 an Schlußfolgerungen aus der "Natur der Sache". 183
Henkel , Rechtsphüosophie, S. 381. BVerfGE 3, 407, 427 f.; 11, 89, 98 f.; 12, 205, 251; 22, 180, 217; 26, 246, 257; 84, 133, 148; vgl. dazu Hesse, Verfassungsrecht, Rn 236; Jarass/Pieroth , GG, Art. 70 Rn 8 f.; v. Münch, in v. Münch, GG, Art. 70 Rn 21 f. 185 BVerfGE 3, 407, 422. 1 8 4
186
BVerfGE 84, 133, 148.
1 8 7
s. dazu oben D. IV.
Π . Ergänzende Rechtsfortbildung
317
Übereinstimmung mit den in anderen Normen desselben Gesetzes oder in anderen Teilen der Gesamtrechtsordnung verankerten Wertentscheidungen des Gesetzgebers im Einzelfall am besten gewährleistet werden kann, ohne die Gebote der Rechtssicherheit zu vernachlässigen188. Lassen sich Vorschriften für Interessenkonflikte finden, die mit dem beurteilungsbedürftigen weitgehend vergleichbar sind, so wird es regelmäßig vorzugswürdig sein, die ergänzende Rechtsfortbildung an diese Vorschriften anzulehnen und sie also im Wege der Analogie durchzuführen, anstatt aus allgemeinen Prinzipien des Rechts oder der Natur der Sache heraus eine völlig "neue", mit den beschriebenen Unsicherheiten behaftete Lösimg zu entwickeln 189 . Dies heißt freilich nicht, daß der Analogie ein genereller Vorrang gegenüber den anderen Methoden der ergänzenden Rechtsfortbildung zukäme. Von einer "gewagten", auf nur geringer Ähnlichkeit fußenden Analogie sollte vielmehr jedenfalls dann Abstand genommen werden, wenn sich aus allgemeinen Rechtsprinzipien oder der Natur der Sache eine überzeugend begründbare Lösung ableiten läßt. Von mehreren im Ergebnis gleichwertigen Lösungen ist jene vorzugswürdig, die sich durch die größere dogmatische Klarheit und Einfachheit auszeichnet und damit zugleich dem Gedanken der Vorhersehbarkeit der Entscheidung am besten Rechnung trägt. Da grundsätzlich nicht davon ausgegangen werden kann, daß der Gesetzgeber eine unnötig komplizierte Lösung wählte, entschlösse er sich zur Regelung des infrage stehenden Interessenkonflikts, entspricht eine solche nach dogmatischer Klarheit strebende Lösung am ehesten dem mutmaßlichen Willen des Gesetzgebers.
4. Die Lückenschließung als Interpolationsverfahren Lücken in einem vorgegebenen System schließen zu müssen, ist keine Aufgabe, mit der sich nur der Jurist und Rechtsanwender konfrontiert sehen mag, sondern die sich in allen Gebieten der Wissenschaft stellen kann. Entsprechend der Vergleichbarkeit der Aufgabenstellung überrascht es nicht, wenn auch hinsichtlich der jeweiligen Denk- und Lösungsweise etliche Parallelen auszumachen sind, bei allen Unterschieden, die den verschiedenen Wissenschaften eignen. Im Kern beruhen alle rationalen Verfahren der Lückenschließung auf einem Schluß von der Ähnlichkeit der Ausgangswerte auf die Ähnlichkeit der Ergebniswerte. Rational lassen sich solche Verfahren nur durchführen, wenn bestimmte Voraussetzungen als gegeben angenommen werden. Um diese zusammenfassend klarzustellen und den Denkvorgang bei der Lük1 8 8
Vgl. Canaris, Lücken, S. 146 Fn 9. 189 Vgl Looschelders, Anpassung, S. 178 f. (zu vergleichbaren Problemen in Fällen mit Auslandsberührung).
318
E. Richterliche Rechtsfortbildung
kenschließung zu erhellen, mag daher ein kurzer Hinweis auf die Parallelen gestattet sein, die zwischen den Verfahren der Lückenschließung im Wege der ergänzenden Rechtsfortbildung und den in der Mathematik verwandten Verfahren der Interpolation und der Extrapolation bestehen. Die Interpolation setzt voraus, daß die Funktionswerte wenigstens zweier Ausgangswerte bekannt sind, und unternimmt die (näherungsweise) Bestimmung des gesuchten Funktionswertes an einer zwischen diesen Ausgangswerten liegenden Interpolationsstelle, indem die Funktion, die die bekannten Funktionswerte erzeugt, bestimmt und sodann mit ihrer Hilfe der gesuchte Funktionswert berechnet wird. Bei der Extrapolation wird eine Funktionskurve über den Bereich hinaus ausdehnend fortgeschrieben, für den sie ursprünglich gefunden wurde; hiermit können Funktionswerte für Extrapolationsstellen ermittelt werden, die unter- bzw. oberhalb der Ausgangswerte liegen, deren Funktionswerte bekannt sind. Die Möglichkeit, eine Interpolation oder Extrapolation sinnvoll durchführen zu können, besteht nur unter einer Reihe von Voraussetzungen: Erstens müssen die fraglichen Punkte überhaupt irgendwie gesetzmäßig erzeugt werden, also nicht rein zufallig produziert werden; zweitens muß ihnen eine Funktion zugrundeliegen, eine Abbildungsweise also, die einem gegebenen Ausgangswert genau einen Ergebniswert zuordnet (und nicht zwei verschiedene); drittens muß die Funktion über ihrem interessierenden Definitionsbereich lückenlos sein, weil man sonst nicht annehmen könnte, daß jedem Ausgangswert aus diesem Definitionsbereich überhaupt ein Funktionswert zugeordnet ist; viertens muß sie stetig sein, also ohne Sprünge verlaufen, d. h. jeder Punkt auf der Kurve muß unendlich nahe am anderen und nicht infolge eines Sprunges in der Funktion trotz nahezu gleichen Ausgangswertes womöglich ganz woanders liegen; schließlich muß ein gewisses "freundliches Verhalten" der zu ermittelnden Funktion vorausgesetzt werden: denn da es unabhängig davon, wieviele Punkte vorgegeben sind, stets unendlich viele Funktionen gibt, die alle vorgenannten Bedingungen erfüllen und der Kompliziertheit der Funktionen keine Grenze gesetzt ist, sich aber freilich etwa bei einer stark oszillierenden Funktion keine sinnvolle Interpolation mehr durchführen läßt, muß als die gesuchte Funktion jeweils die einfachste angenommen werden, die sämtliche übrigen Bedingungen erfüllt (bei einer Interpolation mit Polynomen z. B. also die polynome Funktion niedrigsten Grades). Entsprechende Annahmen sind, mutatis mutandis, auch für die ergänzende Rechtsfortbildung zu machen. Sie muß zunächst voraussetzen, daß die positivierten Rechtsnormen aus einer gewissen inneren Gesetzmäßigkeit heraus gebildet und nicht bloß ganz zufällig (d. h. rein willkürlich) so entstanden sind; denn von willkürlichen Setzungen aus kann man für andere Fälle nichts ab-
Π . Ergänzende Rechtsfortbildung
319
leiten. Sie muß zweitens die Voraussetzung machen, daß die Rechtsordnung eine "Funktion" in dem Sinne darstellt, daß keinem Sachverhalt zwei widersprüchliche Rechtsfolgen zugeordnet werden (Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnimg 190). Jedenfalls außerhalb der rechtsfreien Räume ist drittens von der Lückenlosigkeit der Rechtsordnung auszugehen191; normative Regelungslücken sind immer nur Lücken im Gefüge des positivierten Rechts und so lange schließungsfähig, wie man annehmen kann, daß die Gesamtheit des (positivierten und nicht positivierten) Rechts lückenlos ist. Der für die Durchführung mathematischer Interpolationen bedeutsame Gesichtspunkt der Stetigkeit findet sich bei der Rechtsfortbildung als Prämisse der Kohärenz der Rechtsordnung wieder 1 9 2 , der Annahme also, daß nahe zusammenliegende, vergleichbare Fälle auch in verwandter Weise geregelt werden, daß die Rechtsordnung mithin keine Wertungsbrüche oder -Sprünge aufweist. Schließlich wird auch anzunehmen sein, daß die Rechtsordnung die Problemfalle in der jeweils nächstliegenden Weise regeln will und auf unnötig komplizierte Ansätze verzichtet, auch wenn diese letzten Endes dieselben Ergebnisse zeitigen; die Annahme des "freundlichen Verhaltens" läßt sich so als Postulat möglichst großer dogmatischer Klarheit und Einfachheit der Rechtsfortbildung verstehen 193. Ohne diese Annahmen wäre eine ergänzende Rechtsfortbildung nicht in methodisch gelenkter Weise denkbar, sondern müßte der Rechtsanwender bestehende Regelungslücken letztlich willkürlich schließen. Der Interpolation entspräche bei der Rechtsfortbildung die Schließung von inneren Lücken, d. h. von Regelungslücken innerhalb bestimmter Teilrechtsgebiete, der Extrapolation hingegen entspräche die Schließung von äußeren Lücken, d. h. von Regelungslücken betreffend Sachverhalte, die außerhalb geregelter Teilrechtsgebiete liegen, aber einen gewissen Zusammenhang dazu aufweisen. Beispiel (23): Die Nichtregelung von Schlechtleistungen steüt im Gebiet des BGBSchuldrechts eine innere Regelungslücke dar, die Nichtregelung bestimmter neuer Vertragstypen (Leasing, Factoring) hingegen eine äußere.
Da sich an die Unterscheidung von inneren und äußeren Lücken keine prinzipiell unterschiedlichen Folgen knüpfen, soll sie nicht weiter vertieft werden. Es ist aber hilfreich, sich zu vergegenwärtigen, daß die Schließung innerer Lücken in der Regel leichter fallt, weil man sich innerhalb eines umgrenzten Rechtsbereichs bewegt. Äußere Lücken zu schließen ist dagegen umso schwieriger, je weiter der betreffende Sachverhalt von den bekannten Rege1 9 0
s. dazu oben E. II. 4. d).
191
Zur Frage der Geschlossenheit der Rechtsordnung s. oben E. III. 1. b). Zum Kohärenzgedanken s. oben D. III. 2. c) aa) und bb) und E. III. 1. b). s. hierzu oben E. III. 3. e).
1 9 2 193
320
E. Richterliche Rechtsfortbdung
lungsfällen entfernt ist, wie auch die Extrapolation um so schwerer fallen kann, je weiter die Extrapolationsstelle vom bekannten Funktionsbereich entfernt liegt. Bedeutsamer ist aber eine andere Erkenntis, die diese Parallele veranschaulicht: Inter- und Extrapolation sind um so verläßlicher, je mehr Punkte als bekannt zugrundezulegen sind. Denn je mehr Punkte vorgegeben sind, desto mehr Funktionshypothesen scheiden aus und desto eindeutiger ist somit die zu ermittelnde Funktion bestimmt. Dem entspricht die Regelungsdichte bei der Rechtsfortbildung: Je dichter ein bestimmter Teilbereich normiert ist, desto verläßlicher ist es möglich, aus den auffindbaren Wertentscheidungen auf den Lückenfall zu schließen. Je weniger der Bereich geregelt ist, umso weniger werden allein die spezifischen Wertentscheidungen die Lückenschließung vorgegeben, und umso mehr wird ein Rückgriff auf immer generellere und abstraktere Wertungen erforderlich sein. Die Parallele von Interpolation und ergänzender Rechtsfortbildung hat freilich ihre Grenzen. Sie kann zwar das Wesen des Denkvorgangs illustrieren und ferner belegen, daß die Notwendigkeit von Lückenschließung kein allein juristisches Problem darstellt. Es wäre auch unzutreffend anzunehmen, Lükkenschließung als ein Schluß von Vorgegebenem auf Fehlendes beinhalte notwendig ein letztlich irrationales und methodisch nicht strukturiertes Vorgehen. Der Vergleich soll indes nicht zu dem Mißverständnis verleiten, die ergänzende Rechtsfortbildung sei ein mathematisch exakt durchfuhrbarer Vorgang. Dies erhellt schon aus dem Material, von dem die "juristische Interpolation" ausgeht: den in den vorgegebenen Rechtsnormen zu verortenden Wertentscheidungen des Gesetzgebers. Die Verbindungslinie zwischen solchen Wertungen herzustellen oder gar über den geregelten Teilbereich hinaus fortzuschreiben, setzt notwendig wiederum vielfaltige Wertungen voraus, die sich im Gegensatz zur mathematischen Interpolation einer zahlenmäßigen Quantifizierung notwendig entziehen.
I V . Rechtsfortbildung und Gewohnheitsrecht Soweit die Gerichte im Wege der Rechtsfortbildung neue Regeln oder Rechtsinstitute herausbilden, stellt sich die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen diese Regeln bzw. Rechtsinstitute gewohnheitsrechtliche Geltung erlangen können. Diese Frage ist aufgrund der unterschiedlichen Verbindlichkeit von "Richterrecht" und Gewohnheitsrecht von großer praktischer Bedeutung. Auf der Grundlage unseres gewaltenteiligen Systems kann die Aufgabe der Rechtsprechung nicht darin bestehen, allgemeingültige Rechtsregeln zu entwickeln; sie hat vielmehr das ihr vorgebenene Recht auf individuelle Fälle anzuwenden, um diese gerecht zu entscheiden1. Auch die Entscheidungen der obersten Gerichte sind nur in bezug auf den konkreten Einzelfall bindend, begründen aber kein Recht2. An eine standige Rechtsprechung der obersten Gerichte werden sich die Instanzgerichte zwar regelmäßig halten, schon um den Parteien die Einlegung von Rechtsmitteln und die damit verbundenen Kosten zu ersparen3; rechtlich sind sie hierzu jedoch - von den Besonderheiten in Rechtsmittelverfahren (z. B. §§ 565 Abs. 2 ZPO, 358 Abs. 1 StPO, 130 Abs. 2, 144 Abs. 6 VwGO) einmal abgesehen - nicht verpflichtet 4 . Desgleichen wird sich der Rechtsverkehr zumeist zwar auf eine ständige Rechtsprechung einrichten; rechtlich verbindlich ist aber nicht die Rechtsprechung als solche, sondern nur das zugrundeliegende Recht, das durch die Rechtsprechung in zutreffender Weise konkretisiert und fortgebildet worden ist 5 . Erweist sich die erfolgte Auslegung bzw. Rechtsfortbildung als unzutreffend, so kann und muß aufgrund des Vorrangs von Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG) auch eine ständige Rechtsprechung abgeändert werden 6, soweit 1 Vgl. Kirchhof, Heidelberg-FS, S. 18; Larenz, BGB AT, S. 9 f.; Meier-Hayoz, JZ 1981, 421 f.; Neuner, Rechtsfindung, S. 53 ff.; Picker, JZ 1984, 154 ff.; Staudinger/ Coing, BGB, Einl. Rn 225, 234. 2 BVerfGE 84, 212, 227; Enneccerus/Nipperdey, BGB AT 1/1, S. 344; Picker, JZ 1984, 157 f.; Soergel/Hefermehl, BGB, Anh. § 133 Rn 15. 3 BVerfGE 22, 373, 379. 4 BVerfGE 22, 373, 379; 87, 273, 278; Kirchhof Heidelberg-FS, 15; Staudinger/ Coing, BGB, Einl. Rn 224 ff. 5 Larenz, AT, S. 10; ders., Methodenlehre, S. 432. 6
BVerfGE 18, 224, 240 f.; 59, 128, 165; BGHZ 52, 259, 260 ff.; 59, 343, 346 ff.; BAGE 66, 264, 278; Larenz, BGB AT, S. 10 f.; Palandt/Heinrichs, BGB, Einl. Rn 24; Staudinger/Coing, BGB, Einl. Rn 227.
21 Looschelders / Roth
322
E. Richterliche Rechtsfortbdung
nicht die Gedanken der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes ausnahmsweise zu einer bloß prospektivischen Berichtigung der Rechtsprechung fuhren 7. Gewohnheitsrecht besteht demgegenüber aus ungeschriebenen Normen, denen die gleiche Verbindlichkeit wie geschriebenen Normen zukommt8. Erforderlich für die Entstehung von Gewohnheitsrecht ist regelmäßig eine lang dauernde tatsächliche Übung, die von der Überzeugung der beteiligten Verkehrskreise getragen wird, daß es sich um geltendes Recht handele; ein bloßer Verwaltungs- oder Gerichtsgebrauch ist hierfür allein nicht ausreichend9. Aufgrund ihrer normativen Geltung treten gewohnheitsrechtliche Regeln nicht ohne weiteres außer Kraft, wenn sich die Überzeugung der beteiligten Verkehrskreise ändert; sofern nicht der Gesetzgeber eingreift, ist vielmehr die Bildung entgegenstehenden Gewohnheitsrechts erforderlich 10. In Anbetracht der unterschiedlichen Verbindlichkeit von Richterrecht und Gewohnheitsrecht muß man bei der Annahme, eine ständige Rechtsprechung sei zu Gewohnheitsrecht erstarkt, sehr zurückhaltend sein 11 . Keineswegs darf schon jede ständige Rechtsprechimg, welche über einen langen Zeitraum unangefochten praktiziert wird, als Gewohnheitsrecht angesehen werden. Denn eine zu Gewohnheitsrecht gewordene ständige Rechtsprechung könnte nicht mehr geändert werden, weil die Gerichte rechtlich daran gebunden wären. Angesichts dieser Bindungswirkung wird die Frage erörtert, inwieweit eine unzutreffende (richterliche) Auslegung oder Fortbildung eines Gesetzes als Gewohnheitsrecht allgemeine Verbindlichkeit erlangen und letztlich das geltende Gesetz außer Kraft setzen kann 12 . Da ein solches Resultat mit dem Vorrang des Gesetzgebers gegenüber dem Richter schwerlich zu vereinbaren 7
Vgl. BGHZ 85, 64, 66; Staudinger/Going, BGB, Einl. Rn 231; ferner BVerfGE 38, 386, 397; 84, 212, 227 f. Zu dieser Problematik s. auch oben Β. I. 3. 8 BGHZ 37, 219, 224; Enneccerus/Nipperdey, BGB A T 1/1, S. 261 ff., 271; Forsthoff; Verwaltungsrecht I, S. 147; Larenz, BGB AT, S. 10; Wotff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, § 25 Rn 12, 14. 9
BGHZ 37, 219, 224; BGHSt 11, 241, 245 ff.; BAGE 33, 140, 159; Enneccerus/ Nipperdey, BGB A T 1/1, S. 264 ff.; Hubmann, JuS 1968, 63; Larenz, BGB AT, S. 11; Palandt/Heinrichs, BGB, Einl. Rn 24; Staudinger/Going, BGB, Einl. Rn 233, 238 ff., Wotff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, § 25 Rn 12 f. 10
BGHZ 1, 369, 379 f.; 37, 219, 224 f.; 44, 346, 348 f.; BGHSt 11, 241, 247 ff., 254 ff.; Hubmann, JuS 1968, 63; Looschelders, Anpassung, S. 285 f.; Palandt/Heinrichs, BGB, Einl. Rn 24. 11 Larenz, BGB AT, S. 10 f.; Palandt/Heinrichs, BGB, Einl. Rn 24; genereü ablehnend Staudinger/Going, BGB, Einl. Rn 233, 238 ff.; F. Müller, Heidelberg-FS, S. 82. 12 Allgemein zum "Kampf zwischen Gesetz und Gewohnheit um den Vorrang" Radbruch/Zweigert, Einführung, S. 47 ff.
I V . Rechtsfortbildung und Gewohnheitsrecht
323
ist 1 3 , versucht der BGH, dieses Problem durch die Annahme zu lösen, die Bildung entgegenstehenden Gewohnheitsrechts sei nicht erforderlich, um die gewohnheitsrechtlich verfestigte Fehlauslegung eines geltenden Gesetzes außer Kraft treten zu lassen; vielmehr genüge insoweit der Wegfall der Rechtsüberzeugung, weil damit sogleich wieder das hinter dem Gewohnheitsrecht stehende Gesetz zur Anwendung kommen könne 14 . Diese Lösung vermag indes nicht zu überzeugen15. Geht man ernsthaft davon aus, daß sich eine standige Rechtsprechung zu Gewohnheitsrecht verfestigt habe, so kann dasselbe nicht schon dann unbeachtet bleiben, wenn sich die allgemeine Rechtsüberzeugung ändert; denn auf das dahinterstehende Gesetz kann in einem solchen Fall nicht mehr zurückgegriffen werden, weil dieses durch das Gewohnheitsrecht aufgehoben bzw. abgeändert worden ist 1 6 . Der Vorrang des Gesetzgebers gegenüber der Rechtsprechung läßt sich daher nur dadurch gewährleisten, daß man die Bildung von Gewohnheitsrecht contra legem auf die Fälle beschränkt, in denen das geschriebene Recht nach allgemeiner Überzeugung (so) ohnehin nicht mehr gilt 1 7 . Besteht hingegen lediglich die Überzeugung, daß die Rechtsprechung das (unverändert fortgeltende) geschriebene Gesetz zutreffend konkretisiert hat, so bleibt das Gesetz maßgeblich18; für eine Bildung von Gewohnheitsrecht ist dann kein Raum. Dies ergibt sich schon daraus, daß die Rechtsüberzeugung im Falle einer gesetzesinterpretierenden ständigen Rechtsprechung zwar dahin gehen mag, die Rechtsprechimg sei richtig in dem Sinne, daß sie das zugrundeliegende Gesetz richtig auslege; gleichwohl wird dabei aber - und zwar sowohl nach dem Selbstverständnis des Gerichts wie nach dem Verständnis aller Rechtsgenossen - der Rechtsgrund des Urteils im Gesetz gesehen und nicht etwa in einer erst vom Gericht gefundenen und formulierten (ungeschriebenen) Norm. Der für die Entstehung von Gewohnheitsrecht notwendige Rechtsgeltungswille der Gemeinschaft bezieht sich allein auf das interpretierte Gesetz und nicht auf seine Interpretation; würde die Fehlinterpretation als solche erkannt, so führte dies die Beteiligten nicht etwa dazu, das Gesetz zu ignorieren, sondern die Interpretation fallen zu lassen. Bezieht sich die Rechtsüberzeugung aber gar nicht auf die Annahme einer vom Gesetz unabhängigen oder das Gesetz abändernden ungeschriebenen Rechtsnorm, fehlt es mithin am Willen und am Bewußtsein, 13
F. Müller, Heidelberg-FS, S. 82.
14
BGHZ 37, 219, 224 f.; 44, 346, 348 f.
15
Krit. auch Hubmann, JuS 1968, 61 ff. Vgl. BVerfGE 9, 215, 221; Enneccerus/Nipperdey, hoff, Verwaltungsrecht I, S. 147; Wotff/BachofYStober, Rn 14. 16
BGB AT 1/1, S. 271; ForstVerwaltungsrecht I, § 25
17 Zur Möglichkeit einer solchen Derogation vgl. BVerfGE 9, 213, 221; Forsthoff\ Verwaltungsrecht I, S. 147; Wotff/Bachof'/Stober, Verwaltungsrecht I, § 25 Rn 14. 18 ÄhnUch Forsthoff\ Verwaltungsrecht I, S. 147.
21*
324
E. Richterliche Rechtsfortbildung
durch die standig geübte Rechtsprechung Recht zu schaffen, so kann auch nicht die Entstehung von Gewohnheitsrecht angenommen werden 19 . Insofern stellt die Frage nach einer gesetzesderogierenden standigen Rechtsprechung als Gewohnheitsrecht ein Scheinproblem dar 2 0 . Im "gesetzesfreien" Raum ist die Bildung von Gewohnheitsrecht demgegenüber uneingeschränkt möglich. Aus diesem Grunde ist es unbedenklich, den im Wege der ergänzenden Rechtsfortbildung entwickelten Instituten der positiven Vertragsverletzung und der culpa in contrahendo gewohnheitsrechtlichen Rang zuzuerkennen 21.
19
Nicht überzeugend insoweit Enneccerus/Nipperdey,
BGB A T 1/1, S. 269 f.,
347. 2 0
Eine andere Frage ist freüich, inwieweit der Vertrauensgrundsatz materiellrechtlich einer (rückwirkenden) Berichtigung einer nunmehr als unrichtig erkannten standigen Rechtsprechung entgegenstehen kann (vgl. hierzu oben Β. I. 3.). Das hat aber nichts damit zu tun, daß diese Rechtsprechung etwa als Gewohnheitsrecht anzusehen wäre. 2 1 Zur p W vgl. Larenz, Schuldrecht I, § 24 I a; Palandt/Heinrichs, Rn 105; zur c.i.c. BGH, NJW 1979, 1983.
BGB, § 276
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Beispielsverzeichnis (nach den in den Beispielen behandelten Vorschriften)
BAföG - § 15 Illa (Studienabschlußförderung: teleologische Extension) 268
Bayr. Gesetz Nr. 3 vom 16.10.1945 - Ziff. 21 (fehlende Bestimmtheit) 19
BGB - § 54 (Einschränkung der Verweisung auf die Vorschriften über die BGB-GeseUschaft) 266 f. - §§ 122, 179, 307 etc. (culpa in contrahendo) 311 - § 167 II (Form der Vollmacht) 266 - § 181 (Insichgeschäft des gesetzüchen Vertreters) 262 - § 184 (keine Rückwirkung der Genehmigung bei Veijährungsfristen) 265 - §§ 249 ff. (Kindesunterhalt als Schaden) 64 - § 253 (Schmerzensgeld bei Persönüchkeitsrechtsverletzungen) 235 f. - § 254 (Schockschaden) 108; (analoge Anwendung auf betriebüch veranlaßte Tätigkeit) 309 - § 276 (Rechtsirrtum) 16 f. - §§ 280, 286, 325, 326 (positive Forderungsverletzung) 311 - § 400 (Abtretungsverbot) 229, 239, 262 - § 463 S. 2 (Vortäuschung der Abwesenheit eines Fehlers) 271 f., 282, 300 - §§ 535 ff. (Abwägung der berechtigten Interessen von Mieter und Vermieter) 185 - § 569a (analoge Anwendung auf nichteheliche Lebensgemeinschaften) 291 f. - §§ 611 ff. (Verfallklausel in Betriebsvereinbarungen) 17 - § 626 (außerordentüche Kündigung unter Einhaltung der Kündigungsfrist) 106 f. - §§ 651a ff. (analoge Anwendung bei einzelner Reiseleistung) 310 - § 823 I ("sonstiges Recht") 144; (allgemeines Persönüchkeitsrecht) 221 f. - § 826 (Begriff der Sittenwidrigkeit) 203 f.
342
Beispielsverzeichnìs
- § 844 II (Unterhaltsrente über die mutmaßliche Lebensdauer des Getöteten hinaus) 273 - § 904 S. 2 (Anwendbarkeit bei entschuldigendem Notstand) 105 f. - § 919 I ( "Verrücktwerden " von Grenzzeichen) 141 f. - § 930 (Sicherungsübereignung) 290 f. - § 1511 III 1 (Redaktionsversehen) 238, 272 - §§1615, 1615a (Unterhaltsanspruch des nichtehelichen Kindes gegen die Erben des Vaters) 276 - § 1671 IV 1 (gemeinschaftliche elterliche Sorge nach Scheidung) 232 f. BVerfGG - § 90 (Verfassungsbeschwerde gegen gesetzgeberisches Unterlassen) 315 - § 93 II (Verfassungsbeschwerde gegen rückwirkend in Kraft tretende Gesetze) 108 EGBGB - Art. 9 S. 1 (Normwiderspruch zwischen Kommorientenvermutungen) 277 f. - Art. 18 I, IV (Konkurrenz der Unterhaltsansprüche von geschiedenem und neuem Ehegatten) 277 - Art. 232 § 5 II Nr. 2 (Betriebsübergang in den neuen Bundesländern) 122 GG - Art. 6 I ("Ehe") 208 f. - Art. 12 I (verwaltungsinternes Kontrollverfahren bei Prüfungsentscheidungen) 293 - Art. 14 (Entschädigungspflicht bei rechtswidrigen Eingriffen) 104 f. - Art. 19 IV (Rechtsschutz gegen Prüfungsentscheidungen) 78 f.; (Rechtsschutz gegen Gesetze) 151 f. - Art. 70 ff. (Gesetzgebungskompetenz des Bundes aus der "Natur der Sache") 316 - Art. 80 (Erlaß von Rechtsverordnungen im Umlaufverfahren) 17 f. - Art. 103 II (Analogieverbot) 297 f.; (Bestimmtheitsgebot) 19, 20 GrdstVG - § 2 I (Bestellung eines Erbbaurechts) 103 GVG - § 17b I 2 (Verweisung bei Klage vor einem unzuständigen Gericht) 265 HWiG - § 1 (Bürgschaft als "Vertrag über eine entgeltliche Leistung") 24 f., 175 f.
Beispielsverzeichnìs
PrFDG - § 3 I Nr. 6 (Kraftfahrzeug als "bespanntes Fuhrwerk") 67 f., 240, 297 f. StGB - § 1 (StGB als "lückenhaftes" Gesetz) 284 - § 17 (Verbotsirrtum) 16, 313 f. - § 57a I 1 Nr. 2 (Zuständigkeit für Entscheidung über die "besondere Schwere der Schuld") 229 f., 242, 273 - § 142 II Nr. 2 ("entschuldigtes" Sich-Entfernen) 150 f. - § 164 (Einwilligung des Verdächtigten) 152 - § 211 ("Habgier") 96 f.; ("niedrige Beweggründe") 143; (Rechtsfolgenlösung bei "außergewöhnüchen Umständen") 261 - § 217 (Kindstötung und Natur der Sache) 315 - § 224 (Niere als wichtiges "Güed des Körpers") 132, 147 ff.; (Finger als "wichtiges" GUed) 133 f. - § 240 (Sitzblockaden) 20 - §§ 242, 248c ("Stromdiebstahl") 284 f., 298 - § 259 ("Absetzen") 142 f. - § 263a (Codekartenmißbrauch) 61 f. - § 266 (Mißbrauchstatbestand) 137 - § 283 V I ("Täter" und "Schuldner") 238 f., 267, 297 - §§ 292 II, 293 II ("Nachtzeit") 133, 134 StPO - § 100c I Nr. 2 (Abhören in Wohnungen) 264 UWG - § 1 (Begriff der Sittenwidrigkeit) 203 f. VermögensteuerG - § 10 Nr. 1 (Verfassungsmäßigkeit) 156 VersG - § 14 I (Spontanversammlung) 263 f. VwGO - § 60 (analoge Anwendung bei Versäumung richterüch gesetzter Fristen) 309 VwVfG - § 48 IV (Beginn der Rücknahmefrist) 186 ff.
Sachverzeichnis abändernde Rechts fortbildung s. Gesetzeskorrektur Abstraktion 311 Abwägung s. teleologische Auslegung Ähnlichkeit 305 ff., s. a. Gleichheit Allgemeiner negativer Grundsatz 287 Allgemeinheit des Gesetzes 8 ff., 14, 76, 255 f. Alterungsprozeß s. Gesetz Analogie 103 f. - Einzel-304 ff. - Gesamt-310 ff. - -verbot im Strafrecht 68, 101, 126, 293 ff. - s. a. argumentum e simile Analyse s. teleologische Auslegung Änderung der Rechtsprechung 13, 322
- europäischen Rechts 215 ff. - europarechtskonforme 178 f. -
Grenzen der - 66 ff. Maßstab d e r - 3 1 ff. rechtsvergleichende 218 Stufender - 120 ff., 192 ff.
- textexterne 23, 153 ff. - textinterne 28 f., 130 ff. - verfassungskonforme 19, 177 ff., 213, 242 f. - völkerrechtskonforme 178 f. - von Ausnahmevorschriften 144 f. - von DDR-Gesetzen 213 ff. - von Gesetzen aus der NS-Zeit 211 ff. - von Willenserklärungen 58 ff. - vorkonstitutioneller Gesetze 210 ff. - Ziel der-21, 119 Auslegungsmethoden s. genetische,
f., s. a. Rückwirkung Andeutungstheorie 69 f. Anpassung im IPR 275 ff. Argumentationstheorie 183 argumentum
grammatische, historische, systematische, teleologische Auslegung; Methodenwahl Auslegungstheorien 29 ff.
-
- objektive 29 f., 32 ff. - subjektive 29, 66 f. - Vereinigungstheorien 30 Auslegungsverbote 26 f.
ad absurdum 107 ff. a fortiori 104 ff., 271 a maiore ad minus 104, 106 f. a minore ad maius 104, 106
- e contrario 100 ff., 307 ff. - e simile 100 ff., 307 ff. Aristoteles 34, 89, 255 Fn 129 Ausdruck s. Begriff Auslegung
Bedeutungswandel - von Gesetzen 62 ff., 139 - von Verfassungsnormen 207 ff. Begriff
- als Konkretisierungsvorgang 92 - ausländischen Rechts 219 - der Verfassung 204 ff.
- Begriffskern und Begriffshof 134 f. - und Ausdruck 131 - unscharf begrenzter 133 ff.
Sachverzeichnis
- vager 135 - s. a. unbestimmter Rechtsbegriff; Wertbegriff Begründungs fehler s. Entscheidung Berichtigung des Gesetzes s. Gesetzeskorrektur Bestimmtheitsgebot 15, 18 ff., 254 Bindung an Gesetz und Recht 6 ff., 49, 51 ff., 72, 79 f., 164, 256 f. cessante ratione legis cessat lex ipsa 233 Fn 38 circulus vitiosus 73, 110 conclusio s. SyUogismus contra-legem-Entscheidungen s. Rechtsfortbüdung contra legem
345
Einzelsubsumtion 93 f., 96 f., s. a. Subsumtion Eliminationsverfahren 172, 174 Enteignungsgleicher Eingriff 104 f. Entscheidung - Begründung 83 f., 115 f. - Begründungs fehler 110 - Begründungszwang 76 - Findung 83, 115 f. - richtige 162 f. Entstehungsgeschichte s. genetische Auslegung Entwicklungsgeschichte s. historische Auslegung ergänzende Rechtsfortbüdung 223, 268 ff., 280 ff. - als Interpolationsverfahren 317 ff.
Deduktion 112 ff. Demokratie 42 ff., 47 f. - repräsentative 44 demokratische Legitimation
- Grenzen 288 ff. - Maßstab 298 ff. - Methoden 304 ff. - Zulässigkeit 286 ff.
- des Gesetzgebers 7
Ermessen im Verwaltungsrecht 98
- des Richters 7, 65 - von Gesetzen 50 Demoskopie und Auslegung 42 ff. denkender Gehorsam 251 f. Derogation (lex posterior, specialis, superior) 274 Fn 196
Ersatzgesetzgeber s. Richter
Divergenz - von Rechtsnorm und Regelungsentscheidung 237 - von Rechtsnorm und Wertentscheidung 224 ff., 236 ff. - von Regelungs- und Wertentscheidung 121, 228, 238
Erst-recht-Schluß s. argumentum a fortiori Extension, teleologische 260, 267 ff., 280 ff. - und ergänzende Rechts fortbildung 268 ff. falsa demonstratio non nocet 296 Falsifikation 83 f., 114 ff.
effet utüe 183 Fn 107, 217 f.
Generalklauseln 23, 109, 136, 198, 206 genetische Auslegung 153 ff., 157 ff., 194 f., 218 Gerechtigkeit
Einheit - der Rechtsordnung 180 - der Verfassung 205 Einzelfallgerechtigkeit 182, 185, 252
- Idee der -33 ff., 118 - Mehrdeutigkeit 34 Gesamtsubsumtion 94, s. a. Subsumtion
- ausgleichende und austeüende 34
346
Sachverzeichnis
Gesetz - Adressaten 11 - als Bestimmungs- und Bewertungsnorm 10 f. - als Entscheidungsmaßstab 11 - Alterungsprozeß 64 - Verhaltenssteuerungsfunktion 10 ff. Gesetzesauslegung s. Auslegung Gesetzesbindung s. Bindung an Gesetz und Recht Gesetzeskorrektur 220 f., 224 ff.
Gleichheitssatz 12, 102, 304 ff. Gleichsetzungslehre 90 Fn 15, 91 Fn 21 grammatische Auslegung 130 ff., 194 - kontextuale 141 ff. - Leistungsfähigkeit 145 ff. - Problembereiche 130 ff. - Strukturuntersuchung 144 f. - Wortlaut 138 ff. Grund des Gesetzes s. Zweck des Gesetzes gute Sitten 200 f., 203 f.
- Bedürfnis 224 ff. - Befugnis des Richters 244 ff.
Hermeneutik 71 ff., 137
-
- Begriff 71 f. - Knoten, hermeneutischer 78 - Zirkel, hermeneutischer 73 ff. historische Auslegung 153 ff., 194 f.
Begründung 240 ff. Fallgruppen 261 ff. Grenze 249 f. Maßstab 227 ff. Methoden 258 ff. teleologisch erlaubte 242 ff. teleologisch gebotene 241 verfassungskonforme 242 f.
- s. a. Extension, Modifikation, Reduktion Gesetzeslücken s. Lücken Gesetzesmaterialien s. genetische Auslegung Gesetzespositivismus 255 ff. Gesetzestext s. Wortlaut Gesetzgeber - Auslegungsmaßstabskompetenz 45 ff. - Entscheidungsmaßstabskompetenz 6 ff., 28, 35 ff., 48 f. - historischer 62 f. - s.a. Legitimation; Wille des Gesetzgebungsprozeß 119 f., 225 Gesetzgebungsverfahren 21 ff., 157 ff. gesetzliches Unrecht 37, 211 Gewaltenteilungsprinzip 6 ff., 12 ff., 52, 124, 250 ff., 321 Gewohnheitsrecht 5 Fn 1 - und Rechtsfortbildung 302, 322 ff. Gleichheit 100 ff., s. a. Ähnlichkeit
Induktion 113 ff. Interessenabwägung s. teleologische Auslegung Interpolation s. ergänzende Rechts fortbildung Interpretation s. Auslegung Irrtum des Gesetzgebers 236 ff. -
Eigenschafts- 238 f. Erklärungs- s. Redaktionsversehen Inhalts-237 f. Motiv- 231 ff. Rechts- 232 f.
Judiz s. Rechtsgefühl juristischer Syllogismus s. Syllogismus juristisches Denken 86 ff. Kategorischer Imperativ 76 Fn 29 Kluft - zwischen Lebenssachverhalt und Rechtsnorm 90 ff. - zwischen Sachverhaltsbeschreibung und Rechtsbegriffen 92, 136 Kodifikationsgesetz 283 f.
Sachverzeichnis
Kohärenz 171, 174 ff., 243, 282, 288, 319 - absolute 177 ff. - äußere 176 ff. - innere 174 ff. - relative 180 f. konkrete Nornnenkontrolle 246 ff. Korrektur des Gesetzes s. Gesetzeskorrektur Legaldefinition 134 lex posterior 274 lex specialis 274 Logik 101, 110 Logische Schluß formen 99 ff. Lücken 221 ff., 280 ff. - bewußte 281, 289
347
- als Kriterium der ergänzenden Rechtsfortbüdung 314 ff. - als teleologisches Auslegungskriterium 180 - und Gesetzeskorrektur 267 - und Gesetzgebung 306 niedrige Beweggründe 143 Nierenfaü 132, 147 ff. Norm s. Rechtsnorm Normativität der Gesetze 82 Normenkontroüe, konkrete 246 ff. Normkern und Normhof 23 f., 27 f.,
- normativer Lückenbegriff 222, 281 ff., 319
55, 147, 174 ff. Normspaltung 261 Normvarianten 167 Normwidersprüche 273 ff. - in Fäüen mit Auslandsberührung 275 ff. Normzweck s. Wüle des Gesetzgebers,
- phänomenologischer Lückenbegriff 221 f., 280 f. - Umsetzungslücken 260, 269, 282
Zweck des Gesetzes nulla poena sine lege s. Analogieverbot, Bestimmtheitsgebot
- Verfassungslücken 285 f. - s. a. ergänzende Rechtsfortbüdung materiellrechtliche Prinzipien s. Methodik Mehrheitswille des Volkes als Auslegungsmaßstab 42 ff. Methodenmißb rauch 192 Methodenwahl 192 ff., 316 f. Methodik - als Handwerkszeug 2 - Funktion 5 ff. - Relativität 2 f., 209 - und materieUrechtliche Prinzipien 15 ff., 293 ff. - und Verfassung 2 f. Mittelbegriff s. Syüogismus Natur der Sache 180, 314 ff.
Obersatz s. Syüogismus ordre public 202 Fn 21, 215, 219 Paktentheorie 158 Persönlichkeitsrechtsverletzungen 221 f., 235 f. petitio principn 110, 314 Pluralitätseinwand 47 Popper 114 ff. Präjudizien - als RechtsqueUe 322 ff. - Bindungswirkung 12 f., 322 f. - Verhaltenssteuerungsfunktion 12 f. Praktikabüität 182 f., 186 praktische Konkordanz 170, 184 f., 205, 275 Prinzipien - -koüision 170 f.
348
Sachverzeichnis
- Rechtsfortbildung auf der Grundlage allgemeiner Rechts- 311 ff. Prognoseentscheidungen 228 Fn 15 Prüfungsentscheidungen (Kontrolle) 78 f.
Restriktion s. Reduktion Richter - als Ersatzgesetzgeber 301 ff. - Auslegungskompetenz 26 f. - Befangenheit 75 f. - Eigenwertung 65 f., 164, 186
Radbruchsche Formel 37 Rangordnung der Auslegungsmethoden
- Entscheidungskompetenz 6 ff. - Entscheidungspflicht 31, 287
s. Methodenwahl ratio legis s. Zweck des Gesetzes Rechtsanwendung
- Loyalitätspflicht 56 ff. - Unabhängigkeit 8, 52 f.
- als Prozeß 3 Rechtsfolgenseite der Norm - Auslegungsbedürftigkeit 97 f. - Korrektur 260 f., 272 f. - und Tatbestandsseite 87 ff. Rechts fortbildung - contra legem 258, 290 f. - s. a. ergänzende Rechts fortbildung, Gesetzeskorrektur rechtsfreier Raum 283, 319 Rechtsgefühl 78 ff. Rechtsirrtum 16 ff., s. a. Verbotsirrtum Rechtsnorm - als Teil einer Regelung 149 f. - logische Struktur 87 ff. rechtspolitische Fehlwertung 79 f., 232 Rechtssatz s. Rechtsnorm Rechtssicherheit 182 f., 185 f., 244 Rechtsverweigerungsverbot 287 Redaktions versehen 237 Reduktion - teleologische 259 f., 261 ff., 269 f. - teleologisch erlaubte 262 ff. - teleologisch gebotene 261 ff. - verfassungskonforme 263 f. Regelungsentscheidung 120 ff., s. a. Wille des Gesetzgebers Regelungslücke s. Lücke Reine Rechtslehre (Kelsen) 27 Fn 31 Relativität der Methodik s. Methodik repräsentative Demokratie 44
- s.a. demokratische Legitimation Richterrecht s. Gewohnheitsrecht, Präjudizien Rücknahme rechtswidriger Verwaltungsakte 186 ff. Rückwirkung gerichtlicher Entscheidungen 16 ff. Rückwirkungsverbot 15 Sachverhalt - als Element des Tatbestandes 88, 95 - als Lebensvorgang und Aussage 92 - Sachverhaltselemente 93 ff. Sachverhaltsmenge s. Tatbestand v. Savigny 24 Fn 17, 129, 241, 262, 270 Fn 181 Schlußsatz s. conclusio Schuldprinzip 16 f., 313 f. Schweigen des Gesetzgebers 63 Sein und Sollen 91, 233 f. Fn 41 Sicherungsübereignung 290 f. Sittenwidrigkeit s. gute Sitten Sitzblockaden 20 Sprachgebrauch - juristischer 140, 146 - natürlicher 146 - Wörterbücher 140 Strafzumessung 98 Stromdiebstahl 284 f., 298 Strukturuntersuchung s. grammatische Auslegung Subsumtion 90 ff.
Sachverzeichnis
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Syllogismus 89 f., 95 ff., 113
Verbot der Rechts(schutz)verweigerung
- conclusio 89 f., 97
61,287 Verbotsirrtum 16 Verfassung
- Mittelbegriff 89 f. - Obersatz 89 f., 97, 113 - Untersatz 89 f., 95, 97 Synthese s. teleologische Auslegung System 114 systematische Auslegung 149 ff., 194 systematisierende Auslegung 150, 180 Fn 95 Tatbestand 88 - als Sachverhaltsmenge 88 - Tatbestandsmerkmale 88 f., 92 ff. teleologische Auslegung 160 ff., 195 ff. -
Analyse 166 ff. Interessenabwägung 181 ff. Interessenwertungskriterien 182 f. Kohärenz s. dort
- Rechtfertigung 161 ff. - Struktur 160 ff. - Synthese 166, 170 ff. - und lnteressenjurisprudenz 161 Fn 33 teleologische Extension s. Extension teleologische Modifikation 260, 272 f. teleologische Reduktion s. Reduktion telos s. Wille des Gesetzgebers, Zweck des Gesetzes textexterne Auslegung s. Auslegung textinterne Auslegung s. Auslegung Theorie, juristische - Falsifizierbarkeit 117 f. Topik 81 f., 183, 206 Umkehrschluß s. argumentum e contrario Umsetzungsfehler 125 f., 189 f., s. auch Irrtum des Gesetzgebers Umsetzungslücken s. Lücken Unbestimmter Rechtsbegriff 98, 135,
206 Untersatz s. Syüogismus
- Lücken 285 f. - Rahmenordnung 285 - und Methodik 2 f. Verfassungsauslegung s. Auslegung verfassungskonforme Auslegung s. Auslegung verfassungskonforme Reduktion s. Reduktion Verhaltenssteuerung s. Gesetz Vertrauensschutz 15 ff., 126, 254 Vorbehalt des Gesetzes 8, 245, 254, 293, 295 vorkonstitutioneüe Gesetze s. Auslegung Vorlagepflicht s. konkrete NormenkontroUe Vorrang des Gesetzes 8, 245 Vorurteü 74 ff. Vorverständnis 73 ff., 192 - Ergebnis-77 ff. - Norm-77 Wandel der Normsituation 64, 139, 233 ff., 239 ff. Wertbegriff 135 ff., 198 ff. Wert des Ergebnisses 24 Wertentscheidung 119, 121 ff. - als Grenze der ergänzenden Rechtsfortbüdung 288 ff. - als Maßstab der Gesetzeskorrektur 227 ff. - durch den Richter 186 - dynamisch verstandene 233 ff., 291 - irrtumsbereinigte 231 ff. - mutmaßliche 123 f., 160 ff., 172 ff., 231 - tatsächliche 121 ff., 231 - und Zweck des Gesetzes 165, 172 f.
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Sachverzeichnis
- s. a. Wille des Gesetzgebers Wertentscheidungsvarianten 167 ff. Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung
- tatsächlicher 153 f., 161
180, 274 f., 319 Wille des Gesetzes 30, 38 Wille des Gesetzgebers
Willensargument 46 f. Wortlaut - als Grenze der Auslegung 66 ff., 166
- als Auslegungsmaßstab 45 ff., 120 ff.
- als Mittel der Auslegung 21 ff., 120, 138 ff.
- als fingiertes Einheitsbewußtsein 46 ff. - als Grenze der Auslegung 68 f. - als Maßstab der ergänzenden Rechtsfortbüdung 298 ff. - dynamisch verstandener - 62 ff., 139 - mutmaßlicher 65 f.
- s. a. Regelungsentscheidung, Wertentscheidung
- eindeutiger 24 ff., 68 f. - mehrdeutiger 23 f., 131 ff. - s. a. Begriff Zirkelschluß s. circulus vitiosus Zweck des Gesetzes 38 ff., 165