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German Pages 702 Year 2013
Juristische Methodik Band I Grundlegung für die Arbeitsmethoden der Rechtspraxis
Von Friedrich Müller Ralph Christensen Elfte, auf neuestem Stand bearbeitete und erweiterte Auflage
A DUNCKER & HUMBLOT
FRIEDRICH MÜLLER / RALPH CHRISTENSEN
Juristische Methodik I
Juristische Methodik Band I Grundlegung für die Arbeitsmethoden der Rechtspraxis
Von
Friedrich Müller Ralph Christensen
Elfte, auf neuestem Stand bearbeitete und erweiterte Auflage
Duncker & Humblot · Berlin
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
1. Auflage 1971 2. Auflage 1976 3. Auflage 1989 4. Auflage 1990 5. Auflage 1993 6. Auflage 1995 7. Auflage 1997 8. Auflage 2002 (seither mit Ralph Christensen) 9. Auflage 2004 10. Auflage 2009
Alle Rechte vorbehalten © 2013 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISBN 978-3-428-14188-3 (Print) ISBN 978-3-428-54188-1 (E-Book) ISBN 978-3-428-84188-2 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 ∞
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Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort zur elften Auflage Die Neuauflage ist auf dem aktuellen Stand von Praxis und Wissenschaft, von Problemen und Lösungsvorschlägen. Die weiterhin höchst lebhafte Diskussion ist wieder eingearbeitet worden, sei es um Differenzen klarzustellen, sei es um Synergien zu unterstützen. Das betrifft zum Beispiel alte und immer wieder in Frage stehende Themen wie ‚Wortlautgrenze‘ und ‚Richterrecht‘ als Fragen rechtsstaatlicher Gesetzesbindung, die Eigenart der Formvorschriften und der durch Zahlen bestimmten Normtexte, wie Grundlagen und Technik gerichtlicher Abwägung, wie Realitätswandel und Normwandel, die Rolle von Ethik im Recht, Maßstäbe für die Vertretbarkeit juristischer Entscheidungen, und eine neu formulierte dreifache Struktur der Legitimation im demokratischen Rechtsstaat. Ein besonderer Nachdruck liegt wieder auf Verarbeitung und Würdigung neuerer und neuester Judikatur aus der Spruchtätigkeit des Bundesverfassungsgerichts, von Verwaltungsgerichten und des Bundesverwaltungsgerichts, weiterer Oberster Gerichtshöfe des Bundes sowie des Europäischen Gerichtshofs – wie beispielsweise zu Kirchensteuer und islamischem Schulgebet, zu Meinungs- und Pressefreiheit, zur informationellen Selbstbestimmung und zum Beamtenstreikrecht, zu Passivraucherschutz und neuen Formen von Lebenspartnerschaft, ferner etwa das Fraport-Judikat, die Urteile zum Lissabonner Reformvertrag, zu Stabilisierungsmechanismus und europäischem Rettungsschirm. Mit diesem Schwerpunkt kehrt das Buch nicht einfach zu seinen Ursprüngen zurück, denn es hatte sie nie verlassen. Das, was die Praxis tut, was im lebenden Recht tatsächlich vor sich geht, war von Anfang an die leitende Fragestellung gewesen. Ihr galten und gelten die sorgfältig entwickelten Vorschläge, wie die Praxis durch klarer strukturierte Begriffe und Hilfsmittel reflektierend erhellt und wie sie daraus für ihre tägliche Arbeit angeregt werden kann. Heidelberg, Juni 2013
F. M.
Vorwort zur zehnten Auflage I Die „Juristische Methodik“ wurde in ihrer ersten Fassung vor vierzig Jahren geschrieben. Bücher haben nicht nur Schicksale, manche haben auch eine Geschichte. Dieses Buch gehört wohl zu ihnen. Wer das nicht bedenkt, kann den Abstand zwischen der aktuellen Methodendebatte und jener bis zu den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts nicht ermessen. Heute erscheint vielfach als Gemeingut1, was doch erst als Ergebnis jahrzehntelangen Bodengewinnens in schwierigem Gelände, im Dickicht gegenläufiger Traditionen inzwischen klar geworden ist – dank der Wirkung nicht zuletzt auch dieses Buchs: Überwindung des abstrakten Gegensatzes von „Sein und Sollen“; Hervorbringen der Rechtsnorm erst in der Praxis der Fallentscheidung; die Einsicht, dass Sachfaktoren diese Rechtsnorm mitbegründen; Normativität als Arbeitsvorgang statt als Eigenschaft von Gesetzestexten; Arbeitsteilung zwischen einer grundlegenden Methodik (wie sie hier entwickelt wird) und zusätzlichen Methodiken der einzelnen Rechtsgebiete; institutionell geprägte Rechtsarbeit; realistische Fassung des Begriffs „Geltung“; argumentative Vertretbarkeit statt der einzigen Wahrheit oder Richtigkeit der Lösung; und mehr. II Das Theoriegebäude nicht nur dieser Methodik, sondern der Strukturierenden Rechtslehre im Ganzen kommt aus der Beobachtung, aus fortlaufender Analyse der Rechtspraxis, und es mündet in sie zurück. Das gilt, als Beispiel, sogar für so fundamentale Themen wie Zeit und Ethik. Sie werden hier nicht im akademisch abstrahierenden Stil („Recht und Zeit“, „Recht und Ethik“, „Zeit und Verfassung“, „Politik und Recht“) abgehandelt. Vielmehr zeigt sich die radikale Orientierung an Praxis an ihrer Immanenz: darin, dass sie unausdrücklich erfasst werden, dass sie von Anfang an integriert und operational gemacht sind – so beim Recht auf Methodengleichheit, bei der Methodenehrlichkeit als einem Maßstab für praktische Rechtsarbeit oder beim Entwickeln von Normativität und Konkretisierung im Sinn von (begrifflich strukturierbaren) zeitlichen Vorgängen. Auch Politik (im Sinn von: auf die Polis 1 Das gilt auch für inzwischen nach der Art von Gemeingut gebrauchte einzelne Begriffe, die hier, sei es als Neologismen eingeführt, sei es von der Tradition abweichend expliziert, verwendet werden, wie „Normtext“, „Normprogramm“, „Normbereich“, Konkretisierung“, „Rechtsnorm / Entscheidungsnorm“, „Rechtsarbeit / Rechtsarbeiter“, „methodenbezogene Normen“, „Grundrecht auf Methodengleichheit“ und andere.
Vorwort zur zehnten Auflage
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bezogen, für die Republik der Citoyens erheblich) ist dieser Rechtslehre und ihrer Methodik stets schon immanent. Deshalb liegt hier einmal mehr das Schwergewicht auf den neu hinzugekommenen Teilen, die unmittelbar praktisch wichtig und umstritten sind (wie in der Vorauflage z. B. das Bestimmtheitsgebot, die Formen und Grenzen der Analogie, die noch genauere Fassung der Canones): so unter anderem neue Gesichtspunkte zur systematischen Interpretation (vertikaler → horizontaler Holismus); die Frage der grundrechtlichen Drittwirkung im Zivilrecht in Zusammenhang mit „Abwägung“ und „Einheit der Rechtsordnung“; der Unterschied von Sachbereich und Normbereich am Verfassungsbegriff der „Investition“ vor dem Hintergrund des eingeleiteten nationalökonomischen Paradigmenwechsels vom Monetarismus zum Keynesianismus, beobachtet an der Rechtsprechung; die Unvereinbarkeit der hier vorliegenden Rechtslehre und Methodik mit allen Formen von spontanen Stand- und Ausnahmegerichten und jeder Art von Selbstjustiz. Das hinderte nicht daran, auch die Antwort auf zahlreiche Grundlagenfragen weiter anzureichern: zur intensivierten sprachtheoretischen Begründung der Konzeption der Normstruktur (Hermeneutik, analytische und postanalytische Philosophie); zur Adressatendifferenz („Klarheit“ und „Wahrheit“ der gesetzlichen Normtexte gegenüber den Rechtslaien); weiter vorangetriebene Klärungen zu „Sein und Sollen“; zur „Bedeutung“ rechtlicher Ausdrücke im Rahmen von Ganzheitskonzepten; vertiefte Kritik am Dezisionismus bezüglich des Grundproblems „Recht“ / „Rechtsnorm“ / „Entscheidungsnorm“; weitere Demontage des Credos von der einzig richtigen Lösung des rechtlichen Streitfalls; das Überschreiten des Gegensatzes von Realismus und Konstruktivismus durch den Nachweis der Ko-Konstitution sprachlicher und nicht-sprachlicher Faktoren in der Rechtsarbeit; ferner Ergänzungen etwa zu: Metasprache und Objektsprache; semantischer Kampf; Rechts„prinzipien“; Formen von „Definition“ im Recht; die Stellungnahme der strukturierenden Methodik zur Arbeitsweise der Topik. Diese zuletzt genannte Auseinandersetzung wird dadurch vertieft, dass die – in der hier entwickelten Sicht – unpolitische (d. h. zu wenig auf die konkrete Verfasstheit der „Polis“ eingehende) Haltung der Topik gezeigt wird – deutlich beim Vernachlässigen der rechtsstaatlich und demokratisch begründeten Sonderstellung des Normtexts unter den „Topoi“. Daneben wurde das Buch wieder an ungezählten Stellen überarbeitet, in Dokumentation und Argumentation erweitert – mit Blick auf Anstöße aus der nach wie vor sehr umfangreichen Literatur und auf analytisch aus der Rechtsprechung herausgefilterte neue Gesichtspunkte. Die juristische Methodologie ist seit der Erstauflage dieses Buchs – so wie seit „Recht – Sprache – Gewalt“2 auch die Rechtslinguistik – ein vor Vitalität vibrierender, sich rasch ausweitender Forschungszweig geworden. 2 Erschienen 1975; 2008 in 2., stark erweiterter Auflage. – Dasselbe wird in Bezug auf Band II dieses Buchs (Europarecht) beobachtet: Gemäß der Feststellung von Görlich (in: Comparativ 18 (2008), S. 125) „nahm nach der Erstauflage dieses Müller / Christensen seit 2003 die Zahl der Studien zur Methodik des Europarechts in auffälliger Weise zu“.
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Vorwort zur zehnten Auflage
III Das Vorhaben einer Juristischen Methodik ist komplex. Es muss auch Grundlagen- und Nachbardisziplinen verarbeiten – auf heutiger Anspruchshöhe der Humanwissenschaften und zugleich mit Blick auf die internationale Debatte. Es muss viel an Theorie einbeziehen, um diese dann mit den Bedingungen der alltäglichen Rechtsarbeit vermitteln zu können. Es ist ein durch Theorie hindurch gehendes Buch für juristische Praxis. Dem entsprechen seine Aufgaben: Es bietet keinen aufzählenden Literaturbericht und auch kein Forum für primär akademische Auseinandersetzung. Es hat vielmehr die Funktionen des Lehrbuchs, des Forschungstexts und nicht zuletzt des Nachschlagewerks – durch hoch entwickelte technische Erschließbarkeit erleichtert. Sein sachlicher Schwerpunkt liegt auf der gedeuteten, umgesetzten, theoretisch möglichst klar erläuterten Praxis der Rechtswelt. Dem entsprechend ist seine Übernahme durch die Praxis bisher stärker ausgeprägt als durch die nicht selten noch verschreckt reagierende akademische Diskussion, jedenfalls im deutschen Sprachraum. Gegenüber kleinmütigen Bedenken letztlich immer „Recht behalten“ zu wollen, ist nie ein Ziel dieses Vorhabens gewesen. Es handelt sich darum, den tatsächlichen Problemen gewachsen zu sein; und das ist ein gemeinsames Ziel all derer, die am Recht arbeiten.
IV In Reaktionen auf die Vorauflagen wurde angemerkt, es handele sich hier, trotz des ursprünglichen Ansatzes bei der Verfassungsjudikatur, inzwischen doch weit eher um eine „allgemeine Methodik“. Diese Beobachtung trifft zu. Dem entsprechend beziehen sich die Analysen der Rechtspraxis auch diesmal wieder neben der genannten vor allem auf die des Bundesgerichtshofs und des Europäischen Gerichtshofs sowie auf die verschiedenen Stufen der Verwaltungsgerichtsbarkeit. Auf dem alle praktischen Rechtsgebiete verbindenden Sockel methodologischer Grundlegung durch dieses Buch können regionale Methodiken mit den weiteren Besonderheiten der zivil-, straf- und europarechtlichen3 Arbeitsweisen aufbauen. Das ist die Position dieses Ansatzes seit der ersten Auflage 1971 gewesen. Es ist dieser gemeinsame Sockel, es ist die Grundausstattung des Instrumentariums für die Normkonkretisierung in allen dogmatischen Rechtsbereichen, die das vorliegende Buch in überarbeiteter und vielfach ergänzter Form, um wichtige praktische Themen erweitert und auf neuestem Stand von Wissenschaft und Praxis bietet. Heidelberg, Frühjahr 2009
F. M.
3 Vgl. F. Müller / R. Christensen, Juristische Methodik, Band II: Europarecht, 3. Auflage 2012.
Vorwort zur neunten Auflage Für die Neuausgabe wurden Darstellung und Argumentation vielfältig vertieft, präzisiert und inhaltlich angereichert. Die deutschsprachige und ausgewählte internationale Literatur zu Methodenfragen ist ebenso einbezogen wie methodologisch bedeutsame neueste höchstrichterliche Rechtsprechung. Zu den Erweiterungen gehören beispielsweise die Diskussion von „Gesetz und Recht“, an welche gemäß Art. 20 Abs. 3 GG „die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung … gebunden“ sind; das Erörtern von „Gerechtigkeit“ als Problemhorizont für die praktische Rechtsarbeit statt als scheinbar vorgegebener Deduktionsgrundlage; zählen auch die Reflexion auf das Bestimmtheitsgebot für Gesetze und andere formelle Rechtsakte vor dem Hintergrund der unumgänglichen Mehrdeutigkeit der natürlichen (Rechts-)Sprache; ein weiteres Klären der verschiedenen Schichten des Vorverständnisses, da für die Arbeit der Praxis neben dem intuitiven und dem fachspezifischen besonders auch das institutionelle Vorverständnis zu beobachten sich lohnt; ferner ein stärkeres Eingehen auf die hier von Anfang an entwickelte Position, daß es in der Regel illusionär bleibt, „die einzig richtige“ Entscheidung eines Falls zu behaupten. Vielmehr ergeben sich typischerweise mehr als nur eine an vertretbaren Optionen – das Institut der verfassungskonformen Auslegung beruht geradezu auf dieser Tatsache. Gesichtspunkte für das Beurteilen der verschiedenen Vertretbarkeiten und für die Präferenz zwischen ihnen auszuarbeiten, gehört zu den Aufgaben einer juristischen Methodik. In anderen Zusammenhängen wird die Figur der Analogie im Rahmen des vorliegenden Konzepts verortet, eingehend untersucht und neu formuliert: durch eine rationalere Rekonstruktion des Ausgangsbegriffs der „Lücke“ (die sich nicht „aus der Sache selbst“ ergibt, sondern vom juristischen Praktiker konstruiert wird) sowie ein sorgfältiges Abstufen der möglichen Analogiegründe anhand einzelner Konkretisierungselemente (z. B. Wertungslücke, rechtspolitische Argumente) und durch die Analyse des Risikos der so genannten Gesamtanalogie. Anhand der Judikatur der Gerichte und gestützt auf die positiven Leistungen heutiger Linguistik für die Welt des Rechts werden ferner die wichtigsten Canones neu aufgegriffen und noch besser verwendbar gemacht, so etwa zur Rolle von Prototypen und Stereotypen, zum Übergang von der semantischen zur pragmatischen Version von „Wörtlichkeit“ (z. B. „Bedeutung“, „Klarheit“, „Vagheit“, „Mehrdeutigkeit“) und zur argumentativen Schlichtung von Sprachnormkonflikten im Rahmen der grammatischen, der genetischen und der historischen Konkretisierung; auch wird die Architektur der verschiedenen Formen systematischer Interpretation weiter differenziert (die Systematik der Entscheidungen neben bzw. zum Teil an
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Vorwort zur neunten Auflage
Stelle jener des Gesetzes, anders gesagt der Übergang von einer Systematik erster zu einer solchen zweiter Ordnung). All diese Neuerungen kommen den verschiedenen Funktionen des vorliegenden Buchs für die juristische Praxis, für die wissenschaftliche Forschung und die akademische Lehre zugute. März 2004
F. M.
Vorwort zur achten Auflage I Diese juristische Methodik hat sich von Anfang an zu Realismus und Pragmatismus verpflichtet: zu Antworten auf die Frage, was beim Funktionieren einer Rechtsordnung tatsächlich vor sich geht, bei der rechtsstaatlich korrekten und demokratisch pflichtgemäßen Rechtsarbeit. Und zu dem Bemühen, die Anforderungen an Rechtsarbeit nicht zu überspannen; die Grenzen dessen einzuhalten, was die natürliche (Rechts-)Sprache leisten kann. Die Standards sind nicht auf ein fiktives Maximum hin zu steigern, sondern auf ihr Optimum hin zu entfalten. Folgen dieses nicht-spekulativen Ansatzes sind einmal, daß – ohne langwierige Auseinandersetzungen – eine Reihe seiner Ergebnisse in der Rechtsprechung auf weniger Vorurteile stoßen als in der akademischen Debatte; und zum andern, daß – oft ohne nähere Hinweise – wichtige Aspekte dessen, was dieses Konzept seit einem Dritteljahrhundert ausgearbeitet hat, mehr oder weniger diffus zu Gemeingut geworden sind: so die Abkehr von der Idee einer Einheitsmethodik und die Wendung zu Methodiken der großen Teilrechtsgebiete auf einem tragfähig ausgearbeiteten gemeinsamen Sockel; der Gedanke der Rechtsarbeit als institutioneller Arbeit mit Texten statt als geisteswissenschaftlichen „Verstehens“; das Überwinden der traditionellen Spaltung in „Sein“ und „Sollen“; die praktische Einsicht, daß die Sprachelemente zur Konkretisierung nicht ausreichen und daß die Sachgesichtspunkte nicht nur irgendwie zum Entscheidungsprozeß gehören, sondern mit-normativ wirken; eine neue Sicht auf die Rechtsnorm als das generalisierbare Ergebnis der konkreten Entscheidung und nicht als eine in der Kodifikation schon vorgegebene, nur noch „anzuwendende“ Regel; also die inzwischen schon außerhalb der Jurisprudenz (z. B. bei Luhmann, Derrida) ‚ankommende‘ Einsicht, daß Normativität keine den Gesetzestexten schon innewohnende Eigenschaft sein kann, sondern in einem realen Arbeitsvorgang herzustellen ist; die unmittelbare Wichtigkeit in die Konkretisierung hinein wirkender methodenrelevanter Verfassungsvorschriften; oder noch als weiteres Beispiel der Gedanke, daß „die einzig richtige“ punktgenaue Entscheidung des Rechtsfalls kein sinnvolles Konzept darstellt. Vielmehr eröffnet rechtsstaatliche Arbeit in aller Regel den Raum für konkurrierende (Sprach-)Bedeutungen und damit für mehr als nur eine vertretbare Entscheidung. Diese darf nicht willkürlich sein, muß überzeugend begründet werden können; und zwar nicht nur auf einen bloßen Ergebniskonsens (allein der Tenor), sondern auf einen Arbeitskonsens hin (einschließlich des Arbeitsvorgangs und seiner Argumente, kurz: Tenor plus Gründe).
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Vorwort zur achten Auflage
Auch der theoretische Ausgangspunkt „Rechtsnorm ist ungleich Normtext“ heißt nicht, so sei es im Sinn einer objektiven ontischen Richtigkeit; so, als seien andere Positionen nicht auch vertretbar. Sie sind es; aber hier wird begründet, warum es sinnvoller erscheint, „normativ“ erst einen Text zu nennen, der aus dem Abarbeiten der Gesetzestexte an einem tatsächlichen Fall hervorgegangen ist. Hier ist das rechtliche Potential an Steuerung dann hinreichend verdichtet, ist deutlich stärker in casu; läßt es plausibel erscheinen, von der traditionellen lex ante casum Abschied zu nehmen. II Auf der Linie dieser Ziele wurde in der Neuauflage an zahlreichen Einzelfragen dieser Theorie der Praxis weiter gearbeitet: beispielsweise das noch schärfere Hervorheben des juristischen Charakters von Rechtshandeln gegenüber gängigen „Übertragungen“ aus anderen Wissenschaftsdisziplinen; eine genauere Fassung des in der Diskussion oft noch zu vagen Begriffs „Vorverständnis“; eine realistische Sicht auf das, was die „Bedeutung“ rechtlicher Begriffe und Entscheidungen heißen kann; die Rolle von „Klarheit“ und „Bestimmbarkeit“ in der Textstruktur des Rechtsstaats; die Tatsache der Polyfunktionalität der Gesetzestexte (die sich an alle Laien und zugleich speziell an die Fachjuristen richten). Auch wird, provoziert durch die Neuen Medien, gefragt, was „Virtualität“ im Recht heißen könnte. Wie in den Vorauflagen wurden die methodologisch besonders wichtige Rechtsprechung und die vielfältige Literatur auf heutigem Stand differenziert einbezogen; die Rolle der Praxis und ihrer Analyse hat sich im Rahmen dieses Buchs weiter verstärkt. Als umfangreichste systematische Neuheit kennzeichnet diese achte Bearbeitung das Hinzufügen der Methodik des Europarechts; dies führte ferner dazu, auch die Methodik des nationalen Rechts anzureichern, und zwar um das Konkretisierungselement der gemeinschaftsrechts-konformen Interpretation in der Judikatur des Bundesverwaltungs- und des Bundesarbeitsgerichts sowie des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen. Die europäische supranationale Rechtsordnung bildet nicht nur, sondern dominiert einen wachsenden Anteil der nationalen. Das Gemeinschaftsrecht hat Vorrang, auch vor dem Grundgesetz; die überlieferte Normenhierarchie hat sich ‚nach oben hin‘ erweitert. Eine der Realität und den täglichen Problemen der Praxis verpflichtete Methodik muß das Recht der Europäischen Gemeinschaft mit derselben Sorgfalt einarbeiten wie das nationale Recht. Dies geschieht in einem gesonderten Teilband II auf der Grundlage des hier entwickelten Konzepts und im Rahmen seiner methodologischen Begrifflichkeit.
Vorwort zur achten Auflage
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III Der altliberale formale Rechtsstaat („Herrschaft des Gesetzes“) mit seiner positivistischen Methodik („Auffinden“ der präexistenten Norm und ihre „Anwendung“) wird heutiger gesellschaftlicher Wirklichkeit schon seit langem nicht mehr gerecht (z. B. wachsende Staatstätigkeit, begrenzte Steuerungschancen für Gesetze, erhöhte Anforderungen an die Gerichte). Einerseits gelten die überlieferten Rechtsstaatsgebote normativ fort, andererseits zeigen auch Sprach- und Sozialwissenschaften, daß der traditionelle juristische Normbegriff nicht mehr haltbar ist. Mitte der sechziger Jahre sah sich die Strukturierende Rechtslehre vor dieser widersprüchlichen Lage; in Antwort auf diese wurde anstelle des alten Paradigmas von „Finden“, „Erkennen“ und Rechtfertigen des angeblich vorgegebenen Rechts dasjenige einer progressiv erfolgenden Rechtserzeugung und der Reflexion auf sie ausgearbeitet. Man mußte, anders gesagt, „den Rechtsstaatsgedanken von der zu einfachen Vorstellung bloßer Rechtsanwendung ablösen, das legalistische Rechtsstaatsverständnis verabschieden und als sprachreflexives Rechtsstaatsverständnis reformulieren“1. Der (sprach)reflexive Begriff des Rechtsstaats kann in der Tat als verfassungstheoretische Kurzformel diesen Teil des strukturierenden Konzepts zusammenfassen. Dem entspricht, für die Methodik, statt des logifizierten Systems von „Methoden der Anwendung“ seit dem ersten Erscheinen des vorliegenden Buchs ein intern bewegliches Ensemble von Elementen der Normkonstruktion: weder „Chaos“ noch „Willkür“, wie das alte Denken allzu gerne argwöhnt, sondern einleuchtende Argumentation, sequenzielle Rationalität. Diese führt kaum jemals zur „einzig richtigen Entscheidung“, sondern (in Tenor und / oder Gründen) zu mehr als nur einer vertretbaren. Und wann kann eine Entscheidung „vertretbar“ heißen? Sie ist es dann, wenn alle fallnotwendigen Sprachdaten und Realdaten einbezogen sind, wenn diese methodisch genau und nachvollziehbar verarbeitet werden und wenn Ergebnis und Gründe dabei folgerichtig bleiben; und wenn ferner die einschlägigen methodenrelevanten Vorschriften eingehalten wurden und der Methodengleichheit Genüge getan ist. Januar 2002
F. M.
1 Christensen Xl, S. 10; zu diesem Zusammenhang ebd. S. 7 ff. – Metaphorisch läßt das an jene Gebilde denken, die in der bildenden Kunst seit Alexander Calder „Mobile“ heißen: die Zahl der Elemente ist nicht beliebig, aber ergänzbar; sie sind fest aufgehängt, aber nicht starr; sie sind als einzelne deutlich explizierbar, aber ständig in (begrenzter) Bewegung; sie gruppieren sich zu neuen Konstellationen und lassen sich nicht wie ein Still-Leben (eine nature morte) fixieren.
Vorwort zur siebten Auflage Die vorliegende Ausgabe wurde mit Blick auf hier wichtige neue Rechtsprechung und Literatur (auf dem Stand von Anfang 1997) durchgehend bearbeitet; dabei ist das Material nicht zuletzt in Richtung der Verwaltungsjustiz erweitert worden. Ferner wurde sie sachlich ergänzt: so weist sie jetzt auf Objektsprache und Metasprache in der Gesetzgebung hin, differenziert weiter im Rahmen der systematischen Interpretation oder untersucht die verschiedenen Spielarten des legislatorischen Phänomens der „Programmsätze“. Als aufschlußreich erwiesen sich auch jüngste Beispiele einer Änderung höchstrichterlicher Judikatur vor dem Hintergrund des über die Rechtskraft hinaus weiterlaufenden juristischen Diskurses; vor allem dann, wenn sich die tatsächlichen Gegebenheiten (der Sachbereich) inzwischen geändert haben. In diesem Zusammenhang können primär diskursive von sekundär diskursiven Vorgängen unterschieden werden. Der Text des Buches wurde auf Randnummern umgestellt und so für Leser und Benutzer technisch noch leichter zugänglich gemacht. Neben diese erneute Bearbeitung treten Erweiterungen von größerem Umfang: In der unverändert aktuellen Frage der „Wortlautgrenze“ werden Parallelen zu den „Grenzen der Interpretation“ in vergleichbaren Wissenschaften gezogen. Die in der Vorauflage eingeführten Handlungsformen „Verstehen“, „Interpretieren“ und „Arbeit mit Texten“ werden jetzt mit den Situationstypen „störungsfreie Kommunikation“, „Kommunikationskrise“ und „semantischer Kampf in der rechtsförmlichen Konfliktbearbeitung“ näher verbunden. Das praktisch ebenso wie theoretisch weiterführende Konzept der Textstruktur und das der rechtsstaatlichen Gewaltenteilung als Unterscheidung, Verteilung und Kontrolle von Textkompetenzen werden vertieft. Schließlich wird die Analyse der tatsächlichen Rolle der Gesetzesvorschriften je nach Adressatenkreis fortgeführt: informell verbindliche Verhaltensdirektiven für alle Teilnehmer am Rechtsverkehr – formell verpflichtendes Eingangsdatum der Rechtsarbeit für die entscheidungsbefugten Juristen. Dabei bestätigt sich die rechtstheoretisch wie auch methodenpraktisch zentrale Unterscheidung von „Geltung“ (des Textformulars im Gesetzbuch) und „Normativität“ (der Textbedeutung am Ende des einzelnen Konkretisierungsvorgangs in der Praxis). Größere Abschnitte (von Ralph Christensen) widmen sich ferner der wieder auflebenden Diskussion um Gerechtigkeit und deren Rolle als angeblicher Deduktionsbasis für Gerichtsentscheidungen sowie der linguistisch sinnvollen wie methodologisch klärenden Unterscheidung von Geltung, Bedeutsamkeit und Bedeutung gesetzlicher Wortlaute. Auch wird (im Abschnitt „Bestimmbarkeit der Rechtsnorm statt Bestimmtheit des Normtextes“) das für die Praxis nach wie vor dornige Pro-
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blem der Bestimmtheit juristischer Ausdrücke und Argumente im Anschluß an die postanalytische Diskussion präzisiert; das schlägt zugleich eine Brücke zur heutigen nordamerikanischen Rechts- und Sprachphilosophie. März 1997
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Vorwort zur sechsten Auflage Die Neuausgabe wurde durchgehend überarbeitet. Auf neuestem Stand (Anfang 1995) sind methodologisch wichtige Rechtsprechung und Literatur aufgenommen. Der Ansatz des Buchs blieb beibehalten, ist jetzt aber mehrfach erweitert und fortentwickelt. So wird das Konzept eingeführt, das grundsätzlich zwischen „Verstehen“, „Interpretieren“ und „Arbeit mit Texten“ unterscheidet. In der Praxis der Rechtswelt kennzeichnet im vollen Sinn nur die zuletzt genannte – über hermeneutisch intuitives Textverständnis wie über auslegendes Verständlich-Machen hinaus – die komplexen Bedingungen und Aufgaben juristischer Entscheidung. Diese ist Arbeit mit institutionellen (Norm-)Texten im Rahmen staatlicher Einrichtungen und ihrer Funktionsimperative. Dieses neu vorgestellte Konzept wird in der Folge zwischen den Spannungspolen „Normtext – Legitimität – Spiel der Differenzen“ mit der Herausforderung durch Aspekte der dekonstruktivistischen Sprachphilosophie konfrontiert. In diesen Zusammenhang gehört auch eine vertiefte Reflexion der durch den Staat vermittelten Gewalt sowie des Status des juristischen Diskurses und überhaupt der Sprachlichkeit, Textualität und Schriftlichkeit des Rechtshandelns und der dieses ständig durchziehenden semantischen Kämpfe. Ferner werden im einzelnen Probleme der Geltung der gesetzlichen Vorschriften gegenüber der (juristisch nicht fachkundigen) Allgemeinheit der Rechtsbetroffenen etwas stärker berücksichtigt ; wird die Eigenart der Normkonkretisierung als Entscheidungsarbeit und deren Charakter als Pragmatik juristischer Text-Handlungen klarer herausgehoben; wird die Differenz zwischen Normtext, Rechtsnorm und Entscheidungsnorm unter Gesichtspunkten der Legitimität weiter entfaltet und das den juristischen Alltag erheblich prägende Phänomen der „herrschenden Meinung“ näher befragt. Ein abschließendes Zusatzkapitel stellt die rechtspolitische Stellung und Wirkung juristischer Methodik vor; es diskutiert einige metamethodologische Anstöße des vorliegenden Konzepts am Beispiel zweier Denkschulen (Moralphilosophie, Kritischer Rationalismus) und wirft weiterführende Fragen zur Rolle von Konsens und Maßstäblichkeit in der täglichen Praxis der juristischen Methodik auf. Februar 1995
F. M.
Vorwort zur fünften Auflage I Die fünfte Ausgabe bietet den Text der Vorauflage in einer auf neuestem Stand (Anfang 1993) von Rechtsprechung und wissenschaftlicher Diskussion neu bearbeiteten und ergänzten Fassung. Auch diesmal ging es nicht um einen allgemeinen Literaturbericht, sondern um Aufnahme und Auseinandersetzung im präzisen Sinn der hier behandelten Fragen und Vorschläge. Das Konzept der hier vorgestellten Methodik ist in der lebhaften Diskussion, die ihm gewidmet wird, nicht in Frage gestellt worden1. Vielleicht hängt das zu einem Teil damit zusammen, daß auch die neueren Methodenlehren noch überwiegend vom Zivilrecht herkommen und die Strukturierende Methodik nicht in ihr Einzugsgebiet rechnen. Die hier vertretene These einer Pluralität der Methodiken der großen dogmatischen Rechtsgebiete könnte von dieser Entwicklung bestätigt werden. Abgesehen davon, daß wichtige Punkte in Auseinandersetzung mit der Literatur zu klären oder richtigzustellen waren, gab es für eine Wiedergabe der breiten methodologischen Diskussion im deutschen Sprachraum daher keinen Anlaß. Das hätte den auf Forschung ausgerichteten, den monographischen Charakter dieser Schrift in Richtung auf einen Literaturbericht verändert; dem Vorankommen auf dem Weg zu einer Theorie der Praxis wäre damit kaum gedient. Auf der anderen Seite war der Text der Vorauflagen eben mit Blick auf ein solches Vorankommen der Rechts(norm)theorie, der Theorie der Dogmatik sowie der Verfassungslehre inzwischen vielfältiger Ergänzung und Präzisierung bedürftig geworden. So wurden seit der 4. Auflage Grundfragen wie die nach Normativität und Geltung des Rechts auf neue Weise aufgerollt, Erscheinungen wie Generalklauseln und Richterrecht (das nicht Gewohnheitsrecht ist) anders als in der Tradition gedeutet. „Konkretisierung“ wird aus der Vagheit des bisher üblichen Begriffsgebrauchs gelöst und als Rechtsnormkonstruktion gefaßt. Linguistische Grund- und Vorfragen der Rechtsmethodik wurden, bei aller gebotenen Kürze, nunmehr durchweg intensiver erörtert, was angesichts der Nonchalance, mit der Positionen der Linguistik in 1 Eine Ausnahme macht Kriele I, dessen Angriffe von dem Fehlverständnis herrühren, die Strukturierende Methodik sei ein „Rechenspiel“, eine „Technik des algorithmischen Rechnens mit methodischen Regeln“, S. 317; ferner sei die Judikatur, aus deren Analyse die strukturierende Rechtslehre und Methodik doch entwickelt wurden und deren Aufarbeitung sie ständig begleitet, angeblich ignoriert, S. 324. Sich mit dieser Attacke auseinanderzusetzen müßte heißen, um ausreichend genaue Lektüre zu bitten. – Auf Krieles Spuren polemisiert Haverkate II, v. a. S. 139 ff.
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der juristischen Argumentationslehre oft exekutiert werden, nicht überflüssig ist. So sind unter anderem neue Einsichten der Sprachwissenschaft zu Problemen von Zeichenwert, Bedeutung, Sprachspiel und semantischer Praxis im Rahmen der im Recht allgegenwärtigen Wort- und Begriffskämpfe eingeführt. Die heikle Streitfrage einer Wortlautgrenze zulässiger Interpretation findet jetzt eine Antwort. Die methodische Figur der „Einheit der Verfassung“ ist neu untersucht und in ihrem praktischen Stellenwert aufgrund einer Analyse der Rechtsprechung abweichend bestimmt worden. Die Strukturierende Methodik tragende Grundbegriffe wie zum Beispiel Normtext, Sach-, Fall- und Normbereich, Rechtsnorm und Entscheidungsnorm wurden fortgeschrieben, klar abgegrenzt und in den praktischen Arbeitsvorgängen realistisch verortet. Veranschaulicht wird der komplexe Vorgang der für Juristen alltäglichen Normkonkretisierung – vom Positivismus als „Subsumtion“ verkürzend und auch fehlerhaft vereinfacht – durch ein graphisches Modell (S. 172).
II Auch in Einzelheiten wird dem hier entwickelten Konzept wenig widersprochen. Öfter als Widerspruch, der ein Eingehen auf die Probleme und eigene, möglichst bessere Argumente braucht, also anspruchsvoll ist, findet sich Ablehnung. Sie bleibt pauschal, geht auf die Gegenstände einer Methodologie und ihre Einzelfragen nicht ein und (ver-)urteilt statt dessen vom hohen Roß außermethodologischer, ja außerjuristischer Wissensgebiete herab: so von den Feldherrnhügeln ‚des‘ (unangemessen dogmatisierten) Falsifikationismus, der Systemtheorie, der Diskursethik oder ‚der‘ Moralphilosophie. Dabei geht es nicht um Interdisziplinarität. Deren Notwendigkeit begründet die hier vorgelegte Konzeption seit jeher; deren praktische Möglichkeiten und Schwierigkeiten beschäftigen, über diese „Juristische Methodik“ hinaus, schon immer die Überlegungen und Vorschläge in den einzelnen Teilen der Strukturierenden Rechtslehre (Dogmatik, Methodik, Rechts- und Verfassungstheorie). Das vorliegende Buch widmet sich den Fragen, die ich zu den Aufgaben einer Rechtsmethodik rechne (vgl. etwa die Abschnitte 0 und 1), mit dem praktischen Ziel, allen Juristen zuzuarbeiten, die bereit sind, die Normen und Postulate von Demokratie und Rechtsstaat in ihrem professionellen Handeln ernst zu nehmen. Weiterführende wissenschaftliche Probleme behandeln, im Sinn einer Arbeitsteilung2, die über juristische Methodik hinausgehenden Studien3. Im Rahmen dieser Schriften sind grundsätzliche Themen des Verhältnisses der Jurisprudenz zum Ensemble der Wissen-
2 Diese ist z. B. in Müller XIX, S. 431 ff., im einzelnen ebd., S. 225 ff., 274 ff., 314 ff.; für die Dogmatik: ebd., S. 381 ff., erläutert. 3 Etwa unten 6, Müller III, X, XII, XIV, XVI, XVIII, XIX, XXI, XXII, XXIV, XXVI; sowie z. B. Christensen I, IV, V, VI, VII; Jeand’Heur II, III, IV; Busse I, II, III; Wimmer-Christensen.
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schaften wie auch wichtige Einzelfragen (Recht und / als Sprache, Grenzen des Rechts im Politischen System, Funktionalisierbarkeit des Rechtsstaats, Realisierungsbedingungen juristischer Methodik, und zahlreiche andere) seit langem erheblich eingehender diskutiert, als es die Verfasser von Ablehnungs„diskursen“ bisher rezipiert zu haben scheinen. Eilfertige Verdikte müssen sich also nicht nur fragen lassen, warum sie sachunspezifisch und deduktiv-kolonisatorisch vorgehen, sondern auch, warum sie so ausgeprägt unterkomplex bleiben.
III Die Methodendebatte scheint mir die These der Vorauflagen zu bestätigen, daß die juristische Methodik durch besser entwickelte Methodiken der großen Teilrechtsgebiete voranzubringen ist. Deshalb müssen gerade auch die den Teilbereichen gemeinsamen normativen, funktionellen, wissenschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen sowohl nach der Seite der Methodik wie nach jener der Rechts- und Verfassungstheorie ausgearbeitet werden. Nur eine vorgeblich einheitliche Methodologie wäre versucht, von den Beziehungen der Form und Funktion juristischer Arbeit zur gesellschaftlichen Wirklichkeit abzusehen; eine solche Sicht führt entweder zu methodenvergleichender Anhäufung oder zu formalistischem Glasperlenspiel. Die hier vertretene Normtheorie und Methodik gehen dagegen von den beispielhaften Schwierigkeiten und Erfahrungen eines bestimmten Rechtsgebiets, des Verfassungsrechts, aus und implizieren zugleich ihre politischen Voraussetzungen. Daß diese hier nicht auch eingehend expliziert werden, ist Folge wissenschaftlicher Arbeitsteilung zwischen Methodik und Verfassungstheorie. In einigen Schriften seit „Recht – Sprache – Gewalt“ (1975, 20082) über „Richterrecht“ (1986) bis „Demokratie zwischen Staatsrecht und Weltrecht“ (2003) habe ich begonnen, die hier wie dort gemachten Beobachtungen auf eine gemeinsame rechtswissenschaftliche Perspektive hin zu verarbeiten4. Das damit entfaltete Norm- und Methodenkonzept hat als einen Grundzug das Bemühen, für die Rechtsarbeit in Praxis und Wissenschaft das nur irgend Mögliche an Rationalität zu erreichen und das Unmögliche jedenfalls zu umgrenzen. Die nicht vermeidbaren irrationalen Faktoren der juristischen Entscheidung dürfen nicht verdrängt werden oder schweigender Dezision überlassen bleiben. Sie sind offenzulegen und damit der Kritik und Kontrolle durch andere zugänglich zu machen. Der Jurist, der solche Methodenehrlichkeit anstrebt, erschwert sich allerdings die Arbeit. Handwerklich genaue Fallösung kostet mehr Zeit und Kraft als voreilig bereitwilli-
4 Zum theoretischen Gesamtkonzept, das außer der Methodik auch Dogmatik, Rechts(norm)theorie und Verfassungslehre miteinbezieht: Müller XIX passim und z. B. S. 431 ff. Vgl. aus der Literatur zu dieser Position prägnant zusammenfassend Christensen III, m. w. N.en.
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Vorwort zur fünften Auflage
ges Werten oder Abwägen. Und mit skrupelhaft-korrektem Erarbeiten dessen, was das geltende Recht zur Bestimmung der konkreten Rechts- und Entscheidungsnorm anbietet, macht sich der Jurist in aller Regel weniger Freunde als mit routinierter Erledigung oder mit pragmatischem bis opportunistischem „Judiz“, die beide nicht zuletzt an den subjektiven Erwartungen gleichgestellter Beteiligter oder höhergestellter Instanzen ausgerichtet sind. Eine Arbeitshaltung von Juristen, die den Anspruch des Rechtsstaats in die alltägliche Tätigkeit hineinnimmt, ist daher nicht nur eine Frage des Entwicklungsstands der wissenschaftlichen Methodik, sondern auch eine des privaten und des politischen Ethos. Ohne ein solches Ethos wird an dem korrekt zu ermittelnden positivrechtlichen Ergebnis „gedreht“, bis ein sogenanntes (und zwar den gerade Entscheidenden) befriedigendes, ein „praktikables“ oder „vernünftiges“ Ergebnis rhetorisch gerechtfertigt werden kann. Damit ist die Hauptaufgabe der Rechtsordnung verraten. Sie besteht angesichts der Realität von Konflikten, der Gegensätzlichkeit von Interessen und der daraus folgenden Unterschiedlichkeit von Zielen und Wertungen darin, jeweils partiell und auf Zeit bestimmte Fragen verbindlich zu regeln. Damit rationalisiert, stabilisiert und befriedet die Rechtsordnung den gesellschaftlichen Gesamtzustand. Nicht nur der äußere, vor allem auch der innere Friede bedarf haltbarer Strukturen; die vielleicht wichtigsten liefert eine entwickelte Rechtsordnung. Deren Veränderung hat auf den normierten Wegen und im Rahmen der normierten Funktionen zu erfolgen. Es ist eine alarmierende Tatsache, daß seit langem auch konservative Kräfte in Wissenschaft, Verwaltung und (Verfassungs-)Rechtsprechung, die gegenüber anderen zu Recht auf die verbindliche Autorität der Rechtsordnung pochen, bei ihrer eigenen Arbeit an entscheidenden Punkten vor allem „vom Ergebnis her denken“. Das bedeutet: (rechts-) politische Dezision an die Stelle einer Falllösung zu setzen, die thematisch umfassend ist, Schritt für Schritt argumentiert, die ungelösten Fragen und irrationalen Faktoren bezeichnet, ihre eigenen Ziele und Präferenzen offen ausspricht und die verschiedenen Entscheidungsdaten normativ gewichtet. Dezisionen dagegen desavouieren durch böses Beispiel die Autorität der Rechtsordnung nachhaltiger, als das die mit ihrer Hilfe bekämpften politischen Positionen oder gesellschaftlichen Tendenzen vermögen werden. Der Jurist, der die hier vorgeschlagene nach-positivistische Methodik akzeptiert, verarbeitet die historischen und gesellschaftlichen Implikationen der Normtexte und Fälle, mit denen er zu tun hat, nach rechtsstaatlich kontrollierbaren methodischen Regeln und stellt sie, wie die primär sprachlichen Konkretisierungselemente auch, in seiner Begründung nach ihrer tatsächlichen Rolle im Entscheidungsvorgang dar. Er ermittelt stets auch die wahrscheinlichen Folgen seiner und vergleichbarer Entscheidungen, überspielt dabei aber nicht das geltende Recht. Erscheinen ihm die Folgen unbefriedigend, unpraktikabel, unvernünftig, so bringt er diese Wertung – allerdings wiederum sehr viel mühsamer – in die fachwissenschaftliche Debatte, in die rechtspolitische Diskussion und in den allgemeinen politischen Prozeß der Meinungs- und Willensbildung des Volkes ein, statt erheblich zwangloser durch rechtsverbiegende Dezision den apokryphen Gesetzgeber zu spielen.
Vorwort zur fünften Auflage
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In einer allgemein oder auch nur überwiegend praktizierten ehrlichen Arbeitsmethodik der Juristen läge eine Chance, rechtsstaatliche Form und demokratische Politik tatsächlich zu verknüpfen.
IV Die einzelnen Arbeitsfelder der Strukturierenden Rechtslehre, so auch die vorliegende juristische Methodik, beginnen nicht bei vorgefertigten Theorien, aus denen deduziert wird, aus denen Aussagen über das Recht gemacht werden sollen. Vielmehr ist das theoretische Modell hier aus der Untersuchung der tatsächlichen Rechtspraxis entwickelt, in der Folge mit den rechtsstaatlichen Anforderungen und Standards des Grundgesetzes verbunden und ihnen entsprechend dann abstrahiert und systematisiert worden. Dieser „von unten nach oben“ arbeitende induktive Ansatz trägt nicht erst das Konzept der Konkretisierung, er prägte von Anfang an das zugrundeliegende Normmodell. Nicht zuletzt er führte zum Abschied von der traditionellen Auffassung von Methodik als Rechtfertigungskunde und hin zur nachpositivistischen Konzeption einer realistischen und demokratisch-rechtsstaatlich verpflichteten Rechtserzeugungsreflexion. Die Arbeitsabläufe in allen Funktionsbereichen staatlicher Gewalt zeigen, daß Bestandteile der Wirklichkeit als Bestandteile von Normen offenbar unausweichlich verwendet werden und wirksam sind. Das positivistische Glaubensbekenntnis einer kategorialen Trennung von Sollen und Sein war gegenüber dieser Einsicht in reale Vorgänge hilflos. Es erwies sich als nicht tragfähig, darauf zu beharren, aus einem Sein könne kein Sollen hergeleitet werden. Schon die Akteure, die Gruppen, die in den Funktionen der Legislative Normtexte setzen, leiten aus einem bestimmten „Sein“ in der Beschaffenheit, die sie vorfinden, und aus der Beschaffenheit, die es nach ihrer Meinung aufweisen sollte, ein „Sollen“ ab. Die Aussage, Sollen und Sein seien auseinander unableitbar, ist eine philosophische These, der man folgen kann oder auch nicht. Die Art und Weise, in der die Rechtswelt tatsächlich funktioniert, ist dagegen eine Praxis; und die wirkliche Praxis gilt es zu begreifen.
V Über allem notwendigen Streit um einzelnes, wie um Normbereichsanalyse oder Wortlautgrenze, Gesetzesbindung oder Richterrecht, sollte nicht aus dem Blick geraten, daß sich der hier durchgeführte Ansatz seit jeher auch wissenschafts- und praxisethisch begründet: durch den Kampf für die rechts- und sozialstaatliche Demokratie. Diesen Kampf muß man nicht führen, eine überweltliche Norm fehlt auch hier. Doch sprechen sehr gute Gründe dafür, es zu tun, und für die Juristen unter dem Grundgesetz gibt es die positivrechtliche Pflicht dazu. An ihr finden auch die „rein“ wissenschaftlich nicht selten überzeugenden Destruktionen naiv überkomme-
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Vorwort zur fünften Auflage
ner (positivistischer, aber auch antipositivistischer) Gewißheiten eine Grenze. Diese Grenze bemüht sich die vorliegende Methodik nicht zu vergessen. Ihre Vorschläge, beispielsweise zur Normprogrammgrenze zulässiger (nicht: methodisch möglicher) Konkretisierung, sind bereits Ergebnisse einer Reduktion. Realistisch reduziert werden hergebracht ‚unverbrüchliche‘ (Rechtsstaats-)Postulate zusammen mit den durch sie verbreiteten rechtspolitischen Illusionen und den ihnen zugrunde liegenden kruden Sprachtheorien und Methodenkonzepten (wie ‚Repräsentation‘ von Bezeichnetem durch Zeichen, ‚Syllogismus‘, ‚Subsumtion‘, ‚Normanwendung‘). Das Ergebnis zeigt, was – unzweideutige Loyalität zu den Anforderungen der Verfassung vorausgesetzt – äußerstenfalls erreichbar ist: ehrliches, nachvollziehbar durchgeführtes und dargestelltes Arbeiten mit verallgemeinerungsfähigen, diskutierbaren und damit akzeptablen Methodenstandards im Ausgang von und in Zurechnung zu legislatorischen Normtexten. Weg und Ziel der hier gemachten Vorschläge bleiben in diesem Sinn unverändert die, den Rechtsstaat beim Wort zu nehmen, damit Demokratie nicht nur ein Wort bleibe. März 1993
F. M.
Inhaltsverzeichnis 0 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
33
01 Aufgabe einer juristischen Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
33
02 Thema einer juristischen Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
33
03 Methodik und Methodiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
34
04 Funktionen juristischer Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
35
1 Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
36
11 Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
36
12 Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
37
13 Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
44
14 Funktionen, Verfahren, Rationalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
44
15 Methodik und Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
45
2 Zum gegenwärtigen Stand der Methodik des Verfassungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . .
46
21 Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
46
210 Die Rechtsprechung als Material für methodologische Analyse . . . . . . . . . . . .
46
211 Methodologische Reflexion in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
47
212 Zur methodischen Praxis der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
50
212.1
Behandlung der herkömmlichen Regeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
50
212.11
Gründe für diese Behandlung der herkömmlichen Regeln . . . . .
52
212.2
Neuere Interpretationsregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
53
212.3
Sachbestimmte Konkretisierungsaspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
54
212.31
Natur der Sache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
54
212.32
Andere Sachelemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
55
212.33
Zur Rolle der Sachelemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
57
24
Inhaltsverzeichnis 212.34
Sachelemente von Grundrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
58
212.341
Artikel 5 Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
61
212.342
Artikel 6 Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
65
212.343
Artikel 7 Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
68
212.344
Artikel 8 Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
69
212.345
Artikel 9 Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
70
212.346
Artikel 14 Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
72
212.347
Artikel 12 Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
74
212.348
Zur Rolle grundrechtlicher Sachelemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
78
212.349
Spezialität von Freiheitsrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
78
212.350
Spezialität von Gleichheitsrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
79
212.351
Grundrechte als „Werte“ und „Wertsystem“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
80
213 Gesamtbild verfassungsgerichtlicher Methodologie und Methodik und neuere Tendenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
84
213.1
Die Elemente der Konkretisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
84
213.11
Grammatische Konkretisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
85
213.12
Systematische Konkretisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
94
213.13
Historische und genetische Elemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
96
213.14
Teleologische Konkretisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
98
213.2
Normbereichsanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101
213.3
Rechtsnormtheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105
213.4
Das rekursive Moment in der Legitimität des Verfassungsstaates
106
22 Verfassungsrechtliche Methodik in der wissenschaftlichen Literatur . . . . . . . . . . . . . . . 109 221 Zur methodischen Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 221.1
Entformalisierte Grundrechtsbehandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110
221.11
Schrankenübertragung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110
221.12
„Abwägung“ grundrechtlicher „Güter“ und „Werte“ . . . . . . . . . . . 112
221.13
Grundrechts„mißbrauch“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113
221.14
Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114
222 Methodologische Reflexion in der gegenwärtigen Verfassungsrechtswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 222.0
Fortwirken des Gesetzespositivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115
222.1
Die Arbeitsweise des verfassungsrechtlichen Positivismus . . . . . 116
222.11
Grundlagen und Herkunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116
222.12
Purismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117
222.13
Systembegriff, Verdinglichung rechtlicher Größen . . . . . . . . . . . . 118
222.14
„Sein und Sollen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120
Inhaltsverzeichnis
25
222.2
Zurück zu Savigny? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124
222.21
Kritik der „geisteswissenschaftlichen“ Methode . . . . . . . . . . . . . . . 124
222.22
Zur Metakritik der „geisteswissenschaftlichen“ Methode . . . . . . 125
222.23
Zum theoretischen Hintergrund der Regeln Savignys . . . . . . . . . . 128
222.24
Heutige Methodenfragen und die canones . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130
222.25
Zur Gesetzesform der Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132
222.3
Neue Ansätze verfassungsrechtlicher Methodik . . . . . . . . . . . . . . . 132
222.30
Die Art der Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132
222.31
Verfassungskonforme Gesetzesauslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133
222.32
Richterrecht im Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138
222.33
Topik im Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141
222.331
„Offenes System“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141
222.332
Bindung an den Normtext im Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . 142
222.333
Primat der Normtextbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143
222.334
Beispiel: Der Topos „eigenständig“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145
222.335
Grenzen verfassungsrechtlicher Topik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146
222.34
Weitere Ansätze zu sachbezogener Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151
222.340
Die Art der Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151
222.341
„Natur der Sache“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151
222.342
Institutionelles Denken im Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153
222.343
Verfassungsinterpretation als Verwirklichung von Autonomie oder als praktische Verfassungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154
222.344
Prinzipien der Verfassungsinterpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156
222.345
Analyse der Normstruktur als Aufgabe praktischer Konkretisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156
222.346
Das Verfahren der Bildung von Normhypothesen . . . . . . . . . . . . . 158
222.346.1 „Vernunftrechtliche“ Interessenberechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 222.346.2 Rechtspolitik und Konkretisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 222.346.3 Rechtspolitik und Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 222.347
Die Auflösung der Grundrechte in Prinzipien oder Werte . . . . . . 164
222.348
Gerechtigkeit als Deduktionsgrundlage für Gerichtsentscheidungen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165
23 Bemerkungen zum Diskussionsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 231 Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 232 Konkrete Normativität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 233 Besonderheiten verfassungsrechtlicher Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 233.1
Die canones im Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178
233.2
Zur neuen Reflexion der canones . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178
24 Methodik und Normtheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179
26
Inhaltsverzeichnis
3 Entwurf einer juristischen Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 31 Grundlagen juristischer Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 311 Methodik und Funktionenlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 311.1
Normkonkretisierung, Normbeachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181
311.2
Funktionen und Arbeitsaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182
312 Normativität, Norm, Normtext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 312.1
Zur Begrenztheit der Rolle des Normtextes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185
312.11
Bestimmbarkeit der Rechtsnorm statt Bestimmtheit des Normtextes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187
312.12
Zur Geltung des Normtextes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201
312.2
Die Jurisprudenz als Normativwissenschaft (Entscheidungswissenschaft) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207
312.21
Beispiel: Gewohnheitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210
312.3
Rechtswissenschaftliche Grundsatzkritik als Kritik der Rechtsform: Ansätze marxistischer Rechtstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211
312.31
Der Ansatz von E. Pašukanis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212
312.32
Die Beständigkeit bürgerlicher Rechts- und Verfassungsformen 213
312.4
Juristische Methodik und Kommunikationstheorie . . . . . . . . . . . . 218
312.5
Normtext als Ausdruck von „Inhalt“ oder als Signal . . . . . . . . . . . 219
312.6
Juristische Methodik und Sprachkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224
312.7
Rechtsstaatliche Textstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231
313 Norm, Normtext, Normstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 313.1
Normativität als strukturierter Vorgang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235
313.2
Normprogramm, Normbereich, Rechtsnorm, Entscheidungsnorm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239
313.21
Beispiel: Zur Struktur des Plans . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243
313.3
Normbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244
313.4
Zur tatsächlichen Rolle der canones . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257
313.5
Zu einer Typologie von Normstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257
313.6
Faktoren einer Typologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260
313.7
„Programmsätze“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260
314 Konkretisierung (Normkonstruktion) statt Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 314.1
Zur Gleichsetzung von Rechtsnorm und Normtext . . . . . . . . . . . . 263
314.2
„Evidenz“, „Klarheit“, Norm und Fall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269
314.3
Zum Hintergrund der „Willens“-Doktrin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271
314.4
Zur Unbrauchbarkeit der „Willens“-Doktrin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273
314.5
Entscheidungsinteresse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274
314.6
Vorverständnis, Wertung, Objektivität, Rationalität . . . . . . . . . . . . 275
Inhaltsverzeichnis 314.7
27
Funktion des juristischen Vorverständnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277
314.71
Vorverständnis und „Methodenwahl“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278
314.8
Konkretisierung (Normkonstruktion) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279
314.81
Ablauf der Konkretisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284
314.82
Subjekt der Konkretisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285
315 Verfassungsrecht und Strukturierende Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 315.1
Verfassungsverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288
315.2
Strukturen und Funktionen von Verfassungsrecht, Legalität und Legitimität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290
315.3
Normativität und verfassunggebende Gewalt – Legitimität . . . . 293
315.4
Strukturierende Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296
315.41
Konkretisierungs„elemente“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297
315.42
Eigenständigkeit juristischer Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298
32 Elemente der Normkonkretisierung (– der Normkonstruktion) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 320 Der Wortlaut als Grenze der Normkonkretisierung / Von der Wortlaut- zur Normprogrammgrenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 320.1
Zur Sonderstellung des Wortlauts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299
320.2
Der Wortlaut als Begrenzung des Spielraums zulässiger Konkretisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303
320.3
Die Verletzung der Grenzfunktion des Wortlauts durch Dezision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308
320.4
Die Grenzfunktion des Wortlauts bei Generalklauseln . . . . . . . . . 310
320.5
Beispiele für die Grenzfunktion des Wortlauts . . . . . . . . . . . . . . . . . 313
320.51
Normzweck gegen Normtext? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313
320.52
Materielle Gerechtigkeit gegen Normtext? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314
320.53
Funktionsdifferente Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319
320.6
Ist eine Grenze juristischer Textarbeit möglich? . . . . . . . . . . . . . . . 321
321 Gruppen von Konkretisierungselementen (Elemente der Normkonstruktion)
326
322 Methodologische Elemente im engeren Sinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 322.0
Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327
322.1
Herkömmliche Interpretationsregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328
322.11
Grammatische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328
322.110
Vom Wortlaut zum Wortsinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328
322.110.1 Schwierigkeiten im Übergang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 322.110.2 Der Spielraum, oder von der Unvollkommenheit des Normtextes 330 322.110.3 Die Ermittlung des Gesagten durch Wörterbücher . . . . . . . . . . . . . 331 322.110.4 Ist der Sprachgebrauch normativ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339
28
Inhaltsverzeichnis 322.110.5 Von der Semantik des Spielraums zur Pragmatik der Konfliktkonstellationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346 322.110.6 Von der konventionellen zur aktuellen Bedeutung – Die Rolle der Stereotypen- und der Prototypensemantik in der grammatischen Konkretisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 322.111
Der Wortlaut von Gewohnheitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362
322.112
Grammatische Auslegung und Typen von Normstruktur . . . . . . . 363
322.113
Verflechtung grammatischer Interpretation mit anderen Elementen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366
322.114
Der Wortlaut zweiter Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368
322.12
Historische, genetische, systematische und teleologische Elemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369
322.121
Abgrenzung der historischen von der genetischen Interpretation
369
322.121.1 Das Risiko des Zirkelschlusses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 322.121.2 Kontinuität und Diskontinuität als historische Erzählweise . . . . 371 322.122
Genetische Konkretisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373
322.122.1 Kritik der subjektiven Auslegungslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374 322.122.2 Möglichkeiten genetischer Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 322.122.3 Genetische Konkretisierung jenseits der Willensmetapher . . . . . 378 322.122.4 Zur Rolle der genetischen und historischen Gesichtspunkte . . . . 381 322.123
Unschärfe der funktionalen Abgrenzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382
322.124
Résumé zur teleologischen Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383
322.125
Allgemeines zur systematischen Konkretisierung . . . . . . . . . . . . . . 384
322.125.1 Abgrenzung zur grammatischen Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 322.125.2 Die Sinneinheit des Buches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386 322.125.3 Von der Systematik erster Ordnung zur Systematik zweiter Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388 322.126
Strukturen systematischer Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 390
322.126.1 Analogie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 322.126.11 Begründung der Lücke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 322.126.12 Die Reichweite der Lücke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395 322.126.13 Beispiele für den Analogieschluß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 396 322.126.2 „Zirkelschlüsse“, „Ausnahmevorschriften“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 398 322.127
Aspekte eines funktional einheitlichen Vorgangs . . . . . . . . . . . . . . 399
322.128
Unentbehrlichkeit und Grenzen der canones . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 400
322.2
Prinzipien der Verfassungsinterpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401
322.20
Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401
322.21
Funktionelle Richtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402
322.22
Praktikabilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403
Inhaltsverzeichnis
29
322.23
Interpretation aus dem geistesgeschichtlichen Zusammenhang . 404
322.24
Maßstab integrierender Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 404
322.25
Prinzip der Einheit der Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 404
322.26
Vorverfassungsrechtliches Gesamtbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407
322.27
Zusammenhang von Grundrechts- und Kompetenznormen . . . . 408
322.28
Praktische Konkordanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409
322.29
Der Grundsatz der normativen Kraft der Verfassung . . . . . . . . . . . 415
322.291
„Grundrechtseffektivität“ und „in dubio pro libertate“ . . . . . . . . . 416
322.3
Axiomatisierbarkeit des (Verfassungs-)Rechts? . . . . . . . . . . . . . . . . 417
323 Konkretisierungselemente aus Normbereich und Fallbereich . . . . . . . . . . . . . . . 419 323.1
Funktion der Strukturelemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419
323.2
Fallbezogenheit der Strukturelemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 422
324 Dogmatische Elemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423 324.1
Die Rolle der dogmatischen Elemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423
324.2
Sprachliche Interpretationsbedürftigkeit der dogmatischen Elemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 428
324.3
Direkt normbezogene und nicht direkt normbezogene dogmatische Elemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429
324.4
Zur Rolle der „herrschenden Meinung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431
325 Lösungstechnische Elemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 432 326 Theorie-Elemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 434 326.1
Zur Verwendbarkeit von Theorie-Elementen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 434
326.2
Verfassungstheoretisches Vorverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 436
326.3
Zur methodologischen Ergiebigkeit theoretischer Positionen . . . 437
327 Verfassungs- und rechtspolitische Elemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 440 327.1
Möglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 440
327.2
Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441
328 Die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443 328.1
Einwirkung des Gemeinschaftsrechts auf die Methodik deutscher Gerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443
328.11
Die Direktwirkung von Gemeinschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443
328.12
Die indirekte Wirkung des Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . . 447
328.13
Verhältnis von direkter und indirekter Wirkung bei Richtlinien
449
328.2
Begriff und Struktur gemeinschaftsrechtskonformer Auslegung
450
328.21
Begriff der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung . . . . . . . . 450
328.22
Begriff der richtlinienkonformen Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451
328.23
Vergleich mit der verfassungskonformen Auslegung . . . . . . . . . . 451
30
Inhaltsverzeichnis 328.3
Normative Grundlagen für die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 455
328.31
Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 455
328.32
Konfliktmechanismus im nationalen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 463
328.33
Konfliktmechanismus im Gemeinschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . 464
328.4
Anwendungsbereich der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 468
328.41
Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 468
328.42
Richtlinienkonforme Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 474
328.43
Zeitlicher Anwendungsbereich der richtlinienkonformen Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 476
328.5
Grenzen der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung . . . . . . . 479
328.51
Grenzen aus den normativen Grundlagen des Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 480
328.52
Grenzen aus der Systematik des Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . 480
328.53
Grenzen aus dem nationalen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 484
328.6
Beispiele aus der Praxis deutscher Gerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 486
328.61
Die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung in der Praxis des Bundesverwaltungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 486
328.62
Die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung in der Praxis des Bundesarbeitsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 490
328.63
Die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung in der Praxis des Bundesgerichtshofs für Zivilsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 492
328.64
Keine richtlinienkonforme Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . 494
33 Rangordnung der Konkretisierungselemente (Elemente der Normkonstruktion) . . . 496 330 Unverbindliche Kunstregeln und verbindliche methodenbezogene Normen . . 496 331 Wirkungsmodi der Konkretisierungselemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 497 331.1
Direkt normtextbezogene Elemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 497
331.2
Nicht direkt normtextbezogene Elemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 498
332 Konflikte zwischen den Konkretisierungselementen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 499 332.0
Ist eine Rangfolge unmöglich? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 499
332.1
Der methodologische Begriff des Konflikts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 499
332.2
Typen von Konfliktslagen zwischen einzelnen Konkretisierungselementen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 500
332.21
Konflikte zwischen den nicht unmittelbar normtextbezogenen Elementen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 500
332.22
Konflikte der nicht direkt normtextbezogenen mit den direkt normtextbezogenen Elementen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 501
332.23
Konflikte zwischen den direkt normtextbezogenen Elementen . . 501
Inhaltsverzeichnis
31
332.231
Normtextbezogene dogmatische Argumente auf der einen – methodologische und Normbereichselemente auf der andern Seite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 501
332.232
Normbereichselemente – methodologische Elemente im engeren Sinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 501
332.233
Konflikte der methodologischen Elemente im engeren Sinn (Interpretationselemente) untereinander . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 502
332.233.1 Verhältnisbestimmung der canones . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 503 332.233.2 Die Rolle des genetischen Aspekts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 503 332.233.3 Die Unbrauchbarkeit der „subjektiven“ und der „objektiven Theorie“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 504 332.233.4 Vorrang der Grenzfunktion grammatischer und systematischer Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 506 332.234
Widerspruch zwischen grammatischem und systematischem Aspekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 507
333 Fälle mangelnder Aussagekraft des grammatischen und systematischen Elements . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 508 333.1
Nur begrenzende Aussagekraft des grammatischen und systematischen Aspekts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 508
333.2
Nicht einschlägige Norm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 509
333.3
„Lücken“ im Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 509
334 Zur Normativität von Vorzugsregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 510 4 Zur Formaltechnik der Fallösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513 41 Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513 42 Funktionsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 514 5 Grundlinien der juristischen Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 517 50 Vorbemerkung – Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 517 51 Gesetzespositivismus – Rechtserzeugung – Norm / Fall – Norm / Wirklichkeit . . . . . 519 52 Gruppen von Konkretisierungselementen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 523 53 Interpretation (Normtextauslegung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 525 54 Normbereichsanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 526 541 Sachbereich / Normbereich / Normprogramm – Rechtsnorm und Entscheidungsnorm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 529 542 Grundrechte und Generalklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 531 543 Beispiel: Methodik der Prüfung des Allgemeinen Gleichheitssatzes . . . . . . . . 532
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Inhaltsverzeichnis
55 Weder „objektive“ noch „subjektive“ Auslegungstheorie – Rangordnung der Konkretisierungselemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 535 56 Vorverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 537 57 Funktion juristischer Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 538 58 Methodik und Methodiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 539 59 Normtext – Legitimität – Spiel der Differenzen: Arbeit mit Texten in einer staatlichen Institution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 541 591 Das „rechtsstaatlich Zulässige“ vor der Folge des „methodisch Möglichen“
541
592 Normprogrammgrenze statt „Wortlautgrenze“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 554 6 Juristische Methodik und Rechtspolitik – Metamethodologische Fragen – Maßstäblichkeit und Konsens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 565 61 Juristische Methodik und Rechtspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 565 611 Zur rechtspolitischen Rolle des „Theorie“ansatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 565 612 Juristische Methodik und normative Staatsform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 571 613 Explikation und rechtspolitische Rolle des „Strukturierungs“-Projekts . . . . . . 572 62 Metamethodologische Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 577 621 Rechtspolitische Bedenken aufgrund mangelhafter Rezeption . . . . . . . . . . . . . . 577 622 Ablehnung vom Archimedischen Punkt aus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 579 622.1
Moralphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 579
622.2
Kritischer Rationalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 582
63 Zu einigen Fragen von Maßstäblichkeit und Konsens in der juristischen Methodik
589
7 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 596 71 Alphabetisches Verzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 596 72 Literatur zu einzelnen Sachgebieten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 677 8 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 683
0 Einleitung 01 Aufgabe einer juristischen Methodik Juristische Methodik ist nicht juristische Formallogik. Auch ist sie nicht Anleitung zur Technik von Fallösung. Sie ist schließlich etwas anderes als schulmäßige Methodenlehre im Sinn der Darstellung methodologischer Positionen in der Rechtswissenschaft.
1
Eine Methodik hat die Aufgabe, die den verschiedenen Funktionen von Rechtsverwirklichung (Gesetzgebung, Regierung, Verwaltung, Rechtsprechung, Wissenschaft) im Grundsatz gemeinsame Struktur fallbezogener Normkonkretisierung aufzuklären: Sie untersucht die praktische Arbeit der Funktionsträger, schlüsselt sie begrifflich auf, hebt Eigenart, Leistungsfähigkeit und Grenzen der Konkretisierungselemente heraus, bestimmt ihr gegenseitiges Verhältnis und ihre Überlagerung durch Gebote des geltenden Rechts. Damit ergänzt sie die Strukturanalyse des Konkretisierungsvorgangs durch ein Strukturmodell von Konkretisierung.
02 Thema einer juristischen Methodik Juristische Methodik ersetzt nicht Rechtsdogmatik und Rechtstheorie; und sie ist nicht Rhetorik. Ihre Konzentration auf das optimal mögliche Maß an Rationalität und Kontrollierbarkeit normtextorientierter Rechtsverwirklichung ist Konzentration auf ihr Thema. Dabei wird weder übersehen, daß es auch andere (politische, soziale, öffentliche, nicht-öffentliche, informelle) Kontrollmöglichkeiten gibt; noch wird verkannt, wie eingeschränkt das Streben nach gerechtem Recht, nach rechtsstaatlicher und demokratischer Transparenz der – empirisch als Kreislauf deutbaren – Rechtsverwirklichung unter den sich abzeichnenden Bedingungen von Gegenwart und Zukunft sein kann. Zu diesen Grenzen zählen auch die bekannte Neigung zu und die Wirksamkeit von Rhetorik1. Das befreit nicht von der Aufgabe, juristische 1 Neben Argumenten bieten juristische Entscheidungstexte bekanntlich auch rhetorische Stilmittel, um plausibel zu erscheinen. Das festzustellen ist eines; etwas anderes ist es, dies unter der Hand zur Quasi-Norm umzuformulieren. – Ergänzungsbedürftig bleibt die Position von Sobota I, derzufolge schlicht der „rein sprachkünstlerische Aspekt der Jurisprudenz das Rechtsleben bestimmen (wird)“; ebd., S. 237. – Daß – z. B. – die Soraya-Entscheidung des BVerfG an ihren „inhaltlichen“ Höhepunkten zugleich Gipfel der Rhetorik erklimmt, immunisiert dieses Judikat im rechtlich-politischen Rahmen der rechtsstaatlichen Demokratie nicht gegen Kritik durch Argumente. – Die unleugbare Wirkung der Rhetorik des (institutionell) Stärkeren ist eine nicht eben begeisternde Spielart des „Rechts des Stärkeren“. – Bei Gast IV
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0 Einleitung – 03 Methodik und Methodiken
Methodik für ihre wissenschaftliche und fallentscheidende Praxis auf eine den Gesetzespositivismus hinter sich lassende Grundlage zu stellen und sie so klar wie möglich auszuarbeiten. Rhetorik des Rechts kann dessen Methodik nicht ersetzen, im gegebenen Fall aber ergänzen. Nichts spricht dagegen, die Gründe einer Entscheidung rhetorisch anspruchsvoll zu formulieren, sofern nur diese Entscheidung demokratisch / rechtsstaatlich korrekt, also vertretbar ist. Und die Forschungsrichtung der analytischen Rhetorik liefert aufschlußreiche Beobachtungen im Umkreis analytischer Rechtstheorie, greift aber nicht in die Probleme juristischer Methodik ein. Auch das zeigt wieder, daß Rhetorik eine allgemeine Disziplin ist; die juristische Methodik dagegen operiert an eben dem spezifischen Ort, den die Rhetorik (wie auch die von der Philosophie her kommende Argumentationslehre) nicht einnimmt. Nur eine juristische Methodik ist entscheidungsnah genug für das, was vor sich geht, wenn ein demokratischer Rechtsstaat in Funktion ist; und zugleich ist nur sie diesem verfassungsrechtlichen Rahmen normativ so weit eingefügt, wie es moderne Verfassungsstaatlichkeit und Verfassungsjustiz voraussetzen.
03 Methodik und Methodiken 3
Juristische Methodik ist Sachlogik. Es kann zwar eine den juristischen Teildisziplinen gemeinsame Rechtsnormtheorie geben – diese Arbeit baut auf einer solchen auf –, daneben aber nur partikuläre Methodiken von Zivil-, Straf- und Öffentlichem Recht, von Rechtsgeschichte und Rechtsvergleichung, wenn nicht die Genauigkeit der Sachnähe dem Anspruch allseitiger Sachkompetenz geopfert werden soll. Daher wird hier juristische Methodik am Exempel einer Methodik des Verfassungs- und im weiteren Sinn des Öffentlichen Rechts erarbeitet. Doch richten sich die dabei behandelten Grundfragen und Einzelprobleme an alle Bereiche praktischer Arbeit am Recht. Die Rede von „partikulären Methodiken“ bedeutet nämlich nicht, die Methodik jedes der großen juristischen Arbeitsgebiete habe jeweils am Nullpunkt anzufangen. Das hier entwickelte Rahmenmodell einer Strukturierenden Methodik versucht, für alle normativ-dogmatischen Rechtsbereiche den Vorgang der Normkonkretisierung und damit normtextgebundener Rechtsarbeit im Grundsatz zu erfassen. Damit ist sozusagen die Grundausstattung des Instrumentariums juristischer Arbeitsweise geliefert. Über diese Basis hinaus drückt sich die aus Kodifikationslage, Sachproblematik, Eigenart der Normbereiche, Wissenschafts- und Praxisgeschichte gespeiste Unterschiedlichkeit der rechtlichen Teildisziplinen2 bekanntlich in spezielist Juristische Rhetorik repräsentativ ausgearbeitet. – Subtile Beobachtungen der tatrichterlichen Praxis i. S. einer interdisziplinären Rhetorik bei Seibert XII. – Zur „Rhetorik des juristischen Begründens“: Schlieffen. – Anders ist „Rhetorik“ bei Seibert XIV aufgefaßt: im Rahmen rhetorisch-semiotischer Prozeduren unter Einbeziehung des Strukturkonzepts. – Analytischer Zugriff auf Fragen der Rechtsrhetorik bei Adeodato II. 2 Vgl. dazu auch Morlok II, S. 205 ff.
0 Einleitung – 04 Funktionen juristischer Methodik
35
len Interpretationsaspekten aus. Diese zusätzlichen Konkretisierungselemente sind hier in bewußter Beschränkung auf das Verfassungsrecht ausgearbeitet (vgl. unten 212.2 und .3, 222.3, 322.2) und können für die anderen Felder der Rechtsarbeit analog diskutiert und systematisiert werden (zum Grundsätzlichen dieses vielschichtigen Ganzen auch unten 58). Als Rahmenkonzept im Dienst einer die Realität verarbeitenden sowie rechtsstaatlich und demokratisch gebundenen Rationalität ist die Strukturierende Methodik auch in bezug auf andere Wissenschaften (Linguistik, Sozialwissenschaften) zu vielfacher Zusammenarbeit, Korrektur, Ergänzung fähig, auf sie auch angewiesen. Sie ist in einem avancierten Sinn interdisziplinär3
04 Funktionen juristischer Methodik Juristische Methodik bringt die alltäglichen Arbeitsweisen der Juristen auf den Begriff. Sie ist Entscheidungstechnik und Zurechnungstechnik unter dem (rechtfertigenden) Anspruch der „Bindung“ an allgemeine Rechtsnormen. Sie betrifft die Bildung von Entscheidungsnormen für den Rechtsfall und ihre Zurückführung auf Rechtsnormen sowie dieser auf positiv geltende Normtexte oder auf Gewohnheitsrecht; ferner die Messung von ungeschriebenen an geschriebenen und außerdem allgemein von niederrangigen an höherrangigen Vorschriften. Das so umgrenzte Arbeitsfeld hat es stets mit der Frage der methodischen Beherrschbarkeit der Divergenz von Normtext und Entscheidungsnorm zu tun; anders gesagt: mit der sich auf reguläre „Methode“ gründenden Legitimierbarkeit des Abschiebens politischer Verantwortung für praktische Entscheidungsakte auf je abstraktere Instanzen der Normtextsetzung. Zusammenfassend werden diese Arbeitsvorgänge als „Konkretisierung“ von Normtexten bezeichnet. Dieser Name meint in keiner Weise eine ontologisierende Aussage dahingehend, der Normtext „enthalte“ Wirkungsfaktoren, die sozusagen in die Einzelfälle hinein „verteilt“ werden könnten (dazu auch 312.5, 314.8 u. ö.). Vielmehr haben Normtexte, wie hier differenziert darzustellen sein wird, „Signal“- und „Grenz“-Funktionen in Rechtsfindungs- und Rechtfertigungsprozessen, d. h. in juristischen Entscheidungs- und Darstellungsvorgängen von allgemein gesellschaftlichem Gehalt, aber wissenschaftlich und professionell spezifischer Form (zur Funktion juristischer Methodik s. a. 42 und 57 und eingehend Müller X und XII).
3 Eine vorbildlich problembewußte, vom Strukturkonzept inspirierte Behandlung der Frage: „Wie sollte Interdisziplinarität praktiziert werden?“ bei: Windisch, z. B. S. 156 ff. und durchgängig.
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1 Fragestellung 11 Voraussetzungen 5
Methodenfragen sind Sachfragen. Sie sind von der Praxis gestellte, von einer der Praxis genügenden Theorie anzustellende Strukturüberlegungen wissenschaftlicher Problembehandlung und transparenter, Kontrolle und Diskussion ermöglichender Rationalität. Juristische Methodiken liefern der Rechtswissenschaft oder ihren Teildisziplinen weder einen abschließbaren Katalog fraglos zuverlässiger Arbeitstechniken noch ein System durchgängig anwendbarer und als kanonisch zu behandelnder Arbeitshypothesen. Nicht nur die Jurisprudenz hat in unumkehrbarer Weise den Glauben verloren, durch formale Deduktion aus artifiziellen Systemen zeitlos richtige Ergebnisse gewinnen zu können. Nicht nur in den Geisteswissenschaften hängt die Begriffsbildung von der Stellung der Probleme ab; nicht nur in ihnen ist die Qualität eines erforschten Sachverhalts bedingt durch die Richtung des Erkenntnisinteresses. Der Gegenstand „an sich“ ist auch der Naturwissenschaft nicht zugänglich. Das Untersuchungsfeld auch des Naturwissenschaftlers wird durch Leistungen des erkennenden Bewußtseins mitgeprägt, das „Objekt“ auch in den exakten Disziplinen durch den notwendigen Vorentwurf der Fragerichtung mitkonstituiert. Vor der Instanz des heutigen wissenschaftstheoretischen Bewußtseins haben „Natur“ und „Geschichte“ die scheinbar in sich ruhende Eindeutigkeit bloßer Entgegensetzung verloren; hat sich der Abstand zwischen Geschichtlichkeit der Sozialwelt und bloßer Wiederholung im naturwissenschaftlichen Bereich entscheidend verringert. Die Suche nach „absoluten“ Kriterien ist wissenschaftlich ohne Sinn. Wissenschaft fragt nach einer möglichst genauen Fassung gradueller Unterschiede und Unterscheidungen. So gesehen, interessiert die Rechtswissenschaft weniger ihre herkömmliche Abgrenzung gegenüber der Naturwissenschaft als vielmehr die sachliche Eigenart rechtlicher Normen und ihrer spezifischen Normativität. Die Aufgabe, gemeinsam mit anderen Mechanismen sozialer Ordnung geschichtliches Zusammenleben der Menschen mit den Mitteln des Rechts in Form zu halten, schränkt die Verallgemeinerungsfähigkeit methodologischer Aussagen für die Jurisprudenz in kennzeichnender Weise ein.
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Mit der Überzeugungskraft des Gesetzespositivismus verblaßt auf der einen Seite der Akzent pseudo-naturwissenschaftlicher Objektivität juristischer Methoden. Auf der anderen Seite kann juristische Methodik sich weder für technische Einzelheiten noch für theoretische Grundlagen auf die Ergebnisse der neueren philosophischen und allgemein-geisteswissenschaftlichen Hermeneutik verlassen. Geltungs- und Verbindlichkeitsanforderungen sind in der Jurisprudenz als einer angewandten Nor-
1 Fragestellung – 12 Begriffe
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mativwissenschaft entscheidend höher anzusetzen als in den nichtnormativen geisteswissenschaftlichen Disziplinen. Rechtspraktische „Methoden“ und dogmatische „Theorien“ sind stets nur Hilfsmittel der juristischen Arbeit. Sie sind jedoch Hilfsmittel, deren Eigenart, Grenzen, Begründungsfähigkeit und sachlicher Zusammenhang keinesfalls der Beliebigkeit individueller Arbeitsweisen überlassen ist. Juristische Methodik hat im Spielraum der ihr möglichen eingeschränkten Objektivität den Versuch einer sachlich verbindlichen Selbstverständigung der juristisch Arbeitenden über die Begründbarkeit, Vertretbarkeit und Zulässigkeit ihrer Arbeitsformen zu unternehmen. Juristische Methodik ist schon dadurch von der Hermeneutik nicht-normativer Disziplinen abgehoben, daß sie nicht auf Fragen der Sprachlichkeit, der Kommunikation oder des Verstehens beschränkt werden kann. Die praktische Arbeitsweise der Juristen wird in erheblichem Umfang auch durch Normen des geltenden Rechts, so z. B. aus dem Umkreis des verfassungsrechtlichen Rechtsstaatsgebots (Normklarheit, Methodenklarheit, Übermaßverbot, Tatbestandsbestimmtheit), beeinflußt. „Eine bestimmte Auslegungsmethode (oder gar eine reine Wortinterpretation) schreibt die Verfassung nicht vor“ (so richtig BVerfGE 88, 145 ff., 166 f.); wohl aber die demokratisch verantwortlich und rechtsstaatlich nachvollziehbar geformte Verwendung jeder Auslegungs„methode“, aller Konkretisierungselemente.
12 Begriffe Als Bezeichnung für eine systematisch reflektierende Gesamtkonzeption (verfassungs-)juristischer Arbeitsweisen ist „Methodik“ im hier gebrauchten Sinn der Oberbegriff für „Hermeneutik“, „Interpretation“, „Auslegungsmethoden“ und „Methodenlehre“. „Hermeneutik“ meint hier nicht die traditionelle rhetorische Kunstlehre in ihrer Anwendung auf die Rechtswissenschaft, sondern die Untersuchung der Struktur rechtlicher Normativität und der grundsätzlichen Bedingungen rechtlicher Konkretisierung. Abweichend vom üblichen Sprachgebrauch werden also hier „Hermeneutik“ und „hermeneutisch“ als rechtsnorm-theoretische termini technici verwendet. Sie bezeichnen ein strukturierendes Konzept von den Voraussetzungen juristischer Methodik, Fallösung, Dogmatik und Theorie auch im Blick auf die Rolle der normierten Realität für Wirkungsweise und Entscheidungsfunktion, für die Normativität der Rechtsnorm. „Methodenlehre“ bedeutet im herkömmlichen Sinn die Gesamtheit interpretatorischer Kunstregeln im Umgang mit Normtexten, wie z. B. grammatische oder systematische Auslegung, Analogieverfahren und ähnliches. „Hermeneutik“ ist dagegen die Lehre von der Struktur rechtlicher Normativität und von den wissenschafts- und rechtstheoretischen Voraussetzungen juristischer Methodologie1. Da die in den Vorauflagen eingeführte Verwendungsweise von „Hermeneutik“ in 1
Müller I, S. 7, 13 und passim.
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38
1 Fragestellung – 12 Begriffe
der rechtswissenschaftlichen Diskussion zu Fehldeutungen führte2, rechtfertigt sich eine nähere Erläuterung des Begriffs. 8
Gewöhnlich geht es der Hermeneutik „vor allem um die Rolle des interpretierenden Subjekts im Prozeß des Verstehens sprachlicher Äußerungen“3. Rechtsfindung ist demnach insofern hermeneutisch, als ein jeder, der Normen umsetzt, selbst als Teil dieses Vorgangs aufzufassen ist. Es ist das Erfassen des Vorverständnisses, durch das sich die Hermeneutiker vom Subsumtionsglauben des Gesetzespositivismus unterscheiden wollen. Ihr wichtigstes Thema ist „die Klärung des Verhältnisses zwischen Sachverhalt und Tatbestand“, die sie „zu einer kritischen Neuformulierung des juristischen Subsumtionsschlusses“ befähigen soll4. Aufgabe des Rechts im demokratischen Rechtsstaat ist es nicht zuletzt, Streitfälle so zu entscheiden, daß diese Entscheidung vor Gesetz und Verfassung gerechtfertigt werden kann. Die „rechtsprechende Gewalt “ (Art. 92 GG) ist insoweit legitimierte Macht. Und, neben anderem, ist es Aufgabe der Rechtswissenschaft, die Bedingungen zu entwickeln, unter denen dieses Ziel jeweils erreichbar ist. Die Vorgaben dafür sind Rechtsfälle und Texte: Der Fall „ist der Fall“, also im Sinn des frühen Wittgenstein ein Partikel der Welt. Um juristisch gehandhabt werden zu können, muß der Fall (ebenso wie die Tatsachen aus Sachbereich und Fallbereich) seinerseits in Text überführt werden. Der zweite Ausgangspunkt für das, was die Aufgabe des Rechts in Konfliktfällen ist, liegt in den textlichen Vorgaben der Rechtsarbeit: in den „geltenden“ Vorschriften und in den Texten der hier zu entwickelnden einzelnen Elemente der Konkretisierung.
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Die Frage des Vorverständnisses wird nun in dem viel breiter ansetzenden Rahmen der strukturierenden Rechts(norm)theorie, Dogmatik und Methodik zwar auch aufgegriffen und behandelt. Sie ist für diese aber nicht wie für die Hermeneutik zentral und wird hier vor allem auch mit anderen Mitteln, weil von einem neuartigen Ansatz her bewältigt. Es geht ihr nicht um das Ermitteln einer an sich vorgegebenen Norm mit Hilfe nur textbezogener Auslegung. Zudem stellt das, was die Hermeneutik will, im strukturierenden Ansatz nur einen Konkretisierungsfaktor neben zahlreichen anderen dar.
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In der Tat ist für traditionelle Hermeneutik eine Konzentration wie auch eine Begrenztheit auf Sprachausdruck, Sprachbedeutung, Textverstehen kennzeichnend. Der Problemzusammenhang soll durch Verstehen ausreichend erfaßbar sein; das Auslegen und Verwerten allein von Texten (Normtexte, Literatur- und Rechtsprechungstexte) soll die Entscheidungsnormen ableitbar, jedenfalls aber begründbar machen. Der hier entwickelte Ansatz kennzeichnet sich demgegenüber dadurch, über bloße Sprachlichkeit und über ausschließliche Interpretation von Sprachdaten Vgl. dazu die Darstellung bei Müller XIX, S. 241 ff. Kaufmann II, S. 77 und ff. – Überzeugend tritt Hermanns II für eine „Linguistische Hermeneutik“ ein. 4 Frommel, S. 2. 2 3
1 Fragestellung – 12 Begriffe
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systematisch hinauszugehen und das Einbeziehen von Wirklichkeit in die Rechtsarbeit normtheoretisch und methodisch weiter zu strukturieren. Trotzdem will die Strukturierende Rechtslehre das aufklärende Moment an der älteren hermeneutischen Denkweise beibehalten. Verstehen ist nicht „reines“ Erkennen. Es ist als Handeln in den Aktions- und damit in den Lebenszusammenhang des verstehend Handelnden eingebunden. Ohne dessen reflektierte Wirklichkeit ist es wissenschaftlich nicht korrekt erfaßbar. Das ist aber nur der eine Teil der Realität, die einbezogen werden muß: systematisch gesehen der subjektive, quantitativ betrachtet der ungleich kleinere. Für juristisches Handeln müssen vor allem die Einzelheiten normorientierter Entscheidungsvorgänge und die normierten Ausschnitte der sozialen Welt erfaßt werden, auf welche die Sprachgestalt juristischen Tuns (Normtexte, Entscheidungstexte, Wissenschaftstexte) verweist. Das führt, anders als in philosophischer Hermeneutik oder hermeneutischer Rechtswissenschaft, zunächst zu der Folgerung, die Rechtsmethodik mit der verfassungsrechtlichen Funktionenlehre zu verknüpfen. Es führt weiter dazu, juristische Tätigkeit in Alltagspraxis und Theorie als Arbeit im Sinn der politischen Ökonomie, als Rechtsarbeit zu sehen. Die durchgehende Verbindung des vorliegenden Konzepts einer Strukturierenden Methodik mit der Rechtsdogmatik einerseits, andererseits mit der Rechts(norm)theorie und schließlich mit der Verfassungslehre sowie insgesamt mit dem methodenerheblichen positiven Recht belegte von Anfang an, daß es hier nicht nur und nicht einmal vorrangig um Fragen des „Verstehens“ als eines elementaren, sich in beträchtlichem Ausmaß intuitiv vollziehenden Geschehens handelt. Das Verstehen ist nun aber für die hermeneutische Schule zentral geblieben; und Erscheinungen wie „Judiz“ oder besonders das „Vorverständnis“, das ihr als Problem so teuer ist, bleiben im Rahmen eines die Rolle des Subjekts einbeziehenden (immer auch) intuitiven Text„verstehens“. Über dieses geht schon „Interpretieren“ als Form eines reflektierten Handelns, als gegenüber dem Verstehen eigenständige Handlungsform des Verständlich-Machens hinaus5. Die Interpretation schafft zusätzlichen Text, ist selber Text, der im Gefolge einer fortlaufenden Verkettung seinerseits interpretierbar ist und interpretiert werden muß; und der immer wieder, nach Foucaults Wort, 5 Dazu und zum folgenden Konzept einer „Arbeit mit Texten“ grundsätzlich von der Linguistik aus und zugleich interdisziplinär angelegt: Busse IV, S. 167 ff., 187 ff. m. Nw.en; anhand eingehender Beispiele ders. III, S. 11 und durchgängig. s. a. Busse II, S. 282 ff., u. ö. – Der zentrale Stellenwert einer Arbeit mit Texten für die Arbeit am Recht in einer juristischen Interpretationsgemeinschaft wird auch von der neueren angloamerikanischen Rechtstheorie hervorgehoben. Vgl. Fish I; Fish II. Zur kritischen Auseinandersetzung mit diesem Ansatz, der allerdings in seiner ausschließlichen Konzentration auf das „Interpretieren“ doch zu kurz in Hinblick auf eine Erzeugung und nicht nur eine Erkenntnis von Recht aus dem Text greift, Patterson I, S. 99 ff. – Wie hier jetzt auch – von der Linguistik her – Teubert, z. B. S. 15: „Damit ist klar, daß eine Interpretation ein Text ist, ein sprachlicher Beitrag zum Diskurs. Eine erfolgreiche Interpretation ist eine, die Spuren in nachfolgenden Interpretationen hinterläßt. Daraus ergibt sich, daß die Handlung des Interpretierens grundsätzlich dialogisch ist. Eine Interpretation ist stets eine Intepretation für andere.“ – Aufgeschlossen für das Konzept „Rechtsarbeit(er)“, neben Vielen, z. B. Moor III, S. 150. – Zum Begriff und den Funktionen von Rechtsarbeit: F. Müller XIX, S. 246 ff., 262 ff., 313 f., u. ö.
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1 Fragestellung – 12 Begriffe
„das unendliche Gewimmel der Kommentare“ erzeugt6. In eine noch weitere Dimension stößt schließlich die in massive institutionelle Zusammenhänge eingefügte und keineswegs nur auf Wahrheit und Erkenntnis, sondern auch immer auf Macht abzielende „Arbeit mit Texten“. Hier geht es nicht mehr um Verstehen und auch nicht mehr nur, wie beim Interpretieren, um Verständlich-Machen. Mit tatsächlichen Konsequenzen in der sozialen Wirklichkeit (etwa den oft vielfältigen und weitreichenden Folgen eines Gerichtsurteils, eines exekutivischen Handelns, einer Normenkontrollentscheidung, usw.) ist es vielmehr Ziel einer derartigen institutionell gestützten Textarbeit (wobei die Rechts-Institutionen ihrerseits wieder textgestützt, nämlich auf der Grundlage von Normtexten eingerichtet und geregelt sind), die im Einzelfall heranzuziehenden (Norm-)Texte so aufzubereiten, daß sie „die ihnen institutionell zugedachte Funktion übernehmen können“; beispielsweise die im Fall entwickelten Rechts- und Entscheidungsnormen als „legal“ zu rechtfertigen7. Parallel zu dem Dreiklang von Verstehen – Interpretieren – Arbeit mit Texten können die drei Facetten gesehen werden, die das Vorverständnis aufweist: neben dem allgemein ideologischen (das auf gruppen- / schichtenspezifischen Wegen auf die einzelnen Juristen einwirkt) und dem fachlichen (dem allgemein und dem speziell juristischen) schließlich das institutionell geprägte. Es entstammt den Funktionsimperativen der Gesellschaft (d. h. Instanzen wie Gesetzgebung, Exekutive, Richterschaft, Anwaltschaft usw. werden gebraucht) und besteht keineswegs nur in Erscheinungen wie Korpsgeist und Standesgebräuchen, sondern – hier weit wichtiger – in (stereo-)typischen Mustern des Herangehens „des“ Richters, „des“ Staatsanwalts, „des“ Rechtsanwalts. Im Rechtsbetrieb beziehen sich die drei hier entwickelte Handlungstypen somit auf die Normtexte, die in geregelten Verfahren beschlossen, geschrieben, publiziert und „in Kraft gesetzt“ wurden, die also gelten. Das Verstehen betrifft das handelnde Subjekt, im Rechtsbetrieb den Rechtsarbeiter; beim Interpretieren macht dieser das Verstandene durch Erklärung den Anderen zugänglich; die Arbeit mit Texten spielt sich im Funktionieren der damit befaßten Institution ab. Die dabei jeweils zu leistende Semantierungsarbeit wird hier in juristischer Perspektive Konkretisierung genannt.
6 Foucault, S. 18. – Zum Unterschied von Verstehen und Erklären in der Rechtsarbeit s. a. Ricœur, S. 179 ff. (in etwas anderer Ausdrucksweise). – Im Rahmen der Philologie werden die genannten Stadien auch in der Konfrontation mit einer von uns beherrschten Fremdsprache als verschiedene Arten von Aktivität deutlich: nur „verstehendes “ Lesen in der Ausgangssprache – „interpretierendes “ Erläutern für Andere – schriftliches Übersetzen in die Zielsprache als „Arbeit mit Texten“. – Methodenfragen angesichts mehrsprachig verbindlicher Normtexte betreffen vor allem das Europarecht; dazu Band II des vorliegenden Buchs (Müller / Christensen). Vgl. a. die eingehende Untersuchung von Schübel-Pfister. 7 Dazu Busse IV, S. 191 f. – Jouanjan I nennt zu Recht diese juristische Methodik eine „Methode der Arbeit mit Texten“ (travail avec des textes), also nicht nur über Texte (travail sur des textes), sondern auch unmittelbare Textarbeit (travail de textes), S. 20.
1 Fragestellung – 12 Begriffe
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Doch läßt sich auch noch eine Parallele zur Handlungsform der Theoriebildung ziehen. Dort betrifft sie die Realität im Sinn dessen, was ist, was uns wahrnehmbar wird, was tatsächlich geschieht. Das theoretisierende Subjekt versteht innerhalb seiner Erfahrungs- und Begriffsrahmen bei Rezeption oder „Inspiration“; es erklärt das Verstandene interpretierend für die sonstigen Teilnehmer an der Theoriedebatte und versucht dann, es durch Analyse, Operationalisieren und weiterführende Vorschläge für die Anderen nachvollziehbar, bearbeitbar zu machen. Die Strukturierende Methodik hat, entgegen der hermeneutischen Schule, im Verbund der dogmatischen, der rechts- und der verfassungstheoretischen Schriften, die sich zur Strukturierenden Rechtslehre zusammenfügen, über „Verstehen“ hinaus und ohne Beschränkung auf „Interpretieren“ diese „Arbeit mit Texten“ in den Institutionen des Rechtssystems immer mit angezielt und bearbeitet. Dennoch ist, in einem sehr eingeschränkten Umfang, der Ausdruck „Hermeneutik“ hier nach wie vor im Sinn von rationaler juristischer Methodik mit Bindung an Rechtsnormen und Normtexte beibehalten : also in diesem Umfang immer noch abweichend vom üblichen Sprachgebrauch. Im übrigen wird das, was er darüber hinaus erfaßte, hier in Zukunft mit den genaueren Begriffen der strukturierenden Rechts(norm)theorie ausgedrückt. Als Eigenbenennung für diese rechtswissenschaftliche Konzeption wird der Begriff „Hermeneutik“ im folgenden also nicht mehr verwendet; stattdessen als Fremdbezeichnung der Vertreter einer hermeneutischen Rechtslehre.
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„Interpretation“ bzw. „Auslegung“ schließlich betreffen die Möglichkeiten juristisch-philologischer Textbehandlung, also der Auslegung von Normtexten. Eine Rechtsnorm ist jedoch mehr als der Normtext. Praktische Konkretisierung ist mehr als Textauslegung. „Methodik“ im hier vorgestellten Sinn umfaßt somit im Grundsatz sämtliche Arbeitsweisen der Konkretisierung und Rechtsverwirklichung; auch soweit sie – wie die Analyse der Normbereiche, wie die Rolle staats-, rechts- und verfassungstheoretischer Argumente, wie dogmatische Inhalte, lösungstechnische und rechts- wie verfassungspolitische Elemente – über Auslegungs- bzw. Interpretationsmethoden im traditionell verengten Sinn hinausgehen.
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In der technischen Terminologie der hier entfalteten Methodik werden die primär sprachlich begründeten Interpretationsgesichtspunkte (z. B. die grammatischen, systematischen, genetischen) „Sprachdaten“ genannt; „Realdaten“ dagegen die empirischen Elemente, die als natürliche oder soziale Fakten primär nicht-sprachlich konstituiert sind, die aber gleichwohl, damit juristische Praxis und Wissenschaft mit ihnen arbeiten können, sekundär sprachlich vermittelt sein müssen (Normbereichselemente). Der hier zentrale Begriff „Konkretisierung“ ist nicht positivistisch als „Syllogismus“, „Subsumtion“ oder „Anwendung“ mißzuverstehen, aber auch nicht als „Nachvollzug“ vorvollzogener und im Gesetzestext „repräsentierter“ Interessenabwägungen oder Wertungen. Schließlich meint „Konkretisierung“ auch nicht, eine vor dem Rechtsfall schon vorhandene Norm werde auf diesen hin individualisiert, „konkreter“ gemacht, in ihrem Umfang sozusagen verengt. Vielmehr geht es bei ju-
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1 Fragestellung – 12 Begriffe
ristischer Fallösung um Normkonstruktion; die Rechtsnorm muß im Fall jeweils erst produziert werden. „Konkreter“ werden dabei von Stufe zu Stufe die Arbeitsinstrumente; und die Formulierung der erzeugten Rechtsnorm ist notwendig konkreter als der üblicherweise so genannte Gesetzeswortlaut. 15
Dieser heißt hier im technischen Sinn „Normtext“ (Rechtssatz, amtlicher Wortlaut); er ist das sprachliche Gebilde (die Zeichenkette), das in Gestalt von „Paragraphen“ oder „Artikeln“ die Kodif ikationen zusammensetzt. Der Normtext ist, neben dem Fall, das Eingangsdatum des Konkretisierungsvorgangs. Die laienhafte Fassung (Fallerzählung) des Rechtsfalls, das zweite Eingangsdatum, formt der Jurist professionell zum „Sachverhalt“8. Außerhalb professioneller Konkretisierung orientieren sich auch die am Rechtsleben Beteiligten an den „geltenden“ Normtexten.
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Der Jurist, der den Fall zu entscheiden hat, wählt vom Sachverhalt her die ihm nach seinem Vorwissen „einschlägig“ erscheinenden Normtexte aus. Über diese fließen Sachgesichtspunkte der damit als passend unterstellten Rechtsnormen in die Arbeit ein („Sachbereich“), die normalerweise aus Gründen der Arbeitsökonomie gemäß der Individualität des Sachverhalts zum „Fallbereich“ eingegrenzt werden. Die Interpretation sämtlicher Sprachdaten, also die Textauslegung mit allen methodisch anerkannten Mitteln, ergibt das „Normprogramm“. Mit dessen Hilfe wählt der entscheidende Jurist aus dem Sach- bzw. dem Fallbereich die Teilmenge der für das Fallergebnis mit-normativen Tatsachen aus, den „Normbereich“; dieser umschreibt also die Menge derjenigen Realdaten, die zu Recht mit zur Grundlage der Entscheidung gemacht werden. Normprogramm und Normbereich setzen die abstrakt-generell (im Sinn von Leitsätzen) zu formulierende „Rechtsnorm“ zusammen („In einem Fall wie diesem gilt …“). Im letzten Abschnitt seiner Arbeit individualisiert der Jurist diese zur „Entscheidungsnorm“ (Entscheidungsformel, Urteilstenor); dieser letzte Schritt vollzieht sich dann als methodisch simple Schlußfolgerung, insoweit – aber nur insoweit! – in der Tat als Subsumtion unter die vorher produzierte Rechtsnorm („Da ein solcher Fall vorliegt, ist die Klage abzuweisen“, usw.). „Normativität“ kommt dabei noch nicht dem Normtext zu; alle Eingangsdaten der Rechtsarbeit (Normtext, Sachverhalt) sind nicht-normativ. Normativ sind erst deren Resultate: die Rechtsnorm als generell formuliertes Zwischenergebnis, die Entscheidungsnorm als verbindliche Bestimmung des einzelnen Falls.
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Was dagegen die Normtexte auszeichnet, ist ihre „Geltung“. Diese besteht einmal in der Verpflichtung der Normtextadressaten, sich in ihrem Verhalten entsprechend zu orientieren. Diese Orientierung ist – außer in Sonderbereichen von der Art 8 Aufschlußreich zur Herstellung des professionell juristischen „Sachverhalts“ aus dem sozialen Fall und aus der vor-juristischen (zum Teil aber schon juristisch etikettierten) Fallerzählung: Seibert IV. – Intensiv unter dem Gesichtspunkt der Aufgaben der juristischen Fachsprache erörtert bei Jeand’Heur XIII, S. 1291 f.
1 Fragestellung – 12 Begriffe
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des Steuer- oder des Subventionsrechts, wo die Beteiligten (Adressaten) selbst zum Teil hochspezialisiert sind – nicht-professionell; sie ist vor-juristisch, wenn auch oft schon ein Stück weit juristisch etikettiert. Das allgemeine Publikum richtet sich in seinem rechtserheblichen Tun und Lassen an juristisch nur grob überformten Standards, an von juristischer Dogmatik und Methodik kaum berührten moralisch / gesellschaftlichen Gebräuchen und „Normen“ aus9. Zum andern besteht „Geltung“ in der Rechtspflicht der Richter oder der sonst zur Entscheidung zuständigen Juristen, die für den Fall einschlägigen Normtexte vollständig als Eingangsdaten heranzuziehen und sie methodisch korrekt zu verarbeiten; wobei sich die Forderung „methodisch korrekt“ als Folge der „Geltung“ des betreffenden Normtexts auf seine Rolle als Lieferant von Sprachdaten und Element der Erarbeitung des Normprogramms, auf die bei der rechtsstaatlichen Grenzziehung zulässiger Konkretisierung und auf seine Funktionen im Rahmen der Präferenzregeln bei methodologischen Konflikten erstreckt. Dementsprechend stellt das „geltende Recht“ die Normtextmenge dar, also die Gesamtheit aller Normtexte in den (nach verfassungsrechtlichen Maßstäben zur Zeit in Kraft befindlichen) Gesetzbüchern. Sowohl die Strukturierende Rechtslehre als auch die auf ihr aufbauende Juristische Methodik entwickeln rechtstheoretisch bzw. methodologisch die Unterscheidung von Geltung (des Normtextes) und Normativität (des Texts der Rechtsnorm). Wenn im folgenden zusätzlich dazu auch rechtslinguistisch „Geltung / Bedeutung“ gegenseitig profiliert werden, so nicht etwa in dem Sinn, als sei „Geltung“ (des Textformulars gleich des Normtexts) frei von semantischen Elementen; und als erscheine Semantik erst im Zusammenhang mit der die rechtliche „Bedeutung“ des Falles formulierenden Rechtsnorm. Aufgrund seiner juristischen Ausbildung und des aus ihr folgenden Vorwissens, linguistisch gesagt dank hergebrachter Verwendungsweisen der gesetzlichen Tatbestandsbegriffe, hat der Jurist Übung darin, die für den Fall (wahrscheinlich) einschlägigen Normtexte am Beginn der Konkretisierung im Rahmen einer sozusagen vorläufigen Semantik zusammenzustellen. Die „Bedeutung“ des Textes der Rechtsnorm bietet die im Fall und anhand der Provoka9 Diese richtige Diagnose schon in der Freirechtsschule; z. B. bei Kantorowicz, S. 17 f.; und hierzu Maus III, S. 300. – In der Anekdote bringt das jener Schweizer Offizier auf den Punkt, der gesagt haben soll: „Ich kenne das Reglement nicht, habe es aber immer befolgt!“ – Zur Frage der Verschiedenheit der Adressaten von Rechtstexten aufschlußreich Jeand’Heur XIII, v. a. S. 1292 f. (unter dem Aspekt einer horizontalen und einer vertikalen Schichtung hinsichtlich der Verständlichkeit juristischer Fachtexte), zur vertikalen Abstufung vgl. ebd., die Textsorten „Theoriesprache“, „fachliche Umgangssprache“ und „Verteilersprache“. Zur (adressaten-differenten) Leistungsfähigkeit der Rechtssprache: ebd., S. 1293 f. – Analyse der Adressatenproblematik von Seiten der Sprachwissenschaft bei Felder I, S. 99 ff.; ebd., zur Polyfunktionalität der Normtexte, S. 102 ff. – S. ferner Holly, S. 54; Felder II, S. 83 f. und die zahlreichen Beiträge bei Lerch. – Realistisch gesehen, „muß davon ausgegangen werden, daß die Bevölkerung mehrheitlich als ‚juristische Analphabeten / Analphabetinnen‘ eingestuft werden muß“; so Baumann IV, S. 66. Das bezieht sich nicht einfach auf Unkenntnis des geltenden Rechts – die Rechtslaien können sich anderweitig informieren –, sondern auf die sehr unterschiedlichen Kompetenz-Niveaus der Fähigkeit, Texte zu verstehen. – Zu juristischen Illusionen über die Verständlichkeit des Rechts vgl. Kiesow, S. 11 f.
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1 Fragestellung – 14 Funktionen, Verfahren, Rationalität
tion, die er für die Rechtsordnung bildet, elaborierte verbindliche semantische Stufe. Und alltagssemantisches Vorwissen, also wiederum hergebrachte (laienhafte) Verwendungsweisen, prägt das Verhalten der nicht-juristischen Rechtsunterworfenen, die sich an den „geltendenˆ Normtexten (meist: an dem, was sie darüber gehört haben) im Sinn von mehr oder weniger genauen Handlungsdirektiven zu orientieren haben. Auch hierbei handelt es sich um Vorläufiges: die am Fall Beteiligten können von den entscheidenden Fachjuristen „eines Besseren belehrt werden (vgl. z. B. Abschnitt 312.12). 13 Funktionen 19
Damit entfällt auch die übliche Einschränkung juristischer Methodenfragen auf Arbeitsmethoden der Rechtsprechung und der Wissenschaft. So betrifft z. B. eine Methodik des Verfassungsrechts Verfassungskonkretisierung durch Regierung, Verwaltung und Gesetzgebung in nicht geringerem Maß als jene durch Rechtsprechung und Rechtswissenschaft. Lediglich die juristische Didaktik bleibt als ein Feld eigener Art außerhalb des Untersuchungsbereichs. Wo Verfassungsnormen im Spiel sind, arbeiten Gesetzgebung, Verwaltung und Regierung verfassungsmethodisch prinzipiell analog zu Judikative und rechtswissenschaftlichem Forschen. Neben dessen Argumentationsweise betrifft eine Methodik des Verfassungsrechts somit alles verfassungsorientierte Handeln staatlicher Funktionsträger. Ihrer aller Arbeitsstil ist in der fundamentalen und weitgehend verwissenschaftlichten Materie des Verfassungsrechts im Grundsatz strukturell einheitlich erfaßbar. In einem weiteren, informellen Sinn haben auch die Betroffenen und Beteiligten im Rechtsleben weitgehende tatsächliche Funktionen der Rechts- und Verfassungsverwirklichung; indem sie sich an Normtexten im Weg der Befolgung, der Kompromißbildung, des Vermeidenwollens oder des Änderungsversuchs orientieren (siehe auch 210, 311.1). 14 Funktionen, Verfahren, Rationalität
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Die verschiedenen Rationalitätselemente sind in der Regel auf verschiedene Funktionsträger und Verfahrensabschnitte verteilt bzw. rechtspolitisch zu verteilen (Normtextsetzungsverfahren mit Beteiligungsformen wie öffentliche Diskussion, Anhörung, Herstellung von Einvernehmen, Einwilligung, Einspruchsrechte, Genehmigungsvorbehalte; Planungsverfahren; Verwaltungsverfahren ; nachträgliche Verwaltungs- oder Rechtsprechungskontrolle, Rügerechte, Rechtsaufsicht und so fort). Das heißt: „Rationalität“ ist für die hier vorgeschlagene juristische Methodik gemäß der Unterscheidung Karl Mannheims sowohl funktionelle als auch substantielle Rationalität. Sie will nicht nur technisch effektiv sein, sondern zugleich zur Legitimität des Verfassungsstaats beitragen. Im so bestimmten Sinn ist Rationalität nicht nur eine Bedingung des Rechtsstaats, sondern auch der Demokratie und des Sozialstaats.
1 Fragestellung – 15 Methodik und Politik
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15 Methodik und Politik Juristische Methodik und Politik brauchen nicht in Beziehung gesetzt zu werden. Sie sind in Beziehung. Rechtshandeln ist rechtsnormorientiertes politisches Handeln – mag es als Normtextsetzung auftreten, als Rechtskonkretisierung durch Verwaltung, Judikatur, Regierung, Rechtswissenschaft, als Rechtskontrolle, Rechtspolitik und erneute Normtextsetzung, schließlich auch gleichrangig als Rechtsbeachtung im Befolgen, im Arrangement, im Kompromiß. Funktionell gesehen, gilt dasselbe für den Rechtsbruch: Er ist nicht Normverwirklichung, sondern Normverstoß; aber auch in ihm aktualisiert sich das Bezogensein von „Politik“ und „Recht“ unmittelbar. Das rechtsstaatliche System funktioniert solange, als Störungen, Abweichungen, Verletzungen mit den Mitteln des Systems lokalisierbar, bestimmbar und beherrschbar sind.
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Recht ist eine (im Rechtsstaat gesteigerte und charakteristisch artikulierte) Sonderform von Politik.10 Juristische Methodik ist demnach Methodik der Arbeitsbedingungen und Arbeitsformen eines bestimmten Bezirks politischer Aktion und Organisation. Diese grundsätzliche Feststellung bleibt noch abstrakt; ebenso abstrakt wie der (inhaltlich zutreffende) Slogan, das Leugnen politischer Erheblichkeit ihres Tuns durch gesetzespositivistische Rechtsexperten sei selbst bereits eine entschiedene politische Stellungnahme. Juristische Methodik kann sich mit Sätzen von derart allgemeiner Richtigkeit nicht zufriedengeben, da sie die Bedingungen und Formen juristischer Arbeit im einzelnen herauszuarbeiten hat. Diese Aufgabe ist alles andre als unpolitisch. Sie ist aber nicht mit Hilfe pauschaler Formeln zu bewältigen, sondern nur auf „methodische“ Art und Weise (Näheres zum Thema dieses Abschnitts beispielsweise unter 315.2 und .3, 42, 57 und durchgehend zu Gesichtspunkten wie Normbereichsanalyse, Vorverständnis u. ä.).
10 Dies betont auch der Ansatz des „Critical Legal Studies Movement“, für den „every branch of doctrine must rely tacitly if not explicity upon some picture of the forms of human association that are right and realistic in the areas of social life with which it deals.“ Unger I, S. 8; siehe auch Unger II. Ähnlich Philipp Bobbitt, für den sich daraus ergibt: „if we want to understand the ideological and political commitments in law, we have to study the grammar of law, that system of logical constraints that the practices of legal actvities have developed in our particular culture.“ Bobbitt II, S. 24. siehe auch Bobbitt I.
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2 Zum gegenwärtigen Stand der Methodik des Verfassungsrechts 21 Rechtsprechung 210 Die Rechtsprechung als Material für methodologische Analyse
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Wenn im folgenden der Stand verfassungsrechtlicher Methodik in der Rechtsprechung herausgegriffen wird, so bleibt das über den Umfang der Verfassungsrealisierung Gesagte im Blick zu behalten. Allerdings läßt sich Verfassungsverwirklichung durch problemlose oder konfliktlose Respektierung der Verfassungsnormen, lassen sich die ungezählten Fälle, in denen es nicht zum Rechtsstreit, nicht zum Verfassungskonflikt kommt, in der Genese ihres Begründungs- und Entscheidungszusammenhangs kaum nachprüfen. Mit kennzeichnenden Einschränkungen gilt das auch für die rechts- bzw. verfassungsorientierte Tätigkeit von Gesetzgebung, Regierung und Verwaltung. Nur dort, wo Vorschriften des geltenden Rechts der entscheidenden Stelle die Pflicht zu zusammenhängender Entscheidungsbegründung auferlegen, steht einer methodischen Analyse der Rechtspraxis der Weg offen. Die von solchen Normen betroffenen Entscheidungen der Exekutive sind in der Regel ganz oder überwiegend verwaltungsrechtlicher, nicht verfassungsrechtlicher Art. Gesetzgebungsmaterialien sind für diejenigen Teile des Entscheidungsvorgangs, die sich aus Akten der Verfassungskonkretisierung bzw. der Verfassungsbeachtung zusammensetzen, von wechselnder Ergiebigkeit. Regierungsakte werden in der Regel politisch und jedenfalls nicht mit einer methodischen Fragestellungen standhaltenden Kontinuität verfassungsrechtlich begründet. Neben der Rechtswissenschaft ist es allein die Rechtsprechung, die fortwährend und im Zusammenhang Darstellungen ihrer Entscheidungsprozesse zu geben gehalten ist. Nur hier ist daher das vorliegende Material von ausreichendem Umfang und ausreichender Konsistenz, um methodische Konzeptionen und Tendenzen zuverlässig verfolgen zu können. Dabei kann die veröffentlichte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als für verfassungsrechtliche Judikatur in der Bundesrepublik repräsentativ herausgegriffen werden1. Die Rechtsprechung der Landesverfassungsgerichte und der Spruchkörper
1 Eingehender Bericht über die Judikatur des Spanischen Verfassungsgerichts vor dem Hintergrund der Vorschläge der Strukturierenden Methodik bei Gómez de Arteche (Abschnitt „El reflejo del nuevo método en la doctrina jurisprudencial del Tribunal Constitucional español“). – Vgl. auch einzelne Nachweise zur terminologischen Praxis des Spanischen Verfassungsgerichts unten, Abschnitt 313.3 RNr. 237. – Rückgriff auf Strukturierungen des Begriffs „Volk“ in der Praxis des brasilianischen Bundesverfassungsgerichts in der Leitentscheidung zum
211 Methodologische Reflexion in BVerfGE
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der übrigen Gerichtszweige in verfassungsrechtlichen Fragen weicht in den hier interessierenden Grundlinien nicht so stark von der des Bundesverfassungsgerichts ab, daß sie eine gesonderte Untersuchung rechtfertigen könnte.
211 Methodologische Reflexion in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
Die praktische Judikatur begründet ihre Entscheidungen in Dogmatiksprache; d. h. in einer „Objekt“sprache, welche das eigene methodische Vorgehen nur praktiziert, es aber nicht auch noch ausdrücklich zum Thema macht. Geschieht das hingegen, so wechselt die Begründung insoweit auf eine „meta“sprachliche Ebene über: Es werden die Bedeutungen der verwendeten Ausdrücke erklärt, die tatsächliche Vorgehensweise und die Gründe für die Wahl zwischen verschiedenen Sinnvarianten dargelegt – mit einem von Austin in die Sprechakttheorie eingeführten Terminus wird dann „expositiv“ argumentiert. Das Bundesverfassungsgericht bekennt sich in ständiger Rechtsprechung zum Credo der herkömmlichen Interpretationslehre. Nach diesem ist ein praktischer Rechtsfall dadurch zu lösen, daß der zur Entscheidung stehende Lebenssachverhalt im Weg des syllogistischen Schlusses unter die als vorgegeben gedachte Norm subsumiert wird. Damit der Syllogismus vollzogen, damit die Norm „angewandt“ werden kann, ist nach dieser Auffassung zuvor ihr Inhalt zu ermitteln. Das geschieht aus Wortlaut, Entstehungsgeschichte, rechtsgeschichtlicher Entwicklung der in Frage stehenden Regelung, aus dem systematischen Zusammenhang der Norm innerhalb ihrer Kodifikation bzw. der Gesamtrechtsordnung und schließlich aus Sinn und Zweck, aus der „ratio“ oder aus dem „telos“ der Vorschrift. Fallösung ist demnach syllogistischer Schluß; dieser setzt die Ermittlung des Inhalts der „anzuwendenden“ Norm voraus. Der Inhalt soll der Vorschrift immanent sein: er besteht – insoweit herrscht innerhalb der traditionellen Interpretationslehre Streit – im subjektiven Willen des Normgebers oder im objektiven Willen der Norm; für das Verfassungsrecht also im Willen des Verfassunggebers bzw. im Willen der Verfassung. Die genannten Methoden sollen die Möglichkeit bieten, den Normgehalt als Obersatz zu formulieren, damit ihm der Lebenssachverhalt als Untersatz anschließend subsumiert werden kann. Der Vorgang rechtlicher Entscheidung wird als logisches Schlußverfahren, Rechtsverwirklichung insgesamt als ausschließlich kognitives Problem vorgestellt. Konkretisierung ist hiernach Normtextinterpretation und diese nichts anderes als Nachvollzug des im Normtext, in seiner Entstehungsgeschichte, im systematischen Zusammenhang mit andern Normtexten, in der Textgeschichte entsprechender früherer Regelungen und in dem diesen Indizien zu entnehmenden Sinn und Zweck der Vorschrift erscheinenden Willens von Norm oder Normgeber.
Wahlrecht („Lei da Ficha Limpa“): RE 633703; HC 104.286. – Intensive methodologische Analyse der Rechtsprechung (am Beispiel Südafrikas) bei Du Plessis.
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2 Stand der Methodik – 21 Rechtsprechung
Programmatisch, wenn auch nicht in folgerichtiger Praxis, hat sich das Bundesverfassungsgericht für die „objektive Theorie“ entschieden. Nach seinem Urteil vom 21. Mai 19522 soll für die Auslegung einer Gesetzesvorschrift der in dieser zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers maßgebend sein, so wie er sich aus dem Wortlaut der Gesetzesbestimmung und aus dem Sinnzusammenhang ergibt, in den diese hineingestellt ist. Die subjektive Vorstellung der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organe oder einzelner ihrer Mitglieder über den Sinn der Vorschrift soll dagegen nicht entscheidend sein. Der Entstehungsgeschichte einer Vorschrift soll für deren Auslegung nur insofern Bedeutung zukommen, als sie die Richtigkeit der nach den sonstigen Grundsätzen ermittelten Auslegung bestätigen oder als sie Zweifel beheben kann, die mit den übrigen methodischen Hilfsmitteln allein nicht ausgeräumt werden können. Dem Auslegungsziel, den im Gesetz objektivierten Willen des Gesetzgebers zu ermitteln, dienen die Auslegung aus dem Wortlaut (grammatische Auslegung), aus ihrem Zusammenhang (systematische Auslegung), aus ihrem Zweck (teleologische Auslegung) und aus den Gesetzesmaterialien und der Entstehungsgeschichte (historische bzw. genetische Auslegung). Diese „Auslegungsmethoden“ sollen sich gegenseitig ergänzen und stützen, um gemeinsam den „objektiven Willen des Gesetzgebers“ erfassen zu können. Die Gesetzesmaterialien sollen dabei stets mit einer gewissen Vorsicht, in der Regel nur unterstützend und insgesamt nur insofern herangezogen werden, als sie auf den „objektiven Gesetzesinhalt“ schließen lassen. Der sogenannte Wille des Gesetzgebers kann hiernach bei der Auslegung des Gesetzes insoweit berücksichtigt werden, als er in dem Gesetz selbst, d. h.: in seinem Text, einen hinreichend bestimmten Ausdruck gefunden hat. In keinem Fall dürfen die Materialien dazu verleiten, die subjektiven Vorstellungen der gesetzgebenden Instanzen dem objektiven Gesetzesinhalt gleichzusetzen3. 2 BVerfGE 1, 299, 312; bestätigt in BVerfGE 6, 55, 75; 10, 234, 244; 11, 126, 130. So auch BGHZ 46, 74 ff., 76 („Schallplatten-Urteil“); ähnlich schon BGHZ 33, 321 ff., 330; 36, 370 ff., 377; 37, 58 ff., 60 und BGHSt 17, 21 ff., 23; 20, 104 ff., 107. – Das BVerfG geht weiterhin vom Widerstreit zwischen „subjektiver“ und „objektiver“ Theorie aus und favorisiert die Lehre vom „objektiven Willen des Gesetzes“: z. B. BVerfGE 33, 265 ff., 294 und ff. Vgl. als Bekenntnis zur objektiven Lehre ferner: BVerfGE 36, 342 ff., 367; 45, 187 ff., 227; 48, 246 ff., 260; 51, 97 ff., 110; 59, 128 ff., 153. Entsprechend findet sich beim Bundesverfassungsgericht eine lange Reihe von Entscheidungen, worin der sog. Wille des Gesetzgebers nur soweit berücksichtigt wird, als er ein auf andere Art und Weise aufgefundenes Ergebnis bestätigt: dazu BVerfGE 2, 124 ff., 128, 132 ff.; 3, 248 ff., 252; 3, 407 ff., 414; 6, 32 ff., 38; 6, 55 ff., 72 f., 76; 6, 309 ff., 347; 9, 305 ff., 331; 10, 285 ff., 291; 11, 126 ff., 129 f.; 12, 205 ff., 236; 15, 1 ff., 18; 19, 135 ff., 137; 25, 269 ff., 287 ff.; 26, 186 ff., 202; 27, 44 ff., 53 ff.; 30, 90 ff., 101 f.; 37, 1 ff., 28 ff.; 52, 303 ff., 352; 72, 330 ff., 398. Weitere Nachweise für einen bestätigenden Einsatz des genetischen Konkretisierungselements im Rahmen der objektiven Lehre bei Sachs, S. 77 (Fn. 52). – Siehe zur Orientierung der Rechtsprechung an der objektiven Lehre und den sich daraus ergebenden praktischen Konsequenzen die Diskussion in der methodischen Literatur bei Rahlf, Köbl, Honsell. In der Entscheidung zum Kollektivurteil über Soldaten hat das Bundesverfassungsgericht die objektive Auslegungslehre für Gesetzestexte auch auf die Deutung des Sinnes einer mündlichen Aussage übertragen. Vgl. BVerfG, in: DVBl. 1996, S. 27 ff., 30. Als allgemeine Kommunikationstheorie ist die objektive Auslegungslehre aber jedenfalls überfordert.
211 Methodologische Reflexion in BVerfGE
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Mit diesen Bestimmungen, die übrigens historische und genetische Auslegungsart vermengen, gibt das Gericht Grundsätze für eine rationale und wenigstens im Ansatz kontrollierbare Rangfolge der einzelnen Auslegungskriterien nur für die Argumente aus den Gesetzesmaterialien auf der einen und für die aus grammatischer, systematischer, teleologischer (und der Sache nach: historischer) Auslegung auf der andern Seite. Ein gewisser, allerdings nicht näher begründeter Akzent scheint dabei auf Wortlaut und Sinnzusammenhang der Gesetzesbestimmung zu liegen4. Das Bundesverfassungsgericht geht bei der ersten Suche nach vertretbaren Lösungsalternativen vom Wortlaut des zu bearbeitenden Normtextes aus. Bereits die Formulierung vom „Sinnzusammenhang“ (in den die fragliche Vorschrift „hineingestellt“ sei) im Urteil vom 21. Mai 1952 deutet darauf hin, daß das Schwergewicht in aller Regel bei den systematischen und den teleologischen Aspekten liegt. Das Bundesverfassungsgericht bemüht sich vordringlich, den „Sinnzusammenhang der Norm mit anderen Vorschriften und das Ziel, das die gesetzliche Regelung insgesamt verfolgt“, zu ermitteln5. Insofern wird der Wortlaut des Normtextes vom Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung als verhältnismäßig wenig ergiebig behandelt. Das Gericht bezeichnet es als legitime richterliche Aufgabe, „den Sinn einer Gesetzesbestimmung aus ihrer Einordnung in die gesamte Rechtsordnung zu erforschen, ohne am Wortlaut des Gesetzes zu haften“6. Der Normtext wird chronologisch als erste Auswahlinstanz in Frage kommender Lösungsmöglichkeiten, sachlich als Grenze zulässiger Lösungsalternativen behandelt. Als eine Interpretation contra legem würde das Bundesverfassungsgericht eine solche für unzulässig hal3 BVerfGE 11, 126 f. – Beispielsfall aus der Judikatur etwa BVerfGE 37, 1 ff. (Weinwirtschaftsgesetz), 28 f. (Auslegung aus dem Wortlaut führend, aus der Entstehungsgeschichte bestätigend). – Als weitere bestätigende Instanz wird ebd. übrigens auch der Einklang mit einer andren (Verfassungs-)Norm herangezogen (Art. 3 Abs. 1 GG); vgl. hierzu ferner BVerfGE 37, 121 ff. (Mutterschutzgesetz), 126 f. Zu einer Ablehnung der Möglichkeit, den gesetzgeberischen Willen oder den objektiven Gesetzesinhalt mit subjektiven Vorstellungen einzelner in den gesetzgebenden Instanzen gleichzusetzen, siehe noch die Entscheidungen BVerfGE 62, 1 ff., 44 f. sowie mit ausführlicher Begründung BVerfGE 54, 277 ff., 297. Das Gericht will hier zwar Einzelaussagen von Personen, die am Gesetzgebungsverfahren beteiligt waren und entsprechende Erwartungen zum Ausdruck gebracht haben, für sein Ergebnis nicht berücksichtigen, setzt sich aber trotzdem (S. 297) mit Einzelaussagen auseinander. Vgl. zur Auseinandersetzung mit Einzeläußerungen in der Rechtsprechung auch noch BverfGE 72, 330 ff., 393 f.; 74, 51 ff., 61 ff. – Siehe ferner BVerfGE 119, S. 96 ff., 179; 119, S. 181 ff., 202. Zu einer expliziten Ablehnung der Möglichkeit, den Gesetzesinhalt mit einzelnen Äußerungen von beteiligten Personen gleichzusetzen, vgl. außerdem noch BGHSt 1, S. 313 ff., 316 sowie in der Ablehnung eines substantiellen Verständnisses besonders deutlich: BSG 23, 7 ff., 9. 4 BVerfGE 1, 312; 10, 51. Praktisch entscheidendes Gewicht liegt auf grammatisch / systematischer Auslegung z. B. in BVerfGE 32, 242 ff., 244. – Zur chronologischen Priorität und zum systematischen Vorrang des Wortlauts s. a. BGHZ 46, 74 ff., 76. 5 s. etwa BVerfGE 8, 274, 307. 6 BVerfGE 8, 210, 221. – Der durch das vorliegende Konzept eingeführte technische Ausdruck „Normtext“ findet sich (wie auch „Normbereich“, „Sachbereich“) inzwischen in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wieder; z. B. BVerfGE 103, 332, 362; 104, 92, 125; 105, 279, 313, 335; BVerfG in: NJW 2002, S. 2544; BVerfGE 108, 52, 74.
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2 Stand der Methodik – 21 Rechtsprechung
ten, „durch die einem nach Wortlaut und Sinn eindeutigen Gesetz ein entgegengesetzter Sinn gegeben würde“7. Regelungsabsichten des Gesetzgebers, die in einem eindeutigen Normtext nicht ausgedrückt worden sind, müssen bei der Auslegung der Norm unbeachtet bleiben8.
212 Zur methodischen Praxis der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
212.1 Behandlung der herkömmlichen Regeln 27
Die Entscheidungspraxis des Bundesverfassungsgerichts ist mit den Regeln, zu denen es sich programmatisch bekennt, kaum erfaßbar. Das liegt nur zum geringsten Teil daran, daß das Gericht das Verhältnis der einzelnen Auslegungsaspekte zueinander weithin unklar läßt. Soweit diese Auslegungskriterien den Fallproblemen sachlich nicht gewachsen sind, wäre mit formalen Fixierungen übrigens ohnehin kein Boden gewonnen. Auch ist verständlich, daß sich die Judikative durch voreilige Festlegung nicht unnötig die Hände binden will. Doch sind im Interesse der Rechtssicherheit wie der Einsicht in die reale Arbeitsweise der Verfassungskonkretisierung Angaben darüber unerläßlich, welche Akzente und Vorzugsregeln das Gericht bei widersprüchlichen Ergebnissen der einzelnen Interpretationsgesichtspunkte zu setzen gedenkt. Angesichts der Jurisdiktionspraxis des Bundesverfassungsgerichts bleibt diese Frage sogar für das Problem der „subjektiven“ bzw. „objektiven“ Auslegungshaltung und für die Funktion des Normwortlauts offen. Nicht selten hat das Gericht im Gegensatz zu seinem programmatischen Bekenntnis die Argumente der Entstehungsgeschichte ohne hinreichende Begründung zu den allein entscheidenden gemacht9. Wo das gewünschte oder angestrebte Ergebnis mit den herkömmlichen Mittel nicht oder kaum überzeugend begründbar ist, kann der subjektive „Wille“ des Verfassunggebers, also eine mehrheitliche Meinung im Parlamentari7 BVerfGE 8, 210, 220; vgl. auch BVerfGE 8, 28, 33, wo das Argument aus dem Wortlaut mit dem aus der Entstehungsgeschichte verbunden wird. – Abgesehen von der Bildung von Richterrecht, scheint das BVerfG die Konkretisierungstätigkeit darin zu sehen, „gesetzgeberische Weisungen in den Grenzen des möglichen Wortsinns auf den Einzelfall anzuwenden“, BVerfGE 34, 269 ff., 287 (Soraya). – Die dortigen Aussagen sind allerdings methodisch unzureichend durchdacht. Als (Rechts-)„Quelle“ spricht das BVerfG pauschal von „der verfassungsmäßigen Rechtsordnung als einem Sinnganzen“ (ebd.). – Zur Auseinandersetzung mit dieser Entscheidung vgl. etwa: Müller XXII, S. 69 ff., 73 ff.; dens., XVIII, S. 43 ff.; Hesse II, S. 76; Ipsen I, S. 100 ff., 235 ff.; Prümm II, S. 208; Starck IV, S. 52 ff., 54; Steinwedel, S. 108, 121 ff.; Wank S. 83 ff. 8 Z. B. BVerfGE 13, 261, 268; zum Normtext als unübersteigbarer Grenze möglicher Auslegung z. B. BVerfGE 8, 38, 41. Vgl. auch BGHZ 46, 74 ff., 76. 9 Z. B. BVerfGE 2, 266, 276; 4, 299, 304 f.; zur leitenden Funktion der Entstehungsgeschichte z. B. BVerfGE 9, 124, 128; 33, 125 ff., 152; 54, 227 ff., 297 f.; 61, 149 ff., 200. Zu einer führenden Rolle der Entstehungsgeschichte weiterhin BGHZ 46, 74 ff., 81; sowie BSG 28, 274 ff., 275 f.
212 Zur methodischen Praxis in BVerfGE
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schen Rat bzw. Äußerungen einzelner Mitglieder der verfassunggebenden Körperschaft, den im Verfassungsgesetz objektivierten „Willen“ aus dem Feld schlagen; können normativ undifferenzierte verfassungsrechtliche („Kulturhoheit“ der Gliedstaaten, „Eigenstaatlichkeit“ der Länder) und dogmatische (Legaltheorie) Topoi die üblichen Begründungselemente von der Wort- bis zur Sinnauslegung überspielen10. In Fällen solcher Art werden die objektiven Interpretationshilfen entscheidend vom subjektiven Ergebnis der Materialien her akzentuiert bzw. ausgewählt. Die grundsätzliche Option der Verfassungsgerichtsbarkeit zugunsten der sogenannten objektiven Auslegungsmethode verliert jedoch ihren Wert, wenn in Einzelfällen ohne sachliche Begründung der Abweichung die Entscheidung des Falls allein auf den subjektiven „Willen des Gesetz- bzw. Verfassungsgebers“ gegründet wird. Auch werden ferner in zahlreichen andern Fällen die Materialien eher im Sinn einer Kontrollals einer bloßen Bestätigungsinstanz zur Überprüfung des auf anderm Weg gefundenen Teilergebnisses herangezogen. Der Wortlaut der zu konkretisierenden Vorschrift wird vom Bundesverfassungsgericht auch in seiner Grenzfunktion nicht durchgehend folgerichtig behandelt. Das Gericht läßt ihn hinter eine ihn überschreitende sinnvolle Anwendung des Gesetzes zurücktreten11, hält ihn für überspielbar, wenn dies „einer Wertentscheidung der Verfassung besser entspricht“12. Vom Überspielen des Wortlauts als Grenze der Auslegung sind aber die Fälle zu unterscheiden, wo das Bundesverfassungsgericht zwischen grammatischem Element und anderen Konkretisierungselementen einen Zusammenhang herstellt13. Zum Teil wird die vom Gericht gegebene Definition der einzelnen Auslegungskriterien übergangen, wenn beispielsweise im Fernseh-Urteil vom 28. Februar 1961 ohne nähere methodische Reflexion die sachlichen Unterschiede zwischen genetischer und historischer Auslegungsart zu Recht wieder auseinandertreten14. 10 Repräsentativ das Konkordats-Urteil vom 26. März 1957, BVerfGE 6, 309, z. B. 341 f., 344 ff., 346 f., 349, 351. 11 BVerfGE 9, 89, 104; 14, 260, 262 u. ö.; 20, 26 ff., 29 f. 12 BVerfGE 8, 210, 221. Siehe zur Diskussion weiterer Beispiele unten im Text die Abschnitte über die Wortlautgrenze. 13 Zum Zusammenspiel der Konkretisierungselemente insbesondere im Hinblick auf das grammatische und historische Element : BVerfGE 12, 45 ff., 48; 25, 371 ff., 389; 58, 45 ff., 57; 74, 51 ff., 57. 14 BVerfGE 12, 205, 230 ff. für die historische, 236 f. für die genetische Konkretisierung – wogegen das Gericht – vgl. nur etwa E 11, 126, 130 – die Arbeit mit Gesetzesmaterialien und Entstehungsgeschichte sonst „historische“ Auslegung nennt und die eigentlich historische (Arbeit mit Normvorläufern) dabei terminologisch verschwinden läßt. – Ein Beispiel für schulmäßigen Einsatz der canones findet sich in BVerfGE 26, 201 f. und jüngst in BverfGE 75, 40 ff. („Finanzhilfe“-Urteil); eines der zahlreichen Gegenbeispiele etwa in der Gnaden-Entscheidung BVerfGE 25, 362. – Vgl. ferner BVerfGE 32, 54 ff., 68 ff.: Auslegung des Begriffs „Wohnung“ in Art. 13 GG („Grundrechtsbereich“) nach den historischen (S. 69), gene tischen (S. 69 f.) und „teleologischen“ („Schutzzweck“, S. 70 und ff.) Elementen ; die zuletzt genannten haben hier rechtspolitischen Charakter, ebenso wie die rechtsvergleichenden (S. 70) Hin-
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212.11 Gründe für diese Behandlung der herkömmlichen Regeln 29
Diese den Wert der grundsätzlich formulierten methodischen Position des Bundesverfassungsgerichts in Frage stellenden Inkonsequenzen sind überwiegend in der sachlichen Unzulänglichkeit der dort programmatisch bezeichneten Konkretisierungsgesichtspunkte begründet. Das pandektistische Willensdogma aus der deutschen Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts ist nur noch von historischem Interesse. Es bietet keine zureichende Grundlage für Verständnis und Konkretisierungsinstrumentarium der heutigen Verfassung. Das gilt für jeden Versuch, das Auslegungs- bzw. Konkretisierungsziel als Ermittlung eines „Willens“ zu konstruieren; mag es sich dabei um den subjektiven Willen des Normgebers oder um den sogenannten objektiven Willen der Norm handeln. Ferner sind die Grundvorstellungen der Rechtskonkretisierung als einer Normtextinterpretation, der Interpretation als eines Nachvollzugs und der Rechtsentscheidung als eines syllogistischen Schlußverfahrens der „Subsumtion“ oder „Anwendung“ unwiderruflich als den sachlichen Problemen juristischer Praxis nicht gewachsen erkannt worden. Dasselbe gilt für die Theorie eines der Rechtsnorm gleichsam substantiell innewohnenden Inhalts und für das fiktive Ideal pseudo-exakter Eindeutigkeit rechtlicher Normierung. Nur in zwar signifikanten, für die Problematik juristischer Praxis aber weder repräsentativen noch statistisch überwiegenden Grenzfällen ist Konkretisierung in der Tat durch Normtextinterpretation zu leisten, ist solche Interpretation in der Tat ein Nachvollziehen einer bereits getroffenen Entscheidung. Abgesehen von diesen Grenzfällen numerisch determinierter Rechtsvorschriften, liegen die Probleme von Normativität, Normstruktur und praktischer Konkretisierung jedenfalls nicht in der abstrakten Formulierung technischer Verfahrensarten zur Ermittlung eines angeblich vorgegebenen und als Obersatz für ein formallogisches Schlußverfahren aufzubereitenden Normgehalts. Jedem Rechtspraktiker ist die Tatsache vertraut, wie selten der Normtext allein eine inhaltlich abschließende Entscheidungshilfe für den konkreten Fall zu bieten vermag; wie unbestimmt Argumente aus dem „systematischen Zusammenhang“ sich darstellen können; wie unsicher und beinahe der Beliebigkeit des subjektiven Bewertens anheimgegeben Gesichtspunkte „teleologischer“ Interpretation sind. Kein Verweis auf den sogenannten hermeneutischen Zirkel als einer Grundbedingung von Verstehen vermag die Unredlichkeit eines Konkretisierungsverfahrens zu entschuldigen, das den „Inhalt einer Rechtsnorm“ gerade deswegen auf dem Umweg über ihren „Sinn und Zweck“ zu ermitteln sich bemüht, weil weder der Inhalt noch Sinn und Zweck mit den Mitteln grammatischer, historischer, genetischer und systematischer Konkretisierungsaspekte klargestellt werden können.
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Die Verantwortung für die Widersprüche zwischen methodischer Entscheidungspraxis und methodologischen Bekenntnissen in der Rechtsprechung des Bundesverweise. S. 72: Die grammatische Auslegung zeigt: Der Wortlaut ‚Wohnung‘ ist mit dem Sinn ‚räumliche Privatsphäre‘, noch vereinbar; nicht dagegen „ergibt“ sich dieser Sinn „aus“ dem Wortlaut, was auch nicht nötig ist. – Handwerklich saubere Auslegung wird versucht in BVerfGE 38, S. 154 ff. (Befreiung vom Wehrdienst), S. 162 ff.: führende Rolle von Wortlaut und Systematik, Bestätigung durch das genetische Element („Zweck“, ebd.).
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fassungsgerichts liegt somit mehr bei der sachlichen Unzulänglichkeit der Grundlagen dieser Bekenntnisse und weniger in mangelnder inhaltlicher Vertretbarkeit der fallbezogenen Judikatur. Daß Bedingungen, Möglichkeiten und Grenzen praktischer (Verfassungs-)Rechtskonkretisierung in andern Richtungen zu suchen sind, erhellt noch stärker aus den Teilen verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung, die in ihrem Entscheidungs- und Begründungszusammenhang mit den mehr oder weniger kanonischen herkömmlichen Regeln der juristischen Interpretation schon im Ansatz nicht mehr erfaßbar sind.
212.2 Neuere Interpretationsregeln Das gilt für vom Bundesverfassungsgericht neu entwickelte methodische Gesichtspunkte wie das Prinzip der Einheit der Verfassung15, für den Grundsatz verfassungskonformer Gesetzesauslegung16 oder für das Kriterium funktionell-rechtlicher Richtigkeit der Verfassungskonkretisierung, orientiert etwa an der Aufgabenverteilung zwischen gesetzgebender und rechtsprechender Gewalt17. Bei dem Interpretationsgrundsatz der „Einheit der Verfassung“ fehlt bislang die erforderliche Verhältnisbestimmung zu den „herkömmlichen“ Auslegungsregeln, vor allem zur systematischen Interpretationsmethode18. Dasselbe gilt für den Gedanken funktionellrechtlicher Richtigkeit des zu findenden Ergebnisses. Für den Grundsatz verfassungskonformer Auslegung hat sich das Bundesverfassungsgericht in einer Reihe von Entscheidungen bemüht, solche Verhältnisbestimmungen klarzustellen. Nach diesem Kriterium darf ein Gesetz, dessen Verfassungswidrigkeit nicht geradezu evident ist, nicht für nichtig erklärt werden; es darf solange nicht für nichtig erklärt werden, als es im Einklang mit dem Grundgesetz ausgelegt werden kann. Das soll jedoch nicht nur für die unproblematischen Fälle gelten, in denen Verfassungsnormen als Kontrollnormen mit Gesetzesvorschriften verglichen werden, die ihrerseits ohne inhaltliche Einschaltung verfassungsrechtlicher Aspekte interpretiert bzw. konkretisiert worden sind. Das Bundesverfassungsgericht geht vielmehr so weit, zu verlangen, dieser „Einklang“ mit der Verfassung müsse notfalls dadurch hergestellt werden, daß ein mehrdeutiger oder unbestimmter Gesetzesinhalt durch Inhalte von Verfassungsnormen bestimmt wird19. Insoweit soll die Verfassung als „Sachnorm“ zur „Ermittlung“ des Inhalts einfacher Gesetzesvorschriften verwendbar sein. Das Bundesverfassungsgericht sieht somit Grenzen für dieses Verfahren nicht in funkEtwa BVerfGE 1, 14, 32; 2, 380, 403; 3, 225, 231; 6, 309, 361; 19, 206, 220. Z. B. BVerfGE 2, 266, 282; 11, 168, 190; 8, 28, 34; 9, 167, 174; 9, 194, 200; 12, 45, 61; 12, 281, 296; 47, 285, 317; 49, 286, 301; 59, 336, 350; 70, 35, 63; 71, 81, 105; 72, 278, 295; 74, 297, 346, 355; 75, 201, 218; 76, 211, 216. 17 Vgl. etwa BVerfGE 1, 97, 100 f.; 2, 213, 224 f.; 4, 31, 40; 4, 219, 233 f.; 10, 20, 40. 18 Z. B. BVerfGE 99, 1, 12; 101, 54, 95, 100; 101, 106, 131. 19 Z. B. BVerfGE 11, 168, 190; 97, 169, 182 ff.; 97, 228, 252, 262 f.; 100, 1, 44 f.; 101, 54, 95, 100; 101, 106, 131. 15 16
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tionell-rechtlichen Kriterien der Rolle der Verfassung als Kontrollnorm bzw. als Sachnorm gegenüber der unterverfassungsrechtlichen Rechtsordnung. Es sieht solche Grenzen allein im Verhältnis zu herkömmlichen Auslegungsregeln in bezug auf das verfassungskonform zu interpretierende einfache Gesetz: Verfassungskonforme Auslegung soll gegen „Wortlaut und Sinn“20 oder gegen „das gesetzgeberische Ziel“21 nicht möglich sein. Wenn schon Normen der Verfassung nicht nur als Kontroll-, sondern zugleich auch als inhaltsbestimmende Sachnormen in das Geschäft der Konkretisierung einbezogen werden sollen, hätte begründet werden müssen, warum nicht nur der Normtext der unterverfassungsrechtlichen Vorschriften, sondern zugleich auch ihr „Sinn“ bzw. ihr „gesetzgeberisches Ziel“ der Zulässigkeit eines solchen Verfahrens Grenzen setzen.
212.3 Sachbestimmte Konkretisierungsaspekte Am greifbarsten wird die Differenz zwischen Möglichkeiten und Reflexionsstand der herkömmlichen Interpretationsgesichtspunkte und dem, was die Praxis des Bundesverfassungsgerichts realiter vollzieht, in denjenigen Entscheidungs- und Begründungskomponenten, die – herkömmlich gewertet – nicht den Normen, sondern der Wirklichkeit entnommen sind.
212.31 Natur der Sache 32
Die umfangreiche Masse der durch Faktoren von „Wirklichkeit“ gekennzeichneten Spruchpraxis beginnt mit jener Gruppe von Entscheidungen, in der die sogenannte Natur der Sache verfassungsgerichtlich berücksichtigt wird. Das Gericht verwendet die „Natur der Sache“ als Hilfsmittel der Konkretisierung des Willkürverbots und als Kriterium für die Systemkonsequenz gesetzlicher Gesamtregelungen22. Es handelt sich in all diesen Fällen nicht um ein eigenes, methodisch selbständig umschreibbares Kriterium, sondern allgemein um die Berücksichtigung realer Gegebenheiten der sozialen Welt für den Entscheidungszusammenhang des zu lösenden Falls. Die „Natur der Sache“ wird dabei als ersetzbares, in Wahrheit funktionsloses Schlagwort ins Treffen geführt. So soll etwa der Gleichheitssatz nur dann verletzt sein, wenn die zu prüfende Bestimmung als willkürlich bezeichnet werden muß, wenn also „ein vernünftiger, sich aus der Natur der Sache ergebender oder sonstwie sachlich einleuchtender Grund für die gesetzliche Differenzierung oder Gleichbehandlung“ nicht zu finden ist23. Noch deutlicher wird die Fundierung des
20 BVerfGE 2, 380, 398; 18, 97, 111; 95, 64, 81, 86, 93; 97, 186, 193, 196; 98, 17, 45; 99, 246, 258. 21 Z. B. BVerfGE 8, 28, 34. 22 Beispielsweise in BVerfGE 1, 141; 1, 246 f.; 6, 77; 6, 84; 7, 153; 9, 349; 11, 318 ff.; 12, 349; 13, 331; hierzu Rinck.
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Kriteriums „Natur der Sache“ in sozialer Realität statt im Formgehalt einer methodischen Figur dort, wo das Bundesverfassungsgericht zur Bindung des Gesetzgebers an den Gleichheitssatz24 verlangt, es müßten nicht nur die vom Gesetz erfaßten Tatbestände in sich gleichartig geregelt werden; vielmehr müsse auch ein nicht willkürliches, ein sachgemäßes Verfahren bei der Auswahl der Tatbestände, für die eine gesetzliche Regelung getroffen wird, nach Gesichtspunkten ausgestaltet sein, „die sich aus der Art der zu regelnden Lebensverhältnisse ergeben“25. Ähnlich dient die „Natur der Sache“ dem Bundesverfassungsgericht als Sammelbegriff für Überlegungen zur immanenten Gesetzlichkeit von als geschlossen vorgestellten Lebensbereichen, von rechtlichen Ordnungsbereichen oder „Ordnungssystemen“26. Als solche Ordnungssysteme werden z. B. das Recht vergleichbarer Berufsordnungen, das Sozialversicherungsrecht, das Recht der Arbeitslosenhilfe, des Finanzausgleichs, das Steuerrecht, Dienststrafrecht und Wahlrecht behandelt27. Auch hier erscheint die „Natur der Sache“ in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht als eigenständiges methodisches Instrument dafür, Sinn und Zweck der gesetzlichen Gesamtregelung zu ermitteln, sondern als Metapher auf eine auf wechselnde Art bewertete Relation von sachlichen Gegebenheiten und gesetzlichen Regelungen.
212.32 Andere Sachelemente Noch weit über diese Spruchpraxis hinausgehend, verwendet das Bundesverfassungsgericht in erheblichem Umfang Gesichtspunkte, die weder mit den als kanonisch geltenden Auslegungsregeln Savignys noch mit der ihnen zugrundeliegenden Normvorstellung vereinbar sind: so die Notwendigkeit eines sachgemäßen Ergebnisses28; die Möglichkeit eines Bedeutungswandels einer Verfassungsnorm29 auf Grund faktischer Veränderungen der sozialen Welt30; die konstitutive Bedeutung 23 Z. B. BVerfGE 1, 14, 52; 12, 341, 348. – Generalklauseln wie Art. 3 Abs. 1 GG sind – mehr als die Einzelgrundrechte – in ihrer generellen Form vage Normtexte; ihre Konkretisierung ist stark auf die Normprogramme anderer Vorschriften angewiesen. – Zur Struktur der „Anwendung“ von Art. 3 I GG: Müller VIII, S. 100 ff.; Müller IX, S. 15 ff.; zur Abgrenzung der Generalklauseln von Grundrechten und anderen Normtypen: ebd., S. 13 f.; zu demselben Thema unten 542. – Zu Generalklauseln gemäß einer „Allgemeinen Modelltheorie“ Teubner II. 24 Vgl. zum Rauchverbot und einer verfassungswidrigen Ungleichbehandlung von Schankund Speisewirtschaften durch das Hamburger Passivraucher-Schutzgesetz BVerfGE 130, S. 131 ff., 140 ff. 25 BVerfGE 4, 243. Vgl. zur Berücksichtigung der Lebensverhältnisse auch BVerfG, in: DVBl. 1996, S. 357 ff. (Wasserentnahmeabgabe), S. 361. – BVerfG, in: NVwZ 2003, S. 859 ff.: Bei der Handhabung von Fristen ist die typische Arbeitsbelastung zu berücksichtigen. 26 Etwa BVerfGE 9, 349 ff.; 11, 293. 27 26 BVerfGE 9, 349 ff. und 11, 324 f.; 11, 292 f.; 11, 318 ff.; 9, 28 ff.; 1, 141; 6, 77; 12, 349; 13, 331; 7, 253; 1, 246; 6, 84; 11, 362. 28 Z. B. BVerfGE 1, 208, 239; 1, 164, 275; 4, 322, 328 f.; 6, 309, 352; 12, 45, 56. 29 Vgl. dazu Schulze-Fielitz und grundsätzlich Voßkuhle; Weimar, S. 201 ff.
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des von Norm und Entscheidung zu regelnden Sachverhalts, das Berücksichtigen historischer, politischer und sozialwissenschaftlicher Zusammenhänge als die Entscheidung letztlich tragender Aspekte31. Dabei ist nicht zu verkennen, daß schon die traditionellen Auslegungsmethoden zahlreiche (allerdings nicht reflektierte und
30 Z. B. BVerfGE 2, 380, 401; 3, 407, 422; 7, 342, 351; 59, 336, 356 f.; 74, 297, 350 f., 354. – Normwandel durch Wandel der Fakten des Normbereichs: BVerfGE 34, 269 ff., 288 ff. (mit: Faktor des Zeitabstands zwischen Entstehen und Anwendung); die Erwägungen bleiben methodisch noch zu undifferenziert. Normwandel (verfassungsrechtliches Verhältnismäßigkeitsgebot) durch Wandel der Fakten des Sach- und Normbereichs sowie durch eine - hierdurch herbeigeführte - neue Gesetzes- und Verordnungslage (anders gesagt: durch Änderung nicht rechtserzeugter und rechtserzeugter Sachbereichs- bzw. Normbereichselemente) im Beschluß vom 24. 3. 1996 – 2 BvR 616 / 91 – 2 BvR 588 / 92 – 2 BvR 1585 / 93 – 2 BvR 1661 / 93 (Verhängung von Fahrverboten). – Vgl. z. B. auch BVerfGE 94, 315, 323; 105, 61, 70 ff. – Aus der sonstigen Rspr. vgl. etwa Bayer. Verfassungsgerichtshof, E 20, 36 ff., 44 f.; Bundesverwaltungsgericht, in: MDR 1968, S. 532 (bedenklich). – Ein schönes Beispiel aus dem Wahlrecht bietet der Staatsgerichtshof Baden-Württemberg (Urteil vom 14. 7. 1979 – „Unechte Teilortswahl“), in: Baden-Württembergische Verwaltungspraxis 1979, S. 182 ff.: Normwandel durch Änderung der „tatsächlichen Verhältnisse“ im Normbereich. – Zum Obsoletwerden eines wirtschaftslenkenden Maßnahmegesetzes durch „offensichtliche Veränderung der Verhältnisse“, differenzierend mit Vorrang für den Gesetzgeber BVerwG, in: DVBl. 1996, S. 149 ff., 150. VerfGH NW JA 2000, 278 = NWVBl. 1999, 383 = DVBl. 1999, 1271: Ob eine Sperrklausel mit dem Grundsatz der Gleichheit der Wahl vereinbar ist, kann nicht ein für allemal abstrakt beurteilt werden. Der Gesetzgeber darf nicht ohne Rücksicht auf sich ändernde Umstände auf unabsehbare Zeit an einer solchen Regelung festhalten. Er hat die Pflicht, die einmal verfassungsgemäß erlassene Sperrklausel unter Kontrolle zu halten. Für Kommunalwahlen beruht die Annahme, ohne die Sperrklausel werde die Funktionsfähigkeit der Kommunalvertretung gefährdet, infolge der Erfahrungen in anderen Bundesländern ohne Sperrklausel nicht auf einer nachvollziehbaren, den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügenden Prognose. – Zur Wichtigkeit faktischer Änderungen im Sachbereich bzw. Normbereich (hier: von Kompetenzvorschriften) vgl. z. B. BVerfGE 106, 62 ff., 105 ff., 116 ff. (Altenpflege / „Heilberufe“); ebd., 158 ff. zur Bedeutung faktischer Daten für eine rechtlich vertretbare Prognose. – Zu den Grenzen unten v. a. 320.2, 332.233.4 und Fiedler, v. a. S. 50 ff.; Hesse III, v. a. S. 136 ff. – S. a. Schenke, S. 577 f., 588 f. u. ö.; Böckenförde IV, S. 11 ff; das Konzept übernehmen ebenfalls z. B. Jeand’Heur VIII, v. a. S. 75 ff.; s. a. ebd., S. 42 ff., 55 ff., 68 ff. in sorgfältiger Untersuchung; ferner Höfling, S. 189 f.; Hesse II (19. Auflage 1993), S. 18 f.; Schmidt-Jortzig, S. 420; Moritz, S. 84 ff.; Weimar V, S. 259; Friauf, S. 2599. Dogmatische (und rechtspolitische) Umsetzung auch bei Jeand’Heur IX. – Von der Geschichte des deutschen Grundgesetzes her: Pieroth III, S. 24 ff. 31 BVerfGE 1, 14, 32 f.; 1, 144, 148 f.; 1, 208, 209; 1, 264, 275; 3, 58, 85; 3, 225, 231; 4, 322, 328 f.; 5, 85, 129 ff.; 6, 132 ff.; 6, 309, 352; 7, 377, 397; 9, 305, 323 f.; 12, 45, 56; 12, 205 ff. u. ö.; s. a. BVerfGE 15, 126, 133 f.: Dort wird das Versagen herkömmlicher Methodik offen zugegeben und anschließend auf die Sachstruktur des Normbereichs von Art. 134 Abs. 4 GG zurückgegriffen. – Pharmakologisch-medizinische Sachbereichsdaten zu Konsum und Wirkung von Cannabis aus heutiger Sicht in BVerfGE 90, 145 ff., 177. – Vergleichbar ist BVerfGE 29, 183 ff. (Rücklieferung / Asylrecht), 189 ff., 191 ff.: „vergleichende“ Betrachtung der „zu beurteilenden Lebensvorgänge“. Häufig spricht das Gericht von der „Eigenart des zu regelnden Sachbereichs“. Vgl. BVerfGE 101, 1, 35; 101, 54, 75; 101, 132, 138; 102, 254, 337. – Einen sorgfältigen Beitrag der Rechtstatsachenforschung zu den Ansätzen von Normbereichsanalysen in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gibt Philippi, allerdings ohne methodologische Verarbeitung.
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nicht eingestandene) Möglichkeiten enthalten, in die Fallentscheidung Sachelemente einzubeziehen. Doch erzwingen die spezifischen Schwierigkeiten der Normtextinterpretation im Verfassungsrecht eine größere Offenheit dieses Rückgriffs in der Darstellung der Entscheidungsbegründung. Die Fälle, in denen das Bundesverfassungsgericht, ohne die dabei auftauchenden theoretischen und methodischen Probleme zu thematisieren, der „Norm“ im herkömmlichen Verständnis nicht entnehmbare Sachgesichtspunkte zu mitentscheidenden Bestandteilen der Konkretisierung macht, sind eindrucksvolle Belege für die Unumgänglichkeit solcher Offenlegung32. Fälle dieses Typus zeigen insgesamt, daß die programmatische Selbstbeschränkung auf die überlieferten Auslegungshilfen angesichts der Probleme der Praxis illusionär ist; daß die herkömmlichen methodischen Hilfsmittel die in Wirklichkeit geübten Konkretisierungsverfahren auch verbal nicht mehr zu decken und zu verdecken vermögen und daß die alltäglich gehandhabten Vorgänge heutiger Verfassungskonkretisierung Anlaß geben, die überlieferte Konzeption der Rechtsnorm und ihrer „Anwendung“ in Frage zu stellen.
212.33 Zur Rolle der Sachelemente Eine Analyse der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung legt das Aufgeben der traditionellen Konzeption nahe. Weder die herkömmlichen Auslegungsregeln, zu denen sich das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung bekennt, die es aber zugleich in ständiger Rechtsprechung überschreitet, noch die „Natur der Sache“ oder andere methodische oder rechtstheoretische Aspekte reichen für eine solche Analyse aus. Vielmehr ist jeweils dasjenige normative Element herauszuarbeiten, das – oft abweichend vom Wortlaut der gerichtlichen Begründung – den Fall der Sache nach entscheidet, das also ohne wesentliche Änderung des Ergebnisses nicht hinweggedacht werden könnte. Dabei wird deutlich, daß – verdeckt durch die Wortgestalt herkömmlicher juristischer Methodik und ihres Darstellungsstils – zahlreiche zusätzliche normative Faktoren eine Rolle spielen. Sie entstammen zum großen Teil dem Bereich, der herkömmlich als „Wirklichkeit“ pauschaliert und der „Rechtsnorm“ gegenübergestellt zu werden pflegt, der aber im tatsächlichen Vorgang der Konkretisierung als Bestandteil der die Entscheidung tragenden Norm behandelt wird. Unrichtige, normwidrige Entscheidungen sind dabei nicht gemeint. Ebensowenig fallen die als normativ behandelten Bestandteile „der“ Wirklichkeit mit den Merkmalen des zu entscheidenden Sachverhalts zusammen. Sie sind allgemeiner als die Bestandteile des Sachverhalts, lassen dessen fallgebundene Gegebenheiten typologisch hinter sich und bestimmen die Konkretisierung der Rechtsnorm mit.
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Solche Entscheidungselemente reichen vom motivierten Überspielen des Wortlauts der Vorschrift über das Zurückgehen allein auf die subjektiven Vorstellungen
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32 Aus neuerer Zeit sollen nur wenige Beispiele genügen: BVerfGE 97, 271, 292 ff.; 99, 300, 315 ff.; 101, 1, 36; 101, 239, 259 f.; 101, 297, 307; 101, 361, 383; 101, 361, 390; 102, 224, 239; 102, 254, 304.
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des Gesetzgebers im Umkreis der überlieferten Methodik bis zur unmittelbaren Einführung politologischer, volkswirtschaftlicher, soziologischer, statistischer und sonstiger Teilergebnisse in den fallentscheidenden Begründungs- und Darstellungszusammenhang – was im Einzelfall jeweils normwidrig oder nicht normwidrig geschehen kann. Gesichtspunkte solcher und analoger Art durchziehen in Entscheidungen verschiedenen Typs die gesamte bisherige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Stichwortartig seien Erkenntnisse zum allgemeinen Gleichheitssatz als einer auf Sachgegebenheiten verweisenden Generalklausel genannt; zu den speziellen Gleichheitsgeboten und Diskriminierungsverboten33 der Verfassung, wie den Grundsätzen der Wahlgleichheit, der Chancengleichheit der Parteien, der Gleichberechtigung, der Steuergerechtigkeit und anderen; zur Spezialität der sogenannten Einzelgrundrechte; zur Konkretisierung von Grundsatznormen wie des als allgemeine Handlungsfreiheit verstandenen Entfaltungsgrundrechts; zur dogmatischen Begründung von Instituts- und institutionellen Garantien; zum Norm- und Verfassungswandel auf Grund eines Strukturwandels des normierten Wirklichkeitsausschnitts; zur Verzahnung der zivil- und strafrechtlichen Rechtsordnung mit dem Verfassungsrecht; zur Verhältnismäßigkeit gesetzgeberischer Grundrechtsausgestaltung und Grundrechtseinschränkung; zur Struktur der parteienstaatlichen Demokratie; zum Auffüllen generalklauselartiger Wertaspekte durch verfassungsrechtlich relevante empirische Befunde; zur Reichweite und gegenseitigen Abgrenzung grundgesetzlicher Kompetenzvorschriften34; zur Konkretisierung von Verfassungsbestimmungen nach dem eingestandenen Versagen der herkömmlichen Auslegungsregeln; zur normativen Maßgeblichkeit und Unmaßgeblichkeit staatspolitischer Überlegungen; zur Rationalisierung verfassungsrechtlicher Güterabwägung; zur sachlichen Differenzierung einer möglicherweise vom Grundgesetz positivierten „objektiven Wertordnung“; zu verfassungstheoretischen Voraussetzungen verfassungsgerichtlicher Praxis35.
212.34 Sachelemente von Grundrechten 36
Besonderheiten und über die herkömmlichen Methoden hinausgehende Elemente enthält nicht zuletzt die verfassungsgerichtliche Judikatur zu den Grundrechten. Die 33 Zu der aus Art. 32 und 33 GG folgenden Verpflichtung des Gesetzgebers, die notwendigen empirischen Grundlagen über die unterschiedliche Auswirkung bestimmter Anknüpfungsmerkmale auf Männer und Frauen zu ermitteln vgl. Fuchsloch. 34 Vgl. dazu BVerfG, in: DVBl. 1996, S. 357 ff. (Wasserentnahmeabgabe). – Zu Änderungen im Sachbereich / Normbereich gesetzlicher Vorschriften als Problem des Prozeßrechts vgl. etwa BVerfGE 94, 315, 323; 105, 61, 70 ff. 35 s. die Untersuchungen bei Müller I, S. 114 ff.; Müller II. – In geringerem Umfang gilt Entsprechendes für die verwaltungsgerichtliche Judikatur. So rechnet z. B. BVerwGE 36, S. 192 ff., 214 f. (unter verfahrensrechtlichen Aspekten) im Rahmen der genetischen Interpretation prinzipiell zutreffend auch das Einbeziehen „tatsächlicher Vorgänge“ zur „Rechtsfindung“. Undurchdacht allerdings die geläufige Rede vom „Willen des Gesetzgebers“, ebd.; hierzu z. B. auch BVerwGE 37, S. 252.
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Grundrechte erweisen sich in der Praxis als besonders stark sachbestimmte Vorschriften. Im Umgang mit ihnen behandelt die Rechtsprechung, wenn auch ohne rechts(norm)theoretische Reflexion, die der Norm zugehörige und sie fundierende Teilwirklichkeit als Teil der Norm. Fragt man nicht allgemein rechtstheoretisch danach, was eine Norm „sei“, sondern fragt man nach den allen methodischen Einzelheiten vorausliegenden Grundbedingungen praktischer Rechtsverwirklichung, so ergibt sich: „Normativ“ heißt sinnvoll all das, was den zu entscheidenden Fall bestimmt, was für seine Lösung die Richtung angibt. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu den Grundrechten weist in gesteigertem Grad Elemente dessen auf, was als „Wirklichkeit“ der „Norm“ herkömmlich entgegengestellt zu werden pflegt. Die Strukturelemente rechtserzeugter wie nichtrechtserzeugter Art, die jeden der grundrechtlich geschützten Ausschnitte individuellen und sozialen Lebens kennzeichnen, bieten eine Fülle für die verfassungsgerichtliche Praxis unentbehrlicher sachlicher Aspekte, die vielfach das eigentliche Entscheidungsmoment eines Falls bilden. Im Urteil des Ersten Senats zur lebenslangen Freiheitsstrafe36 wird zunächst das Normprogramm des Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG entwickelt. Anschließend entfaltet das Gericht anhand der vorgelegten Gutachten die Auswirkungen der lebenslangen Freiheitsstrafe auf die Persönlichkeit von Gefangenen. Diese Realdaten gehören jedenfalls zum Sachbereich des Menschenwürdegrundrechts. Soweit diese Folgen mit der Würde des Menschen nach Art. 1 Abs. 1 GG nicht vereinbar erscheinen, verbleibt es bei ihrer Qualität als Sachbereichsfaktoren. Normbereichselemente der Menschenwürde im lebenslangen Strafvollzug entwickelt der Senat dagegen in Gestalt von rechtserzeugten beziehungsweise durch das Recht noch zu erzeugende Faktoren (gesetzliche Regelung der Voraussetzungen, unter denen die Vollstreckung einer lebenslangen Freiheitsstrafe ausgesetzt werden kann)37.
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Die Folgen des Freiheitsentzugs sind anders zu qualifizieren, wenn man sie an einem anderen Normprogramm mißt; dies ist hier unterhalb des Verfassungsrechts vor allem das des § 211 Abs. 1 StGB. Sie sind mit dem Normprogramm der strafrechtlichen Vorschrift vereinbar und – je nach Lage des Falls – für deren Konkretisierung auch erheblich. Als Normbereichselemente der gesetzlichen Vorschrift unterliegen sie der Beurteilung am Maßstab der Menschenwürde des Art. 1 Abs. 1 GG als einer Norm, die aus (rechtsstaatlichen) Gründen des positiven Rechts einen höheren Rang hat. Die gleichzeitige Bewertung der Folgen des Freiheitsentzugs als Sachbereichselemente des Menschenwürdegrundrechts in einem Fall wie dem vorliegenden wird davon nicht berührt.
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Auf die Entscheidungsrelevanz sachlicher Aspekte weist auch die Notwendigkeit, die Verfassungsmäßigkeit von Eingriffen in das Recht auf körperliche Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 GG nicht nur an Vorschriften von Verfassungsrang wie dem
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36 37
BVerfGE 45, 187, 227 ff., 229 ff. Ebd., 187 (Ls 3), 242 ff.
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Übermaßverbot zu überprüfen, sondern zugleich Eigenart und Auswirkungen solcher Eingriffe fachmedizinisch in der Perspektive des grundrechtlichen Normprogramms zu bewerten38. Das gilt auch für eine Materie wie die der Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit, wenn das Bundesverfassungsgericht in einer Entscheidung zu Fragen der Kriegsdienstverweigerung die Grundstruktur der Gewissensentscheidung, also einen Teil des Normbereichs von Art. 4 Abs. 1 GG, im Hinblick auf subjektive Verbindlichkeit, Situationsbezogenheit und Normbezogenheit als auf seine wesentlichen Sachkriterien analysiert39; wenn es in einem Beschluß zur Ersatzdienstverweigerung die Spezialität der Regelungen des Art. 12 (a) Abs. 2 und des Grundrechts aus Art. 4 Abs. 3 GG gegenüber Art. 4 Abs. 1 GG mit der thematischen Spezialität der fraglichen Normbereiche gegenüber dem der allgemeinen Gewissensfreiheit begründet40 oder wenn es in der Frage der Besteuerung gewerblicher Unternehmertätigkeit in Zusammenhang mit kollektiver Religionsausübung religionsneutrale Randzonen des Normbereichs der Kultusfreiheit nach dem Kriterium der sachlichen Nähe auszugrenzen sucht41.
BVerfGE 16, 194, 198 f.; 17, 108, 115 f. BVerfGE 12, 45, 55. – Eingehend zur Normbereichsanalyse der Gewissensfreiheit Klier. – Aus der höchstrichterlichen Praxis vgl. etwa zum Sach- / Normbereich von Art. 4 I, II GG: BVerfGE 105, 279, 292 ff. („Sekte“); BVerfGE 108, 282, 303 ff. („Kopftuch“-Urteil). 40 BVerfGE 19, 135, 138. 41 BVerfGE 19, 129, 133. – Ein (im Ergebnis vertretbares) Kuriosum bietet BVerfGE 35, 366 („Kruzifix im Gerichtssaal“): Der Senat beschränkt sich darauf, Art. 4 GG subjektivrechtlich zu erörtern, weil eine – zur objektivrechtlichen Prüfung gehörende – Normbereichsanalyse „neben rechts- und justizgeschichtlichen Untersuchungen ein Eingehen auf die verschiedenen Verhältnisse und Anschauungen in den einzelnen Landesteilen der Bundesrepublik erfordern“ würde und in bezug auf die „Bedeutung des hier zu entscheidenden Falles“ zu aufwendig wäre; so ebd., 374 f. Im wesentlichen richtige Darstellung der Problematik desKreuzes im öffentlichen Raum: BVerfG, in: NJW 1995, S. 2477 ff. gleich BVerfGE 93, S. 1 ff. – Die Notwendigkeit einer semiotischen Analyse im Normbereich von Art. 4 GG stellt sich neuerdings bei der Problematik des Kopftuchtragens von Lehrerinnen: VG Stuttgart NVwZ 2000, 959: Trägt eine Lehrerin, religiös motiviert, ein Kopftuch im Schulunterricht, widerspricht dies der staatlichen Neutralitätspflicht und damit auch den Dienstpflichten einer Lehrerin. Art. 4 I, II GG wird somit durch kollidierendes Verfassungsrecht beschränkt. Anders VG Lüneburg NJW 2001, 767: Das Fehlen der Eignung allein aus dem religiös motivierten Tragen eines Kopftuches herzuleiten, stellt eine unzulässige Benachteiligung eines Bewerbers um eine Stelle im öffentlichen Dienst dar. Insbesondere ist die Suggestivkraft des Kopftuchs in religiöser Hinsicht als gering zu werten. Es ist vergleichbar mit dem Tragen eines Kreuzes an einer Halskette als Schmuck und zugleich als Ausdruck des Bekenntnisses zum christlichen Glauben. – Vgl. dazu BVerwG, in: DVBl. 2002, S. 1645 ff. sowie zur Ergänzung EGMR, in: NJW 2001, S. 2871 ff. – Zu den Realdaten des Sach- / Normbereichs dieses Falltyps bei „gesellschaftlichem Wandel“ jetzt das „Kopftuch“-Urteil: BVerfGE 108, 282, 303 ff. (empirische Umfragen, „gewachsene religiöse Vielfalt in der Gesellschaft“). Nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts (NVwZ 2013, S. 64 ff.) gibt es keine Beschränkung des Austritts aus der Religionsgemeinschaft in Bezug auf die Steuerpflicht. Begründet wird das mit einer indirekten Wirkung des theologischen Selbstverständnisses der Religionsgemeinschaft, weil man andernfalls zu einer innerkirchlichen Streitigkeit Stellung nehmen müsste. 38 39
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Ein besonders stark sachgeprägtes Grundrecht ist Art. 10, der schon mit seiner Begrifflichkeit aus dem Bereich der Telekommunikation auf eine dynamische technische Entwicklung verweist. Zusammen mit dem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht und mit Art. 13 wird er gelegentlich unter dem Stichwort „Computergrundrecht“ zusammengefasst. Der Kernbereich privater Lebensgestaltung unterliegt dabei einem absoluten Schutz, den das Bundesverfassungsgericht nicht räumlich ausgestaltet hat, sondern durch einen Richtervorbehalt.42 Nach dem so genannten Doppeltürenmodell braucht die Behörde eine Ermächtigungsgrundlage sowohl für die Übermittlung als auch für den Abruf von Daten.43 212.341 Artikel 5 Grundgesetz Ergebnis einer zutreffenden Normbereichsanalyse der Pressefreiheit44 ist zum Beispiel die verfassungsgerichtliche Einsicht in eine spezifische Verbindung individueller und institutioneller Verbürgungen45, ist die Legitimierung einer rechtlichen Sonderstellung der Presse um ihrer Aufgaben im demokratischen Staat willen46, wozu die Strukturuntersuchung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung im Urteil über die Parteienfinanzierung47 tritt. Für einen sachlich abgegrenzten Teil des Normbereichs der Meinungsfreiheit, für die Veranstaltung von Rundfunkdarbietungen, hat das Bundesverfassungsgericht im Fernseh-Urteil vom 28. Februar 1961 auf Grund sorgfältiger struktureller Überlegungen grundlegende Richtlinien für die Rundfunkorganisation formuliert48. 42 Vgl. dazu BVerfGE 130, S. 1 ff. (Zur Verwertbarkeit rechtswidrig erhobener personenbezogener Informationen im Strafprozess), S. 22 ff. 43 Vgl. dazu BVerfGE 130, S. 151 ff., 184, 193. 44 Zeitungsberichte im Internet sind von der Meinungsfreiheit geschützt und nicht durch die Freiheit der Presse, weil diese nur eine institutionelle Garantie darstellt. Vgl. dazu BVerfG, Beschluss vom 25.01.2012 – I BvR 2499 / 09 und I BvR 2503 / 09, NJW 2012, S. 1500 ff. In dieser Entscheidung wird nicht nur die seit einigen Jahren diskutierte Konkurrenzfrage zwischen Presse- und Meinungsfreiheit zu Gunsten der Meinungsfreiheit beantwortet, sondern auch die von der Caroline-Rechtsprechung (seit EGMR, in NJW 2004, S. 2647 ff.) aufgestellte Regelvermutung zu Lasten der Presse bei Kindern und Prominenten eingegrenzt. Wenn Jugendlichen ein eigenes Medienimage zukommt und es sich um schwerwiegende Delikte handelt, kann das Öffentlichkeitsinteresse Vorrang vor dem Persönlichkeitsrecht haben. Dabei handelt es sich um ein Normbereichsargument aus dem Medienbereich. 45 So schon in BVerfGE 10, 118, 121; 15, 223, 225. 46 BVerfGE 20, 162, 175 f.: s. a. BVerfGE 66, 116, 134 ff. – Normbereichsargumente („eigener Erfahrungs- und Kontrollbereich“ – „nicht transparente(n) Politik- und Wirtschaftsbereiche(n)“ finden sich im Beschluß zu Meinungsfreiheit / herabsetzende Tatsachenbehauptungen: BVerfGE 85, 1 ff., 21 f. – Aspekte des Normbereiches („Schutzbereich“) der Meinungsfreiheit werden erfahrungs(hier: sprach)wissenschaftlich erörtert in BVerfGE 85, 23 ff., 31 ff. (Fragen, Fragesätze / Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG). 47 BVerfGE 20, 56, 97 ff.; ferner BVerfGE 24, 300, 335 ff. 48 BVerfGE 12, 205 ff. – Ansätze zur methodisch allerdings ungenauen Normbereichsanalyse in: BVerfGE 31, 314 (Rundfunkanstalten / Umsatzsteuern), v. a. 325 und f., 327 und f.;
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Erwägungen zum Normbereich stellt das Bundesverfassungsgericht auch in seiner sogenannten Fünften Rundfunk-Entscheidung an49, und zwar jetzt auch explizit. Der Bedeutungswandel des Grundrechts wird hier unmittelbar aus dem Faktenwandel im Normbereich gefolgert: „Inhalt und Tragweite verfassungsrechtlicher Bestimmungen hängen (auch) von ihrem Normbereich ab; ihre Bedeutung kann sich bei Veränderungen in diesem Bereich wandeln“50. Bei der Analyse des Normbereichs von Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG unterscheidet das Gericht dann zwischen „herkömmlichem Rundfunk“ und „rundfunkähnlichen Kommunikationsdiensten“. Die Ermittlung von Übertragungstechnik, Inhalt der Sendungen und den am Kommunikationsprozeß Beteiligten dient als Begründung dafür, auch die „rundfunkähnlichen Kommunikationsdienste“ in den Normbereich der Rundfunkfreiheit aufnehmen zu können51. Eine sorgfältige Unterscheidung von Normbereich und Sachbereich trifft das Verfassungsgericht im Urteil zum Rundfunkfinanzierungsstaatsvertrag.52 Seit seinem grundlegenden Judikat zur gesetzlichen Regelung der Rundfunkordnung hat sich die Medienlandschaft erheblich verändert.53 Es herrscht in diesem Bereich inzwischen ein massiver Konzentrationsdruck unter maßgeblicher Beteiligung internationaler Finanzinvestoren. Die horizontale und vertikale Verflechtung der Medienmärkte nimmt dadurch zu, und es entsteht eine multimediale Wertschöpfungs- und Vermarktungskette. Gerade wegen dieses Wandels im Sachbereich wird vom NormBVerfGE 35, 79, etwa S. 109 ff., 117 ff., 121 ff.; ferner im „Lebach“-Urteil, BVerfGE 35, 202, bes. S. 222, 226 ff., 228 ff. – Normbereichsanalyse der Sache nach z. B. auch in BVerfG in NVWZ 2012, S. 33 ff. (5%-Sperrklausel im Europäischen Wahlgesetz). 49 BVerfGE 74, 297 ff. – Vgl. weiterhin BVerfGE 78, S. 101; 83, S. 283; 87, S. 181; 89, S. 144; 90, S. 60; 107, S. 299; 119, S. 181 ff. 50 Ebd., 350. Vgl. hierzu schon BVerfGE 73, 118, 154: „Bei der Beurteilung der Anforderungen, die sich … für die Rundfunkgesetzgebung der Länder ergeben, dürfen die … modernen Entwicklungen auf dem Gebiet des Rundfunks nicht unberücksichtigt bleiben. Diesen kommt Bedeutung für die Auslegung der verfassungsrechtlichen Garantie zu: Sie gehören … zu dem konkreten Lebenssachverhalt, auf den das Grundrecht bezogen ist und ohne dessen Einbeziehung eine die normierende Wirkung der Rundfunkfreiheit entfaltende Auslegung nicht möglich erscheint“. – Nicht nur Sach-, sondern auch Normbereichsstatus haben die von BVerfGE 90, 60 ff., 88 einbezogenen „subtileren Mittel indirekter Einwirkung“ einer „Gängelung der Kommunikationsmedien durch den Staat“ wie Organisations- und Konzessionsmacht, Kapazitätszuteilung, Aufsicht und Teilfinanzierung bezüglich der Sendeanstalten. 51 Ebd., 352; vgl. zum Normbereich der Rundfunkfreiheit auch BVerfGE 57, 295, 322. – Eine umfassende Analyse des Normbereichs der Rundfunkfreiheit liefert Rossen. – E 82, 6 ff. (eheähnliche Gemeinschaft) spricht S. 12 ff. von „Normenbereich“. E 83, 238 ff., 302 vager von „Sozialbereich“. – Zur eheähnlichen Gemeinschaft als einem „sozialen Typus“ später auch BVerfGE 87, 234 ff. (Einkommensanrechnung nach dem Arbeitsförderungsgesetz), z. B. 256, 260, 264 ff. – Zur nichtehelichen Lebensgemeinschaft, unter Einbeziehung des strukturierenden Konzepts, auch Kingreen. – Zum Normbereich des Art. 6 gehört nicht der Umstand, dass eine Ehe glücklich ist. Vgl. dazu VG Berlin: Der verfassungsrechtliche Schutz der Ehe ist nicht auf glückliche Ehen beschränkt, in: NVwZ-RR 2012, 824. 52 BVerfGE 119, S. 181 ff. 53 BVerfGE 119, S. 181 ff., 216 ff.
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programm der Rundfunkfreiheit her ein besonderer Schutz der publizistischen Vielfalt dringlich.54 Die Sicherung dieser Vielfalt erfordert ein Abkoppeln von den ökonomischen Mechanismen. Umgekehrt ist durch das Entwickeln von Inhalten, Formaten und Genres eine bedarfsgerechte Finanzierung zu gewährleisten. Hier geht es deshalb um den Normbereich (und nicht nur um den Sachbereich), weil das Normprogramm eine Teilnahme des öffentlich-rechtlichen Rundfunks an diesen Entwicklungen fordert. Ein weiteres Beispiel bietet der Versuch eines Landesgesetzgebers, auf eine „dramatische Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt“ zu reagieren, indem eine antragslose Teilzeitbeschäftigung ohne Wahlmöglichkeit für Beamte eingeführt wird.55 Dies scheitert jedoch am Kernbestand der hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums, den das Gericht methodisch mit Hilfe einer phänomenologischen Technik bestimmt: „Dies ergibt sich bereits aus dem Wesen einer Einrichtungsgarantie, deren Sinn gerade darin liegt, den Kernbestand der Strukturprinzipien – mithin die Grundsätze, die nicht hinweggedacht werden können, ohne daß damit zugleich die Einrichtung selbst in ihrem Charakter grundlegend verändert würde – dem gestaltenden Gesetzgeber verbindlich als Rahmen vorzugeben.“56 Zwei grundrechtliche Leitentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zeichnen sich besonders dadurch aus, daß sie den Einbezug von Realdaten in die Konkretisierung nicht nur für den einzelnen Fall zu nutzen wissen, sondern vorbildlich zu verallgemeinerungsfähigen dogmatischen Grundsätzen verdichten: der MephistoBeschluß von 1971 und der ihm folgende Beschluß zum Hessischen Universitätsgesetz von 197857. Anhand der Kunstfreiheit macht der Senat im Mephisto-Fall die methodisch und dogmatisch präzisierte Sachhaltigkeit eines grundrechtlichen Normbereichs zur Basis einer rationalen Bereichsdogmatik und damit einer differenzierten Konkretisierbarkeit der Garantie. Die Struktur künstlerischer Tätigkeit als eines schöpferischen Gestaltungsprozesses aus innerer und äußerer Erfahrung über das Mittel bewußt anschaulicher Formensprache, die Untrennbarkeit unbewußter und bewußter Bestandteile dieses Gesamtvorgangs, das Zusammenwirken intuitiver, kreativer und kritischer Fähigkeiten, die Unterscheidbarkeit von Werkbereich und Wirkbereich, die Rolle von Künstler, Kunstobjekt und vermittelnden Instanzen, die Unterscheidung künstlerischer Gattungstypen58 und andere Realdaten werden vom Gericht als (mit BVerfGE 119, S. 181 ff., 217. BVerfGE 119, S. 247 ff., 253. 56 BVerfGE 119, S. 247 ff., 263. 57 BVerfGE 30, 173, v. a. 188 ff.; BVerfGE 47, 327, v. a. 367 ff. Der Mephisto-Beschluß folgt dem Ansatz bei Müller IV, S. 67 ff. Zu den beiden Entscheidungen s. a. ders. XVIII, S. 59 ff., 200 f. u. ö.; 207, 215, 217 u. ö. – Vgl. noch z. B. BVerfGE 81, 298 ff., 304 ff., E 82, 1 ff., 4. – Ausführliche und differenzierte Normbereichsuntersuchung zur Forschungs- und Wissenschaftsfreiheit bei Trute. 58 Daß dieses Konzept (Müller IV, v. a. S. 40 ff.) praktischen Einfluß gewonnen hat, veranlaßte ein Wirtschaftsmagazin (Innovation 5 / 1991, S. 70) zu dem Aufschrei „Quo vadis, Deutschland?“ 54 55
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diesem Begriff nicht bezeichnete) Elemente des Normbereichs von Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG herausgearbeitet. Das Anknüpfen an die aus der Weimarer Zeit überlieferte Formel von der Eigengesetzlichkeit der Kunst wird dann allerdings nicht weiter in Richtung auf die Figur der nichtrechtserzeugten Normbereichsfaktoren präzisiert; auch biegt der Senat nach Formulierung einiger wichtiger Rechtsnormen zum Allgemeinen Teil der Grundrechtsdogmatik für den vorliegenden Fall wieder auf eine deutlich weniger rationale Abwägung sogenannter Werte, hier einerseits der Kunstfreiheit, andererseits der Menschenwürde zurück59. In der Entscheidung zu dem Roman „Esra“ von Maxim Biller geht das Bundesverfassungsgericht, das Merkmal der „Eigengesetzlichkeit“ präzisierend, einen Schritt weiter. Es stellt zunächst eine Vermutung für die Fiktionalität auf und betont sodann, die Kunstfreiheit schließe das Recht zur Verwendung von Vorbildern aus der Lebenswirklichkeit ein. Schließlich formuliert es in Leitsatz 4: „Zwischen dem Maß, in dem der Autor eine von der Wirklichkeit abgelöste ästhetische Realität schafft, und der Intensität der Verletzung des Persönlichkeitsrechts besteht eine Wechselbeziehung. Je stärker Abbild und Urbild übereinstimmen, desto schwerer wiegt die Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts. Je mehr die künstlerische Darstellung besonders geschützte Dimensionen des Persönlichkeitsrechts berührt, desto stärker muß die Fiktionalisierung sein, um eine Persönlchkeitsrechtsverletzung auszuschließen.“60 Zu dieser Entscheidung gibt es zwei Minderheitsvoten, die das Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit behandeln. Sie halten die Mehrheitsposition für nicht folgerichtig.61 Wenn Kunst fiktional sei, könne sie nicht an der Wirklichkeit gemessen werden. Man könne also Kunst nur ganz oder gar nicht anerkennen; denkbar sei lediglich eine allgemeine Mißbrauchsschranke bei Schmähungen.62 59 BVerfGE 30, 173, 193 ff. – Auf dieser Linie z. B. auch BVerfGE 77, 240, 253 ff. (Werbung für Kunstwerk). – KG NJW 1999, 1968: Die Kunstfreiheit betrifft nicht nur die eigentliche künstlerische Betätigung, den Werkbereich des künstlerischen Schaffens, sondern auch den Wirkbereich, in dem der Öffentlichkeit Zugang zu dem Kunstwerk verschafft wird, also seine Darbietung und Verbreitung. Zu diesem Wirkbereich gehört auch die Werbung für das Kunstwerk. Diese ist zwar kein Medium, welches das Kunstwerk selbst oder seinen Inhalt transportiert; sie bildet aber ein Kommunikationsmittel, das ebenfalls zum Wirkbereich künstlerischen Schaffens gehört. Werbung für ein Kunstwerk fällt somit unter den Schutzbereich des Art. 5 III GG. Zur Auseinandersetzung um die Dogmatik der Kunstfreiheit und um die Position bei Müller IV vgl. J. Hoffmann. – Grundsätzlich zu dieser Tradition des BVerfG: Müller III, S. 103 ff. – Intensive Konkretisierung des Strukturkonzepts (für die Kunstfreiheit) bei Erhardt S. 82 – 112 und durchg.; ebd., S. 91 ff. u. ö. auch seine Auseinandersetzung mit Kritik an dem Konzept. Auf der hiesigen Linie jetzt auch BGH Urt. v. 21. 6. 1990 („Opus Pistorum“) von Henry Miller, in: Juristenzeitung 1990, S. 1137 ff.; dazu Jean-d’Heur VII; Maiwald. – Eingehende Normbereichsanalyse von Baukunst und Städtebau bei B. Schneider. – Ausführliche allgemeine Diskussion auch bei Vlachopoulos. – Als gutes Beispiel für die Unterscheidung und Typologie von Schutzzonen bei anderen Garantien vgl. (für den allgemeinen Gleichheitssatz) Kim: Kern-, Egalitär-, Auswirk- und Willkürbereich des Art. 3 Abs. 1 GG. 60 BVerfGE 119, S. 1 ff., 1. 61 Vgl. dazu BVerfGE 119, S. 1 ff., 37.
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Texttheoretisch betrachtet, überzeugt diese Kritik aber nicht. Die Sprache ist ein Ganzes, und dieser Holismus endet nicht an den Grenzen des Sprachsystems zur sozialen Welt. Die Sprache kann stets nur im Zusammenhang mit sozialen Praktiken verstanden werden. Sie legt damit genau das nahe, was das Minderheitsvotum vermeiden möchte, nämlich die Gegenüberstellung bzw. Unentscheidbarkeit zwischen Fiktion und Empirie.63 Eine feste Grenzlinie zwischen Kunst und Wirklichkeit läßt sich nicht ziehen64 – besonders nicht bei diesem Text, der ein Roman über das Problem des Schlüsselromans ist.65 Deswegen erzeugt man keine „Mogelpackung“66, wenn man das Verhältnis beider Größen zum Thema macht. Es ist dann tatsächlich eine Folge gerade der kunstspezifischen Betrachtung, das Ausmaß der Persönlichkeitsverletzung und die Erzählweise miteinander zu verknüpfen. Ob das dem Gericht gelingt, indem die direkte Erzählweise bei Esra und der indirekte Duktus bei ihrer Mutter gegenübergestellt werden, ist eine literaturwissenschaftliche Frage, die hier offen bleiben kann. Jedenfalls geht das Gericht, indem es das Problem bis zu diesem Punkt treibt, zu Recht in die Richtung einer Normbereichsanalyse. Der normstrukturierende Ansatz einer grundrechtlichen Bereichsdogmatik wird im Beschluß zum Hessischen Universitätsgesetz auf die Wissenschaftsfreiheit des Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG ausgedehnt67. Auch hier werden Faktoren des Sachbereichs, die sich am Maßstab des Normprogramms als Normbereichselemente erweisen und die vom Senat auch so behandelt werden, in Anknüpfung an eine analoge Formel von „wissenschaftlicher Eigengesetzlichkeit“ eingeführt (typische Handlungsweisen beim Auffinden, Deuten und Weitergeben wissenschaftlicher Erkenntnisse). Wissenschaftliche Arbeit wird strukturell als ernsthafter planmäßiger Versuch zum Ermitteln der Wahrheit gefaßt. Das Vorhandensein verschiedener Wissenschaftstheorien, die Unabgeschlossenheit wissenschaftlicher Bemühungen, die Schlüsselfunktion von Wissenschaft für individuelle Selbstverwirklichung wie für den gesellschaftlichen Prozeß, die Verwissenschaftlichung vieler Lebensbereiche und die dadurch steigende Bedeutung der Funktion der Wissenschaft für die Ausbildung von Menschen treten im Ergebnis als Normbereichsfaktoren auf. Der Senat behandelt Wissenschafts- und Kunstfreiheit insoweit gleich, als ihre Normprogramme vergleichbar und insoweit ungleich, als ihre empirischen Realdaten verschieden sind.
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212.342 Artikel 6 Grundgesetz Methodisch zu unbestimmt, sachlich sehr sorgfältig zieht das Gericht Realdaten aus den Sachbereichen des elterlichen Erziehungsrechts (Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG) und 62 63 64 65 66 67
BVerfGE 119, S. 1 ff., 44. Vgl. dazu BVerfGE 119, S. 1 ff., 53. BVerfGE 119, S. 1 ff., 21. Vgl. dazu BVerfGE 119, S. 1 ff., 46. BVerfGE 119, S. 1 ff., 47. Zu aktuellen Problemen im Schutzbereich der Grundrechte vgl. Kaufhold, S. 34 ff.
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des staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrags (Art. 7 Abs. 1 GG) im Sexualkunde-Beschluß heran68, so die Unterscheidung einer Wissen vermittelnden Sexualwissenschaft und einer Werte vermittelnden Sexualerziehung, die Rolle der Eltern in der Sexualerziehung der Kinder, deren Abhängigkeit von Lebensweise und Auffassungen der Eltern, die Rolle der Religion als eines sozialen Faktors für die Sexualmoral, die vielfältigen gesellschaftlichen Bezüge des Sexualverhaltens sowie faktische Unterschiede schulischer Sexualerziehung zu der durch die Eltern. Da und soweit diese Faktoren mit den Normprogrammen der Art. 7 Abs. 1 und 6 Abs. 2 S. 1 GG vereinbar und ferner für die Entscheidung des vorliegenden Falles erheblich sind, werden sie nicht nur Sachbereichs-, sondern Normbereichselemente. Der Senat setzt sie dafür ein, den dogmatischen Gehalt des elterlichen Erziehungsrechts wie des staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrags sowie das Verhältnis beider zueinander zu präzisieren. 45
In einer anderen Entscheidung werden im Rahmen des Sondervotums69 Tatsachen aus dem sozialen Sektor Familie zwar methodisch wenig reflektiert, aber im Vergleich mit der Mehrheitsentscheidung dennoch sachlich rationaler offengelegt. Es geht dort um die Frage, wieweit die Kosten einer Hausgehilfin zugunsten erwerbstätiger Eltern mit unterschiedlicher Kinderzahl steuerlich verschieden behandelt werden dürfen. Der dissentierende Richter argumentiert mit Realdaten zu den Sachbereichen der Generalklausel des Art. 3 Abs. 1 GG sowie der Grundrechte nach Art. 6 Abs. 1 und 12 Abs. 1 GG (zum Beispiel „die gegenwärtige Jugendarbeitslosigkeit“, „die faktische Lage der Frauen“, Verhältnis der steuerlichen Behandlung der Kosten einer Hausgehilfin zur allgemeinen steuerlichen Behandlung von Kinderbetreuungskosten, Vergleich einkommensschwacher mit gutverdienenden Ehepaaren). Vom Tatsächlichen her werden drei Familientypen (nur der Ehemann berufstätig – beide Eheleute berufstätig – alleinstehende Elternteile) mit Blick auf ihre steuerliche Behandlung näher untersucht. Diese Typisierung im Faktischen ist mit dem Normprogramm des Art. 6 Abs. 1 GG vereinbar und zur Konkretisierung des dort normierten „besonderen Schutzes“ in einem Fall wie diesem auch erheblich; sie zählt also nicht nur zum Sachbereich, sondern zum Normbereich des Grundrechts. Da hier das Normprogramm der Generalklausel des Allgemeinen Gleichheitssatzes einer entsprechenden Qualifikation nichts in den Weg legt, gehört diese Typisierung gleichzeitig auch zum Normbereich des Art. 3 Abs. 1 GG in der Fragestellung des vorliegenden Falles70. 68 BVerfGE 47, 46, 66 ff., 70 ff. – Elemente des Sachbereichs eingetragener gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften in BVerfGE 105, 313, z. B. 344 f., 350 f.; ebd., z. B. 345, 350 zu Faktoren aus dem Normbereich. 69 BVerfGE 47, 1, 34 ff. 70 Dagegen stellt die Tatsache einer unterschiedlichen steuerlichen Behandlung dieser drei Familientypen im Gesetzesrecht ein Element des Sachbereichs von Art. 3 Abs. 1, 6 Abs. 1 und 12 Abs. 1 S. 1 GG dar. Ob die Unterschiedlichkeit steuerlicher Berücksichtigung mit den Normprogrammen dieser Verfassungsartikel vereinbar ist, soll gerade erst geprüft werden, wird erst als Ergebnis der fraglichen Rechts- und Entscheidungsnormen und nicht schon bei der Umschreibung von deren Normbereichen gesagt werden können.
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Ferner sind zu den grundrechtlichen Normbereichen von Ehe und Familie neben der Entscheidung zur Verfassungswidrigkeit der §§ 1628, 1629 Abs. 1 BGB71 vor allem Fälle zur Ehegattenbesteuerung und damit zur wirtschaftlichen Bedeutung einzelner Normbereichsfaktoren von Gewicht. Für die nichtrechtserzeugten Normbereichsteile werden die „wesentliche Struktur“, für die Garantie unterverfassungsrechtlicher Vorschriften des Ehe- und Familienrechts ein „Normenkern“72 herausgearbeitet. Angesichts der traditionellen Geformtheit dieser Institutionen geht das Bundesverfassungsgericht so weit, die Grundstruktur des Normbereichs von Art. 6 Abs. 1 GG „zunächst aus der außerrechtlichen Lebensordnung“ ermitteln zu wollen73. Es meint damit die grundlegenden institutionellen Verhältnisse von Ehe und Familie ; übersieht aber, daß auch diese bereits von der Rechtsordnung, vor allem vom Bürgerlichen Recht, geprägt sind. Nicht eine „außer“rechtliche Ordnung umschreibt die Strukturprinzipien von Ehe und Familie, sondern eine rechtlich mitgeformte und zudem in der Perspektive des verfassungsrechtlichen Normprogramms von Art. 6 GG erfragte Ordnung. Ein anderes Problem ist, ob nicht der Strukturwandel dieser Institute in der Industriegesellschaft der Gegenwart hätte stärker berücksichtigt werden müssen.
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Das ist in einer Reihe anders gelagerter Fälle zum Gleichberechtigungsgebot des Art. 3 Abs. 2 GG auf breiterer Grundlage geschehen. Im Einkommensteuerrecht wird die Möglichkeit, die Ehe zum Anknüpfungspunkt für wirtschaftliche Rechtsfolgen zu machen, insoweit eingeschränkt, als die Anknüpfung der Natur des geregelten Lebensgebietes74, hier der Struktur des Normbereichs, entsprechen muß. Diese liefert Gesichtspunkte für die Frage sachlicher Zulässigkeit einer steuerlichen Sonderbehandlung durch den Gesetzgeber75. Wenn im Familienrecht und auf einzelnen Gebieten des Fürsorgerechts die Anknüpfung allein an die Tatsache des Ehestands in der „Natur der Sache“, also im – hier weitgehend rechtserzeugten – Normbereich liegt, so ist das bei rein abgabenrechtlichen Vorschriften nicht ohne besondere Rechtfertigung aus dem Normbereich der Fall76. Das Hinzutreten des Grundrechtsschutzes von Ehe und Familie engt den im Steuerrecht sonst gegebenen Spielraum des Gesetzgebers entscheidend ein, seine differenzierenden Regelungen und Sondervorschriften wirtschaftspolitisch, finanzpolitisch, volkswirtschaftlich, sozialpolitisch oder steuertechnisch zu rechtfertigen. Auch seine Prüfung der Kindererziehungszeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung an Art. 6 Abs. 1 i.V. m.
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71 BVerfGE 10, 59; s. a. BVerfGE 61, 319, 347 ff. zur Frage der Ausdehnung des Ehegattensplittings auf Alleinstehende mit Kindern. 72 BVerfGE 6, 55, 71 ff. 73 BVerfGE 10, 59, 66 f. 74 BVerfGE 17, 210, 219 u. ö.; auch schon BVerfGE 6, 55, 77; 9, 237, 247 f. 75 Hierzu etwa BVerfGE 3, 225, 240; 6, 55, 71 f., 77; 9, 237, 247 f.; 10, 59, 73; 12, 9, 25; 13, 290, 298 f.; 17, 1, 38; 17, 210, 217, 218 ff.; 18, 257, 268 ff.; 18, 97, 110; 22, 93, 99; 22, 100, 104. 76 BVerfGE 6, 55, 79; 13, 290, 303. – Die im Text folgende Entscheidung: BVerfGE 87, 1 ff., 35 ff., z. B. 38.
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Art. 3 Abs. 1 GG hat das Gericht mit rechtserzeugten (Familienlastenausgleich) wie mit nicht-rechtserzeugten Realdaten (Demographie, Doppelberufstätigkeit) abgestützt.77 212.343 Artikel 7 Grundgesetz 48
Im Finanzhilfe-Urteil78 – der ersten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu grundsätzlichen Fragen der finanziellen Förderung privater Ersatzschulen im Rahmen von Art. 7 Abs. 4 GG – anerkennt der Erste Senat die Verpflichtung der Länder, das Ersatzschulwesen neben dem öffentlichen Schulwesen in seinem Bestand zu schützen und es zu subventionieren. Das Gericht setzt die in Art. 7 Abs. 4 GG gegebene Normtextformulierung mit den real vorhandenen Ausübungsmöglichkeiten dieses Grundrechts in Bezug. Aufgrund der ökonomisch-finanziellen Lage, in der sich das Privatschulwesen heute befindet, kommt der Senat zu dem Schluß, die Selbstfinanzierungsquellen der Ersatzschulen seien ausgeschöpft: „Soll Art. 7 Abs. 4 GG nicht zu einem wertlosen Individualgrundrecht auf Gründung existenzunfähiger Ersatzschulen und zu einer nutzlosen institutionellen Garantie verkümmern“79, so muß der jeweilige Landesgesetzgeber finanzielle Leistungen positivrechtlich absichern. Dieses Ergebnis folgt aus der Verarbeitung entscheidungsrelevanter Sachdaten, die das Bundesverfassungsgericht in den Vorgang der Normkonkretisierung miteinbezieht. Daß die Grundrechte besonders stark sachbestimmte Vorschriften sind, läßt sich nicht zuletzt am Beispiel des Finanzhilfe-Urteils zeigen. Das Gericht konnte die grammatische sowie die grammatisch-systematische Interpretation des Art. 7 Abs. 4 GG überhaupt nur unter Einbezug der jeweiligen Normbereichselemente, auf die das Normprogramm „abzielt“, vornehmen. Das Freiheitsrecht in Satz 1 dieser Vorschrift wird insofern nur unter Berücksichtigung der in S. 3 – 4 genannten Genehmigungsbedingungen gewährt. Diese beziehen sich ihrerseits auf tatsächliche Voraussetzungen, die eine private Ersatzschule in Relation zu vergleichbaren öffentlichen Schulen erfüllen muß. Demnach konnte das Bundesverfassungsgericht nur im Weg einer Analyse des Normbereichs, der vom Normprogramm erfaßten realen Verhältnisse, in denen sich das private Ersatzschulwesen gegenwärtig befindet, entscheiden, ob und inwiefern Freie Schulen in ihren Einrichtungen, Lehrzielen usw. nicht hinter den öffentlichen Schulen zurückstehen. Das Gericht behandelte den Wirklichkeitsausschnitt, auf den der Normtext von Art. 7 Abs. 4 GG referiert, folgerichtig als Sachbestandteil dieser Regelung selbst. Das Gericht verläßt damit auch hier die herkömmliche Ineinssetzung von Normtext und Norm, indem es Art. 7 Abs. 4 GG als sachgeprägtes Ordnungsmodell verarbeitet. 77 Vgl. zu Art. 6 GG als Leistungsrecht und zu seinen Schranken BVerfGE 130, S. 240 ff., 252: Gleichheitswidrige Beschränkung der Gewährung von Landeserziehungsgeld. 78 BVerfGE 75, 40 ff. 79 So das Bundesverfassungsgericht im Finanzhilfe-Urteil, E 75, 40 f., 65.
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Das Bundesverfassungsgericht konkretisiert Art. 7 Abs. 4 S. 1 GG der Sache nach als einen Fall der Interventionsgarantie ; d. h. als einen Notfall, in dem die Ausübbarkeit eines Grundrechts in der sozialen Realität nicht mehr gewährleistet ist, so daß eine staatliche Garantenstellung aktuell wird80. Hier darf der Staat nicht einerseits Bedingungen der Grundrechtsausübung aufstellen und erschweren – wie in Art. 7 Abs. 4 S. 3 – 4 GG –, sich andererseits aber in Widerspruch zu dem von ihm in Satz 1 dieser Regelung gewährleisteten Schulpluralismus und zum Freiheitsrecht setzen. Die Auflösung des Widerspruchs kann nur in einer staatlichen Kompensationspflicht, d. h. in der Rechtspflicht zur Gewähr von Subventionsleistungen liegen. In diesem Sinn stellt der Senat im Weg einer Normbereichsanalyse fest, der Interventionsfall sei durch (rechtmäßiges) Tätigwerden des Staates eingetreten81.
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212.344 Artikel 8 Grundgesetz In seinem sogenannten Brokdorf-Beschluß82, in dem es sich erstmals ausführlich mit Art. 8 GG beschäftigt, stellt das Bundesverfassungsgericht ebenfalls intensive Normbereichserwägungen an. So werden für Spontandemonstrationen, die sich aus aktuellem Anlaß augenblicklich bilden, bestimmte versammlungsrechtliche Vorschriften als nicht anwendbar erachtet83. Weiterhin erörtert das Gericht das relativ neue Phänomen der Großdemonstrationen. Es bezieht sich hier auf konkrete Beispiele (Gorleben-Treck 1979, Bonner Friedensdemonstration 1981, Süddeutsche Menschenkette 1983) und stellt fest, daß sich solche Veranstaltungen hinsichtlich Trägerschaft, Vorbereitung und Durchführung erheblich von herkömmlichen Demonstrationen unterscheiden (u. a. Fehlen eines gesamtverantwortlichen Anmel80 Vgl. zum Begriff „Interventionsgarantie“: Müller / Pieroth / Fohmann, z. B. S. 127 ff.; Normbereichsfaktoren in E 75, 40 ff., v. a. 64 f., 67, 73 f. 81 Vgl. dazu und umfassend zum Finanzhilfe-Urteil bei Jeand’Heur I, S. 67 ff. – Dem strukturierenden Ansatz zum Problem von Leistungsrechten im Normbereich eines Grundrechts (Forschungsfreiheit) folgt z. B. auch Trute, S. 418 ff., 420 ff. 82 BVerfGE 69, 315 ff. Eine Analyse der tatsächlichen Grundlagen des Versammlungsrechts war auch für die Fraport-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zentral (BVerfGE 128, S. 226 ff. = NJW 2011, S. 2011. – Vgl. zum Ganzen auch VG Stuttgart, Untersagung einer Versammlung im Stuttgarter Hauptbahnhof, in: NVwZ-RR 2012, S. 887: „Unter Würdigung der konkreten Örtlichkeit des Stuttgarter Hauptbahnhofs erscheint es zweifelhaft, ob die Kopfbahnsteighalle des Stuttgarter Hauptbahnhofs den vom Bundesverfassungsgericht in der Fraport-Entscheidung entwickelten Anforderungen an einen Ort allgemeinen kommunikativen Verkehrs im Sinne des Leitbildes des öffentlichen Forums genügt.“ – Zu Auflagen bei Versammlungen, die eine Rechtfertigung auch aus der sachlichen Situation verlangen, vgl. VG Frankfurt a.M., Auflagen für Occupy-Demonstrationen, in: NVwZ-RR 2012, S. 806 sowie VGH Kassel, Lautsprecherverbot als versammlungsrechtliche Auflage, in: NJW 2013, S. 555 ff. – Ein Versammlungsverbot kann auch dann gerechtfertigt sein, wenn es – beispielsweise bei Protesten gegen die Wohnsitznahme ehemaliger Sexualstraftäter – eine pogromartige Verfolgungslage schafft; vgl. dazu OVG Magdeburg, Versammlung gegen Wohnsitznahme ehemaliger Sexualstraftäter, in: NVwZ-RR 2013, S. 100. 83 Ebd., 350.
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ders, Tätigwerden von Einzelgruppen und Initiativen ohne bestimmten organisatorischen Zusammenhalt aus einheitlichem Anlaß)84. 51
Das Gericht stützt sich hierbei maßgeblich auf die Erfahrungsberichte der zu ständigen Landesinnenminister und die sogenannten „Stuttgarter Gespräche“, an denen Polizei, Umweltschutzverbände und Repräsentanten gesellschaftlicher Kräfte teilgenommen haben85. Den staatlichen Behörden wird es zur Pflicht gemacht, nicht hinter „bewährten Erfahrungen“ zurückzubleiben, die hinsichtlich der friedlichen Durchführung von Großdemonstrationen gesammelt werden konnten86. Beispielhaft nennt das Gericht die Klarstellung der Rechtslage, das Vermeiden von Provokationen und Aggressionsreizen, die Isolierung von Gewalttätern, besonnene Zurückhaltung der Staatsmacht, Vermeidung übermäßiger Reaktionen sowie rechtzeitige Kontaktaufnahme, die auf vertrauensvolle Kooperation gerichtet ist87. Versammlungen vor dem Wohnhaus eines ehemaligen Strafgefangenen, um Vertreibungsdruck zu erzeugen, können von den Ordnungsbehörden so beschränkt werden, dass der Betroffene sein privates Umfeld störungsfrei nutzen kann.88 Das Gericht führt aus: „Kollidiert das durch die Versammlungsfreiheit geschützte Recht der Veranstalter und Teilnehmer einer Versammlung, über Gegenstand, Ort und Zeit der Versammlung selbst zu bestimmen, mit verfassungsrechtlich geschützten Rechten Dritter, so sind die widerstreitenden Interessen im Wege der praktischen Konkordanz zum Ausgleich zu bringen.“89 212.345 Artikel 9 Grundgesetz
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Die institutionellen Seiten der Verbürgung des Art. 6 Abs. 1 GG sind der Struktur nach den Normbereichen von Gruppengrundrechten benachbart, vor allem dem der Vereinigungs- und der Koalitionsfreiheit. Bei Art. 9 Abs. 1 GG mag die Benennung Ebd., 357 ff. Ebd., 319, 355. 86 Ebd., 316, 354. 87 Ebd., 355. – Normbereichsaspekte aus Art. 8 GG (Spontanversammlung / Eilversammlung) auch in BVerfGE 85, 69 ff., 74 ff. – BVerfG, Beschl. v. 12. 07. 2001 – 1 BvQ 28 / 01 und 1 BvQ 30 / 01: Weder die Love Parade noch die Fuck Parade stellen eine Versammlung dar. Für die Eröffnung des Schutzbereichs von Art. 8 GG reicht es nicht aus, daß die Teilnehmer bei ihrem gemeinschaftlichen Verhalten durch irgendeinen Zweck miteinander verbunden sind. Versammlungen sind vielmehr nur örtliche Zusammenkünfte mehrerer Personen zwecks gemeinschaftlicher Erörterung und Kundgebung mit dem Ziel der Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung. Musik und Tanz müssen eingesetzt werden, um auf die öffentliche Meinungsbildung einzuwirken und nicht nur, um ein Lebensgefühl zur Schau zu stellen. Eine Massenparty wird nicht deshalb zur Versammlung, weil bei ihrer Gelegenheit auch Meinungskundgaben erfolgen. 88 OVG Magdeburg, Versammlungen vor dem Wohnhaus ehemaliger Strafgefangener, NJW 2012, S. 2335 ff. 89 Ebd., S. 2335. 84 85
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des Normbereichs „Vereine und Gesellschaften“ Rückschlüsse auf ein Normprogramm begründen helfen, das Zwangszusammenschlüsse von verhältnismäßig unpersönlicher Art der Mitgliedschaft und in herkömmlichen rechtlichen Grenzen nicht schlechthin verbietet, besonders nicht die Zwangseingliederung in öffentlichrechtliche Verbände90. Dabei muß allerdings auch für die Frage von Zwangsvereinigungen Art. 9 Abs. 1 statt Art. 2 Abs. 1 GG als sedes materiae festgehalten werden. Art. 9 Abs. 1 GG umfaßt auch die negative Vereinigungsfreiheit. Die Frage ist nicht damit gelöst, allein in Abhebung auf die Rechtsform öffentlich-rechtliche Körperschaften als nicht zum Normbereich des Art. 9 Abs. 1 GG gehörig und damit als nicht an dieser Vorschrift meßbar zu behaupten91. In andern Entscheidungen hat das Bundesverfassungsgericht dagegen zu Recht sachliche Fragen des Normbereichs in den Vordergrund gestellt. So wird der „freie Beruf“ als historisch bestimmbarer soziologischer Begriff wie als sozialer Bereich der Gegenwart unter normativem Bezugspunkt – der Möglichkeit für Pflichtmitgliedschaft bei der Ärzteversorgung – in seinen faktischen und rechtserzeugten Komponenten analysiert92. Die Frage der Verfassungsmäßigkeit dieses Zwangszusammenschlusses wird nicht zuletzt auf Grund des Ergebnisses dieser Untersuchung entschieden. Kontrollierbare Tatbestandselemente lassen sich auch aus dem Normbereich der Koalitionsrechte des Art. 9 Abs. 3 GG gewinnen. Dieser Ausschnitt aus der allgemeinen Vereinigungsfreiheit ist bereits rechtsgeschichtlich genauer umschrieben. So hat das Bundesverfassungsgericht93 die für die Zuerkennung der Tarifautonomie an eine nicht kampfwillige Organisation entscheidenden Sachgesichtspunkte aus den geschichtlich gewachsenen, aus den normierten wie den faktischen Momenten des Normbereichs der grundrechtlichen Koalitionsfreiheit zu ermitteln gesucht. Während die Einzelheiten dieser Normbereichsanalyse zum Teil fragwürdigen Charakters sind, verliert das Gericht auf der anderen Seite zu Recht den Ausgangspunkt des Normprogramms von Art. 9 Abs. 3 GG nicht aus dem Auge: solche Verbände als Koalitionen zu erfassen, die ihrer Struktur nach imstande sind, „im Verein mit dem sozialen Gegenspieler das Arbeitsleben zu ordnen und zu befrieden“94. Ganz im Vordergrund steht die strukturelle Faktizität eines Teils des Normbereichs von Art. 9 Abs. 3 GG in dem Beschluß, der die Tariffähigkeit der Innungen und Innungsverbände für mit dem Grundgesetz vereinbar erklärt95. Das Gericht widerlegt die Ansicht, die Tariffähigkeit der Innungen sei mit der Koalitionsfreiheit unvereinbar, sogar durch unmittelbaren Rückgriff auf „die frühere und die jetzige gesellschaftliche Wirklichkeit“96. Historische und aktuelle, rechtserzeugte und fakti90 91 92 93 94 95 96
BVerfGE 10, 89, 102; 11, 105, 126; ferner BVerfGE 10, 354, 361 ff.; 12, 319, 323 f. So aber BVerfGE 10, 89, 102 f. BVerfGE 10, 354, 364, 365, 366 f., 368 f. BVefGE 18, 25 ff., 30 ff.; s. a. BVerfGE 4, 96, 106 f. BVerfGE 18, 27. BVerfGE 20, 312, 318 f., 322. BVerfGE 20, 319.
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sche Elemente des Normbereichs von Art. 9 Abs. 3 GG dienen dem Gericht auch in jenem Beschluß als entscheidende normative Kriterien, der einen Kernbereich der Koalitionsbetätigung im Personalvertretungswesen herausarbeitet und gewerkschaftliche Werbung vor Personalratswahlen innerhalb bestimmter Grenzen auch in der Dienststelle und während der Dienstzeit verfassungsrechtlich geschützt sein läßt97. 212.346 Artikel 14 Grundgesetz 54
Gesichtspunkte solcher Art sind für die praktische Rechtsanwendung um so ergiebiger, je mehr sich in ihnen typische Formen sozialen, also individuellen wie kollektiven Handelns verdichtet haben und von der Rechtsordnung als solche vorausgesetzt, übernommen oder angeregt werden. Bei einem verhältnismäßig statischen Grundrecht wie der Eigentumsgarantie beschränken sich die vom Normbereich zur Verfügung gestellten Kriterien dagegen etwa auf Daten, die wirtschaftlichen, steuerlichen, technischen Erhebungen und Voraussetzungen zu verdanken sind; so beispielsweise in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum Problem der Erdrosselungssteuer98 oder bei der verfassungskonformen Auslegung von § 9 Abs. 1 Nr. 1 des Grundstücksverkehrsgesetzes durch das Bundesverfassungsgericht, also eines Normtextes, der den Begriff „ungesunde Verteilung“ von Grund und Boden als Tatbestandsmerkmal enthält. Das Bundesverfassungsgericht stützt sich auf eingehende Überlegungen zur Sachverschiedenheit des Grundeigentums von sonstigem Kapital, auf eine Erörterung der Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Land- und Forstwirtschaft und der markt-, forst- und agrarwirtschaftlichen Bedeutung des Waldes. Auch diese Ausführungen99 erweisen sich nicht als Usurpation einer normativen Wirkung der Fakten. Sie bleiben innerhalb der auswählenden und bestimmenden Perspektive der verfassungsrechtlichen Anordnung bezüglich der hier zu entscheidenden Frage, ob die vom einfachen Gesetzgeber verfolgten agrarpolitischen Ziele und der ihnen eingeordnete Schutzzweck der Einzelvorschriften des Grundstücksverkehrsgesetzes noch eine gesetzliche Eigentumsbindung im Sinn von Art. 14 Abs. 2 Satz 2 GG darstellen oder nicht. Das Gericht verneint die Frage anhand des aus dem gesetzlichen Normbereich gewonnenen Ergebnisses, das auf eine Eigentumsbeschränkung hinwies, die „von dem geregelten Sachbereich her“ nicht geboten erschien.
97 BVerfGE 19, 303, 314 ff., 320 f. Ansätze zur Normbereichsuntersuchung auch in BVerfGE 28, 295 ff. (Inhalt der Koalitionsfreiheit), z. B. S. 304 ff.; vgl. zur Frage, ob das gewerkschaftliche Zutrittsrecht zu kirchlichen Einrichtungen mit Normprogramm und Normbereich von Art. 9 Abs. 3 GG vereinbar ist, BVerfGE 57, 220, 245 ff. – Zu Recht gegen „immanente“ oder „betriebsbedingte Schranken“ des Art. 10 Abs. 1 GG bei der Erörterung des grundrechtlichen Normbereichs („Schutzbereich“): BVerfGE 85, 386 ff., 396ff. 98 BVerwGE 27, 146, 150 ff., 152 ff. 99 BVerfGE 21, 73, 80 ff., 82 f., 84, 86; s. a. BVerfGE 21, 87; 21, 92; 21, 94; 21, 99; 21, 102; die Formel „von dem geregelten Sachbereich her“ findet sich in BVerfGE 21, 73, 86.
212 Zur methodischen Praxis in BVerfGE
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In der „Naßauskiesungs“-Entscheidung vertritt das Bundesverfassungsgericht die Auffassung, „der Begriff des von der Verfassung gewährleisteten Eigentums muß aus der Verfassung selbst gewonnen werden“100. Obwohl Art. 14 Abs. 1 GG somit einen im wesentlichen rechtserzeugten Normbereich aufweisen soll101, kann das Gericht bei der Konkretisierung der Inhaltsbestimmung des Eigentums im Rahmen von Art. 14 Abs. 1 Satz 2 beziehungsweise Abs. 2 GG gerade nicht auf die Untersuchung der normativ relevanten Realdaten verzichten. Erst im Weg einer recht ausführlichen Normbereichsanalyse102 gelingt es dem Senat, den Eigentumsbegriff zu entwickeln und ihn für die Fallösung handhabbar zu machen.
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Bereits im Mitbestimmungs-Urteil von 1979103 analysiert der Senat den Normbereich des Eigentumsgrundrechts insoweit, als dessen Normprogramm auch gesellschaftsrechtlich vermittelte Beteiligungsrechte schützt104. Dazu gehört die aus gesellschaftsrechtlichen Figuren (Gesellschaftsformen, Mehrheitsprinzip) folgende Tatsache, daß die eigentumsrechtlichen Befugnisse der Anteilsinhaber sehr verschieden sein können; oder die Tatsache, daß sich die erweiterte Montanmitbestimmung auf den Kapitalmarkt, die Dividendenpolitik der Unternehmen oder den Grundsatz der Rentabilität nicht ausgewirkt hatte. Dieses empirische Ergebnis setzt der Senat als Grundlage einer Prognose darüber ein, welche Auswirkungen das Mitbestimmungsgesetz von 1976 außerhalb der Montanindustrie auf die vermögensrechtliche Stellung der Anteilseigner haben werde. Schließlich wird der unterschiedliche soziale Stellenwert von Sacheigentum und Anteilseigentum herausgearbeitet (Vergleich Anteilseigner / Unternehmer-Eigentümer nach „personalem Bezug“ und „sozialer Funktion“). Der Normbereich des Anteilseigentums nach Art. 14 Abs. 1 GG setzt sich somit aus rechtsunabhängigen, aus rechtlich geprägten und aus ganz rechtserzeugten Elementen zusammen. Dasselbe gilt für den in der Entscheidung entwickelten Normbereich der Vereinigungsfreiheit nach Art. 9 Abs. 1 GG bezüglich solcher Unternehmen, die mitbestimmt werden. Das Gericht analysiert die soziale Funktion von Kapitalgesellschaften, der Mitgliedschaft in ihnen und demgegenüber die soziale Funktion sonstiger Vereinigungen, ferner das wechselnde Verhältnis zwischen Fremdbestimmung und Selbstbestimmung in verschiedenen gesellschaftsrechtlichen Formen105.
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BVerfGE 58, 300, 335. So auch Höfling, S. 98. 102 Vgl. BVerfGE 58, 300, 338 ff. 103 BVerfGE 50, 290, 336 ff., 354 ff. 104 Ebd., 342 f., 347 f., 348 f. 105 Speziell dazu ebd., 357 ff. – Im einzelnen vertritt der Senat (implizit) den allgemeinen Ansatz der strukturierenden Grundrechtsdogmatik ebd., 337; faßt allerdings den Normbereich von Grundrechten vage als „Schutzbereich“ bzw. „Schutzgut“ ebd., 336 ff., 354 f. (zu Art. 9 Abs. 1 GG); untersucht den Normbereich des Anteilseigentums (Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG) und das Ausmaß seiner zulässigen Sozialbindung (Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG) mit rechtserzeugten und nicht rechtserzeugten Elementen ebd., z. B. 342 f., 347 ff.; den Normbereich des Art. 9 Abs. 1 GG in Richtung der Funktionsfähigkeit von Kapitalgesellschaften ebenfalls mit faktischen bzw. rechtlich erzeugten Elementen ebd., 357 ff. 100 101
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In seiner Entscheidung zu den Grenzen der Zustandshaftung des Eigentümers106 für die Grundstückssanierung bei Altlasten entwickelt das Bundesverfassungsgericht ein der Eigentümerhaftung im Ordnungsrecht zugrunde liegendes Wirklichkeitsmodell. Anlaß war das Bundes-Bodenschutzgesetz, welches in seinem § 4 Abs. 3 neben dem Verursacher und dem Inhaber der tatsächlichen Gewalt auch den Eigentümer des belasteten Grundstücks sanierungspflichtig macht. Betroffene Eigentümer hielten dies für einen Verstoß gegen Art. 14 Abs. 1 GG jedenfalls dann, wenn der Eigentümer die Kontamination weder verursacht hat noch beim Erwerb erkennen konnte. Das Bundesverfassungsgericht findet den Grund der Eigentümerhaftung in der Sachherrschaft und der Verbindung von Vorteilen und Lasten der Sache107. Dieses Wirklichkeitsmodell liefere eine Rechtfertigung für die Polizeipflichtigkeit des Eigentümers. Es begrenze sie aber auch in ihren Ausmaßen. Unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit sei demnach eine Kostenbelastung unzumutbar, die den Verkehrswert des sanierten Grundstücks übersteige108; es sei denn, daß dieses Risiko bewußt in Kauf genommen wurde oder durch reduzierten Kaufpreis als übernommen gelten kann. Die Normbereichsanalyse als Frage nach dem sachhaltigen Wirklichkeitsmodell einer Regelung gibt hier also die Richtung einer Lösung an, welche dann mit Hilfe der systematischen Konkretisierung weiter verfolgt wird.
212.347 Artikel 12 Grundgesetz 57
Der Normbereich des Art. 12 Abs. 1 GG macht in seiner Vielgestaltigkeit und sozialen Verflochtenheit die Berufsfreiheitsgarantie zu einem von der Rechtsprechung bevorzugt ausgearbeiteten Beispiel von Grundrechtskonkretisierung. An Art. 12 Abs. 1 GG entwickelt das Gericht im Urteil zur Niederlassungsfreiheit im Apothekenrecht vom 11. Juni 1958109 beispielhaft eine Auslegung, „die dem Sinn des Grundrechts und seiner Bedeutung im sozialen Leben Rechnung trägt“110. Die dort angestellten umfangreichen Erhebungen von Bestandteilen des Normbereichs – rechtsvergleichendes Apothekenrecht, eingehende statistische Untersuchungen, konjunkturelle Aspekte, Investitionsbedarf, Nachwuchslage im Apothekerberuf, Verteilung der Apothekendienste auf Stadt und Land, Rentabilitätsberechnungen, Verhältnis fertig verpackter Arzneimittelerzeugnisse zur Rezeptur, Überlegungen zur Berufsmoral der Apotheker im Verhältnis zur Zahl der Niederlassungen und ähnliches – rechtfertigt das Gericht zutreffend mit der Notwendigkeit, die größeren Lebenszusammenhänge, die als „Gegenstand“ des Gesetzes nur pauschal und unklar gefaßt würden, notfalls mit Hilfe von Sachverständigen durch möglichst umfas106 107 108 109 110
BVerfGE 102, 1 ff. BVerfGE 102, 1, 18 f. BVerfGE 102, 1, 21. BVerfGE 7, 377. BVerfGE 7, 409.
212 Zur methodischen Praxis in BVerfGE
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senden Einblick in einzelne klarer erfaßbare Sachverhalte aufzulösen und sie damit für die Zwecke verfassungsgerichtlicher Nachprüfung optimal zu rationalisieren111. Nur so können nach Auffassung des Gerichts Inhalt und sachliche Begründung eines Gesetzes unter Ausschaltung subjektiver Wertungen erfaßt, können die der Regelung zugrundeliegenden Tatsachen rational differenziert werden, die im Normbereich die Wahrscheinlichkeit hypothetischer Kausalverläufe richterlich beurteilen lassen. Solche Beurteilung ist verfassungsgerichtliche Aufgabe, weil der Sachgehalt des Grundrechts die Regelungsfreiheit des Gesetzgebers inhaltlich begrenzen kann und weil anders als durch Analyse der Normbereiche der Schutz von Grundrechten gegenüber dem Gesetzgeber der umgrenzten objektiven Maßstäbe entbehren müßte. Die in diesem Urteil entwickelte sogenannte Stufentheorie ist für die Konkretisierung aller Grundrechte von Interesse, deren Normbereich – wie der des Art. 12 Abs. 1 GG – eine Abstufung nach Bereichen schwächeren und stärkeren Freiheitsschutzes aufweist. Wegen der Nichtidentität von Norm und Normtext ist hierfür nicht Bedingung, daß eine solche Abstufung im Normtext eigens ausgedrückt ist. Der für Art. 12 Abs. 1 GG gegebene Ansatzpunkt ist die allerdings bereits im Normtext der Vorschrift erscheinende Unterscheidung von Berufswahl und Berufsausübung. Verwandte Sachaspekte, gleichfalls Bestandteile des Normbereichs von Art. 12 Abs. 1 GG, hat das Gericht später zu fallentscheidenden Überlegungen herangezogen, wenn es mit faktischen Ausführungen zum Berufsbild des selbständigen Apothekers das Verbot des Lehrbetriebs im Apothekenrecht für eine mit dem Grundrecht vereinbare Ausübungsregelung erklärt112 oder wenn es anhand tatsächlicher Daten das Berufsbild des Tierarzneimittelvertreters unter Fragestellungen der Berufsfreiheit zu ermitteln versucht113. Normbereichsteile der Berufsfreiheit, die unter verfassungsrechtlichen Aspekten strukturell aufgeschlüsselt wurden, betreffen auch verkehrspolitische, steuerpolitische, sozialpolitische und ausgedehnte statistische Erwägungen zum Tätigkeitsbild und zur tatsächlichen Entwicklung des Werkfernverkehrs114, Überlegungen zur volkswirtschaftlichen Aufgabe, zu standesorganisatorischen Gegebenheiten und zu typischen tatsächlichen Gefahrenquellen auf dem Gebiet des Wareneinzelhandels115 111 BVerfGE 7, 410 ff., 412; Analyse des Normbereichs besonders 413 ff., 417 ff.; ferner BVerwGE 2, 85, 87; 4, 167, 172 ff. 112 BVerfGE 17, 232; zum Normbereich vor allem 239, 240 ff., 243 f. – Eingehende Erörterungen zum Sachbereich z. B. auch in BVerfGE 107, 186 (Art. 12 Abs. 1 GG von Apothekern), so ebd., 199 ff. (Fakten zum „Transportrisiko“ bei Impfstoffen) oder 201 ff. (zu den Beratungs- und Informationspflichten der Apotheker). Zu Änderungen im Sachbereich ebd., 197 (rechtserzeugte und nicht-rechtserzeugte Sachbereichselemente) mit Blick auf „gesetzgeberische (Gefahren-)Einschätzung“. 113 BVerfGE 17, 269, 274 ff., 277, 278. 114 BVerfGE 16, 147, 164 f., 165 ff., 170, 172 ff. 115 BVerfGE 19, 330, 338 ff.: Sachkundenachweis für die Aufnahme des Einzelhandels mit Waren aller Art mit Art. 12 Abs. 1 GG unvereinbar. Vgl. auch aus der Rechtsprechung des
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2 Stand der Methodik – 21 Rechtsprechung
oder die rechtlichen wie die tatsächlichen Verhältnisse, aus denen sich als aus dem Normbereich des Gesetzes zur vorläufigen Regelung des Rechts der Industrie- und Handelskammern von 1956 (BGBl. I S. 920) Aufgaben und Wirkungsweise der Industrie- und Handelskammern und in verfassungsrechtlicher Folgerung hieraus die Zulässigkeit der Pflichtmitgliedschaft bei ihnen ergeben116. Im Rahmen einer Prüfung des Nacht- und Sonntagsbackverbots an der „Regelung“ von „Berufsausübung“ (Art. 12 Abs. 1) untersucht das Gericht auch „die Entwicklung der wirtschaftlichen Verhältnisse“. 59
Mehrfach hatte sich in kennzeichnendem methodischen Ansatz die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wie die des Bundesverwaltungsgerichts mit der Bestimmung des Normbereichsbestandteils „Handwerk“ zu befassen. Das Bundesverfassungsgericht hat zur Lösung der Frage, ob der Ausschluß von Nicht-Gesellen aus der Innungskrankenkasse mit dem Gleichheitssatz vereinbar sei, faktische Erhebungen zur berufsständischen Eigenart des Handwerks angestellt. Es hat strukturelle Änderungen des Handwerks infolge des Wandels von Wirtschaft und Technik erwogen und befunden, die Entwicklung sei noch nicht so weit fortgeschritten, daß die fragliche Differenzierung zwischen Gesellen und Nicht-Gesellen bereits ohne Einschaltung des Gesetzgebers funktionell durch das Gericht allein beseitigt werden könne117. Dabei kennzeichnet das Gericht unter dem Stichwort der „geschichtlich gewordenen Struktur des Handwerkerstandes“118 praktische Anforderungen wie: modische Gestaltung, Weiterentwicklung der Arbeitstechnik, Werkstoffkenntnis, Kenntnis der technisch-konstruktiven Zusammenhänge, betriebswirtschaftliches und kaufmännisches Wissen und andere als zur „Natur handwerklicher Arbeit“ gehörig. Soziale Grundsachverhalte des Normbereichskomplexes „Handwerk“ werden in ihrer Eigenart herausgearbeitet. Berufsbilder werden unterschieden, strukturelle Verschiedenheiten des Handwerksbetriebes von Industrieunternehmen werden anhand typischer Sachverhalte herausgehoben und zur Grundlage verfassungsrechtlicher Beurteilung gemacht. Das Gericht geht so weit, den empirisch feststellbaren
Bundesverwaltungsgerichts die eingehende Analyse eines Normbereichsteils von Art. 12 Abs. 1 GG in BVerwGE 8, 14, 16 ff.: Kreditierungswirkungen auf Währungsstabilität, Preisentwicklung, Produktionsausweitung usw. – BSG NJW 1999, 3435 = JuS 2000, 509: Örtliche Zulassungsbeschränkungen, die dem Vertragsarzt den Zugang zur vertragsärztlichen Versorgung nur in bestimmten Planungsbereichen verwehren, in anderen dagegen nicht, sind Berufsausübungsregelungen. Es verhält sich hier so wie bei anderen Berufen, bei denen nicht an jedem Ort, sondern nur in bestimmten Bereichen noch freie Arbeitsplätze zu finden sind. – VGH Mannheim DVBl. 2000, 1782; BVerfGE 16, 147, 16: Die gesetzliche Auferlegung von Geldleistungspflichten, die die berufliche Tätigkeit belasten, stellt eine Berufsausübungsregelung dar. Eine subjektive Berufswahlvoraussetzung liegt nur dann vor, wenn die Abgabe es ihrer Gestaltung und Höhe nach dem Berufsbewerber wirtschaftlich unmöglich macht, den gewählten Beruf zur Grundlage seiner Lebensführung zu machen. 116 BVerfGE 15, 235. – Die im Text folgende Entscheidung: BVerfGE 87, 363 ff., 382 ff. 117 BVerfGE 13, 97, 105 f., 110 und ff., 117 ff., 122 f. 118 BVerfGE 13, 97, 105; s. ferner die Normbereichsuntersuchungen in BVerfGE 19, 330, 341 und in BVerwGE 17, 223, 225 f.; 18, 226, 229 ff.
212 Zur methodischen Praxis in BVerfGE
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Strukturen einzelner Normbereichsteile eine gewisse maßstäbliche Kraft für die Gesetzgebung zuzubilligen, wenn es den sozialen Aufbau und die tatsächliche Eigenart der fraglichen Berufe als ein sich dem Gesetzgeber anbietendes Muster der Normierung auffaßt und damit eine von der Sache her naheliegende Verbindung von Normbereichsanalyse und Verfassungspolitik formuliert119. Dem entspricht auch die Vorgehensweise des Bundesverwaltungsgerichts im Schutzbereich von Art. 12 GG120: Die Tätigkeit als Krankentransportunternehmer ist ein eigenständiger Beruf i. S. d. Art. 12 I GG. Die spezifische Ausbildung, die zur Betreuung der beförderten Kranken erforderlich ist, setzt diesen Beruf eindeutig gegenüber anderen in der Personenbeförderung tätigen Unternehmern wie z. B. Taxibetreibern ab. Intensive Überlegungen zum Normbereich hat das Gericht auch in seinen Entscheidungen zum Hochschulzulassungsrecht angestellt121. Herausgegriffen sei als Beispiel ein Urteil aus jüngerer Zeit, das Anträge auf „Teilzulassung“ zum vorklinischen Studienabschnitt des Medizinstudiums betraf122. Das Gericht erwägt ausführlich die gegenwärtigen und vorhersehbar zukünftigen Studienplatzkapazitäten. Es unterscheidet – ohne daß sich das im Sinn der noch herrschenden Auffassung aus den betreffenden Normtexten ‚ableiten‘ läßt – zwischen „komplementären Teilstudienplätzen“, die sich aus vorklinischen und klinischen Kapazitätsresten zu Vollstudienplätzen koppeln lassen, und sonstigen Teilstudienplätzen, bei denen lediglich die Möglichkeit zum Weiterstudium besteht123. Das Gericht denkt weiterhin über kapazitätsfördernde Maßnahmen sowie „Schwundquoten“ nach, über Auswirkungen von Teilzulassungen auf die Funktionsfähigkeit der Hochschulen, über zusätzlichen Investitionsbedarf und über die Folgen für andere Studiengänge124. Weitere interessante Aspekte zur Rolle der Sachelemente haben sich im Prüfungsrecht ergeben. In methodischer Hinsicht zu begrüßen ist dabei schon der Umstand, daß das Bundesverfassungsgericht die Lehre vom Beurteilungsspielraum nicht mehr aus haltlosen sprachtheoretischen Spekulationen über sogenannte bestimmte oder unbestimmte Rechtsbegriffe ableitet, sondern aus den an der Chancengleichheit zu messenden tatsächlichen Umständen einer Prüfung.125 Daraus hat sich nicht nur eine 119 BVerfGE 13, 97, 123. – Normbereichsanalysen erfolgen empirisch; genauer: Aus den empirisch gewonnenen Fakten des Sachbereichs wird mit Hilfe des Normprogramms der Normbereich selektiert. Allg. zur Methodologie der empirischen Sozialwissenschaften z. B. König; Opp. 120 BVerfG DVBl. 2000, 124 = NVwZ-RR 2000, 213. 121 Vgl. BVerfGE 33, 303 ff.; 43, 291 ff.; 59, 1 ff. 122 BVerfGE 59, 172 ff. 123 BVerfGE 59, 199 ff. 124 BVerfGE 59, 206 ff. Vgl. zur Analyse des Tätigkeitsbereichs von Hochschullehrern BVerfGE 130, S. 263 ff., 291 ff., 313 ff. die abweichende Meinung des Verfassungsrichters Gerhard. Das Bundesverfassungsgericht hält in seiner Mehrheitsentscheidung die Professorenbesoldung für evident unzureichend, vgl. dazu S. 303 ff., die Voraussetzungen für ein zweigliedriges Vergütungssystem S. 299 ff. 125 Vgl. dazu die grundlegenden Entscheidungen BVerfG in: DVBl. 1991, S. 801 ff., 805 ff. oder NJW 1991, S. 2001 ff., 2005 ff. Bestätigt wurde diese neue Entwicklung etwa in BVerfG,
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2 Stand der Methodik – 21 Rechtsprechung
bemerkenswerte Einschränkung der Prüfungswillkür ergeben, sondern die Gerichte werden in Zukunft auch gezwungen, sich im Sinn einer Normbereichsanalyse auf die vom Normtext in Bezug genommenen Realelemente einzulassen.126 212.348 Zur Rolle grundrechtlicher Sachelemente 61
Die hier nicht vollständig berichtete Judikatur ist eindrucksvoll. Die Rechtsprechungsanalyse zeigt, daß der Dichtegrad sachlicher Gesichtspunkte je nach der Art der grundrechtlichen Normbereiche wechselt. Das Entscheidende für die juristische Methodik der Grundrechtskonkretisierung liegt in der Eigenart dieser verfassungsrechtlichen Verbürgungen als Garantien bestimmter Sachzusammenhänge und ihrer eigenwertigen Bedeutung für das Ganze einer freiheitlichen Verfassung willen. Die referierten methodischen Ansätze in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (und auch in der des Bundesverwaltungsgerichts) können im Grundsatz sowohl dieser Funktion der Grundrechte und anderer verfassungsrechtlicher Normierungen als auch ihrer komplizierten und vielschichtigen sachlich-normativen Struktur weit besser gerecht werden als ein nur scheinbar selbstgenügsames, in Wahrheit aber nicht methodenehrliches Festhalten am numerus clausus hergebrachter Kunstregeln der Normtextinterpretation. Allein diese von der Rechtsprechung noch wenig methodisch reflektierten Arbeitselemente ermöglichen die erforderliche sachlichnormative Differenzierung des Entscheidungsprozesses, des Begründungs- und Darstellungszusammenhangs verfassungsgerichtlicher Judikatur.
212.349 Spezialität von Freiheitsrechten 62
Ihre rationalisierende, den Konkretisierungsvorgang in überschaubare Schritte zerlegende Entscheidungs- und Kontrollfunktion zeigt sich auch an der hier nicht zu verfolgenden127 Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Spezialität der Einzelgrundrechte gegenüber dem allgemeinen Freiheitsrecht des Art. 2 Abs. 1, die aus der je eigenen Sachgeprägtheit ihrer Normbereiche folgt. Die Einzelgrundin: NVwZ 1992, S. 55 ff. und BVerfG, in: NVwZ 1992, S. 568 ff. (Juristisches Staatsexamen). Die Ausdehnung der richterlichen Prüfungskompetenz wurde dann auch vom Bundesverwaltungsgericht und den Oberverwaltungsgerichten übernommen. Vgl. dazu BVerwG, in: DVBl. 1993, S. 49 ff., 51 f.; NJW 1996, S. 942; OVGNW, in: DVBl. 1993, S. 58 ff. und 63 ff. und OVGNW, in: NWVBl. 1992, S. 431; BVerwG, Rechtsschutz gegen Prüfungsentscheidungen, in: NJW 2012, S. 2901 ff.; OVG Magdeburg, NVwZ-RR 2012, S. 553 ff.; OVG Münster, NVwZ 2012, S. 521; OVG Koblenz, NVwZ-RR 2012, S. 476; OVG Bremen, NVwZ-RR 2012, S. 438; OVG Münster, in: NWVBl. 2012, S. 483 ff.; BVerwG, NVwZ 2012, S. 1193. 126 Vgl. dazu als Beispiel aus jüngeren Urteilen nur BVerwG, in: DVBl. 1996, S. 436 ff., 438 ff. zur Entwicklung des Umfangs einer Begründungspflicht aus der spezifischen Situation der mündlichen Prüfung. Ähnlich BVerwG, in: DVBl. 1996, S. 1381 ff. 127 Müller II.
212 Zur methodischen Praxis in BVerfGE
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rechte heben sich von Art. 2 Abs. 1 GG als Schutznormen für Lebensbereiche ab, „die nach den geschichtlichen Erfahrungen dem Zugriff der öffentlichen Gewalt besonders ausgesetzt sind“128. Das allgemeine Entfaltungsrecht tritt nicht nur formal, sondern inhaltlich hinter das besondere Grundrecht zurück129. Der Grund dafür liegt nicht in der hierarchischen Struktur eines Wertsystems oder im logifizierten Bau eines Gesetzessystems, sondern in der sachlichen Eigenständigkeit der Normbereiche. Die Grundrechte erscheinen als besondere Sicherungen gegenständlich begrenzter sozialer Segmente. Sie bilden ein Nebeneinander sachlicher Freiheitsgarantien, die sinnvoll aufeinander zu beziehen, nicht aber aus einer einheitlichen Substanz, etwa aus Art. 2 Abs. 1 GG als einem „Muttergrundrecht“ abzuleiten sind. Art. 2 Abs. 1 ist nur insoweit heranzuziehen, „als nicht bestimmte Lebensbereiche durch besondere Grundrechte geschützt sind“130. Nach der inzwischen präzisierten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts muß wegen der sachlichen Unbestimmtheit der Reichweite eines als allgemeines Freiheitsrecht verstandenen Art. 2 Abs. 1 GG der Normbereich des einschlägigen Spezialgrundrechts die Maßstäbe an die Hand geben. Eine besondere Grundrechtsnorm verdrängt nach dieser Judikatur Art. 2 Abs. 1 GG nur dann, wenn eine Verletzung beider „unter demselben sachlichen Gesichtspunkt“ in Betracht kommt; d. h., soweit der verletzte verfassungsrechtliche Maßstab auch zum Normbereich des Einzelgrundrechts gehört131. Die unmittelbare, nicht hinter die Einzelgrundrechte zurücktretende Anwendung von Art. 2 Abs. 1 GG bleibt für den Rest all jener sachlichen Elemente offen, die nicht von den Normbereichen der Spezialgrundrechte erfaßt sind und die deshalb dem fragmentarischen, durch ständige Rechtsprechung sich allmählich konsolidierenden Normbereich von Art. 2 Abs. 1 GG zufallen können. Die normativ auswählende Funktion der zum Teil im Grundgesetzwortlaut ausgedrückten verfassungsrechtlichen Anordnung bezeichnet das Gericht dabei als „sachliche Gesichtspunkte“.
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212.350 Spezialität von Gleichheitsrechten Ein methodischer Ansatz, der von der normativen Anordnung her ausgewählte Strukturgegebenheiten des Regelungsbereichs im Vorgang der Verfassungskonkretisierung selbst als normativ behandelt, tritt u. a. auch in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zum Verhältnis von allgemeinem Gleichheitssatz und einigen seiner Konkretisierungen, wie der Wahlrechtsgleichheit und der Gleichheit der Wettbewerbschancen politischer Parteien132, hervor; ferner in der Judikatur zum WesensgeBVerfGE 6, 32, 37. BVerfGE 11, 234, 238. 130 BVerfGE 1, 264, 273 f.; 6, 32, 37; 7, 377, 386; 9, 338, 343; 21, 227, 234; ferner BVerfGE 10, 55, 58; 19, 206, 225. Das Bundesverwaltungsgericht folgt dieser Auffassung, z. B. in BVerwGE 19, 339, 341. 131 BVerfGE 19, 206, 225. 128 129
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halt der Grundrechte im Sinn von Art. 19 Abs. 2 GG133, zu den Aspekten des Übermaßverbots und der Praktikabilität. Diese beiden letztgenannten, in ihrer Allgemeinheit zunächst formalen Grundsätze gewinnen sachlichen Umriß meist erst aus den normierten und faktischen Bestandteilen der Normbereiche der beteiligten Grundrechte. Ihre Behandlung erhält rationalisierende und stabilisierende Einsichtigkeit aus der Einführung von Normbereichselementen in die Verfassungsinterpretation. In diesem Sinn ist der Grundgedanke der „Stufentheorie“ des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 12 Abs. 1 GG für gesetzliche Einschränkungen aller Grundrechte von Belang. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist seiner normativen Richtung nach sachbezogen. Trifft er bei der Einschränkung von Einzelgrundrechten auf engere Grenzen als bei der des allgemeinen Freiheitsrechts aus Art. 2 Abs. 1 GG, so liegt das an der größeren sachlichen Dichte der spezialgrundrechtlichen Normbereiche. 212.351 Grundrechte als „Werte“ und „Wertsystem“ In Widerspruch zu diesen vielfältigen Ansätzen einer sachgerechteren, differenzierenden Methodik der Verfassungskonkretisierung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts steht eine andere Gruppe charakteristischer Tendenzen dieser Judikatur: die Grundrechte als „Werte“134, ihre Gesamtheit als „System“ oder „Wertsystem“ zu behandeln; ihre Konkretisierung, Begrenzung und Vermittlung mit andern (Verfassungs-)Normen methodisch durch Verfahren der „Abwägung“ von „Gütern“ oder „Interessen“ bewältigen zu wollen135. 132 Z. B. BVerfGE 6, 84, 91 f.; s. a. die Sach- und Strukturüberlegungen in BVerfGE 1, 208, 242, 255; 6, 84, 90; 6, 273, 280; 8, 51, 64 f.; 20, 56 ff. Grundlegend zu den Anforderungen des Gleichheitssatzes an demokratische Wahlen: BVerfGE 130, S. 212 ff., 227 f., 230 f. und bezüglich der Wahlkreiseinteilung ebd., 229 ff. 133 Z. B. BVerfGE 6, 32, 41; 8, 274, 328 f.; 16, 194, 200 f.; 19, 303 ff.; 22, 180, 219 und bereits BVerfGE 2, 266, 285. – Zu Sachaspekten der „Verhältnismäßigkeit“ bzw. des „Übermaßverbots“: Lerche I; Grabitz. – Vgl. zu Art. 19 Abs. 2 GG auch L. Schneider, der die Berücksichtigung von Realdaten im Weg der Normbereichsanalyse anhand und am Beispiel von Art. 19 Abs. 2 GG untersucht hat. Danach ist „der Wesensgehalt von Grundrechten aus dem jeweils grundrechtlich geschützten Normbereich herauszuarbeiten, wobei sowohl die unterschiedlichen Strukturen menschlicher Freiheit als auch die Besonderheiten der grundrechtlichen Normprogramme zu beachten sind. Der Wesensgehalt kann für eine Reihe von Freiheitsrechten mit konzentrischem Aufbau durch Normbereichsanalyse … bestimmt werden“; ebd., S. 273 f.; s. a. S. 141, 224 ff. 134 Die Betrachtung der Grundrechte als „Werte“ hat dazu geführt, dass sie als Schutzgut der öffentlichen Sicherheit angeführt werden können. Im Gewand der Werte stellen sich dann aber wieder die normalen grundrechtsdogmatischen Fragen, die von der Einkleidung zunächst eher verborgen werden. Vgl. dazu VG Hamburg, Untersagung einer Theateraufführung, in: NJW 2012, S. 236 ff. Danach gibt es keinen Anspruch des Bürgers auf Untersagung einer aus seiner Sicht blasphemischen Theateraufführung nach der polizeilichen Generalklausel. Der Staat müsse ihn bei seiner Grundrechtsausübung nicht unterstützen; der Bürger selbst könne dagegen der Aufführung durch Fernbleiben ohne Weiteres aus dem Weg gehen und sei somit zur Kenntnisnahme nicht gezwungen. – Grundsatzkritisch zu Rechten und besonders Grundrechten als „Werten“: F. Müller XIX, S. 187 ff., 216 ff., u.ö.; siehe auch oben S. 79 ff., u. ö.
212 Zur methodischen Praxis in BVerfGE
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Im Lüth-Urteil vom 15. Januar 1958 will das Bundesverfassungsgericht die objektiv-verfassungsrechtliche Bedeutung der Normierung von Grundrechten in der Errichtung einer „objektiven Wertordnung“ oder eines „Wertsystems“ erblicken, das „seinen Mittelpunkt in der innerhalb der sozialen Gemeinschaft sich frei entfaltenden Persönlichkeit und ihrer Würde findet“136. Die mit dem Gebrauch des juristisch entbehrlichen, philosophiegeschichtlich belasteten und im übrigen begrifflich unscharfen „Wert“-begriffs einhergehende Versuchung zu subjektiv-irrationaler Wertung und Abwägung von Werten zeigt sich deutlich, wenn das Gericht im Anschluß die „Wertordnung“ der Grundrechte als „Wertrangordnung“ bezeichnet, innerhalb deren eine Abwägung vorgenommen werden müsse137. So richtig es ist, daß sich der Gesetzgeber innerhalb des grundrechtsgeschützten Raums nicht frei bewegen darf, daß nicht er es ist, der den Inhalt des Grundrechts konstitutiv bestimmen kann, daß sich vielmehr aus dem normativen Gehalt des Grundrechtsinhaltliche Begrenzungen seines gesetzgeberischen Ermessens ergeben138, sowenig hat diese Einsicht mit der Berechtigung oder mit der Notwendigkeit eines methodischen Verfahrens der „Güterabwägung“ zu tun, wie es in einer Reihe verfassungsgerichtlicher Entscheide vorgeschlagen wird139.
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Ein derartiges Verfahren genügt nicht den rechtsstaatlich gebotenen und tatsächlich erfüllbaren Anforderungen an eine rechtswissenschaftlich-objektiv kontrollierbare Entscheidungsbildung und Begründungsdarstellung im Rahmen der Konkretisierung von Verfassung und unterverfassungsrechtlicher Rechtsordnung. Das sieht man recht deutlich auch beim Begründen der Wirkung der Grundrechte im Zivilrecht (Drittwirkung). Seit dem Lüth-Urteil bis heute140 verwendet man dazu die so genannte objektive Seite der Grundrechte. Diese objektive Funktion ist aber mit dem Verständnis als „Wertentscheidung“ nicht hinreichend erklärbar.
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Die grundrechtliche Drittwirkung wird herkömmlich wie folgt begründet: Die Grundrechte haben einen Doppelcharakter. Sie sind erstens in ihrer ganzen Bandbreite subjektive Rechte und zweitens in ihrem Kernbereich objektive WertentscheiVgl. zur Güterabwägung BVerfGE 103, 332, 367. BVerfGE 7, 198, 205. – Vgl. auch BVerfGE 33, 23 ff. (Eidesverweigerung): die Verfassung sei als „eine einheitliche Ordnung mit dem Ziel auszulegen, … Widersprüche zwischen ihren einzelnen Regelungen zu vermeiden“, S. 27; S. 29 spricht das BVerfG von der „grundgesetzlichen Wertordnung … unter Berücksichtigung der Einheit dieses grundlegenden Wertsystems“. Vgl. auch E 32, 98 ff. (Glaubensfreiheit – § 330c StGB), 108: Ein Konflikt innerhalb eines Grundrechts sei zu lösen „nach Maßgabe der grundgesetzlichen Wertordnung und unter Berücksichtigung der Einheit dieses grundlegenden Wertsystems“, das dann im folgenden „insbesondere“ auf Art. 1 I GG als „oberster Wert“ radiziert wird. 137 BVerfGE 7, 215. 138 BVerfGE 7, 377, 404. 139 So in BVerfGE 7, 198, 210 f.; 7, 230, 234; 7, 377, 405; 14, 263, 282; 21, 243 f.; vgl. hierzu auch BVerfGE 47, 327, 369 f.; 49, 89, 141 f.; 52, 131, 166; 57, 220, 244; 76, 1, 41, 49. – Zur Kritik an der „Technik“ der Abwägung im Rahmen des vorläufigen Rechtsschutzes vgl. Windoffer, § 5, insbesondere S. 77 ff. und schon S. 44 ff. 140 BVerfGE 118, S. 1 ff., 21. 135 136
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2 Stand der Methodik – 21 Rechtsprechung
dungen. Als subjektive Rechte gelten sie im Zivilrecht nicht. Doch mit ihrem Kern an objektiver Wertentscheidung gelten sie im Rahmen der Auslegung zivilrechtlicher Generalklauseln. An dieser – auch durch die Gerichte – immer wieder zitierten Formel überzeugt nichts. Die Grundrechte gelten nicht einfach als „Werte“; man kann sie vielmehr als Rechte durchsetzen, besonders im Rahmen der Verfassungsbeschwerde. Dabei werden sie von den Gerichten nicht nur in ihrem Kernbereich angewendet, sondern in ihrer ganzen Bandbreite. Dieses Umsetzen vollzieht sich auch nicht nur bei den so genannten Generalklauseln, sondern ganz allgemein im Rahmen der systematischen Konkretisierung des Zivilrechts. Und schließlich dienen die Grundrechte unter bestimmten Umständen im Zivilrecht sogar als Anspruchsgrundlage. Das heißt im Ergebnis, daß die ausformulierte Selbstbeschreibung des Rechtssystems weit hinter der tatsächlichen Praxis der Gerichte zurück bleibt. Soll dieser Abstand verringert werden, so ist zunächst nach den Ursachen zu fragen. Dabei zeigt sich, daß die zentralen Theoreme nicht geeignet sind, die praktische Arbeit der Gerichte zu erfassen. Weder die methodische Figur der „Abwägung“ noch ihre rechtstheoretische Grundlage im Ansatz der „Einheit der Rechtsordnung“ sind der Komplexität der praktischen Arbeit der Gerichte gewachsen. Die „Abwägung“ ist nicht mehr als eine delegierende Metapher, weil die Uneinheitlichkeit der Positionen, die in den Fällen von Drittwirkung miteinander in Konflikt geraten, sich bei der Bestimmung des „Ganzen“ der Rechtsordnung wiederholt. Weil man aber dieses Ganze als ein homogenes Medium brauchen würde, um Religion gegen Presse oder Kunst gegen Gewerbebetrieb abwägen zu können, kann diese Technik nicht funktionieren. Die diesbezügliche Arbeit der Gerichte vollzieht sich in einem blinden Fleck der Theorie. Solange man von der „Einheit“ und vom „Ganzen“ der Rechtsordnung als Deduktionsgrundlage und von der „Abwägung“ als Modus operandi ausgeht, bleibt dieser Zustand erhalten. Deshalb sind diese zentralen Theoreme zu überwinden. Das Bild der Abwägung führt allerdings zu wichtigen Sachproblemen. Hinter seiner rhetorischen Fassade verbergen sich zum einen die Argumentationsvorgänge und zum anderen die sozialen Verhältnisse als deren Inhalt. Das Recht bezieht sich mit seinen Texten auf die geregelten Tatsachen und konstituiert sich als Rechtsnorm partiell durch sie – der zusammengesetzte Normbegriff der Strukturierenden Rechtslehre, gewonnen aus intensiven Analysen der Begründungstexte konkreter Entscheidungen. Diese zweite, die sachhaltige Komponente wird sichtbar, wenn der Ablauf der Abwägung beschrieben wird. Trotz ihrer mit-entscheidenden Wichtigkeit werden empirische Argumente in der Jurisprudenz oft nur als Schmuggelware gehandelt. Sie erscheinen zum Beispiel als Folgebetrachtung im Rahmen der Teleologie, als so genanntes argumentum ad absurdum, als Rechtsprinzip der Praktikabilität und gelegentlich noch als die traditionelle „Natur der Sache“. Aber auch im Recht besteht ein erstrangiges Interesse daran, daß fremde Waren offen deklariert werden. Dabei geht es nicht um einen vorgeblich direkten Zugriff auf die Wirklichkeit. Niemand beschreibt sie ein-eindeutig, keiner erkennt das Ding an sich. Es geht
212 Zur methodischen Praxis in BVerfGE
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aber um ein für Entscheidungen operationales Verknüpfen mit Nachbarwissenschaften wie Soziologie, Psychologie, Ökonomie, Ökologie und anderen. Die Sprache gibt, realistisch genommen, keine „Repräsentation“ und kein Abbild der Wirklichkeit her, schon gar nicht ein eindeutiges. Wirklichkeit wird in Sprache und als solche von Sprache präsentiert (die „sekundären Sprachdaten“ der Strukturierenden Rechtslehre und der vorliegenden Methodik), um verhandelt und abgearbeitet werden zu können. Im Rahmen der Rechtsarbeit steht das Recht in einem komplexen Wechselspiel zur Welt. Für die juristische Entscheidungstätigkeit sind Recht und Wirklichkeit nach aller praktischen Erfahrung keine selbstständig gegebenen Größen, die in einem bloß äußeren Verhältnis zueinander stünden, die erst nachträglich zueinander in Beziehung zu setzen wären. Die normative Wirkkraft von Grundrechts- und anderen Verfassungsvorschriften wird mit den theoretisch und methodisch differenzierenden und strukturierenden Gesichtspunkten der Normbereichsanalyse und mit einer zu leistenden wesentlich genaue-ren Fassung der Konkretisierungselemente des praktischen Rechtsgewinnungsvorgangs weit eher und auf rechtsstaatsgemäßere Weise erfüllt als mit notwendig formalen und damit im Grund allen Verfassungsrechtsnormen einen Urteilsvorbehalt unterschiebenden Vorstellungen von Abwägung; als mit notwendig vagen und zu ideologischen Unterstellungen verleitenden Wert-, Wertsystem- und Wertungskategorien. Weder historisch noch aktuell bilden die Grundrechte des Bonner Grundgesetzes ein geschlossenes Wert- und Anspruchssystem. Ihre enge funktionelle und normative Verbindung mit den übrigen Teilen des Verfassungsrechts macht es unzulässig, sie als eine eigene, in sich geschlossene Gruppe von Verfassungsnormen zu behandeln. Ihre sachlich-normativen Verbindungen können vor allem durch Aspekte der systematischen Interpretation einsichtig gemacht werden, ohne daß System-Unterstellungen notwendig würden. Die Annahme eines neben der – auch für sich wiederum fragwürdigen – „allgemeinen Werteordnung der Verfassung“141 stehenden grundrechtlichen „Wertsystems“ enthält entweder einen Widerspruch oder eine Fehldeutung oder die Behauptung eines vom Bundesverfassungsgericht nicht belegten und aus dem geltenden Verfassungsrecht auch nicht belegbaren Systempluralismus, der weder materiell-rechtlich noch funktionell-rechtlich haltbar ist142. Nicht in der „wert“-bestimmten Tendenz seiner Rechtsprechung, sondern in der Reihe seiner auf Normbereichsanalysen gestützten Entscheidungen behandelt das Bundesverfassungsgericht die Grundrechte des Grundgesetzes zutreffend als durch ihre Normbereiche sachlich abgestützte Verbürgungen und ihre Gesamtheit nicht als fiktives „System“, sondern als material sinnvoll deutbare Zusammenordnung je eigenwertiger und geschichtlich verschieden fundierter Gewährleistungen individueller, politischer und sachlicher Freiheit.
141 142
BVerfGE 10, 59, 81. Ehmke II, S. 58 f.; Ehmke III, S. 82 ff.; Hesse II, S. 118 ff.
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2 Stand der Methodik – 21 Rechtsprechung 213 Gesamtbild verfassungsgerichtlicher Methodologie und Methodik und neuere Tendenzen
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Insgesamt bietet die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung nach dem gegenwärtigen Stand das Bild einer Entwicklung, die mit einer Reihe neuer Ansätze den Weg von der nur scheinbar ausreichenden formallogischen Textbehandlung zu einer sach- und fallbezogenen Verfassungskonkretisierung einschlägt. Unter dem Gesichtspunkt der hermeneutischen und methodologischen Rechenschaft, die von dem eigenen Tun abgelegt wird und im Rechtsstaat abgelegt werden muß, bietet sie das eines vorherrschenden Pragmatismus, der sich oft unkritisch zu überlieferten – in ihrer behaupteten Ausschließlichkeit gesetzespositivistischen – Auslegungsmethoden bekennt, diese Regeln aber in jedem Fall ihres praktischen Versagens ohne Begründung für die Abweichung durchbricht.
67a
Als Gesamteinschätzung läßt sich festhalten, daß die theoretische Selbstbeschreibung des Gerichts weit hinter dem zurückbleibt, was es tatsächlich tut. Das bietet einen guten Ansatzpunkt für methodologische Reflexion.143 Denn in dem, was die Gerichte tatsächlich tun, liegt ein großes Rationalitätspotential, das von der Wissenschaft entfaltet werden muß. In der Praxis ihres Einsatzes werden z. B. grammatische und systematische Konkretisierung ganz unspektakulär als Argumente verwendet und meist nicht einmal explizit benannt.144 Ebenso überschreiten historische und genetische Konkretisierung in ihrem praktischen Gebrauch ganz selbstverständlich die Grenzen, die ihnen die herkömmliche Theorie ziehen will.145
213.1 Die Elemente der Konkretisierung 67b
Die Gründe für die zum Teil widersprüchliche Behandlung der herkömmlichen Regeln durch die Gerichte liegen zum größten Teil darin, daß die Anwendung der Canones mit Theorien belastet wird, die ihre Leistungsfähigkeit verkürzen. Die Leistung der Canones liegt in der Verknüpfung von Texten; sie sind Lieferanten von Kontexten. In der Praxis wirklicher Entscheidungen funktionieren diese Instrumente 143 Sehr nützlich ist dabei die Veröffentlichung von Sondervoten, weil an argumentativen Bruchstellen der Begründungstexte die methodischen Probleme offenbar werden. – Zu den rechtlichen und historischen Grundlagen des Sondervotums: Eggeling, S. 67 ff. 144 Vgl. zu grammatischen Auslegung beispielsweise BVerfGE 97, 186, 196. Zur systematischen Auslegung BVerfGE 99, 1, 11 ff.; 102, 167, 174. BVerfGE 102, 176 (Volksgesetzgebung unter dem Vorbehalt des Haushaltsrechts): Entstehungsgeschichte, Systematik und teleologisches Argument in ihrem praktischen Zusammenspiel ebd., S. 187. BVerfGE 101, 141, 147 (die Sonderabgabe in der Systematik des Grundgesetzes). – Einsatz der grammatischen (inklusive Wörterbuch und Etymologie), systematischen, historischen und „objektiv-teleologischen“ Argumente in BVerfGE 107, 104, 122 ff. (zu § 51 Abs. 2 JGG, der im Ergebnis für – in diesem Fall – „unbestimmt“ erklärt wird). 145 Vgl. zur genetischen Konkretisierung BVerfGE 95, 64, 95; 96, 139, 149; 99, 1, 14 f. Zur historischen Konkretisierung BVerfGE 96, 330, 331; 96, 315, 319; 97, 198, 218 ff.; 99, 1, 13 ff. BVerfGE 101, 1, 33 ff.
213 Gesamtbild verfassungsgerichtlicher Methodologie und Methodik
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unabhängig von der Willensdoktrin des 19. Jahrhunderts als Verknüpfungen im Hypertext des Rechts. Häufig werden sie aber in der Praxis unter Anforderungen gestellt, die sie nicht erfüllen können. Dabei werden sie mit Theoremen aufgeladen, die einst in der Lehre vertreten wurden und heute, nachdem sie wissenschaftlich längst abgetan sind, im Alltagsbewußtsein ihren Lebensabend fristen. So sind etwa mit der genetischen Auslegung häufig überholte Konzepte der Autorschaft verknüpft146 oder mit der systematischen Konkretisierung eine mediale Einheitsvorstellung des Buches, welche sich aus einer in der Theologie lange vergangenen Sicht der Bibel ergibt.147 In der teleologischen und vor allem in der grammatischen Konkretisierung findet man dagegen Theoreme aus lange zurückliegenden Entwicklungsstadien der Sprachwissenschaft; so in der teleologischen Argumentation die Vorstellung einer instrumentellen Sprache und in der grammatischen die einer normativen Sprache.148 Natürlich werden die Möglichkeiten der Canones durch diesen Ballast behindert, so daß hier einer der wichtigsten Eintrittspunkte methodologischer Reflexion liegt.
213.11 Grammatische Konkretisierung Glücklicherweise gibt es auch bei den Gerichten deutliche Tendenzen, die über 67c diese Beschränkungen hinausführen. Ein wichtiges Beispiel ist die Entwicklung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Prüfungsspielraum149 bei Urteilsverfassungsbeschwerden. Die Überprüfung findet ihre Grenze darin, daß das Gericht keine Superrevisionsinstanz ist. Deswegen werden nur spezifische Verfassungsverstöße geprüft, nicht dagegen die Auslegung und Anwendung einfachen Rechts. Methodisch gewendet bedeutet dies, daß das Bundesverfassungsgericht bei der Auslegung einfachen Rechts, solange diese nicht willkürlich ist, lediglich einen Teilaspekt der systematischen Konkretisierung überprüft; die Frage nämlich, ob Bedeutung und Tragweite der Verfassung bei der Auslegung eines bestimmten einfachgesetzlichen Begriffs richtig bestimmt wurden. Die spezifische Verfassungsverletzung, auf die sich das Verfassungsgericht im Unterschied zum Revisionsgericht beschränkt, besteht etwa bei Fällen mit Drittwirkung in der Frage, ob im Rahmen der §§ 823 und 1004 BGB und der Frage nach einem rechtswidrigen Eingriff in Gewerbebetrieb oder Allgemeines Persönlichkeitsrecht die Bedeutung und Tragweite der Grundrechte auf Seiten von Kläger und Beklagtem richtig bestimmt wurden. – Neben diesem Teilaspekt der systematischen Auslegung beansprucht das Gericht noch die Prüfung zweier weiterer Punkte, zunächst des Willkürverbots: Jedes Gericht müsse Entscheidungen anderer Gerichte beachten, nicht aber befolgen. Wenn ein Untergericht von der Rechtsprechung sei146 147 148 149
Vgl. zur Kritik Jannidis, sowie Carman, Paulson. Vgl. zur Kritik Wetzel. Vgl. zur Kritik Glüer; Christensen / Sokolowski III. Vgl. dazu auch Papier, S. 20 ff.
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nes Obergerichts abweicht, ohne ein neues Argument vorzutragen, dann verletze diese Entscheidung das Willkürverbot. Die letzte Grenze liege schließlich in der richterlichen Kompetenz zur Rechtsfortbildung. Diese Kompetenz werde überschritten, wenn der Richter seine Entscheidung eigenen Obersätzen zurechnet, die er selbst formuliert hat. – Zur Unzulässigkeit dieses „echten“ Richterrechts grundsätzlich schon F.Müller XXII sowie oben S. 105 ff., u.ö. Das Gericht hat nun aber bei Kommunikationsgrundrechten, die von vornherein auf einen Konflikt mit der Gemeinschaft hin angelegt sind, den Prüfungsumfang erweitert und dabei auch in methodischer Hinsicht Fortschritte erzielt.150 Das Gericht hat diesen Prüfungsumfang für die Kommunikationsgrundrechte mit dem Argument intensiviert, diese seien von besonderer Bedeutung für die Demokratie und auf Konflikte in der Gemeinschaft hin angelegt. Deswegen müsse bei Grundrechten wie jenen der Meinungsfreiheit und Pressefreiheit auch geprüft werden, ob der Richter den kommunikativen Akt überhaupt richtig interpretiert hat. Wenn es neben der zugrunde gelegten Lesart eine weitere gibt, die nicht vollkommen fernliegend ist, dann müsse der Richter diese Lesart zunächst mit Argumenten ablehnen, bevor er eine Interpretation einführt, die zu einer Sanktion führt. Seit dem Soldaten-Urteil ist diese Praxis des Bundesverfassungsgerichts immer wieder kritisiert worden. Dem Gericht wird dabei unterstellt, es maße sich die Rolle nicht nur eines Superrevisionsgerichts, sondern auch die eines Superamtsgerichts an. Diese Kritik ist jedoch nicht überzeugend, weil andernfalls der Richter durch Interpretation des Kommunikationsakts den Schutzbereich dieser Grundrechte verkürzen könnte. Allerdings ist der richterliche Prüfungsumfang immer wieder Gegenstand auch der methodologischen Reflexion des Bundesverfassungsgerichts.151 Die Kunstfreiheit wie auch die Meinungsäußerungsfreiheit haben von der Sache her einen ausgesprochenen Gemeinschaftsbezug, da sie von der Resonanz in der Öffentlichkeit leben. Daher kollidieren sie häufig mit anderen Verfassungspositionen. Hier den richtigen Ausgleich zu finden, ist grundsätzlich die Aufgabe der Fachgerichte. Nachdem aber die Konfliktneigung schon im Verfassungsrecht angelegt ist und bereits einzelne Auslegungsfehler zu einer Fehlgewichtung grundgesetzlich garantierter Rechte mit schwerwiegenden Folgen führen können, erscheint es bei diesen Grundrechten sachlich angemessen, daß die verfassungsgerichtliche Kontrolle weiter geht als normalerweise152. Das Bundesverfassungsgericht hat demnach bei strafrechtlichen Sanktionen nicht nur zu prüfen, ob das inkriminierte Verhalten vom Schutzbereich der Art. 5 I und III GG erfaßt wird und dies von Seiten des Gerichts erkannt und angemessen bewertet worden ist. Speziell im Hinblick auf die Kunstfreiheit untersucht es vielmehr auch, ob das Fachgericht das Werk anhand 150 Zum Prüfungsumfang bei Urteilsverfassungsbeschwerde vgl. BVerfGE 95, 96, 128, 138 ff., 141; 96, 152, 164; 96, 171, 183; 96, 189, 199; 96, 205, 213, 215; 97, 12, 27; 97, 125, 145; 97, 391, 401, 405; 100, 214, 222; 101, 361, 388 (spezifische Verfassungsverletzung); 101, 239, 357. 151 Vgl. dazu BVerfGE 130, S. 1 ff., 31 f., 44; BVerfGE 130, S. 263 ff., 294 f. 152 Vgl. BVerfG NJW 1994, 2943: „Soldaten sind Mörder“.
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künstlerischer Strukturmerkmale beurteilt, also werkgerechte Maßstäbe angelegt, und ob es die der Kunstfreiheit gesetzten Grenzen im einzelnen zutreffend gezogen hat. Aus der erforderlichen kunstspezifischen Betrachtung folgert das Gericht eine Vermutung für die Fiktionalität des literarischen Textes.153 Es bleibe dabei den Fachgerichten überlassen, die Identifizierbarkeit von Personen154 und das Maß der Verfremdung155 festzustellen. Das Verfassungsgericht überprüft allerdings, ob der Charakter als Fiktion vom Fachgericht hinreichend berücksichtigt wurde.156 Bei Meinungs- und Pressefreiheit stellt es dementsprechend die Frage, ob alternative Lesarten des inkriminierten Textes mit Argumenten ausgeschlossen wurden: „Bei Äußerungen, die mehrere Deutungen zulassen, dürfen sie (die Gerichte) sich nicht für den zur Verurteilung führenden Sinn entscheiden, ohne zuvor die Alternativen mit tragfähigen Gründen ausgeschlossen zu haben.“157 Während im Bereich der Kunstfreiheit also der Wirklichkeitsbezug der Sprache deutlich hervortritt, werden im Bereich der Meinungs- und Pressefreiheit wichtige Schritte sichtbar, mit denen sich das Gericht von der im Alltagsverständnis der Juristen tradierten normativen Sprachauffassung verabschiedet. Ein gutes Beispiel ist hier die Benetton-Entscheidung: „Bei mehrdeutigen Äußerungen müssen die Gerichte sich im Bewußtsein der Mehrdeutigkeit mit den verschiedenen Deutungsmöglichkeiten auseinandersetzen und für die gefundene Lösung nachvollziehbare Gründe angeben (vgl. BVerfGE 94, 1 [10 f.]). Der Bundesgerichtshof deutet die ‚H.I.V.-Positiv‘-Anzeige dahin, daß sie den AIDS-Kranken als ‚abgestempelt‘, und damit als aus der menschlichen Gesellschaft ausgegrenzten darstelle. An anderer Stelle heißt es, die Anzeige stigmatisiere den AIDS-Kranken in seinem Leid und grenze ihn gesellschaftlich aus. Einer aufkeimenden Mentalität des ‚Abstempelns‘ bestimmter Mitglieder der Gesellschaft sei entgegenzuwirken. Zumindest von H.I.V.-Infizierten selbst müsse die Anzeige als grob anstößig und ihre Menschenwürde verletzend angesehen werden. In diesem Sinne eindeutig ist die Anzeige jedoch nicht. Sie zeigt kommentarlos einen Menschen, der als ‚H.I.V.-Positiver‘ abgestempelt erscheint. Daß damit der skandalöse, aber nicht realitätsferne Befund einer gesellschaftlichen Diskriminierung und Ausgrenzung H.I.V.-Infizierter bekräftigt, verstärkt oder auch nur verharmlost wird, drängt sich nicht auf. Mindestens ebenso naheliegend ist die Deutung, daß auf einen kritikwürdigen Zustand – die Ausgrenzung H.I.V.-Infizierter – in anklagender Tendenz hingewiesen werden soll. Mit dem Foto könnte, wie die Beschwerdeführerin zutreffend anmerkt, auch für einen AIDS-Kongreß geworden werden. (…) Das mit der Verfassungsbeschwerde (…) angegriffene Urteil (H.I.V.-Positive) genügt damit nicht den Anforderungen,
Vgl. dazu BVerfGE 119, S. 1 ff., 28. BVerfGE 119, S. 1 ff., 26. 155 Vgl. dazu BVerfGE 119, S. 1 ff., 30. 156 BVerfGE 119, S. 1 ff., 31. 157 BVerfGE 94, 1, 9 unter Bezug auf BVerfGE 85, 1, 13 f. – Vgl. zur Auslegung und Ermittlung des Kommunikationsinhalts auch Lenski, S. 110 ff. 153 154
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die zum Schutz der Meinungsfreiheit an die Deutung von Meinungsäußerungen zu stellen sind. Der Bundesgerichtshof hat die naheliegende Möglichkeit verkannt, daß mit der Anzeige die öffentliche Aufmerksamkeit in kritischer Absicht auf eine tatsächlich anzutreffende Diskriminierung und Ausgrenzung AIDS-Kranker gerichtet werden sollte“.158 Diese Entscheidung ist Teil einer vom Soldatenurteil ausgehenden Entwicklung, mit der sich das Bundesverfassungsgericht immer deutlicher von der bei den Fachgerichten noch vorhandenen normativen Sprachauffassung distanziert. Eine weitere Station auf dieser Entwicklungslinie betrifft ein Flugblatt, das anläßlich einer Mahnwache für die Opfer des Bombenanschlags beim Oktoberfest verteilt wurde: „Am 26. September jährt sich zum elften Mal der Tag des neonazistischen Bombenanschlags auf das Oktoberfest. 13 Menschen verloren dabei ihr Leben. Über 200 wurden zum Teil schwer verletzt, viele von ihnen fristen seither ihr Leben als Krüppel. Die Hintergründe: Kurz vor der Bundestagswahl – mit dem Kanzlerkandidaten F. J. Strauß – sollte durch Verbreitung von Angst und Schrecken der starke Mann herbeigebombt werden, einer der Deutschland wieder zu dem machen sollte, was Hitler auf seine Fahnen geschrieben hatte: ‚Ruhe und Ordnung‘ nach innen, Großdeutschland nach außen“.159 Die Verfasser des Flugblatts wurden vom Strafgericht in zwei Instanzen zu einer Geldstrafe verurteilt. Nachdem die Revision abgewiesen wurde, erhoben sie Verfassungsbeschwerde. In den Urteilen der Strafgerichte wird eine normative Verwendung der Sprache deutlich. Sie hatten zu entscheiden, ob das zitierte Flugblatt die Bundesrepublik und die bayrische Staatsregierung „beschimpft“. In einem gängigen Kommentar lesen wir dazu folgendes: „Tathandlungen sind (a) das Beschimpfen, d. h., die durch Form oder Inhalt besonders verletzende Äußerung der Mißachtung, (…). Sie muß die Bundesrepublik in ihrer Eigenschaft als freiheitlichrepräsentative Demokratie herabwürdigen, z. B. wenn die Bundesrepublik mit dem ‚3. Reich‘ gleichgesetzt wird. Harte politische Kritik, sei sie auch offenkundig unberechtigt, unsachlich oder uneinsichtig, ist noch kein Beschimpfen, ebenso wenig bloß taktlose oder auch zynische Entgleisungen, wohl aber ist die Grenze überschritten, wenn behauptet wird, der deutsche Staat habe 19 Personen (RAF-Mitglieder) ‚ermordet‘ und versuche, aus diesen Morden ‚Selbstmorde‘ zu machen oder wenn die freiheitliche Grundordnung der Bundesrepublik im Gesamten herabgewürdigt wird (…).“160 Das Gericht sieht im Fall des zitierten Flugblatts diesen Tatbestand als erfüllt an, weil in ihm behauptet werde: „Die Bundesrepublik Deutschland sei in ihrem derzeitigen Erscheinungsbild faktisch nur eine Fortführung des Dritten Reiches, zwar unter einer neuen politischen Führung, jedoch unter Beibehaltung der alten geistig-
158 159 160
BVerfGE 102, 347, 367 ff. Zitiert nach BVerfG 1. Senat 1 1998 – 07 – 29 1 BvR 287 / 93. Tröndle / Fischer, Kommentar zum StGB, § 90 a, RNr. 3.
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ideologischen Prinzipien. Eine derartige Gleichstellung der Bundesrepublik Deutschland und des Freistaats Bayern als Träger der hinsichtlich des Attentats vom 26. September 1980 durchgeführten Strafverfolgungsmaßnahmen mit einem faschistischen Unrechtsstaat bedeute eine Herabwürdigung der Eigenschaften beider Staaten als freiheitlich-repräsentative Demokratien und überschreite damit die Grenzen harter politischer Kritik. Es handele sich nicht lediglich um taktlose oder zynische Entgleisungen.“161 Dem Gericht geht es also gar nicht um die Frage, wieviel Kritik eine Demokratie sich leisten kann und muß: Es geht ihm schlicht um die Bedeutung des Wortes „Beschimpfen“. Über Notwendigkeit und Reichweite der Meinungsfreiheit in der Demokratie mag man geteilter Meinung sein. Die Bedeutung des Wortes „Beschimpfen“ steht dagegen – scheinbar – fest. Wenn man „normativ“ all die Umstände nennt, die der anstehenden Entscheidung ihre Richtung geben, so ist diese Normativität in der strafgerichtlichen Entscheidung sowohl vom Entscheidungssubjekt als auch vom Argumentationsprozeß abgelöst und in die Sprache projiziert. Die Sprache wird hier zum Subjekt des Rechts und zur Quelle der Normativität. Der Kommentar sagt, was das Gesetz bedeutet. Unter seine verbindliche Sprache ist demnach zu subsumieren. Dabei ist die Gleichsetzung der Bundesrepublik und Bayerns mit einem faschistischen Staat bestenfalls nur eine der Lesarten des inkriminierten Flugblatts. Deswegen hätte es das Recht des Beschuldigten auf seine eigene Sprache verlangt, alternative Interpretationen zu erwägen und ggf. auszuschließen. Eben dies macht das Bundesverfassungsgericht geltend. Es mahnt gegenüber den Strafgerichten einen angemessenen Umgang mit der Komplexität der Sprache an. Man kann nicht einfach nur eine Interpretationsweise behaupten. Vielmehr sind alternative Lesarten mit plausiblen Gründen auszusondern. Entschieden wird vom Bundesverfassungsgericht nicht anhand bedeutungstheoretischer Spekulationen über den Begriff des ‚Beschimpfens‘. Entschieden wird vielmehr, indem man die Rolle von Meinungs- und Pressefreiheit in einer Demokratie diskutiert: „Auslegung und Anwendung strafrechtlicher Vorschriften sind Sache der Strafgerichte. Geht es um Äußerungen, die vom Schutz der Meinungsfreiheit umfaßt werden, haben sie dabei aber dem eingeschränkten Grundrecht Rechnung zu tragen, damit dessen wertsetzende Bedeutung auch auf der Rechtsanwendungsebene gewahrt bleibt (vgl. BVerfGE 7, 198 [208 f.]; stRspr). Dazu gehört zum einen eine zutreffende Erfassung des Sinns der umstrittenen Äußerung. Insbesondere dürfen die Gerichte ihr keine Bedeutung beilegen, die sie objektiv nicht hat, und im Fall der Mehrdeutigkeit nicht von der zur Verurteilung führenden Deutung ausgehen, ehe sie andere Deutungsmöglichkeiten mit tragfähigen Gründen ausgeschlossen haben (vgl. zuletzt zusammenfassend BVerfGE 93, 266 [295 ff.])162. 161 Die Landgerichtsentscheidung wird hier zitiert nach BVerfG 1. Senat 1 1998 – 07 – 29 1 BvR 287 / 93.
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Zwar läßt es sich von Verfassungswegen nicht beanstanden, daß in der Gleichsetzung der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihr angehörenden Landes mit einem faschistischen Staat eine Beschimpfung im Sinn von § 90 a Abs. 1 Nr. 1 StGB gesehen wird. Das Landgericht hat aber nicht ausreichend dargelegt, daß das Flugblatt diesen Sinn tatsächlich hat. Eine ausdrückliche Gleichsetzung enthält der Text des Flugblatts nicht. Sie ist vielmehr das Ergebnis der Textinterpretation durch das Landgericht. Ob der Text auch andere, nicht die Tatbestandsmerkmale von § 90 a Abs. 1 Nr. 1 StGB erfüllende Deutungen zuließe, hat es nicht erwogen. Dazu hätte aber Anlaß bestanden, weil sich seine Deutung nicht zwingend und alternativlos aus dem Text des Flugblatts ergibt.“163 Sprache ist nicht normativ. Normativ sind Sprecher; insbesondere Juristen, wenn sie Sprachkonflikte entscheiden. Zwar geben sie vor, normative Strukturen in der Sprache nur zu bewohnen. Tatsächlich sind sie aber Architekten. Gerade Juristen wissen aber, daß von Architekten stets geprüft werden muß, ob sich das Vorhaben in die Umgebung einfügt und ob Gefahren davon ausgehen. Deswegen sind juristische Sprachnormierungen dann zu kritisieren, wenn sie darauf hinauslaufen, sprachliche Vielfalt oder die Mechanismen zu deren Erzeugung zu verletzen. Für dieses Problem macht der neue Ansatz des Bundesverfassungsgerichts sensibel. Die grammatische Konkretisierung muß zwischen zwei Klippen hindurchsteuern. Einerseits muß sie vermeiden, die Sprache zu einer normativen Ordnung zu überhöhen, worin die juristischen Probleme angeblich schon entschieden sind. Andererseits darf sie die Sprache als Plausibilitätsraum juristischer Konkretisierung auch nicht unterschätzen, indem sie ihre Leistung auf die zufällige Sprachkompetenz des gerade entscheidenden Richters verkürzt. Ein Beispiel, wie sich beide Klippen vermeiden lassen, ist der Einsatz des grammatischen Arguments in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Frischzellentherapie.164 Es ging dabei um die Abgrenzung des Kompetenztitels aus Art. 74 Nr. 419 „Arzneimittelrecht“ vom Arztrecht. Nachdem der Senat systematische und historische Konkretisierung eingehend diskutiert hat, wird eine Normbereichsanalyse durchgeführt; er kommt als Zwischenergebnis zu einem Verständnis des Kompetenztitels als Kontrolle von Arzneifertigwaren. Dieses Ergebnis wird dann überprüft, nicht einfach an der eigenen Sprachkompetenz der Richter, sondern anhand von zwei Wörterbüchern. Diese werden nicht normativ zu Sprachgesetzbüchern gewendet, sondern sie dürfen lediglich die Plausibilität eines anderweitig gefundenen Ergebnisses bestätigen.
162 Vgl. zum Prüfungsumfang bei Meinungsfreiheit BVerfG, in: NJW 2003, S. 660 ff.: „Bei der Klärung, ob eine Äußerung eine wirkliche oder bloß eine rhetorische Frage darstellt, ist im Interesse eines wirksamen Grundrechtsschutzes im Zweifel von einem weiten Fragebegriff auszugehen. Belange der Meinungsfreiheit sind trotz Vorliegens der tatbestandlichen Voraussetzung des § 130 I Nr. 1 StGB grundsätzlich zu berücksichtigen, denn Meinungen im Sinne dieser Vorschrift stellen nicht in jedem Fall einen Angriff auf die Würde des Betroffenen dar.“ 163 BVerfG 1. Senat 1 1998 – 07 – 29 1 BvR 287 / 93. 164 BVerfGE 102, 26, 39.
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Eine für die grammatische Konkretisierung interessante Frage findet sich z. B. auch in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Kriegsopferversorgung in den neuen Bundesländern. Es geht dort um den Begriff „Heimat“ in Art. 3 Abs. 3 GG. Das Mehrheitsvotum lehnt die Anwendbarkeit des speziellen Gleichheitssatzes mit dem Argument ab, bei Heimat gehe es um den emotionalen Bezug zu einer bestimmten Landschaft oder Umgebung. Dies sei bei der Kriegsopferversorgung im Beitrittsgebiet aber nicht der Anknüpfungspunkt.165 Das Minderheitsvotum zeigt im Ergebnis zu Recht, daß diese umgangssprachlich mögliche Verständnisweise im speziellen Kontext des Verfassungsrechts nicht sinnvoll ist, weil Art. 3 Abs. 3 sonst leerliefe.166 Es wird daran deutlich, daß die grammatische Konkretisierung zunächst einen Plausibilitätsraum erschließt, der dann aber durch spezifische juristische Kontexte eingeengt werden kann. Eine realistischere Einschätzung der Leistungsfähigkeit des Gesetzeswortlauts als Normtext zeigt sich auch in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Berichtigung von Gesetzesbeschlüssen: „Auch wenn das Grundgesetz keine Vorschriften über die Berichtigung von Gesetzesbeschlüssen enthält, rechtfertigen es die Erfordernisse einer funktionsfähigen Gesetzgebung, in Anknüpfung an die überkommene Staatspraxis im Gesetzesbeschluß enthaltene Druckfehler und andere offenbare Unrichtigkeiten ohne nochmalige Einschaltung der gesetzgebenden Körperschaft berichtigen zu können. (…) Maßstab ist die offensichtliche Unrichtigkeit des Gesetzesbeschlusses. Diese kann sich nicht allein aus dem Normtext, sondern insbesondere auch unter Berücksichtigung des Sinnzusammenhangs und der Materialien des Gesetzes ergeben.“167 Zu den positiven Tendenzen zählen auch die Entwicklungen der Judikatur im Be- 67d reich des unbestimmten Rechtsbegriffs. Traditionell blieb die juristische Begrifflehre an die Sprachauffassung des Positivismus gebunden. Danach besteht zwischen Zeichen, Bedeutung und Wirklichkeit eine dem Sprecher objektiv vorgegebene Beziehung im Sinn eines ‚Eins-zu-eins-Verhältnisses‘: Als Regelfall gilt der in seiner Bedeutung klare und in seinem Umfang bestimmte Begriff, der ohne Notwendigkeit einer eigenständigen Wertung durch den Richter für die Subsumtion bereitsteht. Wenn der Gesetzgeber in seinen Normtexten Begriffe verwendet, die diesen Anforderungen nicht genügen, hat er damit den Anwender ermächtigt, diesen Spielraum selbständig auszufüllen. Der Richter kann dann nur noch die Einhaltung der äußersten Grenzen kontrollieren. Ausgehend von der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Prüfungsrecht Anfang der 90er Jahre168 haben die Gerichte diese unhaltbare Sprachtheorie BVerfGE 102, 41, 53 f. BVerfGE 102, 41, 63 ff. 167 BVerfG, in: NJW 2002, S. 2543 ff., 2544. 168 BVerfG, NJW 1991, 2005: Die Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte zum Bewertungsspielraum der Prüfungsbehörden ist mit Art. 19 IV GG nur vereinbar, soweit es um prüfungsspezifische Wertungen geht. Hingegen sind fachliche Meinungsverschiedenheiten zwi165 166
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über Bord geworfen und herausgearbeitet, daß ein Beurteilungsspielraum für den Anwender nur dort in Betracht kommt, wo Sachgründe vorliegen169. Bloße Sprachgründe sind demgegenüber nie ausreichend. Diese Sachgründe liegen bei beamtenrechtlichen Beurteilungen in der Länge des Beobachtungszeitraums170 oder im Prüfungsrecht in dem Umstand, daß dem Gericht nur eine Arbeit vorliegt, so daß es zwar die absolute Richtigkeit überprüfen kann, nicht aber die relative Richtigkeit als Einordnung der Einzelleistung ins Gesamtfeld171. Wenn solche Sachgründe fehschen Prüfer und Prüfling der gerichtlichen Kontrolle nicht generell entzogen. Aus Art. 12 I GG ergibt sich für berufsbezogene Prüfungen der allgemeine Bewertungsgrundsatz, daß eine vertretbare und mit gewichtigen Argumenten folgerichtig begründete Lösung nicht als falsch bewertet werden darf. BVerfG, NJW 1991, 2009: Ob Antwort – Wahl – Aufgaben zuverlässige Prüfungsergebnisse ermöglichen, haben die Gerichte zu kontrollieren; darüber hinaus obliegt ihnen eine Vertretbarkeitskontrolle der Lösungen (Art. 19 IV GG). Entspricht eine Antwort gesicherten medizinischen Erkenntnissen, die im Fachschrifttum bereits veröffentlicht und Kandidaten des entsprechenden Prüfungsabschnitts im Regelfall ohne besondere Schwierigkeiten zugänglich waren, so darf sie nicht als falsch gewertet werden. 169 Vgl. dazu BVerfGE 103, 142, 157: Allein die prognostischen Elemente des Gefahrenbegriffs rechtfertigen keine Kontrollbeschränkung der Gerichte. Unbestimmte Rechtsbegriffe sind vielmehr voll überprüfbar. 170 VGH Mannheim, NJW 1996, 2525: Auch ein Richter hat grundsätzlich keinen Anspruch auf Verleihung eines höheren statusrechtlichen Amtes. Ebenso wie bei Beamten liegt die Entscheidung über eine Beförderung im pflichtgemäßen Ermessen des Dienstherrn, wobei die Bewerber gemäß Art. 33 Abs. 2 GG nach Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung auszuwählen sind (sog. Leistungsgrundsatz). Ausgehend von den zu beamtenrechtlichen Beförderungen entwickelten Grundsätzen verfügt der Dienstherr für die Einschätzung der Eignung, Befähigung und fachlichen Leistungen über eine Beurteilungsermächtigung, in Anbetracht derer eine gerichtliche Kontrolle sich darauf zu beschränken hat, ob der Dienstherr den rechtlichen Rahmen und die anzuwendenden Begriffe zutreffend würdigt, ob er richtige Sachverhaltsannahmen zugrunde legt und ob er allgemeingültige Wertmaßstäbe beachtet und sachfremde Erwägungen unterläßt. Der Richter, der seine Beförderung anstrebt, hat Anspruch darauf, daß der Dienstherr das ihm bei der Entscheidung über eine Beförderung zu Gebote stehende Auswahlermessen unter Einhaltung etwaiger Verfahrensvorschriften fehlerfrei ausübt (sog. Bewerberanspruch). Dabei bleibt es der Entscheidung des Dienstherrn überlassen, welchen der zur Eignung, Befähigung und fachlichen Leistung zu rechnenden Umstände er das größere Gewicht beimißt. 171 BVerwG, NVwZ 1998, 738: Zur absoluten Richtigkeit, die vom Richter voll überprüft werden kann, gehören auch solche fachwissenschaftlichen Fragen, die kontrovers sind. Der Richter muß die fachwissenschaftliche Beurteilung herausfiltern und dann den Antwortspielraum des Prüflings beachten. Zur verwaltungsinternen Kontrolle vgl. auch BVerwG, NJW 1998, 323. OVG Münster NwVBl. 1997, 380: Die Rüge der Prüfer, ein Lösungsaufbau sei methodisch fehlerhaft, ist gerichtlich voll überprüfbar. BVerwG NJW 1998, 323: Eine Prüfungsfrage, die den von der Prüfungsordnung vorgegebenen Rahmen verläßt, ist unzulässig. Ob dies der Fall ist, unterliegt der uneingeschränkten Kontrolle. BVerwG NVwZ 1999, 74: Erweist sich die Prüfungsentscheidung nach diesen – dem Grundsatz der Chancengleichheit dienenden und ihn zugleich konkretisierenden – Maßstäben als rechtmäßig, so kann dieses Ergebnis nicht durch Erhebungen in Frage gestellt werden, aus denen sich möglicherweise ergibt, daß ein bestimmter Prüfer nach dem Ergebnis der unter seiner Beteiligung stattgefundenen Prüfungen „strenger“ oder „milder“ bewertet als der Durchschnitt der Prüfer. Mit der Anerkennung des prüfungsrechtlichen Bewertungsspielraums in den durch die höchstrichterliche Rechtsprechung gezogenen Grenzen wird in Kauf genommen, daß verschiedene Prüfer ohne Rechtsver-
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len, lehnen die Gerichte einen Beurteilungsspielraum für den Anwender konsequent ab.172 So führt das OVG Münster in einer Entscheidung zur Auskunftsverweigerung vor dem Untersuchungsausschuß aus: Dieser wird nicht als Gericht tätig; er übt aber öffentliche Gewalt aus, die der gerichtlichen Kontrolle unterliegt (Art. 19 IV GG). Nach der verfassungsrechtlichen Grundentscheidung des Art. 19 IV GG erfordert eine effektive Rechtsschutzgewährung die vollständige Nachprüfung eines Aktes der öffentlichen Gewalt in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht. Nur ausnahmsweise, bei Vorliegen ganz besonderer Voraussetzungen, ist es im Hinblick auf die genannte Rechtsschutzgarantie zu rechtfertigen, der handelnden Stelle einen eigenen, gerichtlicher Kontrolle nicht mehr zugänglichen Beurteilungsspielraum einzuräumen. Ein derartiger Ausnahmefall liegt hier nicht vor. Weder hat der Gesetzgeber den parlamentarischen Untersuchungsausschüssen ausdrücklich einen besonderen Beurteilungsspielraum eingeräumt, noch rechtfertigen Sachgesichtspunkte wie etwa der Charakter der Entscheidung oder die Zusammensetzung des Untersuchungsausschusses die Annahme eines derartigen gerichtlich nicht überprüfbaren Spielraums. Anders als im Strafverfahren fehlt es im parlamentarischen Untersuchungsverfahren – obwohl nach den Regeln der StPO verfahren wird – grundsätzlich an Entscheidungen unabhängiger Richter. Hier wird deutlich, daß das Gericht einen aus Sprachgründen abgeleiteten Beurteilungsspielraum nicht akzeptiert, sondern Sachgründe fordert.173
letzung dieselbe Prüfungsleistung unterschiedlich bewerten können. Dieser Umstand als solcher beinhaltet keinen Verstoß gegen den Grundsatz der Chancengleichheit, der die Herstellung völliger tatsächlicher Gleichheit weder gebietet noch realistischerweise überhaupt versprechen kann. Ein Ausgleich ist darin angelegt, daß im allgemeinen das Justizprüfungsrecht der Länder die Abnahme der Prüfungsleistungen durch Prüfungskommissionen oder eine sonstige Mehrheit von Prüfern vorsieht. Der Gesetzgeber geht offenbar davon aus, daß sich in solchen Gremien strenge und weniger strenge Bewertungen einzelner Prüfer möglichst weitgehend ausgleichen. Dieses Anliegen darf nicht willkürlich mißachtet werden. Damit muß es jedoch sein Bewenden haben. BVerwG NVwZ 2000, 915, 920: Der prüfungsspezifische Bewertungsspielraum bezieht sich bei juristischen Fachprüfungen nur auf Gesichtspunkte, die sich wegen ihrer prüfungsspezifischen Komplexität im Verwaltungsstreitverfahren nicht ohne weiteres nachvollziehen lassen und daher mit rein objektiven Maßstäben nicht meßbar sind. Er betrifft etwa die Punktevergabe und Notengebung, soweit diese nicht mathematisch determiniert sind, die Gewichtung des Schwierigkeitsgrades einzelner Aufgaben sowie die Würdigung der sprachlichen Qualität. – Allen diesen Entscheidungen ist gemeinsam, daß sie ohne den Begriff zu verwenden, eine Normbereichsanalyse durchführen, indem sie die faktischen Bedingungen der Prüfung zum Argument machen. 172 OVG Münster NJW 1999, 80. Auskunftsverweigerung vor parlamentarischem Untersuchungsausschuß. 173 Mittlerweile formuliert das Bundesverfassungsgericht ganz selbstverständlich: „Die Merkmale des Art. 72 Abs. 2 GG sind unbestimmte Gesetzesbegriffe. Die gerichtliche Kontrolle ihrer Auslegung ist umfassend; sie geht über eine bloße Vertretbarkeitskontrolle hinaus.“ BVerfGE 106, 62, 148.
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213.12 Systematische Konkretisierung Die systematische Konkretisierung ist zunächst von der grammatischen abzugrenzen. In einer Entscheidung, welche die Übertragung der Aufgaben von einer Oberfinanzdirektion auf eine andere betraf, führt das Gericht aus: „Entgegen der Auffassung der Antragstellerin kann diesem Wortlaut nicht entnommen werden, daß hiermit lediglich die Ermächtigung zur Übertragung einzelner Bundes- oder Landesaufgaben erteilt werde.“174 Die Fragestellung des Gerichts ergibt sich aus dem Vortrag einer Prozeßpartei. Die vorgeschlagene Lesart wird dann an der internen Systematik des Normtextes gemessen. Dies begreift das Gericht noch als grammatische Auslegung. Mit der Heranziehung eines zweiten Normtextes vollzieht sich dann für das Gericht der Übergang zur Systematik: „Bestätigend wirkt schließlich der systematische Zusammenhang des § 8 Abs. 3 FVG mit dem ergänzend hinzutretenden § 9 Abs. 3 FVG, der die Konsequenzen umfassender Aufgabenübertragung für die Rechtstellung des Oberfinanzpräsidenten bestimmt.“175 Die Abgrenzung von grammatischen und systematischen Argumenten ist allerdings nicht objektiv vorgegeben. Was als Texteinheit angesehen werden muß, hängt immer von der Fragestellung ab.176 Eine grammatische Interpretation kann also auch innerhalb eines Normtextes stattfinden, etwa in Art. 5 zwischen Meinungs- und Pressefreiheit. Gut erkennbar ist in dieser Entscheidung die Bestimmung der Rolle des systematischen Elements als Instanz für die Widerlegung der von den Prozeßparteien vorgeschlagenen Lesarten. Diese Rolle erfüllt die systematische Auslegung sowohl auf der Ebene einer Beobachtung erster Ordnung als auch auf der einer Beobachtung zweiter Ordnung.177 In der Systematik erster Ordnung wird der Zusammenhang des Gesetzes betrachtet,
Vgl. dazu BVerfGE 106, 1, 15. Ebd. 176 Das ergibt sich aus dem Diskussionsstand über Textbeziehungen in der Linguistik. Dort wurden in den 90er Jahren reduktionistische Konzepte überwunden, die Intertextualität als eine den Texten innewohnende Eigenschaft in Form ausdrücklicher Verweisrelationen verstanden. Wirksam wurde in diesem Zusammenhang vor allem der von Kristeva entwickelte Begriff der Intertextualität; sie hat ihn in ihrem Frühwerk im Anschluß an Bachtins Dialogbegriff entwickelt. Er soll auf die Wechselwirkung von Texten hinweisen und den Einzeltext in ein Netzwerk einordnen; grundlegend hierzu Kristeva I und II. – Später hat sie den Begriff der Intertextualität durch den der Transposition ersetzt und damit stärker auf das Triebgeschehen abgehoben. Sie geht dabei vom psychoanalytischen Begriff des Unbewußten aus. Die Rolle der Transposition liegt demnach darin, Übersetzungen zu ermöglichen, die allerdings nie im Verhältnis 1:1 stattfinden können; hierbei ist vor allem auf den dritten Teil von Kristeva III zu verweisen. Auch dort, wo man dieses Konzept als zu global kritisiert, wird mittlerweile anerkannt, daß nicht der Text, sondern der Leser die Instanz für die Herstellung intertextueller Bezüge darstellt. Ein Leser allerdings, der nicht einfach assoziiert, sondern „für den (…) nicht belanglos ist zu wissen, ob ein Autor einen Prätext gekannt hat oder nicht, ob er über das gleiche Textrepertoire verfügt oder nicht, ob er den Verweisinstruktionen des Textes zu folgen weiß oder nicht.“ Vgl. dazu Hess-Lüttich I, S. 130 m.w. N.; Heinemann I, S. 27 ff. 177 Vgl. zur Karriere dieser Unterscheidung und aktuellen Problemen Rieger I, S. 315 ff. 174 175
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in derjenigen zweiter Ordnung dagegen der Zusammenhang der Rechtsprechung. Die Selbstbeobachtung der Gerichte als Beobachtung zweiter Ordnung ist natürlich nur da möglich, wo bereits eine einschlägige Judikatur vorliegt.178 Das gilt vor allem für rechtliche Kernbereiche, wenn sie über eine längere Zeit unverändert geblieben sind. In Randgebieten und bei Neuregelungen ist die systematische Auslegung dagegen auf den Kontext des Gesetzes beschränkt. Ein Beispiel für eine Neuregelungslage bietet im Verfassungsrecht die Altenpflegeentscheidung179 als erstes Judikat zum geänderten Art. 72 Abs. 2 GG. Die Frage war neu geregelt worden, um dem Bund den Zugriff auf die konkurrierende Gesetzgebung zu erschweren.180 Bei der Konkretisierung der neuformulierten Begriffe konnten frühere Entscheidungen keine Rolle spielen, so daß für die Abgrenzung der Begriffe „Wirtschaftseinheit“ und „Rechtseinheit“181 nur die Systematik des Grundgesetzes als Argumentationsgrundlage zur Verfügung stand. Wenn es dagegen in derselben Entscheidung um Problemstellungen geht, die schon gerichtlich bearbeitet sind, vollzieht sich der typische Übergang zur Systematik zweiter Ordnung.182
178 Die Systematik zweiter Ordnung zeigt sich vor allem bei Begriffen, die das Bundesverfassungsgericht selbst entwickelt hat; vgl. etwa BVerfG, in: NVwZ 2003, S. 467 ff., 468 zu der Frage, wann ein Gesetz gegenwärtig und unmittelbar in Grundrechte eingreift. BVerfG; s. a. ebd., S. 470. – Als weiterer Begriff, den das Gericht selbst entwickelt und der deswegen zu einem Bezug auf die eigene Rechtsprechung führt, ist etwa noch die Sonderabgabe zu nennen; vgl. BVerfG, in: NVwZ 2003, S. 467 ff., 470. Hier wird im Rahmen der Systematik zweiter Ordnung diskutiert, inwiefern eine Berücksichtigung der Stellungnahmen in der Fachliteratur als Grund für die Änderung einer bisherigen Beschlußpraxis in Betracht kommt. Ferner z. B. BVerfGE 106, 253, 251: Berücksichtigung der Systematik zweiter Ordnung für die Abwägung im Rahmen einer einstweiligen Anordnung nach § 32 BVerfGG; ebenso BVerfGE 106, 351, 355; 106, 359, 363 f. – Abweichung von der eigenen Rechtsprechung nach Analyse eines rechtserzeugten Normbereichs BVerfGE 106, 181, 182. Zur Nichtberücksichtigung einer Systematik zweiter Ordnung vgl. auch BVerfGE 106, 310, 341. 179 BVerfGE 106, 62. 180 Vgl. dazu die Nachweise ebd., S. 137 f. 181 Ebd., S. 146 f. 182 Ebd., S. 115. Ein entsprechender Verweis auf die Änderung der Rechtsprechung findet sich auf derselben Seite noch zwei Mal. – Auch sonst wird der Verweis auf die eigene Rechtsprechung in der Altenpflegeentscheidung noch mehrfach vorgenommen, wie z. B. S. 139 u. ö. Ein weiterer Begriff, den das Gericht unter Bezug auf die eigene Rechtsprechung erläutert, ist z. B. „Sonderabgabe“ bei BVerfG, in: NVwZ 2003, S. 467 ff., 470; außerdem BVerfG, in: NVwZ 2003, S. 467 ff., 468 zu der Frage, wann ein Gesetz gegenwärtig und unmittelbar in Grundrechte eingreift. – In der Altenpflegeentscheidung wiederum ist auffällig, daß das Gericht bei der Bestimmung des Begriffs „Heilberufe“ im Rahmen der genetischen Auslegung auch die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts im Rahmen einer Systematik zweiter Ordnung heranzieht, weil diese Rechtsprechung die Legaldefinition der Heilberufe konkretisiert hat. Vgl. dazu BVerfGE 106, 28, 106 f.
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213.13 Historische und genetische Elemente 183
Historische und genetische184 Elemente bringen unterschiedliche Kontexte in die Entscheidung ein, nämlich Nicht-Normtexte aus der Entstehungsgeschichte und frühere Normtexte aus dem Regelungsbereich. In der Praxis treten beide Elemente meist gemeinsam auf, weil sie sich gegenseitig unterstützen. Eine ausführliche Verwendung der Vorläufernormtexte und Entstehungsmaterialien findet sich vor allem bei Neuregelungen wie Art. 72 Abs. 2 GG.185 Hier werden sowohl die Chancen als auch die Risiken genetischer Auslegung sehr deutlich. Das Risiko liegt zunächst in der Vorstellung eines substantiellen gesetzgeberischen Willens. Der Gesetzgeber ist in der Demokratie keine Einzelperson, und die Redeweise von einem „Willen“ kann nur eine abkürzende bildliche Redeweise darstellen. Wenn man versucht, eine Metapher wörtlich zu nehmen, indem man diesen „Willen“ zur Grundlage der Gesetzesbindung macht,186 ähnelt dies dem Versuch, eine Motorhaube als Kopfbedekkung zu verwenden. Damit unterliegt man der Verhexung durch die Sprache. Manchmal legt das Gericht ein solches Verständnis nahe. So etwa, wenn es der in der Literatur vertretenen Auffassung, daß Art. 72 Abs. 2 GG dem Bundesgesetzgeber nach wie vor einen Spielraum zubillige, einen klaren Widerspruch zum gesetzgeberischen Willen vorhält.187 Aber schon der nächste Satz des Gerichts stellt klar, daß es sich bei der genetischen Auslegung nur um ein Konkretisierungselement neben anderen handelt, welches den Umfang der Gesetzesbindung keinesfalls fixieren kann: „Grundlegend veränderte Bedingungen, die eine Abweichung von dem eindeutigen Ergebnis der historischen Interpretation nahelegen könnten, sind schon deshalb nicht zu erkennen, weil die Vorschrift des Art. 72 Abs. 2 GG erst seit kurzer Zeit in Kraft ist.“188 Dieser Vorbehalt wäre bei Gleichsetzung der Gesetzesbindung mit dem Willen des Gesetzgebers schwer verständlich. Auch das praktische Funktionieren der genetischen Argumentation spricht dafür, daß der „Wille“ nur eine abkürzende Redeweise darstellt. Denn dieses Element wird zur Widerlegung von Lesarten herangezogen, welche die Parteien vorgeschlagen haben,189 und fungiert dabei gerade nicht als einzige Größe, sondern immer in Kombination mit der Teleologie190 oder der Systematik.191 Auch bedarf die Rekonstruktion genetischer Zusammenhänge häufig der Normbereichsanalyse wie das folgende Argument zeigt: „Die Entstehungsgeschichte des Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG hilft bei der Auslegung der in Zur historischen Auslegung BVerfGE 105, 135, 178. Zur genetischen Auslegung BVerfGE 105, 135, 177. Vgl. außerdem BVerfGE 103, 142, 158. – BVerfGE 119, S. 59, 64. Ausführlich BVerfGE 119, S. 96 ff., 137 f., 140, 178 f. 185 BVerfGE 106, 62. 186 Vgl. in diesem Sinne Röhl III, S. 98, 611. 187 BVerfGE 106, 62 ff., 142. 188 Ebd., S. 142. 189 Ebd., S. 123 ff., 132. 190 Vgl. dazu ebd., S. 132, 144. 191 Vgl. dazu ebd., S. 123 ff., 144. 183 184
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der Kompetenznorm verwendeten Begriffe nicht unmittelbar weiter. Der Umstand, daß die Berufe in der Altenpflege bei den Grundgesetzberatungen keine Erwähnung gefunden haben, besagt nichts; damals gab es sie noch nicht, die Entwicklung eines eigenständigen Berufsbilds hat erst Ende der 50er-Jahre eingesetzt.“192 Das Risiko einer Verdinglichung des „Willens“ wird vom Gericht somit vermieden. Gerade dadurch ist es dann in der Lage, bei Neuregelungen die Chance der Arbeit mit der Entstehungsgeschichte zu nutzen. Es zeigen sich dabei Regelmäßigkeiten, die man als theoretische Beschreibungen der praktischen Vorgehensweise des Gerichts verwenden kann. So ist z. B. bei der entstehungsgeschichtlichen Interpretation die Systematik des vorhandenen Rechtsstoffs zu berücksichtigen: „Das Erfordernis der ‚Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse‘ ist nicht schon dann erfüllt, wenn es nur um das Inkraftsetzen bundeseinheitlicher Regelungen geht. Dem Bundesgesetzgeber ist ein Eingreifen auch dann nicht erlaubt, wenn lediglich eine Verbesserung der Lebensverhältnisse in Rede steht. Dies folgt nicht nur aus dem Wortlaut der Norm, sondern auch, in systematischer Auslegung, aus einem Vergleich mit Art. 91 a Abs. 1 GG. Dort ist die Mitwirkung des Bundes bei der Erfüllung von Aufgaben der Länder gestattet, wenn dies ‚zur Verbesserung der Lebensverhältnisse erforderlich ist‘. Es ist kein Grund ersichtlich, der den Verfassungsgeber dazu hätte veranlassen können, sich bei der Kompetenz-norm für eine andere Wortwahl zu entscheiden, wenn er in der Sache dasselbe gemeint hätte wie in Art. 91 a GG.“193 Außerdem ist bei der genetischen Konkretisierung die bisherige Entscheidungspraxis in dem fraglichen Regelungsbereich zu beachten, weil der Gesetzgeber diese Lage aufnimmt oder auf sie reagiert.194 Schließlich zeigen sich die enge Verflechtung von historischer und genetischer Auslegung und die Notwendigkeit, Einzeläußerungen im Kontext des gesamten Entstehungsprozesses zu verstehen.195 Man muß eine detaillierte Analyse des Gesetzgebungsprozesses durchführen, welcher insbesondere semantische Konflikte in ihrem Verlauf nachzeichnet. Erst auf dieser Grundlage kann man dann sagen: „Der Änderungsantrag hat den Vermittlungsausschuß letztlich unbeanstandet passiert; die Erklärung der SPD-Fraktion repräsentiert also die Regelungsvorstellungen des Gesetzgebers.“196 Wenn man die implizite Theorie dieses praktischen Vorgehens beschreiben wollte, müßte man eine Theorie der Gesetzgebung als kompetitives Handlungsspiel entwickeln, als pragmatische Grundlage für das Verstehen semantischer Konflikte.
192 193 194 195 196
Ebd., S. 105. Ebd., S. 144. Ebd., S. 106. Vgl. dazu die ausführliche Analyse, S. 166 ff. und 144 ff. Ebd., S. 148.
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213.14 Teleologische Konkretisierung Die teleologische Konkretisierung gehört nicht zu den klassischen Canones, welche der Argumentation jeweils einen weiteren Kontext liefern. Sie ist vielmehr ein zusammengesetztes Argument, weil zunächst eine Begründung des behaupteten „Zweckes“ nötig ist, bevor dann mit ihm gearbeitet wird. Nur unter der Voraussetzung dieser Begründung ist die teleologische Auslegung legitim. Als Ableitungsinstanz kommen dabei die Materialien in Betracht. So leitet die Altenpflegeentscheidung den Zweck des Gesetzes aus einem später von der Mehrheit übernommenen Änderungsantrag ab.197 Wenn der Zweck dagegen aus Wortlaut oder Systematik gefolgert wird, spricht man von einer objektiv teleologischen Auslegung. Ein Beispiel dafür wäre die Entscheidung zur Wahlprüfung in Hessen: „Von der Ausübung rechtsprechender Gewalt kann (…) nicht schon dann gesprochen werden, wenn ein staatliches Gremium mit unabhängigen Richtern im Sinne der Art. 92 ff. GG besetzt ist. Sinn und Zweck des IX. Abschnitts des GG, der für den Bereich der Rechtsprechung eine besondere Eigenständigkeit und Unabhängigkeit der Willensbildung im System der Gewaltenteilung gewährleisten will (vgl. BVerfGE 22, 49 [75]), entspräche es nicht, allein aus der Besetzung eines staatlichen Gremiums mit unabhängigen Richtern auf die Ausübung rechtsprechender Gewalt zu schließen. Der Begriff der rechtsprechenden Gewalt wird vielmehr maßgeblich von der konkreten sachlichen Tätigkeit her, somit materiell bestimmt.“198 Hier wird der Zweck also aus der Systematik erster und auch zweiter Ordnung abgeleitet, bevor mit ihm argumentiert wird. Die Teleologie wird in diesem Fall methodisch korrekt verwendet. Die Herleitung des Zwecks ist auch für das Gewicht des teleologischen Arguments bestimmend. In der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu § 43 a StGB argumentiert das Minderheitsvotum subjektiv teleologisch: „Die von der Senatsmehrheit dem Gesetzgeber abverlangte Konkretisierung der Vermögensstrafe (…) nehme auch einer neugestalteten Vermögensstrafe einen Gutteil der abschreckenden Wirkung. Damit wird dem freiheitlichen Verfassungsstaat aber eine Waffe aus der Hand genommen, die nach Einschätzung des parlamentarischen Gesetzgebers erforderlich ist, um neuartigen Bedrohungslagen für hochrangige Rechtsgüter zu begegnen.“199 Das Mehrheitsvotum folgt dieser Zwecküberlegung nicht, weil der Gesetzgeber seinen Zweck eben nur im Rahmen der Systematik der verfassungsrechtlichen Vorgaben verfolgen kann. Die teleologische Argumentation tritt hier also richtigerweise hinter die Systematik des Grundgesetzes zurück.200 Einen wichtigen Schritt von der semantischen zur pragmatischen Sprachtheorie stellen die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur Bestimmtheit dar. Es vollzieht sich hier der Übergang von der Sicht einer im Text vorgegebenen Bedeu-
197 198 199 200
BVerfGE 106, 62, 147 ff. BVerfGE 103, 111, 137. BVerfGE 105, 135, 182. BVerfGE 105, 135, 160 u. ö.
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tung zur Betrachtung der Aktivität des Lesers, also von der Bestimmtheit zur Bestimmbarkeit des Textes: „Das Erfordernis der Bestimmtheit gesetzlicher Ermächtigungen verwehrt es dem Gesetzgeber jedoch nicht, in der Ermächtigungsnorm Generalklauseln und unbestimmte Rechtsbegriffe zu verwenden (vgl. BVerfGE 48, 210 [222]). Vielmehr genügt es im Hinblick auf Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG, daß sich die gesetzlichen Vorgaben mit Hilfe allgemeiner Auslegungsregeln erschließen lassen, insbesondere aus dem Zweck, dem Sinnzusammenhang und der Vorgeschichte des Gesetzes (stRspr; vgl. BVerfGE 8, 274 [307]; 80, 1 [20 f.]).“201 Bestimmtheit kann nicht durchgängig als unmittelbare Verständlichkeit für den Bürger begriffen werden. Sonst würden riesige Regelungsmaterien der Unwirksamkeit anheim fallen. Es genügt in komplexen Regelungsbereichen die Bestimmbarkeit im Rahmen der Tätigkeit der professionellen Rechtsarbeiter. Mit Hilfe der anerkannten Auslegungsinstrumente muß dem Normtext eine nachvollziehbare Bedeutung zugewiesen werden können.202 Die andere Seite des Bestimmtheitsproblems stellt sich als Frage nach den Anforderungen, welche für den Gesetzgeber bei der Formulierung eines Normtexts gelten. Die Überprüfung der in § 43 a StGB neu eingeführten Vermögensstrafe gab dem Bundesverfassungsgericht Anlaß, diese Kriterien zu präzisieren.203 Zunächst bemerkt man bei dieser Entscheidung wieder, daß das richterliche Wissen in Form einer formulierten Theorie hinter dem tatsächlich praktizierten Können des Gerichts zurückbleibt. Beim Formulierungen des gerichtlichen Selbstverständnisses wird der grammatischen Auslegung eine zentrale Rolle als unübersteigbare Grenze der Konkretisierung zugewiesen. Damit ist das grammatische Element natürlich überfordert.204 Auf der im Urteilstext folgenden Seite werden im Rahmen der praktischen Diskussion dann aber zur Bestimmung der Grenzfunktion – zu Recht – alle Auslegungsinstrumente herangezogen, so daß sich hier wieder die Beobachtung bewahrheitet, daß das richterliche Können komplexer ist als die richterliche Theorie. Auch das dort formulierte Bekenntnis zur objektiven Auslegungslehre wird bei näherem Zusehen nur noch als Vorzugsregel verwendet, wonach – wiederum zu Recht – die Entstehungsgeschichte hinter den Ergebnissen von grammatischer und systematischer Auslegung zurücktreten muß.205 Im Ergebnis sei der Gesetzgeber beim Formulieren des § 43 a StGB den verfassungsrechtlichen Vorgaben nicht gerecht geworden und habe gegen Art. 103 Abs. 2 GG verstoßen. Begründet wird dies mit der Weite des Sanktionsrahmens, dem Verzicht auf eine Obergrenze und der praktischen Schwierigkeit, das Vermögen des Betroffenen im Einzelfall zu ermitteln. Der arguBVerfGE 106, 1, 19. Vgl. dazu z. B. BVerfGE 103, 111, 135 f. für den Maßstab der guten Sitten bei der Wahlprüfung. 203 BVerfGE 105, 135 ff.; das Selbstverständnis wird ebd., 157, formuliert. – Vgl. als knappen Einstieg in die Problematik Park, S. 395 f. 204 Vgl. in diesem Sinne auch BVerfG 2 BvR 1107 / 03, Verfassungsbeschwerde wegen des strafrechtlichen Analogverbots. 205 BVerfGE 105, 135, 157 f. – Der Kern der Argumentation findet sich ebd., S. 155. 201 202
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mentative Kern besteht in Folgendem: „Bei der Frage, welche Anforderungen an die Bestimmtheit von Rechtsfolgenregeln zu stellen sind, geraten also zwei Verfassungsprinzipien in ein Spannungsverhältnis, das weder durch einen allgemeinen Verzicht auf Strafrahmen noch durch eine grundsätzliche Entscheidung für möglichst weite richterliche Strafzumessungsspielräume aufgelöst werden kann. Schuldprinzip und Einzelfallgerechtigkeit auf der einen Seite sowie Rechtsfolgenbestimmtheit und Rechtssicherheit auf der anderen Seite müssen abgewogen und in einen verfassungsrechtlich tragfähigen Ausgleich gebracht werden, der beiden für das Strafrecht unverzichtbaren Prinzipien möglichst viel an Substanz beläßt. Der Strafgesetzgeber erfüllt seine Pflicht, wenn er durch die Wahl der Strafandrohung sowohl den Strafrichter als auch die betroffenen Bürger so genau orientiert, daß eine Bewertung der tatbestandlich beschriebenen Delikte deutlich wird, der Betroffene das Maß der drohenden Strafe abschätzen kann und dem Strafrichter die Bemessung einer schuldangemessenen Reaktion möglich ist.“206 Der Anwender muß anhand des einfachen Rechts in die Lage versetzt werden, Rechtsfolgenbestimmtheit zu erreichen. Man kann ihm nicht aufbürden, den Konflikt zwischen Verfassungsprinzipien aufzulösen. Die funktionelle Gewaltenteilung fordert, daß der Gesetzgeber selbst den Konflikt auf der Verfassungsebene in seinem Normtext löst und dem Anwender nur einen Spielraum für Härtefälle eröffnet. Dieser Umstand ist schon aus der Dogmatik von Grundrechten ohne geschriebenen Vorbehalt bekannt. Auch dort kann man die Aktualisierung verfassungsimmanenter Schranken nicht dem Richter überlassen, sondern braucht auch bei Vorliegen einer solchen Schranke immer noch zusätzlich ein einfaches Gesetz. Ebenso ist es bei der Bestimmtheit. Auch hier bleibt für die Verfassungsebene der demokratisch legitimierte Gesetzgeber zuständig. Entgegen dem Minderheitsvotum207 kann man diesen Gewaltenteilungsaspekt nicht durch Hinweise auf die Einzelfallgerechtigkeit überspielen. Diese erfordert in der Tat einen Spielraum, aber eben im Wortlaut des einfachen Gesetzes. Bei der Formulierung des § 43 a StGB hat der Gesetzgeber jedoch zur Lösung des Verfassungskonflikts zwischen Einzelfallgerechtigkeit und Vorhersehbarkeit keine Vorgabe geliefert, die dem Richter einen Spielraum überläßt, sondern er hat diesen Konflikt vollständig offen gelassen. Darin liegt der Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG.208
Ebd., S. 155. Ebd., S. 173. 208 Natürlich bietet diese Entscheidung noch weitere wichtige Aspekte, die hier nicht vollständig entfaltet werden können. So entwickelt und bestätigt das Gericht seine bisher schon verwendete Gleitformel, wonach die Anforderungen an die Bestimmtheit um so stärker wachsen, je stärker der Grundrechtseingriff beim Bürger ist. Ebd., S. 156 ff. Interessant ist auch der Gesichtspunkt einer rechtsfolgenorientierten Auslegung, die im Strafrecht eine Rolle spielt, und wonach der Richter der Ausgestaltung der Rechtsfolge Anhaltspunkte über das Gewicht des Unrechts entnehmen kann. Diesen Gesichtspunkt hat im Strafrecht vor allem Hans Kudlich I ausgearbeitet; vgl. ferner das genannte Urteil, BVerfGE 105, 135, 164. 206 207
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213.2 Normbereichsanalyse Seitdem das Bundesverfassungsgericht in seiner sogenannten Fünften Rundfunk- 67e Entscheidung209 die Normbereichsanalyse in den Kanon seiner Methoden aufgenommen hat, gehört die Analyse des vom Gesetz in den Blick genommenen Wirklichkeitsmodells zu den selbstverständlichen Auslegungsvorgängen. Ohne jeweils den Vorgang terminologisch zu benennen, findet sich dieses Vorgehen auf der technischen Ebene explizit in fast jeder Entscheidung. So ging es in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Frischzellentherapie210 um die Abgrenzung von Arzneimittelrecht und Arztrecht. Das Gericht kommt zu dem Ergebnis einer einschränkenden Auslegung des Art. 74 Nr. 19, wonach der Bund nur solche Arzneimittel regeln darf, welche bestimmungsgemäß in den Verkehr gebracht werden sollen. Ansonsten greife, wie bei Frischzellen, die Gesundheitsaufsicht der Länder ein. Neben systematischer und grammatischer Konkretisierung wird hier die Normbereichsanalyse als Untersuchung der Gefahren von Frischzellentherapie herangezogen.211 Auch im Rahmen der historischen Konkretisierung spielen Normbereichsargumente über das Verhältnis von Apotheke und Arzt eine wichtige Rolle.212 Ein interessantes Anwendungsgebiet der Normbereichsanalyse zeigt sich auch in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu der Frage, ob die Kriegsopferversorgung in den neuen Bundesländern gegen Art. 3 verstößt.213 Hier wird festgestellt,214 daß ein zunächst verfassungsmäßiges Konzept durch veränderte Bedingungen in der Wirklichkeit verfassungswidrig werden kann. Diese schon aus der fünften Rundfunkentscheidung bekannte Technik zieht aus einer Veränderung in der Wirklichkeit normative Konsequenzen, ohne dabei in eine ‚Normativität des Faktischen‘ zu verfallen. Eine vom Normprogramm her kontrollierte Einbeziehung der Wirklichkeit ist nicht nur möglich, sondern z. B. bei Gesetzen mit Maßnahmecharakter sogar unverzichtbar. In seiner Entscheidung zum Gesundheitsstrukturgesetz215 geht das Bundesverfassungsgericht explizit davon aus, daß Regelungen auf „typisierenden Annahmen“ beruhen216 und diese bei der Auslegung eine wichtige Rolle spielen. Auch in seiner das Europarecht betreffenden Entscheidung zur Bananenmarktordnung217 wird eine BVerfGE 74, 297. BVerfGE 102, 26. 211 BVerfGE 102, 26, 30 f. 212 BVerfGE 102, 26, 37 f. – Der Vergleich Arzt / Heilpraktiker wird parallelisiert mit der Unterscheidung Hufschmied / Hufpfleger in BVerfGE 119, S. 59 ff., 92. 213 BVerfGE 102, 41. 214 BVerfGE 102, 41, 58. 215 BVerfGE 102, 68. 216 BVerfGE 102, 68, 93. 217 BVerfGE 102, 147. 209 210
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solche „typisierende Annahme“ deutlich. Es ist dieser Entscheidung zufolge davon auszugehen, daß der Europäische Gerichtshof einen hinreichenden Grundrechtsschutz garantiert. Eine Vorlage europarechtlicher Normen vor dem Bundesverfassungsgericht wäre daher erst dann zulässig, wenn diese Annahme durch einen qualifizierten Sachvortrag widerlegt wird.218 Die methodische Rolle des Normbereichs als Wirklichkeitsmodell, welches die Konkretisierung der Norm erst ermöglicht, wird in einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum rechtlichen Gehör deutlich: „Generell muß das Verwaltungsgericht bei der Handhabung der richterlichen Fristsetzung berücksichtigen, daß auch bei einem gewissenhaften und seine Rechte und Pflichten sachgemäß wahrnehmenden Verfahrensbevollmächtigten häufig eine gewisse Zeit vergeht, bis dieser von der Fristsetzung tatsächlich Kenntnis erlangt. Hinzu kommt, daß auf Grund der typischerweise bestehenden Arbeitsbelastung eines Bevollmächtigten durch andere Verfahren, Beratungen und sonstige berufliche Tätigkeiten nicht davon ausgegangen werden kann, daß die Zeit bis zum Ablauf der Frist allein zur Be218 Häufig spricht das Gericht von der „Eigenart des zu regelnden Sachbereichs“. Vgl. BVerfGE 101, 1, 35; 101, 54, 75; 101, 132, 138. Vgl. als Beispielsfall BVerfGE 106, 201, 206. Manchmal auch von der sogenannten Praktikabilität: BVerfGE 101, 275, 289. Nur noch selten verwendet das Gericht den Terminus „Natur der Sache“. Vgl. als Beispielsfall BVerfGE 106, 201, 206. Meistens werden aber die wirklichkeitshaltigen Topoi ohne abstrakte Benennung einfach konkret eingeführt. Vgl. BVerfGE 97, 271, 292 ff.; 99, 300, 315 ff.; 101, 1, 36: Artgerechte Bewegung von Legehennen; BVerfGE 101, 239, 259 f.: Besondere Bedingungen der Wiedervereinigung; BVerfGE 101, 297, 307: Rolle des Vermittlungsausschusses als Brükke zwischen Bundestag und Bundesrat. 101, 361, 383: Schutzwürdiger Bereich der Privatsphäre; BVerfGE 101, 361, 390: Mediale Tendenz zum Infotainment von Bedeutung für die Reichweite der Pressefreiheit; BVerfGE 101, 106, 128 ff.: Die Möglichkeit einer Akteneinsicht nur für das Gericht (in Camera-Verfahren) wird im Strafverfahren im Hinblick auf Art. 103 GG abgelehnt, soll aber aufgrund anderer prozessualer Ausgestaltung im Verwaltungsprozeß möglich sein; BVerfGE 101, 1, 40: Ohne den Terminus wird hier eine Normbereichsanalyse lege artis durchgeführt, indem die aktuellen Erkenntnisse über die Grundbedürfnisse von Hennen in der Käfighaltung in die Konkretisierung einbezogen werden. BVerfGE 102, 224, 239: Arbeitsfähigkeit des Parlaments. BVerfGE 102, 254, 304: Besondere Lage der Vereinigung. – Die im Text genannte (nachfolgend 213.3) Entscheidung des BVerfG zu § 71 NWUnivG findet sich in: NVwZ 1998, S. 1286. Wie fast immer bei Entscheidungen über die Kompetenztitel des Bundes im Rahmen der Gesetzgebung findet sich eine ausführliche Analyse des Normbereichs in der Altenpflegeentscheidung BVerfGE 106, 62 ff., 70 ff., Normbereichsanalyse der aktuellen und künftigen Situation der Altenpflege, auch soweit dieser Bereich rechtskonstituiert ist. Verwertung dieser Argumente im Urteil S. 117 ff. und 120 ff. Auffällig ist weiterhin die Durchführung einer Normbereichsanalyse auch im Rahmen der genetischen Auslegung, S. 165. Die Abhängigkeit des grundrechtlichen Schutzes von den technischen Möglichkeiten zeigt sich auch in der Entscheidung zu der Frage, ob eine rechtswidrige Nutzung von Mithöreinrichtungen beim Telefonieren durch Private zu einem Beweisverwertungsverbot vor Gericht führt. Hier bestätigt sich wieder, daß der Schutz des Persönlichkeitsrechts mit konstituiert wird durch die technischen Eingriffsmöglichkeiten. Vgl. BVerfGE 106, 28. Normbereichsanalyse bei Folgenabwägung im Rahmen der einstweiligen Anordnung: BVerfGE 106, 359, 367; 106, 369, 374 f. Normbereichsanalysen finden sich z. B. auch in folgenden Entscheidungen: BVerfGE 103, 271, 291; 103, 310, 319; 103, 392, 397, 402; 103, 44, 75; 103, 21, 36; 104, 373, 393.
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arbeitung und Klärung der Tatsachen- und Rechtsfragen des konkreten Verfahrens aufgewandt werden kann.“219 Auch bei einer bloß technischen Regelung wie der Fristsetzung ist die Heranziehung des in dem Text kodifizierten Wirklichkeitsmodells nicht verzichtbar. Es zeigt sich in der Rechtsprechung des BVerfG aber auch, daß nicht jede Veränderung der Wirklichkeit auf die Formulierung der Rechtsnorm durchschlägt. Häufig werden solche Veränderungen vom Normprogramm gerade nicht aufgenommen und erweisen sich damit als bloße Elemente des Sachbereichs, der für die weitere Konkretisierung keine Rolle spielt. Bei der Entscheidung über die neu geregelte Vermögensstrafe in § 43 a StGB rechtfertigt das Minderheitsvotum die Erforderlichkeit eines weiten Strafrahmens mit raschen Veränderungen der kriminologischen, gesellschaftlichen und sozialen Verhältnisse, die eine flexible Reaktionsmöglichkeit nötig machen.220 Dagegen mißt das Mehrheitsvotum diese tatsächlichen Veränderungen am Normprogramm der Verfassung und kommt zu dem Ergebnis, daß ein Abweichen von den strengen Vorgaben der Verfassung an die Regelung von Strafbarkeitsfolgen nicht möglich ist.221 Diese Umstände gehören damit in den Sachbereich, nicht aber in den Normbereich des Art. 103 Abs. 2 GG. Ebenso sind Vorteile des Wettbewerbers aus der fehlenden Transparenz des Marktes zwar zum Sachbereich des Art. 12 GG zu rechnen, nicht aber zu dessen Normbereich.222 Auch zählt das Argument, der Beamte sei der Privatpatient schlechthin, sicher zum Selbstverständnis der Betroffenen, wird aber vom Normprogramm des Art. 33 Abs. 5 GG nicht aufgenommen, so daß Veränderungen in diesem Bereich durch den Gesetzgeber möglich sind.223 Die von den neuen Medien geschaffenen Kommunikationsbedingungen verändern zwar auch die Beziehung zwischen Richter und Anwalt, aber diese Veränderung schlägt normativ nicht so durch, daß das Prinzip der Singularzulassung beim Bundesgerichtshof durchbrochen werden müßte.224 Der große Aufwand für das Rückfordern einer festgesetzten Zuzahlung zu Aktien im Streubesitz in Fällen von Verschmelzung ist für das Verfassungsgericht kein „schwerer Nachteil“, der einen Eilrechtsschutz nach 32 BVerfGG rechtfertigen könnte. Zwar könnten die Portokosten für die Rückforderungsschreiben die zu erlangende Summe tatsächlich überschreiten. Aber für eine Einstweilige Anordnung beim Verfassungsgericht seien strengere Anforderungen an die Schwere des Nachteils zu stellen. Die Besonderheit des Aktienstreubesitzes gehöre daher zwar in Sachbereich, nicht aber in den Normbereich.225
BVerfG, in: NVwZ 2003, S. 859 ff., 860. BVerfGE 105, 135, 177. 221 Ebd., S. 158. 222 BVerfGE 106, 275, 302. 223 BVerfGE 106, 225, 236. 224 BVerfGE 106, 216, 217. – Die unter 213.3 folgende Entscheidung ist: BVerfG in: NVwZ 1998, S. 1286. 225 BVerfG, in: NJW 2012, S. 3773. 219 220
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In einer Entscheidung zur Finanzverfassung226 ging es um die Frage, ob der – inzwischen ruinös gewordene – Paradigmenwechsel in den Wirtschaftswissenschaften vom Keynesianismus zum Monetarismus zu einer engen Auslegung des Begriffs der Investition in der Verfassung führen müsse. Zwei Minderheitsvoten begründen diese Forderung mit auslegungstheoretischen Argumenten. Zwar sei es richtig, daß sich die Legislative beim Normieren von Art. 115 GG an der Lehre von Keynes zu antizyklischen Steuerungen mittelfristiger Konjunkturverläufe orientiert habe.227 Die Materialien dürften aber nicht dazu verleiten, die subjektiven Vorstellungen des Gesetzgebers mit dem objektiven Gesetzesinhalt gleichzusetzen.228 Man müsse stattdessen von Sinn und Zweck des Investitionsbegriffs ausgehen, den man heute im Licht monetaristischer Erkenntnisse auszulegen habe. Die Art, wie hier von den Minderheitsvoten eine fest stehende wirtschaftliche Rationalität in Anspruch genommen wird, erinnert deutlich an die Handhabung der so genannten objektiven gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten durch den sozialistischen Staat: „Bund und Länder sind zwar keine Wirtschaftsunternehmen, aber sie stehen als politische Gemeinschaft nicht außerhalb wirtschaftlicher Rationalitätserwägungen. Der Staat ist zwar aus Rechtsgründen von der übrigen Gesellschaft gesondert, nicht zuletzt um der Freiheit der Bürger willen, aber der demokratische Staat steht zugleich in der Gesellschaft, kann sich deshalb auch den wirtschaftlichen Gesetzmäßigkeiten nicht entziehen.“229 Sinn und Zweck des verfassungsrechtlichen Investitionsbegriffs solle sich daher nach den Maßstäben wirtschaftlicher „Vernunft“ bestimmen. Das Mehrheitsvotum bleibe demgegenüber einer keynesianischen Wirtschaftstheorie verhaftet.230 Wollte man allerdings das jeweils herrschende wirtschaftswissenschaftliche Paradigma konsequent zum Verfassungsinhalt erklären, so hätte man angesichts der im Jahr 2008 unübersehbar ausgebrochenen Krise des Turbokapitalismus mit dem Scheitern des neoliberalen Paradigmas größte Schwierigkeiten. Das Mehrheitsvotum ist deshalb mit der Anbindung an die wirtschaftliche „Vernunft“ zu Recht sehr viel vorsichtiger. Wenn ein wirtschaftswissenschaftlicher Paradigmenwechsel stattfindet, ist es Sache des verfassungsändernden Gesetzgebers, diesen aufzunehmen.231 Die Zuständigkeit für die Änderung eines aus der Sicht des Monetarismus überholten verfassungsrechtlichen Regelungskonzepts liegt demnach nicht beim Gericht.232 Im Mehrheitsvotum wird somit deutlich, daß nicht jede Veränderung im Sachbereich eines Gesetzes auch schon den Inhalt dieses Gesetzes (via seinen Normbereich) bestimmt. Die Frage ist vielmehr am Normprogramm zu überprüfen. Nur wenn das Normprogramm einen ausreichenden Spielraum ließe, wäre ein inhaltlicher Bedeutungswandel (auf dem Weg über den Normbereich) seriös diskutierbar. 226 227 228 229 230 231 232
BVerfGE 119, S. 96 ff. Vgl. BVerfGE 119, S. 96 ff., 138, 179. BVerfGE 119, S. 96 ff., 179. BVerfGE 119, S. 96 ff., 158. BVerfGE 119, S. 96 ff., 155. BVerfGE 119, S. 96 ff., 139. BVerfGE 119, S. 96 ff., 141.
213 Gesamtbild verfassungsgerichtlicher Methodologie und Methodik
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213.3 Rechtsnormtheorie Eine vor allem im Hinblick auf die Theorie der Rechtsnorm interessante Entwicklung hat das Bundesverfassungsgericht bei der Ableitung des Prinzips der Subsidiarität aus dem Merkmal der Rechtswegerschöpfung in § 90 Abs. 2 BVerfGG vollzogen. Der Grundsatz soll gewährleisten, daß das Gericht keine weitreichende Entscheidungen auf einer ungesicherten Tatsachen- und Rechtsgrundlage trifft und erst dann über die Verfassungsmäßigkeit einer Norm entscheidet, wenn anhand eines konkreten Falls feststeht, ob und in welchem Ausmaß ein Beschwerdeführer durch die beanstandete Regelung in seinen Rechten betroffen ist. Dies gilt insbesondere, aber nicht nur dann, wenn das Gesetz einen Auslegungs- oder Entscheidungsspielraum offen läßt. Unzumutbar ist aber eine Verweisung auf den fachgerichtlichen Schutz nur, wenn sie den Normadressaten zu später nicht mehr korrigierbaren Entscheidungen zwingt oder zu Dispositionen veranlaßt, die er nicht mehr rückgängig machen kann. § 71 NWUnivG sei auslegungsbedürftig. Dem Wortlaut sei nicht zu entnehmen, ob und in welchem Umfang die Studierendenschaft ein allgemeinpolitisches Mandat ausüben dürfe und werde. Außerdem sei zu berücksichtigen, daß es der bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidungsfindung diene, wenn nicht nur die abstrakte Rechtsfrage, sondern auch die Beurteilung der Rechtslage durch ein für die Materie speziell zuständiges Gericht vorgelegt werde. Hier wird deutlich, daß der bloße Normtext noch nicht die Rechtsnorm darstellt. Erst wenn ein Gericht in einem konkreten Verfahren aus diesem Normtext eine Rechtsnorm erzeugt hat, läßt sich die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes sinnvoll beurteilen. Vor allem im Bereich des Anspruchs auf rechtliches Gehör wird beim Bundesverfassungsgericht ein Übergang von substantiellen Rationalitätskonzepten zur prozeduralen Rationalität deutlich. Das Gericht betont, daß sich eine Entscheidung aus der Argumentation im jeweiligen Verfahren ergeben muß und nicht plötzlich vom obrigkeitsstaatlichen Himmel fallen kann: „Ein Berufungsgericht verletzt den Anspruch auf rechtliches Gehör, wenn es im Verfahren nach der Hausratsverordnung unter Abänderung des erstinstanzlichen Urteils ein unentgeltliches und unbefristetes Nutzungsverhältnis hinsichtlich einer Wohnung begründet, obwohl der sich am Verfahren nicht beteiligende Wohnungseigentümer auf Grund der Information durch das Gericht mit dieser Möglichkeit nicht rechnen mußte.“233 Manchmal wird das Gericht aber den eigenen Vorgaben nicht gerecht. So gab das Kopftuch-Urteil dem Minderheitsvotum Anlaß zu folgender Bemerkung: „Die Senatsmehrheit berücksichtigt das auch dem Staat als Verfahrensbeteiligtem zustehende Prozeßrecht auf rechtliches Gehör nicht hinreichend, wenn sie einen parlamentarischen Gesetzesvorbehalt für die Begründung von Dienstpflichten im Zusammenhang mit der Religions- und Weltanschauungsfreiheit des Beamten einführt, der bislang weder in Rechtsprechung und Literatur noch von der Beschwerdeführerin selbst gefordert
233 BVerfG, in: NJW 2002, S. 1334 ff., 1335; vgl. dazu auch BVerwG, in: NJW 2001, S. 1151; BFG, in: NJW 2000, S. 3590 ff.
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2 Stand der Methodik – 21 Rechtsprechung
und in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat nicht zum ernsthaften Gegenstand des Rechtsgesprächs gemacht wurde. Das Land Baden-Württemberg hatte weder Anlaß noch Gelegenheit, sich zu dieser für alle Verfahrensbeteiligten überraschenden und entscheidungstragenden Rechtsauffassung zu äußern. Zu diesem Gesichtspunkt hätte dem Land Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben werden müssen. Die Senatsmehrheit wirft dem Land ein Unterlassen vor. Es habe für den Eingriff in das Recht der Beschwerdeführerin aus Art. 33 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 und 2 GG keine hinreichend bestimmte gesetzliche Grundlage geschaffen. Auf diesen Vorwurf konnte das Land nicht eingehen, weil es ihn nicht kannte und auch nicht kennen mußte.“234 213.4 Das rekursive Moment in der Legitimität des Verfassungsstaates Eine Entscheidung, die sowohl rechtstheoretische als auch methodische Grundlagenfragen aufwirft, ist die sogenannte Kopftuchentscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 2003. Die aus Afghanistan stammende und seit ihrer Kindheit in Deutschland lebende deutsche Staatsangehörige L. hatte sich in ein Beamtenverhältnis als Lehrerin an Grund- und Hauptschulen beworben. Sie äußert die Absicht, ihre religiöse Verwurzelung in der muslimischen Glaubensrichtung durch das Tragen eines Kopftuches auch im Unterricht Ausdruck zu verleihen. Das Oberschulamt lehnt daraufhin den Antrag mit der Begründung ab, daß der Antragstellerin wegen der Absicht, ein Kopftuch tragen zu wollen, die für das Lehramt erforderliche Eignung fehle. Der Fall fand starke Beachtung in der Öffentlichkeit235 und ist teilweise zum „modernen Kulturkampf“236 hochstilisiert worden. In der wissenschaftlichen Literatur wird vertreten, daß die mit dem Kopftuch ausgedrückte islamische Orientierung im Widerspruch zum Menschenbild des Grundgesetzes stehe.237 Ein solches Menschenbild gibt es im Grundgesetz aus guten Gründen nicht. Sobald man den Menschen definiert, besteht die Gefahr, daß diejenigen, die der Definition nicht genügen, unmenschlich behandelt werden. Deswegen hat das Grundgesetz die historisch gewachsenen Freiheitsrechte nicht zu einem einheitlichen Menschenbild zusammengefaßt. Entsprechende Behauptungen dienen nur dazu, die Ausübung von Freiheitsrechten, mit der man nicht einverstanden ist, zu diskreditieren. Die Gerichte haben sich auf solche Spekulationen nicht eingelassen. In der Entscheidung des BVerfG wird das Spannungsverhältnis zwischen der Religionsfreiheit und der Freiheit zum Zugang zu öffentlichen Ämtern gemäß Art. 33 II, III GG nicht abschließend gelöst, sondern dem Gesetzgeber zugewiesen. Drei Richter haben dabei von der Möglichkeit eines Minderheitsvotums Gebrauch ge234 BVerfG-Urteil vom 24. 09. 2003 / 2 BvR 1436 / 02, zitiert nach der Internetseite des BVerfG, Minderheitsvotum, Rn. 135. 235 Alan / Steuten, S. 209 ff. 236 Vgl. Bertrams, S. 1232; Debus, S. 1359. 237 Bertrams, S. 1232 f. m.w. N.
213 Gesamtbild verfassungsgerichtlicher Methodologie und Methodik
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macht. Die Entscheidung beleuchtet ein zentrales Problem der Legitimitätsstruktur des Verfassungsstaates. Es geht um die Frage, wie die individuelle Freiheit religiöser oder moralischer Orientierung durch die allgemeinen Bedingungen für die individuelle Freiheit solcher Orientierung eingeschränkt werden kann. Das Minderheitsvotum geht davon aus, daß dieses Problem bereits in der Verfassung gelöst ist und über die Generalklauseln des Beamtenrechts die Einzelentscheidung determiniert. Diese statische Lösung wird vom Mehrheitsvotum abgelehnt, weil im streitigen Grenzbereich von Recht und Moral der demokratische Gesetzgeber die Abgrenzung beider Bereiche immer wieder neu präzisieren muß. Übereinstimmend gehen beide Voten davon aus, daß es sich beim Kopftuch um ein religiöses Symbol handelt.238 Der Unterschied zwischen beiden Voten liegt in der Behandlung der Grundrechte der Bewerberin und in den Anforderungen an die demokratische Legitimation dieser Entscheidung. Das Minderheitsvotum lehnt einen Eingriff in Art. 33 Abs. 2 GG ab. Unter der erforderlichen Eignung sei umfassend die Gesamtheit der Eigenschaften zu verstehen, die das jeweilige Amt von seinem Inhaber fordere. Darunter falle auch die Erwartung, der Bewerber werde seine Pflichten als Beamter erfüllen (vgl. dazu §§ 70 ff. des LBG von Baden-Württemberg). Zur Eignung für den Schuldienst gehöre die Fähigkeit und Bereitschaft der Lehrkraft, die beamtenrechtlichen Dienstpflichten unter den konkreten Bedingungen des Schulbetriebs zu erfüllen. Die Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs der Eignung erfordere eine Prognoseentscheidung und sei vom Gericht nur beschränkt überprüfbar. Es sei nur zu kontrollieren, ob die Verwaltung den anzuwendenden Begriff erkannt, der Beurteilung einen unrichtigen Sachverhalt zu Grunde gelegt, allgemein gültige Wertmaßstäbe nicht beachtet oder sachwidrige Erwägungen angestellt hat; im übrigen sei das Gericht auf eine Willkürkontrolle beschränkt. (Im Folgenden zitiert nach dem Sondervotum der Richter Jentsch, Di Fabio, Mellinghof, zum Urteil des BVerfG vom 24. 09. 2003 – 2 BvR 1436 / 02 –, S. 20, Rn. 93.) Mit der Prognose, die Bewerberin sei wegen des beabsichtigten Tragens eines Kopftuchs im Unterricht für das angestrebte Amt einer Lehrerin im öffentlichen Schuldienst ungeeignet, habe der Dienstherr die Grenzen des ihm eingeräumten Beurteilungsspielraums nicht überschritten. Die Eignungsbeurteilung im Rahmen des speziellen Gleichheitsrechts aus Art. 33 Abs. 2 GG dürfe nicht mit einem Eingriff in die Freiheitsphäre eines Grundrechts verwechselt werden.239 Es sei mit den Dienstpflichten eines Beamten schlechthin unvereinbar, daß dieser den Dienst als Aktionsraum für Bekenntnisse nutze. Die ihm übertragene Aufgabe bestehe nur darin, den demokratischen Willen des Gesetzgebers sachlich,
238 Vgl. dazu VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 26. 06. 2001 – 1 S 1439 / 00; „Starkes religiöses Symbol“; andere Ansicht VG Lüneburg, in: NJW 2001, S. 767 ff., 760 und Michael I, S. 257. 239 Ebd., Rn. 84. Denn hier greife nicht der Staat in die Rechte des Bürgers ein, sondern ein Grundrechtsträger sucht die Nähe zur staatlichen Organisation und begehre die Begründung eines besonderen Dienst- und Treueverhältnisses. Ebd., Rn. 92.
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2 Stand der Methodik – 21 Rechtsprechung
nüchtern und neutral zu verwirklichen und sich vor allem dort als Individuum zurückzunehmen, wo seine Ansprüche auf Verwirklichung der Persönlichkeit Konflikte im Dienstverhältnis hervorbringen könnten. Hier wird offen gelassen, ob die Grundrechte für Beamte überhaupt gelten. Implizit geht der Text von der alten Theorie des Grundrechtsverzichts aus, die schon bei systematischer Auslegung an der Existenz von Art. 17 a GG scheitert. Tatsächlich gelten die Grundrechte auch für Beamte und können auch nur im Wege der praktischen Konkordanz eingeschränkt werden. Dazu ist dann natürlich ein Parlamentsgesetz nötig. Schon wegen der funktionellen Gewaltenteilung kann der Richter die verfassungsimmanenten Schranken nicht selbst konkretisieren. Aus der Sicht des Minderheitsvotums wäre dieses Gesetz, soweit es wegen Grundrechtsgeltung überhaupt nötig wäre, in den Generalklauseln des Beamtenrechts zu sehen. Die Mäßigungs- und Neutralitätspflicht wird als ausreichend zur Regelung dieses Konflikts angesehen. Bei der Überprüfung käme man dann zu dem schon angesprochenen Beurteilungsspielraum der Behörde. Ob ein solcher Beurteilungsspielraum überhaupt angenommen werden kann, wenn zwei Verfassungswerte miteinander in Konflikt liegen, kann hier dahingestellt bleiben. Denn entscheidend ist die Frage, ob solche Generalklauseln zur Regelung der Problematik überhaupt ausreichen. Es handelt sich hier um eine Kollision von Art. 4 GG mit dem staatlichen Neutralitätsgebot. Das Grundgesetz geht nach Art. 4 Abs. 1 und 2, Art. 3 Abs. 3, Art. 33 Abs. 3 sowie Art. 136 Abs. 1 und 4 und Art. 137 Abs. 1 WRV in Verbindung mit Art. 140 GG von einer Pflicht des Staates zur weltanschaulich-religiösen Neutralität aus.240 In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist jedoch anerkannt, daß dieses Gebot keine strikte Trennung von Staat und Kirche beinhaltet.241 Demgemäß stellt sich die Pflicht des Staates zur Neutralität in religiösen und weltanschaulichen Fragen auch nicht als distanzierende, abweisende Neutralität im Sinne einer laizistischen Nichtidentifikation mit Religionen und Weltanschauungen, sondern als eine respektierende „vorsorgende“ Neutralität dar.242 Dem Einzelnen soll mit staatlicher Hilfe ein Betätigungsraum gesichert werden, worin sich seine Persönlichkeit auf weltanschaulich religiösem Gebiet entfalten kann. Auch bei der Durchführung des staatlichen Erziehungsauftrags sind Religion und religiöse Betätigung daher nicht von vornherein ausgegrenzt. Vielmehr ist der offene Austausch von Meinungen auch zu religiösen Fragen erwünscht und sogar Bestandteil des Unterrichts.243 Dabei ist zu berücksichtigen, daß das Tragen eines Kopftuchs nicht zu vergleichen ist mit dem Anbringen eines Kreuzes im Schulraum. Das Kreuz im Schulraum wird als Ausstattung des Klassenzimmers dem Staat unmittelbar zugerechnet. Das Kopftuchtragen ist demgegenüber ein persönlicher Bekenntnisakt der Lehrerin. Als persönlicher Bekenntnis240 BVerfGE 19, 206, 216 ff.; BVerfGE 24, 236, 246; 33, 23, 28; 93, 1, 16 f.; BVerfG, Urteil vom 24. 09. 2003 – 2 BvR 1436 / 02 –, S. 10, Rn. 42; BVerwGE 19, 320, 328. 241 BVerfGE 52, 223, 238 ff. 242 BVerfGE 93, 1; BVerwG, Urteil vom 21. 04. 1999 – 6 C 18 / 98, BVerwGE 109, 40, 46 ff. 243 OVG Lüneburg, 2 LB 2171 / 01, Urteil vom 13. 03. 2002, S. 11.
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akt findet er seine Schranken an den Bedingungen für die freie moralische Entfaltung der anderen. Der zu regelnde Bereich ist wesentlich im Sinne der Wesentlichkeitstheorie, weil er den Legitimationskern einer freiheitlichen Verfassung berührt. Die Verfassung rechtfertigt sich als Bedingung für die individuelle Moral ihrer Bürger und muß, wenn sie diese einschränkt, einen Teil ihrer eigenen Legitimation aufzehren. Das Recht als Bedingung der Möglichkeit autonomer Moral erweist sich damit auch als Bedingung ihrer Unmöglichkeit.244 Deswegen muß man die Abgrenzung von Recht und Moral immer wieder rekursiv auf sich selbst anwenden und das Verhältnis zwischen notwendigem Recht und möglicher Moral neu austarieren. Dazu ist in der Demokratie nur das Parlament berufen und gerade nicht der Richter. Dieser Umstand wird vom Mehrheitsvotum richtig gesehen. Insgesamt zeigen sich in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und zum Teil auch der Verwaltungsgerichte starke Tendenzen, den Rechtsstaatgedanken und seine Methodik aus der Semantik des Obrigkeitsstaats herauszulösen und auf pragmatischer Ebene ernst zu nehmen.
22 Verfassungsrechtliche Methodik in der wissenschaftlichen Literatur 221 Zur methodischen Praxis
Eine ins einzelne oder mit dem Anspruch auf Vollständigkeit ins Typische gehende Beschreibung der Praxis rechtswissenschaftlicher Verfassungskonkretisierung ist hier nicht zu geben. Ähnlich wie die Rechtsprechung bietet auch die wissenschaftliche Literatur das Bild eines im Einzelfall von der Sache, z. T. auch vom Ergebnis her motivierten Pragmatismus, nicht das eines methodenbewußten, die angewandten Methoden darstellenden, begründenden und ausweisenden Arbeitens. Mangels strikter Fallgebundenheit ist sowohl die Vielfalt als auch die Unbestimmtheit der angewandten Arbeitsweisen noch erheblich größer als in der Judikatur. Damit ist, ebensowenig wie bei der Analyse der verfassungsrechtlichen Rechtsprechung, noch nichts gegen die inhaltliche Qualität der Argumentation gesagt, wohl aber gegen die Transparenz ihrer Genese, ihres Begründungszusammenhangs und ihrer Darstellungsweise. Im ganzen arbeitet auch die wissenschaftliche Literatur auf einem methodischen Niveau, das eine den Gesetzespositivismus hinter sich lassende Konzeption noch nicht gefunden hat, das aber zugleich die gesetzespositivistischen Möglichkeiten der Interpretation bzw. Verfassungskonkretisierung vielfach als praktisch unzulänglich aufdeckt und sie ohne die zu erwartende Begründung überschreitet. Nicht zuletzt, aber nicht ausschließlich in der Behandlung der Grundrechte zeigen 244 Zu diesem Problem unter dem Gesichtspunkt der Gleichheit: Menke, Ch. III; ders. IV. Als grundlegendes Dilemma der Rationalität moderner Gesellschaften wird dies formuliert von Luhmann XIV, S. 60 f., 76 f. sowie ders. XV, S. 114 f. In der Rechtswissenschaft wurde diese Problematik ausführlich diskutiert bei Pawlowski I, Rn. 849 ff., Rn. 860 ff.; ders. II, Rn. 17 ff.
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2 Stand der Methodik – 22 Literatur
sich auch hier zahlreiche vorläufig noch unreflektierte Ansätze zur Einbeziehung von Sachelementen grundrechtlicher und sonstiger verfassungsrechtlicher Regelungsbereiche in den Vorgang der Ergebnisfindung. Wegen ihrer durchgehenden inhaltlichen Verflochtenheit mit staats- und verfassungsrechtlicher Dogmatik, mit Staats- und Verfassungstheorie, mit Rechtstheorie und Verfassungspolitik brauchen diese Tendenzen im vorliegenden Zusammenhang nicht dargestellt zu werden. 221.1 Entformalisierte Grundrechtsbehandlung 69
Dagegen sei kurz auf die parallel zu den „wertbezogenen“ Tendenzen in der Verfassungsrechtsprechung feststellbaren Elemente rechtswissenschaftlicher Grundrechtsbehandlung hingewiesen. Sie überschreiten auf eine fragwürdige, weil z. T. subjektiv-irrationale, z. T. regressiv gesetzespositivistische Art den überlieferten Kanon der Savignyschen Auslegungsregeln. Sie beweisen damit zu ihrem Teil die Unzulänglichkeit jener Regeln für die Grundrechts- wie auch allgemein für die Verfassungskonkretisierung. Die von ihnen zusätzlich oder ersatzweise vorgeschlagenen Verfahren setzen sich jedoch in erheblichem Ausmaß in Gegensatz zu rechtsstaatlichen Geboten juristischer Methodenklarheit und das mögliche Maß an Rechtssicherheit gewährleistender juristischer Objektivität. Soweit sie sich in direkten Widerspruch zu deutlichen Aussagen verfassungsrechtlicher Normtexte bzw. grundgesetzlicher Systematik bringen, sind sie nicht nur im Ergebnis, sondern auch als Verfahren unzulässig. 221.11 Schrankenübertragung
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So hat die Literatur versucht, vorbehaltlos gewährleistete Grundrechte gegen ihre Normtextformulierung und gegen die Systematik des Grundrechtsteils des Bonner Grundgesetzes mit formalisierten Schranken auszustatten, da solche „als vom Verfassunggeber gewollt angesehen werden“ müßten245. Einer der grundlegenden Irrtü-
245 Hierzu die Untersuchungen bei Müller III passim; Müller IV, S. 11 ff. mit Nachw. Der dort entwickelten Auffassung der Unzulässigkeit aller „Schrankenübertragungen“ auf vorbehaltlos gewährleistete Grundrechte folgt das Bundesverfassungsgericht im „Mephisto“-Beschluß für das Grundrecht der Kunstfreiheit, Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG: BVerfGE 30, 173 ff., 188 ff., 191 ff. u. st. Rspr., z. B. a. E 77, 240, 253 ff. – Das Problem der Einschränkbarkeit eines vorbehaltlos gewährten Grundrechts wird von Zöbeley anhand einer Rechtsprechungsanalyse zu Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG diskutiert. Hierbei zeigt sich laut Zöbeley, S. 257, daß „zahlreiche Probleme, die früher im Rahmen der Definition von Kunst oder bei der Schrankenbestimmung mühsam erörtert wurden“, sich „als Scheinprobleme entlarven (lassen)“, folgt man dem Konzept der Strukturierenden Rechtslehre. Zu deren dogmatischer Umsetzung bezüglich Art. 5 Abs. 3 Satz 1 (Kunstfreiheit) vgl. Müller IV. Vgl. dazu nun auch den Versuch, eine Bereichsdogmatik zu Art. 5 Abs. 3 Satz 1 (Kunstfreiheit) zu entwerfen, bei Höfling, S. 127 ff. – Die rechtsstaatliche Linie des BVerfG untersucht Müller III, S. 103 ff.; dasselbe Vorhaben differenziert bei Erhardt, v. a. S. 82 ff., 86 ff., 88 ff., 100 ff., 103 ff., 108 ff. u. ö. Zu demselben Ansatz zur Schrankenfrage vgl. bei Waechter, v. a. S. 22 ff. (Wissenschaftsfrei-
221 Zur methodischen Praxis
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mer, von denen dergeartete Versuche immer wieder inspiriert werden, besteht in der Befürchtung, eigenständige Schutzgarantien, auf die sich angesichts ihrer vorbehaltlosen Einräumung die Schranken anderer Grundrechte methodisch belegbar nicht übertragen lassen, aus diesem Grund als „höherwertig“ behandeln zu müssen. Auch vorbehaltlos gewährleistete Freiheitsrechte sind jedoch als Rechte durch die Verfassung begründet und durch ihren Normbereich sachlich begrenzt. Die Allgemeine Grundrechtslehre kann genügend von der Normbereichsanalyse und der Bereichsdogmatik der einzelnen Grundrechte zu konkretisierende Gesichtspunkte der Begrenzung und der Vermittlung mit anderen Normen der Verfassungsrechtsordnung erarbeiten. Der immer wieder unternommene Versuch, positivrechtliche Grenzen anderer Grundrechtsgarantien deshalb als auch für vorbehaltlose Garantien verbindlich zu behaupten, weil kein Grundrecht absolut unbegrenzt bleiben könne, führt zu einem methodisch unvermittelten und unbegründbaren „Schrankenschluß“, der zudem keinem praktischen Bedürfnis der Verfassungsdogmatik entspringt. Die Grundrechte sind in sich verständliche, sachlich geprägte und sachlich begrenzte Schutzgarantien. Wegen der positivrechtlichen Gegebenheit ihrer je eigenständigen Verbürgung und der durch die Grundrechtssystematik des Grundgesetzes normierten Differenzierung ihrer Begrenzungsmöglichkeiten scheitern die Versuche, mit unzulänglichen Mitteln des Gesetzespositivismus über den Gesetzespositivismus hinauszugelangen: durch Unterstellen sämtlicher Grundrechte unter die sogenannte Schrankentrias des Art. 2 Abs. 1 GG, durch Unterstellen immanenter Gemeinschaftsvorbehalte oder allgemeiner Nichtstörungsschranken. Die Grundrechte als Verfassungsrecht können nicht mit vorgeblich immanenten Begrenzungen versehen werden, nach denen in der Praxis bereits die Behauptung des Schutzes „höherrangiger Gemeinschaftsgüter“ zur Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen genügen soll. Dieser früher vom Bundesverwaltungsgericht vertretenen Auffassung246 fehlt der verfassungsrechtliche Ansatzpunkt. Sie kann überdies, analog den materiellen Gemeinwohlklauseln, keine rechtsstaatlich genügenden Maßstäbe für die behauptete Einschränkbarkeit entwickeln. Daß kein Grundrecht „schrankenlos“ im Sinn von unbegrenzt gilt, läßt sich von einer mit Hilfe der Normbereichsanalyse rational zu entwickelnden Bereichsdogmatik der einzelnen Garantien dartun. Es legitimiert aber nicht das Postulat grundrechtsbegrenzender Generalklauseln. Ebensowenig kann der „Soweit-Satz“ des Art. 2 Abs. 1 GG funktionsdifferierend als Anknüpfungspunkt für die Herausarbeitung allgemeiner Schranken auf alle übrigen Grundrechte übertragen werden. Wird er nicht nur als nichtnormativer Hilfsgesichtspunkt der Interpretation, sondern als „Verfassungsvorbehalt“ angesehen, so werden hiermit den Grundrechtsverbürgungen apokryphe Begrenzungsnormen von nur scheinbar interheit). – Zur Satire: BVerfGE 86, 1, 11 f. – Übernahme des Strukturkonzepts für die Grundrechtsdogmatik bei Trute, z. B. S. 57 ff., 144 ff., u. durchg. (Forschungsfreiheit). 246 BVerwGE 1, 48, 52; 2, 89, 93 f.; st. Rspr. bis BVerwGE 5, 153 ff. – Zu Recht gegen „immanente“ oder „betriebsbedingte Schranken“ des Art. 10 Abs. 1 GG bei der Erörterung des grundrechtlichen Normbereichs („Schutzbereich“): BVerfGE 85, 386 ff., 396 ff. – Der (dogmatische) Begriff „Schutzbereich“ würde besser auf das dogmatische Ergebnis aus: „Normbereich des Grundrechts minus (etwaige) ‚Grundrechtsbeschränkungen‘“ (ebd., 397) passen.
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2 Stand der Methodik – 22 Literatur
pretativer Funktion unterstellt. Verkürzungen des sachspezifischen Geltungsgehalts der Grundrechte sind bereits Eingriffe in die Freiheitsgarantien. Sie können nicht als bloße „Zurückverweisung“ in die Grenzen gemeinförderlicher Grundrechtsaktualisierung verharmlost und legitimiert werden. 221.12 „Abwägung“ grundrechtlicher „Güter“ und „Werte“ 71
Zwar nicht die Berechtigung gesetzespositivistischer Selbstgenügsamkeit, wohl aber die Unverzichtbarkeit rechtsstaatlich-disziplinierender Elemente in der gesetzespositivistischen Arbeitsmethode zeigt sich ferner angesichts der Versuche, die Grundrechte durch Güterabwägung, durch den Vorbehalt der „allgemeinen Gesetze“ oder durch „Mißbrauchs“formeln von angeblich materialer Vorrangigkeit zu begrenzen. Sowenig Grundrechtsnormen, für sich genommen, als Ausdruck von „Werten“ zulänglich erfaßbar sind, sowenig können Grundrechtseinschränkungen, die weder auf einen Gesetzesvorbehalt noch auf ein durch einen solchen getragenes Vorbehaltsgesetz stützbar sind, unter Berufung auf die Totalität eines verfassungsrechtlichen „Wertsystems“ gerechtfertigt werden. Das Ganze der Verfassung als solches ist weder von normativer Kontur noch von normativer Qualität. Als „rigide“ Verfassung fordert das Grundgesetz Normklarheit und Deutlichkeit des geltenden Verfassungsbestandes, gebietet es optimale Methodenklarheit im Umgang mit positivem Verfassungsrecht. Fehlende positivrechtliche Ansatzpunkte für Grundrechtseingriffe sind durch verfassungstheoretische Überlegungen nicht ersetzbar. Das gilt trotz der gebotenen Abkehr von einem nur-formalen Verfassungsdenken, trotz der Anerkennung positiver Deutungsvarianten der Gesetzesvorbehalte. Doch sind die Gesetzesvorbehalte in ihrer Funktion als formalisierte Eingriffsermächtigungen für die Freiheitsgarantien auch weiterhin unentbehrlich.
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Die Ganzheit eines grundrechtlichen oder verfassungsrechtlichen Wertsystems ist auch mit Hilfe des formalen Prinzips der sogenannten Güterabwägung nicht rationalisierbar. Dieser Grundsatz entbehrt leitender normativer Anhaltspunkte im Grundgesetz, die über die formale Typik der Ausgestaltung der Grundrechtsgarantien und der Abstufung der Gesetzesvorbehalte hinausgehen. Das Prinzip kann keine inhaltlichen Maßstäbe zur Verfügung stellen, die rechtsstaatlichen Anforderungen an Normklarheit, Methoden- und Rechtssicherheit genügten. Im übrigen ist Güterabwägung mit ihrer grundsätzlichen Annahme von Axiomen wie „Vorrang“ oder „Höherwertigkeit“ verfassungsrechtlicher „Interessen“ bzw. Rechtsgüter stets in Gefahr, im praktischen Fall eine Verfassungsnorm zu ausschließlich auf Kosten einer anderen „vorgehen“ zu lassen. Im Fall einer Kollision von Verfassungs- und Unterverfassungsrecht bleiben die Verfassungsnormen verbindlicher Maßstab für die Rechtmäßigkeit des Gesetzesrechts. Soweit das Prinzip der Güterabwägung auf materielle Erwägungen zurückgreift, die im Einzelfall nicht dem Detail positivrechtlicher Regelung entnehmbar sind, bleibt es mit seiner immer wieder unterlaufenden Bewertung von Grundrechten und grundrechtsausgestaltenden Gesetzen als gleichrangig alle erforderlichen Kriterien von hinreichendem Normrang schuldig247.
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Soweit die Verfassung durch direkte Normierung, vor allem durch formale Vorzugsregel, eine Art von „Höherwertigkeit“ deutlich macht, genauer gesagt: soweit sie eine Höherbewertung politischer oder ethischer Herkunft durch formale Vorzugsnorm verbindlich zur Geltung bringt, ist „Güterabwägung“ entbehrlich. Soweit die Verfassung das nicht tut, reicht der Hinweis auf das nicht-normative Ganze der Verfassung oder eines verfassungstheoretischen bzw. verfassungsrechtlich postulierten Wertsystems als rechtsstaatliche Basis für Grundrechtseingriffe nicht aus. Die Abstufung der Gesetzesvorbehalte, die Anordnung unmittelbarer Bindung der Legislative an die Grundrechte, die Vorschriften des Art. 19 Abs. 1 und 2 GG, die Einrichtung einer auch die Normenkontrolle umfassenden Verfassungsgerichtsbarkeit und andre Regelungen des Grundgesetzes legen für die Rolle der Gesetzgebung im Grundrechtsbereich die Verteilung normativer Maßstäblichkeit verbindlich fest. Solche differenzierenden Regeln, Abstufungen und Einrichtungen des Verfassungsgesetzes können beim Versuch, den methodischen Unzulänglichkeiten des Gesetzespositivismus zu entkommen, nicht durch materiale Erwägungen des Einzelfalls „abwägend“ unterlaufen werden, sollen nicht die Grundrechte dem rechtsstaatlich nicht legitimierbaren Vorbehalt letztlich irrationaler Einzelentscheidung überantwortet werden. Verfassungsinterpretation überschreitet ihre Grenzen, wenn sie eine normativ im einzelnen nicht greifbare Totalität einer vorausgesetzten Wertordnung an die Stelle der Ermittlung der „sachlichen Reichweite eines Grundrechts“248 setzt. Nicht nur der grundrechtliche Wesensgehalt249, sondern allgemein der normative Sachgehalt kann nur für jedes Grundrecht gesondert ermittelt werden. 221.13 Grundrechts„mißbrauch“ Dieselben Einwände gelten gegenüber „Mißbrauchs“urteilen, die über dogmatische Grenzziehung hinausgehen. Pauschale Gemeinschaftsvorbehalte der Grundrechtsbegrenzung sind auch im Gewand von Mißbrauchsvorbehalten mit notwendig undeutlicher Umrißschärfe normativ ohne Stütze. Auch solche Vorschläge zielen auf die juristisch nicht exakt formulierbare Beschreibung materiell-allgemeiner, den Grundrechten angeblich vorrangiger Gegen-Normen, die immer dann gegeben sein sollen, wenn bestimmte Grundrechtsausübungen das sogenannte vorrangige Interesse eines andern Interessenträgers verletzen250. Damit werden die Eigenständigkeit 247 Zur Kritik am Güterabwägungsprinzip: v. Pestalozza I, S. 448; Müller I, S. 115, 124 f., 136 f., 207 ff., 214; Hesse II, S. 27 f., 118. – Ein Stück verfassungsrichterlicher „Selbstkritik“ i. S. der hier entwickelten Position findet sich in BVerfGE 35, S. 41 ff., 51 ff. (Abweichende Meinung), 56. 248 BVerfGE 12, 45, 53. – Zum im Text folgenden Argument des „Mißbrauchs“ s. allg. Christensen / Kudlich I. – Für das Strafrecht: Kölbel II, rechtstheoretisch und methodologisch gestützt. 249 So BVerfGE 22, 180, 219. 250 Die Mißbrauchsgrenze ist auch zur praktischen Grenzziehung meistens ungeeignet. Vgl. dazu auch das erste Minderheitsvotum zur Esra-Entscheidung: BVerfGE 118, S. 1 ff., 44 und die zutreffende Kritik durch das zweite Minderheitsvotum: ebd., S. 1 ff., 58 f.
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der Grundrechtsgarantien und die normative Differenzierung der Einschränkungsmöglichkeiten von Grundrechten durch die Verfassung übersehen. Die Mißbrauchsformel wird allzuleicht zum rechtsstaatlich unkontrollierbaren Einlaß für Wertungen verschiedenster Art, die ohne Rücksicht auf den besonderen Geltungsgehalt der Einzelgarantien verallgemeinert werden. Die Mißbrauchshypothese hat mit den andern skizzierten Begrenzungshypothesen gemeinsam, über die verschiedene positivrechtliche Ausgestaltung der Freiheitsgarantien ebenso hinwegzugehen wie über die Unterschiedlichkeit der als frei garantierten sachgeprägten Normbereiche. 221.14 Bewertung 74
Der politische und rechtliche Freiheitsgehalt der Grundrechte sieht sich nach historischer Erfahrung von öffentlicher Gewalt besonders häufig bedroht251. Die differenzierte Schutzgarantie ist geeignet, den Verfassungsstaat des Grundgesetzes an hervorragender Stelle sachlich zu legitimieren. Doch haben Verfassungsinterpretationslehre und Grundrechtsdogmatik unter dem Grundgesetz noch nicht einen zu hinreichendem Konsens und hinreichender rechtsstaatlicher Transparenz gediehenen Stand erreicht, der die Versuchung zu irrationaler oder das positive Recht partiell vernachlässigender Theoriebildung und Entscheidungsfindung ausschalten könnte. Die genannten Versuche materiell-allgemeiner Grundrechtsbegrenzung können als Symptom dafür verstanden werden. Sie zeigen ferner die enge sachliche Verbindung methodischer Verfahrensvorschläge und ihres rechtsstaatlichen Risikos mit dem Inhalt verfassungsrechtlicher Dogmatik und Einzelentscheidung. Die genannten Vorschläge verstehen sich selbst als Beiträge zur Überwindung des Gesetzespositivismus. Sie führen jedoch noch vor Ausschöpfung der (begrenzten und nicht zulänglichen) Möglichkeiten gesetzespositivistischer Auslegungs- und Konkretisierungsinstrumente Hypothesen in den Vorgang der Rechtsgewinnung ein, deren begriffliche und prozedurale Struktur rechtsstaatlich nicht hinreichend kontrollierbar ist. Methodisch ist ihr Scheitern darin begründet, daß sie das Niveau des Gesetzespositivismus hinter sich lassen wollen, ohne zugleich seinen theoretischen Hintergrund, sein Normverständnis, seine Identifizierung von Rechtsnorm und Normtext und seine Auffassung rechtlicher Vorschriften als logifizierter Befehle oder hypothetischer Urteile (statt als sachbestimmter Ordnungsmodelle) hinter sich zu lassen. Auf der andern Seite haben die – den weitgehend unkritisch übernommenen und ohne Folgerichtigkeit praktizierten Positivismus ergänzenden – Ansätze zur Aufnahme von Sachgesichtspunkten in die Arbeit der Konkretisierung noch nicht einen Stand methodischer Bewußtheit erreicht, der es erlauben würde, sich bereits zu den Elementen reflektierter Praxis der Verfassungskonkretisierung zu zählen252.
BVerfGE 6, 32, 37. Zum Vorstehenden Müller III, S. 11 ff.; IV, S. 11 ff., jeweils mit Nachweisen. – Vgl. aber auch die konsequente Annahme des strukturierenden Ansatzes für die Grundrechte bei Grimm VII. 251 252
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222 Methodologische Reflexion in der gegenwärtigen Verfassungsrechtswissenschaft
222.0 Fortwirken des Gesetzespositivismus Bis nach dem Ersten Weltkrieg hatte die deutsche Staatsrechtswissenschaft eindeutig im Zeichen des gesetzespositivistischen formallogischen Konstruktivismus Labandscher Prägung gestanden. Außer bei Hans Kelsen und in dessen Nachfolge wird diese methodische Haltung heute nicht mehr ausdrücklich vertreten. Sie ist jedoch noch von keiner herkömmlichen methodologischen Gesamtkonzeption ersetzt worden und wirkt unausgesprochen mit zahlreichen ihrer Elemente in der weithin unreflektierten Praxis heutigen verfassungsrechtlichen Arbeitens fort. Das läßt eine knappe Darstellung der positivistischen Arbeitsweise und eine ebenso knappe Auseinandersetzung mit ihr notwendig erscheinen.
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Unter „Positivismus“ ist dabei nicht der im Kern philosophische Positivismus der Wissenschaftshaltung verstanden und auch nicht der die Frage nach dem Geltungsgrund des Rechts stellende Positivismus der Rechtsgeltung, welcher seinerseits nach seiner psychologischen, soziologischen und etatistischen Variante unterschieden zu werden pflegt253. Vielmehr geht es um den methodischen Rechtspositivismus, den Positivismus der Normbehandlung, der ein noch immer abzuarbeitendes Problem der Rechtswissenschaft darstellt und den die Strukturierende Rechtslehre und Methodik durch ein mit seinen Voraussetzungen brechendes Gesamtkonzept beantwortet. Er wird hier am Beispiel des Verfassungsrechts dargestellt.
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Der Positivismus der allgemeinen Wissenschaftshaltung ist mit dem Abschied des Denkens und Forschens von alter Metaphysik verknüpft; er bleibt weiter auf der Tagesordnung. Der Positivismus der Normbehandlung („Gesetzespositivismus“) ist historisch überholt, methodologisch dekonstruiert und durch das nachpositivistisch strukturierende Paradigma ersetzt. Der Positivismus der Rechtsgeltung sieht als „Recht“ das Folgende: was gemäß Verfassung und Gesetzen als Normtext positiviert und dann in Situationen praktischen Entscheidens ohne Verstoß gegen gleichund höherrangige Vorschriften zu Rechts- und Entscheidungsnormen korrekt konkretisiert worden ist. So gesehen, kann diese Art von „Positivismus“ durch antipositivistische Strömungen (wie Wertungs- und Interessenjurisprudenz, Topik, Hermeneutik) nicht länger abfällig behandelt werden. Schließlich sind inzwischen auch die nationalen und transnationalen Grundrechte, die Funktionen des alten Naturrechts übernehmend, zu positivem Recht geworden.254
253 254
Vgl. Müller XXI; ferner die ausführliche Darstellung bei W. Ott I. Dazu F. Müller, XLIII, z. B. S. 261 ff., u. ö.
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2 Stand der Methodik – 22 Literatur
222.1 Die Arbeitsweise des verfassungsrechtlichen Positivismus 222.11 Grundlagen und Herkunft 77
Der verfassungsrechtliche Gesetzespositivismus kann nicht mit der Anwendung der Auslegungsregeln Savignys gleichgesetzt werden. Hauptelemente seiner rechtstheoretischen und rechtspraktischen Grundeinstellung sind bereits genannt worden. Für verfassungsrechtlichen Positivismus ist die Verfassung ein formales System von Verfassungsgesetzen; ist das Gesetz ein Willensakt des Staates in Gesetzesform. Die verfassungsrechtlichen Normen und Institute dürfen für ihn einen sachlichen Zusammenhang mit historischen und aktuell-gesellschaftlichen Gegebenheiten nicht aufweisen, der in der Konkretisierung als sich irgendwie zur Geltung bringender Sachgehalt wiederkehren könnte. Solche Zusammenhänge werden nicht abgestritten, aber als die Rechtswissenschaft nicht interessierend behandelt. Die staatsrechtlichen Normen und Einrichtungen sollen sogar ohne Konnex mit ihrem eigenen verfassungsgeschichtlichen Hintergrund und damit abstrakt von einem gerade im Verfassungsrecht kaum je entbehrlichen Teil ihres Normbereichs behandelt werden.
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Die Forderung einer Dogmatik des Staats- und Verfassungsrechts als einer reinen, von allen „nichtjuristischen“ Elementen befreiten Dogmatik unter Ausschluß von Geschichte, Philosophie und politischen Gesichtspunkten hat Paul Laband von Carl Friedrich v. Gerber255 übernommen. Dabei ist nicht zu vergessen, daß nicht nur Gerber und Laband, sondern fast alle führenden Staatsrechtler der Restaurationszeit nach 1850 die Verbindung politischer Gesichtspunkte mit Normen des positiven Rechts abgelehnt haben, so etwa Zachariä, Mohl und Bluntschli. Auch hierin zeigt sich die legitimistische Funktion des verfassungsrechtlichen Gesetzespositivismus zugunsten politischer Restauration und antiliberaler Reaktion nach 1848 / 49256. Gerber hat als Zweck der positivistisch-konstruktiven Behandlungsart des Staatsrechts mit wünschenswerter Deutlichkeit die politische Gewährleistung des staatsrechtlich Bestehenden genannt: „Die öffentlichen Rechte erhalten hierdurch die Festigkeit und Sicherheit der Privatrechte, und verlieren auf diese Weise jenen unklaren und unsicheren Bestand, bei dem sie lediglich als der launenhaften Willkür der Tagesmeinung preisgegebene Elemente erscheinen“257. Damit sind weder ausschließlich noch auch nur in erster Linie rechtsstaatliche Normklarheit und Tatbestandsbestimmtheit gemeint; vielmehr ein bewußt eingesetztes Mittel verfassungsrechtlicher Arbeitsmethodik, auf der Basis der politischen Lage Deutschlands nach 1848 / 49 gegen unbeschränkte „Ablösbarkeit“ des Bestehenden und gegen das „parlamentarische Staatsleben“ überhaupt zu wirken258. Die „juristische Methode“ ist sowohl Ausdruck als auch Instrument einer inhaltlich bestimmten politischen Position. Nach 1870 bestanden ihre Aufgabe wie ihre Wirkung vor allem darin, das monar255 256 257 258
s. etwa v. Gerber II, S. V f., 10, 237. Hierzu Wilhelm, S. 140 ff., 152 ff. v. Gerber I, S. 69. v. Gerber I, S. 102 ff.
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chisch-konservative Staatsverständnis, die antiliberale Politik Bismarcks und insgesamt die bestehenden politischen und verfassungsrechtlichen Verhältnisse gegen mögliche Kritik abzusichern. Daß Labands methodische Position über Gerber und Jhering259 auf Savigny260 und damit auf bestimmte und nicht ohne weiteres generalisierbare methodische Haltungen der deutschen Zivilrechtswissenschaft des 19. Jh. zurückgeht, vergrößert ihren Abstand zu den praktischen und theoretischen Erfordernissen heutiger Verfassungskonkretisierung. 222.12 Purismus Für den Positivismus hat sich die Rechtswissenschaft auf das vorhandene positive Recht zu beschränken. Bei Auslegung und Anwendung von Normen dürfen weder philosophische und weltanschauliche noch historische, politische und soziale Inhalte außerhalb, am Rand oder innerhalb der normativen Regelungsbereiche berücksichtigt werden. Eine sich so verstehende Rechtswissenschaft eliminiert aus ihrem Untersuchungsfeld nicht nur „Werte“, subjektive Wertungen und behauptete „Wertsysteme“, sondern auch die sachhaltigen Implikationen der Rechtsnormen und ihrer Regelungsbereiche selbst261. Wer aber sonst, wenn nicht der konkretisierende Jurist sollte solche Momente in bezug auf Normen berücksichtigen? Politologie, Soziologie, Nationalökonomie und Geschichtswissenschaft sind nicht dazu berufen, Gesetzgebung, Verwaltung, Regierung und Rechtsprechung im Rahmen von und in Konkretisierung der Verfassungs- und Rechtsordnung zu leisten. Wenn es nicht eine genuin juristische Aufgabe sein soll, die Sachgehalte geltender Normtexte aus Gebieten, die als „Politik“, „Geschichte“ und „soziale Wirklichkeit“ katalogisierend abstrahiert zu werden pflegen, im tatsächlichen Vorgang der normtextorientierten Rechtsfindung zu verarbeiten, dann ist es niemandes Aufgabe. Dann muß auch der Sachgehalt der Verfassungsrechtsordnung normativ verfehlt werden von Juristen, denen es angesichts dieser Sachlage nicht mehr nur allein um technische Sau259 Vgl. zu dessen Ansatz im Kontext vor allem der Methodengeschichte: Seinecke, S. 124: „In diesem Stück ‚Begriffsjurisprudenz‘ ist Jhering ein vielgestaltiger Protagonist. Jhering hat diese ‚Begriffsjurisprudenz‘ nicht nur 1884 auf den Begriff gebracht, er soll sich auch um 1860 auf dem Weg nach ‚Damaskus‘ vom Begriffs-Saulus zum Zweck-Paulus bekehrt haben.“ Bei realistischer Betrachtung ist „Begriffsjurisprudenz“ vor allem eine Konstruktion Jherings im Kontext seiner polemischen Absetzung von Gegenpositionen. 260 Der methodische Ansatz von Savigny ist natürlich wesentlich komplexer als das, was die Polemik von der so genannten Begriffsjurisprudenz davon wahrnimmt. Vgl. dazu Rückert X, S. 68: „Die rechtstheoretische Besonderheit der Canones liegt nicht in der schönen Aufzählung (…), sondern in ihrem Bezug auf ein so genanntes ‚wirkliches Recht‘ statt auf Gesetzesbefehle. Blickrichtung und Loyalität der Auslegung im Kernzivilrecht gehen also nicht auf die Gesetzesworte als solche, sondern nur anhand der Worte auf die wirklichen Rechtsverhältnisse der interessierten Kreise (…) weder Buchstabenjurisprudenz noch Richterkönigtum oder volitive Elemente des Entscheidens sind vor dieser Instanz das eigentliche Problem.“ 261 Vgl. dazu, am Beispiel Otto Mayers, Engel, S. 208 ff., mit der Entfaltung einer Alternative auf S. 231 ff.
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2 Stand der Methodik – 22 Literatur
berkeit rechtsstaatlicher Argumentation und um juristische Rationalität geht, sondern die bewußt oder unbewußt im Umkreis der „Subsumtions“-Ideologie positivistischer Herkunft verbleiben. 80
Sachgehalte geltender positiver Vorschriften sind – ebenso wie, und hier ist der Positivismus im Recht, normativ ungestützte Abschweifungen in philosophische, historische und weltanschauliche Überlegungen – für den Positivismus pauschal „unjuristisch“, für die Rechtswissenschaft ohne nähere Differenzierung „unwissenschaftlich“. Positivistisch betrachtet, ist Recht vielmehr die gesetzte „Norm“, wie sie als sprachliche Formulierung, als Normtext auf dem Papier steht. Ohne Rücksicht nicht nur auf die hinter ihr stehenden und sie bedingenden gesellschaftlichen Gegebenheiten im weiteren Sinn, sondern auch auf die Sachstruktur ihres Regelungsbereichs wird die „Norm“ als logisch formalisierter Obersatz, als handhabbares Instrument eines formallogischen Syllogismus262 der „Anwendung“ vorgestellt263. 222.13 Systembegriff, Verdinglichung rechtlicher Größen
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Ferner ist das geltende Recht nach dem Credo des Positivismus ein lückenloses System von Rechtssätzen. Wirklich offene Rechtsfragen können nicht auftauchen. Jede neue Rechtsfrage der Praxis ist vom System denknotwendig bereits gelöst. Lücken in der ausdrücklichen positiven Regelung sind in jedem Fall durch juristische Konstruktion aus leitenden Grundsätzen und Prinzipien des positiven Rechts abzuleiten. Auch solche Rechtsfragen sind somit vom System des geltenden Rechts notwendig vorentschieden. Es handelt sich hier nicht nur um das Eingestehen der Notwendigkeit von Behelfskonstruktionen angesichts des Fehlens eines prozessualen non liquet, sondern um die Behauptung eines substantiellen Vorentschiedenseins aller denkbaren Fälle der Praxis. Die „höheren allgemeinen Rechtsbegriffe“ werden als etwas Vorgegebenes, an sich Existierendes verstanden.
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Ausgangspunkt dieser methodischen Haltung ist die bewußte Beschränkung auf das positive Recht als Forderung an die Rechtswissenschaft, ist also der Entwurf eines bestimmten puristischen Wissenschaftsbegriffs für die Jurisprudenz. Die Auffassung des geltenden Rechts als eines lückenlosen Systems von Rechtssätzen, der Entscheidung als logischer Subsumtion des Tatbestandes unter die als Obersatz traktierte Rechtsnorm und allen menschlichen Gemeinschaftshandelns als „Anwendung“ oder „Ausführung“ von Rechtsnormen oder als „Verstoß“ gegen solche sind Folgerungen aus dieser Voraussetzung. Während allgemeine Rechtsbegriffe, positive Rechtssätze und die Entscheidungen in Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung durch nichts verbunden sein sollen als durch reine Logik, optiert diese
262 Zur Logik des Syllogismus vgl. Joerden, S. 311 ff.; Baufeld, S. 184 ff.; Ratschow, S. 106 ff. 263 Zur Kritik des positivistischen Paradigmas der Subsumtion vgl. auch Jestaedt II, S. 250 f.
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methodische Position inhaltlich für die politische Reaktion seit 1850 und später für das bürgerliche Naturrecht der Gründerjahre. Mit seinem Pochen auf bloße, der Lebenswirklichkeit entrückte Positivität des Rechts nahm der Positivismus die Minderung oder den Verlust rechtlicher Normativität in Kauf. Deren spezifische Bedingungen wie die Eigenart von Recht überhaupt gerieten in dem Maß aus dem Blick, in dem das Methodenideal einer sich noch nicht fragwürdig gewordenen Naturwissenschaft unkritisch auf Rechtsvorschriften übertragen wurde. Juristischer Positivismus in diesem Sinn ist nicht nur die Rechtstheorie, die sich bewußt auf positives Recht beschränkt und alle sonstigen, wenn auch herkömmlich als „Recht“ erfaßten sozialen Ordnungen aus dem Rechtsbegriff verweist264. Damit ist nur der jüngere, der sozusagen entnaturrechtlichte Positivismus Kelsenscher Prägung erfaßt, der das Manko einer verschwiegen unterstellten inhaltlichen Ideologie methodisch mit der Leerstelle der „Grundnorm“ zu ersetzen sucht. Pragmatisch ist die Kelsensche Position „logischer“ Positivismus ebenso wie der ältere, ideologisch ist sie Dezisionismus, weil sie auf Gerbers und Labands Einbettung des positiven Rechts in höhere „Rechtsbegriffe“ und so auf die damit entstandene Verankerung in den Verhältnissen der Entstehungszeit einer solchen Theorie verzichtet. Der ältere Positivismus ist dagegen, mit Kelsen verglichen, nicht konsequent positivistisch, sondern auf eine bestimmte soziale und politische Lage eingeschworen und auch nur aus seiner Funktion für diese voll erklärbar. Grundlage dieses Rechtsverständnisses ist die Verdinglichung von Rechtsvorschriften und juristischen Begriffen zu schlichter Vorgegebenheit265. Diese verläßt leicht den Boden historisch fixierter Positivität und wird zur schlechten Metaphysik. Jede neugeschaffene Verfassung soll auf vorpositive juristische Elemente im Sinn einer auf die Rechtswissenschaft übertragenen Anorganischen Chemie zurückgeführt werden können. Nicht nur einer Verfassung, sondern jeder Rechtsbildung überhaupt ist für diese Sicht „nur die tatsächliche Verwendung und Verbindung der allgemeinen Rechtsbegriffe“ eigentümlich. Jedes mögliche Rechtsinstitut kann mit absoluter Notwendigkeit „einem höheren und allgemeineren Rechtsbegriff“ untergeordnet werden266. Mit einem methodischen Optimismus, der inzwischen auch den Naturwissenschaften abhanden gekommen ist, werden dort rechtliche Vorschriften als unmittelbare Gegebenheiten im Sinn von Naturdingen behandelt.
264 Kelsen II. Vgl. dazu auch H. Dreier I, S. 144. Zu Kelsen im Überblick und zu seiner Stellung im damaligen „Methoden- und Richtungsstreit“: Friedrich III, S. 325 ff., 341 ff.; u. ö.; Weimar, S. 115 ff. 265 Hierzu Müller I, S. 19. Zur Verdinglichung schon Esser VIII. Vgl. zur Verdinglichung als Allegorie für den Respekt, den man dem Recht zumessen will: Cover, S. 45. – Zum Gesetzespositivismus aus der Sicht einer Rhetorischen Rechtslehre: Viehweg II, S. 166 ff. 266 Laband S. V ff., bes. VI.
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2 Stand der Methodik – 22 Literatur
222.14 „Sein und Sollen“ 84
Laband macht seine Aussagen nicht vom Recht her, sondern von der Rechtswissenschaft. Er formuliert sie nicht als politische Theorie, sondern als Theorie juristischer Dogmatik. Noch bei Kelsen267 wird deutlich, daß juristischer Positivismus weniger die Eigenart der Jurisprudenz von der des Rechts her zu bestimmen sucht, als seine Auffassung von Wissenschaftlichkeit auf die Welt des Rechts überträgt. Dieses wird mißverstanden als in sich ruhendes, nur sozusagen nachträglich mit Verhältnissen der geschichtlichen Wirklichkeit in Beziehung zu setzendes Sein; die Rechtsnorm als Befehl, als hypothetisches Urteil, als formallogisch formalisierter Obersatz, als sachleerer Wille. Recht und Wirklichkeit, Norm und normierter Wirklichkeitsausschnitt stehen „an sich“ beziehungslos nebeneinander, werden mit dem Rigorismus neukantischer Trennung von „Sein“ und „Sollen“ einander entgegengesetzt, bedürfen einander nicht und treffen sich nur auf dem Weg einer Subsumtion des Tatbestands unter einen normativen Obersatz. Demgegenüber ist festzustellen, daß weder logische Analyse noch empirische Beobachtung bislang zu belegen vermochten, Norm und Wirklichkeit seien grundsätzlich als getrennt zu behandeln268. Auch ist der Positivismus den Beleg dafür schuldig geblieben, daß und auf welche Weise solche Trennung für die soziale Welt sinnvoll und praktikabel genannt werden könne. „Sollen“ ist unvermeidlich an das gekettet, was es verändern, beseitigen, ins Werk setzen „soll“. Es fällt nicht vom Himmel; auch dort, wo es das von sich sagen lassen mußte, war es – und ist es weiterhin – Teil bestimmter Macht- und Gewalt267 s. etwa Kelsen II. – Allg. zu „Sein und Sollen“ vgl. z. B. Ehrenzweig, S. 94 ff. u. ö. Dazu auch etwa Larenz I, S. 6 f. Zum Fehlen einer „Interpretationslehre“ in der Theorie Kelsens vgl. H. Dreier I, S. 148 f.; zu ihrer „Auslegungslehre“ Koch VIII. – Zur Diskussion des „Imperativ“-Charakters von Rechtsnormen: Hart II, v. a. S. 34 ff. 268 Grundsätzlich bestätigt dies auch die neuere analytische Philosophie, die die entsprechende Folgerung aus der Kritik an der Dichotomisierung von Tatsachen und Werten durch den logischen Positivismus des Wiener Kreises zieht. – Vgl. Rorty, S. 393 ff.; Putnam I, S. 173 ff., 266 ff. Demnach gibt es zwar den Unterschied zwischen einem deskriptiven und einem präskriptiven Gebrauch von Sprache. Daraus allein folgt aber noch nichts für eine Scheidung von Wirklichkeit und normativer Einstellung auf diese. Das entscheidet sich nach Maßgabe des jeweils akzeptierten Begriffsschemas, das damit auch jene Differenz der Gebrauchsweisen von Sprache als Ausdruck einer Differenz von Tatsachenerkenntnis und Handlungswahl erst hervorbringt und anleitet. Und auch für das Begriffsschema selbst gilt wiederum, „daß jede Wahl eines Begriffsschemas Werte voraussetzt und daß die Wahl eines Schemas zur Beschreibung gewöhnlicher zwischenmenschlicher Beziehungen und sozialer Tatsachen – vom Nachdenken über den eigenen Lebensplan ganz zu schweigen – u. a. die moralischen Werte des Betreffenden involviert. Man kann kein Schema wählen, das die Fakten einfach ‚abbildet‘, weil kein Begriffsschema ein bloßes ‚Abbild‘ der Welt ist. Der Gehalt des Wahrheitsbegriffs selbst hängt von unseren Maßstäben rationaler Akzeptierbarkeit ab, und diese wiederum beruhen auf unseren Werten und setzen diese voraus.“ Putnam I, S. 283 f. Zum Konzept des Begriffsschemas auch Davidson I. – Vgl. – von der Linguistik her – zu „Schema“, „frame“ und „kognitives Modell“ (ferner auch zu „Stereotyp“ und „Prototyp“) die Bemerkungen bei Hermanns.
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verhältnisse. Daher wird es für die Wirksamkeit und für die Folgen dieses Veränderns, Beseitigens, ins-Werk-Setzens auch verantwortlich gemacht. „Sein“ und „Sollen“ sind verschiedene Blickwinkel auf die „Sache“; sind verschiedene Formen des Umgangs mit der jeweils gleichen Materie „Sachproblem“, „Konfliktfall“, „Sachverhalt“. „Das“ Sollen (in sich selbst aufgehoben) gibt es nicht, auch nicht als Begriff von Etwas. Was es gibt, sind ungezählte „gesollte“ Vorschriften. Auch „das“ Sein gibt es nicht, aller innigen Bemühung vergangener Philosophie zum Trotz. Es gibt den und jenen Sachverhalt; und es gibt immer Einzelne oder Gruppen, die es dabei nicht belassen wollen; die gegen diese Sachverhalte gesprochenen und / oder geschriebenen Text mobilisieren, den wiederum Andere dann „dem“ Sollen zuschreiben möchten. Die Strukturierende Rechtslehre fragt, statt nach begriffsrealistischen Abstrakta, vielmehr realistisch: Was geht in der Rechtswelt wirklich vor sich? Was tun die Juristen wirklich? Sie fragt handlungsorientiert: Wie kann der in den Abstrakta und Universalia der Tradition enthaltene Anteil von Wahrheit operationalisiert, wie kann er für praktische Rechtsarbeit handhabbar gemacht werden? Dabei zeigt sich übrigens noch eine weitere Kreislaufbewegung (zu der allgemeinen etwa RNr. 158): Das „Sein“, das für die Zukunft verändert werden soll, ist seinerseits (ganz oder zum Teil) bereits anders, als es die zur Änderung schreitenden Akteure möchten – methodologisch drückt sich das im Unterschied von rechtserzeugten und nichtrechtserzeugten Daten aus. „Sein“ und ‚Sollen“ sind real immer schon gemischt und kreisen ihrerseits auf ihren Bahnen durch die Rechtswelt. Die Substantialisierung von Rechtsbegriffen und verbalen Normbestandteilen führt entgegen der rechtswissenschaftlichen Tendenz des Positivismus unkontrollierbare Quellen von Irrationalität in die Rechtspraxis ein. Die Untersuchung von Worten und logischen Figuren soll unmittelbar und abschließend zu Informationen über das rechtliche Wesen der benannten Gegenstände und ihrer Zusammenhänge führen. Gerade für positivistisches Streben nach Rationalität wäre es sinnvoller, die spezifisch juristischen Gebrauchsweisen der Begriffe und Normbestandteile statt ihnen geheimnisvoll innewohnende rechtliche Wesenheiten zu untersuchen269. Die Frage nach der Rolle der Wirklichkeit im Recht ist nicht dadurch lösbar, daß man sie eliminiert. Nicht nur Tatsachen sind aus sprachlichen Gebilden nicht ableitbar. Dasselbe gilt für rechtliche Entscheidungen; andernfalls müssen unausgesprochene Implikationen eingeführt werden, die als unkontrollierbare Fehlerquellen nicht nur die angestrebte formalistische Voraussetzungslosigkeit positivistischer Rechtsbehandlung, sondern auch Rationalität und Diskutierbarkeit der Rechtswissenschaft 269 Zu der entsprechenden Problematik für die Politikwissenschaft: Weldon. – Richtig wird festgehalten, daß mit dem hier entwickelten strukturierenden Konzept „auch eine rechtsphilosophische Überwindung des Dualismus von Sein und Sollen erstmals eigenständig – d. h. ohne Aneignung außerjuristischer Ansätze – in Angriff genommen wurde“; Gröschner I, S. 3. – Theoretisch progressiv auch Moor III, z. B. S. 137 ff.
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und Rechtspraxis im ganzen in Frage stellen. Für den Positivismus taucht dieses Problem deshalb nicht als bewußtes auf, weil er die von der Wirklichkeit unabhängig gedachte Norm mit ihrer sprachlichen Gestalt, weil er Norm und Normwortlaut gleichsetzt. Als metajuristisch gilt bereits alles, was als rechtlicher Sinn außerhalb des Normtextes erfaßbar ist. Dagegen zeigt bereits ein Blick auf die grammatische Auslegungsmethode – von den übrigen Interpretationsregeln hier zu schweigen –, daß sie schon mit der notwendigen Sinnunterscheidung zwischen rechtlichen Bedeutungen und homonymen Bedeutungen der Alltagssprache über den Normtext hinaus notwendig die Norm anzielt. Noch immer ist allerdings die Meinung, Norm und Normtext seien dasselbe, weit verbreitet. Sie muß auch noch in der verfassungsrechtlichen Methodik als herrschend bezeichnet werden. Unter „Methoden“ des Verfassungsrechts werden bis heute nicht die tatsächlichen Arbeitsweisen verfassungsrechtlicher Normkonkretisierung im umfassenden Sinn verstanden, sondern vor allem überlieferte Kunstregeln der Normtextinterpretation. Methodik gilt als Methodik der Auslegung von Sprachtexten. Doch ist eine Rechtsnorm mehr als der Wortlaut. Dieser drückt, da noch nicht interpretiert, noch nicht einmal den sogenannten Rechtsbefehl, das Normprogramm, aus. Gleichrangig und mitkonstitutiv zur Norm gehört jedoch auch der Normbereich, d. h. jener Ausschnitt sozialer Wirklichkeit in seiner Grundstruktur, den sich das vom Rechtsarbeiter aus der Interpretation sämtlicher Sprachdaten entwickelte Normprogramm als Regelungsbereich „ausgesucht“ (nicht- oder nur z. T. rechtserzeugter Normbereich) oder den es möglicherweise erst geschaffen hat (rechtserzeugter Normbereich). „Normbereich“ meint in diesem Zusammenhang nicht den gesamten Regelungssektor der Rechtsnorm, sondern nur einen Ausschnitt aus diesem. „Normbereich“ heißt die Grundstruktur des Sachbereichs der Rechtsnorm; also die Summe und der Zusammenhang der vom Juristen anhand des Normprogramms als mit diesem vereinbar und für die Fallösung wesentlich, damit zugleich als (mit-)normativ begründbaren Tatsachen des Sachbereichs. 86
Da die Norm mehr ist als ein sprachlicher Satz, der auf dem Papier steht, kann ihre „Anwendung“ sich nicht allein in Interpretation, in Auslegung eines Textes erschöpfen. Vielmehr handelt es sich um fallbezogene Konkretisierung dessen, was Normprogramm, Normbereich und die Eigenheiten des Sachverhalts an Daten liefern270. Aus dem Sachverhalt des Falls – sei er konkret zu entscheiden oder nur er270 Anders als hier übernimmt G. Hoffmann, S. 9 den Begriff „Normbereich“, den er definiert als „rechtliches Regelungsprogramm und zugleich als darauf bezogenen Ausschnitt gesellschaftlicher Wirklichkeit“. Ein Ineinssetzen von Normprogramm und Normbereich hält Hoffmann, ebd., für „sachgerechter“, da „der semantische Gehalt eines Normelementes … ohne den faktischen Kontext der Normanwendung nicht zu ermitteln“ sei. Das mag zwar zutreffen, doch scheint auch Hoffmann die Rechtsnorm als Ordnungsmodell zu begreifen, das sich aus Sprach- und Realdaten zusammensetzt. Dem hier vorgestellten rechts-(norm-) theoretischen Ansatz kommt es darauf an, Rechtserzeugung als strukturierten Vorgang zu beschreiben und praktisch nachvollziehbar zu gestalten. Für dieses Vorhaben, in dem der Jurist mittels Normtexten auf Normbereichselemente Bezug nimmt, haben sich die Arbeitsbegriffe „Normprogramm“, „Normbereich“ usw. und deren von der Strukturierenden Rechts-
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dacht – werden die Elemente als für den Fall wesentlich herausgehoben, die in den Normbereich passen und vom Normprogramm erfaßt werden; Normprogramm und Normbereich ihrerseits werden in demselben Vorgang der Bildung von Normhypothesen in Richtung auf den konkreten Fall gedeutet und dabei nicht selten modifiziert, klargestellt, fortentwickelt. Von wenigen an der Grenze liegenden Normtypen wie numerisch bestimmten Vorschriften abgesehen, ist das formallogische Verfahren des syllogistischen Schlusses für juristische Konkretisierung nie zureichend. Das gilt, wenn es nur genau genug untersucht und mit der hinreichenden methodischen Klarheit reflektiert wird, für die routinemäßige Verfassungs„anwendung“ sowohl in Wissenschaft und Rechtsprechung als auch in Gesetzgebung, Regierung und Verwaltung. Die Richtigkeit dieser Beobachtung ist nicht auf die Konkretisierung verfassungsrechtlicher Generalklauseln oder Standards beschränkt, wenn auch das Mißverhältnis zwischen der Leistungsfähigkeit formalistischer Schlußverfahren und den tatsächlichen Erfordernissen der Verfassungskonkretisierung bei den zuletzt genannten Normengruppen besonders ins Auge springt271. Jede mit Hilfe der natürlichen Sprache erfolgende Formulierung rechtlicher Sachverhalte oder normativer Rechtsfolgen ist zur Deskription oder zumindest zur Evokation gezwungen. Damit enthält sie unvermeidlich im Hinblick auf künftige Rechtsfälle unbestimmte Ausdrücke, ist insoweit konkretisierungsbedürftig. Hinweise auf die Richtigkeit oder Unrichtigkeit einer Konkretisierung müssen aber derselben, für den fraglichen Einzelfall erst zu erzeugenden Rechtsnorm bzw. ihrem systematischen Kontext mit andern Rechtsnormen entnommen werden. Schon aus diesem Grund kann Konkretisierung nicht wertungsfrei sein. Diejenige politisch oder auf andere Art motivierte Wertung, die sich in der Genese des zu bearbeitenden Normtextes ausdrückt, spielt daher meist auch im Vorgang der Konkretisierung eine gewisse Rolle. Beim Arbeiten mit juristischen Konstruktionsmethoden ist Wertung als eines neben andern Elementen gleichfalls nicht auszuschalten. Bei der Konkretisierung der sogenannten wertausfüllungsbedürftigen Rechtsbegriffe steht sie als Denkoperation im Vordergrund. Die wichtigste und umfangreichste Masse von Konkretisierungsfällen – sei es in Gesetzgebung, Regierung und Verwaltung, in Rechtsprechung oder Wissenschaft – kann redlicherweise nicht als „wertungsfrei“ bezeichnet werden272. lehre eingeführte Gebrauchsweise bewährt; es ist kein Grund ersichtlich, von ihnen abzuweichen. 271 Strache, S. 67 ff., 117, 121. 272 Podlech I. – Die h. L. geht nach wie vor vom Verleugnen des eigenständigen Charakters der Setzung von Entscheidungsnormen aus: Interpretation sei „Methode und Weg, auf dem der Richter den Inhalt einer Gesetzesbestimmung unter Berücksichtigung ihrer Einordnung in die gesamte Rechtsordnung erforscht“, übrigens angeblich „ohne durch den formalen Wortlaut des Gesetzes begrenzt zu sein“, BVerfGE 35, 263, 279 unter Hinweis auf E 8, 210, 221 und E 22, 28, 37. – Das Verdrängen der Entscheidungs-Elemente der juristischen Regelung gehört zu den Lebenslügen eines nur formalen Rechtsstaatsverständnisses: vgl. BVerfGE 34, 26 ff. („Soraya-Beschluß“), 287, wo selbst das aus „der verfassungsmäßigen Rechtsordnung als einem Sinnganzen“ (!) herauspostulierte (Richter-)Recht „zu finden“ und nicht etwa durch (rechts-)politische Entscheidung zu setzen sein soll. – Vgl. zum „Soraya-Beschluß“: Mül-
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2 Stand der Methodik – 22 Literatur
222.2 Zurück zu Savigny? 222.21 Kritik der „geisteswissenschaftlichen“ Methode 87
Der schärfste Angriff gegen Tendenzen in der gegenwärtigen Methodik des Verfassungsrechts, Kategorien wie „Wert“, „Wertordnung“ oder „Wertsystem“ zu Faktoren juristischer Konkretisierung zu machen, wird von einer Position aus geführt, die gegenüber der von ihr so genannten „geisteswissenschaftlichen“ Methode eine Rückkehr zu den „traditionellen Regeln der juristischen Hermeneutik“ im Sinn Savignys273 empfiehlt. Die Grundrechte stellten kein System dar, sondern setzten dem Staat Grenzen zum Schutz bestimmter besonders schutzwürdiger Individualfunktionen. Die Substituierung von Wert- und Systemvorstellungen für die Auslegung der Grundrechte sei außergesetzlich und außerjuristisch. Die Jurisprudenz „vernichte sich selbst“, wenn sie nicht unbedingt daran festhalte, „daß die Gesetzesauslegung die Ermittlung der richtigen Subsumtion im Sinne des syllogistischen Schlusses“ sei274. Durch das Aufkommen einer an materialen Gehalten ausgerichteten sinndeutenden Interpretation habe das Verfassungsgesetz an Rationalität und Evidenz verloren. Teilweise befinde es sich im Zustand der Auflösung. Der Auflösung des Verfassungsgesetzes in Kasuistik entspreche die Umbildung des Rechtsstaates zum Justizstaat. Im Hinblick auf die von ihm unterstellte Wertordnung mache sich der Richter immer mehr zum Herrn der Verfassung. Die Verfassung müsse wieder als Gesetz ernstgenommen werden. Die möglichen Methoden der Gesetzesauslegung seien festgelegt durch die logische Struktur des Gesetzes275. Auch die Verfassungsinterpretation dürfe unter keinen Umständen von der klassischen juristischen Methode der Gesetzesauslegung abgehen. Die von Savigny im Jahre 1840 formulierten Regeln seien nicht mehr und nicht weniger als das Werkzeug jedes Juristen; sie hätten längst vor ihrer Formulierung durch Savigny gegolten276. Noch heute seien sie, wenn auch mit nachlassender Genauigkeit, in den verhältnismäßig technischen Teilen der Verfassung, beispielsweise in den Regeln über das Verhältnis des Bundes zu den Ländern in Gesetzgebung und Verwaltung, wirksam. Auch im Verwaltungsrecht hätten sie das Feld noch nicht geräumt. Doch seien vor allem der Grundrechtsteil und sonstige „Einbrüche der sozialstaatlichen Interpretation“277 Einfallstore für die „geisteswissenschaftlich-werthierarchische Methode“. Wo der Wert in die Norm selbst verlagert werde, verwandle sich Normanwendung zu Wertverwirklichung, werde juristische Kunst zu anspruchsloser und geistesgeschichtlich überholter Wertphilosophie278. Von der durch solche Kritik prononcierten Position werde nicht eine ler XXII, S. 69 ff. u. 73 ff. Zum Problem des Richterrechts s. a. 222.32. – Obige Hervorhebung nicht im Original. 273 Forsthoff II, S. 39 f. – Zur Hermeneutik Savignys grundlegend Meder, S. 63 ff., 193 ff. 274 Forsthoff I, S. 41. 275 Forsthoff II, S. 39. 276 Forsthoff II, S. 39 f. 277 Forsthoff I, S. 51.
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Rückkehr zum Positivismus verlangt. Savigny sei kein Positivist gewesen. Rechtspositivismus werde durch zwei Gleichsetzungen bestimmt: durch die des Rechts mit dem positiven Recht und durch die aller Normen untereinander. Auch die Unhaltbarkeit der zweiten Gleichsetzung sei inzwischen allgemein einsichtig geworden. Die Verfassung sei ein politisches Gesetz. Niemand wolle behaupten, das Verfassungsgesetz müßte oder könnte ebenso ausgelegt werden „wie ein Gesetz über Fieberthermometer“. Die „eigentlichen Probleme“ begännen allerdings erst mit dieser Feststellung279. Diese Kritik ist später280 präzisiert worden: Der Hinweis auf Savigny sei nicht anders gemeint gewesen als dahin, „daß der geistige Prozeß der Auslegung die von Savigny bezeichneten Stadien jedenfalls durchlaufen müsse, ohne damit zu behaupten, daß das Kriterium der Entscheidung notwendig in diesen Stadien gefunden werden müsse“. Die normative Verwendung nicht allgemeinempirischer Begriffe wie „Menschenwürde“ und ferner der Wegfall der den Normen zugeordneten Normalität mit der Folge der Verunsicherung normativ verwendeter Begriffe seien Umstände, die die Subsumtion beeinträchtigen. Die großen sozialen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen, denen die Rechtsordnung Rechnung zu tragen habe, hätten der Subsumtion Grenzen gezogen281. Dieser Sachverhalt besage jedoch nichts für oder gegen die Subsumtion als Methode282 der Rechtsgewinnung. Es sei von Fall zu Fall zu ermitteln, ob Subsumtion im herkömmlichen Sinn möglich sei oder nicht. Es sei die Aufgabe, „nach Art Savignys dem modernen Verfassungsrecht gemäße Interpretationsstufen zu entwickeln“283.
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222.22 Zur Metakritik der „geisteswissenschaftlichen“ Methode Die von dieser Position vorgetragenen Thesen sind nicht widerspruchsfrei. Mit Recht wird gefordert, die Technizität des Verfassungsgesetzes im Dienst rechtsstaatlicher Normklarheit, Methodengewißheit und Rechtssicherheit durch das juristischer Arbeit überhaupt erreichbare Maß an Objektivität zu sichern. Zu Recht werden Tendenzen als mit dieser Zielvorstellung unvereinbar erklärt, die sich angesichts der gegenwärtig an die Verfassungsrechtsordnung gestellten Anforderungen mit der Substituierung von „Werten“, „Wertordnungen“ und „Wertsystemen“, mit der „Abwägung“ von Rechtsgütern oder „Interessen“ bzw. mit „Wertabwägung“ zu helfen suchen. Die Grenze zwischen freier Rechtsschöpfung und normtextgebundener Konkretisierung darf in der Tat um der Rechtsstaatlichkeit des vom VerfasForsthoff I, S. 41. Forsthoff II, S. 35 ff., 37. 280 Forsthoff III, S. 525. 281 Forsthoff III, S. 524 f. 282 Neuerdings zur Subsumtion als Methode Gabriel I, S. 1 ff.; Stekeler-Weithofer II, S. 43 ff.; Strauch, S. 335 ff.; Gröschner III, S. 421 ff. 283 Forsthoff III, S. 525. 278 279
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sungsgesetz und von den Verfassungsprinzipien grundgelegten Gemeinwesens willen nicht verwischt werden. Verfassungsverwirklichung darf nicht von der Konkretisierung der Verfassungsnormen, diese Konkretisierung nicht von nach Genese wie Darstellung kontrollierbarer, durchschaubarer und diskutierbarer Methodik gelöst werden. Die oben am Beispiel der Grundrechtskonkretisierung skizzierten Versuche, gegen Wortlaut und Systematik des Grundrechtsteils Schranken zu übertragen, Nichtstörungsschranken oder generelle materiale Gesetzesvorbehalte zu postulieren, mit Mißbrauchsurteilen oder Güterabwägungstechniken das von der entscheidenden Stelle im Einzelfall für wünschenswert oder vertretbar gehaltene Ergebnis in rational nicht hinlänglich auflösbaren und damit auch nicht hinreichend kontrollierbaren Verfahren zu erzielen, sind angesichts der normativen Ansprüche des Rechsstaatsprinzips des Bonner Grundgesetzes je nach dem Ausmaß ihrer Irrationalisierung und Verunsicherung verfassungsrechtlicher Methodik bedenklich bis unzulässig. 90
Auf der anderen Seite sind die von jener kritischen Position angedeuteten bzw. vorausgesetzten Vorstellungen nicht geeignet, den Aufweichungstendenzen rationaler verfassungsrechtlicher Methodik ein tragfähiges Gegenmodell entgegenzusetzen. Fragen der Konkretisierung lassen sich nicht durch „Anwendung“ fertiger Vorschriften, präexistenter Willensentscheidungen meistern; auch nicht – von Grenzfällen abgesehen – durch „Subsumtion“ und syllogistischen Schluß mit Hilfe der Savignyschen canones284. Es ist erkennbar, daß Savignys Interpretationsregeln nicht ausdrücklich für das Staats- und Verfassungsrecht formuliert worden sind285. Um so weniger lassen sich in den Grundrechten und in den meisten sonstigen Normen des „politischen Gesetzes“ Verfassung rein technisch erfaßbare Institute erblicken, deren Verwirklichung für Rechts(norm)theorie und Methodologie keine über das syllogistische Organon hinausreichenden Probleme aufwerfen soll. Die meisten Rechtssätze, vollends die Normen der Verfassung, genügen nicht entfernt den Anforderungen, welche die formale Logik an Obersätze zu stellen hat. Das Mißverständnis der Rechtsnorm als eines logifizierten hypothetischen Urteils, als eines mit seinem Sprachtext gleichzusetzenden Befehls, als eines syllogistisch traktierbaren Obersatzes wirft vom Vorgang praktischer Konkretisierung her die Frage nach einer angemessenen Fassung des Verhältnisses von Recht und Wirklichkeit auf, damit zugleich die nach einem tragfähigen Verständnis der Norm wie auch der Rechtswissenschaft als einer Normwissenschaft. Dadurch wird zugleich die Auffassung von der positiven Rechtsordnung als einem System berührt. Savigny versteht „System“ als Entwicklung der Rechtssätze und ihrer Begriffe durch Definition und durch auf diese reduzierbare Distinktionen286. Der spätere Gesetzespositivismus versteht „Sy284 So aber Forsthoff I, II; ferner z. B. Flume, S. 62 ff. Zur Kritik etwa Hollerbach; Ehmke II, S. 45 ff.; Ehmke III, S. 64; Lerche II, S. 690 ff.; Müller I; Hesse II, S. 19 ff. – Zur Diskussion und den Gesetzespositivismus vgl. weiter z. B. Larenz I, S. 19 ff., 69 ff.; Adomeit I, S. 176 f. („juristischer Determinismus“); Riebschläger, S. 19 ff. – Insoweit ähnlich dem hier entwickelten Konzept, erörtert Neumann XIII die „Subsumtion“ als regelorientierte Entscheidung von Rechtsfällen. – Riehm versucht, ihr die „Einzelfallabwägung“ einzugemeinden. 285 v. Savigny I, S. 2, 23, 39; II, S. 13.
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stem“ als eine geschlossene, lückenlose Vorgegebenheit von abstrakt verdinglichter Prägung, aus der es sich im Weg der Subsumtion formallogisch deduzieren läßt. Die Unzulänglichkeit dieses Verständnisses von Norm und Wirklichkeit auf der einen, von Normzusammenhang und System auf der andern Seite und schließlich von der Eigenart juristischen Arbeitens insgesamt hat sich hier schon bei der Betrachtung der Praxis heutigen rechtswissenschaftlichen Schrifttums und heutiger verfassungsgerichtlicher Judikatur ergeben. Nicht nur die Garantie der Unverletzbarkeit der Menschenwürde in Art. 1 Abs. 1 oder der Entfaltung der freien Persönlichkeit in Art. 2 Abs. 1 GG sind nicht „subsumierbar“; nicht nur solche Grundrechte, die als „objektive Wertordnung“ und im einzelnen als „Werte“ abwägend mißverstanden werden. „Subsumtion“ ist nicht erst im Zug der sozialstaatlichen Entwicklung unmöglich „geworden“. Noch nie war Rechtskonkretisierung und besonders Verfassungskonkretisierung durch formallogische syllogistische Schlüsse methodisch ausreichend zu beherrschen, sachlich ausreichend zu leisten. Noch nie vollzog sich Konkretisierung oder Verfassungskonkretisierung auf dem Weg naturwissenschaftlich-exakter, rein logischer Ableitung aus fertig und abgeschlossen vorfindlichen Rechtsbefehlen. Die Methodik des späteren Savigny – die des frühen weist positivistische Züge auf – ist selbst eine „geisteswissenschaftliche“ Methode, deren Hintergrund das Rechtsverständnis der historischen Rechtsschule bildet287. Die Verfassung als Gesetz ernst nehmen heißt, die Struktur ihrer Verwirklichung als Konkretisierung ernst nehmen. Das geschieht nicht, indem das Problem konkretisierender Wertung als nicht existent behauptet, sondern indem die Struktur von Konkretisierung rational aufgehellt und damit der Interpret in die Lage versetzt wird, die Maßstäbe für seine Wertungs- und Konkretisierungsoperationen den Anweisungen der Verfassung zu entnehmen. Neuere und neueste politische und soziale Entwicklungen lassen sich nicht für einen Wegfall der den Normen zugeordneten Normalität mit der Folge der Verunsicherung normativer Begriffe, somit nicht für einen vorgeblichen Abbau der „Subsumtions“fähigkeit des Verfassungsrechts verantwortlich machen. Gerade im Verfassungsrecht waren, solange es den modernen Verfassungsstaat gibt, die Auffassungen über verfassungsrechtliche Normen und ihre sozialen und politischen Hintergründe noch nie derart einhellig, daß auf einen Konsens einfach hätte zurückgegriffen werden können. Was für enger begrenzte, weniger grundsätzliche, technische und spezialisierte Rechtsgebiete der Fall sein mochte und noch heute der Fall sein kann, hat für das Verfassungsrecht noch nie gegolten. Auch die liberal-rechtsstaatliche Verfassung des deutschen 19. Jh. war nicht subsumierbar wie ein Gesetz über Fieberthermometer. Das liegt an der Funktion von Verfassungsrecht und an seiner mit ihr sachlich zusammenhängenden Struktur. v. Savigny II, S. 37. Das heißt nicht, hier werde eine „geisteswissenschaftliche“ Methodik entwickelt; vgl. etwa RNr. 191, 269, 423. – Nach Gröschner I, S. 3 überwindet erst das hier entwickelte Konzept „die Kluft zwischen der im Subsumtionsmodell selbständig anwendungsfähigen Norm auf der einen und dem modelltheoretisch ebenso selbständig subsumtionsfähigen Sachverhalt auf der anderen Seite“. 286 287
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2 Stand der Methodik – 22 Literatur
222.23 Zum theoretischen Hintergrund der Regeln Savignys 92
Hinzu tritt ein wissenschaftsgeschichtlicher und im engeren Sinn methodologischer Einwand. Savigny hat seine Auslegungsregeln für das Zivilrecht und das Kriminalrecht formuliert. Die Brauchbarkeit seiner canones für das Staats- und Verfassungsrecht ist bis heute nicht grundlegend überprüft worden. Faute de mieux wurden die canones von verfassungs- (und verwaltungs-)rechtlicher Praxis und Lehre übernommen. Daher ist für verfassungsrechtliche Methodik die Rückwendung zu Savigny prekär. Die Berufung auf seine Regeln für das Verfassungsrecht kann sich jedenfalls nicht auf Savigny berufen. Dazu kommt, daß die von herrschender Meinung und Praxis als klassisch ausgegebenen Interpretationsaspekte, auf die sich auch das Bundesverfassungsgericht in programmatischen Bekenntnissen zurückziehen will, bei Savigny zum Teil anders umschrieben und teilweise abweichend beurteilt werden. Der frühe Savigny bezeichnet als Aufgabe der Interpretation die „Rekonstruktion des Gedankens, der im Gesetz ausgesprochen wird, insofern er aus dem Gesetz erkennbar ist“. Der Interpret müsse sich „auf den Standpunkt des Gesetzgebers setzen und so künstlich dessen Ausspruch entstehen lassen“. Die Interpretation müsse, um dahin zu gelangen, mit vier Mitteln arbeiten: dem logischen, dem grammatischen, dem historischen und dem systematischen288. Extensive und restriktive Interpretation, also eine Auslegung, die den Wortlaut des Gesetzes gemäß seinem Zweck erweitert oder einschränkt, wird abgelehnt. Nach Savigny darf der Gesetzeszweck nicht selbst wie eine Regel angewandt werden. Der Interpret darf das Gesetz nicht fortbilden. Er darf es nur nachvollziehen : „Eine Vervollkommnung des Gesetzes ist zwar möglich, allein bloß durch den Gesetzgeber, nie durch den Richter darf sie vorgenommen werden“289. Savigny verwirft damit ausdrücklich die sogenannte teleologische Interpretation, die von der herrschenden Meinung zu den „klassischen Methoden“ gerechnet und in der Praxis wegen ihrer „zweck“elastischen Geschmeidigkeit bevorzugt wird290.
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Der spätere Savigny, der den „Volksgeist“, die gemeinsame Rechtsüberzeugung des Volkes statt des positiven Gesetzes als die eigentliche Rechtsquelle ansieht291, spricht in seinem „System“ von 1840 den Rechtsnormen – unbeschadet ihrer begrifflichen Ausarbeitung – „in der Anschauung des Rechtsinstituts ihre tiefere Grundlage“ zu292. Er beschränkt das begriffliche Denken auf die Erfassung der unumgänglichen abstrakten Rechtsregeln in der Weise der formalen Logik. Damit eröffnet er einen Weg, der, wenn auch nicht immer gradlinig, über Puchta293, Jhe-
v. Savigny II, S. 18, 19, 32. v. Savigny II, S. 43. 290 Die Ablehnung der Zweckauslegung gilt nach Savigny für den gesunden Zustand des Gesetzestexts, nicht aber für seinen mangelhaften. In dieser Situation ist die Zweckauslegung für ihn dann sinnvoll. Vgl. dazu Rückert X, S. 54 f. 291 Vgl. dazu auch Rückert X, S. 68. 292 v. Savigny I, S. 9. 288 289
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ring und Gerber zu Laband führt. Dagegen vermochte er sein eigentliches Anliegen, gegenüber den einzelnen Rechtsregeln das durch Anschauung erfaßbare Rechtsinstitut als ein Sinnganzes in den Vordergrund zu rücken, auf dem Weg methodischer Differenzierung nicht hinreichend klar zu machen. Die Rechtsnormen sollen nach ihm nicht aus sich verstanden werden können, sondern nur aus der Anschauung des Rechtsinstituts, das dem Gesetzgeber beim Akt der Legislation als „organisches“ vorschwebte, aus dem er durch einen „künstlichen Prozeß die abstrakte Vorschrift des Gesetzes bilden“ mußte. Der Interpret soll „durch einen umgekehrten Prozeß den organischen Zusammenhang hinzufügen, aus welchem das Gesetz gleichsam einen einzelnen Durchschnitt darstellt“294. Die konstitutive Rolle des Sachbestandteils rechtlicher Vorschriften, die Strukturierung der Rechtsnorm nach Normbereich und Normprogramm, ist der Sache nach in dieser genetischen Beschreibung angedeutet. Diese Seite seines späteren Ansatzes findet sich jedoch im „System“ von 1840 weniger deutlich ausgearbeitet als die dann zum Positivismus und zur konstruktiven Begriffsjurisprudenz führende. Wie in der Frühschrift gibt Savigny auch im „System“ vier Auslegungsarten an: die grammatische, die logische, die historische und die systematische. Nicht im Gesetzespositivismus, wohl aber noch bei Savigny ist die Einsicht leitend, daß diese Gesichtspunkte weder je selbständig noch scharf umgrenzbar sind. Vor aller positivistischen Verdinglichung und Verhärtung der canones bezeichnete Savigny die grammatischen, logischen, historischen und systematischen Hilfsaspekte ausdrücklich nicht als „Arten der Auslegung“, sondern als „Elemente“ eines einheitlichen Auslegungsvorgangs, als „verschiedene Tätigkeiten, die vereinigt wirken müssen, wenn die Auslegung gelingen soll“. Ihr gegenseitiges Verhältnis richtet sich bei ihm nach der sachlichen Eigenart des zu entscheidenden Falls295. Ausdehnende wie einschränkende Auslegung werden nunmehr zur Berichtigung eines mangelhaften Ausdrucks im Normtext zugelassen. Der Gesetzeszweck wird auch jetzt noch als „vom Inhalt des Gesetzes getrennt“296 vorgestellt. Seine Verwendung im Geschäft der Auslegung soll, wenn auch „nur mit großer Vorsicht“297, zulässig sein. Bei Unbestimmtheit des im Normtext enthaltenen Ausdrucks sollen der „innere Zusammenhang der Gesetzgebung“ und – soweit nachweisbar – der spezielle Zweck des Gesetzes herangezogen werden. Ist ein solcher nicht belegbar, so darf auf einen „allgemeinen Grund“ im Sinn des später so genannten „allgemeinen Rechtsgedankens“ zurückgegriffen werden298.
293 Vgl. zu den Kontinuitäten und Unterschieden im Ansatz Puchtas gegenüber Savignys: Haferkamp, S. 73 ff., insbesondere 80 f. 294 v. Savigny I, S. 44. 295 v. Savigny I, S. 212 ff., bes. 213, 215, 320. 296 v. Savigny I, S. 218. 297 v. Savigny I, S. 220. 298 v. Savigny I, S. 228.
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2 Stand der Methodik – 22 Literatur
222.24 Heutige Methodenfragen und die canones 95
Daß die Savignyschen Auslegungsregeln für die Bewältigung heutiger Verfassungskonkretisierung in Rechtsprechung und Wissenschaft, in Gesetzgebung, Regierung und Verwaltung nicht ausreichen, ist nicht verwunderlich. Gerade im Verfassungsrecht ist der Grad der den Normtexten möglichen begrifflichen Genauigkeit eher begrenzt. Die Verschränkung des allgemeinen und eines speziell verfassungsjuristischen Sprachgebrauchs ist angesichts der historischen und politischen Bedeutungskomponenten typisch verfassungsnormativer Begriffe eine Quelle zusätzlicher Schwierigkeiten. Hinzu kommt die vom Bundesverfassungsgericht299 festgehaltene Notwendigkeit, verfassungsrechtliche Begriffe funktionsdifferent zu interpretieren. Systematische Interpretation ist wegen der grundlegenden, dem Anspruch nach die gesamte Rechtsordnung tragenden Aufgabe des positiven Verfassungsrechts verschärft der Zweideutigkeit einer formalen Einordnung der einzelnen Normen oder ihrer sachlichen Einordnung in den Gesamtzusammenhang des geltenden Verfassungsrechts ausgesetzt. Teleologische Interpretation stößt bei der Frage nach den „Zwecken“ verfassungsrechtlicher Vorschriften auf um so breitere und um so weniger greifbare und rational darstellbare Komplexe von Vorstellungen, Wertungen und Tendenzen, als die zu konkretisierenden Verfassungsnormen – gerade wegen ihrer Qualität als Verfassungsrecht – viel breitere und häufig viel weniger technisch spezialisierte Normbereiche aufweisen als Vorschriften des Unterverfassungsrechts. Verfassungsrecht mindert nach seiner Struktur und Funktion die Brauchbarkeit der überlieferten Kunstregeln der Normtextinterpretation und stellt den praktischen Juristen vor eine Reihe zusätzlicher Grundprobleme und Einzelschwierigkeiten. Die Verfassungspraxis zeigt, daß die grammatische, die systematische und in noch stärkerem Maß die teleologische Auslegung gezwungen sind, auf verschiedene Weise über den Normtext, seinen Kontext und über positivrechtliche Anhaltspunkte für den aufzufindenden Normzweck hinauszugehen. Insoweit können am allerwenigsten Verfassungsnormen von juristischer Praxis als formalisierte Obersätze syllogistischer Schlußverfahren behandelt werden. Die Bedingtheit des genetischen Gesichtspunkts schließlich zeigt sich im Verfassungsrecht nicht minder als in andern Rechtsdisziplinen. Wegen der engen Verbindung des Verfassungsrechts mit geschichtlich-politischer Entwicklung und mit grundlegenden politischen Umbrüchen ist auch das Heranziehen der historischen Interpretationsargumente von einiger Delikatesse. Nicht zuletzt am Verfassungsrecht erweisen sich Savignys Auslegungsregeln als Aspekte, die nicht allgemeingültige „Methoden“, sondern Hilfsgesichtspunkte von je nach der Eigenart der zu konkretisierenden Rechtssätze wechselnder Ergiebigkeit darstellen. Sie sind im formal-logischen Sinn nicht systematisierbar. In der Praxis werden sie vielfach unausgesprochen als Sammelbegriffe für Aspekte verschiedenster, im einzelnen nicht klargestellter und insoweit auch nicht konstrollierbarer Herkunft verwendet. Die canones teilen das vom Positivismus verkannte Schicksal der Gesamtrechtsordnung, nicht als geschlossenes und abschließendes 299
BVerfGE 6, 32, 38 u. ö.
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System anwendbarer Vorgegebenheiten verstanden werden zu können300. Bei technisch-spezialisierten Rechtssätzen mit rechtserzeugten Normbereichen mag die positivistische Vorstellung naheliegen. Angesichts von Rechtsnormen mit komplexeren und ganz oder zum Teil nichtrechtserzeugten Normbereichen, wie vor allem den Vorschriften der Verfassung, ist sie praktisch nicht belegbar. Das gilt schon deshalb, weil Savignys Auslegungsregeln auch außerhalb des Verfassungsrechts als formallogische Instrumente verkannt wären. Wenn in grammatischer Auslegung zwischen mehreren Gebrauchsweisen der verwendeten Begriffe, zwischen alltäglicher und juristischer bzw. zwischen verschiedenen juristischen Bedeutungen differenziert und entschieden werden muß, so ist das nur dann möglich, wenn die grammatische „Methode“ nicht den Normtext, sondern die Norm anzielt. Ohne deutende Vorwegnahme des möglichen rechtlichen Normsinns, die über „grammatische“, über philologische Deutung hinausgeht, ist schon in diesem Abschnitt der Konkretisierung eine Entscheidung nicht möglich301. Der historische Aspekt ist in der Rechtspraxis vielfach auf wenig geklärte Weise mit genetischen und teleologischen Überlegungen vermengt302. Die systematische Auslegung kann ohne zusätzliche Hilfsaspekte zumeist nicht zwischen den differenten Gesichtspunkten der Textformsystematik, der Sinn- und der Sachsystematik wählen. Die teleologische Auslegungsweise ist praktisch kaum mehr als ein Sammelbegriff für Wertungen verschiedenster Herkunft, für ein sachlich wie normativ nicht mehr begrenzbares Feld von Auslegungsmöglichkeiten. Diese pflegen an der Vertretbarkeit und Wünschbarkeit des Entscheidungsergebnisses ausgerichtet zu werden. „Ratio“, „telos“, „Sinn und Zweck“ sind in der Regel nicht mehr als eine Metapher für das, was als Resultat angestrebt wird. Mit solchen Zielbegriffen allein sind kontrollierbare Schritte der Entscheidungsfindung und Entscheidungsdarstellung nicht zu leisten. Die Rechtspraxis zeigt, wie nahe die Gefahr verbaler Täuschungen über die entscheidenden Rechtsfragen wie über die eigentliche Motivierung des Rechtsfindungsprozesses durch teleologische Leerformeln liegt. Es ist deutlich geworden, daß Savigny303 unter Gesichtspunkten der Transparenz die Auslegung aus der ratio legis nur in ganz engen Grenzen für zulässig bezeichnet hat.
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Die überlieferten methodischen Hilfsgesichtspunkte sind unvollständig und unfertig. Sie können nicht „auf“ einen Rechtsfall „angewendet“, sondern nur mit diesem sowie mit dem Entscheidungspotential der zu bildenden Rechtsnormen und einer Reihe anderer Konkretisierungsaspekte in einem komplexen Vorgang vermit-
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300 Gegen die Konzeption von der Rechtsordnung als einem geschlossenen System schon Jellinek, z. B. S. 353, 358; gegen die Vorstellungen von Subsumtion, Anwendung, Syllogismus: Esser II, z. B. S. 220, 238, 253 f., 261; Ehmke III, S. 55 f.; Bäumlin I, S. 36; Kaufmann I, S. 380 f., 387 ff.; Kaufmann II, S. 37 ff. – Die canones sind hier jedoch nicht „generell (!) einem überholten positivistischen Methodenverständnis zu(ge)ordnet“; so aber Buchwald II, S. 17; Hervorhebung nicht im Original. 301 Zur „sprachlichen“ Auslegung auch Leisner, S. 641 ff., 644. 302 Esser II, S. 176 f. 303 v. Savigny I, S. 216 ff., bes. 217, 220.
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telt werden. In der Erfahrung der Rechtspraxis erweisen sich weder der zu lösende Fall noch die Interpretationshilfen noch auch die Rechtsnorm als abgeschlossen und vorgegeben. Schon deshalb sind Rechtsauslegung und Rechtsfortbildung nicht zuverlässig zu trennen. Die Normähnlichkeit schöpferischer Konkretisierung, von der das Bundesverfassungsgericht spricht304, stellt auch bei der striktesten Normbindung der Verfassungskonkretisierung, die der Rechtspraxis und Rechtswissenschaft möglich ist, das herkömmliche positivistisch-systematische Verständnis des Staatsund Verfassungsrechts in Frage. 222.25 Zur Gesetzesform der Verfassung 98
Die Gesetzesform der Verfassung ist aus all diesen Gründen nicht einfach identisch mit der Gesetzesform sonstiger Gesetze. Der Terminus „Gesetzesform“ trifft sprachlich undifferenziert sehr verschiedene Typen von Normstruktur, damit auch verschiedene Grade von Konkretisierungsanforderung. Die Beschränkung auf herkömmliche Kunstregeln der Normtextinterpretation würde verdecken, daß mit solchen Mitteln allein kein komplexeres, möglicherweise überhaupt kein verfassungsrechtliches Rechtsproblem von Gewicht lösbar ist. Bei verfassungsrechtlichen Grundsatznormen und Grundrechten schließlich sind die Mittel herkömmlicher Auslegung – positivistisch für sich genommen – in der Regel erschöpft, noch bevor man sie anwendet. Die Formtypik der Verfassung ist bereits eine formulierte Typik sachlicher Gehalte, Forderungen, politischer Programme und Bestrebungen, rechtlicher Positionen, staatsbezogener Theoriebildungen usw. Die Beschränkung des Blicks auf ihre Sprachgestalt und auf eine verbale Systematik verstellt den Zugang zu den normierten Sachgehalten und damit zur normativen Sachhaltigkeit des positiven Verfassungsrechts. Es wird nicht das Mögliche zur Pflicht, sondern das Unmögliche zum Postulat, wenn die Verfassung als „evidentes“ Normengefüge gesehen wird, das in seiner auf die Sprachgestalt beschränkten Technizität mit Savignys Regeln der Textauslegung hinreichend konkretisierbar sein soll.
222.3 Neue Ansätze verfassungsrechtlicher Methodik 222.30 Die Art der Ansätze 99
Die Untersuchung der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts hat gezeigt, daß die neuere Entwicklung der verfassungsrechtlichen Methodik zwar noch keine herrschende Gesamtkonzeption, wohl aber eine Reihe zusätzlicher Einzelgesichtspunkte praktischer Verfassungskonkretisierung in die Debatte gebracht hat. Unter ihnen sind der Grundsatz verfassungskonformer Auslegung und der Gesichtspunkt der „Natur der Sache“ in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung schon genannt 304 BVerfGE 13, 318, 328; 15, 226, 233; vgl. auch Esser II; Wieacker II; Kaufmann I, S. 387 ff.; Geiger, z. B. S. 174 f., 242 ff., 246, 250 f.
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worden. Andere Aspekte betreffen das Richterrecht im Verfassungsrecht, institutionelle Deutungsversuche der Grundrechte, das Problem topischer Rechtsfindung, den Wirklichkeitsgehalt verfassungsrechtlicher Normen und ihrer Konkretisierung, das Verfahren der Bildung von Normhypothesen sowie eine Reihe einzelner Prinzipien der Verfassungsinterpretation. 222.31 Verfassungskonforme Gesetzesauslegung Nach diesem Grundsatz ist eine Gesetzesnorm immer so auszulegen, daß sie mit 100 den Grundsätzen der Verfassung im Einklang steht. Bei mehreren Möglichkeiten der Normauslegung soll diejenige maßgeblich sein, bei der die gesetzliche Regelung mit der Verfassung konform geht. Der Grundsatz verbindet somit Normtextauslegung mit Normenkontrolle305. Die Kontrollfunktion von Verfassungsnormen ist geläufig, prozessual allerdings auf bestimmte formalisierte Verfahren beschränkt. Ebenso geläufig ist die Heranziehung anderer Vorschriften zur Konkretisierung einer bestimmten Norm im Weg der systematischen Auslegung; nicht herkömmlich dagegen das Heranziehen von Verfassungsnormen zur Bestimmung des Inhalts von Gesetzesvorschriften. Daher kann der Grundsatz verfassungskonformer Auslegung schwerlich als zu den bisherigen Interpretationsgesichtspunkten prinzipiell gleichartig hinzutretend angesehen werden. Er geht über systematische Auslegung im üblichen Sinn insofern hinaus, als nicht nur formsystematisch bzw. sachsystematisch korrespondierende Verfassungsnormen herangezogen werden sollen, sondern als die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit der zu konkretisierenden Gesetzesvorschrift im Hinblick auf eine durchgehende Verfassungskonformität in die Konkretisierung eingebracht werden soll. Dagegen bedeutet das Einführen dieses Grundsatzes nicht die „Rückkehr zu einem längst überwundenen Methodenmonismus“306, nicht eine absolute Vorrangstellung des Aspekts der Verfassungskonformität. Methodisch bleibt der Gesichtspunkt verfassungskonformer Auslegung nur eines unter mehreren Konkretisierungskriterien, das die herkömmlichen nicht im Sinn einer Rangabstufung vergewaltigt. Das träfe allerdings dann zu, wenn die Praxis die Frage der Maßgeblichkeit der Kriterien ohne Rücksicht auf die Struktur der zu konkretisierenden Norm und auf die des zu entscheidenden Falles ausschließlich unter dem Konformitätsgesichtspunkt beurteilen würde. Hier wären die Grenzen rechtsmethodisch verantwortbarer (d. h. „vertretbarer“) Konkretisierung überschritten. Demgegenüber muß der Grundsatz verfassungskonformer Gesetzesauslegung „methodenkonform“ verwendet werden: Er wird erst dann ins Spiel gebracht, wenn sich mit Hilfe der herkömmlichen und sonstiger Hilfsmittel der Konkretisierung ver305 Vgl. zu den demokratietheoretischen Aspekten richterlicher Normenkontrolle in der amerikanischen Diskussion: Hasel, S. 247 ff.; Alexander, S. 277 ff.; Spector, S. 285 ff. 306 Burmeister, S. 63 f. – Vgl. die eingehende Darlegung des Verhältnisses verfassungskonformer Auslegung zu den herkömmlichen Methoden bei Göldner I, S. 43 ff., 47 ff. – Zur Rolle verfassungskonformer Auslegung für die und in der Demokratie s. F. Müller XL, S. 21 ff., 25 ff.; ebd., S. 26 f. zu „Eindeutigkeit“.
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schiedene nebeneinander stehende Deutungsvarianten der fraglichen Norm herausgestellt haben. Die Tatsache, daß dies überhaupt möglich (und außerdem signifikant häufig) ist, belegt einmal mehr, daß „die durch eine bestimmte Auslegung konkretisierte Normvariante“ (BVerfGE 40, 88, 93) in aller Regel im Plural vorkommt, nämlich in der Mehrzahl demokratisch-rechtsstaatlich, weil methodisch vertretbarer Bedeutungs- und damit Entscheidungsoptionen. Ein-Eindeutigkeit und „die einzig richtige Entscheidung“ sind im Recht zumeist Chimären, bleiben virtuell. Die Verfassungsjustiz widerspricht ihrer entgegengesetzten, noch der Tradition verpflichteten Haltung zur „einzig richtigen“ Entscheidung, zur „wahren“ Bedeutung selber: „Ziel jeder Auslegung ist die Feststellung des Inhalts einer Norm, wie er sich aus dem Wortlaut und dem Sinnzusammenhang ergibt, in den sie hineingestellt ist“. Gerade die systematische Stellung einer Vorschrift im Gesetz könne „ihre wahre Bedeutung freilegen“. Das ungewollte Dementi dieses Glaubensbekenntnisses folgt jedoch auf dem Fuß: „Sind aber zwei verschiedene Deutungen einer Norm möglich, so verdient diejenige den Vorrang, die den Wertentscheidungen der Verfassung entspricht“ (BVerfGE 35, 263, 278 ff., stellvertretend für die ständige Rechtsprechung). Zwei oder mehrere Entscheidungen (d. h. mehr als nur eine einzige) sind im Rechtsstaat des Grundgesetzes somit „möglich“, d. h. plausibel begründbar. Nicht nur bildet das, wie oben gesagt, die Basis für das Institut der verfassungskonformen Interpretation; sondern es demontiert auch die vorangehenden höchstrichterlichen Sätze über die „wahre Bedeutung“ einer Vorschrift, über den „Inhalt einer Norm“ und darüber, dass dieser einer bloßen „Feststellung“ zugänglich sei. In der Praxis geht es vielmehr um einen Semantisierungs- und Argumentationsvorgang, wie ihn die hier vorliegende Methodik realistisch zu erfassen unternimmt. Dieses vom Gericht eingeräumte „möglich“ darf unter dem Grundgesetz nur als am Maßstab von Verfassung und Gesetz vertretbar gelesen werden. Selbst an jener berüchtigten Stelle des „Soraya“-Judikats (E 34, 269, 287), die einen Höhepunkt nicht nur überflüssiger, sondern auch irreleitender Rhetorik darstellt, hält das Bundesverfassungsgericht zuletzt doch am harten Kern der Vertretbarkeit der Entscheidung fest, und das zu Recht: sie „muss auf rationaler Argumentation beruhen“. Bei der Erarbeitung der so gebildeten, zunächst nebeneinander stehenden Deutungsvarianten sind die „normalen“ methodischen Mittel einzusetzen. Der Aspekt der Verfassungskonformität würde dann nur, von der Entscheidung her gesehen, die Ergebnisfähigkeit dieser Interpretationsmittel für abweichende Lösungsalternativen im Einzelfall beschneiden. Das verfassungskonforme Ergebnis ist aber in jedem Fall mit den normalen Konkretisierungsinstrumenten gewonnen worden. Auch die zugleich als Kontroll- wie als Sachnormen heranzuziehenden Verfassungsvorschriften müssen mit Hilfe aller zur Verfügung stehenden Gesichtspunkte konkretisiert werden. Auf solche Weise stellt der Aspekt verfassungskonformer Gesetzesauslegung nicht ein eigentliches Konkretisierungskriterium dar, sondern eine Vor-
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zugsregel für die Entscheidung zwischen verschiedenen, mit den üblichen Konkretisierungshilfen erarbeiteten alternativen Ergebnissen. Die Grenzen des Verfahrens sind funktionellrechtlicher Art. Sie betreffen das Ver- 101 hältnis der Verfassungsgerichtsbarkeit zu den übrigen Gerichtsbarkeiten und zur Gesetzgebung. Mit seinem Ansatz, durch Vermutung der Verfassungsmäßigkeit demokratisch zustandegekommener Gesetze deren Nichtigerklärung nach Möglichkeit zu vermeiden, betont das Verfahren den Vorrang des Gesetzgebers bei der Konkretisierung der Verfassung und verlangt richterliche Zurückhaltung. Die verfassungskonforme Auslegung findet ihre Grenze am Wortlaut des Normtextes. Diese Grenze ist verletzt, wenn die mit Hilfe der verfassungskonformen Auslegung gewählte Verständnisvariante auf eine Korrektur des vom Gesetzgeber geschaffenen Normtextes hinausläuft307. Eine solche Korrektur ist Aufgabe des Gesetzgebers. Wird sie kurzerhand – eben durch „verfassungskonforme Auslegung“, die ihre Grenzen überschreitet – vom Gericht ausgeführt, so greift dies noch stärker als eine Nichtigerklärung in legislatorische Kompetenzen ein. Das Bundesverfassungsgericht verwendet in solchen Fällen die Formel, die gewählte Interpretation müsse eine nach anerkannten Auslegungsgrundsätzen „mögliche“ sein.308 Die Grenzen sollen sich somit aus dem „ordnungsgemäßen Gebrauch“ der anerkannten Methoden ergeben.309 Das Gericht nennt dies eine methodische Grenze und unterscheidet sie von der Wortlautgrenze310 (die dabei noch immer mit der Konkretisierungsleistung der grammatischen Auslegung gleichgesetzt wird). Weil aber Sprache als einzige Grenze diejenige der Verständlichkeit hat, muß man folgerichtig die Wortlautgrenze als methodische Grenze verstehen. Genauso wird sie vom Gericht – der Sache nach – auch verwendet. So scheitert etwa die verfassungskonforme Auslegung eines beamtenrechtlichen Gesetzes (stillschweigend vorausgesetzter Antrag auf Teilzeitbeschäftigung) an der systematischen Auslegung des Beamtenrechts. Auch diese Argumentation311 arbeitet methodisch mit sprachlichen Zusammenhängen, wenn auch nicht rein grammatisch. Um eine Grenze in der Sprache des Rechts ziehen zu können, braucht man alle im Entscheidungsfall aussagekräftigen Konkretisierungselemente. Sonst wird nämlich ein Quasi-Normtext an die Stelle des amtlichen Normtextes gesetzt. Das positive Recht ermächtigt das Gericht dagegen nur dazu, in den dafür vorgesehenen Fällen amtliche Normtexte als verfassungswidrig zu annullieren312. BVerfGE 119, S. 247 ff., 274. BVerfGE 69, S. 1 ff., 55; 119, S. 247 ff., 274. Zu den Grenzen der verfassungskonformen Auslegung vgl. auch BVerfGE 130, S. 372 ff., 398. 309 BVerfGE 119, S. 247 ff., 274. 310 BVerfGE 119, S. 247 ff., 275. 311 BVerfGE 119, S. 247 ff., 275 ff. 312 Hesse II, S. 30 f. Die funktionellrechtlichen Grenzen sind etwa in BVerfGE 9, 194, 199 f. überschritten. Zu funktionellrechtlichen Grenzen verfassungskonformer Gesetzesauslegung: BVerfGE 34, 165 ff. (Elternrecht – obligatorische Förderstufe in Hessen), S. 199 f. – Vgl. zur Spannungslage zwischen Wortlaut und verfassungskonformer Auslegung: BVerfGE 30, 83 ff., 88 ff. – Instruktiv zum Streit über das Einhalten der funktionellrechtlichen Grenzen 307 308
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2 Stand der Methodik – 22 Literatur
Das Bundesverfassungsgericht setzt sich in unzulässiger Weise an die Stelle des Gesetzgebers, wenn es die zu prüfende Norm mit dem Ziel, ihre Verfassungsmäßigkeit zu „retten“, (1) gegen ihren methodisch korrekt zu ermittelnden Aussagewert oder (2) kurzerhand durch die von einer Prüfungs- zu einer Bestimmungsnorm umfunktionierte Verfassungsvorschrift interpretiert. (3) Würde das Gericht dagegen von mehreren methodisch vertretbaren Verständnismöglichkeiten nur eine, nämlich die verfassungswidrige seiner Entscheidung zugrundelegen, so schnitte es auf andere unzulässige Art die funktionelle Zuständigkeit der Legislative ab. Daraus ergibt sich, positiv gewendet: korrekte verfassungskonforme Gesetzesauslegung bewegt sich genau in dem der Verfassungsgerichtsbarkeit funktionell zugewiesenen Rahmen; die Grenzen des Verfahrens, „verfassungskonform“ zu interpretieren, sind nicht methodischer Art, sondern ergeben sich, wie so häufig in der juristischen Methodik, aus dem geltenden Recht (hier: aus Funktionsverteilung und Kompetenzzuweisung). Entsprechend lautet die Definition des Verfassungsgerichts für die verfassungskonforme Auslegung wie folgt: „Das Gebot verfassungskonformer Gesetzesauslegung verlangt, von mehreren möglichen Normdeutungen, die teils zu einem verfassungswidrigen, teils zu einem verfassungsmäßigen Ergebnis führen, diejenige vorzuziehen, die mit dem Grundgesetz im Einklang steht. Eine Norm ist daher nur dann für verfassungswidrig zu erklären, wenn keine nach anerkannten Auslegungsgrundsätzen zulässige und mit der Verfassung zu vereinbarende Auslegung möglich ist. Lassen der Wortlaut, die Entstehungsgeschichte, der Gesamtzusammenhang der einschlägigen Regelungen und deren Sinn und Zweck mehrere Deutungen zu, von denen eine zu einem verfassungsmäßigen Ergebnis führt, so ist diese geboten.“313
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Im Verhältnis der Verfassungsgerichtsbarkeit zu den übrigen Gerichtsbarkeiten314 stellt sich die Frage nach der primären Kompetenz zur Gesetzeskonkretisierung. einer verfassungskonformen Auslegung ist BVerfGE 33, 52 ff. (Film-Verbringungsverbot – „Der lachende Mann“): einerseits S. 65 ff., 69 f., andererseits die Abweichende Meinung, ebd., S. 78 ff., 82 f.: Unterlegen „eines anderen normativen Gehalts“ über die Grenze hinaus, wo die Auslegung „mit dem Wortlaut und dem klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers in Widerspruch treten würde“, 83. – Die funktionelle Grenze verfassungskonformer Auslegung (wegen eines „eindeutigen“ Wortlauts) hält auch BVerfGE 38, 41 ff. (Versicherungspflicht in der Angestelltenversicherung), 49 fest; um funktionelle Zurückhaltung bemüht sich ferner z. B. BVerwGE 44, 188 ff. (Wahlkampfkostenerstattung) – zur Verfassungswidrigkeit des § 18 PartG aber BVerfGE 41, 399 ff. Vgl. auch BVerfGE 95, 64, 93; 95, 246, 258. – Andererseits kommt nach der Judikatur bei einem „unbestimmten“ Normtext eine verfassungskonforme Interpretation „nicht in Betracht“, weil in einem solchen Fall kein „Regelungskern“ auf „einen erklärten objektivierten Willen des Gesetzgebers zurückgeführt werden“ könne; so BVerfGE 107, 104, 128 f. (zu § 51 Abs. II JGG). 313 BVerfGE 119, S. 247, 274.
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Das Grundgesetz richtet in den Art. 95 und 96 GG Gerichtsbarkeiten ein, denen die Interpretation einfacher Gesetze grundsätzlich zugeteilt ist. Dem Bundesverfassungsgericht wird mit der Normenkontrolle in Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 und Art. 100 Abs. 1 GG der Sache nach auch die Interpretation einfacher, an der Verfassung kontrollierend zu messender Gesetze übertragen. Demgemäß beansprucht das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung die Befugnis zur Interpretation einfacher Gesetze unter dem Gesichtspunkt ihrer Verfassungsmäßigkeit315. Es hat jedoch zum einen die – allerdings weder insgesamt noch im Einzelfall eindeutig zu ziehende – Grenze zwischen Verfassungskontrolle und Super-Instanzrechtsprechung in Zivil-, Straf- und Verwaltungssachen zu wahren. Auf der andern Seite ließe sich die Zulässigkeit des Verfahrens verfassungskonformer Gesetzesauslegung möglicherweise mit der These in Frage stellen, dem Bundesverfassungsgericht sei die Befugnis zu verbindlicher Interpretation des Gesetzes nur für die formalisierten Verfahren der Normenkontrolle übertragen und in deren Rahmen nur für den Einsatz von Verfassungsnormen als Kontrollnormen, nicht zugleich auch als Sachnormen zur Bestimmung des Inhalts einfacher Gesetze. Aus solchen und verwandten Bedenken ist vorgeschlagen worden, den Grundsatz 104 verfassungskonformer Auslegung als normtexterhaltendes Prinzip fallenzulassen und an seine Stelle ein allgemeines Prinzip vertikaler Normendurchdringung zu setzen. Dieses soll von der Normgeltungsfrage gelöst werden und als reines Erkenntnisprinzip der Inhaltskonkretisierung von Gesetzesvorschriften in Übereinstimmung mit höherrangigem Recht verwendet werden316. Ein derartiger Grundsatz müßte allerdings zeigen, inwiefern „vertikale Normendurchdringung“ über den Umkreis formsystematischer und sachsystematischer Auslegung hinausginge. Solange dieser Nachweis nicht geliefert wird, bringt der Aspekt vertikaler Normendurchdringung nichts Neues. Er umschreibt unter einer neuen Bezeichnung einen methodischen Teilbereich innerhalb der systematischen Auslegung. Dagegen gelingt es dem Prinzip verfassungskonformer Gesetzesauslegung, den systematischen Auslegungsge-
Vgl. dazu Papier. Z. B. BVerfGE 2, 105, 110; 7, 45, 50; 7, 198, 207; 10, 340, 345; 18, 85, 92 f.; 19, 377, 390; BVerfGE 119, S. 181 ff., 245. Ganz unberechtigt ist die Operation, (a) eine Norm, deren Gültigkeit als Verfassungsrecht erst geprüft werden muß, schon vorweg als Verfassungsrecht zu behandeln und sie (b) zudem „verfassungskonform“ auszulegen; so aber das Abhör-Urteil, BVerfGE 30, 1 ff., 19 und ff. Hiergegen zutreffend die Abweichende Meinung, ebd., 33 ff., 34 und ff., 38. – Bei Verfassungsaufträgen (hier: Art. 6 Abs. 5 GG) in der Übergangszeit vor ihrer vollen Verwirklichung: Prinzip der „verfassungsnächsten“ Auslegung, vgl. BVerfGE 26, 206 ff., 210. 316 Burmeister, S. 26 ff. – Ein Beispiel gegen den Wortlaut der Norm (besser: gegen den Normtext) in BVerfGE 35, 263, 278 ff.; den Verdacht, „einen verfassungsrechtlich unhaltbaren Eingriff in die Kompetenz des Gesetzgebers“ (ebd., S. 280) vorzunehmen, wehrt der Senat unter Hinweis auf eine „Regelungslücke“, ebd., 277, 279, vorbeugend ab. Selbst hier wird der Entscheidungscharakter verleugnet, da nur der „Inhalt einer Gesetzesbestimmung … erforscht“ werde, ebd., S. 279. – Verfassungskonforme Auslegung aus einem Grundrecht (Art. 4 Abs. 1 GG) als inhaltsbestimmender Norm: BVerfGE 33, 23 ff. (Eidesverweigerung), 34. 314 315
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2 Stand der Methodik – 22 Literatur
sichtspunkt selbständig zu ergänzen. Da es normativ kaum eindeutig begründbar sein wird, verfassungsrechtliche Vorschriften seien im Geschäft der Gesetzesauslegung nur als Kontrollnormen und nicht zugleich auch – in den genannten Grenzen – als Sachnormen verwendbar, ist der Grundsatz verfassungskonformer Auslegung im Ergebnis für zulässig zu halten. Das Prinzip vertikaler Normendurchdringung dagegen harrt noch eigenständiger Begründung. Es ist vorläufig ein Teilaspekt systematischer Auslegung. 222.32 Richterrecht im Verfassungsrecht 105
Die Position, die dem verfassungsrechtlichen Richterrecht zugewiesen wird, schwankt zwischen der Annahme originärer rechtsschöpferischer Gewalt317, die dem Verfassunggeber nicht ein Monopol, sondern nur eine Prärogative der Normsetzung zuerkennen will, und seiner Reduktion auf formallogische Verfassungs„anwendung“ mittels syllogistischer Schlüsse318. Ferner sind in einem ersten funktionellen Ansatz als Maßstäbe für verfassungsrechtliches Richterrecht unter dem Grundgesetz das Gebot der Legitimität, das der Objektivität, der Rationalität, der Stabilität, der Kontinuität und der Publizität genannt worden319.
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Im seit jeher bekannten Sinn, bei dem juristische Entscheidungstätigkeit nur unter dem Blickwinkel einer Rechts„anwendungs“lehre verstanden wird, erscheint richterliches Tun nur deshalb und insoweit als kreativ, als es sich nicht in Subsumtion erschöpft. So besteht Rechts„fort“bildung banal nur in all dem, was über den Normtext hinausführt; so wird als „Richterrecht“ unzutreffend jeglicher Überschuß zum Syllogismusmodell bezeichnet. Richterrecht stellt nach dieser Ansicht das Bilden all derjenigen Entscheidungsnormen dar, die nicht direkt „dem Gesetz“ entnommen werden; die, anders gesagt, nicht von dem unmittelbaren, uninterpretierten Normtext vorgegeben sind, sondern erst einer Konkretisierung bedürfen.
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Gegenüber diesem uferlosen Gebrauch sollte das Problem auf die Fälle eingegrenzt werden, in denen sich ein Richter oder eine Stelle der vollziehenden Gewalt 317 Kriele I. – Vgl. auch die Bekenntnisse zur Rechtsfortbildung als einer „schöpferischen Rechtsfindung“ und (methodisch unzulänglich proklamierte) Aussagen zu verfassungsrechtlichen Möglichkeiten und Grenzen von Richterrecht in: BVerfGE 34, 269 ff. („Soraya-Beschluß“), z. B. 280, 286 ff. – Kritik am „Soraya-Beschluß“ z. B. bei Ridder I; Menger; Ipsen I, S. 100 ff., 235; Ipsen II. – Zum Begriff „Richterrecht“ auch Blasius, S. 329 f. 318 Forsthoff I, II. 319 H.-P. Schneider I. Vgl. ferner Badura II. Allg. Bestimmungen bei Esser V, S. 184 ff., 189 ff.; Esser VI. – Zum Stand der Debatte H.-P. Schneider IV und v. a. Ipsen I, dessen eingehende Arbeit die Brauchbarkeit der hier entwickelten Grundkonzeption für die Problematik von „Richterrecht und Verfassung“ belegt. – Verfehlt ist die Argumentation im „Soraya-Beschluß“, BVerfGE 34, 269 ff.: Statt seine Fragestellung (280) durchzuprüfen und die Legalität einer richterrechtlichen Norm zu kontrollieren, weicht das BVerfG auf rechtspolitische und nicht-normtextbezogen dogmatische Elemente (Ansichten von Rechtswissenschaftlern) aus: z. B. 285 ff., 290 ff.
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„über das Gesetz hinwegsetzt“; sei es mangels einer Vorschrift (praeter legem), sei es gegen eine solche (contra legem). Normstrukturell sind diese echten Fälle von Richterrecht durch das Nichtvorhandensein eines Normtextes gekennzeichnet, daher auch durch das Fehlen eines korrekten Normprogramms; ferner durch das Vorherrschen rein tatsächlicher Sachargumente und durch deren Verbleiben in der nicht-normativen Gestalt des Sach- und Fallbereichs, ohne daß sie zu einem normativ relevanten Normbereich werden könnten. Da unter „Normtext“ nur der von den legislativen Instanzen formulierte und in Geltung gesetzte amtliche Wortlaut von Rechtsvorschriften zu verstehen ist, bleibt zu präzisieren : Bei einem richterrechtlichen Entscheidungsakt setzt das Gericht nicht nur, wie stets, eine Rechts- und eine Entscheidungsnorm, sondern auch und bereits einen Quasi- (oder Pseudo-)Normtext. Die Umschreibung eines Falles von Richterrecht hat eine rechtstheoretische, eine 108 methodologische und eine normative Seite. Von der Rechts(norm)theorie her kommt die systematische Unterscheidung von Normtext, Rechtsnorm und Entscheidungsnorm320. Methodologisch geht die Frage dahin, ob Richterrecht vorliegt; ob also die im Fall erstellte Rechtsnorm auf einen Normtext zurückgeht, der in der vorhandenen Normtextmenge des „geltenden Rechts“ enthalten ist, oder auf einen im Verlauf der Fallösung erst formulierten Quasi-Normtext. Normativ ist die Frage nach der (verfassungs-)rechtlichen Zulässigkeit solchen Tuns. Denn unter Aufgreifen eines nach Ansicht des Gerichts dringenden gesellschaftlichen Regelungsbedarfs, dem die Legislativorgane (noch) nicht genügt haben, hat hier eine im System der Gewaltenteilung nur zum Bilden von Rechts- und Entscheidungsnormen berechtigte Instanz zusätzlich einen Quasi-Normtext gesetzt. Das aber widerspricht geltendem Verfassungsrecht. Art. 20 Abs. 3 GG bindet die Rechtsprechung an „Gesetz und Recht“. Diese Vorschrift stellt damit lediglich das Gewohnheitsrecht321 ne-
320 Larenz I, S. 133 f., entgeht dabei die Rechtsnorm, baut er doch weiterhin auf „die Norm, die im Gesetze steht, um angewandt zu werden“; ebd., S. 133. Entsprechend konfus fällt das schlagende Argument gegen das strukturierende Konzept aus (ebd., S. 134): „Die Auslegung der Norm darf nicht das eine Mal so, das andere Mal anders erfolgen“ – als ob erst die von Larenz angegriffene hier entwickelte Methodik dieses Phänomen in die Welt gesetzt hätte. Man fragt sich, womit sich das Juristen-Universum aus Instanzenzug, Anwaltschaft, Rechtsgutachtern und wissenschaftlicher Dogmatik eigentlich beschäftigt, wenn „die Norm“ sowieso nur immer gleich „ausgelegt“ wird (werden „darf“). – Die Begriffe verfälscht Neuner, S. 56 f.: „klageabweisende Entscheidung“ sei „eine Normtextsetzung“. – Noch auf theoretisch herkömmlicher Grundlage unternimmt es Reinhardt, „die rechtsgestaltende Funktion der dritten Gewalt konsequent in das Zusammenwirken der Staatsgewalten bei der Rechtsgewinnung einzubeziehen, S. 522. – Kritik an der Obskurität der Grundlagen, auf denen nach Larenz die „Werturteile“ zu bilden sein sollen, sowie an Larenz’ „Reaktivierung des Gesetzes“ in seiner Rolle für eine rechtmäßige Entscheidung z. B. auch bei Frassek, S. 145 ff., u. ö. 321 Vgl. zum Unterschied von „Gewohnheitsrecht“ und „Richterrecht“ grundsätzlich Müller XXII, S. 111 ff. S. dort auch S. 58 ff. zu einer Analyse der richterrechtlichen Ansätze in der Rechtsprechung. – Gegen „richterrechtliche Ergänzung“ der Tatbestände von Normtexten, gemessen am (ausgelegten) „klaren Wortlaut“: BVerfGE 85, 69 ff., 77 ff. (Abweichende Mei-
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ben das geschriebene Recht, enthält jedoch nicht die Möglichkeit der Umdeutung von Art. 20 Abs. 3 GG in eine Ermächtigungsnorm zur Setzung von Pseudo-Normtexten. Diese Auffassung wird bekräftigt durch die Spezialnorm des Art. 97 Abs. 1 GG, der davon spricht, die Richter seien „nur dem Gesetze unterworfen“, womit auf die der Textstruktur des Rechtsstaats eigentümliche Art eine verbindliche Ausrichtung an Normtexten verlangt wird. 109
Zentral in diesem Zusammenhang ist das Gewaltenteilungsprinzip322. Im Bereich der Justiz würde sonst das außerhalb parlamentarischer Verfahren gesetzte Richterrecht ohne inhaltliche Vorsteuerung durch Normtexte zu einem Amtsrecht werden, das angesichts der schöpferischen Natur auch schon der normalen Konkretisierung den Parlamenten in dem betroffenen Bereich de lege lata überhaupt kein Funktionsreservat mehr beließe. Die traditionelle Doktrin zum (zivilrechtlichen) Richterrecht argumentiert so, als lautete Art. 92 GG: „Die rechtsprechende und – so weit sie es für erforderlich halten – die gesetzgebende Gewalt ist den Richtern anvertraut“. In der demokratischen Ordnung des Grundgesetzes darf die Gerichtsbarkeit aber nicht zum Prätor, ihr Richterrecht nicht funktionell zum amtsrechtlichen Edikt werden, das die demokratisch entstandene und verantwortete Menge der Rechtssätze (die Normtexte) überspielt.
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Hier kann nun auch die vom Demokratieprinzip323 herkommende Seite richterlicher Gesetzesbindung neu formuliert werden. Die ‚ausführenden‘ Gewalten Exekutive und Rechtsprechung sind nicht nur rechtsstaatlich konstituiert, eingerichtet und kontrolliert, sie sind auch demokratisch gebunden. Der einerseits legislatorische, andererseits judikative und bürokratische Anteil an der Erzeugung von Recht im allgemeinen kann mit den Begriffen von Volksrecht und Amtsrecht gebündelt werden. nung). Ohne jede kritische Auseinandersetzung mit den Einwänden aus dem Verfassungsrecht: Langenbucher I. – Aufnahme des hier entwickelten Konzepts etwa bei Simon II. 322 Zum Problem der Gewaltengliederung im Vorgang der Internationalisierung des Rechts vgl. Möllers, Kap. 4. – Die hier seit langem vertretenen Positionen des Einbezugs methodenrelevanter Normen in die Methodik wie auch die Ablehnung von „echtem Richterrecht“ (d. h. von gerichtlichen Aussprüchen, die Normtexte außerlegislatorisch usurpieren) sind inzwischen der Sache nach vom Bundesverfassungsgericht übernommen worden: Beschluß vom 15. 1. 2009 (Beachtlichkeit nachträglicher Protokollberichtigung im Strafverfahren – zu den „verfassungsrechtlichen Grenzen der richterlichen Rechtsfindung“) in: Neue Juristische Wochenschrift 2009, S. 1469 ff. und Beschluß vom 25. 1. 2011 (Bemessung des nachehelichen Unterhalts) in: ebd. 2011, S. 836 ff. – Zu beiden Entscheidungen die Bemerkungen von Bernd Rüthers, Klartext zu den Grenzen des Richterrechts, in: Neue Juristische Wochenschrift 2011, S. 1856 ff. – Die „Gesetzesbindung des Richters“ aufgrund des „innerstaatlich methodisch Erlaubten“ gilt als Grenze noch zulässigen „Richterrechts“ auch gegenüber europäischem Unionsrecht; so z. B. Kammerbeschluß 2 BvR 2216/06, 2 BvR 469/07 vom 26. 9. 2011, in: R. Zuck, S. 128 f. 323 Vgl. dazu BVerfGE 130, S. 318 ff., Übertragung von Beteiligungsrechten des Deutschen Bundestags auf ein Sondergremium (Stabilisierungsmechanismusgesetz, i.d.F. vom 9. Oktober 2011). Hier wird geklärt, inwieweit ein Eingriff in Abgeordnetenrechte unter Verweis auf Geheimschutzbelange stattfinden darf, S. 361 ff. Auch die Gesamtverantwortung für das Budgetrecht wird ausführlich dargelegt, S. 347 ff.
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„Volksrecht“ soll demokratisch erzeugtes Recht heißen. Hierfür gibt es die Möglichkeit des Referendums, des Volksentscheids: je nach verfassungsrechtlicher Konstruktion kann es sich um Streitentscheidung, das heißt um Rechtsnorm- und Entscheidungsnormsetzung handeln, normalerweise aber um einen materiellen Beschluß ohne Orientierung an schon vorhandenen Normtexten. Wo diese Möglichkeit, wie unter dem Grundgesetz, weitestgehend ausgeschaltet ist324, wo es auch keine Richter- und Beamtenwahl durch das Volk gibt und wo kein imperatives Mandat vorkommt, dort ist die einzige durch einen realen politischen Vorgang demokratisch verankerte Möglichkeit der Rechtsetzung eben das Bilden von Eingangsdaten für Rechtsentscheidungen, das parlamentarische Formulieren und Setzen von Normtexten. Konkretes Recht des Einzelfalls in Form von Entscheidungsnormen wird norma- 111 lerweise nicht direkt demokratisch erzeugt. Das Setzen von Entscheidungsnormen ist politisch geprägten demokratischen Verfahren in aller Regel entzogen. Die den Fall unmittelbar regelnden Akte sind dem Amtsrecht vorbehalten, nämlich den gerichtlich oder bürokratisch erzeugten Fallentscheiden, die nicht nur aus rechtsstaatlichen, sondern nicht weniger auch aus demokratischen Gründen an den Normtexten müssen gerechtfertigt werden können. Eine ehrliche, rationale Arbeitsmethodik der Juristen, die sich rechtsstaatlicher Nachprüfbarkeit bewußt unterwirft und dadurch ihre Verfassungsbindung zu verwirklichen bestrebt ist, kann dazu führen, daß die in Normtexten formalisierten Ergebnisse demokratischer Politik auch tatsächlich den Rechtszustand der Gesellschaft prägen. Das Amtsrecht darf das Volksrecht nicht überspielen, sich nicht von ihm abkoppeln, es nicht auszutricksen versuchen. Vollziehende und rechtsprechende Gewalt dürfen weder an Normtexten vorbeigehen noch diese verbiegen, noch auch – abgesehen von ausdrücklichen verfassungsrechtlichen Ausnahmen – selbständig Normtexte setzen. Sie dürfen nicht Prätor spielen. 222.33 Topik im Verfassungsrecht 222.331 „Offenes System“? Die Unbrauchbarkeit des gesetzespositivistischen „System“begriffs für das Ver- 112 fassungsrecht wurde schon dargelegt. Die neuere Diskussion zum Systembegriff 325 in der Jurisprudenz wie auch die Ansätze zu topischer Rechtsfindung spielten sich hauptsächlich im Zivilrecht ab. Die allgemeine Tendenz geht in Richtung auf einen 324 Anders ist dies auf der Ebene der Landesverfassungen. Dort gibt es vielfache Möglichkeiten der Volksgesetzgebung. Zu dem Problem des damit meist verbundenen Haushaltsvorbehalts vgl. SächsVerfGH, in: NVwZ 2003, S. 472 ff. Zu einer Entscheidungskritik unter methodengerechtem Einsatz der Canones vgl. Zschoch, S. 438 ff. – Die „Gesetzesbindung des Richters“ aufgrund des „innerstaatlich methodisch Erlaubten“ gilt als Grenze noch zulässigen „Richterrechts“ auch gegenüber europäischem Unionsrecht; so z. B. Kammerbeschluss 2 BvR 2216 / 06, 2 BvR 469 / 07 vom 26. 9. 2011, in: R.Zuck, S. 128 f. 325 Vgl. dazu auch Mastronardi, S. 241 ff.
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„offenen“ Systembegriff, der vor allem über „teleologische“ Ableitungen im Rahmen systematischer Auslegung wie auch im Weg „systematischer Lückenergänzung und Rechtsfortbildung“ für die Rechtsgewinnung dienstbar gemacht werden soll326. Gleichfalls im Zivilrecht entstanden Auseinandersetzungen über den topischen Ansatz (bei Viehweg) im Sinn einer sich an ungebundene Rechtsfindung annähernden techne der Problemerörterung oder im Sinn der Herstellung immanenter Problemzusammenhänge bei der (unter anderm auch systematischen) Auslegung geltender Normen. Die dort angestellten Überlegungen laufen auf Empfehlungen zur wechselseitigen Ergänzung und Durchdringung von „topischer“ und „systematisch-deduktiver“ Rechtsfindungsmethodik hinaus327. Der Topik werden Aufgaben der Auflockerung scheinbar logisch geschlossener rechtswissenschaftlicher Systeme, der Auslegung wertausfüllungsbedürftiger Normbegriffe, eines Notbehelfs bei Fehlen hinreichender gesetzlicher Regelung, vor allem beim Füllen von Lücken, und ferner als Verfahren zur Beschaffung von Gesichtspunkten dort zugewiesen, wo das Gesetz Billigkeitsnormen enthält oder auf gesellschaftliche Anschauungen oder Maßstäbe verweist (z. B. die Anschauung „aller recht und billig Denkenden“, die Beachtung der „im Verkehr erforderlichen Sorgfalt“ im Sinn des § 276 BGB, das Handeln des „ordentlichen Kaufmanns“ oder des „vernünftigen Kraftfahrers“ und so weiter). Schließlich soll sie auch Funktionen verfassungspolitischer Art de lege ferenda übernehmen können. Für verfassungsrechtliche Methodik ist es zweitrangig, ob solche Kooperationstendenzen zwischen einseitig topischem und einseitig axiomatisch-deduktivem Vorgehen als „offenes“, aber unbewegliches oder als „bewegliches“ System bezeichnet werden, als „Dualismus“ oder als „Synthese“ der wesentlichen Gesichtspunkte beider Methoden, als beide umschließende „Struktur“ oder als „wechselseitige Durchdringung“ beider Arbeitsweisen. Für die Arbeit praktischer Verfassungskonkretisierung entscheidet allein, was über die Struktur von Norm und Normativität, über die Struktur des Entscheidungsprozesses und des Darstellungsvorgangs im einzelnen erarbeitet wird. Die verallgemeinernden Selbstbezeichnungen der einzelnen Positionen deuten allenfalls Programme an, geben aber noch nicht deren die Bedingungen und Möglichkeiten der Rechtspraxis einbeziehende theoretische Ausführung. 222.332 Bindung an den Normtext im Verfassungsrecht 113
Das Gebot einer Normkonkretisierung in Bindung an den Normtext stellt sich im Verfassungsrecht im Vergleich zu anderen Rechtsdisziplinen mit dem größten Nachdruck. Nach geltendem Verfassungsrecht ist der Richter stets an das Gesetz gebunden328. Doch sind die Modalitäten dieser Bindung der Sache nach von der Eigenart Canaris II. s. etwa Esser I, S. 104; Esser II, S. 7, 24, 45 ff., 193 ff., 238 ff., 307 ff.; Diederichsen I; Otto, S. 508 ff., 515; Canaris II, S. 149 ff., 151 ff., 159 f. – Vgl. ferner: Struck. Zu Topik und „Systemauslese“: N. Wimmer, S. 60 ff. – Zu „Topoi als Namen“: Seibert VIII, S. 144 ff.; zu prozeduralen Topoi und zum „juristischen Archiv“: ders. VI. 326 327
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des zu lösenden Rechtsfalls und der für ihn einschlägigen Normtexte abhängig. Die je nach Rechtsdisziplin oder Teildisziplin wechselnde Problemstruktur bestimmter Sach- und Regelungszusammenhänge umgreift sowohl die ihr zugehörenden Rechtsvorschriften als auch die diesen zugehörenden (möglichen) Rechtsfälle. Wegen der Verschiedenartigkeit der Typen von Normstruktur in der Rechtsordnung ist die Bindung an das Gesetz nicht eine linear schematisierbare oder fixierbare Größe. Was „Bindung des Richters an das Gesetz“ heißt und wieweit diese Bindung aktualisierbar und kontrollierbar ist, hängt von der Funktion wie von der Struktur der in Frage stehenden Rechtsvorschriften in bezug auf die von ihnen zu regelnden Rechtsfälle ab. Verfassungsrecht konstituiert, legitimiert und limitiert die Rechtsordnung des Gemeinwesens. Es ist durch höhere Instanzen innerstaatlichen Rechts nicht mehr abgesichert. Es hat vielmehr die Aufgabe, seinerseits alles innerstaatliche Recht von unterverfassungsrechtlichem Rang abzusichern. Aus diesem Grund sind die Rechtsstaatsgebote der Normklarheit, Tatbestandsbestimmtheit, Methodenklarheit und Rechtssicherheit für den Umgang mit verfassungsrechtlichen Normen besonders wichtig. Auf die begrenzende Rolle des Wortlauts verfassungsrechtlicher Vorschriften wurde hier schon bei der Analyse verfassungsgerichtlicher Methodik hingewiesen. Verfassungsnormen sind von ihren einzigartigen Funktionen her in gesteigertem Grad verbindliche Setzungen. Problemdenken, das vom Primat des Problems ausgeht, kann weder methodisch noch rechtsstaatlich den Anforderungen genügen, die das Grundgesetz an seine Konkretisierung stellt. Zudem ist die heuristische Isolierbarkeit dogmatischer Einzelfragen, wie sie im modernen Zivilrecht auch als fruchtbar und rechtsfortbildend erscheint, ein für die Verfassungskonkretisierung nicht gangbarer Weg. Die formsystematischen und noch mehr die sachsystematischen Zusammenhänge innerhalb des Verfassungsrechts sind von vergleichsweise höchster Dichte. 222.333 Primat der Normtextbindung Folgerichtig topisches Denken kann den Normtext nur als einen Topos unter an- 114 dern ansehen. Die Topoi als meinungsmäßig diskutierbare, die Entscheidung möglichst überzeugend begründende Gesichtspunkte sind in ihrer Auswahl auf das Problem ausgerichtet. Wenn das Problem es erfordert, müssen auch normfremde Topoi herangezogen werden können. Der nicht zuletzt für das Staats- und Verfassungsrecht verbindliche Primat der Normbindung macht die Vorstellung eines primär topischen Problembezugs unzulässig. Gleichwohl stellt sich in dem theoretischen Rahmen, der von der Nichtidentität von Norm und Normtext, vom Verständnis der Rechtsnorm als einem sachbestimmten Ordnungsmodell, vom Verfahren der Kon-
328 Diese Bindung wird auf unzulässige Weise relativiert, wenn man die notwendige Berücksichtigung der dynamischen gesellschaftlichen Entwicklung nicht auf dem Weg über Normbereichsanalyse anstreben will, sondern mittels der Gegenüberstellung von Regeln und Prinzipien. Vgl. dazu Maida, S. 198 ff.
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kretisierung statt von demjenigen gesetzespositivistischer Anwendung bestimmt ist, auch bei striktem Normbezug der Konkretisierung und unter dem Gebot rationaler Kontrollierbarkeit der einzelnen Schritte der Rechtsgewinnung wie der Darstellung jede juristische Arbeitsweise als problem- und fallbezogen heraus. Insoweit ist sie in der Tat so strukturiert, wie es der topische Ansatz gegenüber jeder gesetzespositivistischen Verengung des Blickfelds herausgearbeitet hat. 115
Es kommt nicht von ungefähr, daß sogar im Zivilrecht, das die Diskussion um topische Rechtsfindung doch in aller Breite einführte, Berufungen auf die Freirechtsschule oder auf sonstige Arten normtextungebundener Rechtsschöpfung allenfalls am Rand und nicht selten auch mißverständlich anklingen, daß sie als Votum gegen den primären Normtextbezug der Rechtskonkretisierung jedoch nicht ausdrücklich vertreten werden329. Auch unterverfassungsrechtliche Teilbereiche der Rechtsordnung sind durch verfassungsrechtliche Normierungen daran gehindert, positiv geregelte Fragen unter Umgehung der Normen und durch Rückgriff auf Topoi nichtnormativer Herkunft ordnen zu wollen. Auch außerhalb des Verfassungsrechts ist Topik weder ein Verfahren von nur rhetorischer Verbindlichkeit noch eingeengt auf rechtspolitisches Werten und Argumentieren. Die (wie im einzelnen auch immer benannte) grundsätzliche Ergänzungsbedürftigkeit von Problem- und Systemdenken, besser: von Normbezug und Problembezug der Rechtskonkretisierung, hat sich auch dort herausgestellt330. „Geschlossene“ Axiomatik bedarf der Erweiterung durch Prinzipienbildung und Problemdenken aufgrund von Anstößen aus dem Fallrecht ebenso wie auf der andern Seite eine „offene“ Problementwicklung topischer Natur um der Rationalität und Nachprüfbarkeit ihrer Erwägungen und um der normativen Bindung des Richters und der andern Staatsgewalten an das Gesetz willen nicht ohne systematische, in ihrer Reichweite und Generalisierbarkeit allerdings normativ begrenzte und bedingte systematische Ableitungszusammenhänge auskommen kann. De lege ferenda, für die Verfahren der Beschaffung von empirischem und wertendem Material im Verfahren der Rechtsetzung, sind „topische“ Verfahrensweisen weniger eingeengt. Für die Aktualisierung gesetzten Rechts jedoch hängt die Feststellung konkreter Ordnungsfolgen in erster Linie von der normativen Regelung ab, die bei aller Schwierigkeit ihrer Konkretisierung in der Regel 329 Zu optimistisch zur Sicherheit der Orientierung an der bestehenden Konsenserwartung, am „Erwartungshorizont“ der an der Rechtsfindung „Interessierten“ als den „rechtspolitischen Evidenzen, die dem justizförmigen Denken zur Verfügung stehen“: Esser V., z. B. S. 24 f., 84, 115, 199; und das heißt zugleich: wohl zu beiläufig hinsichtlich der juristischen Funktion und des gesellschaftlichen Wirkungsgrades formalisierter Funktionenteilung im Rechtsstaat. – Kritik an Essers Ambivalenz und am Mangel generalisierbarer Kriterien dafür, „wann die eigenen Gerechtigkeitsvorstellungen hinter der gesetzlichen Regelung zurücktreten müssen, wann Flexibilität und Einzelfallgerechtigkeit Stabilität und Gesetzestreue zu weichen haben“ bei Schäfer, S. 229 ff.; 231. – Zur möglichen Rolle des Normbereichskonzepts im Zivilrecht Nierwetberg, v. a. S. 166 ff.; Laudenklos I; ders. / Rohls / Wolf. 330 Zum Problemstand: Viehweg; Esser II; Bäumlin I; Kaufmann II, S. 39; Larenz I, S. 145 ff.; Ehmke III, S. 55 f., 60; Diederichsen I; Müller I, z. B. S. 56 ff., 65 ff. – Zum Spektrum der Diskussion in der „Rhetorischen Rechtstheorie“: Ballweg-Seibert.
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genügend Anhaltspunkte gibt und den Rückzug auf rechtspolitischen Voluntarismus erspart. 222.334 Beispiel: Der Topos „eigenständig“ Für das öffentliche Recht ist in einem Beitrag zur Kritik der juristischen Sprache 116 ein Wortfeld von Topoi um den Kernbegriff „Eigenständigkeit“ untersucht worden331. Was sagt der Jurist, der einem Rechtssubjekt „Eigenständigkeit“ zu- oder aberkennt; der juristische Tatbestände mit Termini wie „eigen“, „eigenständig“, „ursprünglich“, „originär“, „primär“, „aus eigenem Recht“, „unabgeleitet“ oder mit ihren jeweiligen Gegenbegriffen kennzeichnet? Noch immer legt die Rechtswissenschaft eine seltsame Art von Überwindung positivistischer Begriffsjurisprudenz darin an den Tag, die „Eigenständigkeit“ von Rechtssubjekten zwar nicht länger begriffsrealistisch zu begründen, wohl aber aus ihr als aus einer vorausgesetzten Prämisse unentwegt zu deduzieren. Der Bogen sprachlicher Variabilität dieser Bezeichnungen spannt sich von der „Eigenständigkeit der Länder“ als einer Figur des Bundesstaats unter dem Bonner Grundgesetz über „Eigenständigkeit“ der Gemeinden und die Qualität ihrer Rechtsetzungsakte als je nach dem Standpunkt des Interpreten „eigenständige“ oder „abgeleitete“ Rechtsquellen; über die Debatten um die „Eigenständigkeit“ von öffentlich-rechtlichen Verbänden und von Wirtschaftsverbänden, die „Eigenständigkeit“ der Verwaltung, der Kirchenrechtsordnung, der Familie, des Individuums, die „Unabgeleitetheit“ der Grundrechte im Sinn ihrer behaupteten Vorstaatlichkeit bis zur völkerrechtlichen Grundlagendiskussion im Theorienstreit um Monismus und Dualismus und bis zur „Eigenständigkeit“ der Europäischen Gemeinschaften, ihrer Organe, ihrer Rechtsordnung und Hoheitsgewalt im Hinblick auf Freiheit oder Bindung gegenüber völkerrechtlichen und mitgliedstaatlichen Normen. Wie alle Relationsbegriffe sind auch „eigenständig“, „originär“, „aus eigenem Recht“, „delegiert“, „übertragen“ jeweils immer nur in einer ganz bestimmten Hinsicht sinvoll, so wie jeder Rechtsbegriff nur im Feld seiner normativ bestimmten Beziehungen verständlich ist. Schon die Begrenzung der Zahl der von der juristischen Umgangssprache zur Verfügung gestellten Synonyme verbietet es, rechtliche Termini zum Akzidens eines Rechtssubjekts zu verallgemeinern. Die Qualifizierung als „eigenständig“, „übertragen“ und so weiter verliert ihren Wert als juristische dort, wo sie mit wirklichen Phänomenen vermischt und zur Eigenschaft des Untersuchungsobjekts hypostasiert wird. In der Folge führt sie bestenfalls zu tautologischem Leerlauf. Im schlechteren und praktisch häufigen Fall lenkt sie von der Beschäftigung mit den einschlägigen Vorschriften ab, umgeht somit die Normtexte zugunsten normunabhängiger Topoi. Deren Bewertung, die Entscheidung über die Art ihres Einsatzes bei der Lösung des gestellten Problems weist dann primär nicht mehr Normtextbezug, sondern Problembezug auf. Die Verwendung solcher 331 Bei Wagner I; dort auch zum folgenden. – Gegen begriffsrealistische „Subsumtion“ mit Verve: Grasnick XI.
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Topoi ist daher, vom Normtext her gesehen, einer Art von Beliebigkeit überantwortet, die zwar im Einzelfall ein normgemäßes Ergebnis erzielen kann, es aber nicht muß. 117
Der Sache nach geht es beispielsweise bei der Erörterung der „Eigenständigkeit“ der Gemeinden um Art und Ausmaß der Staatsaufsicht und der Weisungsbefugnis, um Inhalt und Grenzen der Gemeindegewalt. Das sind Fragen, die sich anhand der positivrechtlichen Regeln zuverlässiger klären lassen als durch einen generellen, dem Verfahren nach topisch geführten Theorienstreit um „Eigenständigkeit“ oder „Abgeleitetheit“ dieser Körperschaften; rechtsstaatsgemäßer als durch tautologisches Behaupten oder Verneinen substantieller Unterschiede der Gemeinden zu anderen staatsinternen Organisationsformen. Wenn sich die Rechtsstellung der Gemeinde in wesentlichen Punkten von der sonstiger Selbstverwaltungsverbände unterscheidet, so sind das normativ begründete Unterschiede der positiven Rechtsordnung. Solche Unterschiede können systematisiert, interpretiert und konkretisiert werden, ohne daß die normativen Gehalte geltenden Rechts in Richtung auf nichtnormative und nicht nachprüfbare Wesenspostulate topisch überschritten zu werden brauchen.
222.335 Grenzen verfassungsrechtlicher Topik 118
Topik sollte sich so verstehen, daß sie sich ihre verbindliche Argumentationsperspektive von den durch Normkonkretisierung zu gewinnenden Sach- und Problemgesichtspunkten vorgeben läßt und im Fall eines aufweisbaren Konflikts stets normgemäß und damit möglicherweise „problemwidrig“ entscheidet. Der Gesetzgeber, der problemwidrige Regelungen des geltenden Rechts problemgemäß zu ändern unternimmt, kann die aus der Sache folgenden Topoi ohne andere normative Einengung als die der Verfassungsmäßigkeit seiner Regelung ins Spiel bringen und abwägen. Dagegen identifiziert Topik, die de lege lata den primären Problembezug an die Stelle des primären Normtextbezugs setzen will, zu Unrecht die Strukturen, Funktionen und Begrenzungen der Entscheidungsprozesse von (Verfassungs-)Gesetzgebung auf der einen und Verfassungskonkretisierung durch einfache Gesetzgebung, Regierung, Verwaltung und Rechtsprechung auf der andern Seite. Die Grenzen topischer Rechtsfindung im Verfassungsrecht sind also nur zum Teil methodischer und damit nicht-normativer, zum andern Teil verfassungsrechtlicher und damit verbindlicher Art. Topische Rechtsfindung fragt notwendig über den Normtext hinaus. Sie will damit die Struktur jeder herkömmlichen Interpretation aufdecken, die den formellen Quellen nicht entnehmbare Einsichten als Teile des positiven Rechts auszugeben gezwungen ist, weil sie angeblich den Rahmen des „gegebenen“ Gesetzes„inhalts“ nicht verläßt332. Demgegenüber sollte Verfassungskonkretisierung in Bindung an den Normtext die seit dem Gesetzespositivismus fortgeschleppte Identifizierung von Norm und Normtext aufgeben und auch sonst die juristischer 332
Esser II, S. 102; Ehmke III, S. 56, 62.
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Methodik möglichen Fortschritte vollziehen333. Die Frage nach „Axiomatik“ oder „Topik“ liegt auf einer andern Ebene. Über die positivistische Subsumtionsideologie hinausgehende Verfassungskonkretisierung ist auch nicht gleichzusetzen mit einer Topik, die in der Perspektive „geschichtlichen“ Rechts die Verfassungsnormtexte und ihre Begriffe lediglich als „Momente“ der in der „Situation“ aufgegebenen, in topischer Argumentation anzustrebenden Synthese oder „concordantia discordantium“334 behandelt. Verfassungsrecht ist fundamentales, positivrechtlich nicht weiter abgestütztes Recht. Im Verfassungsrecht jedenfalls kann topische Rechtsfindung über den Normtext nicht hinweggehen; darf sie auch dann nicht gegen den „klaren“ Wortlaut einer Vorschrift entscheiden, wenn dieser für eine „sinnvolle“ Problemlösung keinen Anhaltspunkt liefert335. Doch will Topik gleichwohl auch im Verfassungsrecht336 „hinter das Gesetz zurück und über es hinaus“337 fragen. Was das Verfassungsrecht nach Struktur und Funktion erfordert, ist dagegen nicht Topik, sondern methodisch differenzierte und strukturierte Normkonkretisierung anstelle 333 Die unrichtige Gleichsetzung von Norm und Normtext liegt auch der Behauptung von L. Schneider S. 141 zugrunde, der Konkretisierungsgedanke der Strukturierenden Rechtslehre grenze sich „zu reiner Topik nur verbal ab, wenn die – erst zu konkretisierende – Norm ihrerseits verbindlicher Bezugspunkt der Konkretisierung sein soll“. Verbindlicher Bezugspunkt ist nicht „die“ Rechtsnorm als Ausgangspunkt von Rechtsarbeit, sondern zunächst erst der Normtext. Nicht die Norm, sondern nur der Normtext ist dem Juristen vorgegeben, mit seiner Hilfe ist, unter Berücksichtigung anderer Konkretisierungselemente, die Rechts-, dann die Entscheidungsnorm zu entwerfen. Daß die Rechtsnorm nicht schon als ‚vor dem Fall vorhanden‘ gedacht wird, darin unterscheidet sich die Strukturierende Rechtslehre von allen geläufigen Rechtsanwendungsmodellen wie auch von der Topik; daß sie Rechtsarbeit im Sinne eines normtextgebundenen Konkretisierungsvorgangs versteht, darin liegt einer der wesentlichen Unterschiede zur Topik.So sehr Schneiders Vergleich mit der Topik hinkt, so wenig trifft auch sein weiterer Vorwurf, die Grundrechtskonkretisierung im vorliegenden Sinn verwische „auch die durch die Gewaltengliederung im Rechtsstaat vorgegebene Unterscheidung zwischen Norm und Einzelakt“, ebd., S. 141. Die alte Vorstellung einer der Gesetzgebung gegenübergestellten ‚ausführenden‘ Gewalt, also der ‚Anwendung von Gesetzen‘ in der Exekutive wie in der Judikative – wobei die eine Gewalt das abstrakt-allgemeine Gesetz, die anderen den darauf beruhenden, daraus ableitbaren individuellen Einzelakt erließen – läßt sich so nicht mehr aufrechterhalten. Rechtsverwirklichung stellt sich nunmehr als Konkretisierung (= Erarbeitung, Konstruktion) von Rechtsnormen dar, die methodisch auf Normtexte des geltenden Rechts zurückführbar sind; und anschließend als Individualisierung der soeben erzeugten Rechtsnorm zur Entscheidungsnorm. Damit ist die verfassungsnormativ begründete Gewaltenteilungslehre nicht etwa aufgeweicht, sondern bekräftigt. Die Funktionenlehre als Doktrin der Unterscheidung und Verteilung, des gegenseitigen Verhältnisses und der wechselseitigen Kontrolle der einzelnen Funktionen öffentlicher Gewalt kann jetzt wirklichkeitsnäher gefaßt werden: Die Instanzen der Legislative setzen tatsächlich normalerweise weder Rechts- noch Entscheidungsnormen, sondern allein Normtexte, wozu sie kraft positiven Staatsrechts befugt sind. 334 So aber Bäumlin I, S. 26 ff., 30 f., 34, 36. – Historisch und systematisch umfassend zu Argumentationstheorie und „Argument“: Wohlrapp VI. 335 So aber Ehmke III, S. 60 zu BVerfGE 2, 347, 374 f. 336 Bäumlin I, S. 26 ff.; Ehmke III, S. 54 ff., 61 ff.; v. Pestalozza I, S. 429. – Etwas anderes bedeutet die Rede von „Sprachgebrauchstopoi“ in der (ohnehin nicht normativen) Linguistik; hierzu, am Beispiel des Bundesverfassungsgerichts, Felder. 337 Ehmke III, S. 54.
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positivistischer Subsumtion formallogisch postulierter „Untersätze“, anstelle der „Anwendung“ vorgeblich fertiger Rechtsbefehle. Zwar ist rationale Konkretisierung im Verfassungsrecht schwieriger als in Rechtsgebieten mit dichter gearbeiteten Textzusammenhängen. Doch ist damit noch nicht gesagt, rechts(norm)theoretisch und methodisch müsse der Primat vom Normtext auf das Problem übergehen. Im Verfassungsrecht sind auch die „Probleme“ von besonderer Art. Die Eigenart des Verfassungsrechts betrifft Norm- und Problemstruktur. Auch das „Problem“ ist von der Mehrdeutigkeit des Verstehens als einem methodischen Grundtatbestand wie von der Natur des Verfassungsrechts als politischem Recht, als der Grundlage der positiven Gesamtrechtsordnung und ferner von dessen relativem Mangel an rechtsgeschichtlicher und wissenschaftsgeschichtlicher Tradition von Problemlösungen und „Topoi“ betroffen338. 119
Mit dem Gesagten wird die sachliche Notwendigkeit topischer Argumentation bei der Beschaffung und Verarbeitung entscheidungserheblicher Gesichtspunkte nicht bestritten. Doch hat die immer wieder auflebende Topik-Diskussion gerade an diesem praktisch zentralen Punkt weithin vorbeigeredet. Daß juristische Arbeit im Sinn gesetzespositivistisch behaupteter „rein logischer Systematik“ nicht funktioniert, ist seit langem offenkundig und nicht mehr das Problem. Das Problem liegt im praktischen Verhältnis topischer Arbeitsweisen zur verfassungsmäßig angeordneten Normtextbindung aller juristischen Funktionen. Es liegt somit in der Notwendigkeit einer nachpositivistischen Gesamtkonzeption rechtswissenschaftlicher und rechtspraktischer Methodik. Der Normtext erscheint als ein Topos unter anderen, insofern auch er nur Text ist. Aber er ist ein verfassungsrechtlich-organisatorisch hervorgehobener Text (durch die Art, wie in bezug auf ihn demokratisch und rechtsstaatlich Gewalt organisiert, das Machtverhältnis hergestellt wird): der einzige, der sich auf das unmittelbare Handeln gewählter Vertreter des Volkes beruft; der einzige, der bei seiner Setzung nicht an das Handeln einer anderen – unter den drei „normalen“ – Staatsgewalt gebunden ist (anders als das sogenannte Richterrecht gegenüber Art. 97 Abs. 1 GG). Der Normtext ist aus Gründen von Rechtsstaat, Demokratie und ihrer methodenrelevanten Vorschriften nicht ein „Topos unter anderen“, obwohl er es rein methodologisch gesehen durchaus wäre. Die Lehre von der Topik reflektiert zu wenig die Art des Politischen Systems als einen die Rechtsarbeit mitbestimmenden Faktor; und sie sollte seine methodenbezogenen normativen Vorgaben besser integrieren. Rechtliche Äußerungen sind in ihrer Sicht als Topoi gleichwertig, sofern sie sich nur hinreichend auf das Problem beziehen – möge es sich um Meinungen, um Argumente oder um Normtexte handeln. Um aber dem Normtext gleichwertig sein zu können, müßten dogmatische Argumente oder Meinungen, wie im spätantiken Römischen Recht, amtlich für verbindlich erklärt (etwa durch die „Zitiergesetze“ 338 Hierzu und zur weiteren Auseinandersetzung Müller I, S. 56 ff., 65 ff. – Trotz allem zu pauschal pessimistisch in bezug auf (angeblich mangelnde) judiziell-methodische Regelungsfähigkeit in der Verfassungsjustiz: Esser V, S. 196 ff., 199.
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des 4. und 5. Jahrhunderts) beziehungsweise geradezu kodifiziert werden, wie es schließlich im Corpus iuris civilis geschehen war. Davon kann im heutigen demokratischen Rechtsstaat zum Glück nicht die Rede sein. Nicht die Rechtsauffassung von Autor X oder Autorin Y, sondern allein der Normtext ist „in Geltung“ – das heißt, nur er muß kraft Amtspflicht, soweit auf den Fall passend, ins Spiel gebracht und verarbeitet werden; und nur auf ihn müssen Tenor und Gründe referieren und nicht auf Lehrmeinung X’ oder Y’. Die Entscheidung hat also durch ausdrückliche und plausible Argumente darzutun, daß sie mit dem einschlägigen Normtext (nicht aber mit dogmatischen, theoretischen, rechtspolitischen Lehrmeinungen) vereinbar ist, daß sie ihm in nachvollziehbarer Argumentation zugerechnet werden kann (was nicht heißt, sie müsse „sich aus ihm ergeben“). Das kann auch negativ formuliert werden: soll ein Normtext, obwohl dem Anschein nach einschlägig, nicht in die Rechtsarbeit einbezogen werden, so muß sein Ausschalten aus dem weiteren Argumentieren, anders als bei dogmatischen und sonstigen Topoi, explizit und verständlich begründet werden. Und wenn die Entscheidung einschlägige Normtexte stillschweigend vernachlässigt, die das Ergebnis anders gestaltet hätten, ist sie schon allein deshalb rechtswidrig und mit weiteren rechtlichen Mitteln angreifbar. Die rechtsstaatlichen und demokratischen Vorgaben zugunsten der Sonderstellung von Normtexten im Vergleich mit Nicht-Normtexten begründen also im ganzen der Konkretisierungselemente einmalige Einbeziehungs-, Bearbeitungs- und Begründungspflichten. Kurz: eine Rechtsmeinung überzeugt (oder auch nicht), ein Normtext „gilt“. So gesehen, ist die Form von Topik nicht haltbar, die geltendes Recht im Kon- 120 fliktsfall zugunsten problemangemessener Fallösung übergehen will. Diese Auffassung verletzt, auch abgesehen von der im Einzelfall zu überspielenden Vorschrift, vielfältig geltendes (Verfassungs-)Recht: die Unverbrüchlichkeit der rechtsstaatlichen und demokratischen Verfassung; die Bindung auch an unterverfassungsrechtliche Normen; die Gebote der Rechtssicherheit, der Gleichmäßigkeit und Durchschaubarkeit der Rechtsordnung und nicht zuletzt die verfassungsmäßig festgelegte Verhältnisbestimmung der Funktionen. Erscheint eine Vorschrift im Einzelfall als nicht problemgerecht, so ist es Sache des demokratisch legitimierten und verfahrensmäßig gebundenen, prinzipiell in öffentlicher Diskussion festhaltbaren Gesetzgebers, sie sachgerecht zu ändern. Nicht ist es dagegen Sache eines Rechtsprechungsgremiums. Die Normtexte des Grundgesetzes über die Bestimmung der Funktionen wie die Bindungs- und Bestimmheitsvorschriften (z. B. Art. 20 III, 1 III; Art. 19 I 2, 80 I 2, 79 I 1) einschließlich der Kontrollnormen (z. B. Art. 19 IV, 93, 100) zeigen, daß das geltende Verfassungsrecht nicht im Sinn einer primär problemorientierten Topik, sondern in dem einer primär normorientierten Methodik zu verstehen ist. Das Fragwürdige dieser Variante von Topik wird im (allein interessanten) Konfliktsfall nie auszuschalten sein: Wer in einem bestimmten Sinn entscheiden will, dies aber nur in Bindung an das geltende Recht, wird nicht immer eine Norm finden, die sein Wollen rechtfertigt. Wer dagegen notfalls auch gegen geltendes Recht bestimmte inhaltliche Entscheidungen durchsetzen will, wird ohne Zwei-
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fel immer (verbale) Gründe finden, sein (politisches, ideologisches, interessenbedingtes) Wollen normunabhängig am – im Gegensatz zum Normtext ausschließlich von ihm selbst formulierten – „Problem“ zu rechtfertigen. 121
Für Strukturierende Methodik liegt in diesem Befund eine funktionelle Grenze, nicht ein striktes Entweder-Oder. Rechtsnormen sind strukturiert. Eine blockhafte Bindung an „die“ Norm im Sinn des herkömmlichen positivistischen Normbildes kann es praktisch nicht geben. Schon deshalb bleibt für normativ begrenzte topische Arbeitsweisen der sachlich erforderliche Raum. Und die normative Begrenzung topischer Argumentation liegt nach dem Gesagten nicht in „der“ Norm, sondern in der Bindung an einen bestimmten Strukturbestandteil von Rechtsgeltung. Dieser kann unter rein methodischen Aspekten nicht verbindlich ermittelt werden. Er gibt sich jedoch aus positivem Verfassungsrecht. Der Strukturbestandteil der Geltung, an welchen die „Bindung“ praktisch erfolgt, ist der Normtext (bei Vorschriften geschriebenen Rechts). An ihm findet wie jede andere Arbeitsweise auch die topische ihre Grenze. Zulässige juristische Argumentation, die rechtmäßige juristische Fallösung müssen am Normtext noch zu legitimieren sein. Nicht dagegen sind sie durch den Wortlaut der Rechtsregel positiv determiniert, nicht müssen sie „aus dem Wortlaut abgeleitet werden können“. Das war die nicht einlösbare Illusion des Gesetzespositivismus. Die topische Jurisprudenz entstammt antiken Sozialverbänden, die mit den heutigen vom Typus des Grundgesetzes viel zu wenig gemein haben, als daß diese Methode unbefangen weitergeführt werden könnte. Die gegenwärtige Topik verschiebt, wie topische Praxis das immer schon tat, die fraglichen Gesichtspunkte mehr oder weniger nach der Art von Kügelchen im Glasperlenspiel. Sie ist unpolitisch, im Sinn von: zu wenig auf die konkrete, d. h. die gesellschaftlich-juridische Verfasstheit der „Polis“ eingehend. „Unpolitisch“ heißt im entwickelten Rechtsstaat, im demokratischen Verfassungsstaat dann eben auch: für dessen normative Konkretisierung zu wenig erheblich. „Die“ Vernunft, die durch ein im wesentlichen prozedural geregeltes Problemdenken herausgebracht werden soll, ist nach aller Erfahrung die der Rechtsfunktionäre und ihrer sozialen Schicht, sie ist die ihrer standortgebundenen Interessen und Vorurteile. Das ist kein Vorwurf, Moralisieren läge neben der Sache. Es ist eine Feststellung. Je größer der den juristischen Entscheidungsträgern gelassene Spielraum ist, desto näher liegt die Gefahr, daß solche strukturelle Schieflage zu kruder Klassenjustiz wird. Jede abstrakt verallgemeinerte Freiheit begünstigt die Stärkeren, die mit ihrer Stärke dann frei schalten und walten können; und sie schwächt die Schwächeren noch weiter. Der common sense, auf den die Topik sich gründen muß, ist in einer nicht nur parteipolitisch pluralistischen, sondern nicht zuletzt sozial zerrissenen Gesellschaft alles andere als common. Auch hier erweist sich Rousseau als unüberholt: Zwischen dem Schwächeren und dem Stärkeren ist es die Freiheit, die unterdrückt, und das Gesetz, das befreit. Je wichtiger eine Frage ist, desto dringender ist sie durch öffentliche Politik zu bearbeiten, durch demokratische Legislative zu normieren und weiterhin in der öffentlichen Diskussion zu halten. Und damit
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dieses Volksrecht nicht durch apokryphes Amtsrecht in größerem Umfang ausgehebelt werden kann, ist durch ehrliche Praxis und auf sie bezogene sprachreflektierte Theorie, Methodik und Dogmatik das Optimum an Steuerungspotenzial der demokratisch gesetzten Normtexte zu sichern. „Sprachreflektiert“ soll dabei heißen: die Grenzen der Leistungsfähigkeit der natürlichen (Rechts-)Sprache erfassen, diese beschränkte Leistungsfähigkeit aber auch so weit wie praktisch nur möglich ausschöpfen. 222.34 Weitere Ansätze zu sachbezogener Methodik 222.340 Die Art der Ansätze Weitere Ansätze betreffen vor allem die Überlegungen zur „Natur der Sache“, 122 zur Verwendbarkeit institutionellen Denkens im Verfassungsrecht sowie die Suche nach rechtsmethodischen Perspektiven für einzelne Prinzipien der Verfassungsinterpretation. 222.341 „Natur der Sache“ Der Gesichtspunkt der „Natur der Sache“ in der Rechtsprechung des Bundesver- 123 fassungsgerichts ist hier schon kritisch gewürdigt worden. Er ist zu unergiebig, um einen selbständigen Komplex methodischer Möglichkeiten umschreiben zu können. In entgegengesetzte Richtung geht die vor allem in der Literatur begegnende Neigung, die „Natur der Sache“ in naturrechtlicher Region anzusiedeln und sie gegen Vorschriften des positiven Rechts von Fall zu Fall auszuspielen339. Eine so verstandene „Natur der Sache“ hat als außergesetzliche Rechtsquelle, als gegenüber der positiven Rechtsordnung höherwertig postulierte und in ihrer Seins-, Sinn-, Wertund Sollensstruktur hermeneutisch und methodisch rational kaum auflösbare Figur in einer Methodik des Verfassungsrechts keinen Ort. Es zeigt sich beispielsweise in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, wie leicht methodische Aufgaben der Normkonkretisierung durch Berufung auf naturrechtliche Evidenz, auf Vorgegebenheit oder Aufgegebenheit umgehbar sind. Die Mißlichkeit solcher Abstützung mindert sich nicht durch Vermischen naturrechtlicher Gehalte mit positivrechtlichen Regelungen. Savigny hat sich entschieden gegen die Einschaltung einer naturrechtlich konzipierten „Natur der Sache“ in die Rechtsauslegung und vor allem gegen ihre Vermengung mit positivrechtlichen Argumenten gewandt340. Der Tendenz nach besteht das Anliegen des Denkens aus der „Natur der Sache“ 124 zu Recht darin, das in Normtexten enthaltene Wirklichkeitsmodell als sachlich konstitutiv und methodisch konstruktiv in den Vorgang der Konkretisierung einzuführen. Da es aber hermeneutisch und methodisch darauf ankommt, die „Sache“ nicht 339 340
s. Maihofer I, etwa S. 172. v. Savigny II, S. 47.
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zu substantialisieren, um sie sodann in Beziehung zu einer substanzhaft oder logisch autonomen „Norm“ zu setzen, sondern sie von vornherein als Element rechtlicher Normativität herauszuarbeiten, begegnen die bisherigen Untersuchungen zur „Natur der Sache“ in der Rechtswissenschaft erheblichen Schwierigkeiten, über spekulative Abstraktion hinauszukommen341. Das Ergebnis dieser Reflexionen, die Natur der Sache begründe als ein objektiv feststellbarer Ordnungsfaktor das Recht maßgeblich mit, zeigt noch nicht, wie sich die Konkretisierung von Normen aufgrund dieser allgemeinen Einsicht praktisch zu verändern hat und wo die methodischen und rechtsstaatlichen Grenzen für eine Hereinnahme der „Sache“ zu suchen sind. Das Bundesverfassungsgericht entgeht dieser Gefahr, indem es die „Natur der Sache“ in untergeordneter Funktion als Hilfsmittel der Konkretisierung des Willkürverbots und als Kriterium für die Systemkonsequenz gesetzlicher Gesamtregelungen verwendet. 125
Damit ist der „Natur der Sache“ im Verfassungsrecht eine hinreichend erfaßbare methodische Struktur noch nicht gegeben. Doch ist dieses Ergebnis auch auf die Zurückhaltung des Gerichts gegenüber Sachunterstellungen in der Verfassungskonkretisierung zurückzuführen. Mit Recht hält es das Bundesverfassungsgericht für entscheidend, ob eine Verhaltensnorm nach soziologischem Befund, der von subjektiver Wertung des Interpreten frei zu halten ist, im Geltungsbereich der zu konkretisierenden Rechtsordnung als geltendes Sittengesetz allgemein anerkannt und als verbindlich betrachtet wird342. Damit ist zu Recht der unmittelbare Rückgriff auf das, was die entscheidende Stelle inhaltlich als „Sittengesetz“ verstehen will, entgegen bestimmten Tendenzen in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs abgeschnitten. „Natur der Sache“ darf nicht eine undifferenzierte Totalaussage sein. Sie ist das Ergebnis umgrenzbarer, in darstellbare Einzelschritte zerlegbarer Strukturanalysen. Umgrenzung wie Analyse muß sich an die zu konkretisierende Rechtsnorm und an den von dieser markierten normativen Spielraum halten. Eine so erarbeitete „Sache“ verzichtet auf den Anspruch einer von den Rechtsunterworfenen hinzunehmenden Verbindlichkeit. Sie stellt sich dem Urteil der Betroffenen wie dem der autoritativen und der wissenschaftlichen Rechtskonkretisierung, indem sie der Normkonkretisierung möglichst weitgehend kontrollierbare Sachkriterien anbietet. Andernfalls würde richterliche Spruchpraxis zum vielleicht ungewollten Instrument ideologischer Fixierung.
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An die Stelle der ideellen „Struktur“ in der Rechtsphilosophie sollte für eine strukturierende Rechts(norm)theorie und Methodik die normativ erfragte Sachstruktur des Normbereichs treten. Damit sind die Bemühungen um die „Natur der Sache“ im geläufigen Sinn verlassen. Diese Bemühungen klären nicht, inwieweit und auf welchen Wegen im einzelnen die von ihnen angezielte „Sache“ in eine strukturierende Rechts(norm)theorie und Methodik eingefügt werden kann. Es ist kennzeichnend, daß die meisten Vorschläge nicht auf theoretische und methodische Anregun341 342
s. etwa Maihofer I, Kaufmann II, Stratenwerth, Ballweg. BVerfGE 6, 389, 434, u. ö.
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gen für das Geschäft der Normkonkretisierung hinauslaufen, sondern auf rechtspolitische Anregungen für den Gesetzgeber beschränkt sind343. Die gewohnte Feststellung, die „Natur der Sache“ konstituiere das Recht maßgebend mit, sagt nicht, auf welche Weise sich dieses Mitkonstituieren abspielen soll. Die Denkform der Natur der Sache kommt zu kurz, wenn sie allein als Auslegungsbehelf verwendet wird344. Sie ist vielmehr als eine Strukturkategorie des Sachgehalts rechtlicher Vorschriften und damit als eine der Grundbedingungen, unter denen sich die Konkretisierung dieser Vorschriften praktisch vollzieht, zu fassen. Diese Sicht tritt an die Stelle der rechtsphilosophischen Fragestellungen nach der „Natur der Sache“, der „Sachlogik“ oder den „sachlogischen Strukturen“. Zu untersuchen sind die Normbereiche: Strukturen der Wirklichkeit, die in ihrem gegenständlichen Umfang und in ihrer Relevanz von Normprogrammen her umschrieben und an sie gebunden sind. Das Wirkliche erscheint nicht länger als undifferenziert umgreifende Gegebenheit. Es kommt überhaupt nur im Rahmen des Geltungsanspruchs einer bestimmten Norm in den Blick. Die Frage nach „Recht und Wirklichkeit“ wird damit von der praktischen Aufgabe der Jurisprudenz her und auf sie hin formuliert. Neben oder „zwischen“ dem nur als abstrakt-begriffliche Sprachgestalt verstandenen „Gesetz“ des herkömmlichen Verständnisses und der in die Unmittelbarkeit geschichtlichen Lebens eingetauchten „Natur der Sache“ macht sich die auf strukturierende Weise differenzierte Norm als sachbestimmter Typus rechtlicher Normativität geltend, als Komplex normativer und realmöglicher Sachgehalte. Die „Sache“ wird ersetzt vom Normbereich; die „Natur“ meint dessen unter den Aspekten des Normprogramms selektiv erfragte Grundstruktur345.
222.342 Institutionelles Denken im Verfassungsrecht Dieser Übergang vom Denken aus der „Natur der Sache“ zur konkretisierenden 127 Analyse der Normbereiche gehört nicht in den Umkreis institutionellen Rechtsdenkens346. Der Normbereich ist nicht institutionell gedacht. „Institution“ wird gekennzeichnet als relativ stabile wie relativ dynamische Gestalt in der Zeit, als „Ineinander“ und „Wechselbezüglichkeit von objektiven (versachlichten) und personalen Momenten“, als Zustand und Vorgang zugleich, als verfaßte Gegebenheit rechtlicher und tatsächlicher Daseinsweise347. Auch mit der Auffassung der Rechtseinrichtung als des die Freiheit ermöglichenden Normenkomplexes348 ist der Normbereich nicht zureichend erfaßbar. Viele Normen der Verfassung, besonders die Grundrechte des Bonner Grundgesetzes, weisen zugleich Komponenten subjektiver Berechti343 344 345 346 347 348
Ballweg, S. 35; Stratenwerth, S. 7, 20 und passim. Maihofer I, S. 152. Müller I, S. 175 ff., 184 ff. Häberle I, S. 70 ff. und passim. Häberle II, S. 390 ff. Lerche I, S. 241 f.; hierzu von der Soziologie her kritisch Luhmann I, S. 12 f.
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gung und – ohne Einbuße für die rechtlichen Möglichkeiten individueller Freiheit – objektiv-rechtlicher Verbürgung auf349. Das ist das Ergebnis einer die Sachstrukturen der verfassungsrechtlichen Normbereiche mit den Direktiven der entsprechenden Normprogramme zutreffend vermittelnden Konkretisierung. Es macht jedoch den Normbereich nicht zur „institutionellen“ Erscheinung. Die Grundstruktur des Normbereichs betrifft nicht anthropologische, ethische oder ontologische Verständnismöglichkeiten von Freiheit. Sie macht nicht freiheitsprägende Substanzen oder Strukturen der einzelnen Lebensgebiete zum Thema. Sie meint nicht die „Freiheit als Institut“, die entsprechend der Eigenart des Lebensbereichs dem freien einzelnen „objektiviert als etwas Gegebenes und Ausgestaltetes“ gegenübertreten und kraft welcher die individuelle Freiheit in die Grundrechte als Institute, als in objektive Lebensverhältnisse „eingebunden“ sein soll350. Die Analyse der Grundstruktur normativer Regelungsbereiche beschränkt sich auf Fragen der Normkonkretisierung. Sie untersucht bestimmbar geordnete Zusammenhänge, die den Sachgehalt einer von Rechtsprechung und Gesetzgebung, von Verwaltung und Rechtslehre zu konkretisierenden Norm möglichst weitgehend differenzieren helfen. Was Institutionsdenken durch methodische Richtigkeitskontrolle der praktischen Konkretisierung leisten kann, ist bereits in der systematischen Interpretation enthalten. Ein zusätzlicher Erkenntniswert innerhalb normgebundener Rechtsgewinnung ist nicht feststellbar. Der Versuch, durch Denken „in Institutionen“ Brücken zwischen normativen und realen Elementen zu schlagen, geht entweder in herkömmlicher systematischer Auslegung auf oder muß über die Norm hinauszielen. Wo allerdings versucht wird, aus rechtlichen Regelungen durch „institutionelles“ Verständnis mehr herauszuholen, als nicht-institutionell denkende Konkretisierung ermitteln kann, führt das zu „Normableitungen aus einer organizistischen Verselbständigung der Institution“; stellt es sich dar als „eine mit rationalem Denken unvereinbare Mystifizierung, welche die kritische Arbeit und rechtspolitische Freiheit von Legislative und Jurisdiktion nur erschwert“351.
222.343 Verfassungsinterpretation als Verwirklichung von Autonomie oder als praktische Verfassungstheorie 128
Verfassungsinterpretation als „Postulat der praktischen Vernunft“, als „Denknotwendigkeit“ soll „im Zeichen des Sollens, nicht aber im Zeichen des Wollens, der Setzung oder der Konvention“ begründet werden durch eine Position, die sich im Ansatz durch den Autonomiesatz Kants bestimmt wissen will. Dieser Satz ist – nicht als Aussage über menschliche Wirklichkeit, sondern als Norm, als Postulat – Freiheit als Selbstbestimmung des einzelnen und zugleich Achtung vor der Freiheit Z. B. BVerfGE 10, 118, 121; 15, 223, 225. Vgl. dazu grundsätzlich Jeand’Heur XII. Häberle I, S. 96 ff., 100 ff.; II, S. 394 f. 351 Esser IV, S. 18. – S. a. die sarkastische Ablehnung „institutioneller“ Denkfiguren bei Rüthers, z. B. S. 45 ff., 49 ff., 57 ff. 349 350
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des andern. Im Rahmen eines von hier aus entwickelten Grundrisses für das Modell eines freiheitlichen Rechtsstaats soll es der Verfassungsinterpretation praktisch darum gehen, „die eigentlichen Intentionen der Verfassung angesichts der Möglichkeit der Zweideutigkeit der Sprache, in der sie zum Ausdruck gelangen, zu realisieren“; und unter dem theoretischen Gesichtspunkt darum, „Interpretationsmethoden zu entwickeln, die, theoretisch-wissenschaftlich gesichert, willkürliche Auslegungen verhindern“. Verfassungsinterpretation muß sich hiernach sowohl am Gebot materialer Gerechtigkeit wie an dem der Rechtssicherheit ausrichten und sich orientieren am „objektivierten Willen des Verfassungsgebers“352. Der Grundsatz einer Vermutung zugunsten der Freiheit bei zweifelhafter Interpretation und ein striktes Zuordnungsverhältnis von formellem und materiellem Recht bei der Auslegung organisatorischer Bestimmungen ergeben sich als Leitgesichtspunkte aus der Gesamtstruktur der freiheitlich-demokratischen Verfassung. Verfassungsinterpretation soll im ganzen anzulegen sein „auf eine dialektische Verbindung, auf eine Harmonisierung der verschiedenen Prinzipien im einzelnen Fall“353. Ein weiterer Versuch, eine Rahmenvorstellung für Prinzipien der Verfassungsin- 129 terpretation zu entwickeln, orientiert sich an der Entwicklung der allgemeinen und besonders der zivilrechtlichen Interpretationslehre sowie an Einsichten der neueren philosophischen Hermeneutik354. Juristisches Denken wird als seiner Grundstruktur nach topisches Problemdenken aufgefaßt. Als eigentliche Hermeneutik im Verfassungsrecht erscheint eine sachbezogene Verfassungstheorie. Mit ihrer Hilfe sind in Abhebung von der allgemeinen juristischen Hermeneutik Prinzipien der Verfassungsinterpretation als „am Problem entwickelte sachliche Regeln für Problemlösungen“ zu bilden, die als „Ausdruck des verfassungstheoretischen Vorverständnisses bestimmter verfassungsrechtlicher Probleme“355 aufgefaßt werden. Die hermeneutische Funktion der Verfassungstheorie tritt vor allem bei Ausbau der Verfassungsrechtsprechung hervor. Zur Entwicklung des Verfassungsrechts ist in erster Linie der demokratische Gesetzgeber, in hervorgehobenem Maß jedoch auch die rechtsfortbildende Verfassungsrechtsprechung berufen. Materiell-rechtliche, funktionell-rechtliche Interpretationsprinzipien und spezielle Regeln der Grundrechtskonkretisierung werden vor dem Hintergrund der Einsicht formuliert, daß die Lösung praktischer Rechtsfälle durch das bewußte oder unbewußte verfassungstheoretische Vorverständnis eines Problems wesentlich vor- und mitentschieden wird. Über die Frage, welches verfassungstheoretische Vorverständnis überzeugend bzw. vertretbar ist, soll der Konsens aller vernünftig und gerecht Denkenden entscheiden. Dieser Konsens ist nicht als psychologische Meinungsforschung, sondern im Sinn rationaler Debatte der Einzelergebnisse der Verfassungstheorie und ihrer Bestätigung als Ergebnis solcher Diskussion gemeint. 352 P. Schneider I, S. 14 f., 23 f., 30; zur Verfassungsinterpretation als „Postulat der praktischen Vernunft“ im Sinn des Kantischen Autonomiesatzes: ebd., S. 133. 353 P. Schneider I, S. 134. 354 Ehmke III. 355 Ehmke III, S. 72 ff.
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2 Stand der Methodik – 22 Literatur
222.344 Prinzipien der Verfassungsinterpretation 130
Von diesen neueren Ansätzen aus wurden Versuche unternommen, Kataloge von Direktiven der Verfassungsinterpretation zusammenzustellen. Sie betreffen die Kombination einer Zusammenschau von formellem und materiellem Verfassungsrecht mit dem Auslegungsprinzip in dubio pro libertate356, die Entwicklung (primär) funktionell-rechtlicher Interpretationsprinzien (Grundsatz der verfassungskonformen Auslegung, „political question“-Doktrin, „preferred freedoms“-Doktrin), von (primär) materiell-rechtlichen Interpretationsprinzipien (Interpretation der Verfassung als einer Einheit, und als besondere Prinzipien der Grundrechtsinterpretation: die Frage einer Interpretation der Grundrechte aus einem angenommenen Grundrechts-„System“, Interpretationsgrundsätze „in dubio pro libertate“ und „Grundrechtseffektivität“) und die der These, diese Prinzipien seien nur vor dem Hintergrund einer durch den Konsens der Beteiligten getragenen Verfassungstheorie praktikabel357. Von diesen Ausgangspunkten her wurden noch zweimal Einzelgrundsätze der Verfassungsinterpretation diskutiert: Prinzip der Einheit der Verfassung, Gedanke des „vorverfassungsmäßigen Gesamtbildes“, Zusammenschau von Grundrechten und Kompetenzvorschriften, in dubio pro libertate, Einordnung der auszulegenden Vorschrift in den geistes- und ideengeschichtlichen Zusammenhang, Zweckmäßigkeitserwägungen und Fragen der Verifizierbarkeit des Auslegungsergebnisses – Aspekte, die vorwiegend der Rechtsprechung entstammen358 – sowie aus der Verfassung entwickelte Maßstäbe der Relevanz problembezogener Lösungsgesichtspunkte: Maßstab integrierender Wirkung, Prinzip der Einheit der Verfassung, Prinzip praktischer Konkordanz, Maßstab funktioneller Richtigkeit und der Gesichtspunkt der normativen Kraft der Verfassung359. 222.345 Analyse der Normstruktur als Aufgabe praktischer Konkretisierung
131
Die Rechtsprechungsanalyse ergab, daß Sachbestandteile der zu konkretisierenden Verfassungsnormen den Vorgang der Konkretisierung vielfach inhaltlich mitbestimmen, daß sie somit in diesem Vorgang neben andern Elementen als normativ behandelt werden. Dieser Grundsachverhalt juristischer Methodik ist in der Judikatur bisher unreflektiert geblieben360. Das entspricht der Fragestellung herkömmlicher Rechtsphilosophie. Sie erörtert die Bauweise von Rechtsnormen im Spannungsverhältnis von „Recht“ und „Wirklichkeit“, in einem Feld „normativer“ und P. Schneider I. Zum ganzen: Ehmke III. 358 Ossenbühl I. 359 Hesse II, S. 26 ff. Vgl. zur Verfassungstheorie des demokratischen Rechtsstaats grundlegend Windisch I, S. 326 ff. 360 Deutlich anders jetzt aber BVerfGE 73, 118 ff., 154 und ff. sowie E 74, 297 ff., 350 und ff. 356 357
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„realer“ oder „empirischer“ Elemente nicht als Problem praktischer Rechtserzeugung. Weder die an den Savignyschen Regeln festhaltenden Auffassungen noch die neueren Versuche, die überkommene Methodenlehre der Rechtswissenschaft und die traditionelle verfassungsrechtliche Methodik fortzuentwickeln, haben das Verhältnis der normativen Anordnung zu dem von ihr geordneten Wirklichkeitssegment differenziert untersucht. Der von der Analyse der Rechtsprechung ausgehende Ansatz fragt dagegen statt nach „Norm und Faktum“ nach der Struktur rechtlicher Normativität, wie sie sich in praktischer Rechtstätigkeit darstellt. „Sein und Sollen“ ist nicht länger ein generelles Problem der Rechtsphilosophie. Es ist eine Frage nach der Struktur rechtlicher Normen im Vorgang ihrer praktischen Umsetzung und damit zugleich nach der Struktur dieses Umsetzungsvorgangs. Dabei ergibt sich, daß nicht nur der Sollensbefehl, das „Normprogramm“, sondern bei einer Reihe von Normtypen auch die Sachstruktur des Regelungsfelds, soweit sie vom Juristen mittels des Normprogramms als fallrelevanter Ausschnitt sozialer Wirklichkeit ausgewählt und zum „Normbereich“ verengt wird, den Fall mitentscheidet. Die Trennung von „Recht“ und „Wirklichkeit“ weicht einer genaueren Analyse direktiver und soziale Realität repräsentierender Elemente der Normativität. Das wurde vor allem an den Grundrechten und an sonstigem Verfassungsrecht herausgearbeitet. Es stellt jedoch allen Rechtsdisziplinen die Aufgabe sozialwissenschaftlicher Synthese des „law in action“361 und der Jurisprudenz insgesamt die einer neuen Reflexion ihres Wissenschaftstypus362. Das Verhältnis von Recht und Wirklichkeit wird weder in rechtsphilosophischer Allgemeinheit noch nur in Einzelheiten von Fallbearbeitung und Lösungstechnik erfaßt. Beide Sichtweisen sind im Sinn einer strukturierenden Rechts(norm)theorie zu verbinden. Dabei gilt es, die Struktur rechtlicher Normativität und der grundsätzlichen Bedingungen juristischer Konkretisierung zu analysieren. Es sind ferner die Voraussetzungen juristischer Methodik, Dogmatik und Falllösung im Blick auf die Rolle der normierten Wirklichkeit für inhaltliche Ausrichtung und Entscheidungsfunktion der Rechtsnorm zu untersuchen. Rationalität wird dabei im Sinn von Transparenz und Kontrollierbarkeit angestrebt: indem die Frage nach „Norm und Faktum“ geändert wird zu der nach Normativität und Normstruktur. Um der Normativität der Norm und um der Rechtswissenschaft als einer praktischen Normwissenschaft willen müssen die Sachgehalte von Rechtsregeln als Bestandteil der Auslegung, Interpretation und Konkretisierung dieser Regeln positiven Rechts erfaßt und aufgeschlüsselt werden. Nicht zufällig ist dieser Grundsachverhalt zuerst im Verfassungsrecht entwickelt und an verfassungsgerichtlicher Judikatur belegt worden. „Normbereich“, „Normprogramm“ und „Sach“- bzw. „Fallbereich“363 sind Bestandteil oder Vorstufen der zu erstellenden Norm. Sie meinen Dazu in aller Deutlichkeit Patterson II, S. 294: „Law is not a theory, it is a practice …“ Vgl. zur Diskussion hierzu auch Bernhart, S. 25 ff. 363 Zu den Erläuterungen der Begriffe: Müller II, S. 9 f.; zum ganzen: Müller I, II sowie ders. XIX, S. 250 ff. – Gegen die Spaltung in Recht vs. Wirklichkeit, gegen die Vorstellung von „reinem Sollen“ und der „einzig richtigen Entscheidung“ unter dem Gesichtspunkt der Virtualität der Normtexte: Müller XXXVII. 361 362
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nicht die Erforschung von „Rechtstatsachen“, die dem Gesetzgeber historisch vorlagen und nach denen er die Interessenkonstellation ordnen wollte. Sie stehen im Dienst objektiv orientierter Normkonkretisierung, nicht traditioneller „Motiv- und Willensaufhellung“364. „Normbereich“, „Normprogramm“, „Sach“- und „Fallbereich“ stellen als theoretisch fundierte methodologische Strukturbegriffe weitere Hilfsgesichtspunkte, zusätzliche Elemente der Rationalisierung, der detaillierten Begründungs- und Darstellungsmöglichkeit zur Verfügung. 222.346 Das Verfahren der Bildung von Normhypothesen 222.346.1 „Vernunftrechtliche“ Interessenberechnung 132
Gleichfalls am Verfassungsrecht wurde das Verfahren der Rechtsgewinnung als durch Interessenbewertung strukturierter Vorgang untersucht. Verfassungsrechtliche Rechtsgewinnung wird auf verfassungsgerichtliche Judikatur eingeschränkt. Die Untersuchung will nicht Regeln dafür aufstellen, wie der Richter verfahren sollte, sondern beschreiben, wie er tatsächlich verfährt. Die Wirklichkeit juristischer Praxis soll erkannt werden, indem man die primären, häufig unbewußt bleibenden Motivationen für die Entscheidung erfaßt. Diese werden hiernach in der Regel durch sekundäre Legitimierung der Ergebnisse an den vorgeblich konkretisierten Normen verschleiert. Ausgangspunkt dieses Analyseverfahrens ist die Überzeugung, der Richter sei nur insoweit an eine Norm gebunden, als diese den zu entscheidenden Fall in ihrem Normtext eindeutig regle. Von hier aus wird die Schlußfolgerung unausweichlich, Verfassung und sonstige Rechtsordnung hätten nur den geringsten Teil der zu entscheidenden Fälle geregelt365. Für die große Masse der Fälle stützt der Richter seine Entscheidung demnach auf „vernunftrechtliche Erwägungen“ von rechtspolitischer Argumentationsstruktur oder auf Präjudizien, denen eine „präsumtive Verbindlichkeit“ zugesprochen wird366. Gerecht im Sinn von „vernünftig“ ist dann die Entscheidung, die „dem Allgemeininteresse oder bei Gruppeninteressen 364 Vgl. aber die Nachweise bei Bender S. 445. – Der hier entwickelten Auffassung, die Auslegung von Verfassungsbegriffen habe die Strukturmerkmale des Normbereichs bewußt einzubeziehen, folgt der „Mephisto“-Beschluß („Lebensbereich“, „Sachbereich“, „Regelungsbereich“ u. ä.), was den dogmatischen Ansatz betrifft. Die dadurch gewonnene Klarheit wird später durch „wertende Abwägung der Umstände des Einzelfalles“ wieder vermindert; vgl. BVerfGE 30, 173 ff., 188 ff., 191 ff., 193 f. einerseits, andererseits 196 ff. Immerhin hält das BVerfG fest, daß die „Abwägung“ „zunächst“ Sache der Instanzgerichte sei und daß das BVerfG nur eine unrichtige Behandlung der grundrechtlichen „Schutzbereiche“ („Grundrechtsbereiche“), ebd., 197, rügen dürfe. – Mit „Mephisto“ beginnt eine betont rechtsstaatliche Grundrechtspraxis des BVerfG, die bei Müller III, S. 103 ff. dargestellt ist. 365 Kriele I, S. 23, 161, 244. 366 Kriele I, S. 195. Eine rationale „Folgenorientierung in der Rechtsanwendung“ wird angestrebt bei Deckert. – Eine – durch die dort so genannte „Institutionalität“ und „Approximativität“ eingeschränkte – Bindung an „einschlägige Präjudizien“ vertritt Reinhardt. – Sorgfältig wird die Rolle der „ständigen Rechtsprechung“ in diesem Problembereich bei Feldner untersucht.
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dem relativ fundamentalsten dient“367. Insgesamt bestehe die Struktur vernunftrechtlicher Entscheidungserwägung wie rechtspolitischer Argumentation in der Ermittlung der praktischen Folgerungen der ins Auge gefaßten Entscheidung, der dadurch berührten Interessen und schließlich in der Bevorzugung solcher Interessen, die „eindeutig fundamentaler sind als alle anderen auf dem Spiele stehenden Interessen“368. Alles übrige in der Darstellung der gerichtlichen Entscheidungsbegründung gebe nicht die Gesichtspunkte wieder, die den tatsächlichen Entscheidungsprozeß getragen und motiviert hätten. Dieser Rest sei dadurch bestimmt, das auf Grund vernunftrechtlicher Erwägung und Interessenberechnung bereits feststehende Ergebnis nachträglich zu rechtfertigen bzw. als vertretbar, als rechtfertigungsfähig darzustellen. Alle Bemühungen von Rechts(norm)theorie und Methodik schrumpfen damit auf „sekundäre Legitimierung der Entscheidung aus Gesetz oder Verfassung“369. Die unausweichlichen und in derartigem Umfang angenommenen Wertungsfaktoren juristischer Entscheidung sollen als rechtspolitisch strukturiert erkannt und damit nach Möglichkeit diszipliniert werden. Als Legitimitätsgrundlage des Verfassungssystems unter dem Bonner Grundgesetz, als Rationalität der rechtsund verfassungspolitischen Argumentation erscheint nur noch die „vernunftrechtlich“, also gerechtigkeitsorientiert gefaßte Rationalität „der Berücksichtigung und Abwägung der Interessen bei der Aufstellung von Rechtsregeln“370, nicht Berechenbarkeit, Durchsichtigkeit und differen-zierende Kontrollierbarkeit der Entscheidungsbildung und Darstellungsweise im Sinn rechtsstaatlicher Anforderungen371. Die Relevanz konkurrierender Interessen soll inhaltlich am Maß des Gemeininteresses bzw. des jeweils fundamentaleren Interesses gemessen werden können. Interessenberechnung und Interessenabwägung, rechts- und verfassungspoliti- 133 sche Debatten sind in der Fallentscheidung durch geltende Normen abgeschnitten. Ob sie für den Einzelfall abgeschnitten sind und wie dieser Sachverhalt im Sinn von Kontrollierbarkeit und Transparenz zu ermitteln ist, gehört zu den rechts(norm)theoretischen und methodischen Fragen, die von dieser Konzeption ausgespart werden. Die damit eliminierten und für „sekundär“ erklärten Elemente praktischer Normkonkretisierung sind jedoch durch rechtspolitische Interessenabwägung allein nicht ersetzbar. Das gilt, obwohl das „vernunftrechtliche“ Element nicht erst am Ende des Rechtsgewinnungsvorgang als Deus ex machina einer übergestülpten Gerechtigkeit auftaucht, sondern auf dem Weg der Bildung von Normhypothesen und angesichts der Bedeutung der – allerdings zumeist ungenauen – „teleologischen“ Momente von Anfang an im Spiel ist. Doch geht diese Position davon aus, erreichbar sei nur, „daß die teleologischen, wertenden Elemente des juristischen Denkens ins Bewußtsein gehoben, artikuliert und zur Rechtfertigung gezwungen werden“372. Zwischen 367 368 369 370 371
Kriele I, S. 198. Kriele I, S. 179, 186. Kriele I, S. 312. Kriele I, S. 185, 186 und ff. Zu dieser Forderung des Bundesverfassungsgerichts vgl. BVerfGE 99, 216, 242.
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dem Verfahren der Gesetzgebung und dem richterlicher Fallentscheidung wird strukturell kein Unterschied gesehen. Beide sollen durch die Denkweise eines die praktischen Konsequenzen jeder zu bildenden Entscheidungsnorm bedenkenden Erwägens der Gründe, der am Ziel der Gerechtigkeit ausgerichteten rechtspolitischen Folgenvoraussagen und Interessenbewertung „vernunftrechtlich“ bestimmt sein. Rechtserzeugung ist demnach das Anstreben von Gerechtigkeit durch Normsetzung, sei es mit dem Mittel der Gesetzgebung, sei es mit dem richterlicher Fallentscheidung. In diesem Sinn und nicht im Sinn von Begrenztheit und Bedingtheit der Objektivität einer juristischen Hermeneutik und Methodik soll dem (Verfassungs-) Gesetzgeber nicht das Monopol, sondern nur die Prärogative der Rechtserzeugung zukommen. 134
Der in diesen Sachverhalt eingebundene tatsächliche juristische Denkvorgang ist ganz von dem wirklichen oder erdachten Fall bestimmt, dessen Lösung die Interessenabwägung dienen soll. Nicht der vom Fall isolierte Gesetzestext, sondern der Fall ist es, der das juristische Problem umschreibt und aktuell macht. Der Normtext und seine Auslegung sind nur ein Moment in diesem Denkvorgang. Zwischen Textinterpretation und Fallösung auf der einen, Problem und judiziellen Vorentscheidungen auf der andern Seite besteht für ein Verständnis der Philosophie als philosophia practica eine untrennbare Wechselbeziehung373. Von hier aus werden als „Stadien der Rechtsgewinnung“ die vom Sachverhalt des wirklichen oder erdachten Rechtsfalls angeregte Bildung von Normhypothesen und deren Funktion untersucht. Die Normhypothesen sagen dem Juristen, „in welchen Gesetzen er blättern und in welcher Gegend der Gesetze er suchen soll“. Sie stellen ihm die Frage, „ob der Rechtssatz die Tatsachen, deren Relevanz er erwägt, als relevant behandelt“. Die Normhypothesen vermitteln ein „Hin- und Herwandern des Blicks“ zwischen Gesetz und Lebenssachverhalt. Der Paradefall des Subsumtionspositivismus, die problemlose „Anwendbarkeit“ eines Normtextes auf den weiter keine Frage aufwerfenden Sachverhalt, ist ein Grenzfall. Um im Normalfall die Rechtfertigungsfähigkeit des Einschlusses oder Ausschlusses der dem Fall zunächst zugeordneten Normhypothese prüfen zu können, muß der Jurist bereits vorausgesetzt haben, es ließen sich die „gesetzlich und präjudiziell vorgegebenen Normen“ überhaupt rechtfertigen374.
222.346.2 Rechtspolitik und Konkretisierung 135
Diesem Teilansatz verfassungsrechtlicher Methodik ist vorgehalten worden, den normativen Gehalt der Verfassungs- und Rechtsordnung zu verfehlen. Wenn es dem Gesetzgeber im Normalfall auch nicht gelinge, unmittelbar anwendbare (subsumtionsfähige) Regeln zu erstellen, dann doch immerhin die zur Bildung solcher Regeln erforderlichen Grundsätze und Maßstäbe, nach denen jeder von ihnen berührte Fall 372 373 374
Kriele I, S. 99. Kriele I, S. 159 ff.; zum folgenden ebd., S. 162 ff. Kriele I, S. 165, ferner 167 ff., 169 ff., 172 ff.
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entschieden werden solle und könne. Somit sei die Entscheidung dem Gesetz nicht nur für den kleinsten Teil der praktischen Fälle zu entnehmen. Die anzustellenden „vernunftrechtlichen Erwägungen“ liefen, da der Maßstab der Interessenbewertung nicht aus dem Gesetz stammen soll, auf nicht nachprüfbare subjektive richterliche Einzelabwägung der von der Entscheidung berührten und jeweils „fundamentaleren“ Interessen hinaus. So geartete vernunftrechtliche Erwägungen seien nicht imstande, Auslegung im methodischen Sinn zu ersetzen. Sie hätten ihren Platz allenfalls innerhalb der Methodik, als Teilgesichtspunkt teleologischer Auslegung375. Die Berufung auf die Rechtsvernunft liefere nichts anderes als einen dem topischen Verfahren entsprechenden Hinweis auf den common sense. Sie sei zu einseitig auf die Tätigkeit der höchsten Gerichte und der Wissenschaft verengt und verkenne in grundsätzlicher Weise das zahlenmäßige und strukturelle Verhältnis hinreichend eindeutig normierter Regeln zu „wertausfüllungsbedürfigen“ Normen und Generalklauseln innerhalb der Rechtsordnung376. Die semantische Analyse der zur Auslegung stehenden Texte und die Funktion der auszulegenden Normen, hier die verfassungsgeschichtlich von derjenigen der Reichsverfassungen von 1871 und 1919 abweichende Struktur des Bonner Grundgesetzes, würden vernachlässigt bzw. nicht beachtet. Weder die Beschränkung verfassungsmethodischer Erörterung auf die Praxis verfassungsrechtlicher Judikatur noch die Weigerung, dem modernen Verfassungsrecht gemäße rationale Interpretationsstufen methodischer Art zu entwickeln, seien dogmatisch oder rechtspolitisch zu rechtfertigen377. Das Eliminieren der theoretischen und methodischen Konkretisierungsregeln aus 136 dem Geschäft der Verfassungsverwirklichung wird den Problemen heutiger Verfassungsmethodik in der Tat nicht gerecht. Die Aspekte juristischer Methodologie, die Figuren dogmatischer Begründung und lösungstechnischer Bewältigung anstehender Fragen sind in jeden Rechtsgewinnungsvorgang der Praxis verwoben. Dasselbe gilt für die Fragen von Normstruktur und strukturierender Normkonkretisierung, und zwar auch dort, wo sie von den Gerichten in ständiger Praxis unausgesprochen verwendet werden. Die ungesagten, die „verdeckten“ Urteilsgründe finden sich nicht nur im Umkreis verschwiegener rechtspolitischer Wertungen, nicht nur unter den nach den Konsequenzen einer Entscheidung und ihrer Wertigkeit für fundamentale Interessen fragenden Überlegungen. Sie betreffen gleichrangig und in nicht geringerem Umfang rechtstheoretische Grundfragen der Konkretisierung, methodische Hilfsgesichtspunkte, dogmatische Konstruktionsversuche und rechtsstaatliche Gebote der Normbestimmtheit und Methodenklarheit. Auch „vernunftrechtliche“ Interessenabwägung kann nicht über die Differenz von Norm und Normtext hinweggehen378. Doch soll der Zusammenhang von positivem Recht und Rechtsver-
Larenz I (3. Auflage 1975), bes. S. 324 f.; in der 6. Auflage (1991) vgl. z. B. S. 147 ff. Canaris II, S. 144, 147; s. a. Forsthoff III, S. 524 f., 526. 377 Forsthoff III. 378 Zur Aufnahme dieser von der Strukturierenden Rechtslehre vorgeschlagenen Unterscheidung vgl. Engländer II, S. 143, Fn. 167 mit Hinweis auf die Übereinstimmung mit der 375 376
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nunft nur darin bestehen, „daß der Text überhaupt nur richtig interpretiert werden kann, wenn ihm die Intention der Vernünftigkeit und Unparteilichkeit (zu Recht oder Unrecht) unterstellt wird“; soll eine Norm nur dann einschlägig sein, wenn sie eine „Lösung mittels klarer Worte“ anbietet. Normkonkretisierung in diesem Sinn soll schrumpfen zu einer „Entscheidung, die sich aus dem Text von Gesetz oder Verfassung ergibt“379. Die Norm ist aber nicht gleich dem Normtext. Interpretation ist nicht gleich Subsumtion, Konkretisierung nicht gleich Interpretation (Textauslegung). Das Verhältnis von Norm und (Fall-)Problem ist rational in den Griff zu bekommen, nicht ein „Verhältnis von Text und Problem“380. Normkonstruktion ist nicht nur Auslegung des Normtextes. Daher kann in dem Zusammenhang von positivem Recht und Rechtfertigungsfähigkeit, aufgefaßt nur als derjenige „von Textinterpretation und Rücksicht auf die Beurteilung des Ergebnisses“381, weder der allein entscheidende Punkt im praktischen Vorgang der Rechtsgewinnung noch das beherrschende Hauptproblem juristischer Methodenlehre gesehen werden. Die auf rechtspolitische Interessenberechnung verengte Argumentation vernachlässigt Rationalität und Objektivität von Rechtswissenschaft und Rechtspraxis im Sinn rechts (norm)theoretischer und methodischer Rechenschaftslegung, im Sinn von Offenlegung und Fortentwicklung der Mittel ihrer einzelnen Denkschritte, der Struktur ihrer Methoden. Nur so konzipierte Methoden lassen die Einschlägigkeit und den Sachgehalt einer verbindlichen (Verfassungs-)Gesetzesvorschrift in Vermittlung mit dem zu lösenden Rechtsfall und mit den in diesem Rahmen zu entwerfenden Texthypothesen ermitteln. Von jener Position wird das Ziel juristischer Objektivität im Sinn nachprüfbarer und diskutierbarer Durchsichtigkeit juristischer Gedankengänge und Darlegungen auf der einen, im Sinn von Objektgeprägtheit und normorientierter Sachgerechtigkeit auf der andern Seite vernachlässigt. Ein nicht subsumierbarer Verfassungsnormtext ist konkretisierungsbedürftig, nicht aber für die Entscheidung des Rechtsfalls etwa ohne Belang. Erst hier setzt die ausgedehnte und vielschichtige, die Hauptprobleme von Rechts(norm)theorie und Methodik betreffende, bei Kriele dagegen auf die Rolle scheinrationaler „sekundärer“ Legitimation verengte Problematik von Normstruktur und Normbehandlung in den Einzelheiten praktischer Rechtsfindung ein. Nur mit der „Offenlegung der unbewußt gebliebenen juristischen Denkvorgänge“382 im Sinn einer rechtspolitisch-vernunftrechtlichen Struktur aller Rechtsgewinnung und mit der Beschränkung der rechts(norm)theoretischen, methodischen und dogmatisch-konstruktiven Elemente der Rechtsfindung allein auf nachträglich verschleiernde Rechtfertigung gerichtlicher Spruchpraxis aus dem Gesetz wird den in der tatsächlichen Praxis begegnenden Verschleierungen mit allzu begrenzten und insofern mit untauglichen Mitteln begegnet. traditionellen Unterscheidung von Norm und Normformulierung in der analytischen Philosophie. 379 Kriele I, S. 169, 215. 380 Kriele I, S. 212. 381 Kriele I, S. 172. 382 Kriele I, S. 207.
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222.346.3 Rechtspolitik und Methodik Juristische Argumentation ist von rechtspolitischen Wertungen durchsetzt. Die 137 verfassungsrechtliche Methodik muß, ebenso wie die allgemein juristische, Maßstäbe dafür entwickeln, daß statt materialer Ungerechtigkeit materiale Gerechtigkeit die juristischen Entscheidungsvorgänge leitet. Diese Maßstäbe liegen in den Gehalten „materialer“ und „formaler“, also sachregelnder und verfahrensregelnder (Verfassungs-)Normen. Deren Strukturerfassung, Interpretation und kontrollierbar begründete und dargestellte Konkretisierung machen den größten, für die Praxis beschwerlichsten, rechts(norm)theoretisch und methodisch gewichtigsten Teil des Rechtsgewinnungsvorgangs aus. Das ist nicht allein, aber auch nicht zuletzt darauf zurückzuführen, daß die Probleme juristischer Interpretation und Normkonkretisierung nicht von Überlegungen philosophischer oder geisteswissenschaftlicher Hermeneutik bestimmt werden, sondern vorrangig von juristischen Denkformen und von Vorschriften geltenden Rechts, zu denen vor allem Verfassungsgebote im Umkreis des Rechtsstaats zählen. In vielen Fällen hat sich das geltende Recht gegen rechtspolitisch diskutierbare 138 fundamentale Interessen entschieden. Eine die weitere vernunftrechtliche Debatte abschneidende normative Entscheidung des Verfassunggebers kann solche verbindlichen Setzungen legitim statuieren. Der Nachweis solcher Setzung bzw. ihre Umsetzung auf die Regelung eines zur Entscheidung anstehenden Falls sind Aufgaben rationaler Normkonkretisierung. Kriterien der Gerechtigkeit sind für das Ergebnis strukturell wesentlich. Sie vermögen aber nicht unbedingt den Einzelfall inhaltlich zu präjudizieren, im Fall seiner Regelung durch positives Recht ihn nicht abweichend von dieser Regelung zu ordnen. Gerechtigkeit kann beispielsweise zugunsten bestimmter grundrechtlich geschützter und damit zu Ungunsten anderer fundamentaler oder sogar fundamentalerer Interessen durch positive Regel mit einer für den praktischen Juristen verbindlichen Wirkung verwirklicht sein. In solchen Fällen ist im Rahmen der positiv-rechtlichen Entscheidung die weitere Erörterung abgeschlossen, welches der beteiligten Interessen grundlegender sei. Die Konkretisierung einer solchen Regelung für den praktischen Fall kann schon vom Ansatz her nicht durch „vernunftrechtliche“ Interessenabwägung, sondern allein mit dem Instrumentarium (verfassungs-)rechtlicher Methodik geleistet werden. Dagegen können sich die rechtspolitischen Aspekte inhaltlicher Gerechtigkeit 139 und „richtiger“ Interessenbewertung auf der Grundlage einer solchen Methodik legitim, weil rational diszipliniert entfalten. Die hier vertretene Theorie der Normstruktur drängt dazu, als Gegenstand juristischer Arbeit nicht nur den normativen status quo, sondern immer auch dessen Veränderbarkeit anzusetzen. Jede Normbereichsanalyse führt auch auf rechtspolitisch verwertbare Sachgegebenheiten. Schließlich umfaßt die hier entwickelte Strukturierende Methodik in ihrer Erstrekkung auf alle Funktionen, in denen normtextorientiert und damit juristisch gearbeitet wird, den gesamten Kreislauf der Rechtsverwirklichung (Normtextsetzung – Normkonkretisierung im umfassenden Sinn – neue Normtextsetzung) und damit in
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2 Stand der Methodik – 22 Literatur
höherem Maß als die auf Rechtsprechung und Wissenschaft konzentrierte herkömmliche Methodik auch das Feld rechtspolitischer Überlegungen. 222.347 Die Auflösung der Grundrechte in Prinzipien oder Werte 140
Schon bei der Analyse der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wurden neben vielfältigen Ansätzen einer sachgerechten und differenzierenden Methodik begrifflich unscharfe und kaum zu überprüfende Verfahren der Wertabwägung festgestellt383. In der neueren Literatur macht sich Alexy „die Rehabilitierung der vielgeschmähten Werttheorie“ des Bundesverfassungsgerichts zum erklärten Ziel. Für seinen Ansatz ist die Unterscheidung zwischen Regeln und Prinzipien384 als zwei unterschiedlichen Gruppen von Normen grundlegend. Regeln sind demnach Normen, „die stets nur entweder erfüllt oder nicht erfüllt werden können. Wenn eine Regel gilt, dann ist es geboten, genau das zu tun, was sie verlangt, nicht mehr und nicht weniger“. Prinzipien sind demgegenüber „Optimierungsgebote, die dadurch charakterisiert sind, daß sie in unterschiedlichen Graden realisiert werden können und das gebotene Maß ihrer Erfüllung (…) auch von den rechtlichen Möglichkeiten abhängt. Der Bereich der rechtlichen Möglichkeiten wird durch gegenläufige Prinzipien bestimmt“385. Die Grundrechte sind aus dieser Sicht Prinzipien. Deren Vorteil liegt darin, daß sie im Konfliktfall mit den kollidierenden Prinzipien abgewogen werden können. Die Frage, welches der kollidierenden Prinzipien vorgehen soll, wird von Alexy dabei mit Hinweis auf die Diskurstheorie beantwortet, wonach gilt: „Eine Abwägung ist rational, wenn der Präferenzsatz, zu dem sie führt, rational begründet werden kann“386.
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Von hier aus wird der grundrechtliche Ansatz der Strukturierenden Rechtslehre als eine zu enge Tatbestandstheorie bezeichnet. Ihre Sicht der Grundrechte verstekke das zur Entscheidung erforderliche Spiel von Gründen und Gegengründen in der Konkretisierung des Normtextes, statt ausdrücklich Prinzipien gegeneinander abzuVgl. dazu oben Teil 212.351. Über die Weiterentwicklung der Prinzipientheorie zu einer Theorie der Rechtsgüterrelation vgl. K. Schneider I, S. 51 ff. 385 Alexy II, S. 75 f. Vgl. dazu auch Alexy IV. Kritisch zur Werte-Rechtsprechung: Böckenförde III. – Was außerhalb der Alexyschen Dworkin-Nachfolge normalerweise „(Rechts-)Prinzipien“ genannt wird, sind bei näherem Zusehen in aller Regel – sei es normtextgestützte sei es von geltenden Normtexten unabhängige – dogmatische, theoretische oder rechtsvergleichende Konkretisierungselemente. – Über „Regeln und Prinzipien“ im Rahmen einer „Soziologie juristischer Argumentation“: Maitra. – Allgemein zu „Rechtsprinzipien“: Bergmann Ávila. 386 Alexy II, S. 144. Vgl. zur Kritik: Christensen V; Braun, S. 248 ff.; Goebel, S. 88 ff. – Schlüssige Argumente aus der Moralphilosophie gegen Alexy bei Tugendhat. Vgl. a. die differenzierte Kritik bei Engländer. – Kritisch zur „Übertragung“ des allgemein-praktischen Diskurses auf den juristischen (der angeblich nur einer von dessen „Sonderfällen“ sein soll), z. B. auch J. Vogel, S. 109 ff. – Entschieden gegen „Prinzipienabwägung“ und für die „Rettung des modernen Rechts“: Grau III, IV. – Ausführliche „Kritik und Rekonstruktion“ jener Fassung der Diskurstheorie bei Bäcker. 383 384
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wägen. Diese Kritik beruht allein auf der Entgegensetzung von Regeln und Prinzipien. Diese letzteren können aber überhaupt nur dadurch gewonnen werden, daß man einen engen, nämlich einen regelplatonistischen Begriff der Sprachregel einführt387. Untersucht man dagegen den Begriff der Sprachregel und ihre Durchsetzung als Teil der semantischen Praxis des juristischen Sprachspiels, wird deutlich, daß die von Alexy als normgelöste Güterabwägung aufgefaßte Problematik zum größten Teil innerhalb der systematischen Auslegung der Grundrechte des Grundgesetzes zu verorten und zu diskutieren ist. Wenn Alexy demgegenüber zur Begründung von Entscheidungen eine vorgeblich objektive Wertordnung heranzieht, dann dient gerade das der Verdeckung von Begründungsdefiziten. 222.348 Gerechtigkeit als Deduktionsgrundlage für Gerichtsentscheidungen? Die Aufforderung an die Gerichte, unter Zugriff auf die Gerechtigkeit zu judizie- 142 ren, wird gemeinhin mit Art. 20 Abs. 3 GG und der darin enthaltenen Wendung „Gesetz und Recht“ begründet. Tatsächlich wird diese Formel, welche keinen eigentlichen Vorläufer kennt,388 aus der Erfahrung des nationalsozialistischen Unrechts nur zu verständlich.389 Nachdem dieser Normtext zunächst zum Ansatzpunkt für weitgehende naturrechtliche Spekulationen wurde,390 sah er sich nach der Konsolidierung der Bundesrepublik in seiner Interpretation abgeschwächt. An die Stelle einer die Gesetzesbindung aushöhlenden naturrechtlichen Interpretation trat als Gegengift zunächst die Auslegung von „Recht“ als Gewohnheitsrecht.391 Die Systematik läßt ein solches Verständnis zu.392 Es ist allerdings wenig wahrscheinlich, daß sich die Funktion dieser Wendung darin erschöpft. Denn die allgemein anerkannte Bindungswirkung des Gewohnheitsrechts bedarf keiner Hervorhebung an einer solch zentralen Stelle der Verfassung, wie sie Art. 20 darstellt.393 Als weitere Funktion des Art. 20 Abs. 3 GG wird deswegen oft die Anordnung einer Bindung an Präjudizien genannt.394 Gegen dieses Verständnis wird häufig eingewandt, dem kon387 Vgl. zur Kritik an dem regelplatonistischen Verständnis der Sprachregel: Christensen VII, S. 183 ff. u. ö. Umfassende Untersuchung der (normativen) „Verfassungsprinzipien“ bei Reimer. 388 B. Hofmann, S. 27 ff. 389 B. Hofmann, S. 56 m.w. N. sowie Kröger, S. 21, 25. 390 Vgl. dazu Lau. 391 Hesse II, Rn. 195; Merten, S. 678 ff., 680; weitere Nachweise bei B. Hofmann, S. 136, Fn. 105. 392 Allerdings ist es nicht zwingend, vgl. Witthohn, S. 141 f. und 173 sowie B. Hofmann, S. 120 ff. 393 Vgl. B. Hofmann, S. 138 sowie Herzog, in: Maunz / Dürig, Art. 20, XI, Rn. 52. 394 Fikentscher, Band 4, S. 336 ff.; Kriele I, S. 243; Rüthers, S. 427. Kritik bei Riggert, S. 23 ff.; Schmidt-Ränsch, § 25 DRiG, Rn. 13; Reinhardt, Konsistente Juristiktion, S. 461 ff., 517 ff.
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tinental-europäischen Rechtskreis sei eine Bindung an richterliche Präjudizien fremd.395 Tatsächlich muß bei der Frage einer Bindung an Vorentscheidungen eine normtextähnliche Bindung von einer nur argumentativen unterschieden werden. Eine Bindung an den Normtext kann durch bessere Argumente nicht überwunden werden, eine argumentative Bindung dagegen schon. Unter der Geltung des Grundgesetzes kommt nun aber nur eine argumentative Bindungswirkung von Präjudizien in Betracht. Daraus wird nun folgende Kritik abgeleitet: „Deutet man den Ausdruck Recht in Art. 20 Abs. 3 GG als Präjudiz, müßte man zudem im Grunde eine unbedingte Bindung annehmen, ansonsten ließe die Norm den Richter im Unklaren über den jeweiligen Bindungsumfang.“396 Diese Kritik überzeugt allerdings nicht. Art. 20 Abs. 3 unterscheidet gerade „Gesetz“ und „Recht“. Wenn man „Recht“ danach als konkretisiertes Gesetz versteht, bleibt für eine Unterscheidung im Bindungsmaßstab durchaus Raum. Die Schwierigkeiten der bisherigen Interpretation von Art. 20 Abs. 3 zeigen, daß es nicht sinnvoll ist, die Wendung „Recht“ im Rahmen des herkömmlichen Modells einer Gegenstandserkenntnis zu interpretieren. Das Recht ist ebenso wenig wie das Gesetz ein der Erkenntnis vorgegebenes Ding. Erst im Rahmen eines Modells richterlicher Rechtserzeugung kann die Unterscheidung von „Gesetz“ und „Recht“ als Hinweis auf verschiedene Konkretisierungsstufen innerhalb der rechtsstaatlichen Textstruktur verstanden werden. Das Gesetz als Normtext muß vom Richter zur Rechtsnorm konkretisiert werden. Die Bewegung von der abstrakten Stufe des anordnenden Textes zu seiner konkreten Stufe wird durch die Notwendigkeit erschwert, beide Stufen durch einen rechtfertigenden Text zu verbinden: die Begründung. Innerhalb der Begründung kann dann die argumentative Bindung durch die Vorentscheidung als an ein schon zu Recht konkretisiertes Gesetz ihren Platz finden. Der Strukturierenden Rechtslehre wird vorgehalten, mit ihrer Interpretation im Rahmen eines Rechtserzeugungsmodells dem „Recht“ im Sinn des Art. 20 Abs. 3 GG wenig eigenständigen Sinngehalt beizumessen.397 Ihre Position laufe auf eine Gleichsetzung von Gesetz und Recht hinaus, welche den weiter gehenden Sinngehalt der Wendung „Recht“ und seine gegen gesetzliches Unrecht gewendete appellative Aufgabe verkenne. Eine Gleichsetzung von „Gesetz“ und „Recht“ nimmt die Strukturierende Rechtslehre aber gerade nicht vor, da sie doch beide als unterschiedliche Stufen in der rechtsstaatlichen Textstruktur versteht. Wie steht es aber um die appellative Funktion? Die Vertreter einer Gleichsetzung von „Gesetz“ und „Recht“ wenden sich gegen das naturrechtliche Verständnis des Rechts als höherem, dem Gesetz übergeordneten Erkenntnisgegenstand. Dieses Ziel verfolgt auch die Strukturierende Rechtslehre. Unterschiede zeigen sich allerdings in der Begründung: „Die Tautologen ma395 396 397
Larenz I, S. 430; Schmidt-Ränsch, § 25 DRiG, Rn. 13. B. Hofmann, S. 194. B. Hofmann, S. 193.
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chen geltend, daß Gesetz und Recht unter der Geltung des GG dasselbe bedeuten und miteinander versöhnt erscheinen, da die Verfassungsordnung selbst genügend Sicherungen für eine materiell verstandene Gerechtigkeit bietet. Für die Verwirklichung von Gerechtigkeit sorgen u. a. die Verankerung der Menschenwürde sowie das Bekenntnis zu den Menschenrechten in Art. 1 GG, der durch Art. 79 Abs. 3 GG besonderen Änderungsschutz besitzt, der Grundrechtskatalog einschließlich der Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG und darüber hinaus unter prozeduralem Aspekt die Ausgestaltung des Gesetzgebungsverfahrens und die Möglichkeit der Normenkontrolle. Mit Blick auf die genannten grundgesetzlichen Vorkehrungen wird vertreten, daß unter der Geltung des GG Legalität Legitimität indiziert.“398 Tatsächlich spricht gegen eine rein tautologische Interpretation der Gleichsetzung von „Recht“ und „Gesetz“, daß Legitimität kein statischer Begriff ist. Sie ist nicht ein Zustand, den eine Rechtsordnung ein für alle Mal erreicht. Vielmehr ist Legitimität eine dynamische Vorstellung, die anzeigt, daß es einer legalen (also tatsächlich funktionierenden) Rechtsordnung gelingt, das Problem der Gerechtigkeit diskursiv offen zu halten. Ausgangspunkt des Rechts ist der Konflikt.399 Dieser beginnt als Widerstreit, das heißt, als praktischer Konflikt ohne Erklärung außerhalb von Rechts- und Tauschverhältnissen: „Was diesen Zustand anzeigt, nennt man normalerweise Gefühl. ‚Man findet keine Worte‘ usw.“400 Streng genommen kann man ihn nur in der ersten Person formulieren, in der dritten wäre er schon objektiviert: „Der Widerstreit ist der instabile Zustand und der Moment der Sprache, in dem etwas, das in Sätze gebracht werden können muß, noch darauf wartet.“401 Aus dieser Situation erwächst das Problem des Rechts: „Jedes Unrecht muß in Sätze gebracht werden. Eine neue Kompetenz (oder Klugheit) muß gefunden werden.“402 In die erste Person wird damit eine objektivierende Instanz eingeführt, welche zwischen den beiden Konfliktparteien vermitteln soll. Wie man heute klarer sieht, läßt sich die Grenze eines Systems innerhalb seiner selbst nicht formulieren, ohne als Grenze aufzuhören.403 Dies macht den Auftrag des Rechts, das vom Kläger gefühlte Unrecht zu formulieren, so schwierig: „Syntax und Vokabular der Sprache des Rechts sind bekanntlich jeweils begrenzt, jedenfalls explizit und streng geregelt. Ich muß ein Unrecht, von dem ich meine, daß es mir widerfahren sei, rechtlich namhaft machen und als Normverletzung darstellen können, andernfalls ist es nicht justiziabel; d. h. es ist rechtlich nicht existent. Nun ist jede wirkliche Sprache des Rechts (Syntax und Vokabular, Verfahrensregeln und Tatbestandsmerkmale) ‚gesetzt‘. Gewöhnlich ist sie durch die Herrschenden gesetzt, 398 399 400 401 402 403
B. Hofmann, S. 133. Luhmann XVI, S. 92 ff., 92, m.w. N. in Fn. 1. Lyotard, S. 33. Lyotard, S. 33. Lyotard, S. 33. Vgl. dazu Laclau II, S. 85, 87; ders. III, S. 66.
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oder sie haben sie sich jeweils durch Auslegung angeeignet. Zwangsläufig werden dabei aber denkbare Tatbestände ausgegrenzt, weil sie in der Sprache des geltenden Rechts (hier und heute) nicht darstellbar sind. Wenn nun ein Konflikt unter dem Gesetz zur Entscheidung ansteht, d. h. vor Gericht verhandelt wird, dann wird wohl nach den Regeln der geltenden Grammatik des Rechts argumentiert, und zwar über alles, was das Gesetz als mögliche Tatbestände zu erfassen erlaubt, nicht aber über das Gesetz selbst. So wird am Ende ein Konsens hergestellt, der dem Gesetz Genüge tut, unabhängig von der Frage, ob er dem Anliegen der Parteien ‚gerecht‘ wird.“404 Das Unrecht bleibt also als Gegenüber des Gesetzes erhalten. Es stellt sich die Frage, ob damit nicht die Möglichkeit einer begründeten Rechtsentscheidung verloren geht. Ohne den letzten Grund eines Gerechtigkeitsbegriffs, der das Unrecht endgültig fixiert, könnte das Recht zum amorphen Patchwork ohne totalisierende Effekte werden. Eine Gesellschaft, in der sich auf Grund der Abwesenheit von Fundamenten nichts regeln läßt, wäre eine Gesellschaft ohne Recht. Aber auch umgekehrt wäre eine Gesellschaft, in der sich aus dem letzten Grund des Gerechtigkeitsbegriffs alles herleiten läßt, eine Gesellschaft, in der alles schon vorentschieden wäre. Darin zeigt sich, daß es gerade die Leerstelle405 der Gerechtigkeit ist, welche die Begründung von Recht ermöglicht. Der Begriff rückt damit von der Position des Grundes in die des Horizonts. Erst das Fehlen des letzten Grundes ermöglicht die Begründung von Entscheidungen. So wird das Recht zum „Ethymem“, d. h. ihm fehlt der letzte Obersatz. Und doch müssen ständig unzulängliche Stellvertreter formuliert werden. Gerechtigkeit ist damit nicht mehr als die immer wieder eröffnete Möglichkeit, den Widerstreit auszutragen. Als Ziel sowohl unerreichbar als auch unverzichtbar, ermöglicht sie den Weg des Rechts. Die über das Gesetz erfolgende Unterscheidung von Recht und Unrecht ist niemals endgültig. Dies ist die appellative Aufgabe der Wendung „Recht“ in Art. 20 Abs. 3 GG. Sie ist der Stachel, welcher die praktische Rechtsarbeit darauf aufmerksam macht, daß die Legitimität einer Rechtsordnung niemals ein endgültig erreichter Zustand ist. Daß materiale Gerechtigkeit ein unverzichtbarer Bezugspunkt für juristische Entscheidungen sei, wird neben Larenz vor allem von Alexy vertreten. Dessen Paradebeispiel ist dabei die Mauerschützenentscheidung des Bundesverfassungsgerichts.406 In dieser führt das Gericht aus: Das Rückwirkungsverbot des Art. 103 II GG ist absolut, und seine rechtsstaatliche und grundrechtliche Gewährleistungsfunktion wird durch eine strikte Formalisierung erfüllt. Das strikte Verbot des Art. 103 II GG findet seine rechtsstaatliche Rechtfertigung in der besonderen Vertrauensgrundlage, welche Strafgesetze verdienen, wenn sie von einem an die Grundrechte gebundenen demokratischen Gesetzgeber erlassen werden. An einer
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Borsche, S. 25. Vgl. dazu Laclau IV, S. 40 ff. BVerfGE 95, 96.
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solchen Vertrauensgrundlage fehlt es, wenn der Träger der Staatsmacht für den Bereich schwersten kriminellen Unrechts die Strafbarkeit durch Rechtfertigungsgründe ausschließt, indem er über die geschriebene Norm hinaus zu solchem Unrecht auffordert, es begünstigt und so die in der Völkerrechtsgemeinschaft allgemein anerkannten Menschenrechte in schwerwiegender Weise mißachtet. Der strikte Schutz von Vertrauen durch Art. 103 II GG muß dann zurücktreten. Tatsächlich kommt in dieser Entscheidung der Begriff der materiellen Gerechtigkeit vor.407 Aber er ist für die Argumentation nicht entscheidend. Alexy versteht die Behauptung des Bundesverfassungsgerichts, das Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG sei absolut, dahin, als sei dieser Artikel eine Regel ohne systematische Grenze. Er braucht dann die materielle Gerechtigkeit, um diese absolute Regel einzuschränken. Tatsächlich ist aber die Aussage des Bundesverfassungsgerichts viel unspektakulärer. Es bezieht sich mit der Formulierung „absolut“ nur darauf, daß Art. 103 Abs. 2 GG im Unterschied zum Rechtsstaatsprinzip das Rückwirkungsverbot nicht von einer Abwägung abhängig macht. Damit ist nicht gemeint, daß Art. 103 Abs. 2 GG eine Regel ohne Grenzen sei. Vielmehr findet das strafrechtliche Rückwirkungsverbot seine verfassungsimmanente Grenze in dem Grundsatz, daß es vor Willkür schützen, nicht aber die Willkür selbst schützen will. Es ergibt sich also aus der systematischen Auslegung und nicht etwa aus der materiellen Gerechtigkeit, daß ein Vertrauen in Gesetze, die nicht demokratisch und rechtsstaatlich zustande gekommen sind, nicht schutzwürdig ist. Die Systematik trägt die Entscheidung und nicht etwa ein philosophischer Gerechtigkeitsbegriff. Ein weiteres Beispiel für einen Einsatz des Aspekts der Gerechtigkeit stellt die sogenannte außerordentliche Beschwerde dar. Es handelt sich dabei um einen nicht kodifizierten Rechtsbehelf, der sich vor allem im Zivilrecht entwickelt hat und neuerdings auch auf den Verwaltungsprozeß übertragen wird. Er soll in Fällen deutlicher Gesetzeswidrigkeit gegen an sich unanfechtbare Entscheidungen des Ausgangsgerichts zur Verfügung stehen und die Anrufung der nächsten Instanz gestatten. Es handelt sich hier um ein verfassungsrechtlich geprägtes Institut, welches entweder aus Art. 19 Abs. 4 oder aus 20 Abs. 3 GG (Rechtsstaatsprinzip) hergeleitet wird. In der Literatur408 wird eine richterrechtliche Ausformung gefordert, welche sich an der Radbruch’schen Formel orientieren solle: „So wie nach der Radbruch’schen Formel auch ungerechte Gesetze von den Bürgern so lange hinzunehmen und anzuwenden sind, wie der Widerspruch zur Gerechtigkeit kein unerträgliches Maß erreicht und die Gleichheit als Kern der Gerechtigkeit nicht schon vom Ansatz her verleugnet wird, so sind auch prima facie unanfechtbare gerichtliche Entscheidungen von den Prozeßbeteiligten grundsätzlich hinzunehmen, es sei denn, der Widerspruch zur Gerechtigkeit erreicht auch hier ein so unerträgliches Ausmaß, daß die Entscheidung bereits vom Ansatz her als Unrecht erscheint.“409 407 408 409
BVerfGE 95, 96, 133. Vgl. dazu Th. Schmidt, S. 426. Ebd., S. 424.
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Auch in diesem Fall ist der Bezug auf die holistische Größe der Gerechtigkeit riskant. Vor allem aber ist er überflüssig. Denn es genügt dabei, das vom Bundesgerichtshof 410 herangezogene Willkürverbot argumentationstheoretisch zu fassen. Eine Entscheidung ist klares Unrecht, wenn sie ohne einen neuen und gewichtigeren Gesichtspunkt vom bisher erreichten Stand argumentativer Geltung abweicht. Auch mit der Radbruch’schen Formel kommt man darüber nicht hinaus. Zu ihrer Konkretisierung wird denn auch folgender Gedanke verwendet: „Hingegen dürfte in Fällen greifbarer Gesetzwidrigkeit zumeist auch eine Divergenz zu ober- oder höchstgerichtlicher Rechtsprechung gemäß § 124 II Nr. 4 VwGO vorliegen. Die Divergenz stellt einen wichtigen Hinweis auf greifbare Gesetzwidrigkeit dar, denn der Inhalt des Gesetzes, gegen das verstoßen wird, ist in seiner bisherigen Anwendung durch die Rechtsprechung zu bestimmen.“411 Hinter der unklaren Formel der Gerechtigkeit verbirgt sich also ein Problem der Systematik zweiter Ordnung; d. h. der Frage, inwieweit sich die neue Entscheidung in die Kette der zu dem fraglichen Problem schon ergangenen Entscheidungen einfügt. Die Liberalismus-Kommunitarismus-Debatte412 der letzten Jahre hat Gerechtigkeit wieder zum Modethema werden lassen.413 Bedeutung und Wert dieser Diskussion sollen hier nicht näher bestimmt werden.414 Gerechtigkeit ist im vorliegenden Zusammenhang nur als methodische Größe zu untersuchen. Und dazu läßt sich nicht verschweigen, daß die neue Gerechtigkeitsdebatte auch zu einer Wiederbelebung ihrer Lückenbüßerfunktion in der juristischen Methodik geführt hat.415 Diese Rolle als Lückenbüßer ergibt sich aus dem zähen Festhalten der herkömmlichen Methodenlehre am Modell der Gegenstandserkenntnis. Die Arbeit der Gerichte wird dabei nicht als eine durch sprachliche Begründungszwänge erschwerte Ausübung staatlicher Gewalt bestimmt. Vielmehr ist diese Tätigkeit in der Konsequenz der Tradition vom Bezug zu Gewalt und Verantwortung begrifflich gereinigt und als reine Erkenntnis der objektiv vorgegebenen Gegenstands Recht bestimmt. Die verzweifelte Suche nach diesem Gegenstand bringt dann eine sich ständig verlängernde Kette von Ersetzungen hervor.416 Zunächst wird das der Erkenntnis vorgegeVgl. dazu BGH, in: NJW 1992, S. 983 ff., 984. Th. Schmidt, S. 427. 412 Grundlegend Rawls; Walzer; Nagel; Taylor. Knapper Überblick mit den wichtigsten Nachweisen bei Wellmer. 413 Dazu etwa die Tagungs- und Sammelbände: Demmerling / Rentsch (Hrsg.); P. Fischer (Hrsg.); Rössler (Hrsg.). Vgl. als Monographie Forst. – Siehe ferner Jansen. 414 Vgl. Jeand’Heur X. – Zur Genese des Problems Dux II, Kap. 3 und 6. 415 Dazu Hofmann, S. 7. Der Autor nennt die neue Prinzipienlehre, den Neo-Kontraktualismus (vgl. S. 15 ff.) und die Diskurstheorie des Rechts (vgl. S. 19 ff.). Zur Prinzipienlehre vgl. vor allem Bydlinski III, S. 29, der für die „normative Produktion“ eine Begründung in „grundlegenden rechtsethische(n) Maximen verlangt“. Dazu auch ders. II. 416 Typischerweise wird dann die Endlosigkeit dieser Ersetzungskette dogmatisch abgebrochen bei der Lieblingstheorie des jeweiligen Verfassers, die dann von oben herab gnadenlos auf die Jurisprudenz angewendet wird. Diese Anwendungslogik ist gerade im Bereich des Gerechtigkeitsdiskurses besonders auffallig. Vgl. dazu etwa Apel / Kettner (Hrsg.). Eine grund410 411
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bene Recht wissenschaftsgeschichtlich nacheinander im Text des Gesetzes, in der Bedeutung der Sprache, in der Struktur des Verstehens oder in der stabilen Interpretationsgemeinschaft gesucht. Jede dieser Bestimmungen ist aber, gemessen an den Anforderungen der Praxis, als Determinationsgrundlage für das richterliche Sprechen unvollständig und fordert so die Ergänzung durch ein weiteres Supplement.417 In der Gerechtigkeit schließlich sollen diese Verkettungen ihren Abschluß finden. Diese Rückzugsbewegung des Rechtserkenntnismodells vom Gesetz in immer 143 weniger greifbare Sphären wiederholt sich in Ansätzen, welche die „Ergebnisse“ der neuen Gerechtigkeitsdiskussion mit den Elementen der von Larenz entwickelten traditionellen Wertungsjurisprudenz verbinden wollen. Programmatisch ist dabei der Titel „Die Rechtsfindung contra legem“,418 wonach sogar noch dem richterlichen Gesetzesbruch ein Gegenstand der Rechtserkenntnis unterschoben werden soll. Die Dramaturgie dieses Stücks entfaltet sich in drei Akten: im ersten treten Relativismus und Nihilismus auf und werfen ihre dunklen Schatten auf die stabil und gesichert scheinende Existenz des Rechts. Im zweiten kommt es zur Krise, worin der Gegenstand der Rechtserkenntnis aufs höchste bedroht erscheint. Aber dann im dritten Akt wird unser Gegenstand zuguterletzt von der Idee der Gerechtigkeit gerettet. Dieser letzte Akt der Rettung des Rechts nimmt streng nach der Vorgabe der 144 Klassik seinen Ausgang von Artikel 20 III: „Artikel 20 GG bildet die materiale Ergänzung zum rein formalen Justizgewährungsanspruch, indem die Rechtsprechung an das ‚Recht‘, im Sinne von nicht positivierter Gerechtigkeit gebunden wird.“419 Die eigentlich auf das Gewohnheitsrecht bezogene Formulierung ‚Recht‘420 wird hier zur materialen Ergänzung überhöht. Aber die angebliche Notwendigkeit dieser Ergänzung ergibt sich erst aus der gewaltsamen Reduktion der Rolle des Gesetzes. Dieses soll den Richter nur dort binden, wo es in seinem eindeutigen Wortlaut den Leitsatz der anstehenden Entscheidung schon vorgibt. Aus dieser jeden praktisch sinnvollen Anwendungsbereich ausschließenden Definition der Gesetzesbindung leitet sich der Begriff der „Lücke“ ab. Die Lücke wird dann mit der Vorstellung eines regelungsleeren Raums verbunden, dessen Grundriß daraus entsteht, daß man zunächst die Konkretisierungsfunktion des Gesetzes auf den eindeutigen Wortsinn einschränkt.421
sätzliche und überzeugende Kritik der Idealisierungen, welche einer Anwendung der Diskurstheorie auf das Recht zugrunde liegen, findet sich bei Ladeur IV. S. 41 ff., 77 ff. 417 Zur Logik des Supplements Derrida I, S. 244 ff., 459 ff.; ders. VII, S. 174 ff. 418 Siehe Neuner. 419 Vgl. ebd., S. 65. 420 Vgl. dazu Christensen VII, S. 291 ff. Kritik an der Position Neuners auch bei Baldus, S. 202. 421 Zur Kritik am Konzept der Lücke Müller XVIII, S. 112, 158, 227; sowie hier, Abschnitte 222.32 und 333.3.
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Wenn die Strukturierende Rechtslehre demgegenüber von der funktionellen Geschlossenheit der Rechtsordnung im Sinn einer Ergänzung von materiellen Regeln durch Prozeßrecht ausgeht422, zieht sie aus der Sicht dieses Ansatzes den Vorwurf auf sich, daß der Richter im gesetzesfreien Bereich ohne jede objektive Legitimationsvoraussetzung entscheiden müsse.423 Daran ist mehreres unrichtig: so reduziert die Strukturierende Rechtslehre die Konkretisierungsleistung des Gesetzes nicht auf den eindeutigen Wortlaut und braucht deshalb einen „gesetzesfreien“ Bereich richterlichen Entscheidens gar nicht erst anzunehmen. Zum andern hat der Richter auch im Bereich des Gesetzes keinen objektiven Rechtsgegenstand als vorgegebene Legitimationsgrundlage, sondern muß diese Legitimation durch Begründung der geschaffenen Rechtsnorm erst herstellen. Für die Strukturierende Rechtslehre ist ein Urteil eine Entscheidung, die zwar durch Anschlußzwänge im juristischen Sprachspiel erschwert wird, die aber niemals als technische Anwendung einer Erkenntnis des objektiv vorgegebenen Rechtsgegenstandes verstanden werden kann.424 Der Gesetzgeber und die Gerichte sind also strukturell gekoppelt. Das heißt, gesetzgeberische Vorgaben in Form von Normtexten können in Verbindung mit den Vorschriften des Verfahrens und den sprachlichen Anschlußzwängen und Begründungslasten den Entscheidungsvorgang zwar rechtsstaatlich orientieren, aber nicht substantiell vorab determinieren.425
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Die alte Auffassung will demgegenüber Gesetz und Entscheidung linear kausal miteinander verknüpfen. Das richterliche Sprechen soll auf dem Weg über die Erkenntnis eines präexistenten Gegenstandes determiniert werden; und dort, wo das Gesetz diese Determination nicht leisten kann, soll etwas anderes einspringen. Die Vorstellung, das juristische Handeln funktioniere nach dem Modus der Gegenstandserkenntnis, führt so zur Figur der Lücke und diese zur Ersetzung des Gesetzes durch die Gerechtigkeit. Die Rechtsordnung ist von außen, gemessen am gesellschaftlichen Regelungsbedarf unvollständig; aber von innen zugleich vollständig, weil nur der normativ anerkannte Regelungsbedarf der Gesellschaft juristisch relevant ist und die richterliche Entscheidung immer nur am geltenden Recht gemessen werden kann. Von einer „Lücke“ kann man dagegen nur sprechen, wenn man ein Problem entgegen dem Gesetz als regelungsbedürftig ansieht. Dies läßt sich dann begründen, wenn man einen normtranszendenten Maßstab von Gerechtigkeit heranzieht, der so im Gesetz gerade (noch) keinen Ausdruck gefunden hat. Schon der BeVgl. dazu Müller XXII, S. 22, 70, 75 f., 117 f. Vgl. dazu Neuner, 1992, S. 67, Fn. 390. 424 Nicht mehr nachvollziehbar ist die Lesart, daß die Strukturierende Rechtslehre mit der Annahme eines Normtextes, dem Geltung zukommt, die Existenz einer „an sich seienden“ Norm impliziere (vgl. Somek / Forgó, S. 36). Die Strukturierende Rechtslehre hat als erste überhaupt eine Trennung von Geltung und Bedeutung vorgeschlagen und damit gerade den Prozeß der Herstellung der Rechtsnorm als Legitimationsproblem sichtbar gemacht. Ein so grobes Mißverständnis läßt sich nur aus dem „Nebel der Schlacht“ erklären, die dort um die Bedeutung des Begriffs „nachpositivistische Rechtstheorie“ geführt wird. 425 Dazu Müller / Christensen / Sokolowski. 422 423
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griff der „Lücke“ setzt einen für den Richter verfügbaren Bezug zur Gerechtigkeit als überpositives Prinzip voraus. Dieser schon dem Begriff eigene Bezug zur gesetzestranszendenten Gerechtigkeit dient nun auch zur hastigen Auffüllung des Leerraums. Die „Lücke“ ist für die herkömmliche Theorie „Quelle“ für ein Mehr an Recht, welches sogar das geschriebenene Gesetz soll korrigieren können. Es ist die praktische Unmöglichkeit, das Modell einer linear kausalen Determina- 147 tion richterlichen Sprechens durch das Gesetz einzulösen, welche die alte Schule zur Entwicklung einer dualistischen Konzeption der Rechtsarbeit zwingt. Danach gibt es einerseits die festen Regeln des Gesetzespositivismus, welche die Reichweite der Gesetzesbindung definieren; und andererseits einen Bereich der Rechtsfortbildung,426 in dem die Regeln des Gebrauchs gesetzlicher Begriffe erst hergestellt werden müssen427. Mit der Behauptung einer noch hinter dem Gesetzestext liegenden zweiten und höherrangigen Ordnung der Gerechtigkeit soll der Bereich der Rechtsfortbildung aber schließlich doch wieder in ein Subsumtionsmodell auf erweiterter Grundlage eingeschrieben werden. Damit die bleibt die herkömmliche Auffassung im paradigmatischen Rahmen der vom Gesetzespositivismus entwickelten statischen Rechtsanwendungslehre.428 Die dynamischen Prozesse der Rechtsverwirklichung gelten nur als vordergründiges Gewimmel, hinter dessen scheinbarer Zufälligkeit für den Kenner die gerechte Ordnung sichtbar wird. Die richterliche Tätigkeit wird damit in die beschützende Werkstatt des Rechts eingeschlossen. Hier ist es dem Richter erlaubt, was immer die Parteien auch einwenden mögen, den objektiv vorgegebenen Ansprüchen höherer Art beizupflichten. Dies ist eine außergewöhnliche Sicherheit in einer Welt, die sich ansonsten ständig verändert. Für diese Sicherheit ist die Gerechtigkeit unverzichtbar. Schwierig ist nur der inhaltliche Aufweis dieser vorgegebenen Ordnung. In der 148 juristischen Literatur treten zahlreiche Kandidaten auf. Meistens werden die „Maßstäbe der praktischen Vernunft“ herangezogen und je nach Gusto ergänzt, bestätigt oder korrigiert durch die sogenannten fundierten Gerechtigkeitsvorstellungen der Gemeinschaft.429 Schon dieser Plural deckt die Probleme auf. Weder die praktische Vernunft noch die Gerechtigkeitsvorstellungen sind in einer pluralistischen Gesellschaft hinreichend homogen, um zu garantieren, daß sich ihre Bezeichnungen gegen einen jeweils einzigen konkreten Sinn umwechseln lassen. Wenn aber auch diese Größen sich im Sprechen verändern, ihre ruhige Identität gegen eine Vielheit der Bedeutungserklärungen eintauschen müssen, dann gleitet das ganze, scheinbar feste und geschlossene System in die Unverbindlichkeit. Das kann auch gar nicht anders sein. Denn eine einzelne begriffliche Struktur ist als letzter Ankerpunkt für das Handeln des Richters notwendig überfordert. Der Be426 Kritische Einschätzung dieses Begriffs bei Müller XXII, S. 41 ff. – Zur „Rechtsfortbildung“ für das Privatrecht in europarechtlichem Rahmen: Herresthal. 427 Vgl. zu einer Überwindung dieses dualistischen Regelbegriffs: Ebd., S. 46 ff. und öfter. 428 Vgl. dazu ebd., S. 26, 43. 429 Vgl. Neuner, S. 69.
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griff der Gerechtigkeit wird in der Rolle des transzendentalen Signifikats den einander widersprechenden praktischen Anforderungen ausgesetzt, einerseits das richterliche Sprechen von außen zu determinieren und andererseits im Innern dieses Sprechens benennbar zu sein. 149
Der aporetische Charakter dieser Doppelaufgabe wird deutlich, wenn man die Gerechtigkeit zunächst in ihrer Rolle als äußere Kontrollinstanz betrachtet. Die dem Wechsel des Ausdrucks entzogene reine Bedeutung soll garantieren, daß der Wortlaut des Gesetzes gegenüber der Flut divergierender Interpretationen seine semantische Identität wahrt. Nur so läßt sich dem richterlichen Sprechen eine sichere Determinationsgrundlage verschaffen. Um aber ihre Kontrollfunktion sicherzustellen, müßte die Gerechtigkeit für den einzelnen Richter jeweils erkennbar, bestimmbar und so auch benennbar sein. Damit ist das Grundproblem der Gerechtigkeitsargumentation in der juristischen Methodik erreicht: Das Zentrum einer Struktur ist der Punkt, an dem eine Ersetzung oder ein Austausch der Elemente untersagt ist, weil von diesem Punkt aus (hier: „die Gerechtigkeit“) die gesamten Austauschbeziehungen des Systems reguliert werden sollen. Das Zentrum muß sich also, wenn es das System steuern will, dem Spiel seiner Elemente entziehen. Einerseits muß es also außerhalb der Totalität des juristischen Diskurses liegen, andererseits aber für den Richter als konkreter Maßstab verfügbar sein. Beide Anforderungen lassen sich nicht gleichzeitig erfüllen. Jedes Aussprechen und Bestimmen „der“ Gerechtigkeit substituiert lediglich die reine Bedeutung durch eine Kette von Zeichen,430 so daß das Zentrum nacheinander verschiedene Namen und Formen erhält. Der vorgebliche Mittelpunkt wird damit selber dem Spiel der Ersetzung unterworfen, das er doch als reiner und mit sich selbst identischer Punkt beherrschen und kontrollieren sollte.431
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Der Versuch, die Rechtsanwendung mittels einer wie immer bestimmten Konzeption von Gerechtigkeit zu binden, scheitert schon an der Unvereinbarkeit der geschilderten Doppelanforderung. Damit bleibt der Rechtsarbeiter bei der Arbeit am Text zum Zweck einer Entscheidung unlösbar ins Sprachgeschehen verstrickt, ohne auf eine letzte Garantie Zugriff nehmen zu können. Doch genau diese Auflösung des unangemessen verdinglichten Begriffs der Gerechtigkeit macht die Gerechtigkeit als Problem erst wieder wieder sichtbar: Sie taugt nicht als Lückenbüßer für die juristische Methodik oder als Deduktionsgrundlage für selbstgerechtes Moralisieren432. Sie taugt einzig als Stachel, der gerade dem guten Richter sein entsprechen430 Vgl. zu den hier angesprochenen strukturellen Problemen: Derrida VIII, 422 f. – Derrida bezeichnet den jeweils behaupteten Zentralsinn ironisch als transzendentales Signifikat. Im Prinzip kann jedes Wort diese Rolle einnehmen. – Vgl. als Beispiel die „Würde des Menschen als Quellcode unserer Wertordnung“ bei Di Fabio, S. 68 ff. Zur entsprechenden Rolle der Gerechtigkeit im Sinn sozialer Gleichheit in der Methodenlehre der DDR: Althaus-Grewe, S. 54 ff. 431 Vgl. zum Ganzen auch ausführlich: Christensen Vl, S. 47 ff. 432 Grundlegend zu den hier angesprochenen Problemen eines Verhältnisses von Moral, Ethik und Recht vgl. Windisch I, S. 76 ff., 89 ff.
231 Aufgaben
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des Gewissen raubt.433 Gleichgültig, ob sich dieser mit seiner Entscheidung auf die Seite der Regel oder auf die des Einzelfalls schlägt, die Gerechtigkeit ist jedenfalls noch nicht verwirklicht.434 Als Begriff kann die Gerechtigkeit also aufgelöst werden, als Problem aber ist sie unhintergehbar.435 Und dieses Problem erfordert als Tugend nicht die Rechthaberei moralischen Ausformulierens und Banalisierens, sondern die Genauigkeit, welche auch in der alle Begründungslasten erfüllenden Entscheidung noch den Rest nichtlegitimierter Gewalt sichtbar macht.436
23 Bemerkungen zum Diskussionsstand 231 Aufgaben
Der noch immer von positivistischen Dogmen ausgehende und diese unreflektiert 151 überschreitende Pragmatismus der Rechtsprechung hat sich als verständlich erwiesen. Ein ähnliches Chaos von Altem und Neuem, eine ähnlich nur jeweils im Einzelfall durch Entscheidung pragmatisch zu klärende Verworrenheit rechts(norm) theoretischer und methodischer Ansätze, Elemente und Einsprengsel verschiedenster theoretischer Herkunft kennzeichnete im ausgehenden 20. Jahrhundert auch den Diskussionsstand in der Literatur. Verfassungsrechtliche Methodik war insoweit in einer besonders prekären Lage, als sie sich von ihrem normativen „Gegenstand“ her gesteigerten Schwierigkeiten gegenübersieht; und als sie sich zudem – anders als Zivil- und Strafrecht – auf eine wissenschaftsgeschichtlich bereits früher geleistete Gesamtkonzeption nicht berufen konnte. Insofern betreten die bisher vorliegenden Teilansätze eines Hinauswachsens über (verfassungs-)rechtlichen Gesetzespositivismus Neuland. Neuland hatte auch der Versuch einer Gesamtkonzeption (verfassungs-)juristischer Methodik zu betreten. Das gilt auch, soweit sich die 433 Vgl. Seibert V, S. 177 ff. zur nichtformulierbaren Stimme der Gerechtigkeit. – Schon Gustav Radbruch bemerkte bekanntlich, ein guter Jurist habe immer ein schlechtes Gewissen. Zum daran anknüpfenden Konzept richterlicher Verantwortung als Entscheidung im Namen des Volkes vgl. unten Randnummer 262 und öfter; sowie Stolleis. – Zu den Problemen mit neuen Steuerungsmodellen der Justiz: Schütz, S. 329 ff. 434 Vgl. dazu Müller / Christensen / Sokolowski. Vgl. auch BVerwG, in: NVwZ 2007, S. 709 ff., 710 f.: „Bei der Ausübung des Rücknahmeermessens ist in Rechnung zu stellen, daß dem Grundsatz der materiellen Gerechtigkeit prinzipiell kein größeres Gewicht zukommt als dem Grundsatz der Rechtssicherheit, sofern dem anzuwendenden Recht nicht ausnahmsweise eine andere Wertung zu entnehmen ist.“ 435 Vgl. Derrida III, S. 51 f. Vgl. dazu auch Seibert XI, S. 2889 ff. zur Gerechtigkeit als Dekonstruktion. – Zur Unmöglichkeit der Gerechtigkeit vgl. Reinhardt, Kap. 5. Zur Kritik an einer neoliberalen Theorie, welche nicht den Begriff, sondern das Problem der Gerechtigkeit zum Verschwinden bringen will, vgl. Dux II, Kap. 5. – Grundsätzlich zum Stellenwert des Arguments „Gerechtigkeit“ am Beispiel der Rechtsprechung des EuGH: Müller / Christensen, S. 539 ff. 436 Dazu Müller XXVII, S. 38 ff.
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2 Stand der Methodik – 23 Zwischenergebnis
grundlegenden Beobachtungen Savignys auf die Verfassungskonkretisierung übertragen lassen, denn ihre Brauchbarkeit war bis damals noch nicht spezifisch für verfassungsrechtliche Konkretisierungsbedingungen begründet worden. Es gilt auch für den Versuch, einer solchen Gesamtkonzeption die normtheoretischen und methodologischen Aussagen von Rechts-, Staats- und Verfassungslehre einzugliedern. Das Verfassungsrecht (mehr als das Verwaltungsrecht) ist Arbeitsgebiet einer relativ jungen, relativ stark politikabhängigen, technisch und formal vergleichsweise noch nicht seit langem ausdifferenzierten Disziplin. Es ist methodisch und rechts(norm) theoretisch unvermittelt, unklar und postulatorisch mit Theorie-Elementen durchsetzt. Deren Disziplinierung durch eine Methodik, die ihre Aussagen nicht aus theoretischen oder ideologischen Inhalten, sondern aus den Möglichkeiten praktischer Konkretisierung bezieht, erforderte einen neuen Ansatz. Der verworrene Stand methodologischer Diskussion in der Rechtswissenschaft machte den Entwurf einer sich nicht auf Lösungstechnik im Sinn von Gutachtentechnik, Klausur- oder Urteilstechnik beschränkenden Konzeption vordringlich; einer Konzeption, der es vor allem auf theoretische Einsichtigkeit und theoretischen Zusammenhang ihrer aus der Beobachtung der Rechtsprechungs-, Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und Wissenschaftspraxis gewonnenen Elemente ankommt. Wie lang es dauern mag, bis die Aussagen einer solchen Konzeption die Haltung der manchmal zu sekundärer Scheinrationalisierung neigenden, oft vom Ergebnis her argumentierenden, pragmatischen bis opportunistischen und im ganzen „methodenpluralistisch“-eklektischen Praktikermethode erreichen, ist demgegenüber zweitrangig437. Ohne realistische Aussicht ist es aber nicht; denn neben der soeben bezeichneten mangelhaften Form dieser Alltagsmethode gibt es auch eine sehr achtenswerte: Die Praxis arbeitet im guten Sinn routiniert, mit gut vertretbaren Entscheidungen, mit gesundem Menschenverstand und Sachkunde (jedenfalls im Sinn der Alltagstheorie). Die Praxis tut ohnehin, was sie tun muß; sie kann dabei nicht erst auf Rechtstheorie warten. Die Praxis wird durch Funktionsimperative der Gesellschaft erzwungen. Kein entwickeltes Gemeinwesen kann und kommt ohne Instanzen aus, die Streitfälle auf die Art des Rechts entscheiden. Der Entwurf ist in jedem Fall so anzusetzen, daß er nicht nur, wie es die traditionell verengte Fragestellung will, auf die Methodik von Rechtsprechung und Rechtswissenschaft, sondern (als grundsätzlich analog strukturiert) auch auf die der verfassungstext-orientierten Gesetzgebung sowie auf die von Regierung und Verwaltung bezogen werden kann. 152
Das „natürliche“ Problem gesellschaftlicher Gewalt ist das des („Rechts“ des) Stärkeren. Im Verfassungs- und Rechtsstaat wird es zu dem der sprachförmigen 437 Das verbale Vorgehen der Praktiker ist nicht zuletzt oft rhetorisch: es bedient sich als „Technik der fachlichen Verständigung unter Juristen“ besonders „… jener Mittel, die ein Jurist einsetzt, um kollegialiter Zustimmung zu finden oder jedenfalls der Widerrede vorzubeugen“; Gast IV, S. 1. – In theoretischer Absicht dagegen die scharfsichtigen Bemerkungen bei Grasnick II. – Zum „rhetorischen Syllogismus“: Adeodato, v. a. S. 261 ff. – Vielschichtige Reflexion der tatrichterlichen Praxis im Sinn einer „Arbeit rhetorischer Dekonstruktion“ bietet Seibert XII. – Grundsätzliches zu „Pragmatismus und Jurisprudenz“ bei Lege.
231 Aufgaben
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Gewaltausübung transformiert, an der Textoberfläche im Namen einer Rhetorik des Stärkeren. Die Praktikermethode weiß sich ihrer zu bedienen. Will man Gewalt kultivieren, also hemmen und erschweren – soll, anders gesagt, der demokratische Rechtsstaat nicht nur auf dem Papier stehen –, muß man die Kultivierung herrschaftlicher Rhetorik in Frage stellen, indem man es ihr schwerer macht, sich tatsächlich auszuwirken: institutionell (durch Gewaltenteilung auf verschiedenen Ebenen, z. B. Instanzen, Kompetenzen, Kontrollen, Begründungspflichten) und wissenschaftlich (Standards einer Methodik im demokratischen Rechtsstaat).
232 Konkrete Normativität
Die bisherige Untersuchung hat gezeigt, daß die verschiedenen Typen rechtlicher 153 Anordnung nicht zu „der“ Rechtsnorm zu verallgemeinern sind. Aus einem derartigen Abstraktum können nicht Folgerungen abgeleitet werden, die der Aufgabe praktischer Konkretisierung standhalten. Dagegen ist die allen Rechtsvorschriften gemeinsame Normativität ein Maßstab, der den Anforderungen an rechts(norm)theoretische und methodische Direktiven zugrunde gelegt werden kann. So hat sich gezeigt, daß der durch eine folgerichtig reflektierte Theorie und Praxis noch nicht überwundene Gesetzespositivismus mit seinem Verständnis des Rechts als eines lückenlosen Systems, der Entscheidung als einer strikt logischen Subsumtion und mit seiner Ausschaltung aller nicht im Normtext abgebildeten Elemente der sozialen Ordnung einer praktisch nicht durchzuhaltenden Fiktion438 nachhängt. Noch in Kelsens Behauptung, Norm und normierte Tasächlichkeit stünden beziehungslos nebeneinander439, zeigt sich der Irrtum eines Ansatzes, der einen inzwischen auch naturwissenschaftlich überholten Wissenschaftsbegriff auf das Recht überträgt, statt die Eigenart rechtlicher Normativität unmittelbar anhand juristischer Konkretisierung zu erforschen. Diese Untersuchung zeigt, daß die Rechtsnorm nicht als abstrakter Sollensbefehl, als hypothetisches Urteil oder als sachleerer Willensakt verstehbar ist. Das Axiom, rechtliche Entscheidungen seien durch formale Logik aus 438 Grundlegend zur Kritik einer der Rechtserkenntnis als Gegenstand vorgegebenen Norm: Somek II. Dabei zur objektiven Norm als Fiktion v. a. S. 18 ff. Die Strukturierende Rechtslehre geht davon aus, daß Allegorien und Metaphern für das juristische Handeln unvermeidbar sind. Denn eine objektive, wirkliche oder wörtliche Bezeichnung dieser Tätigkeit ist uns mangels privilegiertem Realitätszugang verwehrt. Diese Bilder haben aber eine erkenntnisleitende und erkenntniserschließende Funktion (vgl. dazu Haverkamp; zur Metapher als Nährlösung für das Denken auch Blumenberg, S. 10 f.) und können folglich genau an dieser heuristischen Fiktion gemessen werden. Deswegen kritisiert die Strukturierende Rechtslehre die herkömmlichen Bilder vom Normtext als Behälter, vom Richter als Mund des Gesetzes und von der juristischen Tätigkeit als Auslegung, um an diese Stelle neue Bilder zu setzen, die mehr Raum für die Komplexität der Praxis bieten. Die Norm ist danach nicht als Bedeutungsbehälter, dessen Inhalt nur ausgelegt und ausgesprochen werden muß, vorgegeben. Sie wird vielmehr vom aktiv handelnden Rechtsarbeiter erst erzeugt. 439 Kurz zusammenfassend: Kelsen II. – Zur Kritik hieran, an der „Grundnorm“ und der Auffasssung von „Interpretation“ bei Kelsen: Pavlakos.
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2 Stand der Methodik – 23 Zwischenergebnis
den Normtexten, also aus sprachlichen Gebilden voll ableitbar, führt unversehens Voraussetzungen ein, die als unkontrollierbare, weil nicht eingestandene Fehlerquellen nicht nur die angestrebte formalistische Selbstgenügsamkeit des positivistischen Rechtsanwendungsideals, sondern auch die der Rechtspraxis und Rechtswissenschaft überhaupt mögliche Rationalität und Methodenklarheit in Frage stellen.
233 Besonderheiten verfassungsrechtlicher Methodik
233.1 Die canones im Verfassungsrecht 154
Verfassungsrechtliche Praxis und Methodenlehre sind inkonsequent. Sie ziehen sich auf Savignys Interpretationsregeln zurück, um im Grundsatz Regularität ihres Verfahrens vorzugeben; und sie entscheiden angesichts der spezifischen Schwierigkeiten von Verfassungskonkretisierung um so häufiger – nach den Erfordernissen des Falls und des erwünschten Ergebnisses – ohne die canones, gegen sie oder über sie hinaus. Auf der andern Seite wäre, wenn Savygnis Interpretationselemente schon als klassisch genommen werden sollen, auch der ihnen von ihrem Autor zubemessene methodologische Geltungsumfang ernst zu nehmen. Für Zivilrecht und Strafrecht war der sich vereinseitigend auf Savignys Auslegungsaspekte berufende Gesetzespositivismus der „juristischen Methode“ (v. Gerber, v. Jhering, Laband und die ihnen folgende Praxis und Literatur) eine vertretbare und in ihrer gesellschaftlichen Funktion einsichtig zu machende wissenschaftsgeschichtliche Episode. Für das Staats- und Verfassungsrecht war die Übernahme dieser Kunstregeln dagegen von Anfang an entweder ein Mißverständnis oder zumindest ein in seiner Berechtigung ungeprüfter Schritt.
155
Für Zivilrecht und Strafrecht liegen die Verhältnisse seit Savignys Tat einfacher. Sie konnten sich zum Erweis ihrer juristischen Rationalität im Notfall zu Recht auf das Bekenntnis zu den canones zurückziehen. Auf dieser Grundlage waren die später über die canones hinausgehenden methodologischen Gesamt- oder Teilkonzeptionen (Soziologische Schule, Freirechtsschule, Interessen- und Wertungsjurisprudenz, „bewegliches System“, Topik, typologischer System-Konstruktivismus, Richterrecht und ähnliche Tendenzen) mit besserem Recht und besserem Gewissen zu verarbeiten. Von ihrer normativen Eigenart her haben Staats- und Verfassungsrecht an diesen neueren Bewegungen in geringerem Maß teilgehabt als vor allem das Zivilrecht. Zum andern war ihre Berufung auf Savignys Interpretationsregeln als ungeprüfte Anleihe von Anfang an wissenschaftsgeschichtlich ungesicherter als die entsprechenden Vorgänge im Zivilrecht und Strafrecht.
233.2 Zur neuen Reflexion der canones 156
Es kommt darauf an, die Savignyschen Interpretationselemente auf ihre Brauchbarkeit für die Verfassungsmethodik zu prüfen und sie für die Bedingungen verfas-
24 Methodik und Normtheorie
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sungsrechtlicher Konkretisierung weiter zu untersuchen. Sofern dabei Bemerkungen über die canones zu machen sind, die nicht nur für das Staats- und Verfassungsrecht Beachtung beanspruchen, mag das zeigen, daß sie in den Rechtsdisziplinen, für die sie entwickelt wurden, über Savigny hinaus kaum weiterentwickelt wurden. Nach dem schon oben Gesagten ist folgendes festzuhalten: Die canones können schon deshalb für Normkonkretisierung im (Verfassungs-)Recht nicht ausreichend sein, weil sie Rechtsverwirklichung auf Interpretation, Normkonkretisierung auf Normtext-Auslegung verkürzen. Eine systematisch zu entwerfende Methodik des (Verfassungs-)Rechts muß demgegenüber die Struktur von Normativität erforschen; und das heißt, da sich Normkonkretisierung als strukturierter Vorgang erweist: die Struktur der Rechtsnormen. Da die Norm nicht mit ihrem Text identisch ist, kann Normstruktur nicht mit Normtextstruktur gleichgesetzt werden. Die Struktur des Normtextes gibt jedoch oft unverzichtbare Hinweise für die Ermittlung der Normstruktur. Diese reichen von starker Festlegung durch den Normtext in den Grenzfällen numerisch oder individuell bestimmter Normbereiche – beispielsweise Art. 22 oder 38 Abs. 2 GG – bis zu Generalklauseln ohne sachlich umschriebenen Normbereich, wie beispielsweise Art. 3 Abs. 1 GG oder (gemäß der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts) Art. 2 Abs. 1 GG. Im Regelfall gibt der Normtext die sachliche Richtung und die sachliche Begrenzung des in der Konkretisierung Zulässigen mit wechselnder Genauigkeit an. Unersetzlich ist er in seiner Hinweisfunktion für die Ermittlung der Normstruktur allerdings nicht. Sonst wäre Verfassungsgewohnheitsrecht, das nicht über eine einzige autoritativ fixierte Textfassung, das nicht über einen offiziellen Normtext verfügt, nicht konkretisierbar.
24 Methodik und Normtheorie Juristische Methodik muß durch eine Rechtstheorie fundiert werden: eine Theorie 157 nicht über das Recht (sei sie theologischer, ethischer, philosophischer, soziologischer, politisch-ideologischer Art), sondern durch eine Theorie des Rechts, das heißt durch eine Rechtsnormtheorie. Diese umschreibt die grundlegende Eigenart normativer Struktur, vor deren Hintergrund die praktische Arbeit juristischer Methodik zu sehen ist. Auch diese Aufgabe ist, sowenig wie Rechtstheorie insgesamt, nicht nur rechtstechnischer Natur. Jeder Typus von Politischem System hat seinen Typus von Rechtstheorie und Methodenpraxis. Es sind aber nicht nur Methoden, sondern auch Methodiken gegenstandsabhängig; und das heißt angesichts des recht besonderen Gegenstands: auch Methodiken haben unmittelbar politische Bedeutung. Das ist wissenschaftsgeschichtlich wie aktuell440 offenkundig; die oben zu 222.1 und 222.2 440 Dazu Müller X und XII. – Die vorliegende rechtsstaatliche Methodik ermöglicht es zunächst, punktuelle Dezisionen zu vermeiden bzw. zu kritisieren; darüber hinaus macht sie politische Implikationen juristischer Arbeit deutlich. Deren Ausarbeitung als Explikation im Zusammenhang mit Aufgaben der Verfassungstheorie skizzieren die genannten Untersuchungen; dazu dann auch Müller XVIII und XXII. – Vgl. vor dem Hintergrund der hier erarbeiteten Po-
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2 Stand der Methodik – 24 Methodik und Normtheorie
dargestellten Zusammenhänge bieten Beispiele dafür. Über die Abhängigkeit von politischen Optionen hinaus können auch die objektiven Mechanismen der Sozialsteuerung durch Recht jeweils nur in bezug auf das Gesamtsystem gesehen werden. Was eine Rechtsnorm „ist“, hängt entscheidend von der Struktur des Sozialverbands (der „Gesamtgesellschaft“) und der Rolle der Institutionen der Normtexterzeugung, Normsetzung und -umsetzung, Normenkontrolle und Normtextrevision ab. Eine Norm „ist“ weder im Sinn der Allgemeingültigkeit noch in dem einer verdinglichten Vorgegebenheit etwas Bestimmtes. Dagegen dürften die hier erarbeiteten Strukturbestimmungen (z. B. Normtext, Sachbereich, Normprogramm, Normbereich, Gruppen von Konkretisierungselementen) in entwickelten Gesellschaften mit geschriebenem Rechtssystem relativ konstant sinnvoll verwendbar sein.
sition den interessanten Ansatz bei Morlok / Kölbel / Launhardt, eine „aus Tatsachen gewonnene Methodenlehre“ zu entwickeln; diese wird angestrebt als „realistisch in dem Sinne, daß sie Transparenz und darauf beruhendes Selbst-Bewußtsein“ eröffnen kann, S. 15. – Zu den Besonderheiten der Verfassungskonkretisierung Müller XXXIV, S. 20 ff. – Zu „Dimensionen der Methodenlehre“ im Zusammenhang mit Positionen der Rechtstheorie: Mastronardi II, S. 33 ff., u. ö.
3 Entwurf einer juristischen Methodik 31 Grundlagen juristischer Methodik 311 Methodik und Funktionenlehre
311.1 Normkonkretisierung, Normbeachtung Arbeitsmethodik ist Methodik von Funktionsträgern. Eine Methodik des (Verfas- 158 sungs-)Rechts wirft die Frage auf, wer angesichts welcher Aufgaben mit (Verfassungs-)Recht arbeitet (das geschriebenes wie Gewohnheitsrecht umfaßt). In dieser Richtung wurde bereits klargestellt, daß Gesetzgebung, Verwaltung und Regierung gleichrangig neben Rechtsprechung1 und Rechtswissenschaft normkonkretisierend wirken. Solches Bearbeiten ist durchgängig normtextorientiert. Übrigens ist auch die Normbeachtung, deretwegen es nicht zu einem Verfassungskonflikt oder Rechtsstreit kommt, Normkonkretisierung. In jedem Fall motivieren die in Frage kommenden (verfassungs-)rechtlichen Normtexte auf spezifische Weise das Verhalten von Funktionsträgern und sonstigen Adressaten. Auch die am politischen und am Rechtsleben teilnehmenden Betroffenen haben tatsächliche Funktionen der Rechtskonkretisierung von kaum zu überschätzendem Ausmaß, wenn diese auch weniger in Erscheinung treten und methodologisch übersehen zu werden pflegen: durch Normtextbefolgung, durch Sich-fügen, Kompromiß und Arrangement im Rahmen des (verfassungs-)rechtlich noch Zulässigen bzw. Vertretbaren, und so fort. Wenn die Verfassung normative Kraft entfalten soll2, kann der „Wille zur Verfassung“, der ein Wille zur Beachtung bzw. zur Konkretisierung und Aktualisierung der Verfassung ist, nicht beschränkt bleiben auf die Rechtswissenschaft als Funktionsträger im weiteren Sinn und auf die Funktionsträger im engeren Sinn, die von Verfassung und Rechtsordnung durch Kompetenzvorschriften eingesetzt, beauftragt, legitimiert und mit Entscheidungs- und Sanktionsbefugnissen versehen worVgl. zum verfassungsrechtlichen Begriff der Rechtsprechung BVerfGE 103, 111, 136 ff. Vgl. Hesse I. – Der hier in der 1. Auflage (1971) formulierte Ansatz, auf indirekte Verfassungskonkretisierung durch Nicht-Funktionsträger zu achten, wird vergröbernd generalisiert bei Häberle V. Grundsatzkritik an Häberles entformalisierend-autoritärem Vorschlag, in welchem nicht der Staat vom Volk kontrolliert werde, sondern das Volk verstaatlicht, bei Maus III, S. 102 ff. – Vgl. zu dieser Frage auf dem Gebiet der Grundrechte Höfling. – Zur (überwiegend nicht-professionellen) „Geltung“ der Normtexte außerhalb formalisierter Verfahren des staatlichen Rechtsapparats: s. o. Abschnitt 12, am Ende, und ferner z. B. Abschnitt 312.12. – Zur Rolle der „Adressaten“ für die (strafgesetzliche) Auslegung: BVerfGE 87, 209 ff., 224. – Eingehende Untersuchung handlungs- und strukturtheoretischer Bedingungen der Rechtsbefolgung bei Fisahn. 1 2
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3 Juristische Methodik – 31 Grundlagen
den sind. Staatliche Funktionsträger im engeren Sinn, Rechtswissenschaft und von (Verfassungs-)Normen betroffene Teilnehmer am politischen und Rechtsleben sind in vielfältiger Verflechtung mit teils normativ, teils außernormativ bestimmten Modifizierungen und Besonderheiten auf im ganzen gleichwohl analoge Weise an Rechtsverwirklichung beteiligt. In jedem Fall, der sie veranlaßt, (verfassungs-) rechtliche Vorschriften zum Maßstab ihres Verhaltens zu nehmen, stoßen sie – von verschiedenen Frage- und Interessenrichtungen her – auf grundsätzlich dieselben Schwierigkeiten der Konkretisierung. Während die Aufgaben positiver Verfassungsaktualisierung durch Rechtsetzungs- und Rechtsverwirklichungsakte verschiedenen Typs im wesentlichen auf die Funktionsträger im engeren Sinn eingeschränkt und unter diesen kennzeichnend differenziert sind (Gesetzgebung, Regierung, Verwaltung, Rechtsprechung), ist die im Hinblick auf das (Verfassungs-)Recht als Anstoß, Grenze und Maßstab von Verhalten anzuwendende Methodik prinzipiell gleichartig. Diese vergleichbare Struktur ist teilweise durch wissenschaftlichen Denkstil gekennzeichnet. Methodik, Dogmatik, Lehre, Systematisierung, Kritik und Kontrolle beeinflussen (Verfassungs-)Konkretisierung durch Gesetzgebung, Verwaltung und Regierung sowie in der höchstrichterlichen Judikatur in starkem Maß und lassen deren Arbeitsweisen als zum Teil verwissenschaftlicht erscheinen. Die einzelnen Stadien des Verwirklichens von Recht (Normtextvorbereitung, Normtextsetzung, Setzung der Rechtsnorm in der konkreten Entscheidung, Umsetzung der Entscheidungsnorm, Normkontrolle, erneute rechtspolitische Debatte, gegebenenfalls Normrevision) lassen sich als Kreislauf beschreiben2a. Dieser folgt den institutionell gesicherten Fixpunkten der Staatsgewalten, gewaltenteilig und kompetentiell differenziert. „Zwischen“ diesen Stationen des Setzens, Konkretisierens, Umsetzens und Kontrollierens von Recht spielen sich erfahrungsgemäß unabschließbare Debatten und Kämpfe um das jeweils „Richtige“, das jeweils „Angemessene“, „Zweckmäßige“ oder „Gerechte“ ab. Sie äußern sich im Rahmen der beteiligten staatlichen Institutionen als diejenigen Abfolgen anordnender und rechtfertigender Texte, die hier in rechtsstaatlicher Perspektive als Textstruktur beschrieben werden; und die auf dem gleichfalls in diesem Buch entfalteten doppelten Diskurs der Rechtswelt („primär und sekundär diskursiver Prozeß“, RNr. 505 ff.) aufruhen.
311.2 Funktionen und Arbeitsaufgaben 159
Dieser Zusammenhang ist im Blick zu behalten, wenn auch eine verfassungsrechtliche und verfassungstheoretische Funktionenlehre hier nicht eigens zu entwikkeln ist3. Bedingungen, Möglichkeiten und Begrenztheit juristischer Methodik sind 2a So schon Müller X; XIX, S. 322, 329; XXVII, S. 41; im vorliegenden Buch z. B. RNr. 2, 474. – Das verkennt Goebel, S. 133 („rigider Kontext richterlichen Sprechens“); vgl. dazu unten RNr. 474. 3 s. z. B. die Funktionenlehre bei Hesse II, S. 185 ff. – Ein differenzierter Ansatz, die verfassungsrechtliche Aufgabenverteilung zwischen Gesetzgebung und Gesetzesvollziehung im
311 Methodik und Funktionenlehre
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durch die Gestaltung der betreffenden Amts-, Aufgaben- und Arbeitsfunktionen beeinflußt. In einer Gesellschaft mit archaischer Rechtsordnung, ohne ausdifferenzierte Organe der Gesetzgebung, Regierung, Verwaltung und Rechtsprechung (soziale Primärgruppen, Stammes-, Horden- oder Großfamilienorganisationen, Richterkönigtum und ähnliches), wären die Probleme des Normtextverständnisses, der Normumsetzung und der Arbeitsmethodik im ganzen grundlegend anders als in einer ausdifferenzierten, rechtsstaatlich wie demokratisch angelegten Verfassungsordnung wie der des Bonner Grundgesetzes. Arbeitsmethoden bestimmen sich durch Art und Aufgabe der Arbeit. Aufgabe 160 verfassungsrechtlicher Praxis ist Verfassungskonkretisierung durch gestaltende Normtextsetzung und Rechtsnormaktualisierung in Legislative, Verwaltung und Regierung; ist Verfassungskonkretisierung von primär kontrollierender, aber in den Grenzen der normativen Spielräume zugleich inhaltsbestimmender Art in der Judikatur. Erarbeiten, Bekanntgeben und Begründen der Entscheidung sind durch positivrechtliche Anordnung in wechselndem Ausmaß und auf wechselnde Art zur Pflicht gemacht. Die Bekanntgabe der Entscheidung (des Normtextes, der Regierungs- oder Verwaltungsentscheidung, des gerichtlichen Spruchs) ist ein Element rechtsstaatlicher Ordnung. Die Darstellung und Bekanntgabe der Begründung soll zum einen die Betroffenen überzeugen, zum andern die Entscheidung für mögliche Überprüfung durch Instanzgerichte, für sonstige Chancen des Rechtsschutzes und für die Frage ihrer Verfassungskonformität kontrollierbar machen. Eine weitere Wirkung besteht im Einbringen der bekanntgegebenen und begründeten Entscheidung in die rechtspraktische, rechtswissenschaftliche und rechts- und verfassungspolitische Diskussion.4 Diese Diskussion mit der durch sie bewirkten Traditionsbildung, Kritik und Kontrolle gehört neben der Lehre, deren spezifisch didaktische Fragen hier nicht interessieren, und dem Lösen aktueller Fallprobleme auf dem Weg der Beratung zu den Hauptaufgaben der Rechtswissenschaft. Auch deren Arbeitsweise ist letztlich fallbezogen, wenn auch ohne den Zwang, in bestimmten Verfahren entscheiden zu müssen; wenn auch in der Lage, sich über verschiedene Abstraktionsgrade bis hin zur Grundlagentheorie von konkreter Einzelfallproblematik legitim zu entfernen. Die Arbeitsstadien des Entwikkelns einer Antwort auf die gestellte Frage und der begründenden Bekanntgabe demokratischen Staat zum Ausgangspunkt einer Untersuchung normativer Bestimmtheitserfordernisse zu machen, findet sich bei Geitmann. – Grundsätzlich zur Funktionenlehre z. B. Achterberg. 4 Das falsifikationistische Entgegensetzen von „Findungs-“ und „Begründungszusammenhang“ verkürzt, jedenfalls für die Rechtswissenschaft, die Problematik zu weitgehend; vgl. Müller XVI, S. 271 ff., 285 ff.; dens. XXVII, S. 38 ff., 43 f. – Insoweit auch Berkemann II, S. 13: Die Konzentration auf juristische „Begründungslehre“ setze „für die Produktionsebene gerade dort auf richterliche Intuition, wo konzeptionelle und strukturierende Arbeit gefordert ist“; sie orientiere sich „an sekundären Elementen richterlicher Entscheidungspraxis, ohne das primäre Ziel der Regelbildung selbst zum Gegenstand der Methodik zu machen“. – Eine ausgearbeitete, Aspekte der Sprachwissenschaft einbeziehende „Theorie richterlichen Begründens“ bei Christensen / Kudlich II.
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3 Juristische Methodik – 31 Grundlagen
dieser Antwort sind jedoch auch hier gegeben, und zwar mit Schwerpunkt auf der Kontrollierbarkeit und Diskutierbarkeit von Begründung und Bekanntgabe. Wissenschaft hört auf, Wissenschaft zu sein, wo sie die Fähigkeit verliert, ihre Arbeitsweisen und Arbeitsinhalte selber in Frage zu stellen und dieses Infragestellen durch die Transparenz ihrer Argumentation und Darstellung methodisch wie sachlich zu ermöglichen. 161
Die an wissenschaftliche Arbeitsweise zu stellenden Anforderungen der Rationalität im Sinn von Durchsichtigkeit der Genese des Ergebnisses, des Aufweisens unbrauchbarer oder unter Umständen gleichwertiger, aber durch Wertung ausgeschlossener Lösungsalternativen, des sachlichen und methodischen Zusammenhangs der Begründung und der Darstellung dieser Arbeitsstadien sind intensiver, als sie an fallentscheidende Rechtsprechung und vor allem an rechtsgestaltende Gesetzgebung, Regierung und Verwaltung gestellt werden können. Für Gesetzgebung, Regierung und Verwaltung stehen – wenn auch in sehr verschiedenem Ausmaß – Gesichtspunkte der sachlichen Richtigkeit bzw. Vertretbarkeit und der im engeren oder weiteren Sinn politischen Durchsetzbarkeit neben den Methodenfragen der Normkonkretisierung. Die Rechtsprechung ist von dieser Art von „Sachnähe“ weitgehend entlastet5 und viel stärker auf Methodenfragen der Interpretation und Konkretisierung konzentriert. Nach dem Maß dieser unterschiedlichen Aufgabenstruktur ist die Rechtspraxis zwar nicht zu expliziter normtheoretischer und methodologischer Reflexion verpflichtet ; wohl aber zum Anstreben einer Methodik, welche die Erheblichkeit entscheidungstragender normativer Maßstäbe, die Relevanz von diesen Maßstäben betroffener Fallelemente und die Vertretbarkeit der Entscheidung rational darzustellen und nachzuprüfen erlaubt; einer Entscheidung, die im Ausgang vom „einschlägigen“ Normtext und durch Individualisierung der komplex ausgearbeiteten Rechtsnorm zur Entscheidungsnorm zu ermitteln ist. Die Methodik muß in der Lage sein, generell verschiedenartige Gruppen von Konkretisierungselementen verschiedenartig und – innerhalb jeder Gruppe – individuell differierende entsprechend verschieden zu klassifizieren. Sie muß die Vorgänge der Entscheidungsbildung und der darstellenden Begründung in hinreichend kleine Denkschritte zerlegen können, um den Weg für kontrollierende Rückkoppelung durch Normadressaten, Normbetroffene, staatliche Funktionsträger (Instanzgerichte, Verfassungsgerichtsbarkeit usw.) und Rechtswissenschaft freizumachen. Das schließt ein, daß von der Methodik auch solche tatsächlich vorkommenden Konkretisierungselemente umfaßt werden, die sekundäre Bedeutung haben, die nicht normativer Natur sind, die allenfalls in Hilfsfunktionen eingesetzt werden dürfen oder die jedenfalls im Konfliktsfall hinter andere Elemente zurückzutreten haben. Ihr Aussparen entzöge (verfassungs-)juristischer Methodik, wie schon im Gesetzespositivismus, wiederum die Möglichkeit, alle wirklich motivierenden Elemente der Rechtsgewinnung zu erfassen, zu reflektieren und durch Bestimmung ihres gegen5 So auch P. Schneider I, S. 42 ff., 51 f. – Ansätze zu einer Methodik der Rechtsetzung m. Nw. bei J. Vogel, S. 197 ff.
312 Normativität, Norm, Normtext
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seitigen Verhältnisses auf eine Art zu verarbeiten, von der praktische Rechtskonkretisierung nicht im Stich gelassen wird (zur Realitätsgrundlage juristischer Methodik s. vor allem Müller XII). Der in diesem Buch entwickelte Begriffsraster „Verstehen – Interpretieren – Arbeit mit Texten“ ist auch auf die Arten und Funktionen des „Vorverständnisses“ projizierbar (vgl. RNr. 273) und dieser erweiterte Zusammenhang wiederum auf die verschiedenen Arbeitsaufgaben von juristischer Praxis und Wissenschaft. Beide beginnen, jeweils am Anfang einer Arbeitssequenz, mit (fachlich vor-informiertem) Verstehen. Das fachspezifische Interpretieren ist sodann für die Wissenschaft, im Gewand des internen Argumentierens und der Darstellung nach außen, die hauptsächliche Tätigkeitsform. Die Praxis agiert auf diesem Feld nur insoweit, als sie normierten Begründungspflichten nachzukommen hat. Zur Arbeit mit Texten im Sinn des Formulierens von Entscheidungstexten ist die akademische Jurisprudenz nach geltendem Recht nicht zuständig; ein Wissenschaftler als Richter im Nebenamt schlüpft in eine andere Funktion. Dagegen ist Arbeit mit Texten die Hauptaufgabe der Praxis. Demnach beziehen sich das institutionelle Vorverständnis in der Wissenschaft auf die Universität, auf Forschungseinrichtungen sowie auf die scientific community mit ihrem (vor allem informellen) Regelwerk; das der Praktiker auf Justiz, Staatsanwaltschaft, Anwaltschaft, Verwaltung, usw. und ihre normierten Standards.
312 Normativität, Norm, Normtext
312.1 Zur Begrenztheit der Rolle des Normtextes Sprechen und schreiben Juristen von „der“ Verfassung, so meinen sie den Text 162 der Verfassung; sprechen sie von „dem“ Gesetz, so meinen sie seinen Wortlaut. Von einem neuen Ansatz der Rechtstheorie her6 ist dagegen der Grundsachverhalt einer Nichtidentität von Normtext und Norm herausgearbeitet worden. Unter zwei Hauptaspekten ist der Normtext in einer Kodifikation nur die „Spitze des Eisbergs“. Einerseits bereitet der Wortlaut, im Durchgang durch die Elemente sprachlicher Auslegung, die Formulierung des Normprogramms vor, während der Normbereich als die Vorschrift mitkonstituierendes Element normalerweise nur angedeutet wird. Zum anderen geht die der Norm nach herkömmlichem Verständnis zugehörige Normativität aus diesem Text selbst nicht hervor. Der Normtext ist sprachliche Aussage, sprachlicher Text wie Texte nicht-normbezogener Art auch. Seine Qualität als Text 6 Müller XIX, S. 147 ff., 234 ff. in Fortsetzung von Müller I. – Die Rechtsprechung gebraucht den Ausdruck „Wortlaut“ in dreifachem Sinn: einmal für die Zeichenkette in der Kodifikation (hier: „Normtext“); dann als Kurzformel für „Ergebnis der grammatischen Interpretation“; und schließlich für „Ergebnis der umfassenden Konkretisierung der Sprachdaten“ (hier „Normprogramm“).
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3 Juristische Methodik – 31 Grundlagen
in der Perspektive auf eine verbindliche Rechtsvorschrift hin folgt nicht aus Besonderheiten der Sprachgestalt oder aus solchen des sprachlichen Zusammenhangs. Der sprachlichen Formulierung eines Rechtssatzes ist nicht anzusehen, ob sie zu einer hier und jetzt „geltenden“ Vorschrift, zu einer zwar jetzt, aber in einem anderen Staatsverband geltenden, zu einer obsolet gewordenen oder zu einer vollständig fiktiven Rechtsnorm gehört. „Zu einer Norm gehören“, kann dabei nur heißen: Der Normtext verpflichtet den Juristen rechtlich dazu, ihn an den Anfang des Konkretisierungsvorgangs zu setzen, in dessen Verlauf die Rechtsnorm gebildet und an dessen Ende der Fall entschieden wird. Der Normtext kann, über diese Verpflichtungswirkung hinaus, nicht schon selbst normativ sein, nur spätere normative Größen (Rechts- und Entscheidungsnorm) vorbereiten helfen. Als sprachliche Aussage, als Texte, sind die Sätze: „Der Bundestag wird auf vier Jahre gewählt“ und: „Der Bundestag wird auf fünf Jahre gewählt“ im Hinblick auf ihre mögliche Normativität gleichwertig. Auch die Tatsache, daß sich der erste der beiden Sätze in Art. 39 Abs. 1 Satz 1 des Bonner Grundgesetzes sprachlich wiederfindet, beweist noch nicht, daß er es ist, der die „geltende“ rechtliche Regelung formuliert. Denn auch aus dem Gesamttext dieses Bonner Grundgesetzes, d. h. hier: aus seinen sprachlichen Eigenschaften, geht eine Normativität der fraglichen Formulierung nicht hervor. Die Normativität folgt vielmehr aus außersprachlichen Gegebenheiten staatlich-gesellschaftlicher Art: aus einem tatsächlichen Funktionieren, aus einem tatsächlichen Anerkanntsein, aus einer tatsächlichen Aktualität dieser Verfassungsordnung für empirische Motivationen in ihrem Bereich; also aus Gegebenheiten, die, selbst wenn man es wollte, im Sinn der Garantie ihres Zutreffens im Normtext gar nicht fixierbar wären. Diese Einsicht gilt sowohl für das „Daß“ als auch für das „Wie“ der Normativität. Auch der „Inhalt“ einer Rechtsvorschrift, d. h. die von ihr ausgehenden (weil veröffentlichten, übermittelten, weitergegebenen, akzeptierten und befolgten) Ordnungs-, Regelungs- und Maßstabsimpulse, ist in ihrem Wortlaut nicht substantiell anwesend. Auch er kann vom Wortlaut nur sprachlich formuliert, auf die der Sprache eigentümliche Art (angeblich) „repräsentiert“ werden. Nicht der Wortlaut einer soeben konkretisierten (Verfassungs-)Norm und schon gar nicht der am Anfang der Konkretisierung stehende Normtext ist es, der einen konkreten Rechtsfall regelt; sondern die gesetzgebende Körperschaft (im Fall der Wahlprüfung u. ä.), das Regierungsorgan, der Verwaltungsbeamte, der gerichtliche Spruchkörper, die am Leitfaden der sprachlichen Formulierung dieser (Verfassungs-)Norm und mit weiteren methodischen Hilfsmitteln die den Fall regelnde Entscheidung fällen, bekanntgeben, begründen und die gegebenenfalls für ihre faktische Durchsetzung sorgen. Der Normtext ist nicht normativ. Warum soll er dann hier „Normtext“ heißen? Weil er – auf dem Weg über einen Arbeitsvorgang – schon auf die spätere Rechtsnorm hin orientieren soll; weil er insofern eine Vorform des Textes der Rechtsnorm darstellt; weil er derjenige amtliche Text ist, in den die (im Fall als neuer Text noch zu erarbeitende) Rechtsnorm aus Gründen von Demokratie und Rechtsstaat muß eingeschrieben werden können.
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Die Tradition der Gesetzesbindung verlangte, eine rechtmäßige Entscheidung müsse „dem Gesetz entsprechen“, somit „das Gesetz in seiner Bedeutung für der konkreten Fall anwenden“. Genauer läßt sich das aus guten Gründen nach wie vor rechtsstaatlich normative Postulat so formulieren: Der Text der im Fall erzeugten Rechtsnorm muß nach seiner Wort-, Satz-, Kontext- und Textsemantik Anwendungsfälle der Wort-, Satz-, Kontext- und Textsemantik des gesetzlichen Normtexts darbieten. 312.11 Bestimmbarkeit der Rechtsnorm statt Bestimmtheit des Normtextes Juristische Arbeit am Text des Rechts ist den Geboten der Normklarheit, Justitia- 163 bilität und Tatbestandsbestimmtheit unterworfen7, welche sich allgemein aus dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 III GG ableiten und für den Bereich des Strafrechts durch Art. 103 II GG noch einmal ihre besondere Ausprägung erfahren. Die Klarheits- und Bestimmtheitsgebote der Verfassung gehören mit ihrer Garantie von Rechtssicherheit zum Grundbestand der Rechtsstaatlichkeit als einem der elementaren Verfassungsprinzipien.8 Durch sie sind die staatlichen Instanzen gehalten, den Eingriff in die grundrechtlich geschützte Freiheitssphäre des Bürgers, den jeder belastende Rechtsakt darstellt, in der sprachlichen Fassung eines schriftförmig vertexteten Rechts vorhersehbar, durchschaubar und berechenbar zu gestalten.9 Die Klarheit und Bestimmtheit der Vertextung von Recht sowie die verbindliche Ausrichtung staatlichen Handelns darauf sollen den Bürger in die Lage versetzen, dessen Art, Umfang und Tragweite einschätzen10 und sich in seinem Verhalten darauf einrichten zu können.11 Auf diese Weise hat die Klarheit und Bestimmtheit der Textfassung von Recht zur Verläßlichkeit der Rechtsordnung als einer der Voraussetzungen für die Legitimierung staatlicher Gewalt und einer ‚Rechtlichkeit von Recht‘ BVerfGE 34, S. 238 ff. – Vgl. hierzu und zum folgenden Müller XVIII, S. 122 ff. BVerfGE 20, 331. Vgl. auch Brockmeyer, Grundgesetz, Art. 20, Rn. 9; Leibholz / Rinck / Hesselberger, Grundgesetz, Art. 20, Rn. 627. Zur Normbestimmtheit bei Eingriffen in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung BVerfGE 130, S. 151 ff., 202 ff. 9 Vgl. BVerfGE 21, 79; 31, 264; 37, 142; 62, 183; 75, 341; 78, 212; 82, 12. Weiter auch Herzog in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Art. 20, Rn. 62 f.; Leibholz / Rinck / Hesselberger, Grundgesetz, Art. 20, Rn. 611. Zu der entsprechend freiheitsgewährleistenden Funktion des strafrechtlichen Bestimmtheitsgebots Schmidt-Aßmann in: Maunz / Dürig; Grundgesetz, Art. 103 Abs. II, Rn. 179. S. ferner BVerfGE 45, 371 f.; 48, 56 f.; 85, 73. 10 Vgl. Schmidt-Bleibtreu / Klein, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 20. Rn. 11. 11 BVerfGE 31, 255, 264; 37, 132, 142; 45, 400, 420; 62, 169, 183; 78, 205, 212; 83, 130, 145; 84, 133, 149; 87, 234, 263. Dazu auch Leibholz / Rinck / Hesselberger, Grundgesetz, Art. 20, Rn. 611. – Zweckorientierte Textsemantik als Beitrag zur Verständlichkeit rechtlicher Vorschriften (in Gesetzgebung und Verwaltungspraxis) kennzeichnet den Ansatz von Mudersbach. – Aufschlußreicher Literaturbericht zur „Verständlichkeit normativer Texte“ mit ausführlichen Nachweisen bei Schendera I; vgl. ferner dens., II, III. 7 8
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beizutragen.12 Durch sie werden die Einschränkungen und Einbußen, die die Möglichkeiten des Bürgers zur eigenen Lebensgestaltung durch rechtliche Regelungen und rechtsförmige Entscheidungen erfahren, ihrerseits einer rechtlichen Kontrolle zugänglich13, und werden Beliebigkeit oder Willkür von Übergriffen staatlichen Handelns als Verletzung einer Rechtspflicht auch förmlich angreifbar. 164
In ihrer Funktion einer möglichst einklagbaren Gewähr von Rechtssicherheit betreffen die Klarheits- und Bestimmheitsgebote der Verfassung an erster Stelle die Rechtsprechung. Die Gerichte setzen mit ihren Entscheidungen sozialer Konflikte für den Rechtsunterworfenen belastende Akte. Sie haben diese dadurch absehbar und nachvollziehbar zu machen, daß sie ihre Urteile auf der Grundlage einschlägiger Normtexte und eine diesen methodisch zurechenbare Formulierung von Rechtsnormen fällen. Und sie haben für den Rechtsunterworfenen dadurch berechenbar zu bleiben, daß sie die Interpretationen zur Erarbeitung und Begründung ihrer Judikate methodisch transparent14 in den mit dem Normtext zu ziehenden Grenzen halten.15 Weder dürfen die Gerichte diese Grenzen aus Opportunitäts12 Vgl. BVerfGE 60, 267 f. Dazu Leibholz / Rinck / Hesselberger, Grundgesetz, Art. 20, Rn. 651. – Zu „Normenklarheit“, „Normenwahrheit“ als rechtsstaatlichem Grundsatz mit normativer Wirkung BVerfGE 108, 1, 19 ff.: die Normtexte in ihrer „tatbestandlichen Ausgestaltung“ müßten „von einer erkennbaren gesetzgeberischen Entscheidung getragen werden“; die Betroffenen müßten Anlässe und Zwecke ihrer gesetzlichen Verpflichtung (hier: universitäre Rückmeldegebühr in Baden-Württemberg) „erkennen können“; aus rechtsstaatlichen wie – das Gericht hält dies zutreffend fest – auch aus demokratischen Gründen müsse eine „erforderlichenfalls im Wege der Auslegung gewinnbare hinreichende Regelungsklarheit“ gewährleistet sein; ebd., S. 20. – Zur Normklarheit – vor allem für das grammatische und das systematische Konkretisierungselement – vgl. a. BVerfGE 108, 52, 74 f. („für die Betroffenen klar und nachvollziehbar“ sowie „widerspruchsfrei“ / Kindergeld); ferner BverfGE 108, 169, 181 f. (über die „rechtsstaatlichen Grundsätze der Normenklarheit und Widerspruchsfreiheit beim Abgrenzen von Verwaltungszuständigkeiten zwischen Bund und Ländern“ / Telekommunikationsgesetz). – Aus der älteren Judikatur zur Normenklarheit vgl. etwa BVerfGE 21, 73, 79; 45, 400, 420; 52, 1, 41; 58, 257, 278; 62, 169, 183; 65, 1, 44; 78, 214, 226; 83, 130, 145. 13 Vgl. BVerfGE 21, 73, 79 f.; 31, 255, 264; 37, 132, 142; 52, 1, 41. 14 s. dazu den Verweis auf den disziplinären Kanon anerkannter Auslegungs- und Interpretationsmethoden BVerfGE 21, 215; 31, 264; 70, 120. Vgl. auch Leibholz / Rinck / Hesselberger, Grundgesetz, Art. 20, Rn. 701. Wissenschaftstheoretisch zur konstitutiven Maßstäblichkeit der „gemeinsamen Tradition von Methoden und Verfahren“ einer Disziplin „zur Behandlung ihrer praktischen und theoretischen Probleme“ Toulmin, S. 171 ff. und zum „Rechtswesen“ im besonderen S. 108 ff. 15 Herkömmlich wird dies, insbesondere für das strafrechtliche Bestimmtheitsgebot, bekanntlich als Festlegung auf den „möglichen Wortsinn des Gesetzes“ als „äußerste Grenze zulässiger richterlicher Interpretation“ normiert. Vgl. BVerfGE 71, 108, 115; 82, 236, 269. Dazu Schmidt-Aßmann in: Maunz / Dürig; Grundgesetz, Art. 103 Abs. II, Rn. 226, der hier allerdings „nicht mehr als eine Vereinfachungsformel“ sieht. Weiter ebd., Rn. 227 zur „Festlegung des Richters auf den möglichen Wortsinn“ und zum „Analogieverbot“ als Wiederaufnahme des „doppelten Schutzzweck(s) des Bestimmtheitsgebots auf der Gesetzesanwendungsebene“. (Gemeint: „die freiheitsgewährleistende und kompetenzbewahrende Funktion“ nach ebd., Rn. 179 f.) Zur grundlegenden Kritik der herkömmlichen Konzepte von Wortlautgrenze und Analogieverbot Yi, S. 4 ff.
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gründen durch den Rückgriff auf normgelöste Gesichtspunkte unterlaufen16 und damit nach ihrem Belieben entscheiden, noch aus Legitimierungsnöten durch die Kreation eigener Normtextschöpfungen überbieten17 und damit aus deren Willkür entscheiden.18 Es ist dem Gesetzgeber vorbehalten, mit seinen Normtextsetzungen solche Gren- 165 zen einer Rechtserzeugung durch die Gerichte zu ziehen. Zugleich obliegt es ihm, geeignete Voraussetzungen dafür zu schaffen.19 Dem politischen Souverän wird zwar eine weitgehende Gestaltungsfreiheit dabei eingeräumt, seine Ordnungsvorstellungen in rechtlichen Regelungen festzuschreiben und durch den Erlaß entsprechender Vorschriften in Geltung zu setzen. Solange er sich in dem ihm durch die Verfassung abgesteckten Rahmen bewegt, steht es dem Gesetzgeber weitgehend frei, Normtexte auf die Eigenheiten der zu regelnden sozialen Verhältnisse und „Lebenssachverhalte“ einzurichten.20 Es liegt weitgehend in seiner Hand, die Abfassung von Normtexten auf den von ihm ins Auge gefaßten Regelungszweck abzustellen und sich dabei von Gesichtspunkten der Funktionalität und Praktikabilität leiten zu lassen.21 Ihre Grenzen findet solche Gestaltungsfreiheit aber dort, wo eine ganz unklare, mißverständliche oder in sich widersprüchliche Fassung von Normtexten22 die Konturen rechtlicher Regelungen im proklamativ Unverbindlichen verschwimmen läßt23, bzw. wo sie den Versuch vereitelt, dem Text als Regelformulierung Handlungsrelevanz abzugewinnen.24 Die „Betroffenen“, also die Normadressaten und Teilnehmer am Rechtsverkehr, müssen sich anhand der Sprachgestalt des Vgl. Müller XVIII, S. 124. Zum Verbot der Überschreitung gesetzlicher Vorschriften BVerfGE 71, 108, 114 f.; 73, 206, 234 ff.; 82, 236, 269. Weiter zum Verbot richterlicher Nachbesserung von Gesetzen BVerfGE 47, 109, 123. Dazu auch Schmidt-Aßmann in: Maunz / Dürig; Grundgesetz, Art. 103 Abs. II, Rn. 225. 18 Zum strengen Gesetzesvorbehalt nach Art 103 II GG vgl. Leibholz / Rinck / Hesselberger, Grundgesetz, Art. 103, Rn. 1301. – Dazu auch BVerfGE 73, 274 f.; 47, 120; 75, 341; 78, 382; 85, 73; 87, 224 u. 391. 19 Zum Gebot, insbesondere strafrechtliche Vorschriften so zu gestalten, daß sie einer Auslegung zugänglich sind BVerfGE 25, 285; 26, 42; 41, 319; 50, 165; 57, 262; 71, 114; 73, 234; 75, 234; 75, 341; 78, 381 f.; 80, 257; 81, 309. Vgl. auch Leibholz / Rinck / Hesselberger, Grundgesetz, Art. 103, Rn. 1287. 20 Für das allgemeine rechtsstaatliche Bestimmtheitsgebot BVerfGE 48, 222; 86, 311; sowie Leibholz / Rinck / Hesselberger, Grundgesetz, Art. 20, Rn. 681. Für das strafrechtliche Bestimmtheitsgebot BVerfGE 26, 43; 28, 183; 41, 320; 75, 342; sowie Leibholz / Rinck / Hesselberger, Grundgesetz, Art. 103, Rn. 1318. 21 Dazu Leibholz / Rinck / Hesselberger, Grundgesetz, Art. 20, Rn. 684. – Vgl. auch BVerfGE 49, 181; 59, 114; 78, 212; 84, 149; 87, 263. 22 Vgl. Müller XVIII, S. 122. – Dazu auch Sachs, Grundgesetz, Art. 20, Rn. 78. 23 Das betrifft etwa die Produkte bloß symbolischer Gesetzgebung. Dazu Th. Meyer, S. 104 ff. Zum Problem, diese dennoch als Normtext in Geltung ernst nehmen zu müssen, Müller / Christensen / Sokolowski Kap. III, Abschn. 2.1. 24 Allgemein zum Widerspruch und zum Verfangen in den eigenen Regeln Wittgenstein I, Philosophische Untersuchungen, § 125. 16 17
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Normtextes wenigstens in Umrissen ein Bild von der Rechtslage machen können. Sie müssen die ihnen daraus erwachsenden Folgen ermessen und ihr Verhalten daran orientieren können.25 Und der Normtext muß in seiner Begrifflichkeit den „Betreffenden“, nämlich den rechtlich zuständigen Amtsträgern, wenigstens in den Grundzügen26 der Regelungsmaterie und des Regelungszwecks einen Bezugsrahmen dafür bieten27, elaborierte und plausibel zurechenbare Rechtsnormen hervorzubringen und sie als legitime juridische Entscheidungen über andere durchzusetzen.28 166
Für die herkömmliche Lehre heißt „Bestimmtheit“, daß der Wortlaut des Gesetzes die Entscheidung des Rechtsfalls vorgibt. Dieses Postulat wird in der Theorie hochgehalten, in der Praxis jedoch nicht beachtet. Woran liegt das? Der Normtext ist mit dieser Fassung des Bestimmtheitsprinzips überanstrengt. Die Forderung nach einer Bestimmtheit und Klarheit rechtlicher Regelung, die im Sinn einer Eigenschaft der gesetzlichen Vorschrift innewohnt und damit der Auslegung und Anwendung vorgegeben ist, ist sprachlich nicht einlösbar. Kein Text kann die mit ihm verknüpften Lesarten determinieren. Der Text hat keinerlei instrinsische Eigenschaft, die die Festlegung auf eine bestimmte Lesart unabhängig von der Praxis des Umgangs mit diesem Text rechtfertigen könnte.29 Die Wahl einer Lesart bleibt also immer unterbestimmt und bringt eine Entscheidungskomponente ins Spiel. Bestimmtheit ist, wie die These von der Unbestimmtheit der Übersetzung in der analytischen Philosophie30 im Grundsatz zeigt, nie durch Sprache erreichbar. Sie kann immer nur 25 Vgl. BVerfGE 21, 79; 31, 264; 37, 142; 62, 183; 75, 341; 78, 212; 82, 12; 83, 145. Dazu Leibholz / Rinck / Hesselberger, Grundgesetz, Art. 20, Rn. 611. Weiter ebd., Art. 103, Rn. 1288. – Vgl. auch BVerfGE 31, 255, 264; 37, 132, 142; 45, 400, 429; 52, 1, 41; 62, 169, 183; 78, 205, 212; 83, 130, 145; 84, 133, 149; 87, 234, 263. 26 Dazu, daß der Gesetzgeber „wenigstens seinen Grundgedanken, das Ziel seines gesetzgeberischen Wollens vollkommen deutlich“ machen muß Leibholz / Rinck / Hesselberger, Grundgesetz, Art. 20, Rn. 685. – Vgl. auch BVerfGE 17, 314. 27 Vgl. BVerfGE 48, 210, 222; 49, 168, 181; 59, 104, 114; 78, 205, 212; 84, 133, 149; 87, 234, 263. Zur speziellen Funktion der Bestimmtheit bei Eingriffen in das Recht auf die informationelle Selbstbestimmung vgl. BVerfGE 130, S. 151 ff., 202 ff. Zum strikten Bestimmtheitsgebot für die Gesetzgebung im Bereich des 103 Abs. 2 vgl. BVerfGE 130, S. 1 ff., 43. 28 Zur zweifachen Aufgabe des Normtextes gegenüber den „Betroffenen“ und den „Betreffenden“ Müller / Christensen / Sokolowski, Kap. I, Abschn. 3.3. – Vgl. für das strafrechtliche Bestimmtheitsgebot entsprechend der doppelten Anforderung der Erkennbarkeit und Ermittelbarkeit von Tatbeständen BVerfGE 25, 285; 26, 42; 41, 319; 50, 165; 57, 262; 71, 114; 73, 234; 75, 234; 78, 381 f.; 80, 257; 81, 309. – Die Legislative setzt Normtexte; den Text der normativen Stufe, das heißt die Rechtsnorm, setzt erst der Richter oder der sonstige rechtliche Entscheider. Die Rede vom Richter als einem „Gesetzgeber zweiter Stufe“ (bei Christensen VII, S. 153, s. a. 251) ist insofern mißverständlich. Sie bezieht sich nur auf die Textproduktion, nicht auch auf die Normativität; so hier durchgehend und z. B. auch Müller XXVI, S. 127 (Richter als alleiniger Gesetzgeber). – Goebel, S. 118, erinnert hieran zu Recht. 29 Vgl. Müller / Christensen / Sokolowski, S. 133 ff. – Vgl. zur Verknüpfung von Problemen juristischer Methodik mit dem Ansatz Davidsons: R. Christensen / H. Kudlich II, S. 129 – 151, Bung I, III, Franke. 30 Dazu anhand des Gedankenexperiments der radikalen Übersetzung Quine III, S. 59 ff. Weiter auch Quine IV, § 18. Zum Problem der prinzipiellen Unbestimmtheit in bezug auf Be-
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innerhalb von gegebenen Sprach- bzw. Überzeugungsystemen hergestellt werden.31 Dabei wird allerdings das Problem der Unbestimmtheit zwangsläufig auf die Entscheidung für ein solches System verlagert. Die zweifache Unbestimmtheit von Sprache32, nämlich die von begrifflichen Festlegungen innerhalb eines gegebenen Rahmens einerseits, sowie andererseits die der Wahl eines bestimmten Begriffsschemas33, zeigt, daß die normtheoretischen Prämissen der bisherigen juristischen Auffassung des Bestimmtheitsgebots sprachtheoretisch nicht einlösbar sind. Es kann nicht von der Bestimmtheit als einer Eigenschaft von Gesetzestexten oder auch nur als einer Vorgabe durch die gesetzliche Vorschrift als solcher ausgegangen werden. Vielmehr ist Bestimmtheit eine normative Aufgabe. Sie stellt sich als Frage der Bestimmbarkeit von rechtsförmigen Entscheidungen anhand von Normtexten34. Gelegentlich kann von kritischen Geistern der Satz vernommen werden, „im Telefonbuch“ stünden „mehr Informationen als im Gesetzbuch“. So ist es – unter der Voraussetzung, unter „Information“ Gewißheit und auch ein Abnehmen eigener Entscheidungslast verstehen zu wollen. Unsicherheit und Verantwortbarkeit des eigenen Rechtshandelns nimmt das Gesetzbuch dem Juristen, der zu entscheiden hat (dem „Subjekt der Konkretisierung“) freilich nicht ab; es fordert beide heraus (und kann es dann doch wohl mit dem Telefonbuch aufnehmen). Für eine Lösung dieses praktischen Problems sind die sprachtheoretischen Vor- 167 aussetzungen der herkömmlichen Lehre vom Kopf auf die Füße zu stellen. Die noch vorherrschende Sprachauffassung der Juristen setzt als Regel, was von den sprachlichen Verhältnissen her allenfalls seltene Ausnahme sein kann. Sie geht vom angeblich bestimmten Begriff aus und qualifiziert dann die Ausnahmen als „unbestimmte“ oder „wertausfüllungsbedürftige“ Rechtsbegriffe. Dem ist entgegenzuhalten, daß Sprache überhaupt nur dadurch funktionieren kann, daß sie als solche erst einmal unbestimmt ist und damit in ihrer Bedeutung gegenüber der Vielfalt der Zwekke für ihren Einsatz autonom.35 Nur dadurch ist sie offen für wechselnde Kontexte. deutungsgebungen in der eigenen Sprache als Problem der „radikalen Interpretation“ Davidson IV. Zum Zusammenhang beider Picardi, S. 19 ff. 31 Dazu anhand des Problems der „Unerforschlichkeit der Bezugnahme“ Davidson II. Auf die Implikate des Zeichenmodells auch des strukturierenden Methodenkonzepts weist Seibert III, S. 480, hin. 32 Dazu Quine IV, § 43. 33 Grundsätzlich zum Problem der Begriffsschemata Davidson I. – Im Rahmen der Linguistik: Hermanns. 34 Neumann VIII will diese Probleme mit einer Kompetenz-Kompetenz der Justiz lösen. Der Richter würde dann die Nachfolge des alten Obrigkeitsstaats antreten. Dieses Modell scheitert aber schon an der Unbestimmtheit des Kompetenzbegriffs. 35 s. Davidson V, S. 237 zur „sogenannte(n) Autonomie der Bedeutung“: „Ist ein Satz erst einmal verstanden, kann eine Äußerung dieses Satzes verwendet werden, um nahezu jedem außersprachlichen Zweck zu dienen.“ Weiter ebd., S. 238 dazu, „daß die Autonomie der Bedeutung wesentlich ist für die Sprache; ja es ist hauptsächlich diese Autonomie, die erklärt, weshalb die sprachliche Bedeutung nicht auf der Grundlage außersprachlicher Intentionen und Überzeugungen definiert oder analysiert werden kann.“ Zum „Prinzip der Autonomie der Be-
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Zugleich kann sie aufgrund dieser Flexibilität in den verschiedenen Zusammenhängen stabil fungibel sein. Es stellt sich dann allerdings die Frage, was bei realistischem Einschätzen der sprachlichen Bedingungen „Bestimmtheit“ von Normtexten überhaupt noch heißen kann. 168
Eine Grundlage für eine Antwort bieten beispielsweise die Einsichten Davidsons zur logischen Form von Handlungssätzen.36 Diese Ausführungen lassen sich zu einer analytischen Theorie gesetzlicher Tatbestände verdichten. Ausgangspunkt dafür ist, daß rechtliche Regelungen durch menschliches Verhalten geschaffene soziale Tatsachen zum Gegenstand haben. Diese sollen in die Verantwortlichkeit von rechtsfähigen Personen gestellt und mit den dafür vorgesehenen Rechtsfolgen belegt werden. Dafür hat der Normtext die nötigen Anknüpfungspunkte zu liefern. Was ist dazu erforderlich und wie ist dies zugleich sprachlich möglich?
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Handlungssätze kennzeichnen hiernach ein bestimmtes menschliches Verhalten und nehmen auf dieses Bezug. Dabei enthalten sie eine geordnete Menge von Zuschreibungen für dieses Ereignis. Diese Zuschreibungen bilden die Aussage des Handlungssatzes. Die Aussage wiederum wird im Fall einer Handlung durch den Handlungssatz mittels „Quantifizierung“ für ein einzelnes Ereignis getroffen. Die im Handlungssatz enthaltenen Zuschreibungen sind als die Handlung konstituierende Eigenschaften bzw. Merkmale interpretierbar. Als logisch grammatische37 Auszeichnungen und Anordnungen von Ereignissen bestimmter Art weisen Handlungssätze eine Doppelstruktur auf, die sie für eine analytische Theorie gesetzlicher Tatbestände interessant machen.
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Der Handlungssatz individuiert ein Ereignis, das genau in der Tatsache einer Handlung besteht38, die von der geordneten Menge der in ihm enthaltenen Zuschreibungen konstituiert wird. In seiner damit zugleich auch grammatisch markierten Rolle wirkt der Handlungssatz als eine Zuordnung der von ihm bezeichneten Tatsache zur Menge der Ereignisse überhaupt, die als Handlung gelten können. Extensional konstatiert der Handlungssatz jeweils das Faktum eines Ereignisses39, das er in deutung“ in Hinblick auf sprachliches Handeln weiter Davidson VI, S. 385 f. – Das Prinzip der Nachsicht wird in der juristischen Rezeption bezeichnenderweise ausgeklammert. Vgl. dazu Bung I und II. 36 s. Davidson VII, sowie dens. VIII zum entsprechenden Handlungsbegriff. Vgl. auch Picardi S. 33 ff. – Grundsätzlich zu dem von Davidson und Derrida unabhängig voneinander entwickelten Modell eines semantischen Holismus vgl. Bertram I, S. 388 ff. 37 Der Wechsel von Logik zu Grammatik hier in Nachfolge Wittgensteins, bei dem „der Begriff der ‚Grammatik‘ ein Nachfolger des Logikbegriffs der frühen Schriften“ ist; J. Schulte, S. 113. In konzentrierter Form umreißt Wittgenstein IV, Abschn. X sein Grammatikkonzept. 38 Die Grundformel „ist ein Ereignis, das in der Tatsache besteht“ ist nach Meggle, S. 208 „als ein Operator anzusehen (…), der, auf Sätze angewandt, ein Prädikat von Ereignissen darstellt.“ 39 „Wenn wir den Begriffen ein wenig Gewalt antun, dürfen wir sagen, die ‚Fakten‘ seien das, was ganzen Sätzen entspricht, während Einzelereignisse dasjenige seien, was singulären
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seiner Aussage zugleich intensional als Fall einer Handlung kennzeichnet und in diesem Sinn, aber auch nur in diesem, identifiziert.40 Das Ereignis hat stattgefunden, wenn der Handlungssatz wahr ist. Und dieser ist wahr, wenn es für eine jede der durch ihn angeordneten Zuschreibungen eine Interpretation gibt, die sie erfüllt. Welches diese Zuschreibungen sind, das heißt, welche Eigenschaften dem Hand- 171 lungssatz als Elemente hinzugefügt, und in welchem Verhältnis sie geordnet werden können, ergibt sich nicht etwa aus irgendeiner diesen innewohnenden Natur der Vorgänge selbst. Es ist der Handlungssatz, der mit dem Wertebereich der durch ihn gebundenen Variable auf eine Ontologie festlegt.41 Für sich genommen, sind Ereignisse erst einmal nur „Entitäten (…), über die sich unbegrenzt vieles sagen läßt.“42 Welche Eigenschaften dann für unbedingt nötig erachtet werden, hängt davon ab, welcher Klasse von Sachverhalten das vom Handlungssatz konstatierte Ereignis zugeschlagen werden soll. Und umgekehrt ist darüber nur durch die Ordnung der Zuschreibungen in der Aussage eines gegebenen Handlungssatzes entschieden. In diesem Sinn legt der Handlungssatz, wie im übrigen jeder weltzugewandte Satz, genau durch diese Zusammenstellung der Eigenschaften koordinativ einen logischen Ort in dem entsprechenden Raum möglicher Tatsachen fest.43 Der Handlungssatz situiert das von ihm als Faktum festgehaltene Ereignis in einer Welt, die er zugleich greifbar und dem praktischen Zugriff zugänglich macht, indem er in seiner Aussage das Ereignis als einen Fall von eben dieser Welt konstituiert. Daraus ergibt sich schon die entscheidende Folgerung für das Problem der Be- 172 stimmbarkeit gesetzlicher Tatbestände. Zur Seite der ‚Realien‘ des jeweiligen Vorgangs, zur Seite der ‚Lebenswirklichkeit‘ hin bietet der Handlungssatz als Tatsachenbehauptung all jenen Fragen einen Bezugs- und Anhaltspunkt, die sich darauf richten, darüber zu befinden, ob überhaupt ein Ereignis stattgefunden hat, das von rechtlichem Interesse ist. Er eröffnet die Entscheidung darüber, ob man es bei dem Faktum, das er konstatiert, mit einem Fall der Welt des Rechts zu tun hat. Diese Welt des Rechts wiederum läßt sich als „Beschreibungssystem“ und damit als ein „Bezugsrahmen“ auffassen.44 Indem ein solcher Bezugsrahmen über die „Art von Termini entspricht. Dementsprechend wäre der Tod Cäsars das, worauf sich die Quantifikation in einem Satz wie ‚Cäsar starb‘ bezieht.“ Picardi, S. 35 f. 40 Davidson VIII, S. 78 vermerkt ganz allgemein, daß „das Kriterium des Handelns zwar in semantischem Sinne intensional (ist), doch die Ausdrucksweise selbst, durch die das Handeln zugeschrieben wird, ist rein extensional.“ 41 Nach dem Quineschen Diktum: „Sein heißt eben, Wert einer Variablen sein.“ Quine IV, S. 42. Siehe weiter ebd., §§ 10, 12, 13. Zur Konsequenz der „ontologischen Relativität“ Quine II und in kritischer Auseinandersetzung damit Davidson II. Im besonderen zur Ontologie von Ereignissen Davidson IX; Davidson X. 42 Davidson VII, S. 170. 43 Grundlegend dazu Waismann Abschn. 9. Siehe auch schon Wittgenstein I, Logisch-philosophische Abhandlung, 3.42: „Obwohl der Satz nur einen Ort des logischen Raums bestimmen darf, so muß durch ihn schon der ganze Raum gegeben sein.“ 44 Vgl. Goodman I, S. 14 ff.
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Aussagen“ entscheidet, die sich über Vorgänge und „Erscheinungen“ machen lassen, legt er zugleich deren „Möglichkeit“ fest.45 Das heißt aber nichts anderes, als daß das Beschreibungssystem eine Welt erzeugt.46 Indem der Handlungssatz also in seiner Extension die Entscheidung über das von ihm konstatierte Ereignis als einer Tatsache in der Welt des Rechts eröffnet, ist mit ihm zugleich auch über diese Welt des Rechts zu entscheiden. Dies gibt im übrigen auch von dieser Seite her noch einmal einen aufschlußreichen Hinweis darauf, daß Recht in der Normkonkretisierung immer wieder erst hervorzubringen ist. 173
Der Handlungssatz bietet extensional den Angriffspunkt, an dem das rechtliche Interesse für das von ihm konstatierte Ereignis den Hebel ansetzen kann. Er bietet mit der Anordnung dieses Ereignisses als einem von bestimmter Art dann auch diesem Interesse die nötige Angriffsfläche dafür, wirklich zum Tragen zu kommen. In den von ihm enthaltenenen Zuschreibungen hält der Handlungssatz die Alternativen effektiv strikt offen, in denen eine Entscheidung über dieses Ereignis als ein Fall aus der Welt des Rechts zu treffen ist. Als konstituierende Momente des einen Ereignisses sind diese Zuschreibungen natürlich nicht voneinander unabhängig. Vielmehr hängen sie netzartig zusammen. Für eine konstituierende Kennzeichnung des Ereignisses als dem einen von dieser Art sind sie unbedingt aufeinander verwiesen. Je nach Erfüllung der mit dem Handlungssatz gegebenen Kennzeichnung dieses Ereignisses in den einzelnen Momenten der Zuschreibungen hat man es also mit einem mehr oder weniger perfekten bzw. imperfekten Fall aus der Welt des Rechts zu tun. Mit Wittgenstein gesprochen, ergibt sich dann aus der Mannigfaltigkeit des Handlungssatzes in den von ihm geordneten und sich zu ihm fügenden Zuschreibungen der Freiheitsgrad47 der sprachlichen Verfahrensweisen eines rechtlichen Umgangs mit dem Ereignis. Zur Seite der ‚Formalien‘, zur Seite der rechtlichen ‚Wahrheit‘48 hin gibt der Handlungssatz also intensional Raum, rechtlich über das von ihm individuierte Ereignis zu befinden. 45 Vgl. Wittgenstein I, Philosophische Untersuchungen, § 90. s. auch Goodman I, S. 14 dazu, daß „Bezugsrahmen freilich (…) weniger zum Beschriebenen als zum Beschreibungssystem gehören.“ Und weiter ebd., S. 15: „Wir sind bei allem, was beschrieben wird, auf Beschreibungsweisen beschränkt. Unser Universum besteht aus diesen Weisen und nicht aus einer Welt oder aus Welten.“ Gemeint ist hier eine abbildbar unabhängige Realität. Zu den „Weisen der Welterzeugung“ dann ebd., S. 20 ff. Zu weiteren Erläuterungen auch Goodman II. In Hinblick auf die „Art von Aussagen“ erläutert Wittgenstein VIII, S. 32 dies dann als den Zusammenhang von Möglichkeit und Grammatik: „Die Grammatik ist nicht Ausdruck dessen, was der Fall ist, sondern dessen, was möglich ist. Es gibt also einen Sinn, in dem Möglichkeit logische Form ist.“ – Wittgensteins Spätphilosophie dient Binz als Grundlage sorgsamer Untersuchungen zur Gesetzesbindung. 46 s. Goodman I, S. 14 ff. – Für die Rechtsarbeit über „semantische Rahmenanalyse als Methode der Juristischen Semantik“: Busse XI. 47 Vgl. Wittgenstein VIII, S. 29: „Die Mannigfaltigkeit der Sprache wird durch die Grammatik gegeben.“ Und: „Die Grammatik gestattet einige sprachliche Verfahrensweisen und andere nicht; sie bestimmt den Freiheitsgrad.“ 48 Grundsätzlich zum Problem von „Recht und Wahrheit“ in Hinblick auf argumentative Verfahren der Rechtsarbeit Patterson I. – Zum „Sprachhandlungsansatz der juristischen Textarbeit“, von der Linguistik her: Felder V.
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Im Ergebnis ist damit die analytische Theorie gesetzlicher Tatbestände erreicht, 174 welche Möglichkeiten und Grenzen einer sprachlichen Festlegung der Regelungsmaterie von Gesetzen durch den Normtext zeigt. Für ein solches Festlegen der Rechtsfolgen ist ein analoger Theorieaufbau möglich, nur daß hier der Handlungssatz nicht retrospektiv zur Auszeichnung abgeschlossener Episoden des sozialen Zusammenlebens dient, sondern prospektiv auf künftige verweist und diese in ihrer Ereignishaftigkeit festlegt (etwa die Verhängung von Strafen oder Auflagen), um bestimmte Zustände herbeizuführen oder zu beseitigen. Normtheoretisch hat der Handlungssatz seinen Sitz im Sachbereich rechtlicher 175 Regelungen; also in der Menge aller Sachaspekte, die mit den zunächst in Gestalt ihrer Normtexte vorbereiteten Rechtsnormen thematisch in Beziehung stehen können.49 Den Sachbereich machen dabei die allgemeinen Tatsachen aus (in Unterschied zu den individuellen aus der Fallerzählung bzw. dem juristisch schon umformulierten Sachverhalt). Individuell mögen z. B. einen Strafrechtfall Einzelhandlungen prägen wie: Gründung von Briefkastenfirmen, zahlreiche Kontoeröffnungen, Ausstellung überhöhter Rechnungen, systematisches Weiterschieben von Summen, usw. Typologisch sieht dies nach „Geldwäsche“ aus, deren generelle Fakten – solange diese Normtexthypothese aufrecht erhalten wird – nun als Sachbereich zu untersuchen sind. Der Handlungssatz gibt dem Sachbereich für die anstehende Normkonkretisierung sein semantisches Format. In seiner Extension sichert er für diese die Möglichkeit zur Bezugnahme, indem er Einzelereignisse individuiert. In seiner Intension sichert er ihr die Möglichkeit zum Zugriff auf das jeweils individuierte Ereignis, indem er dieses als Fall aus der Welt des Rechts anordnet. Entsprechend kommt der Tatbestandsbestimmung für eine Rechtsnormproduktion im Fall die Aufgabe zu, eine Grammatik zur Erarbeitung des Normbereichs zu entwerfen, durch den festgelegt wird, welche Tatsachen die fragliche Rechtsnorm mittragen können.50 Indem die Gesetzgebung der folgenden Normkonkretisierung die Bedingungen zu setzen hat, erfolgt sie gleichsam als umgekehrte und den späteren Entscheidungsvorgang in seiner Umkehrung vorwegnehmende Setzung von Entscheidungsnormen.51 Die dafür nötige Klassenbildung im Regelungsgegenstand ergibt sich dementsprechend aus der Umkehrung der Konkretisierung von Rechtsnormen bis hin zum Individualisieren einer Entscheidungsnorm52 und zugleich aus jener der individualisierenden Verengung der Elemente der Rechtsnorm.53 49 Müller XIX, S. 251; zu „Sachbereich“ in der Judikatur inzwischen z. B. BVerfGE 108, 282, 311 f.; ebd., 314, 335. 50 Ebd., S. 272. – Zur produktiven Aufgabe des Handelns der Entscheidungen erarbeitenden Juristen: Christensen X, v. a. S. 102 ff., 106 ff. in Auseinandersetzung mit der US-amerikanischen Debatte. 51 Zur „Normtextsetzung“ „als gleichsam umgekehrte und den späteren Entscheidungsvorgang vorwegnehmende Setzung von Entscheidungsnormen“ ebd., S. 252. 52 Zum „Individualisieren einer Entscheidungsnorm“ selbst ebd., S. 263. 53 Zur „individualisierende(n) Verengung der Elemente der Rechtsnorm“ selbst ebd., S. 264.
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Sprachtheoretisch wird die dafür erforderliche Allgemeinheit durch Universalisierung des Handlungssatzes erreicht. Extensional geht man damit vom Bezug auf ein Einzelereignis zur Festlegung des Bereichs einer Art von Ereignissen über. Für diese Art von Ereignissen gilt im übrigen, was Wittgenstein in Hinblick auf Gegenstände sagt: „Welche Art von Gegenstand etwas ist, sagt die Grammatik.“54 Die dafür wiederum nötige Abstraktheit im Festlegen des Einzugsbereichs der Formulierung rechtlicher Vorschriften wird dadurch erzielt, daß man in den durch den Handlungssatz geordneten Zuschreibungen die Eigenschaften und Teile, die ein Einzelereignis herausgreifen und auszeichnen, durch die Variable für jeweils das Moment ersetzt, das jene Eigenschaften und Teile als Konstanten in bezug auf das einzelne Ereignis belegen. Intensional geht man damit unter Erhalt des Freiheitsgrads des Handlungssatzes in der Mannigfaltigkeit der von ihm geordneten Zuschreibungen von der Kennzeichnung eines Falls in der Welt des Rechts zur Form für solcherlei Kennzeichnungen über.55 So legt man einen Raum möglicher Sachverhalte fest56, die wesentlich von einer rechtlichen Regelung betroffen sein können und für die gilt, was Wittgenstein vom „Wesen“ sagt: „Das Wesen ist in der Grammatik ausgesprochen.“57
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Dabei zeigen sich zugleich auch die Grenzen der Möglichkeit sprachlicher Festlegung gesetzlicher Tatbestände durch den Normtext. Als ein grammatischer Ausdruck kann der Normtext die rechtliche Entscheidung über Episoden des sozialen Zusammenlebens nicht schon vorgeben. Vielmehr können mit ihm nur die Bedingungen dafür gesetzt werden, zu solchen Entscheidungen zu kommen. Der Normtext gibt in seiner Tatbestandsbestimmung nicht bereits einen Begriff der geregelten Sachverhalte. Vielmehr zeichnet er lediglich die Form vor, in der solche Begriffe zu bilden sind. Und er enthält auch nicht schon Beschreibungen, die sich mit Wahrheitsanspruch von den betreffenden Vorgängen des sozialen Lebens behaupten ließen. Tatsächlich zeigen die Festlegungen des Normtextes lediglich die Bedingungen an, unter denen aufgrund von Belegen über solche Wahrheitsansprüche zu entscheiden ist. Der Normtext gibt damit zwar einen Rahmen vor, in dem die Bestimmtheit rechtlicher Regelungen erreicht werden kann58. Zugleich setzt er jedoch den Vorgang der Normkonkretisierung einer doppelten Entscheidungsungewißheit aus.59 Wittgenstein I, Philosophische Untersuchungen, § 373. „Der Ausdruck der Form ergibt sich, wenn man die konstanten Teile des Satzes in variable verwandelt.“ Wittgenstein VI, S. 224. 56 Vgl. Waismann, S. 234. 57 Wittgenstein I, Philosophische Untersuchungen, § 371. 58 Zu Bestimmtheitsproblemen im Steuerrecht und zum Nachweis der entsprechenden Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vgl. Jehke, S. 25 ff. Weiteres Beispiel aus der Finanzverfassung bei Maciejewski, S. 92 ff. 59 Hier im entscheidungstheoretischen Sinn. Vgl. entsprechend zu Spielen unter unvollständiger Information M. D. Davis, S. 94 ff. und öfter; sowie grundlegend Jeffrey. Von allgemeinem Interesse für die Bestimmtheitsthematik sind die damit einhergehenden Probleme vor allem in Hinblick auf die Frage nach der Absehbarkeit und Berechenbarkeit einer „Wahrheit“ von Rechtssätzen als Resultat von Bedeutungsgebungen und Interpretationen. Zum Problem 54 55
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Bestimmtheit kann so alles in allem keine Eigenschaft von Gesetzestexten sein. Vielmehr ist sie auf eine Strategie des Gewinns von Wahrheit60 für die nach den grammatischen Vorgaben des Normtextes zu bildenden Handlungssätze verwiesen. Für diese Strategie stellt sich dann weiter die Frage nach ihrer Ausgestaltung als Verfahren unter der verfassungsrechtlichen Forderung, Rechtssicherheit zu gewähren. Einmal mehr bestätigt dies übrigens die von der Strukturierenden Rechtslehre vorgeschlagene Unterscheidung zwischen der Geltung eines Normtextes und der Bedeutung der Norm. Bezeichnenderweise war von Bedeutungen in dem hier demonstrierten Theorieaufbau insoweit nicht die Rede, sondern stattdessen von Struktur und Entscheidung, von Festlegung und Form, die allesamt den Weg zu einer bestimmten Bedeutung des Normtextes, die die Rechtserzeugung zu erbringen hat, erst eröffnen und sozusagen planieren. Ungeschminkt betrachtet, dient der Gesetzestext technisch als Ansatzpunkt, legitimatorisch als Durchzugsgebiet für miteinander konkurrierende, für einander widersprechende Interpretationsvarianten. Das macht jeder Blick in einen Gesetzesoder Verfassungskommentar augenfällig: zahlreiche, manchmal Hunderte von Textseiten zu ein, zwei, drei Sätzen des darüber thronenden kargen Normtextes (Art. X der Konstitution, § Y des Gesetzes)61. Bei realistischer Einschätzung der sprachlichen Möglichkeiten erscheint also die 178 Leistung des isolierten Normtextes als gering. Er enthält keine „übermäßige Tatsache“, die der Rechtserkenntnis eine bestimmte Lesart vorgeben könnte. Vielmehr bringt seine praktische Verwendung einen Strom von Leseereignissen hervor, der nicht über vorab gesicherte Erkenntnismaßstäbe, sondern nur über die Standards einer bestimmten Interpretationskultur mit dem Text verknüpft ist. Daraus ergibt sich, daß das Problem der Bestimmbarkeit nur gelöst werden kann, wenn man die isolierte Fixierung auf den Text aufgibt. Für die Bestimmbarkeit sind neben den sprachlichen Bedingungen weitere Anforderungen zu berücksichtigen. Es ist ein komplexerer Ansatz nötig, der die Gesamtheit der Bedingungen für die Produktion von Rechtsnormen umfaßt. Zunächst setzt Bestimmbarkeit eines Textes voraus, daß es eine Argumentations- 179 kultur gibt, die dem Rechtsunterworfenen ein Willkür ausschließendes Maß an Vorvon „Recht und Wahrheit“ Patterson I. Kritisch dazu Müller / Christensen / Sokolowski, S. 104 ff., Abschn. 1.2. Grundlegend zur Analogie zwischen der Frage einer Interpretation aufgrund von Belegen zur Ermittlung von Wahrheit, Bedeutung und Überzeugungen und den Problemen der Entscheidungstheorie Davidson IV, S. 209 ff. 60 Zur Analogie von Wahrheitsermittlung und Gewinnstrategie Dummett I; sowie Davidson VI, S. 385 ff. in Hinblick auf den Zusammenhang von „Kommunikation und Konvention“. 61 Dazu Müller XXXVIII. – Dieselbe alte Erfahrung bietet schon der Talmud: „Eine Mischna (sc. Text der Vorschrift) von fünf oder sechs Zeilen wird zwanzig oder dreißig Blatt Erklärungen haben … Man glaubt, … der Entfesselung einer ungeheueren Träumerei beizuwohnen“; Ouaknin, S. 117. – Vgl. zu den Parallelen zwischen der talmudischen Tradition und heutigem textbezogenen Rechtsdenken Ladeur, K.-H. / Augsberg, I. II, S. 3 ff. sowie Vesting III, S. 181 ff. – Zu dem hier im Text folgenden Begriff „übermäßige Tatsache“ vgl. Wittgenstein I, Philosophische Untersuchungen, § 192; sowie erläuternd Stegmüller III, S. 79.
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hersehbarkeit bietet. Dazu bedarf es politischer Entscheidungen in Form von methodenbezogenen Vorschriften, die für die Arbeit des Rechtsfunktionärs verbindlich sind. Außerdem muß die Wissenschaft Standards entwickeln, die den einzelnen Rechtsarbeiter in die Lage versetzen, wiederkehrende Figuren einer Argumentation zu benennen und zu gewichten. Und natürlich müssen die Entscheidungsträger in Studium, Prüfung und Berufspraxis entsprechend ausgebildet oder besser und realistischer: konditioniert werden. 180
Aber auch wenn eine wissenschaftliche Argumentationskultur die für die Konkretisierung nötigen Kontexte benennt und hierarchisiert, besteht in jedem praktischen Fall die Möglichkeit, daß diese Kontexte genauer betrachtet werden müssen oder daß neue eingebracht werden. Auch eine Methodik oder Kultur des Lesens kann die Konkretisierung nicht zu einem vollkommen beherrschbaren und voraussagbaren Vorgang machen. Dafür sorgt die unumgehbare Unendlichkeit der Kontexte.62 Die am Rechtsstreit beteiligten Parteien haben auch jedes Interesse daran, diese interne und externe Unendlichkeit zu nützen, um die Lesart des Prozeßgegners zu erschüttern. Für diese Konflikte als semantischen Kampf63 (semantische Kontroverse) muß eine Form bereitgestellt werden, welche die doppelte Aufgabe erfüllt, dem Konflikt Raum zu bieten und ihn gleichzeitig zu verendlichen. Ein rechtsstaatliches Verfahren, das Waffengleichheit und Subjektqualität für alle am Interpretationskonflikt beteiligten Personen garantiert, kann diese Aufgabe erfüllen.
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Aber auch Text, Interpretationskultur und rechtsstaatliches Verfahren zusammengenommen bilden keine Grundlage für eine Determination der einzelnen Fallentscheidung. Die Entscheidung bleibt immer und notwendig im Bannkreis des Satzes vom unzureichenden Grund.64 Der Richter erkennt nicht die Fallösung, die er dann in seinem Sprechen vollzieht, sondern er übt die ihm von Art. 92 GG übertragene richterliche Gewalt aus, indem er eine Entscheidung trifft. Mit dieser setzt er sich über die von den Parteien vorgetragenen Lesarten hinweg, ohne dies durch den Hinweis auf eine objektive Tatsache im Text oder in der Sprache rechtfertigen zu können. Deswegen muß auch diese Dimension als Grenze in das Problem der Bestimmbarkeit des Normtextes einbezogen werden. Wenn die Aufgabe des Richters darin liegt, einen Konflikt zwischen verschiedenen Lesarten zu entscheiden, müssen Garantien für seine Neutralität bestehen und darf er nicht politischen, sondern nur im engeren Sinn rechtlichen Bindungen unterworfen sein.
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Erst wenn man also die Bestimmbarkeit des Normtextes im Gesamtrahmen der für die Konkretisierung wichtigen Umstände betrachtet65, läßt sie sich als normative 62 Vgl. zur Unbestimmbarkeit des Kontextes grundlegend Gamm, S. 151 ff., 165, 232 ff. – s. a. hier: RNr. 505. 63 Vgl. dazu Seibert XI, S. 2895; eingehend Goebel, S. 18 ff., 184 ff. und durchgehend. – Umfassend bei Felder IV. 64 Den Satz vom unzureichenden Grund verwendet Waldenfels, um die Vorstellung von Castoriadis zu erläutern, daß die historischen Bedingungen nicht ausreichen, um das Neue in der Geschichte zu erklären. Vgl. Waldenfels, S. 65. 65 Zur dabei notwendigen Methode der Diskursanalyse vgl. Jäger, S. 158 ff.
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Anforderung präzisieren: Bestimmbarkeit heißt nicht, daß der Normtext die Entscheidung schon vorgibt. Denn Subjekt der Konkretisierung ist – beispielsweise – der Richter, und seine Entscheidung läßt sich nie vollkommen in Gründe auflösen. Damit ist die positivistische Illusion von sprachlicher Bestimmtheit verlassen. Das heißt aber andererseits nicht, daß die Entscheidung als absolute Größe außerhalb der Welt des Rechts „dezisionistisch“ residiert. Sie wird vielmehr innerhalb des Rechts erschwert und beeinflußt (in Luhmanns Ausdrucksweise: „irritiert“) durch die Sprache des Gesetzes, durch die methodischen Anforderungen, das Verfahren und die Bindungen des Richters. Erst wenn man Determination durch („irritierende“) Beeinflussung der Entscheidung ersetzt, wird Bestimmbarkeit eine sinnvolle und damit einlösbare Größe. Anders gesagt: Der Rechtsstaat kann sinnvoll nichts Illusionäres fordern, also nicht die Bestimmtheit (Fixiertheit) von Rechtsbegriffen und ihren Bedeutungen. Dagegen verlangt er etwas Realisierbares: die Bestimmbarkeit des Verfahrens und der Ergebnisse von Rechtsarbeit, also ehrliche Methodik, nachvollziehbare und in diesem Sinn transparente Arbeitsvorgänge. Von hier aus lassen sich dann auch die sprachlichen Anforderungen formulieren, 183 die an einen Normtext zu stellen sind, wenn er diese Aufgabe erfüllen soll: Damit sich im Rahmen eines geordneten Verfahrens und einer bestimmten Argumentationskultur rechtliche Bindungen an einen Normtext entfalten können, bedarf es einer Ausdrucksweise von hinreichend scharfer Intensionstiefe. Dieser Begriff ist bezogen auf das Ziel der Beeinflussung des Entscheidungsvorgangs und macht eine große Menge nicht systematisierender juristischer Erfahrungen formulierbar. Es gehört zum Erfahrungswissen der Praxis, daß ein Normtext vom Sachverhalt her um so mehr der Möglichkeit einer Manipulation offensteht, je weniger Merkmale er aufweist. Im Extremfall wäre ein Normtext der Form „Jeder Gauner ist zu bestrafen“ der Bildung beliebiger individuierender Handlungssätze weitestgehend ausgeliefert. Dagegen setzt ein ausdifferenzierter Normtext mit möglichst vielen Merkmalen der Bildung solcher Handlungssätze prinzipiell mehr Schwierigkeiten entgegen, die durch Universalspezialisierung aus dem grammatisch allgemeinen Handlungssatz des Normtextes gewonnen werden und als korrekt abgeleitet gelten können. Daraus könnte man nun folgern, einer aufzählenden Kasuistik sei der Vorrang gegenüber einer abstrakt-generellen Formulierung einzuräumen. Doch eine solche Kasuistik hätte den unter Juristen bekannten Nachteil, daß man nicht nur in der Gefahr stünde, die Vielfalt des Regelungsgegenstandes zu verfehlen, sondern auch die Gesetzbücher zu nicht mehr handhabbarer Größe aufzublähen. Wenn man nun statt dessen einer abstrakt-generellen Formulierung den Vorzug einräumen will, muß man in Hinblick auf die dann größere sprachliche Offenheit anderweitige Vorkehrungen gegen die Mißbrauchsgefahr treffen. Man muß also bei abstrakt-genereller Formulierung viel größere Sorgfalt auf die drei weiteren Bedingungen für das Funktionieren eines Rechtssatzes legen, nämlich auf die Garantien einer transparenten Argumentationskultur, eines rechtsstaatlichen Verfahrens und entsprechender Bindung des Richters. Um die Gefahren beider Strategien möglichst herabzusetzen, bietet sich eine kombinierte Anwendung der genannten gesetzgeberischen Regelungstechniken an. Eine offene Aufzählung von Beispielen kann ergänzt werden durch eine ab-
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strakt-generelle Formulierung, so daß deren Offenheit durch den Vergleich mit den konkreten Beispielsfällen eingeschränkt werden kann. Grammatische und systematische Auslegung bieten dann für die Konkretisierung oft schon ausreichende Anhaltspunkte. Allgemein formuliert: Je präzisere Kontexte ein Gesetzgeber für die anschließenden Interpretationen bereit stellt, um so größer ist das Ausmaß an Einfluß auf die Entscheidung. 184
Damit führt auch eine semantische Analyse zum realistischen Einschätzen dessen, was die Sprache für die Probleme des Rechtssetzung zu leisten vermag. Der Handlungssatz gleicht dem Kippbild, das Wittgenstein in den Philosophischen Untersuchungen verwendet, und das je nach Drehung der Betrachtung als Hase oder Ente erscheint. Dieser ambivalente Charakter macht deutlich, daß in jedem Anwendungsfall auch die Regel selbst auf dem Spiel steht. Sie ist nicht als sichere Grundlage der technischen Anwendung übergeordnet, sondern ist ihrerseits der Praxis ausgeliefert. Ihr Charakter kann durch die Anwendung verändert werden. Deswegen muß man sich von der heute noch zuweilen gepflegten Illusion verabschieden, es ließen sich von der Regel her die positiven und negativen Kandidaten der Anwendung klar vom Vagheitsbereich der kritischen Fälle trennen. Jede „Anwendung“ des Gesetzes ist auch für die Regel selbst ein kritischer Fall. Deswegen ist Bestimmtheit des Normtextes durch Bestimmbarkeit zu ersetzen und Determination der Entscheidung durch Beeinflussung. Die Gerichte sind denn auch mit der Annahme einer abstrakten Bestimmtheit des Textes schon vor seiner Verwendungssituation sehr vorsichtig. Diese Theorie erscheint nur im Vorspruch, wird dann aber für die eigentliche Fall-Lösung beiseite geschoben. Typisch ist hier das Bundesverfassungsgericht. Es sagt zunächst folgendes: „Danach enthält diese Regelung (es geht um Art. 103 Abs. 2 GG) nicht nur ein Rückwirkungsverbot für Strafvorschriften. Sie verpflichtet den Gesetzgeber vielmehr auch, die Voraussetzungen der Strafbarkeit so konkret zu umschreiben, daß Anwendungsbereich und Tragweite der Straftatbestände sich aus dem Wortlaut ergeben (…).66 Damit wird die juristische Sprachtheorie in ritualisierter Form angerufen. Die Situationsabhängigkeit von Sprache wird vernachlässigt zugunsten einer hypostasierten Sprache als erkennbarem Gegenstand. Aber mit der Anrufung der Theorie ist es auch schon vorbei. Danach geht es zur Sache: Die Bestimmtheit ergibt sich entweder oder muß sich „jedenfalls durch Auslegung ermitteln lassen. Diese Verpflichtung dient einem doppelten Zweck. Sie soll einerseits sicherstellen, daß die Normadressaten vorhersehen können, welches Verhalten verboten und mit Strafe bedroht ist. Sie soll andererseits gewährleisten, daß die Entscheidung über strafwürdiges Verhalten im voraus vom Gesetzgeber und nicht erst nachträglich von der vollziehenden oder der rechtsprechenden Gewalt gefällt wird. Insoweit enthält Art. 103 Abs. 2 GG einen strengen Gesetzesvorbehalt, der die Strafgerichte auf die Rechtsanwendung beschränkt.“67 Damit wird die Vorstellung von situationsabstrak66 67
BVerfGE 92, S. 1 ff., 11. BVerfGE 92, S. 1 ff., 11 f.
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ter Bestimmtheit des Textes durch ein Konzept von anwendungsbezogener Bestimmbarkeit ersetzt. Wenn der Leser den Text ohne weiteres versteht, um so besser. Aber wenn nicht, ist dem Bestimmtheitsgebot jedenfalls Genüge getan, wenn juristische Experten den Text in einer Anwendungssituation zu einem konkreten Verständnis entwickeln können. An die Stelle von Bestimmtheit tritt damit die pragmatische Größe der Bestimmbarkeit. Diese pragmatische Wende bringt dann natürlich auch den Normbereich stärker in den Blick. In seiner Entscheidung zur Wiedergutmachung von Enteignungsunrecht schreibt das Bundesverfassungsgericht: „Das rechtsstaatliche Gebot der Gesetzesbestimmtheit zwingt den Gesetzgeber nicht, Regelungstatbestände stets mit genau erfaßbaren Maßstäben zu umschreiben. Der Gesetzgeber ist aber gehalten, seine Regelungen so bestimmt zu fassen, wie dies nach der Eigenart des zu ordnenden Lebenssachverhalts mit Rücksicht auf den Normzweck möglich ist (vgl. BVerfGE 49, 168 [181]; 78, 205 [212]). Bei der Frage, welche Bestimmtheitsanforderungen im Einzelnen erfüllt sein müssen, ist auch die Intensität der Einwirkungen auf die Regelungsadressaten zu berücksichtigen (vgl. BVerfGE 49, 89 [133]). Die Rechtsunterworfenen müssen in zumutbarer Weise erkennen können, ob die tatsächlichen Voraussetzungen für die in der Rechtsnorm ausgesprochene Rechtsfolge vorliegen (vgl. BVerfGE 37, 132 [142]; 59, 104 [114]). Dabei reicht es aus, wenn sich dies im Wege der Auslegung oder einschlägigen Bestimmung mit Hilfe der anerkannten Auslegungsregeln feststellen läßt (vgl. BVerfGE 21, 209 [215]; 79, 106 [120])“.68
312.12 Zur Geltung des Normtextes Die Strukturierende Rechtslehre geht davon aus, daß dem Normtext am Beginn 185 der Konkretisierung erst Geltung und nicht schon Bedeutung zukommt.69 Mit diesem Ansatz werden drei Fragen getrennt, die in der herkömmlichen Lehre noch unBVerfGE 102, 243 ff., 337. Zur Kritik einer Geltung ohne Bedeutung als Nihilismus vgl. Agamben, S. 62 ff. Hier soll im Anschluß an Carl Schmitt noch einmal auf eine Politik jenseits der Mittelbarkeit gesetzt werden: „Die Erfahrung der Geltung ohne Bedeutung liegt einer nicht unerheblichen Strömung des zeitgenössischen Denkens zu Grunde. Das Verdienst der Dekonstruktion besteht heute nämlich genau darin, daß sie den ganzen Text der Tradition als Geltung ohne Bedeutung auffaßt, die im wesentlichen auf der Unentscheidbarkeit beruht, und auch gezeigt hat, daß eine solche Geltung, wie die Tür des Gesetzes in Kafkas Parabel, absolut unüberwindbar ist.“ Ebd., S. 64 f. Der Geltung ohne Bedeutung wird hier noch einmal das messianische Moment entgegengesetzt: „Die messianische Aufgabe des Mannes vom Lande (…) könnte genau darin bestehen, den virtuellen Ausnahmezustand wirklich werden zu lassen, den Türhüter zum Schließen der Tür des Gesetzes zu zwingen (das Tor von Jerusalem). Denn der Messias wird erst eintreten können, nachdem man das Tor geschlossen hat, das heißt, nachdem die Geltung ohne Bedeutung aufgehört haben wird.“ Ebd., S. 67 f. Die volle Souveränität einer Potenz, die sich nicht in der Verwirklichung des Aktes erschöpft, wäre dann der Inhalt des Messianischen. Erst wenn man auf diesen Rückweg in den jüdisch-christlichen Messianismus nicht mehr vertraut, beginnt die Arbeit der Rechtstheorie. Vgl. zum Messianischen ohne Messianismus Derrida X, S. 81 ff. – Zu Agamben vgl. auch Steinhauer. 68 69
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klar vermischt sind. Es sind die Fragen nach Geltung, Bedeutung und Legitimation. Das positivistische Modell der Rechtserkenntnis setzt alle drei Probleme gleich: die Geltung des Normtextes liegt in seiner Bedeutung und die Entscheidung ist legitim, wenn sie die erkannte Bedeutung genau auf den Fall anwendet. Die von der Strukturierenden Rechtslehre ausgearbeitete Trennung verteilt die Probleme dagegen zunächst auf der Zeitachse: Geltung des Normtextes liegt am Anfang, Bedeutung als Ausfüllung des Textformulars (Normativität) am Ende. Dazwischen liegt ein Handeln des Rechtsarbeiters, das an Legitimitätsmaßstäben überprüft werden muß. Legitimität kommt der in der Entscheidung liegenden Ausübung von Staatsgewalt dann zu, wenn die Zurechnung der Bedeutung zum Normtext alle sprachlichen Anschlußzwänge methodisch überzeugend abgearbeitet hat, die sich aus einer verfassungsrechtlich rückgebundenen Argumentationskultur ergeben. 186
Die geschilderte Trennung ist aus der Sicht des alten positivistischen Modells von Rechtserkenntnis nicht leicht zu verstehen. Typisch ist insoweit eine Kritik, welche die Abschichtung von Zeichenkette und Bedeutung für unmöglich hält.70 Ein Normtext ohne Bedeutung sei als Zeichenkette gar nicht erkennbar und könne deswegen auch keine Geltung haben. Nun erscheinen zwar in der unreflektierten Alltagskommunikation Zeichenkörper und Bedeutung als Einheit. Aber schon die bloße Frage nach der Bedeutung eines bestimmten Zeichens legt beide Seiten auseinander. Der Raum, in den sich diese Frage entfaltet, ist der der Bedeutsamkeit. Zeichentheoretisch kann die Differenz zwischen „Bedeutung haben“ und „von Bedeutung sein“ als die zwischen der „Bedeutung“ eines Zeichens und seiner „Bedeutsamkeit“ begriffen werden. „Bedeutung“ kommt dem Zeichen durch eine konkrete Interpretation zu. Seine „Bedeutsamkeit“ dagegen liegt als Voraussetzung dafür in der Interpretierbarkeit, durch „die das materielle Substrat allererst als Zeichen initialisiert wird.“71 Durch die Verweisungsstruktur seiner Begriffe eröffnet der NormSomek II, S. 58 ff., sowie ders. / Forgó, S. 36 und öfter. Schönrich, S. 412, der andererseits auch Somek als zeichentheoretischer Gewährsmann für seinen Angriff auf die mit der Trennung von Zeichenkette und Bedeutung verbundene Unterscheidung von Geltung und Bedeutung des Normtextes dienen soll, vgl. Somek II, S. 60, Fn. 291. Schönrich entwickelt ein Lesemodell, wo er von der Textebene (dort Bedeutung oder Erstheit genannt) den kulturellen Code zur kulturellen Interpretation des Textes unterscheidet (dort Sinn oder Zweitheit genannt). Für die Bedeutsamkeit gilt dann: „Auf beiden Ebenen wird jedoch unterstellt, daß Zeichen überhaupt interpretierbar sind; die Ebenen der Bedeutung und des Sinns setzen als höchste Ebene die Drittheit, die Ebene der Bedeutsamkeit, voraus (…)“. Schönrich, S. 412. Schönrich verwendet das dreigliedrige Zeichenmodell von Peirce. Damit sind eine Reihe zeichentheoretisch und sprachtheoretisch interessanter Probleme verbunden, die hier ausgeklammert werden müssen. – Im vorliegenden Text wird vom zweigliedrigen Zeichenmodell der französischen Tradition ausgegangen. Dort ist von vornherein mitbedacht, daß sich nicht ein einzelnes Zeichen auf die Welt bezieht, sondern nur die Sprache als Ganzes. Im dreigliedrigen Zeichenmodell der angelsächsischen Semiotik mußte dieser Gedanke durch die von Quine bis Davidson reichende beharrliche Kritik erst durchgesetzt werden. Die Frage der Bedeutsamkeit im Sinne einer vorgängigen Initialisierung der Zeichenkette als Zeichen stellt sich natürlich für beide Modelle. Im übrigen sollen hier Fragen der Zeichenarchitektur außer acht gelassen werden. Diese unfruchtbaren Debatten liegen am Beginn der Semiotik als Diszi70 71
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text einen logischen Raum möglicher Rechtsbildung und begrenzt zugleich die Möglichkeit, Recht zu bilden. Er ist in seinen Begriffen und Sätzen nicht Ausdruck von Recht, sondern Zeichen dafür.72 Der Normtext zeichnet nicht schon verbindlich das für eine Entscheidung zu bildende Recht vor und hat es von daher nicht bereits zur Bedeutung. Vielmehr zieht er aufgrund seiner Setzung die Erzeugung von Recht erzwungenermaßen auf sich und ist daher für diese von entscheidender Bedeutung. Daß der Normtext nicht „Bedeutung hat“73, heißt nicht, daß er nicht „von Bedeutung ist“. Diese Differenz, welche von der Strukturierenden Rechtslehre durch die Unterscheidung zwischen Bedeutung und Geltung eines Normtextes kenntlich gemacht wird, darf keinesfalls übersehen werden.74 Sonst kontaminiert man Bedeutsamkeit und Bedeutung zu der einen positiven Zeichenbedeutung und landet bei dem alten Modell der Rechtserkenntnis; und ausgerechnet genau von dieser positiv, oder besser: positivistisch vorausgesetzten Textbedeutung geht eine Position aus, die sich selbst gerne als „nachpositivistisch“ verstehen möchte.75 plin und sind inzwischen überwunden zugunsten einer Analyse der Funktion von Zeichen. Erst auf dieser Ebene werden dann sachliche Unterschiede wichtig. 72 So die Position der Strukturierenden Rechtslehre seit ihrem publizistischen Beginn (1966); F. Müller I, durchgängig in bezug auf die Unterscheidung von Normtext und Rechtsnorm; im engeren Sinn S. 41 (dogmatischer Begriff), S. 43 (Normtext). – Zum Begriff als Zeichen vgl. Bickes S. 214 ff.; zu Propositionen in diesem Zusammenhang S. 230 ff. – Informativ und gedankenreich zur Rechtssemiotik als zu den „semiotische(n) Aspekte(n) der Rechtswissenschaft“: Seibert XI. 73 Zur linguistischen Explikation von „Bedeutung haben“ Lutzeier, S. 12 ff., der allerdings für eine revidiert erweiterte Eigenschaftslesart dessen eintritt. 74 Das tut aber Somek II, S. 58 ff. 75 Der als solcher begrüßenswerte Ansatz einer zweiten nachpositivistischen Rechtstheorie setzt schon am Beginn zu kurz an: Als kritisch fortzusetzende Instanzen erscheinen dort nur der klassische Positivismus und seine Sonntagsredenvariante in Form der rechtsethischen Jurisprudenz. Damit wird ein wesentlicher Bestandteil der Rechtstheorie übersehen. Der Positivismus wurde schon immer von seinem dunklen Zwillingsbruder Dezisionismus begleitet. Der Positivismus war die nach außen gewendete Variante des juristischen Selbstverständnisses, der Dezisionismus die zynisch nach innen gewendete. Das „nach“ in der Bezeichnung Nachpositivismus darf nicht darin bestehen, daß man der Einheit der Rechtswissenschaft eine schönere, festere, sicherere Grundlage verschafft. Das ist nach wie vor innerpositivistisch. – Eine Position nach dem Positivismus ist demgegenüber komplexer. Sie hält zwar am Rationalitätsanspruch des Positivismus fest, bildet sich aber nicht ein, den Dezisionismus in ein umfassendes Konzept von Rationalität und Einheit der Rechtswissenschaft aufheben zu können. Erforderlich ist eine Doppelstrategie: Die Rationalität juristischen Handelns muß befreit werden vom traditionellen Modell der Erkenntnis eines Gegenstandes und in Zukunft auf den Vorgang der Entscheidung bezogen werden. Damit kommt der Positivismus endlich auf die Füße zu stehen. Andererseits muß aber auch der Dezisionismus, der bisher außerhalb des juristischen Sprachspiels als absolute Größe residiert, im Diesseits der Anschlußzwänge des juristischen Sprachspiels begriffen werden. Man verliert damit zwar die reine Erkenntnis und die reine Entscheidung in ihrer schönen abstrakten Entgegensetzung, aber man gewinnt dadurch den Blick auf die wirkliche Praxis. Wenn man Jurisprudenz als Herausforderung durch Positivismus und Dezisionismus in den Blick nimmt, ergibt sich allerdings ein gewisser Nachteil: Die Konsequenzen aus dem Zusam-
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Es gibt nicht die Bedeutung im Sinn einer positiven (substanziell mit- und vorgegebenen) Eigenschaft des Zeichens, auch nicht eines amtlich in Kraft gesetzten (positivierten) Normtexts. Was es gibt, sind Bedeutungen. Diese sind, im Ausgang vom „geltenden“, vom nur bedeutsamen Normtext, zu erarbeiten; und zwischen ihnen ist am Ende des Entscheidungsvorgangs verantwortbar zu wählen. Dem entspricht die bekannte Unterscheidung zwischen Feststellungsdefinition und Festsetzungsdefinition: die erste meint den „empirischen“ Griff zum Wörterbuch (das seinerseits, in aller Regel, eine Mehrzahl von Bedeutungen anbietet und die Bedeutung nicht autoritativ fixieren kann); die zweite betrifft die Wahl der entscheidenden Instanz, welche der vertretbar argumentierten Versionen von Bedeutung den vorliegenden Fall im Ergebnis bestimmen soll. 187
Nur wenn man am Zeichen die Ebene der Bedeutsamkeit übersieht, kann man sich einreden, daß die Unterscheidung von Textformular und Textbedeutung es der Strukturierenden Rechtslehre unmöglich mache, ein Zeichen von Nichtzeichen zu trennen.76 Tatsächlich hat die Strukturierende Rechtslehre mit der Unterscheidung von Geltung und Bedeutung überhaupt erst das vom Positivismus systematisch verleugnete Problem der Semantisierung kenntlich gemacht. Und genau dieses Aufsprengen des Positivismus wäre rückgängig gemacht, wenn man Textformular und Textbedeutung wieder miteinander verschweißt. Dann würden wie im inzwischen abgelebten klassischen Positivismus Geltung und Bedeutung wieder gleichgesetzt und die vorausliegende Dimension der Bedeutsamkeit einmal mehr übersehen.
menbruch des positivistischen Rechtserkenntnismodells sind nicht ganz so dramatisch. Und damit entfallen sprachliche Gesten, deren ausladende Bewegung man doch hatte genießen wollen: Es kann z. B. nicht mehr ganz so pauschal behauptet werden, daß die Wirklichkeit der Jurisprudenz sich als „Widerspiegelung einer gigantischen Simulation erweist“ (Somek / Forgó, S. 27). Und man kann dann leider auch nicht mehr „unter die rechtstheoretischen Bemühungen unseres Jahrhunderts einen Schlußstrich“ ziehen. (ebd., S. 28) Vielmehr muß man mit Detailarbeit rechnen. Denn die Elemente einer nachpositivistischen Rechtstheorie sind zum Teil schon in der Praxis vorhanden, wenn auch in der Reflexion auf zwei Theorien verteilt. Mit dieser Kritik soll natürlich nicht die Berechtigung bestritten werden, die Bezeichnung „nachpositivistisch“ anderweitig zu verwenden. Es gibt zu unser aller Freude kein Privateigentum an der Bedeutung von Ausdrücken. Es soll aber klargelegt werden, daß man – ohne die relative Berechtigung des Dezisionismus aufzunehmen und zu reflektieren – das Wort „nachpositivistisch“ genauso verwendet wie die rechtsethische Jurisprudenz. Und dort heißt „nachpositivistisch“ nur, daß man den Positivismus sprachlich schminkt und ergänzt durch erlesene Weisheiten aus gut gesinnten Büchern. Intensive Würdigung des hier erarbeiteten Konzepts von Nachpositivismus bei Villacorta Mancebo. 76 Der einzelne Rechtsarbeiter muß den Gesetzestext als Zeichen nicht initialisieren. Dies besorgt der Gesetzgeber durch Veröffentlichung im Gesetzblatt und in entsprechenden Sammlungen. Daß der Richter den „einschlägigen“ Normtext findet, wird in seiner Sozialisation als Jurist sichergestellt. Sein trainiertes Vorverständnis liefert ihm zu den Normtexten mitgebrachte Verwendungsweisen und ermöglicht so eine Auswahl. Diese mitgebrachten Verwendungsweisen sind aber für die Auslegung nur Kontexte (etwa im Rahmen von systematischen, genetischen oder dogmatischen Konkretisierungselementen) und dürfen keinesfalls als Bedeutungssubstanz des Textes angesehen werden.
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Das ungewollte Festhalten am positivistischen Modell erklärt auch die weiteren 188 Fehlschlüsse der oben genannten Kritik. Der Strukturierenden Rechtslehre wird vorgeworfen, sie substituiere den im Text des Gesetzes fehlenden Gegenstand der Rechtserkenntnis zunächst durch den Hinweis auf die tatsächliche Argumentationspraxis und dann durch die politischen Entscheidungen der Verfassung. Dies ist immer noch aus der Sicht des überholten Modells der Rechtsfindung als Gegenstandserkenntnis formuliert. Genau dieses Modell war aber schon vor mehr als drei Jahrzehnten der Abstoßungspunkt für die Strukturierende Rechtslehre gewesen. In einer aus dem dogmatischen Material entwickelten schrittweisen Grundsatzkritik des Positivismus hat die Strukturierende Rechtslehre unter Festhalten am Rationalitätsanspruch ihre eigene nachpositivistische Position entfaltet. Es hieße, ihre Argumente einfach nicht zu rezipieren, wenn man ihr dieses Modell wieder unterlegte. Das Problem der Bedeutungsgebung entsteht ja gar nicht aus einem Mangel an 189 Determination, den die Strukturierende Rechtslehre angeblich mit allerlei Substituten zu beheben versuchte. Es folgt umgekehrt aus einem Überfluß an Determination. Denn die Bedeutsamkeit des Normtextes im Gesetzbuch ist, wenn der Richter tätig wird, längst mit Bedeutung überschwemmt.77 Die Parteien, die mit Hilfe des Normtextes ihre Interessen durchsetzen wollen, aber auch bisherige Judikatur und Wissenschaft haben diesen Überfluß an Semantisierungen hervorgebracht und setzen damit den Richter unter Entscheidungsdruck. Durch die Nötigung der Parteien, ihre Interessen in den Normtext einzuschreiben, und durch die Notwendigkeit für den Richter, zwischen den einander ausschließenden Lesarten des Normtextes zu entscheiden, wird überhaupt erst das Problem der Bedeutungsgebung erzeugt. Der geltende Normtext (also der „Wortlaut des Gesetzes“) ist bedeutsam durch die Notwendigkeit zur Verknüpfung, nicht dagegen durch eine notwendige Verknüpfung mit einer bestimmten Bedeutung. Die Geltung liegt nicht in einer vorgegebenen Bedeutung, sondern in der Notwendigkeit der Verknüpfung. Man muß, um seine Interessen rechtmäßig durchzusetzen, genau diese Zeichen des geltenden Normtextes semantisieren. Es ist in der Praxis des Rechtsbetriebs der Streit der Parteien, der das Zeichen 190 Normtext auseinanderlegt in Zeichenkörper und Zeichenverständnis. Damit hört die Bedeutung auf, in der Praxis der Kommunikation blind und „problemlos“ zu funktionieren.78 Es kommt zur Krise. Diese Krise läßt sich nicht durch reflexive Verge77 Zum Überschuß der Bedeutung über das Wort vgl. auch Agamben, S. 35, der allerdings die entsprechenden Ansätze aus dem Strukturalismus, die er kurz anspricht, in bezeichnender Weise wieder umbiegt, wenn er von einer Überschreitung des Signifikanten gegenüber dem Signifikat spricht. Der Überfluß ist dann ein solcher der Signifikanten, wobei als Problem wieder das einzige transzendentale Signifikat nahegelegt wird. – Tatsächlich war die Diskussion im Strukturalismus aber die umgekehrte, es ging um den Überfluß des Signifikats gegenüber dem Signifikanten. 78 Zu den texttheoretischen Implikationen dieser Auffassung vgl. Müller / Christensen / Sokolowski, insbes. Kap. II. Eine Darstellung der Problematik aus der Perspektive der Spätphilosophie Wittgensteins findet sich bei Stegmüller III, insbes. Kapitel 3.
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3 Juristische Methodik – 31 Grundlagen
wisserung der „objektiven Bedeutung“ beheben. Genau wie die Liebe und die Freundschaft ist die Bedeutung, wenn man sich erst einmal darüber auseinandersetzen muß, schon im Verschwinden begriffen. Im Moment der Krise kann der Strich, der im Saussureschen Zeichenmodell das Wort „Baum“ von der Zeichnung des Baumes trennt, nicht mehr übersprungen werden.79 Er ist eine Sperre, die kenntlich macht, daß auch die beste aller möglichen Interpretationen, durchgeführt vom Schutzengel aller heiligen Texte80, nicht etwa das reine Signifikat an die Stelle des Signifikanten stellt, sondern nur eine Signifikantenkette durch eine andere ersetzt.81 Bedeutung von Ausdrücken wohnt nicht als etwas Gegebenes im Reich des Geistes, so daß man widerstreitende Verwendungen dieser Ausdrücke an ihrer Idee messen und korrigieren könnte. Wir haben keine ideale Substanz zur Verfügung, sondern nur verschiedene Verwendungen, die man nebeneinander stehen lassen kann, solange kein Entscheidungsdruck besteht. Wenn aber eine Entscheidung getroffen werden muß, geht es nicht mehr um Interpretation oder um das Einfügen einer interpretierten Regel in deren ideales System.82 Das wäre Schönfärberei und führte zurück in das Gespensterreich platonischer Ideen. Es geht vielmehr um einen semantischen Kampf.83 Von der Vorgabe der Geltung als Bedeutsamkeit des Zeichens aus gelangt man damit folgerichtig zur Beurteilung bestimmter Verknüpfungen im Rahmen einer rechtlich geordneten semantischen Auseinandersetzung. Die von Wissenschaft und Praxis erarbeiteten Argumentationsstandards und die darauf bezogenen Vorgaben der Verfassung kommen dann nicht als äußere Vorgaben praktischer Rechtsarbeit in den Blick, sondern als innere Momente einer rechtlichen Kultivierung der semantischen Kontroversen.84 Vgl. dazu Lacan, S. 19 ff., v. a. 23. Diese gutmütige Variante des Laplaceschen Dämons ist hier vorzuziehen, denn es geht auch noch dem Spätpositivismus um die Wahrung und Verteidigung eines alten, aus der Theologie in die Jurisprudenz eingewanderten Textmodells. Danach sollen auch noch nach dem Ende der Schöpfungsgeschichte sprachliche Bedeutungen in der Lage sein, die Wirklichkeit entweder in Form von Menschenhandlungen oder mindestens Menscheninterpretationen zu determinieren. 81 Die Erfahrung, daß im juristischen Konflikt die Bedeutung nur noch als verblichene Voraussetzung für den Streit der Erben dient, hat die Strukturierende Rechtslehre zunächst immanent aus detaillierter dogmatischer Arbeit gewonnen. Die prinzipielle Befragung dieser Probleme führte in der Folge zur Auseinandersetzung mit Wittgenstein und verband sich auch in Form konkreter Forschungsprojekte mit der Arbeit der Praktischen Semantik. Die Konvergenzen mit Interpretationsstrategien der neueren französischen Texttheorie und mit Ergebnissen der postanalytischen Philosophie zeigten sich dann erst nachträglich. 82 So aber Somek / Forgó, S. 81 ff. 83 Zur Entwicklung dieser Kategorie vgl. Müller / Christensen / Sokolowski, S. 37 ff. – Von der Linguistik her (und „zwischen Grice und Schopenhauer“): Baumann II. – „Semantischer Kampf“ ist der in der Linguistik gebräuchliche Ausdruck für die den Juristen nur allzu vertrauten Auseinandersetzungen um die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke (vulgo „Haarspalterei“, „Rechtsverdreherei“). 84 Das verkennt Somek II, S. 62. – Zu Recht dagegen grundsätzlich zum semantischen Streit (am Beispiel des Zivilprozesses) Goebel, z. B. S. 18 ff., 184 ff. 79 80
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Der semantische Streit ist eine grundlegende Handlungsform, aber nicht die einzige in einem kontroversen Rechtsverfahren. Als semantischer geht er übrigens oft auch in den Vergleichsverhandlungen weiter. Und der Vergleich kommt in dem Bewußtsein zustande, daß im Hintergrund eben doch die staatlich-autoritative Entscheidung möglich bleibt, falls er scheitern sollte.
312.2 Die Jurisprudenz als Normativwissenschaft (Entscheidungswissenschaft) Es sind die besprochenen Grundsachverhalte, die den Wissenschaftscharakter85 191 von Jurisprudenz prägen. Während beispielsweise in der Literaturwissenschaft unter „Hermeneutik“ die Lehre von der Auslegung, von der Textinterpretation verstanden werden kann, genügt diese Konzeption für Rechtstexte nicht86. Die Rechtswissenschaft ist als „Geisteswissenschaft“ (im Gegensatz zu den Naturwissenschaften) nicht zutreffend gekennzeichnet. Sie ist eine angewandte Normativwissenschaft, die es durchweg und in erster Linie mit realen Phänomenen zu tun hat: mit dem Zusammenleben von Menschen in sozialen Gruppen, mit der konkreten Steuerung, Befriedung und Ordnung dieser Gruppen, mit Balance und Interessenausgleich, mit Abwägung und Präferenz, mit Gebot, Verbot, Sanktion, Erlaubnis und Gestaltung zum Zweck der Stabilisierung und Lenkung der sozialen Kräfte und Gruppen. Anders als Texte der Philosophie, der Literatur und sonstiger geisteswissenschaftlicher Bereiche sind die Texte von Rechts- und Entscheidungsnormen (die im Fall formulierten allgemeinen Leitsätze und die konkrete Entscheidungsformel) verbindlich und folgenschwer für alle Adressaten; also auch für Menschen, die sich für diese Normen und ihre Texte durchaus nicht zu interessieren brauchen. Alle Bemühungen der neueren philosophischen Hermeneutik, Verstehen als konkrete Applikation zu fassen, finden an der Eigenart rechtlicher Normativität und an den Bedingungen juristischen „Verstehens“ nicht nur einen für sie exemplarischen Sachverhalt87, sondern auch eine Grenze ihrer Übertragbarkeit. Rechtswissenschaft kann nicht in den „Geisteswissenschaften“, rechtswissenschaftliche Methodik nicht in „geisteswissenschaftlicher Hermeneutik“ aufgehen. Eine Rechtsnorm ist in ihrer Verbindlichkeit von Verstehen, Zustimmung oder Einsicht auf Seiten der unmittelbaren Adressaten nicht abhängig. Sie bestimmt sich in ihrer Normativität durch die Möglichkeit, fak85 Vgl. zur Diskussion um den Wissenschaftscharakter der Jurisprudenz: Röhl III, S. 59 ff. Vgl. dazu grundsätzlich Engel sowie Jestaedt I, S. 27 ff.; ders. II, S. 267 ff. 86 Vgl. dazu Schroth IV, S. 129 ff. 87 Hierzu Gadamer, z. B. S. 307, 312 f., 315. Vergleichbar auch Frosini, S. 18, der aber zugleich auf den spezifisch „dialektische(n) und demiurgische(n) Charakter, der der Auslegung des Rechts zuerkannt wird“, verweist. – Statt von „Normativwissenschaft“ ist besser von „Entscheidungswissenschaft“ zu sprechen; dazu Müller X, S. 22. – Zur Rolle der Gesetzgebung für die Rechtsentscheidung vor dem Hintergrund der Nicht-Eindeutigkeit der natürlichen Sprache sehr instruktiv: Laudenklos III, S. 155 ff. – Grundlegend zur „juristische(n) Methodik als Instrument zur Entscheidung von Bedeutungskonflikten“: Christensen / Kudlich, S. 359 ff. u. ö.
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tisch durchgesetzt zu werden88. Dieses Element rechtlicher Normativität im Verfassungsstaat bezieht sich auf die Rechtsnorm, nicht schon auf die Formulierung der Vorschrift im Gesetzblatt. Aus dem Normtext als solchem kann nicht zuverlässig hervorgehen, daß es sich um einen Text „geltenden Rechts“ handelt: also um einen Text, der offiziell publizierter sprachlicher Ausdruck eines rechtlich-gesellschaftlichen Regelungskomplexes ist, dem – nach jeweiliger Durchführung eines Konkretisierungsvorgangs – in Gestalt der Rechts- und Entscheidungsnorm Normativität im genannten Sinn beigelegt wird; der also praktisch nicht nur durch seine motivierende Kraft der Beachtung und Befolgung kraft freiwilliger Anerkennung, sondern auch im Konfliktsfall in der Form einer sich auf ihn berufenden Entscheidung durch staatlich garantierte einseitige Durchsetzung als verbindlich behandelt wird. 192
Die Rechtswissenschaft ist nicht nur in dem Maß eine Entscheidungswissenschaft89, in dem Rechtsfälle zu entscheiden sind, in dem also am Ende einer Normkonkretisierung ein juristisch verbindliches Ergebnis zu stehen hat. Der Entscheidungscharakter prägt alle Stadien der praktischen Arbeit, jeden Teilabschnitt des Konkretisierens. Man unterschätzt mit Carl Schmitt das Problem, wenn man davon ausgeht, daß allein die Ausnahme nicht subsumierbar sei. Tatsächlich ist auch das Regelhafte nie vollständig subsumierbar. Eine Rechtsphilosophie, die am Subsumtionsdenken festhält und nur über die Ausnahme nachdenkt, bleibt hinter der Komplexität der juristischen Probleme zurück.90 Neben der Dogmatik hat vor allem eine theoretisch abgestützte Rechtsmethodik die Aufgabe, den Raster generalisierbarer Arbeitselemente so dicht auszuarbeiten, daß alle Teil-Entscheidungen, durch die eine Konkretisierung vorangeht, argumentierte und konsistente sein können. Wo 88 Gerechtigkeit ist nicht dasselbe wie das Recht mit seiner argumentierenden Methode: „Salomon n’était pas un juriste“, Moor I, S. 40 f. – Der geisteswissenschaftliche Ansatz neigt dazu, die Machtverhältnisse und Machtkämpfe im Rechtssystem und nicht zuletzt im Gerichtssaal hinter dem „Verstehen“ und der Nebelwand allgemeiner Gerechtigkeitsgrundsätze verschwinden zu lassen. Das hat sich erst geändert, seit sich Sprachwissenschaftler um eine Analyse juristischer Kommunikation bemühen. Die vielfältigen neueren Forschungsansätze erschließen sich über die Bibliographie von Levy. Mit starkem Gewicht auf der deutschsprachigen Forschung vgl. neben der älteren Bibliographie von Reitemeier die jetzt im Erscheinen begriffene Bibliographie von Nussbaumer I. Gerade die empirischen Analysen zeigen, wie wenig die Vorgänge in einem Gerichtssaal mit geisteswissenschaftlichem Verstehen zu tun haben. Für die angelsächsische Diskussion war dies leichter zu erkennen, weil die Vorstellung vom Prozeß als Kampf dort schon immer eine erkenntnisleitende Metapher war. Vgl. dazu Nussbaumer II, S. 156. Zur praktischen sprachlichen Dynamik eines solchen Vorgangs und zu ihrer Verknüpfung mit der Sprachdynamik der allgemeinen Populärkultur vgl. Sherwin. Die traditionell beschränkte geisteswissenschaftliche Perspektive bei der Analyse juristischer Kommunikation erklärt sich mindestens zum Teil aus der Struktur des kontinentaleuropäischen Prozesses, wonach der Richter die Untersuchung führt. Im angelsächsischen Rechtskreis ist dieses „inquisitorial system“ ersetzt durch das „adversial system“, welches Verlauf und Strategie semantischer Kämpfe in der juristischen Kommunikation sehr viel deutlicher erkennen läßt. Vgl. dazu Denet / Bogoch sowie Jackson. 89 So auch Jestaedt II, S. 259 f. 90 Vgl. dazu Agamben, S. 25 ff. zum Begriff der Ausnahme. – Allgemein zu „Subsumtion und Interpretation“: Bung.
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immer so vorgegangen wurde und wird, zeigt sich am praktischen Fall, wie willkürlich und voreilig der Dezisionismus normleer und sachleer vorpreschen möchte: Dezision aus existentieller Setzung, aus einem außerrechtlichen „Willen“, aus den Konstellationen von „Freund und Feind“. „Dezision“ ist nicht „Entscheidung“. Diese, der Ausspruch der Entscheidungsnorm, setzt methodisch Schritt für Schritt vorgehende partielle Entscheidungen auf jeder Stufe der juristischen Semantisierung voraus: Auswahl der Normtexte, formulierendes Heranziehen der Fakten des Sachbereichs bzw. Fallbereichs, Formulierung von Normprogramm und Normbereich, der allgemeinen Rechtsnorm und – verbindlich abschließend – der Entscheidungsnorm (des „Spruchs“ der älteren Rechtssprache). Jede Einzelheit ist Handeln, nichts tut sich von selbst („die Norm entscheidet“ eben nicht), nichts zwingt sich auf („Klarheit“, „Evidenz“, „Eindeutigkeit“ sind im Rahmen natürlicher [Fach-] Sprachen nur Konstrukte). Alles muß der praktische Jurist argumentierend entscheiden. Subsumierend „anwenden“ kann man einen Normtext durch tatsächliches Verhalten, durch Realakt. Angenommen, das Stoppschild im Straßenverkehr sei einem Normtext gleichzusetzen – wenn ich anhalte, habe ich ihn damit „angewandt“. Alles andere ist schon „konkretisieren“ (und sei es in der Laiensphäre): insofern der Normtext je nach Situation zweifelhaft sein kann, er mehr als eine Interpretation ermöglicht oder wenn er bereits umstritten ist. Schon muß argumentiert werden. Aber warum nicht einfach mit der Tradition sagen: Ich konkretisere ihn nicht, ich wende ihn doch an, indem ich ihn subsumierend „interpretiere“? Weil ich „ihn“ gar nicht interpretieren kann. Er ist, wie er ist. Und so, wie er ist, ist er zweifelhaft oder umstritten. Behaupte ich, ihn „nur zu interpretieren“, so ersetze ich ihn bereits durch einen anderen Text, nämlich durch meinen. Und ich nehme dabei in Anspruch, meinen Text dem ursprünglichen (dem Text der Vorschrift) zu Recht zuzuschreiben; das heißt, ihn zu Recht auszutauschen. Der Dezisionismus hat recht gegen den Positivismus91; aber nicht gegen das Recht. Da ist keine Norm als Obersatz, deren man sich logisch bedienen könnte. Aber da ist auch nicht nichts. Das erste sieht der Dezisionismus richtig, das zweite kann er noch nicht verstehen. Denn er teilt zu Unrecht den Ausgangspunkt des Positivismus, dessen Folgerungen er zu Recht bekämpft. Anders gesagt: Es muß entschieden werden und es wird entschieden. Doch ist Normativität keine Eigenschaft, die schon gegeben wäre. Bei näherem Zusehen auf die Realität des Entscheidens erscheint sie als ein Vorgang; ein Vorgang, der nicht von selbst vor sich geht, sondern der durch Arbeit geschaffen wird. Nicht kommt die Entscheidung „normativ aus einem Nichts“, wie Carl Schmitt meinte. Sondern die Norm kommt, wenn man die Entscheidung realistisch analysiert, aus dieser Arbeit.
91 Hans Kelsens Versuch, die Jurisprudenz als Wissenschaft zu etablieren, hat gerade die Entscheidungskomponente ausgeblendet. Vgl. dazu Saito, S. 87 ff. – Eine dekonstruktiv überzeugende Kritik des Dezisionismus von der Systemtheorie her bei: Fischer-Lescano / Christensen.
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Der Dezisionismus hat also ein größeres Anwendungsfeld, als sein Schöpfer meinte; aber er ist zugleich weit stärker gebunden, als Schmitt wollte: Entscheidung statt Dezision. Und warum überhaupt Entscheidung? Recht braucht zwei Operationen im Reich der Zeichen (im empire des signes): Es muß geschrieben werden, um gelten, und es muß gesprochen werden, um wirken zu können. Zwischen Beidem besteht nach dem unrealistischen Credo des alten Positivismus eine Beziehung formaler Logik; und für deren (etwas realistischer gesehen) unlogischen „Rest“bestand nach Kelsen eine rechtspolitische, nach dem Dezisionismus eine existentiell-volitive. Im demokratischen Rechtsstaat hat diese Beziehung, um legal und damit legitimierbar zu sein, durchweg nachvollziehbar, konsistent und gleichheitlich zu argumentieren. Formalisierbar logisch ist sie zwischen Normtext und Rechtsnorm nicht; wohl aber zwischen Rechtsnorm und Entscheidungsnorm – aber in diesem Endstadium der Konkretisierung war das verallgemeinerbar Normative (die Rechtsnorm) bereits zuvor un„logisch“ im konkreten Entscheidungsfall erarbeitet worden. Es muß entschieden werden, aber in Sprache. Der moderne Verfassungsstaat verschriftlicht seine Gewalt, damit diese sich legitimieren kann. Die Entscheidung ist so selber wieder Text unter Texten, möge sie auch als „rechtskräftig“ ausgezeichnet sein. Zwischen Zeichenketten (hier: Tenor und Gründe des Urteils) kann mit sprachlichen Mitteln keine Hierarchie errichtet werden: auch das rechtskräftige Urteil ist kommentierbar und kritisierbar – es kann über den parallelen Strom des informellen doppelten Diskurses, in der Sprach- und Rechtsgemeinschaft doch wieder in Frage gestellt werden (dazu unten 59). Die Blindheit des Dezisionismus angesichts der tatsächlichen Vorläufigkeit rechtlichen Entscheidens mag tief sitzende persönliche Wurzeln in seinem Autor gehabt haben: Für den nicht nur katholischen, sondern (im Rahmen des Katholizismus selbst gesprochen) papistischen Carl Schmitt durfte die Rechtsentscheidung als ein Aufschub nicht denkbar werden. Der Vater (Papa) spricht das alle Argumente und alle anderen Positionen abschneidende Machtwort – Roma locuta, causa finita. Nur ist das nicht die Situation im verfaßten demokratischen Rechtsstaat.
312.21 Beispiel: Gewohnheitsrecht 193
Die Nichtidentität von Norm und Normtext, das Nichtenthaltensein von hinreichender Normativität in einem amtlich fixierten und publizierten Wortlaut erhellt auch aus der Erscheinung des Gewohnheitsrechts. Dessen Rechtsqualität wird nicht angezweifelt, obwohl es keinen autoritativ definierten Text aufweist. Auch gewohnheitsrechtliche Normen sind sprachgebunden; auch sie sind (mündlich oder schriftlich) formuliert: in Rechtsbüchern, in Lehrbüchern, in gerichtlichen Entscheidungen und so fort. Es handelt sich dabei aber um wechselnde Formulierungen ohne einheitlich autoritative Festlegung. Die sprachliche Fixiertheit des Rechts, seine „Positivität“ der schriftlichen Form, zustandegekommen, ausgefertigt und publiziert nach
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einem von anderen Normen angeordneten Verfahren, ist mit seiner Normqualität eben nicht identisch. Sie steht vielmehr in Zusammenhang mit rechtsstaatlichen und demokratischen Geboten des bürgerlichen Verfassungsstaats der Moderne. Auch wo positives Recht der schriftlich fixierten Art vorherrscht, gibt es praeter legem (Verfassungs-)Gewohnheitsrecht von voller Normqualität92. Darüber hinaus ist selbst innerhalb des geschriebenen Rechts die sich in praktischen Entscheidungen äußernde Normativität sprachlich nicht etwa allein aus dem Normtext „abgeleitet“. Die Entscheidung wird mit Hilfe von Gesetzesmaterialien, von Lehrbüchern, Kommentaren und monographischen Untersuchungen, von Präjudizien und rechtsvergleichendem Material erarbeitet, also mit zahlreichen mit dem Normtext nicht identischen und über diesen hinausgehenden Sprachformeln. Auch schon diese Unmöglichkeit, Rechtsfälle allein und abschließend aus dem für den Fall einschlägigen Normtext zu entscheiden, erweist, daß der Normtext etwas anderes ist als die Rechtsnorm.
312.3 Rechtswissenschaftliche Grundsatzkritik als Kritik der Rechtsform: Ansätze marxistischer Rechtstheorie Verfassungsstaat und Rechtsordnungen der europäischen Neuzeit sind durch 194 kennzeichnende Formalität bestimmt. Zentralisierung, Monopolisierung, Bürokratisierung von Rechtsetzung, Rechtsausführung und Rechtsprechung gehören zu den wesentlichen Elementen des (kontinentalen) Anstaltsstaats, die vor allem Max Weber idealtypisierend herausgearbeitet hat. Die Kodifikationsidee geht von der Normierbarkeit allen relevanten menschlichen Sozialverhaltens, die Formung der abstrakten und generellen Normtexte von der grundsätzlichen Vorwegnehmbarkeit von Zukunft durch Rechtsregeln aus. Charakteristisch gesteigert und systematisiert erscheinen diese Formprinzipien im Rechtsstaatsgedanken. Dieser ist im Bonner Grundgesetz stark ausgeprägt; er bildet die Grundlage auch für eine den Gesetzespositivismus hinter sich lassende Methodik von Rechtspraxis und Rechtswissenschaft. Der bürgerliche Charakter dieses Grundmodells ist im Sinn des beschreibend analysierenden sozialgeschichtlichen Befunds nicht zu bezweifeln. Marxistische Rechtstheorie, die den bürgerlichen Zustand des herrschenden 195 Rechtstypus kritisch hervorhebt, schlägt zwei verschiedene Wege ein. Die von der Warenanalyse in Marx’ „Kapital“ ausgehende Richtung kritisiert radikal nicht nur die Inhalte, sondern zugleich auch die Form bürgerlichen Rechts. Sie behauptet deren Entbehrlichkeit und damit die Entbehrlichkeit von Staatsverfassung und Rechtsordnung überhaupt in der Perspektive der Zukunftsgesellschaft. Sie wird in dem Maß zur schlechten Utopie, in dem sie den Kontakt zur und die Kontaktfähigkeit gegenüber der geschichtlichen Wirklichkeit verliert.
92
Allgemein Huber I; Hesse II, S. 14.
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Die zweite Richtung geht von Marx’ realistischen Retuschen der Rolle von Recht und Staat für die Periode der Übergangsgesellschaften (vor allem in der „Kritik des Gothaer Programms“ von 1875) aus. Sie beschränkt sich in leninistischer Umwertung der Übergangsprobleme auf eine Inhaltskritik der bürgerlichen Rechtsordnung. Die Formalität des abstrakt-generellen Gesetzestexts, Zentralisierung, Bürokratisierung und Monopolisierung der Rechtsordnung werden von ihr zur politisch-ideologischen Steuerung des gesellschaftlichen Lebens bewußt eingesetzt. Diese Richtung wird in dem Maß zur schlechten Praxis, in dem sie die Merkmale der bürgerlichen Rechtsordnungen auch inhaltlich und mit dem Grade nach verschärfter Repression wiederholt. Diese beide Grundströmungen marxistischer Rechtstheorie sind im Ansatz mit den Namen E. Pašukanis und P. I. Stučka bezeichnet.
312.31 Der Ansatz von E. Pašukanis 197
Im „Kapital“ analysiert Marx das Produkt menschlicher Arbeit unter kapitalistischen Produktionsverhältnissen in seiner fetischistischen Verzerrung, in seiner Entfremdung zur „Ware“. In der Ware wird dem Produzenten sein Produkt fremd. Es wird ihm vom Eigentümer der Produktionsmittel weggenommen. Es saugt im „Wert“ als einer verdinglichten Eigenschaft die auf die Produktion verwendete menschliche Arbeit auf. Die Differenz von Gebrauchswert und Tauschwert und jene von Wert und Preis objektiviert den entfremdenden Abstand, den die Geld- und Preismechanik des kapitalistischen Marktes zwischen den Hervorbringer des unmittelbaren Produkts und die entfremdete Ware legt.
198
Marxens daran anschließende Skizze einer materialistischen Kritik der Rechtsform am Anfang des zweiten Kapitels des „Kapital“ fand lange keine Nachfolge. Marxistische Rechtstheorie hob stets nur darauf ab, alles Recht sei seinem Inhalt nach durch die zugrundeliegenden ökonomischen Verhältnisse bestimmt. Erst bei Lukács wird in dem Essay „Die Verdinglichung und das Bewußtsein des Proletariats“ ein zusätzlicher Aspekt der bürgerlichen Rechtsordnung in Richtung der Fetischismusanalyse der Ware hervorgehoben. Lukács bestimmt das Sein der modernen bürgerlichen Welt als total verdinglicht. Alle menschlichen Beziehungen sind nicht länger Vollzug: sie sind zu Dingen erstarrt. Bei Lukács liegt der Akzent jedoch nicht auf den Kategorien der Marxschen Politökonomie. Unter dem Einfluß Max Webers setzt er Verdinglichung gleich mit rationalistischer „Entzauberung der Welt“. Die Formalisierung des neuzeitlichen Rechts entspringt der Denkform des gesellschaftlich dominant gewordenen wirtschaftenden Bürgertums. Das Modell des kapitalistisch organisierten industriellen Betriebs wird repräsentativ für die Interaktionsmodelle aller anderen Bereiche zwischen Mensch und Mensch, zwischen Mensch und Natur. Die Rechtsordnung wird zum Rechtsbetrieb. Der abstrakt-generelle Normtext soll unabschließbare Zukunft einfangen. Das Naturrecht steigt vom Sockel eines übergesetzlichen Korrektivs der geltenden Gesetze. Es wird zum wirksamsten Motor der rationalistischen Vergesetzlichung des Rechts, indem es den Obrigkeitsstaat
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legitimiert und ihm die Rechtfertigung für planend kalkulierende Sozialgestaltung mit den Mitteln abstrakt-genereller Normierung vorgibt. Hier setzt – nicht genetisch, sondern der Sache nach – Pašukanis’ Arbeit „All- 199 gemeine Rechtslehre und Marxismus“ (1929)93 an. Ihm geht es darum, im Anschluß an Marx zu zeigen, daß die bürgerliche Rechtsform als solche die aufzuhebende und aufhebbare fetischistisch verzerrte Erscheinung der die Basis beherrschenden Klassenspaltung sei. Gegen Renners Thesen vom „Funktionswandel“ und „Normwandel“ im Privatrecht setzt er die Bestimmung, daß sich in der historischen Entwicklung des Kapitalismus zwar die Normen ändern, die soziale Funktion des Eigentums dagegen unverändert bleibt. Das europäisch neuzeitliche Recht gehört hiernach, wie die Warenform auch, ausschließlich der Epoche der kapitalistischen Warenproduktion an. Der bürgerliche Rechtsstaat entstand durch Ausdehnung des Rechts des Warenaustauschs auf alle gesellschaftlichen Bereiche. Für die kommunistische Zukunftsgesellschaft postuliert Pasukanis folgerichtig die uneingeschränkte Geltung der sogenannten Absterbetheorie. Pašukanis’ Rechtslehre ist für pragmatische Umdeutungen im Rahmen der Probleme der Übergangsgesellschaften kaum flexibel. Jede Feststellung, das bürgerliche Recht sei in einem bestimmten Staat noch nicht fortgefallen, führt auf dieser Grundlage zu dem Schluß, auch die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft bestehe noch fort. Seine Position wurde von der seit Stalin herrschenden gesetzespositivistischen Richtung aus dem Feld geschlagen94.
312.32 Die Beständigkeit bürgerlicher Rechtsund Verfassungsformen Die geschichtliche Beständigkeit der spezifischen Formalität des europäischen 200 Rechts der Neuzeit verschafft sich in den Revisionen marxistischer Rechts- und Staatslehre Geltung, die sich auf die Probleme der Übergangsgesellschaften konzentrieren. Die Rolle von Staat und Rechtsordnung tritt in ihnen immer stärker hervor. Als Stichwort sei die Distanz der Frühschriften und des Kommunistischen Manifests zur Kritik des Gothaer Programms genannt. Besonders deutlich werden die „Übergangs“fragen in der leninistischen Rechtslehre P. I. Stučkas. Stučka kritisiert im Gegensatz zu Marx und Pašukanis nicht die Rechtsform. Er rettet sie vielmehr über den Kriegskommunismus hinüber und sieht sich seit Lenins Wendung zur Neuen Ökonomischen Politik 1921 darin bestätigt, die Qualitäten des bürgerlichrechtsstaatlichen Rechts (bürokratisches Monopol, abstrakt-generelle Vorschriften, Tatbestandsbestimmtheit, funktionelle Rationalität, Durchsetzbarkeit in fixierten Verfahren und so fort) nunmehr als bewußtes Steuerungsmittel für den revolutionär zustande gekommenen Staat zu verwenden. Als revolutionäres Gesetz spielt das formal bürgerliche Gesetz eine progressive Rolle. Die neue Eigentumsverfassung wird 93 94
Zu Pašukanis jetzt auch Buckel I, S. 94 ff. Dokumentation hierzu bei Reich I, S. 36 f. u. ö.
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verrechtlicht, im sowjetrussischen Zivilgesetzbuch von 1922 sogar kodifiziert. Die neu geschaffenen Verhältnisse werden mit den Mitteln der sich nach wie vor als unentbehrlich erweisenden Rechtsordnung zielbewußt gestützt. Damit übt das Recht dieselbe Funktion aus, die es in den bürgerlichen Gesellschaften insgesamt hatte und hat: den herrschenden Gruppen als Instrument der Sozialsteuerung zu dienen. Dem entspricht es, daß nach Stučkas „Zweisektorenlehre“ in der kommunistischen Zukunftsgesellschaft nur das herkömmliche Zivilrecht absterben wird. Das „Wirtschaftsverwaltungsrecht“ des voll sozialisierten Plansystems bleibt Recht im technischen Sinn. Auch Stučkas elastische, ebensogut mit den Kategorien bürgerlicher Rechtssoziologie nachvollziehbare Position wurde ein Opfer der Stalinisierung und der Restauration gesetzespositivistischer Rigidität. Ein positivistisches Verständnis des Rechts als Mittel zur Verwirklichung einer von den Subjekten unabhängigen weltanschaulichen Wahrheit prägte den Ansatz der marxistisch-leninistischen Rechtstheorie. Zusammengezogen wie zu einem Zellkern erscheint der Objektivismus in der Rechtsdefinition.95 Danach ist das Recht „die Gesamtheit der Verhaltensregeln, die den Willen der herrschenden Klasse ausdrücken und auf gesetzgeberischem Wege festgelegt sind, sowie der Gebräuche und Regeln des Gemeinschaftslebens, die von der Staatsgewalt sanktioniert sind. Die Anwendung dieser Regeln wird durch die Zwangsgewalt des Staates gewährleistet zwecks Sicherung, Festigung und Entwicklung der gesellschaftlichen Verhältnisse und Zustände, die der herrschenden Klasse genehm und vorteilhaft sind.“96 Diese Auffassung des Generalstaatsanwalts der Moskauer Prozesse war, bis auf einige den sachlichen Kern nicht berührende Streitfragen,97 bis zum Zusammenbruch dieses Systems gültig.98 Entsprechend der Abbildtheorie ist die Erkenntnis der dem Recht vorgegebenen objektiven Entwicklungsmaßstäbe nur der Partei möglich, woraus sich ihr Führungsmonopol ergibt. Wenn aber die Richtungsbestimmung des Emanzipationsprozesses dem politischen Willen der Subjekte entzogen wird, dann hat die Demokratie keine Substanz mehr, sondern kann konsequenterweise nur als Akklamation zu feststehenden Entscheidungen aufgefaßt werden. Das Recht wird dann ein staatliches Leitungsinstrument zur Lösung der Aufgabe, die sozialistischen Produktionsverhältnisse zu schaffen. Die Rechtswissenschaft insgesamt wird damit zu einer „sozialtechnischen Leitungswissenschaft“99 und das Recht selbst als Teil im Wirkungsmechanismus objektiver Gesetze verstanden.100 95 Vgl. zum Zusammenhang von Wesen und Definition des Rechts in der marxistisch-leninistischen Rechtstheorie: Kerimow I, S. 142 ff. 96 Vgl. Wyschinskyi, S. 50 ff., 76. 97 So wirft etwa Szabo, S. 62 f. auch in der marxistisch-leninistischen Rechtstheorie den Gegensatz von Willens- und Interessentheorie für die Rechtsentstehung auf. Solche und ähnliche Fragen ändern nichts an dem einseitig objektiv-rechtlichen Charakter der marxistischleninistischen Rechtsdefinition. 98 Eine Zusammenstellung der wichtigsten Ausprägungen der marxistisch-leninistischen Rechtsdefinitionen findet sich bei Rodingen IV, S. 209 ff., 212 ff.
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Natürlich hatte sich schon lange vor dem Zusammenbruch des marxistischleninistischen Systems im westlichen Marxismus eine scharfe Kritik an dieser Rechtstheorie entwickelt. Dabei wird immer wieder darauf hingewiesen, daß der vom Marxismus-Leninismus vorausgesetzte homogene Gesamtwille des Volkes tatsächlich erst noch zu bilden wäre. Der Anspruch des sozialistischen Rechts, Willensausdruck des gesamten Volkes zu sein, ist aus dieser Sicht bloße Rechtfertigungslehre für die einseitige Bestimmung des Rechts als staatliches Leitungsinstrument und führt in der Konsequenz dazu, daß das Recht die Rolle des subjektiven Faktors usurpiert und diesen zum bloßen Rechtobjekt macht. Aber gibt es auch eine Ordnung aus Freiheit? Läßt sich die Ordnung der sozialen Emanzipation auf befreiende Weise von unten denken? Diesen Fragen ist vor allem Ernst Bloch in seinem Naturrechtsbuch nachgegangen, wenn er dessen subjektive Seite wieder aufnimmt. Er versucht, mit der Garantie subjektiver Rechte die soziale Ordnung aus der demokratisch konstituierten Selbstbeschränkung politisch mündiger Individuen hervorgehen zu lassen. Er muß sich dann aber mit dem Problem auseinandersetzen, ob sich das subjektive Formprinzip der naturrechtlichen Freiheitsgarantie mit dem materialistischen Anspruch verträgt, den praktischen Emanzipationsbestrebungen eine wissenschaftliche Grundlage zu schaffen. Denn die naturrechtlichen Freiheitsgarantien zielen tatsächlich auf eine subjektiv konstituierte gesellschaftliche Synthese. Nicht die staatliche Steuerung mittels des Rechts steht hier im Vordergrund, sondern der herrschaftskritische Gedanke, daß Recht die staatliche Macht einschränken und den Individuen eine Sphäre individueller Mitgestaltung der politischen Zukunft garantieren kann. Geschützt von dem im Naturrecht entwickelten Rechtsstaatsgedanken, soll dem menschlichen Willen ein originäres Mitbestimmungsrecht über Form und Ziel der gesellschaftlichen Synthese gesichert werden. Allerdings bleibt bei Bloch, wie generell im westlichen Marxismus, eine Ambivalenz in der Kritik enthalten: die Frage nämlich, ob die Vorstellung eines homogenen gesellschaftlichen Gesamtwillens aufgegeben werden muß oder nur zeitlich aufgeschoben wird. Im letzten Fall wäre der Pluralismus, wie in der liberalen Theorie, nur Mittel für die Herausbildung des besten Preises bzw. der schönsten Emanzipation. Der Pluralismus wäre aber kein Eigenwert. Dies läßt sich auch als Verhältnis von Demokratie und Grundrechten formulieren.101 99 Vgl. dazu kritisch Perels, S. 338 ff., 248. Zum sozialistischen Recht als Mittel staatlicher Leitung aus marxistisch-leninistischer Sicht vgl. Kerimow II, S. 183 ff., Heuer, S. 133 ff.; vgl. als kurze Darstellung der praktischen Seite einer Leitung mittels des Rechts an einem konkreten Beispiel: Müller / Zimmer, S. 10 ff. 100 Vgl. dazu Wagner, S. 12 ff.; zu verschiedenen dabei noch offenen Fragen: Mollnau II, S. 1249 ff., insbesondere 1253 ff. 101 Vgl. dazu Habermas IV, S. 117 ff. – Zum Nachwirken der historischen Teleologie als Vorgabe für den Pluralismus vgl. Brandt, S. 64 ff. – Der heutige Stand marxistischer Rechtstheorie ist durch ein klares Votum für Demokratie als Selbstzweck gekennzeichnet. Vgl. dazu Buckel I, S. 316 ff. – Grundsätzlich auch F. Müller XLI, Kap. „Elemente zur Er-
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Der Neuansatz in der marxistischen Theoriebildung beseitigt diese Ambivalenz: „In der Krise ist gegenwärtig die gesamte Konzeption des Sozialismus, die auf der ideologischen Zentralität der Arbeiterklasse, auf der Rolle der Revolution als dem begründenden Moment im Übergang von einem Gesellschaftstyp zu einem anderen sowie auf der illusorischen Erwartung eines vollkommen einheitlichen und gleichartigen kollektiven Willens, der das Moment der Politik sinnlos macht, basiert. Der plurale und mannigfaltige Charakter der zeitgenössischen sozialen Kämpfe hat endgültig die letzte Grundlage für dieses politische Imaginäre aufgelöst. Ausgestattet mit ‚universalen‘ Subjekten und begrifflich um Geschichte im Singular errichtet, hat es ‚Gesellschaft‘ als eine intelligible Struktur behauptet, die auf der Basis bestimmter Klassenpositionen intellektuell beherrscht und durch einen stiftenden Akt politischer Natur als eine rationale und transparente Ordnung wiederhergestellt werden könnte. Heute ist die Linke Zeuge des letzten Aktes der Auflösung dieses jakobinischen Imaginären.“102 Es wird damit das politische Projekt der Aufklärung von deren erkenntnistheoretischem Projekt abgetrennt. Denn im universellen Rationalismus ist die Nichtanerkennung des Einzelnen mit entsprechenden Ausschließungsmechanismen abgesichert. Nach dieser Trennung wird es unmöglich, Gesellschaft von einer einzigen universalen Logik her zu denken; und die „Undurchsichtigkeit“ oder „Nichtrepräsentierbarkeit“103 wird zur Bedingung sowohl der Möglichkeit wirklicher Demokratie als auch zur Bedingung der Unmöglichkeit ihrer vollen und endgültigen Verwirklichung. Die Demokratie bleibt als diskursive Konstitution der Gesellschaft notwendig im Kommen.104 Gleichzeitig gewinnt das Politische eine über den Staat weit hinausreichende grundlegende Bedeutung. Es erscheint nicht mehr, wie in den soziologischen Theorien von Luhmann oder Habermas, als Teilsystem der Gesellschaft, sondern als zentrale Möglichkeitsbedingung des Sozialen. Gesellschaft wird nicht mehr länger als objektiv vorgegebene Totalität gefaßt, sondern als das komplexe und instabile Resultat vielfältiger politischer Artikulationen. Hier ist allerdings eine Präzisierung nötig. Nach Luhmann105 wäre ein Primat der Politik destruktiv für moderne Gesellschaften. Bei Laclau bedeutet Primat aber gerade nicht Zentrum,106 sondern er bezeichnet die antagonistische Situation der Unentscheidbarkeit. Diese Unentscheidbarkeit als Bedingung der Möglichkeit des Politischen ist aber auch gleichzeitig die Bedingung der Unmöglichkeit seiner Einsetzung als Zentrum.107 Umgekehrt läßt sich Politik in diesem Sinn nicht auf eine „Politik der Gesellschaft“ reduzieren, wie es in der Logik Luhmanns liegt. Denn die neuerung eines materialistischen Rechtsdenkens: Verfassung, Gesellschaft, Demokratie“; ebd., S. 244 ff. 102 Laclau / Mouffe, S. 32. 103 Ebd., S. 32. 104 Ebd., S. 27. 105 Vgl. dazu Derrida IX, S. 184. Zu den Differenzen in der Position zwischen Laclau und Derrida vgl. Laclau, S. 138 ff. 106 Vgl. Luhmann XIII, S. 13 ff., 23. 107 Vgl. Laclau, S. 113.
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Momente von Entscheidung und Unentscheidbarkeit sind nicht auf die Politik als ein soziales System unter vielen zu beschränken. Vielmehr kommen Phänomene von Macht und Entscheidung in allen sozialen Systemen vor.108 Deswegen muß Politik als ein parasitäres Konzept gefaßt werden, das gerade nicht an ein bestimmtes Funktionssystem gebunden ist, sondern immer dann auftritt, wenn die systemische Schließung zusammenbricht. Gerade diese Schließungsbewegungen werden verschoben oder disloziert und öffnen das System damit für Re-Artikulationen.109 Wenn man aber die Gesellschaft als Prozeß diskursiver Konstituierung faßt, wird deutlich, daß wir nicht einfach in der kruden Realität leben, sondern in einer durch Medien verbundenen Enzyklopädie, um deren Stichworte und Verknüpfungen beständig gerungen wird. An dieser Stelle erscheint bei Laclau / Mouffe der Begriff der „Überdeterminierung“,110 welcher die Pluralität und den umkämpften Charakter des Symbolischen als soziales Band in den Blick bringt. Im Rahmen des semantischen Kampfes um die Hervorbringung der Gesellschaft wird auch die nicht pejorative Bedeutung von Macht sichtbar. In der Konzeption von Marx war die freie Gesellschaft gedacht als Aufhören von Macht und Verschwinden von Staat und Recht. Aber wie Laclau zu Recht bemerkt, sind totale Rationalität und Wahlfreiheit nicht miteinander vereinbar: „Das konfrontiert uns mit folgendem Paradox: das, was die Freiheit beschränkt – das heißt die Macht –, ist auch das, was die Freiheit möglich macht. (…) Ich entscheide auf einem Terrain des Unentscheidbaren, ich übe eine Macht aus, die aber gerade die Bedingung meiner Freiheit ist. Diese Macht setzt – wie jede Macht – die Unterdrückung von Möglichkeiten voraus, die nicht aktualisiert werden. Diese Repression ist gleichzeitig die Ausübung meiner Macht wie die Ausübung meiner Freiheit. Das heißt, daß eine völlig freie Gesellschaft – in der jede Macht abgeschafft wäre – und eine gänzlich unfreie, dieselben Konzepte darstellen. (…) Die Beziehung zwischen Macht und Freiheit ist eine der permanenten Neuaushandlung und Verschiebung ihrer wechselseitigen Grenzen, während die beiden Seiten der Gegenüberstellung immer bestehen bleiben. Auch die demokratischsten Gesellschaften sind der Ausdruck von Machtbeziehungen, keine totale oder schrittweise Eliminierung von Macht.“111 Den Machtverhältnissen der Politik kommt damit die Aufgabe zu, den offenen Prozeß des Sozialen vorläufig zu schließen. Gleichzeitig kann diese Schließung, in der ein Partikulares die unmögliche Aufgabe einer universalen Repräsentation übernimmt,112 als hegemoniales Verhältnis nie endgültig sein. Sie bleibt eine ständig, aber nie endgültig zu lösende Aufgabe. Der „Post-Marxismus“ von Laclau und Mouffe versteht sich nicht als neue Wahrheit, sondern als Versuch, dem Marxismus seine Geschichtlichkeit zurückzugeben, 108 Zu der Quasi-Transzendentalität dieses Zusammenhangs vgl. Derrida IX, S. 171 ff., 181 f. Hier wurde zu Recht ein Versagen der Systemtheorie gesehen. Vgl. Barben, S. 262. 109 Vgl. Stäheli, S. 250. 110 Laclau / Mouffe, S. 132 f. 111 Laclau, S. 111 ff., 122. 112 Ebd., S. 136.
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indem er als praktische diskursive Intervention verstanden wird113. Weil das positivistische Wissenschaftsideal des klassischen Marxismus aufgegeben wird, kann die Alternative von schlechter Theorie versus schlechter Praxis in der bisherigen marxistischen Rechtstheorie überwunden werden. Eine post-marxistische Theorie des Rechts müßte ihren Ort in der diskursiven Analyse von Entscheidungen finden. Als Entscheidungstheorie hätte sie für die kommende Demokratie die Offenheit des Diskurses zu wahren. Dabei hätte sie, genau wie in der Theorie der Emanzipation, die essentialistischen Fragen nach dem Was und Wer der Entscheidung durch die Frage nach dem Wie zu ersetzen. 201
Die keinesfalls überzeitlich gültige, unter den besonderen sozialgeschichtlichen und politischen Bedingungen der europäischen Neuzeit entwickelte Formalität des Rechts- und Verfassungsstaats ist heute im Weltmaßstab wirksam. Solange sie nicht geschichtlich überholt ist und überall dort, wo sie sich noch nicht als konkret überholbar erwiesen hat, vollzieht sich der rechtlich orientierte Bezirk politischen Handelns und sozialer Organisation unentrinnbar (und offenkundig unabhängig von formaljuristischer Vergesellschaftung der Produktionsmittel) nach eben diesen Regeln; mit eben diesen Instrumenten verdinglichter Vernunft, die in einer juristischen Methodik auf den Begriff zu bringen sind.
312.4 Juristische Methodik und Kommunikationstheorie 202
Juristische Methodik hat in der Masse der Arbeitsmaterialien aus Rechtspraxis und Rechtswissenschaft genügend Stoff, ihre eigenen Grundbedingungen herauszuarbeiten. Das gilt etwa gegenüber dem bisherigen Stand von Bemühungen, Rechtswissenschaft und Kommunikationstheorie miteinander zu verbinden. Analog der hier seit „Normstruktur und Normativität“ durchgeführten Analyse der theoretischen Voraussetzungen gesetzespositivistischer Methodik ist auch von der Kommunikationstheorie aus gezeigt worden, daß die herkömmliche juristische Methodenlehre mit ihrer Konzentration auf die Doktrin der Textauslegung, mit ihrem Zielbegriff der Eindeutigkeit, mit ihrer Vorstellung von einem in der Rechtsnorm fertig vorgegebenen „Inhalt“ und einer vom graphischen Satz abgehobenen und abhebbaren „Bedeutung“ Elemente eines ontologischen Denkstils aufweist114. Demgegenüber wird für das Verständnis der Rechtsnormen (richtig: der Normtexte) das Modell des imperativen Kommunikationssystems vorgeschlagen: Namensgebung, auch als Benennung in Normtexten, ist nicht ontologisch verstehbar, sondern primär aus der imperativen Kommunikationssituation, d. h. als Beschreibung einer sozialen Situation zwecks Steuerung künftigen Verhaltens. Diese Beschreibung sozialer Beziehungen, herkömmlich reflektiert in der Lehre vom gesetzlichen Tatbestand, soll Vgl. zu weiteren Neuansätzen in der marxistischen Rechtstheorie Buckel II. Horn II, S. 24 ff., 105, 157 ff., 160 ff.; Horn III, z. B. S. 577 ff., 580 f., 585, 587; ebd. zum folgenden. – Vgl. ferner allg.: Heinz. – Konstruktiv und eingehend zur „Deutlichkeit“ von Gesetzen (Normtexten): J. Schmidt III. 113 114
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nicht begriffen werden als dinglich-ontologische Deskription, sondern als Bestandteil komplexer Kommunikationstechniken. Die Rechtsordnung kann als Kommunikationssystem gesehen werden, als Mechanismus des Austauschs von (eher imperativen als informativen) Nachrichten. Kommunikationstechnik ist verstehbar als imperative Denkhilfe zur Ordnung des künftigen Zusammenlebens von Mitgliedern der sozialen Gruppe. So aufschlußreich dieser Ansatz im allgemeinen ist, sowenig kann er im einzel- 203 nen für die Fortentwicklung juristischer Methodik leisten. Denn für entwickelte Kommunikationssysteme tritt wegen der in ihnen notwendig gestiegenen Komplexität an Stelle des Grundlagenmodells der imperativen Kommunikationssituation doch wieder die dingliche Beschreibung in den Vordergrund. Dem entspricht es, daß die Grundlagen einer über den Gesetzespositivismus hinausweisenden Rechts (norm)theorie seit „Normstruktur und Normativität“ gerade aus der Beobachtung juristischer Arbeit in Praxis und Wissenschaft gewonnen wurden. Sie werden in wichtigen Punkten von Teilergebnissen des kommunikationstheoretischen Ansatzes bestätigt; und das unbeschadet der Tatsache, daß diesem Ansatz für die Analyse eines hochentwickelten Rechtssystems die genannten Grenzen gezogen sind.
312.5 Normtext als Ausdruck von „Inhalt“ oder als Signal Zu den Entsprechungen rechts(norm)theoretischer und kommunikationstheoreti- 204 scher Analysen gehören neben den genannten noch folgende: Die Kommunikationstechnik steuert künftiges Zusammenwirken von Mitgliedern der sozialen Gruppe. Dieses Zusammenwirken bildet jeweils eine relativ konstante Struktur von Aktions-, Organisations- und Sachzusammenhängen. Diese werden von der sprachlichen Vorform der Rechtsnorm, die der amtliche Wortlaut darstellt, nicht substantiell umschlossen, sind in ihr nicht der Sache nach enthalten. Juristische Begriffe im Normtext geben nur in bestimmten Fällen (bei rechtserzeugtem Normbereich, wie beispielsweise bei Fristen, Terminen und reinen Verfahrensvorschriften) dingliche Beschreibungen des Gemeinten; in aller Regel evozieren sie nur als Signal- oder Anknüpfungsbegriffe das, woran als Entsprechung in der sozialen Realität gedacht ist. Der Normtext „enthält“ nicht die Normativität und ihre Sachstruktur. Er dirigiert und begrenzt die legalen und legitimen Möglichkeiten korrekter Rechtskonkretisierung innerhalb seines Rahmens. Juristischen Begriffen in Normtexten eignet nicht „Bedeutung“, Sätzen nicht „Sinn“ nach der Konzeption eines abgeschlossenen Vorgegebenen. Vielmehr richtet sich der Blick auf die aktive konkretisierende Leistung des „Empfängers“ und damit auf die funktionale Rollenverteilung, die kraft positivrechtlicher Normierung der Verfassungs- und Rechtsordnung für die Aufgaben der Konkretisierung vorgesehen ist. Die Vorstellung von Subsumtion, von formallogischer Anwendung eines vorgegebenen Befehls, von Rechts„anwendung“ als bloßer Textauslegung (statt als Normkonkretisierung) erweist sich damit auch vom Ansatz der Kommunikationstheorie her als fragwürdig.
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Der in den ursprünglichen Ansätzen der Topik angelegte Versuch, sich vom dinglich-ontologischen Verständnis der Sprache innerhalb der Jurisprudenz zu lösen, wird inzwischen in der neueren Rezeption115 der Kommunikationstheorie wieder in sein Gegenteil verkehrt. So soll ein Kommunikationsmodell dazu dienen, die von der Strukturierenden Rechtslehre ausgearbeitete Unterscheidung von Normtext und Rechtsnorm zurückzunehmen und die alte Vorstellung der Anwendung eines in den Texten schon vorgegebenen Rechts wiederzubeleben und zu rechtfertigen. Auf der Grundlage einer mehr unbefragt vorausgesetzten als theoretisch begründeten Bedeutungstheorie wird die Befürchtung geäußert, daß die Analyse der Argumentationsvorgänge in der Rechtsprechungspraxis die Bindungen richterlichen Handelns einer bloßen Bestätigung der tatsächlich schon geübten Verfahren opfere. Mit Hilfe der Kommunikationstheorie soll demgegenüber die Kompetenz des Gesetzgebers zur „Sinngebung“ des Normtextes verteidigt werden116.
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Die Annahme eines Sinngebungsmonopols des Gesetzgebers wird mit einer bestimmten Sicht des Kommunikationsverhältnisses zwischen der Legislative und dem praktisch entscheidenden Juristen begründet. Demnach übermittelt der Gesetzgeber mit Hilfe des Normtextes seine Gedanken an den Rechtsanwender. Der Normtext gilt hier als Instrument der Kommunikation mit der Aufgabe, den Bereich einer direkten mündlichen Mitteilung vom Gesetzgeber an den Rechtsanwender auszudehnen117. Die Ausdehnung im „Medium“ der Schrift wird dabei als homogen und kontinuierlich vorgestellt; die Wurzel des vom Gesetzgeber geschaffenen Sinns werde durch den Ausdruck im rein passiven Normtext weder verschoben noch beeinträchtigt118. Der Ablauf der Zeit, der historische Abstand119 kann zwar die Ermittlung dieser Wurzel faktisch erschweren, aber grundsätzlich gibt es einen absoluten und mit sich identischen Anfangspunkt, der den Sinn des Textes nicht nur hervorbringt, sondern auch garantiert. In der „richtigen“ Interpretation stellt sich die volle Unmittelbarkeit des ursprünglich Gemeinten wieder her, wird der statische Anfangspunkt rekonstruiert. Darin liegt ein auf einheitlichen Ursprung und kontinuierliche Ableitung bedachtes Modell der Textauslegung120, demzufolge der Normtext die Gedanken des Gesetzgebers einfach repräsentiert, ohne auf ihren Inhalt oder ihre Struktur im mindesten einzuwirken.
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Die dabei zugrundegelegte Vorstellung verfehlt allerdings das tatsächliche Funktionieren der Normtexte in einer Rechtsordnung. Man kann den Gesetzgeber nicht ohne weiteres mit dem Autor eines Textes gleichsetzen und schon gar nicht den AuVgl. dazu Baden II; Hegenbarth. In diesem Sinn Maus I, S. 161 und durchgängig. 117 Zu dieser Funktion des Kommunikationsmodells grundsätzlich Derrida IV, S. 127. 118 Vgl. dazu und zum folgenden: bei Maus ebd. und ff. 119 Dazu Maus I, S. 161 f. – Zum historischen Abstand als Ausdruck einer die Schrift grundsätzlich kennzeichnenden „Abwesenheit“: Derrida IV, S. 130, 133, 134 f. und öfter. 120 Vgl. dazu Derrida IV, S. 138: „Bewegung der genetischen Derivation“. Grundsätzlich auch zur Darstellung von Implikationen des Kommunikationsmodells: Descombes, S. 111 ff. 115 116
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tor mit dem Gravitationszentrum des Textsinns. Die Aufgabe z. B. des Richters ist viel komplexer, als es das dort postulierte Kommunikationsmodell erfassen kann. Denn er kann sich nicht darauf beschränken, im Text verkörperte Gedanken des Gesetzgebers nachzuvollziehen. Diese Vorstellung des Nachvollzugs erweist sich in der Praxis als uneinlösbare Fiktion. Nachvollziehen kann man nur insoweit, als etwas bereits vorvollzogen ist. Der Gesetzgeber kann aber tatsächlich nicht die Entscheidung all der zukünftigen Fälle vorwegnehmen, die dem von ihm erlassenen Normtext zugerechnet werden sollen. Der Normtext kann vielmehr nur dadurch zur Grundlage vielfältiger späterer Einzelentscheidungen werden, daß er von einer Determination durch den „Sender“, hier: den Gesetzgeber, abgeschnitten ist. Nur weil bei jeder neuen Entscheidung der Sinn des Textes im Grundsatz nicht einfach nur reproduziert, sondern verschoben wird, können die Leitsätze der einzelnen Entscheidungen der gleichbleibenden Zeichenkette, also dem Normtext, zugerechnet werden. Bei diesem Vorgang wird der Wortlaut, abgelöst vom ursprünglichen Kontext, neuen Zusammenhängen aufgepfropft121. Weil seine Bedeutung offen ist für Anreicherung im Rahmen der semantischen Praxis des juristischen Sprachspiels, kann er als Zurechnungspunkt für künftige konkrete Entscheidungen fungieren. In der neueren Debatte treten damit die schon oben angesprochenen sachlichen 208 Grenzen des Kommunikationsmodells bei seiner Anwendung in der Rechtswissenschaft noch deutlicher hervor. Die Praxis des juristischen Sprachspiels ist wesentlich komplexer als das einfache Modell: Sender – Kommunikationsmedium – Empfänger122. Vor allem ist die Sprache kein bloßes Medium, das die Gedanken des Senders passiv aufnimmt und dem Empfänger eine problemlose Decodierung ermöglicht123. Wegen der nicht vertretbaren Unterschätzung des Eigengewichts der semantischen Praxis und wegen der Reduktion von Sprache und Verstehen auf ein Repräsentationsmodell124 taugt die Kommunikationstheorie nicht als tragfähige Grundlage für die Strukturierung juristischer Textarbeit. Die Kommunikationstheorie erlaubt zwar
121 Gedanke und Praxis der „Pfropfung“ finden sich vielfältig im Werk Jacques Derridas; vgl. etwa Derrida V. – Zu Grundfragen semantischer Praxis im Recht am Beispiel der Mehrsprachigkeit von Rechtstexten (im Rahmen der EU): Buerstedde / Christensen / Sokolowski. 122 Mit Blick auf die Komplexität und Produktivität der Praxis des Sprachgebrauchs wurde die Übernahme dieses aus der mathematischen Informationstheorie und der Nachrichtentechnik stammenden Modells in seiner objektivistischen Reduktion vor dem Hintergrund der „pragmatischen Wende“ in der Linguistik denn auch schon früh sprachwissenschaftlich kritisiert. Vgl. Maas I, S. 118 ff., 121. Zur Erneuerung der Kritik an diesem Modell angesichts seiner zählebigen Rezeption in der Rechtswissenschaft auch Busse IV, S. 13 ff. 123 Gegen die „Idee“, „die Sprache funktioniere immer auf die eine Weise, diene immer dem gleichen Zweck: Gedanken zu übertragen“ Wittgenstein I, Philosophische Untersuchungen, § 304. Zur Kritik der diese „Idee“ anleitenden „Containment“-, bzw. „Topf“-Metapher und zu den objektivistischen Reduktionen der Praxis des Sprachgebrauchs als „Transport“ in ihrem Gefolge Lakoff / Johnson, S. 11 ff., 195 ff.; Busse IV, S. 13 ff. Zum „Dechiffriermodell“ sprachlichen Verstehens im Zug seiner grundsätzlichen Kritik an mentalistischen Sprachtheorien Putnam III, S. 54 ff. 124 Zur Kritik Putnam I, S. 35 ff.; Putnam III.
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eine prinzipielle Kritik des für die Jurisprudenz seit jeher kennzeichnenden dinglich-ontologischen Sprachverständnisses, indem sie Sprache immerhin in Funktion sieht und sie in ihrer Bedeutung von der Rolle her bestimmt, die sie in der Verständigung spielt.125 Aber das Verhältnis der Sprache zu ihrer Verwendung bleibt für die Kommunikationstheorie aufgrund jener Reduktionen ein nur äußerliches, die mit der sie anleitenden und sie tragenden Transportmetaphorik126 einhergehen. Sprachliche Ausdrücke und deren Bedeutungen bleiben für sie bloße Objekte, die in der Kommunikation lediglich technisch verwendet werden. Die Zwecke, zu denen diese Ausdrücke und Bedeutungen als Mittel eingesetzt werden, bleiben außerhalb der Sprache. Damit führt das Kommunikationsmodell aller pragmatisierenden Ausdrucksweise zum Trotz nicht wesentlich über die Einbeziehung funktionaler Gesichtspunkte hinaus, die auch schon ein aufgeklärter Strukturalismus zur differentiellen Bestimmung sprachlicher Bedeutung kennt.127 Die Kommunikationstheorie bleibt dem „Mythos des Objektivismus“128 verhaftet, der weithin den Hauptstrom „westlicher“ Sprachphilosophie und Linguistik geprägt hat. Das anhaltende Interesse am Kommunikationsmodell mag sich aus seiner Nähe zu einer entsprechenden Alltagsmetaphorik des Sprechens über Sprache erklären.129 Die rührt aber eher von den Sedimentierungen und Traditionen jenes Mythos des Objektiven her, als daß sie für eine „Einsicht in das Arbeiten unserer Sprache“130 etwas hergäbe. Vor allem aber teilt die Kommunikationstheorie mit ihrem technizistischen Instrumentalismus die Prämissen jenes schon von Wittgenstein nachhaltig als aporetisch kritisierten ‚Maschinenmodells‘ von Sprache; des Modells der sprachlich codierten Rechtsmaschine, das auch der positivistischen Verkürzung von Rechtsarbeit auf Rechtsanwendung und auf die entsprechend mechanische Erkenntnis eines vom Normtext als fixe Inhaltsgröße übermittelten Rechts zugrunde liegt.131 Der kritische Anstoß der Kommunikationstheorie gelangt also nicht über eine Reformulierung des herkömmlichen positivistischen Modells hinaus. Für eine neuartige Strukturierung praktischer Rechtsarbeit kommt die Kommunikationstheorie jedenfalls nicht in Frage. Für diese Neustrukturierung ist an erster Stelle realistisch die Möglichkeit zu verneinen, mittels sprachlicher Regeln die Referenz des Normtextes in der Weise festzulegen, daß vorentschieden ist, auf welche Fälle er „angewendet“ werden muß. 125 Die Einsicht in die interne Verwobenheit von Verständigungspraxis und Sprache formuliert mit der gebotenen Konsequenz Wittgenstein IV, § 140: „Der Begriff der Sprache dagegen liegt im Begriff der Verständigung.“ 126 Zu dieser Metaphorik neben Lakoff / Johnson, S. 11 ff. ausführlicher auch Reddy. 127 Dazu gegen einen „strukturalistischen Extremismus“ und die damit einhergehende „Verarmung des unmittelbaren sprachlichen Faktums“ Ducrot, S. 84 ff. 128 Dazu Lakoff / Johnson, S. 195 ff. 129 Vgl. ebd., S. 10 f. 130 Vgl. Wittgenstein I, Philosophische Untersuchungen, § 109. 131 Zur eingehenden Kritik Christensen VII, S. 269 ff. – s. a. Jeand’Heur XIII, S. 1293 f. zur traditionellen „Sprachverführung“, die unterstellt, ein Sachverhalt sei – als sogenannte Wirklichkeit an sich – sprachunabhängig „vorhanden und nach ontischen Strukturen gegliedert, denen sich Sprachzeichen und Sprecher anzupassen hätten“.
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Die in Normtexten verwendete Sprache kann keine dinglich-ontologische Beschreibung sozialer Beziehungen in der Weise geben, daß sie einer Klasse von Gegenständen Namen zuordnet132. Im Anschluß an die Wendung Wittgensteins zum Sprachspiel wurde die Namenstheorie133 der Bedeutung von der Strukturierenden Rechtslehre verabschiedet und damit die Aufgabe gestellt, stattdessen die Art des Sprachspiels zu durchschauen, das in der fraglichen Situation gespielt wird134: Es geht nun nicht länger um das Wort als Namen, den der Gesetzgeber den Dingen gegeben hat, sondern um das Wort als Moment einer konkreten Gebrauchsweise. Der Bezug von Sprache und Welt, also die Referenz der Zeichen, ist keine Frage, die mittels einer Namensgebung durch ein privilegiertes Subjekt entschieden werden könnte. Es handelt sich vielmehr bei der Namensgebung um ein praktisches Verhältnis135, das nicht nur die Kommunikationsgeschichte, sondern auch das Ganze des betreffenden Sprachspiels in den Blick bringt136. Damit hängt die Wendung zu einem „Ganzheitskonzept“ von „Bedeutung“ zusammen: Das Ganze (Holistische) meint dabei die – jedenfall bisher – unstrittigen Gemeinsamkeiten der – vorläufig noch – „normalen“, der unproblematischen Kommunikation. Erläutert werden nie „absolute“ Bedeutungen, sondern nur die in der Situation jeweils strittigen Teilbedeutungen. Ausdrücke haben keine von allen Kontexten abstrahierbare Bedeutung; vielmehr erzeugen wir, im praktischen Kontext, Bedeutung anhand von Ausdrücken. Vgl. dazu auch Müller X, S. 35. Zur Kritik des der „Bildtheorie“ sprachlicher Bedeutung zugrundeliegenden „Mythos von einem Museum, in dem die Aussstellungstücke Bedeutungen und die Schildchen Wörter sind,“ Quine II, S. 42 ff. Zu dem sich aus dem Verfall dieses Mythos ergebenden Problem der „Unerforschlichkeit der Bezugnahme“ in kritischer Auseinandersetzung mit Quines Thesen Davidson II. Zum „Museumsmythos“ mit den entsprechenden Konsequenzen in Hinblick auf das Problem eines Gegenstandes der Rechtserkenntnis Somek, S. 69 ff. 134 Vgl. Müller X, S. 32ff., 32. – Grundsätzlich zur juristischen Semantik Busse II; ebd. zur Linguistischen und zu einer juristischen Pragmatik, z. B. S. 189 ff., 228 ff. m. Nw.en. Vgl. a. dens. III; sowie eingehend zu Wortsemantik, Textsemantik, Kontextsemantik und zu Theorien des Textverstehens: dens. IV. – Zur Möglichkeit einer von der Linguistischen Pragmatik ausgehenden „juristischen Pragmatik“ bereits Th.-M. Seibert IV, v. a. S. 15 f. 135 Vgl. dazu R. Wimmer I, S. 32 u. ö.; Jeand’Heur IV. – Eine besonders wichtige Form der Benennung ist die fachsprachliche. Zu Grundfragen der juristischen Fachsprache in der Sicht der Linguisten: R. Wimmer IV; Busse VIII. – Grundsätzlich zum Ort der Sprache und der Semantik im Recht: Christensen / Sokolowski I. – Der Sache nach folgt weitgehend der hier entwickelten Normtheorie, Methodik und rechtslinguistischen Position Stamatis. 136 Deutlich Wittgenstein I, Philosophische Untersuchungen, § 49: „Man kann sagen: Mit dem Benennen eines Dings ist noch nichts getan. Es hat auch keinen Namen, außer im Spiel.“ Bemerkenswert ist, daß Wittgenstein im Zusammenhang seiner Argumentation zu Namen und zum Benennen, ebd. § 43, seinen Verweis auf den Gebrauch zur Bestimmung der Bedeutung von „Bedeutung“ einführt, sowie ebd. § 23 diese Argumentation insgesamt mit einer Demonstration der „Mannigfaltigkeit der Sprachspiele“ eröffnet. – Zu Holismus im Recht: F. Müller XVIII (Dekonstruktion des vertikalen Holismus an der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts); R. Christensen / H. Kudlich IV; für die Philosophie zur neueren Auseinandersetzung um den Holismus: Bertram / Liptow. – Das Staatsorganisationsrecht zu dekonstruieren schlägt Sanden vor. – Das praktische Verhältnis namens „Gesetzesbindung“ wird bei Binz auf der Basis von Wittgensteins Spätphilosophie entfaltet. 132 133
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Bei dieser Sachlage wird es einsichtig, daß über den Positivismus hinausgehende Ansätze einer neuen (verfassungs-)juristischen Methodik aus dem Anschauungsmaterial von Rechtswissenschaft und Rechtspraxis zu gewinnen sind.
312.6 Juristische Methodik und Sprachkritik 209
Diese Einsicht ergibt sich aus der Beobachtung tatsächlicher juristischer Praxis. Sie deutet in einer andern Perspektive als in der oben zur Hermeneutik genannten der „Applikation“ auf den exemplarischen Charakter rechtlicher Vorschriften und ihres sprachlichen Ausdrucks für die Grundprobleme von Sprachlichkeit und sprachlichem Verstehen hin. Sie berührt sich mit Teilergebnissen einer Philosophie, die sich als „Sprachkritik“ versteht137. Der Wortlaut einer Vorschrift geschriebenen Rechts, der Normtext, besteht aus sinnlich wahrnehmbaren Schriftzeichen. Diese sind Mittel einer „Projektion der möglichen Sachlage“, hier: einer zwischenmenschlich „normativ“ motivierenden Kraft des im Normtext angesprochenen Ordnungsmodells. Zu diesem Satz „gehört alles, was zur Projektion gehört; aber nicht das Projizierte“138. Der durch den tatsächlichen politischen und gesellschaftlichen Zusammenhang „normativ“, somit als „geltend“ garantierte Satz „Der Bundestag wird auf vier Jahre gewählt“ ist nicht eine Rechtsnorm, sondern nur die erste einer Reihe von Textstufen, die von diesem Normtext bis zum Urteilstenor führt, also bis zum Text der Entscheidungsnormen.
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Der von der Philosophie ausgehende Ansatz der Sprachkritik wird durch die neuere Entwicklung in der Sprachwissenschaft noch vertieft. Diese zieht die Folgerungen aus jener Traditionslinie einer Reflexion auf Sprache, die sich gegen die lange vorherrschende aristotelische Auffassung von Sprache als Nomenklatur wendet. Diese Unterströmung beginnt im deutschsprachigen Raum mit der Kritik Hamanns und Herders an den ‚Purismen‘ eines rationalistischen Systemdenkens von Sprache. Sie wird fortgesetzt in den Humboldtschen Ausarbeitungen eines Begriffs von Sprache als tätiger Welterschließung und hat in Wittgensteins kompromißloser Auffassung von „Sprache als Praxis“ ihren Höhepunkt.139 Vor dem Hintergrund dieser Tra137 Hier im Sinn des frühen Wittgenstein: Wittgenstein I, 4.0031. – Grundlegend für den Einstieg in den heutigen Stand der Wissenschaftstheorie: Stegmüller II. – Zur Diskussion für die Rechtswissenschaft: Hart I, II; Seibert I, II; Rodingen. 138 Wittgenstein I, Logisch-philosophische Abhandlung 3.11, 3.13; vgl. auch 4.031 und vor allem 3.1432 und 6.32. Weiter Wittgenstein I, Philosophische Untersuchungen, § 90 zum Zusammenhang der „‚Möglichkeiten‘ der Erscheinungen“ und der „Art der Aussagen, die wir über die Erscheinungen machen“; sowie die grundsätzlichen Hinweise, ebd. §§ 371, 373. – Zur Ausarbeitung des entsprechenden Verhältnisses von Ordnungsmodellen als „Weltversionen“, bzw. Bezugsrahmen, die „weniger zum Beschriebenen als zum Beschreibungssystem zu gehören (scheinen)“ und der Möglichkeit von ‚Tatsachen‘ in solchem Rahmen einer Version von Welt als deren Erzeugung und An-Ordnung Goodman I, S. 14, sowie 13 ff., 114 ff. 139 Zur Darstellung der genannten Traditionslinien siehe Mauro. Eine diese mit dem „Repräsentationsmodell“ auch noch moderner rationaler Sprachkonzeptionen kontrastierende Dar-
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dition und unmittelbar an die angloamerikanische Philosophie der ‚normalen Sprache‘ anknüpfend, tritt in der Sprachwissenschaft mit der pragmatischen Wende dann auch die sprachsystembezogene und statische Sicht des linguistischen Strukturalismus zunehmend hinter eine sprecherbezogene und die Sprachdynamik berücksichtigende Perspektive zurück140. Die in den neueren sprachwissenschaftlichen Ansätzen vorausgesetzte Bedeutungstheorie wird sprachhandlungstheoretisch begründet. Darin liegt der Gegensatz zur traditionellen semantischen Theorie, welche die Bedeutung als feste Entität ansah. Bedeutungen waren danach durch willkürliche Festlegungen zu einem bestimmten Zeitpunkt mit einer bestimmten Lautstruktur ein für allemal verbunden worden, und man konnte über diese Bedeutungen in der gleichen Art und Weise sprechen, wie man über Gegenstände spricht. Demgegenüber führt die sprachhandlungstheoretische Position dazu, anknüpfend an Wittgenstein den Grund der Bedeutungen mit ihrer Theorie im praktischen Gebrauch zu suchen. Bedeutung ergibt sich danach aus Begründungen und Erklärungen für den Sprachgebrauch in einer bestimmten Situation141. Texte erscheinen dann nicht länger als eine der Erkenntnis fest vorgegebene Größe, sondern sind als der Ausfüllung bedürftige Textformulare nur in und aus der Produktions- und Verstehenssituation analysierbar. Die Offenheit der Bedeutung für den konkreten Gebrauch macht es möglich, den Vorgang der Interpretation zwischen den Extremen von „subjektiver Willkür“ und „objektiver Erkenntnis“ sowohl nach der Seite ihrer Gebundenheit als auch nach der ihrer Freiheit zu begreifen. Als Folge dieser Einsicht tritt der aktive, sprachgestaltende Aspekt des Spre- 211 chens142 deutlicher hervor, damit auch der normative Anteil an der Formulierung stellung der „alternative(n) Bedeutungskonzeption“ der „Herder – Humboldt – Hamann – Theorie“ mit Blick auf das Wittgensteinsche Sprachkonzept gibt des näheren Ch. Taylor. – Für die Praxis von Schrift und Lektüre war die Grenzenlosigkeit des Bedeutens innerhalb der des Kommunizierens seit der Antike klar: „Pro captu lectoris (!) habent sua fata libelli“ (Die Bücher werden jeweils so verstanden, wie der einzelne Leser sie eben zu erfassen vermag: unvorhersehbar wie Schicksal). 140 Für die neuere angloamerikanische analytische Philosophie zieht Donald Davidson aus seiner Analyse der Dynamik wechselseitiger Verständigungs- und Interpretationsbemühungen in der kommunikativen Praxis in aller Schärfe „den Schluß, daß es so etwas wie eine Sprache gar nicht gibt, sofern eine Sprache der Vorstellung entspricht, die sich viele Philosophen und Linguisten von ihr gemacht haben. Daher gibt es nichts dergleichen, was man lernen, beherrschen oder von Geburt an in sich tragen könnte. Die Vorstellung, es gebe eine klar umrissene gemeinsame Struktur, die sich die Sprachbenützer zu eigen machen und dann auf Einzelfälle anwenden, müssen wir aufgeben.“ Davidson III. Zur kritischen Auseinandersetzung mit dieser Folgerung Hacking; und zu beiden Dummett. 141 Grundlegend Wittgenstein I, Philosophische Untersuchungen, § 560, der zugleich klarstellt, daß dann auch der Bedeutungsbegriff selbst wiederum praktisch zu fassen ist: „‚Die Bedeutung eines Wortes ist das, was die Erklärung der Bedeutung erklärt.‘ D. h.: willst du den Gebrauch des Worts ‚Bedeutung‘ verstehen, so sieh nach, was man ‚Erklärung der Bedeutung‘ nennt.“ Siehe ausführlicher auch Wittgenstein III, §§ 23 – 26, sowie dens. V, S. 15. Zur Semantik als Bedeutungsbeschreibung, bzw. -theorie vgl. anhand einer Kritik v. a. von Semantiken Carnapscher Prägung auch Putnam IV, S. 93 ff. Zur rechtssemantischen Relevanz der Überlegungen Putnams Wittmann.
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sprachlicher Regeln143. Die Sprache ist, so gesehen, weder eine dem Sprecher vorgeordnete und von ihm unabhängige quasi-natürliche Größe noch ein dem Belieben des jeweiligen Sprechers und seiner Intentionen überantwortetes reines Kunstprodukt. Als „Phänomen der dritten Art“144, ähnlich dem Marktphänomen der „invisible hand“, liegt die Sprache zwischen diesen Extremen und enthält in ihrer spezifischen Objektivität einen gestaltenden Aspekt, welcher den Gegenstand der Sprachkritik bildet145. 212
Ohne mit der Entwicklung in der Sprachwissenschaft in Austausch gestanden zu haben, weist die Strukturierende Rechtslehre mit der pragmatischen Wende in der Linguistik weitgehende Parallelen auf, die noch stärker und vor allem konkreter zur praktischen Semantik bestehen146. Beide übernehmen nicht abstrakte Konzepte, um sie dann im Weg deduktiver Ableitungen auf einen bestimmten Gegenstandsbereich anzuwenden. Beide setzen bei den tatsächlichen Arbeitserfahrungen in ihrem jeweiligen Sektor an. Die eine rückt die Theorie der Sprachhandlung in den Mittelpunkt und hebt auf die Sprecher, und zwar auf alle Sprecher als die Subjekte des Sprachhandelns ab, damit auf den Handlungscharakter und -zusammenhang von Sprache. Die andere, auf der Seite der juristischen Theorie und Methodik, geht von der 142 Vgl. dazu schon W. v. Humboldts Bestimmung von Sprache als energeia: „Die Sprache, in ihrem wirklichen Wesen aufgefaßt, ist etwas beständig und in jedem Augenblicke Vorübergehendes. Selbst ihre Erhaltung durch die Schrift ist immer nur eine unvollständige, mumienartige Aufbewahrung, die es doch erst wieder bedarf, daß man dabei den lebendigen Vortrag zu versinnlichen sucht. Sie selbst ist kein Werk (Ergon), sondern eine Tätigkeit (Energeia). Ihre wahre Definition kann daher nur eine genetische sein. Sie ist nämlich die sich ewig wiederholende Arbeit des Geistes, den artikulierten Laut zum Ausdruck des Gedankens fähig zu machen“; s. Humboldt, S. 36. Zur genetischen Erklärung von Sprache aus dem Sprechen auch Heringer III, S. 24 ff. 143 Entsprechend zu Regelformulierungen als normative Praxis Baker / Hacker, S. 243 ff.; Baker, S. 85 ff., 86: „Regelformulierungen sind nicht Beschreibungen des menschlichen Verhaltens. Sie beschreiben nicht, was tatsächlich getan wird, sondern schreiben vor oder setzen fest, was getan werden soll.“ 144 Dazu Christensen VII, S. 121 ff. m.w. N. aus der linguistischen Diskussion. – Grundlegend jetzt Rudi Keller. Allgemein zur Rechtslinguistik Müller XXIV; Cornu. Unzulänglich die Rezeption des vorliegenden Konzepts bei J. Schmidt III, S. 456 („Rechtssatz als ‚Entscheidungsprogramm‘“). 145 Der Hinweis auf die „invisible hand“ ist eine historische Erinnerung, ohne jener Ideologie zu applaudieren. 146 Zum Stichwort „praktische Semantik“: Heringer I, II sowie das Diskussionskapitel in Müller XXIV. Vgl. ferner Wimmer / Christensen sowie in Müller XXIV, S. 30 ff., 36 ff., 215 ff. u. ö. – Konstruktive Diskussion beider Ansätze bei Seibert III. Über „Sprachkritik“ i. S. einer avancierten pragmatischem Linguistik exemplarisch: Wimmer VI. – Eine weitreichende „Pragmatik juristischer Text-Handlungen“, welche interdisziplinär „die enge Verknüpfung von Sprache und Handeln in einer umfassenden gesellschaftlichen Praxis herausstellt“, wird anstelle der herkömmlich herrschenden standesmäßig normierten Semantik angezielt bei Busse II, S. 238 f. u. ö.; s. a. dens. III mit sehr eingehenden Fallbeispielen. – Auch in der Sprachpsychologie / Kognitionswissenschaft wird inzwischen das Textverstehen als Vorgang aufgefaßt und als Verlaufsform, als „komplette Prozeßstruktur“ modelliert; vgl. den Bericht bei Scherner m.w. N.
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Rechtsverwirklichung als einem tatsächlichen Vorgang aus, dessen einziges Subjekt der den Fall entscheidende Funktionsträger ist. Und sie sieht Rechtskonkretisierung im Kontinuum verfassungsrechtlich überformter gesellschaftlicher, politischer, ökonomischer Strukturen und Funktionen. Die objektiven Parallelen betreffen also zunächst den handlungstheoretischen 213 Grundansatz147 beider Konzeptionen. Eine andere Analogie bildet ihre Annäherung an den Regelbegriff als Regel- bzw. Rechtsnormerzeugung statt als Auffinden angeblich vorgegebener, feststehender Regeln oder Rechtsnormen. Die Betonung der zentralen Rolle des handelnden Subjekts in Abkehr von überkommenen Vorstellungen der Sprache als einem naturhaft auferlegten normativen System bzw. der Rechtsnorm als einer vorhandenen Entität zeigt eine weitere Übereinstimmung. Die Strukturierende Rechtslehre identifiziert seit langem die Norm so wenig mit dem Normtext wie die praktische Semantik die Regel mit der Regelformulierung, oder allgemeiner wie die heutige Linguistik den Text mit dem Textformular. Insofern können beide auch nicht auf irgendwelche Spielarten von Bedeutungsobjektivismus setzen; auch nicht in Gestalt logisch-semantischer Sprachauffassungen, die eine Präzision der Rechtstexte idealisieren oder hypostasieren148. Das auf diesem Weg erneuerte Konzept von Rechtsstaat ist als „(sprach)reflexiver Rechtsstaatsbegriff“ bezeichnet worden. Ansätze in dieser Richtung gibt es mit der Theorie des reflexiven Rechts.149 Sie reagiert darauf, daß die Steuerung der Gesellschaft durch Rechtsnormen angesichts der hohen Eigenkomplexität der sozialen Systeme zu wenig greift. Man sucht dabei, besonders im Anschluß an Luhmann, nach einer neuen Stufe in der evolutionären Entwicklung des Rechts. Als Beispiel reflexiven Rechts werden vor allem Kompetenzvorschriften genannt, welche die Normsetzungsbefugnis in ein Verfahren verlagern und sie auf gesellschaftliche Kräfte übertragen. – Das vorliegend entwickelte sprachreflexive Rechtsstaatsverständnis ersetzt grundsätzlich den Gedanken einer bloßen Rechtsanwendung durch den der Rechtserzeugung. Damit wirft es in prinzipieller Weise, und nicht nur für eine bestimmte Klasse von Normen, das Problem der Normierung der Normierer auf.
Dazu auch Funke, S. 5; v. d. Pfordten, S. 423. Vgl. dazu Busse I. – Jouanjan I sieht die Strukturierende Rechtslehre (und ihre Methodik) als juristischen „tournant pragmatique parallèle à celui qui s’est mis en œuvre dans la science du langage“; S. 21; vgl. a. dens. II sowie die intensiven Analysen bei dems. III, IV, V. – Der neu geprägte Rechtsstaatsbegriff bei Christensen IX. – Zum praktischen Sinn der Bemühungen um eine Rechtslinguistik: Müller XXXIX; ferner Müller XXIV; Müller / Wimmer; R. Wimmer IV. Felder III entscheidet sich bei seinem groß angelegten rechtslinguistisch / rechtstheoretischen Versuch für „das Paradigma der Strukturierenden Rechtslehre“ mit folgender (später noch weiter differenzierter) Begründung: „Sie versteht die Rechtsstruktur als Textstruktur, unterscheidet konsequent zwischen Normtext und Norm (analog zu Textformular und Textbedeutung) und setzt – sich auf Wittgenstein berufend – in Sprachspielen an, die sich im Gesamthorizont des durch die Verfassung gezogenen größeren Sprachspiels bewegen“.; ebd., S. 25 f., 27 ff., 30 ff., u. ö. 149 Vgl. zum Konzept reflexiven Rechts vor allem Trute II sowie Röhl III, S. 223 ff. m.w. N.; Schmidt-Preuß / Di Fabio I. 147 148
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Die linguistische Diskussion bestätigt insoweit auch jenen Ansatz der Strukturierenden Rechtslehre, demzufolge praktische Rechtsarbeit einen Text nicht etwa als substantiellen nur noch entfaltet, sondern, aus strukturellen Gründen des Sprachsystems, seine Bedeutung im Fall erst gestaltet. Rechtstheoretisch gewendet bedeutet dies, daß dem entscheidenden Juristen zwar der vom Gesetzgeber geschaffene Normtext als Textformular vorgegeben ist, nicht aber schon der Text der Rechtsnorm150. Versteht man mit Morris unter „Semiotik“151 das Ensemble aus Syntaktik (Beziehung der Zeichen untereinander), Semantik (Beziehung von Zeichen und Bedeutung), und Pragmatik (Beziehung von Zeichen und Benutzer), dann ergibt sich das folgende – vereinfachte – Bild: Der Gesetzespositivismus ist ein vorwiegend syntaktisches Konzept (Regelplatonismus plus „geschlossenes“ bzw. „schließbares“ System)152; die Antipositivismen im Denkstil der Hermeneutik erscheinen als semantische Ansätze („offene“ Systeme plus noch immer Regelplatonismus). Der nachpositivistische Vorschlag ist in seinem Abschied vom Regelplatonismus pragmatisch: Vorstellungen von Geschlossenheit oder Schließbarkeit sind nur fromme Wünsche; statt „offenem System“ geht es um methodische Organisation und damit sequenzenweise rationale Strukturierung des Rechtshandelns im Raum der Unfixierbarkeit. 214
Eine Rechtserzeugungsreflexion kann endlich die alte Gleichsetzung von Rechtsnorm und Normtext überwinden, welche den theoretischen Kern der positivistischen Lehre vom sprechenden Text darstellt. Der Normtext „enthält“ nicht eine normative Anweisung als substantielle Vorgegebenheit. Entgegen der positivistischen Annahme einer „Subsumtion“ unter feststehende Bedeutungen ist der Text nicht das begriffliche Subjekt einer formallogischen Ableitung. Er vermag nur die normativ konstitutive Leistung des wirklichen Subjekts, des für den Fall zuständigen Juristen nämlich, zu beeinflussen. Mit der Unterscheidung von Rechtsnorm und Normtext wird der komplexe Semantisierungsvorgang153 sichtbar, den der Positivismus hinter der rhetorischen Fassade sprachlich vorgegebener Bedeutungen verstecken wollte und der sich auch nicht in ein jeder Diskussion methodischer Fragen vorgeordnetes „Gesetzbuch der praktischen Vernunft“ einbinden läßt154. Die praktische Textarbeit So auch Pohl, S. 18. Vgl. dazu jetzt grundsätzlich Seibert XI. 152 Vgl. Müller XIX, S. 438. 153 Zu einer entsprechenden Kritik am Positivismus vgl. auch Broekman III, S. 145 f., 150 ff. – Zur Rolle einer nachpositivistischen Methodik für die inhaltliche Rechtsnormproduktion und unter Betonung subjektiver Verantwortung: Udke, S. 94 f. u. ö. für die besondere Situation der Ex-DDR angesichts von deren „Systemwechsel“. – Das Konzept der Rechtserzeugungsreflexion gehört von Anfang an und diesem expliziten Ausdruck nach dann spätestens ab Müller XXII (1986), S. 46 ff., zu den Grundgedanken der Strukturierenden Rechtslehre und Methodik, den Paradigmenwechsel weg von traditioneller Rechtfertigungskunde anzeigend. – Müller-Mall II hat es trotz Konzentration auf dieses Thema versäumt, das zu dokumentieren. 154 Zur Kritik an einem entsprechenden Ansatz der Diskurstheorie bei Alexy: Christensen V. 150 151
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der Jurisprudenz ist auf eine in Regeldetermination nicht auflösbare Weise schöpferisch. Mit der von der Strukturierenden Rechtslehre vorgeschlagenen Rechtsnormtheo- 215 rie ist der Gesetzespositivismus verabschiedet; und es wird festgehalten, daß die Rechtsnorm als tragender Leitsatz der Entscheidung vom Rechtsarbeiter jeweils erst hergestellt wird. Entsprechend der wissenschaftsgeschichtlichen Bewegung, die sprachtheoretisch vom Sprachsystem zum sprachlichen Handeln führt155, ist die Frage nach den Bindungen praktischer Rechtsarbeit damit von der illusionären Spekulation über eine vorgegebene Bedeutung des Normtextes befreit und in den konkreten Prozessen juristischer Argumentation neu gestellt. Gesetzesbindung bezieht sich nicht auf eine der Anwendung vorgegebene Rechtsnorm, sondern stellt sich dar als methodische Erschwerung und Disziplinierung im Vorgang der Herstellung der Rechtsnorm156. Dabei lassen sich die hier schon eingeführten (vgl. oben Abschnitt 12) Aktions- 216 formen „Verstehen“, „Intepretieren“ und „Arbeit mit Texten“ mit drei Situationstypen verbinden: störungsfreie Kommunikation, Kommunikationskrise, rechtsförmige Bearbeitung durch den semantischen Kampf im Rahmen formeller Verfahren. Das Verstehen kann routiniert und damit auch weitgehend intuitiv arbeiten, solange die Kommunikation ungestört verläuft; solange wird aus der Alltagssituation aber auch kein Rechtsfall. Sobald die Kommunikation gestört zu werden beginnt, entgleisen 155 Zur pragmatischen Wende: H. J. Schneider, Braunroth u. a. – Die „paradigmatische Grundeinstellung“, die „das Bundesverfassungsgericht, … die Rechtsprechung … und auf weite Strecken die juristische Dogmatik und Methodenlehre“ prägt, wird bei Grasnick, S. 154 f., gekennzeichnet mit „Gemeinplätzen, Basisüberzeugungen, Common-sense-Annahmen und schlichten Glaubenssätzen“, kurz mit „Alltagstheorien“; näherhin als: „realistische Bedeutungstheorie“, „Abbildtheorie der Sprache als ihrer (sc. der Bundesverfassungsrichter) Alibitheorie“, „metaphysische(r) Realismus“, „Korrespondenztheorie der Wahrheit“: „Offenbar kommt das alles ihrem (sc. der Juristen des mainstream) Sicherheitsbedürfnis entgegen“, besonders aber dem der „selbsternannte(n) Bedeutungskontrolleure“, als welche der Autor vornehmlich die Richter des Bundesverfassungsgerichts festhält – und zwar zu Recht nicht wegen ihrer Kontrollbefugnisse, die vom Grundgesetz normiert sind, sondern wegen ihrer positivistisch-illusionären Sprachauffassung. Demgegenüber werden die Arbeiten auf der – nicht zuletzt sprachwissenschaftlichen – Grundlage der Strukturierenden Rechtslehre in ihrer paradigmatischen Abkehr vom positivistischen Credo des mainstream als „wahre Überzeugungsarbeit“ begrüßt: „Es gibt aber auch Methodiker, die angefangen haben, sich aus den Fesseln der überkommenen Mann-auf-der-Straße-Philosophie zu befreien, die nicht länger hineintappen in die Fallen, die uns die Sprache stellt, indem sie uns zum Beispiel vorgaukelt, es gäb „etwas“, nur weil wir einen Namen „dafür“ haben“; ebd., S. 154. 156 Die Gesetzesbindung (Art. 20 Abs. 3 GG) verbietet nicht „jede Auslegung, die nicht im Wortlaut des Gesetzes vorgegeben (!) ist“; so aber die Auffassung des Amtsgerichts Mainz, wiedergegeben – und zutreffend abgelehnt – in BVerfGE 88, 145 ff., 166; Hervorhebung nicht im Original. – Allerdings denkt das BVerfG dabei sogleich an die sogenannte Rechtsfortbildung „praeter legem“; und nicht – wie erforderlich – an jeden Konkretisierungsakt. – Grundlegend zum Problem der Gesetzesbindung vor dem Hintergrund heutiger Theorie- und Methodenstandards Christensen VII sowie auf fortgeschrittenem Stand der Forschung: Christensen / Kudlich IV. Vgl. ferner z. B. Wegge.
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die routinierten Verstehensvorgänge, „verstehen sich“ auch aufeinander sprachlich eingespielte Partner „plötzlich nicht mehr“. Kommt es aus welchem Grund auch immer zu einer derartigen Krise – im Recht: meist wegen eines aufbrechenden Interessenkonflikts –, so kann die Kommunikation mit Eklat abgebrochen werden. Oder es setzt Reflexion ein: Nachfragen und Infragestellen, Erklärung und Bestreiten, kurz: informelle Bearbeitung zwischen den Beteiligten, auch unter Beiziehung sei es privater, sei es professioneller Dritter außerhalb staatlicher Institutionen. Diese Art, Gesagtes in Frage zu stellen, zu bestreiten, zu erläutern ist im Sinn der hier unterschiedenen drei Handlungstypen „Interpretieren“. Im Recht ist nicht „Verstehen“, sondern ist solche „Interpretation“ – in der informellen Eingangsphase – der Normalfall; denn ohne Kommunikationsstörung wird kein Sachverhalt an die zuständigen Rechtsfunktionäre herangetragen, wird kein Antrag gestellt, keine Klage erhoben, wird aus dem informellen gesellschaftlichen Vorgang kein formeller Rechtsfall157. 217
Aber schon dort, wo Antrag oder Klage mit professioneller Hilfe formuliert, wo Protokolle aufgenommen und Zeugenaussagen gemacht werden, wo also aus der laienhaften Fallerzählung der juristisch überformte „Sachverhalt“ gebildet wird, handelt es sich auch über bloße Interpretation hinaus schon um „Arbeit mit Texten“. Im Rahmen rechtlich normierter Verfahren wird diese durch formell eingesetzte, von Kompetenzen und Amtspflichten verschiedenen Grades geprägte verantwortliche Rechtsfunktionäre durchgeführt; und deren Tun „bearbeitet“ neben dem Fall unausweichlich zugleich auch die Institution selbst, der sie angehören, zum Beispiel eine bestimmte Fachgerichtsbarkeit. Denn ihr Handeln hält die Institution damit in Funktion, läßt sie auf eine bestimmte Art funktionieren. Die von ihnen heranzuziehenden Normtexte des geltenden Rechts werden von ihnen nicht intuitiv „verstanden“ – denn der Streit um Worte liegt immer auch schon mit im Beginn des Rechtsstreits. Sie werden von ihnen auch nicht nur „interpretiert“, sondern nicht zuletzt auch innerhalb der institutionellen Funktion benützt, umgebildet, fortentwickelt.
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Bei den die Entscheidung rechtfertigenden gesetzlich geforderten Begründungstexten kommt die Handlungsform „Interpretieren“ wieder stärker in den Vordergrund. Die „Gründe“ sind nach außen gerichtet: um angesichts der Textstruktur des Rechtsstaats, in die sich der Entscheid einschreiben muß, diesen zu legitimieren; um die am Verfahren Beteiligten und die vom Inhalt der Entscheidung Benachteiligten möglichst zu überzeugen; um von Rechtsmitteln abzuschrecken und möglicher Urteilskritik schon den Wind aus den Segeln zu nehmen; um höhere Instanzen sowie die Fachwelt zu beeinflussen. Dabei hat „Interpretieren“ nicht selten den Beigeschmack von „gut verkaufen wollen“ bzw. von „erst sekundär Gründe zusammen-
157 Nicht operational ist dagegen der Versuch, Fachsprache und Umgangssprache anhand eines vorgeordneten Kompetenzbegriffs zu klären; so aber Neumann VIII. Das ist der althergebrachte Regelbezug der Semantik, der auch noch mit dem Kompetenzbegriff überhöht wird. Inzwischen formuliert man dagegen die Semantik in bezug auf Fälle und Handlungen. Damit treten die wirklichen Probleme an die Stelle leerlaufender Kategorien.
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suchen“. Angesichts der Interessenkonflikte, die zu den semantischen Auseinandersetzungen und zum förmlichen Verfahren geführt hatten, ist das nicht überraschend, wenn auch rechtsstaatlich nicht optimal. Was dagegen auch bei der Begründung von Rechts- und Entscheidungsnorm nicht auftaucht, ist das sozusagen automatische, das intuitiv-gewohnheitsgemäße und in diesem Sinn naive „Verstehen“. Im Rahmen der praktischen Rechtsarbeit, die eine aktive Textarbeit vor dem Hintergrund von Konflikten ist, hat es ohnehin keine Rolle gespielt.
312.7 Rechtsstaatliche Textstruktur Recht ist notwendig an Sprache gebunden. In einem System geschriebenen 219 Rechts treten seine Vorschriften als Normtexte auf, d. h. als amtlich autorisierte Textformulierungen geltenden Rechts. Die Rechtsordnung bildet ein Kontinuum von Texten, die für anders nicht lösbare Konfliktfälle sanktioniert sind durch ‚als solche‘ sprachlose Gewalt, die wiederum ihrerseits durch die zugehörigen Verfahren sprachlich vermittelt wird. Rechtsstaatliches Recht arbeitet möglichst wenig mit bloßer und möglichst weitgehend mit sprachlich geformter, vermittelter und kontrollierbarer konstitutioneller Gewalt158. Diese Form von Sprachlichkeit der Rechtsordnung entspricht dem Streben des bürgerlichen Verfassungsstaats der Neuzeit nach Rationalität. Diese ist funktionell zweideutig. Sie ist doppelt wirksam, indem sie einmal Herrschaftsprozesse erleichtern hilft, zum andern die Voraussetzung für Konsens schafft. Das drückt sich in einer doppelten Form von Sprachlichkeit der Rechtstexte aus: anordnende und rechtfertigende Texte. Diese durchgehende Textstruktur setzt historisch die Organisationsleistungen des Verfassungsstaats der Moderne (wie: innere Souveränität und Monopol legitimer Gewaltausübung, Normenhierarchie und systematischen Rechtsschutz) voraus. Recht ist (auch) Instrument von Herrschaft. Als rechtsstaatlich geformtes ist es 220 zugleich Instrument der Begrenzung von Herrschaft. Insoweit Macht inhaltlich und prozedural als Recht in spezifischer Formalisierung auftritt, ist sie auch spezifischen Bedingungen, Brechungen, Kontrollen unterworfen159. Die Formalisierung unseres Typus von Rechtsordnung erfolgt durch Sprache. Diese unterwirft die Herrschaftsvorgänge der Kommunikation, der Möglichkeit sprachlicher Kritik, der Notwendigkeit sprachlicher Rechtfertigung. Im demokratischen Rechtsstaat nach dem Modell des Grundgesetzes sollen rechtsstaatliche Form und demokratische Politik im Sinn 158 Vgl. hierzu Müller X, S. 18 ff., 29 f. – Grundlegend zum Problem der Schrift(lichkeit): Jacques Derrida, seit dems. I, II. – Jouanjan I hebt zur rechtsstaatlichen Textstruktur (structure textuelle, texture) im vorliegenden Konzept den Textkreislauf (circulation des textes) und die Aufgabe juristischer Methodik als einer methodischen „Arbeit mit Texten“ (travail avec des textes, travail de textes) hervor; s. a. dens. III, IV. 159 Das Bundesverfassungsgericht leitet aus dem Rechtsstaatsprinzip in ständiger Rechtsprechung die Forderung nach Voraussehbarkeit und Berechenbarkeit ab; vgl. zuletzt BVerfGE 99, 216, 242.
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eines „materiellen Rechtsstaats“ zusammenkommen. Nicht dem formalistisch-autoritären Rechtsstaat mit Zügen des Obrigkeitsstaates, wohl aber dem freiheitlichdemokratischen Rechtsstaat entsprechen zusätzliche (verfassungs-)rechtliche Sicherungen der Konsensfunktion seiner Rechtstexte: auf der Seite der anordnenden Texte Forderungen wie Tatbestandsbestimmtheit, Rückwirkungsverbote, rechtliches Gehör, usw.; auf der Seite der rechtfertigenden Texte das Gebot der Methodenehrlichkeit (d. h. des Übereinstimmens von Finden und Begründen der Entscheidung), die verschiedenen Begründungspflichten, Einzelinstitute wie das der Abweichenden Meinung bei Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, usw. 221
Über solche Beispiele hinaus läßt sich die Textstruktur160 dieser Rechtsordnung insgesamt nach folgenden Ebenen gliedern: a) nach abstrakt anordnenden Texten (Gesetzeswortlauten und – soweit sie über den Fall hinaus verbindlich sein können – Texten von Rechtsnormen) und diese Normtexte rechtfertigenden Texten (amtlichen Begründungen von Gesetzen, „Motiven“ der gesetzgebenden Gremien, Debatten und Verhandlungen, Ausschußberichten und, im Fall der Rechtsnormen, Entscheidungsgründen); sowie b) nach konkret anordnenden Texten (Entscheidungsnormen, welche die Rechtsprechung entwirft oder die die Exekutive erläßt) und diese rechtfertigenden Texten (Entscheidungsgründen in Exekutive und Rechtsprechung). Der demokratische Rechtsstaat „hat“ nicht, er „ist“ eine Textstruktur. Diese unterscheidet ihn von den anderen Typen der Staatsorganisation; denn der Rest ist allen Typen gemeinsam: „sächliche“ und „persönliche Mittel“ im Sinn des Verwaltungsrechts. Den Gebäuden, deren Möblierung, den Papierstapeln, den Amtspersonen ist es nicht anzusehen, ob sie einen Rechts- oder einen Nicht-Rechtsstaat am Funktionieren halten. Nur die Semantik und die Strukturierungsart der staatsproduzierten Textmasse distinguieren ein rechtsstaatliches System.
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Die Rechtsordnung ist ein Sprachspiel unter anderen, aber eben das einzige mit angehäufter allgemeiner Gewalt versehene, das Sprachspiel des Staates. Alles, was an dessen Institutionen nicht verdinglichte oder direkte Gewalt ist, ist Sprache, mündlicher oder schriftlicher Text; und nicht zuletzt seine als „Recht“ bezeichneten Handlungsformen. Anders gesagt: die einzige Möglichkeit, die im Staat angehäufte Gewalt zu disziplinieren, einzugrenzen, zu teilen und zu kultivieren, besteht in Sprache. Sie liegt in der Textualität des gewaltgestützten Rechts und in den in dieser anfallenden Komplikationen, Brechungen, Faltungen und sprachvermittelten Selbstbindungen. Gewaltenteilung161 ist vor allem eine Text-Teilung (für die Institutionen nebeneinander und die Instanzen übereinander), eine Text-Verteilung (für die Auffächerung der Kompetenzen) und eine Text-Kontrolle (das System der checks and balances). Die Gewaltenteilung als Textteilung, auf symbolischer Ebene verankert, ist eine Aufteilung der Gewaltbefugnis, unter den und den Voraussetzungen Texte der und der Art mit den und den Wirkungen bzw. Relationen zu anderen Texten zu
160 161
Dazu jetzt auch Augsberg, Kap. VI. Zu deren Tradition und Bedeutung: Möllers, Kap. 1.
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produzieren. Gewaltenteilung als Teilung, Verteilung und Kontrolle der Textkompetenzen ist eine der wesentlichsten Eigenschaften rechtsstaatlicher Textstruktur. Der Richter hat im Rechtsstaat keine Kompetenzkompetenz, sondern eine umgrenzte Ermächtigung. Der Begriff „Kompetenzkompetenz“ kommt aus der obrigkeitsstaatlichen Tradition. Er bedeutet, daß der Staat die unbeschränkte Kompetenz hat, sich selber Kompetenzen zu verschaffen. Auf den Richter unter dem Grundgesetz paßt diese überlieferte Vorstellung nicht. Dem Richter wird die rechtsprechende Gewalt übertragen, aber nur soweit er der in Artikel 97 GG angeordneten Gesetzesbindung genügt. Den Umstand, daß seine Entscheidung der Gesetzesbindung Genüge tut, muß der Richter in der Begründung seines Urteils darlegen. Dabei muß er sich mit den Interpretationen der Prozeßbeteiligten und mit den einschlägigen Entscheidungen anderer Gerichte auseinandersetzen162. So findet die Souveränität seiner Interpretation Grenzen. Über die Pflicht zur Begründung der Entscheidung ist der Richter an überprüfbare Maßstäbe gebunden.163 Dieser Pflicht des Gerichts entspricht auf der Seite des Bürgers ein Recht auf Sprache. Er hat ein subjektives Recht darauf, daß der Richter seine Entscheidung nicht einfach nur fällt, sondern sie in der Begründung auch dem demokratisch legitimierten Normtext zurechnet. Direkt mit Hilfe von Rechtsmitteln gegen die Entscheidung und indirekt mit Hilfe der fachlichen Kritik ist dieses Recht auch einklagbar. Das Bundesverfassungsgericht formuliert dieses aus Artikel 103 GG abzuleitende Recht folgendermaßen: „Art. 103 Abs. 1 GG gibt den Verfahrensbeteiligten das Recht, sich nicht nur zu dem für die jeweilige gerichtliche Entscheidung maßgeblichen Sachverhalt, sondern auch zur Rechtslage zu äußern, und verpflichtet das Gericht, den Vortrag der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Dabei kann es in besonderen Fällen geboten sein, die Verfahrensbeteiligten auf eine Rechtsauffassung hinzuweisen, die das Gericht seiner Entscheidung zugrunde legen will. Es kann im Ergebnis der Verhinderung eines Vortrags zur Rechtslage gleichkommen, wenn das Gericht ohne vorherigen Hinweis auf einen rechtlichen Gesichtspunkt abstellt, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozeßbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen nicht zu rechnen brauchte. Allerdings ist zu beachten, daß das Gericht grundsätzlich weder zu einem Rechtsgespräch noch zu einem Hinweis auf seine Rechtsauffassung verpflichtet ist. Auch wenn die Rechtslage umstritten oder problematisch ist, müssen daher die Verfahrensbeteiligten grundsätzlich alle vertretbaren rechtlichen Gesichtspunkte von sich aus in Betracht ziehen und ihren Vortrag darauf einstellen“.164 162 Zum Rechtsstaatsprinzip als Recht auf ein faires Verfahren vgl. BVerfGE 130, S. 1 ff., 25 ff.; zu den daraus folgenden Maßstäben für die Verwertbarkeit rechtswidrig erhobener oder erlangter Informationen vgl. ebd., S. 27 ff. 163 Vgl. Müller / Christensen / Sokolowski, Rechtstext und Textarbeit, 1997, S. 138 ff. – Zur Gewaltenteilung als Textteilung: Müller X, S. 75 ff.
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Eine Entscheidung, solange sie eine Rechtsentscheidung und keine bloße Gewalt sein will, muß dem Betroffenen Einfluß auf die Sprache geben, die in der Entscheidung an die Stelle seiner eigenen tritt165. Wenn dagegen diese Sprache schon vorher feststeht, haben wir kein Recht vor uns, sondern nur sprachlich verbrämte Gewaltausübung. Darin liegt die wichtige Rolle des Rechts auf Gehör. 223
Im ganzen handelt es sich um ein diesen Typus von Rechtsordnung kennzeichnendes Strukturprinzip, das aus der Verfassungsgebundenheit der Gesetzgebung, aus der Rechts- und Verfassungsgebundenheit aller sonstigen Staatstätigkeit und allgemein aus der Rechtsbestimmtheit staatlichen Verhaltens folgt. Das Vorstehende macht auch klar, warum die richterlichen Begründungspflichten im positiven Recht am sorgfältigsten ausgeformt sind. In methodisch nachweisbarer Bindung erlassene Entscheidungsnormen der Justiz sind im genannten Sinn „konstitutionell“; diese Bindung mißachtende sind nicht nur nicht legal, sondern systematisch auch nicht gerechtfertigt, nicht legitim. Der Sache nach ist ein rechtswidriges Urteil bloße Gewalt; es ist Herrschaft eines Menschen (oder eines Gremiums) über andere Menschen, nicht mehr Herrschaft „des“ Rechts als einer den Rechtsstaat systematisch legitimierenden Instanz. In diesem Modell von Verfassungsstaat muß der Richter zum einen überhaupt entscheiden (Rechtsverweigerungsverbot); d. h. er darf sich nicht enthalten, Gewalt auszuüben. Und der Richter muß zum andern rechtmäßig entscheiden; nicht aus Dezision, nicht aus eigener, sondern nur kraft „abgeleiteter“ Gewalt. Er darf – so der Anspruch des Rechtsstaats – die Gewalt nicht schaffen, er darf sie „nur“ funktionell vermitteln. Die am Normtext ausgerichtete und vertretbar begründete Entscheidung schreibt sich der Textstruktur des Rechtsstaats ein. Die Dezision bricht aus dieser Struktur aus. Carl Schmitts „normatives Nichts“, dem der dezisionäre Ausspruch entstammen soll, ist ein „Nichts“ an Kohärenz innerhalb rechtsstaatlicher Textstruktur. Die Rechtsnorm steht noch nicht im Normtext, das Recht ist noch nicht im Text der Gesetzbücher enthalten. Vor dem Hintergrund realer Konflikte muss – in geordneten Verfahren – über das gestritten werden, was im Fall Recht sein soll. Dieses Recht muss „gesprochen“ werden; und weil auch anders entschieden werden konnte und (in weiteren Gerichtsinstanzen) werden könnte, bedarf es der am Normtext orientierten, rechtsstaatlich vertretbaren Begründung. Die positivrechtlichen Begrün164 BVerfGE 98, 218, 263, unter Bezug auf BVerfGE 83, 24, 35; 86, 133, 144 f. – Vgl. zur Verletzung des rechtlichen Gehörs durch Überraschungsentscheidungen auch BVerfG, in: NJW 2002, S. 1334 ff.: „Ein Berufungsgericht verletzt den Anspruch auf rechtliches Gehör, wenn es im Verfahren nach der Hausratsverordnung unter Abänderung des erstinstanzlichen Urteils ein unentgeltliches und unbefristetes Nutzungsverhältnis hinsichtlich einer Wohnung begründet, obwohl der sich am Verfahren nicht beteiligende Wohnungseigentümer auf Grund der Information durch das Gericht mit dieser Möglichkeit nicht rechnen mußte.“ Vgl. dazu auch BVerwG, in: NJW 2001, S. 1151; BSG, in: NJW 2000, S. 3590 ff. 165 Das Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 130, S. 1 ff., 27) garantiert dem Angeklagten aus dem Rechtsstaatsprinzip die Möglichkeit, auf Gang und Ergebnis des Verfahrens Einfluss zu nehmen.
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dungspflichten des geltenden Rechts sind rechtsstaatliche Vorschriften par excellence. Sie normieren in praxi die Dienstpflicht der entscheidenden Instanzen, sich der Textstruktur des Rechtsstaats, ihrem Wechsel aus anordnenden und rechtfertigenden Texten dort zu fügen, wo die Dezision einen anordnenden Ukas an den anderen fügen möchte. Soweit die allgemeinen Grundsätze. Die besonderen ergeben sich aus der jeweili- 224 gen Verfassung; für das Grundgesetz etwa aus Art. 1 Abs. 3 und den Grundrechten, aus Art. 19, Art. 79 Abs. 3, aus ungeschriebenen Rechtsstaatsgeboten, aus Art. 101, 103, nicht zuletzt auch aus Art. 100 (Prüfungspflichten), und so fort. Im normativen Rahmen solcher grundsätzlicher Anweisungen ist dann – eine Folge von Art. 97 Abs. 1 – die Bindung an die jeweils den Einzelfall regierenden Rechtsnormen zu realisieren : Der Richter muß methodisch dartun können, die von ihm gesetzte Entscheidungsnorm sei der Rechtsnorm, auf die er sich dabei beruft, und diese ihrerseits dem Normtext, von dem er ausgegangen ist, korrektermaßen zuzurechnen166.
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313.1 Normativität als strukturierter Vorgang Die in Gesetzblättern und Gesetzessammlungen stehenden Wortlaute von Vor- 225 schriften, also die Normtexte, sind nicht normativ. Sie sind unfähig, den jeweils vorliegenden konkreten Rechtsfall verbindlich zu lösen. Sie sind (noch) nicht-normative Eingangsdaten des Konkretisierungsvorgangs. Der an Gesetz und Verfassung gebundene Jurist ist verpflichtet, sie als Eingangsdatum einzuführen, sofern er sie für im Fall einschlägig hält. Dieser Sachverhalt wird mit dem Begriff der „Geltung“ erfaßt. Normativ sind dagegen die im Verlauf des Konkretisierungsvorgangs erarbeiteten Rechts- und Entscheidungsnormen. Das Besondere, das diesen Regelungskomplexen zugeschrieben wird, die Normativität, ist nicht eine Eigenschaft von Texten. Wie die Analyse der Praxis zeigt, ist sie ein strukturierter Vorgang167. Soll Normativität und damit die Eigenart des Rechts untersucht werden, so ist die Struktur der 166 Zur Textstruktur Müller XII, S. 80 ff., 95 ff.; ferner die Ausführungen im Diskussionskapitel bei Müller XXIV, S. 205 f., 215. Vom Konzept der Textstruktur geht die „Theorie richterlichen Begründens“ von Christensen / Kudlich II aus. – Felder III stützt seinen rechts-linguistischen Ansatz auf die Konzepte von „Textstruktur“ und „Rechtsarbeit als Textarbeit“. – Christensen / Kudlich II, bes. S. 280 ff., begründen umfassend die methodenrelevanten Verfassungs- und Gesetzesvorschriften. – Historisch zu Begründungspflichten im Recht: Cordes. – Verfassungstheoretisch zum Rechtsverweigerungsverbot Müller XVIII, S. 108 ff. 167 Das prozedural Produktive der Konkretisierungselemente hebt auch Ladeur II, S. 186 ff. hervor; gleichzeitig aber weiterhin unter Identifizierung von Normtext und „Rechtsnormen“ (ebd., S. 187 ff.) sowie mit der unbegründeten Furcht vor einer „Gefährdung der Autonomie des Rechtssystems“ durch den Einbezug des Sach(und des Norm-)bereichs (ebd., S. 188).
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Regelungskomplexe, die im Ausgang von Normtexten und Fall methodisch gebildet werden, zu erforschen. Die Untersuchung des Verhältnisses der Normativität zu Normtext und Rechts- bzw. Entscheidungsnorm führt zum Konzept der Normstruktur. Diese ist keine dingliche Gegebenheit. Ihre Formulierung drückt die Bauweise der Rechtsnorm aus; das heißt die Tatsache, daß beim Herstellen und Funktionieren des Motivationsmusters „Norm“ regelmäßig zu beobachtende Eigenschaften gedanklich unterschieden, typisiert und kontrolliert werden können. Normstruktur ist also nichts, was in der Natur vorkäme, sondern ein wissenschaftliches Interpretationsmodell für die Bedingungen des Zustandekommens und des Funktionierens rechtlicher Vorschriften. 226
Daß unter den Eingangsdaten der Entscheidungsarbeit der Sachverhalt nicht normativ ist, erstaunt nicht. Dieselbe Aussage überrascht aber zunächst für die Normtexte. Da diese nicht mit der (Rechts- und Entscheidungs-)Norm identisch sind, kommt ihnen Normativität jedoch nicht zu. Diese kann nachpositivistisch als strukturierter Vorgang begriffen werden, der aus dem Zusammenwirken von Normprogramm und Normbereich der Rechtsnorm hervorgeht und sich in die Entscheidungsnorm hinein fortsetzt. „Normativität“ bezeichnet die dynamische Eigenschaft einer Norm, also eines sachgeprägten und strukturierten rechtlichen Ordnungsmodells, sowohl die diesem zugrundeliegende Wirklichkeit zu ordnen als auch selbst durch diese Wirklichkeit bedingt zu werden168. Dagegen ist Geltung etwas, das dem 168 Müller I. – Diese Konzeption wird diskutiert z. B. bei Larenz I (2. Auflage), S. 147 ff.; Ryffel II; Luhmann III, S. 18 ff. – hierzu im Text 323.1 –; Luhmann VI, S. 282 ff., 286, 354; Denninger I; H.-P. Schneider I; Feldmann, S. 104 ff.; aufgenommen z. B. bei Esser V, S. 31; Scheffler S. 154, 157; Grimm II, S. 54, 58 ff.; Dubischar I, S. 58; Brohm, S. 250, 253; Würtenberger I, S. 134, 135; v. Baeyer, S. 28; Rinken, S. 134, 239 f.; übernommen bzw. verwertet z. B. bei Huber II; Huber III, S. 197, 199 ff.; Hesse II (7. Auflage), z. B. S. 19 f, 27 f., 129 f.; Hesse III, S. 136 ff.; Schefold S. 6, 8 f.; Fiedler, v. a. S. 50 ff.; Freihalter, S. 75 ff., 79 ff.; Koppensteiner, S. 20, 30 und f.; Goerlich I, z. B. S. 89, 184 ff.; Majewski, v. a. S. 52 ff., 60 ff., 68 ff., 74 ff., 78 ff., 86 ff.; Benz, z. B. S. 119 ff., 126; Moor II, Mastronardi, S. 51 f., 170 ff.; für das Verwaltungsrecht etwa bei Hoppe-Rengeling, S. 43 ff., 47 ff., 120 ff. – Der Sache nach inzwischen gleichgerichtet z. B. Larenz III; Starck I, v. a. S. 612 ff.; v. Olshausen. Vgl. auch Krawietz I, S. 98 ff. – Dagegen weicht Röhl der Problematik schon im Ansatz aus, z. B. S. 113 f.; vgl. etwa auch S. 309. – Die hier entwickelte Normtheorie erscheint Dubischar II, S. 62, als „ein modern-demokratisches Gegenkonzept zur Imperativentheorie“. – Sie wird ferner verwertet z. B. bei Starck II, S. 262 f., mit Nachdruck bei Hoppe, S. 644 und f.; Schmitt Glaeser, z. B. S. 108 ff., 117 ff., 119; Bopp, z. B. S. 90, 117, 118 f., 145, 146, 191 ff.; Hoffmann-Riem II, S. 470; Noack, S. 82 ff., 86 ff., 100 f.; Schwäble, z. B. S. 16, 47 u. ö.; Rupp II, S. 17 ff., H.-P. Schneider III, S. 13 ff., 20 ff., 367 ff. u. ö.; in Folgerung für die Grundrechte ebd., z. B. S. 301 f., 317, 319, 321; Scholz, z. B. S. 91 ff., 195 ff., 283 ff.; für die Verfassungstheorie bei Hufen I, z. B. S. 212 ff., 217 ff., 230; Hufen II; für die Zusammenarbeit mit den Sozialwissenschaften bei Hopt, v. a. S. 346; allgemeiner bei Arndt / v. Olshausen S. 487. – Speziell die hier vertretene Theorie der Rechtsnorm übernehmen ferner Ryffel IV, z. B. S. 159 ff., 230 ff. (Rechtsnorm als „Ordnungsmodell der Wirklichkeit“) und Larenz I, S. 183, 200, 319 f., 360 f., 364; vgl. ferner ebd. z. B. S. 236 f., 315, 343. – Die praktischen Folgerungen dieses Modells für die juristische Methodik werden jetzt stärker betont bei Hesse II, z. B. S. 25 f., 37, 120. – Zur Verwertbarkeit der Position für die Bewertung des Richterrechts ausführlich: Ipsen I, z. B. S. 24 ff., 29 ff., 70 f. u. ö. – Hoffmann-Riem I, S. 352, verbindet i. S. der
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‚geltenden Recht‘, das heißt: der Normtextmenge (der Gesamtheit aller Normwortlaute in den Gesetzbüchern) zugeschrieben wird. Die Geltungsanordnung besteht darin, Rechtspflichten zu erzeugen: gegenüber den Normadressaten169 im allgemeinen dahin, sich in ihrem Verhalten, soweit die Normtexte für dieses einschlägig er-
hier vorgeschlagenen Sicht zu Recht die Analyse des Normbereichs mit Rechtsstaatsgeboten im Rahmen der juristischen Entscheidungsprozesse; hierzu inzwischen grundsätzlich: Müller X. – Vgl. ferner die Vorschläge bei Hoffmann-Riem III, S. 23 ff., dems. IV. – Ein aufgeschlossenes Methodenkonzept liegt als Gesamtlinie auch dem Sammelband Schmidt-Aßmann / Hoffmann-Riem zugrunde. – Zur sozialwissenschaftlichen Aufgabenstellung der Normbereichsanalyse vgl. etwa Rottleuthner II, v. a. S. 206, 262 f. – Die Arbeit von Pieroth I belegt, wie das Instrumentarium dieser Rechts- und Methodenlehre zu einer rational differenzierenden Dogmatik beitragen kann. – Weitere ausführliche Nachweise zur Übernahme des hier vertretenen Konzepts sowie eingehende Diskussion bei Müller XIX, v. a. S. 274 ff., 298 ff., 314 ff., 385 ff., 400 ff. – Vgl. ferner die Debatte um diese Konzeption bei J. Hoffmann, S. 14 ff., 17 ff., 227, 232, 275 f.; Schroth, S. 68 ff.; Alexy III, S. 63 ff.; Chryssogonos, S. 79 f., 135 ff. sowie bei Harenburg S. 266 ff., 274 ff. – Die weitere Entfaltung und Präzisierung des Konzepts findet sich bei Müller XIX, z. B. S. 225 ff., 234 ff., 250 ff., 256 ff., 263 ff., 323 ff. u. ö. sowie bei dems., XXII, S. 31 ff., 41 ff., 46 ff., 53 ff. – Eingehende Diskussion bereits 1976 bei Damm, z. B. 219, 233 ff., 237 ff.; ferner etwa bei Christensen III, VI, VII, VIII; Jeand’Heur II, III, IV; Adeodato, v. a. S. 221 ff., u. ö. Übernahme zur Umsetzung in differenzierte Dogmatik z. B. bei Jeand’Heur VIII, S. 29 ff. u. durchgehend; bei Kim zur Dogmatik des allgemeinen Gleichheitssatzes; bei Dähne, S. 343 ff. zu der von Wissenschaftsfreiheit. – Grundsätzliche Würdigung bei Villacarta Mancebo I. – Zu: „Rechtsschöpfung durch Interpretation“, gestützt auf semantischen Pragmatismus: Venzke. – Übernahme des Strukturkonzepts im Licht Wittgensteins bei Arrŭda de Andrade. – Übernahme des Rechtsnormkonzepts (keine „Norm“ ante casum) bei Adeodato II, z. B. S. 144 ff., u. ö. – Wie hier über den Positivismus hinaus: Pavčnik VIII, IX sowie Moor III, z. B. S. 137 ff., u. ö. – Eingehende Verwertung für die Konkretisierung der Verfassung Brasiliens z. B. bei Macedo Silva; Vasconcellos; Reis Magalhães; Ommati; Rocha / Meyer-Pflug; Mioto dos Santos; Nascimento Reis; grundlegend bei Valladaão Ferraz. – Zum praktischen Einfluß auf die Verfassungsentwicklung (hier der Türkei) vgl. Sağlam II. 169 Die Geltung der in Kraft befindlichen Normtexte gegenüber den Adressaten setzt deren Berechtigung voraus, die gesetzlichen Vorschriften zu „verstehen“, um sie als „geltend“ in die eigenen Verhaltensweisen einbeziehen zu können. Das ist auch die Ansicht des Bundesverfassungsgerichts, jedenfalls für das Strafrecht: auch gegenüber allen (Laien-)Adressaten gelte das Verfassungsgebot der „Gesetzesbestimmtheit“; die Anforderungen der Rechtsordnung an den einzelnen müßten „schon aus dem Gesetz selbst zu erkennen“ sein und ihm die Möglichkeit eröffnen, „sein Verhalten auf die Strafrechtslage eigenverantwortlich ein(zu)richten“; BVerfGE 105, 135, 153, 155 f. m. Nw.en aus der Rechtsprechung. – Wenig hilfreich dafür ist allerdings eine Haltung, wie sie der Staatsschutzsenat des OLG Frankfurt im Urteil vom 19. 1. 1983 („Startbahn West“) exekutiert: Versuch des Angeklagten, den Tatbestandsbegriff „Gewalt“ selbst zu definieren, als strafverschärfender (!) erschwerender Umstand. – Einem Gerücht zufolge sind Juristen Leute, die erfinden, was Recht ist, und die daraufhin alle die bestrafen, die es nicht erraten. Gesellschaftlich wie ethisch untragbar und zugleich zur Herausforderung für die juristische Methodik wird dieser Sachverhalt dann, wenn das „Erfinden“ nicht nach verallgemeinerungsfähigen Regeln, sondern nach Art des „Kadis“ unter Einzelfallvorbehalt geschieht; wenn also der Inhalt „Recht“ nicht mehr erraten werden kann. Weder die Regeln noch ihr Ergebnis sind dann noch mitteilbar und für die Teilnehmer am Rechtsleben grundsätzlich antizipierbar. – Zur Frage der Verständlichkeit der Rechtssprache gegenüber allen Adressaten, also v. a. auch Nichtjuristen: Jeand’Heur XIII, z. B. S. 1286 f.
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scheinen, an diesen verbindlich zu orientieren; und gegenüber den zur Entscheidung berufenen Juristen170 im Sinn einer Dienstpflicht, diese Normtexte, soweit für den Entscheidungsfall passend, zu Eingangsdaten ihrer Konkretisierungsarbeit zu machen, sie also für das Erarbeiten einer Rechts- und einer Entscheidungsnorm tatsächlich heranzuziehen und methodisch korrekt zu berücksichtigen. Diese Verpflichtung ist mehrfach normativ begründet, und zwar – in Verbindung mit den auf den Fall zutreffenden Normtexten – durch Vorschriften wie Art. 20 Abs. 3, 97 Abs. 1 GG, durch Prozeßgesetze, Beamtengesetze und ergänzende Direktiven. 227
Unter „Normativität“ wird dabei, wie gesagt, durchgängig keine innewohnende Eigenschaft eines Gesetzestexts oder einzelner Tatbestandsausdrücke verstanden171. Wenn hier also gleichwohl bestimmte Textstufen der juristischen Entscheidungsarbeit – im Gegensatz zu anderen – als „normativ“ bezeichnet werden, dann heißt das nur, der betreffende Text sei professionell bereits so weit ausgearbeitet, so weit „konkretisierend“ fortentwickelt, daß wir nunmehr verbindlich etwas „mit ihm machen“, daß wir ihn jetzt tatsächlich ausführen können: indem etwa ein Richter aus dem Text der („normativen“) Rechtsnorm, die er erstellt hat, nunmehr durch einfache Subsumtion die Entscheidungsnorm ableitet ; bzw. indem der Ausführungsstab der Justiz(oder im Fall exekutivischer Entscheidung der Verwaltungs-) organe die Entscheidungsnorm, sobald sie rechts- bzw. bestandskräftig ist, in den positivrechtlich vorgesehenen Formen vollstreckt. „Normativität“172 in diesem Sinn zeichnet also noch nicht die Normtexte aus; wohl aber die (im Fall erarbeiteten leitsatzartigen) Texte von Rechtsnormen für die ihnen zuzuordnende Fallgruppe; und ferner die aus ihnen abgeleiteten Texte der Entscheidungsnormen für den je vorliegenden und damit entschiedenen Rechtsfall.
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Im Rahmen der unmittelbar die Rechtsbetroffenen angehenden und motivierenden „Geltung“ der Normtexte ist – und bleibt wohl auch – eine Schwierigkeit unvermeidlich: Die institutionelle Textsorte Normtext (herkömmlich „Gesetz“, „Gesetzeswortlaut“) richtet sich nicht nur an Juristen aller Ausbildungs- und Funktionstypen, sondern gleichzeitig und textlich undifferenziert an die Rechtsunterworfenen, also an bezüglich ihres rechtsinhaltlichen und rechtssprachlichen Wissens extrem unterschiedliche Adressaten. Das Ziel, Gesetzestexte (nicht zuletzt auch im Strafrecht) 170 Beide Seiten (Adressat / Jurist) vermischt BVerfGE 87, 209 ff., 224 (Zombie-Fall) auf ambivalente Weise. 171 „Nicht der Text als solcher ist normativ, sondern das, was wir mit ihm machen“; so Busse II, S. 231 f. unter Bestätigung des hier entwickelten Konzepts von der pragmatischen Linguistik aus. 172 In demselben Sinn – von der Linguistik her – formuliert als „die handlungsleitende Kraft normativer Texte“, begriffen „als Teil einer institutionalisierten gesellschaftlichen Praxis in und mit Sprache“ bei: Busse II, S. 237. – Im Gefolge der hier seit Mitte der 1960er Jahre begründeten neuen Sicht und ferner von Derrida XI, S. 87 ff. wagt – zu Recht – auch Goebel, S. 118, die „Provokation“: so lange es nicht nur um Textproduktion gehe, sondern um Normativität, sei allein der Richter der Schöpfer des Gesetzes (der Rechtsnorm).
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allen Bürgern bzw. Landeseinwohnern verständlich zu machen, beruht daher „auf einer ehrenwerten rechtstheoretischen und verfassungsstaatlichen Fiktion“173. Der Begriff „Normativität“ steht hier nicht länger positivistisch für die Geltung 229 eines Rechtstextes oder eines durch den Text angeblich schon ausgedrückten Rechtsbefehls, und ebensowenig für eine soziologistische ‚normative Kraft des Faktischen‘. Er setzt das Konzept der Norm als eines sachgeprägt strukturierten Ordnungsmodells voraus. In diesem Sinn wirkt eine Rechtsnorm dann auf eine Art, die „normativ“ zu nennen ist, wenn ein Rechtsfall durch eine ihr methodisch und rechtsstaatlich zurechenbare Entscheidungsnorm als de iure entschieden gilt. Normativität ist die Rechtsnormen zugeschriebene Fähigkeit, zu Entscheidungsnormen fortgearbeitet werden zu können und diese, soweit sie ihnen rechtsstaatlich und methodisch zurechenbar sind, dann zu rechtfertigen.
313.2 Normprogramm, Normbereich, Rechtsnorm, Entscheidungsnorm Es hat sich mehrfach gezeigt, daß eine Rechtsnorm mehr ist als der Normtext. 230 Dagegen ist nach Ansicht von Larenz174 nur ein Teil der Vorschriften von der Art, die es bei der Gesetzesinterpretation erforderlich macht, über Normtextauslegung hinauszugehen. Wo das Gesetz durch abstrakt-allgemeine Gattungsbegriffe seinen Anwendungsbereich genau festlege, könne sich die Rechtsarbeit als bloße Subsumtion vollziehen. Erst außerhalb abstrakt-allgemeiner Gattungsbegriffe bedürfe es, als Voraussetzung der Rechtsanwendung, einer Typenbildung und damit auch eines Heranziehens von Argumenten aus dem Normbereich. Das Gegenüberstellen von Begriff und Typus wird von Larenz u. a. damit begründet, daß der Begriff keine Abstufung seiner Merkmale zulasse. Diese Trennung von Typus und Begriff macht jedoch die Schwierigkeiten seiner Position deutlich: Zwar gelingt es Larenz, die Schwächen der traditionellen Logik und der ihr entsprechenden Begriffslehre aufzudecken. Aber die Ausarbeitung seines Gegenvorschlags legt als logische und definitionstheoretische Prämissen ungefragt zugrunde, es handle sich bei „Typen“ um unscharfe Klassenbegriffe und damit um eine Abweichung von den allein korrekten klassifikatorischen Begriffen. Schon deshalb kann die Larenzsche Lehre vom Typus nicht berücksichtigen, daß die moderne Logik175 und Wissenschaftsleh173 Busse VI, der vom „Dilemma der adressatenbezogenen Spezifizierung“ spricht; ebd., S. 33 ff.; vgl. a. Nussbaumer III, S. 92 ff. 174 Larenz I, S. 130 (5. Auflage); modifiziert in der 6. Auflage, S. 133 f.; vgl. dazu auch Christensen I sowie Müller XIX, S. 147 ff., 234 ff., 267 ff. – Noch für Looschelders / Roth, S. 86 ff., ist die „Struktur der Rechtsnorm“ nur mit dem altbekannten Unterschied von Tatbestand und Rechtsfolgeanordnung gleichzusetzen. – Auf derselben Grundlage die Ausführungen bei Pavčnik IV: „die Rechtsnorm“ wird keiner neuartigen rechtstheoretischen Befragung gewürdigt. – Dagegen aufgeschlossen für das strukturierende Konzept „Rechtsnorm“ unter vielen Anderen z. B. Moor III im Rahmen seiner Rechtstheorie, etwa S. 157 f. 175 In der modernen Logik gibt es zum Teil die Tendenz, Entscheidungen auch dann zu erlauben, wenn die vorhandenen Informationen unvollständig oder ungenau sind. Diese soge-
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re in Form der komparativen Begriffe eine Abstufung von Eigenschaften durchaus zulassen. 231
Die Gegenüberstellung von Begriff und Typus auf der Ebene der Begriffslehre ist somit nicht schlüssig. Der Wirklichkeitsbezug eines Normtextes hängt nicht von der Unterscheidung von Begriff und Typus ab. Nicht die Begriffslehre bietet den entscheidenden Ansatzpunkt, sondern die Frage, wie Normtext und soziale Wirklichkeit in der Rechtsnorm strukturell verbunden sind. Diese Frage muß auf der Ebene des Textes und nicht auf der isolierter Begriffe diskutiert werden176. Dieser Ansatz erlaubt es, die Eigenart juristischer Begriffe als sachbezogene, ordnende Abkürzungsformeln für Inhalte zu bestimmen, von denen sie nicht etwa abstrahieren, sondern die sie gegenüber ihrem nicht normierten Dasein zu einem Aliud umformen. Bei dieser Umformung bewahrt die Rechtswissenschaft eine funktionelle Beziehung zu den genetisch vorhergehenden, von anderen Wissenschaften geprägten oder vorwissenschaftlichen Begriffsgebilden. Auf dieser Grundlage kann für jeden Gesetzestext zwischen dem Selbstaussagewert des Normtextes und seinem Verweisungscharakter unterschieden werden, so daß im Unterschied zum verdeckten Einbeziehen von Sachelementen im Verlauf begriffsjuristischer Deduktionen ein kontrolliertes Einbeziehen der Sachelemente möglich wird.
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Erst aus der Bearbeitung des Normtextes, mehr noch: aus der Verarbeitung sämtlicher Sprachdaten gewinnt der Rechtsarbeiter zunächst das Normprogramm177, den herkömmlich so verstandenen „Rechtsbefehl“. Gleichrangig gehört zur Norm der Normbereich, d. h. der Ausschnitt sozialer Wirklichkeit in seiner Grundstruktur, den das Normprogramm aus dem allgemeinen Regelungsbereich der Rechtsnorm auswählend zu bestimmen erlaubt. Der Normbereich kann rechtserzeugt sein (Vorschriften über Fristen, Termine, Formvorschriften, Institutions- und Verfahrensregeln usw.) oder nicht rechtserzeugt (vgl. Art. 1 Abs. 1, Art. 3 Abs. 2 und 3, Art. 4 Abs. 1, Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG und vergleichbare Vorschriften)178. Es ist nicht notwendig so, daß bei rechtserzeugtem Normbereich dessen Analyse nichts Eigenes gegenüber der Arbeit mit den Sprachdaten und ihrem Ergebnis, dem Normprogramm, beitragen könnte. Vielmehr kommt es auch hier auf den Falltypus an. Bei Vorschriften über den Aufbau von Institutionen (zum Beispiel: Gerichtsbarkeit) oder bei der Normierung von Kompetenzen bezüglich rechtserzeugter Normbereinannte Fuzzy Logic wird gelegentlich auch in der Jurisprudenz angewendet. Vgl. dazu Krimphove I, Philipps II. Kritik an der Reichweite dieser Versuche bei Röhl III, S. 114. – Siehe auch Joerden, S. 341 ff. 176 Christensen I; Müller XIX, S. 375 ff. – „Ein interaktionistisches Verhältnis zwischen Normprogramm und Normbereich“ unterstreicht Weimar IV, S. 365; zu Recht kritisch gegenüber „offenen Typusbegriffen“: Weber-Grellet. 177 Dieser Begriff wird vom Bundesverfassungsgericht aufgenommen in: NVwZ 1998, S. 51. 178 Beispielsweise in BVerfGE 88, 145 ff. (Konkursordnung), 149 f., 167 f. werden nichtrechtserzeugte („grundlegende Veränderungen … des Wirtschaftslebens“) und rechtserzeugte („rechtliche Rahmenbedingungen“) Sachbereichs- / Normbereichsfaktoren zugrundegelegt.
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che (vgl. die zahlreichen Beispiele in den Kompetenzkatalogen der Art. 73 ff. GG) können empirische Ergebnisse der Planungswissenschaft, der Bürokratieforschung, der Organisationslehre und ähnliches eine wichtige Rolle spielen, soweit die zu entscheidenden Rechtsfragen mit dem inhaltlichen Funktionieren der Institutionen zu tun haben. Wo es dagegen179 nur um das Abgrenzen solcher Kompetenzen oder Organisationsbereiche geht, etwa bei Fragen prozessualer Zuständigkeit, beschränkt sich die Konkretisierung auf Interpretation, also auf Normtextbehandlung und das Erarbeiten eines Normprogramms. In den meisten Fällen weist der Normbereich sowohl rechtserzeugte als auch 233 nicht-rechtserzeugte Bestandteile auf. So sind im Normbereich von Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG die tatsächliche Konstituierung politischer Richtungen und Bestrebungen und ihre jeweilige inhaltliche Programmatik nicht rechtserzeugt, wohl aber die rechtlichen Formen der Gruppierung wie: nichtrechtsfähiger Verein, rechtsfähiger Verein usf. Innerhalb des Normbereichs von Art. 6 Abs. 1 GG sind die Personengemeinschaften in ihrem tatsächlichen Zustandekommen nichtrechtlichen Ursprungs; wohl aber sind die bestimmten Formen, in denen diese Rechtsordnung Personengemeinschaften als „Ehe“ und „Familie“ anerkennt und schützt, rechtlich begründet und begrenzt180. Der Normbereich von Art. 9 Abs. 3 GG ist sowohl sachlich enger umschrieben wie stärker geregelt als der von Art. 9 Abs. 1. Das im Ausgang vom Normtext durch umfassende Sprachauslegung formulierte Normprogramm bestimmt in seinem Umfang wie in seiner Abgrenzung denjenigen Ausschnitt sozialer Realität, der nicht nur irgendwie in Zusammenhang mit dem „Rechtsbefehl“ stehen, sondern der sachlich mitkonstituierend zur Norm gehören soll. Normbereiche wie die des 8. Abschnitts des Grundgesetzes (Art. 83 ff. GG) oder wie beispielsweise solche, die sich auf die Rechtsprechung beziehen (Art. 92 ff. GG), erweisen sich, so wie sie von den entsprechenden Normtexten und Normprogrammen umschrieben werden, als so gut wie vollständig rechtserzeugt und damit als genauer und zuverlässiger bereits im Normtext formulierbar denn die Normbereiche von Grundrechten oder verfassungsrechtlichen Grundsatznormen (wie Art. 20, 21, 79 Abs. 3 GG u. ä.). Im Verfassungsrecht zeigt es sich besonders deutlich, daß eine Rechtsnorm
179 So bei Rechtswegfragen zwischen verschiedenen Gerichtsbarkeiten, deren Funktionieren im einzelnen im vorliegenden Fall noch gar nicht zur Debatte steht; z. B. in dem bei Müller IX behandelten Fall, wo es sich um die Zuweisung einer Rechtsstreitigkeit entweder zu den Verwaltungsgerichten oder zur ordentlichen Gerichtsbarkeit handelt. 180 Die hier entwickelte Auffassung wird z. B. von Höfling, S. 97 aufgegriffen und seiner Untersuchung zugrundegelegt. – Jeand’Heur VI verwertet das strukturierende Konzept überzeugend für das Jugend- und Familienrecht, vgl. ebd., S. 36 f. u. durchg.; noch erheblich umfangreicher u. intensiver ders. VIII; Aubel stützt sich für die Dogmatik der Leistungsgrundrechte (am Beispiel von Art. 6 Abs. 4 GG) auf umfangreiche Erörterungen von Sach- und Normbereichsfaktoren; so (zu Leistungsansprüchen aus Art. 7 Abs. 4 GG) bereits Müller / Pieroth / Fohmann. – Derani gründet ihre Analyse des Umweltwirtschaftsrechts auf die strukturierende Rechtslehre und Methodik. – Dem allgemeinen Gleichheitssatz gilt die durchweg normstrukturierend arbeitende Studie von Kim. – Zur möglichen Rolle dieses Ansatzes für die Implementations- und Evaluationsforschung: Uebersohn, S. 88 ff., 100 f. u. ö.
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kein gegenüber ihrem Regelungsbereich isolierbares hypothetisches Urteil ist, keine der Wirklichkeit autoritativ übergestülpte Form, sondern eine ordnende und anordnende Folgerung aus der Sachstruktur des geregelten Sozialbereichs. Dementsprechend erweisen sich „normative“ und „empirische“ Elemente des fallentscheidenden Rechtsbildungs- und Begründungszusammenhangs als vielfach aufeinander angewiesen und insofern als von gleichrangiger Wirkung. Innerhalb des tatsächlichen Vorgangs praktischer Rechtskonkretisierung sind „Recht“ und „Wirklichkeit“ keine selbständig je für sich bestehenden Größen. Die Anordnung und das durch sie Geordnete sind prinzipiell gleichrangig wirksame Momente der Konkretisierung von nur relativer Unterscheidbarkeit181. Was rechtlich normativ wirkt, erweist sich im Einzelfall aufgrund eines Zusammenspiels von Gesichtspunkten, die in der Rechtsphilosophie herkömmlich als abstrakte Metaphern wie „Norm“ und „Faktum“ bzw. als deren gleichfalls abstraktes „Verhältnis“ auftauchen. Die Grundstruktur der vom Normprogramm zu ordnenden Lebensverhältnisse, in der Rechtsprechung nicht zufällig, wenn auch eher verdeckt als offen, immer wieder zum Bestandteil der Konkretisierung gemacht, prägt die normative Wirkung der Rechtsnorm. Soweit sie in diesem Sinn zum Normbereich gehört, erweist sie sich rechts(norm)theoretisch wie methodisch als Element der rechtlichen Regelung. Auch in dieser Hinsicht wird verständlich, warum ein Rechtssatz nicht einfach „anwendbar“ ist, wie der Gesetzespositivismus annehmen wollte. Ausgehend vom Normtext, regelt vielmehr der Rechtsarbeiter über die Zwischenstufe der Rechtsnorm schließlich den konkreten Einzelfall in Gestalt der Entscheidungsnorm. Diese ist keine selbständige Größe neben der Rechtsnorm. Sie ist deren jeweils von einem bestimmten Fall her und auf seine verbindliche Lösung hin abschließend individualisierter Aggregatzustand, d. h.: sie muß ihr methodisch zugerechnet werden können. Mit der Erzeugung der Entscheidungsnorm gewinnt die Tätigkeit des Rechtsarbeiters ihren prägnantesten, praktischsten Ausdruck. Hier wird soziale Realität normativ verändert, in der jeweiligen Schlußaussage „Entscheidungsnorm“ wird juristisches Handeln unmittelbar rechtsverbindlich. Sieht man diesen wesentlichen, weil normativen Aspekt von Rechtsarbeit, ist es nicht nur gerechtfertigt, sondern auch geboten, die Betonung auf Entscheidungs„norm“ zu legen und diesen Begriff beizubehalten182. 181 Als deutliches Beispiel für den Versuch einer Transformation (finanz- und wirtschafts-) wissenschaftlicher Einsichten (bzw. Begriffe) aus einem Normbereich in Normprogramme vgl. das Stabilitätsgesetz, etwa §§ 1, 15, 19 StabG, und Art. 109 Abs. 2, 4 GG. – Zum praktischen Einfluß des vorliegenden Normbereichskonzepts (v. a. für die Grundrechte) auf die Verfassungsentwicklung in der Türkei vgl. Sağlam II. 182 Dies vor allem in Antwort auf Sendler, S. 3240, der bezweifelt, „ob man von ‚Entscheidungsnorm‘ sprechen sollte, wo man … den Entscheidungstenor meint; dieser betrifft nun einmal den konkret-individuellen Fall, also nichts Generell-Abstraktes, was man gemeinhin unter einer Norm versteht“. Abgesehen von der im Text genannten unmittelbar verbindlichen Relevanz der Entscheidungsnorm, verkennt Sendler den Normbegriff, den er noch im Sinn des Gesetzespositivismus des 19. Jahrhunderts verwendet. „Norm“ ist jedoch heute unter den Vorgaben des Grundgesetzes nicht mehr notwendig mit einer abstrakt-generellen Regelung gleichzusetzen. – Zur Kritik an Sendler s. a. Goebel, S. 131.
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313.21 Beispiel: Zur Struktur des Plans Beim Plan ist der Normbereich gelegentlich so genau formuliert wie selten bei Rechtsvorschriften. Daher lassen sich Normbereich und Normprogramm in ihrer Nichtidentität wie in ihrer Bezüglichkeit und methodischen Wechselwirkung dann besonders gut studieren. Es gibt verbindliche Pläne, unverbindliche Pläne und solche, deren normativer 234 Charakter ganz oder zum Teil ungesichert ist. Das Verbindlichmachen selbst erscheint als Entscheidung: daß diese Struktur aus Normbereich und Normprogramm (einer noch potentiellen Norm) nunmehr wirken, daß sie auf die Art der Rechtsregel als verbindlich behandelt werden soll. Dieses „Daß“ ist in der Tat als solches Dezision und Befehl; allerdings kommt es auch in dieser Form weder sachlich noch politisch aus einem Nichts. Anders verhält es sich mit dem Ergebnis, mit dem dann verbindlichen Plan, der dann geltenden Rechtsvorschrift, die das Arbeitsfeld des Rechtspraktikers und des Rechtswissenschaftlers bestimmt. Der normative Plan, die im Fall erarbeitete Rechtsnorm erweisen sich, einmal als verbindliche Regeln begründet, als sachbestimmte Ordnungsmodelle, die der Dezisions-Ideologie jedenfalls so lange spotten, als der Rechtsstaat funktioniert. Diese Beobachtungen lassen sich politisch-genetisch wie theoretisch-strukturell mehr oder weniger offenkundig an jeder Rechtsnorm machen. Sie werden aber aus den genannten Gründen – wegen der Deutlichkeit der Normbereiche, wegen der Fraglichkeit des Normcharakters bzw. wegen der Unterscheidung unverbindlicher und verbindlicher Planungsstadien – an der verhältnismäßig jungen Lenkungsfigur des Plans manchmal beispielhaft klar183. 183 Sachhaltige Rechtsnormen sind als „Modelle“ dem Plan strukturell verwandt; vgl. dazu auch Dubischar II, S. 56 ff. – Das heißt aber auch: der Plan ist exemplarisch für Normen. Für die Gesetzgebungslehre sollte überlegt werden, wie weit Normtexte wie Pläne formuliert werden können, d. h. v. a. mit explizit umschriebenen Normbereichen (Voraussetzungen, Rahmenbedingungen, Zielen, Mitteln, Unsicherheitsfaktoren, Trends, Revisionsmöglichkeiten im Bereich der Regelungsmaterie). – Ähnlich – strukturelle Entsprechungen, Verschiedenheit v. a. in der Frage der Verbindlichkeit – verhält es sich mit Normtexten und Plänen auf der einen, mit entscheidungswissenschaftlichen Modellen auf der andren Seite. – Zur Struktur von Normen des Planungsrechts auf der Grundlage der hier vorgeschlagenen Rechtsnormtheorie z. B. Hoppe, S. 644 f.; ebenso die differenzierten Untersuchungen bei Hufen II. – Die praktischen Fragen der Gesetzgebungslehre betont G. Müller; breiter ansetzend: Noll. – Wertvolle Materialien und Analysen für eine strukturierende Gesetzgebungslehre bei F. Vogel. – Die im Text folgende Referenz auf Hobbes: Leviathan (London 1651), Cambridge 1991, S. 240: „All words are subject to ambiguity; and therefore multiplication of words in the body of the law, is multiplication of ambiguity“. – John Locke, weniger realistisch, verurteilt Polysemie und Homonymie als „Unvollkommenheit der Wörter“ unter Gesichtspunkten der Rationalität und sogar der Moral, S. 101, 117 f. – Da Rechtssprache natürliche Sprache ist, gilt das oben im Text folgende auch für die Entscheidung: der Rechtsfall kennt in der Regel nicht nur „eine einzige richtige“, sondern mehr als nur eine vertretbare. Die Rechtspraxis bestätigt das ständig: so, wenn nur Vertretbarkeitskontrollen durchgeführt werden (z. B. BVerfGE 82, 6, 13; 87, 273, 280 f.; 96, 56, 63); dazu Pieroth / Aubel, S. 507; oder wenn ein ganzes praktisches Rechtsinstitut wie die verfassungskonforme Auslegung seit BVerfGE 2, 266, 282 geradezu darauf beruht, daß mehr
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Rechtssprache, auch die der Gesetzgebung, ist natürliche Sprache; sie kann nicht „eindeutig“ (= mehr als eine Bedeutung ausschließend) formuliert werden. Aber innerhalb der Bedeutungsvarianz natürlicher Sprache ist es sinnvoll (und rechtsstaatlich / demokratisch geboten), sich um Genauigkeit, Explikation, Aufrichtigkeit des Vor-Schreibens zu bemühen: „lokale“, jedenfalls eine begrenzte Strecke weit reichende Rationalität (z. B. durch Anfügen typischer Beispiele, Vermeiden von Widersprüchen, systematisches Abstimmen der Normtexte auch in bezug auf die geregelten Bereiche). Auf diese Weise kann zwar nicht die grundsätzliche Mehrdeutigkeit (Polysemie) der natürlichen (Rechts-)Sprache aufgehoben werden, wohl aber die „Vervielfältigung der Mehrdeutigkeit“ eingeschränkt, die schon Thomas Hobbes speziell für die Sprache der Rechtsordnung bemerkt hatte. 313.3 Normbereich 235
Die Rechtsprechung bezieht sich in ihren Entscheidungen durchweg auf Elemente aus der jeweils geregelten Sachstruktur – also neben den individuellen Tatsachen des Einzelfalls auch auf generelle Tatsachen des fraglichen Bereichs. Das liegt auch sehr nahe, wenn man bedenkt, daß das Recht ein soziales Phänomen ist. Es ist aber verwunderlich, wenn man vom herkömmlichen Selbstbild der Jurisprudenz ausgeht: „Die Rechtswissenschaft versteht sich traditionell nicht in erster Linie als Wissenschaft von der Herstellung richtigen Rechts oder als Wissenschaft von der richtigen Herstellung des Rechts. Sie will vielmehr vor allem Wissenschaft von richtigem Verständnis und der richtigen Anwendung des geltenden Rechts sein. Im Zentrum steht die Rechtsdogmatik.“184 Mit einem Verständnis der Jurisprudenz als angewandter Geisteswissenschaft185 wollte man in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts ihre Autonomie vor den andrängenden Sozialwissenschaften schützen.186 Schon in der damaligen Diskussion wurde aber darauf hingewiesen, daß Ergebnisse der Sozialwissenschaften in der Praxis der Gerichte bereits wirksam sind.187 Theoretisch konnte sich das auf die Strukturierende Rechtslehre stützen, die bereits Mitte der 60er Jahre die Grundlagen hierfür ausgearbeitet hatte („Normstruktur und Normativität“, 1966). Dies wurde jedoch vom damaligen Mainstream, das heißt von der Sicht juristischer Tätigkeit als einer rein dogmatischen Exegese verdrängt. Als ein Versuch zur Korrektur dieses blinden Flecks wurde 1971 das Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie gegründet188. als nur eine vertetbare Interpretation und Entscheidung möglich ist – auszuwählen ist demnach „im Zweifel eine verfassungskonforme“ (ebd.). 184 Grimm / Maihofer, S. 9, im Vorwort. 185 Vgl. dazu Engisch II, S. 7 ff., m.w. N. auf S. 229, in Fn. 60. 186 Vgl. zu dieser Diskussion Rottleuthner II, S. 295 ff.; Schünemann; Hopt; Heldrich I; Opp II, S. 41 ff. sowie van Aaken, S. 23 ff. 187 Vgl. dazu grundlegend Jost II, S. 57 ff.; Heldrich II, S. 74 ff.; Lübbe-Wolff; Sambuc; Deckert; van Aaken, S. 23 ff. 188 Vgl. die Einleitung des Jahrbuchs 1972, Band 2.
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Die Situation hat sich mittlerweile gewandelt. Für die Lehre von der Gesetzgebung ist das Berücksichtigen sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse heute in Theorie und Praxis selbstverständlich.189 Nur in der juristischen Methodik der Fallentscheidung bildet sie für viele noch immer ein Problem.190 Man glaubt zwar an die faktische Kraft des Normativen, aber man hütet sich vor der normativen Ausstrahlung des Faktischen. Für den Versuch, die praktische Vorgehensweise der Gerichte in Theorie zu fassen, war zunächst von analytischen Ansätzen in Philosophie und Rechtstheorie wenig zu erwarten. Diese setzten auf eine von der Welt isolierte Sprache, sie fielen damit hinter ihren eigenen Beginn zurück.191 Bei Wittgenstein war die Analyse der Sprache in den Begriff der Lebensform eingebettet.192 Er faßte Sprache als einen der Aspekte eines umfassenden Standes des Menschen in der Welt und wollte sie damit gerade nicht isoliert verstehen, sondern als Teil einer umfassenden Welterschließung. In der Rezeption von Wittgensteins Ansatz ist dieser umfassende Charakter des Begriffs Lebensform jedoch meist vernachlässigt worden. Diese Verkürzung erklärt sich zum Teil aus dem Erfolg der sprachanalytischen Methode.193 Sie präzisierte alte Probleme und eröffnete neue Perspektiven. Daher konnte man eine Zeit lang glauben, sie liefere eine Antwort auf alle Fragen der Philosophie. Der so genannte linguistic turn194 wurde deswegen häufig verkürzt verstanden: es genüge, die Sachuntersuchung durch die Analyse des Sprechens über das Problem zu ersetzen. Die Ontologie wurde so zur Metaontologie und die Ethik zur Metaethik. Man thematisierte nur noch das Sprechen über die Phänomene, nicht mehr die Phänomene selbst. Auch im Recht wäre danach nicht das normative Orientierungsproblem, sondern allein die Art des Sprechens über das Recht zu betrachten. Das wäre dann die entscheidende, die fundierende Schicht der Rechtstheorie. Der Bezug zur Wirklichkeit bliebe ausgeklammert. So gelangt man zu einem Reduktionismus, der als Grundlage für die Lösung einer Frage nur die Sprache zuläßt. Vor allem die so Vgl. dazu Noll; H. Schneider, S. 9. Heute gibt es allerdings schon eine große Anzahl von fundierten Ansätzen zur Einbeziehung der Sozial- und Textwissenschaften in den methodischen Kernbereich der Jurisprudenz. Vgl. dazu Morlok / Kölbel, S. 387 ff.; Wolff / Müller; J. Schmid / Drosdeck / D. Koch; Löschper; van Aaken. 191 Vgl. dazu Rorty, S. 283 ff. Er macht den Versuch, den methodischen Purismus, der alles auf Sprache reduziert, zu überschreiten und nennt dies eine unreine Sprachphilosophie. In der Theorie verliert die Sprachphilosophie damit ihre Stellung als prima philosophia, die ihr von mancher Seite zugeschrieben worden war. – Die Parallele zur Strukturierenden Rechtslehre fällt ins Auge, die sich schon vorher (seit der 1. Auflage 1984) als „entschieden unreine“ Rechtstheorie konstituiert und dargestellt hatte. 192 Vgl. zu diesem Begriff bei Wittgenstein: J. Schulte, S. 142. 193 Die sprachanalytische Philosophie hat sicherlich das zentrale Verdienst, die so genannte Sprachvergessenheit in der Philosophie überwunden zu haben. Vgl. zu diesem Stichwort Wellmer II, S. 7 ff. Auch Habermas betont, daß nur die Reflexion der Sprache aus der klassischen Metaphysik herausgeführt habe. Vgl. dazu J. Habermas VII, S. 52 ff. 194 Zum Begriff vgl. Bergmann, S. 417 ff. 189 190
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genannte normalsprachliche Variante des linguistic turn wird als Rechtfertigung für diese methodische Verarmung angeführt. In seiner praktischen Vorgehensweise war aber schon der normalsprachliche Ansatz selbst sensibel für die Problembereiche, welche den Reduktionismus in Schwierigkeiten bringen. Das waren vor allem die Frage der Übersetzung von einer Sprache in die andere, der Einfluß der sozialen Praxis normativer Bewertung von sprachlichen Äußerungen auf die Bedeutung sowie der Zusammenhang von Sprache und Geist und der von Sprachwissen und Weltwissen.195 Offensichtlich wurde das Scheitern des methodischen Purismus196 mit dem Fortgang der Diskussion um den semantischen Holismus197. Durch diese so genannte postanalytische Wende198 wurde klargestellt, daß Sprache eben das erfüllt, was Spinoza für die Welt199 und Hegel für den Geist200 behauptet hatten: Sprache ist holistisch. Das heißt, Bedeutung kann nicht als ein gegebenes Einzelnes erfaßt werden, sondern nur aus der Beziehung eines sprachlichen Elements zu allen anderen. Damit war man zunächst beim Bedeutungsholismus angekommen. Doch aus dieser Diskussion wird deutlich, daß der Holismus wie ein rutschiger Abhang wirkt201, auf dem man nicht so schnell Halt finden kann. Deswegen konnte die Entwicklung dabei nicht stehen bleiben. Sprache läßt sich nicht isoliert begreifen. So wenig wie die Bedeutung eines Ausdrucks ist sie ein gegebenes Einzelnes, welches allein aus sich selbst verstanden werden könnte. Sprache ist tatsächlich, wie es schon Wittgenstein erarbeitet hatte, in eine Lebensform eingebettet. Die Beziehungen zwischen sprachlichen Elementen sind nur dann bestimmbar, wenn man die soziale Praxis der gegenseitigen Beurteilung der Sprecher berücksichtigt und deren an praktische Probleme gebundenes Weltwissen kennt.202 Wenn man nun Sprache holistisch auffaßt, so hat das die methodische Folge, daß man weder die Elemente noch ihre Beziehungen als je einzeln Gegebenes begreifen kann. Rein sprachlich betrachtet, sind die Beziehungen zwischen den sprachlichen Elementen unbestimmt. Erst Vgl. dazu Winch, S. 3 ff. Heute entwickelt sich die Sprachreflexion in Richtung einer Erweiterung der Reflexionsgrundlage, die man häufig als eine Reihe von turns bezeichnet. Der performative turn und medial turn wären dann die wichtigsten dieser Wendung. Vgl. dazu Stetter; M. Vogel; Mersch. 197 Vgl. dazu G. W. Bertram / J. Liptow. 198 Vgl. dazu Bertram, S. 14: „Unter postanalytischer Philosophie verstehe ich die Philosophien, die von den Arbeiten Willard van Orman Quines und Wilfried Sellars’ zentrale Impulse erhalten haben. Für diese Philosophien ist u. a. charakteristisch, daß sie den analytischen Impuls mit pragmatistischen Motiven verbinden (…) Wegweisende Arbeiten der so charakterisierten Richtung stammen von Donald Davidson und John McDowell.“ 199 Vgl. dazu Deleuze, S. 147 ff. 200 Vgl. dazu Stekeler-Weithofer; Brandom, S. 355 ff. 201 Vgl. zum Bild des rutschigen Abhangs generell J. Fodor / E. Lepore / R. B. Brandom / P. Churchland / M. Devitt / G. Rey, S. 637 ff. 202 Als Ansatz, der diese Elemente verbindet, vgl. Bertram, S. 123 ff.; zur Welthaltigkeit der Sprache S. 171 ff.; zur Sprachpraxis S. 100 ff. 195 196
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wenn man sie als zusammen mit anderen Strukturen mitkonstituiert203 behandelt, gewinnen sie Bestimmtheit. Diese anderen Strukturen sind die Lösung praktischer Probleme sowie die soziale Praxis, in der Sprecher sich wechselseitig beurteilen. Um die Bestimmtheit einer Struktur artikulieren zu können, bedarf es einer weiteren Struktur. Das zeigt sich schon am Zeichen mit seinen beiden Teilen aus Zeichenkörper und Bedeutungswert. Das Verhältnis dieser Strukturen wird in der postanalytischen Philosophie allerdings dynamischer aufgefaßt als im Strukturalismus204. Dieser wollte Zeichen und soziales Bewußtsein wie die zwei Seiten eines Blattes miteinander verbunden sehen. Beide Seiten verlieren dadurch ihren Eigenwert, das Modell wird statisch. Bei der Frage nach der Dynamik der Zeichenprozesse liegt nun aber der Ansatzpunkt postanalytischer Philosophie. Der Zusammenhang von Sprache und Welt wurde in der neueren philosophischen Tradition vor allem von der Hermeneutik hervorgehoben. Hans-Georg Gadamers „Wahrheit und Methode“ betont die „Sachhaltigkeit der Sprache“205. Allerdings wird das Programm einer Entfaltung dieser Sachhaltigkeit bei Gadamer nicht ausgeführt. Die hermeneutischen Ansätze bestanden im wesentlichen nur darin, den Zusammenhang von Sprache und Weltwissen zu benennen. In § 15 von „Sein und Zeit“ hatte bereits Heidegger das Vorhaben erörtert, aus nicht-sprachlichen Praktiken die Begriffe zu gewinnen, mit denen sprachliche Ausdrücke bestimmt werden können.206 Diesen Gedanken des Begreifens sprachlicher Praktiken von nicht-sprachlichen her hat Gadamer mit dem Topos der Sachhaltigkeit der Sprache aufgenommen, ohne ihn noch genauer zu fassen. In der Rechtstheorie hat die Strukturierende Rechtslehre seit Anfang der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts (in publizierter Form seit 1966) dieses Manko aufgegriffen und das Konzept der Normstruktur (unter anderem mit dem methodologischen Element des Normbereichs) ausgearbeitet. Ausgangspunkt ist die vortheoretische Intuition, daß wir Sprache nicht verstehen könnten, wenn sie nichts mit der Welt zu tun hätte. Auch in der Sprache des Rechts wird über etwas gesprochen. Aber dies ist nicht so zu verstehen, daß eine schon vorher fertige Sprache mit einer schon vorher fertigen Welt nachträglich in Beziehung gesetzt würde. Es geht nicht um zwei voneinander unabhängige Größen, die erst der Sprecher zusammenbrächte. Es handelt sich vielmehr um einen untrennbaren Zusammenhang zweier heterogener Größen. Die Normtexte sind auf wirkliche Probleme bezogen, und diese Probleme sind nur in Sprache artikuliert (sekundär sprachliche Elemente der Konkretisierung). Es handelt sich um eine nicht-reduktionistische Methode, welche weder die Welt auf die Sprache zurückführt noch die Sprache auf die Welt. Es geht vielmehr um das an203 204 205 206
Vgl. dazu Bertram, ebd., S. 193 ff. Vgl. dazu Bertram, ebd., S. 191 ff. Gadamer, S. 449. Vgl. dazu Heidegger, § 15.
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spruchsvolle Vorhaben einer Mit-Konstitution von Bedeutung des Normtexts und geregeltem Wirklichkeitsausschnitt. Die Strukturierende Rechtslehre bezieht sich zur Präzisierung des Problems auf Wittgenstein und dessen Begriff der Lebensform207. Das tatsächliche Operieren des Normbereichs wird durch den Zusammenhang von sprachlichen und nicht-sprachlichen Praktiken begründet und ist dann Gegenstand eingehender Analysen. Nicht-sprachliche Sachverhalte sind zunächst durch eine Verweisungsstruktur gekennzeichnet. Das Handeln trifft nicht auf isolierte Gegenstände, sondern stets auf Gegenstände in Beziehungen.208 In diesen sind „Gegenstände“ solche Elemente, die im Handeln einen Unterschied machen. Wir finden die Struktur von Praxis bereits vor. Wir beginnen immer inmitten einer schon etablierten Praxis. „Reine“ Anfänge lassen sich nicht finden. Aber auch diese Bestimmtheit von Strukturen ist nicht allein aus sich verständlich. Die Unterschiede innerhalb der Welt müssen dazu in Sprache artikuliert sein. Man kann weder die Sprache auf die Welt noch die Welt auf die Sprache reduzieren. Beide Strukturen verweisen aufeinander. Ohne die dazu gehörende Praxis wäre Sprache unbestimmt, und ohne Sprache wäre die Praxis nicht artikuliert: sie kann artikuliert werden durch Rückgriff auf frühere Strukturierungen. Darin liegt die Leistung der Sprache, die ihrerseits durch neue Kontextualisierungen weiterentwickelt wird. Bei alldem ist die Sprache kein Begriffsschema, das man einer amorphen Welt überstreifen würde.209 Die Arktis wird nicht erst durch die Unterscheidungen und Abstufungen im Begriff „Schnee“ geschaffen210. Vielmehr führen praktische Probleme im Umgang mit der Lebenswelt zu sprachlichen Differenzierungen, die dann in der Folge ein weiteres Ausdifferenzieren der Praxis erlauben. Die Strukturen der Praxis und die der Sprache sind allerdings nicht homolog. Es handelt sich nicht um eine Entsprechung von Element zu Element. Statt einer punktuellen geht es um eine weiträumige Beziehung211. Das Verknüpfen von Sprache und Welt erfaßt auf beiden Seiten eine Vielzahl von Elementen. Verbunden sind nicht einzelne Elemente, sondern Ensembles von Praxis und Sprache. Es handelt sich um eine Ko-Evolution heterogener Strukturen. Es gibt immer mehr Dinge als Worte und mehr Worte als Dinge. Die Welt wird von der Sprache nicht geschaffen und sie ist nicht vollständig unabhängig von ihr. Sie meldet sich in der Sprache als Widerstand und Beharrlichkeit212. So zwingt die Mit-Konstitution von Sprache und Praxis dazu, den Gegensatz von Realismus und Konstruktivismus zu überschreiten. F. Müller X, S. 34 ff.; ders. XIX, S. 240, 376. Vgl. dazu Heidegger, § 15. 209 Vgl. dazu Davidson I, S. 261 ff. 210 So der häufig formulierte Gedanke, daß man in der Wahrnehmung nur das unterscheiden könne, was man auch in der Sprache unterscheiden kann. Dies vor allem im Anschluß an Whorf, S. 261 ff. Zur Kritik Bertram, S. 186 ff. 211 Bertram, S. 189. 212 Bertram, S. 193. 207 208
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Wir sind im Handeln weder reine Empfänger noch reine Setzer; sondern wir sind Schnittstellen, die mit der Aporie von Realität und Konstruktion zu leben gelernt haben. Wie ist nun der Widerstand der Realität bei der Konstruktion von Normen zu fassen? Das Konzept der Normstruktur verknüpft rechtlich explizite Regeln mit praktisch impliziten und technischen Standards und eignet sich so zum Erfassen und Strukturieren der Mit-Konstitution von Sprache und Welt. In Deutschland hat etwa das Bundesverfassungsgericht das Rundfunkverfassungsrecht unter ausdrücklichem Bezug auf den Begriff „Normbereich“ vorbildlich entwickelt. Die Entscheidungen über das Ordnungsmodell der Medien verknüpfen politische mit technischen und ökonomischen Vorgaben. Das öffentlich-rechtliche Grundrechtsregime wird dabei vom Gericht nicht aufgegeben, sondern unter Berücksichtigung der ökonomischen und technischen Strukturen modifiziert. So können die Medien ihren Informationsauftrag für die Demokratie erfüllen, ohne den politischen Vorgaben ganz untergeordnet zu werden. Die methodische Arbeit mit dem Normbereich bewährt sich dabei in den vielen Abgrenzungsproblemen des Medienrechts, wie z. B. der Differenzierung wertender und tatsächlicher Berichte und Äußerungen213 oder der Unterscheidung von Teilöffentlichkeiten mit spezifischen Voraussetzungen je nach Format (Comedy, Talk-Show, usw.). Entlang dieser Strukturen läßt sich auch das Recht der persönlichen Ehre zu medienspezifischen „Images“ ausdifferenzieren.214 Mit dem Konzept der Normstruktur wird ein Zusammenwirken von Gerichten und Medienöffentlichkeit beim Herausbilden von Standards möglich.215 Wichtig ist dabei, daß der normstrukturierende Methodenansatz nicht davon ausgeht, es gebe je einen einzigen privilegierten Zugriff auf die Wirklichkeit in Form einer versionslosen Beschreibung. Auf diese Weise kann man auch die produktive Rolle des Gerichtsverfahrens erfassen. In diesem wird durch den Streit der Prozeßparteien und mit Hilfe von Sachverständigen Erfahrungswissen neu hergestellt und das vorher schon vorhandene reflexiv gemacht. Die Funktion des Rechts liegt nicht darin, das „richtige“ Bild der Wirklichkeit zu vermitteln, sondern darin, die Reflexion der Selbstbeobachtungsfähigkeit organisierter Systeme zu ermöglichen. In einer komplexen Ökonomie der Ungewißheit kann das Recht nicht mehr beanspruchen, den Möglichkeitshorizont unmittelbar zu steuern, etwa unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit. Vielmehr geht es darum, die Selbstveränderungsfähigkeit einer pluralistischen Gesellschaft durch Mechanismen indirekter Steuerung zu erhalten. Das Recht lenkt nicht, sondern es erhält und bereichert die Relationen zwischen den gesellschaftlichen Teilsystemen. Mit dem Konzept der Normstruktur kann das Recht das Risiko, das Wissen und das Handlungspotenzial von marktför213 Dazu BVerfGE 85, S. 1 ff. sowie Hoffmann-Riem IV, S. 173 ff. – Siehe auch oben S. 53 f., 204. 214 Vgl. dazu BVerfG, in: NJW 1998, S. 1396 ff.; Ladeur VI, S. 1977 ff.; ders. VII, S. 393 ff. 215 Vgl. dazu auch Ladeur / Augsberg, S. 143 ff.
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miger, wissenschaftlicher und personaler Selbststeuerung integrieren. Das Recht wird damit responsiv; es verwandelt die vermeintliche Sicherheit hierarchischer Argumentationsmuster in das Handhaben von Ungewißheit und in ständige Revisionsbereitschaft. Mit dem hier entfalteten Ansatz kann durch Einbeziehen soziologischen Wissens auch das Problem des Risikomanagements strukturiert werden: Der moderne gesellschaftliche Umgang mit Risiken erzeugt Systemkollisionen als Strukturprobleme der Gesellschaft, die über die Konflikte der Maximierung von Eigenrationalität noch hinausgehen.216 Historisch hängt das mit der Umstellung von traditioneller Mehrfachabsicherung hin zu multifunktionalen Einrichtungen zusammen. So war die Familie für alle Lebensbereiche zuständig und mußte bei der Bewältigung von Lebensrisiken vielfache Rücksichten einbauen. Oikos, Polis, Korporation und Kirche waren in diesem Sinn multifunktionale Institutionen, die einen eher diffusen Umgang mit Risiken und entsprechend risiko-averse Einstellungen entwickelten. Die Moderne setzt demgegenüber auf Unifunktionalität in binär codierten Systemen. Für die Risiken bedeutet das, daß sie nun von spezialisierten Funktionssystemen übernommen werden. Der eigentlich moderne Umgang mit ihnen besteht darin, daß sie nicht von einer einzigen Instanz, etwa einer zentralen politischen Institution, in all ihren Dimensionen und mit vielerlei Rücksichtnahmen bearbeitet werden; sondern daß sie in die Logik hochspezialisierter Sozialsysteme hinein übersetzt werden und damit nur noch je eindimensional als teilsystemspezifische Probleme wahrgenommen werden können. All das hat eine überaus produktive Seite: Mit ihren gesteigerten Teilrationalitäten und Problemlösungstechniken sind die Subsysteme in hohem Maß zur Risikobewältigung geeignet. Wissenschaft, Wirtschaft, Medizin haben beeindruckende Techniken zur Absorption von Risiken entwickelt. Die positive Folge hiervon besteht darin, daß die gesellschaftlichen Risiken in ungeahntem Maß zunehmen und dennoch ausgehalten werden können, und daß dies zugleich eine Steigerung gesellschaftlicher Chancen mit sich bringt. Doch hat dieser Vorgang der Risikofragmentierung hin zu Teilrationalitäten auch seine destruktive Seite: Er löst neuartige Konflikte aus, die dann im Recht als Normkollisionen wahrgenommen werden. Das Destruktive liegt in den nicht-koordinierten, unabsehbar schädlichen Auswirkungen der systemspezifischen Risikoabsorption auf ihre gesellschaftlichen Umwelten. Die Befreiung der spezialisierten Systeme von vielerlei Rücksichten führt dazu, daß das jeweilige Teilsystem die Risiken für sich selbst sehr erfolgreich, für seine Umwelt aber buchstäblich „rücksichtslos“ bearbeitet. Was für das jeweilige System ein annehmbares Risiko darstellt, wird für andere Systeme und gesellschaftliche Umwelten zur Bedrohung bis hin zur Existenzgefährdung. So werden durch die eigentlich produktive Risikoübernahme durch ein einzelnes Teilsystem hohe Risiken in anderen Systemen erzeugt. Erfolgreiche Risikoabsorption in einem Teilsystem führt dann zu gesamtgesellschaftlichen Umweltschädigungen. Man muß das Recht darauf vorbereiten, auf destruktive Konflikte 216
Luhmann XVII, S. 86 ff.
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zwischen unverträglichen Handlungslogiken zu reagieren; und zwar nicht durch „Wertabwägung“, sondern durch Umwandeln abstrakter philosophischer Fragen in soziologische Analysen. Auch das ist eine Folgerung aus dem Ansatz der Normstruktur mit ihrem für die Praxis leitenden Teilkonzept „Normbereich“. Der Normbereich ist also nicht mit den sachlichen Einzelheiten des Sachverhalts 235a identisch. Er ist ein Strukturbestandteil der Rechtsvorschrift selbst217. Die am Normprogramm ausgerichtete und begrenzte Ermittlung der Realdaten ergibt den Normbereich der Rechtsnorm. Das bedeutet arbeitsmethodisch : Sachgehalte dürfen nicht wahllos in den Konkretisierungsvorgang eingehen, sondern nur in textorientierter und verallgemeinerungsfähiger Form218; auch hierüber hat eine nachpositivistische Methodik Regeln zu entwickeln. Der Jurist, dem eine Entscheidung anhand des geltenden Rechts abverlangt wird, geht vom Sachverhalt aus. Er wählt mit Hilfe von dessen Merkmalen aus der Normtextmenge des so genannten geltenden Rechts diejenigen Normtexthypothesen, die er nach seinem Vorwissen für einschlägig hält. Er kommt von diesen zu den Sachbereichen der durch die Auswahl der Normtexthypothesen als einschlägig unterstellten Vorschriften. Aus Gründen der Arbeitsökonomie verengt er diese Sachbereiche in der Regel zu Fallbereichen und erarbeitet in der Folge aus der Interpretation sämtlicher Sprachdaten das Normprogramm. Mit dessen Hilfe wählt er aus dem Fallbereich – der gegenüber der größeren und unbestimmteren Faktenmenge aus dem Sachbereich den fallbezogenen Filter bildet, somit eine sonst oft übergroße Komplexität auf arbeitstechnisch wünschenswerte Art einschränkt – schließlich den Normbereich als Sachbestandteil der Rechtsvorschrift219. 217 Entwicklung und Begründung dieser normtheoretischen Figur bei Müller I, S. 107 f., 117 f., 125 f., 131 ff., 137 ff., 142 ff., 184 ff., 201 ff. 218 Vesting I, Randnummer 224, versteht sachbestimmte Normativität als ontologische Schließung des Rechts zum Vermeiden der Entscheidungsparadoxie. Die Strukturierende Rechtslehre wird damit unzutreffend der Hermeneutik zugeschlagen und ihre seit Mitte der 80er Jahre entwickelte dekonstruktive Argumentationslinie vollkommen ausgeblendet. Der Sache nach bestehen viele Parallelen zu einer von Teubner und auch Vesting favorisierten dekonstruktiven Wendung der Luhmannschen Theorie. Natürlich sind Unterschiede weit interessanter als Gemeinsamkeiten, aber es sollten die wirklichen Unterschiede sein. Diese lägen etwa beim Begriff des common knowledge (Vesting I, RNr. 232 ff.), in dem unversehens die alte Geistesgeschichte noch weiterlebt. 219 Nach eigenen Bekunden (Koch VII, S. 352) ist es Koch trotz aller Bemühungen nicht gelungen, das Konzept des Normbereichs zu verstehen. Ausgedrückt in den Kategorien der von ihm übernommenen Wortsemantik wäre der vom Gedanken des Normbereichs gemeinte Zusammenhang folgendermaßen zu fassen: Sachverstehen und Textverstehen hängen in der Weise zusammen, daß empirisches Wissen es gestattet, die Bedeutung eines Ausdrucks besser anzugeben, etwa durch Beispiele. Allerdings läßt sich das komplexe Zusammenspiel von empirischem und semantischem Wissen im Rahmen einer Wortsemantik eben nicht vollständig darstellen. Die Strukturierende Rechtslehre erfaßt mit der Theorie des Normbereichs nicht einfach den schon bei jedem Gesetzeskommentar berücksichtigten Zusammenhang, daß der Blick auf die Extension eines Begriffs es erlaubt, die Intension genauer zu fassen. Weitergehend geht es hier vielmehr darum, daß der Rechtsarbeiter, ausgehend vom Normtext als Zeichenkette, zu ersten Urteilen oder Assoziationen über Wirklichkeitspartikel gelangt (Sachbereich). Dieses
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Der Normbereich ist nicht eine Summe von Tatsachen, sondern ein als real-möglich formulierter Zusammenhang von Strukturelementen, die in der auswählenden und wertenden Perspektive des Normprogramms aus der sozialen Realität herausgehoben werden und im Regelfall zumindest teilweise rechtlich geformt sind. Er ist die Menge der de iure entscheidungserheblichen Tatsachen des Rechtsfalls. Wegen seiner auch rechtlichen Formung und wegen seiner Auswahl durch die Perspektive des Normprogramms geht der Normbereich über bloße Faktizität eines Ausschnitts außerrechtlicher Wirklichkeit hinaus. Er ist nicht im Sinn einer „normativen Kraft des Faktischen“ deutbar220. Damit erweist sich die im Fall je erst zu produzierende vorläufige Wirklichkeitsmodell ist nach der Analyse des Textes an dem mit dem Text vereinbaren Wirklichkeitsmodell (Normprogramm) zu korrigieren. Dieses so erarbeitete Modell (Normbereich) wäre im Rahmen der Sprachwissenschaft erst in einer auch die pragmatische Dimension berücksichtigenden Textlinguistik zu erfassen, nicht aber mit den unzureichenden Mitteln der Wortsemantik. Hier dürfte der Kern der Verständnisschwierigkeiten von Koch liegen. Zudem verwechselt Koch „Normbereich“ und „Sachbereich“; auch verkennt er den realen Verlaufscharakter von Konkretisierung. Dem strukturierenden Konzept geht es eben nicht um ein akademisches Verschieben und Aufrechnen statischer „Begriffe“ (die bei solchem Vorgehen oft keine sind). 220 Müller I, S. 127, 172 f., 184 ff., 201 ff. – Dagegen verfehlt den Normbereich und trifft nur den Sachbereich: BVerwGE 39, S. 197 ff., 198 (Ls 4), 207: „Kunst“-qualität (i. S. von § 1 Abs. 2 Nr. 2 GjS) beurteile sich „auch nach dem Gewicht, das das Kunstwerk für die pluralistische Gesellschaft nach deren Vorstellungen über die Funktion der Kunst hat“. – Ähnlich unklar Stein I, S. 35 ff. zur („sprachlichen“, „historischen“ und) „rechtssoziologischen“ Interpretation mit Spekulation auf Sozialpsychologie und Konsensfähigkeit. – Sachbereichselemente z. B. in BVerfGE 105, 61, 72 (allgemeine Wehrpflicht); 105, 73, 114 ff. (gesetzliche Rentenversicherung / Beamtenversorgung); 105, 279, 280 ff., 295 ff. („Sekte“); 105, 313, z. B. 344 f., 350 f. (gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaft). – Interpretation ist (reguläre) Textbehandlung; rechtssoziologisch untersucht werden kann der Normbereich. Der psychologische Effekt dagegen gehört nur dem Sachbereich an. – Festgehalten wird der Unterschied zwischen Sachbereich und Normbereich unter Aspekten des Verfassungswandels bei Müller VIII, S. 82 ff., 84 ff. – Korrekt i. S. von „Sachbereich“: BVerfGE 75, 108, 146 ff., 157 („Sozialversicherung“). – Mit abwegiger Folgerung verwechselt Maus II, S. 118 f., Sachbereich und Normbereich. – Noch immer nicht näher differenziert diese Kritik von Maus IV, S. 156 f. an dem hier entwickelten, bei Maus „sozialwissenschaftlich angeleiteter Realismus“ genannten Konzept. – „Sachbereich“ statt „Normbereich“ sollte es heißen bei Busse II, S. 230, 231, 263; die dortige Argumentation wird durch die Verwechslung der Terme im Ergebnis nicht entwertet. Ein weiteres Beispiel: Folterpraktiken kommen vor, sie gehören zum Sachbereich von Vorschriften über Vernehmungen. Klare absolute Folterverbote des geltenden Rechts (z. B. Art. 3, 15 EMRK; auf Verfassungsebene Art. 104 I 2, über die „allgemeinen Regeln des Völkerrechts“ ferner Art. 25 sowie inhaltlich auch Art. 1 I GG) führen aber zu Normprogrammen, die der Folter jeden Eingang in den Normbereich einer rechtmäßigen Rechts- und Entscheidungsnorm versperren. Das, sowie die logische Zirkularität der professoralen Formel von der „Wertungslücke“ (sie „ist gerade für Situationen entworfen worden, in denen keine Formulierungslücke vorliegt, der Wortlaut des Gesetzes vielmehr eindeutig, aber … nicht akzeptabel erscheint“, ebd., S. 167), muß auch Brugger III zugeben, der unter frontaler „Umgehung des Wortlauts“ (ebd., S. 172; ebd.: „Klare Gesetzesgebote sollten eigentlich (!) immer beachtet werden“ – Ausrufezeichen nicht im Original) mit Hilfe einer „interpretativen Ausweichstrategie“ um „Sympathie“ für seine „Alternativlösung“ wirbt; sprich: für das Zulassen der Folter in bestimmten Fällen (ebd., S. 173), für eine „Pflicht zur Anwendung von Folter“ und sogar für einen „individuellen Anspruch“ betroffener Bürger auf die Folterung von Terroristen (ebd.,
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Rechtsnorm als sachgeprägtes Ordnungsmodell; als verbindlicher Entwurf221 einer Teilordnung der Rechtsgemeinschaft, die der Rechtssatz (Normtext) sprachlich vorbereitet, in der das Ordnende und das zu Ordnende notwendig zusammengehören und einander in der Praxis der Rechtsverwirklichung unabdingbar ergänzen und abstützen. Eine Rechtsregel ist nicht ein von seinem Geltungsraum abstrakter, gegenüber dem von ihm angezielten Wirklichkeitssegment isolierter Befehl, sondern das verbindliche Entwerfen sachlich geprägter, in der Sachgegebenheit aber nicht aufgehender Ordnung. Der Normbereich kommt für Rechtsnorm wie Entscheidungsnorm allein in der vom Normprogramm bestimmten Fragestellung in den Blick. Gesetzgebung222, Verwaltung und Gerichte, die den Normbereich praktisch als normativ behandeln, verfallen also keiner apokryphen Normativität des Faktischen. Das Bundesverfassungsgericht hat sich zu Recht gegen den Vorwurf gewandt, solches Vorgehen entspringe einem „Soziologismus“ oder es habe sich „unjuristischer“ Methodik verschrieben223. S. 170 f.) – Rechtlich ist das unhaltbar; Sachbereich ist nicht gleich Normbereich. – Dogmatisch überzeugend gegen Folter: Rottmann II. – Zur Frage der Folter wendet sich Zizek auf dem Feld der philosophischen Ethik klar gegen universalisierende Formeln der Rechtfertigung von etwas, das im Extremfall faktisch vorkommt: „Der Gedanke, man könne die Folter auf einem ‚vertretbaren‘ Maß halten …, ist eine liberale Illusion – und zwar die schlimmste. Jede konsequente ethische Haltung muß eine derartige pragmatisch-utilitaristische Argumentation rundweg ablehnen“. 221 Dieser Bestimmung liegt nicht „ein feiner Widerspruch“ zugrunde, wie Dubischar II, S. 62, meint; sondern ein grundlegendes Strukturmerkmal realer Normativität, die mehr ist als akademisch reines „Sollen“: Die Norm ist verbindlich – das ist eine rechtsstaatliche Aussage; die Norm ist dennoch nur ein Entwurf – das ist eine methodologische Aussage. M. a. W.: Normtexte müssen, sollen sie praktisch wirksam sein, im Einzelfall erst komplex zu Rechtsnormen konkretisiert werden; diese sind – wegen ihres abstrakt-generellen Charakters („In einem Fall wie diesem gilt … “) – notwendig nur entwerfend stilisiert. Praktisch unmittelbar wirksam werden sie erst im letzten Arbeitsschritt, der sie zur Entscheidungsnorm (dem Urteilsetc. -tenor) individualisiert. Es ist eine veraltete Illusion des Gesetzgebungspositivismus, Normtexte seien bereits die Norm und als solche zudem schlicht „anwendbar“. – Das sieht insoweit auch Dubischar, S. 117, allerdings ohne es im vorliegenden Zusammenhang seinerseits zu „konkretisieren“. 222 Daß die Rechtsnorm mitkonstituiert wird von einem im Text angelegten Wirklichkeitsmodell, wird auch vom Gesetzgeber gesehen. Wenn z. B. im Wasserrecht abweichend vom Immissionsschutzrecht in die Legaldefinition des „Standes der Technik“ die wirtschaftliche Vertretbarkeit eingeführt wird, hat dies eine Ökonomisierung des Rechtsbegriffs zur Konsequenz. Es wird dann der Schutz vor Umweltrisiken eingeschränkt durch das, was man für ökonomisch sinnvoll hält. – Martens / Lorenz, Die Ökonomisierung des Rechtsbegriffs „Stand der Technik“ durch die sechste Novelle zum WHG, in : NVwZ 1998, S. 13 ff. 223 BVerfGE 6, 132, 142 ff., 147 f. – Inhaltlich zur Konzeption des Normbereichs, wenn auch ohne methodische Begriffsschärfe: BVerfGE 34, 269 ff., 288 f.: die Norm stehe „ständig im Kontext der sozialen Verhältnisse und der gesellschaftlich-politischen Anschauungen, auf die sie wirken soll“; die rechtsstaatlich unverzichtbare Unterscheidung von „Normbereich“ und „Sachbereich“ wird inhaltlich nicht getroffen. – Erwägungen zu Sachbereich / Normbereich (Mittel und ‚Milieu‘ subversiver ‚Kräfte‘): BVerfGE 30, 1 ff., 18 f. Ein „Spannungsverhältnis“ im Sinn der Parteienstaatsdoktrin läßt sich, zum Schaden der demokratischen Verantwortlichkeit der Abgeordneten, nur zwischen Art. 21 I 1 und Art. 38 I Satz 2 (1. Satzteil) GG
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Im Lauf der Jahre haben sich im Rahmen der „Strukturierenden Rechtslehre“ und auch des vorliegenden Buchs die Arbeit an den Begriffen, ihre Erläuterung verschoben: von statisch erscheinenden, beschreibenden Formeln („Der Normbereich ist …“) zu genaueren Bestimmungen, die den Zeitfaktor in den Sprachausdruck übernehmen und so die Veränderung der Elemente im Verfahren der Konkretiesierung anzeigen. Etwa: Als „Normbereich“ wird hier die Gruppe von Tatsachen (Realdaten) bezeichnet, die vertretbar als für den Fall erheblich angesehen wird (Sachbereich); und die, gegebenenfalls zum Fallbereich verengt, nach Überprüfen am Ergebnis der Interpretation aller als erheblich begründbaren Sprachdaten (also am Normprogramm) weiterhin als für die Fallösung relevant und zugleich mit dem Normprogramm vereinbar dargetan werden können. Damit gehen sie in die Erstellung des Texts der Rechtsnorm als deren Normbereichsbestandteil ein. Die Temporalisierung224 der Begriffe auch in der Sprache macht die Explikation also zugleich komplexer und genauer. Einige zentrale Thesen der hier vorgeschlagenen Methodik sind aus (dogmatischer → methodologischer → rechtstheoretischer) Analyse der Rechtspraxis entwickelt worden. So hat – für den vorliegenden Zusammenhang – besonders das aufbauen. Mit dem ganzen des zuletzt genannten Normtextsatzes geht es schon nicht mehr: „Aufträge“ (Lobbyisten, die zu Abgeordneten werden) und „Weisungen“ gibt es (Fraktionsdisziplin, „-zwang“; Druck durch die Drohung, nicht wieder nominiert zu werden) – sie gehören zum Sachbereich dieser Verfassungsartikel. Dagegen schneiden der zweite und dritte Satzteil des Art. 38 I 2 jeder rechtlichen Relevanz den Zugang zum Normbereich der Art. 21 und 38 GG ab – dank expliziter Formeln, welche die Bildung eines abweichenden Normprogramms verhindern. – (Die dogmatische Lösung dafür, von den Abgeordneten den genannten Druck zu nehmen, besteht in folgendem: Durch das Parteiengesetz die Aufstellung der Kandidaten durch Urwahl unter den Parteimitgliedern vornehmen zu lassen und dabei anzuordnen, daß die gegenwärtigen Abgeordneten von dieser internen Wahl nicht ausgeschlossen werden dürfen. Erst dann entspricht die „innere Ordnung“ der Parteien – angesichts des genannten Sachbereichs aus Aufträgen, Weisungen und Pressionen – „demokratischen Grundsätzen“ i. S. des Art. 21 Abs. 1 S. 3 GG). Eine Demokratie ist so ehrlich wie die „innere Ordnung“ ihrer politischen Parteien. – Ansätze zur Normbereichsanalyse auch im Numerus-clausus-Urteil, BVerfGE 33, 303 ff., z. B. 305 ff., 329 ff., 337. – Das Schallplatten-Urteil entscheidet anhand von Argumenten aus dem Normbereich (Vergleich der Wettbewerbsfähigkeit der Schallplattenindustrie mit anderen Kommunikationsmittelbranchen): BVerfGE 36, S. 321 ff., 334 ff. – Vgl. ferner zum Einbezug von Normbereichsdaten in den Entscheidungsvorgang die in 212.34 aufgeführten Judikate sowie insbes. BVerfGE 30, 173, 188 ff., 193 ff. („Mephisto“); 40, 296, 310 ff., s. a. ebd., 330 ff., 334 ff. (diss. vote); 45, 187, 227 ff. (Vereinbarkeit des lebenslangen Freiheitsentzugs mit Art. 1 GG); 47, 1, 34 ff. (diss. vote); 47, 46, 66 ff., 70 ff. („Sexualkunde“-Beschluß); 47, 327, 367 ff. (Hessisches Universitätsgesetz); 50, 290, 336 ff., 354 ff. („Mitbestimmungs“-Urteil); 57, 220, 245 ff. (gewerkschaftliches Zutrittsrecht zu kirchlichen Einrichtungen) ; 57, 295, 322 (Rundfunkfreiheit); 58, 300, 338 ff. („Naßauskiesung“); 61, 319, 347 ff. (Frage des Ehegattensplitting auch bei Alleinerziehenden) ; 66, 116, 134 ff. (zur rechtlichen Sonderstellung der Presse); 74, 297, 350 f., 354 (5. „Rundfunk“-Entscheidung) in Nachfolge von E 73, 118, 154; differenziert zum Normbereich der Kunstfreiheit: E 77, 240, 253 ff. 224 Zu einer Phänomenologie von Zeit und der Stellung des Rechts in Zeit siehe: F. Müller XLIII, S. 439 ff., und durchgehend.
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Bundesverfassungsgericht seit Jahrzehnten auf eine Art mit Sachelementen gearbeitet, die analytisch nicht nur als Erwägen von Aspekten aus Sach- bzw. Fallbereich zu werten war, sondern als Einsatz von Normbereichselementen. Freilich blieb diese Praxis in den Begründungen der Judikate unreflektiert. Neuerdings wird die Reflexion auch in Entscheidungstexte übernommen. So 237 stützt sich das Bundesverfassungsgericht im Urteil vom 4. 11. 1986 zum Niedersächsischen Landesrundfunkgesetz225 wesentlich auf faktische „moderne(n) Entwicklungen auf dem Gebiet des Rundfunks“, denn diesen komme „Bedeutung für die Auslegung der verfasssungsrechtlichen Garantie zu“. Den Grund für dieses, die traditionelle und noch herrschende Methodenpraxis und -lehre zu Recht sprengende Vorgehen erblickt der Senat in folgender Eigenschaft der betreffenden tatsächlichen (in Veränderung befindlichen) Sachstrukturen: „Sie gehören … zu dem konkreten Lebenssachverhalt, auf den das Grundrecht bezogen ist und ohne dessen Einbeziehung eine die normierende Wirkung der Rundfunkfreiheit entfaltende Auslegung nicht möglich erscheint“. Die Arbeit mit Normbereichselementen wird somit nicht als zusätzliche Hilfserwägung oder in ähnlich sekundärer Funktion gesehen, sondern als im Interesse der zu entfaltenden Normativität der hier konkretisierten Grundrechtsgarantie unerläßlich bekräftigt. Das ist das Normbereichskonzept in seiner methodologischen Version. In der Fünften Rundfunk-Entscheidung vom Folgejahr (Landesmediengesetz Baden-Württemberg, Beschluß vom 24. 3. 1987) hat das Gericht dann226 die normativ mit-konstituierende Rolle des Normbereichs bestätigt und auch den Begriff ausdrücklich übernommen227. „Normbereich“ ist, wie auch die anderen hier eingeführten Termini, ein Arbeits- 238 begriff. Auch er benennt eine Arbeitsanforderung an die im demokratischen Rechtsstaat des Grundgesetzes tätigen Juristen. Auf diese Art praktisch gewendet, will der BVerfGE 73, 118 ff., 154 und ff. BVerfGE 74, 297 ff., 350 und ff. Vgl. noch E 82, 6 ff., 13. 227 Ebd., 350: „Inhalt und Tragweite verfassungsrechtlicher Begriffe und Bestimmungen hängen (auch) von ihrem Normbereich ab; ihre Bedeutung kann sich bei Veränderungen in diesem Bereich wandeln. … Das gilt auch für den Rundfunkbegriff“. – Sachbereich und Normbereich der Öffentlichkeitswirkung von Medien und die normrelevanten „Veränderungen der Medienrealität“ werden reflektiert in BVerfGE 103, 44, 67 ff., bes 72 ff. (Abw. Meinung). – Die Struktur des Normbereichs der Rundfunkfreiheit wird z. B. herausgearbeitet bei Rossen. – Normbereichsanalysen der Sache nach z. B. in: BVerfG in NVWZ 2012, S. 33 ff. (5 %-Sperrklausel in Europäischen Wahlgesetz). – Das Spanische Verfassungsgericht übernimmt den Begriff des Normbereichs (ámbito normativo) in Entscheidungen zur Gleichheit der Rechtsanwendung; so in STC (Sentencias del Tribunal Constitucional) 28 / 1993 und bereits in STC 207 / 1992; dazu auch Gómez de Arteche. – Mit dem Begriff des „ámbito normativo“ arbeitet das Verfassungsgericht besonders auch in den Entscheidungen 5 / 1992; 98 / 1992; 59 / 1993; 143 / 1994; 131 / 1996, u. a. – In zahlreichen anderen Judikaten (so z. B. in 29 / 1986; 74 / 1989; 50 / 1995) spricht das Verfassungstribunal von „ámbito de la norma“. – Weitere termini technici aus der Strukturierenden Rechtslehre verwendet es mit „Sachbereich“ (campo material bzw. ámbito material, z. B. in 386 / 1993; 74 / 1994; 49 / 1995); mit „Entscheidungsnorm“ (norma de decisión, 230 / 1991); „Rechtsarbeit, Rechtsarbeiter“ (trabajo jurídico, 370 / 1985; operador jurídico, z. B. 76 / 1983). 225 226
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Begriff vor allem sagen: Die Fakten, die angesichts eines zu lösenden Falles und der für diesen einschlägigen Normtexte nach aller juristischen Erfahrung im Lauf des Konkretisierungsvorgangs ins Spiel gebracht werden müssen, dürfen nicht wahllos zu mitbestimmenden Faktoren der schließlich ergehenden Entscheidung gemacht werden228. Sie dürfen, anders gesagt, nicht im unverbindlichen Zustand des „Sachbereichs“ noch in dem des (lediglich aus Gründen der Arbeitsökonomie eingegrenzten) „Fallbereichs“ bleiben. Es ist für die Tragweite der Rechtsnorm nicht gleichgültig, ob ein Sachaspekt diese und damit die Entscheidung letztlich mitträgt oder nicht. Als Bestandteil der Rechtsnorm dürfen nur solche tatsächlichen Faktoren herangezogen werden, die (1.) in einem Fall wie diesem immer heranzuziehen sind, und die (2.) dem vorher durch Interpretation aller Sprachdaten erarbeiteten Normprogramm nicht widersprechen. Nur die einschlägigen Bestandteile des Sach- beziehungsweise Fallbereichs können zu solchen des Normbereichs werden, die generalisierbar sind und sich im verbindlichen Rahmen des Normprogramms halten. Sind diese Bedingungen erfüllt, dann bilden die betreffenden Sachaspekte, wie oben gesagt wurde, die tatsächliche Gesamtstruktur im Einzugsgebiet der fraglichen Rechtsvorschrift. Das ist eine juristische, nicht eine sozialwissenschaftliche Aussage. Das Hervorheben einzelner Tatsachen und Strukturen aus dem Sachbereich als „grundlegend“ – im Sinn von normativ mitbegründend – erfolgt nicht nach empirischen Gesichtspunkten durch den Sozialwissenschaftler, sondern nach juristischen durch den Rechtsarbeiter, der für die Entscheidung des fraglichen Falles verantwortlich ist229. Gelegentlich geäußerte terminologische Kritik am Begriff „Normbereich“ bedenkt nicht die Differenz von Normtext und Rechtsnorm, die hier entwickelt und 228 Zu einfach macht es sich eine Kritik am Konzept des Normbereichs, wenn sie die Strukturierende Rechtslehre darauf reduzieren möchte, die Rationalität des Positivismus durch die „Autorität der Fachkenntnisse“ ergänzen zu wollen (Chryssogonos, S. 142). Es geht nicht um die Addition von Gesetzesautorität und Fachautorität, sondern u. a. um die Aufdeckung des jeder Textarbeit zugrundeliegenden Wirklichkeitsbezugs. Die ausdrückliche Verarbeitung des auch die Normtexte begleitenden Wirklichkeitsmodells und seine Konfrontation mit Fragestellungen anderer Wissenschaften verdrängt nicht den juristischen Fachmann, sondern ersetzt wohlfeile Alltagstheorien durch methodisch besser begründete Annahmen. Daß auch andere Wissenschaften keine absoluten Wahrheiten liefern (ebd., S. 138), daß ihre Erkenntnisse nur relativ zum Konsens bzw. zum Stand der jeweiligen Wissenschaft als plausibel gelten können, ist kein Einwand gegen das Konzept des Normbereichs, es ist eine Banalität. 229 Eingehend zu Inhalt und Systematik des Konzepts: Müller XIX, z. B. S. 250 ff., 263 ff., 308 ff., 332 ff. – Eines von ungezählten Beispielen: In E 89, 69, 86 ff. führt das Bundesverfassungsgericht Sachbereichselemente über den Zusammenhang von Cannabiskonsum und Führen von Kraftfahrzeugen ein und verwendet sie im Rahmen der Konkretisierung von „ungeeignet oder nur bedingt geeignet“ (als Tatbestandsmerkmalen von § 15 Abs. 2 StVZO) als Normbereichselemente. – Vgl. auch die Einführung von Sachbereichsdaten über Konsum und Wirkung von Cannabis in BVerfGE 90, 145 ff., 177. Einzelheiten aus dem Sachbereich z. B. auch in BVerfGE 104, 23, 31 ff. („Altenpflege“); 104, 65, 72 f. („Besonderheiten des Internet“); 104, 357, 365 ff. („Öffnungszeiten von Apotheken“). – Zu generellen Tatsachen des Sachbereichs (bei Sander: „Normtatsachen“) im materiellen Recht aller Rechtsgebiete, näher an Beispielen aus dem Zivilprozeß: Sander.
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dem ganzen zugrunde gelegt wurde. Die Begriffsbildung „Normbereich“ kann nur im Verhältnis zu der von „Sachbereich“ fair beurteilt werden. Beide Begriffe sind – die Kommunikation erleichternde – Abkürzungen für „Sachbereich des Normtexts“ (= Sachbereich) bzw. „Sachbereich der Rechtsnorm“ (= Normbereich).
313.4 Zur tatsächlichen Rolle der canones Der Einwand, ein Teil dieses Ansatzes sei bereits mit den Auslegungsmethoden 239 Savignys zu bewältigen, übersieht, daß die canones damit etwas leisten, was sie nach ihrer Konzeption nicht leisten dürften. Sie haben in der Rechtspraxis materielle Bestandteile des Normbereichs fortwährend sprachlich zu verdecken, die in Wahrheit kraft ihrer eigenen sachlichen Konsistenz die Entscheidung des Rechtsfalls (mit-)bestimmen und mit Hilfe der canones gerade nicht ermittelt werden können. Nicht zuletzt an solchen Diskrepanzen hat es sich immer wieder gezeigt, daß ein Festhalten an Savignys Regeln allein auch im Verfassungsrecht fiktiv bleiben muß. Vor allem über die sogenannte teleologische Methode pflegen Sachgesichtspunkte in den Vorgang der Rechtskonkretisierung einzufließen. Das Festhalten an der Fiktion, es handle sich hierbei nur um das „Anwenden“ einer von Savigny überkommenen, einer klassischen Interpretationsmethode, verhindert eine schärfere Reflexion und eine sachgerechte methodische Differenzierung dessen, was man tut. Die Sachgesichtspunkte des Normbereichs können weder dem Normtext, dem rechtsgeschichtlichen Hintergrund der Vorschrift, ihrer Entstehungsgeschichte und systematischen Stellung noch auch dem für die Konkretisierung gesuchten „Sinn und Zweck“ der Norm auf dem Weg der Textauslegung inhaltlich entnommen werden. Was von der Praxis über Savignys Kunstregeln hinaus getan wird, muß um der rechtsstaatlich geforderten Methodenklarheit willen genauer bezeichnet werden, als es herkömmlich geschieht. Notwendigkeit wie Möglichkeit solcher Differenzierung haben sich vielleicht nicht zufällig im Verfassungsrecht herausgestellt, das in Savignys Entwurf nicht im Vordergrund steht.
313.5 Zu einer Typologie von Normstrukturen Es könnte reizvoll sein, im Rahmen einer zu entwickelnden Rechtsinformatik die 240 nach den Schwerpunkten Normprogramm und Normbereich strukturierte Vorschrift als einen durch die ständige Rückkoppelung der praktischen Konkretisierung aktualisierten Regelkreis herauszuarbeiten. Damit ist allerdings eine im hier verwendeten Sinn rechts(norm)theoretische Frage mit methodischen Folgerungen gemeint, nicht das viel diskutierte Problem der Verwendungsmöglichkeiten von Datenverarbeitungsanlagen in Rechtspraxis und Rechtswissenschaft. Die dahin gehenden Versuche fassen die Möglichkeiten neuester technischer Entwicklung bisher noch immer vor dem Hintergrund des obsoleten gesetzespositivistischen Normverständnisses, der „Anwendungs“vorstellung und der Zielbestimmung substantieller „Eindeutig-
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keit“ der mit den Normen nach wie vor identifizierten Normtexte ins Auge, nach deren mehr oder weniger vollständiger Axiomatisierbarkeit gefragt wird. Solche Fragestellungen werden nach einer Erneuerung der juristischen Methodik sinnvoller erörtert werden können als auf dem mehrfach verkürzten Reflexionsstand der noch vorherrschenden Lehrmeinungen. 241
Eine Rechtsnorm ist ein sachbestimmtes Ordnungsmodell von strukturierter Art. Die Dichte, Genauigkeit, Bestimmbarkeit ihrer Elemente, kurz: der Grad ihrer Konkretisierbarkeit in geringerer (in Grenzfällen) oder größerer (in der großen Mehrzahl der Fälle) Abweichung vom positivistischen Modell der „Anwendung“, „Subsumtion“ oder des „Nachvollzugs“ einer fertig vorgegebenen Regelung hängt auch von der sprachlichen Struktur des einzelnen Normtextes ab. Die Skala reicht von dem weitgehend determinierbaren Individual- bzw. numerischen Normtext (Fristen, Termine, Form- und bestimmte Verfahrensvorschriften, Art. 22 GG, die Elemente : „wer das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat“ in Art. 38 Abs. 2 GG und „das 40. Lebensjahr vollendet hat“ in Art. 54 Abs. 1 S. 2 GG usw.) bis zu Generalklauseln, die – so Art. 3 Abs. 1 oder Art. 2 Abs. 1 GG in der herrschenden Deutung – über einen sachlich umschreibbaren Normbereich aufgrund der Vagheit des Normtextes nicht verfügen. Zwischen diesen Enden der Skala liegen mehr in Richtung auf die determinierbaren Vorschriften die Normtexte des organisatorischen Teils, mehr in Richtung auf die Generalklauseln, aber ohne strukturell mit ihnen gleichgesetzt werden zu können, die Staatsform- und Staatszielbestimmungen und die Grundrechte; ferner die durch typologische Zuordnung zu konkretisierenden sogenannten Standards wie die rechtsstaatlichen Gebote der Verhältnismäßigkeit und der Erforderlichkeit, wie das Prinzip der Bestimmtheit und Geeignetheit staatlicher Eingriffe, wie der aus dem Gleichheitssatz abgeleitete Gleichbehandlungsgrundsatz und der in seiner normativen Qualität allerdings umstrittene und noch nicht hinreichend belegte „Normalmaßstab bundesfreundlichen Verhaltens“230. Innerhalb wie außerhalb des Verfassungsrechts stellt die sachliche Unterschiedlichkeit der Normbereiche je eigene Probleme. Das gilt etwa für normativ erfragte Daten der Familien- oder Wirtschaftssoziologie, für sozialgeschichtlich und soziologisch fundierte 230 Zu den Standards im Verfassungsrecht: Strache, bes. S. 111 ff., 114 f. – Zur Bedeutung der Typen von Normstruktur für die Konkretisierung von Verfassungsrecht vgl. auch schon Huber II. – Der Normtext des oben genannten Art. 22 GG determiniert bezüglich der Farbfolge der Bundesflagge. Im übrigen ist auch er keinesfalls vollständig angesichts aller Fragen, die im Sachbereich der Vorschrift gestellt werden können. – Übernahme des Strukturkonzepts für das Zivilrecht z. B. bei Moritz S. 84 ff. (Familienrecht, Jugendrecht); bei Laudenklos I, S. 271 ff., 275 ff. (Eigentumsverletzung i. S. d. § 823 I BGB, der vom BGH in BGHZ 55, 153 ff. entschiedene „Fleetfall“); bei Hebestreit (Recht der allgemeinen Geschäftsbedingungen), S. 105 ff. – Allg. zum Stand der Methodendebatte im Zivilrecht: Rückert I, II. – Das rechtsstaatliche Bestimmtheitsgebot (hier: bei Generalklauseln) mit BVerfGE 17, 67 ff., 82; E 83, 130 ff., 145; E 90, 1 ff., 16 f. dann als erfüllt anzusehen, wenn die „Auslegungsprobleme mit herkömmlichen juristischen Methoden bewältigt werden können“, ist eine Verkürzung; Hervorhebung nicht im Original. – Zur möglichen Rolle der Strukturierenden Rechtslehre, „Baustein für eine neu zu denkende Privatrechtstheorie (zu) sein“: Laudenklos / Rohls / Wolf, S. 324.
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Rechtsgeschichte und Rechtsvergleiche bei der Konkretisierung zivilrechtlicher Vorschriften; für die Aufhellung strafrechtlicher Normbereiche mit Hilfe von Rechtsvergleichung und Kriminologie; für die Beiträge der Verwaltungswissenschaft, Politikwissenschaft, Soziologie und Verfassungsgeschichte im öffentlichen Recht. Die Unterschiede der Teildisziplinen der Rechtswissenschaft gründen nicht zuletzt in der verschiedenen sachlichen Eigenständigkeit der Normbereiche. Bei Formvorschriften, bei Verfahrens- und Organisationsnormen, bei Verweisungsvorschriften, Legaldefinitionen und bei Regelungen mit numerisch oder individuell determinierter rechtsdogmatisch-begrifflicher Aussage verschwinden die Normbereiche hinter den Normprogrammen. Sie liefern der Praxis meist keine zusätzlichen Gesichtspunkte für die Konkretisierung231. Je stärker sachgebunden dagegen eine Norm ist, je mehr nicht-rechtserzeugte Bestandteile ihr Normbereich enthält, desto stärker bedarf ihre Konkretisierung auch der Ergebnisse von Normbereichsanalysen. Bei verfassungsrechtlichen Vorschriften sind die Normbereiche oft ergiebig und für die Konkretisierung von entscheidendem Gewicht. Daher ist verfassungsrechtliche Spruchpraxis von beispielhaftem Erkenntniswert. An ihr läßt sich die Wirkung ablesen, die Elemente des Normbereichs bei bestimmter Fallgestaltung für die anstehende Entscheidung wie für die Entwicklung verfassungsrechtlicher Dogmatik gewinnen können; läßt sich ferner überprüfen, wieweit Gerichte und andre ihre Entscheidungen veröffentlichenden Stellen der Rechtspraxis und wieweit die Rechtswissenschaft beim Rückgriff auf sachliche Gegebenheiten Faktoren des Normbereichs oder nur solche des Sachbereichs herangezogen haben, wieweit sie also zulässig im Spielraum des Normprogramms oder unzulässig über die rechtsstaatliche Grenzwirkung des Normprogramms bzw. des Normtextes hinaus entschieden haben. Die Besonderheit der Struktur einer Norm oder eines Normtyps ist aber eben im Wortlaut der Vorschriften nicht substantiell enthalten, ist dort auch nicht zuverlässig oder abschließend abgebildet. Auch in diesem Zusammenhang hat die Formulierung mehr oder weniger aufschlußreich232 andeutenden, evozierenden Charakter. Mit dieser Einschränkung liefert der Normtext wichtige Indizien für Eigenart und Umfang des Normbereichs wie für das Mischungsverhältnis der Normelemente.
231 Ob der rechtserzeugte Normbereich im Einzelfall zusätzliche Aspekte für die Konkretisierung beisteuert oder nicht, hängt gemeinhin vom Normtyp und Falltyp ab; z. B. bei Organisationsnormen, etwa Rechtswegnormen, davon, ob nur ihre abstrakte Abgrenzung (Normtextauslegung hinreichend!) oder ihr praktisches Funktionieren als Gerichtszweig in Frage steht (Konkretisierung auch mit Hilfe von Aspekten aus Organisationsforschung, Justizforschung); zum erstgenannten: Müller IX. – Allg. zum Stand der Methodendebatte im Zivilrecht: Rückert I, II. 232 Nicht auf Lektüre gestützt, eher vom Willen zur Polemik beflügelt ist die Behauptung bei Herbert, S. 537: „Für die strukturierende Rechtslehre sind grundsätzlich alle Normtexte gleichermaßen unbestimmt“ (ebd. mit Fehlnachweis). Vgl. dagegen hier z. B. RNr. 156, 240 ff., 262, 308 und ff., 314 ff. und öfters; Müller, XIX, S. 162 und ff., S. 267, 272 und öfters. – Eingehende Kritik an Herbert im vorliegenden Zusammenhang bei Laudenklos I, S. 155 ff.
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313.6 Faktoren einer Typologie 242
Faktoren einer Typologie der Normstruktur und damit auch unterschiedlicher Bedingungen von Normkonkretisierung sind zum Beispiel: – die Eigenart des Sachbereichs (neuartig oder traditionell gesichert, von größerer oder geringerer politischer und sozialer Relevanz, rechtserzeugt, „naturwüchsig“ oder beides in einem bestimmten Mischungsverhältnis usw.), – die Zuverlässigkeit des Normtextes als Ausgangspunkt für die spätere Formulierung des Normprogramms, – die dementsprechend verschiedene Trennschärfe des Normprogramms bei der Heraushebung des Normbereichs aus dem Sach- bzw. Fallbereich, d. h. aus den allgemeineren bzw. fallbezogenen sachlichen Zusammenhängen der Rechtsvorschrift, – Grad und Stand der (wissenschaftlichen) Bearbeitung eines Regelungsgebiets innerhalb und außerhalb von Jurisprudenz und Rechtspraxis und nicht zuletzt – die systematische Stellung der zu konkretisierenden Vorschrift in ihrer Kodifikation oder in der (Verfassungs-)Rechtsordnung (so z. B. die Eigenart der Normen des Allgemeinen Teils des Bürgerlichen Gesetzbuchs oder die der in eine ausgearbeitete Kodifikation bewußt eingesetzten ausgleichenden Generalklauseln wie der §§ 138, 242 und 826 BGB; im Grundgesetz: Staatsformbestimmungen, Rechtsstaatsgebote von wechselnder Konkretion, Gesetzgebungsaufträge, Verfassungsdirektiven, Sach- und Maßstabsnormen, Kompetenzvorschriften, Organisations- und Verfahrensregeln, Grundrechte).
313.7 „Programmsätze“ 243
Nach Art. 1 Abs. 3 GG binden die Grundrechte des Grundgesetzes „Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht“. Der Text der Verfassung geht hier in die Metasprache233; er wird sogar rekursiv: was in dieser Konstitution, auf dem Feld grundrechtlicher Garantien, als Normtext auftrete, müsse als Normtext ernstgenommen werden – und dies bekräftigt ein Normtext. Das ist, für sich genommen, bizarr; weder das famose Forsthoffsche „Gesetz über Fieberthermometer“234 noch auch die kleinste Rechtsverordnung müssen sich ihre
Vgl. als Überblick zu dem Problem Sprache und Metasprache Röhl III, S. 75 ff. s. o. Abschnitt 222.21. – Gesetzgebung arbeitet performativ; sie muß sich die Tatsache, Gesetzgebung zu sein, nicht nochmals gesetzlich selber bestätigen. „Performativ“ heißt dabei nicht so etwas wie „selbstausführend“ (self executing). Der Normtext ist gearbeitet, aber er als solcher arbeitet nicht. Der Jurist handelt, und zwar im Ausgang von ihm und mit seiner Hilfe (vgl. z. B. RNr. 282 ff.). „Performativ“ meint im vorliegenden Zusammenhang, daß der Cha233 234
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„Normativität“ (in der hier entwickelten Terminologie: ihre „Geltung“; Normativität wird erst bei der Fallentscheidung erzeugt) noch einmal selber textlich bestätigen. Nicht für sich, sondern historisch genommen, ergibt die Rekursion235 dagegen Sinn: Nicht in erster Linie gegen das Nazireich, das selbst Grundrechte gar nicht eingeräumt hat, wohl aber gegen die bekannten Tendenzen der Weimarer Zeit, welche die Grundrechte der Reichsverfassung von 1919 gerne auf „bloße Programmsätze“ herabgestuft hätten sehen wollen, richtet sich die Klarstellung einer Selbstverständlichkeit in Gestalt von Art. 1 Abs. 3 GG. International ist dieser übrigens kein Unikum: Aus gegebenem Anlaß normiert vergleichbar die Verfassung der Föderativen Republik Brasilien von 1988, die erste demokratische nach langem Militärregime, in ihrem Art. 5 § 1: „Die definitorischen Grundrechtsnormen und -garantien werden unmittelbar angewandt“236. Was wäre, im Gegensatz zu solch deutlichen Normtexten, unter (Grundrechten 244 als) „Programmsätzen“ zu verstehen? Für die angedeutete Konfiguration aus der Weimarer Republik folgendes: Normtexte, hier von Grundrechten, sind auf normaler Grundlage, nämlich auf der Basis gesellschaftlich gegebener Sachbereiche und mit normaler Intention, nämlich um durch ihre Verkündung in Geltung gesetzt zu werden, erlassen worden. Sie werden aber durch Teile der Lehre und Praxis im nachhinein als nicht-geltend, als unverbindlich, als nur politische Wunschvorstellung für etwaige künftige Normtextsetzung umgedeutet237. Hier handelt es sich einfach um ein nachträgliches Verbiegen geltender Normtexte, im Weimarer Fall sogar auf Verfassungsebene. Für diesen Typus rechtsstaatswidriger Umdeutung wird der Begriff „Programm- 245 sätze“ verfassungsgeschichtlich herangezogen. Davon abgesehen, läßt er sich auch für solche Fälle gebrauchen, in denen „absichtlich“ nicht Normtexte, sondern in der Tat nur rechtspolitische Direktiven in eine Kodifikation eingeführt oder, weniger
rakter der Legislative als Legislative aus dem rechtlich-gesellschaftlichen Kontext folgt statt aus dem (Norm-)Text. Anders gesagt, Normtexte reden in Objektsprache; d. h. in einer Sprache, die über sonstige Gegenstände (Tatbestandsmerkmale, Rechtsfolgen) befindet. Sie haben normalerweise keinen Anlaß, in die Metasprache – also eine Sprache über die Normtextsprache – zu wechseln; begrenzte Ausnahmen bieten Verweisungs-, Übergangs- und Schlußvorschriften und Legaldefinitionen. Extrem ist dagegen der im Text genannte Fall des Art. 1 Abs. 3 GG. Hier soll rekursiv, selbstbezüglich die mit dem Inkraftsetzen der grundrechtlichen Normtexte bereits beanspruchte Geltung nochmals bestätigt werden. Das erklärt sich nicht mehr aus der Sprachlichkeit der Normtexte, sondern von einer ganz anderen, der historisch-politischen Ebene her. 235 Vgl. zur Rekursivität Röhl III, S. 88 ff. sowie zur Selbstbezüglichkeit von Vorschriften im Verfassungsrecht S. 90 ff. 236 Das Bundesverfassungsgericht hält seit BVerfGE 6, 387 fest, daß es sich bei den Garantien des Grundgesetzes um subjektive Rechte des Trägers gegenüber der öffentlichen Gewalt und nicht um bloße Programmsätze handelt. 237 Vgl. dazu Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reiches, 14. Auflage 1933, S. 505 ff.; Thoma, in: Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Bd. I, 1929, S. 1 ff.
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unwahrscheinlich, dieser vorangestellt werden sollen. Das muß aber aus dem genetischen Konkretisierungselement unzweifelhaft darstellbar sein238 und darf den prioritären Elementen, vor allem dem grammatischen und dem systematischen, nicht widersprechen. Nicht „Programmsatz“ sollte die lex imperfecta genannt werden; also ein normaler Normtext mit Sachbereich, für den jedoch im Fall des Nichtbefolgens – unmittelbar aus der Formulierung des Normtexts oder doch jedenfalls als deutliches Konkretisierungsergebnis ersichtlich – keine Sanktionsmöglichkeit vorgesehen ist. Etwas anderes als ein Programmsatz ist auch die Generalklausel, also eine Vorschrift mit gesteigert vagem Normtext239. 246
Daneben gibt es noch einen Typus, den „Programmsatz“ zu nennen sich nicht empfiehlt, obwohl es zunächst als naheliegend erscheinen könnte: den Fall der „nicht anwendbaren Norm“; genauer gesagt, einer korrekt in Geltung gesetzten Vorschrift, für deren Implementation es aber (noch) an der realen Infrastruktur fehlt. Während beim absichtlichen Programmsatz dessen Normtext – zusammen mit Systematik, Entstehungsgeschichte und anderen Konkretisierungselementen – ausdrückt, hier solle nichts konkret angeordnet werden, und während beim „nachträglichen“ Programmsatz Weimarer Prägung politische Böswilligkeit entgegen dem Ergebnis rechtsstaatlicher Methodik die Nicht-Geltung behauptet, fehlt es hier durchaus nicht am Normierungsvorhaben; allerdings fehlt (noch) die Verankerung in der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Deshalb ist hier besser von einem „Normtext ohne Sachbereich“ zu sprechen. Mangels eines Sachbereichs kann, im Verlauf der Konkretisierung, dann auch kein Normbereich und damit keine Rechtsnorm gebildet werden. Nach dem positivistischen Paradigma würde es sich dagegen, im Sinn des reinen „Sollens“, durchaus schon um eine „Rechtsnorm“ handeln; nämlich um einen Text, der im Gesetzbuch steht und dem, wie all solchen Texten, seine „Normativität“ bereits innewohnen soll. Die Ungereimtheit des alten Paradigmas zeigt sich allerdings nicht nur in derartigen Grenzfällen, sondern auch und vor allem in den normalen Fällen240.
247
Da in Fällen wie diesem eine Normierungs„absicht“ nachweislich der genetischen Auslegung gegeben ist, muß weiter unterschieden werden, ob es an einem ausschließlich rechtserzeugten Sachbereich bzw. an einem gemischten oder einem nicht-rechtserzeugten fehlt. Im ersten Fall und in dem des gemischten (d. h. für den
238 Die Weimarer Grundrechte sollten nicht nur ein Katalog frommer Wünsche sein; vgl. nur den kurzen Bericht zur Entstehungsgeschichte des Zweiten Hauptteils der Reichsverfassung bei Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919, 3. und 4. Auflage 1926, S. 296 ff., 298 f.: „subjektive Rechte“ statt einer „Art politischer Aphorismensammlung“ (diese Formulierung zum Entwurf Naumann). – Zur Stellung des genetischen Konkretisierungselements bei methodologischen Konflikten vgl. hier Abschnitte 332.2, v. a. 332.233.2 und 3. 239 Dazu hier Abschnitt 320.4 u. ö. 240 s. dazu hier z. B. Abschnitte 313, 314 und durchgehend.
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rechtlich erzeugbaren Teil, etwa Verfahrensvorschriften oder Justizorganisation) kann ein derartiger Normtext nach sorgfältiger Konkretisierung mit Hilfe aller einschlägigen Elemente als geltender und implementierbarer Verfassungsauftrag dahingehend eingesetzt werden, daß dieser Sachbereich durch Maßnahmen der gesetzgebenden und der vollziehenden Gewalt geschaffen werden muß; der fragliche Normtext sowie die aus ihm zu entwickelnden Rechts- und Entscheidungsnormen würden dadurch in der Folge ihrerseits realisierbar241 werden.
314 Konkretisierung (Normkonstruktion) statt Auslegung
314.1 Zur Gleichsetzung von Rechtsnorm und Normtext Solange als „Methoden“ der Rechtspraxis und Rechtswissenschaft nur Regeln 248 der Interpretation (Auslegung) angegeben werden, ist die Struktur praktischer Rechtsverwirklichung in zweifacher Weise mißverstanden. Die Interpretation des Normtextes ist eines der wichtigsten Elemente im Vorgang der Konkretisierung, aber nur ein Element. Gesetzespositivistische Methodik verkennt diesen Sachverhalt. Das erste Mißverständnis betrifft die Achse Norm-Wirklichkeit. Die Ausschließlichkeit der positivistischen Entgegensetzung von Rechtsnorm und Wirklichkeit verkennt, daß der Normtext, wie übrigens jeder Text, nicht ohne Bezug zum ihn begleitenden Wirklichkeitsmodell verstanden werden kann242. Folglich vermag der Positivismus den unvermeidbaren Wirklichkeitsbezug nur verdeckt und unreflektiert über Blankettbegriffe einzuführen. Das zweite Mißverständnis betrifft die Achse Norm-Fall. Der Logik der Auslegungsmetapher243 zufolge ist juristische 241 Ein – rechtsvergleichendes – Beispiel dafür bietet die bisher ohne Infrastruktur normierte verfassungsrechtliche Verpflichtungsklage gemäß Art. 5 Abs. LXXI der Brasilianischen Verfassung von 1988 (Mandado de Injunção), die der direkten Geltendmachung verfassungsrechtlicher Vorschriften bei Fehlen von Durchführungsnormtexten, also des rechtserzeugten Teils des Sachbereichs, dienen soll. Nach Meinung des Obersten Bundesgerichts Brasiliens ermangelt diese Vorschrift aber ihrerseits des Unterbaus (Sachbereichs); deshalb hat das Gericht sich veranlaßt gesehen, sie zu einem bloßen Informationsrecht zu amputieren; STF (Supremo Tribunal Federal) 1990: nur ein Mittel der Unterrichtung des zuständigen Staatsorgans bezüglich der Verfassungswidrigkeit seines Unterlassens. – Diese Judikatur wird kritisch untersucht bei de Oliveira Rodrigues. Das interessante Rechtsinstitut des Mandado de Injunção war, vor seiner Normierung, in der Wissenschaft vorgeschlagen worden bei Saraíva. Eingehende, auch historisch hergeleitete Darstellung ferner bei Bonavides / Andrade. Aufschlußreich auch die Prozeßrechtsvergleichung zum Mandado de Injuncão bei: Mendes, S. 210 ff.; dogmatische und verfassungstheoretische Erörterung bei Quaresma. 242 Vgl. dazu grundlegend Jeand’Heur IV. – Produktive Auseinandersetzung mit Positivismus und Begriffsjurisprudenz bei Laudenklos / Rohls / Wolf, S. 315 ff., 321 ff. 243 Auch hier geht es wieder darum, eine herkömmliche Metapher an ihrer erkenntnisleitenden Rolle zu messen. In der angelsächsischen Rechtstheorie wird die Rolle der Metapher für die juristische Erkenntnis vor allem im Rahmen des sogenannten „law and literature movement“ untersucht. Vgl. dazu Weisberg; an einem praktischen Beispiel vgl. Henley.
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Auslegung nur Nachvollzug eines bereits Vorvollzogenen. Daher kann der Positivismus die schöpferische Dimension praktischer Rechtsarbeit nur jenseits des Gesetzes und außerhalb normativer Bindungen ansiedeln. 249
Eine Methodik, die über den Gesetzespositivismus hinausführen soll, hat Regeln für die Aufgabe der Normkonkretisierung im umfassenden Sinn der tatsächlichen Praxis anzugeben. Sie kann weder vom Wirklichkeitsbezug noch von der schöpferischen Dimension praktischer Rechtsarbeit absehen. Sie kann Vorgang wie Aufgabe der normgebundenen Rechtsverwirklichung nicht als Nachvollzug von etwas bereits Vollzogenem auffassen. Sie muß die Probleme des juristischen Vorverständnisses und der Fallbezogenheit von Konkretisierung erarbeiten. Sie hat im ganzen von einer den Gesetzespositivismus hinter sich lassenden Rechts(norm)theorie auszugehen.
250
Der Kern der positivistischen Mißverständnisse liegt in der unausgesprochenen Voraussetzung, daß die Rechtsnorm mit ihrem Wortlaut identisch sei. Diese Annahme einer notwendigen Verknüpfung von Zeichen und Bedeutung bzw. Normtext und Rechtsnorm blendet systematisch die zwischen beiden Größen erst vermittelnde semantische Praxis aus. Der Umstand, daß die Bedeutung des Normtextes als Rechtsnorm durch juristisches Handeln überhaupt erst konstituiert wird, kann im Rahmen der positivistischen Rechtsanwendungslehre noch nicht einmal formuliert werden. Die wirklichen Probleme praktischer Rechtsentscheidungen kommen damit nicht in den Blick. Die Schwierigkeiten schrumpfen scheinbar darauf, die im eindeutigen Text „enthaltene“ Anweisung zu vollziehen.
251
Diese Vorstellung ist nur dann aufrechtzuerhalten, wenn die Norm als etwas fertig Vorgegebenes behandelt wird. Diese Annahme wie auch das Festhalten am Begriff der „Eindeutigkeit“ des Normtextes (die mit „Eindeutigkeit“ der normativen Regelung identifiziert wird) verkennen das rechtswissenschaftliche Vorverständnis, die Differenz von Rechtsnorm und Normtext und die grundsätzliche Fallbezogenheit juristischer Konkretisierung. Auch in methodischen Positionen, die sich als nichtpositivistische verstehen, ist diese Illusion des Gesetzespositivismus anzutreffen. So wird als Hauptproblem der Rechts- und Verfassungsinterpretation die „Unvollkommenheit des Ausdrucks im Verhältnis zum Auszudrückenden“ im Sinn der Möglichkeit der Divergenz zwischen beiden bezeichnet244.
252
Das Problem der Methode wird in jenem der Textauslegung als der im Einzelfall möglicherweise notwendig werdenden „Klarstellung seines (sc. des Gesetzes) Inhalts“ erblickt245. Das Hinausgehen über Savigny und damit über die „klassischen Regeln der Auslegungskunst“ (durch die methodisch fragwürdigen und rechtsstaatlich bedenklichen Verfahren der „Wertabwägung“ und „Wertverwirklichung“) soll 244 P. Schneider I, S. 4 ff. – Dagegen arbeitet – vor dem Hintergrund der juristischen Hermeneutik – Streck die Differenz zwischen Normtext und Norm, Geltung und Normativität klar heraus, z. B. S. 214 ff., 235 f. 245 Larenz I, S. 291 ff., 295 (5. Auflage 1983).
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„der Norm die Evidenz“ nehmen. Von legitimen juristischen Methoden wird verlangt, der Rechtsnorm „einen evidenten, für den Normvollzug bereitstehenden generellen Gehalt zuzuerkennen“246. Die rechtsstaatlich unersetzliche Rolle von (Verfassungs-)Normtexten als Grenze 253 möglicher Konkretisierung anzuerkennen heißt noch nicht, Konkretisierung als „Normvollzug“ und (Verfassungs-)Normtexte als „evident“ mißzuverstehen, nur weil sie allein mit Savignys Kunstregeln traktiert werden. Der Einwand gegen die (noch) herrschende Doktrin geht also dahin, sie interpretiere (explizit) nur Texte; und nicht, wie das z. T. mißverstanden worden ist, dahin, sie lege „nur grammatisch“ aus. Der Normtext wird bekanntlich mit allen Elementen der Sprachauslegung interpretiert. Der von der Strukturierenden Rechtslehre entwickelte Gedanke einer Nichtidenti- 254 tät von Norm und Normtext wird in der neueren Diskussion von Alexy aufgenommen. Er unterscheidet zwischen den vom Gesetzgeber geschaffenen Normsätzen, den diesen semantisch zugeordneten Normen und den für dieses Zuschreiben vorgebrachten Argumenten. Allerdings will Alexy die als Gründe für die Zuordnung vorgebrachten Argumente nicht als zu strukturierende Teile des Vorgangs Normativität auffassen. Es sei stattdessen angezeigt, die Norm als „semantischen Gegenstand“ von den sie stützenden Gründen klar zu unterscheiden : „Dem Ideal der Rechtsstaatlichkeit dürfte eine klare Trennung zwischen dem, was ein Gesetzgeber als Norm gesetzt hat, und dem, was ein Interpret an Gründen für eine bestimmte Interpretation vorträgt, mehr dienen (…)“247. Auch diese Position setzt das gesetzespositivistische Mißverständnis voraus, daß 255 zwischen Text und Bedeutung, zwischen Normtext und Rechtsnorm eine notwendige Verknüpfung besteht. Die von Koch vorgeschlagene logische Semantik soll dabei den Weg vom Normsatz zur Norm als semantischem Gegenstand ebnen248. Alle Argumente, die über den engen Rahmen dieser juristischen Semantik hinausgehen, können zwar die zu treffende Entscheidung mitbegründen, liegen aber jenseits des Gesetzes und der entsprechenden Bindungen des Richters. Die Stufen juristischer Textarbeit sollen demnach sein: (1) der Normsatz oder Normtext, (2) die über die Entfaltung der semantischen Regeln zu gewinnende Norm und (3) alle weiteren zur Entscheidung erforderlichen Argumente. Alexy geht es somit um eine äußere, eine nur additive Verknüpfung von Semantik und juristischer Argumentation. Die Semantik erschöpft sich in der Erkenntnis angeblich objektiv vorgegebener Regeln; und weil sich solche Regeln im Ernstfall der Entscheidung natürlich nicht nachweiForsthoff I, S. 47. Alexy II, S. 68. – Zu Recht gegen den überholten Idealismus des dualistischen Ansatzes in Alexys Neufrankfurter Versuch grundsätzlich: Gröschner II, S. 170 f. und durchgehend (Praxis als Argumentationspraxis); vgl. ferner z. B. die Kritik bei Goebel, S. 88 ff; u. ö. – Die Nichtidentität von Normtext und Norm trägt z. B. auch den Ansatz von Adeodato. 248 Vgl. zur Aufnahme der Auffassung Kochs im Rahmen der Konzeption von Alexy: ebd., S. 502 Fn. 103 u. ö.; zur Kritik an beiden Autoren: Goebel, S. 67 ff., 88 ff., u. ö. 246 247
266
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sen lassen, bedarf sie der Ergänzung durch eine normgelöste juristische Argumentation. Daraus ergibt sich bei Alexy die Sonderfallthese.249 Der juristische Diskurs ist danach ein Sonderfall des moralischen Diskurses. Er ist in gleicher Weise am Prinzip der Universalisierbarkeit und an bestimmten Diskursregeln wie Zwanglosigkeit usw. orientiert. Der Sonderfall wird durch die Gesetzesbindung konstituiert. Diese kann allerdings mit Hilfe einer unrealistischen Semantik eherner Sprachregeln ganz schnell in Richtung Moral überwunden werden. Diese Moralisierung des Rechts hält Alexy für das entscheidende Moment in der Überwindung des Positivismus. Tatsächlich handelt es sich aber um einen Rückfall in die vom Positivismus250 überwundenen Positionen. Zu Recht wendet Habermas gegen die Sonderfallthese ein, sie lege eine „irreführende, weil von Konnotationen des Naturrechts noch nicht gänzlich befreite Subordinierung des Rechts unter die Moral“ nahe.251 256
Tatsächlich ist juristische Textarbeit aber viel komplexer, als es dieses additive Modell zulassen will. Der Weg vom Normtext zur Rechtsnorm ist gerade nicht als Anwendung objektiver semantischer Regeln zu verstehen252. Es handelt sich vielmehr um einen aktiven Semantisierungsvorgang. Erst in der juristischen Argumentation gewinnt der bloße Text seine Bedeutung, erst hier wird der tragende Leitsatz der Entscheidung hergestellt. Bei anderen Vertretern der Diskurstheorie, vor allem bei Jürgen Habermas253, hat es sich bereits herumgesprochen, daß sich semantische Regeln nicht auf die von Alexy unterstellte Art verdinglichen lassen. Es wäre deshalb auch für diesen Teil der Diskussion an der Zeit, das additive Modell aus Semantik plus juristischer Argumentation durch eine integrale Analyse der juristischen Argumentation als semantischer Praxis zu ersetzen. Dann würde deutlich, daß der vom Gesetzgeber geschaffene Normtext nicht die Norm schon enthält und nur noch durch Argumentation vervollständigt werden muß, sondern daß der Normtext überhaupt erst auf dem Weg über eine juristische Argumentation zur Grundlage für die Erzeugung einer Rechtsnorm werden kann.
249 Vgl. dazu Engländer II, S. 34 f. sowie 144 ff. Außerdem Seelmann I, S. 105 f.; Neumann IX, S. 25 ff. 250 Vgl. Alexy VII, S. 180. Vgl. grundsätzlich zum Verhältnis von Recht und Moral bei Alexy: Alexy VI, S. 52 ff. 251 Habermas III, S. 286. – Den Beitrag der Habermasschen Diskurstheorie zum Verfassungsrecht untersucht Pieroth IV. 252 Das Mißverstehen sprachlicher Regelungen als präskriptiv ist sozusagen der häufigste Fall juristischer Sprachverdinglichung. Aus einer unrealistischen Verkürzung von Regeln gewinnt man dann die, wie es heißt, in der Verantwortung der Juristen stehenden „Prinzipien“. Vgl. als Beispiel Neumann X. Vgl. zum Hinweis darauf und auf generelle sprachtheoretische Defizite in der Rechtswissenschaft Baumann S. 13. – Grundsätzlich zur Bedeutung der Argumentation für juristische / richterliche Entscheidungstätigkeit: Christensen / Kudlich II, S. 230 ff. und durchgehend. 253 Vgl. Habermas II, S. 11 f.
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Die vorliegend entwickelten Konkretisierungselemente haben die Aufgabe von Argumenten; sie mögen auch als solche bezeichnet werden, so lange dabei nicht fragwürdige Ausgangspunkte der Argumentationslehre hinein gemischt sind. Diese wurde nicht spezifisch juristisch entwickelt, sondern aus der Philosophie importiert; sie sieht in veralteter Statik das Recht als Erkenntnisgegenstand und nicht – wie hier – als Ergebnis der Arbeit im Entscheidungsvorgang. In ihrer altbackenen Form bleibt sie noch immer rechts- und sprachpositivistisch; in ihrer aufgeklärten Version bekämpft sie positivistische Konzepte, die von dem hier vorliegenden seit Jahrzehnten systematisch überholt sind. (wie z. B. Subsumtion und Syllogismus, Identifizierung von Normtext und Norm, Zielvorstellung der „einzig richtigen“ Entscheidung). Mit ihrer Addition von Argumentation und Semantik bleibt sie jedenfalls sprachpositivistisch (vorgebliche Anwendung objektiver semantischer Regeln). Eine deduktive Übertragung254 ist schon mit der philosophischen Argumentationstheorie selbst unvereinbar255. Diese wird in der Philosophie allmählich von einem Spezialgebiet zu einer zentralen Bedingung für künftiges philosophisches Weiterdenken. Die philosophische und wissenschaftstheoretische Entwicklung führt von ganz verschiedenen Voraussetzungen aus zu dem Ergebnis, daß die Rationalität einer Argumentation nicht von außen begründet werden kann. Denn für eine Letztbegründung fehlt uns ein der Argumentation entzogener Archimedischer Punkt. Die Praxis des Argumentierens ist damit die einzige Instanz möglicher Verbindlichkeit. Das heißt aber nicht, daß die Philosophie vor der faktischen Argumentation kapitulieren müsse. Vielmehr sollte sie ihr Vorgehen ändern. Statt Rationalität von oben überzustülpen, hat sie von innen her im prinzipiell unabgeschlossenen Prozeß der Argumentation mitzuarbeiten. Die Philosophie wird damit als Argumentationstheorie zur reflexiven Aufstufung der Praxis. Die Bandbreite philosophischer Argumentationstheorie256 reicht von rein empirischen Analysen über rhetorische Untersuchungen der argumentativen Wirkmechanismen bis zu normativ ausgerichteten Versuchen, einen Regelkanon des Argumentierens zu erarbeiten. Das Problem dieser Tendenz liegt darin, daß die von der Argumentationstheorie vorgeschlagenen Unterscheidungen ihrerseits nicht anders als argumentativ entwickelt werden können. Objekt- und Metaebene sind von Anfang an kontaminiert. Deswegen kann auch der jeweilige Einsatzpunkt der Argumentationstheorie nicht auf einer „höheren“ Ebene oberhalb des praktischen Streitens liegen, sondern nur inmitten der Argumentation. Diese Entwicklung vollzieht sich nicht nur in der Philosophie, sondern in jeder Argumentation, die sich selbst zum Thema
254 In der juristischen Rezeption wird immer noch das statische Strukturmodell der Argumentation von Toulmin angewendet. Vgl. dazu Seifert, S. 63 ff. 255 Vgl. zur Entwicklung der juristischen Argumentationstheorie Kreuzbauer; Neumann VII, S. 343 ff.; ders. IX, insbesondere S. 24; im Rahmen seiner allgemeinen Rechtstheorie: Moor III, S. 280 ff.. 256 Vgl. dazu Wohlrapp II, Lueken II.
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macht. Argumentationstheorie im Recht ist deswegen nicht denkbar von außen, vom Feldherrnhügel der Philosophie aus, sondern nur von innen, als mitarbeitende Reflexion. Wenn die philosophische Argumentationslehre diese mitarbeitende Reflexion am Beispiel der Begründung von Rechtsentscheidungen vollzieht, ergibt sich folgendes: Der streitige Prozeß wird ausgelöst durch die Rechtsmeinungen der Parteien, die sich gegenseitig ausschließen.257 Durch das gerichtliche Verfahren werden die Parteien zu einer Distanzierung von diesen Meinungen gezwungen, indem sie ihre Anträge begründen müssen. Mit dem Formulieren der Schriftsätze, mit dem Einschalten professioneller Juristen wird die Rechtsmeinung bis zu einem gewissen Grad schon der Probe unterzogen, ob sie auch für sich betrachtet, unabhängig von der Person des Klägers oder des Beklagten, Bestand haben kann. Schon damit ist der erste Schritt vom Meinungskampf zum semantischen Kampf258 um Gesetzestexte getan, und es beginnt der Prozeß der Argumentation. Diese hat im Prozeß, wenn man juristischer Erfahrung und philosophischer Analyse folgt, eine retroreflexive Struktur. Das heißt, der Begründungszusammenhang einer Rechtsmeinung wirkt auf die Voraussetzungen, die in diese Begründung eingehen, zurück. Es handelt sich hier um eine Rückkopplungsschleife, die sich aus der Dynamik der Argumentation ergibt. Weil der Prozeß widerstreitende Rechtsmeinungen klärt und zur Entscheidung bringt, steht nicht von vornherein fest, welche Annahmen als sicher in Anspruch genommen werden können. Im semantischen Streit, im Argumentationsprozeß selbst, wenn die Geltung der zur Anspruchsbegründung herangezogenen Rechtsmeinungen untersucht wird, kann die Bedeutung einzelner Elemente der Argumentation sichtbar werden. Diese entfaltet sich erst in der Beziehung des einzelnen Elements zu den anderen. Der nächste Schritt kann dabei die vorherigen Schritte beeinflussen und zu ihrer Revision führen. Es wird also im Rechtsstreit die ursprüngliche Rechtsmeinung auf Grund der vorgebrachten Einwände und Widerlegungen beständig reformuliert, was wiederum zu einer Veränderung der Gegenargumente führen kann. Dieser retroreflexive Prozeß der Argumentation kann idealerweise so lange weitergehen, bis eine gültige Version der streitigen Rechtsmeinung erreicht ist. Dafür müssen die Prozeßbeteiligten eine entsprechende gedankliche Basis verfügbar machen und alle Einwände ihres Prozeßgegners ausräumen, bzw. sie so reformulieren, daß sie in die Begründung der eigenen Rechtsmeinung integriert werden können. Mit diesem Status der Einwandfreiheit ist im Ergebnis eine gültige These259 erreicht, bzw. ist der Streit der Rechtsmeinungen vertretbar entschieden. 257 Vgl. zum damit angesprochenen Problem der Inkommensurabilität Lueken III, ders. II, Wohlrapp V; grundsätzlich F. Müller / Christensen / Sokolowski. 258 Vgl. dazu Seibert XI, S. 2895. 259 Vgl. zu dem Kriterium der Geltung von Argumentation: Wohlrapp IV, S. 400, Lueken II, S. 378. – In der Theorie juristischer Argumentation wird häufig noch mit dem überholten Kriterium des Konsenses gearbeitet. Vgl. dazu Seifert, S. 55 ff. Zur Kritik grundlegend Wohl-
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Das integrale Modell der Strukturierenden Rechtslehre kann im Unterschied zu 257 nur additiven Modellen die juristische Argumentation innerhalb des Gesetzes und der von Art. 97 Abs. 1 GG statuierten Gesetzesbindung begreifen. Durch die Unterscheidung von verschiedenen Textstufen wie: Normtext, Normprogramm, Normbereich, Rechtsnorm und Entscheidungsnorm kann sie die juristische Argumentation auch von rechtsstaatlichen Anforderungen her strukturieren, kontrollierbar machen. An die Stelle einer abstrakten philosophischen Rationalitätsanforderung tritt damit die relative, aber juristisch konkrete Rationalität eines gewaltenteilenden und demokratischen Rechtsstaats. 314.2 „Evidenz“, „Klarheit“, Norm und Fall Schon frühere Untersuchungen zur juristischen Sprache und Begriffsbildung260 258 haben gezeigt, daß das Ideal der Eindeutigkeit juristischer Begriffe und Bezeichnungen, daß die Vorstellung, auf dem Weg sprachtechnischer Präzision eine hinreichende Sicherheit der Normkonkretisierung erreichen zu können, die Eigenart der Normativität wie der gerichtlichen (und sonst juristischen) Entscheidung verkennt. Normativität erweist sich nur im Regeln konkreter Rechtsfragen. Sie wird nur im Vorgang solchen Regelns gefordert und damit wirksam. Ein Normtext ist nicht (nur) deshalb interpretationsbedürftig, weil und insofern er nicht „eindeutig“, nicht „evident“, weil und insofern er „unklar“ ist, sondern vor allem deshalb, weil er auf einen (wirklichen oder erdachten) Fall hin konkretisiert werden muß. Ein Normtext mag auf dem Papier „klar“ oder gar „eindeutig“ aussehen. Schon der nächste praktische Fall, mit dem er in Verbindung gebracht werden soll, kann ihn seiner Evidenz berauben, kann ihn höchst unklar erscheinen lassen. Ohne ihnen zugeordnete (tatsächliche oder erfundene) Fälle können Normtexte überhaupt nicht zureichend beurteilt werden; auch nicht daraufhin, ob sie klar oder unklar sind. Das erweist sich immer erst beim Versuch der Konkretisierung. Bei dieser wird nicht etwas Fertiges auf einen gleichfalls als abgeschlossen verstehbaren Sachverhalt angewandt. Der Gesetzespositivismus gab und gibt das vor. Die Rechtsnorm ist aber nicht substantiell im Normtext vorgegeben. Durch wechselseitige Präzisierung und Überprüfung des Normtextes am Sachverhalt und des (weder isolierbaren noch in diesem Sinn „abgeschlossenen“) Sachverhalts am Normtext wird in einem durchgehend normtextorientierten Verfahren mit Hilfe aller hier erörterten Konkretisierungselemente herausgearbeitet, was im Einzelfall Rechtens sein soll. Ein Rechtssatz funktioniert nicht mechanisch. Die „sens-clair-Doktrin“ fremder Rechtsordnungen, die scheinbar eindeutige Rechtsbegriffe als nicht auslegungsfähig behauptet, kommt zu dieser Behauptung selbst nur durch deutende Vorwegnahme des möglichen Normsinns261. rapp VI, Kap. 7. – Siehe auch hier die Unterscheidung von Arbeitskonsens und Ergebniskonsens, RNr. 415, 534, 579 ff. 260 Hatz, S. 99. – Zu „Eindeutigkeit“ vgl. ferner: Clauss-Clauss; Leenen, S. 28 ff.; Schreiber, z. B. S. 173 ff.
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„Subsumtion“ ist nur scheinbar ein formallogisches, in Wahrheit ein durch das jeweilige rechtsdogmatische Vorverständnis inhaltlich bestimmtes Verfahren. 259
Der Normtext muß nicht „an sich“ verstanden werden, sondern so, daß er – seine Einschlägigkeit stets vorausgesetzt – die Fragestellung des Rechtsfalls beantworten kann. Seine Aussagekraft für den Rechtsfall wird von eben diesem Fall provoziert. Zu diesem Normtext früher erstellte Rechts- und Entscheidungsnormen für Fälle anderer Art und die Quellen für diese Aussagen (Rechtsprechung und Literatur) interessieren in der Perspektive des anstehenden Fallproblems nur zu Zwecken der Abgrenzung und der vergleichenden Unterscheidung. Normkonkretisierung ist nicht „Anwendung“, das heißt: es wird nicht eine normative Aussage des Rechtssatzes als etwas Vorgegebenes auf den rechtlich ebenfalls in sich verständlichen Fall formallogisch übertragen. „Verstehen“ sowie das „Anwenden“ des Normtextes „auf“ den Sachverhalt wie auch – im dargestellten Sinn – des Sachverhalts „auf“ den Normtext sind insgesamt ein einheitlicher Vorgang: der Vorgang der mit „Anwendung“, „Subsumtion“ außer in Grenzfällen nicht erfaßbaren und über Auslegung bzw. Interpretation hinausgehenden Konkretisierung. In einem Verfahren, das durch wechselseitige Überprüfung der Normtexthypothesen an den für diese relevanten Bestandteilen des Sachverhalts und umgekehrt der arbeitshypothetisch als relevant behandelten Sachverhaltsbestandteile an dem ihnen vorläufig zugeordneten Normtext (bzw. an mehreren Rechtssätzen) schrittweise an Genauigkeit gewinnt, werden die „auf Gegenseitigkeit“ ausgewählten Normtexte und Sachverhaltselemente aneinander (und immer mit der Möglichkeit des Mißlingens, d. h. der Notwendigkeit, andere Varianten arbeitshypothetisch einzuführen) gleichfalls auf Gegenseitigkeit weiter konkretisiert. Die Lösung, das heißt: die Konkretisierung der Rechtsnorm im Ausgang von Normtext und Fall sowie ihre Individualisierung zur Entscheidungsformel des rechtlich noch nicht entschiedenen Sachverhalts zum entschiedenen Rechtsfall, hat schließlich die sachliche Konvergenz beider zu erweisen, bekanntzugeben und zu begründen262.
260
Die genannten Elemente des Konkretisierungsvorgangs sind zusammenzusehen, auch können nicht die kognitiven von den nicht-kognitiven getrennt werden. Dagegen will der Soziologismus das Tatsächliche als den faktischen Gehalt des Rechtsfalls für allein verbindlich und die rechtliche Anordnung für einen unverbindlichen Lösungsvorschlag halten, über den die entscheidende Stelle hinweggehen kann. Der Dezisionismus nimmt auf seiner Suche nach dem Rechtscharakter der Entscheidung, bei seiner Erörterung des Problems der juristischen Form als einer normativ nicht ableitbaren und nicht abgeleiteten Dezision263, seinen Ausgangspunkt bei den 261 Müller I, S. 45 f. – Wo das BVerfG (in E 87, 48 ff., 60) vom „klaren Gesetzeswortlaut“ spricht, aus dem „der objektivierte Wille“ des Gesetzgebers „für jedermann erkennbar“ sei, „meint“ es der Sache nach: für Juristen rechtsstaatlich korrekt begründbar. – (Hervorhebung nicht im Original). 262 s. a. Esser II, S. 174, 182 u. ö. 263 Schmitt I, S. 42, 46.
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als kognitiv nicht zureichend erfaßbaren, also bei den volitiven Elementen der Normumsetzung. Der noch immer vorherrschende Positivismus schließlich möchte die Konkretisierung als rein kognitiven Vorgang begreifen, der sich in der Erkenntnis einer (als „Rechtsnorm“) objektiv vorgegebenen Textbedeutung und in deren technisch-instrumentellen Anwendung auf den Fall erschöpft. Zugespitzt gesagt, verhält sich juristische Konkretisierung (herkömmlich als blo- 261 ße Interpretation mißverstanden) zum Verfahren der „Applikation“ in den sonstigen interpretierenden Geisteswissenschaften im Sinne der 11. Feuerbach-These: Entscheidend ist nicht die Interpretation des Vorliegenden, sondern seine Veränderung. Die Veränderung setzt aber ihrerseits Interpretation voraus und umschließt sie. Zu verändern, nämlich durch die zu treffende Entscheidung rechtlich verbindlich zu ordnen, ist der betroffene Komplex von Sachverhalten, menschlichen Handlungen und Motivationen. Jede juristische Interpretation als Textauslegung steht im Dienst einer Normkonkretisierung, die über das geisteswissenschaftliche Problem des Verstehens weit hinausführt und auf solches Verändern eines Ausschnitts menschlicher Sozialwelt angelegt ist. Das so als Entscheidungsinteresse klargestellte „Erkenntnisinteresse“264 im juristischen Geschäft läßt es als zweitrangig erscheinen, ob der bearbeitete Rechtsfall ein aktuell zu lösender oder ein erdachter ist. 314.3 Zum Hintergrund der „Willens“-Doktrin Nach dem Gesagten ist es nicht mehr möglich, Konkretisierung oder auch nur, 262 enger gefaßt, Textinterpretation als Rekonstruktion eines vom Normtextgeber Gewollten im Sinn der Ermittlung seines Willens bzw. des Willens der Rechtsnorm sinnvoll zu verstehen. Dieser Wille, diese Entscheidung – sei es des Normtextgebers, sei es des Normtextes – sind nicht „an sich“ da. Entschieden werden kann nur der konkrete Fall. Schon wegen der Zukünftigkeit dieser Fälle und damit der einem Normtext zuzurechnenden einzelnen Entscheidungen können weder „der“ Wille noch „die“ Entscheidung einer Vorschrift ermittelt werden. Sie können es als etwas abstrakt Fertiges auch nicht im konkreten Rechtsfall, denn die Eigenart dieses Falls selbst hat Anteil an der Entscheidung. Der Normtext in Verbindung mit den Standards einer bestimmten Argumentationskultur, also mit den anerkannten Methodenregeln, gibt mehr oder weniger deutliche, mehr oder weniger abschließende Gesichtspunkte für den in die Zukunft hinein offenen und unabgeschlossenen Inbegriff der ihm methodisch zulässigerweise zuzurechnenden Entscheidungen. Konkretisierung ist nicht Nachvollzug einer vor-vollzogenen Dezision, eines vorformulierten Willens. Jene Position könnte allenfalls dahin geändert werden, der „Wille“ (des Normtextgebers bzw. des Normtextes) sei eben nur insoweit als gegeben anzunehmen, als der Rechtssatz angesichts eines bestimmten zu entscheidenden Falls mit den Mitteln rechtsstaatlicher Methodik verwertbare Anhaltspunkte und
264
Vgl. zu diesem Begriff auch Mastronardi, S. 53 ff.
272
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damit Hilfen für die Erstellung von Rechts- und Entscheidungsnorm tatsächlich zur Verfügung stellt265. 263
Gerade dann aber würde sich zeigen, daß ein solcher „Wille“ der Sache nach nichts weiter ist als eine entbehrliche, verwirrende und im übrigen wissenschaftsgeschichtlich überholte Metapher für den Vorgang der (z. B. richterlichen) Rechtserzeugung. Bei der Konkretisierung sind nur „Gesetz und Interpret“ im Spiel266, besser: der Normtext (plus alle methodischen Möglichkeiten in bezug auf Normprogramm und Normbereich) und der konkretisierende Jurist. Der Jurist steht nicht darüber hinaus noch einem reproduzierbaren individuellen oder kollektiven Autor, dessen Vorstellungen oder dessen Willen gegenüber. Der Autor der Entscheidung ist er allein. Insofern wäre auf dem Boden herkömmlicher Methodik in der Tat der sogenannten objektiven Auslegungstheorie der Vorzug zu geben. Sie ist allerdings vom Begriff wie von der theoretischen Vorstellung des „Willens“ der Rechtsvorschrift als eines „objektivierten Willens des (Verfassungs-)Normgebers“ zu befreien zugunsten der Konzentrierung auf Fall und Rechtssatz; auch im übrigen, wie gezeigt wurde, ist die Basis der sogenannten objektiven Theorie hier ganz verlassen.
264
Im Willens- und Entscheidungsdogma berühren sich, wie zuweilen auch sonst, Gesetzespositivismus und Dezisionismus. Nach der hier entwickelten Konzeption interessiert für Recht und Rechtskonkretisierung nur der vertextete „Wille“; d. h. das in der Entstehungsgeschichte der Norm erscheinende (und angesichts der heutigen außerparlamentarischen und parlamentarischen Praxis der Normtextsetzung noch aus andern Gründen wenig konsistente) politische Normierungsziel ist nur noch als mitgebrachte Verwendungsweise gesetzlicher Begriffe erheblich267. Es ist gegen das durch Konkretisierung gewonnene Ergebnis nicht mehr ausspielbar. Dagegen ist für dezisionistische (und für gesetzespositivistische) Positionen die Möglichkeit, den „Willen“ zu isolieren und ihn im Konfliktsfall über das methodisch erarbeitete Konkretisierungsergebnis zu stellen, im Grund schon nicht mehr ein Problem des Rechts, sondern eines der faktischen Machtverhältnisse; nicht mehr eine Frage der Rechtswissenschaft, sondern eine der Geschichtsmetaphysik und der praktischen Ideologie.
265 In seinem Kontext der „richtigen“ weil „rechtsbestimmten“, nämlich „voraussehbar und berechenbar“ gefällten Entscheidung, will Schmitt IV, S. 71 ff., ganz auf die juristische Kultur abheben: „richtig“, wenn „ein anderer Richter ebenso entschieden hätte“, nämlich „der normale juristisch gebildete Richter … im quantitativ durchschnittlichen Sinne“; wenn der Spruch also „von dem andern Richter (der gesamten Praxis) in der gleichen Weise getroffen worden wäre“; ebd., 71, S. 79, 111 f. 266 Hatz, S. 101 f.; zum ganzen auch Müller XII. 267 Wenn man sagt, der gesetzgeberische Wille werde vom Ziel der Auslegung zu dessen Schranke, trifft dies zwar die Rolle der genetischen Auslegung, hält aber ohne zwingende Notwendigkeit an einer mißverständlichen Metapher fest. So z. B. Jacobi, S. 119.
314 Konkretisierung (Normkonstruktion) statt Auslegung
273
314.4 Zur Unbrauchbarkeit der „Willens“-Doktrin Um so weniger besteht Anlaß, das Willensdogma in nichtpositivistischen Rechts- 265 auffassungen metaphorisch beizubehalten268. Auch der sogenannte objektivierte Wille in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts269 meint, richtig gewendet, nichts anderes als die möglichst rational zu konkretisierende normative Wirkung einer Vorschrift in bezug auf die zu lösende Rechtsfrage. In Judikatur und Wissenschaft dient die Rede vom Willen des (Verfassungs-)Gesetzgebers nicht selten als postulatorischer Ersatz für Argumente, als scheinbar normative Formel. Der Wille des Rechtssetzers (korrekt: Normtextgebers) müßte, wenn überhaupt, mit den Mitteln der Geschichtswissenschaft weit über die Gesetzesmaterialien hinaus erforscht werden. Ist aber durch die Eigenart der Aufgabe juristischer Methodik der Rückgriff auf historisierende Psychologie und auf allgemeine Historik abgeschnitten, so kann die Begründung des Entscheidungsergebnisses nur aus dem Konkretisierungsvorgang selbst kommen und macht auch insoweit die Willensmetapher überflüssig. In diesem Zusammenhang ist daran zu denken, daß Savigny die Rekonstruktion des im Gesetz (vermeintlich) enthaltenen Gedankens oder Sinns zum Geschäft der Auslegung erklärte270, nicht aber die der dem „Willen“ benachbarten „Absicht“. Es kommt bei diesem Hinweis auf die Ablehnung eines hypostasierten Willens als des Gegenstandes der Normkonkretisierung an, nicht auf die unzureichende Konzeption der Auslegung als bloßer Rekonstruktion. Das Willensdogma entstammt der späteren Pandektenwissenschaft und wurde aus ihr von der frühpositivistischen Staatslehre, besonders von Gerber und Laband, übernommen. Es setzte sich in der Vorstellung von der (mit dem Normtext verwechselten) Rechtsnorm als Befehl fort und beraubte mit der Trennung von Recht und Wirklichkeit den Rechtssatz als vorgeblichen hypothetischen Imperativ der sachlichen Beziehung zum Geltungsbereich. Eine andre Parallele zu der genannten Übereinstimmung zwischen gesetzes- 266 positivistischen und dezisionistischen Konzeptionen äußert sich in dem Gedanken271, die in der Verfassung scheinbar vollzogene höchste Verrechtlichung schlage im Rahmen sprachlicher Auslegung antithetisch in Entrechtlichung um und „in eine erstaunliche Herrschaft des Außerrechtlichen“. Auch hier zeigt sich unfreiwillig, daß jede juristische Methodik notwendig, wenn auch oft unausdrücklich, von einer Normtheorie gestützt wird; daß eine endlich vom Positivismus wegführende Metho268 Z. B. P. Schneider I, S. 28: Verfassungsinterpretation sei angelegt „auf die Verwirklichung eines realen, sich in Raum und Zeit entfaltenden Willens eines Verfassunggebers“. 269 Seit BVerfGE 1, 299, 312. Vgl. auch BGHZ 46, 74, 76 m. Nw.en. – Berechtigte Kritik am „Schallplatten-Urteil“ bei Kilian, in: Rave / Brinckmann / Grimmer II, S. 75 ff. Die Argumentation ist nur Technik der Absicherung. Methodenpräferenzen werden nicht klargestellt; die rechtspolitischen Überlegungen werden durch Rückgriff auf den historischen Gesetzgeber überdeckt. 270 v. Savigny I, S. 212 ff. 271 Leisner, S. 664 f.
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3 Juristische Methodik – 31 Grundlagen
dik zugleich eine die gesetzespositivistische ersetzende Rechts(norm)theorie zu entwickeln hat.
314.5 Entscheidungsinteresse 267
Weder der Normtext noch der zu regelnde Sachverhalt sind voneinander ablösbar. Beide liefern auf verschiedene, aber komplementäre Art die für die Rechtsentscheidung erforderlichen Elemente. Weder ein Normtext noch eine früher in Verbindung mit ihm formulierte Rechtsnorm (Leitsatz) allein machen ein juristisches Problem zu einem aktuellen. Jede Konkretisierung arbeitet schon in einfach gelagerten Fragen mit einem wirklichen oder einem erdachten Rechtsfall. Der Fall272 gibt den Anstoß zur Konkretisierung der Vorschrift und liefert zugleich in diesem Vorgang nach dem Maß des Widerstandes, den er den verschiedenen Lösungsalternativen entgegensetzt, und ferner nach der Art seiner praktischen Fragestellungen, von denen die Konkretisierung herausgefordert wird, unverzichtbare Sachgesichtspunkte für das Ausarbeiten der rechtlichen Lösung273. Jede Rechtsfrage tritt in Form eines wirklichen oder erdachten Falls auf. Jeder Normtext ist im Hinblick auf einen von ihm (mit) zu lösenden Fall sinnvoll oder nicht sinnvoll. Dieser Grundtatbestand juristischer Konkretisierung umschreibt das für Rechtswissenschaft und Rechtspraxis eigentümliche, das spezifisch juristische Erkenntnisinteresse als ein Entscheidungsinteresse. Das hat nichts mit „Interessenabwägung“ und ähnlichen Vorstellungen zu tun. Es bezeichnet den durch die sachliche Selbständigkeit der Rechtswissenschaft gegenüber den sich so nennenden Geisteswissenschaften bestimmten Horizont juristischer Arbeitsaufgaben und Methodenhaltung. Die Notwendigkeit einer Rechtsentscheidung (auch derjenigen eines erdachten Falls) umschließt zwar die Verstehens-Problematik, die kognitiven Momente und Verfahren, die von juristischer Methodik mit gleichem Nachdruck wie die über Kognition hinausgehenden zu entwickeln sind. Die Rechtsentscheidung erschöpft sich aber schon funktionell nicht in ihren kognitiven Teilen. Sie zielt über die im allgemein geisteswissenschaftlichen Sinn „hermeneutischen“ Fragen des Verstehens hinaus. Es ist übrigens klar, daß das Verhältnis der kognitiven und der nicht-kognitiven Elemente im Konkretisierungsvorgang je nach der ausgeübten juristischen Funktion wechselt und daß beispielsweise das kognitive „Erkenntnis“interesse bei wissenschaftlicher Konkretisierung angesichts eines erdachten Sachverhalts deutlich in den Vordergrund tritt.
272 Vgl. zum Fall als Ereignis und zur juristischen Kasuistik Seibert XI, S. 2891 ff. Vgl. außerdem Schapp II, S. 227 ff. 273 Zur Fallbezogenheit der Konkretisierung, die dort allerdings offenbar mit Textauslegung gleichgesetzt ist, auch Kriele I, S. 159 ff. u. ö. – Zum (juristischen) Entscheidungsinteresse eine klare Übersicht bei Mastronardi, S. 55 ff., 67 ff.
314 Konkretisierung (Normkonstruktion) statt Auslegung
275
314.6 Vorverständnis, Wertung, Objektivität, Rationalität Schon das bisher Gesagte mag deutlich machen, welche Rolle das Vorverständnis 268 der zu konkretisierenden Norm und das des Falls in der juristischen Arbeit spielen. Das Bewußtsein des Rechtsarbeiters, eine rechtliche Entscheidung hervorbringen und diese – unter welchen Voraussetzungen der Begründbarkeit auch immer – im Hinblick auf die Normtextorientierung wie auch hinsichtlich der Fallgerechtigkeit „richtig“ treffen zu müssen, prägt notwendig die Eigenart juristischer Methodik. Schon deshalb kann „Vorverständnis“ hier nur ein juristisches, nicht ein philosophisches oder allgemein geisteswissenschaftliches bedeuten. Das gilt auch gegenüber den nicht-juristischen Elementen des im umfassenden Sinn ideologischen Vorverständnisses, gegenüber der allgemeinen Vorurteilshaftigkeit allen Verstehens. (Verfassungs-)Rechtliche Dogmatik, Theorie und Methodik müssen Mittel zur Verfügung stellen, die spezifisch juristischen Momente dieser Vorurteilshaftigkeit selbständig als norm- oder sachbezogenes Vorverständnis der Rechtswelt zu begründen, sie verdeutlichend abzugrenzen, zu differenzieren und sie damit als strukturierten, kontrollierbaren und diskutierbaren Faktor in den Vorgang der Konkretisierung einzubringen. Das juristische Vorverständnis und der Versuch seiner rationalen Rechtfertigung, die in verfassungsrechtlicher Praxis weitgehend mit dem Einarbeiten von Inhalten der Staats- und Verfassungstheorie zusammenfällt, ist damit der Ort einer aus der Praxis erwachsenden, einer nicht um ihrer selbst, sondern um der Rationalität und Richtigkeit der zu produzierenden Entscheidung willen anzustellenden Ideologiekritik. Der herkömmlich als wirklichkeitsbezogene normative Geisteswissenschaft auf- 269 gefaßten Jurisprudenz stellt sich die Frage nach ihrer Objektivität und Allgemeingültigkeit auf besondere Art. Von der „Objektivität“ der Naturwissenschaften trennt sie ihr „geschichtlicher“ Stoff, von der Arbeitsweise der „verstehenden“ Geisteswissenschaften ihre Bindung an „geltende“ Rechtssätze. Die Forderung nach juristischer Objektivität kann nicht im Sinn eines Idealbegriffs erhoben werden; wohl aber als Forderung nach überprüfbarer, diskutierbarer Rationalität der Rechtsarbeit und nach ihrer Sachgerechtigkeit im Sinn der Sachgeprägtheit rechtlicher Vorschriften und der Einbeziehung der Sachelemente von Normativität in die Konkretisierung. Objektivität als Sachbestimmtheit zeigt: Die Aufgabe der Jurisprudenz ist von der (im Fall jeweils auszuarbeitenden) Rechtsnorm her umschrieben. Die Norm wiederum kann zur Wirklichkeit des normierten Regelungsbereichs nicht in eine abstrakte, erst nachträglich mit den Mitteln der Rechtsphilosophie vermittelte Distanz gebracht werden. Die Aufgaben, die damit gestellt sind, bedürfen der Objektivität im zweiten Sinn: der rationalen, praktischen und damit für das Recht brauchbaren Nachprüfbarkeit juristischer Erörterung und Entscheidung. Eine Jurisprudenz ohne Entscheidung und Wertung wäre weder praktisch noch real. Die Forderung nach Objektivität meint nicht das Beseitigen, sondern das Offenlegen der erforderlichen und der tatsächlich erfolgenden Wertungen274. Wird das Postulat der „Wertfreiheit“ 274 Z. B. Esser III, S. 5 ff., 14 ff., 20 u. ö. – In Esser V wird das Vorverständnis unter Aspekten der „Methodenwahl“ umfassend vom Zivilrecht her untersucht. – Auch an diesem The-
276
3 Juristische Methodik – 31 Grundlagen
in der Rechtswissenschaft so verstanden, daß Wertungen wohl Urteile, nicht aber objektive Erkenntnis ermöglichen und daß sie im Bereich des Spekulativen liegen sollen, also außerhalb objektiven Denkens275, so ist die der Rechtsarbeit eigentümliche Leistungsfähigkeit verkannt. Juristische Objektivität ist ohne Wertung und Entscheidung nicht denkbar. In juristischem Denken liegen nicht rein rationale und rein wertende Momente nebeneinander oder hintereinander. Trotz deren Gemengelage sind objektive Aussagen im spezifisch juristisch begrenzten Sinn möglich. Andernfalls müßte auf den mißverstandenen naturwissenschaftlichen Objektivitätsbegriff des Gesetzespositivismus zurückgegriffen werden. Die Norm ist nicht im Text vorgegeben, nicht technisch anwendbar. Ihre Konkretisierung läßt sich weder als Planspiel ausschließlich wertender noch ausschließlich logisch folgernder Einzelakte bewältigen. Darum ist eine Mehrzahl in kleinen Schritten nachprüfbarer „Methoden“ als Hilfsgesichtspunkte nötig. Darum muß Objektivität in ihrer zweiten Sinnvariante, als Methodenklarheit und -ehrlichkeit, das der Rechtswissenschaft ohne Selbsttäuschung Mögliche bewirken. Juristische Objektivität kann nicht in dem Sinn verstanden werden, der die Debatte zur Voraussetzungslosigkeit der Wissenschaft zum Teil geprägt hat: „Objektivität“ einer Geisteswissenschaft, die sich jede Wertung versagen möchte, die grundsätzliche Positionen für von wissenschaftlicher Erkenntnis prinzipiell ablösbar hält und sich auf solchen Methodendualismus zuversichtlich verläßt. Demgegenüber hat Max Weber zu Recht das praktische Problem der Wertung vom theoretischen Wertproblem, die Unausweichlichkeit wertender Entscheidungs- und Erkenntnisvorgänge von der theoretischen Frage nach der Voraussetzungslosigkeit der Wissenschaft unterschieden276. Juristische Objektivität kann nicht vorgeben, dem Normtext und dem Fall ohne „Voraussetzungen“ gegenüberzutreten. Solche sind vor allem unentrinnbar schon mit der Sprache gegeben, die Rechtsvorschriften wie Interpreten umgreift. Sie wirken ferner als Kenntnis sachlicher Zusammenhänge, erfahrungsmäßiger Daten und nicht zuletzt als rechtstheoretische, staatstheoretische, verfassungstheoretische, dogmatische, rechts- und verfassungspolitische Positionen, Bestrebungen und Sachgehalte und damit als der einzelnen Konkretisierung vorausliegende motivierende Konzepte. Die Rechtsarbeit hat ihre Voraussetzungen nicht zuletzt in diesem Sinn zu prüfen, einzugestehen und ohne Beschönigung darzulegen. 270
Das Gesagte folgt aus der Natur der Jurisprudenz als einer praktischen Wissenschaft. Rechtswissenschaft darf im demokratischen Rechtsstaat auf optimale Disma wird die graduelle Unterschiedenheit der juristischen Methodiken deutlich. Für das Verfassungsrecht jedenfalls steht die Fallgerechtigkeit (und mit dieser zusammenhängend die Rechtspolitik) nicht in gleichem Maß im Vordergrund, sondern überwiegend die objektive Maßstäblichkeit der positiven Verfassungsnormen. – Zum Vorverständnis ferner: Rosenbaum S. 66 ff.; Rottleuthner I, S. 32 ff.; soziologische Überlegungen bei Opp-Peuckert, z. B. S. 51 ff. 275 So Ballweg, S. 16. – Allg. zu Objektivität / Subjektivität in der Rechtswissenschaft: Hruschka II, S. 89 ff. Die hier entwickelte Auffassung auch bei Oeter, S. 6 ff. – Wie hier jetzt auch Klenner. 276 Weber I, S. 475 ff.
314 Konkretisierung (Normkonstruktion) statt Auslegung
277
kutierbarkeit ihrer Ergebnisse und Begründungsweisen nicht verzichten. Auch als einer Normativwissenschaft ist ihr die Intention zur (nur rational zu leistenden) Allgemeingültigkeit aufgetragen. Die Forderung möglichst weitgehender Rationalität der Rechtsbildung folgt aus der Unmöglichkeit ihrer vollständigen Rationalität; eine solche anzunehmen hieße, den Entscheidungs- und Wertungscharakter von Recht zu verkennen. Dieses Eingeständnis umschreibt das Feld des Möglichen. Ohne die Ernüchterung rationalistischen Überschwangs könnte sich Ideologie unumgrenzt, unkontrolliert entfalten. Dagegen muß im demokratischen Rechtsstaat das Ergebnis der Normkonkretisierung nicht nur in seiner Richtung deutlich werden, sondern auch in der juristischen Qualität seiner Einzelmomente, nach seinen rechts-, staatsund verfassungstheoretischen Voraussetzungen, nach den Schritten des realen Entscheidungsvorgangs und nach den verwendeten Maßstäben; aber auch nach den im einzelnen nicht rationalisierbaren Wertungen, Überzeugungen oder Abwägungen, soweit solche das Urteil (mit)tragen. „Maximale“ Rationalität erhellt ihr eigenes Vorgehen möglichst redlich; „optimale“ Methodenehrlichkeit provoziert im nachprüfenden juristischen Bewußtsein möglichst wenig pauschale Wertungen. Damit ist kein utopischer Perfektionismus gemeint, sondern eine Darstellung der Konkretisierungsvorgänge, welche die ihnen zugrundeliegende Anstrengung der Vermittlung von Sachverhalt, Normtext, Normprogramm, Normbereich mit den Mitteln juristischer Methodik auch in ihrer Begrenztheit offenlegt, statt sich hinter sekundär und zielbewußt eingesetzten, pauschal bezeichnenden oder unter falscher Flagge segelnden rhetorischen Argumenten zu verschanzen.
314.7 Funktion des juristischen Vorverständnisses Das Problem des Vorverständnisses ist nicht spezifisch juristisch, reicht aber auf 271 spezifische Weise in die juristische Methodik hinein. Es äußert sich darin, daß Wertungen subjektiven Ursprungs ebenso wie subjektiv vermittelte Wertmaßstäbe aus der Wissenschaft nicht auszuschließen sind. Diese Erkenntnis bewahrte die Diskussion um die Vorurteilslosigkeit der Wissenschaft in den zwanziger Jahren vor dem Abgleiten in positivistischen Begriffsrealismus. Max Weber hat es als naive Selbsttäuschung des Fachgelehrten bezeichnet, den Einfluß der von ihm unbewußt an den Stoff herangetragenen Wertideen auf Auswahl und Umgrenzung der wissenschaftlichen Untersuchung zu übersehen. Noch grundsätzlicher hängen Verstehen und Entscheidung, Verstehen und sein Vollzug als Akt des Verstehenden in der Geschichtlichkeit des Daseins zusammen. Das Vorverständnis erscheint als das Lebensverhältnis des Verstehenden zu der zu verstehenden Sache; als ein Verhältnis, das die Möglichkeit von Verstehen überhaupt erst begründet277. Im Rechtsfall aktualisieren der Normtext und die Bestandteile des Sachverhalts neben den engeren Interpretationsproblemen und dem umfassenden Konkretisierungsvorgang zugleich auch einen vorgängigen Sachbezug des handelnden Juristen zu diesen Problemen. Sprach277
Ebeling, Sp. 256 f.; Gadamer, S. 250 ff., 261 ff., 314 f.
278
3 Juristische Methodik – 31 Grundlagen
liche wie inhaltliche Vorverständnisse müssen in ihrer produktiven Funktion als Bedingung und Voraussetzung von Verstehen allgemein wie vor allem auch in der Rechtsarbeit gesehen werden. 272
Der herkömmliche Begriff des hermeneutischen Zirkels hat hier eine Begründung, die über ein Subjekt-Objekt-Verhältnis von Interpret und Text hinausgeht. Damit ist, wie gesagt, nicht Beliebigkeit des juristischen Vorverständnisses gemeint. Die rechts(norm)theoretischen und methodischen Aufgaben, die es stellt, gehen im Rahmen des Rechtsfalls in die sachliche Fragestellung über, von der das Vorverständnis immer schon mitbestimmt ist. Das wird von der einen Ausschnitt der Wirklichkeit umfassenden Struktur der zu erzeugenden Rechtsnorm wie auch von der Sachhaltigkeit des zu entscheidenden Falls im Verlauf des beschriebenen Verfahrens der Konkretisierung bewirkt. Die Scheidung der normativ legitimen von den normativ nicht abgestützten Bestandteilen des juristischen Vorverständnisses wie auch dessen Abgrenzung gegenüber dem allgemeinen, dem ideologischen Vorverständnis erfolgen innerhalb der Konkretisierung. In deren Rahmen müssen auch die Inhalte des Vorverständnisses ohne Camouflage in den Begründungszusammenhang eingeführt werden, sollen sie nicht unkontrollierbare Fehlerquellen bilden. Sonst wäre an diesem Punkt kein Schritt über den Gesetzespositivismus hinaus getan, der diese Elemente übersah oder verschwieg. Die sachlich folgerichtige Entwicklung eines juristischen Vorverständnisses, das der Erörterung und Lösung des Einzelfalls jeweils vorangeht, kann aber nicht allein der Konkretisierung eben dieses Einzelfalls aufgebürdet werden. Diese Entwicklung ist Aufgabe der Rechtslehre, im öffentlichen Recht vor allem der Verfassungstheorie, die in ständigem Geben und Nehmen mit den Ergebnissen der Rechtsverwirklichung in Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung die gefundenen Problemlösungen über geeignete Mittelstufen wie Fallgruppen, Problemtypen, Begriffe und Grundsätze in die Theorie einarbeitet278. 314.71 Vorverständnis und „Methodenwahl“
273
Vorverständnis und „Methodenwahl“ sind hier demnach vor allem so zu verarbeiten: als Analyse der verschiedenen Funktionen von zunächst (1) ideologischem und (2) allgemein juristischem und speziell juristischem, besonders verfassungstheoretischem Vorverständnis und seiner methodologischen (das heißt auch: seiner dogmatischen, theoretischen, sozialwissenschaftlichen, rechtspolitischen, lösungstechnischen sowie seiner ideologiekritischen) Rationalisierbarkeit für praktische juristische Arbeit; und als Präzisierung der methodischen Figuren, unter denen auf dieser Grundlage in praxi zu „wählen“ ist. Diese Wahl wird sich um so stärker rational ausweisen müssen, je genauer die Hilfsmittel der Normkonkretisierung und die Inhalte der Vorverständnisse methodologisch umschrieben sind. Das zu skizzieren unternimmt die vorliegende Strukturierende Methodik. Vorverständnis und Methodenwahl sind Elemente kontrollierbarer Arbeit nur insoweit, als sie im Einzelfall mit 278
Hierzu Ehmke III, S. 56 f., 70; Müller I, S. 47 ff.
314 Konkretisierung (Normkonstruktion) statt Auslegung
279
den entwickelten und fortzuentwickelnden methodischen Elementen begründbar sind. Andernfalls sind sie irrational oder arbeiten mit verdeckten Karten. Dasselbe gilt für die dritte Schicht im Vorverständnis, nach dem ideologischen (das über schichtspezifische Kanäle den einzelnen Juristen beeinflußt, damit vor allem auch sein spontan / intuitives Verstehen) und dem fachlichen (das mit Erklären und Darstellen verknüpft ist, also der Handlungsform Interpretieren). Es ist das institutionell geprägte279, das den Exekutivfunktionär, den Richter, den Anwalt usw. zu einer Art der Arbeit mit Texten280 veranlaßt, die dem entsprechenden gesellschaftlichen Funktionsauftrag an die Exekutive, an die Justiz, an die Anwaltschaft entspricht. Die verschiedenen juristischen „Stände“ werden nicht nur von ihren eigenen Stilen oder ihrem esprit de corps geformt, sondern besonders auch durch Herangehens- und Denkmuster in der Arbeit „des typischen“ Verwalters, Richters, Anwalts etc.
314.8 Konkretisierung (Normkonstruktion) Der Ausdruck „Konkretisierung“ hat seine Begriffskarriere vor einem Hinter- 274 grund gemacht, der nach wie vor in positivistischer Manier die Rechtsnorm nicht vom Normtext unterscheidet281. In der Strukturierenden Rechtslehre ist dagegen das Konzept von Konkretisierung nicht ein modernisiertes oder angereichertes herkömmliches Schema282 von Rechtsfindung, sondern ein Modell, das auf einer neuartigen Gesamtvorstellung aufbaut.
Vgl. zur Rolle der Archive Seibert XI, S. 2881 ff. Vgl. zur Rolle der Akten Seibert XI, S. 2880 f. 281 Z. B. Kelsen I, S. 242: „ein Prozeß stetig zunehmender Individualisierung oder Konkretisierung“ i. S. des Wegs vom Generellen oder Abstrakten zum Individuellen oder Konkreten; Engisch IV. Zur Kritik am Begriff „Konkretisierung“ bei Böckenförde, der dort auf die Ausfüllung einer halbwegs vorgegebenen Rechtsnorm hinausläuft, vgl. Jeand’Heur XII, S. 166 f. Nur zu einem Teil (nämlich allein zur „sowohl erkennenden als auch eigenverantwortlich ergänzenden Interpretation“) wählt Seiler (S. 38 ff. u. durchgehend) den hier entfalteten Ansatz. – Im ganzen ist er z. B. bei Gomes Canotilho, S. 1087 ff.; übernommen; ferner z. B. bei Pavčnik VIII, S. 560 ff. 282 Diesem grundsätzlichen Mißverständnis unterliegt Kriele I, z. B. S. 316 („Verfeinerung des Methodenkanons“), 317 („Technik des algorithmischen Rechnens mit methodischen Regeln“), 324 („die Savignyschen Interpretationselemente … verdienstvoll ergänzt und verfeinert“). – Vgl. dagegen Bonavides II, S. 251: Diese „Methodologie überwindet das klassische, auf privatrechtlichen Grundlagen aufbauende Modell Savignys“. – Was der ,Dekonstruktivismus‘ innerhalb der (,narrativen‘) Rechtstheorie im Anschluß an Derrida heute als „Differenz von Sprache und Bedeutung“ und als den kreativen Vorgangscharakter der juristischen Entscheidung hervorhebt, hatten (seit 1966) die Strukturierende Rechtslehre und (seit 1971) die Strukturierende Methodik aus immanenter rechtswissenschaftlicher Theoriebildung entfaltet. – Zur Narrativen Rechtstheorie: Broekman IV, Sp. 347 f. m.w. N. und Grasnick VIII. – Verbindungen zwischen dem rechtstheoretischen Strukturierungskonzept und der juristischen Methodik sind kurz zusammengefaßt bei Müller XXXI. – Übrigens werden weiterhin Antipositivis279 280
280
3 Juristische Methodik – 31 Grundlagen
Rechtswissenschaft in diesem Sinn ist Rechtserzeugungsreflexion, nicht Rechtfertigungskunde im Sinn des Legitimierens von Text„aus“legung. „Konkretisieren der Rechtsnorm“ heißt hier nicht, die Norm sei schon vor dem Auftauchen des Falls, vor der Fallösung vorhanden. Das meinen der Positivismus, der Neopositivismus und die verschiedenen Antipositivismen. Nach der aus diesen Strömungen zusammengesetzten herrschenden Meinung muß die als solche vorgegebene Rechtsnorm noch auf den Fall hin konkreter, das heißt enger und genauer gemacht, muß sie vom Allgemeinen auf das Besondere, vom Generellen auf das Individuelle hin „konkretisiert“ werden. Der Jurist stutzt nach diesem herrschenden Konzept „die“ Rechtsnorm sozusagen auf ihre passende, den Fall entscheidende Miniaturversion zusammen. Durch ihre Einsicht in die Notwendigkeit aktiven Tuns des Juristen unterscheiden sich die antipositivistischen Schulen vom klassischen Gesetzespositivismus. Der Grundirrtum, die Rechtsnorm als vor dem Rechtsfall vorhanden anzusehen, der Glaube an eine lex ante casum, ist dagegen positivistischen und antipositivistischen Ansätzen bis heute gemeinsam. Nachdem für den Positivismus von Anfang an das Modell von Syllogismus und Subsumtion kennzeichnend war und obwohl der Ausdruck „Konkretisierung“ als unklare Variante dieser Vorstellungen im Umlauf ist, gibt es dennoch Gründe, ihn auf eine neue Basis zu stellen, ihn zum Begriff zu machen. Das sprachlich-emotionale Mißverständnis, hier werde verdeckt der Positivismus fortgeführt, wäre dabei unberechtigt. 275
Juristische Methodik ist Entscheidungstechnik und Zurechnungstechnik unter dem rechtfertigenden Anspruch der Bindung an das positive Recht. Sie hat die rechtsstaatlich rationale Beherrschbarkeit der Divergenz von Normtext, Rechtsnorm und Entscheidungsnorm zu gewährleisten. Die einzelnen Arbeitsvorgänge auf diesem Feld werden hier zusammenfassend „Konkretisierung“ genannt. Dieser Begriff bezeichnet nicht das Verengen einer gegebenen allgemeinen Rechtsnorm auf den Fall hin, sondern das Erzeugen283 einer allgemeinen Rechtsnorm im Rahmen der Lösung eines bestimmten Falls. Eine bereits vorhandene Rechtsnorm, die in die Einzelfälle hinein verteilbare Wirkungsfaktoren, Befehlsinhalte, substantielle Aussagen welcher Art auch immer „enthalten“ könnte, ist nicht nachweisbar. Der Ausgangspunkt der Fallösung kann nicht die Rechtsnorm sein, sondern nur der Normtext284. Er hat Signalwirkung und Begrenzungsfunktion in Rechtserzeugungs- und men kultiviert. Vgl. etwa die aufschlußreiche Diskussion der ÖAR („ökonomische Analyse des Rechts“) bei Laudenklos II, S. 291 ff. 283 s. a., aus anderer Richtung, Derrida III, S. 47. 284 Ähnlich dem vorliegenden Konzept vom Normtext als Eingangsdatum des Konkretisierungsvorgangs jetzt Luhmann XI, S. 403 ff., 405. Danach wird (rechtliches) Argumentieren „immer in einem Kontext der Beobachtung zweiter Ordnung“, als Erarbeiten „eines Arguments – für andere Beobachter“ verstanden. Gesetzgebung sei „die Erstellung von Normtexten zur Organisierung von Beobachtungsverhältnissen“; Normtexte erscheinen als „zeitabstrakte“ Texte, die „doch in der Lage sind, durch Verwendung spezifischer Formen (Unterscheidungen) ausreichende Vorgaben zu leisten und dadurch Beliebigkeit (also Zerfall, also Entropie) auszu-
314 Konkretisierung (Normkonstruktion) statt Auslegung
281
Begründungsvorgängen, das heißt in Vorgängen juristischen Entscheidens und Darstellens. Juristische Begriffe im Normtext können nur in seltenen Grenzfällen (bei rein 276 rechtserzeugtem Normbereich, so bei Fristen, Terminen, numerisch bestimmten Vorschriften sonstiger Art) das Gemeinte zuverlässig dinglich beschreiben. In aller Regel evozieren sie nur als Signal- oder Anknüpfungsbegriffe das, woran als Entsprechung in der sozialen Realität gedacht ist285. Der Normtext kann Normativität nicht enthalten. Er steuert und begrenzt legale und insoweit legitime Möglichkeiten rechtsgebundener Fallösung innerhalb seines sprachlichen Rahmens. Juristischen Begriffen in Normtexten eignet nicht „Bedeutung“, sie setzen nicht „Sinn“ nach der Konzeption eines abgeschlossen Vorgegebenen. Vielmehr steht die aktive Leistung des Empfängers, also des fallentscheidenden Juristen im Vordergrund, der aufgrund normierter Aufgaben- und Rollenverteilung eine bestimmte Zuständigkeit zugewiesen erhält. Er subsumiert nicht nur, wendet nicht einen vorgegebenen Befehl an, interpretiert nicht einfach im Sinn der Text„aus“legung. Vielmehr erarbeitet er im Ausgang von Normtext und Sachverhalt zunächst eine allgemeine, den Fall typologisch betreffende Rechtsnorm, die er anschließend gezielt auf den zu entscheidenden Fall hin zuspitzt, zur Entscheidungsnorm individualisiert. Juristische Konkretisierung der Rechtsnorm ist also zunächst das Erschaffen einer vorher noch nicht vorhandenen allgemeinen Rechtsnorm; ist nicht bloß „Nachvollzug“ legislatorischer Wertungen oder „objektiv vorgegebener geistiger Gebilde“286. Die vom Grundgesetz an Gesetzgebung, Exekutive und Rechtsprechung verteilten Kompetenzen sind schließen. Solche Normtexte würden, ähnlich wie komplexe Computerprogramme, zwar keinen Einblick in die konkret ablaufenden Operationen mehr erlauben, und sie würden auch keine Gleichsinnigkeit der Beobachtungsresultate mehr garantieren. Aber sie könnten so weit spezifiziert sein, daß erkennbar wird, wenn ein Grund vorliegt, die Änderung der Texte selbst in Erwägung zu ziehen.“ – Nach Th.-M. Seibert V, S. 120 „hat sich die Einsicht durchgesetzt, daß Normen nicht vorgefunden werden“, sondern „für jede Entscheidung neu formuliert werden“; und zwar von dem ebd. nicht näher datierten magischen Zeitpunkt an, „seitdem Juristen Theorie rezipieren.“ – Übernahme des Strukturkonzepts unter Betonung des Prozeßhaften der Rechtsnormerzeugung z. B. auch bei Grau I; (nur) auf halbem Weg in die hier vorgeschlagene Richtung geht Pavčnik V; weiter dagegen in Pavčnik VIII., S. 560 ff 285 Juristischen Begriffen eignet so jener methodisch praktische Grundzug, den Wittgenstein überhaupt Begriffen zumißt: „Sie entsprechen einer bestimmten Behandlung von Sachlagen.“ Wittgenstein III, S. 431, und: „Begriffe leiten uns zu Untersuchungen. Sind der Ausdruck unseres Interesses und lenken unser Interesse.“ Wittgenstein I, Philosophische Untersuchungen § 570. – Eine auf dieser Linie liegende formale Ausarbeitung zum Begriffsbegriff findet sich bei Bickes, v. a. S. 134 ff. Sie wird dort wegen ihrer Herkunft vom Sneedschen Theoriebegriff zwar als „strukturalistisch“ bezeichnet, wäre aber nach Anspruch und Richtung in dem hier zugrunde gelegten Sinn durchaus als ein strukturierendes Konzept von Begrifflichkeit anzusprechen. 286 Kennzeichnend für die allgemein herrschende Meinung in diesem Sinn Canaris II, S. 145 ff., 148. – Im Sprachgebrauch des vorliegend entwickelten Konzepts „reformuliert“ Gromitsaris, z. B. S. 90, die Position Geigers („Rechtsanwendung ist nur in der Form von Rechtsneukonstruktion möglich“). Geigers „subsistente Norm“ ist aber nicht die hier explizierte Rechtsnorm.
282
3 Juristische Methodik – 31 Grundlagen
nicht allein solche zur „Auslegung“, zur „Interpretation“, zum „Nachvollzug“ von Normtexten der Verfassung oder des Unterverfassungsrechts. Sie sind solche zu Rechtskonkretisierung und verbindlicher Fallentscheidung, in deren Rahmen Interpretation als Textauslegung ein wichtiges Element, aber nur eines unter anderen darstellt. Nur dort, wo das Verfahren der Konkretisierung manchmal in die Nähe eines wertungsfreien Umsetzungsaktes, eines rechtslogischen Schlußverfahrens gerät, könnte man von Rechtsanwendung, von Nachvollzug sprechen: also bei quantifizierenden, numerisch festgelegten Normtexten etwa von formalen Verfahrens-, Termin-, Fristvorschriften oder von zahlenförmigen Regeln über die Besetzung gerichtlicher Spruchkörper. Die Praxis weiß jedoch zur Genüge, daß auch in solchen Grenzfällen Schwierigkeiten und Unklarheiten unvermeidbar sind. Auch hier, wie immer, sollten die Nichtidentität von Norm und Normtext sowie die relative Selbständigkeit auch eines rechtserzeugten, sogar eines numerisch eingegrenzten Normbereichs bewußt bleiben. Alles, was nicht diese Sonderfälle betrifft, also die Hauptmasse juristischer Problematik, hat unumgänglich den Charakter normtextorientierter Rechtsnormschöpfung und, im Anschluß daran, rechtsnormgebundener Erzeugung der Entscheidungsnorm. Dasjenige, dem Normativität zugesprochen wird, ist im Vorgang der Fallösung erst zu erarbeiten. In einem weiteren Teilvorgang, dem Schlußstück der Konkretisierung, ist dann durch individualisierenden Zurechnungsakt die Entscheidungsnorm auszusprechen. Abkürzend wird hier Normativität als tatsächlich strukturierter und wissenschaftlich entsprechend strukturierbarer Vorgang begriffen und wird die arbeitstechnische Seite dieses Vorgangs normtextorientierter und rechtsnormgebundener Lösung von Rechtsfällen als Normkonkretisierung bezeichnet. 277
„Normkonkretisierung“ heißt in bezug auf „konkret“ das folgende: Erstens ist der Normtext mit der Rechtsnorm nicht identisch. Zweitens ist der Normtext von der Seite des ‚geltenden Rechts‘ her das Eingangsdatum des Konkretisierungsvorgangs, provoziert durch den zu lösenden Sachverhalt von der faktischen Seite. Drittens ist der Text der im Lösungsvorgang geschaffenen Rechtsnorm konkreter als der Normtext, weil enger, typologisch stärker auf den vorliegenden Fall bezogen. Viertens ist der Text der Rechtsnorm seinerseits allgemeiner als derjenige der Entscheidungsnorm. Beurteilt nach der sprachlichen Fassung, ist die Entscheidungsnorm konkreter als die Rechtsnorm, diese konkreter als der Normtext. Eben deshalb, nicht dagegen wegen der pseudo-ontologischen Sicht der herkömmlich herrschenden Lehre zur Vorgegebenheit von Rechtsnormen, ist der Ausdruck „Normkonkretisierung“ als Name für den Gesamtvorgang sinnvoll: In der zeitlich-empirischen wie auch in der systematisch-begrifflichen Abfolge des Entscheidungsprozesses werden die textlich geformten Arbeitselemente in der Sequenz vom Normtext über die Rechtsnorm zur Entscheidungsnorm, vom Fall her und für den Fall beurteilt, zunehmend konkreter. In bezug auf „Norm (Rechtsnorm)“ heißt zweitens „Normkonkretisierung“ demnach nicht, diese sei schon vorhanden, sei also (neben dem Sachverhalt) das normative Eingangsdatum des Entscheidungsvorgangs und müsse ‚nur noch konkreter ge-
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macht werden‘. Die Rechtsnorm muß vielmehr überhaupt erst gemacht werden. Ist das geschehen, so wird die Rechtsnorm, die ein Arbeitsergebnis, eine Zwischenphase der Entscheidung darstellt, zu der noch konkreteren, für den vorliegenden Fall erstmals unmittelbar dirigierenden Entscheidungsnorm verengt. Es ist eine in den herkömmlichen Lehren verbreitete ‚optische‘, in Wahrheit sach- 278 lich-systematische Täuschung, die Fragestellungen „normativ?“ und „konkret?“ nicht auseinanderzuhalten. Realistisch gesehen, ist dagegen eine am geltenden Recht legitimierbare Fallösung ein Vorgang fortschreitenden Konkretermachens der Arbeitselemente durch kreatives Tun des entscheidenden Juristen, also Konkretisierung: Die Eingangsdaten sind vom Faktischen her der Sachverhalt, vom ‚geltenden Recht‘ aus die von ihm her hypothetisch ausgewählten Normtexte287. Der Jurist beginnt beim Sachverhalt und wählt mit dessen Merkmalen aus der Normtextmenge des sogenannten geltenden Rechts diejenigen Normtexthypothesen aus, die er für einschlägig hält. Er kommt von diesen her zu den Sachbereichen der durch die Auswahl der Normtexthypothesen als einschlägig angenommenen Rechtsnormen und verengt die Sachbereiche in der Regel zu Fallbereichen. All diese Elemente sind nicht-normativ. Juristische Konkretisierungsvorgänge müssen ohne normative Eingangsdaten auskommen – entgegen den herrschenden positivistischen oder antipositivistischen Konzepten, die mit „der“ Rechtsnorm sogar die umfassende normative Instanz an den Anfang stellen zu können vorgeben. Der Vorgang der Normkonkretisierung ist trotzdem nicht ‚frei‘, willkürlich, un- 279 rechtlich, denn all seine Eingangsgrößen, abgesehen vom Sachverhalt, sind auf das Erzeugen normativer Daten im Fall und für den Fall ausgerichtet: Der Normtext in bezug auf die Sprachdaten führt zur Erarbeitung des Normprogramms. Der Normtext in bezug auf die Realdaten führt zur Auswahl des Sachbereichs, zu dessen Verengung zum Fallbereich und zu dessen am Normprogramm maßstäblich orientierter Konstituierung als Normbereich. Normprogramm und Normbereich ergeben zusammen die (normative) Rechtsnorm, deren Zuspitzen auf den individuellen Fall hin die (normative) Entscheidungsnorm. Während also der durch die Entscheidung in Rechtsform zu bringende Sachverhalt normativen Instanzen zu unterwerfen ist, sind die genannten nicht-normativen Eingangsfaktoren ausnahmslos auf das methodisch regulierte, rational darstellbare und nachvollziehbare Produzieren dieser normativen Instanzen hin angelegt. Die normativen Elemente der Rechtsarbeit sind also jeweils erst deren Ergebnisse: die Rechtsnorm als Zwischenergebnis, die Entscheidungsnorm als Endresultat. Der Jurist, der als Eingangsgrößen – neben dem Fall – zum Beispiel statt ein- 280 schlägiger Normtexte ihm als einschlägig erscheinende (nicht gesetzlich bindende) 287 Zu den Begriffen „Sachverhalt“, „Sachbereich“ und „Fallbereich“ vgl. Müller XIX, S. 250 ff. – Zum Zeichengebrauch als „Herstellung via Sprache“, als Konstruktion – sowohl für „den Sachverhalt“ als auch für „seinen rechtlichen Sinn“ (v. a. an Beispielen aus dem Strafrecht): Grasnick III; gleichfalls anhand strafrechtlicher Fragen zu Definition, Interpretation und Argumentation ders. VII, sowie als Grundlagenuntersuchung zur Rechts- und Sprachtheorie am Beispiel aus der strafrechtlichen Dogmatik ders. IX.
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3 Juristische Methodik – 31 Grundlagen
Gerichtsurteile oder nur ein ihm individuell gefallendes Entscheidungsziel wählt, handelt subjektiv pflichtwidrig und objektiv rechtswidrig; es sei denn, er schiebe die Normtexte des geltenden Rechts später noch nach und arbeite ab dann korrekt. Die Beurteilung „objektiv rechtswidrig“ kann auch dann entfallen, wenn das korrekt erarbeitete Ergebnis sozusagen zufällig ebenso lauten würde; wenn also die Entscheidung zwar nicht ihrem realen Entstehen nach gerechtfertigt, wohl aber im Resultat am geltenden Recht rechtfertigungsfähig ist. 314.81 Ablauf der Konkretisierung 281
Diese Strukturierungen auf dem Feld der juristischen Methodik sind an anderer Stelle entwickelt, begründet und diskutiert worden288. Sie haben dazu geführt, das (außer im Fall des Normwandels) statische Strukturmodell der Rechtsnorm durch ein dynamisches Ablaufmodell von Konkretisierung zu ergänzen289: Der Rechtsarbeiter geht vom vorgelegten oder erdachten Sachverhalt aus und wählt mit dessen Merkmalen aus der Normtextmenge des sogenannten geltenden Rechts290 diejenigen Normtexthypothesen, die er für einschlägig hält. Er kommt dann von diesen aus zu den Sachbereichen291 der durch die Auswahl der Normtexthypothesen als einschlägig unterstellten Rechtsnormen, verengt die Sachbereiche aus Gründen der Arbeitsökonomie in der Regel zu Fallbereichen und erarbeitet in der Folge aus der Interpretation sämtlicher Sprachdaten das Normprogramm. Mit dessen Hilfe wählt er aus dem Sach- beziehungsweise Fallbereich die Teilmenge der normativ wirkenden Tatsachen, den Normbereich, aus. Im letzten Abschnitt des Arbeitsprozesses individualisiert er die so erstellte Rechtsnorm292 zur Entscheidungsnorm. Die Übersicht 288 Müller VI, S. 123 ff.; auch in: Müller XVI, S. 145 ff. – Zur Auseinandersetzung vgl. etwa Schlink IV, S. 94 ff.; Schlink V, S. 75 ff.; Böckenförde II, S. 2096 f.; V. Neumann; Rottmann, S. 41 ff., 50 ff.; Maus I, S. 153 ff.; Chr. Müller, S. 211 ff.; Fohmann, in: Müller / Pieroth / Fohmann, S. 97 ff., 104 ff.; Bonavides I. Savigny beschränkte sich nicht auf Gesetzestexte und Texthermeneutik. Es kam ihm auf das „wirkliche Recht“ an, auf das Materiale das die tatsächlichen Rechtsverhältnisse prägt. Demnach sind „Sein“ und „Sollen“ als „wirkliches Recht“ juristisch und systematisch in der Realität selber verbunden. – Dazu die differenzierte Untersuchung bei Rückert II. 289 Dazu Müller XIX, S. 250 ff. 290 „Sogenannt“ deshalb, weil es dabei, genau genommen, um die Menge nicht der Rechtsnormen, sondern der Normtexte geht, welche nach methodischen Regeln erst zu Rechtsnormen und diese ihrerseits wieder zu Entscheidungsnormen fortentwickelt werden müssen, während sich das geltende Recht sowohl (potentiell-generell) aus den Rechtsnormen wie (aktuellindividuell) aus Entscheidungsnormen zusammensetzt. 291 In herkömmlicher Dogmatiksprache sind die für eine Vorschrift (einen Normtext) „typischen Fallgestaltungen“, also typischen Konstellationen sozialer Gegebenheiten, Hauptbestandteile des Sachbereichs; anders gesagt: die generellen Tatsachen im Unterschied zu den individuellen der Fallerzählung / des Sachverhalts. – Der Term „Sachbereich“ taucht (wie auch „Normbereich“, „Normtext“) inzwischen auch in der höchstrichterlichen Judikatur auf; vgl. z. B. BVerfGE 108, 282, 311 f. und ebd., 314, 335 (Abweichende Meinung). 292 Insoweit, auf anderen Grundlagen, auch Luhmann XI, S. 404 f., der auf Parallelen hinweist: „Die Norm wird durch ihre Anwendung überhaupt erst erzeugt …“ – Die Übernahme
314 Konkretisierung (Normkonstruktion) statt Auslegung
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im hier angefügten Graph veranschaulicht die Elemente und Hauptstadien des Vorgangs einer Normkonkretisierung293. 314.82 Subjekt der Konkretisierung Entlang der Frage „Wer löst eigentlich den Rechtsfall?“ lassen sich verschiedene 282 historische Grundhaltungen der neueren Rechtswissenschaft abschichten. Zum ursprünglichen Gesetzespositivismus gehört die Vorstellung, der Fall werde letztlich von der (mit ihrem Text verwechselten) Vorschrift selbst gelöst. Denn der Jurist tut inhaltlich nichts hinzu, handelt nicht eigenverantwortlich, läßt nur objektive Logik walten. Syllogismus, Subsumtion, begriffliche Konstruktion folgen, rein kognitiv, logischen Kriterien, ohne eine inhaltlich begründende Wertung des entscheidenden Juristen zu erfordern, ohne seine Richtigkeits- und Folgenverantwortung auslösen zu können. Taucht ein nach Beschaffenheit und Umfang passender Rechtsfall auf, so schließt sich die Norm als logische Falle, so unterwirft sich der Obersatz „Norm“ den Sachverhalt als seinen Untersatz. In der Sicht der spätpositivistischen Reinen Rechtslehre ist es der Jurist, der den 283 Fall mit Hilfe der (weiterhin mit ihrem Text vertauschten) Norm löst. Denn verantwortliches Handeln ist dann erforderlich, wenn Logik versagt, soweit also logisch nicht beherrschbare, nicht eindeutig festlegbare restliche Spielräume verbleiben. Sofern die Norm den Fall nicht vollständig und präzise beherrscht, muß rechtspolitisches Entscheiden für Logik in die Lücke springen. Pragmatisch gesehen, erkennt Kelsen, daß dies der typische Fall ist; systematisch stellt das Einräumen rechtspolitischer Verantwortung ein Zugeständnis dar, eine unumgängliche Notlösung angesichts des Versagens der Syllogismuskonzeption. Die künstliche Entgegensetzung von Sollen und Sein in der Rechtstheorie ergänzt für das Tun der Juristen jene von Logik und rechtspolitischer Setzung im verbleibenden Spielraum. „Die“ Norm wird nach wie vor als vorgegeben betrachtet, sie wird lediglich für die Entscheidung verengt. Für die Strukturierende Rechtslehre sind es nicht Normen oder ihre Wortlaute 284 oder methodische Anweisungen, die eine Rechtsfrage lösen. Es sind die handelnden dieser Sicht durch Luhmann erfolgte bereits 1970; vgl. Luhmann IV, in: ders., Ausdifferenzierung des Rechts, 1981, S. 113 ff., 126 f. – Indem es „die durch eine bestimmte Auslegung konkretisierte Normvariante“ benennt, kommt das Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 40, 88, 93) jedenfalls an der terminologischen Oberfläche in die Nähe des hier entwickelten Konzepts. – Instruktives Beispiel (aus dem Zivilrecht des BGB) zu den Textstufen des Konkretisierungsvorgangs bei Laudenklos III., S. 145 ff. – Darstellung und Analyse vor dem Hintergrund der modernen Diskussion in Frankreich z. B. bei Beaud; unter dem Aspekt des „falliblen Rechts“ bei Jouanjan II, bei dems. III unter Einbeziehen von Sprachphilosophie und Linguistik in die Analyse des strukturellen Konzepts. 293 Die lösungstechnischen Elemente finden sich deshalb nicht im Graph, weil nach dem hier vertretenen Konzept die Lösungstechnik nicht zur juristischen Methodik gehört, sondern ergänzend neben dieser steht. – Der Graph ist übernommen z. B. bei Hattori, S. 149; Gomes Canotilho, S. 998; Mastronardi, S. 170 ff. (vereinfacht); Vallada-o Ferraz.
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3 Juristische Methodik – 31 Grundlagen
Juristen, die am Leitfaden und in den rechtsstaatlichen Grenzen der Normtexte mit Hilfe methodischer Regeln entscheiden, begründen, mitteilen und gegebenenfalls das tatsächliche Durchsetzen der Entscheidungsnorm einleiten. Subjekt des Konkretisierungsvorganges ist nie die Rechtsnorm. Da sie nicht vorgegeben ist – denn das kann nur von ihrem Normtext gesagt werden –, sondern vom Juristen im Fall erst erzeugt und anschließend zur Entscheidungsnorm individualisiert werden muß, ist er das Subjekt und der Verantwortliche der Realisierung von Recht; und zwar nicht nur im Restbereich des logisch nicht beherrschbaren Spielraums, sondern für den Entscheidungsvorgang im ganzen. Der normerzeugende, methodenangeleitete Rechtsarbeiter löst den Fall durch eine Entscheidungsnorm, die aus der (im Ausgang von Sachverhalt, Normtexthypothese und Sachbereich konstitutiv erarbeiteten) Rechtsnorm folgen muß. Diese selbst muß, methodisch rational nachvollziehbar, bestimmten Normtexten des geltenden Rechts zugerechnet werden können. Konkretisierung ist also nicht Re-konstruktion. ,Normkonkretisierung‘ bedeutet: Konstruktion einer Rechtsnorm, aus der abschließend noch die Entscheidungsnorm abzuleiten bleibt. 285
Das Erarbeiten der Rechtsnorm ausgehend von Normtext und Sachverhalt ist nicht rechtsfrei. An die von ihm im Fall erarbeitete Rechtsnorm ist der Jurist gebunden; die Entscheidungsnorm muß aus ihr folgen. Seine Bindung an eine von ihm soeben erst konstitutierte normative Instanz ist kein Paradox, sondern eine von den herkömmlichen Illusionen und den aus ihnen folgenden Begriffsverzerrungen befreite, realistische Beschreibung dessen, was beim rechtsgebundenen Entscheiden eines Sachverhalts vor sich geht. Früh schon hatte Nietzsche294 auf den Charakter von Interpretieren als bemächtigendes Handeln hingewiesen: „Der Wille zur Macht interpretiert … In Wahrheit ist Interpretation ein Mittel selbst, um Herr über etwas zu werden“. Der Auslegende will sich zum Herrn über den Text machen.
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Das läßt sich noch grundsätzlicher sehen. Ein „Wille zur Macht“ ist nicht erforderlich. Der Interpret kann nicht anders, soweit er in Sprache bleibt, solange er seine Interpretation selber in Sprache fassen muß. Im grundsätzlich verschrifteten und von Begründungs- und Bekanntgabepflichten geprägten demokratisch / rechtsstaatlichen Gefüge gibt es keine Interpretation und keine juristische Textarbeit außerhalb von Text und Schrift. Der Rechtsarbeiter (Richter, Verwaltungsfunktionär, sonstige Entscheidungsträger) kann gar nicht „die Bedeutung“ des Normtexts „für den vorliegenden Fall“ einfach als solche aussprechen oder hinschreiben. Was er ausspricht, ist schon wieder Text (und zwar ein anderer als der Normtext); was er hin294 WW III, S. 489; Hervorhebung im Original. – Zu Recht betont die Studie von Jouanjan V die „Rückkehr des Handelnden in die Rechtstheorie“ anhand der Strukturierenden Rechtslehre und Methodik: „dans le droit, un tournant pragmatique radical“. – Der Terminus „Rechtsarbeit“ / „Rechtsarbeiter“ seit Müller X, S. 16 f. – Im spanischen und portugiesisch / brasilianischen Recht sind inzwischen „operador do Derecho“ bzw. „operador do Direito“ geläufig.
Graph: Elemente und Hauptphasen der Normkonkretisierung (Konzeption und Gestaltung: Lothar H. Fohmanu)
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schreibt, ist schon wieder Schrift (und zwar eine andere als die der gesetzlichen Vor-Schrift). Er kann nicht, als Montesquieuscher „Mund des Gesetzes“, das Gesetz (wenn auch angeblich in Form von „dessen Bedeutung im Entscheidungsfall“) verlautbaren. Er kann nicht unschuldig bloß aussprechen, was „das Gesetz“ (der Normtext) für den vorliegenden Fall angeblich schon angeordnet habe. Was er stattdessen tut, ist: etwas produzieren; und zwar seinen Text, seine schriftliche Anordnung. Für deren demokratisch / rechtsstaatliche Vertretbarkeit, Haltbarkeit, Legitimation, für deren (wiederum textliche!) Rechtfertigung an den Ausgangstexten der gesetzlichen Kodifikation, denen „Geltung“ zugeschrieben wird, gibt es allerdings wissenschaftliche Kriterien. Sie werden von juristischer Methodik bearbeitet, diskutiert, vorgeschlagen295. 287
Mit oder ohne „Willen zur Macht“ – es soll in der Rechtswelt gelegentlich auch Fälle „mit“ einem solchen geben – erzeugt der juristisch Entscheidende die das Normprogramm und den Normbereich umschreibenden Texte sowie die Texte von Rechtsnorm (Leitsätze) und Entscheidungsnorm (Tenor). In aller Regel ist keiner von ihnen (vom Tenor natürlich stets abgesehen, der hier nicht zum Vergleich ansteht) mit dem vom Juristen herangezogenen Normtext identisch. Ausnahmen gibt es nur für Normprogramm und Rechtsnorm in ungewöhnlich einfach liegenden Konstellationen, z. B. bei einer Fristen- oder Terminsache ohne jede Besonderheit vom Fall her.
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Der Richter, oder der sonstige Rechtsarbeiter, ist – de facto – Herr über den Normtext; was auch sonst, denn er (der Jurist, nicht der Normtext, und auch nicht das angeblich „vom Richter lediglich interpretierte Gesetz“) entscheidet den Streitoder Zweifelsfall verbindlich, also normativ. Aber er ist ein Herr, der – in den Zeiten nach dem Clanvater und nach König Salomo (und dieser „n’ètait pas un juriste“!, RNr. 191)296 und im Raum außerhalb autoritärer, diktatorischer Staatlichkeit – de jure-Rechenschaft ablegen muß; und zwar über die methodische Zurechenbarkeit seines Entscheidungshandelns an Normtexte. Und dies deshalb, weil diese Normtexte das zentrale Mittel sind, mit dem sich der Rechtsordnungstypus der rechtsstaatlichen Demokratie für künftig anstehende Entscheidungen selbst operationalisiert.
315 Verfassungsrecht und Strukturierende Methodik
315.1 Verfassungsverständnis 289
In der bisherigen Analyse wurde die Besonderheit verfassungsrechtlicher Methodik als Folge der Besonderheit von Verfassungsrecht in der Gesamtrechtsordnung 295 In anderen Wissenschaften sind es andere Grundlagenfächer mit vergleichbarer „methodologischer“ Aufgabe und Wirkung. 296 Die Rede von Salomos richterlicher Weisheit beruht nicht zuletzt auf dem Mutterschaftstest („Kreidekreisfall“) aus dem Buch der Könige: 1. Kö 3, 28.
315 Verfassungsrecht und Strukturierende Methodik
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deutlich. Im vorliegenden Zusammenhang kann dabei nicht von „der“ Verfassung, auch nicht vom wesentlichen Typus der modernen bürgerlichen Verfassung, sondern nur von der Verfassung dieses Gemeinwesens, vom Bonner Grundgesetz ausgegangen werden. Da Methodenfragen Sachfragen sind, können die Probleme einer hier und heute zu leistenden Methodik von der Eigenart dieses Grundgesetzes, von seinen Sachbereichen und vom Schicksal dieser verfassungsrechtlichen Ordnung in der bisherigen Geschichte der Bundesrepublik Deutschland nicht getrennt werden. So ist es für die Methodik beispielsweise von Bedeutung, ob sie in einer Rechtsordnung mit ausgebauter oder ohne ausgebaute Verfassungsgerichtsbarkeit entwickelt werden soll. Die von der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts zur Verfügung gestellten Gesichtspunkte sind ein unumgänglicher Bestandteil juristischer Methodik unter dem Bonner Grundgesetz. Damit ist nicht gesagt, daß dem Gesamtverständnis dieser Verfassung, wie es aus 290 der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts deutlich wird, gefolgt werden müsse. Das Gericht sieht den Kernbestand dieser Verfassungsordnung in den tradierten und normativ übernommenen Gehalten der repräsentativ-parlamentarischen Demokratie297 im Sinn der deutschen liberalen Verfassungsbewegung298, im liberalen Rechtsstaat299, im Bundesstaat300 sowie in dem neuen Bestandteil der Sozialstaatlichkeit301. Die so in ihrem sachlichen Kernbestand umschriebene Verfassung wird nicht im Sinn eines formalen Verfassungsverständnisses, sondern als eine von ihren Inhalten geprägte Einheit begriffen, als „einheitliche Ordnung des politischen und gesellschaftlichen Lebens der staatlichen Gemeinschaft“302, gegründet auf „Werte“, die der positiven Rechtsordnung vorausliegen sollen303. Insgesamt soll das Grundgesetz eine „verfassungsrechtliche Wertordnung“304 von weltanschaulicher 297 Vgl. zum demokratischen Prinzip und seinen Folgerungen für das Ausmaß der Legitimation BVerfGE 130, S. 76 ff., 123; sowie für den Kontext der Beleihung 127 f., zur Beobachtungspflicht des Staates bei Beleihung Privater 123 f. Zum Budgetrecht als zentralem Element demokratischer Willensbildung, das grundsätzlich dem Bundestag als Ganzem zusteht und nicht auf willkürlich verkleinerte Gremien übertragen werden darf, vgl. BVerfGE 130, S. 318 ff., 341 ff., 343. 298 BVerfGE 4, 144, 148: „liberal-repräsentative parlamentarische Demokratie“. – Zur Bedeutung rechtsstaatlich transparenter Methodik für ein Realisieren von Demokratie: Müller XXXV. – Neue Probleme der Demokratie angesichts von sozialer Exklusion und wirtschaftlicher Globalisierung: Müller XXXVI, S. 73 ff. 299 Z. B. BVerfGE 5, 85, 197, 379. – Zu den Rechtsstaatsgeboten der Normklarheit, Justitiabilität, Tatbestandsbestimmtheit (und zur „konkretisierenden“ Tätigkeit der Gerichte) vgl. BVerfGE 31, 255 ff. (private Tonbandaufnahmen), 264. 300 Z. B. BVerfGE 1, 299, 314 f.; 6, 309, 340, 364; 13, 54, 77 f.; 12, 205, 229 u. ö. 301 Z. B. BVerfGE 5, 85, 379; 6, 32, 41; 14, 288, 296. 302 BVerfGE 19, 206, 220. 303 Etwa BVerfGE 3, 225, 233; dagegen berechtigte Zurückhaltung des Gerichts gegenüber der „Vielfalt der Naturrechtslehren“ in BVerfGE 10, 59, 81. 304 BVerfGE 6, 32, 41; s. a. BVerfGE 10, 59, 81; 12, 45, 51; 13, 46, 51; 13, 97, 107; 14, 288, 301.
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3 Juristische Methodik – 31 Grundlagen
Neutralität305, aber ohne Wertneutralität306 darstellen. Diesen versprengten Ansätzen zu einer materialen Verfassungstheorie soll die Verfassungsinterpretation entsprechen. Sie soll orientiert sein an dem „eigenen Wertsystem“307, das die verfassungsrechtlichen Normen nach Meinung des Gerichts bilden, an den Grundrechten und an andern „elementaren Grundsätzen des Grundgesetzes“, im ganzen an seiner „Werteordnung“308.
315.2 Strukturen und Funktionen von Verfassungsrecht, Legalität und Legitimität 291
Eine Methodik, die verfassungstheoretische Vorgriffe von solcher Entschiedenheit wie das Postulat einer materialen Einheit der Verfassung309 nicht vollziehen will, kann auf einem ideologisch weniger standortgebundenen Feld Strukturen und Funktionen von Verfassungsrecht in dieser Rechtsordnung auf vielfältige Weise herausarbeiten. Das ist hier an Einzelpunkten schon geschehen. Einige Gesichtspunkte seien noch einmal kurz zusammengefaßt. Abgesehen von Postulaten materialer „Einheit“ oder gar von „Wertordnungen“ oder „Wertsystemen“, läßt sich sagen, eine Verfassung sei ihrem Sinn nach in der Tat mehr als ein sachleeres, rein formalistisch praktikables „Normen“gerüst. Geschichtlich-politischer Sinn einer Verfassung ist es, bestimmende Grundordnung eines bestimmten Gemeinwesens einschließlich seiner divergenten Kräfte zu sein. Verfassungsrecht ist positives Recht. Der allem Recht innewohnende (wenn es auch nicht voll definierende) Entscheidungscharakter wird in diesem Bereich besonders fühlbar. Eine Verfassung muß sich aus den Auseinandersetzungen der Gegenwart und Zukunft nicht „neutral“ heraushalten. Mit den Mitteln des Rechts bezieht sie Stellung, errichtet sie Grenzen, bezeichnet sie Markierungen – und das mit strukturell und funktionell wechselnden Graden normativer Dichte310. Verfassungsrecht betrifft die Begründung des staatlichen GeZ. B. BVerfGE 12, 1, 4. Z. B. BVerfGE 2, 1, 12; 5, 85, 134 ff.; 6, 32, 40 f.; 7, 198, 205. 307 So die Formulierung in BVerfGE 5, 85, 139. 308 BVerfGE 19, 206, 220 unter Berufung auf BVerfGE 1, 14, 32; 17, 198, 205. – Kritisch z. B. Goerlich I. – Ausführlich zum „Verfassungsbegriff des Grundgesetzes“: Unruh. – Neuerdings spricht das Gericht bei den Staatszielbestimmungen auch von „Prinzipien“ (vgl. BVerfG, in: NVwZ 2003, S. 974 ff., 976). 309 Hierzu BVerfGE 1, 14, 32; 3, 225, 231 f.; 7, 198, 205; 15, 167, 194 f. u. ö. 310 Vergleichbar auch die soziologische Sicht der Funktion der modernen Verfassung als abstrahierender, ausdifferenzierender, ausgrenzender und insgesamt „selektive(r) Selbstfestlegung der Identität des politischen Systems im Rahmen gesellschaftlicher Möglichkeiten“ bei Luhmann VIII, z. B. S. 172. – Verschiedene demokratische Legitimierungsstrategien einer Verfassung vom Typ des Grundgesetzes werden anhand verschiedener Gebrauchsweisen des Ausdrucks „Volk“ analysiert bei Müller XXXIII. – Zum hier entfalteten Strukturkonzept, konfrontiert mit der Demokratietheorie (und gegen die Einwände von Maus) überzeugend Laudenklos III, S. 153 ff. – Ein Vorschlag dahin, die Vorstellung von „Konstitutionalität“, „Legalität“ und „Legitimität“ genauer zu bestimmen, bei Müller XXXVI, S. 54 ff. 305 306
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meinwesens und seiner Rechtsordnung im ganzen. Seine Vorschriften sind durch ranghöhere Rechtsnormen nicht abgesichert. Seine Regelungsbereiche sind weitmaschig, fundamental, „politisch“, geschichtlicher Veränderung in erhöhtem Maß ausgesetzt. Sie sind in besonders geringem Grad rechtserzeugt, besonders wenig durch detaillierte rechtliche Traditionen vorgeprägt. Die Verbindung solcher struktureller „Offenheit“ mit dem normativen Zweck der Begründung des Gemeinwesens und der gesamten Rechtsordnung macht die spezifischen Schwierigkeiten verfassungsrechtlicher Normsetzung und Normkonkretisierung verständlich. Ebenso deutlich ist die Notwendigkeit, eine von der rechtsgeschichtlichen, der rechtstheoretischen, der zivil- und strafrechtlichen Methodik in Einzelheiten graduell abgehobene Methode des Verfassungsrechts zu entwickeln, die sich an diesen Schwierigkeiten orientiert. Liberal-rechtsstaatliches und demokratisches Verfassungsrecht hat in Deutschland eine noch kurze Geschichte. Noch kürzer ist die Tradition deutscher Verfassungsgerichtsbarkeit. Der Mangel an vorgeformten und insoweit eine Basis für neue Entwicklungen bildenden Rechtsfiguren und Entscheidungsmustern wird verfassungsrechtliche Methodik in allen Bereichen der Konkretisierung und nicht zuletzt in Verfassungsgerichtsbarkeit und Wissenschaft noch weiter prägen. Verfassungsrecht, Verfassungsgesetzgebung und -konkretisierung haben dieser Lage zum Trotz die Aufgabe, die politische Einheit des staatlichen Verbands zu aktualisieren, Grundlagen und Maßstäbe für Normsetzung und Normverwirklichung in der unterverfassungsrechtlichen Rechtsordnung zu liefern und neben dieser Garantie von Legalität auch die Erzeugung, Anerkennung und Erhaltung von Legitimität im Sinn des inhaltlich akzeptierten „Richtigen“ des Sozialverbands zu gewährleisten. „Legalität“ wird traditionell leicht abwertend mit der „bloßen“ Gesetzmäßigkeit des positiven Rechts gleichgesetzt, „Legitimität“ dagegen mit so freundlichen Gegenständen wie „der Rechtsidee“ oder jedenfalls mit der einen oder anderen Spielart von „überpositiven Werten“. Hier sei dagegen Legalität das emphatisch positive Ergebnis der Feststellung, daß den vorgeschriebenen Formen und Verfahren genügt worden ist; und Legitimität die Kurzformel für die Bewertung, daß die Ergebnisse legalen Handelns auf der Linie der Verfassung und vor allem auch ihrer zentralen positivrechtlichen Maßstäbe (Normtexte) begründet werden können. Legalität und Legitimität der Teilrechtsgebiete sind durch die Verfassung auf- 292 rechtzuerhalten, Legalität und Legitimität der Verfassungsordnung nur durch diese selbst. In solchem normativen Zusammenhang sind Grundbestimmungen der Verfassung wie Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG („Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“)311 oder wie in der Präambel („kraft seiner verfassunggebenden Gewalt“) zu sehen. Verfassungsrechtliche Wortlaute, die das „Volk“ zum Subjekt normativer Aussagen machen, sollten weder metaphysisch noch fiktiv oder zynisch sein, noch sind sie (mit Einschränkungen im Umkreis des Demokratischen) naturalistisch. „Staatsgewalt“, die „vom Volke“ ausgehen soll, verfassunggebende Gewalt, die „des Volkes“ 311 Zur demokratischen Legitimation bei kommunalen Zweckverbänden vgl. BVerfG, in: NVwZ 2003, S. 974 ff.
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3 Juristische Methodik – 31 Grundlagen
sein soll, betreffen den normativen Kernbestand derjenigen Verfassungsfamilie, in der allein sich die Frage nach der verfassunggebenden Gewalt als Frage nach der Legitimität verfassungsrechtlicher Ordnung stellt. In dieser Verfassungsfamilie hat sich diese Frage als Formulierung eines bestimmten Legitimitätskerns entfaltet. Er wurde entwickelt bei dem geschichtlich immer wieder ansetzenden Versuch einer Realisierung der Idee von einem „dem Volke“ zustehenden, „vom Volke“ her kommenden, „dem Volke“ verantwortlichen, um „des Volkes“ willen existierenden und wirkenden Staatswesen freiheitlich-rechtsstaatlicher und bürgerlich-demokratischer Prägung. Die bisherige Analyse erlaubte eine neue Konzeptualisierung; und diese führt zu einem doppelten Begriff von „Verfassungsgemäßheit“. Es ergibt sich ein dreistufiges Modell: zunächst nach der Verfassungsform in „Verfassungsstaat“, „Rechtsstaat“ und „rechtsstaatliche Demokratie“ strukturiert. Sodann nach der Haltung zur Verfassung: normatives Denken, formal rechtsstaatliches und material rechtsstaatliches Denken. Auch das formal rechtsstaatliche der zweiten Stufe ist dabei keine vage „Rechtsstaatsidee“, sondern die konkrete Normierung rechtsstaatlicher Figuren in einer bestimmten Verfassung: Die geschriebenen Normtexte (der Konstitution) „gelten“. Sie müssen, in den einschlägigen Fällen, vollständig herangezogen und korrekt verarbeitet werden. Das dritte Register nach „Verfassungsform“ und „Verfassungsdenken“, auf dem das Dreistufenmodell abgebildet werden kann, ist das der Theoriekonzepte. Hier folgen aufeinander: Verfassungsgemäßheit für die erste, Legalität für die zweite, Legitimität für die dritte Stufe. Auf der ersten ist die Verfassungsordnung positiv, auf der folgenden legal, auf der abschließenden legitim. Die drei bauen aufeinander auf und implizieren einander fortlaufend. Legalität setzt Positivität der Verfassung voraus. Legitimität diese plus Legalität. Wo, umgekehrt, die Positivität der Verfassung (die „Verfassungsgemäßheit“ im analytischen Sinn) unterminiert wird, dort geht es weder legal noch legitim zu. Dieses Konzept erlaubt es, „Legalität“, „Legitimität“ und „Verfassungsgemäßheit“ begrifflich genauer zu fassen. Legalität wird (v. a. in der rechten Tradition) gern mit der „bloßen“ Gesetzmäßigkeit des Rechts gleichgesetzt; hier soll sie dagegen die sehr wichtige Feststellung resümieren, daß den positiv vorgeschriebenen Formen und Verfahren auf redliche Weise Genüge getan ist. Legitimität wurde dann entsprechend mit überpositiven „Werten“, wie beispielsweise „der Rechtsidee“ in Verbindung gebracht, um sie von Legalität abzugrenzen. Das ist für den Verfassungsstaat der Moderne aber erstaunlich obsolet. Hier ist „Legitimität“ dagegen ein Begriff des positiven Rechts. Er drückt die Bewertung aus, die Ergebnisse legalen Handelns auf der Basis der positiven Konstitution stimmten mit deren Zentralnormtexten und Strukturprinzipien überein und erlaubten weiterhin eine offene, rechtlich legale freie Debatte über die Legitimitätsgründe und -argumente; blieben also auch nach Gesetzeskraft von Normtexten, Bestandskraft von Verwaltungsakten und
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Rechtkraft von Urteilen weiter positiv plus legal plus legitim umstreitbar. Das ist „Verfassungsgemäßheit“ im vollen Sinn. Daneben bleibt natürlich die bisherige Gebrauchsweise dieses Ausdrucks weiterhin vertretbar; je nach tatsächlichem Kontext sollte „Verfassungsmäßigkeit“ ‚im engeren Sinn‘ bzw. ,im weiteren Sinn‘ hinzugefügt werden. Im engeren Sinn heißt: die Verfassung wird als positiv „geltend“ anerkannt; alles (staatliche) Rechtshandeln ist an ihr zu messen. Legal im Sinn dieses formalen Rechtsstaats kann auch ein nicht-demokratisches, ein im Kern autoritäres System sein (gegenwärtig der Typus Singapur). Zur Konstitutionalität der demokratischen Staaten tritt noch die Legitimität im soeben erläuterten Verständnis hinzu; das ist dann „konstitutionell“ im weiteren Sinn. 315.3 Normativität und verfassunggebende Gewalt – Legitimität Für die „verfassunggebende Gewalt“ liegt die Konkretisierung der Verantwort- 293 lichkeit vor dem Volk im Festhalten an den als legitim akzeptierten Normen, Institutionen und Grundsätzen der Verfassungsordnung, die nach ständiger Aktualisierung verlangen. Für die sonstigen Staatsgewalten liegt die Konkretisierung der Verantwortung vor dem Volk darin, diesen Anforderungen der verfassunggebenden Gewalt nachzukommen. Angesichts der Erwartungen, die unter dem Aspekt verfassunggebender Gewalt an die praktisch verwirklichte Verfassungsordnung gestellt werden, erweist sich diese als durchgehend normativ strukturiert. Verfassunggebende Gewalt als sachlicher Kernbestand der Verfassung und die übrigen verfassungsrechtlichen Normen stehen im Verhältnis des Fundaments zu den ins einzelne gehenden Aktualisierungen, nicht aber in dem einer sachleer-dezisionistischen Isolierbarkeit. Beide, der verfassungsrechtliche Normenkern und die Verfassungsrechtsordnung im ganzen, sind in der Zeit normativ. Sie sind zwei verschiedene Aspekte von Legitimität als eines geschichtlich zu realisierenden normativen Anspruchs des Verfassungsstaats. Somit ist die Frage nach Legitimität eine Frage nach Normen. Sie ist die Frage 294 nach einem sachbestimmten Ordnungsmodell, nach einem Gestaltungs- und Tätigkeitsentwurf staatlicher Organisation. Legalität ist gegen Legitimität auf dem Boden der hier entwickelten Theorie der Rechtsnorm nicht ins Feld zu führen, solange die Konkretisierungen verfassunggebender Gewalt in Verfassungsgesetzgebung, Gesetzgebung, Regierung, Verwaltung, Rechtsprechung und im „Verfassungsleben“ insgesamt auf dem Boden des normativen Legitimitätskerns bleiben. Herkömmliche Interpretation der Verfassungsgesetzestexte wie umfassende Konkretisierung der Verfassungsnormen mit Hilfe der hier vorgeschlagenen Strukturierenden Methodik lassen somit keine Möglichkeit, berechtigtermaßen Legalität gegen Legitimität oder Legitimität gegen Legalität zu Lasten der normativen Kraft der positiven Verfassung auszuspielen, solange der normative Kern (den Art. 79 Abs. 3 GG unter dem Teilaspekt der Verfassungsänderung zu formulieren versucht) gewahrt bleibt312.
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3 Juristische Methodik – 31 Grundlagen
Die Frage der Legitimität stellt sich auch mit Blick auf den hier gegebenen Begriff der (vom Rechtsarbeiter jeweils erst zu konstruierenden) Rechtsnorm. In einer rechtsstaatlich unentwickelten (archaischen oder diktatorischen) Ordnung bedarf es keiner „Rechtsnorm“. Dort genügen (1) im Gewohnheitsrecht die tradierten Formeln (die keine „Normtexte“ sind) zusammen mit dem Ausspruch der Entscheidung des vorliegenden Rechtsfalls; beziehungsweise (2) in nicht-rechtsstaatlichen Ordnungen mit Kodifikationen (sei es historisch früh, wie schon in der sumerischen Polis, sei es in Diktaturen) die fraglichen Normtexte, ergänzt durch den Ausspruch der Entscheidung. In diesem zweiten Falltypus gibt es zwar geschriebene Gesetze, aber keinen Verfassungsstaat mit Rechtsstaatsnormen, auch nicht den entwickelten Zusammenhang: politische Demokratie – Rechtsstaat – rechtsstaatlich rationalisierte Rechtsmethodik. Eben dieses verfassungsrechtliche Umfeld, das hier noch fehlt, macht die „Rechtsnorm“ im demokratischen Rechtsstaat vom Typus des Grundgesetzes notwendig und funktional. In den beiden vorgenannten Typen von Staatswesen trägt die Entscheidung sei es persönliches Charisma oder traditionale Legitimierung im ersten, sei es die bereits kodifizierte Autorität bzw. der diktatorische Gewaltzusammenhang im zweiten Fall. Immer aber legitimiert die Einzelfallentscheidung als solche; sei es durch diese Richterperson (Gewohnheitsrecht mit zum Teil auch noch charismatischer Legitimierung), sei es durch einen richterlichen Funktionsträger (frühe Rechtsordnung mit Kodifikationen), sei es durch einen Funktionär der Diktatur. Die typische Textabfolge kennt nur zwei Stufen: „Wer das und jenes tut, wird so und so bestraft“ (Gewohnheitsrechtsformel oder bereits kodifizierter Normtext) → „Der Angeklagte wird so bestraft“ (Entscheidungsformel).
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Im rational organisierten und demokratisch entwickelten Rechtsstaat wird dagegen das Zwischenglied der vom Rechtsarbeiter abstrakt und generell zu formulierenden Rechtsnorm zur nunmehr allgemeinen, d. h. verallgemeinerungsfähigen Legitimation gebraucht und daher in Form eines abstrakt / generell vertexteten und niedergeschriebenen „Leitsatzes“313 als zusätzliche Textstufe eingeschaltet. Die dafür typische Textabfolge lautet (unter Überspringen der weiteren Stufen von Normprogramm- und Normbereichstexten): „Wer das und jenes tut, wird so und so bestraft“ (Normtext) → „In einem Fall wie diesem … muß – wer auch immer – stets so bestraft werden“ (Text der Rechtsnorm) → „Da es sich vorliegend um einen derartigen Fall handelt, wird der Angeklagte so bestraft“ (Text der Entscheidungsnorm). 312 Zu dem neuen Konzept der Legitimierungsstruktur s. Müller XXIV, S. 204 ff.; Müller XXVI, S. 128 ff. 313 Diese „Leitsätze“ sind strukturell in den Begründungen stets nachweisbar, gleichgültig, ob sie unter dieser Bezeichnung der Entscheidung vorangestellt sind – so üblicherweise bei Obersten Gerichtshöfen – oder nicht.
315 Verfassungsrecht und Strukturierende Methodik
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Legitimiert wird im demokratischen Rechtsstaat unter drei notwendigen Bedingungen. Zunächst durch die Normtextlegitimation: die Vorschriften müssen korrekt in Kraft sein und dürfen höherrangigem Recht nicht widersprechen. Dann durch die Methoden- und Verfahrenslegitimation: die im Fall verwendeten Arbeitsweisen und Prozeduren müssen im Einklang mit gleich- und höherrangigem Recht stehen. Und drittens durch rechtliche Legitimierung: das Ergebnis hat mit den im Fall erzeugten Rechtsnormen sowie mit höherrangigem Recht veereinbar zu sein. Rechtliche und Normtextlegitimation sind nicht dasselbe. Der rechtsstaatliche Vorbehalt des Gesetzes314 ist nicht nur einer des auf dem Papier der Gesetzessammlung stehenden Normtexts, sondern auch der des korrekt konkretisierten Gesetzes, der legal hergestellten Rechts- und Entscheidungsnorm. Deshalb auch sind alle Formen von Standgerichten a priori unzulässig: bei ihnen fehlt es an der korrekten Institution und am ordentlichen Verfahren, mögen auch geltende Normtexte (etwa über Tötungsdelikte, Plünderung, Desertion) vorhanden sein. Bei der ethisch durchaus auf anderer Ebene stehenden Frage des echten Richterrechts fehlt es dagegen an korrekten Normtexten und nicht an den institutionellen Voraussetzungen. Beide Vorgehensweisen sind in einem Staat wie dem des Grundgesetzes nicht erlaubt. Eingriffe benötigen eine Rechtsgrundlage, nicht nur eine Normtextbasis. Korrektes Verfahren und korrekter Urteilsspruch rechtfertigen eine Gewaltmaßnahme, machen diese zur Ausübung von Macht. Nicht kann das ein Normtext allein bewirken. Auch unter dem speziellen Aspekt der im Einzelfall erst zu erzeugenden Rechts- 297 norm legitimiert nur, was verallgemeinert werden kann; ist Legitimität an die rationale Allgemeinheit der europäischen Aufklärung, an Kommunizierbarkeit, Nachvollziehbarkeit, Einsichtigkeit gebunden. Moderne Diktaturen oder sonstige autoritäre Gemeinwesen der Neuzeit sind, auch unter diesem Gesichtspunkt, Rezidive, sind Rückfälle in den Typus der Legitimation in actu (Einzelentscheider, Einzelfall) ohne Rücksicht auf die Generalisierbarkeit und damit auch auf die Schriftlichkeit, die Textlichkeit ihrer Gründe. In den Rechtsstaaten bietet das Institut der Gnadenentscheidung das Beispiel eines archaischen Relikts, bestimmten (in diesem Fall symbolisch überhöhten, pseudo-charismatischen) Funktionären an der Staatsspitze rechtlich überantwortet und – im Unterschied zur gesetzlichen Amnestie – personal gefärbt, diskretionär, sich in actu selbst rechtfertigend. Die rechtspolitischen Versuche, das Begnadigungsrecht an gesetzlich formulierte Voraussetzungen und Maßstäbe zu binden, wollen den Archaismus, der in diesem Rechtsinstitut fortbesteht, sozusagen rechtsstaatlich aufholen.
314 Dazu F. Müller, XVI, S. 15 ff., 45 ff. – Ebd., S. 15: „Der Vorbehalt des Gesetzes besagt im geläufigen Verständnis: Die Verwaltung bedarf zu Eingriffen in Vermögen und Persönlichkeitsbereich des Bürgers, kurz: zu Eingriffen in ‚Freiheit und Eigentum‘ der hinreichend bestimmten Ermächtigung durch ein formelles Gesetz“.
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3 Juristische Methodik – 31 Grundlagen
315.4 Strukturierende Methodik 298
Die Bezeichnung faßt das über Rechtsnorm und Normtext, Normativität und Konkretisierungsvorgang, über den Zusammenhang strukturierter Normkonkretisierung mit den Aufgaben der einzelnen rechtspraktischen Funktionen, über die Nichtidentität von Normtext und Norm und von Konkretisierung und Interpretation Gesagte zusammen, ferner am Rand auch die Aussagen über die Rolle von Vorverständnis, „System“, „Axiomatik“ und „Topik“. Strukturierende Methodik untersucht die Fragen interpretierender und konkretisierender Erarbeitung von Normen in fallbestimmten Entscheidungslagen. Sie erfaßt die Gleichrangigkeit von Normprogramm-Elementen und Normbereichs-Elementen. Sie versucht, Mittel kontrollierbarer Entscheidungs-, Begründungs- und Darstellungsarbeit der juristischen Funktionen zu entwickeln. Damit geht sie in Richtung der Forderung, „nach Art“ Savignys Interpretationsstufen zu finden, die heutigem Recht gemäß sind. Angesichts oft relativ unbestimmter Textgrundlagen liefert sie im Hinblick auf künftige Regelungsbedürfnisse den „systeminternen Einrichtungen der Unbestimmtheitsreduktion“315 die für das Verfassungsrecht weder von Savigny noch vom Gesetzespositivismus angebotenen Instrumente. Das setzt die Einsicht voraus, daß auch ontologische und phänomenologische, normlogische, dezisionistische und soziologistische Ansätze, daß weder die Mittelwege eines harmonisierenden Methodensynkretismus, dialektischer, polarer oder korrelativer Vermittlung noch die einer topischen Methodik oder abwägenden „Wert“verwirklichung für eine Methodik verfassungsrechtlicher Praxis und Wissenschaft zulängliche Grundlagen und Mittel haben zur Verfügung stellen können316.
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Absicht des Positivismus war es, die Jurisprudenz möglichst weit zu verwissenschaftlichen und eine rationale Dogmatik zu liefern. Diese Ziele haben es nicht verdient, zugunsten geringerer Anforderungen an Rationalität aufgegeben zu werden. Die von der Freirechtslehre, der Interessen- und der soziologischen Jurisprudenz, der Integrationslehre und dem Dezisionismus, der Hermeneutik, Topik und Rhetorischen Rechtswissenschaft sowie anderen Antipositivismen immer wieder versuchte „Überwindung“ des Positivismus ist kein sich selbst legitimierender Zweck. Die Strukturierende Methodik fällt nicht hinter den dogmatischen Standard an Technizität zurück, den der Positivismus anstrebte. Es geht darum, das vom Positivismus unter anderem aufgrund seiner irrigen Normauffassung Verdrängte endlich aufzugreifen und verallgemeinerungsfähig in Dogmatik, Methodik und Theorie auszuarbeiten317. Das – zum Teil notwenig innovative – Konzept von Rechtsstaat, das bei dieDiese Terminologie bei Luhmann II, S. 52. Müller I, S. 24 ff., 47 ff., 77 ff. und passim. 317 Dazu Müller XXI, S. 2 f.; zum Schritt über den Positivismus hinaus speziell in der juristischen Begriffsbildung siehe Christensen I und in der Normauffassung: Passavant. – Eingehende Rezeption dieses Methoden- und Konkretisierungskonzepts auf der Grundlage eines nachpositivistischen Paradigmas von Normativität bei Bonavides III, v. a. S. 455 ff. und Macedo Silva. – In diesem Sinn zur theoretischen Grundlage der Methodik des Verfassungsrechts 315 316
315 Verfassungsrecht und Strukturierende Methodik
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sem Vorhaben in Methodik, Rechtstheorie und Verfassungslehre entwickelt worden ist, wird inzwischen als „(sprach)reflexiver Rechtsstaatsbegriff“ bezeichnet318. 315.41 Konkretisierungs„elemente“ Entsprechend ihrem strukturierenden Vorgehen spricht diese Methodik nicht von 300 „Stufen“ oder „Stadien“ der Interpretation, sondern von „Elementen“ des Konkretisierungsvorgangs. Mit der Bezeichnung „Elemente“ wird bei Savigny klargestellt, daß die methodischen Aspekte nicht voneinander trennbare „Arten der Auslegung“, sondern Momente eines einheitlichen Auslegungsvorgangs darstellen und daß ihr Verhältnis erst im Hinblick auf die sachliche Struktur des einzelnen Rechtsfalls bestimmt werden kann319. Auch das war von den Vorstellungen gesetzespositivistischer Methodik verdeckt worden. Über Savigny hinaus müssen die Unterscheidung von Norm und Normtext und das Umsetzen der von ihm formulierten „Elemente“ auf das Verfassungsrecht gehen, die kritische Verarbeitung der durch Praxis und Wissenschaft seither geleisteten methodologischen Reflexion, das Einbeziehen der dem Normbereich entstammenden Gesichtspunkte und der rechtsstaatlichen Normen, die auf die Arbeitsweise juristischer Praxis einwirken. Nicht zuletzt dieses Integrieren rechtsstaatlicher Vorschriften markiert für die Methodendiskussion in der Jurisprudenz einen Einschnitt. Unter normgelösten Elementen kann wegen ihrer Nicht-Normativität niemals eine verbindliche Rangordnung aufgestellt werden. Die dahin gehenden Versuche bei Savigny und bei späteren Autoren320 sind nicht aus Gründen mangelnder Forschungsintensität, sondern aus sachlicher Notwendigkeit gescheitert. Gegen eine Rückbindung juristischer Methodik an die methodenbezogenen Nor- 301 men des Verfassungsrechts wird eingewendet, daß „Wahrheit, Bestimmtheit und Rationalität Bedingungen jeder Erkenntnis“ seien und deswegen keiner Begründung durch das Verfassungsrecht bedürften321. Der Rationalitätsstandard einer bez. B. auch Gomes Canotilho, S. 991 ff., 1069 ff. – Zum „(sprach)reflexiven Rechtsstaatsbegriff“ vgl. die Analyse bei Christensen XI. – Von einem „Methodenwechsel“ im Hinblick auf die Wirkung der strukturierenden Methodik spricht Seibert X, S. 77 f.; ebd., S. 83 in bezug auf die Strukturierende Rechtslehre über „Strukturierung“ als dem „Stichwort dafür, den Prozeß der Erzeugung rechtlichen Sinns beobachtbar und damit diskutierbar zu machen“. 318 Die damit einhergehende Verlagerung einer substantiellen Rationalität ins Verfahren als prozedurale Rationalität ist ein Topos, der heute unter Titeln wie „reflexiv“, „diskursiv“, „medial“, „postmodern“, „postregulatorisch“, „postinterventionistisch“ usw. diskutiert wird. Grundsätzlich zu diesem Thema Calliess I sowie Tschentscher I; weitere Nachweise hierzu bei Röhl III, S. 506; kurze Diskussion, S. 510 f. 319 v. Savigny I, S. 212, 213, 215, 320. 320 Vgl. die Darstellung der Ansätze zur Verwissenschaftlichung der Rechtsgewinnung bei Kriele S. 67 ff., 85 ff., 97 ff. – Ein auf Kriele aufbauender Vorschlag („12-Operationen-Modell der Rechtsfindung“) bei Adomeit I, S. 178 ff. 321 Schlink V, S. 97; Chryssogonos, S. 80.
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3 Juristische Methodik – 31 Grundlagen
stimmten Schule in der Wissenschaftstheorie, der des Kritischen Rationalismus, solle an die Stelle der verfassungsrechtlich festgelegten Direktiven der Rechtsarbeit treten. Dieser Vorschlag ist allerdings schon nach den internen Maßstäben der dort herangezogenen Wissenschaftstheorie nicht einlösbar322. Weder verwendet der Kritische Rationalismus seine eigene Methodik als „immer schon“ vorausgesetzten transzendentalen Maßstab jeder Erkenntnis, noch läßt sich in dem von den Kritikern behaupteten Sinn „die“ Rationalität wissenschaftstheoretisch definieren. Vor allem Popper hat immer wieder hervorgehoben, daß jede Rationalitätsform, und eben auch die von ihm vorgeschlagene, ein dezisionistisches oder konsensuelles Moment aufweist. Von dieser Voraussetzung her läßt sich zeigen, daß die Rationalität praktischer Rechtsarbeit auch von den Entscheidungen abhängt, welche der politische Souverän in Gestalt der methodenbezogenen Normen des Verfassungsrechts und anderer Gesetze getroffen hat323. 315.42 Eigenständigkeit juristischer Methodik 302
„Strukturierende Methodik“ ist juristische Methodik. Sie überträgt nicht philosophische Hermeneutik auf die Jurisprudenz, selbst wenn in jener unter dem Gesichtspunkt der „Applikation“ und des den Interpreten einbeziehenden „Vorverständnisses“ die Rechtswissenschaft als exemplarisch verstanden werden kann324. Aus den genannten Gründen soll sich juristische Methodik nur auf die Untersuchung praktischer Arbeitstechniken in den Funktionen der Rechts- und Verfassungskonkretisierung stützen. Nur so sind ins einzelne gehende Kritik, Beschreibung, Definition, Systematik und Konstruktion der Mittel juristischer Methodik erreichbar; denn sie müssen sich an Normen verschiedener Struktur, an Rechtsfällen verschiedenen Typs und an den Arbeitsweisen der verschiedenen normkonkretisierenden Funktionen ausweisen. Wieweit ein auf solche Art organisiertes Verfahren auch als „offenes System“, als „Ergänzung von Topik und Axiomatik“, als „Synthese“ deduktiven und problembezogenen Denkens oder sonst auf herkömmliche Weise bezeichnet werden könnte, ist daneben sachlich ohne Interesse. 322 Vgl. dazu ausführlich Christensen VII, S. 223 ff. u. ö. m.w. N. aus der wissenschaftstheoretischen Diskussion. – Dazu allg. auch Looschelders / Roth, S. 115 ff. 323 Gern, der sich diesen die ganze vorliegende Konzeption durchziehenden Ansatz zu eigen macht, hält einen Beleg offenbar für überflüssig; s. ebd., S. 430 ff. – Th.-M. Seibert V, S. 121, weist darauf hin, „auch die Normen des Verfassungsrechts“ ließen „sich nicht aus der Verfassung ablesen“. Nichts anderes wird hier entwickelt: Die methodenrelevanten Anforderungen von Demokratie und Rechtsstaat erfordern zusätzliche Konkretisierungsarbeit. – Dieser hier entwickelte Ansatz ist, jedenfalls der Sache nach, zu Recht dem Lehrbuch von Looschelders / Roth zugrunde gelegt. – Gesteigerter Nachvollziehbarkeit für alle Beteiligten und die Öffentlichkeit soll das von Siegfried vorgeschlagene „Bundesmethodengesetz“ dienen. – Die methodenrelevanten Vorschriften der Verfassung werden in ihrem Stellenwert für richterliche Begründungen intensiv bei Christensen / Kudlich II erörtert. – Zu den verfassungsrechtlich begründeten Klarheitsanforderungen an die Rechtssprache („Präzision“, „Transparenz“, „Sparsamkeit“) überzeugend Jeand’Heur XIII, v. a., S. 1292. 324 Gadamer, S. 280, 290 ff., 307 ff., 315, 323.
320 Der Wortlaut als Grenze der Normkonkretisierung
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Eine im hier dargelegten Sinn erarbeitete Methodik kann nicht einheitlich für die 303 ganze Jurisprudenz entwickelt werden. Während die Rechts(norm)theorie die Grundfragen von Norm und Normtext, Normstruktur und Normativität, von Interpretation und Konkretisierung klärt, betrifft Methodologie die Art und die Verhältnisbestimmung der einzelnen praktischen Konkretisierungselemente (grammatische, historische, genetische, systematische und teleologische Auslegungsarten, die Rolle von Dogmatik und Theorie, von Lösungstechnik und Rechtspolitik usw.). Methodologie ist weder unter Ausschluß der Rechtspraxis nur für die Rechtswissenschaft noch für Rechtspraxis und Rechtswissenschaft einheitlich formulierbar. Sie kann nur im Plural existieren: als zivilrechtliche, strafrechtliche, rechtshistorische, rechtsvergleichende und verfassungs-, völker-, verwaltungsrechtliche Methodiken. Entsprechend finden die einzelnen Dogmatiken ihre Grenzen an denen der Rechtsdisziplinen. Im ganzen kann sich Strukturierende Methodik als ausschließlich juristische Methodik bezeichnen: mit größerem Recht nicht nur als primär philosophisch, geisteswissenschaftlich, sozialwissenschaftlich oder soziologisch, geschichtsmythologisch oder wert-ideologisch ausgerichtete Rechts- und Interpretationstheorien, sondern auch als die „juristische Methode“ Gerbers und Labands, der die Grundlage einer Rechtstheorie als einer Theorie des Rechts und seiner Konkretisierungsbedingungen, also einer Rechtsnormtheorie, fehlt.
32 Elemente der Normkonkretisierung (– der Normkonstruktion) 320 Der Wortlaut als Grenze der Normkonkretisierung / Von der Wortlaut- zur Normprogrammgrenze
320.1 Zur Sonderstellung des Wortlauts In einem Gemeinwesen mit weitgehend kodifiziertem (Verfassungs-)Recht ist 304 vorentschieden, daß die Normtexte im Geschäft der Konkretisierung herausgehobene Funktionen innehaben. Unter dem Bonner Grundgesetz wirken verstärkend in dieselbe Richtung ferner Verfassungsgebote des geltenden Rechts, vor allem im Hinblick auf rechtsstaatliche Norm- und Methodenklarheit325 als Klarheit von Normtexten und von Normtextbehandlung. Dieser Komplex rechtsstaatlicher An325 Wie das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zu den Rückmeldegebühren in Baden-Württemberg ausführt, gehört zur Normklarheit auch die Normwahrheit: „Auch die Zwecke des Vorteilsausgleichs, der Verhaltenslenkung oder soziale Zwecke können die Höhe des Gebührensatzes sachlich nicht rechtfertigen, da der Gebührentatbestand nach Wortlaut, Systematik und Entstehungsgeschichte eine gesetzgeberische Entscheidung insoweit nicht hinreichend klar erkennbar macht.“ (BVerfGE 108, 1, 21). Im übrigen ist an dem Urteil auffällig, daß der Grundsatz der Normklarheit nicht aus einer direkten Interpretation des Textes, sondern unter Bezug auf frühere Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts hergeleitet wird. Auch hier ist wieder der Übergang von der Systematik erster Ordnung zur Systematik zweiter
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3 Juristische Methodik – 32 Konkretisierungselemente
ordnungen ist beispielsweise in Art. 19 Abs. 1 Satz 2, in Art. 79 Abs. 1 Satz 1 und in Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG (jeweils in verschiedenen funktionalen Zusammenhängen) besonders ausgeformt. Wenn der Wortlaut des Gesetzes besonders bedeutsam ist, so ist das eine Folge einerseits des geltenden Verfassungsrechts (auch des ungeschriebenen allgemeinen rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgebots), andererseits bereits der Option für eine geschriebene Verfassung. Aus der methodischen Eigenart grammatischer Auslegung als solcher ließe sich eine herausgehobene Stellung des Wortlauts schon darum nicht begründen, weil methodologische Verfahren als rechtspraktische und rechtswissenschaftliche Kunstregeln nicht normativ sind. Die rechtsstaatlich herausgehobene Stellung legislatorischer Wortlaute heißt aber nicht, sie seien schon Rechtsnormen. Sie sind Vorformen der Gesetzestexte, sind in diesem Sinn „Vor-Schriften“: Schriften (schriftliche Texte) vor dem Stadium, in dem die Texte der Gesetze (Rechtsnormtexte) geschrieben werden können; denn das ist erst im zu entscheidenden Fall nach eingehender Semantisierungsarbeit möglich. 305
Diese Wortlaute, die Normtexte, haben zwei Aufgaben. Zum einen verpflichten sie die „Betroffenen“, d. h. alle Teilnehmer am Rechtsverkehr, zu einem bestimmten Verhalten. Dieses wird von ihnen dann verlangt, wenn ihre praktische Situation jener eines „gesetzlichen Tatbestandes“, also der im Normtext grob umschriebenen Konstellation, anscheinend entspricht. Für diesen Nexus „Lage – geschuldete Rechtsfolge“ ist der Normtext sozusagen ein Merkposten. Die Prüfung kann nur grob erfolgen, da die Betroffenen typischerweise nicht juristisch geschult sind: also umgangssprachlich, alltagstheoretisch vermittelt, in aller Regel ohne Gesetzeslektüre, mittels der (im Strafrecht) sogenannten „Parallelwertung in der Laiensphäre“. In dieser Teilfunktion hat der Normtext noch nicht „Normativität“, sondern – und zwar gegenüber allen – erst „Geltung“. Wäre das anders, wäre „Geltung“ also bereits „Normativität“, dann müßten – plakativ gesagt – alle Betroffenen im Bereich der Rechtsordnung Fachjuristen sein; glücklicherweise ist dies nur ein Denkspiel. Der Normtext verpflichtet also alle Teilnehmer am Rechtsverkehr, Fachleute oder Laien, dann, wenn ihr Tun oder Unterlassen tatbestandlich „einschlägig“ ist, rein praktische Quasi-Rechtsnormen („das darf ich nicht“, „das darf ich“, „das muß ich hier so und so machen“) und anschließend praktische Quasi-Entscheidungsnormen zu setzen („das mache ich also nicht“, „das kann ich also tun“, „das mache ich folglich so und nicht anders“). Dabei handelt es sich, genau genommen, um Verhaltensdirektiven als informelle praktische Orientierungen und Entscheidungen. Dabei liegt auch dem laienhaften Befolgen der Gesetze („das muß doch noch erlaubt sein“, „das ist verboten“, „Betrug ist strafbar“) eine Form von Konkretisierung zu Grunde. Daß sie nicht mit dogmatischer Fachsprache arbeiten kann, heißt noch nicht, sie sei primitiv. Sie kann recht komplex sein, je nach den Umständen der tatsächlichen Lage. Komplexität kommt ferner aus den mitgebrachten Bedeutungen Ordnung zu beobachten. – Von der Linguistik her zur juristischen Norm- und Textklarheit die Beobachtungen bei Eichhoff-Cyrus / Antos.
320 Der Wortlaut als Grenze der Normkonkretisierung
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der auch alltagssprachlich bekannten Ausdrücke („Betrug“, „Unterschlagung“, „Diebstahl“). Die Normtexte richten sich an alle am Leben der Gesellschaft Beteiligten; und im Rahmen solch laienhafter Konkretisierung ist das Anstreben gut verständlicher Normtexte durch Verfassungs-, Gesetz- und Verordnungsgeber von einer gewissen Bedeutung. Aber eben nur von einer gewissen, da Laien nur selten zum Gesetzbuch greifen. Derselbe Gesetzestext erfüllt somit bei verschiedenen Adressaten verschiedene 306 Funktionen, erzielt entsprechend unterschiedliche Wirkungen. Die Laien haben Basiskenntnisse des täglichen gesellschaftlichen Lebens aus ihrer schulischen und beruflichen Karriere und ferner diverse Kompetenzen, sich „aus allgemein zugänglichen Quellen“ (so die Formel im Grundgesetz, Art. 5 Abs. 1) zu unterrichten. Diese liegen in den Medien, aber auch in der Möglichkeit, sich professionell beraten und kundig machen zu lassen. Allerdings ist diese Option durch finanzielle Hürden erschwert, auch durch schichtspezifische bis hin zu Sprachbarrieren. Rechtsdogmatik und Praxis tragen seit langem dem Informationsabstand zwischen den „betroffenen“ Laien und den „betreffenden“ Fachjuristen angesichts derselben rechtlichen Vorschriften Rechnung: die „Parallelwertung in der Laiensphäre“ wurde schon erwähnt; auch der Tatbestandsirrtum, der unvermeidliche Verbotsirrtum, die Bestimmtheitsgebote gehören hierher. Die Begründungspflichten und die Grundsätze in dubio pro reo und nulla poena sine lege praevia sind, neben ihrem Stellenwert für den Rechtsstaat, auch im vorliegenden Zusammenhang zu sehen. Das zuletzt genannte Prinzip erinnert – speziell für das Strafrecht – daran, daß Gesetze im Verfassungsstaat der Neuzeit publiziert sein müssen, um (zuerst von Hobbes theoretisch gefaßt) als legitim gelten zu können. Auch dies ist für die Bildung eines allgemeinen Basiswissens der Laien ebenso unabdingbar wie für die Möglichkeit, sich von Fall zu Fall näheres Fachwissen zu verschaffen. Das Verfassungsgebot der „Gesetzesbestimmtheit“ gilt daher jedenfalls im Strafrecht gegenüber allen Adressaten, d. h. gerade auch zugunsten des juristischen Laien, dem es möglich sein soll, die Anforderungen der Rechtsordnung – in der Ausdrucksweise des Bundesverfassungsgerichts – „schon aus dem Gesetz selbst zu erkennen“ und insoweit „sein Verhalten auf die Strafrechtslage eigenverantwortlich ein(zu)richten“. Das hiesige Konzept der Adressatendifferenz ist also nicht psychologisch-intentional angesetzt („der“ Gesetzgeber mit seinem „Willen“ in bezug auf „den“ Rechtsunterworfenen), sondern analytisch-funktional. Die pragmatische Linguistik spricht hier von Polyfunktionalität: Die Sprechakttheorie unterscheidet (neben dem Aussagegehalt) einerseits die Sprecherhandlungen (Illokution) sowie andererseits den mit ihnen verknüpften Versuch der Textproduzenten, beim Hörer / Leser etwas zu bewirken (Perlokution). Bei diesem letztgenannten Punkt bietet es sich an, zwischen Bewirkungsversuch, Bewirkungsziel und tatsächlichen Folgen zu unterscheiden326. In 326 Dazu v. Polenz, S. 209; Holly, S. 54; zum ganzen sehr instruktiv Felder I, S. 99 ff. (Adressatendifferenz), 102 ff. (Polyfunktionalität). – Ebd., S. 103, die Einschätzung, es sei die Strukturierende Rechtslehre, die dem von der linguistischen Pragmatik herausgearbeiteten
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3 Juristische Methodik – 32 Konkretisierungselemente
der Linguistik wird der Strukturierenden Rechtslehre (und damit auch der vorliegenden Methodik) bescheinigt, der Einsicht in die Komplexität des Sprachhandelns zwischen den Normtexte setzenden Instanzen und den am Rechtsleben Beteiligten gerecht zu werden. Dies geschieht hier, was die Begriffe angeht, durch das Auseinanderhalten von „Geltung“ und laienhafter „Bedeutsamkeit“ auf der einen Seite, von (vom entscheidenden Juristen erst herzustellender) „Normativität“ und „Bedeutung“ auf der anderen. Denn die formelle Parallele zur informellen praktischen Orientierung der Laien bilden die von dazu bestellten juristischen Fachleuten im Rahmen ihrer Kompetenz zu erarbeitenden Rechts- und Entscheidungsnormen; mit deren Hilfe lösen sie autoritativ das, was für die unmittelbar Beteiligten nur ein Lebenssachverhalt, für die Rechtsarbeiter dagegen ein „Rechtsfall“ ist. Ausgangspunkt für diese Operation ist wiederum derselbe Normtext, hier in seiner zweiten Funktion. Er verpflichtet jetzt die „Betreffenden“, die rechtlich zuständigen Amtsträger, wiederum sozusagen als Merkposten dazu, elaborierte und begründete, also rechtsstaatlich korrekte, vertretbare Rechts- und Entscheidungsnormen zu produzieren und sie als formelle Entscheidung durchzusetzen. Parallel dazu, aber eben informell, außerhalb der staatlichen Institutionen, hatten die „Betroffenen“ die laienhaft angepeilte Verhaltensdirektive ebenfalls durchgesetzt, indem sie sich bemühten, rechtstreu zu agieren. „Normativität“ kommt dabei erst der institutionell erzeugten Rechtsnorm (in genereller Formulierung) und der aus ihr abgeleiteten Entscheidungsnorm (in individuell-fallbezogener Formulierung) zu. Wäre es anders, wäre „Normativität“ am Ende des komplexen fachlich durchgeführten Semantisierungsvorgangs immer noch nicht mehr als die bloße „Geltung“ des Normtexts am Anfang der Fallösung, dann bräuchte man, wiederum plakativ gesagt, überhaupt keine Juristen. Die Nichtidentität von Normtext und Norm verbietet übrigens jede Form von Selbstjustiz, Standgerichten, Ad-hoc-Verfahren. Das Verbot von AusnahmegerichPhänomen der Polyfunktionalität entspreche. – s. a. Felder III, S. 33 ff. u. ö. – Die Unterschiedlichkeit der Aufgaben des Normtextes wird verkannt bei Neumann V, S. 43 f. Natürlich betreibt der Verkehrsteilnehmer, der sich an die StVO hält, keine „Normsetzung“ – ein (wie üblich absurdes) argumentum ad absurdum. – Von der Linguistik her zur Adressatendifferenz der Gesetze auch Luttermann I sowie Baumann II. – Zahlreiche Aspekte in den Beiträgen bei Lerch. – Bei Baumann IV wichtige tatsächliche Aspekte z. B. zur „Sozialisierung der Gesetzesproduzenten“ und zur „Entwicklung der Alphabetisierung“; ebd., S. 66, der Befund, „daß die Bevölkerung mehrheitlich als ‚juristische Analphabeten / Analphabetinnen‘ eingestuft werden muß“, was mit Rechtsunkenntnis nicht einfach identisch ist. – Zutreffend verwendet das Bundesverfassungsgericht „Normtext“ inzwischen als Synonym für „Wortlaut“, z. B. BVerfGE 104, 92, 125; 105, 279, 313, 335 (wenn auch unklar in bezug auf „Norm“); s. z. B. auch schon BVerfGE 103, 332, 362. – Ferner etwa BVerfG in: NJW 2002, S. 2544; BverfGE 108, 52, 74. – Die im vorigen Absatz dieser Randnummer zitierte Judikatur findet sich in BVerfGE 105, 135, 153, 155 f. m.w. N. aus der Rechtsprechung. – Zur „Normenklarheit“ und „Normenwahrheit“ als verbindliche Grundsätze des Rechtsstaats gerade mit Blick auf die betroffenen Rechtslaien als Adressaten von Normtexten BVerfGE 108, 1, 19 ff.; 108, 52, 74 f.; 108, 169, 181 f., jeweils m.w. N. aus der Rechtsprechung. – Pragmatische Überlegungen zur Verständlichkeit als „Heuristik“ bei Rusch.
320 Der Wortlaut als Grenze der Normkonkretisierung
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ten in Artikel 101 des Grundgesetzes ist eine verfassungspolitische Tat, die nur zu begrüßen ist. Aber dieses Verbot erklärt sich bereits rechtstheoretisch, es ist ein juridisches a priori. Niemand kann sich individuell und außerhalb der rechtlich geregelten Verfahren „das“ Gesetz aneignen, es zu verwirklichen vorgeben. „Recht“ (in Gestalt von Rechtsnormen) haben wir überhaupt erst als Ergebnis regulärer Konkretisierungsarbeit – von der kompetenz- und prozessrechtlichen Gesetz- und Verfassungswidrigkeit einer Selbst- und Standjustiz ganz zu schweigen. Das geltende Recht („das Gesetz“) geltend machen können nur nicht mehr angreifbare Rechtsund Entscheidungsnormen, die professionell, verfahrensmäßig korrekt, im Durchgang durch die Argumente und Gegenargumente des geregelten Verfahrens erzeugt worden sind. Unterhalb dieser Schwelle ist nicht nur positivrechtlich im Staat des Grundgesetzes, sondern bereits nach dem Grundansatz dieser Rechtslehre und Methodik Recht nicht zu haben. Das Verhältnis zwischen „Gesetz und Urteil“, also zwischen dem gesetzlichen 307 Wortlaut und seiner Bedeutung für den Fall, in der hier gebrauchten Terminologie zwischen Normtext und Rechtsnorm ist also nicht so simpel, wie es die positivistische Tradition hatte glauben machen wollen. Es ist um einiges komplexer, aber nichtsdestoweniger wissenschaftlich strukturierbar und praktisch handhabbar. Linguistisch gesprochen, ist der Wortlaut im Gesetzbuch erst ein Textformular; aber dessen Ausfüllung zum verbindlichen Text der Rechtsnorm ist nicht ins freie Belieben gestellt. Je nach seiner Formulierung, die vager oder präziser, lockerer oder dichter, niemals aber vorweg zuverlässig determinierend sein kann, markiert der Normtext als Eingangsdatum der Entscheidungsarbeit bereits Indizien für die Vertretbarkeit oder Unvertretbarkeit späterer Entscheidungen. 320.2 Der Wortlaut als Begrenzung des Spielraums zulässiger Konkretisierung (s. auch unten 59) Bisher war vom Wortlaut als Indiz für die Wirkung der Vorschrift die Rede. Je 308 technischer, je spezialisierter die Norm ist, je vollständiger sich ihr Normbereich dazu eignet, begrifflich individualisiert zu werden, je stärker ihr Normbereich rechtserzeugt oder je mehr sie numerisch determiniert ist, um so ergiebiger ist der Wortlaut. Im Grenzfall bietet die Rechtsordnung einen subsumtionsgeeigneten Normtext an. Über seine übliche Indizwirkung hinaus hat das grammatische Element dann Bestimmungswirkung. In solchen seltenen Fällen reicht allein die grammatische Behandlung des Normtextes der speziellen Vorschrift aus, den Fall abschließend zu lösen. Das gilt typisch für einfache Form-, für Frist- und für andre Weise (numerisch) quantifizierte Regeln. Nur hier ist der Begriff der Subsumtion korrekt verwendet. Was die herkömmliche Methodik so bezeichnet – Interpretation mit Hilfe der Savignyschen canones und zusätzlich anhand teleologischen Räsonierens – ist, wie hier gezeigt wurde, alles andere als bloß subsumierende logische Operation. Auch numerisch bestimmte Normtexte sind nicht schon als solche zu einfacher 309 Subsumtion geeignet; sie sind es nur dann, wenn ein besonders einfach gelagerter
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Fall hinzukommt. Auch auf den ersten Blick als problemlos geltende Organisationsund Verfahrensvorschriften, die numerisch abgestützt sind (Zahl der Mitglieder eines Gremiums; Dauer von Amt oder Mandat; Termine und Fristen; Quotenregelung, usw.) können in nicht mehr ganz problemlosen Fällen, für die sie einschlägig sind, schnell die Leistungsgrenze bloß grammatischer Interpretation deutlich machen. „Der Bundestag wird auf vier Jahre gewählt“ würde auch dann als „klarer“, ja als „eindeutiger“ Wortlaut gemeinhin angesehen werden, wenn er der einzige Rechtssatz in Art. 39 Abs. 1 GG wäre327. Auch dann würde „vier“ nicht (nie) „fünf“ oder „drei“ heißen; was „Jahre“ bedeuten solle (Julianischer oder sonstiger Kalender, muslimisches Mondjahr?) wäre zwar unschwer zu entscheiden, aber nur mit kontextuellen sowie mit genetischen, historischen und mit Sachbereichs- / Normbereichselementen, die über subsumierende grammatische Auslegung deutlich hinausgingen. Das Unsicherste dabei bliebe, was – anders als in Art. 39 Abs. 1 bei vom Normtext nicht explizit vorweggenommenen Fallgestaltungen – „vier“ alles heißen könnte (bis zur Wahlausschreibung, bis zum Wahltag, bis zum amtlichen Wahlergebnis, bis zum Zusammentritt des neuen Bundestags?). Auch diese Fragen wären nach dem Grundgesetz hochgradig plausibel lösbar, aber die Lösung „ginge“ keineswegs schon allein „aus dem Normtext hervor“; sie überschritte wiederum die nur grammatische Interpretation und setzte den ganzen Set von Konkretisierungselementen in Bewegung. Ein anderer Weg besteht nur darin, die betreffenden Normtexte selbst detailliert anzureichern, nach möglichen Fallkonstellationen abzustufen und diese damit, soweit es antizipierender Sprache möglich erscheint, vorweg zu determinieren. Dies ist der Weg, den rechtsgeschichtlich in großem Stil das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten gegangen ist; das Grundgesetz ist in seinem Artikel 39 Absatz 1, wenn man so sagen will, dieser Normierungstechnik gefolgt. Auch damit sind künftige Zweifelsfälle nicht unmöglich gemacht, aber – im Maß der Detailliertheit – graduell vermindert worden. Zahlwörter erzeugen im Prinzip auch keine Ein-Eindeutigkeit: „Die Mathematik steht ganz falsch im Rufe untrügliche Schlüsse zu liefern. Ihre ganze Sicherheit ist nichts weiter als Identität. Zweimal zwei ist nicht vier, sondern es ist eben zweimal zwei, und das nennen wir abkürzend vier“ (Goethe zu Kanzler Friedrich v. Müller, am 18. Juni 1826). Solche Eindeutigkeit kann nur durch weitere Kontexte im Einzelfall versuchsweise hergestellt werden; so etwa wenn eine Frist nicht als Dauer angegeben ist („1 Monat“, „1 Jahr“), sondern als Datum („… endet am 31. 12. 327 Art. 39 Abs. 1 GG lautet: „Der Bundestag wird auf vier Jahre gewählt. Seine Wahlperiode endet mit dem Zusammentritt eines neuen Bundestages. Die Neuwahl findet frühestens fünfundvierzig, spätestens siebenundvierzig Monate nach Beginn der Wahlperiode statt. Im Falle einer Auflösung des Bundestages findet die Neuwahl innerhalb von sechzig Tagen statt.“ Absatz 1 wird inhaltlich durch Absatz 2 ergänzt: „Der Bundestag tritt spätestens am dreißigsten Tage nach der Wahl zusammen“. – Welche Konzepte hinter der numerischen Begrenzung legislativer Mandate stehen können, zeigt eindringlich die interdisziplinäre Studie von M. G. Guimarães Teixeira Rocha: Limitação dos Mandatos Legislativos. Uma Nova Visão do Contrato Social, 2002 (Politische Philosophie, Demokratietheorie, Politikwissenschaft, Spieltheorie).
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2001, 24 Uhr“). Ein anderes (im Jahr 2001 noch aktuelles) Beispiel bietet der Streit im Rahmen des sogenannten Ausstiegs aus der Atomenergie: heißt „1 Jahr“ ein Kalenderjahr (so das Umweltministerium in Berlin) oder ein „Voll-Lastjahr“ (so die Atomindustrie)? In einem gewissen (gegenüber sonstigen Wörtern engeren) Rahmen sind eben auch Zahlwörter interpretierbar, was bisher hier an Exempeln von Einzelzahlen gezeigt wurde, sozusagen an der numerischen Wortsemantik. Nimmt man dagegen einen komplexeren Fall, also einen aus numerischer Textsemantik wie z. B. eine Statistik, so wird (von Churchills Diktum „Ich glaube keiner Statistik, die ich nicht selber gefälscht habe“ bis zum Volksmund „Es gibt drei Arten von Lüge: Notlüge, Schadenlüge, Statistik“) überdeutlich, daß auch Zahlen kein sicherer Port in den Stürmen des Lebens sind. Zahlen kennzeichnen vor allem Form- und Fristregeln. Auch nicht-numerische Formvorschriften sind eher technischer Natur, lassen sich aber gleichfalls nicht einfach „subsumieren“. So mag der Normtext: „Der Antrag ist schriftlich einzureichen“, wie einst und wie immer noch beim privaten Testament, „handschriftlich“ meinen; oder auch „maschinenschriftlich (mit / ohne Signatur von Hand)“; ferner „per Fax“, „per E-mail“ (mit eingetippter / mit elektronischer Signatur); oder auch: „per Fax / E-mail, aber mit nachgereichter Papierform“ – ab wann zählt dann die Frist? All das kann ohne weiteres geregelt werden, durch Normtexte oder durch die Rechtsnormtexte der Justiz, nie aber schlicht „subsumiert“. Es erfordert eine jeweilige Semantisierungsarbeit und damit jeweils weiteren Text. Auch kann eine solche außerrechtliche Entwicklung zu Normwandel bei gleich bleibendem Normtext („schriftlich“) führen. Die technische Änderung erfolgt im Sachbereich. Inwieweit sich daraufhin die Entscheidungen der Gerichte ändern werden, also die von diesen formulierten Texte der Rechtsnormen, hängt davon ab, welche Tatsachen in den Normbereich aufgenommen werden; und das wiederum von den im Fall entwickelten Normprogrammen, d. h. den Ergebnissen der Argumentation zu: „Der Antrag ist schriftlich einzureichen“. Nicht nur in Sonderfällen, sondern durchweg hat der Normtext schließlich Grenz- 310 wirkung. Das gilt aus verfassungsrechtlichen Gründen für die gesamte Rechtsordnung; es wird hier aber am Beispiel grundgesetzlicher Normen dargestellt. Strukturell analog, aber funktionell verschieden arbeitet rechtsstaatliche Konkretisierung dort, wo verfassungsrechtliche Normtexte den Umfang rechtlich zulässiger Konkretisierung begrenzen. Der mögliche Wortsinn umschreibt nicht zuletzt im Verfassungsrecht aus rechtsstaatlichen Gründen den Spielraum einer normtextorientierten Konkretisierung, welche die verfassungsrechtliche Zuordnung der Funktionen beachtet328. Im Verfassungsrecht ist die klärende und stabilisierende Aufgabe des Normwortlauts ein Hauptargument gegen die Topik. Diese möchte „die Norm“ nur als einen Ansatzpunkt für die Problemlösung behandeln, der übergangen werden 328 Zur Wortlautgrenze im Rahmen der verfassungskonformen Auslegung vgl. BverfGE 95, 64, 93,95; 97, 186, 193, 196; 98, 17, 45; 99, 246, 258.
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kann, wenn er dem Problemzusammenhang nicht zu genügen scheint329. Doch steckt der Wortlaut die äußersten Grenzen funktionell vertretbarer und verfassungsrechtlich zulässiger Sinnvarianten ab. Weitergehend dürfen die übrigen Elemente textbezogener Art und der Sachaspekte aus Sachbereich und Fallbereich nicht zum entscheidenden Faktor gemacht werden. Für Grundrechte ist die Grenzfunktion der Wortlaute gegenüber Sachgesichtspunkten der Normbereiche besonders schwierig zu aktualisieren, denn die Normbereiche sind (ähnlich den Regelungsmaterien der Kompetenzvorschriften) oft nur durch Stichwörter angedeutet („Ehe und Familie“ in Art. 6 Abs. 1 GG, „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre“ in Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG, „Vereine und Gesellschaften“ in Art. 9 Abs. 1 GG, „Eigentum“, „Erbrecht“ in Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG usw.). Etwas anderes gilt für die Grenzfunktion allgemein nur dort, wo der Wortlaut nachweislich fehlerhaft ist330. 311
Entscheidungen, die den Wortlaut einer Norm offensichtlich überspielen331, sind unzulässig. Das gilt, obgleich Norm und Normtext nicht identisch sind und obwohl 329 Zur Kritik an Wortlautgrenze und Gesetzesbindung aus der Sicht der Topik vgl. Rodingen II, S. 148 f. Differenzierend Gast III, S. 297, 305. – Zivilrechtliche Beispiele zu den (realistisch gesehenen) Funktionen des Normtextes bei Laudenklos III, S. 155 ff. 330 D. h. außer in den – methodologisch uninteressanten – Fällen eines unbestrittenen Redaktionsversehens; hier dürfen „Druckfehler und andere offenbare Unrichtigkeiten“ ohne erneutes Einschalten der Legislative berichtigt werden; vgl. BVerfGE 105, 313, 334 f. m.w. N. aus der Rechtsprechung. Dieser Fall ist sowohl in § 61 GGO (Gemeinsame Geschäftsordnung der Bundesministerien) als auch in § 122 III der GO des Bundestags geregelt. – Vgl. a. BVerfG in: NJW 2002, S. 2544. – Das Vorliegen eines Redaktionsversehens ist seinerseits methodisch plausibel zu begründen – i. d. R. genetisch / historisch / systematisch. – Allgemein zur Behandlung des Gesetzeswortlauts: Keller. – Zur Funktion des Wortlauts in der höchstrichterlichen Rechtsprechung vgl. oben etwa 212.1. Zur Funktion des Wortlauts der Norm, des „mögliche(n) Wortsinn(s)“, der „den Bereich bildet und die Grenzen absteckt, innerhalb deren ein vom Gesetz verwendeter Begriff überhaupt ausgelegt werden kann“, vgl. BGHZ 46, 74, 76 („Schallplatten-Urteil“) m.w. N.; vgl. auch Larenz I, S. 302 f., 318. – Ein Bedeutungsspielraum wird durch Interpretation des Wortlauts („brechen“ in Art. 31 GG) herausgearbeitet in BVerfGE 36, 342 ff., 365 (Niedersächsisches Landesbesoldungsgesetz). – Wie im Text zum Wortlaut als Grenze zulässiger Konkretisierung vgl. z. B. Hesse II, S. 14 ff., 28 f. Christensen VII, S. 68 ff., 269 ff. Nach Luhmann X, 283, ist die Wortlautgrenze „die Form, in der die Argumentation das Geltungssymbol anerkennt und übernimmt“. – Unrichtig die Folgerung, ebd., das spalte „dann den Text in eindeutigen und mehrdeutigem Sinn“. 331 Etwa BVerfGE 1, 351, 366 f.; 2, 347, 374 f.; 8, 210, 221; 9, 89, 104 ff.; 13, 261, 268. – Bedenklich BVerfGE 35, 263, 278 ff.: der Richter brauche „am Wortlaut einer Norm … nicht haltzumachen“. Durch seine Bindung an das Gesetz – Art. 20 III, 97 I GG – sei er nicht „an dessen Buchstaben mit dem Zwang zu wörtlicher Auslegung“, sondern „an Sinn und Zweck des Gesetzes“ gebunden. – Das Gericht vermengt hier die Konkretisierungsfunktion des grammatischen Elements mit der Grenzfunktion des Normtexts (Grenze des Spielraums zulässiger Konkretisierung aus Gründen rechtsstaatlicher Klarheit und Funktionsverteilung). Beides geht undifferenziert in der These unter, der Richter sei nicht „durch den formalen (?) Wortlaut des Gesetzes begrenzt“, ebd., 279 unter Hinweis auf E 8, 210, 221 und E 22, 28, 37. – Der Fall wäre auch ohne methodische Verrenkungen lösbar gewesen. Den Weg über § 123 VwGO prüft das Gericht nicht eingehender; die „verfassungskonforme Auslegung“ wird wegen einer „Regelungslücke“, ebd., 277, auch 279, als nicht contra legem erfolgend ausgegeben, ebd., S. 280. Die verwendeten Alibi-Formeln („eindeutig“, „geradezu entgegengesetzt“, „wesent-
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der Normtext für die im Einzelfall gebildete Rechts- und Entscheidungsnorm nur indikativ wirkt; denn es gilt nicht aus normtheoretischen und methodischen, sondern aus rechtsstaatlich-normativen Gründen. Rechtsstaatsgetreue Methodik fragt nicht „hinter das Gesetz zurück und über es hinaus“332, wohl aber hinter den Normtext zurück und über ihn hinaus. Das heißt nicht, der Wortlaut sei damit für das Ergebnis der Konkretisierung zweitrangig geworden. Der Abstand zur Topik drückt sich unter anderem darin aus, die Funktion des Normtexts als einer äußersten Grenze möglicher Rechtsbildung festzuhalten. Der Wortlaut bezeichnet insoweit den im Konfliktsfall vorrangigen Maßstab rechtlicher Verbindlichkeit. Das ist um so wichtiger, als die Norm in ihrer konkreten Normativität im Rechtsfall jeweils erst erarbeitet werden muß. Damit wird der Umgang mit grammatischer Verfassungsauslegung delikat. Sie taugt kaum je als eine „Methode“, die evidente Ergebnisse erbringen könnte. Weil sie auf Entfalten und Bewerten sprachlichen Sinns angewiesen bleibt, ist sie nur begrenzt objektiv. Etymologische Befunde sind für die Konkretisierung aktuell geltenden Rechts außerhalb der normalen Konkretisierungselemente nicht verwertbar. Objektivität stützt sich hier auf die herrschende allgemeine oder rechtswissenschaftliche Sprachkonvention. Methodisch wiegt das sprachliche Element nicht schwerer als die andern, wenn auch in aller Regel der Normtext die ersten Anhaltspunkte liefert. Seine Grenzfunktion ergibt sich aus seinen normativ geforderten Wirkungen für Rechtssicherheit, Normklarheit, Publizität und für die Unverbrüchlichkeit der Verfassungsordnung im demokratischen Rechtsstaat. Gerade dann, wenn Methodik nicht als Lehre formallogischer „Methoden“ genommen wird, ist sie mit den Geboten des Rechtsstaats zu verbinden. Doch verbietet es die nur relative, aus den genannten Gründen vielfältig eingeschränkte Sicherheit, die der Normtext gewährt, seine Grenzfunktion positiv dahingehend zu fassen, als normgemäß könnten nur solche Annahmen gelten, die im Wortlaut der zu interpretierenden Norm eine Rechtfertigung fänden333. Wohl darf juristische Konkretisierung nicht normlose oder normwidrige Gesichtspunkte unterstellen. Dieses Gebot ist aber in Zusammenhang damit zu sehen, daß die Norm strukturiert und mit ihrem Wortlaut nicht identisch ist. Schon Savignys Regeln und vollends die bei Savigny nicht empfohlene teleologische Auslegung führen typisch zu Ergebnissen, die aus dem Wortlaut als einer sprachlichen Gegebenheit nicht „herzuleiten“ sind, die sich aber gleichwohl im vertretbaren sprachlichen Sinnbereich bewegen. Der Gesetzespositivismus darf nicht durch Preisgabe der Positivität des Rechts „überwunden“ werden334. Doch ist die Positivität des Rechts nicht schon identisch mit der Gegebenheit der Normtexte. Die Grenzfunktion verfassungsrechtlicher Wortlaute ist daher negativ dahin zu bestimmen: Über den Spielraum, den der Wortlaut läßt, darf lich“, „verfehlender oder verfälschender Sinn“, S. 280), erweisen die Argumentation als nicht von handwerklicher Rechtserzeugung, sondern allein von absichernder Selbstrechtfertigung geprägt. 332 So aber Ehmke III, S. 54. 333 Forsthoff I, S. 39. 334 Forsthoff I, S. 39.
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nur insofern hinausgegangen werden, als der Text nachweislich fehlerhaft oder mißverständlich ist; nicht aber dann, wenn er „keinen Ansatzpunkt für eine sinnvolle Problemlösung bietet“335. Ergibt es sich, daß der Text den methodischen Spielraum für die normativen Aussagen sprachlich zuverlässig ausdrückt, darf das Ergebnis den in diesem Spielraum verbleibenden Lösungsalternativen nicht zuwiderlaufen. Daß der Spielraum seinerseits (auch) mit Hilfe sprachlicher Elemente zu bestimmen ist, macht rationale Entscheidung zwischen den oft nicht konformen Gesichtspunkten gerade unter den Bedingungen verfassungsrechtlicher Arbeit schwierig, wenn auch nicht unmöglich.
320.3 Die Verletzung der Grenzfunktion des Wortlauts durch Dezision 312
Eine richterliche Entscheidung verstößt gegen die Grenzfunktion des Wortlauts, wenn die formulierten Entscheidungs- und Rechtsnormen nicht bestimmten Normtexten aus der Normtextmenge des geltenden Rechts methodisch zugerechnet werden können. In dieser Aussage verknüpfen sich methodologische mit verfassungsrechtlichen Faktoren, sind mit anderen Worten methodenrelevante Normen, vor allem aus den Bereichen von Rechtsstaat und Demokratie, mit im Spiel. Das liegt an der Eigenart der sogenannten Wortlautgrenze einer demokratisch gebundenen, rechtsstaatlich geformten Arbeitsmethodik der Juristen. Der Wortlaut einer Vorschrift hat, wie ausgeführt wurde, nur in den seltenen Fällen echter Subsumtion Bestimmungsfunktion, in aller Regel dagegen in positiver Richtung Indizwirkung, in negativer eine Grenzwirkung. Der Wortlaut bildet aus verfassungsrechtlichen Gründen die Grenze des Spielraums zulässiger Konkretisierung. Die Entscheidung muß sich nicht „aus dem Wortlaut ergeben“, was eben nur in raren Grenzfällen feststellbar ist. Sie muß aber mit dem Wortlaut jedenfalls noch vereinbar sein. Das ist keine methodologische, sondern eine normative Aussage. Die Wortlautgrenze bildet die rechtsstaatlich-demokratisch angeordnete Linie nicht einer methodologisch möglichen, sondern einer positivrechtlichen zulässigen Konkretisierung336. Die Grenzfunktion des Wortlauts ist also nicht identisch mit der Konkretisierungsfunktion (In335 So aber Ehmke III, S. 60. – Hauptbeispiele für „nachweislich fehlerhaft oder mißverständlich“: technische Übermittlungsfehler im Gesetzgebungsverfahren, Satzfehler bei der Drucklegung – und zwar jeweils klar belegbar. 336 Dazu eingehend Müller XIX, S. 271 ff., 274 f. Vgl. zur Rolle des Wortlauts im Rahmen der Präferenzregeln bei methodologischen Konflikten noch weiter unten im Text (33). – Im Ergebnis immer noch konventionell diskutiert Depenheuer die Frage der Wortlautgrenze. – Um die Wortlautgrenze („möglicher, erkennbarer Wortsinn“) geht es kontrovers in BVerfGE 85, 69 ff., 73 ff. einer- und ebd., 77 ff. andererseits (Abweichende Meinung). – Zur „Wortlautgrenze“ anhand eines zivilrechtlichen Beispiels Laudenklos III, S. 149 ff. – Eindringlich zum fiktiven Charakter der herkömmlichen „Wortlautgrenze“ und eines voraussetzbaren „erkennbaren Wortsinns“: Christensen / Sokolowski II, S. 231 ff. – s. a. Christensen / Kudlich VI, Christensen / Pötters.
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dizwirkung) des grammatischen Auslegungselements337. Denn die Entscheidung klebt nicht am unvermittelten Wortlaut, beschränkt sich nicht auf Text-interpretation. Die im Fall formulierten Entscheidungs- und Rechtsnormen müssen jedoch mit dem im vorherigen Entscheidungsvorgang voll konkretisierten Normtext noch vereinbar sein; dieses Urteil verlangt im Fall der Verneinung – „jedenfalls nicht mehr vereinbar“ – Eindeutigkeit. Bleibt die Frage mindestens zweideutig, so kann eben nicht gesagt werden, der Spielraum jedenfalls noch möglicher Verständnisvarianten der interpretierten Sprachdaten sei verlassen. Wenn dabei im Einzelfall mehrere Konkretisierungselemente primärsprachlicher Art (Sprachdaten) zu demselben Ergebnis führen, so stellt sich die Wortlautgrenze als Normprogrammgrenze dar. Gibt es dagegen bei methodologischen Konflikten unter den einzelnen Konkretisierungsfaktoren den Grenzfall, daß sich allein das grammatische Argument durchsetzt338, so trägt für diese Fälle die grammatische Auslegung auch die Grenzfunktion. Es ist nicht der in herkömmlicher Methodenlehre unklar so genannte „mögliche Wortsinn“, sondern das auf das grammatische Element geschrumpfte Normprogramm, welches die normativ begründete letzte Auffanglinie für die rechtsstaatliche Forderung nach Verfassungs- und Gesetzesbindung, einschließlich der sich daran knüpfenden weiteren rechtsstaatlichen Normen (wie Vorrang-, Vorbehalts-, Kollisions-, Maßstabs- und Kontrollnormen), realisieren hilft339 (s. auch unten 59). Wenn die von einer richterlichen Entscheidung formulierten Rechts- und Entscheidungsnormen jedenfalls nicht mehr einem der Normtexte des geltenden Rechts zurechenbar sind, so kann man diesen Typus der Entscheidung als Dezision bezeichnen. Dieser Begriff wird hier als terminus technicus vorgeschlagen; er hat nichts zu tun mit der vom sogenannten Dezisionismus entwickelten Mythologie der „Entscheidung“. Es lassen sich bei Dezisionen zwei Hauptgruppen unterscheiden: 1. Gruppe: Die zu lösende Frage ist rechtlich geregelt (ist also mit den Mitteln rechtsstaatlicher Methodik korrekt auf einen geltenden Normtext rückführbar). Die rechtliche Lösung (also die formulierte Rechts- bzw. Entscheidungsnorm) behauptet aber, sie sei nicht geregelt; oder, so der Normalfall, sie behauptet eine inhaltlich abweichende Regelung. Dieser Typus kann näher bestimmt werden als Dezision durch Rechtsverbiegung. 2. Gruppe: Die Frage ist nicht geregelt (es gibt keinen Normtext in der geltenden Normtextmenge, auf den die gewünschte Entscheidungs- bzw. Rechtsnorm methodisch regulär rückführbar wäre); die Entscheidung (also die Rechts- bzw. Entschei337 Vgl. dazu BVerfG, in: NVwZ 2003, S. 715 f., 718 f., wo die Grenzfunktion des Wortlauts aus einer Kombination von historischen und systematischen Argumenten hergeleitet wird. 338 Dazu unten Abschnitt 332.234. – Zum Verhältnis von Rechts(norm)theorie und juristischer Methodik zur Linguistik: Müller XIX, S. 372 ff. m.w. N. Zum Stand der Problematik vgl. weiterhin Christensen VII; Jeand’Heur IV. 339 Vgl. weiterhin Müller XXIV. – Zu den im Text folgenden Typen von Dezision grundsätzlich Müller XII, S. 19 ff., 24 ff., 44.
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3 Juristische Methodik – 32 Konkretisierungselemente
dungsnorm) behauptet aber, sie sei geregelt, und zwar in dem wirtschaftlich oder politisch erwünschten Sinne. Dieser Typus kann als Dezision durch Rechtsunterstellung bezeichnet werden. 313
Der moderne Verfassungsstaat hat das Monopol nicht irgendeiner, sondern der legitimen Gewaltausübung; zu einer illegitimen ist er nicht einmal berechtigt. Ein Gericht oder eine sonstige entscheidungsbefugte staatliche Stelle, deren Spruch an den demokratisch in Kraft gesetzten Texten im Gesamtnetzwerk der Textstruktur dieses Staates, d. h. an den Normtexten nicht mehr methodisch überzeugend ausweisbar ist, übt – analytisch beurteilt – aktuelle Gewalt aus: nur noch im actus bestehende, nicht mehr sei es auf Verfassungs-, auf Gesetzes- oder Verordnungsebene Stufe für Stufe plausibel zurechenbare, also nicht mehr konstitutionelle Gewalt. Die Gewalt weist dann eine sozusagen „wilde“, eine zusätzliche, überschießende Qualität im Vergleich zu jener auf, die ein staatlicher Entscheid, etwa als Ausdruck der „rechtsprechenden Gewalt“ (Art. 92 GG), als solcher bereits notwendig mit sich bringt.
320.4 Die Grenzfunktion des Wortlauts bei Generalklauseln 314
Von der herkömmlichen Lehre werden Generalklauseln, wie alle Rechtsnormen, mit ihren Normtexten identifiziert und gelten nur als besonders allgemein gehaltene oder besonders vage „Normen“. Damit geklärt werden kann, ob sich daraus eine Besonderheit für das Problem der Wortlautgrenze ergeben wird, muß zunächst der Begriff der Generalklausel näher bestimmt werden. Wird, wie üblich, Generalklauseln ein nur „geringer normativer Gehalt“ zugeschrieben, so erklärt sich das aus der Verwechslung von Normtext und Norm. Die normative Wirkung von Generalklauseln ist grundsätzlich mindestens ebenso groß wie die anderer Vorschriften, sogar ungewöhnlich breit ausgeprägt. Besonderheiten weist hier nicht die Norm auf, wohl aber der Normtext. Insofern müssen auch Aussagen berichtigt werden, Generalklauseln stellten „unvollständige Normen“ oder lediglich „Normfragmente“ dar340. Gegenüber diesen früheren Formulierungen ist klarzustellen, daß Generalklauseln als Rechtsnormen vollständig sind. Ist ein Sachverhalt mit Hilfe einer Generalklausel zu entscheiden, so wird auch hier eine Entscheidungsnorm sowie – zeitlich im Arbeitsprozeß vor dieser – eine Rechtsnorm gebildet, die aus Normprogramm und Normbereich besteht. Unvollständig ist bei Generalklauseln nur die Dichte des Normtexts. Als im Fall erst einmal hergestellte Rechtsnormen bieten sie keine besonderen Probleme; sie stellen dagegen insofern höhere methodische Anforderungen an ihre Bildung durch die fallentscheidende Stelle, als die positive Konkretisierungsleistung des grammatischen Elements, die Indizwirkung des Normtexts, hier geringer als üblich ist. 340
So aber Müller XIX, S. 201 f., 327 f.
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Wenn es so sein sollte, wie traditionell gesagt wird, daß Richter angesichts von 315 Generalklauseln zur Rechts„fortbildung“ gesteigert aufgerufen und berufen sind, dann fragt es sich, worin diese Steigerung ihrer Kompetenz bestehen soll: nur darin, wie immer Rechtsnormen und Entscheidungsnormen zu setzen, dabei aber an einen ungewöhnlich vagen Normtext entsprechend schwächer gebunden zu sein? Oder muß darin eine partielle Delegation an die konkretisierenden Stellen gesehen werden, Sub-Normtexte zu setzen und erst von diesen aus, zusammen mit dem Sachverhalt, Rechtsnormen und Entscheidungsnormen zu entwickeln? Eine Generalklausel könnte Richter – allerdings dann auch sonstige Rechts,anwender‘ – de iure ermächtigen, Sub-Normtexte zu schaffen, aufgrund von deren Indizwirkung und in deren Grenzen Rechtsnormen zu bilden und diese zu Entscheidungsnormen zu individualisieren. Es wäre das eine Zwischenform der Rechtsentscheidung auf einer Skala, deren eines Ende durch ‚Entscheidung ohne Normtext (Richterrecht)‘ und deren anderes durch ‚Entscheidung unter akzeptabler Rückführung auf Normtexte‘ bezeichnet ist. Generalklauseln wären dann Ermächtigungsgrundlagen zum Setzen von Sub-Normtexten und zu einer hieran anschließenden ‚normalen‘ Konkretisierung. Wäre dies richtig, so müßte das Verhältnis des zu bildenden Sub-Normtextes zum 316 vorhandenen Normtext der Generalklausel geklärt werden. Wird dieser so ernst genommen, wie er es als ein Wortlaut des geltenden Rechts verdient und fordert, dann ist kein Grund ersichtlich, von einem Sub-„Normtext“ zu sprechen und nicht vielmehr vom Normprogramm oder einem Teil des Normprogramms der im Ausgang vom Wortlaut zum Beispiel der §§ 242, 826 BGB konstruierten Rechtsnorm. Andernfalls würde der Wortlaut der Generalklausel entwertet; der ‚wahre‘ Wortlaut wäre der vom Richter oder vom sonstigen Rechts,anwender‘ gesetzte Subnormtext. Das wäre unzulässig, da auch die Wortlaute von Generalklauseln gleichwertig zum geltenden Recht gehören. Sie sind, wie gesagt, allerdings vager als die üblichen; das ist aber eine Frage auf anderer Ebene. Methodenrelevante Normen, vor allem Art. 20 Abs. 3 und 97 Abs. 1 GG, verhindern es, den amtlichen Wortlaut generalklauselartiger Vorschriften des geltenden Rechts zu leicht zu nehmen. Davon abgesehen, ist rechtstheoretisch in der Hypothese der Setzung richterrechtlicher Subnormtexte auch kein besonderer Gewinn zu erkennen. Von der den Richtern übertragenen rechtlichen Entscheidungsmacht her beur- 317 teilt, ermächtigt also eine Generalklausel die fallentscheidende Instanz zu nichts anderem als sonstige „Normen“ (recte: Normtexte) auch. Gegen die übliche Vermischung der Begriffe ist das, was als „Generalklausel“ bezeichnet wird, nicht diese selbst, sondern ihr Wortlaut. Der Normtext ist weder selbst Rechtsnorm noch ein begrifflicher Normbestandteil341. Darum ist es nicht länger sinnvoll, Generalklauseln als Normfragmente oder als unvollständige Normen zu bezeichnen; dem liegt immer noch die Vermischung von Norm und Normtext zumindest in der abgeschwächten Form zugrunde, den Wortlaut in die Rechtsnorm als deren begrifflichen Bestandteil einzugliedern. Dagegen hat es sich als korrekt herausgestellt, den 341
Dazu eingehend Müller XIX, z. B. S. 230 ff., 234 ff., 263 ff.
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3 Juristische Methodik – 32 Konkretisierungselemente
Normtext, zusammen mit dem Fall, nur als Eingangsdatum des Konkretisierungsvorgangs aufzufassen. 318
Die Richter setzen demnach auch in solchen Fällen, in denen zu den Eingangsgrößen ihres Arbeitsvorgangs Normtexte gehören, die man „Generalklauseln“ nennt, in methodischer Orientierung an diesen eine Rechtsnorm (Normprogramm und Normbereich) und individualisieren sie abschließend zur Entscheidungsnorm. Die so erzeugten Rechts- und Entscheidungsnormen sind normal, nicht etwa fragmentarisch. So könnte allenfalls der Wortlaut, der besonders unbestimmt gefaßte Rechtssatz, genannt werden. Er ist gesteigert vage, wenn auch auf seine Art vollständig. Von Unvollständigkeit könnte, verglichen mit üblichen Normtexten, nur in zweierlei Hinsicht gesprochen werden: einmal dort, wo vage Wortlaute auf außergesetzliche (nicht notwendig: außerrechtliche) Maßstäbe wie „Treu und Glauben“, „Verkehrssitte“, „gute Sitten“ oder auf naturwissenschaftlich kontrollierbare Standards wie „Stand der Technik“ verweisen342. Hierin ist allerdings kein qualitativer, nur ein gradueller Unterschied zu sehen, da auch bei normalen Normtexten Sachbereich und Normbereich zu ermitteln und methodisch zu vermitteln sind; und zwar auch dann, wenn ausdrückliche Verweisungen343 im Normtext fehlen. Zweitens könnte von einer Unvollständigkeit vager Wortlaute in bezug auf die Dichte der Signale gesprochen werden, die sie dem Rechtsarbeiter zur Verfügung stellen. Sie ergeben für die positive Konkretisierungsleistung des grammatischen Elements (Indizwirkung, nur in den seltenen Grenzfällen echter Subsumtion Bestimmungswirkung) verhältnismäßig wenige Argumente. Überdies haben Generalklauseln einen sehr breiten Sachbereich; und ihr vager Normtext gibt entsprechend weniger Anhaltspunkte dafür, den Normbereich aus diesem zu selektieren. Mit anderen Worten, Normbereich und Sachbereich decken sich hier quantitativ weitergehend als normalerweise; Sachverhalt und Fallbereich stehen dort, wo mit Hilfe einer Generalklausel zu entscheiden ist, ungewöhnlich stark im Vordergrund. Die zu konstruierende Rechtsnorm und die aus ihr individualisierte Entscheidungsnorm sind am Ergebnis der interpretierten Sprachdaten entsprechend weniger exakt kontrollierbar. Anders gesagt, gibt hier der Normtext auch in seiner zweiten Funktion, der negativen Grenzwirkung im Sinn der Wortlaut- / Normprogrammgrenze, weniger Hinweise als sonst. Die Aussage, eine Rechtsentscheidung sei jedenfalls nicht mehr mit dem Normprogramm (beziehungsweise, in Grenzfällen, dem grammatisch ausgelegten Normtext) vereinbar, wird bei Generalklauseln erheblich seltener gemacht werden können, da sie – hier wie stets – Eindeutigkeit beansprucht344.
342 Zum Problem der technischen Standards und ihrer rechtlichen Bewältigung Müller ebd., S. 275 f., 395 f., m.w. N. zur zivilrechtlichen und öffentlich-rechtlichen Diskussion. – Zum Problem zivilrechtlicher Generalklauseln, entwickelt auf der Grundlage des Strukturkonzepts, vgl. Hebestreit, S. 105 ff. Zu den „guten Sitten“: Schachtschneider u. a., S. 210 ff. 343 Vgl. zu Problemen mit dem Verweisungsbegriff „öffentliche Sicherheit“ in § 15 VersG: Rühl, S. 537. 344 Zum Erfordernis der Eindeutigkeit in solchen Fällen: Müller XVI, S. 271 ff., 274 f.
320 Der Wortlaut als Grenze der Normkonkretisierung
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Konkretisierungsvorgänge solcher Art haben somit nur das Besondere, daß die in 319 ihnen erstellten Rechts- und Entscheidungsnormen von besonders vagen Normtexten ausgehen. Für die Frage nach der Wortlautgrenze besagt das nur, daß das Vorliegen einer Dezision (Setzen von Rechts- und Entscheidungsnormen außerhalb jeder Rückführbarkeit auf Wortlaute des geltenden Rechts) hier entsprechend seltener behauptbar, weil methodisch schwerer nachweisbar ist. Trotzdem sind solche Fälle möglich. So könnte sich eine Entscheidung nicht mehr auf § 242 BGB berufen, wenn „Treu und Glauben“, insoweit mit dem vagen Normtext nicht mehr vereinbar, von jedem Element des Vertrauens subjektiv und objektiv abgekoppelt würden, wenn als Faktoren wie Voraussehbarkeit, Gegenseitigkeit, Kontinuität des rechtlichen Handelns der Beteiligten keine Rolle mehr spielten und „Treu und Glauben“ zu einer davon unabhängigen, vom Gericht autoritär umdefinierten Leerformel würde. Unter „guten Sitten“ dürften nicht der Standard der sogenannten Ganovenehre, das Gruppenverständnis der Mafia, die speziellen Glaubensinhalte einer einzelnen Kirche oder Sekte und ähnliches unterstellt werden. „Verkehrssitte“ dürfte nicht jeden Bezug zu empirisch feststellbaren Erwartungs- und Verhaltensmustern innerhalb der betreffenden Rechtsordnung oder des von der Entscheidung berührten Sektors der Gesellschaft verloren haben.
320.5 Beispiele für die Grenzfunktion des Wortlauts 320.51 Normzweck gegen Normtext? Nach § 43 Abs. 2 Satz 1 VwGO kann die Feststellung nicht begehrt werden, so- 320 weit der Kläger seine Rechte durch Gestaltungs- oder Leistungsklage verfolgen kann oder hätte verfolgen können. Das Bundesverwaltungsgericht setzt sich in seinem Urteil vom 27. 10. 1970345 durch „einschränkende Auslegung von § 43 Abs. 2 VwGO in Anlehnung an den Zivilprozeß“ (Leitsatz 1) über diesen Normtext hinweg. Die Vorschrift sei eine Sonderregelung, „die das Unterlaufen der für die Anfechtungsklage und für die Verpflichtungsklage geltenden besonderen Vorschriften verhindert (Vorverfahren und insbesondere Fristbindung)“. In Fällen, in denen wie bei fristgebundenen Feststellungsklagen im Beamtenrecht oder wie bei Konkurrenz zu einer nicht fristgebundenen allgemeinen Leistungsklage – das Erreichen dieses Normzwecks sichergestellt sei, könne das Subsidiaritätsgebot des § 43 Abs. 2 VwGO unbeachtet bleiben. Dasselbe soll nach Ansicht des Senats im Anschluß an die auf ständige Rechtsprechung gestützte „Übung“ im Zivilprozeß dann gelten, wenn sich die Klage gegen Bund, Länder oder andere öffentlich-rechtliche Körperschaften richtet, „gegen Beklagte also, von denen man angesichts ihrer verfassungs345 BVerwGE 36, 179, 181 f. – Weitere Beispiele aus der Verwaltungsrechtsprechung: OVG Münster, in: NJW 1972, S. 118; BayVGH, in: DÖV 1967, S. 306 = VGHE 20, II, 36. – Zur Grenzfunktion des Wortlauts im Steuerrecht und allg. im (Eingriffs-)Verwaltungsrecht Papier, S. 562 f. m.w. N.: Verbot nachteiliger Analogie und des „Durchgriffs“ auf „die ökonomischen Sachgehalte und legislatorischen Motive“ gegen den Normtext.
314
3 Juristische Methodik – 32 Konkretisierungselemente
mäßig verankerten festen Bindung an Recht und Gesetz die Respektierung von Gerichtsurteilen auch ohne dahinterstehenden Vollstreckungsdruck erwarten darf“. 321
Diese Folgerungen sind mit dem Normtext von § 43 Abs. 2 VwGO nicht mehr vereinbar und damit rechtsstaatlich unzulässig. Anders wäre es nur dann, wenn der Wortlaut nachweislich fehlerhaft oder mißverständlich wäre. Dieser mit den Mitteln der Interpretation, hier vor allem genetisch und systematisch zu führende Nachweis unterbleibt. Außerdem nennt der Senat den Hauptzweck der Vorschrift nicht: die Verwaltungsgerichte vor mehrfacher Beanspruchung dann zu schonen, wenn der Kläger mit Gestaltungs- oder Leistungsklage etwas andres (und zwar mehr) erreichen kann oder hätte erreichen können. Dieser Zweck geht über die genannten Teilgesichtspunkte hinaus und wird vom Normtext des § 43 Abs. 2 Satz 1 VwGO ohne Fehlerhaftigkeit gedeckt. Die vom Gericht angestellten, auch sonst durch Normtexte übrigens nicht abgesicherten Überlegungen sind damit von der Grenzfunktion des im gegebenen Fall hinreichend deutlichen Wortlauts her unerheblich.
320.52 Materielle Gerechtigkeit gegen Normtext? 322
Das Strafgesetzbuch stellt in § 240 die Herbeiführung einer Zwangslage mittels Gewalt oder Drohung unter Strafe. In der Rechtsprechung des Reichsgerichts wurde das Nötigungsmittel der Gewalt als körperliche Kraftentfaltung beim Täter und körperliche Zwangswirkung beim Opfer definiert. Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs in Strafsachen hat diese Merkmale zunehmend aufgeweicht und die Strafbarkeit der Nötigung schließlich auf die „verwerfliche“ Herbeiführung einer Zwangslage reduziert346. Das Bundesverfassungsgericht hatte über die dieser Entwicklung zugrundeliegende Ausdehnung des Gewaltbegriffs unter anderem im Urteil vom 11. November 1986347 zu entscheiden. Die das Urteil tragenden vier Richter gehen davon aus, daß die Ausweitung der „Gewalt“-voraussetzung mit Art. 103 Abs. 2 GG zu vereinbaren sei348, während das Minderheitsvotum der vier dissentierenden Richter die Ausweitung des Gewaltbegriffs als Verletzung des verfassungsrechtlichen Analogieverbots und Überschreitung der Wortlautgrenze betrachtet349.
346 Vgl. dazu die Entwicklung in BGHSt 1, 145 ff.; 19, 263 ff.; 23, 46 ff.; 23, 126 ff. Aus der Vielzahl der strafrechtlichen Literatur zu dieser Entwicklung seien hier genannt: Blei, S. 77, 141; Geilen I, Geilen II; Müller-Dietz; R. Keller. Weitere Nachw. in BVerfGE 73, 206 ff., 232 f. Vgl. als gute Grundlage für die Untersuchung der diskursiven Strategie, die dieser Ausdehnung des Gewaltbegriffs zugrundeliegt: Brink-Keller, insbes. S. 113 ff. 347 BVerfGE 73, 206 ff. – Zur Judikatur unter theoretischen Fragestellungen: Müller X, S. 54 ff. 348 Ebd., 242 ff. – Gegenteilig jetzt aber der Großengstingen-Beschluß v. 10. 1. 1995, der für Sitzdemonstrationen die „erweiternde Auslegung des Gewaltbegriffs in § 240 Abs. 1 StGB“ für verfassungswidrig erklärt (BVerfGE 92, S. 1 ff.). – Intensive Untersuchung der Reichweite des Art. 103 Abs. 2 GG bei (täterbelastenden) Rechtsprechungsänderungen im Strafrecht bei Hettinger / Engländer. – Grundsätzlich zum Problem der Rechtsprechungsänderung Kähler, S. 21 ff. (Begriff), S. 41 (Typologie).
320 Der Wortlaut als Grenze der Normkonkretisierung
315
Die Diskussion um dieses Urteil350 leidet an rechtstheoretischen und sprachtheo- 323 retischen Unklarheiten über den Begriff der Wortlautgrenze351. Schon die Problemexposition des Bundesverfassungsgerichts macht diese Unklarheit deutlich: „Das Erfordernis gesetzlicher Bestimmtheit schließt nach der Rechtsprechung eine analoge oder gewohnheitsrechtliche Strafbegründung aus. Dabei ist „Analogie“ nicht im engeren technischen Sinne zu verstehen; ausgeschlossen ist vielmehr jede Rechts„Anwendung“, die über den Inhalt einer gesetzlichen Sanktionsnorm hinausgeht. Art. 103 Abs. 2 GG zieht der Auslegung von Strafvorschriften eine verfassungsrechtliche Schranke. Da Gegenstand der Auslegung gesetzlicher Bestimmungen immer nur der Gesetzestext sein kann, erweist dieser sich als maßgebendes Kriterium: der mögliche Wortsinn des Gesetzes markiert die äußerste Grenze zulässiger richterlicher Interpretation“. Hier wird ein möglicher Wortsinn als vorgegebener und durch sprachliche „Feststellungen“ zu ermittelnder Inhalt der Norm unterstellt. Ein solches Verständnis der Wortlautgrenze wird auch in der Kritik des verfassungsgerichtlichen Urteils größtenteils verwendet, wobei nur der jeweils „ermittelte“ Sprachgebrauch anders bestimmt wird. Auf dieser Ebene läßt sich das vorliegende Problem aber gar nicht entscheiden. Weil es weder den einheitlichen Sprachgebrauch einer homogenen und in sich abgeschlossenen Allgemeinsprache noch einen homogenen Sprachgebrauch innerhalb von Gruppensprachen gibt, kann sich bei dem Versuch seiner Ermittlung nur die Widersprüchlichkeit von einzelnen Gebrauchsbeispielen des Gewaltbegriffs herausstellen. Die „gefundenen“ Gebrauchsbeispiele können auch nicht zu einer objektiven und schlicht feststellbaren Sprachregel verallgemeinert werden. Gerade eine Betrachtung der auch in der Diskussion um das verfassungsgerichtli- 324 che Urteil verwendeten Gebrauchsbeispiele macht dies deutlich. So wird etwa in 349 Ebd., 244 ff.; das im Text folgende Zitat: ebd., 235. – Nach BVerfGE 85, 69 ff., 73; 87, 209 ff., 224 (zu Art. 103 Abs. 2 GG) soll „in erster Linie“ (!) der „für den Adressaten erkennbare und verstehbare Wortlaut“ als „äußerste Grenze zulässiger richterlicher (!) Interpretation“ wirken. – Anzuerkennen ist die rechtspolitische Tendenz; die Position bleibt aber zu ambivalent. (Hervorhebungen nicht im Original.) 350 Vgl. aus der umfangreichen Literatur etwa Callies; Kühl; Riehle; Starck; Hassemer II; Prittwitz; Bertuleit-Herkströter. – Diskussion der hier vorgeschlagenen Position bei Seibert III, S. 485 f. – Zur Semantik von „Gewalt“ und zu den damit verbundenen (rechts)linguistischen Fragen: Christensen / Sokolowski II. – Zum Umgang der Strafjustiz mit extremer (tödlicher) Gewalt: Seibert IX. –Vgl. jetzt die groß angelegte, rechtslinguistisch wie rechtstheoretisch fundierte Befassung mit dieser Rechtsprechung bei Felder, S. 116 ff., 122 ff. – Gesprächsanalytische Untersuchung zu § 240 StGB bei Luttermann II. 351 Vgl. dazu v. a. den eben zitierten Aufsatz von Bertuleit-Herkströter, die auf der Grundlage einer an die logische Semantik Kochs anknüpfenden Bestimmung des Gewaltbegriffs dazu kommen, eine Sitzblockade als „neutralen Kandidaten“ anzusehen und die dementsprechend eine Verletzung der Wortlautgrenze durch die Ausdehnung des Gewaltbegriffs nicht zu begründen vermögen. Ihr hilfloser Versuch einer Kritik schlägt demnach in eine Apologie um. – Allgemein halten sich Juristen für sprachwissenschaftlich besonders kompetent und legen deswegen eine Theorie sprachlichen Wandels vor, die ohne jeglichen Bezug zur Fachwissenschaft, also zur Linguistik formuliert wird. Vgl. Rowe, S. 31 ff.
316
3 Juristische Methodik – 32 Konkretisierungselemente
der kritischen Gesellschaftstheorie eine sogenannte strukturelle Gewalt schon dann angenommen, wenn ein Arbeiter ohne eigene Produktionsmittel zum Verkauf seiner Arbeitskraft gezwungen ist. Der Bundesgerichtshof lehnt demgegenüber eine Anwendung des Gewaltbegriffs ab, wenn ein ausbildender Geschäftsherr sein Lehrmädchen im Auto einsperrt, um sie dadurch zum Geschlechtsverkehr zu zwingen352. Die Liste unterschiedlicher und in der Diskussion wiedergegebener Gebrauchsbeispiele ließe sich leicht verlängern. Die Frage, welche von ihnen man zum „Inhalt“ der Norm erklären soll, ist nur durch Dezision lösbar. Die angeblich objektive Ermittlung „des Sprachgebrauchs“ schlägt ins Gegenteil bloßer Willkür um. Als „Inhalt“ des Gewaltbegriffs erscheint jetzt die Zuständigkeit zu seiner Definition; und demgemäß kann es ein Staatsschutzsenat bei der Aburteilung eines Aufrufs zur „gewaltfreien Blockade“ als strafverschärfend berücksichtigen, daß der Angeklagte während des ganzen Verfahrens dadurch seine Unbelehrbarkeit, Rechtsblindheit und Selbstüberschätzung deutlich gezeigt habe, daß er sich den Begriff der Gewalt selber zu definieren angemaßt habe353. 325
Das Problem kann erst dann rational diskutiert werden, wenn man sich von der Fiktion eines im Normtext vorgegebenen sprachlichen Gehalts und eines objektiv feststellbaren Sprachgebrauchs löst. Zu fragen ist nicht, welchen sprachlichen Gehalt der Gewaltbegriff hat, sondern welche Bedeutung dem im Normtext von § 240 StGB enthaltenen Zeichen ‚Gewalt‘ unter Beachtung der methodenbezogenen Normen von Verfassungsrecht und einfachen Gesetzen zugerechnet werden kann. Diese Bedeutung wird nicht objektiv gefunden, sondern konstituiert. Eine Grenze für die vom Richter durchzuführende Bedeutungskonstitution ergibt sich erst aus dem vom Gesetzgeber verabschiedeten Normtext als Zeichenkette und den verfassungsrechtlich rückgebundenen Standards einer juristischen Argumentationskultur.
326
„Die“ Bedeutung von „Gewalt“ steckt nicht einfach wortsemantisch, merkmalssemantisch in diesem Ausdruck. Sie ist in dem Kontext zu erarbeiten, den der gesetzliche Tatbestand aufspannt, ist kontextabhängig mit den Mitteln der Satz-, Kontext- und Textsemantik festzusetzen. Die Terme eines Normtexts bilden in diesem Sinn einen numerus clausus von Anhaltspunkten; zwar nicht absolut – nichts in der Rechtsarbeit ist „absolut“ –, wohl aber im Rahmen der methodischen Funktionen, die der Normtext in der Konkretisierung überhaupt haben kann (Abschnitte 320, 332, 53, und öfter).
327
Hier, bei § 240 Abs. 1 StGB, liegt der Fall einfach. Tatbestandsinterne (vgl. Abschnitt 322.126) systematische Argumentation zeigt, daß jedenfalls „Drohung“ (nämlich mit einem „empfindlichen Übel“) etwas anderes als „Gewalt“ sein soll; an352 BGH NStZ 1981, 390 = JR 1982, 115. – Der Artikel „Gewalt“ im Grimmschen Wörterbuch (Dt. Wb., Bd. 6 von Hermann Wunderlich, Leipzig 1911, Sp. 4910 ff.) umfaßt 185 Spalten an Gebrauchsbeispielen aus der damaligen Verwendungsgeschichte dieses Wortes. – Beispielanalysen zum Wandel in der Auslegung des Begriffs „Gewalt“ im Strafrecht bei Busse V. 353 Urteil vom 19. 1. 1983 des Staatsschutzsenats des Frankfurter OLG. Kritische Diskussion bei Brink-Keller, S. 107.
320 Der Wortlaut als Grenze der Normkonkretisierung
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ders gesagt, ist „Drohung“ die Form von Einwirkung, über „Gewalt“ hinauszugehen, die in der herkömmlichen Formel der Gesetzeber gewollt hat – d. h. die der Normtext § 240 Abs. 1 StGB als zulässige Anhaltspunkte liefert. Nochmals anders ausgedrückt, gibt das Sprechen von „Drohung“ neben der Rede von „Gewalt“ im Normtext bereits die positivierte, die rechtsstaatlich / demokratisch zulässige Art der „Vergeistigung“ von „Gewalt“ an – und schließt damit gleichzeitig andere aus. Auf der Grundlage einer sprachtheoretisch reformulierten Wortlautgrenze läßt 328 sich nunmehr rational entscheiden, ob die Ausdehnung oder „Vergeistigung“ des Gewaltbegriffs noch mit § 240 StGB bzw. Art. 103 Abs. 2 GG vereinbar ist. Die Ausdehnung des Gewaltbegriffs auf die Verursachung einer Zwangslage würde einen Normtext mit folgender Formulierung voraussetzen: „Wer einen anderen rechtswidrig zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung nötigt, wird (…) bestraft“. Die Benennung der Nötigungsmittel ‚Gewalt und Drohung‘ ist für diese Verständnishypothese sinnlos und überflüssig. Die Ausdehnung des Gewaltbegriffs durch die Justiz verstößt daher gegen die Wortlautgrenze. Dem hat sich nach langem Streit – und in Änderung des praktischen Ergebnisses seiner früheren Judikatur – jetzt das Bundesverfassungsgericht angeschlossen: Durch die „Auslegung des Gewaltbegriffs in der höchstrichterlichen Rechtsprechung“ sei die Strafbarkeit nicht mehr gesetzlich, „sondern nach der Tat im konkreten Fall vom Richter aufgrund seiner Überzeugung von der Strafwürdigkeit … bestimmt“ worden. Diese „beträchtliche(n) Spielräume“ verstießen gegen Art. 103 Abs. 2 GG – BVerfG 1 BvR 718 / 19 / 22 / 23 aus 1989, Beschl. v. 10. 1. 1995 (BVerfGE 92, S. 1 ff.). Nur eine Interpretation, die sowohl der Gewalt als auch der Drohung einen 329 jeweils selbständigen Anwendungsbereich über die bloße Verursachung einer Zwangslage hinaus zubilligen kann, wäre mit dem tatsächlich geltenden Normtext des § 240 zu vereinbaren. So wie die Vergeistigung des Gewaltbegriffs in der Rechtsprechung entwickelt wurde, verstößt sie gegen die interne Systematik des § 240 StGB, weil sie einerseits die Nötigungsmittel überhaupt überflüssig macht und andererseits der Drohung neben der Gewalt keinen sinnvollen Anwendungsbereich mehr übrigläßt. Diese letzte Überlegung wurde in der Literatur und dem entsprechenden Urteil zwar gesehen, aber man meint mit dem Hinweis auf eine angebliche materielle Gerechtigkeit dieses Gegenargument zu entkräften. Tatsächlich kann jedoch eine normgelöste Gerechtigkeit unter der Geltung des Grundgesetzes einen vom Gesetzgeber geschaffenen Normtext auch dann nicht korrigieren, wenn ein Richter wähnt, die Anforderungen dieser gesetzestranszendenten Gerechtigkeit im Einzelfall zu erkennen354. 354 Daß die Ausuferung des Gewaltbegriffs das Grundrechtssystem verletzt und wichtige Grundrechte unter einen einzelfallbezogenen Polizeivorbehalt stellt, wurde in der Literatur (vgl. dazu Brink-Keller, insbes. S. 115 ff.) schon gezeigt und muß hier nicht nochmals dokumentiert werden. Insbesondere die „Verwerflichkeitsklausel“ ist mangels eines einheitlichen sittlichen Substrats in der pluralistischen Gesellschaft nur als notdürftige Fassade für die dezisionistische Ausklammerung von Einzelfällen aus dem zu weit ausgedehnten Tatbestand anzusehen.
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3 Juristische Methodik – 32 Konkretisierungselemente
Gerechtigkeit ist ein Problemhorizont für die Arbeit der Gerichte. Aber sie ist keine für die einzelne Entscheidung verwendbare Deduktionsgrundlage. Als Problemhorizont ist sie die Fluchtlinie des immer wieder nur vorläufigen Versuchs, Recht von Unrecht zu unterscheiden. Macht man sie statt dessen geradewegs zur Ableitungsbasis für den Einzelfall, so produziert man ihr Gegenteil. Wenn man nämlich in einem Rechtsstreit von dogmatischen Inhalten über methodische Aussagen zu grundlegenden Gerechtigkeitsvorstellungen gelangt, findet man dort gerade kein eindeutig festes Fundament. Man hat nur eine Bewegung im diskursiven Netz des Rechts vollzogen; aber diese Bewegung führt nicht etwa von der Unsicherheit in die Gewißheit. In einer pluralistischen Gesellschaft sind die „letzten Grundlagen“ besonders stark divergent355; und die diskursiven Vorkehrungen institutioneller Art laufen gerade darauf hinaus, diesen Streit zu vermeiden. Die Gerechtigkeitsvorstellungen liefern keinen letzten Fundus rechtlichen Wissens, aus dem die Entscheidung einzelner Streitigkeiten deduziert werden könnte. Vielmehr liegt die Leistung des Rechts für die funktionale Differenzierung genau darin, auf dem Weg über die Trennung von Recht und Moral diese letzten Grundlagen aus konkreten Auseinandersetzungen heraus zu halten. Hinter diesen Stand der Dinge kann man nicht zurück. Wenn die methodische Literatur trotzdem die Gerechtigkeit als Schlußstein eines stratifizierten Modells von Begriff, Prinzip und Idee weiterhin zu verwenden versucht, so liegt das in der Konsequenz des von ihr noch immer vertretenen herkömmlichen Rechtserkenntnismodells: Man müsse, um der Erkenntnis einen Gegenstand zu verschaffen, das Ganze des Rechts beherrschen können. Da aber der Kontext eines konkreten Rechtsproblems prinzipiell offen und unbegrenzt ist, kann eine Erkenntnis nur dann funktionieren, wenn der offene Kontext geschlossen werden kann. Diese Rolle kommt normalerweise dem Verfahren und der dort entwickelten Argumentation zu. In dem stratifizierten Rechtserkenntnismodell der Tradition übernimmt jedoch „die“ Gerechtigkeit diese Rolle. Erst mit festen Grenzen ist der Gegenstand der Rechtserkenntnis etabliert. Das Ganze des Rechts soll deshalb auf ein Zentrum namens „Gerechtigkeit“ reduziert werden. Aber schon rechtsdogmatisch gilt: „Dem Rechtsbegriff des Art. 20 Abs. 3 GG kann im Ganzen keine bestimmte Gerechtigkeitstheorie als allgemein verbindlich und endgültig zugeordnet werden.“356 330
Auch die verfassungsgerichtliche Rechtfertigung einer verlängerten Dauer des Ersatzdienstes gegenüber dem Wehrdienst spielt gesetzestranszendente Gerechtigkeitsgesichtspunkte gegen den geltenden Normtext aus. Die Mehrheitsentscheidung ließe sich nur dann begründen, wenn der Normtext des Art. 12a Abs. 2 Satz 2 etwa lauten würde: „Die Belastung durch den Ersatzdienst darf die Belastung durch den Wehrdienst nicht übersteigen“. Der Normtext verwendet aber den quantitativen 355 Vgl. dazu Smit I, S. 56, der darauf hinweist, daß moralische Kommunikation immer am Streit angesiedelt ist. Ebenso Böckenförde II, S. 78. 356 B. Hofmann, S. 283.
320 Der Wortlaut als Grenze der Normkonkretisierung
319
Begriff der „Dauer“. Dieser quantitative Begriff läßt zwar ein Hinzurechnen der durchschnittlichen Dauer der Reservistenübung zu, nicht aber ein am Begriff der „Wehrgerechtigkeit“ orientiertes Ausgleichen von qualitativen Belastungen. Davon abgesehen, daß man eine solche qualitative Belastung im Hinblick auf die mangelnde Vergleichbarkeit nicht verrechnen könnte, ist der Begriff der „Wehrgerechtigkeit“ im Grundgesetz noch nicht einmal enthalten und deswegen auch nicht gegen den amtlichen Normtext ausspielbar. Methodisch korrekt geht demgegenüber das Minderheitsvotum vor. Zur Klärung 331 des Begriffs „Dauer des Dienstes“ führt er aus: „Dem Wortlaut des Art. 12a Abs. 2 Satz 2 GG nach geht es um den Vergleich der Dauer zweier Dienste. ‚Dauer‘ ist ein quantitativer Begriff, der sich auf Zeiträume bezieht. In diesem Sinne wird er im Wehrrecht verwendet (es folgen Nachw.). Das schließt es aus, Art. 12a Abs. 2 Satz 2 GG dahin auszulegen, es werde ein ‚Gleichgewicht der Belastung von Wehr- und Ersatzdienstleistenden‘ sichergestellt“357. Hier wird die Gesetzessystematik als Umfeld des fraglichen Wortes ‚Dauer‘ dazu verwendet, die Möglichkeit zur Bedeutungskonstitution durch das Gericht einzuschränken. Diese methodisch überprüfbare Handhabung des systematischen Konkretisierungselements grenzt sich klar von den vagen Ausführungen des Mehrheitsvotums zu einer substantiellen Wehrgerechtigkeit ab, die im Normtext des Grundgesetzes gerade nicht auffindbar ist.
320.53 Funktionsdifferente Auslegung Bei dem juristischer Methodik schon immer geläufigen, nicht zuletzt auch vom Bundesverfassungsgericht betonten Verfahren funktionsdifferenter Auslegung handelt es sich hauptsächlich um folgende Operationen: a) Es ist nachzuweisen, daß derselbe sprachliche (fachsprachliche) Ausdruck an 332 verschiedenen Stellen des Einzelgesetzes, der Kodifikation oder der Rechtsordnung Verschiedenes besagt. Dieser Nachweis geht noch nicht über den Normtext hinaus; nur verläßt er sich nicht auf das grammatische Element allein, sondern tut dar, daß unter dem historischen, genetischen, teleologischen und vor allem unter dem systematischen Aspekt derselbe Begriff in verschiedenen Vorschriften inhaltlich je etwas anderes normiert. Insoweit hängt die Auslegung „von der Funktion ab, die der Begriff innerhalb der jeweiligen Norm zu erfüllen hat“358. So folgert das Bundesverfassungsgericht, der Begriff „verfassungsmäßige Ordnung“ in Art. 20 Abs. 3 GG umfasse, da dort an die Gesetzgebung als Adressaten gerichtet, „die Verfassung schlechthin“; in Art. 9 Abs. 2 GG könne er, als maßstäbliche Grenze der Erlaubtheit von Vereinigungen nach Art. 9 Abs. 1 GG formuliert, „auf gewisse elementare Grundsätze der Verfassung“ zu beschränken sein; in Art. 2 Abs. 1 GG schließlich meine er, da dort funktionell als Grenze der 357 358
BVerfGE 69, 1 ff., 67. BVerfGE 6, 32, 38.
320
3 Juristische Methodik – 32 Konkretisierungselemente
allgemeinen Handlungsfreiheit des Bürgers wirkend, „jede formell und materiell verfassungsmäßige Rechtsnorm“. 333
Das Fragwürdige dieser Schlüsse liegt nicht schon in der Funktionsdifferenzierung des Ausdrucks „verfassungsmäßige Ordnung“ zwischen Art. 2 Abs. 1, 9 Abs. 2 und 20 Abs. 3 GG. Es liegt in dem Problem, ob die Voraussetzung, Art. 2 Abs. 1 GG normiere die allgemeine Handlungsfreiheit als Grundrecht, zutreffend ist. Ungesichert bleibt also, ob normativer Anlaß besteht, das vom Gericht methodisch vertretbar gehandhabte Verfahren funktionsdifferenter Auslegung auf Art. 2 Abs. 1 GG zu erstrecken. b) Ferner ist nachzuweisen, daß der betreffende Ausdruck die mit Hilfe der übrigen methodischen Hilfsmittel begründete Funktionsdifferenz sprachlich (fachsprachlich) deckt. Hier wirkt der Normtext (mit dem Bestandteil, der funktionsdifferierend behandelt werden soll) als Grenze zulässiger Auslegung.
334
Das Verfahren wird im Elfes-Urteil359 schlüssig angewandt. „Verfassungsmäßige Ordnung“ ist ein fachsprachlicher Begriff des Bonner Grundgesetzes. Er ist nicht herkömmlich festgelegt. Er ist noch biegsam genug, alles geltende Verfassungsrecht, die Grundlinien der geltenden Verfassung oder auch die verfassungsmäßige Rechtsordnung zu umschließen. Eine ganz andere Frage ist, ob die dogmatische Voraussetzung des Elfes-Urteils, das Verständnis des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 1 GG als allgemeiner Handlungsfreiheit, haltbar ist oder nicht.
335
Nicht nur vertretbar, sondern normativ geboten ist das Verfahren für den Verfassungsbegriff „Körperschaft des öffentlichen Rechtes“. Dieser Begriff hat sich traditionell im Verwaltungsrecht und im Staatskirchenrecht gesondert entwickelt. Daher hält sich sein funktionsdifferierendes Verständnis etwa in Art. 87 Abs. 2, 3 und 130 Abs. 3 GG auf der einen, in Art. 140 GG i.V. m. Art. 137 Abs. 5 und 6 WRV auf der andern Seite im Spielraum des Wortlauts. Der methodisch davorzuschaltende Nachweis einer normativen Funktionsdifferenz, der im Fall von Art. 2 Abs. 1 GG fragwürdig bleibt, kann sich hier auf die systematisch heranzuziehende Bestimmung des Art. 140 GG i.V. m. Art. 137 Abs. 1 WRV stützen. Sie verbietet bereits für sich genommen ein Verständnis der Religionsgesellschaften, die „Körperschaften des öffentlichen Rechtes“ sind, als staatseingegliederte Gebilde im Sinn des gleichnamigen verwaltungsrechtlichen technischen Begriffs.
336
Vor der Grenzfunktion des Normtextes nicht mehr bestehen kann dagegen der Versuch, den Begriff „Gesetz“ in der Formel „innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes“ in Art. 140 GG i.V. m. Art. 137 Abs. 3 Satz 1 WRV funktions359 BVerfGE 6, 32. – Ein weiteres Beispiel für funktionsdifferente Auslegung bietet BVerfGE 33, 125 ff. (Facharzt-Beschluß), 152: „Beruf“ in Art. 12 I GG und Art. 74 Nr. 19 GG. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu den Religionsgesellschaften als „Körperschaften des öffentlichen Rechts“: BVerfGE 18, 385 ff., 386; 55, 207 ff., 230. – Sorgfältige dogmatische Untersuchungen im Staatskirchenrecht auf der Grundlage des strukturierenden Methodenansatzes bei Kleine.
320 Der Wortlaut als Grenze der Normkonkretisierung
321
different dahin auszulegen, es seien damit nur die Normen gemeint, „die sich als Ausprägungen und Regelungen grundsätzlicher, für unseren sozialen Rechtsstaat unabdingbarer Postulate darstellen“360. „Gesetz“ allein als Normierung und Ausgestaltung unabdingbarer Verfassungsgrundsätze und nicht daneben auch als („für alle geltende“: die Religionsgesellschaften als Arbeitgeber, Bauherr, Verkehrsteilnehmer usw. sind an das Arbeitsrecht, das Baurecht, das Straßenverkehrsrecht usw. gebunden) Gesetzesnorm im allgemeinen Sinn des förmlichen Parlamentsgesetzes behandeln zu wollen, überschreitet den Spielraum des insoweit festliegenden technischen Begriffs.
320.6 Ist eine Grenze juristischer Textarbeit möglich? Der Streit um Interpretation und Gebrauch von Texten ist alles andere als ein mü- 337 ßiges Spiel. Die zugrunde liegenden moralischen, politischen und philosophischen Fragen sind zwar in der Literaturwissenschaft und der Sprachphilosophie nicht immer leicht zu entdecken. In der Jurisprudenz dagegen geht es um Gewalt; um richterliche und um sonstige Entscheidungsgewalt, verbunden mit Texten. Die Brisanz von Kontroversen liegt hier klar zutage. Für die Bürger, die sich mit ihren Konflikten in die Hand des Gerichts geben, wird Interpretation und Gebrauch von Rechtstexten zum höchst praktischen Problem. Es stellt sich von Anfang an: professionelles Umformulieren der „lebensweltlichen“ Fallerzählung in den juristischen Sachverhalt durch Versicherungsfunktionäre, Rechtsberater, Anwälte (Standesgewalt), durch Polizei, ggf. Staatsanwaltschaft, Gericht (Staatsgewalt). Deren subtile Form besteht hier in Sprachbemächtigung: den Beteiligten wird ihre Sprache durch autoritative Fachsprache enteignet. In der Folge werden sie sich anpassen bzw. sich die Dienste einer Fachperson mit deren Fachsprache kaufen müssen; in ihrer Sprache werden sich das Verfahren oder der Prozeß jedenfalls nicht mehr abspielen. Wenn Methodik den juristischen Umgang mit Texten reflektieren will, hat sie keine Wahl: sie ist eine politische Disziplin. Ihr Thema ist auch das Verhältnis von bürgerlicher Freiheit und staatlicher Gewalt. Der Richter übt, wie Artikel 92 der Verfassung unzweideutig erklärt, Gewalt aus. 338 Dabei ist in der deutschen Sprache ‚Gewalt‘ nicht notwendig negativ codiert. Sie kann auch positiv verstanden werden als „Walten“ der guten Obrigkeit361. Will man 360 So der Bundesgerichtshof, in: BGHZ 22, 383, 387 im Anschluß an die der These J. Heckels aus dem Jahre 1932 folgende Auffassung. – Die Rechtsprechung neigt dazu, sich durch vage Klauseln „die Hände frei zu halten“. Eine Auslegung gegen den Wortlaut sei „aus rechtsstaatlichen Gründen“ nur in „Ausnahmefällen“ möglich, hierzu etwa BVerwGE 40, 78, 80 f. unter Hinweis auf E 29, 352, 355: zur Umdeutung einer Kann- in eine Soll- oder MußVorschrift. Außer bei Fehlerhaftigkeit des Normtexts ist eine solche Operation „aus rechtsstaatlichen Gründen“ überhaupt nicht zu rechtfertigen; daß und warum sich die Entscheidungsinstanzen nicht kontrollierbar binden wollen, ist eine andere – prinzipiell politische – Frage. – Bedenklich daher auch die erste Entscheidung des Gemeinsamen Senats der Obersten Gerichtshöfe des Bundes: BVerwGE 37, 369 ff., 371 f.; dazu Müller IX, S. 51 ff.
322
3 Juristische Methodik – 32 Konkretisierungselemente
die positive und negative Bedeutungskomponente auseinanderhalten, braucht man Beiworte wie legitime / illegitime Gewalt. Im Englischen dagegen kann man schon im Hauptwort nuancieren und power, authority, force und violence unterscheiden. Ob der Richter nun authority oder violence, legitime oder illegitime Gewalt ausübt, soll im Sinn der Tradition davon abhängen, ob er sich mit seiner Entscheidung innerhalb der Grenzen des Rechts hält oder nicht. Die Grenzen des Rechts sind durch Interpretation zu ermitteln. Solange der Richter auslegt, ist demnach die von ihm ausgeübte Gewalt demokratisch legitimiert, denn er kann seine Entscheidung auf ein für alle beschlossenes Gesetz zurückführen. Hört er auf zu interpretieren und verwendet er Texte nur noch zu Machtzwecken, übt er eine illegitime Gewalt aus, die demokratisch nicht mehr gerechtfertigt werden kann. Die Unterscheidung von bloßer Auslegung und machtfunktionalem Gebrauch trägt damit eine schwere politische Bürde: nicht weniger als die praktische Einlösung des demokratischen Modells hängt davon ab. Die methodische Abschichtbarkeit der Interpretation von machtfunktionaler Benutzung des Gesetzes ist folglich das Nadelöhr, durch das die Unterscheidung von gerechtfertigter und nicht mehr zu rechtfertigender staatlicher Gewalt hindurch muß. 339
Damit steht im Mittelpunkt juristischer Methodik die Frage, ob und wie in der praktischen Rechtsarbeit eine Grenze zwischen legitimer richterlicher Gewalt und illegitimer Machtanmaßung gezogen werden kann. Die Frage einer Grenzziehung innerhalb der Interpretation stellt sich jedoch in jeder auf die Arbeit mit Texten bezogenen Wissenschaft. Ein kurzer Blick über die engeren Grenzen des Fachs hinaus kann zum besseren Verständnis der juristischen Schwierigkeit beitragen. Die Grenzproblematik ist in letzter Zeit innerhalb von Sprachphilosophie, Semiotik und Literaturwissenschaft deutlich in den Vordergrund getreten362.
340
Der schon klassische Streit in den textbezogenen Wissenschaften ging darum, ob Bezugspunkt und Grenze der Auslegung entweder in der Absicht des Autors oder in einer von dieser Absicht unabhängigen Aussage des Textes selbst gefunden werden müssen. Als Konvergenzpunkt so verschiedener Strömungen wie philosophischer Hermeneutik, literarischem New Criticism und linguistischem Strukturalismus hatte sich zu Beginn der 60er Jahre überwiegend die objektive Variante durchgesetzt363. Erst auf der Basis dieser objektiven, von der Autorintention unabhängigen Verständnisweise des Textes als Sinneinheit, Sprachikone oder Struktur konnte dann die Frage nach dem aktiven Anteil der Interpretation gestellt werden364. Sie be361 Vgl. als ein andersartiges Beispiel die positive Variante in der Verwendung des Wortes „Gewalt“ als „revolutionäre Gewalt“: W. Benjamin S. 202. – Zum Begriff „Gewalt“: Müller X, S. 46 ff. – Zur Gewalt der Rechtsprechung: ebd., S. 57 ff. Zu: Gewalt und Sprache / Gewalt der Sprache: ebd., v. a. S. 75 ff. 362 Angeregt wurde diese Debatte vor allem durch Umberto Eco und seine Schriften: vgl. Eco I. – Zu den Fragen juristischer Textarbeit vor dem Hintergrund der interdisziplinären Debatte: Müller XXXIV, S. 55 ff., 71 ff.; ebd., zu sprachwissenschaftlichen Grundlagen praktischer Textarbeit im Recht. 363 Collini, S. 13 f.
320 Der Wortlaut als Grenze der Normkonkretisierung
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drohte die hermeneutische Sinneinheit des Textes mit der Arbeit der Dekonstruktion365, entzog der Sprachikone des New Criticism ihre Autonomie zugunsten der Erwartungssysteme des Lesers366 und stürzte als pragmatische Wende die statische Sprachstruktur des Strukturalismus in den Strom der Rede367. Kurz: die Situation hat sich grundlegend geändert. Während Anfang der 60er Jahre für diejenigen eine schwere Begründungslast angenommen wurde, die eine aktive Rolle des Textrezipienten aufweisen wollten, hat heute der einen schwierigen Stand, wer eine Grenze der Auslegung geltend machen will368. Umberto Eco hat auf diese Veränderung der Situation reagiert. Anfang der 60er 341 Jahre betonte er in seinem Buch „Das offene Kunstwerk“ als einer der ersten die aktive Rolle des Rezipienten und wurde dafür von strukturalistischer Seite scharf kritisiert369. Heute nun wendet er sich gegen den einseitigen Pendelausschlag zugunsten des Lesers und will die „Grenzen der Interpretation“ aufweisen: auch wenn man den Text als ein Picknick verstehen könne, zu dem der Autor die Wörter und der Leser den Sinn beisteuere, seien diese Wörter doch gegenüber einer beliebigen Sinnzuweisung sperrig370. Daran scheitere ein Verständnis des Textes als offenes Universum, worin der Interpret unendlich viele Sinnzusammenhänge finden könne371. Selbst der von seiner Lage und seinem Urheber abgelöste Text schwebe nicht in einem Vakuum. Gemessen am kulturellen Schatz von Autor und Leser, der aus Grammatik, Enzyklopädie und Kulturkonventionen bestehe, sowie dank gewisser Kriterien der Sparsamkeit von Interpretation könne er zwar vieles, aber eben nicht alles bedeuten. Die Sperrigkeit der Wörter in Verbindung mit dem schon erwähnten kulturellen Vorrat vermöge gewisse Deutungen als abwegig auszuschließen372. Diese Sperrigkeit ergibt sich für Eco daraus, daß der Text auf einen exemplari- 342 schen Leser hin angelegt sei, welcher seinerseits einen exemplarischen Autor unterstelle. Daher folge die Aussage des Textes weder nur aus der Textkohärenz und einem vorgegebenen Bedeutungssystem, noch allein aus dem Erwartungssystem des Lesers. Bedeutung konstituiere sich vielmehr aus einer komplexen Wechselbeziehung zwischen dem sozialen Kulturbestand des Autors und dem des Lesers373.
364 Eco II, S. 71; knapper Überblick über die Kritik an der autorenbezogenen Bedeutungskonzeption bei Eagleton, S. 32 ff. 365 Als einführenden Überblick vgl. Menke / Eagleton, S. 132 ff. 366 Vgl. zur Rolle des Lesers in der neueren Literaturtheorie Eagleton, ebd., S. 46 – 51, 132; Culler I, S. 36 ff., 81 – 86. 367 Dazu Eco I, S. 350 ff. 368 Ebd., S. 22. 369 Vgl. Eco III, S. 6. 370 Eco IV, S. 30. 371 Vgl. als Warnung vor der unendlichen Interpretation auch Eco V, 15 ff.; sowie ders. I, S. 430 ff. 372 Zum soeben erwähnten Kriterium der Falsifizierbarkeit: Eco I, S. 51 ff. 373 Zur Rolle des Lesers in Ecos Semiotik vgl.: Eco III, S. 61 ff.
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Das Ergebnis dieses Prozesses unterscheidet Eco als intentio operis374 sowohl von den Absichten des Autors als auch von denen des Rezipienten. Die Textintention liege genauso offen zutage wie der gestohlene Brief375. Man müsse sie nur sehen wollen. Sie existiert demzufolge als Mutmaßung des Lesers über einen Text, der ersonnen wurde, um einen exemplarischen Leser zu erzeugen, der über den Text mutmaßt. In dieser luftigen Konstruktion wird der Text als Grenze durch die Interpretation fortwährend konstituiert. Die Interpretation orientiert sich dabei an der mit der semiotischen Strategie376 gleichgesetzten intentio operis und überprüft ihre diesbezügliche Mutmaßung an der Textkohärenz: „Zwischen der mysteriösen Entstehungsgeschichte eines Textes und dem unkontrollierbaren Driften künftiger Lesarten hat die bloße Präsenz des Textes etwas tröstlich Verläßliches als ein Anhaltspunkt, auf den wir stets zurückgreifen können.“377 343
Diese Präsenz des Textes als verläßliche Grenze der Interpretation will die pragmatische Texttheorie erschüttern378. Beschreibungen sind aus ihrer Sicht immer nur Mittel für bestimmte Zwecke und nie Entsprechungen zu etwas Objektivem. Deswegen dürfe sich auch ein bestimmtes Verständnis des Textes nicht einbilden, dessen wahre Bedeutungssubstanz freizulegen oder zu seinem wirklichen Wesen vorzudringen. Wenn Eco dagegen eine intentio operis behaupte, nehme er eine nichtrelationale Wesenseigenschaft eines Textes an, die der äußeren Interpretation als Grenze entgegen gehalten werden solle.
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Gegen solche intrinsischen (d. h. von innen kommenden) Eigenschaften des Textes spreche schon der Umstand, daß sich eine Grenze zwischen Texten niemals klar angeben lasse. Auch dürfe das berechtigte Anliegen, den gewalttätigen oder oberflächlichen Leserimpuls zu disziplinieren, nicht dazu führen, eine bestimmte Phase sorgfältiger und den Regeln der Kunst entsprechender Textarbeit zur „Objektivität“ des Textes zu überhöhen. Die von Eco als Überprüfungsinstanz der Interpretation herangezogene Kohärenz sei keine interne Eigenschaft des Textes, sondern werde als Ergebnis der Interpretation vom Leser erst erstellt.
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Auch in der Sicht der dekonstruktivistischen Texttheorie379 hat sich Eco durch den Wunsch nach einer Grenze verführen lassen. Die Bedeutung eines Texte sei kontextbezogen, und deswegen (entgegen Rorty) nicht beliebig. Aber der Kontext sei unbegrenzt und deswegen die (von Eco gesuchte) Grenze nicht anzugeben. Weil Eco IV, S. 31. Ebd., S. 72, in Anspielung auf die Erzählung gleichen Namens von Edgar Allan Poe. 376 Zur Verwendung des Strategiebegriffs Eco III, S. 74 ff., 250 ff. 377 Eco II, S. 75 ff., 97. 378 Vgl. dazu und zum folgenden Rorty I. 379 Vgl. Culler II. – Sanden verbindet die Debatte um die dekonstruktivistische Texttheorie mit Fragen des Staatsorganisationsrechts. – Die Pionierrolle der Strukturierenden Rechtslehre und Methodik dabei, Rechtsarbeit in einer auch für Linguisten fruchtbaren Weise als Textarbeit zu fassen, wird bei Felder III anerkannt und seinem rechtslinguistischen Ansatz zugrunde gelegt. – Vgl. ferner Felder V, VI. 374 375
320 Der Wortlaut als Grenze der Normkonkretisierung
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die Beschreibung semiotischer Mechanismen rekursiv wirke, werde jede Beschreibung einer Grenze schon als solche wieder ins Gespräch gezogen und damit überschritten: Weil Wittgenstein im Kontext des Privatsprachenarguments gesagt hat, mit der Äußerung „bububu“ könne man nicht meinen, daß man spazierengehe, wenn es nicht regnet, kann man mittlerweile etwa auf einer Wittgenstein-Tagung in Kirchberg am Wechsel mit „bububu“ genau diesen Inhalt zum Ausdruck bringen. Die damit angedeutete Debatte macht Probleme sichtbar, die lange vorher die 346 Strukturierende Rechtslehre schon im Rahmen der Rechtswissenschaft untersucht hatte. Ausgangspunkt war dabei die herkömmliche Auffassung einer Interpretationsgrenze der Rechtsarbeit, die aus intrinsischen Eigenschaften des Textes abgeleitet werden könne. Der ältere Ansatz juristischer Methodik war noch in der Vorstellung vom Text als einem Behälter befangen, worin die Entscheidung des Rechtsfalls schon enthalten sei und nur noch ausgelegt werden müsse. Als Behälter fungierte dabei die Bedeutung des Textes, die in der Lage sei, der Rechtserkenntnis einen Gegenstand in Form einer Rechtsnorm vorzugeben. Ein solcher Gegenstand ist aber nicht auffindbar; daher wurde die Fiktion des Behälters immer mehr ausgedehnt. An die Stelle des einzelnen Normtextes traten die Rechtsordnung oder ihre Sinneinheit als Ganzes oder sogar die Gerechtigkeitsidee. Angesichts dieses Rückzugs (wissenschaftshistorisch: degenerative Problemverschiebung) hat die Strukturierende Rechtslehre vorgeschlagen, die grundlegende Perspektive zu verändern: der „Gegenstand“ ist eine bloße Projektion des Lesers und genau um diesen Leser (Zeichenbenutzer, Richter, Rechtsarbeiter) als Achse ist die Analyse zu drehen. Die Gesetzesbindung ist dann nicht länger auf einen angeblich vorgegebenen Inhalt des Gesetzes bezogen, sondern wird im Prozeß der Herstellung der Rechtsnorm verwirklicht. Die Projektion vorgeblich innerer Eigenschaften des Textes wird damit durch das Verständnis der Auslegungsgrenze als relationale Größe ersetzt. Gebunden ist der Richter zunächst an den vom Gesetzgeber geschaffenen Normtext als Zeichenkette im Sinn seiner „Geltung“. Dessen für den Fall entscheidende Bedeutung muß er als „Normativität“ der Rechtsnorm erst herstellen. Aber dabei ist er nicht frei, sondern an die von den rechtsstaatlichen Vorgaben der Verfassung sanktionierten Standards einer Argumentationskultur gebunden. Die Canones eröffnen Zusammenhänge (Kon-Texte): Gebrauchsweisen der Ausdrücke des gesetzlichen Tatbestands („grammatisch“), Vergleich mit Gebrauchsweisen aus der Gesetzgebungsgeschichte („historisch“), mit Gebrauchsweisen von Begriffen aus anderen Normtexten derselben Kodifikation oder sonstiger Rechtsordnung („systematisch“), und so weiter. An die Stelle von fiktiven Gegenstandsprojektionen treten jetzt also real fundierte 347 Beziehungen zwischen Zeichenkette (Normtext im Gesetzbuch), wissenschaftlichen Standards (juristische Methodik incl. Dogmatik) und politischen Entscheidungen in der Verfassung (demokratischer Rechtsstaat). Dabei war von vornherein mitbedacht, daß auch der Kontext von Normtexten ein bestimmter, aber nicht begrenzbarer ist. Die Rolle der klassischen canones besteht gerade darin, mit Fachsprachgebrauch (grammatische), Parlamentsdebatten (genetische), Vorläufertexten (historische Aus-
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legung) usw. diese bestimmten Kontexte zu erschließen. Aber die canones sind nur zu einer Vermehrung und Vervielfältigung des Textsinnes in der Lage, ohne schon für sich allein eine Entscheidung zwischen konfligierenden Lesarten zu erlauben. An dieser Stelle greifen die politischen Entscheidungen der Verfassung ein. Sie ermöglichen es zunächst, eine Hierarchie in die Kontexte zu bringen, wonach der spezifischere, engere Kontext bei einem Konflikt Vorrang haben soll. Aber allein damit wäre noch nicht viel gewonnen. Außerdem überträgt die Verfassung dem Richter die Gewalt, den methodologischen Konflikt verschiedener Interpretationsvarianten zu entscheiden. Dies jedoch nicht unbegrenzt, sondern erschwert durch die Vorgabe, in der Begründung darzulegen, daß und wie er seine Entscheidung am Normtext und den damit verbundenen methodisch operationalisierten Anschlußzwängen des juristischen Sprachspiels legitimieren kann. Die Grenze der Interpretation hat in der Jurisprudenz damit jeden fiktiven oder spekulativen Charakter verloren und wird zum Ernstfall der politischen Abgrenzung von individueller Freiheit und sozialer Gemeinschaft. Der Richter führt keine theoretisch-kognitive Rechtserkenntnis durch, er übt vielmehr praktische Gewalt aus. Diese Gewalt wird geteilt, erschwert und kontrolliert durch den Bezug zum Normtext und zu argumentativen Standards380, den er in seiner Begründung plausibel darlegen muß. Mit anderen Worten: Der Weg geht von Rechtfertigungskunde zur Reflexion von Rechtserzeugung, von der herkömmlichen „Wortlautgrenze“ zur Begrenzung durch das erarbeitete Nomprogramm. Nicht „die“ Sprache kann – schon als solche, nämlich durch den Wortlaut (den Normtext) – dem Juristen, der zu entscheiden hat, Legalität und Legitimität seines Handelns begrenzen. Wohl aber kann (und pflichtgemäß: muß) das der Entscheidende selbst tun – nämlich durch Respektieren der Normprogrammgrenze.
321 Gruppen von Konkretisierungselementen (Elemente der Normkonstruktion)
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Nach ihrer Funktion sind zwei Gruppen von Konkretisierungselementen zu unterscheiden. Die erste umfaßt die Mittel der „Norm“behandlung im herkömmlichen Sinn, also die der Normtextbehandlung. Die Teile des Konkretisierungsvorgangs, die primär an Texten haften, betreffen die Regeln von Interpretation. In ihrem Rahmen halten sich die von Savigny aufgestellten Regeln. Sie erweisen ihre grundsätzliche Unentbehrlichkeit auch für eine Methodik des heutigen (Verfassungs-)Rechts, sind aber in vielen Richtungen ergänzungsbedürftig. Ferner ist schon im Ansatz zu berücksichtigen, daß die Savignyschen und die von Rechtsprechung und Lehre hinzugefügten Interpretationsaspekte ganz allgemein mit der Bearbeitung von Texten zu tun haben. Sie beziehen sich – wie die grammatische, die systematische und eingeschränkt auch die teleologische Auslegung – nicht nur auf Normtexte, sondern 380 Vgl. dazu Windoffer, S. 131 ff. – s. a. Christensen XIII zur pragmatisch gefaßten Gesetzesbindung; dens. / Kudlich II, IV.
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(wie die historischen und genetischen Interpretationsgesichtspunkte, wie die dogmatischen, lösungstechnischen, verfassungspolitischen und Theorie-Elemente des Konkretisierungsvorgangs) auch auf andere Texte. Eine zweite Gruppe von Elementen betrifft nicht in erster Linie die Auslegung 349 von Texten. Sie umfaßt die Konkretisierungsschritte, durch die sachhaltige Gesichtspunkte aus der Untersuchung des Normbereichs der umzusetzenden Vorschrift und aus der Untersuchung der im Konkretisierungsvorgang durch wechselseitige Präzisierung als relevant herausgehobenen Elemente des Sachverhalts verwertet werden. Die Elemente dieser Gruppe zeigen, daß Konkretisierung über Normtextauslegung hinausgeht. Die Norm ist mit ihrem Wortlaut nicht identisch. Schon die herkömmlichen Interpretationsgesichtspunkte historischer, genetischer und teleologischer Art gehen auf der Achse Norm – Wirklichkeit über den Wortlaut hinaus. Dasselbe gilt für die dogmatischen, die lösungstechnischen, die verfassungspolitischen und die Theorie-Elemente. Mit der funktionellen Einordnung ist über die sachliche Herkunft der Entscheidungsaspekte nichts Abschließendes gesagt. So sind durch Rechtsvergleichung381 gewonnene Gesichtspunkte beispielsweise häufig rechts- bzw. verfassungspolitischer Art. Sie können im Einzelfall aber auch als Theorie-Elemente, als dogmatische Beiträge oder als Partikel der methodologischen Elemente (z. B. innerhalb der historischen Interpretation) auftreten. „Rechtsvergleichend“ arbeiten meint grundsätzlich, Argumente aus der systematischen Erörterung von Texten zu gewinnen, die – anders als beim systematischen Element – hier und heute nicht zum geltenden Recht gehören: Operiert man mit nicht mehr geltenden Normtexten, spricht man vom historischen Element (diachrone Rechtsvergleichung), bei der (synchronen) eigentlichen Rechtsvergleichung dagegen mit hier nicht verbindlichen Vorschriften.
322 Methodologische Elemente im engeren Sinn
322.0 Überblick Unter ihnen werden die Aspekte grammatischer, historischer, genetischer, sy- 350 stematischer und teleologischer Auslegung verstanden, ferner die hier besprochenen Prinzipien der Verfassungsinterpretation und Fragen der formalen Logik und der Axiomatisierung. Die Elemente des Normbereichs und die aus dem Sachverhalt gehören schon deshalb nicht zu dieser Gruppe, weil sie sich nicht in erster Linie auf die Interpretation von Texten beziehen. Die dogmatischen, lösungstechnischen, rechtspolitischen und die Theorie-Elemente schließlich spielen erfahrungsgemäß 381 Vgl. zum praktischen Einsatz dieser Methode Dietlein / Hartmann, S. 70 ff. – Rechtsvergleichend setzt Saglam II die hier entwickelten Positionen zum Verfassungsrecht der Türkei in Beziehung. – Zum „Nutzen und Schaden“ von Rechtsvergleichung s. Wyss (im Rahmen der Rechtsetzung). – Die argumentative Rolle rechtsvergleichender Gesichtspunkte wird grundsätzlich untersucht bei Coendet.
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3 Juristische Methodik – 32 Konkretisierungselemente
bei jeder Konkretisierung von (Verfassungs-)Recht eine für die Methodik erhebliche Rolle. Sie sind aber, obwohl in der Praxis vielfach als normativ behandelt, zum Teil nicht primär auf die rationale Erarbeitung, d. h. die fallgerechte Konkretisierung der Rechtsnorm gerichtet. Der Sache nach (wenn auch nicht in gelegentlichen Verschleierungstechniken der Praxis) haben sie teilweise nur dienende Funktionen der Klarstellung und der unterstützenden näheren Begründung von Rechtsnormen, die bereits mit andern Mitteln als auf Normtexte des geltenden Rechts rückführbar ausgewiesen wurden.
322.1 Herkömmliche Interpretationsregeln 351
In einer Rechtsordnung mit kodifiziertem Verfassungsrecht, das – ebenso wie die unterverfassungsrechtlichen Normen – in bestimmten gesetzgeberischen Verfahren inhaltlich festgelegt, beschlossen, ausgefertigt und verkündet wird, ergeben sich aus der Sache selbst Interpretations- und Konkretisierungselemente anhand des Wortlauts der Vorschrift382, anhand der Fassung anderer, mit ihr in Zusammenhang zu bringender Normtexte und schließlich anhand der (nicht-normativen) Texte der (Verfassungs-)Gesetzesmaterialien. Grammatische, systematische und genetische Auslegung sind nicht aus einem ihnen substantiell innewohnenden Grund die am nächsten liegenden Konkretisierungselemente; sie sind es nur funktionell in einer Rechtsordnung dieses Typs.
322.11 Grammatische Auslegung Die grammatische Auslegung hat eine Sonderstellung. Sie scheint einfach zu funktionieren und weist doch die meisten theoretischen Mißverständnisse auf. Die Transformation des praktischen Könnens in theoretisches Wissen scheitert immer noch am obrigkeitsstaatlichen Konzept eines vorgegebenen Rechts. Erst im Rahmen eines sprachreflexiven Rechtsstaatsverständnisses wird es möglich, die auf der Ebene der Semantik unlösbaren Probleme pragmatisch zu reformulieren. 322.110 Vom Wortlaut zum Wortsinn 351a
Oft werden die Begriffe „Wortlaut“ und „Wortsinn“ synonym verwendet. In methodischen Lehrbüchern wird dagegen zwischen dem Wortlaut als Gegenstand der Auslegung und dem Wortsinn als ihrem Ziel differenziert. Die grammatische oder philologische Auslegung gilt dann als der Weg vom Zeichen zum Sinn: „Auslegung nach dem Wortsinn heißt, vom Wortlaut ausgehend Inhalt und Bedeutung von Normen oder Normbegriffen zu bestimmen (…).“383 Der Aufschub zwischen Wortlaut 382 Aus verfassungsrechtlichen Gründen bildet im dargelegten Sinn der Normtext auch die „Grenze der Verfassungswandlung“; Hesse III.
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und Wortsinn, der in der methodischen Literatur somit immerhin erwähnt wird, ist also nur von kurzer Dauer. Man kann demnach den toten Buchstaben jederzeit mit Geist beleben, so wie man in einem dunklen Raum den Lichtschalter anknipst. Aber ist der Weg vom Zeichen zur Bedeutung wirklich so kurz, wie es herkömmlich nahegelegt wird? Für die Fälle routinierter Alltagskommunikation ist das zu bejahen. Das Ereignis des Verstehens stellt sich spontan ein, ohne meßbare Bemühung384. Selbst vor Gericht verlaufen weite Strecken der Kommunikation als problemloser Übergang vom Zeichen zur Bedeutung. „Grammatische Auslegung“ ist dann nur ein anspruchsvolles Wort für die weitverbreitete Kompetenz des Lesens. Aber an allen problematischen, vor allem an den umstrittenen Punkten der Kommunikation gibt es zu einem Text oder Textstück mehrere Lesarten. Der einfache Hinweis auf die Textlektüre hilft dann nicht weiter. Der kurze Weg vom Zeichenkörper zur „Vorstellung“ ist blockiert. Derselbe Wortlaut weist bei einem Streit sogleich ein Zuviel an Sinn auf. Was bedeutet diese vom Streit hervorgerufene Kluft zwischen Zeichen und Bedeutung für die grammatische Auslegung? 322.110.1 Schwierigkeiten im Übergang Natürlich ist die Schwierigkeit dieses Übergangs der Theorie nicht entgangen. 351b Sie reagiert darauf aber nicht damit, das bisherige Paradigma der im Text vorgegebenen Rechtsnorm in Frage zu stellen. Es handele sich vielmehr nur um ein Erkenntnisproblem, das mit einer didaktischen Klarstellung zu beheben sei. Man könne mit Hilfe einer lexikalischen Definition die Bedeutung des Textes erschließen385. Der Streit wäre also durch eine kurze Besinnung auf die „natürliche“ Wortbedeutung zu beheben: „Demgegenüber ist es kaum noch nachvollziehbar, wenn in der rechtstheoretischen Diskussion (…) als Einwand gegen die natürliche Wortbedeutung ernsthaft darüber gestritten wird, ob in dem Satz ‚Mitführen von Hunden verboten‘ unter Hunden nicht auch Katzen und Tanzbären zu verstehen sind. Problematisch mag dabei zugegebenermaßen die Frage sein, ob unter die Wortbedeutung ‚Hund‘ vielleicht auch ein ‚Wolfshund‘ oder irgendeine andere mögliche Kreuzung fällt. Wer allerdings behaupten wollte, daß die Katze oder der Tanzbär nicht als negative Kandidaten aus dem Begriff ‚Hund‘ herausfallen, gerät in der Tat in Gefahr, wie Henkel polemisch formulierte, ‚sich dem Fluch der Lächerlichkeit auszusetzen‘.“386 383 Schwacke II, S. 72. Diese Definition findet sich fast in jedem der gängigen Lehrbücher, vgl. etwa Schmalz, S. 88: „Es ist vom Wortlaut des in der Vorschrift enthaltenen Begriffes auszugehen und der Wortsinn zu ermitteln.“ Vgl. auch Larenz / Canaris, S. 141; J. Vogel, S. 114; Gast IV, Rn. 148; Brugger I, S. 34. – Grundsätzlich von der Sprachwissenschaft her über „Einstellungen zu Normen aus sprachlicher Sicht“: Wimmer VII. 384 Vgl. zum Verstehen als Ereignis im Unterschied zu Handlungen, Hermanns II, S. 137 f. m.w. N. in Fn. 13. 385 Röhl III, S. 596. – Kritisch dazu auch Pohl, S. 24 ff. 386 Neuner I, S. 102.
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Schwierigkeiten im Übergang gefährden demnach also nicht die im Text vorgegebene Objektivität des Rechts. Denn diese Objektivität werde von einer „natürlichen“ Bedeutung, auf die man sich besinnen kann, garantiert. Soweit man für die „Natürlichkeit“ der Bedeutung überhaupt noch eine Begründung verlangt, erscheint an dieser Stelle die spezifisch-juristische Sprachtheorie, repräsentativ formuliert von einem der großen Lehrbücher: „Praktisch ist die sprachliche menschliche Kommunikation darauf aufgebaut, daß in gewissen Grenzen mit bestimmten Worten von den Mitgliedern der betreffenden Sprachgemeinschaft gleiche Vorstellungen verbunden werden.“387 Wenn man als Jurist die Theorie der gemeinsamen Vorstellungen aller Sprachteilnehmer bestreitet und eine semantische Desillusionierung fordert, wird man mit dem Bannfluch belegt, eine surrealistische Interpretationstheorie zu vertreten. Zur Erledigung der Problematik genügt dann eine Fußnote388. Aber wie stabil ist denn dieser selbstgewisse Realismus einer vorgeblich natürlichen Bedeutung? Schon in der Alltagskommunikation kommt man mit der Berufung auf die Wirklichkeit nicht weiter. Wenn die Aufforderung „Schau doch hin!“ an den Kontrahenten im Streit ergeht, ist es unwahrscheinlich, daß dieser zur gleichen Wahrnehmung wie man selber gelangt. Das läßt sich auch nicht erzwingen. Denn niemand hat zur „Wirklichkeit“ einen gegenüber allen anderen Menschen privilegierten Zugang. Mit der „natürlichen Bedeutung“ ergeht es uns genauso. Sprache ist ein Totalitätsbegriff389, den niemand ganz beherrscht: „Das ‚Verstehen einer Sprache‘ ist wohl in der Regel nur ein durchschnittliches oder sogar unterdurchschnittliches Kennen dieser Sprache, d. h. der Phonemik und Graphemik, der geläufigsten Vokabeln und grammatischen Strukturen usw. Eine ‚natürliche Sprache‘ kennt ja total niemand. Weshalb jede natürliche Sprache immer wieder für noch eine Überraschung gut ist.“390 Wenn also zwei Personen nicht dieselbe Bedeutung für natürlich halten, hilft kein Befehl „Versteh doch!“. Es gibt keinen Archimedischen Punkt, von dem aus die Gesamtheit der Sprache überblickt werden könnte, um einen Sprachkonflikt objektiv zu entscheiden. Die „natürliche Bedeutung“ steht uns also nicht zur Verfügung. Wenn über die Plausibilität divergierender Bedeutungen entschieden werden muß, brauchen wir Argumente.
322.110.2 Der Spielraum, oder von der Unvollkommenheit des Normtextes 351a
Argumentieren und Streiten liefern das Recht der Ungewißheit des laufenden Verfahrens aus. Das alte obrigkeitsstaatliche Modell des nur erkennenden Richters, der – unabhängig von den Umtrieben der Prozeßparteien – in souveräner EinsamBydlinski, S. 43. Vgl. A. Kramer I, S. 48, Fn. 84. Kramer wendet sich hier gegen die Position von Lüderssen III, S. 100 f. 389 Vgl. dazu Hermanns IV, S. 351 ff. 390 Hermanns II, S. 137. 387 388
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keit den Rechtsgedanken erfaßt, wird dadurch gefährdet. Man müßte jetzt nämlich das semantische Modell einer isolierten Gegenstandserkenntnis pragmatisch öffnen. An die Stelle der beiden Pole – richterliches Bewußtsein und Text – wäre die multipolare Beziehung des Verfahrens zu setzen. Diesen Weg wagt die überkommene Methodenlehre aber nicht einzuschlagen. Deswegen versucht sie, die Schwierigkeit beim Übergang vom Text zur Bedeutung einzugrenzen: „Das bedeutet aber nicht, daß das Schema insgesamt unbrauchbar ist, da die Zuordnung in der zweifellos überwiegenden Zahl von Fällen (relativ) eindeutig ist.“391 Der Gesetzgeber hat also etwas gesagt, und das läßt sich feststellen. Er hat aber nicht alles gesagt. Das läßt uns einen Spielraum. Doch auch hier droht wieder der Einbruch von Streit und Argumentation in die Stille richterlicher Kontemplation. Deswegen bedürfen wir an dieser Stelle dringend der Hilfe der Rechtsphilosophie, um wieder zur Objektivität zurückzufinden: „Ist die Unbestimmtheit des Rechts aber nicht total, so stellt sich für die Rechtsphilosophie die Frage, wie die gleichwohl vorhandenen und heute möglicherweise im Vergleich zu früher noch größeren Spielräume im Recht ausgefüllt werden sollten, ob es also begründbare normative Kriterien auch dort gibt, wo Gesetz und dogmatisches Programm uns im Stich lassen. Gibt es also, wenn politische und wirtschaftliche Interessen das Recht mitbestimmen, vorzugswürdige Interessen, und gegebenenfalls welche? Es ist diese Frage nach überpositiven Richtigkeitskriterien, denen wir uns im Folgenden zuwenden wollen.“392 Das Prinzip ist also klar: Um die behauptete Zweierbeziehung zwischen Richter und Rechtsgedanken zu stabilisieren, bedarf es eines philosophischen Halts in der Vernunft. Die Diskussion, inwieweit dieser Halt überhaupt tragfähig sein könnte, mag an dieser Stelle offen bleiben. Es könnte nämlich sein, daß die „Vernunft“, ähnlich wie „Sprache“ und „Wirklichkeit“, ein Totalitätsbegriff ist, den außer Robert Alexy niemand überblickt. Wir bleiben also zunächst beim „Gesagten“. 322.110.3 Die Ermittlung des Gesagten durch Wörterbücher Konkret wird die traditionelle juristische Methodik in technischen Anweisungen: 351d „Die Feststellung des Wortsinnes geschieht in Stufen. Vorweg ist zu überlegen, ob nicht eine Definitionsnorm eingreift, die die weitere Auslegung entbehrlich macht. Andernfalls ist wie folgt vorzugehen: Primär ist der juristische Sprachgebrauch maßgeblich und zu ermitteln, beispielsweise bei den Ausdrücken Miete und Leihe, Eigentum und Besitz, Widerruf und Rücknahme von Verwaltungsakten (…). Bei nichtjuristischen Fachbegriffen (z. B. aus der Technik, Medizin, dem Umweltbereich) ist der dort gebräuchliche ‚professionelle‘ Sprachgebrauch maßgeblich. (…) In den verbleibenden Fällen kommt es auf den allgemeinen umgangssprachlichen Gebrauch an. Bei schwierigeren Ausdrücken ist es möglich, ein Lexikon oder andere Hilfsmittel heranzuziehen. Beispielsweise hat der Bundesgerichtshof folgende 391 392
Kramer I, S. 47. – Grundlegend zur Argumentationslehre: Wohlrapp VI. Seelmann, S. 101.
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Hilfsmittel herangezogen: Das Grimmsche Wörterbuch in BGHSt 12, 366 zur Bestimmung des Wortsinns von ‚verunglimpfen‘, im Sinne des § 189 StGB; den Brockhaus in MDR 96, 188 für den Wortsinn von ‚Magazin‘, in NJW 86, 431 für den Wortsinn von ‚Omnibus‘ (Ergebnis: ein VW-Transporter-Kleinbus ist kein Omnibus); den Duden in NJW 82, 1278.“393 Entscheidender Bezugspunkt soll hier also der Sprachgebrauch sein. Dieser wird in juristischen, fachlichen und alltagssprachlichen Gebrauch abgestuft. Zu ermitteln ist er demnach zunächst durch Lexika. Es stellt sich daher die Frage, ob denn in diesen die „natürliche Bedeutung“ überhaupt zu finden ist, die man zur normativen Grundlage für die Beurteilung widerstreitender Lesarten machen könnte. Die implizite Leitvorstellung ist für diese Tradition das Rechtschreibwörterbuch. Man schaut nach und weiß dann, was richtig ist. Allein schon der Umstand aber, daß von Fall zu Fall verschiedene Wörterbücher herangezogen werden, läßt Zweifel daran aufkommen. Denn es ist tatsächlich nicht so, daß in allen das gleiche steht; so müßte es aber sein, wenn die Lexika einen in der Sprache selbst gegebenen Stand von Bedeutung bloß noch dokumentieren würden. Wörterbücher konstatieren nun aber nicht einfach sprachliche Tatsachen, sondern sie schaffen sie nach lexikologischen Prinzipien für ihre Benutzer: „Denn alle Wörterbücher sind Gebrauchsgegenstände. Jeder Gebrauchsgegenstand hat mindestens einen genuinen Zweck, der darin besteht, daß er anhand bestimmter Eigenschaften gebraucht werden kann, um diejenigen Handlungsziele zu erreichen, um deren Erreichung willen er hergestellt wurde. Dies gilt auch für Wörterbücher. Auf der höchsten Ebene der Generalisierung kann ihr genuiner Zweck wie folgt angegeben werden: Er besteht darin, daß ein Wörterbuch benutzt wird, um anhand geordneter lexikographischer Daten, die in den Teiltexten mit äußerer Zugriffsstruktur zu finden sind, lexikographische Informationen zu Eigenschaften von sprachlichen Ausdrücken zu erschließen, die zum jeweiligen Wörterbuchgegenstand gehören.“394 Für den Status von Wörterbüchern ergibt sich daraus folgendes: Die in ihnen als sprachliche Standards für den Gebrauch festgeschriebenen Bedeutungserklärungen werden überhaupt erst dadurch zu „Tatsachen“, daß ihr Gebrauch – durch sie als die lexikalische Berufungsinstanz – als solcher akzeptiert und dargestellt wird. Einer bekannten Ideologie zufolge, erst rechtes Schreiben ziehe rechtes Denken nach sich, wird auch in diesem Zusammenhang besonders den Rechtschreibwörterbüchern die größte Autorität zugemessen. Man darf über alldem aber nicht vergessen, 393 Schmalz I, S. 88. Die ständige Fehleinschätzung des Wörterbuchs zieht sich durch praktisch-juristische Methoden wie durch die wissenschaftliche Literatur, vgl. auch Alexy I, S. 290 sowie Klatt II, S. 72. – Klatt sieht durchaus, dass die Theorie Robert Brandoms dem Alexy’schen Modell von Kandidaten semantischer Vagheit entgegenstehen würde. Er bemüht sich aber, diesen verfehlten Ansatz noch zu retten, indem er die nach Brandom nötige normative Bewertung gelungener Sprachakte zu einem Zentralcomputer verdinglicht. Zu diesem zentralen Computer, in dem sich die deontischen Kontostände aller Sprecher befinden, haben dann möglicherweise nur Klatt und Alexy Zugang. 394 Wiegand I, S. 194 f.
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daß diese nur in der Schule und außerdem nur auf Grund rechtlicher Anordnung als verbindliche Instanz für Fragen der Korrektur von Schülerarbeiten herangezogen werden. Alle anderen Wörterbücher können auf ein administratives Fundament ihrer Anerkennung und damit auf Verbindlichkeit nicht bauen395. Wie fragil diese Anerkennung im übrigen ist, hat sich etwa in den Auseinandersetzungen um die Rechtschreibreform gezeigt. Presse und Verlage waren nur zum Teil bereit, die neuen Regelungen zu übernehmen396. Warum also greift der Bundesgerichtshof etwa für das eine Wort ausgerechnet auf den Duden und warum für das andere auf den Brockhaus zurück, obwohl doch die jeweiligen Ausdrücke in beiden belegt sind? Der Jurist trifft hier auf einen ganzen Markt von Nachschlagewerken mit einer Fülle unterschiedlicher Produkte. Jedes von ihnen ist, mehr oder weniger ausdrücklich, bestimmten Zielgruppen zugedacht. Das heißt aber nichts anderes, als daß die in den jeweiligen Werken kompilierten Sprachinformationen auf diese Zielgruppen hin zubereitet und daß das entsprechende Ausgangsmaterial an gesammelten Wortbelegen zu einem insgesamt entsprechend geformten Sprachstand aufbereitet ist. Man versetze sich für einen Moment in die Lage des Wörterbuchbenutzers; es verhält sich doch wohl gewöhnlich wie folgt: „Sie werden von Verweisen getrieben, Sie blättern und suchen und stellen am Ende fest, daß Sie jetzt noch ein etymologisches, ein mittelhochdeutsches, ein bestimmtes Fachsprachen- und ein Synonymenwörterbuch brauchen. Selbst wenn Sie bei einem einzigen Wörterbuch bleiben, stellt sich Klarheit erst nach mehrmaligem Blättern oder Suchen ein. Da wollen Sie vielleicht wissen, was Leiharbeit ist, und erfahren: ‚durch einen Leiharbeitnehmer durchgeführte Arbeit‘. Sie wechseln zum Stichwort Leiharbeitnehmer: Ein ‚Arbeitnehmer, der in einem Leiharbeitsverhältnis steht‘. Weitersuchen unter Leiharbeitsverhältnis. Erklärung: ‚Abordnung eines Arbeitnehmers zur Arbeit im Betrieb eines anderen Arbeitgebers für eine begrenzte Zeit unter Fortbestand seines Arbeitsverhältnisses mit dem bisherigen Arbeitgeber‘. Leider steht nicht dabei, seit wann es den Ausdruck gibt, auch keine Zitate. War Leiharbeit nicht ein Thema beim Umbau des Reichstagsgebäudes in Berlin? Wie ist die Wortbildung zu verstehen – wird Arbeit verliehen oder ein Arbeiter? Kann man das Wort im Plural gebrauchen bzw. ist der Plural belegt? Und die Schreibung mit Bindestrich? Kann man Menschen verleihen, oder müßte man die Bildung des Ausdrucks sprachkritisch kommentieren? Welche Arten des direkten Objekts gibt es bei dem Verb leihen ganz allgemein? Ist das Wort Leiharbeit eigentlich eine offizielle Bezeichnung des Arbeitsrechts oder eher eine journalistische Bildung, und wenn Letzteres, wie wird der Sachverhalt dann in juristischen Texten bezeichnet? Welche Wörter auf -arbeit gibt es sonst noch? Gibt es heute mehr und andere Zusammensetzungen mit -arbeit als in den vergangenen Jahrhunderten oder Epochen? Welche Wörter fangen sonst noch mit Vgl. allgemein Schaeder, S. 41 ff. Zur „amtlichen“ Fassung der Reform selbst http: // www.ids-mannheim.de / reform / ; zu deren Kritik hier nur Ickler I; ders. II. 395 396
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Leih- an?“397 Dieses Beispiel macht die Vielfalt der Möglichkeiten deutlich, sich die Bedeutungen sprachlicher Ausdrücke zu erschließen. Wenn der Griff zu einem bestimmten einzelnen Wörterbuch für das Gewinnen eines Wortverständnisses kein blinder Zufall sein soll, dann liegt dem offenbar schon eine Entscheidung zu Grunde, die mit Unterschieden in der jeweiligen Behandlung der Lemmata, d. h. der einzelnen Wörterbucheinträge, durch die verschiedenen Nachschlagewerke zu tun hat. In der Tat weisen oft schon die Wörterbücher gleichen Typs differierende Bedeutungserklärungen mit entsprechenden Belegstellen auf. Hinzu kommt die noch heiklere Frage, welche Art von Wörterbuch aus der Bandbreite einer ganzen Typologie gewählt werden soll398, um zu einem bestimmten Verständnis eines gegebenen Ausdrucks zu kommen399. Und als weiterer wichtiger Faktor muß gewertet werden, daß die Benutzung von Wörterbüchern ganz offenbar eine eigens zu reflektierende und zu lernende Tätigkeit darstellt400. Wesentlich ist in jedem konkreten Fall, daß keine der verschiedenen Verständnisweisen eines Wortes ohne weiteres zurückgewiesen werden kann; jedenfalls so lange nicht, als der Jurist dem Wörterbuch die dafür maßgebliche Autorität zumißt. Weist er die Variante des einen Wörterbuchs zugunsten der eines anderen ab, so fällt er genau in das Problem zurück, das er auf diese Weise zu lösen versuchte, nämlich in die Frage der verbindlichen Richtigkeit eines bestimmten einzelnen Sprachverständnisses. Mit der Entscheidung für ein bestimmtes Wörterbuch geht nolens volens die Option für eine bestimmte Sichtweise bei der semantischen Erläuterung sprachlicher Ausdrücke immer schon einher. Selbst die vordergründig naiv erscheinende Formel, es handle sich bei einem Wörterbuch um ein Werk, in dem die Wörter einer Sprache alphabetisch aufgelistet und durch eine Bedeutungsangabe erklärt werden, zeigt in jedem Erklärungselement ihre Fallstricke: So selbstverständlich, wie es auf Grund der Verbreitung entsprechend aufgebauter Wörterbücher in gedruckter Form erscheinen mag, ist die alphabetische Anordnung der Lemmata keineswegs, wenn man etwa an die zunehmende Verbreitung elektronischer Wörterbücher und an die verstärkte, inzwischen auch wissenschaftlich lexikographische Arbeit an ihnen denkt401. Wie in anderen Bereichen ist inzwischen auch hier das überlieferte Konzept Buch zum Teil schon überholt. Es löst sich allmählich auf in den elektronisch kumulierten Zugang zu einer Vielheit von Texten, konkret in den Zugriff auf mehrere, einst einmal unabhängig voneinander publizierte Druckfassungen von Wörterbüchern. Das Stichwort, das die Suche des Juristen nach Bedeutung formuliert, trifft auf eine heterogene Masse von elektronischen Adressen, die so zu dem einen in sich divergenten Informationstext kompiliert wird. In der Tendenz zeichnet sich, durch das Internet möglich geworden, das eine, intern von Link zu Link oszillierende globale Glossarium
397 398 399 400 401
Fraas / Haß-Zumkehr, S. 289. Dazu Kühn, S. 111 ff. Zur Wörterbuchtypologie Hausmann I, S. 968 ff.; Pitzek. Siehe beispielsweise Homm. Siehe die Beiträge in: Lemberg / Schröder u. a. (Hrsg.).
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ab. Allerdings eines, das sich auch bisher schon dem hinreichend geduldigen semantischen Sucher in Gestalt einer Bibliothek aus nahezu unübersehbar aufgereihten Wörterbüchern darbot. Für den Juristen ergibt sich daraus die Frage, welcher Suchstrategie er sich bedienen kann und vor allem auch sollte, um einen authentischen Zugriff auf einen jeweiligen Pool semantischer Informationen zu bekommen402. Das flüchtig vordergründige Hinschauen wird als gezieltes „Nachschlagen“ zur Handlung und der so handelnde Jurist zum aktiven Subjekt einer Lexik des fraglichen Ausdrucks. Entsprechend läßt sich das Wörterbuch definieren als „eine durch ein bestimmtes Medium präsentierte Sammlung von lexikalischen Einheiten (vor allem Wörtern), zu denen für einen bestimmten Benutzer bestimmte Informationen gegeben werden, die so geordnet sein müssen, daß ein rascher Zugang zur Einzelinformation möglich ist“.403 Damit werden die Probleme des Juristen, der sich an das Lexikon als an eine Autorität in Sachen Sprachverständnis wendet, schon deutlicher sichtbar; sie sind in allgemeinerer Form Gegenstand der Lexikographie und Metalexikographie als der Wissenschaft von der Produktion und Benutzung von Wörterbüchern404. Um sich deren Bedingtheiten zu vergegenwärtigen, ist es nützlich, sich den Aufbau eines Wörterbuchs vor Augen zu führen. Wörterbuchartikel stellen jene sprachstrukturellen und semantischen Informationen zur Verfügung, aus denen sich der Benutzer ein Bild vom möglichen Gebrauch des betreffenden Ausdrucks soll erschließen können. Sie bieten Lesarten dieser Ausdrücke an, die von sich beanspruchen, deren tatsächlichem Vorkommen in der jeweiligen Sprachgemeinschaft zu entsprechen. Zugleich beschränken sich die Wörterbucher aber nicht darauf, die Ausdrucksbelege lediglich zu konstatieren. Vielmehr versuchen sie auch, durch ihre Makrostruktur ein in sich geordnetes Bild von den wiedergegebenen Ausdrucksvorkommen darzubieten. Dies soll dann den Ansatzpunkt für praktische Suchstrategien des Wörterbuchbenutzers liefern405. Die Wiedergabe der einzelnen Vorkommen von Ausdrücken in den Lemmata ruft wiederum ihre in der Mikrostruktur angeordnete Erläuterung auf406. Diese besteht in der Menge jener Informationen, die Kenntnis und Kompetenz im Hinblick auf den Gebrauch des betreffenden Ausdrucks vermitteln sollen. Typischerweise sind das Angaben im engeren Sinn sprachlicher, das heißt struktureller Art und im weiteren Sinn auch sachlicher Art, das heißt sich auf die Verständigungsleistungen des Ausdrucks beziehend. Alles in allem besteht also ein Wörterbuchartikel in der Regel aus sprachsystematischen Hinweisen wie solchen zu Aussprache und Schreibung, sowie aus den für den Benutzer (hier: den praktischen Juristen) besonders interessierenden semantischen Informationen, welche dem jeweiligen Ausdruck eine Bedeutung zuformulieren sollen. Sie werden anhand von 402 403 404 405 406
Allgemein dazu Kempcke / Ludwig / Viehweger. Hausmann II, S. 369. Für einen umfassenden Überblick Hausmann / Reichmann u. a. (Hrsg.) III; Wiegand II. Dazu Wiegand III, S. 371 ff. Dazu Wiegand IV, S. 409 ff.; ders. V, S. 462 ff.; ders. VI, S. 401 ff.; Wolski I, S. 360 ff.
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Definitionen gegeben, welche die Bedeutung des Ausdrucks als lexikalischer Einheit erklären sollen, der durch das jeweilige Lemma repräsentiert wird407. Häufig wird zudem die Verwendung durch Beispiele erläutert408. Vom ersten Moment an ist so das Wörterbuch in Produktion und Rezeption der grundsätzlichen Notwendigkeit eines selektiv formierenden Zugriffs unterworfen; es ist selbst schon überformende Bearbeitung statt schlicht getreuliches Abbild409. Die Schwierigkeiten beginnen bereits mit der Auswahl des Materials. Zwar soll das Werk ein repräsentatives Bild der Sprache geben410; bzw. eines ihrer Bereiche, seien diese nun temporär, lokal oder funktional bestimmt. Die Auswahl der Lemmata dafür ist aber auf Grund der schieren Masse der Wörter schon ein quantitatives Problem411. Wenige Zahlen genügen, um das zu belegen. Ein durchschnittliches Großwörterbuch wie das Deutsche Wörterbuch enthält circa 500 000 Stichwörter. Dem steht die nur grob zu schätzende Menge von etwa 1,4 Millionen Wörtern insgesamt gegenüber. Die unumgängliche Auswahl enthält also jeweils eine Vorentscheidung darüber, was als das Übliche, allgemein Gebräuchliche oder gar Maßgebliche des Gesamtwortbestandes gelten kann und was bloßen Varianten zugerechnet werden soll, die dann allenfalls ihren Platz in Zusatzangaben oder in Spezialwörterbüchern finden werden. Diese Vorentscheidung ist so gut oder so schlecht wie der Textpool, auf den der Lexikograph für das dem Wörterbuch zu Grunde gelegte sprachliche Korpus zurückgreift. Daß dabei in der Regel vorangehende Wörterbuchgenerationen konsultiert werden, mildert das Problem nicht. Vielmehr verschärft es sich zur Entscheidung auch noch darüber, was lediglich idiosynkratischer Neologismus oder was bereits fester Bestand der Sprache sei. Man denke etwa an die Anglizismen, die gerade im Bereich der Neuen Medien auch für den Juristen eine wichtige Rolle spielen können, zum Beispiel bei Entscheidungen im Internetrecht. Spätestens hier korrespondiert das quantitative Problem, welche Wörter zur Sprache gehören sollen, mit dem qualitativen, wie denn diese Wörter in ihrer Bedeutung beschrieben werden sollen. Denn was ein als Lemma zu fixierendes Wort überhaupt sei, ist nicht so selbstverständlich, wie man denken mag. Es hängt davon ab, welche bedeutungstheoretischen Annahmen man über die wesentlichen Konstituenten eines solchen als Zeichen macht. Sofern diese als Einheit von Form und Bedeutung aufgefaßt und dabei aus Texten herauspräpariert werden sollen, setzt die Segmentierung von Sprache zu Worten bereits semantisches bzw. lexikalisches Wissen voraus. Umgekehrt hängt davon zugleich ab, was man als Erklärung der Bedeutung eines Wortes gelten lassen kann und was nicht, wie man diese zu formulieren und was man für sie heranzuziehen hat. Weil dabei Sprache und Sache und folglich auch Überzeugung nie voneinander zu trennen sind412, verliert das Wörterbuch von vornherein seine tradi407 408 409 410 411 412
Dazu Wiegand VII, S. 530 ff. Dazu Hermanns III, S. 161 ff.; Harras I, S. 607 ff. Dazu Bergenholtz, S. 772 ff. Zum Problem Quasthoff I, S. 93 ff.; Quasthoff / Wolff II. Dazu Pitzek; Földes, S. 31 ff. Siehe grundsätzlich Davidson XI, S. 204 ff.
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tionell unterstellte Unschuld reiner Deskription. Ein Wörterbuch ist niemals ein getreuliches Abbild von Sprache, sondern vom Beginn der Auswahl an auch Ausdruck der Weitsicht seiner Produzenten und der Ziele, die diese mit dem Wörterbuch verfolgen. Das betrifft nicht nur jene Wortfelder, die in die großen Fragen der Ideologie verstrickt sind, wie sich etwa in den Vorwendezeiten an den beiden Duden Ost und West ablesen ließ413. Es betrifft im Bereich des angeblich Unscheinbaren gleichermaßen auch solche Wörter, die als allzu allgemein menschlich dagegen gefeit zu sein scheinen, wie etwa „sterben“. Wenn dafür beispielsweise das Handwörterbuch der deutschen Gegenwartssprache angibt „infolge Aussetzen aller Lebensfunktionen zu leben aufhören“ (1104), der Duden „aufhören zu leben, sein Leben beschließen“ (Bd. 7, 3243) und das Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache „zu leben aufhören“ (3580), so sind diese Umschreibungen keineswegs neutral, ohne deshalb schon als Regelformulierung unangemessen zu sein: „Mit diesen Angaben werden die Bezugsregeln für sterben für viele usuelle Texte durchaus korrekt formuliert. Es muß aber klar sein, daß der Lexikograph hier eine Todesauffassung voraussetzt, die vielleicht die Mehrheit der Muttersprachler mit ihm teilt, nicht aber alle gläubigen Christen. Denn sie können sterben auch in einer Bedeutung verwenden, die wie folgt zu paraphrasieren wäre: vom diesseitigen in das jenseitige Leben übergehen.“414 Das Wörterbuch ist eben kein schlichtes Abbild objektiver Bedeutungsverhältnisse, sondern eine Konstruktion. Die Zwecke dieser Konstruktion sind mit den Zwecken des vom praktischen Entscheidungsproblem geplagten Juristen nicht identisch. Für den Rechtsarbeiter wird das Wörterbuch nun aufgrund von alledem nicht schon unbrauchbar. Er muß allerdings daran denken, daß Wörterbücher immer das Ergebnis eines bestimmten lexikographischen Vorhabens sind. Wörterbücher sind Interpretation. Im Grunde handelt es sich bei ihren Angaben noch nicht einmal um „lexikographische Definitionen“. Vielmehr bieten sie nur Formulierungen von Bezugsregeln für die jeweiligen Lemmazeichen im Hinblick auf einen anhand der Korpusauswertung hypothetisch unterstellten Gebrauch. Ihren Wert als Berufungsinstanz haben sie darin, Ergebnis einer wissenschaftlich methodischen, nämlich lexikographischen Reflexion auf den Sprachgebrauch zu sein. Für den Juristen können sie damit im Hinblick auf den Wortlaut von Normtexten nicht Begründung, sondern nur Anregung sein. Denn die Stärke eines Verweises auf die Autorität eines Wörterbuchs hängt von der Überzeugungskraft jener Theorien ab, die der betreffenden lexikographischen Praxis zu Grunde liegen, sowie von der dabei bewiesenen methodischen Sorgfalt. Diese ist keineswegs immer gegeben, wie die Praxis der Wörterbuchkritik zeigt415. Im wesentlichen kann das Wörterbuch bloß Beispiele für den Sprachgebrauch und für die Erklärung von Bedeutungen liefern. Es kann dem Juristen deshalb nur 413 414 415
Siehe Betz, S. 82 ff. Wiegand I, S. 197. Siehe Ripfel.
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Plausibilitäten für eine Entscheidung über den Sprachgebrauch an die Hand geben. Es kann ihm diese Entscheidung aber nicht abnehmen. Der Rechtsarbeiter hat sie selbst zu treffen; und er hat anhand der von ihm herangezogenen Wörterbuchartikel zu sagen, warum er sie so und nicht anders getroffen hat. Ein normatives Konzept von Wörtlichkeit liegt zwar der traditionellen Erwartung der Juristen, nicht aber den existierenden Wörterbüchern zu Grunde. Niemand weiß das besser als deren Autoren, die Lexikographen416. Im Rahmen der lexikalischen Semantik wird der Lexikoneintrag zunehmend nur noch als offene Aufzählung von Beispielen und gerade nicht mehr als Grenze zulässiger Verwendungen verstanden. Linguisten und Lexikographen wissen, daß, „was die Beispiele betrifft, (…) ein Wörterbuchartikel eine Art Collage (ist), wo also die Elemente, die darin zusammengeklebt sind, einen neuen Sinn bekommen sollen. Einen neuen Sinn bekommen sollen, aber erst einmal, wenn man sie in ihrem Nebeneinander betrachtet, noch nicht haben.“417 Erst wenn man sich dessen bewußt ist und die Beispiele reflektiert einsetzt, damit diese „sprechend“, „ansprechend“, „echt“ und „kurz“ sind, um ihren Zweck einer Erhellung von Sprachgebrauch erfüllen zu können, erst dann mag „man durch Beispiele die Erfahrung machen (…), wie ein Wort verwendet wird.“418 Dann mag dieses Vorgehen demonstrieren, „wie eine Regel gemeint ist“. Dann mag es „ein Modell (geben), nach dem ich mich beim Sprechen und Verstehen richten kann“, „ein Muster, an dem ich mich unmittelbar orientieren kann, ohne den Umweg über die Reflexion auf eine Regel zu gehen“, „indem es mir zeigt, wie man ein Wort gebraucht.“419 Beim nächsten Mal allerdings, im nächsten Rechtsfall kann all das schon wieder anders aussehen. Der Griff zum Wörterbuch oder Lexikon liefert jedenfalls nie eine letztendliche Antwort auf semantische Fragen. Er eröffnet ganz im Gegenteil erst einmal verschiedene Fragerichtungen; gibt erste Indizes dafür, sich auf dem Weg über Beispiele des Gebrauchs die Bedeutung eines fraglich gewordenen oder prinzipiell umstrittenen Wortes zu erschließen420. Im Kern erzählt ein Wörterbuch Gebrauchsbeispiele421. Diese werden nur paradigmatisch eingesetzt und sind nicht ohne weiteres in eine vorhandene oder empirisch feststellbare Regel auflösbar. Ein natürliches Konzept von Wörtlichkeit und von zulässiger Verwendung ist nicht zu haben. Die Situation des zur Entscheidung verpflichteten Juristen gerät ins Paradoxe. Je genauer er wissen will, wie es um die Bedeutung der Wörter bestellt ist, je sorgfältiger er sich dabei all der lexikographischen Hinweise und Markierungen annimmt, die er finden kann, und je intensiver er ihnen in ihren Verweisen aufeinander folgt, um so mehr wird er mit der Realität
Quine IV, § 23. Hermanns III, S. 167. 418 Hermanns III, S. 177 f. 419 Hermanns III, S. 176. 420 Zum „Wörterbuchartikel als Wegweiser“ Harras II, S. 78 ff. 421 Das übersieht eine juristische Lesart, welche Wörterbücher normativ wenden möchte, so Jacobi, S. 28 und öfter. 416 417
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eben jener „unsäglichen Verschiedenheit“ – bis ins einzelne der Verwendungen eines Wortes hinein – konfrontiert werden. 322.110.4 Ist der Sprachgebrauch normativ? Auch wenn Lexika nicht die Rolle eines Sprachgesetzbuchs übernehmen können, 351e bleibt doch der Sprachgebrauch selbst als normativer Orientierungspunkt: „Gibt es keine externen Hilfsmittel, ist ein eigenes Verständnis zu entwickeln und zu Grunde zu legen. Beispielsweise ging es in BVerwGE 85, 228 um die Frage, ob der Abbau von Sand und Kies im Jadebusen ‚Nutzung von Bodenschätzen‘ ist. DasBVerwG stellt fest, daß der Ausdruck ‚Bodenschatz‘ zwei bedeutungstragende Elemente enthält: Im Wortteil ‚Schatz‘ wird eine wertvolle Eigenschaft des Gegenstandes vorausgesetzt. Außerdem wird mitgedacht, daß der Gegenstand nicht ohne weiteres bekannt oder zugänglich ist und erst aufgesucht und geborgen werden muß. Das setzt sich im Ausdruck ‚Bodenschatz‘ fort. Bodenschätze sind ‚Schätze‘ des Bodens, nicht aber der Boden selbst. Sand und Kies sind im Bereich der Küstengewässer ein üblicher Meeresgrund und kein Bodenschatz.“422 Vordergründig scheint einiges dafür zu sprechen, sich bei der Erschließung des Wortlauts von Normtexten auf den Sprachgebrauch zu berufen. Schließlich kann nicht jeder reden, „wie ihm der Schnabel gewachsen ist“, ohne zu riskieren, mißverstanden oder gar nicht verstanden zu werden. Redet etwa jemand von „Schätzen“, während doch nur wertloser Kram auf dem Boden herum liegt, so riskiert er zumindest, einem verschärften Erklärungsbedarf ausgesetzt zu sein. Eher wird er aber verständnisloses Kopfschütteln oder ratloses Achselzucken ernten. Will man das vermeiden und will man seine Ziele im Rahmen der sprachlichen Verständigung erreichen, so sollte man sich daran halten, „was die Wörter nun einmal bedeuten“. „Was heißt es“ aber, „daß die Wörter bedeuten, was sie nun einmal bedeuten?“423 Kann der Jurist wirklich für seine Arbeit normatives Kapital daraus schlagen? Immerhin scheint es doch so etwas wie sprachliche Korrektheit als Bedingung der Möglichkeit von Verständigung geben zu müssen, wenn man nicht mit jedem Wort heillos aneinander vorbei reden will. Oder wenn man vermeiden will, vor lauter Erklärung dessen, was man eigentlich gemeint habe, überhaupt nicht mehr zu dem zu kommen, was man zu sagen hat (einmal davon abgesehen, daß man bei jedem Wort auch der Erklärung selbst nie vollständig sicher sein könnte, was es heißen soll). Mit einem „Omnibus“ beispielsweise kann man eben nicht jedes x-beliebige Fahrzeug meinen. Bei allem Streit um die Worte vor Gericht scheint es doch Grenzen zu geben, an die sich der Wortgebrauch zu halten hat, um einigermaßen einen Sinn zu ergeben. Wenn jemand „kalt“ sagt, um uns darauf hinzuweisen, wie warm es ist424, 422 423 424
Schmalz I, S. 89. Nach Davidson XII, S. 9. Dieses Beispiel bei Wittgenstein I, § 510.
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wird er sich damit so weit von der Verständigungsbasis entfernen, daß kaum mehr ein Streit darüber möglich erscheint, ob die Raumtemperatur tatsächlich noch als warm oder eher schon als kühl gelten kann. Mit jemandem, der mit dem Zuruf „Grün!“ darauf aufmerksam machen will, daß eine Ampel soeben rot geworden ist425, scheint kaum noch ein vernünftiges Wort zu wechseln zu sein. Und jemanden, der seinen Schwiegersohn als eingefleischten „Junggesellen“ bezeichnet, scheint man nicht so recht ernst nehmen zu können426. Soweit derartige Urteile sinnvoll möglich sind, sollte es doch wohl einen Maßstab für die Angemessenheit und Korrektheit der Verwendung von Wörtern geben – und zwar in Gestalt ihrer jeweils bestimmten „Bedeutung“, die dann auch den praktischen Umgang mit Normtexten zu fundieren vermag. Denn würde jeglicher Maßstab dieser Art fehlen, so ließe sich alles mit allem sagen, so daß umgekehrt mit einem jeden Wort nichts gesagt sein könnte. Der Sprachgebrauch verlöre sich in einem amorphen Konglomerat von bloßen Lauten und jegliche Verständigung bräche zusammen: „Mit anderen Worten: Wenn es nicht möglich ist, Worte falsch zu verwenden, ist es gleichzeitig unmöglich, überhaupt etwas Bedeutungsvolles zu sagen, also Wahres oder Falsches zu sagen.“427 Die Freude des Juristen, hier nun endlich handfest Normatives für sein rechtliches Urteil über sprachliche Bedeutung zu finden, wäre jedoch verfrüht. Es bleibt nämlich die Frage, woraus denn sichere Anhaltspunkte für ein solches Korrektheitsurteil zu gewinnen sein sollen; der in den obigen Beispielen als inkorrekt abgewertete Wortgebrauch („kalt“, „grün“, „Junggeselle“) ist immerhin noch als solcher verständlich und damit nicht ganz ohne „Bedeutung“. Bei Licht besehen, steht die als abwegig erscheinende Verwendung eines Wortes lediglich gegen eine andere, die als korrekt, weil üblich, ausgezeichnet wird. Ein Maßstab setzt eben die Option voraus, in „richtig“ und „abweichend“ zu sortieren; damit das möglich ist, muß die fragliche Äußerung aber überhaupt als sinnvoll und damit als sprachlich etwas bedeutend verstanden werden können. Andernfalls hätte das Korrektheitsurteil keinen Angriffspunkt mehr. Daraus also, „daß ein Wort nicht mit der richtigen Bedeutung verwendet wird“, läßt sich nicht schließen, „daß es ohne Bedeutung verwendet wird.“428 Solange eine Äußerung überhaupt verständlich ist, kann ihren Wörtern nicht jegliche Bedeutung abgesprochen werden: „Denn es kann ja sein, daß es einfach mit einer anderen Bedeutung benutzt wird.“429 Ist eine Aussage aber überhaupt verständlich, so kann sie nicht schlichtweg sprachwidrig sein. Denn dafür müßte auf Grund einer völlig verfehlten Verwendung der in ihr vorkommenden Ausdrücke 425 Zum Beispiel „Dies ist grün“ in Hinblick auf die Frage der Bedeutungskonstitution Glüer I, S. 191 ff. 426 Zu dem schon klassischen Beispiel der Debatte und dem Zusammenhang von Notwendigkeit, Normativität und Bedeutung Quine IV, S. 27 ff., v. a. S. 29 ff.; sowie im Anschluß daran Glüer I, S. 206 ff., sowie S. 191 ff. 427 Glüer I, S. 38. 428 Glüer I, S. 37 f. 429 Glüer I, S. 37. Als Vertreter einer solchen Position auch Dummett II, S. 85 f.
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jede Möglichkeit verloren gegangen sein, sie als Äußerung zu verstehen; jedenfalls dann, wenn man „versucht, die präskriptive Kraft der Konventionen einer Sprache direkt aus der Möglichkeit von Bedeutung selbst herzuleiten.“430 Das gilt auch für einen Rückgriff auf Sprachregeln. Diese sollen nach der sogenannten „Gebrauchstheorie der Bedeutung“ das Maß für eine angemessene und korrekte Verwendung sprachlicher Ausdrücke abgeben431, sollen deren Bedeutung bestimmen und zugleich jeder Äußerung die Grenzen weisen. Regeln „legen“ nach dieser Ansicht „fest, unter welchen Umständen“ ein Ausdruck „sinnvoller- bzw. korrekterweise verwendet werden kann.“432 Zwar bleibt es jedem unbenommen, so zu reden, wie ihm der Schnabel gewachsen ist – allerdings um den Preis, entweder nicht ernst genommen zu werden oder sich mit dem, was man zu sagen hat, nicht mehr verständlich machen zu können. Wer das dagegen möchte, hat sich dem Gebrauch anzupassen, den alle anderen von der Sprache machen, die ihrer mächtig sind. Das zu tun heißt eben, sich „an die Regeln halten“. In diesem von der Absicht auf Verständigung ausgehenden Druck wechselseitiger Konformität liegt, Kripkes kommunitaristisch gewendetem Wittgenstein zufolge, die ganze Normativität von Sprache433; und auf diese Weise verdankt ihm die Sprachphilosophie „einen neuen Slogan: ‚Bedeutung‘ ist normativ“434. Ein derartiger pragmatisch gewendeter Sprachnormativismus435 scheitert aber wie jede andere normative Unterstellung im Sprachlichen auch am Paradox der Bedeutungslosigkeit fehlerhafter oder abweichender Verwendungen. Nichts belegt das eindrucksvoller als die Situation des Rechtsstreits. Denn vor Gericht geht es sprachlich weder um ein angemessenes Verständnis des Gesetzestextes noch um dessen korrekte Handhabung. Die Feuerprobe auf beides haben die Äußerungen der Parteien bereits bestehen müssen, damit ihr Anliegen überhaupt als ein rechtliches gelten und akzeptiert werden kann. Mit dem Eintritt in das förmliche Verfahren steht nicht mehr die Frage einer möglichen Regelkonformität zur Debatte. Vielmehr treten die entgegengesetzten Rechtsmeinungen genau auf Grund dieser in den Streit Glüer I, S. 37. Siehe Herbert II, v. a. S. 78 ff. Aus sprachwissenschaftlicher Sicht Busse IX, S. 23 ff. 432 Glock, S. 431. 433 Kripke; zur Kritik Glüer I, S. 84 ff.; sowie dies. II, v. a. S. 454. 434 Glüer III, S. 393. 435 Das normative Moment läßt sich nicht dadurch entsorgen, daß man auf den herrschenden (mehrheitlichen) Sprachgebrauch abstellt. So aber Jacobi, S. 28 und zusammenfassend S. 362. – Vgl. dazu auch Bung III: „Es spricht insoweit vieles dafür, den Begriff der Konvention nicht zum bedeutungstheoretischen Grundbegriff zu machen, und das macht Davidsons Theorie der Interpretation attraktiv, die den bedeutungstheoretischen Konventionalismus ausdrücklich zurückweist. Diese Zurückweisung begründet, beiläufig gesagt, auch eine Ethik der Kommunikation, in der radikal abweichender Sprachgebrauch unter dem Gesichtspunkt der Bedeutsamkeit dieselbe Behandlung erfährt wie der herrschende Sprachgebrauch.“ (S. 274) – Das ist im Gegensatz zu konformistisch disziplinierenden kommunikativen Ethiken, wie sie manchmal in der linguistischen Sprachkritik vorgeschlagen werden, in der Tat ein zentraler Gedanke in der an Davidson anknüpfenden Sprachkritik. 430 431
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ein. Es geht den Parteien nicht darum, welche Bedeutung ein Ausdruck im allgemeinen hat, sondern darum, welche ihm mit Blick auf die jeweils gewünschte Rechtsfolge zukommen soll. Die Frage ist nicht: was ist der sprachlichen Regel gemäß?, sondern: was soll in diesem Streitfall als Regel gelten? Als neutrale, vom Streit unabhängige Berufungsinstanz für die Entscheidung kann die Regel so aber nicht mehr greifen. Der semantische Normativismus scheitert an den Unwägbarkeiten von Sprache als Praxis. Die Vorgänge im Gerichtssaal machen nur noch deutlicher, was im alltäglichen kommunikativen Leben ohnehin vor sich geht. Die eindeutige Entscheidung über die Regelkonformität einer sprachlichen Äußerung kann nicht durch Sprache bereits vorgegeben sein. Das gilt nicht einmal für das Urteil darüber, ob sich der Gebrauch eines Ausdrucks noch im Rahmen des Üblichen bewegt; und noch weniger kann eine Norm bzw. Regel unwiderruflich vorzeichnen, worin in jedem Einzelfall ihre Befolgung bestehen soll436. Um dies leisten zu können, müßte die Regel für die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke konstitutiv im Sinne Searles sein.437 Nimmt man das jedoch ernst, so könnte die Regel paradoxerweise genau deshalb nicht das leisten, was sie auf Grund dessen leisten soll, nämlich den abweichenden, verfehlten Sprachgebrauch vom ihr konformen, korrekten zu unterscheiden: „Denn jeder semantisch inkorrekte Gebrauch“ würde damit notwendig zu einem „Bedeutungswandel oder -verlust“. Das heißt aber, daß mit der Ausschließlichkeit der Alternative „korrekt oder bedeutungslos“ ausgerechnet jener Verstoß gegen die Regel als Alternative entfällt, für den sie zur Entscheidung über den Sprachgebrauch einstehen soll438. Dann ist die Regel aber, gegen die eigene Voraussetzung des semantischen Normativismus, allenfalls nur noch „eine behelfsmäßige Durchgangsstation zwischen Satz und Interpretation, welche die Erkenntnis der Struktur erleichtert, für die richtige Interpretation von Äußerungen aber keineswegs notwendig ist.“439 Kripke verlangt von der Regel deshalb auch nicht mehr als Übereinstimmung. Diese aber ist, wie schon Wittgenstein geltend macht, in erster Linie nicht eine Übereinstimmung in der Definition von Bedeutung, sondern eine in den Urteilen darüber440 – und diese mögen so oder so ausfallen. Mit der Frage nach der Bedeutung ist wieder alles offen. Jede Abweichung kann linguistisch als Vorschlag einer neuen Regel, als Neuansatz zu einer Regeländerung gesehen werden441. Bedeutungen, Regeln, Konventionen vermögen nicht dem Sprachgebrauch normativ feste Bahnen vorzuzeichnen. Vielmehr unterliegt all dies selbst einer permanenten Bedeutungsgebung für den Sprachgebrauch mittels entsprechender Bedeutungserklärungen442. „Bedeutung“ erweist sich mit anderen Worten „in dem Sinne als irSiehe das von Kripke entwickelte skeptische Argument. So Glock, S. 443 ff. Dagegen Glüer II, S. 462 ff. 438 Vgl. Glüer II, S. 460. 439 Mayer, S. 418. 440 Wittgenstein I, § 242. 441 Vgl. Heringer IV, S. 26. 442 Zu diesem Zusammenhang Wittgenstein I, § 560; ders., IV, §§ 23 ff.; ders. V, S. 15. Vergleichbar auch Putnam IV, S. 94. 436 437
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reduzibel, daß sie nicht mit Hilfe handlungsleitender Normativität erläutert werden kann.“443 Geltung und Verbindlichkeit verdankt Bedeutung allein den Praktiken der Kritik und Korrektur, besonders denen der „Abrichtung“444, der Belehrung und Einweisung beim Spracherwerb, die auf den ersten Blick den Eindruck einer Verantwortlichkeit von Normen und Regeln für den Sprachgebrauch erwecken sollen. Aufrecht erhalten wird dieser Eindruck jedoch allein durch den faktischen Druck der Umgebung, die sprachliche Konformität mit den entsprechenden Zuweisungen mentaler und sozialer Kompetenz belohnt. Die Frage ist, was ein normatives Konzept von Sprache, Bedeutung oder Regel dann noch zu tragen vermag. Donald Davidsons Antwort lautet: gar nichts;445 wenigstens dann nicht, wenn es um die Möglichkeit geht, sich überhaupt sprachlich verständlich zu machen. Bedeutung gewinnen Äußerungen ganz ohne Regeln allein durch Interpretation. Solange dank dieser eine Äußerung noch zu verstehen ist, so lange ist es mit sprachlicher Bedeutung nicht vorbei. Denn „der Begriff der Sprache (…) liegt“ nun einmal „im Begriff der Verständigung.“446 Wenn verstehbar und damit bedeutend nur ist, was auch Sprache ist, so muß alles, was verstanden werden kann, zur Sprache gerechnet und muß ihm Bedeutung beigelegt werden. Die GrenGlüer I, S. 235. Vgl. Wittgenstein I, §§ 5 f. Dazu Schulte, S. 143 ff.; sowie Glüer I, S. 153 ff. 445 Siehe Davidson XIII, v. a. S. 396 ff. Zuvor schon ders., VI, S. 372 ff. – Vgl. dazu Bung III, S. 273: „Nur wenn Kontexte systematisierungsfähig sind, können sie als Gegenstände sinnvoller Theoriebildung begriffen werden. Sind Bedeutungen von Kontexten abhängig und sind Kontexte nicht systematisierungsfähig, dann sind im Ergebnis auch Bedeutungen keine Gegenstände sinnvoller Theoriebildung.“ – Hier wird aus einem zutreffenden Ausgangspunkt eine überschießende Folgerung abgeleitet. Wir können sehr wohl – gerade in der Rechtsarbeit – etwas Gehaltvolles im Hinblick auf die Rolle des Kontexts für die Entstehung einer Lesart sagen – spätestens im Rahmen juristischen Argumentierens. Das bedeutet eine Konkretisierung des Nachsichtprinzips von Davidson. Im Hintergrund steht dabei ein sinnvolleres Verständnis von Systematik als das von Bung zugrunde gelegte. Es läßt sich so skizzieren: Die systematische Konkretisierung eröffnet nicht einen Kontext des Gesetzes, dem dann der Regelungsgehalt entnommen werden könnte. Sie engt die Vielfalt der Möglichkeiten zur Interpretation nicht etwa ein, sondern erweitert sie – im Prinzip unabsehbar. Das systematische Element eröffnet mit jedem herangezogenen Text einen zusätzlichen Zusammenhang, der den Normtext wieder in einem neuen Licht erscheinen lassen kann. Das Grundproblem bei dieser Konkretisierung liegt in Auswahl und Verknappung. Denn man bräuchte für sie eigentlich einen Blick auf das Ganze der Rechtsordnung sowie ein stabiles Zentrum als Ausgangspunkt. Indes ist diese Technik, den Platz des Ganzen inhaltlich zu besetzen, für eine seriöse Argumentation nicht gangbar. Das Ganze kann nicht den Teilen gegenüber gestellt werden, ohne daß logische Aporien entstehen. Es bleibt also die Auswahl- und Begrenzungsaufgabe; und der Schlüssel für deren annehmbare Bewältigung und für die der rechtsstaatlichen Vorgaben liegt zunächst in der Anerkennung dieses Problems. Kontexte werden nicht als bereits systematisierte vorgefunden; sie sind in der Argumentation erst zu systematisieren. Das wird dann möglich, wenn man den Begriff eines vertikalen Holismus durch den eines horizontalen Holismus ersetzt. Bedeutung entsteht durch das Eröffnen und Akzentuieren von Kontexten. Die unumgängliche Verknappung erfolgt dann durch den Vorgang der Argumentation. Hier beginnt dann sinnvolle Theoriebildung. 446 Wittgenstein IV, § 140. 443 444
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zen des Verstehbaren aber sind nahezu unabsehbar weit447, wie ein zweiter Blick auf vordergründig noch so abstrus erscheinende Beispiele zeigt. So schließt Ludwig Wittgenstein an seine Aufforderung zu dem „Versuch: Sag ,Hier ist es kalt‘ und meine ,Hier ist es warm‘“ nicht etwa gleich die Feststellung an, dieser wäre von vornherein zum Scheitern verurteilt. Vielmehr fragt er: „Kannst du es?“. Diese Frage läßt sich leicht bejahen; Ironie ist nur eine von mehreren Möglichkeiten, die einem dazu einfallen. Auch für Wittgenstein ist es offensichtlich eine rhetorische Frage, denn er fährt fort: „Und was tust du dabei? Und gibt es nur eine Art, das zu tun?“448 Daß dem nicht so ist, zeigt auch ein Blick auf das Beispiel des vordergründig irritierenden Gebrauchs des Wortes „grün“ in der Absicht, vor einer rot gewordenen Ampel zu warnen. Der Reigen möglicher Sinngebungen wird dadurch eröffnet, von einem schlichten Lapsus auszugehen, der in der Aufregung unterlaufen ist. Aber selbst dann, wenn sich der Vorfall wiederholt oder der Sprecher uns mit den Worten „welch hübsches Grün“ auf die rote Bluse einer Passantin aufmerksam macht, sind wir mit unserem semantischen Latein noch nicht am Ende; allein schon deshalb nicht, weil die Wiederholung erkennen läßt, daß es sich wohl nicht um Zufall handelt. Für den Sprecher ist „Rot“ offenbar dasselbe wie für uns „Grün“. Auch wenn wir Grund haben, ihn für zurechnungsfähig und nicht absichtlich provokant zu halten, bleibt immer noch der Schluß, er leide unter Farbenblindheit. Für ihn mag die Welt aus Grautönen bestehen, auf die er die Farbwörter in seiner unnachahmlichen Art verteilt. Anhand seiner Äußerungen können wir mit einiger Wahrscheinlichkeit annehmen, daß für ihn, gewissermaßen „in seiner Sprache“, das Wort „grün“ in etwa die Stelle einnimmt, die in unserer Ausdrucksweise das Wort „rot“ innehat. Kürzer gesagt, für ihn bedeutet „Grün“ Rot. Das dritte oben genannte Beispiel betraf den Schwiegersohn als Junggesellen. Bei jemanden, der wiederholt so redet, werden wir uns fragen, was er damit sagen will. Wir versuchen zu erklären, was er unter „Junggeselle“ versteht. Gewinnen wir den Eindruck, ein „Junggeselle“ sei für ihn das gleiche wie für uns, dann prüfen wir, was es wohl heißen mag, wenn er seinen Schwiegersohn beharrlich einen solchen nennt. Es läßt sich dann vielleicht unschwer erkennen, daß für ihn „Junggeselle“ einen Ehemann bedeutet, der trotz seines Ehestands nicht von den Freuden eines Lebens ohne solchen lassen mag. Der Sprecher mag uns mit der Charakterisierung „Einmal Junggeselle, immer Junggeselle“ darin bestärken. Korrektheit – und damit Bedeutung – ist offenbar nichts, worauf man schlicht Bezug nehmen kann. Wenn man es versucht, so gerät man schon mitten in die Arbeit, sich zum Sinn von Äußerungen und damit zur Bedeutung von Ausdrücken zu erklären. Und das kann man nur tun, indem man sich ein Bild der konkreten Umstände macht, in denen die Ausdrücke ihre Rolle spielen; der „Art“ eben, „wie dieser Gebrauch in das Leben eingreift“449. Zu diesen Bedingungen gehört auch die Frage, in447 Dies zeigt anhand der sogenannten „Malapropismen“ Davidson III, S. 203 ff. Dazu auch Glüer I, S. 79 ff. 448 Wittgenstein I, § 510. 449 Wittgenstein IV, § 29.
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wieweit eine Ausdrucksverwendung noch hingenommen werden soll oder wer in welcher Situation derart redet. Für den bekannten Scherzbold mag es angehen, mit dem Wort „kalt“ auf die besonders stickige Hitze des Raums aufmerksam zu machen. Das heißt aber noch nicht, daß dies von jedem akzeptiert wird. Denn das würde einem die Mühe abfordern, uns bei jedem Sprecher zu fragen, ob er sich mit seinem Wort noch auf den uns gewohnten kommunikativen Bahnen bewegt. Was dem Farbenblinden recht ist, wird man nicht allen zubilligen wollen; sonst würden wir bei jedem harmlosen Satz, der ein Farbwort enthält, gleich in Debatten über das zu Grunde liegende Farbensystem verwickelt werden. Und dagegen, alle Ehemänner als verkappte Junggesellen zu bezeichnen, werden sich sicherlich jene verwahren, die diesen Familienstand für die eigene Person durchaus ernst nehmen. Die Grenzen des Normalen und Korrekten im Sprachgebrauch sind, sofern sie sich auf Bedeutung beziehen, durchweg pragmatisch bestimmt450. Kommt einem Wort überhaupt Bedeutung zu, so bedarf es einer Entscheidung, möglichst auch einer Rechtfertigung dafür, seinen Gebrauch in der fraglichen Situation als unkorrekt oder inakzeptabel zurückzuweisen. Diese kann sich dabei nicht auf Merkmale berufen, die den Wörtern angeblich anhaften, dadurch deren Bedeutung bestimmen und insofern der sprachlichen Verständigung normativ voraus liegen. Bedeutungen, wie immer man auf sie gekommen sein mag, vermögen keine den Sprechern „gemeinsame Methode oder Theorie der Interpretation“451 abzugeben. Bedeutungen sind nicht die normativ anleitende Voraussetzung für Interpretation und Kommunikation, sie sind allenfalls deren Ergebnis. Das weist auf die beiden entscheidenden „Bestimmer“ von Bedeutungen hin: „die Welt und die anderen Menschen“452. Bedeutung vollzieht sich in den Bedeutungserklärungen, sie ist Ausdruck der jeweils relevanten, von der Sprechergemeinschaft als verbindlich und normal postulierten Überzeugungen. Diese stehen aber nicht ein für alle mal fest. Vielmehr müssen sie durch die Praktiken dieser Gemeinschaft in gegenseitiger Kontrolle und Korrektur immer wieder aufrecht erhalten und eingesetzt oder aber in Einzelfällen durch die Tolerierung des Befremdlichen verändert werden. Bei solchen Vorgängen gibt es bekanntlich immer Wortführer; das heißt solche Instanzen und Individuen, welche die Mit450 Vgl. zur heutigen Korpusanalyse als Möglichkeit, die Bedeutungsintuitionen der Juristen auch empirisch zu überprüfen: Felder VII, S. 83 ff. sowie ders. / Müller, M. / Vogel, F., S. 3 ff. Zur Anwendung der Korpuslinguistik auf juristische Probleme vgl. Vogel IV, S. 314 ff. Dabei wird natürlich nicht angenommen, die Wortlautgrenze ergebe sich einfach aus einer empirischen Beschreibung des Sprachgebrauchs der Gerichte. Das wäre ein reiner Richterpositivismus. Verfolgt wird vielmehr auch die Frage, inwieweit die Gerichte den Relevanzhorizont der wissenschaftlichen Literatur abgearbeitet haben. Dazu muss man das Rechtsprechungskorpus mit einem Wissenschaftskorpus vernetzen. Außerdem kann untersucht werden, inwieweit sich der Sprachgebrauch der Juristen mit einem allgemeinen Sprachgebrauch aus einem deutschen Referenzkorpus oder aus einem Medienkorpus in Beziehung setzt. Erst nach diesen Analysen lassen sich tragfähige Aussagen zur Wortlautgrenze im empirischen Sinn machen. – Vgl. zu entsprechenden Analysen von Medienkorpora Vogel I und Vogel II. 451 Davidson III, S. 226. Dazu Krämer, S. 119 ff. 452 Putnam IV, S. 98.
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tel und die Autorität haben, einen bestimmten Sprachgebrauch (und damit das, was die Dinge dem Wort nach „sind“) durchzusetzen – die Massenmedien zum Beispiel, oder Juristen. Die Bedeutung eines Ausdrucks kennen, eine Äußerung beim Wort nehmen können, heißt also, die nach vorherrschender Meinung richtigen Dinge dazu zu sagen. Jeder von bestimmten Wortverwendungen ausgehende soziale Druck, es sprachlich ebenso zu machen, ist eine durch und durch praktische Angelegenheit. „Sprache“ als solche gibt das nicht her. Von „Sprache“ bleibt, realistisch besehen, nicht mehr als ein kontextsensibler Differenzierungsprozeß, der sich ständig bewegt und verändert453. Was man die Bedeutung eines Ausdrucks nennt ist nur eine mehr oder weniger flüchtige Momentaufnahme innerhalb dieses Vorgangs; ist ein Knoten im einem Netz von Differenzen, den Verständnis und Interpretation erzeugen und den der nächste Akt der Verständigung bereits schon wieder lösen kann. Von der sprachlichen Bedeutung als normativer Legitimationsinstanz für die Rechtsarbeit bleibt nichts übrig. Nur in den Arbeitsvorgängen demokratisch und rechtsstaatlich vertretbarer Entscheidung und ihrer argumentativen juristischen Begründung kann Normativität hergestellt werden.
322.110.5 Von der Semantik des Spielraums zur Pragmatik der Konfliktkonstellationen 351f
Zwischen Wortlaut und Wortsinn liegt die Arbeit der juristischen Argumentation. Die Vorstellung eines Wortlauts, der nur darauf wartet, vom juristischen Geist zum Leben des Wortsinns erweckt zu werden, kann der juristischen Grundsituation miteinander konkurrierender Lesarten nämlich nicht gerecht werden. Im praktischen Entscheidungskonflikt ist der Übergang vom Zeichen zur Bedeutung schwieriger als beim stillen Lesen im Lehnstuhl. Die herkömmliche Lehre hat diese Schwierigkeit bisher nur semantisch als „Vagheit“ oder „Mehrdeutigkeit“ der ansonsten angeblich festen Bedeutung gefaßt. Zwar soll es sich dabei nach gängiger Definition um zwei unterschiedliche „Phänomene“ handeln. Vage Ausdrücke sind demnach solche, die in ihrer lexikalischen Bedeutung nicht eindeutig durch ihren Bezug oder Gehalt bestimmbar sind. Sie sollen daher fallweise einer Präzisierung bedürfen, um mit ihnen einigermaßen sicher umgehen zu können454. Bei der Mehrdeutigkeit oder Ambiguität sei dagegen zwar klar, welche Bedeutung das betreffende Wort hat; nur sind dies eben mehrere, so daß nicht klar sei, welche von ihnen nun konkret gemeint sein solle. Daher müsse hier die „Disambiguierung“ hilfreich eingreifen, indem sie anhand der Kontextdaten die Entscheidung für eine der Lesarten trifft. Beiden Vorstellungen liegt jedoch eine Auffassung von Sprache zugrunde, die sich angesichts der praktischen Aufgaben, mit denen der Jurist bei der grammati453 454
Dazu Schalk, S. 2. Dazu Pinkal.
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schen Konkretisierung von Normtexten konfrontiert ist, als verfehlt erweist. „Bedeutung“ wird als eine mitgebrachte Eigenschaft von Wörtern angesehen. Da dies so sei, meint man, nun auch die Ausdrücke gleichsam in Isolationshaft nehmen zu können und dann zu sehen, wie es sich mit dieser ihrer Bedeutung verhält. Man kommt dann in den genannten Fällen zu dem Schluß, daß diese auf Grund ihrer Unbestimmtheit bzw. Mehrdeutigkeit den Ausdruck derart unbrauchbar mache, daß die Bedeutung durch die genannten Manöver der Präzisierung oder Monosemierung erst einmal wiederhergestellt werden müsse. Diese Auffassung hat Tradition, auch in der Linguistik455. Sie geht auf die Gründerväter der modernen Logik, Frege und Russell, zurück456. Sie wurde später durch die von Carnap geprägte „wissenschaftliche Weltanschauung“ Wiener Provenienz auf die Spitze getrieben457. Frege hatte sein Unternehmen einer die Sprache klärenden Begriffsschrift unter anderem mit der Unbrauchbarkeit der (durch Vagheit und Ambiguität gekennzeichneten) natürlichen Sprache für die Zwecke einer unmißverständlich präzisen Theorie begründet. Die „Unvollkommenheit der Sprache“ sei den natürlichsprachigen Ausdrücken inhärent; zu ihr zählten neben der Mehrdeutigkeiten auch jene Fälle, „in denen die Bedeutungen des Wortes nur wenig verschieden sind, die leisen und doch nicht gleichgültigen Schwankungen“458. Zwar sieht Frege, daß dies zugleich die Bedingung dafür ist, Sprache flexibel genug zu halten, um den unterschiedlichsten Anforderungen an sie zu genügen und sie auch zur Fortentwicklung angesichts sich ändernder Verhältnisse fähig zu machen. Was dem Alltag indes recht sein mag, könne aber der Wissenschaft nicht billig sein, in der es, um ihre Aussagen rational beurteilen zu können, keinerlei Mißverständlichkeiten geben dürfe459. Dem daraus gefolgerten idealsprachlichen Reformprogramm haftet indes bei näherem Hinsehen etwas Absurdes an. Daß Ausdrücke mehrdeutig sind, kann der logischen Semantik zufolge nichts anderes heißen, als daß nicht klar sei, worauf sie sich präzise beziehen. Idealerweise hat demnach ein Ausdruck genau einen Bezugsgegenstand. Daß Ausdrücke vage sind, kann dann wiederum nur heißen, es sei nicht klar, was genau sie über diesen besagen. Idealerweise trifft somit ein Ausdruck genau eine Zuschreibung: der eindeutig exakte Ausdruck ist auf eine absolute Singularität bezogen. Dies müßte dann aber auch jeglicher Temporalität und Lokalisierung entkleidet sein. Denn eine Differenz von Zeit und Ort hinsichtlich Bezugsgegenstand und zugewiesener Eigenheit läßt schon wieder darüber Zweifel aufkommen, welcher der in diesem Kontinuum unabzählbar setzbarer Punkte denn nun gemeint sein soll. Das „Ideal der Genauigkeit“460 ist also in eben dem Moment erreicht, in 455 456 457 458 459 460
Zur Darstellung hier Wolski II, S. 5 ff. Siehe Frege; Russell. Siehe Carnap I und II. Frege, S. 52. Zur ausführlichen Darstellung Wolski II, S. 82 ff. Vgl. Wittgenstein I, § 88.
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dem es damit als Augenblick schon wieder vorbei ist. Genau dies macht die bekannte „Leere“ der Logik aus. Mit dem absolut präzisen Ausdruck wäre nichts gesagt und zugleich alles; das macht umgekehrt die Unbestimmtheit und semantische Offenheit des Ausdrucks total. In ausgearbeiteter Form liegt dieses hier auf die Spitze getriebene Argument Quines These der prinzipiellen Unbestimmtheit sprachlicher Ausdrücke zu Grunde, die auf der „Unerforschlichkeit der Bezugnahme“ und der empirisch nicht aufhebbaren Vielfalt der Lesarten bzw. „Übersetzungen“ beruht461. Natürlich entgeht dieses Problem den logischen Semantikern nicht. Sie sehen in der Aufhebung von Vagheit und Mehrdeutigkeit ein nur annäherbares Ideal, heben damit allerdings ihre eigene Position wieder aus den Angeln. Denn sonst stellt sich die Frage, woran denn der Grad jeweils erreichter Annäherung gemessen werden soll. Der Ausdruck selbst kann dafür nichts an Bedeutung hergeben; denn andernfalls brächte er ja schon mit, was durch seine Präzisierung erst erreicht werden soll. Also könnte das Maß der Annäherung darin liegen, inwieweit sich sein Gebrauch den jeweils an ihn gestellten Anforderungen genügt. Dann aber ist nicht einzusehen, warum der Ausdruck zunächst überhaupt als defizient apostrophiert werden sollte. Eben dies ist die Stoßrichtung des Angriffs, den Wittgenstein auf die Grundfesten der logisch semantischen Position in dem Augenblick führte, da diese ihren Triumph in der philosophischen Welt feierte. Sofern ein Ausdruck überhaupt Sinn ergibt, „muß vollkommene Ordnung sein. – Also muß die vollkommene Ordnung auch im vagsten Satze stecken.“462 Denn ergibt der Ausdruck Sinn, so heißt das, daß wir ihn gebrauchen und daß wir die Weise, in der wir es tun, in der Erklärung der ihm durch uns gegebenen Bedeutung formulieren können. Versagt sich der Ausdruck unserem kommunikativen Ansinnen, so bieten sich uns auch die Kriterien, anhand derer wir den Ausdruck weiter erklären, unseren Anforderungen anpassen und für weitere Verständigung zurichten können. Wittgenstein demonstriert das an dem für ihn grundlegenden Begriff des Spiels als einem mit jenen „unscharfen Rändern“, die – aufs Ganze gesehen – jeder Begriff aufweist463. Für sich genommen mag nicht klar sein, was man angesichts der Vielfalt der so benannten Aktivitäten genau mit dem Wort „Spiel“ meint: etwa vom Fußball über Pokern und Schach bis hin zum „Spiel“ der Kräfte oder dem der Gedanken. Diese verschiedenen Vorgänge weisen keinen ihnen notwendig zukommenden Grundzug auf, anhand dessen man sagen könnte, wann genau man es mit einem Spiel zu tun hat oder nicht; was also exakt das Wort „Spiel“ bedeutet. Die Antwort hängt ab davon, was man fallweise als leitendes Beispiel nimmt und im Vergleich womit man von einem Spiel sprechen möchte. Normalerweise tut man das; kaum jemand wird ohne jeden erkennbaren 461 Siehe Quine III, S. 59 ff.; ders. V, S. 7 ff.; sowie Davidson II, S. 321 ff.; näher darauf aufbauend auch Somek II, S. 66 ff. Linguistisch dazu Rieger I. 462 Wittgenstein I, § 98. Zu Wittgensteins Auffassungen in Hinblick auf das Vagheitsproblem Wolski II, S. 116 ff. 463 Siehe Wittgenstein I, §§ 66 ff. Dazu Wolski II, S. 128 ff.
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Zusammenhang das Wort „Spiel“ in den Raum stellen. In der Regel ist durchaus klar, worauf jemand hinaus will, wenn er von Spielen redet. Und wenn etwa ein Gericht zu entscheiden hat, ob bestimmte Vorgänge als „Glücksspiel“ zu bezeichnen sind oder nicht, dann stehen wiederum genügend Beispiele zur Verfügung, um den Gebrauch des Wortes zu erörtern und ihn für die anstehende kommunikative Aufgabe tauglich zu machen464. Der Verständigung tut das keinen Abbruch; es fordert sie vielmehr heraus, wenn man kommunikativ zum Erfolg kommen will. Da jeder, auch der scheinbar genauest umschriebene Gebrauch des Ausdrucks „Spiel“ das Beibringen eines weitergehenden Beispiels herausfordern kann, ist – bis zur Praktizierung des Gegenteils – jegliche Exaktheit nur eine vorübergehende Episode. Genauigkeit, Bestimmtheit und Klarheit sind stets nur ein stillschweigender Vorbehalt, der so lange trägt, als nicht nachgehakt wird. In der Justiz weiß man das nur allzu gut. Denn eben die Klärung des einen Falls kann im nächsten Sitzungstermin schon Grundlage dafür sein, den Wortlaut des Normtextes erneut in Frage zu stellen. Im Grund genommen „gibt“ es also gar keine in sich vagen oder mehrdeutigen Ausdrücke, damit übrigens auch keine in sich bestimmten: „Wortbedeutungen sind weder wohlbestimmt noch vage: sie sind schlechtbestimmt“465, und zwar ohne jeden pejorativen Beiklang. Das Problem der Vagheit466 und Mehrdeutigkeit stellt sich nur dort, wo man Ausdrücke von jeglichem Kontext und jeder Verwendungssituation isoliert betrachtet, also in einer kommunikativ völlig lebensfremden Lage467. Von dem Moment an aber, in dem sie praktisch in Arbeit genommen werden, fragt es sich nur noch, ob man das avisierte Ziel (etwa die Entscheidung darüber, ob ein gesetzlicher Tatbestand gegeben ist) zu erreichen vermag oder nicht. Gelingt das nicht, so hat man anhand der Fragen, die dabei offen bleiben, auch bereits die Kriterien dafür in der Hand, durch weitere sprachliche Maßnahmen (andere Konkretisierungselemente, Argumente) zu einem Verständnis des fraglichen Worts zu kommen, das beim Konkretisieren des Normtextes hilft. Das aber heißt nichts anderes, als daß Vagheit und Mehrdeutigkeit keine mitgebrachten Eigenschaften sprachlicher Ausdrücke sind. Sie hängen von dem Zweck ab, zu dem diese Ausdrücke in der Verständigung in Anspruch genommen werden sollen, und damit auch von den Personen und Umständen, die dabei eine Rolle spielen. Vagheit und Mehrdeutigkeit sind allein pragmatisch begründet468. Sie weisen auf einen (gemessen am Gang der Verständigung auftretenden) Klärungsbedarf hin. Vor Gericht ist das als der Streit um die Bedeutung des Wortlaus von Normtexten geradezu der institutionalisierte Alltag. Daraus ergeben sich die Anforderungen an den Juristen, der Entscheidungen zu treffen hat. Entgegen den landläufigen Vorstellungen der Semantik bestehen sie 464 465 466 467 468
Wittgenstein I, § 71. Wolski II, S. 246. Vgl. dazu Funke, S. 71 ff. Vgl. Wolski II, S. 246. Siehe auch Black.
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nicht darin, einen unklaren Ausdruck zu klären. Es geht vielmehr darum, die von den Parteien vorgetragenen divergierenden Lesarten auf eine einzige Bedeutungsklärung zu reduzieren, die der Entscheidung zu Grunde zu legen ist469. Das heißt nichts anderes, als für eine bestimmte Bedeutung zu argumentieren, die im vorliegenden Fall die tragende sein soll. Denn Sprache in sich selbst ist weder klar noch unklar; sie ist es immer jeweils für bestimmte Sprecher in bestimmten Situationen. Der Rechtsstreit zeigt das exemplarisch, denn durch das kontroverse Vorbringen der Parteien steht Klarheit gegen Klarheit. Es ist ja nicht etwa eine Verwaschenheit des Wortlauts, die den Streit provoziert hat, sondern eine Störung im gesellschaftlichen Zusammenleben, z. B. ein Konflikt von Interessen. Der Normtext, an dem sich der Jurist zu orientieren hat, weist von da her „zuviel an Klarheit“, nämlich mehrere sich gegenseitig ausschließende Lesarten auf, und gleichzeitig (bis zur verbindlichen Entscheidung) „zu wenig an Klarheit“. Klarheit erweist sich also nicht als die Lösung des Problems von Kontroversen über Bedeutung und als Ausgangspunkt für eine diese ausräumende Interpretation. Sie ist selber das Problem und kann nur das Ergebnis einer Argumentation sein. Mehrdeutigkeit und Vagheit sind keine Eigenschaften der Bedeutung. Sie sind Formen, mit denen man Konfliktkonstellationen im semantischen Streit beschreiben kann. Bei Mehrdeutigkeit stehen sich zwei oder mehr klar geschiedene Lesarten gegenüber. Bei Vagheit gibt es einen unstrittigen Bereich und einen streitigen. Es geht also nicht um Semantik. Es geht um Pragmatik. Daraus ergibt sich folgendes: Das Recht ist sprachlich nicht etwa unterbestimmt. Dieses Mißverständnis entstammt den überzogenen Erwartungen der traditionellen obrigkeitsstaatlichen Methodik an die Sprache. Das Recht ist vielmehr überbestimmt. Doch trotz dieser Überbestimmung ist eine rationale Entscheidung möglich. Man muß, zum einen, diese Rationalität aus der Abgeschlossenheit des Richterzimmers in die Öffentlichkeit des Verfahrens versetzen. Den Übergang vom Text zur Bedeutung kann, zum andern, die grammatische Interpretation allein nicht bewältigen. Damit wären die Möglichkeiten juristischer Rationalität verstümmelt. Der Übergang muß am ganzen Arsenal der vorgebrachten Argumente überprüft werden, mit Hilfe aller einschlägigen Elemente der Konkretisierung. In diesem Gesamtrahmen kann die grammatische Auslegung auf dem Weg über Wörterbuch und subjektive Sprachkompetenz einen Beitrag leisten, der mitentscheidend, aber nicht allein entscheidend ist. Es bedarf einer erheblichen Anzahl von Argumenten, um im Streitfall den Übergang vom Text zur Bedeutung zu bewältigen, mit anderen Worten vom Normtext zum Text der die Entscheidung tragenden Rechtsnorm. Ein einzelner Sprecher wäre hier zu wenig. Deswegen sieht das Recht ein Verfahren vor, in dem die Beteiligten mit gegenläufiger Perspektive um das Ergebnis ringen. Damit ist sichergestellt, daß der Vorrat an Argumenten zwar nicht unbedingt immer ausgeschöpft, aber doch je469 Zur Bedeutung als Einschränkung von Wahlmöglichkeiten auch Rieger II, S. 1 ff. Zur Frage der Vagheit im Hinblick auf Kommunikationskonflikte vgl. Wolski II, S. 182 ff.
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denfalls sinnvoll genutzt wird. Der Richter muß den Bestand an Argumenten gegebenenfalls durch frühere vergleichbare Judikate ergänzen und am Ende, in der Begründung, die sich im Übergang vom Text zur Bedeutung als beständig erweisenden Argumente zusammenfassen. Nur dann löst er die Forderung an jede rechtsstaatlich orientierte Methodik ein: daß nämlich die Schwierigkeit der Auslegung nicht dazu führen darf, dem gesetzlichen Wortlaut jede Trennschärfe abzusprechen und jede beliebige Entscheidung mit dem Normtext für vereinbar zu erklären470. Als Ergebnis ist damit folgendes festzuhalten: Das Recht ist sprachlich nicht unterbestimmt. Dieses Mißverständnis resultiert aus den überzogenen Erwartungen der obrigkeitsstaatlichen Methodik an die Sprache. Das Recht ist vielmehr überbestimmt. Doch trotz dieser Überbestimmung ist eine rationale Entscheidung möglich. Man muß diese Rationalität nur aus der Einsamkeit des Richterzimmers in die Öffentlichkeit des Verfahrens versetzen. Den Übergang vom Text zur Bedeutung kann die grammatische Auslegung allein nicht bewältigen. Damit wäre die juristische Rationalität verstümmelt. Der Übergang muß am ganzen Arsenal der vorgebrachten Argumente überprüft werden. Nur in diesem Rahmen kann die grammatische Auslegung über Wörterbuch und subjektive Sprachkompetenz einen Beitrag leisten, der mitentscheidend, aber nicht allein entscheidend ist. Es bedarf einer großen Anzahl von Argumenten, um im Streitfall den Übergang vom Text zur Bedeutung zu bewältigen. Ein einzelner Sprecher wäre hier zu wenig471. Deswegen sieht das Recht ein Verfahren vor, in welchem zwei Parteien mit gegenläufiger Perspektive um das Ergebnis ringen. Damit ist sichergestellt, daß das Reservoir der Argumente zwar nicht ausgeschöpft, aber doch mindestens sinnvoll genutzt wird. Der Richter muß den Relevanzhorizont der Argumente gegebenenfalls durch Judikate ergänzen und am Ende in der Begründung472 die stehengebliebenen Argumente für den jeweiligen Übergang vom Text zur Bedeutung zusammenfassen. 322.110.6 Von der konventionellen zur aktuellen Bedeutung – Die Rolle der Stereotypen- und der Prototypensemantik in der grammatischen Konkretisierung Mit dem Einsetzen des Rechtsstreits verliert das, was man „Bedeutung“ nennt, die Selbstverständlichkeit, sozusagen die Unschuld. Nicht etwa, weil die Beteiligten Dazu auch Seelmann I, S. 100. Kursorische Beschreibungen von Sprache sind noch keine systematischen Analysen. Vgl. dazu Watkins-Bienz, S. 159. 472 Die Anforderungen rechtsstaatlicher Begründung stellen sich natürlich nicht nur für den Richter, sondern auch für den Gesetzgeber, der die Verfassung konkretisiert. Auch hier bedarf es einer tragfähigen Argumentation, wenn wie bei der Gebührenfestsetzung für den öffentlichrechtlichen Rundfunk gegenläufige Argumente von Rundfunk, Sachverständigen und Politik verarbeitet werden müssen. Vgl. dazu BVerfGE 119, S. 181 ff., 230, 239. 470 471
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vergessen hätten, „was die Wörter nun einmal bedeuten.“473 Sondern weil sie ganz genau wissen – im Sinn von: es dringend wünschen –, daß die Lesart ihres Gegners die falsche und ihre eigene die richtige sei. 351g
Im Rechtsstreit prallen zwei Momente von Sprache aufeinander: die Konventionalität und die Aktualität von Bedeutung. Die Aufgabe des Juristen im Rahmen der grammatischen Konkretisierung besteht darin, diesen Konflikt zu bewältigen. Beide Streitparteien berufen sich auf die Konventionen des Sprachgebrauchs und rechtfertigen so ihre jeweilige Lesart des Normtexts. Mit der Lesart des Gegners sei es dagegen umgekehrt, er verkenne die Gepflogenheiten der Sprachgemeinschaft. Das macht die semantische Lage des Rechtsstreits paradox: Die Kontroverse über Bedeutung ist nur auf Grund der Konventionalität von Sprache sinnvoll. Zugleich aber wird das, was die Konvention an „Geltung“ einbringt, durch den semantischen Konflikt in Frage gestellt; er dementiert gleichsam seine eigene Basis. Wie immer kann allein Praxis aus dem Paradox befreien, hier: die juristische Entscheidungsarbeit, die zugleich über sprachliche Bedeutung zu entscheiden hat. Um das zu verstehen, sollte man allerdings nicht in die tradierten semantischen Illusionen zurückfallen, Regeln stünden als objektive Erkenntnisinstanz zur Verfügung474. Denn möglich wird die geschilderte Situation überhaupt nur auf Grund der „Autonomie der sprachlichen Bedeutung“. Diese besteht darin, „daß jedes Wort und jeder komplexe Ausdruck auf neue und unerwartete Weise verwendet werden kann“475. In diesem Sinn bleibt es grundsätzlich offen, inwiefern eine Äußerung im Hinblick auf die Bedeutung der verwendeten Ausdrücke konventionell, also „buchstäblich“ gemacht wird, oder nicht476. Bedeutung ist nicht das von mir definierte Etwas, das ich sage; sondern etwas, was der Ausdruck besagt und wonach man sich daher richten sollte. Man hat es bei Konventionalität und Aktualität von Bedeutung nicht mit einer vorgegebenen Eigenschaft von Sprache zu tun, nicht einmal mit einer solchen des Handelns. Denn dieses Handeln kann auch immer darin bestehen, das Vorgegebene aufs Spiel zu setzen477. So gesehen, sind Konventionen in der Verständigungspraxis nicht mehr als „eine praktische Interpretationskrücke, und in der Praxis können wir es uns nicht leisten, ohne diese Krücke auszukommen – aber es ist eine Krücke, die wir unter optimalen Kommunikationsbedingungen zu guter Letzt fortwerfen und in der Theorie von vornherein hätten entbehren können“478. Konventionalität und Aktualität von Bedeutung können weder auseinander abgeleitet noch gegeneinander ausgespielt werden. Eben das macht das „Prinzip der AutoVgl. Davidson II, S. 9. Grundsätzlich dagegen Davidson III, v. a. S. 226 f. 475 Picardi, S. 45. 476 Dazu im ganzen Davidson VI. 477 Ein ausgezeichnetes Beispiel dafür ist die „konversationale Implikatur“ nach Grice I, S. 245 ff. 478 Davidson VI, S. 391 f. 473 474
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nomie der Bedeutung“ aus479, und nirgends wird das klarer als in der semantischen Praxis des Rechtsstreits. Es besteht keine linear gerichtete Beziehung zwischen Konventionalität und Aktualität; weder kann man diese auf jene reduzieren, noch produziert jene einfach die aktuelle Bedeutung. Man stellt sich besser eine intern genetische Beziehung vor, die auf beide Größen hin offen ist. In der Tat kann man den semantischen Kampf als punktuelle Umkehrung einer Konventionalisierung betrachten. Sprache ist in jedem Moment der Verständigung gewissermaßen in einer Schwebe zwischen Stagnation und Wandel: je nachdem, ob die Äußerung eher konventionell oder eher kreativ ausfällt.480 Um dabei Konventionalismus481 bzw. Intentionalismus zu vermeiden, kann man Konventionen einfach als Regelmäßigkeiten betrachten; sie ergeben sich aus den wechselseitigen Unterstellungen der miteinander kommunizierenden Sprecher und bleiben bis zum Moment ihrer Infragestellung aufrecht erhalten482. Wie fragil dieses Verhältnis ist, zeigt sich am normativen Druck, dessen es bedarf, um Sprecher zu Regularität zu veranlassen483. Sprechern geht es in der Regel nicht einfach darum zu sprechen. Vielmehr wollen sie mit ihren Äußerungen Ziele erreichen und dabei möglichst erfolgreich sein484. Somit ist auch „die Fähigkeit, einen Ausdruck in erfolgversprechender Weise zu verwenden, doch notwendig an intersubjektiv gültige Verfahren, d. h. an Verfahren einer ganzen Kommunikationsgemeinschaft (oder relevanter Teilgemeinschaften) gebunden“485. Zum Problem wird dies dann, wenn – wie etwa vor Gericht, in der Kommunikationskrise des förmlichen Verfahrens –486, das nicht ohne weiteres gelingt, weil über die Verwendungsweise gestritten wird. Das läßt umgekehrt darauf schließen, daß das in der kommunikativen Praxis Bewährte dazu fähig ist, auf dem Weg wechselseitiger Anpassungen konventionell zu werden, zur „Gepflogenheit“487. Konventionelle und aktuelle Bedeutung lassen sich nur mit Blick auf die jeweilige Verständigungssituation unterscheiden. Vorrangig ist, was der Sprecher in einer gegebenen Lage mit seiner Äußerung erreichen möchte.488 Ein konventionelles MoVgl. ebd., S. 385. Zu „Stase und Dynamik der Sprache“ Rudi Keller, S. 127 ff.; sowie Burkhardt I, S. 13 ff. 481 Die erste Position etwa bei Searle; die zweite z. B. bei Grice II, S. 2 ff. – Zum Problem Glüer II, S. 17 ff. Siehe auch die Kontroverse zwischen Davidson II und Dummett I; zu beiden Hacking sowie Dummett II. 482 Grundsätzlich Lewis; dazu auch Davidson VI, S. 387 f. 483 Vgl. Davidson VI, S. 390 f. 484 Zum Moment des sozialen Erfolgs als treibender Kraft Rudi Keller, S. 116 ff. 485 Busse X, S. 47. 486 Dazu Christensen / Sokolowski IV. 487 Im Sinn von Wittgenstein I, §§ 198 f. 488 Zum „notwendige(n) Primat des situationsgebundenen, d. h. ‚gemeinten‘ Äußerungsakts“ im Anschluß an Grice: Busse X, S. 45. 479 480
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ment solcher Äußerung läßt sich dann bestimmen als „Bezug auf Üblichkeiten, d. h. die Tatsache, daß Angehörige einer Sprachgemeinschaft, wenn sie einen bestimmten Ausdruck x äußern, mit diesem Ausdruck (bzw. seiner Äußerung) ‚normalerweise‘ etwas Bestimmtes übereinstimmend meinen“489. Damit ist die Klärung aber nur verschoben; denn nun fragt es sich, was man unter einem solchen Normalfall verstehen soll. Mangels einer Sprachinstanz, von der ein Zwang ausgehen könnte, liegt auch dies wiederum bei den Sprechenden. Das Normale verdankt sich allein der Neigung eines Sprechers, sich am Sprachgebrauch seiner Gemeinschaft zu orientieren, sich an das in ihr Übliche zu halten – in der Erwartung, daß es sich bei keinem der Beteiligten anders verhält490. Natürlich klingt das zirkulär. Es weist aber nur darauf hin, daß es sich bei der Konventionalität unumgänglich um eine Praxis handelt: „Hinter den Begriff der Praxis (oder der Übereinstimmung in einer Praxis) kann keine Definition von Sprachkonventionen zurückgehen.“491 Solche Praxis kann mit allen möglichen Prädikaten der Konformität spezifiziert werden, erklärt werden kann sie damit nicht. Man muß also den Realitäten der Verständigung zugestehen, „daß sich die sprachliche Kommunikation zwar häufig regelgeleitete Wiederholungen zunutze macht, dieser jedoch nicht notwendig bedarf; und in diesem Fall hilft die Konvention nicht zu erklären, was für die sprachliche Kommunikation grundlegend ist, obwohl sie vielleicht ein gewohntes, aber kontingentes Merkmal beschreibt“492. Das heißt, daß man mit dem Verweis auf Konventionalität nur ein bestimmtes Äußerungsverhalten beschreiben kann. Dem entspricht es, daß Konventionalität nur in Praktiken von Kritik, Korrektur und Einübung besteht. Daraus erklärt sich auch ihre Anfälligkeit dafür, von den Sprechern in ihrer aktuellen Äußerung modifiziert zu werden. Weder können, mit anderen Worten, Konventionen die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke verbindlich vorschreiben, noch verdankt sich diese einer bloßen Laune des kommunikativen Augenblicks. Vielmehr benützen die Sprecher ihre Erfahrungen und Fertigkeiten, um ihren Äußerungen Bedeutung zu „geben“. Zugleich steht diese aber, im Moment der Verständigung, in gewissem Sinn zur Disposition. Denn ob Sprecher genau so verstanden werden, wie sie sich äußern möchten, hängt ab davon, wie ihre Aussagen aufgenommen werden. Bedeutung ist ein komplex produktiver Vorgang, abhängig von den Fähigkeiten der Individuen, „sich rational, d. h. unter durch Wissen gestützter Verfolgung intersubjektiv erfolgversprechender Strategien kommunikativ zu verständigen“493. Daher werden Aussagen in der Regel nicht ins Blaue hinein getan. Der Sprecher macht sie, weil er etwas Bestimmtes zu sagen hat und damit auch ‚ankommen‘ will. Anders ausgedrückt, er „will verstanden werden. Also äußert er Worte, von denen er glaubt, daß sie in bestimmter Weise 489 490 491 492 493
Busse X, S. 45. Zu solcher „Bereitschaft“ bzw. „Disposition“ Grice III, S. 98 f. Busse X, S. 48. Davidson VI, S. 393. Busse X.
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interpretiert werden können und tatsächlich interpretiert werden“494. Verständigung ist ein Prozeß des Zusammenspiels von Theorien über die Beteiligten und die Umstände, mit der Bildung von Hypothesen darüber, was in der Situation kommunikativ wohl der Fall sein mag495. All das geschieht in einem sich ständig fortschreibenden Wechselspiel von „Ausgangstheorien“ hierüber; und dann von „Übergangstheorien“ zu der Frage, wie es sich, entsprechend den gegebenen Anzeichen und Hinweisen, aktuell damit wohl verhält496. Solche Anzeichen und Hinweise können nicht allein im Sprachlichen liegen. Überzeugungen und Bedeutungen erhellen sich im Austausch der Suche nach einem Sinn von Äußerungen497, so „daß Bedeutung nicht als eine eigenständige Entität anzusehen ist, die neben der Zeichenform steht und zwischen Ich, Zeichenform und Welt tritt“498. Was ein Sprecher ausdrücken will, hängt von den Überzeugungen ab, die er hegt. Denn „eine sprachliche Einheit (hat) nur im Kontext Bedeutung (…), wobei sprachliche Einheiten u. a. Wörter, Begriffe, komplexe Ausdrücke, Sätze, Überzeugungen oder Äußerungen sein können, während als Kontext u. a. Sätze, Sprachen, Theorien, Vokabulare, Überzeugungssysteme oder Äußerungszusammenhänge auftreten“499. Die Überzeugungen, diefür das Verstehen einer Aussage wichtig sind, erschließen sich aber zugleich aus der Bedeutung der Äußerung des Sprechers. Auch hier weist der Zirkel auf nichts anderes hin als auf das Ende der Begründungen auf dem „rauhen Boden“ kommunikativer Tatsachen500. Ebenso wie das Verhältnis von Konventionalität und Aktualität muß sich das Verhältnis des Ausdrucks zu seinem Gehalt im Licht der Interpretation seiner Äußerung erweisen. In dieser gegenseitigen Angewiesenheit aufeinander – und zugleich Offenheit füreinander – liegt der Auslöser für jene Dynamik des Verhältnisses von Konvention und Aktualität, die, in der Zeit gesehen, ihren Ausdruck im Sprachwandel und für die jeweilige Gegenwart ihren Ausdruck in der Offenheit von Bedeutung hat501. Das wird kaum irgendwo deutlicher als im semantischen Konflikt vor Gericht. Dort geht es um jene „terminologischen Prämien“502, mit denen auf dem Spiel steht, was rechtlich „Sache ist“503. Der eingefahrene Sprachgebrauch kann dazu zwar etwas beitragen. Allein ausschlaggebend sein kann er indes nicht, da er immer nur als Davidson III, S. 218. Davidson III, S. 218. 496 Davidson III, S. 217 ff. 497 Grundlegend dazu Davidson IV, S. 183 ff. 498 Burkhardt I, S. 10 f. 499 Mayer, V. II, S. 35. 500 Vgl. Wittgenstein I, § 107. 501 Zum ersten Burkhardt I, S. 12 ff. 502 Vgl. Strauss, A., S. 13 ff. 503 Allgemein zum Zusammenhang dieser Fragen Harras II, S. 27. – Sowohl grundsätzlich als auch konkreter (am Beispiel des Zivilprozesses) zum semantischen Kampf vor Gericht: Goebel, S. 18 ff., 184 ff. u. durchgehend. 494 495
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einer von mehreren Faktoren für die „Spezifizierung der Bedeutung“504 im Dienst der grammatischen Argumentation eine Rolle spielt. „Bedeutungen sind einfach nicht im Kopf“505; und sie geben auch keine den Sprechern „gemeinsame Methode oder Theorie der Interpretation“ ab oder eine „Grundlage gemeinsamer Konventionen, Regeln oder Regelmäßigkeiten“506. Sie sind nicht die Voraussetzung für Interpretation und Verständigung; sondern jeweils nur deren Ergebnis in Gestalt der Überzeugungen davon, was ein Sprecher mit seiner Äußerung sagen will oder was die Verwendung eines Zeichens in einem Text ausdrücken mag. Das weist wieder auf die „Bestimmer“ von Bedeutungen hin, „die Welt und die anderen Menschen“507; auf die Sprechergemeinschaft mit ihren – jeweils – als verbindlich und normal postulierten Überzeugungen508. „Bedeutung“ ist nicht ein für alle Mal gegeben. Der Sprachgebrauch wandelt sich mit der Welt: „Selbst wenn ein Sinn noch so weit hergeholt ist, daß er eigentlich schon ‚abweichend‘ ist, kann er noch einen deutlichen Bezug zum Hauptsinn haben. Zum Beispiel könnte es sein, daß ich sage: ‚Hast du die Zitrone gesehen?‘ und damit jene Plastikzitrone meine.“509 Diese ist eine „Zitrone“ und ist es doch wieder nicht. Das merkt man spätestens dann, wenn man jemanden davor bewahren muß, hinein zu beißen. Ähnlich verhält es sich, um ein weiteres Standardbeispiel Putnams zu nennen, wenn man einen „Tiger“ als Spielzeug bezeichnet, nur weil es solche auch als Stofftiere für Kinder gibt510. Man sähe es, aufs Ganze, sicher nicht gern, wenn sich diese Meinung durchsetzen würde. Denn spätestens bei der Begegnung mit einem „echten“ Tiger könnte sich das verhängnisvoll auswirken.511 Die Bedeutung eines Ausdrucks kennen, eine Äußerung zu Recht beim Wort nehmen, heißt also, die richtigen Dinge dazu sagen zu können. Und die „richtigen“ Dinge sagen heißt, sich dem zu fügen, was in der jeweiligen Sprachgemeinschaft „stereotyp“ anerkannt wird. Jemand der etwa „weiß, was ‚Tiger‘ bedeutet“, sollte in der Lage sein, auf Verlangen so etwas zu sagen wie, daß es sich dabei um einen Vierbeiner, ein Säugetier, um eine große, gestreifte Raubkatze handelt512. Dieser Beweis sprachlicher Kompetenz gegenüber anderen Sprechern bedeutet nun nicht, daß die fraglichen Bedeutungsmerkmale von „Tiger“ begriffsnotwendig seien oder, was Dazu Bertram II, S. 134 f. Putnam IV, S. 37. 506 Davidson III, S. 226. Dazu Krämer, S. 97 ff., 119 ff. 507 Vgl. Putnam IV, S. 98. 508 Zum konsequent praktischen Begriff von „Bedeutung“ als „Erklärung der Bedeutung“ Wittgenstein I, § 560; ders. IV, §§ 23 ff.; ders. V, S. 15. Vergleichbar auch Putnam IV, S. 94. 509 Putnam IV, S. 52 f. 510 Zu der mit den Parallelbeispielen anklingenden Frage nach der Semantik natürlicher Arten in Hinblick auf die Lexik von Wörtern Putnam V, S. 147 ff. 511 Zu Putnams Stereotypenkonzept im juristischen Kontext Wittmann sowie – vor allem in Hinblick auf juristische Referenzfixierung – Jeand’Heur IV, S. 139 ff. 512 Putnam IV, S. 66 f.; Harras II, S. 27. 504 505
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auf dasselbe hinausläuft, unbedingt tatsächliche Eigenschaften von Tigern sein müßten: „Dreibeinige oder albinische Tiger sind keine logisch unmöglichen Entitäten.“ Und „verlören Tiger ihre Streifen, so verlören sie damit nicht ihre Tigerheit“513. Bedeutung ist eine durchweg soziale Angelegenheit514. Sie ist dem unablässigen kommunikativen Treiben der Sprechergemeinschaft ausgesetzt, das immer auch an Sprache arbeitet. Stereotype geben jene Folie ab, auf der sich das Wechselspiel von Konventionalität und Aktualität im Hinblick auf konkret gegenwärtige Äußerungen vollziehen kann. Auf der einen Seite „(können) sich in ihnen sprecherabhängige Beschreibungen“ zu allgemein gepflogenen Normalfällen „verdichten“515. Sie verweisen dann auf „Eigenschaften, die (…) charakteristisch, ‚normal‘“ sind516. Zugleich kann sich der Sprecher aktuell auf alles Mögliche beziehen, solange noch irgend ein Zusammenhang zum Stereotyp erkennbar ist. Denn die in einem Stereotyp als Normalfall versammelten Faktoren kommen den entsprechenden Gegebenheiten nicht notwendig zu. Sie sind nur das, was die jeweilige Gemeinschaft sprachlich aus ihrer Welt macht: jeweils „eine konventional verwurzelte“, in gewisser Weise aber auch „möglicherweise völlig aus der Luft gegriffene … Meinung darüber, wie ein X aussehe oder was es tue oder sei“517. „Da sie Meinungen darstellen, die in einer Sprachoder besser: Kulturgemeinschaft bei ihren Mitgliedern vorherrschend sind, beziehen sich die Informationen, die in den Merkmalen wiedergegeben werden, in erster Linie auf Sichtweisen, die die Menschen von den Dingen haben und die in ihrer Sprache konventionalisiert sind und nicht auf Eigenschaften, die als gegeben angenommen und in Bedeutungsbeschreibungen sozusagen nur abgebildet werden.“518 Insofern lassen sich, für die Rechtsarbeit besonders wichtig, Stereotype auch komplexeren Sach- und Sozialverhalten wie etwa dem des „Intellektuellen“519 zuschreiben. Ein Intellektueller ist eine „Person“, „die wissenschaftlich oder künstlerisch gebildet ist, geistig arbeitet und deren Lebensform im Unterschied zu der anderer Menschen besonders stark von Reflexion, theoretischer Erörterung und analytischem, kritischem Denken geprägt ist“. „Intellektueller“ zu sein bedeutet so unter anderem, „Umwelt eher verstandesmäßig (zu) betrachten und eine Neigung zur kritischen Distanz gegenüber gesellschaftlichen Vorurteilen und Traditionen (zu) haben“. Als „Intellektuelle“ bezeichnet man häufig Menschen, die dazu neigen, „den Verstandeskräften den Vorrang gegenüber Willen, Gemüt, Gefühl und dem
Putnam IV, S. 68. Siehe entsprechend zum Stereotypenbegriff Putnam IV, S. 64 ff. 515 Vgl. Jeand’Heur IV, S. 140. 516 Putnam IV, S. 41. 517 Putnam IV, S. 68. 518 Harras II, S. 28 f. 519 Zum Folgenden ausführlich Harras II, S. 37 ff. Reiches Anschauungsmaterial zur Praxis der dort angestellten bedeutungstheoretischen Überlegungen findet sich in dem Wörterbuch Strauß / Haß / Harras. 513 514
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Unbewußten sowie gegenüber dem praktischen Tätigsein zu geben.“ Das wiederum heißt, daß Intellektuelle dazu neigen, „menschliches Handeln, geschichtliche Vorgänge und geistige Schöpfungen hauptsächlich oder ausschließlich auf verstandesmäßige Erwägungen bzw. Ursachen zurück(zu)führen.“ Sie sind von daher oft „‚gefühlskalt‘, ‚gefühlsarm‘, ‚gefühllos‘, ‚empfindungslos‘, ‚unsensibel‘ oder ‚übertrieben rational (eingestellt)‘“ und vor allem „weltfremd“. Erkennbar zeigt dieses Beispiel Züge, die etwa dem im Kommentar auf dem Weg zur Bedeutung nachblätternden Juristen ganz geläufig sind: Stereotype sind oft komplex strukturiert. Ihre Bestandteile können nicht nur in einem gegenseitigen Erläuterungsverhältnis stehen, sondern auch gegenläufige oder widersprüchliche Momente enthalten (beispielsweise dann, wenn einerseits Intellektuelle als Bewohner von Elfenbeintürmen angesehen werden, ihnen aber auf Grund ihrer analytischen Fähigkeiten andererseits eine hohe Verantwortung für die Gesellschaft zugemessen wird). Angesichts dessen fragt es sich, wie Stereotypen dann überhaupt noch semantisch die Rolle von Leitbildern spielen können. Wie kann es kommen, daß etwa „Pinguine“ durchaus als „Vögel“ gelten, obwohl sie nicht fliegen können, sondern vielmehr schwimmen? Oder wie ist es möglich, daß jemand Wale als „Fische“ bezeichnet – wider das bessere Wissen, daß sie genau so Säugetiere sind wie etwa Tiger520. Offenbar läßt sich das nicht so erklären, daß sie einen dem Spiel der kommunikativen Kräften entzogenen, für alle Beteiligten schulmäßig verbindlichen Bedeutungs „kern“ enthielten, in dessen peripherem Pausen„hof“ allenfalls die semantischen Spielereien einzelner Sprecher stattfinden können. Eine solche Auffassung wurde schon von Wittgenstein anhand des Begriffs des Spiels zugunsten des Konzepts der „Familienähnlichkeit“ eindrücklich widerlegt, das die Quintessenz der Stereotypensemantik auf den Punkt bringt: „Betrachte z. B. einmal die Vorgänge, die wir „Spiele“ nennen. Ich meine Brettspiele, Kartenspiele, Ballspiel, Kampfspiele, usw. Was ist allen diesen gemeinsam? – Sag nicht: „Es muß ihnen etwas gemeinsam sein, sonst hießen sie nicht ?Spiele‘ – sondern schau, ob ihnen allen etwas gemeinsam ist. – Denn wenn du sie anschaust, wirst du zwar nicht etwas sehen, was allen gemeinsam wäre, aber du wirst Ähnlichkeiten, Verwandtschaften, sehen, und zwar eine ganze Reihe. Wie gesagt: denk nicht, sondern schau! … Ich kann diese Ähnlichkeiten nicht besser charakterisieren als durch das Wort ‚Familienähnlichkeiten‘; denn so übergreifen und kreuzen sich die verschiedenen Ähnlichkeiten, die zwischen den Gliedern einer Familie bestehen: Wuchs, Gesichtszüge, Augenfarbe, Gang, Temperament, etc. etc. – Und ich werde sagen: die ‚Spiele‘ bilden eine Familie.“521 Wittgensteins Antwort ist, wie nicht anders zu erwarten, der Verweis auf eine Praxis: „Und gerade so erklärt man etwa, was ein Spiel ist. Man gibt Beispiele und will, daß sie in einem gewissen Sinn verstanden werden. – Aber mit diesem Ausdruck meine ich nicht: er solle nun in diesen Beispielen das Gemeinsame sehen, welches ich – aus irgend einem Grunde – nicht aussprechen konnte. Sondern: er 520 521
Zu Standardbeispielen der Prototypensemantik Harras II, S. 28 f. Wittgenstein I, §§ 66 f.
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solle diese Beispiele nun in bestimmter Weise verwenden. Das Exemplifizieren ist hier nicht ein indirektes Mittel der Erklärung – in Ermanglung eines Bessern. Denn, mißverstanden kann auch jede allgemeine Erklärung werden. So spielen wir eben das Spiel. (Ich meine das Sprachspiel mit dem Wort ‚Spiel‘.)“522 Das führt zu der weiteren Frage, wie ein Begriff seine Rolle für eine wirksame Unterscheidung überhaupt noch spielen kann. Doch wohl nur so, daß in der Reihe aller möglichen „Exemplifizierungen“ von Bedeutung einige Beispiele zentraler sind als andere, die man ebenfalls anführen könnte523. Für die Frage, ob sich der Sprecher noch im semantisch Machbaren, sprich Verständlichen und Nachvollziehbaren bewegt, liefern diese dann Ansatzpunkte für eine Beurteilung als abweichend, abstrus, verfehlt oder unsinnig. Eine Meise oder ein Rotkehlchen ist für uns zweifellos ein besseres Beispiel für einen Vogel als ein Pinguin, ein Tiger oder Affe ein besseres für ein Säugetier als ein Wal. Daran wird man sich orientieren, wenn es darum geht, schwierige und zweifelhafte Fälle einzuordnen524. In diese Bresche (entstanden durch das Versagen der „realistisch“ wie der „idealistisch“ bereits vorgegebenen Kategorisierungen) tritt die Prototypensemantik ein, die an das Konzept der Familienähnlichkeit anknüpft. Mit der Stereotypensemantik teilt sie eine ganz auf die Verständigungspraxis aufbauende Bedeutungstheorie. Kategorien sind demnach vom Verhalten der Sprecher abhängig. Ursprünglich wurden sie aus der empirisch-psychologischen Untersuchung der Reaktionen von Probanden gewonnen525. Dabei stellte sich heraus, daß das Einordnen der angebotenen Beispiele den einen oder anderen teils leichter, teils schwerer fiel. Das sollte dann den Stellenwert der entsprechenden Beispiele für die Bildung einer Kategorie, eben eines „Prototyps“, einschätzen lassen. So gesehen, entspricht die Prototypensemantik der Einsicht des inneren Zusammenhangs von Bedeutungen und Überzeugungen. Angesichts ihrer von Fall zu Fall feststellbaren Unsicherheit und Offenheit ist sie eine graduelle Semantik. Beispiele können immer nur mehr oder weniger prototypisch sein; und die Übereinstimmung der Sprecher in dieser Frage ist, wie schon Wittgenstein schrieb, lediglich eine „in den Urteilen“526. „Categories can be viewed in terms of their clear cases if the perceiver places emphasis on the correlational structure of perceived attributes such as the categories are represented by their most structured portions. By prototypes we have generally meant the clearest cases of category membership defined operationally by people’s judgements of goodness of membership in the category.“527 Wittgenstein I, § 71. Zum Problem des Zusammenhangs von „Familienähnlichkeit und prototypische(r) Struktur“: Kleiber, S. 118 ff. 524 In diesem Zusammenhang auch Kilian. 525 Siehe hierzu etwa die Arbeiten von Rosch I; dies. II; dies. III.; dazu Mangasser-Wahl, S. 15 ff.; eingehende Darstellung bei Kleiber sowie bei Harras II, S. 45 ff. 526 Vgl. Wittgenstein I, § 242. 527 Rosch III, S. 36. 522 523
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Die zunehmende Konsequenz dieser Einsicht bestimmte dann auch die weitere Entwicklung der Prototypentheorie. Zusammenfassend ergibt sich inzwischen folgende Charakteristik: „(1) Kategorien haben bestimmte Mitglieder, die als repräsentativer angesehen werden als andere, z. B. (…) ist ein Rotkehlchen für einen Amerikaner ein repräsentativeres Beispiel für die Kategorie Vogel als ein Huhn oder ein Pelikan (bei uns wäre das wohl der Spatz!). Die als am repräsentativsten angesehenen Mitglieder einer Kategorie werden auch Prototypen genannt. (2) Dementsprechend ist Kategorienzugehörigkeit keine Sache von notwendigen und hinreichenden Bedingungen, sondern bestimmt durch Bündelungen von Eigenschaften, die die repräsentativsten Kategorienmitglieder charakterisieren, wobei aber keine dieser Eigenschaften notwendig und hinreichend für die Kategorienfestlegung sein muß. … Es ist möglich, daß keines der Mitglieder einer Kategorie alle in einer Bündelung zusammengefaßten Eigenschaften aufweist; einige Eigenschaften können jedoch wichtiger sein als andere. (3) Repräsentative Mitglieder einer Kategorie dienen als kognitive Referenzpunkte für Inferenzen. (4) Kategoriengrenzen sind unbestimmt, d. h. es gibt neben den Zugehörigkeitsurteilen ‚gehört dazu‘ und ‚gehört nicht dazu‘ auch solche wie ‚unbestimmt‘, ‚weder noch‘, ‚bis zu einem gewissen Grad‘ usw. (5) Die Eigenschaften der repräsentativen Mitglieder bestimmen nicht die Kategorienzugehörigkeit insgesamt: Hühner, Pelikane, Vogel Strauße und ähnliches Getier sind ebenso Vögel wie Rotkehlchen oder Spatzen. (6) Bestimmte Kategorien sind grundlegender, ‚more basic‘ als andere“528. Für die juristische Frage, was denn nun die Worte des Normtextes „eigentlich“ bedeuten, ergibt sich aus alldem, auf einen Nenner gebracht, was Juristen immer schon wußten: Es kommt darauf an. Was bringt also die Prototypensemantik für die juristische Problemstellung? Sicherlich nicht eine Wiederbelebung des veralteten Gegensatzes von Begriffs „kern“ und Begriffs„hof“. Die linguistische Diskussion hat es erreicht, solche Alternativen zu überwinden und zwischen den beiden Oppositionen ein Drittes zuzulassen. Mit der Anerkennung eines Dritten (das im Unterschied zum Prototyp mit Wendungen wie „eine Art von“ gekennzeichnet werden kann) unterscheidet sie sich von der juristischen Konstruktion des Begriffskerns mit anschließendem Begriffshof, die noch immer die Entscheidung mit Hilfe einer unterstellten höheren Autorität der Sprache treffen will. Näher am Prototyp liegende Lesarten sind nicht etwa „besser“ als solche, die sich von ihm weiter entfernen. Die Frage ist allein, ob sich der Sprecher mit seiner Äußerung verständlich machen kann; inwieweit es ihm gelingt, zu sagen, was er zu sagen hat. Das aber ist eine Angelegenheit des kommunikativen Miteinander in der betreffenden Situation und nicht die einer vorgegebenen Bedeutung der dabei verwendeten Ausdrücke. Es betrifft die Bereitschaft und Fähigkeit der Sprecher aufzunehmen, wie sich der Einzelne zu dem äußert, was in der aktuellen Lage gerade „Sache ist“. Streit darüber ist – mangels eines dem Handeln der Sprecher entzogenen, ihm hierarchisch übergeordneten Codex von definitorischen Kriterien – gera528
Harras II, S. 51 f.
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dezu vorprogrammiert; jedenfalls dann, wenn, wie vor Gericht, die Interessen der Beteiligten entgegengesetzt sind. Denn hier ist jedes stillschweigende Übereinkommen bezüglich der Bedeutungen dann außer Kraft gesetzt. Auf Sprache als solche kann man ebensowenig autoritär bauen wie auf eine Anrufung der Welt; beides muß erst in der Entscheidungsarbeit geklärt werden. Gerade der Rechtsstreit als semantischer Konflikt zeigt, wie unsicher das Zitieren von „besten Beispielen“ für eine bestimmte Bedeutung jeweils ist. Prototypikalität ist nicht Voraussetzung für gelingende Verständigung in der Sache; sie ist erst ein Ergebnis erfolgreicher Äußerungsbemühungen der Sprecher. Anders ausgedrückt, „(verliert)“ das Moment der Prototypikalität „als reines Oberflächenphänomen … sein ursprüngliches definitorisches Merkmal ‚bester Vertreter aus Sicht der Sprecher‘“, welcher dann nur „noch als ‚zentral‘ bzw. ‚grundlegend‘ gilt“529. Die Beispiele, die eine Partei im Rechtsstreit anführt, brauchen nicht einmal in ihrer eigenen Sicht optimal zu sein; es genügt, wenn sie einigermaßen passen. Die Parteien nehmen wegen ihrer gegensätzlichen Interessen gegenläufige Semantisierungen in Anspruch; dagegen ist nichts zu sagen, sofern sie sich damit noch verständlich machen können. Die am Ende ergehende Entscheidung ist aber nicht eine auf Grund der vorgebrachten Bedeutungszuschreibungen, sondern eine über sie. Jede Semantisierung kann nur als Argument in die prozessuale Debatte geworfen werden. Die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke – in Gestalt von Bedeutungsbeschreibungen bzw. einer „Erklärung der Bedeutung“ – vermag jedenfalls, wie die Stereotypen- und die Prototypensemantik zeigen, keinen Grund dafür zu liefern, eine ihr konforme Verwendung des betreffenden Ausdrucks sei zwingend. Sie kann nicht einmal zuverlässig vorschreiben, was auch nur als ein konformer Gebrauch gelten könne. Jede einzelne Erklärung der Bedeutung eines Ausdrucks verkürzt bereits sprachliche Vielfalt. Die Semantisierung des Normtexts in Gestalt eines ihm beigelegten Wortsinns begründet nicht etwa eine Rechtsmeinung, sondern formuliert sie nur; sie ist also nicht Mittel der Argumentation, sondern deren Gegenstand. Der Jurist ist somit darauf verwiesen, Gründe für sie ins Feld zu führen. Juristisches Entscheiden ist, semantisch gewendet, Arbeit an der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke. Für die Semantik, auf die sich der Jurist festlegen muß (insofern ihm eine Entscheidung abverlangt wird), hat er zu argumentieren. Als Handwerkszeug dafür dienen die Canones und die hier entfalteten übrigen Konkretisierungselemente. Der Wortlaut des Gesetzes liefert eine – in demokratisch-rechtsstaatlicher Geltung stehende – Vorform des Texts der Rechtsnorm. Der Jurist kann nicht einfach mit Hilfe irgend einer unter den Bedeutungen des Normtexts entscheiden, er entscheidet vielmehr einen tatsächlichen Konflikt um die Bedeutung des Gesetzes. Dafür genügen nicht Sprachargumente allein, vielmehr braucht er Sachargumente im Plausibilitätsraum der Sprache. Diese werden aus der Konfliktperspektive des Verfahrens durch die Beteiligten geliefert. Die Beteiligten führen frühere Gerichtsentscheidungen, die Absichten der Legislative, den Stand der Dogmatik usw. ein, insofern dies dem An529
Entsprechend zur Entwicklung der Prototypentheorie zu dieser Einsicht: Kleiber, S. 1.
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schein nach für ihre Sache spricht. Solche Argumente müssen im Verfahren geprüft werden und den Stand der „Geltung“ (hier gebraucht im Sinn der Argumentationslehre) erreichen. Dann entscheidet der Richter zwar nicht an Hand einer dem Verfahren hierarchisch überlegenen, jedem Streit entzogenen Objektivität, aber dennoch objektiv im Sinn von: nicht subjektiv, nicht willkürlich. Die Prototypensemantik will und kann den Juristen die Entscheidung des Falles weder abnehmen noch auch nur eine absolute Grenze des Wortlauts vorgeben. Aber sie kann helfen, das relative Gewicht eines Arguments zu bestimmen: „Spricht der grammatische Kontext in hohem Maße für eine bestimmte Lesart, so können andere Kontexte nur ausnahmsweise eine entgegenstehende Lesart lege artis begründen. Ein solch großes Gewicht des grammatischen Arguments liegt insbesondere vor, wenn der Gegenstand, auf den eine Norm angewendet werden soll, ein Standardgebrauchsbeispiel der Verwendung eines Begriffs darstellt (…). Ist dagegen die Verwendung entweder eine untypische, nur im juristischen Sprachgebrauch folgende und auf Zweckerwägung beruhende, oder die gesetzliche Formulierung eher zufällig, können andere Kontexte um so eher das grammatische Element ausstechen.“530 322.111 Der Wortlaut von Gewohnheitsrecht 352 Konkretisierung beginnt üblicherweise mit der Suche nach dem sogenannten Wortsinn, nach dem sprachlichen Sinn des herangezogenen Normtextes. Das wurde hier anhand der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung erörtert. Schon dieses erste Element kann nur vermittelte Indizien für die Textbedeutung liefern, nicht etwa einen unvermittelten Rückgriff auf diese gewährleisten. Das wird auch bei der Konkretisierung von Verfassungsgewohnheitsrecht deutlich. Hier besteht die erste Aufgabe grammatischer Auslegung darin, die Textfassung des gewohnheitsrechtlich gel530 Christensen / Kudlich II, S. 376. In dem Text wird dies mit einem Beispiel erläutert: „So läßt etwa die h. M. im Strafrecht als Urkunde i. S. d. § 267 StGB jede verkörperte Gedankenerklärung genügen, die zum Beweis im Rechtsverkehr bestimmt oder geeignet ist und ihren Aussteller erkennen läßt. Darunter sollen auch sogenannte zusammengesetzte Urkunden fallen, die aus einem „Beweiszeichen“ und seinem Bezugsobjekt bestehen, also etwa das KfzKennzeichen mit dem zugehörigen Fahrzeug, das Preisschild mit der dazugehörigen Ware u. a. Nun ist ein in eine Plastikhülle eingeschweißtes Hemd mit einem schwer lösbar aufgeklebten Preisetikett sicher kein Standardgebrauchsbeispiel der Verwendung des Begriffs „Urkunde in der Alltagssprache“, sondern die Erweiterung des strafrechtlichen Urkundenbegriffs erfolgte nur mit Blick auf den Normzweck der Sicherheit des Rechtsverkehrs; dementsprechend ist die Abgrenzung gerade zwischen (für zusammengesetzte Urkunden ausreichenden) Beweiszeichen und bloßen Kennzeichen im einzelnen sehr streitig, und auch die Anforderungen an die ausreichend feste Verbindung zwischen Beweiszeichen und Bezugsobjekt (gerade im o. g. Fall der Ware mit Etikett) sind zweifelhaft, so daß jeweils das grammatische Argument des (hier ausschließlich strafrechtlichen) Sprachgebrauchs jeweils relativ leicht durch andere Kontexte überspielt werden kann. Soweit es sich dagegen um eine notariell gefertigte, mit einem Siegel versehene „Urkunde“ als einem der Standardgebrauchsbeispiele in der Alltagssprache handelt, wird der grammatische Kontext nur schwer durch andere Argumente überwunden werden können.“
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tenden Satzes festzuhalten, von der die konkretisierende Stelle ausgehen möchte. Da (Verfassungs-)Gewohnheitsrecht nicht über eine autoritativ festgelegte Sprachfassung verfügt, ist die (in einer kodifizierten Rechtsordnung funktionell der Legislative zuzurechnende) Aufgabe solcher Festlegung in jeden Konkretisierungsvorgang hineinzunehmen. In Praxis und Wissenschaft pflegen jeweils mehrere bestimmte oder auch seltener eine einzige Textfassung, formuliert und weitergegeben in gerichtlichen Entscheidungen, in Lehrbüchern oder Kommentaren, zur Grundlage der Konkretisierung anhand ungeschriebener Regeln gemacht zu werden. Das gilt zum Beispiel für die Formeln des vom Bundesverfassungsgericht behaupteten Gebots bundesfreundlichen Verhaltens oder für die Figur der verfassungskonformen Auslegung, soweit sie nicht nur als methodischer Aspekt, sondern als Gebot ungeschriebenen Verfassungsrechts behandelt wird. Auch in Fällen eines so gut wie festliegenden Textes von Gewohnheitsrecht ist die Textfassung, auf die sich Praxis und Wissenschaft geeinigt haben, im Sinn der Rechtsquellenlehre wie der verfassungsrechtlichen Rechtserzeugungsnormen weder autoritativ noch authentisch. Im Umfang der Uneinigkeit über eine einheitliche Textfassung von Gewohnheitsrecht vervielfachen sich im übrigen die Unsicherheiten grammatischer Auslegung. Das vorausgesetzt, ist Gewohnheitsrecht grundsätzlich wie geschriebenes Recht zu behandeln. Aus dem Mangel eines authentischen Textes ergeben sich noch einige leicht einsichtige Besonderheiten: Es fehlen Gesetzgebungsmaterialien und damit die Möglichkeiten genetischer Auslegung; und es tritt der Gesichtspunkt funktioneller Richtigkeit des Ergebnisses zurück, da es sich dann nicht um das Verhältnis von Regierung, Verwaltung oder Rechtsprechung zu einer Stelle handelt, die geschriebenes Recht in einem normativ vorgesehenen Verfahren setzt. Dogmatisch kann speziell Verfassungsgewohnheitsrecht als ausfüllende Ergän- 353 zung der Verfassung nur in Einklang mit deren Grundlagen und einzelnen Sätzen, nur praeter constitutionem bestehen. Das ist eine Folge aus der Entscheidung für ein kodifiziertes Verfassungsrecht und aus der Grenzfunktion geschriebener verfassungsrechtlicher Normtexte. Weder die Setzung noch die Konkretisierung von Unterverfassungsrecht und weder die Bildung noch die Konkretisierung von ungeschriebenem Verfassungsrecht dürften sich über die Grenzfunktion der Sprachgestalt der geschriebenen Verfassung hinwegsetzen.
322.112 Grammatische Auslegung und Typen von Normstruktur Die grammatische Interpretation geschriebenen (Verfassungs-)Rechts bestimmt 354 sich nach den verschiedenen Normtypen. Die grammatische Auslegung von Art. 22 oder 27 GG bietet relativ wenige, die der Rechtssätze des organisatorischen Teils meist geringere Schwierigkeiten als das grammatische Konkretisierungselement bei Grundrechten, bei verfassungsrechtlichen Fundamentalnormen wie Art. 20 oder selbst als bei den Kompetenzvorschriften der Art. 73 ff. GG. Die grammatische Auslegung wird übrigens für Art. 27 GG und Art. 22 GG oft weitgehend ausrei-
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chen. Das liegt nicht daran, wie herkömmlich vorausgesetzt wird, daß die Art. 22 und 27 GG „besonders klar formuliert“ wären. Sie sind, sprachlich und „grammatisch“ gesehen, nicht klarer gefaßt als etwa die Normtexte von Grundrechts- oder Kompetenzvorschriften. Die Unterschiede hinsichtlich ihrer Konkretisierbarkeit (schon ein beträchtliches Stück) mit den Mitteln grammatischer Interpretation liegen anderswo, in der strukturellen Verschiedenheit der Rechtsnormen. Weder für die Rechtsordnung insgesamt noch für die Verfassung kann undifferenziert von „der“ Rechtsnorm ausgegangen werden. Art. 22 und 27 GG sind nicht in dogmatischer, wohl aber in normtheoretischer Sicht sozusagen Einzelfallgesetze. Ihre Normbereiche sind von solcher Art, daß sie mit den Normtexten weitgehend individualisiert werden können. Durch Veränderungen im Normbereich von Art. 27 GG könnten unter Umständen Schwierigkeiten der Interpretation auftauchen, wenn etwa der Begriff des „Kauffahrteischiffs“ durch technische Entwicklungen zweifelhaft würde. In einem solchen Fall wäre nicht der grammatisch auszulegende Wortlaut von Art. 27 GG „unklar geworden“. Vielmehr hätte aufgrund faktischer Vorgänge das Normbereichselement abweichende Konturen angenommen und damit die Umsetzung von Art. 27 GG kompliziert. 355
Daß der Normtext des Art. 4 Abs. 1 GG („Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich“) dem Juristen „unklarer“, „weiter“ oder „unbestimmter“ erscheinen will als der des Art. 52 Abs. 1 GG („Der Bundesrat wählt seinen Präsidenten auf ein Jahr“), beweist nicht eine sprachliche („grammatische“) Differenz der Normtexte, sondern unter anderem die Wirksamkeit des (juristischen) Vorverständnisses. Einem Nichtjuristen erscheinen vor dem Hintergrund seines unspezifischen Vorverständnisses beide Sätze inhaltlich vielleicht gleich „klar“ oder „unklar“. Der Jurist vergleicht schon im Rahmen seines sachlich informierten und orientierten Vorwissens der Rechtsprobleme und der Normtexte die ihm in Umrissen oder in Einzelheiten bekannten Normbereiche der fraglichen Vorschriften mit deren Texten. Er stellt bereits bei dieser vorgeschalteten und vielfach unausdrücklichen Denkoperation erhebliche Unterschiede der Normstrukturen fest. Die jeweilige Eigenart der Normstruktur ist aber mit der des Normtextes sowenig gleichzusetzen wie allgemein die Norm mit ihrem Wortlaut.
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Die verhältnismäßig geringe methodische Ergiebigkeit vieler Normtexte – etwa auch der Kompetenzvorschriften in Art. 73 ff. GG (z. B. „die Kriegsschäden und die Wiedergutmachung“, „die Angelegenheiten der Flüchtlinge und Vertriebenen“, „die allgemeinen Grundsätze des Hochschulwesens“, „die allgemeinen Rechtsverhältnisse der Presse und des Films“) – liegt gleichfalls nicht an einer weniger „klaren“ oder „bestimmten“ Formulierung dieser Artikel. Sie liegt daran, daß bei den von „Materien“ ausgehenden Zuständigkeitsvorschriften, ähnlich wie bei Grundrechten, der Schwerpunkt praktischer Konkretisierungsfragen in den Normbereichselementen liegt. Auch Kompetenzvorschriften sind besonders stark sachgebundene Rechtsregeln. Das zeigt sich in gleicher Weise bei der Untersuchung ungeschriebener Kompetenznormen. So nimmt das Bundesverfassungsgericht eine ungeschriebe-
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ne Bundeszuständigkeit kraft Sachzusammenhangs dann an, „wenn eine dem Bund zugewiesene Materie verständigerweise nicht geregelt werden kann, ohne daß zugleich eine nicht ausdrücklich zugewiesene andere Materie mitgeregelt wird, wenn also ein Übergreifen in nicht ausdrücklich zugewiesene Materien unerläßliche Voraussetzung ist für die Regelung einer der Bundesgesetzgebung zugewiesenen Materie“531. Diese (im Sinn der Rechtsquellenlehre nicht authentische) Formulierung sieht sich gezwungen, ausschließlich auf Sachgesichtspunkte der fraglichen Materien zu verweisen. Es erstaunt nicht, daß die Vergleichbarkeit der Normstruktur, hier von Kompetenzvorschriften, nicht wesentlich davon abhängt, ob die Normen geschrieben sind oder nicht. Das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein eines authentischen Normtextes bringt nur die oben für den Unterschied von geschriebenem und ungeschriebenem (Verfassungs-)Recht entwickelten Unterschiede mit sich. Das zeigt sich auch an den sogenannten Standards im Verfassungsrecht. Die strukturellen Probleme ihrer Konkretisierung werden davon, ob sie geschrieben (z. B. Gleichbehandlungsgrundsatz aus Art. 3 Abs. 1 GG) oder ungeschrieben (Gebot bundesfreundlichen Verhaltens, Verhältnismäßigkeits-, Erforderlichkeits-, Bestimmtheitsund Geeignetheitsgrundsatz) sind, nicht entscheidend beeinflußt. Auch die verfassungsrechtlichen Spezialnormen bilden für grammatische Kon- 357 kretisierung strukturell kein einheitliches Bild. So sind Grundrechtsvorschriften, etwa die Freiheit der Wohnung und die der Wissenschaft, die Freizügigkeit oder die Freiheit von Glauben, Gewissen und Bekenntnis sprachlich recht verschieden stark abstrahiert. Das ist nicht darauf zurückzuführen, daß sie mehr oder weniger bestimmt formuliert wären. Es liegt daran, daß die garantierten Materien, ihre tatsächlichen Strukturen, ihre Objektivierbarkeit, der Grad ihrer Rechtserzeugtheit und rechtlichen Gestaltbarkeit, kurz, daß die jeweiligen Normbereiche verschieden sind. Bei all dem erweist sich die Ergiebigkeit grammatischer Auslegung als von der 358 Struktur der Norm abhängig. Das rührt nicht daher, daß die (strukturierte) Norm im Normtext substantiell vorhanden wäre. Die rechtlichen Wirkungspotentiale sind in den sprachlichen Elementen der Rechtssätze nicht enthalten. Juristische Begriffe verdinglichen nicht ihre Aussagen. Sie eignen sich, wie sprachliche Begriffe überhaupt, nur dazu, auf ihre Gebrauchsweisen und auf deren funktionale Abgrenzung untersucht zu werden. Der dogmatische Rechtsbegriff hat nur Zeichenwert532. In 531 BVerfGE 3, 407, 421; s. a. BVerfGE 12, 205, 237 f.; 15, 1, 20. – Grundlegend zur Kompetenzlehre Stettner; zu hier entwickelten Vorschlägen ebd., z. B. S. 1 ff., 301 ff., 376 ff., 378 ff., 404 f., 420 ff. u. ö. – Zu „Unbestimmtheit“ und „Kontrolldichte“ bei Normtexten über Kompetenzen: Knorr. – Eingehend zu Sachbereich und Normbereich von Kompetenzvorschriften, einschließlich der Bedeutung faktischer Änderungen in ihnen für die rechtliche Entscheidung, vgl. z. B. BVerfGE 106, 62 ff., 105 ff., 116 ff. (Altenpflege / „Heilberufe“); ebd., 158 ff.: Tatsachen als Grundlage für Prognosen. 532 So für die Rechtswissenschaft auch Esser II, S. 57. – Zum Verhältnis von Normstruktur, Normtext und Konkretisierung vgl. auch Huber II, bes. S. 182 ff. – Zu Alltagssprache und Gesetzesinhalt vgl. etwa BVerfGE 26, 16 ff. (Bundesversorgungsgesetz), 29 („Berufsgruppe“). – Zur Wortauslegung vgl. ferner Wüstendörfer, S. 139 ff.; Zippelius I, S. 53 ff., 106 ff. – Zu
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den damit abgesteckten Grenzen ist häufig zu beobachten, daß der (nur scheinbar eindeutige) grammatische Aspekt dazu zwingt, zwischen mehreren Gebrauchsweisen der verwendeten Begriffe, zwischen alltäglichen und juristischen und zum Teil auch zwischen verschiedenen juristischen Bedeutungen zu entscheiden. Das ist unter anderem deshalb legitim, weil auch die grammatische „Methode“ im Ergebnis nicht den Normtext, sondern die zu erzeugende Rechtsnorm anzielt. Schon hier muß über philologische Sinnerfassung des Normtextes hinaus das mögliche Normprogramm vorwegnehmend gedeutet und dabei unausgesprochen auf andere Elemente als das grammatische aufgegriffen werden. 322.113 Verflechtung grammatischer Interpretation mit anderen Elementen 359
Grammatische Auslegung steht entgegen dem ersten Anschein auch im zeitlich frühesten Arbeitsstadium nicht allein533. Das zeigt sich etwa am Beispiel des Streits um die verunglückte Verweisung in § 80a Abs. 3 Satz 2 VwGO: Der Wortlaut läßt sowohl eine Interpretation als Rechtsgrundverweisung als auch im Sinn einer Rechtsfolgenverweisung zu. Die Entstehungsgeschichte dieses Normtexts führt aber nach dem OVG Koblenz534 zu einem eindeutigen Ergebnis. Danach hat der Gesetzgeber die Vorschaltung eines behördlichen Verfahrens auf Abgabenangelegenheiten beschränken wollen. Die Systematik bestätigt dies. So verweist § 80a Abs. 3 Satz 2 VwGO nicht nur auf § 80 Abs. 6 VwGO, sondern pauschal auf § 80 Abs. 5 bis 8 VwGO. In bezug auf § 80 Abs. 5, 7 und 8 VwGO handelt es sich aber unbestritten um eine Rechtsgrundverweisung. Daher ist eine einheitliche Verweisung ohne Differenzierung im Wortlaut auch einheitlich auszulegen. Es handelt sich bei dem Verweis auf § 80 Abs. 6 um eine Rechtsgrundverweisung, der infolge eines Redaktionsversehens dann der Anwendungsbereich fehlt. Bei der Suche nach möglichen sprachlichen Sinnvarianten, die der Text in bezug auf den Fall anzeigt, wird bereits auf andere Elemente übergegriffen535. Schon die historisch erste Normbearbeitung in der „logischen Sekunde“ nach Erlaß einer Kodifikation (und ohne gleichzeitig publiziertes normatives und nicht-normatives Material wie Ausführungs- und Durchführungsvorschriften, Referentenkommentare usw.) geht nach aller Erfahrung bereits beim Versuch sprachlichen Verstehens über die grammatische Auslegung hinaus: mit dem Rückblick auf vergleichbare frühere Regelungen samt den entsprechenden Entscheidungen und Lehrsätzen; mit dem Normtext / Alltagssprache / Fachsprache: Schmidt I; Larenz I, S. 312 ff., 320 ff.; Rave / Brinckmann / Grimmer II; Podlech V. – Von der Gesetzgebungslehre her: Noll, S. 244 ff. 533 Darstellung der Verflechtung von grammatischer und systematischer Konkretisierung an einem konkreten Beispiel aus dem Baurecht bei Jeand’Heur XI, S. 1175 ff. – Dazu auch am Beispiel der Fortentwicklungsklausel in Art. 33 Abs. 2 GG: BVerfGE 119, S. 247 ff., 273. 534 OVG Koblenz, in: NVwZ-RR 2004, S. 224. 535 Vgl. als Beispiel BVerfGE 119, S. 331 ff., 351 f.
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Blick auf aktuell geltende verwandte, komplementäre oder gegenläufige Vorschriften und deren Wortlaute, um die Indizwirkung des betreffenden Normtextes zu kontrollieren; und wegen einer möglichen verfassungskonformen Auslegung auch auf das Grundgesetz. Nach der „logischen Sekunde“, im Normalfall, richtet sich der Blick des Juristen gleichzeitig (im Rahmen des juristischen Vorverständnisses übrigens auch vorweg) auf den Normtext und auf erläuternde nicht-legislative Texte, nämlich auf einschlägige Rechtsprechung, auf Kommentar-, Lehrbuch- und monographische Literatur. Die nicht-legislativen Texte aus Rechtspraxis und Rechtswissenschaft beschränken sich nicht darauf, die Formulierung der zu deutenden Vorschrift zu wiederholen. Evoziert und begrenzt durch die vom Normtext angesichts des Falls noch gedeckten Sinnvarianten entwerfen sie konkretisierend, präzisierend und fortentwickelnd mit Hilfe eigenständiger Texte (der Texte der Entscheidungen, der Lehrbücher, Kommentare und Monographien selbst) mögliche Leitsätze (Textformulierung möglicher Rechtsnormen) im Spielraum der fraglichen Vorschrift. Vor dem Hintergrund der bis heute vorherrschenden Grundposition juristischer Methodik müßte dieser Sachverhalt den praktisch arbeitenden Juristen bei hinreichender Reflexion des eigenen Tuns befremden. Vor dem Hintergrund der über den Gesetzespositivismus hinausgehenden Methodik erscheint dieser Sachverhalt dagegen unumgänglich und legitim. Ein Beispiel bietet etwa die herkömmlich so genannte teleologische Reduktion. Mit ihr können vom Wortlaut her mögliche Lesarten eingeschränkt werden, wenn ein bestimmter Schutzzweck es rechtfertigt. Aber das gilt eben nur, wenn der Schutzzweck deutlich diese Einengung fordert. Dazu bedarf es einer genauen Bestimmung des Zwecks, woran, wie im folgenden Beispiel, eine teleologische Reduktion scheitern kann: Es geht dabei um die Frage, ob die Rücknahmefrist des § 48 Abs. 4 VwVfG auch zwischen Trägern öffentlicher Verwaltung Anwendung findet. Für das OVG Münster sind diese Zweifel unangebracht. Der Wortlaut gebe für einen eingeschränkten Geltungsbereich des Gesetzes keinen Anhaltspunkt. Allein aus Sinn und Zweck lasse sich im Weg teleologischer Reduktion eine Beschränkung des Anwendungsbereichs herleiten. Die Rücknahmefrist dient aber aus Sicht des Gerichts nicht allein dem schutzwürdigen Vertrauen in den Bestand eines rechtswidrigen Verwaltungshandelns. Da es sich bei der Frist um eine Entscheidungsfrist handelt, geht es bei der Fristgebundenheit auch um die im Interesse der Rechtssicherheit nötige Klarstellung, ob und von welchem Zeitpunkt an der jeweilige Rücknahmefall endgültig abgeschlossen ist. Auf den im Rechtsstaatsprinzip wurzelnden Grundsatz der Rechtssicherheit können sich danach auch Hoheitsträger berufen, deren Handeln auf rechtsbeständiger Grundlage aufbauen muß536.
536 OVG Münster, in: NWVBl. 2008, S. 34. – Eine gelungene teleologische Reduktion findet sich dagegen in: BVerwG, in: NVwZ 2005, S. 1083, 1084, sowie VGH Mannheim, in: NVwZ 2007, S. 296.
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3 Juristische Methodik – 32 Konkretisierungselemente
322.114 Der Wortlaut zweiter Ordnung 359a
Wenn man die gerichtliche Praxis der grammatischen Auslegung aufmerksam beobachtet, wird sogleich ein grundlegender Zusammenhang deutlich. Ein Gericht ist keine triviale Maschine, welche auf Input mit Output reagiert. Dieses mechanistische Paradigma ist längst überholt. Ein Gericht ist vielmehr eine nicht-triviale Maschine, welche ihren eigenen Output immer wieder zum Input macht und dadurch in ihrem eigenen Handeln einen Zusammenhang erzeugt537. Für die grammatische Auslegung heißt das, daß die Gerichte nur bei neuen Begriffen, die sie bisher noch nicht bearbeitet haben, auf Wörterbücher oder auf die eigene Sprachkompetenz zurückgreifen538. Bei Vorschriften, die eine stabile Dogmatik aufweisen, wird dagegen nicht mehr die Sprache beobachtet, sondern das eigene Tun539. Hier tauchen zur Bedeutungsbestimmung die eigenen Entscheidungen des Gerichts auf. Ein Beispiel für einen derartigen Bestand an stabiler Dogmatik bietet im Grundgesetz etwa der Art. 33 Abs. V. Wenn das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zur Beihilfefähigkeit von stationären Wahlleistungen540 den sprachlichen Gehalt von Art. 33 Abs. V GG erläutert, bezieht es sich auf eigene Entscheidungen: „Art. 33 V GG ist unmittelbar geltendes Recht (vgl. BVerfGE 8, 1 [11 ff.]; BVerfGE 9, 268 [286]; BVerfG 11, 203 [210]) und enthält einen Regelungsauftrag an den Gesetzgeber (vgl. BVerfGE 15, 167 [196]) sowie eine institutionelle Garantie des Berufsbeamtentums. Darüber hinaus begründet die Norm ein grundrechtsgleiches Recht der Beamten, soweit ein hergebrachter Grundsatz ihre persönliche Rechtstellung betrifft (vgl. BVerfG 8, 1 [11 f.]; BVerfGE 43, 154 [167]; BVerfGE 64, 367 [375]). Mit den hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums im Sinne des Art. 33 V GG ist der Kernbestand von Strukturprinzipien gemeint, die allgemein oder doch ganz überwiegend während eines längeren traditionsbildenden Zeitraums, mindestens unter der Reichsverfassung von Weimar als verbindlich anerkannt und gewahrt worden sind (vgl. BVerfG 8, 332 [343]; BVerfGE 70, 69 [79]; BVerfG 83, 89 [98]). Hierzu gehören die Fürsorgepflichten (vgl. BVerfGE 43, 154 [165 f.]; BVerfGE 46, 97 [117]; BVerfGE 83, 89 [100]) und das Alimentationsprinzip (vgl. BVerfGE 8, 1 [14, 16 ff.]; BVerfGE 76, 256 [298]; BVerfGE 99, 300 [314]).“541 537 Vgl. hierzu als Beispiel das allgemeine Persönlichkeitsrecht, welches vom Gericht in BVerfGE 118, S. 1 ff., 29 mit folgendem Argument profiliert wird: „Das Bundesverfassungsgericht geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass wegen der besonderen Nähe zur Menschenwürde ein Kernbereich privater Lebensgestaltung als absolut unantastbar geschützt ist“. (Vgl. BVerfGE 6, 32 [41]; 6, 389 [433]; 27, 344 [350 f.]; 32, 373 [378 f.]; 34, 238 [245]; 35, 35 [39]; 38, 312 [320]; 54, 143 [146]; 65, 1 [46]; 80, 367 [373 f.]; 89, 69 [82 f.]; 109, 279 [313].) 538 Vgl. zum Abstellen auf den juristischen Fachsprachgebrauch BVerfGE 103, 111, 139. Als Beispiel für die Verwendung von Wörterbüchern vgl. BVerfGE 106, 62, 108. 539 Dadurch kommt das Gericht immer wieder in die Lage, sich selbst interpretieren zu müssen. Vgl. dazu BVerfGE 119, S. 181 ff., 226. 540 Vgl. dazu BVerfG, in: NVwZ 2003, S. 720 ff. 541 BVerfG, in: NVwZ 2003, S. 720 ff., 721.
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Ein weiteres Beispiel liefert der mit der Nassauskiesungsentscheidung geschaffene Begriff der Inhaltsbestimmung im Unterschied zur Enteignung. Dieser Begriff wird seither auf dem Weg über Zitatketten fortgeführt542, immer wieder gegen die Kritik der Literatur verteidigt543 und nur in Randbereichen präzisiert544. Neben diesen wohlbekannten Beispielen aus dem Verfassungsrecht lassen sich natürlich entsprechende Entwicklungen auch im einfachen Recht nachweisen: wie etwa die Frage, ob ein privater Unternehmer, wenn er in die Eingriffsverwaltung eingeschaltet wird, als Beamter im haftungsrechtlichen Sinne gilt. Der Bundesgerichtshof hat das zu Beginn der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts bejaht und seither fortgeführt545. 322.12 Historische, genetische, systematische und teleologische Elemente 322.121 Abgrenzung der historischen von der genetischen Interpretation In Lehre und Rechtsprechung werden diese beiden Elemente nicht selten mitein- 360 ander vermengt. So bezeichnet etwa das Bundesverfassungsgericht546 die Auslegung aus „Gesetzesmaterialien und Entstehungsgeschichte“ als „historische“. Korrekt heißt diese Auslegung, von der das Gericht spricht, die genetische. Die historische ist dagegen die rechtsgeschichtliche (gesetzgebungsgeschichtliche) anhand der Texte von Normvorläufern, Normvorbildern als Antwort auf die Frage: Wie war das denn früher geregelt? Die historische Auslegung arbeitet also mit (a) Normtexten, und zwar (b) mit anderen Normtexten als den im vorliegenden Fall zu bearbeitenden, nämlich mit früheren, nicht mehr geltenden Wortlauten. Von der systematischen Auslegung, bei der ebenfalls andere Vorschriften vergleichend herangezogen werden, unterscheidet sich die historische dadurch, daß außer Kraft gesetzte Normtexte sowie mit ihrer Hilfe entwickelte Rechtsnormen mit gleichem, ähnlichem oder zumindest funktionell vergleichbarem Normprogramm, und zwar aus älteren Zeitabschnitten, in die Überlegung eingeführt werden. Die genetische Auslegung arbeitet mit (a) Nicht-Normtexten (Diskussionen, Überlegungen, Entwürfe, Parlamentsreden, Ausschußberichte, amtliche Begründungen) aus der rechtspolitischen Debatte,
542 543 544 545 546
Vgl. dazu BVerfG, in: DVBl. 2007, S. 1555 ff., 1557. Vgl. etwa BVerfG, in: NJW 1999, S. 287 ff. BVerfG, in: NVwZ 2007, S. 1168 ff.; BVerfG, in: NVwZ 2005, S. 1412 ff., 1414. Vgl. BGH, in NJW 2005, S. 286 ff., 287. BVerfGE 11, 130 und st. Rspr.
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vor allem aber aus den Verhandlungen der legislativen Gremien; und zwar betreffen diese Texte (b) die Entstehungsgeschichte und Gesetzgebungsmaterialien derselben Normtexte, nämlich der im Fall zu bearbeitenden. Als Beispiel soll die Konkretisierung der Art. 73 ff. GG dienen. Bei genetischer Auslegung wird die Frage gestellt: Was wurde zum fraglichen Problem im Parlamentarischen Rat (und in den Verhandlungen von Herrenchiemsee) gesagt? Die historische Auslegung argumentiert aus Inhalt und Typik der Kompetenzverteilung zwischen Reich und Ländern nach der Weimarer Reichsverfassung (oder ggf. auch nach der Reichsverfassung von 1871). 361
Gegen die dargestellte Unterscheidung von historischem und genetischem Konkretisierungselement wendet sich in der neueren Diskussion Schroth547 mit dem Einwand, das Verstehensobjekt, die Handlung des Gesetzgebers, sei bei beiden Elementen dasselbe. Betrachtet man dieses „Verstehensobjekt“ aber näher, wird der Einwand fragwürdig. Daß es einen einheitlichen und homogenen Willen des Gesetzgebers als Gegenstand des Verstehens nicht gibt, muß auch Schroth einräumen. Wenn er an die Stelle des gesetzgeberischen Willens dann aber die Handlung der Legislative setzen will, hat er das Problem fehlender Homogenität der Bezugsgröße aber noch nicht überwunden. Vielmehr setzt er nur einen moderner klingenden Namen an die Stelle des alten. In der Sache ist demgegenüber ein Fortschritt erst dann möglich, wenn die Illusion einer einheitlichen Bezugsgröße der historischen beziehungsweise genetischen Auslegung aufgegeben ist und die in den Materialien zu findenden Äußerungen als diskursives Netz, als diskursive Strategie in den Zusammenhang einer Semantik kompetitiven Handelns eingeordnet werden. Die im Umkreis der „Paktentheorie“ unternommenen Versuche, Einzeläußerungen von Parlamentariern anhand der Mehrheitsregel, der Zuordnung zu Meinungsgruppen usw. zu gewichten, weist schon innerhalb der bisherigen Debatte in diese Richtung548. Diese Ansätze gilt es auf dem Weg über sprachtheoretische Reflexion zu entfalten. Wenn sich die Fiktion eines einheitlichen Objekts des Verstehens damit auflöst, zeigt sich als dessen eigentlicher Gegenstand der Normtext. Im Verlauf der Konkretisierung werden zu ihm Kon-Texte erschlossen, die es voneinander abzuschichten und entsprechend ihrer Nähe zum fraglichen Normtext zu gewichten gilt. In diesem Rahmen von Relationen ist auch die Unterscheidung von historischem und genetischem Konkretisierungselement berechtigt. Schroth I, S. 78 ff. Vgl. zur Paktentheorie: Baden I, S. 378 und ff. Entscheidend ist dabei der von der Strukturierenden Rechtslehre entwickelte Gedanke, daß Gesetzgebung auf Normtextsetzung beschränkt ist und keine Rechts- oder Entscheidungsnormen produzieren kann. Zwar werden in der politischen Diskussion in den gesetzgebenden Körperschaften schon einzelne Rechtsnormen und Entscheidungsnormen vorwegnehmend durchdacht. Aber das ist lediglich Anknüpfungspunkt für die genetische Auslegung. Vgl. dazu Müller XXII, S. 88 ff.; sowie aus der Sicht der angelsächsischen Tradition Maley S. 31: „Methods of interpretation interact with methods of drafting.“ 547 548
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322.121.1 Das Risiko des Zirkelschlusses Die historische Auslegung kann, wenn sie oberflächlich und global durchgeführt 361a wird, in einen Zirkelschluß führen. Zum Beispiel die Diskussion um das materielle Prüfungsrecht des Bundespräsidenten kann das deutlich machen. Die Gegner einer materiellen Prüfungsbefugnis weisen besonders nachdrücklich auf die gegenüber dem Reichspräsidenten der Weimarer Reichsverfassung geschwächte Stellung des Bundespräsidenten hin, den das Grundgesetz in die Rolle des repräsentativen Staatsoberhaupts zurückgedrängt habe. Damit wird aus der grundsätzlich geschwächten Stellung des Staatsoberhauptes eine restriktive Auslegung auch der ihm gleichwohl noch verbleibenden Befugnis gefordert. Dagegen wird zu Recht eingewandt, daß die auf induktivem Weg gefundene Bewertung beim Vergleich der Zuständigkeiten des Reichspräsidenten und des Bundespräsidenten nicht zum Begründen einer nochmaligen Restriktion verwendet werden dürfe; denn das würde einen Zirkelschluß bedeuten, da ja gerade erst zu prüfen ist, ob die Verringerung der Befugnisse des Präsidenten auch die Ablehnung etwa einer materiellen Prüfungsbefugnis enthalten soll oder nicht. Die historische Auslegung muß im Detail durchgeführt werden und sie muß ihre eigene Erzählweise reflektieren. Denn auch hier wird eine Entwicklung nicht einfach objektiv abgebildet, sondern vom interpretierenden Juristen im Rahmen des Konkretisierungsvorgangs erst hergestellt. Er bringt zwei historisch weit voneinander entfernte Texte in Verbindung und muß dafür Gesichtspunkte einer hinreichenden Plausibilität liefern können.
322.121.2 Kontinuität und Diskontinuität als historische Erzählweise Die Verknüpfung eines geltenden mit einem früheren Normtext wird meistens über die Darstellung von Kontinuität oder Diskonituität hergestellt. In der Kontinuitätserzählung hat der Gesetzgeber den alten Normtext unverändert übernommen, damit zugleich – vielleicht – auch früher vertretene Inhalte. In der Diskontinuitätsversion hat er den Text nicht übernommen oder hat ihn zumindest geändert und damit jedenfalls zum Teil alte Lesarten unvertretbar gemacht. Gemeinsam ist diesen Erzählweisen ein Ausbeuten des Entwicklungsgedankens. 361b Dieses aus der deutschen und aus anderen nationalen Rechtsordnungen bekannte Muster findet man sogar noch im Europäischen Gemeinschaftsrecht. Dabei interpretieren die Gerichte eine neue Bestimmung so, daß die Kontinuität der Rechtsstruktur gewahrt wird. Das heißt, wenn die anderen Konkretisierungselemente im Ergebnis mehrere Möglichkeiten offen lassen, soll derjenigen Lesart der Vorzug eingeräumt werden, welche den Zusammenhang am besten gewährleistet549. So leitet das Bundesverfassungsgericht einen Parlamentsvorbehalt für Bundeswehreinsätze im
549
EuGH, Slg. 1969, S. 43 ff., 51 (Klomp).
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Ausland aus der deutschen Verfassungstradition ab. Noch 1918 wurde die alte Reichsverfassung so geändert, daß die Erklärung des Krieges und der Abschluß von Friedensverträgen in allen Fällen, einschließlich des Verteidigungsfalls, von der Zustimmung des Bundesrats und des Reichstags, also der gesetzgebenden Körperschaft abhängig gemacht wurde (vgl. Art. 11 Abs. 2 RV). Die Weimarer Reichsverfassung übernahm in Art. 45 Abs. 2 den Grundgedanken dieser Regelung mit der Maßgabe, daß bei Kriegserklärungen und Friedensverträgen die Legislative „nicht mehr als bloß zustimmender Teil, sondern als Herr des Geschäfts erscheint: Kriegserklärung und Friedensschluß erfolgen (…) auf Grund und in Vollzug eines von ihr gefaßten Beschlusses“550. Das Parlament wurde also zum „Akteur“ von Kriegs- und Friedenserklärungen gemacht551. Als 1956 die Bundeswehr eingeführt wurde, wurde dem Bundestag durch Art. 59a Abs. 1 GG die Feststellung des Verteidigungsfalles übertragen; man knüpfte damit an die Regelung der WRV an. Nach damaliger Auffassung bedeutete dies, daß die Streitkräfte nur auf der Grundlage eines Parlamentsbeschlusses eingesetzt werden dürfen. Daran hat sich durch Art. 115a GG, der 1968 durch die Notstandsgesetzgebung Art. 59a ablöste, nichts geändert. Denn diese Modifikation sollte nicht den Einsatz der Bundeswehr entparlamentarisieren, da eine militärische Verwendung der Streitkräfte außerhalb der im Grundgesetz geregelten Einzelfälle zwar möglich, aber auf Grund der damaligen Weltlage nur von theoretischer Bedeutung und damit nicht regelungsbedürftig war. Trotz der Aufhebung des Art. 59a GG hat der Verfassungsgesetzgeber den Parlamentsvorbehalt für alle damals als möglich angesehenen Einsätze aufrechterhalten. Obwohl es aktuell an einer ausdrücklichen Regelung fehlt, ist dieser Vorbehalt nie aufgegeben worden552. Die Verfassungstradition spricht damit für einen Parlamentsvorbehalt beim Militäreinsatz im Ausland. Wenn aber der Normtext vom Gesetzgeber verändert wird, dann ist die Kontinuitätsregel suspendiert553. Es ist dann im Gegenteil davon auszugehen, daß diese Modifikation zu einer neuen Lesart führen muß554. Hier zeigt sich wieder die Verschränkung von historischer und genetischer Auslegung. So wird für eine Einschränkung des Anwendungsbereichs von Art. 87a Abs. 2 GG auf Inlandseinsätze vorgebracht, daß diese Vorschrift den Art. 143 a. F. GG ersetzt habe, der seinerseits nur die Verwendung der Streitkräfte bei innerem Notstand betraf. Daraus könne man schlußfolgern, daß Art. 87a GG ausschließlich Einsätze der Bundeswehr im Inneren regeln solle555. Dagegen wird jedoch zurecht vorgebracht, daß der Wortlaut des Art. 143 a. F. GG nicht ohne entscheidende Veränderung übernommen wurde, so daß auf eine inhaltsgleiche Anwendung nicht geschlossen werden kann556. 550 551 552 553 554 555 556
Anschütz, Art. 45, Anm. 5. Wallrabenstein, S. 871. BVerfG, in: EuGRZ 1994, S. 281 ff., 310. Vgl. BVerfGE 119, S. 247 ff., 290. Vgl. Potacs, S. 138 f. Stein / Gröninger, S. 255. Pieper / Miedeck, S. 244 f.
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Dem wiederum entgegnen die Anhänger der restriktiven Sicht, bei einer vom Verfassunggeber beabsichtigten Erweiterung des Regelungsbereichs auf Auslandseinsätze müßten dafür Anhaltspunkte in den Gesetzgebungsmaterialien zu finden sein. Das sei aber nicht der Fall. Die Äußerungen der im Gesetzgebungsverfahren Beteiligten untermauerten vielmehr die Ansicht, damals habe man ausschließlich den Einsatz im Inneren normieren wollen. Zitiert wird in diesem Zusammenhang immer wieder ein Formulierungsvorschlag, wonach die Streitkräfte im Inneren nur aktiv werden dürften, soweit es das Grundgesetz zulasse557. Dagegen läßt sich jedoch einwenden, daß dieser Formulierungsvorschlag eben keinen Eingang in Art. 87a Abs. 2 GG gefunden hat, daß dieses Argument somit gegen eine Beschränkung des Regelungsbereichs auf Inlandseinsätze spricht. Der Zusatz „im Inneren“ wäre ohne weiteres möglich gewesen, wenn eine derartige Beschränkung beabsichtigt gewesen wäre. Zudem übersieht diese Auffassung, daß der Rechtsausschuß in seinem Abschlußbericht vorschlug, „die Bestimmungen über den Einsatz der Streitkräfte in einem Artikel zusammenzufassen (…) dabei sollte auch einbezogen werden die Regelung über den Einsatz der Streitkräfte im Innern.“ Dies spricht deutlich für die Auslegung, daß sich Art. 87a Abs. 2 GG auf Inlands- und auf Auslandseinsätze beziehen sollte558. Diese beispielhaft geschilderte Debatte zeigt anschaulich, wie historische und genetische Konkretisierung bei der Frage von Kontinuitäts- oder Diskontinuitätsregel miteinander verbunden sind.
322.122 Genetische Konkretisierung Die subjektive Auslegungslehre verwendet die genetische Konkretisierung, um 361c den Willen des Autors zu bestimmen: „Vermittels dieser Methode erforscht der Auslegende den wahren Willen des historischen Vertrags- oder Gesetzgebers, bemüht sich also um eine möglichst genaue Kenntnis dessen, was die Schöpfer mit dem Erlaß der Norm erreichen wollten.“559 Die Bedeutung des Textes wird so mit dem Willen des Gesetzgebers gleichgesetzt560: Normen gelten hier als Willensausdruck eines gebietenden Subjekts. Entscheidend soll sein, welchen besonderen Sinn eine historisch bestimmte Personengruppe mit den gewählten Wörtern verbunden hat. Die Vorstellungen, Absichten und Wertorientierungen dieser Personen sind folglich möglichst genau zu ermitteln561: „Zu betonen ist, daß nach der hier vertretenen MeiBähr, S. 98. Kind, S. 143. 559 Anweiler, S. 247. 560 Vgl. zur Kritik an der Ermittlung eines psychologischen Willens des Gesetzgebers und entsprechender Beweiserhebung: Gropp, S. 75. 561 Vgl. dazu Honsell, S. 172 f., m.w. N. 557 558
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nung bei der Auslegung von Rechtsvorschriften auf den historischen Willen abzustellen ist. Demnach muß ein Rechtsetzer jenen Sinngehalt gegen sich gelten lassen, der seiner Äußerung nach Maßgabe von Kommunikationsregeln zu ihrem Entstehungszeitpunkt beizumessen ist. Die Festlegung auf die Ermittlung des historischen Willens wird schon durch das Verständnis von Rechtsnormen als durch Kommunikationsregeln zum Ausdruck gebrachte Willenserklärungen nahegelegt. Denn nur die zum Entstehungszeitpunkt maßgeblichen Umstände können einem Rechtsetzer bei der Erklärung seines Willens als von ihm berücksichtigt zugesonnen werden. In Systemen grundsätzlich abänderbarer Normen – (…) – spricht außerdem für ein Abstellen auf den ‚historischen Willen‘, daß die Aufhebung und Änderung von Rechtsvorschriften grundsätzlich den dafür zuständigen Rechtsetzungsorganen vorbehalten ist. Sofern diese Organe keine Änderung der Rechtslage vornehmen, ist darin ein Einverständnis mit dem Willen und den Wertungen des historischen Gesetzgebers zu sehen.“562 322.122.1 Kritik der subjektiven Auslegungslehre Aber kann man wirklich die Bedeutung eines Textes mit dem Willen seines Autors gleichsetzen? 361d
Bei der Vorstellung, hinter dem Gesetz stehe ein formierender Wille, den der Normtext dann erst nachträglich verkörpert, wird die Sprache auf ein bloßes Ausdrucksmedium ohne Eigengewicht reduziert563. Wenn man dieses vom Repräsentationsgedanken behauptete Modell eines vor-ausdrücklichen Willens und seiner dann erst nachträglichen Verkörperung ernst nimmt, muß man die Frage stellen, welche Seite bei dieser Verknüpfung denn die eigentlich maßgebende ist. Diese Frage betrifft das grundlegende Problem einer Lehre, nach der die Textbedeutung durch die Absicht des Textproduzenten festgelegt wird. Eine Absicht ist immer etwas Bestimmtes, und eine bestimmte Absicht kann man nur im Rahmen einer bestimmten Sprache haben564. Das heißt, daß die Absicht nicht vom Sprachsystem unabhängig ist, sondern sich in dieses einschreibt565. Daher kann man nicht von einer vor-ausdrücklichen Intention auf die Bedeutung des Textes schließen, sondern nur umgekehrt von der Bedeutung eines Textes zurück auf die Intention566. Die Bedeutung
Potacs, S. 26 f., m.w. N. Vgl. zur Kritik an dieser Reduktion: Derrida XI, S. 79 ff.; vgl. weiterhin Lyotard I, S. 229 (Nr. 188). 564 Vgl. dazu Wittgenstein I, Randbemerkungen unter § 38. Auch §§ 337 ff., 358. Zusammenfassende Darstellung bei E. v. Savigny, S. 36 ff. Kurze Darstellung der sprachphilosophischen Kritik am sinnkonstitutiven Subjekt auch bei Wellmer II, S. 48 ff., 77 ff. 565 Vgl. dazu Derrida IV, S. 150. 566 Vgl. dazu auch Frank II, S. 251 ff., wo am Beispiel der Position Hirschs gezeigt wird, daß der Rekurs auf „authorial meaning“ keineswegs auf die Individualität des Autors zurückführt. 562 563
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eines Textes kommt nicht, wie die subjektive Auslegungslehre es voraussetzt, so zustande, daß der Textproduzent irgendwelche bedeutungsverleihenden Akte ausführt; sondern die Intentionalität des Textproduzenten muß an ein bestimmtes System sprachlicher Bedeutungen567 anknüpfen. Aus diesem Grund kann der gesetzgeberische (oder „auktoriale“) Wille nicht als Archimedischer Punkt außerhalb der Sprache angesehen werden, welcher gegenüber der Vielfalt der Interpretationen den identischen Textsinn wahrt568. Der vor-ausdrückliche Wille kann sich mit dem Normtext nur nach Maßgabe einer Ordnung verknüpfen. Diese Ordnung muß als Struktur formulierbar sein und ist damit auf Bedeutung und Sprache verwiesen569. Damit kommt die angeblich äußerliche sprachliche Form der vorgeblich reinen Innerlichkeit des Willens zuvor. Wittgenstein hat dementsprechend an verschiedenen Sprachspielen gezeigt, daß es nicht möglich ist, Meinen oder Wollen als von Sprache unabhängigen Akt zu vollziehen570. Das Wollen ist kein privater Akt reiner Innerlichkeit; sondern es wird Subjekten im Kommunikationsprozeß auf Grund bestimmter Kriterien zugeschrieben, die ihrerseits ein Sprachspiel eigener Art darstellen571. Als Ursprung seines Ausdrucks kommt der Wille immer zu spät. Tatsächlich hat die auktoriale Intention nie einen rein individuellen Status; sie kann nur einer sprachlichen Konvention folgend formuliert werden, deren Gesamtzusammenhang sie nie vollständig überblickt. 322.122.2 Möglichkeiten genetischer Auslegung Bleibt genetische Auslegung überhaupt noch sinnvoll, wenn man sich von der Metapher des allmächtigen Autors verabschiedet? Muß also der informierte Leser des Gesetzes nach wie vor die Materialien kennen? Häufig wird die Möglichkeit der genetischen Konkretisierung aus texttheoreti- 361e schen Überlegungen abgelehnt. Die Vorstellungen, Absichten und Zwecke des historischen Gesetzgebers können hiernach für die Interpretation keine Rolle spielen, weil sich das Gesetz nach seinem Erlaß von den Absichten und Zwecken seiner Urheber ablöst. Das so entstandene eigenständige Gebilde muß nunmehr aus sich selbst verstanden werden. Der beherrschenden Stellung des Gesetzgebers wird dabei eine Heterogonie der Zwecke572 entgegengehalten: „Der Zusammenhang einer 567 Vgl. zu diesem Problem die grundlegende Auseinandersetzung Derridas mit Husserl: Derrida XI, S. 54 f. und öfter. 568 Vgl. dazu auch Frank I, S. 25 ff. 569 Vgl. als knappe Darstellung der bei Derrida XI entwickelten Kritik: Frank I, insbes. S. 288 ff. Dort auch die Parallelisierung der Position Derridas zur sprachanalytischen Position Tugendhats im Hinblick auf die Kritik an einem vorsprachlichen Bewußtsein. 570 Vgl. dazu Wittgenstein I, § 552, § 665. Vgl. auch zur Grammatik von „Meinen“, „Wollen“ u. ä. §§ 36, 540, 661, 693. Vgl. dazu auch Busse IX, S. 119 ff. 571 Vgl. dazu Schroth I, S. 22 mit Verweis auf Wittgenstein. 572 Vgl. dazu Mennicken, S. 26. – Dieser von Wundt geprägte Begriff bedeutet wörtlich „Entstehung des Andersartigen“, hier: Abweichungen vom ursprünglichen Zweck.
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Zweckreihe besteht demnach nicht darin, daß der zuletzt erreichte Zweck schon in den ursprünglichen Motiven (…) als Vorstellung enthalten sein muß, (…) sondern er wird wesentlich dadurch vermittelt, daß infolge nie fehlender Nebeneinflüsse der Effekt einer Handlung mit der im Motiv gelegenen Zweckvorstellung im allgemeinen sich nicht deckt.“ Über die Vervielfältigung und Anreicherung des Ursprungszwecks soll hier das Gesetz der Heterogonie der Zwecke ein „Prinzip des Wachstums geistiger Werte“573 begründen und damit den selbständigen Organismus574 des Rechts von seinem Urheber ablösen. Nun gibt es aber nicht nur ein vermehrendes Wachstum, sondern auch ein Zurückbleiben gegenüber dem Ursprungszweck. Dieser ist demnach als Bezugspunkt nach wie vor nötig, um die Frage nach Wachstum oder Zurückbleiben beurteilen zu können. Weiter wird geltend gemacht, der Gesetzgeber bzw. der Vertragspartner könne bereits seine ursprüngliche Zwecksetzung inhaltlich gar nicht voll überblicken: „Es ist ein häufiger Irrtum zu meinen, daß der Gedanke der vollständige Sklave unseres Willens sei und nur das hervorbringe, was wir wollen, während doch der Gedanke dem Willen gegenüber seine volle Selbständigkeit hat und vielfach über die Tragweite des Willens hinausgeht. (Das Denken) hat unendlich viele Zusammenhänge, es zeigt in den Begriffen einen Ideeninhalt, den der subjektiv Denkende nicht ahnt.“575 Weil jeder Gedanke selbständig und auch gegen die Absicht seiner Schöpfer fortwirken kann, ist das Recht als geistige Wirklichkeit etwas Eigenständiges. Die Entscheidung muß daher unabhängig von den Materialien dem Gesetz selbst entnommen werden. Auch in diesem Einwand ist wieder Richtiges enthalten, das dann aber durch zu weit gehende Generalisierung unrichtig wird. Ein grundsätzlicher Einwand gegen die genetische Konkretisierung ist das sogenannte Versteinerungsargument. Danach läßt das Auslegungsziel, den gesetzgeberischen Willen zu ermitteln, keine Anpassung des Gesetzes an aktuelle Probleme zu und versteinert insoweit seine Umsetzung. Vor allem im Europäischen Gemeinschaftsrecht gewinnt dieses Argument im Hinblick auf die Dynamik einer immer enger werdenden Union ein entscheidendes Gewicht: „Zur Verwirklichung des gemeinsamen Marktes und der Ziele des Art. 2 EGV ist es unverzichtbar, anstelle des historischen Willens der Vertragspartner auf den objektivierten Willen des Vertrages abzustellen. Eine Gegenüberstellung der Eindrücke von den Vertragsverhandlungen mit der Praxis des Gerichtshofs belegt überzeugend die Diskrepanz zwischen dem heutigen Stand der Gemeinschaftsrechte und den ursprünglichen Vorstellungen der Vertragsstaaten.“576 Dieser Einwand steht der genetischen Interpretation aber nur dann entgegen, wenn man der subjektiven Auslegungslehre folgen und das Ergebnis der genetischen Konkretisierung zum Inhalt des Gesetzes erklären will. Daß die Ergebnisse genetischer Argumentation beim Interpretieren des Gesetzes eine Rolle 573 574 575 576
Wundt, S. 327. Vgl. zu den Problemen dieser Wachstumsregel: Bloch, S. 435 ff. Kritisch zur Organismusmetapher: F. Müller XVIII, S. 162 und öfter. Kohler II, S. 123. Buck, S. 145.
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spielen, ist mit dem Versteinerungsargument noch nicht ausgeschlossen. Denn die Dynamik einer immer enger werdenden Gemeinschaft wäre nur dann gefährdet, wenn das genetische Element die ausschlaggebende Bedeutung hätte. Im Gesamtprozeß der Konkretisierung wird es dagegen durch die Ergebnisse anderer Faktoren, in der Praxis des Europarechts oft der teleologischen Auslegung, relativiert. Deswegen kann das Versteinerungsargument zwar der subjektiven Auslegungsdoktrin, nicht aber grundsätzlich der genetischen Konkretisierung entgegengehalten werden. Eine faktische Schwierigkeit für die Argumentation mit der Enstehungsgeschichte liegt darin, daß „der“ Gesetzgeber nicht einfach eine einzelne Person, sondern in zahlreiche Gremien und Instanzen aufgesplittert ist. Dieses empirische Problem macht zwar die Aussicht darauf, einen gesetzgeberischen „Willen“ zu ermitteln, eher unwahrscheinlich. Es vermehrt aber die Grundlagen für Argumente: „Da der Gesetzgeber ein Gremium ist (…), kann es nicht auf die Vorstellung einzelner Abgeordneter ankommen. Aber vielfach gibt es Materialien darüber, wie diejenigen, die den Gesetzestext verfaßt haben (…) oder wie die Meinungsführer im Parlament das Gesetz verstanden haben.“577 Wegen der Beteiligung einer Mehrzahl von Organen wird der Umfang der Materialien etwa im Europäischen Gemeinschaftsrecht noch größer. Damit nimmt auch die Möglichkeit zu, aus diesen Texten Argumente zu gewinnen. Das in der angesprochenen Diversifikation (Mehrheit von Gremien und Instanzen) enthaltene kritische Potential läßt sich noch weiter entfalten. Dabei werden die praktischen Schwierigkeiten der Arbeit mit den Materialien gegen die soeben genannte Möglichkeit gewendet, aus diesen Quellen zusätzliche Argumente zu gewinnen. Die Unsicherheit und Lückenhaftigkeit der Materialien gewährt das Gegenteil eines sicheren Ausgangspunkts: „Tatsache ist, daß die gesamte Praxis (…) sich auf die Entstehungsgeschichte beruft, wo diese für die sonst wünschenswerte Entscheidung verwertet werden kann, und daß im gegenteiligen Fall die Motive usw. beiseitegeschoben oder als unwichtig widerlegt werden“578. Hier wird die Gefahr angesprochen, daß mit Hilfe von willkürlich ausgewählten Einzeläußerungen der vorgeblich einheitliche Wille des Gesetzgebers seine Konturen verliert und sich deswegen in der Praxis als beliebig auszufüllende Fiktion erweist579. Auch dieses Risiko ist durch die gesteigerte Komplexität des Gesetzgebungsvorgangs im Gemeinschaftsrecht noch erhöht. Die im Verwenden der Materialien als Begründungsinstanz potentiell liegende Beliebigkeit wird deutlich, wenn man berücksichtigt, daß der gemeinschaftsrechtliche Gesetzgeber ein pluriformes und heterogenes Gebilde ist580, dem sich schwerlich ein einheitlicher Wille zuschreiben läßt. Die Entstehungsgeschichte weist nicht nur Zufälligkeiten auf, sondern vor allem auch Wider-
577 578 579 580
Vgl. dazu ders., S. 35 f. Gmelin, S. 70. Vgl. dazu C. Schmitt IV, S. 25. Weitere Nachweise bei Honsell, S. 42 f. Vgl. Engisch II, S. 91, mit differenzierten Folgerungen auf S. 95.
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sprüche zwischen einzelnen Äußerungen, die ohne ein systematisches Strukturieren immer wieder die Begründung gegensätzlicher Ergebnisse erlauben. 322.122.3 Genetische Konkretisierung jenseits der Willensmetapher 361f
Um mit dieser Schwierigkeit fertigzuwerden, muß man die genetische Konkretisierung vom Begriff des Willens ablösen. Zunächst wird dabei die Willensmetapher durch den Begriff einer Handlung ersetzt, die es sowohl kausal als auch in ihrer Finalität zu verstehen gilt581. Der Fortschritt dieser Ersetzung kann sich aber nur dann auswirken, wenn man auch die vorgestellte Einheitlichkeit und Homogenität der Normierungshandlung auflöst. Dabei kann der vorgestellte Gesamtwille durch ein Mehrheits- oder Agentenmodell582 ersetzt werden. Demnach ist der gesetzgeberische Wille mit dem der Mehrheit der gesetzgeberischen Körperschaft gleichzusetzen, beziehungsweise mit dem derjenigen Personen, die den verabschiedeten Entwurf oder Vertrag formuliert haben. Doch auch im Rahmen eines solchen Modells bleibt der Nachweis einer gemeinsamen Handlungsfinalität bzw. -absicht schwierig. Selbst wenn man unterstellen könnte, daß die betreffenden Personen die von ihnen formulierte Zeichenkette unter möglichst vollständiger Berücksichtigung des Kontexts reflektieren, beseitigt das noch nicht alle Unsicherheiten über den Gebrauch der verwendeten Zeichen583. Zwar kann man die als gemeinsam behauptete Absicht weiterhin allein auf grundlegende Gesichtspunkte und Zwecke einschränken584. Aber auch noch die Unterstellung solcher Zwecke als gemeinsame muß begründet werden können. Allerdings gewinnt diese Art der Zurechnung eine gewisse Plausibilität durch eine linguistische Analyse, die parallele Phänomene aus dem Bereich der juristischen Personen in die Untersuchung einbezieht585. Auch bei diesen redet man von Absichten, die man bei Bedarf etwa ihren Organen zuschreibt. Dabei läßt sich nicht einfach sagen, das Wort ‚Absicht‘ werde nur in einem metaphorischen oder von der wörtlichen Bedeutung abgelösten Sinn gebraucht. Der Sprachgebrauch verweist hier vielmehr auf soziale Regeln, nach denen das Handeln Einzelner einer Gesamtheit zugerechnet wird586. Es ist kein Grund ersichtlich, der die Wirksamkeit ähnlicher Regeln im Rahmen der genetischen Konkretisierung ausschließen könnte. Die allgemeine Möglichkeit einer Zurechnung kann insoweit als begründbar angesehen werden. Aber es bleiben technische Fragen offen (hier an einem Beispiel Vgl. dazu Schroth I, S. 83 ff. Vgl. dazu MacCallum, S. 237 ff., 262 ff. (majority model), 266 ff. (agency model). 583 Vgl. dazu MacCallum, S. 237 ff., 254 f. 584 Vgl. dazu etwa Köbl, S. 1005 ff., 1029. 585 Vgl. dazu MacCallum, S. 237 ff., 249, 250 ff. Vgl. dazu die Aufforderung, das Sprachspiel anzuschauen, bei Schroth I, S. 78. 586 Vgl. dazu MacCallum, S. 251. 581 582
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aus dem Europarecht): „Hinsichtlich der Brauchbarkeit solcher Materialien stellt sich zunächst ohnehin die Frage, welche der am Abschluß der Gemeinschaftsverträge beteiligten Personen ausschlaggebend für den Willen ihres jeweiligen Mitgliedstaates sein sollen: die jeweiligen Unterhändler, nur der Leiter der Verhandlungsdelegation oder nur der zuständige Minister.“587 Die Art und Weise dieses Zurechnens erfordert also neben der Beachtung rechtlicher Gesichtspunkte noch eine genauere Untersuchung der vorausgesetzten sprachlichen Regeln. Insoweit müssen die als Kontexte zum Normtext herangezogenen Materialien auf einen inneren Zusammenhang hin befragt werden. Die als Anknüpfungspunkt für ein Argument in Betracht kommende Einzeläußerung muß in die Struktur des Gesetzgebungsverfahrens systematisch eingeordnet werden588. So wird etwa der Anspruch auf Einrichtung von Raucherräumen in § 3 Abs. 2 Satz 5 des nordrhein-westfälischen Nichtraucherschutzgesetzes vom Text her ausdrücklich ausgeschlossen. Die Bedeutung dieses Ausschlusses wurde inzwischen vom Verwaltungsgericht Köln wie folgt untersucht: Soweit klargestellt werden soll, daß die Einrichtung von Raucherräumen keine gebundene Rechtsfolge ist, sondern Ermessen beinhaltet, wäre diese Vorschrift eigentlich überflüssig. Aus der sprachlichen Fassung „können“ geht das bereits klar hervor. Es könnte deswegen die subjektivrechtliche Qualität des § 3 Abs. 2 Nichtraucherschutzgesetz ausgeschlossen sein. Das wird zunächst auch von den Materialien des Gesetzes bestätigt, worin es heißt: „Der Gesetzentwurf stellt überdies klar, daß ein subjektiv-rechtlicher Anspruch rauchender Personen auf die Einrichtung solcher Räume nicht besteht.“589 Dies ist nun allerdings mit dem sonstigen Inhalt der Gesetzesbegründung nicht verträglich. Dort wird festgehalten, daß der Gesetzgeber mit Einführung der Raucherräume eine Abwägung zwischen den Interessen der Betroffenen im Sinn der Verhältnismäßigkeit vorgenommen habe. Soll die vorgesehene Ausnahmemöglichkeit aber die Verhältnismäßigkeit wahren, so dient sie dem Schutz des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 1 GG und somit dem Schutz der allgemeinen Handlungsfreiheit. Damit wäre ein rein objektiv-rechtliches Verständnis aber unvereinbar. Das Gericht läßt in seinem Urteil die Entscheidung dieser Frage offen. Allerdings zeigt sich deutlich – und darauf kommt es im vorliegenden Zusammenhang an –, daß die Auswertung der Materialien zu einem Gesetz nicht punktuell vorgehen kann, indem sie an einzelne Äußerungen anknüpft, sondern daß sie immer den Gesamtzusammenhang der Materialien im Auge behalten muß. Der innere Zusammenhang wird allerdings noch nicht erfaßt, wenn man normative Strukturierungsvorschläge der Gesetzgebungslehre als Beschreibungen liest. Reale Gesetzgebung ist nur selten einvernehmliches Handeln, sondern meist hochgradig konflikthaft. Darin liegt für das herkömmliche Verständnis eine große Schwierigkeit: „Die Ansichten der Vertragsparteien werden im allgeAnweiler, S. 248. Grundlegend dazu und zu weiteren: Paulson, S. 69 ff. Eine allerdings sehr allgemeine Beschreibung des Gesetzgebungsverfahrens gibt Schroth I, S. 84. 589 VG Köln, in: NWVBl. 2008, S. 319. 587 588
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meinen sogar entgegengesetzt gewesen sein. Zudem sind solche Äußerungen während der Vertragsverhandlungen häufig nur als taktische Züge zu verstehen und geben nicht die eigentliche Absicht der Parteien kund.“590 Die Realität des Verfahrens kommt erst dann in den Blick, wenn man sich von dem stillschweigend vorausgesetzten Modell der Gesetzgebung als einem Fall kooperativen Handelns591 ablöst und diesen Vorgang im Rahmen einer Semantik kompetitiven Handelns begreift. Erst dann können die widersprüchlichen Einzeläußerungen als Teile eines kompetitiven Handlungsspiels systematisch verortet und in ihrer Tragweite verstanden werden. Im Rahmen der subjektiven Auslegungslehre hat die sog. Paktentheorie592 der Lösung dieser Aufgabe vorgearbeitet. Wenn man dieses Konzept von den impliziten Willens- und Vertragskonstruktionen593 ablöst, bringt es anstelle der anthropomorph aufgefaßten Absichten594 und des personifizierten Gesetzgebers den Vorgang der Gesetzgebung als arbeitsteiligen Prozeß595 in den Blick. Dabei werden vor allem die zeitliche Reihenfolge, aber auch rechtliche Gesichtspunkte wie etwa die Mehrheitsregel und der Kontext der Einzeläußerung zur Strukturierung verwendet. Das ermöglicht neben der Zurechnung auch ein Gewichten der als Anknüpfungspunkt dienenden Einzelaussage. An diese Vorarbeiten der Paktentheorie kann die semantische Analyse des Gesetzgebungsverfahrens als eines kompetitiven Handlungsspiels vertiefend anknüpfen. Gegen die Position der objektiven Lehre in ihrer strengen Form ist damit die Möglichkeit genetischer Auslegung dargetan596. Ihr Stellenwert und ihre Einordnung in den Gesamtvorgang der Konkretisierung hängen allerdings von den methodenbezogenen Normen im Umkreis des Rechtsstaatsprinzips ab.
Anweiler, S. 248 f. Vgl. dazu Habermas II, S. 15 f., der zunächst einräumt, daß die „Konkurrenz widerstreitender Interessen“ die Übertragung seines auf Einverständnis zielenden Argumentationsmodells erschwert, dann aber doch die Notwendigkeit einer solchen Übertragung nahe legt. Auch in der herkömmlichen Vorstellung eines einheitlichen Gesamtwillens und personifizierten Gesetzgebers ist das Modell eines auf die kooperative Herstellung von Gemeinsamkeiten zielenden Handlungszusammenhangs enthalten, welches sowohl den Eigenwert als auch das praktische Gewicht von Differenzen und Konflikten verkennt. 592 Vgl. zur Paktentheorie: Baden I, S. 369 ff., insbes. 378; näher zu den Regeln der genetischen Auslegung auch Schroth I, S. 37 ff.; vgl. zur Paktentheorie noch die Nachweise bei Engisch II, S. 249, Fn. 106. 593 Vgl. dazu Baden I, S. 369 ff. 594 Vgl. zu den Warnungen vor anthropomorphen und vereinfachenden Fiktionen: Krüger, S. 14. Ähnlich Noll I, S. 15 und Perelman, S. 79. 595 Vgl. dazu Baden I, S. 60, auch allgemein S. 57 ff. 596 Vgl. zur Möglichkeit genetischer Auslegung unter Auseinandersetzung mit Einwänden, die sich aus einem an Gadamer orientierten hermeneutischen Ansatz ableiten lassen: Schroth I, S. 28 ff. Vgl. im übrigen zur Verteidigung der subjektiven Auslegung: Engisch II, S. 247, Fn. 98. 590 591
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322.122.4 Zur Rolle der genetischen und historischen Gesichtspunkte Historische, genetische, systematische und teleologische Elemente der Konkreti- 362 sierung können sowenig voneinander und vom Verfahren grammatischer Auslegung isoliert werden wie dieses von ihnen. Die genetische, die historische und die systematische Auslegung sind eng mit der grammatischen verwandt: Auch sie sind Mittel der Textinterpretation (und zwar anderer – teils legislativer, teils nicht-legislativer – Texte neben dem Wortlaut der umzusetzenden Vorschrift). Es läßt sich sogar sagen, die beiden auf nicht (heute) gültige Texte gestützten Verfahrensarten, die genetische und die historische, seien der Sache nach Hilfsgesichtspunkte innerhalb des grammatischen Aspekts: Wie kam es zu der vorliegenden Formulierung? Welche Sinnvorstellungen und Regelungsabsichten führten – zum einen historisch und ohne Verbindung zum geltenden Recht, zum andern gleichfalls historisch, aber mit genetischer Verbindung zu ihm – zur vorliegenden Formulierung des Rechtssatzes? Es wurde hier dargestellt, wie in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entgegen dem grundsätzlichen Bekenntnis zur „objektiven Theorie“597 verschiedentlich allein der aus Entstehungsgeschichte und Gesetzgebungsmaterialien gezogene Schluß zum sachlichen Angelpunkt der Entscheidung gemacht worden ist598. Im jetzigen Zusammenhang geht es weniger um die innere Widersprüchlichkeit dieser judiziellen Position als darum, welches Gewicht die auf grammatische Auslegung bezogenen Argumente im Konfliktsfall haben sollen. Die genetischen und historischen Aspekte können helfen, mögliche Sinnvarianten in dem vom Wortlaut abgesteckten Spielraum inhaltlich zu präzisieren. Folgen aus dem zu entscheidenden Rechtsfall (statt aus der insoweit abstrakten Fragestellung nach historischen und genetischen Verständnismöglichkeiten) abweichende Teilergebnisse, so ist das weitere Vorgehen von der Frage nach dem Rangverhältnis aller Konkretisierungselemente bestimmt. Diese Frage ist in der üblicherweise verengten Perspektive des Streits zwischen „subjektiver“ und „objektiver“ Theorie nicht zu lösen. Die herkömmliche Behandlungsart solcher methodischen Konflikte übersieht auch, daß die historischen und genetischen Gesichtspunkte innerhalb der grammatischen Auslegung angesiedelt sind; daß sie daher sowohl die Entscheidung inhaltlich herausarbeiten als auch die rechtsstaatlichen Grenzen der Konkretisierung finden helfen. Wenn, wie zum Beispiel im Konkordats-Urteil599, das Ergebnis systematischer Aus597 BVerfGE 1, 299, 312 und ständige Rechtsprechung. Vgl. auch BGHZ 46, 74, 76 m.w. N. 598 In BVerfGE 2, 266, 276; 4, 299, 304 f.; 6, 309, 349 ff. u. ö. – Zur Rolle des genetischen Elements mit Ausführungen zur höchstrichterlichen Praxis: BGHZ 46, 74, 79 ff.; dort auch die Herleitung des „Zwecks“ aus dem genetischen Element. – Ein schönes Beispiel für den Übergang aus der genetischen in die historische Auslegung bieten BVerfGE 29, 125 ff. (akademische Disziplinargerichtsbarkeit), 139 f., 140 ff. sowie BVerfGE 37, 314 ff. (Private Fachhochschulen), 320 (GG und WRV). – Gleichzeitige Untersuchung der genetischen und historischen Elemente z. B. in BVerfGE 33, 125 ff. (Facharzt-Beschluß), 152 ff. Zur genetischen Konkretisierung: BVerfGE 99, 1, 14 f.; 96, 139, 149; zur historischen: BVerfGE 96, 315, 319; 96, 330, 331; 97, 198, 218 ff.; 99, 1, 13 ff. 599 BVerfGE 6, 309 ff.; dazu z. B. Müller XVII, S. 84 ff., 97 ff.
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legung von der in den Materialien ausgedrückten Regelungsabsicht einer Gruppe von Mitgliedern des parlamentarischen Rats abweicht, so ist zu berücksichtigen, daß der Text einer Verfassungsvorschrift (auch der des Art. 123 Abs. 2 GG) nicht notwendig, sogar nur in seltenen Grenzfällen die Aussage der im Fall zu erzeugenden Rechtsnorm positiv determiniert. Hält sich das „systematisch“ gewonnene Teilergebnis im Spielraum legitimer Verständnismöglichkeiten des Wortlauts (gewonnen durch grammatische, historische und genetische Auslegungselemente), so ist ihm in Differenzierung der inhaltlich bestimmenden von der rechtsstaatlich begrenzenden Funktion des Normtexts im Ergebnis der Vorzug zu geben. Die gegenteilige Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist aus diesem Grund methodisch bedenklich; und nicht deshalb, weil der objektiven Theorie generell der Vorzug vor der subjektiven gegeben werden müßte. Beide „Theorien“ liefern, wie gezeigt wurde, nicht in sich geschlossene, einander gegenüberstehende methodologische Positionen. Sie bezeichnen irreführend bestimmte methodische Einzelgesichtspunkte. Diese sind weder abgeschlossen noch stehen sie einander gegenüber. Sie sind vielmehr in die Behandlungsarten der herkömmlichen wie der neueren Konkretisierungselemente verflochten. (Eine weiter vertiefte Diskussion sprachtheoretischer Voraussetzungen und Fragwürdigkeiten des genetischen Elements sowohl grundsätzlich als auch vor allem in der Methodik des Europarechts findet sich in Band II des vorliegenden Buchs.) 322.123 Unschärfe der funktionalen Abgrenzungen 363
Solche Verflochtenheit der Interpretationselemente erweist sich in der Praxis teils als sachnotwendig, teils als Folge mangelnden Methodenbewußtseins. Der historische Aspekt ist vielfach unklar mit genetischen und wegen der Vorstellung von „Eindeutigkeit“ auch mit teleologischen Unterstellungen vermischt. Der systematische Topos braucht für die Wahl zwischen einer Systematik der Normtexte, der Normprogramm- und der Normbereichselemente zusätzliche Hilfsgesichtspunkte, die nur durch grammatische, historische, genetische und wiederum durch systematische Auslegung sowie durch Analyse der Normbereiche gewonnen werden können. Die angeblich teleologische „Methode“ schließlich konnte als normtheoretisch oder methodisch eigenständig bisher nicht belegt werden. Sie wirkt in der Praxis als Sammelbecken subjektiver oder jedenfalls subjektiv vermittelter Wertungen von normbezogener und nicht-normbezogener, im ganzen von vorwiegend rechts- und verfassungspolitischer oder allgemeinpolitischer Art. Gleich oft dient sie als Etikett für solche Sachgesichtspunkte aus dem Normbereich, die sich sonst unter Floskeln wie „Zweckmäßigkeit“, „Praktikabilität“600, unter funktionell ungeklärten Vorstellungen von „Natur der Sache“, „Wesen des Rechtsinstituts“, „Berücksichtigung sozialer und politischer Gegebenheiten“ oder unter ähnlichen verbalen Behelfen verbergen.
600
BVerfGE 101, 275, 289.
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322.124 Résumé zur teleologischen Auslegung Die teleologische Interpretation ist kein selbständiges Element der Konkretisie- 364 rung, da Gesichtspunkte von „Sinn und Zweck“ der zu deutenden Vorschrift nur insoweit heranzuziehen sind, als sie mit Hilfe der anderen Elemente belegt werden können. „Sinn und Zweck“ ist, anders gesagt, keine Methode, sondern bereits ein Ergebnis. Das Unterstellen einer Ratio, die unter keinem anderen Konkretisierungsgesichtspunkt nachweisbar ist, disqualifiziert sich als normgelöste subjektive „Wertung“ oder „Abwägung“601. Die Frage nach „Sinn und Zweck“ der zu konkretisierenden Norm bildet jedoch eine unterscheidbare und damit selbständige Fragestellung bei jeder Arbeit mit grammatischen, historischen, genetischen und systematischen sowie mit den über die canones hinaus entwickelten Elementen der Konkretisierung602. In deren Rahmen und durch sie kontrolliert kann das Argument aus dem „Telos“603 der (in der Regel noch nicht abschließend erarbeiteten) Vorschrift brauchbare zusätzliche Hilfsgesichtspunkte bieten604. Erst also nachdem der Zweck im einzelnen begründet wurde, kann man mit ihm arbeiten. So leitet etwa der Bundesgerichtshof aus der Gesetzgebungsgeschichte und der Systematik ab, daß die Einschränkung des Regresses gegenüber Beamten in Art. 34 Satz 2 GG die Entschlußfähigkeit und Entschlußfreudigkeit vor allem bei Eilmaßnahmen fördern soll und daß sie außerdem systematisch durch die staatliche Fürsorgepflicht gegenüber der Beamtenschaft begründet ist. Dann wird im Weg der teleologischen Reduktion gezeigt, daß dieser Zweck gegenüber Privatunternehmen, welche durch Vertrag eingeschaltet worden sind, nicht besteht. Die Teleologie wird somit als zweistufiges Argument entwickelt: Erst wenn der Zweck begründet ist, beginnt die Arbeit mit ihm. Man kann dann etwa aus der strengen Formvorschrift für den öffentlich-rechtlichen Vertrag folgern, daß an das Vorliegen einer culpa in contrahendo hohe Anforderungen zu stellen sind605. In einem anderen Fall findet 601 Unbegründet „teleologisch“ argumentiert gegen Wortlaut und Systematik des Grundgesetzes das „Abtreibungs-Urteil“, BVerfGE 39, 1 ff., 37. – Ebd. schließen sich dann S. 38 ff. unklare Ausführungen zur Entstehungsgeschichte an; vgl. dazu etwa die scharfen Notizen bei Esser VII, der allerdings mißverständlich von „historischer“ Auslegung spricht. – Zu „teleologischen Begründungen“ im Arbeitsrecht: Hensche I. 602 Vgl. BVerfGE 97, 117, 122. – Eines der abschreckenden Beispiele bietet etwa BVerfGE 103, 332, 363: „Sinn und Zweck“ werden ohne Argumente schlicht behauptet. 603 Zur Prüfung des Ermessens anhand des Gesetzeszwecks vgl. OVG Münster, in: NWVBl. 2008, S. 302 ff., 303. 604 Zu den Grenzen der teleologischen Auslegung beim Problem, ob Kammerentscheidungen des BVerfG nach 31.2 in Gesetzeskraft erwachsen können, vgl. Sachs III, S. 443 ff.: „Vor dem Hintergrund der entstehungsgeschichtlichen und systematischen Würdigung fehlt es an einer möglichen Grundlage für eine entgegengesetzte teleologische Interpretation des § 93 I 1 BVerfGG.“ (S. 443). – (Statistisch gestützte) Inhaltsanalyse der Rolle telelogischer Elemente beim Bundesgerichtshof in Zivilsachen: Reichert; dort auch der Nachweis, daß sich das Gericht scheut, sich mit verschiedenen jeweils in Betracht kommenden „Zwecken“ argumentativ auseinanderzusetzen. 605 OVG Koblenz, in: NVwZ RR 2004, S. 241.
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sich eine doppelte Begründung des Normzwecks aus der Gesetzessystematik und der Entstehungsgeschichte, wenn sich das Bundesverfassungsgericht mit dem Verlust der Staatsangehörigkeit gegen den Willen des Betroffenen auseinandersetzt: Ein Verständnis des Art. 16 Abs. 1 Satz 2 GG dahingehend, das Verbot der Inkaufnahme von Staatenlosigkeit erstrecke sich auch auf den Fall der erschlichenen Einbürgerung, entspricht demnach nicht dem Willen des Verfassunggebers; sie liegt außerhalb des Schutzzwecks der Norm. Eine Rechtsordnung, die sich ernst nimmt, darf in dieser Sicht nicht Prämien auf die Mißachtung ihrer selbst setzen. Sie schafft sonst Anreize der Rechtsverletzung, diskriminiert rechtstreues Verhalten606. 322.125 Allgemeines zur systematischen Konkretisierung Mit zunehmender Reife einer Rechtsordnung kann man in der Arbeit der Gerichte einen Übergang von der Systematik des Gesetzes zur Systematik der Entscheidungen feststellen. Dabei beobachten die Gerichte sich selbst als Beobachter der Rechtsordnung. Deswegen kann man von einem Übergang von der Systematik erster Ordnung zur Systematik zweiter Ordnung sprechen. Diese Entwicklungstendenz wurde schon verschiedentlich empirisch untersucht607 und bestätigt sich bei der Lektüre jeder verfassungsgerichtlichen Entscheidung, die in einem zentralen Gebiet ergeht. In der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Verfassungswidrigkeit der Rückmeldegebühren für Studenten in Baden-Württemberg wird der Übergang zur Systematik zweiter Ordnung besonders deutlich608. Fast alle systematischen Fragen in dieser Entscheidung werden nicht durch Hinweise auf den Text der Verfassung oder die Literatur, sondern durch Hinweise auf eigene Entscheidungen des Gerichts geklärt. So z. B. der Umstand, daß die Gesetzgebungskompetenzen nicht nur die Zuständigkeit des Gesetzgebers bestimmen, sondern auch den Umfang der Regelungsbefugnis609. Im Rahmen der Finanzverfassung wird sowohl der Rahmen für den Zugriff auf die Ressourcen des Bürgers durch eigene Entscheidungen des Gerichts bestimmt als auch der Umstand, daß die Finanzverfassung auch den Bürger schützt. Das für die Entscheidung herangezogene Kriterium eines groben Mißverhältnisses wird auch aus eigenen Entscheidungen entwickelt, wobei hier ergänzend Entscheidungen des BVerwG herangezogen werden610. Und schließlich wird der Grundsatz der Normenklarheit wiederum aus einer Entscheidungskette des BVerfG heraus entwickelt611. 606 BVerfG, in NVwZ 2006, S. 807 ff., 810. Ebenso Doppeltbegründung aus Systematik und Entstehungsgeschichte im einfachen Recht OVG Münster, in: NWVBl. 2008, S. 269 ff. und OVG Münster, in: NWVBl. 2008, S. 307 ff. 607 Wagner-Döbler / Philipps, S. 228 ff. Zu den entsprechenden Untersuchungen beim EuGH vgl. den Band 2 der vorliegenden Methodik, S. 225 ff. 608 Vgl. dazu BVerfG, in: NVwZ 2003, S. 715 ff. 609 Ebd., S. 716. 610 Ebd., S. 717.
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Systematische Konkretisierung umfaßt in aller Regel neben dem argumentato- 365 risch dargestellten Kontext der Wortlaute zugleich den Zusammenhang der sachlichen Strukturen der normativ relevanten Ausschnitte der Regelungsbereiche. Dieser ist durch Analyse der Normbereiche der systematisch miteinander verbundenen Vorschriften zu erhellen. Das kompliziert das systematische Verfahren. Es zwingt aber auch dazu, in seinem Rahmen stärker als bei vorgeblich bloßer Textentfaltung von postulierenden zu faktisch belegbaren Schlüssen überzugehen. Für systematische Grundrechtsauslegung im besonderen stellt sich die Aufgabe, das grundrechtliche Normprogramm nicht etwa aus den Normbereichen und Normprogrammen unterverfassungsrechtlicher Vorschriften unmittelbar aufzufüllen. Diese sind vielmehr ihrerseits an Normprogramm und Normbereich der Grundrechte zu messen und im Konfliktsfall zu korrigieren. Die Grundrechte sind in besonders hohem Grad in ihren Normbereichen abgestützt. Sie bedürfen wegen ihrer unmittelbaren Anwendbarkeit (Art. 1 Abs. 3 GG) sachlicher Maßstäbe, die aus ihrer eigenen Bereichsdogmatik einsichtig gemacht werden können, ohne von Gnaden der einfachen Gesetze zu leben. Das Einbeziehen grundrechtlicher und sonstiger verfassungsrechtlicher Normbereichselemente kann insoweit eine Entwicklung hindern helfen, die als „gesetzeskonforme Auslegung der Verfassung“ bezeichnet wird. 322.125.1 Abgrenzung zur grammatischen Auslegung Im Rahmen der überlieferten Prozeduren systematischer Textbearbeitung hat zunächst eine Abgrenzung zur grammatischen Auslegung zu erfolgen. Die Schwierigkeit liegt darin, daß die Einheit eines Textes keine semantische, sondern eine pragmatische Größe ist. Diese Einheit ist also nicht natürlich gegeben, sondern hängt von der jeweiligen Fragestellung des Interpreten ab. Gewiß liegt systematische Auslegung dann vor, wenn man von einem Normtext mit eigener amtlicher Numerierung auf einen anderen übergreift. Aber sie kann auch innerhalb eines einzelnen Normtextes erfolgen, wenn in ihm verschiedene Regelungen enthalten sind; sogar innerhalb desselben Satzes, wenn dieser etwa Meinungs- und Pressefreiheit nebeneinander garantiert. Die Abgrenzung wird also durch die aus der Fragestellung folgende Sicht auf die fragliche Texteinheit bestimmt. Die systematische Auslegung verknüpft mindestens zwei Normtexte zu einem Argument. Auf der Textoberfläche wird dies durch Nennung der betroffenen Normtexte meist ersichtlich. Ein Beispiel für kunstgerechte systematische Auslegung bietet die Entscheidung zur antragslosen Teilzeitbeschäftigung von Beamten612. Die Verwaltungsgerichte 611 Ebd., S. 717. In der Entscheidung zur vorläufigen Aussetzung der Verpackungsverordnung begründet das BVerfG die Notwendigkeit besonders schwerwiegender Gründe für die Aussetzung eines Gesetzes auch wiederum unter Verweis auf eigene Entscheidungen (vgl. dazu BVerfG, in: NVwZ 2003, S. 725 f., 725 f.). 612 BVerfGE 119, S. 247 ff., 275 ff.
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hatten diese Vorschrift verfassungskonform dahingehend konkretisiert, ein Antrag sei nötig. Diese Vorgehensweise scheitert aber an den methodischen Grenzen der verfassungskonformen Interpretation. Die Grenze wird dabei vor allem mit Hilfe der Systematik bestimmt. Erstes Argument des Verfassungsgerichts ist der Umstand, daß die Annahme eines ungeschriebenen Tatbestandsmerkmals dieser Regelung keine praktische Bedeutung mehr zuweisen könne613. Ein weiterer Aspekt ist die Folge eines Widerspruchs, weil es dann nicht mehr verständlich ist, warum der Gesetzgeber gleichzeitig den Umfang der zugelassenen Nebentätigkeit erhöht hat614. Schließlich macht das Gericht die Probe, ob mit der vorgeschlagenen Lesart der Verwaltungsgerichte das Regelungsgefüge insgesamt stimmig bleiben kann615. Mit Hilfe dieser systematischen Argumente läßt das Verfassungsgericht dann die verfassungskonforme Auslegung durch die Verwaltungsgerichte scheitern616. 322.125.2 Die Sinneinheit des Buches Wenn Rechtserkenntnis möglich sein soll, braucht sie einen Gegenstand, mit dem sie übereinstimmt. Dieser Gegenstand wiederum ist als Gesetz nur dann möglich, wenn es für die Öffnung des Textes eine letzte Grenze gibt. Erst diese Grenze definiert den Gegenstand der Erkenntnis. Deswegen muß die herkömmliche Auslegungslehre als Rechtserkenntnislehre behaupten, daß das Ganze der Rechtsordnung mehr sei als die Fluchtlinie der praktischen Arbeit der Gerichte. Dieses Ganze müßte in der systematischen Auslegung für die Erkenntnis vielmehr verfügbar sein. Diese Verfügbarkeit soll erreicht werden über den Begriff des Lesens. Lesen kann man einen Text nur, wenn man schon begonnen hat, ihn zu verstehen. Der Leser braucht eine Verständnishypothese. In der herkömmlichen Methodenlehre wird nun diese Hypothese mit dem medialen Paradigma des Buches aufgeladen. Aus dem Wirtschaftsgut wird demnach eine metaphysische Figur, deren Aufgabe darin besteht, das Gleiten der Schrift in definierten Grenzen ruhig zu stellen. Das Buch mit all seinen Enden aus Fußnoten, Randbemerkungen, Lektüren, usw. wird zur Sinntotalität gerundet. Diese wiederum soll dann dem Verstehen des Lesers Form und Maß geben. Vor allem die klassische Hermeneutik hat diese Form des Buches zum ontologischen Strukturmoment des Verstehens gemacht: „Der Sinn dieses Zirkels, der allem Verstehen zu Grunde liegt, hat aber eine weitere hermeneutische Konsequenz, die ich den ‚Vorgriff der Vollkommenheit‘ nennen möchte. Auch das ist eine offenbar
BVerfGE 119, S. 247 ff., 275. BVerfGE 119, S. 247 ff., 276. 615 BVerfGE 119, S. 247 ff., 277. 616 Das genetische Argument in BVerfGE 119, S. 247 ff., 278 dient dann nur noch der Bestätigung. Das Zusammenspiel von genetischer und systematischer Konkretisierung bei der verfassungskonformen Auslegung zeigt sich auch in BVerfGE 119, S. 292 ff., 301. 613 614
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formale Voraussetzung, die alles Verstehen leitet. Sie besagt, daß nur das verständlich ist, was wirklich eine vollkommene Einheit von Sinn darstellt617. Mit diesem Vorgriff soll nahegelegt werden, daß im Text eine objektive Sinneinheit vorhanden ist, die den Leser zu führen vermag. Dieser Sinn ist der für den Leser objektiv vorgegebene Bezugspunkt. Aus der Sicht der Leser mag sich der Sinn eines Textes wandeln618. Aus der Sicht des Textes ist die jeweilige Lesart nur eine unter vielen, welche die Sinnfülle des Textes im Prinzip nie erschöpfen kann. Deswegen läßt sich vom Standpunkt der klassischen Hermeneutik her sagen, daß das Werk gerade im Wandel identisch bleibt. Die klassische Hermeneutik kommt damit dem Anliegen herkömmlicher juristischer Methodik stark entgegen. Mit ihrem autoritären Begriff von Tradition und ihrem Konzept der Interpretation als Teilhabe an der hermeneutischen Wahrheit wendet sie sich gegen einen drohenden Subjektivismus des Lesens. Die Bindung des Richters an das Gesetz könnte mit diesem objektivistischen Konzept eines Überlieferungsgeschehens einlösbar werden. Wenn Gadamer „methodos“ mit „Weg des Nachgehens“ übersetzt und als Möglichkeit eines „Immer-wieder nachgehen-Könnens“ bestimmt, wird eine Methode zur Strukturierung dieses Vorgangs sichtbar. Der Vorgriff auf Vollkommenheit besagt methodisch, daß man den Text als Buch nehmen muß, welches eine klar abgegrenzte und vollkommene Einheit von Sinn darstellt. Dabei wird dem Leser eine „transzendente Sinnerwartung“619 als Bucherwartung unterstellt, welche dann im hermeneutischen Zirkel mit der geschlossenen Sinntotalität des vorliegenden Buches zunehmend verschmilzt. Der Spielraum möglicher Lektüren ist damit klar fixiert. Es gibt keinen Raum zwischen Leser und Text, sondern der Leser muß in der Sinntotalität des Textes verschwinden. Allein der Text spricht. Er führt in der Interpretation ein Selbstgespräch. Um diese Einfalt für den Richter methodisch verfügbar zu machen, muß der hermeneutische Zirkel allerdings mit juristischen Inhalten gefüllt werden. Man will die Verfügbarkeit der Rechtsordnung als Sinnganzes dadurch erreichen, daß man das Ganze auf ein Zentrum hin reduziert: die Gerechtigkeit bzw. die Rechtsidee. Dieses Zentrum garantiere die Kohärenz des Systems und erlaube die Auslegung und Anwendung seiner Elemente im Innern einer Formtotalität als gerechte Lösung des Streitfalls620. Die traditionelle Lehre hatte dazu den Weg vom Textäußeren zu den inneren Werten des Rechts empfohlen. Ein Gericht darf sich nicht damit begnügen, auf der äußerlichen Ebene Texte zu verknüpfen, sondern muß in die Tiefe vorstoßen. Die sogenannte „vertikale Auslegung“621 soll ins Innere des Rechts führen. Aber die 617 618 619 620 621
Gadamer I, S. 299. Ebd., S. 379. Gadamer II, S. 61 f. Vgl. zu den hier angesprochenen strukturellen Problemen: Derrida VIII, S. 422 f. Bleckmann IV, S. 44.
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Abfahrt nach innen funktioniert in der Praxis nicht. Das Recht versammelt sich nicht zu einem inneren Wesen. Man findet statt dessen nur eine Vielzahl weiterer Normtexte auf derselben oder einer anderen Regelungsebene. Keine dieser Normen stellt die zentrale Steuerungseinheit oder den Gesamtsinn dar, sondern nur eine weitere mögliche Verknüpfung. Auf der Fahrt nach innen geht es den Juristen wie dem Neurowissenschaftler, der statt des gesuchten Zentral-Ichs nur eine Vielzahl von homunculi findet. Auch die Einheit des Rechts löst sich in eine Vielzahl von Beobachtungsperspektiven auf, so daß man ohne letzten Halt wieder im Äußeren landet. 322.125.3 Von der Systematik erster Ordnung zur Systematik zweiter Ordnung In der Praxis der Gerichte ist die Einheit des Rechts nicht verfügbar. Die Gerichte reagieren darauf mit einer Ergänzung der Systematik erster Ordnung durch eine Systematik zweiter Ordnung. Das heißt, sie beobachten nicht das Recht, sondern den Beobachter des Rechts. In einer empirischen Studie wurde mit Hilfe der Datenbank Juris eine statistische Abhandlung über die Zitierpraxis deutscher Gerichte erstellt622, wobei u. a. die Frage aufgeworfen wurde, in wie vielen bundesdeutschen Gerichtsurteilen Entscheidungen anderer Gerichte zitiert werden. Die Untersuchung stützte sich bei ihren Vergleichen in erster Linie auf Entscheidungen aus den Jahren 1980 und 1988. Ergebnis war, daß 1 446 von 3 046 in Juris gespeicherten Urteilen der obersten Bundesgerichte aus dem Jahr 1980 Zitate enthielten623. Bei Urteilen aus dem Jahr 1988 war dieser Anteil mit 3 503 von 5 603 Urteilen noch etwas höher624. Daraus ergibt sich, daß in weit mehr als der Hälfte aller Begründungstexte dieser Gerichte auf mindestens ein Urteil eines anderen Gerichts Bezug genommen wird625. Bei den Untergerichten war der Anteil wesentlich geringer, von den 10 143 in Juris gespeicherten Dokumenten aus dem Jahr 1980 wurde in weniger als einem Viertel auf andere Urteile verwiesen, 1988 stieg diese Quote immerhin auf ein knappes Drittel (rund 3 800 von 13 376)626. In dieser Untersuchung wird deutlich, daß es eine überragende Bedeutung der Praxis der eigenen Gerichtsbarkeit gibt627. Nur für einen geringen Teil aller Urteile spielt die Rechtsprechung anderer Gerichtszweige eine Rolle; dieser Anteil bewegt sich in der Regel im Promille-Bereich, nur gelegentlich steigt er auf mehr als 5%628. 622 623 624 625 626 627 628
Wagner-Döbler / Philipps, S. 228 ff. Ebd., S. 230. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 233. Ebd., S. 233.
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Es war festzustellen, daß hierbei das Bundesverfassungsgericht sowie der Bundesfinanzhof eine große Rolle spielen. Weiter wurde untersucht, wie sich die Entscheidungen der Bundesgerichte bzw. der Bundesgerichtshöfe auf die unteren Instanzen auswirken. Die Frage war jetzt, wie oft in Begründungstexten unterer Instanzen anderen Urteilen zugestimmt oder aber widersprochen wurde. Das wurde dann mit dem entsprechenden Verhalten der obersten Bundesgerichte verglichen. Hier war zu bemerken, daß bei nachgeordneten Instanzen der Anteil bestätigender Bezugnahmen höher ist als bei den obersten Bundesgerichten629. Im Rahmen der herkömmlichen Lehre hat man mit der Erklärung dieses Phänomens Probleme. Um trotz der offensichtlich aktiven Rolle der Gerichte die herkömmliche Vorstellung objektiv vorgegebenen Rechts zu retten, erklärt man das Präjudiz zur subsidiären Rechtsquelle630. Jenseits der „Wortlautgrenze“ oder bei „Unbestimmtheit“ des Textes sollen die Vorentscheidungen in die Bresche springen und dem Richter Rechtserkenntnis ermöglichen631. Das Rechtserkenntnismodell bleibt so die prinzipielle Schranke bei der Untersuchung der Rolle des Präjudizes. Wenn der Normtext als Gegenstand der Bedeutungserkenntnis versagt, wird er von der Vorentscheidung als Gegenstand der Erkenntnis ersetzt. In einem nicht näher einzugrenzenden Bereich wird dem Präjudiz damit eine normtextähnliche Rolle eingeräumt. Es ist angeblich Gegenstand der Rechtserkenntnis und richterlicher Bindung. Aber natürlich kann der Text einer Vorentscheidung dem Leser ebenso wenig eine feste Bedeutung als Gegenstand vorgeben, wie dies der Normtext vermochte. Nach dem praktischen Versagen des Rechtserkenntnismodells bleibt die argumentative Rolle des Präjudizes nach wie vor zu bestimmen. Die bisherige Diskussion um die Wirkung von Vorentscheidungen in der Praxis der Gerichte wird durch die prinzipiellen Schranken der traditionellen Rechtserkenntnislehre behindert. Diese wirken bis in die Terminologie hinein. Man stellt die faktische Wirkung von Präjudizien in der kontinentalen Tradition ihrer normativen Wirkung in der angelsächsischen gegenüber632. Normativität wird dabei als statische Eigenschaft eines Textes verstanden, den man einfach anwenden muß. Diese Vorstellung stimmt weder für Gesetze noch für die angelsächsischen Präjudizien. Wenn man im Rahmen einer Rechtserzeugungsreflexion Normativität nicht als Gegenstand, sondern als Prozeß faßt, kann man in der bisher unklaren Diskussion über die Bindungswirkung von Vorentscheidungen besser differenzieren: eine Bindung an Normtexte heißt, daß man sich nicht mittels besserer Argumente einfach davon lö-
629 630
Ebd., S. 238. Vgl. dazu Seifert, S. 37 ff. m.w. N., insbesondere S. 40, Fn. 85; sowie Pohl, S. 38 ff.,
49 ff. Vgl. zur Auseinandersetzung mit dieser Auffassung: Kähler, S. 278 ff. Vgl. zur Diskussion Schima, S. 280 ff. m.w. N. – Stärker differenzierend Kähler, S. 188 ff. 631 632
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sen darf. Eine argumentative Bindung bedeutet, daß ein Kontext der Entscheidung die Richtung gibt, aber durch bessere Argumente verdrängt werden kann. Präjudizien können, insofern sie methodisch haltbar sind, der aktuellen Entscheidung Richtung geben und wirken damit auf die Normativität ein. Aber sie fungieren nicht als legitimierender Zurechnungspunkt neuer Entscheidungen. Sie sind nur Argumente. Der Selbstbezug der Gerichte auf ihre frühere Spruchpraxis steht gleichrangig neben den Canones. Eigene Vorentscheidungen werden nicht erst dann herangezogen, wenn die herkömmlichen Auslegungsinstrumente versagt haben, sondern sie dienen bereits der Verfeinerung von grammatischer und systematischer Konkretisierung. Jedes Gericht will im Hinblick auf die Rechtsmittelfestigkeit seines Ausspruchs und auf die von der Gesetzesbindung geforderte Kontinuität sicherstellen, daß die aktuelle Entscheidung mit den bisherigen vereinbar ist. Natürlich kann in der heutigen Gesellschaft das Gericht nicht einfach stillschweigend in eine Tradition einrücken, so wie in segmentierten Gesellschaften der Traditionsträger die mündliche Überlieferung nach dem Tod seines Vorgängers unmerklich fortschreibt. Schon bei schriftlichem und erst recht bei computerunterstütztem Überliefern macht allein schon die Vielzahl der erfaßten Entscheidungen deutlich, daß Tradition nicht homogen ist, sondern heterogen, umstritten und widersprüchlich. Daher bedarf der Versuch, sich in eine Kontinuitätslinie zu stellen, der ausführlichen Diskussion. Das wird besonders klar in der Rechtsprechung. Die vereinfachende Bezugnahme auf das Oberverwaltungsgericht Münster oder den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof als Helden eines gefahrvollen Interpretationsstreits läßt sich meist schon mit Blick auf die beteiligten Senate und auf den Zeitpunkt der Entscheidungen auflösen. Die Justiz handelt traditionalistisch also nicht, weil dies einfach wäre, sondern obwohl es recht schwierig ist. Wenn sich Gerichte trotz fehlender einfacher Linearität der Tradition mit Vorentscheidungen auseinandersetzen, dann macht dies deutlich, daß es eben nicht anders geht. Das Recht steckt weder im Gesetz noch im Fall; es kann nicht gefunden werden wie ein verlegter Schlüssel. Es muß erzeugt werden, wie ein Kunstwerk, in dem sicheren Wissen, daß die Maßstäbe des Kunstmarkts gnadenlos sind. Deswegen kann der Richter auf die Hilfsmittel der Vorentscheidungen nicht verzichten633.
322.126 Strukturen systematischer Interpretation 366
Vom methodischen Verfahren her gesehen634, enthält systematische Interpretation zwei bisher nicht unterschiedene Möglichkeiten. In der ersten Gruppe von Fällen 633 Dieser Fallbezug der Jurisprudenz wird auch in der Sprachphilosophie zunehmend als Paradigma des Verständnisses von Normativität der Sprache verwendet. Vgl. dazu Liptow II, S. 55 ff. – In die Rechtstheorie und Methodologie hielt dieses Paradigma mit dem Auftreten der Strukturierenden Rechtslehre Einzug. 634 Eine Darstellung der systematischen Auslegung an einem Beispiel aus dem Baurecht bei Jeand’Heur XI, S. 1175 ff. – Eine Sonderform systematischen Argumentierens bietet das
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wird ein Normtext B herangezogen, um Gesichtspunkte für eine Konkretisierung der Norm A beizutragen. Dabei ist auch der Normtext von B zu interpretieren und B insgesamt zu konkretisieren. Es ergibt sich schließlich, daß A in der Tat den Fall regiert, nicht aber B. Das Heranziehen von B hat geholfen, A für den vorliegenden Rechtsfall zu formulieren und damit dem Normtext von A eine neu gebildete Rechtsnorm zurechenbar zu machen. Auch bei der zweiten Fallgruppe wird B zunächst zu dem Zweck herangezogen, 367 die Konkretisierung von A zu fördern. Dabei zeigt sich jedoch, daß nicht nur A, sondern auch B den Rechtsfall regiert. Hier umschließt die regelnde Funktion von B für die Entscheidung des Falls die der ersten Fallgruppe und geht gleichzeitig über sie hinaus. Auch diese Variante wird herkömmlich zu systematischer Interpretation gerechnet. Dagegen ist nichts einzuwenden, soweit die verschiedenartigen Funktionen der systematisch herbeigezogenen Vorschrift(en) und ferner die beim systematischen Heranziehen entstehende Notwendigkeit reflektiert werden, die ins Spiel zu bringende(n) Norm(en) ihrerseits nicht nur unter systematischen, sondern unter allen geläufigen methodischen Aspekten zu konkretisieren. Selbst dort, wo bei Konkretisierung der Norm A das Verfahren systematischer Auslegung von A „rein“ durchführbar sein sollte – was meist nicht der Fall sein wird –, wären die übrigen Konkretisierungsmomente zumindest in bezug auf die zur Klärung der Wirkung von A herangezogenen Normtexte B, C usw. aktuell, da B, C usw. damit gleichfalls für den anstehenden Rechtsfall konkretisierungsbedürftig und insofern (zumindest indirekt) „einschlägig“ werden.
argumentum ad absurdum. Dieses überständige traditionelle Stilmittel dient zumeist dazu, die Kontrahenten zu verblüffen, gar einzuschüchtern. Es lebt in der Praxis davon, daß sein (überzogener) Vergleich gerade nicht nachgeprüft wird. Das argumentum ad absurdum fällt damit unter seine eigene Kategorie. Das Argument behauptet, daß eine bestimmte Lesart des Textes zu Konsequenzen führt, die niemand wollen kann. Ob die Konsequenz wirklich von niemand gewollt wird, entscheidet der Leser. Die Schwierigkeit des Arguments liegt dann darin, das Eintreten der Konsequenz zu begründen. Häufig erweist sich das argumentum ad absurdum dabei als Form der Normbereichsanalyse. Allerdings bleibt es manchmal auch im Bereich der Systematik. Ein Beispiel dafür wäre die Inhouse-Entscheidung des OLG Düsseldorf (Beschluß vom 15. 10. 2003 – VII-Verg 50 / 03). Nach der „Teckal“-Enscheidung des EuGH (EuZw 2000, 246 ff.) sind Aufträge einer Gebietskörperschaft an eine rechtlich von dieser verschiedenen Person grundsätzlich ausschreibungspflichtig. Die Rekommunalisierung von bisher durch Privatunternehmen durchgeführten Aufgaben stellt dagegen ein Eigengeschäft (Inhouse-Geschäft) dar, das nicht dem Vergaberecht unterliegt. Ein Untergericht hatte nun angenommen, daß die Energiewirtschaft und die Abfallwirtschaft als Gegenstände des Wettbewerbs dieser Ausnahme nicht unterfallen könnten. Diese Lesart wird vom OLG Düsseldorf widerlegt durch Hinweis auf absurde Konsequenzen innerhalb der Systematik: Wäre nämlich die Inhouse-Beauftragung lediglich auf nichtwettbewerbliche Bereiche beschränkt, so könnte es überhaupt keine Inhouse-Geschäfte mehr geben, denn diese sollen gerade die Ausnahme von einer notwendigen Vergabe im Wettbewerb sein. Damit ist klargestellt, daß die Gemeinden auch weiterhin frei entscheiden können, ob sie eine Aufgabe entweder selbst bzw. durch eine kommunale Gesellschaft erfüllen oder ob sie Dritte mit der Durchführung beauftragen. Unter das Vergaberecht fällt nach richtiger Auffassung des OLG Düsseldorf nur die Beauftragung Dritter.
392
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Das Gesagte umfaßt die üblichen Fälle der normtextexternen (im Sinn von: tatbestandsexternen) Systematik; also dann, wenn zu dem / den einschlägigen Normtext (en) noch andere vergleichend herangezogen werden. Nach der Reichweite der einbezogenen Texte läßt sich von dieser aber noch die tatbestandsinterne unterscheiden. Diese Art der systematischen Argumentation bleibt im Rahmen der einschlägigen Vorschrift selbst, also des unmittelbar zu konkretisierenden Tatbestands. Hier werden von diesem umfaßte Ausnahmen, Modifikationen, Varianten miteinander verglichen, um für den vorliegenden Fall genauer folgern zu können. Ein Beispiel dafür ist der systematisch einfach gelagerte Text von § 240 Abs. 1 StGB mit seinen ausdrücklichen Spielarten „Gewalt“ und „Drohung mit einem empfindlichen Übel“; und zwar als Beispiel für die Bestimmung dessen, wie mit „Gewalt“ umzugehen ist (dazu Abschnitt 320.52).
369
Häufig laufen sowohl systematische als auch teleologische Interpretation auf die Verbindung mehrerer, wenn nicht aller Konkretisierungselemente unter der Bezeichnung „systematisch“ bzw. „teleologisch“ hinaus635. Wegen ihrer Gebundenheit an nicht heute gültige Texte (frühere vergleichbare Regelungen bzw. alle gesetzgeberischen Materialien) sind somit nur der historische und der genetische Aspekt von den übrigen deutlich unterscheidbar; auch sie sind der Sache nach mit ihnen durchgängig verflochten. Ferner ist nicht zu vergessen, daß auch die Texte nicht mehr geltender vergleichbarer Vorschriften wie auch die der legislatorischen Materialien interpretiert werden müssen; und zwar trotz ihres nicht-legislativen Charakters grundsätzlich mit denselben Mitteln wie Normtexte. Noch genauer genommen, sind die historische und die genetische Auslegung Unterfälle der systematischen. Nur entstammen die von ihnen beigetragenen Gesichtspunkte nicht anderen Vorschriften des geltenden Rechts (wie sonst bei systematischer Interpretation), sondern – ermittelt mit Hilfe von Rechtsgeschichte und historischer bzw. aktueller Rechtsvergleichung – früheren einheimischen oder ausländischen Normtexten, Nicht-Normtexten in Gestalt von Entscheidungen, Definitionen und Lehrsätzen über jene früheren Rechtssätze und schließlich Nicht-Normtexten in Gestalt von Gesetzesmaterialien.
370
Herkömmliche „systematische“ Regeln wie die, Ausnahmevorschriften seien „eng auszulegen“, wie Analogie oder argumentum e contrario636 gehören sachlich in den Umkreis der auf die dargelegte Art miteinander verflochtenen grammatischen, historischen, genetischen und systematischen Interpretationsweisen. Dabei darf nicht übersehen werden, daß die Voraussetzungen solcher Regeln, z. B. das Zwischenergebnis, es liege eine „Ausnahmevorschrift“ vor, ihrerseits stets das Ergebnis von Interpretation und Konkretisierung sein werden und ohne die differenzierende Beachtung der Normstruktur nicht auskommen637. Die Argumentation mit Vgl. z. B.: BVerfGE 102, 176, 187. Vgl. zur logischen Struktur: Joerden, S. 323 ff.; Schneider / Schnapp, S. 155 ff. 637 Kritische Vorbehalte für das Zivilrecht bei Larenz I, S. 325. – Zum Grundsätzlichen vgl. BVerfGE 37, 363 ff. (Zustimmungsgesetz-Entscheidung), 405: Ausnahmenormen seien wie alle andren auch „korrekt und das heißt hier ihrem eindeutigen Inhalt und Sinn entsprechend 635 636
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Regel und Ausnahme kann nicht als „Auslegungsgrundsatz“ isoliert werden. Sonst bliebe die entscheidende materielle Frage offen, welche Normbestandteile im Einzelfall „eng“ auszulegen und welche andren auf welche andre Art und Weise zu konkretisieren seien. Die Frage, ob es sich überhaupt um eine Ausnahmevorschrift handle, setzt bereits eine mit allen verfügbaren Konkretisierungselementen erarbeitete Vorklärung darüber voraus, welche normative Wirkung die Rechtsnorm als „Ausnahmevorschrift“ kennzeichnen solle. Zu eigenen begrenzten „Methoden“ stilisiert, verführen Gesichtspunkte dieses Typs zu formalistischen Zirkelschlüssen, von denen die Sachaspekte der Rechtsentscheidung verdeckt werden. In den ihnen zukommenden Rahmen der systematischen Interpretation gestellt (so wie die „teleologischen“ Aspekte in den Rahmen aller andren Konkretisierungselemente zu stellen sind), können solche Gesichtspunkte für den Einzelfall zusätzliche, methodisch dann nicht mehr verschleierte Lösungsbeiträge erbringen.
322.126.1 Analogie Die Möglichkeit eines Analogieschlusses638 besteht, wenn eine sogenannte Lücke 371 im Gesetz vorliegt. Dabei ist der herkömmliche Begriff der Lücke äußerst unklar. Um diesen Begriff rechtsstaatlich präzise handhaben zu können, sind zwei Voraussetzungen zu unterscheiden: Erstens muß man, um eine Lücke im Gesetz annehmen zu können, ein Regelungsziel angeben. Zweitens muß man feststellen, daß das Gesetz diesem Regelungsziel nicht genügt.
322.126.11 Begründung der Lücke Das vorausgesetzte Regelungsziel bedarf einer Begründung. Ohne eine solche Begründung ist davon auszugehen, daß das Gesetz eine abschließende Regelung darstellt und das fragliche Ziel eben gerade nicht enthält. Im Strafrecht ist dies durch Art. 103 Abs. 2 GG vorgegeben. Eine darüber hinausgehende Argumentation ist dort nicht mehr möglich. Das StGB ist abschließend. In anderen Rechtsgebieten besteht dieses Verbot nicht, so daß die regelmäßig anzunehmende Lesart, das Gesetz sei eine abschließende Regelung, mit entsprechenden Argumenten widerlegt werden kann. Als Argument gegen die vorrangige Lesart abschließender Regelung genügt nicht jede Begründung. Die rechtspolitischen Wunschvorstellungen eines Richters, Gutachters oder Rechtsunterworfenen können dem vom demokratisch legitimierten Geauszulegen“; der Charakter einer Ausnahmevorschrift verbiete es nur, „sie über ihren eindeutigen Inhalt und Sinn hinaus ausdehnend auszulegen“. – Der methodisch zunächst richtige Ansatz wird durch die doppelt bekräftigte Illusion „eindeutig“ erheblich entwertet. – Fragen des Analogieschlusses speziell im Europarecht bei Langenbucher II, S. 70 ff. – Grundsätzlich zu verfassungsrechtlichen Anforderungen Hemke, S. 161 ff. 638 Vgl. dazu Joerden, S. 327 ff.; Schneider / Schnapp, S. 149 ff.
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setzgeber geschaffenen Text nicht entgegengehalten werden: Denn die Annahme einer Lücke ist „keine Aussage über einen Gegenstand und seine Defektheit, sondern ein Werturteil über die Regelungsbedürftigkeit und -möglichkeit (…)“639. Rechtspolitik genügt als Begründung nicht. Nach den Regeln der Kunst begründet das Bundesverwaltungsgericht eine Lücke folgendermaßen: § 35 Abs. 3 Satz 3 Baugesetzbuch hat diejenigen Darstellungen im Flächennutzungsplan, welche die Konzentrationsflächen für die nach § 35, 1 Baugesetzbuch privilegierten Vorhaben festlegen, mit Rechtswirkungen versehen, die nachträglich eine planwidrige Regelungslücke entstehen lassen. Gemessen wird das am gesetzgeberischen Ziel des § 47 Abs. 1 Nr. 1 VwGO, so daß diese Lücke im Weg der Analogie zu schließen ist. Ziel des § 47 VwGO ist es, ein bundesweites Normkontrollverfahren einheitlich auszugestalten, vor allem gegenüber Bebauungsplänen im Hinblick auf die privaten Belange Planbetroffener. Das rechtfertigt es, § 47, 1 Nr. 1 VwGO auf die Darstellung von solchen Konzentrationsflächen in einem Flächennutzungsplan zu erstrecken, mit denen die Rechtswirkungen des § 35 Abs. 3 Satz 3 Baugesetzbuch erreicht werden sollen. Dieser Paragraph versetzt die Gemeinde in die Lage, die bauliche Entwicklung privilegierter Vorhaben im Außenbereich planerisch zu steuern. § 15 Abs. 3 Baugesetzbuch verstärkt die Steuerungskraft solcher Festsetzungen. Auf diese Weise erscheint eine Lücke nicht aus rechtspolitischen Erwägungen begründet, sondern aus Wortlaut und Systematik des Gesetzes. Ein Zuviel an Begründung liegt demgegenüber vor, wenn das Fehlen einer Regelung im Wege einer Gesamtanalogie begründet wird unter Bezug auf die Rechtsordnung als Ganzes, die Rechtsidee oder die Gerechtigkeit. Die Rechtsordnung als Ganzes oder die Gerechtigkeit sind als holistische Größen gerade nicht handhabbar. Auch wenn entschlossene Juristen immer wieder abgesunkene Philosopheme wie den Neuhegelianismus, Neukantianismus oder bestimmte Lesarten der Diskurstheorie bemühen, vermag das nichts an dem Umstand zu ändern, daß Rechtsidee oder Gerechtigkeit als formulierbare Größen nicht zentral oder als zentrale Größen nicht formulierbar sind. Damit schlägt die Scheinobjektivität eines Bezugs auf das Ganze in subjektive Willkür um. Zwei Strategien zur Begründung einer Lücke sind allerdings legitim: Einmal die Ableitung der Lücke aus der Entstehungsgeschichte. Dabei wird über genetisches und evtl. historisches Element ein bestimmter Plan des Gesetzgebers nachgewiesen, welcher im Text nur unvollständig realisiert ist. Dann liegt eine sogenannte planwidrige Lücke vor. Daneben gibt es noch die sogenannte Wertungslücke. Dabei wird eine höherrangige Norm oder ein höherrangiger Normenkomplex zur Begründung der Lücke herangezogen. Beide Strategien haben allerdings auch Probleme. Die planwidrige Lücke setzt zum einen den Plan voraus. Diesen kann man mit Hilfe der Regierungsbegründung oder der Debatte in Ausschüssen oder Plenum des Parlaments begründen. Die entscheidende Engstelle ist aber der Nachweis, daß dieser Plan aus einem Fehler des Gesetzgebers heraus nur 639
Vgl. Esser V, S. 177 ff., 179; Coing IV, S. 281 ff.
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unvollständig realisiert wurde. Dieser Nachweis bedarf des Einsatzes aller Konkretisierungselemente und dürfte nur extrem selten zu führen sein. Die Wertungslücke setzt demgegenüber die Konkretisierung einer höherrangigen Rechtsquelle voraus und zusätzlich den Nachweis, daß auf der darunter liegenden Ebene das gerade gewonnene Normprogramm der höherrangigen Rechtsquelle nur unvollständig realisiert ist. Aber selbst wenn diese Argumentationssequenz gelingt, stellen sich noch weitere normative Probleme. Diese ergeben sich aus dem Grundsatz der funktionellen Gewaltenteilung. Denn der Richter ist nicht befugt, an Stelle des demokratisch legitimierten Gesetzgebers die Verfassung zu Normtexten zu konkretisieren. Daher erscheint im Hinblick auf Gewaltenteilung und Gesetzesvorbehalt in diesem Bereich nur eine Analogie zu Gunsten des Bürgers denkbar, nicht aber eine Analogie zu Lasten des Bürgers. 322.126.12 Die Reichweite der Lücke Wenn die Begründung des Regelungsziels gelungen ist, muß festgestellt werden, inwieweit dieses Regelungsziel im Gesetz realisiert ist. Hier liegen die größten Schwierigkeiten in der von der herkömmlichen Jurisprudenz gepflegten Sprachtheorie und Rechtsnormtheorie. Wenn man mit dem klassischen Gesetzespositivismus das Gesetz als anwendbaren Befehl versteht, hat man immer, wenn dies nicht möglich ist, eine Lücke. Die Rechtsordnung bestünde dann fast nur noch aus Lücken. Denn das Gesetz ist praktisch nie ein anwendbarer Befehl. Der Bereich der Lücken bleibt fast genauso groß, wenn man mit der herkömmlichen Auslegungslehre das Gesetz als dem Fall vorgeordnete normative Substanz versteht. Eine solche normative Substanz stellt sich bei genauer Betrachtung immer als Projektion heraus, so daß man Lücken nur vermeiden kann, wenn man genaue Betrachtungen des Gesetzes vermeidet. Erst wenn man den Normtext als Eingangsdatum für die lege artis herzustellende Rechtsnorm begreift, läßt sich der aktive Anteil des Richters an der Entscheidung innerhalb der Gesetzbindung begreifen. Damit kann die Überforderung des Gesetzes und die grenzenlose Expansion des Lückenbegriffs überwunden werden. Man stößt dann allerdings auf ein zweites Erkenntnishindernis640 in der juristischen Sprachtheorie. Juristen machen in ihrem Zugriff auf die Sprachwissenschaft aus dem linguistischen Begriff der Regel eine gesetzespositivistische Norm, welche eindeutig zu entscheiden erlaubt, ob ein Sprachgebrauch legitim ist oder nicht641. Wenn die Regel dies nicht erlaubt, im Bereich von Vagheit, Mehrdeutigkeit usw., muß dann mit Prinzipien gearbeitet werden. Wenn die Sprachregel so aufzufassen wäre, gäbe es bei der sprachlichen Konstitution der Rechtsnorm wiederum nur Lükken. Tatsächlich sind aber Sprachregeln eher so beschaffen, wie die von den Juri640 641
Vgl. zu diesem Begriff Bachelard, S. 4 ff. Vgl. dazu Alexy VII, S. 16 f.; ders. VIII, S. 217 ff.
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sten erfundenen Prinzipien. Das heißt, sie sind nur vorläufige Zwischenschritte bei der Interpretation und bedürfen einer genauen Abgrenzung und Abstufung im Verhältnis zu anderen Sprachregeln. Erst wenn man neben der herkömmlichen Rechtsnormtheorie auch noch die beschränkte juristische Sicht der Sprache aufgibt, kann man die Leistung des Gesetzes realistisch einschätzen und die Restgröße der Lücke präzise bestimmen. 322.126.13 Beispiele für den Analogieschluß Das häufigste Risiko des Analogieschlusses ist eine Gesamtanalogie, welche mit holistischen Größen argumentiert. Ein Beispiel für diese Problematik ist die Auseinandersetzung zwischen dem OVG Münster und dem Bundesverfassungsgericht über die Möglichkeit des Verbots von neonazistischen Demonstrationen nach § 15 VersG im Hinblick auf das Merkmal der öffentlichen Ordnung. Das OVG Münster geht davon aus, daß das Grundgesetz eine antinationalsozialistische Grundordnung sei, die entsprechende Meinungsinhalte von vornherein ausschließe, und sieht deswegen eine Grundlage für entsprechende Verbote. Demgegenüber nimmt das Bundesverfassungsgericht an, daß die Justiz sich auch gegenüber neonazistischen Versammlungen meinungsneutral verhalten müsse. In der versammlungsrechtlichen Literatur642 wird das Vorgehen des OVG Münster als Rechtsfortbildung gesehen. Das Versammlungsgesetz weise eine Lücke auf, wenn es nicht erlaube, neonazistische Versammlungen wegen ihres Meinungsinhalts zu verbieten. Diese Lücke soll durch eine Erweiterung des Begriffs der öffentlichen Ordnung geschlossen werden. Danach soll der Begriff der öffentlichen Ordnung in § 15 VersG nicht einfach auf moralische Vorstellungen in der Bevölkerung verweisen, sondern diese moralischen Vorstellungen seien eben auch geprägt von den elementaren Schutzgütern der Verfassung: „Vielmehr kennzeichnet die öffentliche Ordnung den Grundkonsens, der sich in der Rechtsordnung als Summe des positiven Rechts niedergeschlagen hat, ohne daß diese deshalb im Einzelfall einschlägige, handhabbare Tatbestände zur Verfügung stellen könnte. Die gegenüber der Integrität dieser Rechtsordnung subsidiäre Funktion der öffentlichen Ordnung fängt damit Lücken auf, die allgemeinen oder bereits spezifischen besonderen Implikationen der Rechtssetzung geschuldet sind. Dem juristischen Analogieschluß ähnlich erlaubt sie den Ordnungsbehörden unter Wahrung des Gesetzesvorbehalts, die freiheitsschützenden und freiheitsbegrenzenden Linien der Rechtsordnung auszuziehen.“643 Damit können neonazistische Versammlungen, wenn sie gegen den „Grundkonsens“ der Verfassung verstoßen, nach § 15 VersG verboten werden. Inhalte der Verfassung werden damit zentriert zu einem Grundkonsens, welcher dann Orientierung für eine Rechtsfortbildung durch die Gerichte liefern soll: „Auf ihn soll sich die öffentliche Ordnung als Verweisungsbegriff beziehen. Aber was ist der normative Inhalt des Grundkonsenses 642 643
Vgl. dazu Battis / Grigoleit, S. 121 ff. Vgl. dazu ebd., S. 128.
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und wie läßt sich dessen Inhalt methodisch bestimmen? Einzelne Normen wie Art. 26, Art. 139 GG und Eingriffstatbestände kann man in Gesetzestexten ausfindig machen. Welche Erkenntnismittel stehen aber zur Bestimmung des Grundkonsenses zur Verfügung? Welcher Grundkonsens der positiven Rechtsordnung mit Blick auf Nazismus und Neonazismus zu Grunde liegt, das wird man sich nur aus der positiven Rechtsordnung selbst und ihrer Einzeltatbestände erschließen können. Ein anderes Erkenntnismittel ist nicht ersichtlich, denn außer den Einzeltatbeständen hat sich nichts ‚niedergeschlagen‘ oder ‚manifestiert‘. An den einzelnen Tatbeständen der positiven Rechtsordnung kann man erkennen, wie weit der antinazistische Grundkonsens wirklich gereicht hat. Die Debatte im Bundestag über die Strafbarkeit der sogenannten Auschwitz-Lüge ist ein Lehrstück über den wahren Grundkonsens – mehr war nicht möglich. Deshalb ist es methodisch unzulässig, den ‚Grundkonsens‘ bzw. die ‚Summe der Rechtsordnung‘ gegen die Einzeltatbestände der positiven Rechtsordnung auszuspielen.“644 Ein weiteres Beispiel für eine unzulässige Gesamtanalogie ist der Versuch, für gewisse Extremfälle die Möglichkeit polizeilicher Folter zu legitimieren. Dann müßte aber in bezug auf die Folter eine Regelungslücke im Polizeigesetz bestehen: „Zweifellos liegt keine Formulierungslücke vor. Darunter ist das Fehlen einer gesetzlichen Regelung zu verstehen an einem Ort und in Bezug auf eine Frage, wo nach dem gesetzlichen Plan eine Regelung zu erwarten ist. Eine Formulierungslücke schließt § 35 BwPolG sicher aus: Zwang bei Vernehmungen ist ausnahmslos verboten. Doch könnte eine Wertungslücke vorliegen. Das Gesetz regelt ein bestimmtes Problem, tut dies aber auf eine Art und Weise, die unvernünftig und ungerecht ist.“645 Hier eine Wertungslücke anzunehmen, ist vollkommen unhaltbar. Eine solche Lücke entsteht nicht durch Berufung auf Vernunft oder Gerechtigkeit. Denn diese taugen nicht als Deduktionsgrundlage für Einzelentscheidungen. Vernunft und Gerechtigkeit sind wichtige Ziele für die Arbeit der Gerichte und die Rechtskultur als Ganzes. Aber der einzelne Jurist kann sie weder handhaben noch definieren. Deswegen ist eine Wertungslücke nur anzunehmen, wenn eine höherstufige Norm an der entsprechenden Stelle eine Regelung fordert und diese fehlt. Allerdings verbieten alle höherstufigen Rechtsquellen, sowohl die Verfassung, als auch das Europarecht und das Völkerrecht, das Foltern eindeutig. Das Fehlen einer einfachgesetzlichen Regelung über das Foltern im Polizeigesetz ist damit gerade keine Lücke, sondern eine abschließende Regelung. Dies bestätigt auch der Verweis in den Polizeigesetzen auf § 136a StPO. Ein gelungener Analogieschluß könnte das Problem sein, ob bei geheimhaltungsbedürftigen Unterlagen eine Beweisverwertung nur durch das Gericht in Betracht kommt, ohne daß den übrigen Verfahrensbeteiligten Kenntnis und Einsicht gewährt wird646. Alternative wäre eine Entscheidung nach Beweislastgrundsätzen. Dies führt 644 645 646
Vgl. dazu Rühl, S. 537. W. Brugger IV, S. 448 f. Vgl. dazu BVerfG 101, 106 ff.
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allerdings dann zum Nachteil, wenn sich die nicht beweisbelastete Partei auf den Geheimnisschutz beruft. In diesem Fall wäre die Klage nach allgemeinen Grundsätzen daher abzuweisen. Nach der angesprochenen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu § 99 VwGO alter Fassung gibt es hier allerdings eine Alternative: „Ein In-camera-Verfahren ist danach zulässig, wenn hierdurch die Rechtsschutzposition der beweisbelasteten Partei allenfalls verbessert werden kann. Dieser Grundgedanke ist nicht auf Auskunftsklagen gegen den öffentlich-rechtlichen Dienstherrn beschränkt. Er gilt grundsätzlich auch für Klageverfahren in der Hauptsache. Jedenfalls in diesen Fällen ist damit das In-camera-Verfahren auch im Hauptsacheverfahren die verfassungsrechtlich vorzugswürdige und gebotene Lösung. Es wahrt den Geheimnisschutz für die beweisbelastete Partei. Gleichzeitig ermöglicht es die vollständige Kontrolle der tatsächlichen Grundlagen der Entscheidung durch das Gericht und ist daher gemessen am Gebot effektiven Rechtsschutzes immer noch die bessere Lösung. Es bleibt allein die Beschränkung des rechtlichen Gehörs des Beteiligten, der die geheimzuhaltenden Unterlagen nicht kennt und nicht kennen darf. Diese Beschränkung ist sachlich gerechtfertigt und damit hinzunehmen, da dies seine Rechtsschutzposition gegenüber der Alternative der Beweislastentscheidung allenfalls verbessert, jedenfalls nicht verschlechtert.“647 Die Analogie648 hält sich, falls sie sich nicht durch begründbaren Umkehrschluß als unzulässig erweist, im Rahmen der erlaubten normalen Konkretisierungsarbeit. Ihre starke Betonung als eigenständige Figur besonders im Zivilrecht hat wissenschaftsgeschichtliche Ursachen. Bei der sogenannten Gesetzesanalogie sind die analog erzeugten Rechts- und Entscheidungsnormen auf je einen Normtext methodisch rückführbar, bei der „Rechtsanalogie“ auf jeweils mehrere. Die analoges Vorgehen tragenden Argumente sind neben dem grammatischen vor allem die systematischen, daneben in der Regel normtextbezogen-dogmatische und rechtspolitische, in anderen Fällen auch historische oder genetische Aspekte. 322.126.2 „Zirkelschlüsse“, „Ausnahmevorschriften“ 372
Die Berechtigung der Kritik an Zirkelschlüssen liegt grundsätzlich darin, daß mit ihnen ein postulatorischer Aspekt in die Überlegung eingeführt wird; nicht etwa in ihrer (metaphorisch umschriebenen) Argumentationsform. Mit dem „Zirkel“ (oder der „Ellipse“) muß im Geschäft der Normkonkretisierung wie allgemein in dem der Interpretation bekanntlich immer gearbeitet werden. Bei den sogenannten Zirkelschlüssen liegt ein inhaltlicher Mangel vor. Ist er behoben, so zeigt sich, daß die Formalfigur des Zirkels selbst keinen Anlaß für weitere Einwände bildet. Mayen, S. 542. Zu Problemen bei der Durchführung eines Analogieschlusses anhand eines praktischen Falls vgl. auch Andreas Fischer-Lescano, Verfassungsrechtliche Fragen der Auslandsentsendung des BGS, in: AöR 2003, S. 52 ff., 86 ff. – Grundsätzlich zur „Methodik der Analogiebildung im öffentlichen Recht“: Hemke. 647 648
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Ein Beispiel für einen Zirkelschluß649 bietet etwa folgende Annahme: „Die Aus- 373 legung von Art. 2 Abs. 1 GG durch das Bundesverfassungsgericht in der Entscheidung BVerfGE 6, 32 ff. ist unrichtig. Wäre sie zutreffend, so stünde der rechtsstaatliche Vorbehalt des Gesetzes in Art. 2 Abs. 1 GG. Da dieser Vorbehalt jedoch dort nicht steht, kann die Auffassung des Elfes-Urteils zu Art. 2 Abs. 1 nicht richtig sein.“ Sobald in diesem Beispiel inhaltlich begründet wäre, der Vorbehalt des Gesetzes könne in Art. 2 Abs. 1 GG nicht normiert sein, wäre der „Schluß“ zum Argument geworden und der Zirkel nicht mehr anstößig. Die pseudo-normative Regel „Ausnahmevorschriften sind eng auszulegen“ arbeitet demgegenüber mit zwei Unterstellungen: Die eine betrifft (wie die Unterstellung beim Zirkelschluß) den konkreten Fall und behauptet, es liege tatsächlich eine Ausnahme vor. Die andre liegt in der generellen Formulierung des Satzes selbst, die auf die normativen Vorgaben keine Rücksicht nehmen zu müssen meint650. Entsprechendes gilt für den Satz „in dubio pro libertate“. 322.127 Aspekte eines funktional einheitlichen Vorgangs Die herkömmlichen Auslegungsregeln können als für sich selbständige „Metho- 374 den“ nicht vereinzelt werden. Im Vorgang der Konkretisierung erweisen sie sich nicht nur als einander ergänzend und abstützend, sondern als jeweils schon vom Ansatz her sachlich ineinander verwoben. Sie bilden nicht eigenständig umschreibbare und begründbare Verfahren, sondern erscheinen als verschiedene Facetten in dem Vorgang, am Fall eine Rechtsnorm zu erarbeiten. Aus der praktischen Aufgabe selbst ergeben sie sich als Fragestellungen an einen Normtext, der vergleichbare historische Vorbilder und Gesetzgebungsmaterialien aufweist (historische und genetische Interpretation). Im übrigen richten sie sich an jede Erarbeitung einer Rechtsnorm: da jede einen Normtext „hat“, das heißt ihm methodisch zurechenbar sein muß – die gewohnheitsrechtliche einen wechselnden, die geschriebene einen authentisch fixierten (grammatische Interpretation); da keine Norm positiven Rechts für sich allein steht, sondern in Zusammenhang zumindest mit der Gesamtrechtsordnung (systematische Interpretation); da schließlich jede Norm auf ihren „Sinn und Zweck“ hin befragt werden kann651. Insofern hat Savigny in der Tat Elemente forVgl. zur logischen Struktur Joerden, S. 334; Schneider / Schnapp, S. 248 ff. Eine besonders merkwürdige Argumentation mit einer „Ausnahmevorschrift“ findet sich zu Art. 79 Abs. 3 GG im Abhör-Urteil, BVerfGE 30, 1 ff., 25. – Es erfolgt keine methodische Auslegung von Art. 79 Abs. 3 GG (S. 24 und ff.): mit einer Serie von Alibi-Floskeln („formal-legalistisch“, „prinzipielle Preisgabe“, „im allgemeinen“, „nur für eine Sonderlage“, „aus evident sachgerechten Gründen“, S. 20, „systemimmanent“ modifizieren, S. 25) wird der Aufgabe ausgewichen, den Art. 79 Abs. 3 GG nach normalen Konkretisierungsgrundsätzen (hierzu Schlink II) zu interpretieren. Dagegen zu Recht die Abweichende Meinung, ebd., 33 ff., 38 ff. 651 Folgerichtig klarer Einsatz dieser Elemente z. B. bei Jeand’Heur V (gegen Art. 23 GG und für Art. 146 GG als normativ korrekten Weg zur deutschen Einigung). 649 650
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muliert, die mit der Aufgabe der Konkretisierung im System geschriebenen Rechts notwendig gegeben sind. Ferner kann jede in einem Fall zu erstellende Norm auf die Elemente ihres Normbereichs hin untersucht werden, kann sie lösungstechnisch behandelt, dogmatisch und rechts- bzw. verfassungstheoretisch beurteilt sowie rechts- bzw. verfassungspolitisch bewertet werden. Alle juristischen Funktionen von der Gesetzgebung bis zur wissenschaftlichen Exegese erweisen durch ihre Praxis, daß diese Elemente für die Normkonkretisierung insgesamt nicht zu entbehren sind. 322.128 Unentbehrlichkeit und Grenzen der canones 375
Grammatische, historische, genetische, systematische und (eingeschränkt) teleologische Auslegung sind Mittel der Textinterpretation im Dienst der Normerzeugung. Die mit ihrer Hilfe auszulegenden Texte gehen dem Umfang nach weit über die Formulierung des auszulegenden Rechtssatzes hinaus. Sie erfassen sowohl die Wortlaute anderer Normen652 als auch nicht-legislative Sprachtexte, die für die Auslegung der einschlägigen Normtexte von Bedeutung sind. Die sprachlich primär nicht festgelegten, d. h. auf Textauslegung nicht reduzierbaren Denkoperationen aus dem Normbereich der Vorschrift und aus dem Sachverhalt des Rechtsfalls werden von den herkömmlichen Arten der Textinterpretation zwar nicht normtheoretisch und methodisch differenziert erfaßt, aber erfahrungsgemäß durch Unterstellungen sub titulo „Zweckmäßigkeit“, „Natur der Sache“ oder „Sinn und Zweck der Vorschrift“ in die Konkretisierung einbezogen. Die herkömmlichen Regeln wirken jedoch in einer normtheoretisch fundierten strukturierenden Methodik, die sich auch auf Normbereichsanalysen stützt, nicht als Fremdkörper. Sie sind selbst, wie sich gezeigt hat, abkürzende Bezeichnungen für bestimmte Untersuchungsrichtungen, für bestimmte Typen sachlicher Gesichtspunkte der zu konkretisierenden Vorschrift. Es wurde klar, daß dies auch für die nur scheinbar autonome grammatische Auslegung zutrifft. Die überlieferten Kunstregeln sind hier wie bei Savigny Elemente in einem Arbeitsvorgang, der die Aufgabe hat, rechtliche Normen auf möglichst rationale und damit möglichst kontrollierbare Art praktisch hervorzubringen und wirksam zu machen. Sie sind aber nicht die einzigen, wie Savigny bei seiner Konzentration auf die Auslegung als Rekonstruktion des dem Gesetz innewohnenden Gedankens und bei seinem Aussparen des Staats- und Verfassungsrechts noch annehmen konnte. Savignys Kunstregeln umschreiben grundlegend einen Teil der notwendigen Elemente praktischer Rechtsarbeit. Sie erfassen aber schon deshalb nur einen Teil der Konkretisierung, weil sie Rechtsverwirklichung auf Interpretation, weil sie 652 Vgl. für das Zusammenspiel grammatischer und systematischer Interpretation etwa BVerfGE 86, 148, 218 ff. Der notwendige Zusammenhang von grammatischer und systematischer Auslegung wird zureichend begründet durch die Kontexteinbettung jeder Äußerung in der Entscheidung BVerfG, in: DVBl. 1996, S. 27 ff., 30 f. Zum Zusammenspiel von grammatischer, historischer und systematischer Auslegung bei der Frage nach der Grenze einer Interpretation vgl. OVGNW, in: DVBl. 1996, S. 632 f., 633.
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Normkonkretisierung auf Normtext-Auslegung einschränken wollen. Sie sind zu Recht vorbildlich geworden: nicht, weil sie das Sachproblem bereits abschließend und für alle Rechtsdisziplinen angemessen zu behandeln vermöchten; sondern deshalb, weil sie auf lange Zeit die einzigen grundlegenden Reflexionen des Geschäfts der Rechtskonkretisierung geblieben sind. Die bei Savigny formulierten und in der Folgezeit (zusammen mit dem teleologi- 376 schen Gesichtspunkt) kanonisch gewordenen Auslegungsregeln sind in jedem Fall vorzüglich an die Sprachform von Rechtssätzen gebunden. Das gilt auch für die sie ergänzenden dogmatischen, lösungstechnischen, rechts- bzw. verfassungspolitischen und für die Theorie-Elemente. Sie alle bilden im Gegensatz zu der methodisch zu rationalisierenden Analyse der Sachbestandteile von Rechtsfall und Rechtsnorm den Block der auf Texte bezogenen Interpretationselemente im engeren Sinn, die damit zumindest grundsätzlich den umfangreicheren Teil des Konkretisierungsvorgangs beanspruchen. Sie tun das nicht zuletzt deshalb, weil sie sich nicht nur auf den Text der zu konkretisierenden Vorschrift, sondern darüber hinaus auf weitere legislative wie nicht-legislative Texte erstrecken.
322.2 Prinzipien der Verfassungsinterpretation 322.20 Überblick Die von Lehre und Rechtsprechung entwickelten Prinzipien der Verfassungsnterpretation sind gegenüber den hier für das Verfassungsrecht analysierten herkömmlichen Auslegungselementen zum geringeren Teil selbständig. Zum größeren Teil bilden sie Unterfälle der grammatischen, der historischen, genetischen, systematischen und teleologischen Seiten der Konkretisierung. Die selbständigen Gesichtspunkte sind die Auffassung der Grundrechte als eines 377 in sich geschlossenen, vom Kontext der übrigen Verfassungsnormen abgehobenen „Grundrechtssystems“ und die Konzeption des Verfassungsrechts als einer „Werteordnung“ oder eines „Wertsystems“; ferner das Gebot verfassungskonformer Gesetzesauslegung und der Maßstab funktioneller Richtigkeit der Verfassungskonkretisierung. Die Aspekte des Grundrechtssystems und der Verfassung als Wertsystem oder Werteordnung sind hier als Prinzipien der Methodik abgelehnt worden. Das Gebot verfassungskonformer Auslegung wurde – mit Bedenken gegenüber einigen Tendenzen der Rechtsprechung und mit der Einschränkung, es prinzipiell nur als ein Auslegungselement neben andern zu behandeln – als vertretbar bezeichnet653.
653 Oben im Text Abschnitt 222.31.– Wie hier zu den „Prinzipien der Verfassungsinterpretation“ z. B. Gomes Canotilho, S. 1096 ff.
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322.21 Funktionelle Richtigkeit 378
Der Maßstab funktioneller Richtigkeit besagt, die entscheidende Stelle dürfe weder durch die Art und Weise der Konkretisierung noch durch deren Ergebnis die verfassungsmäßig normierte Verteilung der Funktionen verändern654. Die funktionelle Richtigkeit wird dort beachtet, wo Gerichte es ablehnen, für den Gesetzgeber die Aufgabe der Verfassungskonkretisierung zu übernehmen655 und sie wird verletzt durch Entscheidungen, worin die Richter sich die Rolle des Gesetzgebers anmaßen656. Die Übernahme der Gesetzgeberrolle durch den Richter zeigt sich daran, daß die Gerichte selbst Normtexte formulieren und unter diese selbstformulierten Texte ihre Leitsätze subsumieren. Es handelt sich dabei zumeist um Richterrecht in der Form der Dezision durch Rechtsunterstellung657.
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Gesichtspunkte der funktionellen Richtigkeit werden auch unter den Stichworten „Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber“658, sowie „Bundesverfassungsgericht und Fachgerichtsbarkeit“659 diskutiert. Der besonders im Umweltrecht offensichtliche Übergang von staatlicher Gefahrenabwehr zu staatlichem Risikomanagement660 führt dabei gerade im Verhältnis von Justiz und Legislative zu einem Bedarf an Präzisierung. In seiner Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch von 1993661 ist 654 Hierzu v. a. Ehmke III, S. 73 ff. einschließlich der Untersuchung der „political question“-Doktrin und der „preferred freedoms“-Doktrin aus dem amerikanischen Verfassungsrecht. 655 Vgl. dazu BVerfG, in: DVBl. 1996, S. 558 f. (keine Verpflichtung zur Einführung von Geschwindigkeitsbegrenzungen). Probleme funktioneller Richtigkeit stellen sich auch im Kontext von Art. 16a Abs. 3 GG, der eine Arbeitsteilung zwischen Gerichten und Gesetzgeber vorsieht. Vgl. dazu BVerfG, in: DVBl. 1996, S. 729 ff. Ob der Spielraum des Gesetzgebers zur Festlegung des sicheren Drittstaates richtig gesehen wurde, muß hier offen bleiben. Dies ist wohl kaum anzunehmen bei der sogenannten Flughafenregelung. Vgl. BVerfG, in: DVBl. 1996, S. 739 ff., 743. Vgl. zu einer richtigen Auffassung des Problems der funktionellen Richtigkeit dann BVerwG, in: NVwZ 1993, S. 354, wo das Bundesverwaltungsgericht ausführt, daß das für Prüfungen aus Verfassungsgründen erforderliche Vorverfahren nur vom Gesetzgeber eingeführt werden könne und nicht durch den Richter eingeführt werden dürfe. 656 Vgl. dazu VGH B.-W., in: BWVBl., S. 268 gleich DVBl. 1990, S. 546. Der VGH Baden-Württemberg stellt einen eigenen Normtext für die Kompensation von Störungen bei Prüfungsarbeiten auf. Das darin enthaltende Problem funktioneller Richtigkeit wird vollkommen verkannt in der Besprechung von Scherzberg. Dagegen wird diese Dezision durch Normtextunterstellung korrigiert von der Revisionsentscheidung des BVerwG, in: NJW 1991, S. 42 ff. 657 Besprechung der methodischen Seite der vorstehenden Urteile in Müller / Christensen / Sokolowski, Kapitel III. Grundsätzliche Darstellung und Entwicklung der Typen von Dezision in: Müller XII, S. 19 ff., 24 ff., 44 ff. 658 Vgl. M. Schulte, 1012 ff.; Heun II; Schuppert I; Schuppert II; sowie grundsätzlich Hesse IV, Rn. 568 m.w. N. in Fußnote 80. Vgl. zur Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers BVerfGE 130, S. 263 ff., 294 ff. Zum Funktionsvorbehalt und einem Einschätzungsspielraum vgl. BVerfGE 130, S. 76 ff., 117. Zur Wahlkreiseinteilung vgl. BVerfGE S. 212 ff., 228 f. 659 Vgl. Berkemann III. 660 Vgl. dazu grundsätzlich Ladeur III.
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das Bundesverfassungsgericht stärker als vorher in den Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers eingedrungen. Es stellt zum Beispiel die Frage, ob die Legislative bei ihrer Risikoprognose alle Faktoren berücksichtigt und in vertretbarer Weise gehandhabt hat. Die Tendenz zu einer dem Planungsrecht angenäherten Intensivierung der Kontrolle wurde bestätigt in der Amnestieentscheidung für MfS-Mitarbeiter.662 Die für den Maßstab funktioneller Richtigkeit wichtigen Gesichtspunkte liegen in rationaler Differenzierung und in der durch sie ermöglichten Kontrollierbarkeit der Konkretisierungselemente. Sie betreffen damit die Aufgabe der verfassungsrechtlichen Methodik im ganzen und sind im Grundsatz schon bei den Bemerkungen zur Topik und zum Richterrecht im Verfassungsrecht behandelt worden663. 322.22 Praktikabilität Sachgesichtspunkte aus Sachverhalt und Normbereich werden in Praxis und Wis- 380 senschaft vielfach der sogenannten Natur der Sache oder den Überlegungen im Umkreis teleologischer Auslegung zugerechnet. In vergleichbarer Funktion tauchen Maßstäbe aus Sachverhalt und Normbereich als das Entscheidungsverfahren am Schluß überprüfende Kontrollgesichtspunkte auf, wenn beispielsweise das Bundesverfassungsgericht seine im übrigen abgeschlossene Konkretisierung an den „praktischen Ergebnissen“664, an der Möglichkeit eines „sinnwidrigen Ergebnisses“665 oder an der „Lebenswirklichkeit“ und den an ihr gemessenen „einleuchtenden Ergebnissen“666 überdenkt. Gegen das Einführen dieses von den eigentlichen Argumenten gesonderten Kontrollelements ist nichts einzuwenden, soweit es klarstellende oder bestätigende Wirkung hat. Dasselbe gilt, solange es im Fall des Widerspruchs nicht das normativ abgesicherte Ergebnis umstürzt, sondern nur zur Veränderung der Auswahl zwischen verschiedenen am vorliegenden Fall normativ begründbaren Lösungsalternativen führt. Gegen die Rechtsnorm und die im Einzelfall aus ihr konkretisierte Entscheidungsnorm wie auch gegen die Grenzfunktion des Wortlauts darf nicht entschieden werden, auch wenn die rechtlich gebotene Entscheidung unzweckmäßig erscheint667.
661 BVerfGE 88, 203 ff., 262 f. Grundsätzlich zum weiten Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers vgl. aus neuerer Zeit die folgenden Entscheidungen BVerfGE 90, 107 ff., 116; 90, 145 ff., 183, 214 f.; 91, 1 ff., 29; 91, 294 ff., 310; 92, 26 ff., 41, 44, 46; 92, 365 ff., 394, 396, 407 f. 662 Vgl. BVerfGE 92, 277 ff., 359. 663 Oben im Text Abschnitte 222.32, 222.33. 664 BVerfGE 12, 151, 171. 665 BVerfGE 13, 261, 270. 666 BVerfGE 7, 377, 401; vgl. ferner zu „Praktikabilitäts“-Gesichtspunkten: BVerfGE 41, 126, 188; 42, 176, 188 f.; 50, 57, 82; 55, 159, 169; 65, 325, 356 f.; 71, 146, 157; 101, 275, 289. 667 Hierzu Ossenbühl I, S. 660.
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322.23 Interpretation aus dem geistesgeschichtlichen Zusammenhang 381
Rechtspraxis und Rechtswissenschaft sehen sich bei der Auslegung vor allem von Grundrechten, aber auch von anderen Verfassungsvorschriften häufig veranlaßt, auf ideengeschichtliche, entwicklungsgeschichtliche und im engeren Sinn rechtsund verfassungsgeschichtliche Abläufe zurückzugreifen, um aus ihnen durch den Nachweis sachlicher und normativer Kontinuität bzw. Diskontinuität Gesichtspunkte für die Konkretisierung zu gewinnen668. Ist ein geschichtlich wie normativ nicht unterbrochener Traditionszusammenhang nachzuweisen, so kann dieses Verfahren wertvolle Rückschlüsse auf die Begriffsgeschichte des Normtexts vor allem im Rahmen der grammatischen und systematischen Auslegung liefern. Es ist jedoch durchgängig mit historischer Interpretation im herkömmlichen Sinn erfaßbar und ermangelt der methodischen Selbständigkeit, die es als eigenes Prinzip der Verfassungsauslegung669 ausweisen könnte. 322.24 Maßstab integrierender Wirkung
382
Der Maßstab integrierender Wirkung soll – normorientiert in den Bahnen der geltenden Verfassung670 – gebieten, bei der Konkretisierung von Verfassungsrecht jeweils den einheitsstiftenden und einheitserhaltenden Gesichtspunkten den Vorzug zu geben671. Doch ist auch hierin nicht ein selbständiges Prinzip verfassungsrechtlicher Methodik, sondern dieses Mal ein Unterfall systematischer Interpretation zu sehen. Im übrigen hat auch dieser Maßstab, ebenso wie jener der normativen Kraft der Verfassung, seinen Ort unter den im engeren Sinn verfassungspolitischen Elementen.
322.25 Prinzip der Einheit der Verfassung 383
Das Prinzip der Einheit der Verfassung wird dahin bestimmt, Verfassungskonkretisierung dürfe nie nur auf die einzelne Norm blicken, sondern müsse sich stets auf den Gesamtzusammenhang erstrecken, in den diese zu stellen ist. Wenn also nur solche Problemlösungen maßstabgerecht erscheinen, die sich frei von einseitiger Beschränkung auf Teilaspekte halten672, dann sind auch hiermit Gesichtspunkte innerhalb des Verfahrens systematischer Interpretation getroffen. Selbständigen Charakter hat der Grundsatz von der Einheit der Verfassung dagegen insoweit, als er gebietet, Verfassungsrecht so zu interpretieren, daß Widersprüche zu anderen Verfassungsnormen und besonders zu verfassungsrechtlichen Grundentscheidungen 668 669 670 671 672
BVerfGE 1, 167, 178; 10, 285, 296; 12, 205, 208 ff.; 19, 303, 314 ff. u. ö. So aber offenbar Ossenbühl I, S. 658 f. Insoweit gegen Smend, S. 190. Hesse II, S. 26 f. Hesse II, S. 26 f.
322 Methodologische Elemente im engeren Sinn
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vermieden werden673. „Einheit der Verfassung“ im Sinn eines Leitbilds verfassungsrechtlicher Methodik soll dem Interpreten als Ausgangspunkt wie vor allem als Zielvorstellung das Ganze der Verfassung als ein zwar nicht spannungsloses und in sich ruhendes, wohl aber als ein sich sinnvoll zusammenschließendes Normengefüge vor Augen stellen. Die Rede von der Einheit der Verfassung entstammt der Weimarer Zeit. Für 384 Smend674 ist eine Verfassung die Normierung einzelner Seiten des Vorgangs, in dem der Staat seinen Lebensvorgang ständig herstellt; sie soll sich daher nicht auf Einzelheiten richten, sondern „auf die Totalität des Staates und die Totalität seines Integrationsprozesses“. Das ist ein Denken nicht nur auf das Ganze bin, sondern auch vom Ganzen und seiner Einheit her. Kelsen hat das Bedenkliche dieses Holismus festgehalten. Für ihn ist die Einheit des Staats nur normativ zu begründen, ist die Rechtsordnung nur als logische eine Einheit: mit der Eigenschaft, in Rechtssätzen beschrieben werden zu können, die einander nicht widersprechen. Die formale Größe „Grundnorm“ konstituiert die Einheit in der Vielheit der Normen. Demgegenüber wies Carl Schmitt auf das Unzulängliche einer Auffassung hin, die sich auf den positivistisch isolierten Imperativ beschränkt; es ist hinzuzufügen: vor allem auf die sprachliche Vorform der Norm, den Normtext. Doch überrollt der dezisionistisch existierende Wille, der nur sich selber will, jede sachgebundene Normativität; „das Ganze der politischen Einheit“ (Schmitt) bietet ein extremes Beispiel für unstrukturierten Holismus. Totalität als Quelle von Argumenten neigt zur Macht und ihrer ungestörten Handhabung. Dagegen stehen im Rechtsstaat die Gebote der Rechts- und Verfassungsbindung, der Tatbestandsbestimmtheit, Methodenklarheit und der zureichenden rationalen Begründung. Ein Schlußfolgern vom Ganzen und seiner Einheit her genügt nicht den Anforderungen an demokratisch gebundene, rechtsstaatlich geformte Methoden. In der Gerichtspraxis versucht das Bundesverfassungsgericht seit dem Südwest- 385 staats-Urteil675, die Sicht des Grundgesetzes als eine Einheit durchzusetzen. Der Bundesgerichtshof folgt dem gelegentlich mit Formeln wie „unteilbare Einheit“ oder „Ganzes der Werteordnung“. Die Judikatur hat ein Chaos von Gebrauchsweisen des Arguments erzeugt676. So behauptet der Zweite Senat des Bundesverfas673 Lerche I, S. 125 ff.; Ehmke III, S. 77 ff.; Hesse II, S. 26 f., 103 f. u. ö.; Müller I, S. 115, 124 f., 136 f., 205 f.; Ossenbühl I, S. 654 ff. 674 Vgl. zu diesem Autor: Obermeyer, S. 39 ff.; van Ooyen, S. 133 ff. 675 BVerfGE 1, 14 ff. 676 Eine reichlich unklare Form von „Einheit der Verfassung“ praktiziert das Abhör-Urteil, BVerfGE 30, 1 ff., 19 und ff., wo von „den elementaren Grundsätzen des GG und seiner Wertordnung“, vom „Kontext der Verfassung“, von „Grundentscheidungen“ und „Sinnzusammenhang“ gesprochen wird, ohne daß es zu einer sauberen systematischen Auslegung kommt. Stattdessen wird mit „ganzheitlichen“ Postulaten gearbeitet („Es kann nicht der Sinn der Verfassung sein, . . .“, S. 20 usw.), die vor allem auch unter politischen, rechtsstaatlich-demokratischen Gesichtspunkten zu einem unerträglichen Ergebnis beitragen. Vgl. zur heftigen Kritik am Abhör-Urteil z. B. Häberle III sowie Schlink II. – Grundsätzlich zur „Einheit der Verfas-
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sungsgerichts bei seiner Einheitsthese, es gebe im positiven Verfassungsrecht generelle Rangunterschiede; dagegen folgt für den Ersten Senat seit dem Gleichberechtigungs-Urteil677 gerade aus der Einheit der Verfassung, daß die Normen des Grundgesetzes prinzipiell denselben Rang haben müssen. Die grundsatzkonforme Verfassungsinterpretation des zweiten Senats ist rechtsstaatlich nicht vertretbar. 386
Die Praxis beider Senate unterscheidet sich demnach recht deutlich. Die eine Variante hält eine Einheit des Grundgesetzes für gegeben und arbeitet trotzdem mit externen, an Rang und Geltungskraft angeblich überlegenen legitimierenden und dirigierenden Normen. Dagegen zielt für den Ersten Senat der Gedanke der Einheit der Verfassung darauf, im Fall widersprüchlicher Ergebnisse bei der Interpretation mehrerer einschlägiger Normtexte dem Entscheidungsvorgang ein zusätzliches Schlußstück anzufügen. In diesem ist mit Hilfe aller Konkretisierungselemente, besonders aber mit dogmatischen (aus dem Übermaßverbot) und systematischen, eine schlüssig begründbare Entscheidungsnorm zu setzen678. Der Erste Senat arbeitet insgesamt auf diesem schwierigen Feld rechtsstaatlich nüchterner, sprachlich zurückhaltender, methodisch und dogmatisch genauer679.
387
Eine kritische Untersuchung der Verwendungsweise des Ausdrucks „Einheit der Verfassung“ unter formalen, inhaltlichen und methodologischen Gesichtspunkten führt zu klaren Ergebnissen: Das Grundgesetz ist weder notwendig lückenlos noch eo ipso frei von Widersprüchen. Es ordnet aber Textvollständigkeit und Textstrenge, insofern eine formale Einheit der Verfassungsurkunde an. Es weist weder verschiedene Rangstufen auf, noch sondert es einzelne Normengruppen rechtlich von den anderen ab. Das Grundgesetz kennt also eine Einheit der Rangstufe von Rechtsquellen und, abgesehen von den Notstandsvorschriften, eine Einheit seiner normativen Struktur. Für diese Fälle könnte der Ausdruck „Einheit der Verfassung“ zwar gebraucht werden, ist jedoch überflüssig. Das dabei Gemeinte ergibt sich aus allgemeinen Eigenschaften der geschriebenen Verfassung bzw. aus einzelnen grundgesetzlichen Normen. Alle Fragen nach einer Einheit der Verfassung werden jedenfalls für das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland durch die Eigenschaften sung“: Müller XVIII. In jüngerer Zeit wird diese Figur zurückhaltender und pragmatischer verwendet. Vgl. BVerfGE 99, 1, 12. – Das vorliegende Konzept übernimmt Gomes Canotilho, S. 1057. 677 BVerfGE 3, 225 ff. 678 Vgl. zum Unterschied von lokaler und globaler Kohärenz: Raz, S. 310, 313 f. sowie Bracker, S. 123 f. 679 Dieser Wertung liegen folgende Judikate zugrunde: vom Ersten Senat: BVerfGE 1, 5 ff., 7; 1, 167 ff., 177; 2, 380 ff., 403; 3, 225 ff., 232 f.; 4, 294 ff., 296 f.; 7, 198 ff., 205; 7, 377 ff., 402 f.; 19, 135 ff., 138; 19, 206 ff., 219 f.; 28, 243 ff., 260 f.; 30, 173 ff., 193, 195; 32, 98 ff., 107 f.; 34, 165 ff., 182 f.; 34, 269 ff., 286 f.; 35, 202 ff., 225 f.; 41, 29 ff., 46 f., 50 f.; 41, 65 ff., 77 f.; 44, 37 ff., 49 f., 52 ff., 55 ff.; 44, 59 ff., 60 f.; 47, 327 ff., 369 f.; 52, 223 ff., 246 – für den Zweiten Senat: BVerfGE 1, 14 ff., 32 f.; 1, 208 ff., 227 f.; 6, 309 ff., 344, 346, 361, 364; 15, 167 ff., 194 f.; 30, 1 ff., 19 und ff.; 33, 23 ff., 27, 29 und ff.; 36, 342 ff., 362 f.; 37, 271 ff., 279 f., 296; 39, 334 ff., 368 f.; 42, 64 ff., 72 ff., 76 ff.; 44, 249 ff., 267, 273 f.; 55, 274 ff., 300.
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seiner Positivität beantwortet. Die Positivität der Verfassung bewältigt sowohl die Fälle, in denen die Rede von der Einheit der Verfassung am Grundgesetz scheitert (Lückenlosigkeit, Freiheit von Widersprüchen, ideologische Einheit), als auch jene, in denen die Einheitsthese bereits durch positives Recht begründet ist (legitimierende Einheit, funktionale Einheit, Einheit als Mittel systematischer und harmonisierender Verfassungsinterpretation). Dasselbe gilt für die schon oben genannten Typen (urkundliche Einheit, Einheit der Rangstufe von Rechtsquellen sowie der normativen Verfassungsstruktur). Als Ergebnis bleibt festzuhalten: Der Ausdruck „Einheit der Verfassung“ kann 388 auch dort aufgegeben werden, wo er sinnvoll verwendbar wäre. Er darf nicht länger dazu dienen, die Grenze zwischen normorientierten und normgelöst rechtspolitischen Argumenten zu verwischen. Auch der seit Smend beliebt gewordene Rettungsversuch, Einheit als zwar nicht gegeben, wohl aber als aufgegeben zu behandeln, führt nicht weiter. Das macht die höchstrichterliche Praxis ungewollt deutlich. Ist Einheit als Datum weder vorhanden noch einsichtig zu machen, so auch nicht als praktisch anzustrebendes Ziel. Sonst wird nur die eine Illusion durch eine andere ersetzt, die positivistische durch eine antipositivistische. Was dagegen weiterführt, ist eine nachpositivistische Strukturierung des Problemfelds. Die schillernden Argumente von „Einheit“ – sei es der Rechtsordnung im ganzen680, sei es der Verfassung – haben in die Irre geführt. Sie sind Beispiele für einen irrationalen Holismus der Rechtsarbeit, der im Interesse rechtsstaatlichen Handelns der Juristen aufgegeben werden sollte.
322.26 Vorverfassungsrechtliches Gesamtbild In einigen Entscheidungen681 haben verfassungsgerichtliche und verwaltungsge- 389 richtliche Rechtsprechung versucht, aus der Vorstellung eines „vorverfassungsrechtlichen“ bzw. „vorverfassungsmäßigen“ Gesamtbildes Folgerungen für die Konkretisierung von Vorschriften des Grundgesetzes bzw. für das Messen von Gesetzesnormen an ihnen zu ziehen. Dieser Versuch gründet sich auf die Annahme, der Gesetzgeber einer Kodifikation und nicht zuletzt der Verfassunggeber gingen in Einzelbereichen mangels deutlich abweichender Regelung von den Grundzügen der geltenden (unterverfassungsrechtlichen) Rechtslage aus682; und für die Verfassung im ganzen von die einzelnen Sätze ihrer geschriebenen Normen verbindenden, von 680 Vgl. zum Begriff „Einheit der Rechtsordnung“: Müller XX. – Gleichfalls sehr kritisch zu „Einheit der Verfassung“ und „Einheit der Rechtsordnung“: Felix. 681 BVerfGE 2, 380, 403; 9, 89, 96; 50, 290, 315, 338; 56, 22, 34; 56, 37, 51; ferner BVerwGE 1, 159, 161. 682 „Vorverfassungsrechtliches Gesamtbild des Prozeßrechts“ in BVerfGE 9, 89, 96. Vgl. auch BVerfGE 27, 180 ff. („ne bis in idem“), 184 ff. („vorkonstitutionelle Rechtslage“), verbunden mit genetischen und historischen Elementen. – Zum „überkommenen Bild“ (sc. des Strafvollzugs) vgl. BVerfGE 33, 1 ff., 12.
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„innerlich zusammenhaltenden allgemeinen Grundsätzen und Leitideen“, die eben wegen ihres zusammenfassenden Charakters nicht in besonderen verfassungsrechtlichen Normen ausgesprochen würden683. Es handelt sich also um zwei Gruppen von Fällen. Einmal wird ein „Gesamtbild“ in Form des vorkonstitutionellen Zustands eines unterverfassungsrechtlichen Teilrechtsgebiets gesucht, das an der Verfassung gemessen werden soll. Gegen dieses Verfahren ist solange nichts einzuwenden, als seine Rolle eine heuristische bleibt. Die verbindlichen Maßstäbe sind die des aktuell geltenden Verfassungsrechts684. Die Legalität von Gesetzesrecht hat sich an der hier und heute verbindlichen Verfassung auszuweisen. Der Rückgriff auf ein vorverfassungsmäßiges Gesamtbild eines Bereichs der einfachen Rechtsordnung ist damit nichts andres als ein Unterfall historischer (und unter Umständen auch genetischer) Auslegung. 390
Dagegen handelt es sich im zweiten Fall um Fragen der Konkretisierung der geltenden Verfassung selbst. Hier werden mit Blick auf ein vorverfassungsmäßiges Gesamtbild des Grundgesetzes sachliche Gesichtspunkte gesucht, die systematisch argumentierende Konkretisierung durch im Einzelfall auftauchende missing links anreichern. Das Verfahren ist unbedenklich, wenn diese Aspekte kontrollierbar, d. h. mit Hilfe historischer, genetischer und vor allem systematischer Interpretation beigesteuert werden. Insoweit erweist sich auch der Rückgriff auf ein „vorverfassungsmäßiges Gesamtbild“ als Unterfall herkömmlicher Interpretationsregeln. Der Topos geht jedoch gleichzeitig in Richtung auf eine Verfassungstheorie, die „innerlich zusammenhaltende allgemeine Grundsätze und Leitideen“ des geltenden Verfassungsrechts bieten soll. Soweit im Einzelfall so verfahren wird, handelt es sich um Konkretisierung mit Hilfe von Theorie-Elementen; dem Ansatz nach jenseits grammatischer, historischer, genetischer und systematischer Auslegung, doch normalerweise in Zusammenhang mit diesen herkömmlichen Regeln. 322.27 Zusammenhang von Grundrechts- und Kompetenznormen
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Dem Prinzip der angeblichen Einheit der Verfassung nahe steht die Richtlinie, entgegen der Annahme eines isolierbaren „Grundrechtssystems“ vom sachlichen Zusammenhang, von einer wechselbezüglichen Konkretisierbarkeit von Grundrechten und Kompetenznormen auszugehen. Wo dieser Grundsatz allgemein formuliert wird685, ist er weiter als das Prinzip der Einheit der Verfassung. Dieses tritt in der 683 So der Ansatz zu einer Auslegung aus der Gesamtkonzeption des Grundgesetzes in BVerfGE 2, 380, 403. 684 Das wird positivrechtlich durch Art. 123 I GG bestätigt. Normen ‚vorverfassungsrechtlicher‘ Art gelten nicht fort, sofern sie dem Grundgesetz inhaltlich widersprechen. 685 Z. B. bei P. Schneider I, S. 31; Ehmke III, bes. S. 89 ff.; Ossenbühl I, S. 657. – Methodische Probleme der Konkretisierung von Kompetenznormen auch bei: Pestalozza II; ferner bei dems. III; hierzu Müller VII, S. 49 ff. Allg.: Müller VII, S. 32 ff.; Analyse der Normbereiche von Kompetenzvorschriften. Dazu auch im Text unter 322.112. – Eingehend zu Kompetenznormen: Stettner.
322 Methodologische Elemente im engeren Sinn
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Rechtsprechung erst dann auf, wenn die Konkretisierung zu einer verfassungsrechtlichen Antinomie geführt hat. Es liegt dann an der vom Gericht unterstellten Ergiebigkeit der „Einheit der Verfassung“ im Einzelfall, ob das einen normativen Widerspruch anzeigende Ergebnis nur ein Zwischenergebnis bleibt. Anders steht es mit dem Zusammenhang von Grundrechtsteil und organisatorischem Teil des Grundgesetzes. Das Verständnis der Grundrechte nicht nur als subjektiver Berechtigungen, sondern auch als objektiver Gestaltungs- und Strukturprinzipien der Gesamtverfassung, das Verständnis einer Kompetenznorm nicht nur als formaler Zuständigkeitsabgrenzung zwischen Bund und Ländern, sondern zugleich als inhaltlich bestimmender und verfassungsrechtlich legitimierender Normierung von Aufgaben – diese Konzeption wird zu Recht nicht auf den Fall einer zu verfassungsrechtlichen Widersprüchen führenden Konkretisierung beschränkt. Soweit diese Sicht im Einzelfall Beiträge zur Konkretisierung liefert, werden diese inhaltlich in der Regel verfassungstheoretische sein und damit zu den Theorie-Elementen des Konkretisierungsvorgangs gehören, arbeitstechnisch meist vor allem mit systematischen verknüpft.
322.28 Praktische Konkordanz Auch das Prinzip praktischer Konkordanz686 hängt in der Sicht der Praxis mit 392 dem Grundsatz der Einheit der Verfassung zusammen. Es stellt nicht nur im Fall
686 Der Begriff der praktischen Konkordanz ist von Hesse II, z. B. S. 26 f., 134 f., 138 f. im Anschluß an Bäumlin I, z. B. S. 30 („praktische Konkordanz“), 34 („concordantia disconcordantium“) in die Debatte eingeführt worden. Er findet sich inzwischen in Begründungstexten des Bundesverfassungsgerichts wieder, z. B. in BVerfGE 41, 29, 51; 41, 65, 78. Vgl. dazu auch Lerche I, S. 125 ff.; Müller I, S. 58, 160, 213 f., 216; III, S. 89; XVIII, 196, 198 ff., 213 f. – Bethge S. 315 hält für die Optimierungs- und Konkordanzziele Ausdrücke wie „theologische Leerformeln“, „lyrische Nichtigkeiten“ und „Ersatzbefriedigungsmittel“ für passend. – Das Verfassungsgericht hat sich bisher nicht von derartiger Kritik beeindrucken lassen und verwendet diesen Begriff durchgängig, BVerfGE 119, S. 247 ff., 267. Deutlich irrationaler als der Begriff der „praktischen Konkordanz“ ist es freilich, wenn der VGH Kassel (NVwZ 2013, S. 159 ff.) beim Problem von Glaubensfreiheit und koedukativem Schwimmunterricht dem Glaubensgebot der muslimischen Religion den „Integrationsauftrag“ des Grundgesetzes gegenüberstellt. Ein solcher Auftrag lässt sich im Grundgesetz gerade nicht nachweisen. Wörtlich heißt es dazu im Urteil: „Der Integrationsauftrag des Grundgesetzes gebietet es, Schülerinnen und Schüler auf ein Dasein in der säkularen und pluralistischen Gesellschaft in Deutschland vorzubereiten, in der sie einer Vielzahl von Wertvorstellungen, Überzeugungen und Verhaltensweisen begegnen werden, die sie für sich selbst ablehnen.“; ebd., S. 159. Das Stichwort „Integration“ legt entgegen dem vom Gericht angestrebten Ziel eine Nivellierung der fremden Kulturen nahe. Gemeint ist tatsächlich nur eine reflexive Umgangsweise mit den verschiedenen Kulturen. Dieses Ergebnis kann man allerdings dann nachvollziehbar begründen, wenn man statt eines allgemeinen „Integrationsauftrags“ die gegenläufigen Grundrechte in einen verhältnismäßigen Ausgleich setzt. Der Begriff „praktische Konkordanz“ (siehe oben S. 404 f. mit Hinweis auf seine Einführung) gehört mittlerweile zu den akzeptierten Grundbegriffen des deutschen Öffentlichen Rechts und wird bis auf die Ebene der Instanzengerichte wie selbstverständlich angewendet. Vgl. hier etwa das OVG Berlin-Brandenburg, Zeigen von Mohammed-
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normativer Widersprüchlichkeit, sondern auch bei Konkurrenzen und Kollisionen etwa mehrerer Grundrechtsnormen, bei einer partiellen Überschneidung ihrer Geltungsbereiche die Aufgabe, beiden bzw. allen beteiligten (grundrechtlichen) „Rechtsgütern“ die Grenzen so „verhältnismäßig“ zu ziehen, daß sie die Entscheidung des Falls auch im Ergebnis mittragen. Es ist im Grenzbereich verschiedener den Fall regierender (Grundrechts-)Normen damit also das harmonisierende Verfahren gemeint, das vom Bundesverfassungsgericht unter der wenig glücklichen Bezeichnung „Wechselwirkung“ angewandt worden ist, um das Verhältnis von Meinungsfreiheit und begrenzendem allgemeinen Gesetz in Art. 5 GG zu bestimmen687. Damit ist gegen die Techniken von „Wertabwägung“ oder „Güterabwägung“ Stellung genommen688. Dogmatische Tatbestandsabgrenzung allein löst nicht jedes Kollisions- und Konkurrenzproblem im Verfassungsrecht. Immer wieder tauchen Fälle auf, in denen sich ranggleiche bzw. als ranggleich zu behandelnde Vorschriften überschneiden. Das Verfahren praktischer Konkordanz kann allerdings nicht allgemein fordern, die beteiligten Normen im Sinn strikten Ausgleichs gegenseitig zu begrenzen. Schon wegen der je nach Fall verschiedenen Bedeutung einzelner „Schutzzonen“ in verschiedenen Grundrechten und wegen der ungleichen Eingriffsintensität beteiligter Vorbehaltsgesetze sieht die Lösung in der Regel nicht so aus, daß die beteiligten Normen in ausgewogener Balance „gleich stark“ beschnitten werden, „gleich stark“ wirksam sein können. Die vom Prinzip praktischer Konkordanz geforderte Optimierung aller beteiligten Normen und Schutzgüter kann das Ziel nicht positiv, sondern nur negativ benennen. Die Konkretisierung soll nicht, im Sinn von „Abwägung“, der einen Norm pauschal den Vorrang zuerkennen, die andre pauschal zurücktreten lassen. Sie darf nicht die eine ganz auf Kosten der andern aktualisieren, da ja nach dem Ergebnis der Konkretisierung auch die andre Norm den Fall in Form einer Rechts- und Entscheidungsnorm mitregiert. Die Lösung muß normativ abstützbar, methodisch belegbar sein. Das Verfahren ist auch hier auf alle Elemente verfassungsrechtlicher Konkretisierung angewiesen. „Praktische Konkordanz“ bietet nur eine formale Zielbestimmung und im übrigen einen im wesentlichen verfassungspolitisch zu verstehenden Appell689. Sie grenzt sich tendenziell gegen Karikaturen, in NJW 2012, S. 316 ff. Hier geht es um praktische Konkordanz zwischen Kunstfreiheit und Religionsfreiheit im Rahmen des Merkmals „beschimpfen“ im Text von § 166 StGB. „Ein Beschimpfen im genannten Sinne erfasst nicht schon jede herabsetzende Äußerung, sondern nur nach Form und Inhalt besonders verletzende Äußerungen der Missachtung.“; ebd. Die Beschwerde hätte genau dafür Argumente liefern müssen und wird nur deshalb zurückgewiesen, weil das Beschimpfen ohne weitere Argumente einfach unterstellt wird. Es fehlen also die werkgerechten Maßstäbe, die es bei der Beurteilung der Kunstfreiheit zu berücksichtigen gilt. 687 BVerfGE 7, 198, 208 f. 688 Müller I, S. 207 ff.; III, S. 17 ff.; IV, S. 20 ff. – Grundsätzlich werden von „Abwägung“ freie Techniken zur Lösung von Konkurrenzen und Kollisionen im Verfassungsrecht bei Fohmann I, speziell für Grundrechte bei Fohmann II entwickelt. Gleichfalls auf der Basis der vorliegenden Position für die Grundrechte der Verfassung Brasiliens vgl. Meyer-Bornholdt. – Riehm versucht, die „Einzelfallabwägung“ als einen Vorgang von „Subsumtion“ rational zu konstruieren.
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Güter- oder Wertabwägung ab. Diese ist mit der fragwürdigen Annahme von Argumenten wie „Vorrang“ oder „Höherwertigkeit“ verfassungsrechtlicher „Interessen“ oder Schutzgüter stets in Gefahr, eine für den Rechtsfall einschlägige Vorschrift zugunsten einer andern „zurücktreten“ zu lassen und damit der normativen Lage im einzelnen wie auch rechtsstaatlichen Anforderungen im allgemeinen nicht gerecht zu werden. Abwägung ist ein erst noch näher zu strukturierendes methodologisches Vorhaben690. Der Begriff hatte seine Karriere im Freirecht und in der Interessenjurisprudenz begonnen691. Ein allgemeines Konzept der Rechtsfindung durch Interessenabwägung hatte der Freirechtler Stampe schon 1905 gefordert692. In der Interessenjurisprudenz hat dann Heck die Abwägung auf den Nachvollzug der Interessenabwägung des Gesetzgebers eingeschränkt. Eine von der Legislative abgelöste Abwägung kollidierender Rechtsgüter kam später erst mit der Lüth-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Blüte. In diesem Judikat sollte es darum gehen, die Drittwirkung der Grundrechte prinzipiell zu entwickeln: „Die – so verstandene – Meinungsäußerung ist also solche, das heißt in ihrer rein geistigen Wirkung frei; wenn aber durch sie ein gesetzlich geschütztes Rechtsgut eines anderen beeinträchtigt wird, dessen Schutz gegenüber der Meinungsfreiheit den Vorrang verdient, so wird dieser Eingriff nicht dadurch erlaubt, dass er mittels einer Meinungsäußerung begangen wird. Es wird deshalb eine ‚Güterabwägung’ erforderlich: Das Recht zur Meinungsäußerung muss zurücktreten, wenn schutzwürdige Interessen eines anderen vom höheren Rang durch die Betätigung der Meinungsfreiheit verletzt würden. Ob solche überwiegende Interessen anderer vorliegen, ist aufgrund aller Umstände des Falles zu ermitteln.“693 Es stellt sich angesichts dessen nun aber die Frage, ob die Abwägung tatsächlich eine handhabbare Technik ist oder bloß ein Bild für das Ergebnis der Argumentation. Wenn man in der philosophischen Argumentationstheorie oder in ihrer Version in der Rechtswelt, der juristischen Methodik, nach Abwägung als Technik sucht, stößt man auf das Problem heterogener Argumente. Diese kommen aus verschiedenen Zusammenhängen und sind oft schon insoweit nicht vergleichbar. Bevor sie „abgewogen“ werden könnten, müssten sie erst vergleichbar gemacht worden sein. Wie will man aber das Persönlichkeitsrecht gegen das Interesse der Gemeinschaft 689 Die Abgrenzung zur systematischen Auslegung wird unscharf, wenn man auch Kompetenztitel im Rahmen der systematischen Konkordanz heranzieht. Vgl. dazu an einem Beispiel: Schenkel, S. 162 ff. 690 Vgl. dazu Windisch, F. II; Vogel, F. / Christensen, R. V; Reimer, Ph. I, S. 1 ff.; Klatt, M. / Meister, M. III, S. 159 ff.; Klatt, M. / Meister, M. IV, S. 687 ff., Riehm, Th., S. 1 ff. – Grundsätzlich bereits F.Müller, XIX, S. 207 ff.; ferner ebd. S. 140 f., 182 f., 325, 390 f., 399, 432, u. ö. 691 Vgl. Rückert VIII, S. 913 ff.; Rückert / Seinecke, I, S. 23 ff., 32 f.; Rückert, IX, S. 501 ff., 533 ff. 692 Stampe, S. 713 ff. 693 BVerfGE 7, S. 198 ff., 205.
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an der Strafverfolgung abwägen? Abwägung ist ein quantitativer Vorgang, setzt somit auf beiden Seiten die gleiche Qualität voraus. Man müsste imstande sein, die beiden Rechtsgüter zunächst einmal homogen zu machen. Hierin liegt die sachliche Grundlage für die Bedenken der Literatur gegen ein Verallgemeinern der Abwägung. Sie beruft sich auf Gewaltenteilung, Demokratieprinzip, Rechtsstaatsprinzip und richterliche Gesetzesbindung694: „Die Richter halten sich den theoretischen Rücken frei. Sie begründen ihre Methoden gar nicht oder von Fall zu Fall und machen daraus keine geschlossene Theorie. Die Rationalisierung übernimmt die Wissenschaft. Ein Buch und Name erscheinen für die neue staatsrechtliche Methodik und Darstellungsweise besonders aufschlussreich, die Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland von Konrad Hesse (1919 – 2005). Das Buch erschien bald ‚nach Lüth’, in 1. Auflage 1966 bis zur 20. Auflage 1995 und noch einmal als Nachdruck 1999. Hesse spricht zwar kaum oder sogar kritisch von Abwägung, aber sein methodisches Prinzip der praktischen Konkordanz ist damit in der Sache und der Funktion im Wesentlichen identisch.“695 Bevor ein Gericht eine Abwägung durchführen kann, hat es einen Rahmen zu entwickeln, der heterogene Güter miteinander vergleichbar macht. Gebraucht wird also ein Geist des Vergleichs, sozusagen ein Medium. Das Bundesverfassungsgericht verwendet dafür das Grundgesetz mit seiner Schrankensystematik der Grundrechte. Allerdings genügt das nur für den Einstieg in eine Argumentation. Die entscheidende Abgrenzung muss dann erst fallbezogen durch lokale semantische Ausarbeitung erfolgen. „Abwägung“ kann hier nur das Feld für die konkrete Argumentation im Verfahren angeben. Das Gericht geht dabei in zwei Stufen vor: Demnach ist zunächst die abstrakte Wertigkeit der jeweils beeinträchtigten Rechtsgüter zu vergleichen, über deren Rang durch die Abwägung zu entscheiden ist. Die Kollisionen können sich beispielsweise zwischen Gütern von Verfassungsrang und solchen von nur einfachgesetzlichem ergeben. Die Lektüre der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur Kunstfreiheit bietet hier ein reiches Anschauungsmaterial. Schwieriger ist es, auf der Ebene der Verfassung selbst Rangunterschiede zu begründen. Diese können etwa zwischen Vorbehaltsgrundrechten und solchen ohne Gesetzesvorbehalt erwogen werden; oder zwischen zwei Grundrechten mit Gesetzesvorbehalt, wenn das eine leichter einzuschränken ist als das andere. Mit dem Vergleich der abstrakten Wertigkeit der betroffenen Rechtsgüter ist aber erst ein vorbereitender Schritt getan. Auch kann bereits auf dieser Ebene eine Lage entstehen, die nicht intuitiv plausibel ist. So erscheint, in dieser Sicht, etwa Leben mit einem Gesetzesvorbehalt weniger bedeutsam als Religion ohne solchen Vorbe694 Rückert VIII, 535. – So schon F.Müller XIX, S. 207 ff.; dort auch zum Problem der Heterogeneität der „abzuwägenden“ Rechtsgüter. – Hesse hatte Vorstellung und Begriff einer „praktischen Konkordanz“ von Bäumlin übernommen; vgl. dens., Recht, Staat und Geschichte, 1961, S. 26 ff., 30 („praktische Konkordanz“), 34 („concordantia disconcordantium“). – In der mittelalterlichen Theologie findet sich der zuletzt genannte Ausdruck prominent vor allem bei und seit Gratian von Bologna. 695 Rückert VIII, S. 535 f.
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halt. Der zweite entscheidende Schritt muss daher im Vergleich der konkreten Eingriffsintensitä liegent. Hier beginnt die lokale semantische Elaboration. Im Vordergrund steht dabei der Einzelfall, und nur einige wenige, nicht regelmäßig wiederkehrende Topoi können unterschieden werden. Es wird etwa erörtert, auf welcher Seite der Eingriff schwerwiegender sei: „Die bis zur rechtskräftigen Verurteilung zu Gunsten des Angeklagten sprechende Unschuldsvermutung gebietet eine zurückhaltende, mindestens aber eine ausgewogene Berichterstattung durch die Medien. Außerdem ist eine mögliche Prangerwirkung zu berücksichtigen, die durch eine identifizierende Medienberichterstattung bewirkt wird. Die besondere Schwere einer angeklagten Tat und ihre als besonders verwerflich empfundene Begehungsweise kann im Einzelfall nicht nur ein gesteigertes Informationsinteresse der Öffentlichkeit, sondern auch die Gefahr begründen, dass der Angeklagte eine Stigmatisierung erfährt, die ein Freispruch möglicherweise nicht mehr zu beseitigen vermag.“696 Der Bearbeitung dieser Frage dient dem Bundesverfassungsgericht das Unterscheiden von „Peripherie“ und „Kernbereich“, wobei jeder Eingriff in den Kernbereich schwerer wiege. Ein solcher Eingriff liege dann vor, wenn die fragliche Handlungsmodalität nicht ersetzbar ist, ohne dass die Freiheitsgarantie als ganze entfällt. Geht es dagegen um eine ersetzbare, das heißt funktional gleichwertige Handlungsform, so werde nur die Peripherie betroffen (insoweit im inhaltlichen Anschluss an F.Müller III, IV). Die Seite mit dem Kernbereichseingriff habe dann bei der Abwägung Vorrang. Um den „Kern“ zu ermitteln, verwendet das Bundesverfassungsgericht das Experiment des Hinwegdenkens: bleibt von der Freiheitsgarantie noch etwas Sinnvolles übrig oder bricht sie als Ganzes zusammen, wie zum Beispiel eine Pressefreiheit ohne Informantenschutz? Daneben gibt es noch weitere Gesichtspunkte: etwa die Frage, ob eine der beiden Seiten Handlungsalternativen hat oder ob sie mit dem Rücken zur Wand steht: „Der Einsatz von Wasserwerfern stellt keinen Verstoß gegen die Menschenwürde dar, zumindest dann nicht, wenn sich der Betroffene dem Einsatz hätte entziehen können.“697 Dadurch ist das Wie der Abwägung zum Teil geklärt. Offen bleibt noch, wann ein Gericht abzuwägen hat. Diese Frage leitet zur allgemeinen Argumentationstheorie über. Eine Abwägung wird dann nötig, wenn ein Gesetz von den beteiligten Parteien verschieden gerahmt wird698. So etwa, wenn eine Karikatur von der einen Seite als Verletzung der Religionsfreiheit gesehen wird, von der anderen aber als Ausdruck der Kunstfreiheit. Wenn es den Parteien nicht gelingt, einen gemeinsamen Rahmen zu finden, hat das Gericht mittels Abwägung zu entscheiden. Die Frage, BVerfG, in: NJW 2009, S. 350. BVerfG, in: NVwZ 1999, S. 290 ff., 293. Weiterhin die Unterscheidung, auf welcher Seite der geschaffene Zustand leichter revisibel ist, und wo er nur schwerer rückgängig gemacht werden kann. – Insgesamt wird die Abwägung vom Gericht nicht als Black Box behandelt, aus der nichts weiter als eine subjektive Präferenz herausspringt. Vielmehr geht es um die Bilanz und Verarbeitung der von beiden Seiten vorgebrachten Einwände – der Sache nach überwiegend um Sachbereichs- bzw. Normbereichselemente. 698 Wohlrapp VI, S. 237 ff. 696 697
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wann abzuwägen ist, lässt sich insoweit unter Hinweis auf den Rahmenkonflikt beantworten. Die Frage, was abzuwägen sei, beantworten die Gerichte mit dem Begriff der „Rechtsgüter“. Dabei ist hier zunächst von kollidierenden Handlungsrahmen zu sprechen, die auf den ersten Blick nicht vergleichbar sind. Das Gericht hat nun ein Medium des Vergleichs finden, um das zunächst Unvergleichbare in etwa vergleichbar zu machen. Allerdings sollte man nicht sagen, die Abwägungspraxis sei eine Alternative zur Argumentationsjurisprudenz, wenn auch eine schlechtere699. Abwägung ist keine Alternative, sondern im Gegenteil ein Tor zur Argumentation. Sie macht anfangs einen grundlegenden Rahmenkonflikt sichtbar, der dann lokal auszuarbeiten ist. Dazu verwendet die Justiz dann die im Verfahren vorgetragenen Argumente. Sicherlich bedürfen hier viele Fragen noch der methodischen Ausarbeitung. Trotzdem lässt sich erkennen, dass die Gerichte unter dem Stichwort „Abwägung“ zunächst ein Zusammenstellen von Fallgruppen anstreben und dann eine vorsichtige Ausweitung in Richtung auf allgemeine Begriffe. Ein naheliegendes Beispiel dafür ist etwa die Spruchpraxis zu den Grenzen zulässiger Wort- und Bildberichterstattung bei Prominenten. Hier bilden sich über eine längere Kette von Entscheidungen allmählich Grundsätze heraus700. Das Bundesverfassungsgericht unterscheidet im Anschluss an die Caroline-Rechtsprechung zwischen Bild- und Wortberichten. Diese Entscheidung ist gut geeignet, den Mechanismus der Abwägung im Sinn des Bundesverfassungsgerichts deutlich zu machen701. Bei der Abwägung zwischen dem Persönlichkeitsrecht und der Meinungsfreiheit der Presse ist demnach zu berücksichtigen, ob die streitige Äußerung Schwerpunkt des Artikels ist oder nur illustrierende Bedeutung im Rahmen eines allgemeinen Themas hat: „Das BVerfG macht erneut deutlich, dass das Abwägungsergebnis zwischen dem Schutz der Meinungsfreiheit und dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht nicht abstrakt festgelegt werden kann, sondern stets von den Umständen des Einzelfalls abhängig ist. Von Bedeutung ist hierbei insbesondere, inwiefern eine individualisierende Personenbenennung in einen Gesamtkontext eingebettet ist, wobei der Bericht als Ganzes zu betrachten ist.“702 Die erforderlichen Fallgruppenbildungen methodischer Strukturierung sind allerdings von der Wissenschaft kritisch zu begleiten. Das zeigt zum Beispiel ein Urteil Vgl. dazu Rückert VIII, S. 533 ff. und 539 ff. Vgl. dazu BVerfG, in: NJW 2011, S. 740, mit einer Anmerkung von Wanckel, S. 726, sowie BVerfGE 120, S. 180 ff., sowie schon BVerfGE 85, S. 1 ff., 12 ff., BVerfGE 120, S. 180, 205. 701 BVerfG, Beschluss vom 08. 12. 2011 – 1 BVR 927 / 08, NJW 2012, S. 756. 702 Dörr, S. 573. Vgl. außerdem Dörr / Schwartmann, Rnn. 307 ff.; Merten, II, S. 402 ff.; Wanckel, S. 726 ff. Leitend die Entscheidung EGMR, NJW 2004, S. 2047, Caroline von Hannover / Deutschland. – Der Sache nach war all dies schon bei F.Müller III grundrechtsdogmatisch entwickelt wordent; vgl. etwa ebd., S. 87 ff., 91 ff., 94 ff., u. ö. 699 700
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des Bundesverwaltungsgerichts, wonach die Glaubensfreiheit eines Schülers, außerhalb der Unterrichtszeit in der Schule zu beten, ihre Schranke an der Wahrung des Schulfriedens finde.703 Der Kläger wollte einmal täglich sein islamisches Gebet in der Schule verrichten. Im Instanzenzug von VG und OVG hatte er damit keinen Erfolg. Das Bundesverwaltungsgericht sucht nun nach verfassungsimmanenten Schranken, die es allerdings nicht in der Glaubensfreiheit anderer Personen oder in der religiösen Neutralität des Staates findet, sondern eben im „Schutz des Schulfriedens“, welcher angeblich zu den Gemeinschaftswerten mit Verfassungsrang gehöre. Fragwürdig ist dabei schon die Absage an das staatliche Neutralitätsgebot: „Die dem Staat gebotene religiös weltanschauliche Neutralität ist indes nicht als eine distanzierende Haltung im Sinne einer strikten Trennung von Staat und Kirche zu verstehen, sondern als eine offene und übergreifende Haltung, die Glaubensfreiheit für alle Bekenntnisse gleichermaßen fördert. Der Staat darf lediglich keine gezielte Beeinflussung im Dienst einer bestimmten politischen, ideologischen oder weltanschaulichen Richtung betreiben oder sich durch von ihm ausgehende oder ihm zuzurechnende Maßnahmen ausdrücklich oder konkludent mit einem bestimmten Glauben oder einer bestimmten Weltanschauung identifizieren und dadurch den religiösen Frieden einer Gesellschaft von sich aus gefährden.“704 Ob der Schulfriede tatsächlich als „Verfassungsgut“ gelten kann oder nur als allgemeiner Funktionsvorbehalt, wie wir ihn früher aus den Besonderen Gewaltverhältnissen kannten, verdient weitere Diskussion. An ein so genanntes Verfassungsgut wäre nur dann zu denken, wenn es gelänge, den Schulfrieden mit Hilfe der negativen Religionsfreiheit anderer Grundrechtsträger, der Elternrechte und eventuell eines sinnvoll eingegrenzten Neutralitätsprinzips dogmatisch überzeugend zu präzisieren705.
322.29 Der Grundsatz der normativen Kraft der Verfassung Als Maßstab für Verfassungsinterpretation wird ferner die „normative Kraft der 393 Verfassung“ bezeichnet706. Beim Lösen positivrechtlicher Probleme soll den Gesichtspunkten der Vorzug gegeben werden, „die unter den jeweiligen Voraussetzungen der normativen Verfassung zur optimalen Wirkungskraft verhelfen“. Hiermit sollen zum Beispiel Wandlungen in den Regelungsbereichen verfassungsrechtlicher Vorschriften so aufgefangen werden, daß die Anordnung auch unter geänderten Verhältnissen möglichst viel von ihrer ordnenden Kraft behält. Für eine Methodik, die den Sachgehalt (verfassungs-)rechtlicher Normbereiche als normativ in die Rechtsarbeit einbezieht, ist damit angesichts der Normorientierung aller Konkretisierungselemente nichts Neues gesagt. Auch der Maßstab der normativen Kraft der VerfasBVerwG, Urteil vom 30. 11. 2011 – 6 C 20 / 10, in: NVwZ 2012, S. 162 ff. BVerwG, in: NVwZ 2012, S. 162 ff., 165. 705 Vgl. Hufen III, S. 663 ff.; Sacksofsky / Möllers, S. 7 ff. und 49 ff.; Coumont, Hufen IV, § 22, Rn. 16. 706 Hesse II, S. 27 f.; ebd., S. 28 das folgende Zitat. 703 704
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3 Juristische Methodik – 32 Konkretisierungselemente
sung stellt kein eigenes Verfahren zur Verfügung. Er läuft auf einen Appell, auf eine notwendig nur formal umschreibbare Zielvorstellung hinaus. So gesehen, gehört auch er weniger unter die methodischen Interpretationsgesichtspunkte im engeren Sinn als unter die verfassungspolitischen Elemente der Konkretisierung. Über das verfassungspolitische Moment hinaus geht allerdings der vom Bundesverfassungsgericht im Bereich der Finanzierung des Rundfunks entwickelte Gedanke eines Grundrechtsschutzes durch Verfahren.707 Die Rundfunkfreiheit bedarf wegen ihrer Anbindung an die dynamische Entwicklung der Medientechnik einer prozeduralen Absicherung, vor allem in der Frage der Gebührenfestsetzung. Man braucht ein kooperatives und gestuftes Verfahren der Bedarfsfeststellung, welches das verfassungsrechtliche Ziel der Medienvielfalt sowie demokratisch-politische Gesichtspunkte und technischen Sachverstand miteinander vereinbar macht.708 322.291 „Grundrechtseffektivität“ und „in dubio pro libertate“ 394
Für die Grundrechte hat das Bundesverfassungsgericht einen auf den ersten Blick analogen Grundsatz, die sogenannte Grundrechtseffektivität, als Interpretationsprinzip zu entwickeln versucht709. Das Gericht hält fest, Grundrechte seien weit auszulegen. Im Zweifel sei ihnen ein extensiver Geltungsbereich zuzuerkennen. Damit kommt die Judikatur in unmittelbare Nähe des Satzes „in dubio pro libertate“710. Dieser geht von einer „Freiheitsvermutung“ für den Bürger aus. Bei der Konkretisierung von Verfassungsrecht soll das Ergebnis vorgezogen werden, das die beteiligten Rechte des Bürgers am wenigsten beschneidet. Der Grundsatz wird nur dann an den Schluß der Interpretation gestellt, wenn mehrere gleich vertretbare und begründbare Ergebnisse zur Auswahl stehen. Doch läßt sich eine derartige Regel als auswählende, als letztlich entscheidende Freiheitsvermutung methodisch nicht selbständig entwickeln. Sie könnte wie die rechtsstaatlichen Gebote der Normklarheit, Methodenbestimmtheit und Rechtssicherheit, von denen die nicht-normativen methodischen Regeln überlagert sind, nur aus dem geltenden Verfassungsrecht begründet werden. Es ist aber fraglich, ob Grundrechte und andre subjektive Berechtigungen auf dem Boden des Grundgesetzes im Konfliktsfall prinzipiell individualistisch verstanden werden können711. Fragwürdig ist die Ausgangsvermutung für die Freiheit auch unter den sowohl positiv-rechtlichen als auch verfassungstheoretischen Aspekten sozialer Konflikthaftigkeit – nicht zuletzt unter Grundrechtsträgern – und der Gegenläufigkeit von Interessen und Rechten. Ob wirklich „der“ Freiheit in Gestalt einer bestimmten am Rechtsfall beteiligten Norm oder ob einer andern beteiVgl. dazu BVerfGE 90, S. 60 ff., 94 ff.; 119, S. 181 ff., 222. BVerfGE 90, S. 60 ff., 102; 119, S. 181 ff., 222 ff. 709 Vgl. z. B. BVerfGE 6, 55, 72 oder 51, 97, 110; dazu Ehmke III, S. 87 ff. 710 Vertreten von P. Schneider I, S. 31 ff.; ablehnend Keller, S. 278; Ehmke III, S. 86; Ossenbühl I, S. 657 f. 711 Zum „Menschenbild des Grundgesetzes“ z. B. BVerfGE 4, 7, 15; 12, 45, 51. 707 708
322 Methodologische Elemente im engeren Sinn
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ligten Vorschrift der „Vorzug“ zu geben ist oder ob das Ergebnis in eine Richtung geht, die sich mit diesem Entweder-Oder nicht kennzeichnen läßt, ist generell weder methodisch noch verfassungsrechtlich zu sagen. Im übrigen ist es nicht genau, das Prinzip als „Vermutung“ auszugeben. Der juristische Begriff der Vermutung wird herkömmlich auf (im Einzelfall nicht voll geklärte) Tatsachen angewendet712. Das schließt es nicht aus, am Ende der Interpretation Auswahlprinzipien für mehrere normativ gleich vertretbare Lösungen einzusetzen, läßt aber den gewählten Begriff als nicht empfehlenswert erscheinen. Wichtiger sind in jedem Fall die angedeuteten sachlichen Einwände, vor denen dieses Argument keinen Bestand hat. Zweifellos abwegig ist der Grundsatz der sogenannten Grundrechtseffektivität. Das Bundesverfassungsgericht hat dort eine literarische Aussage, die sich auf die Alternative „Programmsatz“ oder „aktueller Rechtssatz“ und ausdrücklich nicht auf die Frage der Inhaltsbestimmung von Grundrechten bezog, offenkundig mißverstanden713.
322.3 Axiomatisierbarkeit des (Verfassungs-)Rechts? Die viel erörterte Frage, wieweit Datenverarbeitungsanlagen für Gesetzgebung, 395 für sonstige Rechtspraxis und für die Rechtswissenschaft bei Datenspeicherung und Dokumentation hilfreich sein können, gehört in den Umkreis der lösungstechnischen Elemente von Konkretisierung. Zu den methodologischen Elementen gehört dagegen das Grundsatzproblem, wie weit Datenverarbeitungsanlagen über Entscheidungshilfe hinaus als eigengesetzlicher Faktor juristischer Methodik eingesetzt werden können. Juristische Methodik würde möglicherweise qualitativ verändert, wenn praktische Rechtsarbeit solcherart eine neue Dimension erhielte. Die Diskussion hat für das Verfassungsrecht noch nicht zu wesentlichen Ergeb- 396 nissen geführt714. Unter „Automation“ ist die Möglichkeit zu verstehen, menschliches Entscheiden durch maschinelle Rationalisierung im Rahmen mechanischer und vor allem elektronischer, d. h. selbststeuernder Systeme von Datenspeicherung 712 Hierzu Ehmke III, S. 87. – Zu „Grundrechtseffektivität“ und „in dubio pro libertate“ sowie allgemein zum neuen Stand der Theorie und Interpretation der Grundrechte: Müller XXXII. 713 Ehmke III, S. 87 f. – Das Mißverständnis zur „Grundrechtseffektivität“ wird auf krasse Weise an entscheidender Stelle im Mehrheitsvotum des „Abtreibungs-Urteils“ aufrechterhalten: BVerfGE 39, 1 ff., 37 f.: Beiseiteschieben des grammatischen Elements aus Umgangsund Fachsprache durch eine pauschale petitio principii zu „Sinn und Zweck“ sowie durch den fortzeugenden Unsinn der „juristischen Wirkungskraft der Grundrechtsnorm“ unter Hinweis auf BVerfGE 6, 55, 72 und BVerfGE 32, 54 ff., 71. Die Legende vom „Grundsatz, daß derjenigen Auslegung einer Grundrechtsnorm der Vorzug zu geben ist, die ihre Wirkungskraft am stärksten entfaltet“, wird fortgeführt z. B. in BVerfGE 51, 97, 110; 103, 142, 153 ff. 714 Zum Überblick über die Debatte und für die früheren Anwendungsfälle automatisierter Verfahren im Recht vgl. z. B. die Angaben bei Klug, S. 157 ff., 162 f.; Simitis I, II; Raisch I; Suhr. Ferner auch z. B. Steinmüller; Reisinger I, II.
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3 Juristische Methodik – 32 Konkretisierungselemente
und Datenverarbeitung zu ersetzen. Konkretisierung durch solche Systeme (Computer) macht es notwendig, die betreffenden Rechtsvorschriften zu axiomatisieren715. Zum Teil wurden die an „automationsgerechte“ Rechts- und Verwaltungsvorschriften zu stellenden Anforderungen bereits untersucht716. Die Vorschriften des Verfassungsrechts eignen sich schlecht für Axiomatisierung. Bisherige Anwendungsfälle von Computern in der Normsetzung sind Steuer- und Sozialversicherungsrecht (Anfertigung von Steuer- und Rentenbescheiden), Lohn- und Gehaltsfestsetzungen und vergleichbare Gebiete. Sie sind durch quantifizierbare Tatbestände und weitgehend numerisch determinierbare Rechtssätze gekennzeichnet. Automatische Verfahren der Rechtsgewinnung sind nach den bisherigen Erfahrungen und nach dem gegenwärtigen Stand der theoretischen Diskussion nur dort sinnvoll, wo sich Rechtsarbeit nicht als Konkretisierung, sondern als Subsumtion, als „Anwendung“ darstellt717. Aussichten718 und Wünschbarkeit automatischer Rechtsgewinnungsverfahren im Verfassungsrecht sind insoweit nicht allzu hoch zu veranschlagen. Juristische Logik ist weithin, verfassungsrechtliche ist durchgehend nicht als formale Logik begreifbar. Sie ist normgebundene und damit an die Bedingungen von Normkonkretisierung gekettete Sachlogik719. Normstruktur und Normativität stellen sich in den juristischen Einzeldisziplinen mit ihren verschiedenen Normtypen je anders dar. Eine durchgehende Axiomatisierung der Rechtsordnung, die den stark differierenden Strukturen und Funktionen der Rechtsnormen nicht Rechnung trüge, wäre nicht nur illusorisch, sondern ginge schon vom Ansatz her an den gesellschaftlichen Funktionen positiven Rechts vorbei720. Die ohnehin begrenzten Möglichkeiten juristischer Formallogik sind durch die Eigenart des Verfassungsrechts entscheidend weiter eingeschränkt721. Die Grenzen der Axiomatisierbarkeit sind damit möglicherweise schon erkennbar, bevor ein großangelegter Versuch unternommen wurde. Allen Bedenken722 zum Trotz mögen sich dagegen in unterverfassungsrechtlichen Teilge-
Vgl. zur Dekonstruktion axiomatischer Interpretationsmodelle Baufeld, S. 185 ff. v. Berg. Im Vorfeld, bei den Möglichkeiten der Operationalisierung, liefert ein grundlegendes Modell Fohmann I. – Zu den Anforderungen, welche die sogenannte Informationsgesellschaft an die juristische Dogmatik und die Rechtstheorie stellt, vgl. Albers. Im Zentrum stehen dabei nicht mehr die Rechner, sondern die Netze (S. 65). Zum Begriff „Information“ als Differenz zweier verknüpfter Differenzen S. 68. 717 Zu den Bedingungen einer Axiomatisierung des Rechts: Klug, S. 163 ff., 173 ff. m. Nachw. 718 Allgemein und grundlegend: Klug. – Allg. zur (deontischen) „Normenlogik“ z. B. Weinberger, Kalinowski, Lampe, Keuth, Tammelo, Rave / Brinckmann / Grimmer I. 719 Die Regelungsprobleme der so genannten Wissensgesellschaft lassen sich ohne das Konzept der Normstruktur nicht mehr sinnvoll thematisieren. Vgl. dazu beispielsweise Faber, S. 41 ff.; Hackethal, S. 84 ff.; Ladeur / Vesting; Sieber / Nolte, S. 228 ff.; Reinke, S. 23 ff.; Dähne, S. 176 ff.; Skrobotz, S. 81 ff.; Niederstetter, S. 18 ff.; Hartleb, S. 27 ff.; Kracht. 720 s. auch Raisch I, S. 438 ff. m. Nachw. 721 Müller I, S. 40 ff. 722 Hierzu beispielsweise Simitis I, S. 9, 11; II, S. 20f.; Otto, S. 499 ff.; Klug, S. 171 f. mit zutreffendem Hinweis auch auf normative Grenzen, vor allem aus den Grundrechten; ferner 715 716
323 Konkretisierungselemente aus Normbereich und Fallbereich
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bieten der Rechtsordnung über die genannten hinaus Verwendungsmöglichkeiten axiomatisierter Entscheidungsverfahren herausstellen, von denen die einzelnen juristischen Methodiken dann entsprechend betroffen werden723. Unabhängig vom Rechtsgebiet stellt sich dem Wunsch, die Sprache des Rechts zu axiomatisieren und die Rechtsarbeit damit klarer und sicherer zu machen, eine grundsätzliche Schwierigkeit entgegen. Außerhalb von durchorganisierten (totalitären) Diktaturen, sind Normtexte, Rechts- und Entscheidungsnormen und überhaupt alle erheblichen Rechtstexte sowohl den Betroffenen als auch jenen, die betroffen sein könnten (somit allen) zugänglich zu machen. In sämtlichen Stadien des Rechtsgeschehens (Erlaß von Normtexten, Erfassung der Konfliktfälle in Form des Sachverhalts, Mitteilung von Rechts- und Entscheidungsnormen sowie der Begründung) erfordert die rechtsstaatliche Demokratie Übersetzungsoperationen aus der bzw. in die natürliche(n) Sprache – so lange es diese natürliche Sprache ist, die alle lebensweltlichen Kommunikationen vermittelt. Ein etwaiger Gewinn an rationaler Sicherheit in den juristischen Akten von Referenz- und Bedeutungsfixierung würde durch die Faktoren der Unsicherheit bei diesen multiplizierten Übertragungsakten leicht verloren gehen bzw. ins Negative verschoben werden.
323 Konkretisierungselemente aus Normbereich und Fallbereich
323.1 Funktion der Strukturelemente Was unter Konkretisierungselementen aus Normbereich und Fallbereich zu ver- 397 stehen ist, wurde zur Struktur von Rechtsnorm und Konkretisierungsvorgang bereits an Beispielen724 dargestellt. Es ist kein Zufall, daß die Rolle des die Entwicklung
S. 176 ff. zur Entwicklung ergänzender teleologischer Axiomensysteme als Aufgabe einer exakten Rechtsphilosophie; Wieacker III, S. 398 ff. 723 Vgl. dazu Naucke III, S. 98 ff. sowie Seelmann I, S. 71: „Große Hoffnungen, die man insbesondere in den 70er Jahren in die Rechtslogik gesetzt hat, sind deshalb eher einer gewissen Ernüchterung gewichen.“ 724 Müller I, S. 114 ff.; II passim; ein Beispiel der Analyse eines grundrechtlichen Normbereichs als Grundlage einer Bereichsdogmatik und damit einer differenzierten Konkretisierbarkeit des Grundrechts bei Müller IV, S. 67 ff. Das BVerfG folgt diesem Ansatz im „Mephisto“Beschluß, BVerfGE 30, 173 ff., 188 ff. – s. a. oben, S. 38 ff., 44 ff. – Ansätze in Richtung auf Normbereichsanalysen z. B. bei Lautmann II, Naucke I, Naucke / Trappe, Hagen, Rottleuthner I, Grimm II, Denninger II; Goerlich I, S. 184ff.; ähnlich Scholz, S. 91 ff. Als Ansatz zu ausführlicher Normbereichsanalyse zu verstehen ist: Lüderssen, v. a. S. 79 ff., 107 ff. – Von der Gesetzgebungslehre her: Noll, z. B. S. 63ff. – Zur Einführung in methodologische Probleme der Sozialwissenschaften, jeweils mit Nw.en: König, Albert I und II, Opp, Adorno u. a., Topitsch III, Hülst / Tjaden / Tjaden-Steinhauer. – Zu den juristischen Fragen vgl. auch die Anm. zu RN 226. Abgesehen von den dort gegebenen Nachweisen, folgen der hier vertretenen Normtheorie für Einzelfragen der Grundrechtsauffassung z. B. auch Scheuner IV, S. 66; Goerlich I, z. B. S. 65; Hesse II, z. B. S. 122 ff.; Grabitz, S. 577, 578 ff. Ausführliche Umsetzung auf Fragen des positiven Rechts etwa bei Müller VII, z. B. S. 57 ff.; Müller VIII, S. 22 ff.,
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3 Juristische Methodik – 32 Konkretisierungselemente
der Rechts- und der Entscheidungsnorm (zusammen mit dem Normtext) provozierenden praktischen Falls und die Beiträge des Normbereichs zur Normativität von Rechtsnorm wie Entscheidungsnorm zuerst in der Praxis und nicht zuletzt in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung fühlbar wurden. Daß die Judikatur die über die herkömmlichen Kunstregeln und über sprachliche Auslegung insgesamt hinausgehenden Elemente der Rechtsarbeit nicht eigens reflektiert hat, bleibt daneben zweitrangig. Die Unterscheidung von Sachbereich, Fallbereich, Normbereich und Normprogramm, deren weitere Differenzierung auf die Eigenart des vorliegenden Rechtsfalls hin und das Arbeiten mit diesen Strukturbegriffen können weder richtige Entscheidungen gewährleisten noch die herkömmlichen und die neueren methodischen Hilfsmittel ersetzen. Sie sollten sie aber nunmehr auch in der praxisbezogenen Reflexion juristischer Methodik ergänzen, nachdem sie es in der Praxis der Sache nach bereits tun. Diese Strukturaspekte bieten zusätzliche Elemente methodischer Differenzierung, detaillierten Begründungs- und Darlegungsstils. Für verfassungsrechtliche Methodik haben sie ihre Notwendigkeit als Mittel der Rechtsprechung und der Rechtsprechungsanalyse erwiesen725. Die Urteilskritik kann genauer gefaßt, und die normative Begründung der Entscheidungen kann dadurch schärfer kontrolliert werden, daß auch sekundär sprachlich vermittelte Sachaspekte, also Realdaten, einbezogen werden. Sie erweisen sich für die Praxis als unausweichlich, ohne mittels sprachlicher Interpretation gewonnen zu werden. Für das Verwaltungsrecht können solche Gesichtspunkte etwa für notwendig sachorientierte 86 ff., 97 ff. für Grundrechte; speziell zur Konkretisierung von Kompetenzvorschriften: Müller VII, v. a. S. 36 ff. Für den durch „Gleichheitssatz und Bildungsplanung“ umschriebenen Bereich vertritt diesen Ansatz auch Hufen II. Dasselbe gilt für Rinken II, S. 280 f. [(„Normbereichsanalyse“)]; s. auch 258 ff. – Eingehend Grimm VII, S. 39 ff., 43 ff. u. durchgehend; tragende Normbereichsuntersuchung bei Jeand’Heur VIII, S. 39 ff. u. ö. 725 Vgl. für die Verwaltungsjustiz etwa BVerwGE 36, 192 ff., 214 f. – Etwas anderes ist es, wenn soziale Daten ohne Rücksicht auf den Normbereich auf die Auslegung zurückwirken sollen: so in BVerwGE 39, 197 ff., 198 (Ls 4). 207 (§ 1 Abs. 2 Nr. 2 GjS – „Kunst“qualität). – Grundsätzlich korrekt werden Normbereichselemente eingearbeitet z. B. in BVerfGE 39, 210 ff. (MühlenstrukturG), 226 ff. – Zu Normbereichsanalysen in der älteren Rspr. des BVerfG vgl. Müller I, v. a. S. 114 ff.; in demselben Sinn Hoffmann / Riem II zu den beiden Fernseh-Urteilen, zum „Spiegel“- und zum „Lebach“-Urteil. Ders. IV gibt einen repräsentativen Überblick über „Methoden einer anwendungsorientierten Verwaltungsrechtswissenschaft“. – Unzureichender Versuch zum Abschichten von Normbereichs- und Sachbereichselementen bei der Frage, ob zum religiösen Existenzminimum als Voraussetzung einer innerstaatlichen Fluchtalternative im Sinn des Asylrechts auch eine kirchliche Betreuung gehört: BVerwG in: DVBl. 1996, S. 202 f., 203. Besonders evident ist die Notwendigkeit des Einbezugs von Realdaten und einer Strukturierung dieses Vorgangs bei der Einschätzung (neuer) technischer Risiken. Vgl. dazu als Beispiel BVerwG, in: DVBl. 1996, S. 682 f. Für die Methodik des Verwaltungsrechts übernehmen den strukturierenden Ansatz v. a. Hoppe / Rengeling; Meyer-Hesemann, bes. S. 143 ff.; Scheytt, v. a. S. 37 ff., 41 ff. u. ö. (Kultur- und Kommunalverwaltungsrecht); Rottmann III in eigehender methodisch / theoretischer Untersuchung. – Ebenso, für das Zivilrecht, z. B. Laudenklos I (Normbereichsanalyse im Zusammenhang einer Urteilskritik zu BGHZ 55, 153 ff.). – Sehr instruktiv zur „Ökonomischen Analyse des Rechts“ für die Methodik des Zivilrechts ders. II; zum „Stellenwert der ökonomischen Theorie im Recht“: van Aaken.
323 Konkretisierungselemente aus Normbereich und Fallbereich
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Normativbegriffe wie „Verhältnismäßigkeit“726, „Erforderlichkeit“, „Geeignetheit“ usf., für Probleme des Gemeingebrauchs, des „Normen-“ oder „Sachwandels“, zur sachlichen Fundierung von Ermessensbegriffen und unbestimmten Rechtsbegriffen und in ähnlichen Zusammenhängen fruchtbar gemacht werden. Trotz ihrer induktiven Entwicklung aus dem Staats- und Verfassungsrecht stellt die hier vorgelegte Konzeption als rechts(norm)theoretischer Ansatz mit methodischen Folgerungen, als Formulierung einer allgemeinen Strukturtheorie von Rechtsnormen auch an die andern Teildisziplinen, besonders an Strafrecht und Zivilrecht den Anspruch, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Soziologie, Geschichte, Kriminologie und vergleichbare Forschungsgebiete nicht länger nur als das „bloße Material“ zutragende „Hilfswissenschaften“ zu behandeln. Sie verlangt vielmehr, deren Fragestellungen und Teilergebnisse in Richtung auf (Teil-)Synthesen zu verarbeiten, die ihren normativen Bezugspunkt wie die methodische Legitimation ihres Zustandekommens der auswählenden Perspektive des Normprogramms als eines wesentlichen Elements juristischer Interpretation verdanken. Wenn auch die andren Rechtsdisziplinen zum Teil andre Fragen als die der verfassungsrechtlichen Methodik kennen, dürfte sich das Einbeziehen der Sachelemente des Normbereichs auch dort als zusätzliches Hilfsmittel rationaler Praxis empfehlen. Die zu leistende Verbindung mit sozialwissenschaftlicher Arbeit, das Verwenden soziologischer, politologischer, wirtschaftswissenschaftlicher und sonst vom Normbereich der zu konkretisierenden Vorschrift geforderter Daten im Vorgang der Rechtsgewinnung stellt sich dabei in erster Linie den Juristen selbst als Aufgabe. Der hochschulpolitische Wunsch nach Training in Grundlagenfächern in Fernsicht auf eine Reform der Juristenausbildung, die diesen Namen verdient, wie auch die Forderung interdisziplinärer Zusammenarbeit sind von der Struktur von Rechtsnorm und Normkonkretisierung her sachlich nur allzu gut begründet727. Von der Konzeption in der Soziologie, die sich als „funktionale Methode“ bezeichnete, wurde der Vorschlag einer Verbindung von Sinnexplikation durch funktionale Analyse und Sinnexplikation durch juristische „Hermeneutik“ aufgegriffen. Dabei wurde an die Gegenläufigkeit beider erinnert. Funktionale Analyse erschwert fallgebundes Entscheiden durch das ihr eigentümliche Einbeziehen immer neuer Alternativen. Sie akzeptiert „keine thematische Verpflichtung auf Tradition“728. Die Forderung funktionaler Arbeitsteilung zwischen normkonkretisierender 398 Rechtspraxis bzw. Rechtswissenschaft und einer Sozialwissenschaft, die tatsächliche Strukturen der sozialen Welt ohne Bindung an Normen und normierte Tradition
726 Zur Bedeutung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bei Beschränkungen der persönlichen Freiheit vgl. BVerfGE 130, 372 ff., 391 ff. 727 Zur Kooperation Rechtswissenschaft / Sozialwissenschaften in bezug auf die Juristenausbildung z. B. Adomeit I; Leibfried, z. B. S. 52 ff., 126 ff. s. auch Naucke I mit berechtigter Skepsis, ebd., S. 34 ff., 48 ff., 55 ff., 71 f. 728 Luhmann III, S. 18 ff. zu: Müller I, S. 35 ff., 80; bei Luhmann ebd. auch zum folgenden.
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3 Juristische Methodik – 32 Konkretisierungselemente
analysiert, gibt den beteiligten Wissenschaftlern und Praktikern anderer Disziplinen die Bedingungen ihrer Arbeit nicht vor. Die methodische Verantwortung für das Ansetzen der steuernden Perspektive des Normprogramms rechtlicher Vorschriften an die komplexen Teilergebnisse funktionalistischer oder nicht-funktionalistischer empirischer Studien verbleibt beim die Rechtsfrage lösenden Juristen. Dabei wird der Einsatz mechanischer Dokumentierung oder kybernetischer Datenspeicherung und Datenverarbeitung empirischer Befunde aus Rechtsgeschichte, Rechtssoziologie, Kriminologie, politischer Soziologie, Politikwissenschaft und aus der sogenannten Rechtstatsachenforschung für die Strukturanalyse des Normbereichs de lege ferenda (Rechts- und Gesetzgebungspolitik) und de lege lata (für die Aufgabe der Rechtskonkretisierung) nach dem bisherigen Eindruck zwar faktisch erhebliche, im methodischen Sinn jedoch nur unterstützende Bedeutung haben können729.
323.2 Fallbezogenheit der Strukturelemente 399
Die Elemente des Normbereichs bilden methodische Zwischenstufen typologischen Charakters730. Sie bezeichnen einen realmöglichen Strukturbereich für der Vorschrift potentiell zuzuordnende Rechtsfälle. Eine sie einbeziehende Methodik vermittelt über die Zwischenstufe der nach Normprogramm und Normbereich akzentuierten Konkretisierungstypik in Zusammenarbeit mit den übrigen Elementen den Fall mit dem Normtext. Normtext und Fall sind nicht isolierte Endpunkte der Normerzeugung, sondern in deren Vorgang integral einbezogen. Es wird nicht nur der Normtext mit dem Fall, sondern auch dieser mit dem Normtext vermittelt. Mit der typologischen Entwicklung von Normbereich und Normprogramm im Sinn der von Kommentarliteratur, Lehrbüchern und rechtswissenschaftlichen Monographien üblicherweise unternommenen Bereichsdogmatik einzelner Vorschriften oder Normgruppen wird nicht etwa eine Rechtssubstanz der geltenden Gesetze als schon vorgegebene nur noch entfaltet. Das gilt schon deshalb, weil die jeweilige Rechtsnorm angesichts der Provokation durch einen anstehenden Rechtsfall im Weg der „konkretisierenden“ Konstruktion überhaupt erst geschaffen werden muß. Die Verteilung von Normprogramm und Normbereich (zusammen mit den andern methodischen Hilfsgesichtspunkten) ist dabei auch je nach der Eigenart des Falls, der Struktur des Sachverhalts verschieden. Was die Vorschrift gerade für den anstehen729 So z. B. schon Wieacker III, S. 392. – Eine intensive Grundlagenstudie zu den Möglichkeiten der Operationalisierung von Konkretisierungselementen gibt Fohmann I. – Gleichfalls anhand des Problems von Grundrechtskonkurrenzen der „Beitrag zur Normstruktur der Freiheitsrechte“ von Heß. – Die Verantwortung des entscheidenden Juristen betont z. B. auch Pavčnik V. 730 Müller I, S. 184 und ff. – Vgl. allg. zur Rolle der „Typologik“ für die Rechtsfindung: Leenen, bes. S. 172 ff. – Ohne Belege folgt einigen der hier, passim, entwickelten Vorschläge Gusy I, v. a. S. 97 ff. – Zum Anspruch auf Methodengleichheit: F. Müller seit dems. XII, S. 65 ff. – Allg. zur Durcharbeitung des Strukturkonzepts und zu seinen Folgen für Theorie und Dogmatik: Müller XIX, z. B. S. 250 ff., 314 ff., 381 ff. u. ö.
324 Dogmatische Elemente
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den Fall „vor“schreibt, wird erst in Auseinandersetzung mit seiner Problematik unter Festhalten am Normprogramm und unter Beachtung der zusammen mit den übrigen Konkretisierungselementen zu ermittelnden rechtsstaatlichen Grenzfunktion des Wortlauts (bzw. des Normprogramms) klargestellt. Erweist sich, daß ein Fall strukturell und nach den Sinnvarianten, die das Normprogramm absteckt, nicht zum Regelbereich der fraglichen Vorschrift gehört, so ist weder der Normtext auf den Fall noch dieser auf den Normtext hin ausgerichtet. Das Nicht-Umsetzen einer Vorschrift präzisiert ihren Regelbereich ebenso, wie ihr Anwenden die Einzelheiten ihrer sachbestimmten Normativität anreichert731. Solches Anreichern bietet zugleich die Sachgrundlage für normbezogene Theorie. Verfassungstheorie, die Theorie einer bestimmten, einer normativ geltenden Verfassung sein will, erarbeitet die Sachstrukturen verfassungsrechtlicher Normbereiche. Sie sollte es allerdings reflektiert tun. So hat sich besonders die Analyse grundrechtlicher Normbereiche als brauchbar nicht nur für grundrechtliche Bereichsdogmatik und einen Allgemeinen Teil einer Dogmatik der Grundrechte, sondern auch für deren Verfassungstheorie erwiesen732. Darin zeigt sich eine rechts(norm)theoretisch begründete und methodisch kontrollierte Verbindung von Elementen der Verfassungskonkretisierung mit Aussagen der Verfassungstheorie. Diese Verbindung kann durch das Einbeziehen von TheorieElementen in verfassungsrechtliche Methodik wiederum der praktischen Arbeit an der Verfassung zugute kommen.
324 Dogmatische Elemente
324.1 Die Rolle der dogmatischen Elemente Den Juristen ist es geläufig, neben dem Wortlaut der anzuwendenden Vorschrift 400 (und – meist unreflektiert – dem Sachgehalt ihres Normbereichs), neben anderen Normtexten, die systematisierend mit ihm verglichen und verarbeitet werden, außer Texten von Materialien und rechtsgeschichtlich feststellbaren Normvorbildern bei der Lösung jedes Falls von einiger Schwierigkeit auch die Aussagen einschlägiger Rechtsprechung, der Lehrbuch-, Kommentar- und monographischen Literatur als praktisch unentbehrliche „Quellen“ heranzuziehen. Daß und inwiefern dieses Vorgehen sachlich in der Struktur von Normativität und Konkretisierung begründet ist, wurde hier schon erörtert. Die dogmatischen (und ferner die rechts- und verfas731 Geiger S. 242 ff., 250 f. – Z. B.: weder grammatische noch systematische noch genetische Auslegung ergeben eine Lösung: BVerfGE 29, 183 ff. (Rücklieferung / Asylrecht), 189 ff. Das Gericht hilft sich mit Motivforschung („Sinn und Zweck“) und einem Ansatz zur Normbereichsuntersuchung, einer „vergleichenden Betrachtung der … zu beurteilenden Lebensvorgänge“, ebd., 191 und ff. 732 Hierzu Müller I, S. 71 f., 144 ff., 178 ff., 201 ff., 216 ff., III, IV. – Knapp zusammenfassend zur Wichtigkeit der Verfassungstheorie für das strukturierende Konzept: Laudenklos / Rohls / Wolf, S. 322 ff. – Konkretisierung und (limitierende) Verfassungstheorie werden sorgfältig untersucht bei Manterfeld, S. 128 ff.; 133 ff., u. ö.
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3 Juristische Methodik – 32 Konkretisierungselemente
sungstheoretischen) Texte sind in der üblichen Terminologie nicht Rechtsquellen, sondern Rechtserkenntnisquellen. Auch sie sind sprachlich formuliert. Daher sind auch sie – nach Maßgabe von Fall und Normtext – ihrerseits der Interpretation, allen Möglichkeiten sprachlicher Auslegung bedürftig und zugänglich. Auch Sätze der Theorie und Dogmatik, mögen sie in rechtswissenschaftlichen Schriften oder in Rechtsprechung enthalten sein, sind wie zumeist die Sprachfassungen von Gesetzen „generell“ und „abstrakt“. Das insofern, als sie die sachliche Eigenart des Rechtsfalls, der ihr Herbeiziehen zur Konkretisierungsarbeit veranlassen wird, und die der angesichts dieses Falls zu erarbeitenden Rechts- und Entscheidungsnorm nach aller Erfahrung nicht vorwegnehmen können. Aussagen von Dogmatik und Theorie wie übrigens auch die lösungstechnischer und rechts- bzw. verfassungspolitischer Art (die ebenfalls sprachlich ausgedrückt werden müssen) teilen damit das Schicksal von Normprogramm, Normbereich und Normtext, von Gesetzesmaterialien, historischen Normvorbildern und das des zu lösenden Falls: nicht ohne weitere Bearbeitung fertig und anwendbar zur Verfügung zu stehen. Es ist das Schicksal sämtlicher Elemente juristischer Konkretisierung. Warum das sachnotwendig so ist – die „Sache“ von Rechtspraxis und Rechtswissenschaft ist die ständige Arbeit an der Gewährleistung, Verwirklichung und Fortentwicklung rechtlicher Ordnung des menschlichen Zusammenlebens –, hat sich als durch die hier durchgeführte Strukturanalyse von Normativität begründbar herausgestellt. 401
Die Strukturierende Rechtslehre versteht „Dogmatik“ im technischen Sinn der Rechtswissenschaft; dabei aber nicht mit jenem Unterton von „doktrinär“, der sich dem Begriff juristischer Dogmatik nicht selten hinzugesellt733. So gesehen, also gemessen an der Subjektivität von Meinungen, die aus (rechts-)politischen Gründen durchgesetzt werden sollen, ist strukturierende Dogmatik eher undogmatisch. Noch vor dem Inhalt einzelner Standpunkte geht es ihr um die Wissenschaftlichkeit der Aussagen; darum, daß Begriffe und Argumentationen überprüfbar sind, verallgemeinert werden können, daß sie rechtsstaatliche Praxis stabilisieren helfen. Gewiß führt auch ein in diesem Sinn juristisch-dogmatisches Vorgehen zu bestimmten Positionen. Das folgt schon aus der Inhaltlichkeit des positiven Rechts, um dessentwillen Dogmatik erarbeitet wird. Doch bildet die Art des Entwickelns dogmatischer Sätze eine rechtsstaatlich eigens geforderte und auch demokratisch unverzichtbare Schicht rationaler Rechtsarbeit.
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Die Ergebnisse der Dogmatik versuchen somit, neben anderen Konkretisierungsfaktoren die Vorgänge des Verwirklichens von Recht zu steuern734. Gegenüber den Rechtsvorschriften, deren Normativität sie thematisch darzustellen versuchen, haben sie eine dienende Funktion. Dogmatiker neigen aber dazu, die Aussagen des positiven Rechts mit energischem Zugriff festzuschreiben, um welcher Ziele und Strategien willen auch immer. Um so klarer soll hier auf die strukturierende, sich 733 Vgl. in diesem Sinn auch Gödicke, S. 117 ff. zur innovativen Bedeutung der Dogmatik sowie S. 118 ff. zum dogmatischen Streit. 734 Zum Dogmatikbegriff vgl. auch Schmitt-Glaeser, S. 140 f.
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dabei den anderen Konkretisierungselementen einfügende Rolle dogmatischer Sätze hingewiesen werden735. Strukturierende Dogmatik gliedert inhaltliche Aussagen über das positive Recht 403 und die Ergebnisse seiner Konkretisierung nicht auf beliebige Art. In der allgemeinen Tendenz, durch reflektiertere Dogmatik Praxis und Rechtslehre wissenschaftlicher zu machen, stimmt sie mit dem klassischen Gesetzespositivismus überein. Für diesen kam es aber auf „die Aufstellung eines wissenschaftlichen Systems“ an, „in welchem sich die einzelnen Gestaltungen als die Entwicklung eines einheitlichen Grundgedankens darstellen“; die „wissenschaftliche Selbständigkeit“ der Jurisprudenz sollte sich in deren Eigenschaft erweisen, „die Grundlage sicherer juristischer Deduktion“ abzugeben736. Den Meistern des Rechtspositivismus ging es darum, „den Dilettantismus zu bekämpfen“, der „mit einer gedankenlosen Zusammenstellung von Gesetzen und Gesetzgebungsmaterialien sich begnügte“ und auf der anderen Seite „banale Erörterungen der Tagespolitik, oberflächliche Zweckmäßigkeitserwägungen und aus dem Zusammenhang gerissene historische Notizen“ als rechtswissenschaftliche Untersuchungen ausgegeben habe737. Positivistische Dogmatik sollte in rationale Begriffe fassen, einheitlich systematisieren, die Antworten auf Fragen des geltenden Rechts verallgemeinerungsfähig konstruieren. Sie blieb dabei aber im Rahmen des positivistischen Normmodells, erfaßte also nur Sprachdaten. Realdaten blieben programmatisch ausgespart. Sie waren ihr nur in der unwissenschaftlichen Gestalt von „historischen, politischen und philosophischen Betrachtungen“ vorstellbar und in dieser Form verständlicherweise „für die Dogmatik eines konkreten Rechtsstoffes ohne Belang“. Die Konstruktion von Rechtsinstituten, das Verallgemeinern von Rechtsnormen auf arbeitsfähige generelle, eben auf dogmatische Terme erschienen „als die gewissenhafte und vollständige Feststellung des positiven Rechtsstoffes und die logische Beherrschung desselben durch Begriffe“. Abgesehen von erheblichen historischen Enttäuschungen in bezug auf Vollständigkeit und Logik, ist das ein nach wie vor überzeugendes Dogmatikprogramm. Das dort übersehene Problem liegt allerdings bereits darin, was denn unter dem „positiven Rechtsstoff“ verstanden werden soll. Der Positivismus faßt darunter nur Sprachda735 Insoweit geht es um die zentrale Funktion juristischer Dogmatik, nämlich um die Hilfe beim Konkretisieren von Normen des geltenden Rechts. – Daneben hat Dogmatik noch die Aufgabe, den Rechtsstoff didaktisch aufzubereiten; hierbei ist die Versuchung, zu vereinfachen, meist weniger streng zu beurteilen, sind die Anforderungen an methodische Selbstkritik dogmatischer Aussagen durch die berechtigten Bedürfnisse der Didaktik jedenfalls teilweise herabgesetzt. Nicht zuletzt deshalb darf die Aufgabe der Dogmatik nicht überwiegend in Darstellung gesehen werden; sondern darin, „auf Erleichterung und rechtsstaatliche Rationalisierung von Einzelentscheidungen gerichtet“ zu sein, so Pieroth II, S. 625. – Nichtjuristische Reflexionen über rechtswissenschaftliche Dogmatik bei Albert V, S. 221 ff., 237 ff. – Medientheoretische Reflexion über die Frage der Rechtsquellen bei Christensen / Kudlich V. – Grundsätzlich zu einem am Modellbegriff orientierten Verständnis juristischer Dogmatik: Schuhr, S. 177, 221 ff. 736 So für die Staatsrechtswissenschaft v. Gerber II, Kap. V, VI; Hervorhebung im Original. 737 So zur Staatsrechtswissenschaft: Laband, Bd. 1, X; zu dem im Text folgenden, ebd. IX.
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ten, weil er Rechtsnormen mit ihren Normtexten zu verwechseln pflegt. Geschieht das nicht, dann bilden Sprachdaten und Realdaten den Rechtsstoff, den es zu strukturieren gilt. Auch wo innerhalb des Positivismus die Notwendigkeit eines Einbezugs von Realdaten erkannt wurde, erfolgte dies – wie bis heute üblich – allein durch unklare rechtspolitische Appelle738. „Strukturierend“ heißt hier dagegen die Dogmatik, welche das Modell der Normstruktur in das Formulieren dogmatischer Aussagen einblendet; die nicht pauschal „die“ Wirklichkeit berücksichtigt, sondern den Normbereich der behandelten Vorschriften (im Unterschied zu deren Sach- beziehungsweise Fallbereich) kontrolliert verarbeitet. 404
Ein engerer Begriff als jener der Strukturierenden Dogmatik verbindet sich mit dem gleichfalls technischen Ausdruck „Bereichsdogmatik“739. Das Konzept der Bereichsdogmatik wurde zuerst an Grundrechten entwickelt. Es faßt diese als sachgeprägte Garantien und ihre Dogmatik als Bereichsdogmatik auf: als rational strukturierte und für jedes Grundrecht gesondert auszuarbeitende Menge dogmatischer Aussagen, die streng an die grundrechtliche Einzelnorm gebunden sind. Grundrechtliche Bereichsdogmatik soll in diesem Sinn das Erarbeiten von Rechts- und Entscheidungsnormen rationalisieren helfen. Es geht nicht darum, einen Idealwert (Freiheit, Menschenwürde, Eigentum, Gewissen) zu ergründen; sondern darum, eine rechtlich positivierte, folglich normative Garantie mit Hilfe von Sprachdaten und Realdaten, auf dem Weg über Normprogramm und Normbereich der Rechtsnorm weiter zu Entscheidungsnormen konkretisierbar zu machen. Ein abstrakter Begriff von Freiheit muß – in der individuellen und sozialen Welt realisiert und dabei als positives Recht geformt – seine Abstraktheit verlieren (sachliche Betätigungen menschlicher Freiheit, Grundrechtsnorm der Menschenwürde, Garantie von Eigentum und freiem Gewissen). Jedes Konkretisieren bedeutet in dem Maß, in welchem inhaltliche Aussagen bestimmbar werden, zugleich Ausgrenzung und Abgrenzung. Zudem ist die einzelne Freiheitsgarantie in das sonstige Verfassungsrecht (andere Grundrechte, Kompetenz- und Verfahrensvorschriften, Verfassungsgrundsätze) sowie auf dem Weg über die Gesetzesvorbehalte und das Prozeßrecht in die Rechtsordnung eingefügt, dadurch gestützt und ausgestaltet, aber auch relativiert und möglicherweise eingeschränkt. Das folgt aus der Eigenschaft der Grundrechte als Normen des positiven Rechts740.
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Das hier erörterte Konzept ist jedoch nicht auf Grundrechte beschränkt. Es betrifft in der Typologie von Rechtsnormen alle sachgeprägteren Vorschriften. Deren Vgl. Rehm S. 261 f. Nicht: „Normbereichsdogmatik“. Die Lehre von der Bereichsdogmatik wurde entwikkelt seit Müller I, S. 181 f.; 210 ff.; s. a. Müller III, S. 40 ff. und durchgehend; ders. XVI, S. 48 ff., 53 ff. 740 Vgl. zu den Auswirkungen dieses Konzepts für die Bereichsdogmatik einzelner Grundrechte: Müller XIX, S. 403 ff. – Für die Grundrechtsdogmatik in der Türkei greift Sağlam, z. B. S. 47 ff. u. ö., auf den strukturierenden Ansatz zurück. Kim fundiert mit diesem Konzept seine sorgfältige Bereichsdogmatik des allgemeinen Gleichheitssatzes. 738 739
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Normbereiche geben in aller Regel besonders wichtige Beiträge zur Entscheidungsarbeit. Das gilt zum Beispiel für Kompetenznormen mit breit angelegten Normbereichen, so bei Vorschriften über die Verteilung von Gesetzgebungszuständigkeiten. In jedem Fall handelt es sich um die normgebundene Spezialdogmatik einer einzelnen Vorschrift beziehungsweise einer eng zusammenhängenden Normengruppe. Die Normbereiche geben der Bereichsdogmatik sachgeprägte Kontur, können sie aber weder allein noch überwiegend bestimmen. Wie stets, sind dogmatische Aussagen auch hier mit allen Konkretisierungselementen zu erarbeiten, nicht nur mit Argumenten aus dem Normbereich741. Dogmatik bietet keine Sicherheit für richtiges Entscheiden. Sie ist keine den übri- 406 gen Mitteln der Rechtsverwirklichung überlegene Instanz, sondern die Menge einer bestimmten Klasse von Argumenten. Realistisch, und das heißt: linguistisch ausgedrückt, ist Dogmatik das Reservoir der sich zur Zeit durchsetzenden juristischen Bedeutungsfestsetzungen und Referenzfixierungen; also der Positionen zur Bedeutung und zur Art des Wirklichkeitsbezugs des „geltenden Rechts“ (der Gesamtmenge der in Kraft befindlichen Normtexte). Allgemeingültig verifizierbar sind auch die Argumente der Dogmatik nicht, wegen der Bedingungen von Sprachlichkeit und ihrer Eingebundenheit in Situation und menschliches Handeln nicht einmal die Normtexte. Eine derart überzogene Erwartung muß nicht nur von der strukturierenden, sondern von jeder Dogmatik enttäuscht werden. Vor allem bedeutet „strukturieren“ nicht, Konkretisierungselemente wie die dogmatischen oder andere bis in die Einzelheiten vorweg fixieren zu wollen; wegen der dargelegten, dem Vorgang der Konkretisierung wesentlichen Eigenschaft von Rechtsarbeit, fallgebunden zu sein, wäre das ein abwegiges Ziel. Es heißt dagegen: Gesichtspunkte zu entwerfen, von denen aus die Architektur einer Fallösung rational entwickelt werden kann, wodurch dann die sachlichen Einzelheiten Maßstab und Richtung erhalten. Vor allem heißt „strukturieren“, diese Operationen mit Mitteln durchzuführen, die verallgemeinerungsfähig sind. Dadurch werden die Vorgänge gleichheitlicher, als es sonst möglich wäre742; und ferner im Dienst von Rechtsstaat und Demokratie besser nachprüfbar, weil in engere und genauere Einzelschritte zerlegt.
741 Vgl. in bezug auf Grundrechte das ausführliche Beispiel einer Bereichsdogmatik bei Müller / Pieroth / Fohmann; weiteres differenziertes Beispiel bei Jeand’Heur VIII. – Die Dogmatik von Art. 79 III GG erarbeitet auf der Grundlage des Strukturkonzepts Wegge. 742 Zu dieser Notwendigkeit, formuliert als Grundrecht auf Methodengleichheit, vgl. Müller XII, S. 65 ff., 107. – Zur Methodengleichheit als einem Abbild (trasunto) des Demokratieprinzips im Instrumentarium der Strukturierenden Methodik: Gómez de Arteche (Abschnitt „Teoría de la Constitución“). – Von „Rechtsanwendungsgleichheit vor Gericht“ spricht Reinhardt, v. a. S. 450 ff., 454; ebenso v. Lindeiner, bes. S. 117 ff. – Ausführlich zum Recht auf Methodengleichheit: Gaebel; zum hier eingeführten Ansatz ebd., v. a. S. 85 ff.
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324.2 Sprachliche Interpretationsbedürftigkeit der dogmatischen Elemente 407
Die dogmatischen Elemente treten wie die Theorie-Elemente, wie die lösungstechnischen und rechts- bzw. verfassungspolitischen Faktoren in sprachlicher Form auf. Diese Form kann – wie die Textformulierung von Normen, von Materialien und Normvorläufern – für sich genommen „klar“ oder „unklar“ im Sinn von: leicht verständlich oder schwer verständlich sein. Angesichts eines zu lösenden und insofern selbst noch unklaren Rechtsfalls erweisen auch sie sich aus den untersuchten Gründen meist als (noch) „unklar“ – mögen sie bei zusammenhängender, von der Notwendigkeit der Fallösung entlasteter Lektüre noch so einsichtig erscheinen. Dogmatische wie theoretische, lösungstechnische und rechtspolitische Äußerungen pflegen deshalb, soweit der Fall dazu Veranlassung gibt, grundsätzlich mit denselben Mitteln sprachlicher Interpretation verwertet zu werden wie Normtexte und Gesetzgebungsmaterialien. Der Arbeit mit historischen und genetischen Gesichtspunkten entsprechen beim Heranziehen von Rechtsprechung der Vergleich mit früheren Judikaten und das Suchen nach Gründen für abweichende Aussagen. Die Notwendigkeit grammatischer Deutung liegt auf der Hand. Dem Arbeiten mit systematischen Gesichtspunkten analog ist zum einen das Heranziehen sonstiger und abweichende Positionen vertretender Gerichts- und Lehrmeinungen. Zum andern gilt das noch mehr für das Befragen von Literatur und Praxis zu solchen Vorschriften, die erst auf dem Weg systematischer Interpretation in die Rechtsarbeit einbezogen werden sollen. Bei alldem ist nochmals festzuhalten, daß sich solches Interpretieren auf nicht-normbezogene Texte bezieht, genauer: auf Nicht-Normtexte. Deren praktische Unentbehrlichkeit wird damit nicht bestritten. Diese Aspekte bleiben jedoch dadurch kontrollierbar, daß sie sich als Lösungsbeiträge auszuweisen haben, die der Entscheidungsnorm und dem diese rechtfertigenden allgemeinen Rechtssatz in dienender Funktion zugehören. Die demokratische Pflicht, aus der Fülle der heranziehbaren Texte ganz bestimmte Texte als Ausgangspunkt wie als Grenze zulässiger Entscheidungsmöglichkeiten herauszuheben (nämlich die als einschlägig unterstellten amtlichen Normtexte als Produkte der Legislative) bezieht sich also gleichermaßen auf das Verwerten der dogmatischen, der theoretischen, lösungstechnischen und rechts- bzw. verfassungspolitischen Elemente743. Der Charakter dieses Gebots als demokratisch und die Zugehörigkeit des Bonner Grundgesetzes zum Typus rechtsstaatlich „rigider“ Verfassung machen es unzulässig, die Mittel rationaler Ergebnisformulierung, Begründung und Darstellung nicht in diesen Funktionen, sondern nur zur sekundären, die Entscheidungsgründe verbergenden Rechtfertigung des gewünschten Ergebnisses zu verwenden. Die Beschreibung von Tendenzen der Praxis, dennoch so zu verfahren, ist zur Schärfung des Bewußtseins von den Möglichkeiten und Grenzen rationaler juristischer Methodik aufschlußreich744. Sie ist aber weder 743 Zu einem Begriff von Dogmatik, der sich der Vorordnung des geltenden Rechts entziehen will, vgl. Schuhr, S. 23 ff. 744 Hierzu Kriele I passim.
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im Sinn rechtsstaatlich-normativer bzw. nicht-normativer methodischer Maßstäblichkeit noch in dem demokratischer Zulässigkeit aufzugreifen.
324.3 Direkt normbezogene und nicht direkt normbezogene dogmatische Elemente Dogmatische Sätze aus Praxis und Wissenschaft drücken meist die Meinung ihrer 408 Verfasser zu bestimmten Normtexten bzw. Rechtsnormen aus745. Theoretische, lösungstechnische und rechtspolitische Aussagen sind weniger stark an der Konkretisierung geltenden Rechts orientiert. Die dogmatischen Elemente stehen dagegen den methodologischen Elementen im engeren Sinn und denen des Normbereichs näher. Juristische Dogmatik ist ein Untersystem von Kommunikationstechniken der Rechtswelt. Überlieferung, Mitteilung, Schulenbildung, Kritik und Kontrolle, Versuche verbindlicher „Konstruktion“, ausgreifender „Systematisierung“, ferner auch die lösungstechnische Aufbereitung, theoretische Reflexion und rechtspolitische Fortentwicklung sind Arten dogmatischer Erörterung von Rechtsfragen. Zu einem Dogma im Sinn des Wortes fehlt die Verbindlichkeit. Dogmatische, theoretische und rechtspolitische Inhalte beeinflussen ebenso wie technische Verfahrensweisen die Lösung von Rechtsfällen erheblich und vielfach entscheidend. Das erzeugt aber noch nicht Verbindlichkeit im entwickelten Sinn der Verpflichtung der Juristen auf die Normtexte, deren Gesamtmenge das „geltende Recht“ bildet. Das vom Fall geforderte und mit den dargelegten Mitteln juristischer Methodik durch Konkretisierung der Rechtsnorm und ihre Individualisierung zur Entscheidungsnorm erarbeitete Ergebnis ist nicht irgendwie subjektiv, vernunftrechtlich, politisch oder rechtspolitisch zu rechtfertigen, sondern durch den nachvollziehbaren und damit kritisierbaren Nachweis der Normtextorientiertheit. Der Nachweis einer Konvergenz mit bestimmten dogmatischen Positionen begründet dagegen Verbindlichkeit ebensowenig wie das Eingehen auf theoretische und verfassungspolitische Elemente und auf lösungstechnische Muster pragmatischen Vorgehens. Über ihre Legitimität als Bearbeitungsweise juristischer Ausdrucks-, Mitteilungs- 409 und Darstellungsfragen hinaus formen sich, was nicht zu vergessen ist, dogmatische Aussagen weitgehend aus den Gehalten von Rechts- und Entscheidungsnormen. Diese werden zustimmend ober abweichend aus der Rechtsprechung, also aus der früheren Entscheidung tatsächlicher Fälle, oder (gutachtlich oder „rein dogmatisch“) in bezug auf anstehende oder angeregt durch erdachte Rechtsfälle in das 745 Je nachdem handelt es sich um einen Normtext- bzw. Normbezug der dogmatischen Aussage. – Ein lehrreiches Beispiel für nicht-normbezogen dogmatische Elemente bieten die Hinweise des BVerfG auf juristische Lehrmeinungen ohne normative Abstützung im „Soraya“-Beschluß, E 34, 269 ff., z. B. 275, 280 f., 289 ff. („Mehrzahl der zivilrechtlichen Autoren“). Diese Elemente haben nicht mehr Gewicht als rechtspolitische; dagegen versucht hier das BVerfG, sich entscheidend auf sie zu stützen. – Zu den Zusammenhängen zwischen Methodik, Dogmatik und Rechtstheorie: Podlech II. – Allg. zur Rolle der Rechtsdogmatik: Rittner II, S. 104 ff.; Esser IV, S. 19 ff.
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Material der Dogmatik übernommen. Soweit also durch dogmatische Aussagen von Praxis und Wissenschaft immer schon fallbezogen konkretisierte Rechts- und Entscheidungsnormen festgehalten und tradiert werden, hat Dogmatik ihren Ort auch unter den im strikten Sinn normorientierten Elementen746. 410
Abschließend sei nochmals auf den hier verwendeten undogmatischen Begriff von Dogmatik aufmerksam gemacht747. Dogmatik erscheint hier als eine unverzichtbare (unter anderen, ebenso unverzichtbaren) Art der Stilisierung juristischer Gesichtspunkte: nicht als eine blockhaft gefügte Instanz, der sich andere Rechtswissenschaftler und praktische Juristen tunlichst anzuschließen haben, sondern als der Diskussion geöffnetes, selbst in Diskussion begriffenes Arsenal für eine bestimmte Klasse juristischer Argumente. Die sonstigen Gruppen von Gesichtspunkten (Mittel der Textauslegung im engeren Sinn und der Einbeziehung von Realdaten, TheorieElemente, rechts- und verfassungspolitische Faktoren) stehen neben den dogmatischen; bei methodologischen Konflikten stehen sie über oder unter ihnen. Dogmatische Konkretisierungselemente sind in ihrem Verhältnis zu den anderen zu kennzeichnen, zu umgrenzen, für den Konfliktfall vorbeziehungsweise nachzuordnen. Das gehört zu den Aufgaben juristischer Methodik748.
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Die Argumente der Strukturierenden Dogmatik finden also, wie der Sache nach auch die eines jeden anderen Dogmatikkonzepts, ihren Platz im Rahmen der Strukturierenden Methodik. Die Strukturierende Dogmatik hatte ihrerseits von dem hier entwickelten Ansatz der Rechts(norm)theorie Wichtiges gelernt. Das bleibt nicht die einzige Verbindung zwischen strukturierender Rechts(norm)theorie, Dogmatik und Methodik. Vielmehr hilft dieser normtheoretische Ansatz im ganzen, die 746 Ein Beispiel für normtextbezogen-dogmatische Elemente bietet BVerfGE 28, 243 ff. (Kriegsdienstverweigerung / Dienstvergehen), 259 ff. (Rangdifferenz von Grundrechten und Unterverfassungsrecht). – Dagegen nicht unmittelbar normtextbezogen, sondern als einander ausschließende Deutungsvarianten einer Norm die dogmatischen Lösungsvorschläge zu Art. 17a Abs. 1 GG in: BVerfGE 28, 282 ff. (Soldatengesetz), 289 ff.: Art. 17a Abs. 1 GG als „deklaratorische“ oder „ergänzende“ oder „verdrängende lex specialis“. – Zu Art. 17a Abs. 1 GG als lex specialis, die den Art. 5 Abs. 2 GG verdrängen soll, auch BVerwGE 43, 48 ff., 52 ff. 747 Ein ähnlich entdogmatisiertes Dogmatikverständnis vertritt jetzt auch Harenburg. Dieser spricht von einer Krise der Dogmatik, welche nur durch eine Methodikverbesserung überwunden werden könne. Harenburg, z. B. S. 369, entwickelt seinen Begriff von Dogmatik im Rahmen eines Modells rechtswissenschaftlicher Produktion als dreistufigen Produktionsprozeß: Der Gesetzgeber setzt „ein bißchen“ Recht – hier wird die unzureichende rechtsnormtheoretische Basis von Harenburgs Ansatz deutlich, wonach der Gesetzgeber nicht nur Normtexte, sondern bereits, wenn auch unvollständige, Rechtsnormen schafft; der Richter setzt das vollständige Recht und wird dabei von der Dogmatik unterstützt. Die Leistung der Dogmatik liegt demnach in der Feststellung des „Gehalts“ der Normtexte und der Zuführung normativer Gehalte. 748 Die Aussagen im Text betreffen die Hauptfunktion der Dogmatik, nämlich ihre Rolle für normtextorientierte juristische Entscheidung, für praktische Rechtsarbeit. – Ihre Rolle für Lehre und Ausbildung wirft dagegen keine vergleichbaren Probleme auf; die Fragen ihrer Darstellung für diese Zwecke sind nicht grundsätzlich umstritten.
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Rechtsarbeit aufzuschlüsseln, sie arbeitsfähiger und besser kontrollierbar zu machen, kurz: sie zu strukturieren. 324.4 Zur Rolle der „herrschenden Meinung“ Ein pseudo-dogmatisches, in der juristischen Alltagspraxis auffallend wirkungs- 412 volles Argument liegt darin, sich beim Entscheiden und Begründen durch Hinweis auf „die herrschende Meinung“ („h. M.“) zu rechtfertigen. Der Ausdruck „Meinung“ (zuweilen auch „Lehre“, „Ansicht“, „Auffassung“) ist verräterisch genau. Mag auch im Einzelfall die (mehr oder weniger zuverlässig referierte) Position als solche dogmatisch argumentiert gewesen sein, so bleibt doch ihr globales, der Attitüde nach autoritäres Heranziehen im Bereich des „Meinens“ statt in dem sorgfältig vorgehender Rechtsarbeit. In dem Stadium, in dem die Juristengenerationen zunächst geformt werden, in der akademischen Ausbildung, wird ihnen denn auch zuweilen nahegelegt, entscheidend dafür, ob eine Position als „herrschend“ anzugeben sei oder nicht, seien „Rang und Ansehen des Autors oder Gerichts“; mit der dann nur noch konsequenten Folgerung, daß „die h. M. in Einzelfällen auch einmal eine einzige Stimme sein kann“749. Der Verweis auf „h. M.“ ist eine berufstypische Strategie der Blockade, weiteres 413 Argumentieren – je nach Erfolg – bremsend oder verhindernd. Die interessierende Position wird als „h. M.“ in aufschlußreicher Weise entpersönlicht, nicht selten durch die pauschale Art des Heranziehens auch sachlich entleert. Solche Referenz auf eine anonymisierte Autorität soll einschüchtern, kann entmutigen – wer gegen sie angeht, isoliert sich per definitionem, macht sich der sachlich / politischen Abweichung oder jedenfalls der persönlichen Profilierungssucht verdächtig. Damit einher geht nicht selten Fehlinformation. Die da „ihre“ herrschende Meinung ins Feld führen, machen sich durchaus nicht immer die Mühe, vorher empirisch nachzuprüfen, ob überhaupt von einer einheitlichen Position und ob zudem von ihr als der „herrschenden“ ausgegangen werden kann. Solche Überprüfung ist typischerweise auch gar nicht das, worum es geht; denn es geht um den unverhüllten Versuch, den Rechtsdiskurs autoritär zu hierarchisieren. Das ist ein absurdes Unterfangen, wenn es kognitiv gemeint sein sollte. Tatsächlich aber ist es ein sinnvolles, im Sinn von: funktionales. Denn es wird im weiteren Sinn Macht (hier: rechts-, wissenschafts-)politisch gehandhabt; die „herrschende Meinung“ ist – vergröbernd ausgedrückt, aber selten unzutreffend – die Meinung der Herrschenden. Daneben kann der Verweis auf „h. M.“ durchaus auch kognitiv gemeint sein: als 414 Bestandsaufnahme der Debatte, als gruppierendes Referat bisheriger Diskussionsbeiträge; insoweit typisch für monographische Literatur, die Bilanz zieht und nach neuen Lösungen sucht. Taucht der (zunächst in diesem Sinn vielleicht informativ gebrachte) Hinweis auf „h. M.“ dann aber in den Textsorten der Praktikerliteratur 749
So Zuck, S. 909.
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auf, hat er für alle Adressaten, die sich im Rahmen eines erfolgsabhängigen Verfahrens befinden (Ausbildung, Prüfung, Prozeß, sonstige formalisierte Verfahren), mindestens auch die Konnotation einer Einladung zum Opportunismus. 415
Im engeren methodologischen Zusammenhang liegt das Irrationale, auch das Gewaltsame dieser Rolle der herrschenden Ansicht zunächst im typischen Mangel empirischer Überprüfung und in den Ungenauigkeitsquellen beim analog-Setzen verschiedener Rechtsfälle. Noch grundsätzlicher liegt es darin, daß als „h. M.“ jedenfalls meistens nur ein Ergebnis ausgewiesen wird, nicht aber der Weg, der die einzelnen Beiträger der fraglichen Position zu dieser geführt hatte. Bei jedem wissenschaftlichen Vorgehen gehören das (Teil-)Ergebnis und der Weg zu ihm hin notwendig gemeinsam zur Aussage. Entweder gibt der durch Referenz auf „h. M.“ gekennzeichnete Argumentationsstil den wissenschaftlichen Anspruch auf; der Gedanke ist in der überwiegend machtfunktionalen Rechtspraxis so abwegig nicht. Oder die auf Ergebnisse (statt: auf Argumente und ihre Verkettung zum Ergebnis) amputierte „h. M.“ soll im Rechtsdiskurs, der sich ihrer bedient750, tatsächlich den Grad der Einschüchterung wie auch die Attraktivität des Opportunismus im Einzelfall durch Fehlinformation noch verstärken: „die“ herrschende Meinung ist oft gar nicht so festgefügt oder einheitlich oder widerspruchsfrei, wie es die Standarte „h. M.“ suggerieren soll; zudem ist die Übereinstimmung der Quellen im Ergebnis nicht selten nur scheinbar, weil die Ausgangsfälle zu unterschiedlich sind und / oder weil die Begründungen von miteinander unvereinbaren Annahmen ausgegangen waren. Auch in diesem Zusammenhang – bei der Bildung der „h. M.“ und nicht nur, wie oben, in der Art ihres Gebrauchs – sind Ausdrücke wie „Meinung“ oder „Ansicht“ („h. A.“) vielsagend. Eine Wendung wie etwa „herrschende Argumentation“ wäre da seltsam, wäre dysfunktional, könnte schlafende Hunde wecken.
325 Lösungstechnische Elemente
(siehe auch 4) Das methodische Verhältnis der lösungstechnischen Faktoren zu den übrigen ist dargelegt worden. Es ist noch klarzustellen, welche Arten von Fragen zur Lösungstechnik rechnen. 416
Hierzu zählt die äußere Abfolge der Verfahren, mit denen die schrittweise zu präzisierenden bzw. zu korrigierenden Normtexthypothesen gebildet und geprüft751, mit denen im Weg „topischer inventio“ problemorientierte Lösungsgesichtspunkte gesucht752 und die je nach Funktion am nützlichsten erscheinende Art von Aufbau 750 Zu dessen Stil in Kürze: Müller XXX, S. 197 f. – Zur Gegenüberstellung von Ergebniskonsens und Arbeitskonsens s. u. Abschnitt 63. 751 Ohne Unterscheidung von Normtext und Norm dazu: Kriele I, S. 157 ff.; dort auch Bemerkungen zur möglichen Rolle von Präjudizien, S. 243 ff., 269 ff. 752 Vgl. die Andeutungen bei Hesse II, S. 25.
325 Lösungstechnische Elemente
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bei der Lösungssuche und Argumentation im Begründungstext gefunden werden sollen. Auf den zuletzt genannten Zweck konzentrieren sich die zu juristischer Methodik im hier behandelten Sinn nicht gehörigen Anleitungen zur Technik von Fallösung, die Einführungen in die Bearbeitung zivilrechtlicher, strafrechtlicher, öffentlich-rechtlicher Klausuren, Hausarbeiten, Gutachten und Urteile. Diese Leitfäden behandeln – zum Teil in Ergänzung von, zum Teil in Berührung mit Anleitungen für die Rechtspraxis im engeren Sinn, mit Fallsammlungen und Examensliteratur – Probleme der Darstellungsgliederung (beispielsweise der sogenannten Anspruchsmethode), der an den Sachverhalt zu richtenden Fragen, der dogmatischen Verzahnung von Anspruchsgrundlagen, des durch das geltende Recht bestimmten Zusammenhangs prozessualer und materiell-rechtlicher Fragen, der Zulässigkeit von Sachverhaltsunterstellungen und ähnliches unter den für jene Zusammenhänge zentralen Fragestellungen wie „Wonach ist gefragt?“ und „Worauf kommt es an?“ Je nachdem, wie die Fallbeispiele es erfordern, werden Partikel dogmatischer Aussagen aus Rechtsprechung und Lehre ebenso wie Einzelheiten juristischer Methodik mit den Aufbau- und Darstellungsproblemen verknüpft. In den Schemata über den Aufbau von Gutachten, von Tatbestand und Entscheidungsgründen in bestimmten Prozeßarten zeigt sich deutlich der Einfluß des geltenden Rechts (Prozeßgrundsätze, einzelne prozessuale Vorschriften) auch auf das im engeren Sinn lösungstechnisch bestimmte Vorgehen. Von diesen normativen Gesichtspunkten abgesehen, richten sich die Empfehlungen zur Fallbearbeitung und Lösungstechnik weitgehend nach solchen Gesichtspunkten der Zweckmäßigkeit, über die ein hinreichend breiter standesinterner Konsens besteht. Als Frage der Zweckmäßigkeit erscheint zum Beispiel die, ob eine Entscheidung nur auf „ein Bein“ (wie es aus naheliegenden Gründen in der Rechtsprechung gern getan wird) oder, so etwa im Verwaltungsrecht (zur Vorbeugung gegen im Ergebnis gleichsinnige, nur in der Begründung abweichende künftige Verwaltungspraxis), „auf mehrere Beine“ gestellt werden soll. Im ganzen bieten diese Leitfäden Vorschläge zur Strategie und Taktik erfolgreicher, weil konventionell akzeptierter und erfahrungsgemäß erwünschter Fallösungstechnik und Darstellungsweise. Es liegt auf der Hand, daß Gesichtspunkte der dort behandelten Art das Vorgehen der Normkonkretisierung auch im Verfassungsrecht zum Teil erheblich mitbestimmen. Sie müssen aber – wie theoretische, nicht-normtextbezogen dogmatische und rechts- bzw. verfassungspolitische Aspekte – der Sache nach als Hilfsfaktoren fungieren. Sie dürfen sowenig wie die herkömmlichen und die neueren Interpretationselemente oder wie Aspekte aus den Sachbereichen der zu bildenden und umzusetzenden Vorschriften gegen nachweisbare Direktiven der Normprogramme und über die durch die Normtexte gezogenen rechtsstaatlichen Grenzen hinaus zu normunabhängigen oder normwidrigen Unterstellungen und Ergebnissen führen. Besonders klar ist die Beschränkung lösungstechnischer Elemente auf unterstüt- 417 zende Funktionen beim Anwenden datenspeichernder und datenverarbeitender Systeme auf die praktische Arbeit von Gesetzgebung, Regierung und Verwaltung, von Rechtsprechung und Rechtswissenschaft. Juristische Methodik wird nicht qualitativ verändert, doch nach Intensität und Umfang ihrer Leistungsfähigkeit quantitativ
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3 Juristische Methodik – 32 Konkretisierungselemente
verbessert, wo sie auf solche Verfahren zurückgreifen kann: etwa in der Planung für Legislative und Verwaltung, in der Speicherung von Rechtsquellen und judiziellen Entscheidungen, in der Dokumentation von empirischen Befunden aus den Normbereichen geltender oder noch zu setzender Vorschriften, in technisch-administrativer bzw. technisch-judizieller Rechts„anwendung“ in Bereichen, die dem Modell nach durch Subsumtion zu bewältigen sind und sich daher als axiomatisierbar erweisen753.
326 Theorie-Elemente
326.1 Zur Verwendbarkeit von Theorie-Elementen 418
Herkunft und Art von Theorie-Elementen in der Verfassungskonkretisierung sind schon erörtert und am Beispiel der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Grundgesetz als einer „Werteordnung“ oder einem „Wertsystem“ und zu den Grundrechten als einem aus dem übrigen Verfassungsrecht herausgehobenen „Grundrechtssystem“ belegt worden. Die grundsätzliche methodische Zulässigkeit der Verwertung rechts-, staats- und verfassungstheoretischer Aussagen zur Präzisierung der für den Fall zu bildenden Rechts- und Entscheidungsnormen sagt noch nichts über die normative Begründetheit und theoretische Schlüssigkeit bestimmter einzelner in die Konkretisierung eingeführter Theoreme. Wer Positionen der Staatslehre oder der Verfassungstheorie auf solche Weise übernimmt, trägt nicht nur das Risiko ihrer theoretischen Vertretbarkeit, sondern auch das ihrer Abstützbarkeit im positiven Recht. Dieses Risiko ist um so größer, als das Verhältnis von Staatsrechtslehre und Verfassungslehre zu einer Allgemeinen Staatslehre noch immer nicht einhellig beurteilt wird. So kann die Verfassungstheorie eines bestimmten Typus von Gemeinwesen oder, in dem hier vertretenen noch stärker normtext- und normorientierten Sinn, die einer bestimmten Verfassung nur eingeschränkt eine Allgemeinheit im Sinn idealtypischer Systematik kennen. Eine solche hat ihre Grenze an den Sätzen und an der spezifischen Legitimität der constitutio lata auch dann, wenn deren Aussagen den vorausgesetzten Idealtypen nicht entsprechen. An solchen Bruchstellen ist es schon vom Ansatz her unzulässig, Normtexte oder Normen des geltenden Verfassungsrechts unter Berufung auf die Einheitlichkeit oder Systematik einer insoweit normgelösten Verfassungstheorie oder einer „Allgemeinen“ Staatslehre überspielen zu wollen. Aussagen der Verfassungstheorie oder Staatslehre haben ebenso wie grundsätzliche Positionen etwa eines „dezisionistischen“ oder „integrie753 Erste Übersichten zu Diskussionsstand und Anwendungsmöglichkeiten von Datenverarbeitungsanlagen im Recht, ferner zu verfassungs- und verwaltungsrechtlichen Problemen, die durch ihre Anwendung aufgeworfen werden, und schließlich zur Bestimmung grundsätzlicher Grenzen der Anwendbarkeit solcher Verfahren in Rechtspraxis und Rechtswissenschaft: Klug, S. 157 ff., 162 ff., 172 ff.; Zeidler, S. 13, 27 ff.; Bull; v. Berg; Simitis I, S. 12, 14, 15, 24 ff.; II, S. 8 ff., 13ff., 17 ff.; Wieacker III, S. 392 ff., 397 ff., 402 ff.; vertiefte Erörterung bei Reisinger I; II. Raisch I, S. 436 ff., 438 ff.
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renden“ eines „normlogischen“ oder „soziologistischen“ Rechtsdenkens als Elemente der Normkonkretisierung oft erhebliche Bedeutung. Sie dürfen aber die Schwierigkeit dieser Aufgabe weder durch Rückgriff auf nicht verbindliche Theoreme beseitigen noch Aussagen von Theorien als normativ unterstellen bzw. gegen Positionen des geltenden Rechts ausspielen. In diesem normativ begrenzten Rahmen wirken Theorie-Elemente mehr noch als durch die Übernahme einzelner inhaltlicher Aussagen754 durch die prägende Kraft bestimmter methodischer Grundpositionen der Rechts-, Staats- und Verfassungstheorie selbst. So ist zum Beispiel Georg Jellineks „Allgemeine Staatslehre“ von 1900 mit ih- 419 rem doppelten Begriff vom Recht als tatsächlicher Rechtsübung und als einer Gesamtheit von Normen, mit ihrem doppelten Begriff von Staat (Gesamtheit der Willensverhältnisse einer sozialen Gruppe – rechtliche Institution mit Rechtspersönlichkeit) und Staatslehre (Allgemeine Staatslehre als normative – allgemeine Soziallehre vom Staat als Wirklichkeitswissenschaft) repräsentativ für den deutschen Rechtspositivismus der Jahrhundertwende. Die Übernahme ihrer Positionen in die Verfassungskonkretisierung kann nicht nur bei normwidriger, sondern auch bei normneutraler Unterstellung praeter constitutionem deutliche Abweichungen von anderen, als positivrechtlich ausweisbaren Konkretisierungsergebnissen mit sich bringen. In Auseinandersetzung mit dem Methodendualismus der Jellinekschen „Zwei-Seiten-Theorie“ spaltete sich die Systematik der deutschen Staats- und Verfassungslehre in monistische Sichtweisen: in die normlogistische Ineinssetzung von Rechtsordnung und Staat um der Reinheit des Rechts willen bei Hans Kelsen und in die gleichfalls einseitig zugespitzte Auflösung des Dualismus von Norm und Faktum zugunsten politischer Existentialität im Dezisionismus Carl Schmitts. Autoren wie Erich Kaufmann, Rudolf Smend (der Staat als Integrationszusammenhang) und Hermann Heller (der Staat als organisierte Entscheidungs- und Wirkungseinheit) bemühten sich, über extreme Entgegensetzungen hinauszugelangen und staatliches Dasein wie normatives Verfaßtsein material zu erfassen. Neben sozialwissenschaftlichen Ansätzen (Oppenheimer, Jerusalem, Gumplowicz, Drath) finden sich weiterhin an einem mehrfachen Staatsbegriff orientierte Methoden (Laun, Nawiasky) oder idealistische Konzeptionen von „Repräsentation“ im Sinn des dialektischen Prozesses einer menschlichen Gruppe mit sich selbst, der die „Selbstaufbereitung“ der Gesellschaft zum Staat umfassen und in den Formen von Amt und Gesetz gipfeln soll755. All diese und vergleichbare andre Grundpositionen756 können, wie bekannt, gerade in der komplexen Materie des Verfassungsrechts – auch ohne exakt nachweisbare Verstöße gegen geltendes Recht – entscheidende außernormative Quellen für Ergebnisse der Verfassungsverwirklichung darstellen. 754 Vgl. etwa die couragierte These von der „staatsfreien“ Willensbildung in der „liberal-repräsentativen Demokratie“ in BVerfGE 20, 56 ff., 96 ff. 755 Die zuletzt genannte Auffassung bei Krüger II; zu diesem: Müller XVI, S. 215 ff., 221 ff. 756 s. allgemein: Badura I. – Zu den genannten Autoren und Konzepten vertiefend und im historischen Zusammenhang Friedrich III, v. a. S. 235 ff., 320 ff.
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3 Juristische Methodik – 32 Konkretisierungselemente
326.2 Verfassungstheoretisches Vorverständnis 420
Inhaltlich bestimmend und nicht immer bewußt in die Konkretisierung eingebracht, tragen sie vor allem zum verfassungstheoretischen Vorverständnis bei. Dabei betreffen sie nicht nur Einzelheiten wie etwa die Frage nach der Funktion von Grundrechten als Vorverständnis für die Konkretisierung der Grundrechte. Vielmehr enthält schon der allgemeinste Entwurf des Staatsbildes ausgesprochen oder unausgesprochen Tendenzen zur Formung und Begrenzung des im Einzelfall wirksam werdenden theoretischen und methodischen Denkstils. Die Staatsbilder und Verfassungsverständnisse wirken begründend und aufbereitend für bestimmte Typen von Vorverständnissen. Sie geben, soweit sie folgerichtig sind, den für die auftauchenden Einzelfragen bewußt oder unbewußt bestimmenden Horizont der Deutung an. Sie liefern – aus der Sicht der herkömmlichen Lehre – die Rechtfertigung für „Lükken“, d. h. für normativ nicht geregelte Fragen oder innerhalb des normativ Geregelten für im einzelnen Entscheidungsvorgang nicht genügend rationalisierbare Wertungsprobleme. Oft genug rechtfertigen sie gerade dort voreilig, wo die Anstrengung normtextorientierter Methodik erfolgreich sein könnte, wo ihr aber zugunsten der Durchsetzung eines bestimmten Staats- oder Verfassungsverständnisses ausgewichen werden soll. Entwürfe von Typen staats- und verfassungstheoretischen Vorverständnisses wie „Positivismus“ und „Dezisionismus“, „Normlogismus“ und „Integrationslehre“ sind methodisch vor allem danach zu beurteilen, wie viel oder wie wenig Raum sie für undifferenziert ideologische Argumente lassen; wieweit sie eine von ihnen selbst unabhängige und statt dessen normtextorientierte Durchführung des Konkretisierungsvorgangs fordern, zulassen oder behindern. In dem Maß solchen Zulassens und Forderns überwiegt ihr methodischer Nutzen für transparente Rechtspraxis und rational kontrollierte wissenschaftliche Debatte den schulenbildenden und Einfluß erzeugenden Wert für die (verfassungs-)politisch zugrundeliegende Position.
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Die Beiträge von Rechts-, Staats- und Verfassungstheorie zum Geschäft der Konkretisierung werden auch durch Ergebnisse der Normbereichsanalyse besser kritikfähig und kontrollierbar. Die Vermittlung von Normbereich und Normprogramm im Gesamtvorgang methodischer Rechtsbildung kann mit Aussicht auf größere Rationalität, als sie den Mitteln nur-sprachlicher Interpretation gegeben ist, zur Klärung solcher Quellen von Vorverständnis beitragen. Nicht nur das allgemein-unjuristische Vorverständnis, sondern auch die Spielarten juristischen Vorwissens werden weithin aus den Daten der Normbereiche sachlich aufgefüllt. Empirische Befunde aus dem Sektor der politischen Parteien im Staat des Bonner Grundgesetzes können beispielsweise – in der auswählenden Perspektive der Normprogramme von Art. 21 GG – als tertium comparationis für staats- und verfassungstheoretische Aussagen zum modernen „Parteienstaat“ auf der einen, zum Nebeneinander mehrerer in den Grenzen der Normtexte vertretbarer Lösungsvarianten des geltenden Verfassungsrechts auf der andern Seite dienen.
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326.3 Zur methodologischen Ergiebigkeit theoretischer Positionen Rechts-, verfassungs- und staatstheoretische Positionen sind, als vielfach aktuali- 422 sierte Elemente (verfassungs-)rechtlicher Arbeit, nicht zuletzt an ihrer Ergiebigkeit für deren rationale Strukturierung und kritische Bewertung zu messen. Die herrschenden Positionen reflektieren nur die im engeren Sinn methodologischen Elemente der Textinterpretation. Sie verarbeiten nicht die über sprachliche Auslegung hinausführenden Möglichkeiten der Normbereichsanalyse. Daß die Praxis auf normierte Sachgehalte angewiesen ist und daß damit diese Sachgehalte unter normativen Gesichtspunkten methodisch aufzuschlüsseln sind, wird von positivistischen und neopositivistischen Richtungen der Rechtslehre verfehlt. Es kommt auch dort nicht in den Blick, wo die Differenz von inhaltlicher Richtigkeit und Entscheidungskompetenz zum Gegensatz von Subjekt und Entscheidungsinhalt zugespitzt, wo die verfassungsrechtlichen Bindungen praktischer Rechtsarbeit vom Akt der Entscheidung verdrängt und damit sachgebundene Normativität von der Geschichtsmächtigkeit eines existierenden Willens aufgehoben wird757. Es wird auch von einer soziologistischen Auffassung übersehen, die jede normative Eigenständigkeit rechtlicher Vorschriften im Ergebnis verneint, weil sie das Recht nur als Ausdruck sozialer Vorgegebenheit begreifen will758. Doch ist die normierende Kraft des Rechts mehr als nur eine auswählende und verallgemeinernde Formulierung gesellschaftlich bereits „geltender“ Inhalte. Das normtheoretische Problem des Verhältnisses von Recht und Wirklichkeit innerhalb der Normativität gesetzter Vorschriften kann nur von einer Theorie der (Verfassungs-)Rechtspraxis bearbeitet werden, die sich nicht auf die Entwicklung und den Ausbau methodischer Instrumente der Textauslegung beschränken läßt. Daher können auch die allgemeinen geisteswissenschaftlichen Ansätze in der 423 Rechtstheorie das Verhältnis von Recht und Wirklichkeit und damit das Ganze der Struktur von Konkretisierung nicht hinreichend erfassen, selbst wenn sie im Grundsatz eine Wechselbezüglichkeit von Normativität und Faktizität betonen759. Auch in auf solche Art vermittelnden Lehren sind die soziologischen und „teleologischen“ Gehalte nur Voraussetzung und Gegenstand einer Rechtsnorm, die (wie im Positivismus) im Text schon vorgegeben sein soll. Sie werden nicht als Konstituens einer als Vorgang begriffenen Normativität erfaßt. Die vermittelnden Auffassungen lassen sich Grundpositionen der extremen Standpunkte (Gesetzespositivismus, Dezisionismus, Normlogismus, Soziologismus) aufzwingen, so unter anderem die am praktischen Vorgang der Konkretisierung vorbeigehende Entgegensetzung von „Sein“ und „Sollen“. Gleichsam erst nachträglich setzen sie die zunächst übernommenen Abstraktionen in „korrelative“, „dialektische“ oder „polare“ Beziehung zueinander. Dagegen kommt es für eine den Aufgaben der Konkretisierung gerecht werdende
757 758 759
Bei Schmitt I, z. B. S. 42. Z. B. Ehrlich. So Smend, z. B. S. 119; Heller I, II; Schindler; Leibholz, S. 277 ff.; Hesse I.
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3 Juristische Methodik – 32 Konkretisierungselemente
Methodik darauf an, nicht länger „die“ Wirklichkeit „dem“ Recht pauschal gegenüberzustellen. Vielmehr ist im hier erörterten Sinn soziale Wirklichkeit zum einen als Geltungsraum von Recht schlechthin, zum andern als vom einzelnen Normtext vorausgesetzter, rezipierter oder erzeugter Wirklichkeitsausschnitt im einzelnen zu differenzieren. Änderungen der Wirklichkeit führen nicht notwendig und unmittelbar zu Änderungen im Normprogramm. So führt beispielsweise die Entwicklung der neuen Multimediadienste dazu, daß das Konzept des Datenschutzes technikspezifisch und risikoadäquat ergänzt werden muß. Das zwingt den Gesetzgeber dazu, Gesetzgebung als vorläufig und experimentell zu begreifen.760 Denn nur soweit es das Normprogramm zuläßt, kann die Wirklichkeit berücksichtigt werden. Sonst muß die Legislative tätig werden. Weil sie diesen Schritt von einer Methodik der Textauslegung zu einer Methodik der Konkretisierung nicht tun, gelangen auch die Lehren von der normativen Kraft des Faktischen761, die Versuche der Ideologiekritik762, der Rechtsphänomenologie763 und der Vorschlag einer normtheoretisch noch ganz unverbundenen Forschungskombination von Rechtssoziologie und juristischer Entscheidungstechnik764 für die tatsächliche Struktur der Rechtsbildung über den Dualismus von Sein und Sollen in seiner neukantianischen Fassung nicht hinaus. Die Verschränkung von „Sein“ und „Sollen“ in der Normativität (seit „Normstruktur und Normativität“, 1966) rechtfertigt sich ganz grundsätzlich schon vom Sprachesein der Rechtsarbeit her: beide Gruppen von Faktoren (später, seit 1971 in der „Juristischen Methodik“ „Sprachdaten“ und „Realdaten“ genannt) operieren als Sprechen / Schreiben, als Text. Sprache kann beidem, wenn es das (noch) herrschende Paradigma so will, verschiedene Namen geben (also „Sein“ und „Sollen“). Aber das ändert nichts an den Bedingungen der tatsächlich zu leistenden, der tatsächlich getanen Arbeit. Das differente Benennen kann beiden Faktorengruppen keinen de facto getrennten operativen Status verschaffen; tatsächlich wirken sie miteinander, mag man sie noch so gravitätisch als „auseinander unableitbar“ titulieren. Klar: Aus einem „Sein“ leitet sich logisch kein „Sollen“ ab. Aber sobald jemand es tut, z. B. die Gesetzgebung, ist es schon geschehen. (Die Logik ist so unangreifbar wie die Aerodynamik; gemäß dieser ist bekanntlich noch nie eine Hummel geflogen.) Überhaupt erweist es sich, daß die sonst in wesentlichen Punkten so verschiedenen herkömmlichen Positionen in der Frage (verfassungs-)juristischer Methodik den theoretischen Rahmen des Gesetzespositivismus nicht überschreiten. Daß sie, Roßnagel, Recht für Multimediadienste, in NVwZ 1998, S. 1 ff., 8. Jellinek, S. 332 ff., 337 ff. Vgl. zur Kritik der Argumentation mit der Normativität des Faktischen anhand eines praktischen Beispiels aus dem Baurecht: Jeand’Heur XI, S. 1175. 762 Topitsch I, II. 763 Leibholz, S. 262 ff., 277 ff. 764 Luhmann I, S. 39. – Vgl., die Diskussion insoweit zusammenfassend, Gröschner, S. 3 f. – Zur Realismusdiskussion in der gegenwärtigen amerikanischen Rechtstheorie: Christensen X. 760 761
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wie Dezisionismus und Integrationslehre, in Gegenstellung zum Gesetzespositivismus entwickelt worden sind, ändert der Sache nach an diesem Ergebnis nichts. Schmitt wie Kelsen überwältigen die Sachgehalte geltender Rechtsnormen im Ergebnis gleichermaßen voluntaristisch765. Bei beiden ist die Verkürzung der Rechtsnorm auf einen abstrakten Dualismus von Sein und Sollen nachweisbar. Recht als positives Recht, als sachlich so und nicht anders bestimmtes Ordnungsmodell wird bei beiden ausgespart: zugunsten eines puristischen Wissenschaftsbegriffs bei Kelsen, zugunsten existentialistischer Geschichtsphilosophie bei Schmitt. Die scharfe Entgegensetzung von Subjekt und Inhalt der Entscheidung766 besagt: Die Frage nach inhaltlicher Richtigkeit von Recht wird nicht normativ, sondern existentialistisch gesehen. Für die Aufgaben der Jurisprudenz ergibt das denselben sachleeren Normbegriff, wie ihn der Gesetzespositivismus in die Geschichte der Rechtswissenschaft eingeführt hatte. Der Dezisionismus Schmittscher Prägung hat eine andre Philosophie als der Positivismus, aber – von der Struktur von Norm und Normkonkretisierung her gesehen – denselben Typus von Rechtstheorie: nämlich keine Strukturtheorie des Rechts selbst und der Bedingungen, unter denen es tatsächlich konkretisiert, d. h. als Rechtsnorm im Fall konstruiert wird. Nur wird bei Kelsen ohne den Umweg über eine Geschichtstheorie der Weg zur Entleerung des Rechts von seinen Ordnungsimpulsen und zur Dispensierung der Jurisprudenz von der Entwicklung einer Methodik von spezifisch juristischer Rationalität und Objektivität folgerichtig zu Ende gegangen. Positivismus, Normlogismus, Dezisionismus und Soziologismus verfehlen aus 424 Gründen, die den Umkreis gesetzespositivistischer Theorie nicht verlassen, die rechtliche Normativität, damit auch die Eigenart der Rechtswissenschaft als einer Normwissenschaft. Die geisteswissenschaftlichen Bemühungen, zwischen Norm und Wirklichkeit zu vermitteln, finden die Grenze ihrer juristischen Brauchbarkeit rasch an der Allgemeinheit ihrer rechtsphilosophischen oder sozialwissenschaftlichen Fragestellung. Gerade deshalb lassen sie sich die als unzulänglich erkannten Abstraktionen der von ihnen bekämpften Lehren wider Willen aufnötigen. Soziologismus läßt das eigenwertige Normprogramm, positivistischer Normlogismus den eigenwertigen Normbereich zu kurz kommen. Der Dezisionismus läßt beide in der übermächtigen Existentialität der souveränen Entscheidung verschwinden. Die gei765 Wie hier zu den grundsätzlichen Mängeln von Kelsens Interpretationslehre auch H. Dreier II, S. 727. – Schmitt scheiterte bei dem Versuch, über den juristischen Positivismus hinauszugelangen. Das ist nicht mehr ernsthaft zu bestreiten; vgl. z. B. nur Friedrich III: Es bleibt „die für den staatsrechtlichen Positivismus bezeichnende Ableitung von Rechtsfolgerungen aus verselbständigten Begriffen auch für seine verfassungsrechtlichen Arbeiten unbedingt bezeichnend. Daß Schmitt ein neues wissenschaftliches Fundament für die Überwindung der positivistischen Tradition in der Staatsrechtslehre gelegt hätte, wird man ihm deshalb letztlich nicht bescheinigen können“; a. a. O., S. 359 ff., 369. – In diesem Sinn schon F. Müller I, z. B. S. 29 f. – Methodenvergleichend zum „Dezisionismusargument“: Langenbucher III. 766 Schmitt I, S. 41 f., 46; hierzu Müller I, S. 28 ff. – Luzide Auseinandersetzung mit Kelsen vor dem Hintergrund des strukturierenden Konzepts bei Jouanjan I, S. 7 ff. (Abschnitt „La théorie pure du droit en panne“); s. a. dens. III, IV.
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3 Juristische Methodik – 32 Konkretisierungselemente
steswissenschaftlichen Vermittlungsversuche bleiben, der Sache nach noch immer auf dem Boden des Positivismus, bei einer nur linearen „Wechselwirkung“, „Dialektik“ oder „Polarität“ der nach wie vor getrennten Größen „Sein“ und „Sollen“ stehen. Damit wirken die überlieferten Grundpositionen der Theorie nicht nur in inhaltlichen Einzelheiten der Konkretisierung, sondern für das Verständnis des Konkretisierungsvorgangs im ganzen verkürzend. Demgegenüber ist die Rechtsnorm als ein verbindlicher Entwurf, der das Ordnende und das zu Ordnende gleichermaßen umfaßt, zu verstehen, zu differenzieren und zu typisieren, ist von der eingeschränkten Methodik der Sprachinterpretation zu einer systematischen Methodik des tatsächlichen Vorgangs der Normbildung und -behandlung überzugehen.
327 Verfassungs- und rechtspolitische Elemente
327.1 Möglichkeiten 425
Verfassungspolitische Elemente der Konkretisierung wurden schon genannt. Die Frage nach den Konsequenzen bestimmter Lösungsvarianten, nach den praktischen Auswirkungen etwa auch auf die Normbereiche anderer, am Fall nicht unmittelbar beteiligter Vorschriften und Felder der Verfassung, der Gesichtspunkt der Zweckmäßigkeit und die Teile des juristischen Vorverständnisses, die den Interpreten regelmäßig davon ausgehen lassen, der (Verfassungs-)Gesetzgeber habe mit seinen Vorschriften prinzipiell zweckmäßige oder zumindest vertretbare Entscheidungen gesetzt – in all diesen Richtungen macht sich die Eigenart rechts- und verfassungspolitischen Argumentierens geltend. Verfassungspolitischer Denkstil meint das Abwägen von erwarteten Folgen, das wertende Bedenken von Wirkungen. Dagegen vermag solches Raisonnement Einzelheiten methodischer Verfahrensweisen nicht anzugeben. Das hat hier dazu veranlaßt, den „Maßstab integrierender Wirkung“ und den Maßstab der „normativen Kraft der Verfassung“767 als eher verfassungspolitisch zu bezeichnen. Noch stärker von verfassungspolitischer, und das heißt auch: über die Normen geltenden Rechts hinweggehender Art sind die Vorstellungen aus dem Umkreis von „Werteordnung“, „Wertsystem“, „Güterabwägung“ oder „Wertabwägung“. Mit ihrer Ablehnung wird nicht schlechthin gegen die Berechtigung verfassungspolitischer Elemente und ihres Einführens in den Vorgang der Konkretisierung Stellung genommen; sondern dagegen, sie – wie vor allem bei der Güter- und Wertabwägung – als methodische Verfahren der Normkonkretisierung auszugeben und sie an die Stelle einer nach optimaler Rationalität strebenden Tatbestandsabgrenzung, Interpretation und einer sich methodisch ausweisenden Rechtsarbeit zu setzen. Damit ist die Grenze ihrer legitimen Verwendbarkeit bei der Bildung und Umsetzung positiven Verfassungsrechts bezeichnet, nicht aber ihre Wirksamkeit verneint. Verfassungspolitische Gedanken liefern wertvolle inhaltliche Gesichtspunkte zum fallbezogenen Produzieren und zur praktischen Umsetzung von Verfas767
Zu beiden Hesse II, S. 26, 27 f.
327 Verfassungs- und rechtspolitische Elemente
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sungsnormen. Die von ihnen beigebrachten Aspekte dürfen aber nur zu Vergleichs-, Abgrenzungs- und Klarstellungszwecken eingeführt, nicht dagegen als quasi-normativ unterschoben werden. Sonst wären die sichernden Differenzierungen rationaler Methodik letztlich doch vom subjektiven verfassungspolitischen Abwägen unterlaufen; sonst wäre die Richtung weg von der normtextorientierten und hin auf eine politische, „zukunftsorientierte“ Arbeitsweise im Sinn einer „geschichtsteleologischen Methode“768 eingeschlagen. Werden die verfassungspolitischen Elemente dagegen ehrlich als solche bezeichnet und damit in ihrer eingeschränkten Rolle fixiert, so können sie gerade in solcher Abgrenzung zur Diskussion des Konkretisierungsvorgangs in einem bestimmten Fall und der in seinem Rahmen ins Spiel gebrachten inhaltlichen Gesichtspunkte beitragen. 327.2 Grenzen Die Bearbeitung von Verfassungsrecht bietet in einem gewissen Sinn immer nur 426 Momentaufnahmen. Der Verfassungszustand ist weder politisch und sozial noch rechtlich je voll gesichert. Zudem sind die Vorschriften des geltenden Verfassungsrechts selbst durch Machtwort und Mehrheitsentscheidung, Kompromißbildung und Modifizierung aus miteinander konkurrierenden politischen Wertungen entstanden. Gleichwohl hat der Akt ihres amtlichen Vertextens im Umfang der Abfassung des Normtextes und mit dem Vorbehalt einer Verfassungsänderung weiteres verfassungspolitisches Räsonieren insoweit abgeschnitten. Verfassungsrechtliche Arbeit ist von verfassungspolitischen Gesichtspunkten durchtränkt. Dadurch dürfen aber weder die Verbindlichkeit von Verfassungsrecht dort, wo mit dem Mittel von Normtexten vorentschieden wurde, noch die rechtsstaatlich geforderte Rationalität und Objektivität, soweit sie der Rechtswissenschaft überhaupt möglich sind, in Frage gestellt werden. Nach dem Gesagten ist deutlich, daß zur Rationalisierung verfassungspolitischer Inhalte und Tendenzen im (normativ stets eingeschränkten und gebundenen) Rahmen der Verfassungskonkretisierung und vor allem de constitutione ferenda auch die empirische Untersuchung verfassungsrechtlicher Normbereiche erheblich beitragen kann. Wo dagegen769 die Möglichkeiten (verfassungs-)juristischer Methodik und damit 427 die der von ihr erfaßbaren Normativität in die Rolle sekundärer Rechtfertigung sol768 Die bei Ossenbühl I, S. 660 zu Recht abgelehnt wird. – Vgl. BVerfGE 36, 264 ff.: dort wird die Rolle rechtspolitischer Erwägungen für das Ergebnis der Konkretisierung von der Mehrheit und im Minderheitsvotum in aufschlußreicher Weise verschieden bewertet; ebd. 271 ff. und 276 f. (Dauer der Untersuchungshaft – Überlastung des Gerichts als „wichtiger Grund“ i. S. v. § 121 I StPO?) – Das Urteil des Sächsischen Verfassungsgerichtshofs v. 20. 6. 2002 (in: Recht und Schule 2002, Heft 3, S. 9 ff.) betont zutreffend den Vorrang des systematischen vor dem rechtspolitischen Element (ebd., S. 10); durchweg sind die Canones schulmäßig eingesetzt. Ebd., S. 14, überzeugende Erwägungen zum Sachbereich von Verfahren der Volksgesetzgebung. – Vgl. im Strafrecht zur Rolle kriminalpolitischer Aspekte für die Normkonkretisierung etwa BGHSt 24, 40 ff., 42, 43 ff. (zum Begriff „Verteidigung der Rechtsordnung“). 769 Bei Kriele I passim.
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3 Juristische Methodik – 32 Konkretisierungselemente
cher Ergebnisse gedrängt werden, die der verfassungspolitischen Abwägung und „Interessenberechnung“ entstammen sollen, wird den im Ausgang von Normtexten entwickelten Normen konkret bestimmende, ordnende und regelnde Kraft nicht zugetraut. Neben dem dort nicht klar genug zurückgewiesenen Verfahren augenzwinkernder Routine und Verschleierungstechnik ist das methodisch rationalisierte, normtextorientiert ehrliche Arbeiten in allen Bereichen der alltäglichen Rechtsarbeit doch auch als wirkliche Praxis anzutreffen. Oft trifft es zu, daß die „offenen“ Urteilsgründe nur sekundäre, von der entscheidenden Stelle nachträglich gewählte dogmatische Konstruktionen zur Rechtfertigung eines auf andre Art erreichten Ergebnisses darstellen770, während die „verdeckten“ Entscheidungsgründe die Gesamtrichtung des intuitiv angeblich richtig erfaßten Ergebnisses, also die rechtspolitische Entscheidung enthalten. Doch funktionell und strukturell (statistisch sind Fragen solcher Art kaum zu beantworten) ist es umgekehrt bei komplizierter Rechtslage, bei mangelnder Evidenz der Interessenbewertung häufig und in der komplexen Materie des Verfassungsrechts in der Mehrzahl der Fälle nicht möglich, „intuitiv“ und „spontan“ das in diesem Sinn rechtspolitisch richtige, das „gerechte“ Ergebnis zu ahnen, zu erraten oder zu entwerfen. In diesen der verfassungsrechtlichen Praxis geläufigen Fällen wird die Lösung nicht selten auch anhand tastender juristischer Überlegungen mit Normtexten, Textinterpretationen, dogmatischen Figuren, theoretischen Inhalten, empirischen Elementen der betroffenen Normbereiche, mit lösungstechnischen Hilfsgesichtspunkten, allgemeinen Rechtsgedanken des fraglichen Normenkomplexes und nicht zuletzt auch mit Folgeberechnungen und Zweckmäßigkeitserwägungen verfassungspolitischer Art Schritt für Schritt in Ansatz, Korrektur, Modifizierung und Neuansatz der methodischen Bemühung redlich gesucht. Hier sind die normtextorientierten Erwägungen eben nicht nur nachträglich legitimierende, sekundäre Vehikel einer die angeblich vernunftrechtlich gefundenen Gründe bloß verschleiernden Dezisionstechnik. Die von jener Sicht unternommene Beschreibung der Allgegenwart und vor allem der durchweg primären Rolle verfassungspolitischer Abwägung geht in diesem Umfang bereits an der wirklichen Lage praktischer Verfassungskonkretisierung vorbei. Aus demokratischen und aus rechtsstaatlichen Gründen darf juristische Methodik bei rechts- bzw. verfassungspolitischen Rechtfertigungspraktiken nicht stehenbleiben. Sie umfaßt die Strukturuntersuchung täglicher Konkretisierungsvorgänge und tatsächlicher Konkretisierungsaufgaben. Methodik ist nicht normativ, hat aber geltende Verfassungsvorschriften vor allem rechtsstaatlicher Art (Tatbestandsbestimmtheit, Norm- und Textklarheit der Verfassung, Rationalität und Kontrollierbarkeit juristischen Arbeitens, und andere) zu beachten. Methodik im hier vorgeschlagenen Sinn will ferner die übliche Beschränkung des Untersuchungsfelds auf die (Verfassungs-)Rechtsprechung nicht mitvollziehen. Sie analysiert und entwirft die für alle Funktionen rechtswissenschaftlicher Arbeit im Grundsatz gemeinsame 770 Hierzu Kriele I, v. a. S. 218 ff. Aufschlußreich in diesem Zusammenhang (unter Aspekten der Verfassungsrechtsprechung als einer „Arena politischer Justiz“) die Beispiele bei Rinken III.
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Struktur des Konkretisierungsvorgangs (einschließlich der auslegend, dogmatisch und theoretisch fragenden Wissenschaft), soweit Rechtsarbeit normtextorientiert vorgeht. Weder die Lehre noch die Praxis können sich von den Aufgaben her, die ihnen eine demokratisch-rechtsstaatliche Verfassung verbindlich vorgibt, auf ein „primär“ (verfassungs-)politisches Selbstverständnis einlassen. Das heißt nicht, der naiven Vorstellung von allerorten ausbrechender methodischer Reflexion und vollständiger Methodenredlichkeit anzuhängen. Es heißt auch nicht, die demokratischen und rechtsstaatlichen Elemente der Verfassung und der Rechtsordnung für das Ganze zu nehmen. Dieses Ganze geht über Rechtsstaat und Demokratie materiell hinaus. Es kennt auch wichtige Diskussions-, Rationalisierungs- und Kontrollmöglichkeiten nicht-normativer, nicht-judizieller, rein pragmatischer und politischer Art. Doch ändern all diese Einsichten nichts an dem Zweck einer juristischen Methodik: das der Jurisprudenz überhaupt erreichbare Maß an redlicher Methodenklarheit und Kommunikation fördernder Rationalität als Strukturmodell wie auch als praktisches Ablaufmodell auszuarbeiten. 328 Die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung
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Die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung mit ihrer Unterform der richtlinien- 428a konformen ist Teil der nationalen Methodik des jeweiligen Mitgliedstaates771. Sie muß im Kontext der Einwirkung des Gemeinschaftsrechts auf die nationale Rechtsordnung verstanden werden. 328.1 Einwirkung des Gemeinschaftsrechts auf die Methodik deutscher Gerichte Der stetig wachsende Einfluß des Gemeinschaftsrechts auf die Rechtspraxis hat natürlich auch Auswirkungen auf die Methodik der Rechtsarbeit. Dabei sind zwei Bereiche zu unterscheiden: Im ersten der direkten Geltung der Grundrechte haben die deutsche Gerichte die Methoden des Gemeinschaftsrechts anzuwenden. Im zweiten Bereich der indirekten Wirkung handelt es sich dagegen um eine Kombination der gemeinschaftsrechtlichen mit der nationalen Methodik. 328.11 Die Direktwirkung von Gemeinschaftsrecht Die Gemeinschaftsrechtsordnung ist dadurch charakterisiert, daß die Mitgliedstaaten ihre Souveränität eingeschränkt und ihren Rechtsraum in dem Ausmaß ge771 Für wichtige Vorarbeiten danken wir Herrn Tilman Kuhn, LL.M. in EU-Business Law, Amsterdam, dessen Dissertation „Rechtsschutz des Anleger-Aktionärs gegen Beschlüsse von Gesellschaftsorganen in Europa“ einige der hier im Zusammenhang der Horizontalwirkung angesprochenen Probleme präzisieren wird. – Zu den vielfachen Problemen europäischer Rechtssprache und Mehrsprachigkeit auf Gemeinschaftsebene: F. Müller / Burr.
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3 Juristische Methodik – 32 Konkretisierungselemente
öffnet haben, in dem im Primärrecht Kompetenzen bestehen. Adressaten dieser Rechtsetzung sind nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch jeder Bürger. Die Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts ist nicht von einer völkerrechtlichen Transformation in innerstaatliches Recht abhängig. Der Union wird in den Verträgen unter Aufgabe eigener Souveränität der Nationalstaaten eine direkte Rechtsetzungsbefugnis eingeräumt. Nur die wenigsten Vorschriften des EGV richten sich aber ihrem Wortlaut nach direkt an den einzelnen, so daß ihre unmittelbare Wirkung feststeht (Art. 81, 82 EG)772. Die weitaus meisten Normen adressieren ihrem Wortlaut nach den Mitgliedstaat und erlegen ihm Pflichten auf, z. B. die Abschaffung von Binnenzöllen (Art. 25 EG und früher 13 EGV). Der EuGH773 hat den Schluß gezogen, daß einer Verpflichtung des Mitgliedstaates eine subjektive Berechtigung des einzelnen gegenübersteht, auf die sich dieser auch vor nationalen Gerichten und Behörden berufen kann, wenn die Norm inhaltlich unbedingt und hinreichend genau ist774. Die Konsequenzen der Direktwirkung sind weitreichend: Gemäß dem Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache „Simmenthal“ ist entgegenstehendes nationales Recht unanwendbar sowie ein wirksamer Erlaß neuer gleichlautender nationaler Gesetze ausgeschlossen. In der Rechtssache „CIA Security“775 stellte der Gerichtshof dies erneut klar und verdeutlichte, daß zwar nationales Recht verdrängt wird, daß aber die unmittelbare Wirkung von Gemeinschaftsrecht nicht zu Lasten einzelner gehen darf776. Die sich aus der Direktwirkung von Gemeinschaftsrecht ergebenden Pflichten, vor allem die zur Gewährleistung des Vorrangs von Gemeinschaftsrecht, treffen die nationalen Gerichte und Verwaltungen gleichermaßen. Im sekundären Gemeinschaftsrecht muß differenziert werden: Die Verordnung als das Gesetz der Union wirkt schon nach Art. 249 Abs. 2 EG allgemein und unmittelbar. Bei der Richtlinie ist die unmittelbare Geltung zunächst nicht gegeben. Denn sie benötigt die Umsetzung durch den nationalen Gesetzgeber und ist nur hinsichtlich des Ziels verbindlich. 772 Wenn in einem zitierten Text Artikel des Primärrechts nach der alten Zählweise vor Maastricht verwendet wurden, so sind im vorliegenden Text die neuen Ziffern eingesetzt, immer wenn dies ohne Sinnverlust möglich war. 773 Vgl. van Gend & Loos / Hummer, S. 33, EuGHE 1963, 1 ff. 774 In der eben erwähnten Grundlagenentscheidung wurde die unmittelbare Wirkung des in Art. 25 EG (früher Art. 12 EGV) enthaltenen Verbots bejaht, Zölle oder Maßnahmen zollgleicher Wirkung neu einzuführen oder beizubehalten. Mittlerweile ist außer Streit, daß die den gemeinsamen Markt tragenden Grundfreiheiten in Art. 25, 28 EG (freier Marktverkehr), Art. 39 EG (freier Personenverkehr), Art. 43 EG (Niederlassungsfreiheit) und Art. 49 EG (Dienstleistungsfreiheit), seit neuem sogar die Kapitalverkehrsfreiheit (Art. 56 EG), aber auch das Gebot der gleichen Bezahlung von Männern und Frauen (Art. 141 EG) und die wettbewerbsrechtlichen Vorschriften Art. 81 und 82 EG unmittelbare Wirkung entfalten. 775 Rs. C-194 / 94, CIA Security International SA gegen Signalson SA & Securitel SPRL, EuGH Slg. 1996, I-2201. 776 Vgl. Urteil in der Rs. C-152 / 84, Marshall gegen Southampton und South-West Hampshire Area Health Authority (Teaching), EuGH Slg. 1986, 723, Rn. 48.
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Bereits 1982 war der EuGH in der Rechtssache „Ursula Becker“777 mit der Frage konfrontiert, wie Richtlinien zur Wirksamkeit verholfen werden kann, wenn ein Mitgliedstaat diese nicht ordnungsgemäß in nationales Recht umgesetzt hat. Dabei stellte der Gerichtshof zunächst fest, daß Richtlinien als solchen, anders als Verordnungen, keine unmittelbare Wirkung zukommt; daß es aber mit der auch ihnen zuerkannten verbindlichen Wirkung unvereinbar wäre, grundsätzlich auszuschließen, daß sich betroffene Personen auf die durch die Richtlinie auferlegte Verpflichtung berufen können. Dies war der Ausgangspunkt für die Anerkennung von vertikaler Direktwirkung der Vorschriften einer Richtlinie, zumindest im Fall nicht ordnungsgemäßen Durchführens der Transformationsverpflichtung. Daher könne ein Mitgliedstaat, der die in der Richtlinie vorgeschriebenen Durchführungsmaßnahmen nicht fristgemäß erlassen habe, dem einzelnen nicht entgegenhalten, daß er die aus dieser Richtlinie erwachsenen Verpflichtungen nicht erfüllt hat. Die van Gend & Loos-Kriterien gelten also für jede Art von Gemeinschaftsrecht. Auch Richtlinien, die nach Art. 189 EGV in nationales Recht umgesetzt werden müssen und nur hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich sind, können von einem Bürger gegenüber dem Staat unter den genannten Voraussetzungen geltend gemacht werden778. Die Begründung ist einleuchtend. Zum einen ist es nach Ablauf der Umsetzungsfrist ein klassischer Fall des Verstoßes gegen Treu und Glauben, sich gegenüber Ansprüchen, die sich aus einer korrekt umgesetzten Richtlinie ergeben würden, darauf zu berufen, man habe pflichtwidrigerweise die rechtzeitige Umsetzung unterlassen. Zum anderen bemüht sich der EuGH, wie oben erwähnt, bei der Anwendung des EG-Rechts die höchstmögliche praktische Wirksamkeit (effet utile) zu gewährleisten. Mit der Anerkennung der unmittelbaren Wirksamkeit wird das vertragswidrige Umsetzungsverhalten sanktioniert, wird dem Gemeinschaftsrecht zur praktischen Geltung verholfen. Ferner hat der Gerichtshof die unmittelbare Wirkung von EGRecht und die daraus resultierende Unanwendbarkeit nationalen Rechts normativ auf Art. 249 Abs. 3 EG und Art. 10 EG gestützt779. Im einzelnen sind die gleichen Voraussetzungen wie bei Primärrecht erforderlich, nämlich daß die von der Norm aufgestellte Verpflichtung unbedingt und hinreichend genau ist („self-executing“). Allerdings ist bei Richtlinien hierfür noch zusätzlich erforderlich, daß die Umsetzungsfrist abgelaufen ist780. Die Umsetzung muß ordnungsgemäß erfolgen. So hat der EuGH die Umsetzung im Weg von VerRs. C-8 / 81 Ursula Becker gegen Finanzamt Münster-Innenstadt, Slg. 1982, 53. Im übrigen ist es anerkannt, daß eine Richtlinie so detailliert regeln kann, daß praktisch nur eine „Übersetzung“ notwendig ist und dem Mitgliedstaat gerade noch die Wahl der Form, nämlich formelles Gesetz oder nationale VO, sowie die Regelung der innerstaatlichen Kompetenzen verbleibt. 779 Vgl. im übrigen auch EuGH Moormann gegen Oberkreisdirektor des Kreises Borken, Slg. 1988, 4689, Rn. 22. 780 Rs. C- Karella und Karellas, EuGH Slg. 1991, I-2691. 777 778
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waltungsvorschriften nicht akzeptiert, weil diese jederzeit änderbar sind. Die Anpassung muß vielmehr regelmäßig durch eine nationale Rechtsvorschrift vollzogen werden, die rangmäßig auf der Ebene der für den erfaßten Sachbereich bislang geltenden Bestimmungen liegt781. Ferner muß Ziel der Bestimmung der Richtlinie, auf die der Kläger sich beruft, die Verleihung individueller Rechtspositionen, also subjektiver Rechte, sein782. Diese Voraussetzung scheint der Gerichtshof mittlerweile aufgegeben zu haben783, jedenfalls was die unmittelbare Anwendbarkeit angeht. Im Bereich dieser direkten Geltung von Primär- und Sekundärrecht haben die Gerichte die Methodik des Gemeinschaftsrechts anzuwenden. Diese Methode unterscheidet sich zwar nicht in den Grundzügen, aber doch in gewissen Einzelheiten von der durch die methodischen Normen des Grundgesetzes und die deutsche Tradition geprägten Methodik der nationalen Gerichte. Die Gemeinsamkeit in den Grundzügen ergibt sich daraus, daß auch die Arbeit im Gemeinschaftsrecht ein Navigieren im Hypertext des Rechts erfordert. Dabei ergeben sich Verknüpfungen von Texten, die dann in Form der Canones als Standards professionellen Wissens gelten. Im Gemeinschaftsrecht gibt es deswegen mit grammatischer, systematischer, historischer und genetischer Auslegung die bekannten Verknüpfungen, die man auch in der nationalen Methodenkultur kennt. Auch der Zugriff auf die der Norm zugrunde liegenden typischen Annahmen über die Wirklichkeit, welche das Bundesverfassungsgericht unter der Überschrift „Normbereich“ durchführt, ist im Gemeinschaftsrecht unvermeidlich. Und schließlich gibt es neben den einfachen Verknüpfungen noch die Kombination von Kontexten in den Schlußfiguren von teleologischer Auslegung, Umkehrschluß, Analogie und Größenschluß.784 Das gemeinsame Problem, das Navigieren im Hypertext des Rechts zu strukturieren, in Richtung auf Normtextorientierung ist der Sachgrund der Parallelität von gemeinschaftsrechtlicher und nationaler Methodik. Als zweiter Grund sind aber auch die methodischen Normen des Primärrechts zu nennen. Denn durch Art. 220, 288 Abs. 2 und 314 EG werden die rechtsstaatlichen Traditionen der Mitgliedstaaten ins Gemeinschaftsrecht inkorporiert. Aus diesen methodenrelevanten Normen erklären sich auch die wichtigen Besonderheiten des Gemeinschaftsrechts. Art. 288 Abs. 2 EG verpflichtet die Gemeinschaft, die Tradition der Mitgliedstaaten aufzunehmen, und gibt deswegen der rechtsvergleichenden Auslegung einen wichtigen Stellenwert. In der nationalen Methodik ist die rechtsvergleichende Methode dagegen, sofern sie überhaupt anerkannt ist, nur ein Randbereich juristischen Arbeitens. Art. 314 EG reagiert auf die EuGH Slg. 1991, I-2567 und 2607. EuGH, van Duyn, Slg. 1974, 1337. 783 EuGH, Kommission gegen Deutschland (Wärmekraftwerk Großkrotzenburg), Slg. 1995, I-2189; vgl. Streinz, Rn. 403 f. 784 Vgl. dazu den zweiten Band dieses Buches. 781 782
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Mehrsprachigkeit der Gemeinschaft. Unter seiner Vorgabe muß man endlich anerkennen, daß Sprache nur im Plural existiert. Zwar existiert auch eine Nationalsprache nur in einer Vielzahl individueller Sprachkompetenzen. Aber dort neigt man noch immer dazu, Bedeutungskonflikte hinter der Annahme einer homogenen Sprache im Singular zu verstecken. Art. 314 EG verlangt nun, die Fiktion zu verlassen und Bedeutungskonflikte offen zu formulieren, um sie mit Hilfe von systematischer und teleologischer Argumentation zu entscheiden. Diese Notwendigkeit zum Festsetzen einer gemeinschaftsbezogenen Bedeutung macht jedoch die grammatische Auslegung nur auf den ersten Blick komplexer. Tatsächlich zwingt sie nur zur Explikation eines Sprachkonflikts, der latent in jeder Rechtsentscheidung enthalten ist. Während also Art. 288 Abs. 2 und Art. 314 EG nur Fragestellungen fortentwickeln, die in der nationalen Methodenkultur schon enthalten sind, ist der große Stellenwert des teleologischen Arguments im Gemeinschaftsrecht eine echte Besonderheit. Die Wichtigkeit des Zweckarguments erklärt sich aus der primärrechtlichen Vorgabe einer immer enger werdenden Gemeinschaft. Dieses Ziel dynamisiert das Gemeinschaftsrecht zu einer Rechtsordnung in ständiger Entwicklung. Das methodische Instrument, um dies durchzusetzen, ist dann die teleologische Auslegung. Sie bedarf unter der rechtsstaatlichen Tradition der Mitgliedstaaten einer besonderen methodischen Kontrolle, um die damit gesetzten Risiken für die Rechtssicherheit zu minimieren785.
328.12 Die indirekte Wirkung des Gemeinschaftsrechts Aus der Direktwirkung des Gemeinschaftsrechts resultieren auch Vorgaben für die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung nationalen Rechts, insbesondere im Verfahrensrecht. Dies wird deutlich, wenn der Gerichtshof sagt, daß es mit der (auch) Richtlinien durch Art. 189 EGV (jetzt Art. 249 EG) zuerkannten verbindlichen Wirkung unvereinbar wäre, prinzipiell die Möglichkeit auszuschließen, daß die davon Betroffenen sich auf die von ihr aufgestellte Verpflichtung berufen. Insbesondere dort, wo die Gemeinschaftsorgane durch eine Richtlinie den Mitgliedstaaten eine bestimmte Verhaltensweise auferlegt haben, wäre der zweckmäßige Effekt solcher Akte geschwächt, wenn einzelne daran gehindert würden, sich darauf vor nationalen Gerichten zu stützen und wenn letztere davon abgehalten würden, diese Akte als Elemente des Gemeinschaftsrechts in Betracht zu ziehen. Art. 177 EGV (jetzt Art. 234 EG), der es nationalen Gerichten erlaubt, die Fragen über die Gültigkeit und Auslegung von Handlungen aller Gemeinschaftsorgane, vorzulegen, impliziert ferner, daß einzelne sich auf diese Handlungen vor nationalen Gerichten berufen können. Daher ist es in jedem Einzelfall notwendig zu prüfen, ob die Natur, das generelle Schema und der Wortlaut der fraglichen Norm fähig sind, direkte Auswirkung auf die Beziehungen zwischen Mitgliedstaaten und einzelnen zu haben786. 785 786
Vgl. ebd. Rs. C-41 / 74 Van Duyn gegen Home Office, EuGH Slg. 1974, 1337, Rn. 12.
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Auch im „Ratti“-Urteil787 von 1979 stellte der Gerichtshof fest, daß ein Mitgliedstaat, der die von der Richtlinie geforderten Umsetzungsmaßnahmen nicht innerhalb der Frist getroffen hat, sich nicht gegenüber einzelnen auf sein eigenes Fehlverhalten, die Verpflichtungen aus der Richtlinie zu erfüllen, berufen kann. Folglich müsse ein nationales Gericht, welches von einer Person, die die Vorschriften der Richtlinie einhält, aufgefordert wird, nationale Vorschriften, die nicht mit der Richtlinie in Einklang stehen, unangewendet zu lassen, dieser Forderung nachkommen, sofern nur die in Frage stehende Verpflichtung unbedingt und hinreichend genau ist. Richtlinien müssen also aus Gründen der notwendigen Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts unabhängig von den Willensäußerungen der mitgliedstaatlichen Rechtsetzer – obwohl und gerade weil diese dazu verpflichtet sind – Wirksamkeit erlangen. Daher besteht auch ein Bedürfnis, Gemeinschaftsrecht im allgemeinen und Richtlinien im besonderen auf anderen Wegen zur Effektivität zu verhelfen, nämlich dann, wenn eine unmittelbare Wirkung nicht möglich ist. Man spricht insoweit oberbegrifflich von der indirekten Wirkung. Die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung ist hiervon ein wichtiger Unterfall. Sie ist Teil der Ansätze, mit deren Hilfe dem Gemeinschaftsrecht in den Mitgliedstaaten zur Wirksamkeit verholfen wird. Diese sind die Konzepte des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts, der Direktwirkung und „indirekten Wirkung“ des EGRechts788. Die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung ist als Unterpunkt der indirekten Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts im nationalen Rechtsraum zu verstehen. In diese „Säule“ gehört auch die Schadensersatzpflicht der Mitgliedstaaten für Verstöße gegen Gemeinschaftsrecht, die inzidentale (horizontale) Direktwirkung von Primär- und Sekundärrecht (insbesondere von Richtlinien), die Ausweitung des Konzepts der staatlichen Maßnahme sowie die Prinzipien der Äquivalenz und Effektivität beim Geltendmachen von aus dem Gemeinschaftsrecht hergeleiteten Rechtspositionen im nationalen (Verfahrens-)Recht. Ist demgemäß der Anwendungsbereich der Methode eröffnet, sucht der Gerichtshof einen (Ergebnis-)Gleichlauf mit anderen Mitteln, einer Richtlinienvorschrift zur Wirksamkeit zu verhelfen, zu schaffen, nämlich mit der Direktwirkung789 und der Staatshaftung der Mitgliedstaaten.
787
Rs. C-148 / 78, Publicio Ministero gegen Tullio Ratti, EuGH Slg. 1979, 1629, Rn. 22,
23. 788 Mit milder Ironie gegenüber den Geistern, die man rief, bezeichnet man diese im englischsprachigen Raum auch als „Holy Trinity“, die „Heilige Dreifaltigkeit“ des Gemeinschaftsrechts, s. G. Betlem in dem Konferenzpapier der Konferenz „Direct Effect – Rethinking a classic of EC legal doctrine“ vom 01. 06. 2001 in Amsterdam, im Erscheinen. 789 Dabei wird hier nicht verkannt, daß auch Unterschiede zur Direktwirkung, insbesondere zur vertikalen Direktwirkung von Gemeinschaftsrecht, bestehen, wie Frisch zutreffend feststellt (S. 60 f.).
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Die richtlinienkonforme Auslegung hat Vorrang vor diesen beiden Mitteln. Erst wenn sie nicht möglich ist, kommen Direktwirkung und Staatshaftung in Betracht790. Weder letztere noch die richtlinienkonforme Auslegung können zu Lasten einzelner gehen, gleich ob in einem vertikalen oder horizontalen Kontext. Die richtlinienkonforme Auslegung ist allerdings auch in zeitlicher Hinsicht den beiden anderen Mitteln überlegen: sie ist bereits vor Ablauf der Umsetzungsfrist möglich und wohl auch legitim. Eine entscheidende Schwäche der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung ist, daß über sie wegen der „Gewaltenteilung“ zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten der nationale Rechtsanwender, also der innerstaatliche Richter, entscheidet. Sie findet, entsprechend der verfassungskonformen Auslegung im nationalen Recht, ihre Grenze in dem klaren Wortlaut der Vorschrift, was allein vom nationalen Richter zu beurteilen ist. Sie bleibt also immer indirekt, ist mithin kein wirklicher Ersatz für fehlende (insbesondere horizontale) Direktwirkung von Primär- und Sekundärrecht. Es handelt sich dabei also nicht darum, daß der nationale Richter im Rahmen der Direktwirkung gemeinschaftsrechtlicher Normen nach den Vorgaben der entsprechenden Methodik entscheidet, sondern um ein zweistufiges Vorgehen. Der Richter hat zunächst eine nationalstaatliche Norm nach den eigenen methodischen Vorgaben zu interpretieren und findet dabei eine Mehrzahl von Lesarten. Dann legt er eine gemeinschaftsrechtliche Vorschrift nach gemeinschaftsrechtlicher Methodik aus und verwendet das Ergebnis als Instanz für die Auswahl zwischen den verschiedenen Lesarten der nationalen Norm.
328.13 Verhältnis von direkter und indirekter Wirkung bei Richtlinien Tatsächlicher Ausgangspunkt ist hier die Frage, die sich nach Ablauf der Umsetzungsfrist einer Richtlinie stellt: hat der Mitgliedstaat die Richtlinie korrekt in nationales Recht transformiert?791 Bei der richtlinienkonformen Auslegung nationalen Rechts ist zu beachten, daß nach Ablauf der Umsetzungsfrist das nationale Recht im Anwendungsbereich der Richtlinie in Übereinstimmung mit dieser ausgelegt werden muß. Ist das nicht möglich, weil die innerstaatlichen Normen von den Vorgaben der Richtlinie zu eindeutig abweichen, stellt sich die Frage der unmittelbaren Anwendbarkeit der Richtlinienvorschrift im Bereich des damit nicht zu vereinbarenden innerstaatlichen Rechts792. Richtlinienkonforme Auslegung und Direktwirkung
790 Der Gerichtshof hat mehrfach auf die Subsidiarität der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien hingewiesen, s. z. B. Urteil Johnston gegen Chief Constable of the Royal Ulster Constabulary, EuGH Slg. 1986, 1651; Urteil Beentjes gegen Niederländischer Staat, EuGH Slg. 1988, 4635. 791 Vgl. Anweiler, S. 101; Lutter, S. 605. 792 Ulmer / Habersack, Vorbemerkungen, Rn. 15.
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schließen sich gegenseitig aus793. Der Gerichtshof hat die Subsidiarität der unmittelbaren Wirkung mehrfach betont794. Sie ergibt sich schon aus Art. 249 Abs. 3 EG. Ist auch diese nicht möglich, muß der Bürger den Mitgliedstaat auf Schadensersatz verklagen. Die Schadensersatzpflicht des Mitgliedstaats wird also dann relevant, wenn die richtlinienkonforme Auslegung am Wortlaut der zu interpretierenden Vorschrift scheitert und ein unmittelbares Berufen auf die Vorschriften der Richtlinie für den Bürger nicht möglich ist. Das liegt zum einen dann vor, wenn die Van Gend & Loos-Kriterien nicht gegeben, wenn die Richtlinienvorschriften also nicht unbedingt und hinreichend genau sind. Zum zweiten darf eine unmittelbare Geltung von Gemeinschaftsrecht, vor allem von Richtlinienvorschriften nach Ablauf der Umsetzungsfrist, nicht zu Lasten des Bürgers gehen. 328.2 Begriff und Struktur gemeinschaftsrechtskonformer Auslegung 428b
Die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung ist einigen Aspekten der verfassungskonformen Auslegung vergleichbar, insgesamt aber vielschichtiger. Vergleichbar ist sie ihr insoweit, als auch sie den Ausgangspunkt in einer Situation hat, worin ein Normtext verschiedene Möglichkeiten der Interpretation eröffnet und im Zweifel dann diejenige auszuwählen ist, die mit dem höherrangigen Recht vereinbar bleibt. Der wichtigste Anwendungsfall, die richtlinienkonforme Auslegung nationalen Rechts, hat jedoch noch einen zweiten Ausgangspunkt, nämlich die Nicht- oder Falschumsetzung der Richtlinie durch die zuständigen innerstaatlichen Stellen.
328.21 Begriff der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung Die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung ist von der richtlinienkonformen zu unterscheiden. Es handelt sich um zwar verwandte, aber voneinander zu trennende Auslegungsweisen, deren wesentlicher Unterschied in dem jeweiligen Maßstab liegt, an dem das nationale Recht gemessen wird. Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts meint das an Sinn, Zweck und Ziel des gesamten EG-Rechts ausgerichtete Verständnis nationaler Normtexte. Erfaßt wird damit die abstrakt-generelle Überprüfung, ob die Konkretisierung einer nationalen Vorschrift mit primärem oder sekundärem Gemeinschaftsrecht vereinbar ist. Es geht hier um die Auslegung in Übereinstimmung mit unmit793 Frisch, S. 61. – Vgl. als Beispiel EuGH, in: NVwZ 2003, S. 708 ff., 712: „Wenn eine solche konforme Anwendung nicht möglich ist, ist das nationale Gericht verpflichtet, das Gemeinschaftsrecht in vollem Umfang anzuwenden und die Rechte, die dieses dem Einzelnen einräumt, zu schützen, indem es notfalls jede Bestimmung unangewendet läßt, deren Anwendung im konkreten Fall zu einem gemeinschaftsrechtswidrigen Ergebnis führen würde.“ Ebenso EuGH, in: EuZW 1998, S. 736, sowie EuGH, Slg. 2000, I-7321 ff., Rdnr. 40-Engelbrecht. 794 Vgl. EuGH Slg. 1986, 1651 Johnston gegen Chief Constable of the Royal Ulster Constabulary; Slg. 1988, 4635 Beentjes gegen Niederländischer Staat.
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telbar anwendbarem Recht, insbesondere um die Auslegung in Konformität mit Primärrecht und den Verordnungen. 328.22 Begriff der richtlinienkonformen Auslegung Die richtlinienkonforme Auslegung ist von der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung besonders unter zwei Aspekten zu trennen795. Sie ist in ihrem Anwendungsbereich enger und umfaßt nur die Auslegung des nationalen Rechts im Hinblick auf jeweils eine spezielle nach Art. 249 Abs. 3 EG ergangene Richtlinie796. Ferner handelt es sich hier um die Auslegung in Übereinstimmung mit Recht, welches noch in nationales Recht umgesetzt werden muß. Die richtlinienkonforme Auslegung ist also nur ein besonderer Teilaspekt der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung. Sie hat die größte Relevanz für die Praxis. Denn die Richtlinie ist das zentrale Instrument der Rechtsetzung durch Gemeinschaftsorgane. Ferner sind Richtlinien nach Art. 249 Abs. 3 EG nur hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich, überlassen jedoch die Wahl der Mittel den mitgliedstaatlichen Stellen. Die Unterschiede der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen zum Gemeinschaftsrecht und die zwischen den nationalen Rechtsordnungen lassen es einleuchtend erscheinen, daß Konflikte bezüglich der Ordnungsgemäßheit der Umsetzung aufkommen. Um diese zu lösen, ist die konforme Auslegung nationalen Rechts im Anwendungsbereich der Richtlinie ein Mittel von kaum zu überschätzender Wichtigkeit.
328.23 Vergleich mit der verfassungskonformen Auslegung Sollen Institute miteinander verglichen werden797, müssen sowohl Unterschiede als auch Gemeinsamkeiten vorliegen. Erst wenn man diese festgestellt hat, kann man über das Ausmaß von Nähe und Distanz diskutieren798. Unbestritten ist, daß als Maßstab der Auslegungskontrolle einmal das Gemeinschaftsrecht und zum anderen die Verfassung herangezogen wird. Ein erster Unterschied liegt aber schon im Aspekt der Normenkontrolle799. Vom Gemeinschaftsrecht Ehricke RabelsZ 1995, S. 598 ff., 643. Ehricke RabelsZ 1995, S. 598 ff., 603. 797 Der Vergleich mit der verfassungskonformen Auslegung findet sich bei Bach, S. 1112; Everling III, S. 107; Jarass I, S. 214; Lutter, S. 604; Bleckmann II, S. 1576; Zöckler, S. 151. 798 Für eine Nähe zur verfassungskonformen Auslegung votieren Lutter, S. 604; Bach, S. 1112; Everling III, S. 107; Jarass I, S. 214; Bleckmann II, S. 1576; Zöckler, S. 151. Gegen eine solche Nähe: Schmidt, M., S. 590 sowie Gellermann, S. 104 und Frisch, S. 59. 799 Eine Richtlinie begründet keine Nichtigkeit einer widersprechenden nationalen Norm, sondern nur einen Anwendungsvorrang. Vgl. dazu Frisch, S. 59 sowie Großfeld, S. 338; Metallinos, S. 28; Scherzberg III, S. 229 f.; Viebrock, S. 556; Di Fabio, S. 950; Oppermann, Rz 36; Classen, S. 87. 795 796
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her ergibt sich nur die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung, aber nicht die Möglichkeit, nationales Recht aufzuheben. Selbst bei direkter Anwendung einer Richtlinie führt diese nur zu einem Anwendungsvorrang, der die nationalstaatliche Vorschrift in ihrer Umsetzung verdrängt, ohne sie unwirksam zu machen. Vielmehr bleibt der nationale Gesetzgeber zur Änderung verpflichtet800. Bei verfassungskonformer Auslegung ist dagegen der Aspekt der Normenkontrolle stärker ausgeprägt. Die deutschen Gerichte können untergesetzliche Regelungen bei Verstoß gegen die Verfassung und nach Scheitern der verfassungskonformen Auslegung selbst verwerfen. Formelle Gesetze können dagegen in einem solchen Fall dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt werden. Während also die verfassungskonforme Auslegung einen normenkontrollierenden Aspekt aufweist, beschränkt sich die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung auf eine Anwendungs- oder Auslegungskontrolle801. Auch die Begründung beider Institute ist verschieden. Bei der verfassungskonformen Auslegung ergibt sich die Rechtfertigung aus dem Vorrang unmittelbar geltenden Verfassungsrechts. Parallel dazu wird zum Teil in der gemeinschaftsrechtlichen Literatur angenommen, daß Richtlinien, auch wenn sie keine unmittelbare Wirkung haben, trotzdem eine unmittelbare Geltung hätten. Darin soll dann die Rechtfertigung der richtlinienkonformen Auslegung liegen802. Um dieser Konstruktion zu folgen, müßte man allerdings weitgehende Annahmen über die Einheit einer Gesamtrechtsordnung aus Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht akzeptieren803. Deswegen werden andere Wege vorgeschlagen. So soll sich der Vorrang höherstufigen Rechts aus dem Grundsatz bundesrechtskonformer Auslegung ergeben804. Dagegen läßt sich aber einwenden, daß die Gemeinschaft nicht ohne weiteres einem Bundesstaat gleichgesetzt werden kann. Dies zeigt schon die Existenz von Transmissionsnormen wie Art. 23 GG, die man in einem Bundesstaat nicht bräuchte805. Auch die Auffassung, daß die richtlinienkonforme Auslegung auf einer richterlichen Rechtsfortbildung durch den EuGH beruhe806, ist nicht haltbar. Dem widerspricht schon das Selbstverständnis des EuGH, der gerade bei dieser Form der Auslegung von den nationalen Gerichten eine strenge Einhaltung der Grenzen des Methodencanons fordert. Außerdem fehlt es an einer entsprechenden Kompetenz, da der EuGH kein Gesetzgebungsorgan ist. Richtiger erscheint es demgegenüber, den Ansatz vom Vorrang des Gemeinschaftsrechts zu präzisieren: Die richtlinienkonforme Auslegung beruht nicht auf der unmittelbaren Geltung der Richtlinie, sondern auf dem an 800 Vgl. dazu BVerwGE 1987, S. 154 ff., 158; Jarass III, S. 2421; ders. I, S. 215; Metallinos, S. 28; Oppermann, Rz 540; Pagenkopf, S. 218; H. P. Ipsen I, S. 235. 801 Diesen Aspekt gibt auch Frisch zu, S. 59. 802 Vgl. dazu Frisch, S. 72 ff. sowie Brechmann, S. 133 ff.; Fischer, S. 635; E. Klein, S. 15; Langenfeld, S. 956; Bach, S. 1110; N. Weber, S. 105. 803 Vgl. dazu Brechmann, S. 133 ff. sowie Frisch, S. 73 f. 804 Vgl. dazu Salzwedel, S. 65 ff. Diskussion dieses Ansatzes bei Frisch, S. 74 ff. 805 Vgl. dazu Frisch, S. 75; Brechmann, S. 206; Huber, S. 221 ff. m.w. N. 806 Vgl. dazu Spetzler I, S. 362 ff.; ders. II, S. 286; ders. III, S. 579 ff. Zur Kritik dieser Auffassung vgl. Frisch, S. 76 ff.
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die Mitgliedstaaten gerichteten Gebot, den Maßnahmen der Gemeinschaft zur größtmöglichen Wirksamkeit zu verhelfen807. Schließlich könnte ein weiterer Unterschied in der Struktur von verfassungskonformer und richtlinienkonformer Auslegung liegen. Während die zuerst genannte nur eine Auswahlentscheidung zwischen Ergebnissen trifft, die mit Hilfe der anerkannten Canones der Auslegung begründet wurden, soll die richtlinienkonforme Auslegung auf die einzelnen Instrumente der Konkretisierung einwirken808. Allerdings leidet diese Diskussion an verschiedenen Unklarheiten. So wird öfters die Frage aufgeworfen809, ob die Canones nicht doch abschließend seien. Geht man realistisch davon aus, daß die Rolle der Canones darin besteht, den auszulegenden Normtext mit anderen Kontexten zu vernetzen, kann ihre Anzahl nicht abschließend sein. Wenn nämlich eine neue Klasse von Argumenten auftritt, wie etwa typisierende Annahmen über die Wirklichkeit, entstehen im Hypertext des Rechts sogleich Links zu einer neuen Klasse von Kontexten. Ein Beispiel dafür sind Normbereichsargumente, die empirische Kontexte der Nachbarwissenschaften für die Jurisprudenz erschließen. Weiter wird die Frage aufgeworfen, ob es unter den Canones überhaupt eine Hierarchie geben könne. Rein methodisch gesehen, gibt es eine Rangfolge von Kontexten tatsächlich nicht. Sehr wohl aber läßt sich eine solche normativ begründen. Sie kann sich aus den methodenbezogenen Normen einer Verfassung ergeben oder, wie hier bei der richtlinienkonformen Auslegung, aus der Hierarchie der Rechtsquellen. Sehr streitig ist, ob eine Grenze der richtlinienkonformen Auslegung anzuerkennen sei oder nicht. Die Kritiker einer solchen Grenze810 bringen zwei Gruppen von Argumenten vor. Zum Teil handelt es sich um normative, zum Teil um sprachtheoretische Überlegungen. Die normativen setzen an dem Fall an811, daß das nationale Recht hinter den Geboten der Richtlinie zurückbleibt und daß auch eine unmittelbare Anwendung, etwa mangels Bestimmtheit, nicht in Betracht kommt: „An dieser Stelle steht der nationale Richter zwischen der Skylla, seiner Treue zum geschriebenen nationalen Recht, und der Charybdis, an einer Vertragsverletzung seines Landes i. S. v. Art. 10, 249 EG mitzuwirken. (…) Hier ist (wäre) Rechtsfortbildung contra legem erforderlich, um der Richtliniennorm gegen die nationale Norm zur Durchsetzung zu verhelfen. Der nationale Richter wird dabei zu bedenken haben, daß er an der Vermeidung eines Rechtskonflikts zwischen seinem Staat und der Gemeinschaft mitwirken, daß er gar zur Vermeidung von Schadenersatzansprüchen gegen seinen Staat beitragen kann, wenn er der Verpflichtung seines Staates zur korrekten Lutter, S. 605. Zum Einfließen in alle Auslegungsstufen vgl. Hommelhoff, S. 96 ff. sowie Frisch, S. 78 ff. 809 Lutter, S. 605. 810 Lutter, S. 604, Fn. 135. 811 Lutter, S. 607. 807 808
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Umsetzung der Richtlinie und der Beibehaltung dieser Umsetzung im Wege der Rechtsfortbildung nachkommt. Schreckt er gleichwohl immer noch vor dem offenen Konflikt mit seinem nationalen Recht und vor einer Entscheidung zugunsten der Richtliniennorm zurück, so mag er daran denken, daß er zur direkten Anwendung der Richtliniennorm entgegen seinem nationalen Recht verpflichtet wäre, wenn diese ‚klar und bestimmt‘ wäre“812. Diese Auffassung steht nicht nur in klarem Widerspruch zur Rechtsprechung des EuGH, der die Grenzen der nationalen Auslegungskultur immer wieder hervorhebt813. Sie übersieht vor allem, daß die Verträge der Gemeinschaft keine Ermächtigung zur Modifikation der innerstaatlichen Kompetenzordnung vorsehen814. Der sprachtheoretische Einwand bestreitet die Eignung des Wortlauts als Grenzziehungskriterium815. Wörter finden danach ihre Bedeutung nur in einem bestimmten Kontext und können außerhalb dieses Kontextes nicht als Grenze wirken. Der Einwand greift aber nur, wenn man die Wortlautgrenze mit der Konkretisierungsleistung allein der grammatischen Auslegung gleichsetzt. Diese Gleichsetzung wird in der traditionellen Methodenlehre immer noch vorgenommen816 und hat ihren Weg auch in die Literatur zum Gemeinschaftsrecht gefunden817. In der Praxis macht diese positivistische Verkürzung die Annahme einer Wortlautgrenze jedoch unmöglich, denn zur grammatischen Auslegung findet man in Wörterbüchern stets nur Verwendungsbeispiele eines Wortes, nie jedoch eine Angabe von Grenzen. Eine derartige Reduktion der Auslegungsgrenze auf die grammatische Konkretisierungsleistung hat der EuGH denn auch niemals vorgenommen. Das Gericht sieht diese Grenze erst dann als verletzt an, wenn der Spielraum der nationalen Auslegungskultur überschritten ist. Eine solche Grenze der Auslegung ist in der Tat möglich. Denn man kann einem Normtext nicht jede beliebige Lesart zuordnen. Manche Lesarten verletzen die in der Zunft anerkannten Regeln der Kunst. Erst die umfassend konkretisierte Rechtsnorm bildet also eine Grenze der Auslegung. Ein weiteres Problem liegt in der Frage, ob die richtlinienkonforme Auslegung eine Ergebniskontrolle der nationalen Auslegung darstellt, oder ob sie in die nationalen Canones nur einfließt818. So wirke etwa auf die grammatische Auslegung die Lutter, S. 607. EuGH Slg. 1984, S. 1891 ff., 1909, von Colson und Kamann / Land Nordrhein-Westfalen; EuGH Slg. 1984, S. 1921 ff., 1942, Harz / Deutsche Tradax. 814 So auch Frisch, S. 79. 815 Vgl. dazu Brechmann, S. 266 f., der sich auf die Argumente von Depenheuer stützt. Dort vor allem die S. 38 ff. und 43. 816 Vgl. Bydlinski I, S. 443; Fikentscher, Bd. IV, S. 294 f.; Larenz I, S. 322; Meier-Hayoz, I, S. 42; Raisch II, dort IV 4, insbesondere 4.3; Zippelius I, § 9 II. 817 Vgl. dazu Bleckmann II, S. 1576; Dänzer-Vanotti, S. 9; Dendrinos, S. 105; Everling I, S. 388; Jarass I, S. 218; ders. II, S. 95; Langenfeld, S. 204; Nettesheim, S. 274; Salzwedel, S. 69; Schön, S. 42; Spetzler III, S. 581; Zöckler, S. 158 f. 818 Vgl. dazu die eben nachgewiesenen Positionen von Frisch und Hommelhoff. 812 813
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richtlinienkonforme Auslegung dadurch ein, daß sie einen gemeinschaftsbezogenen Sprachgebrauch ins Spiel bringe. Die unklare Vorstellung eines ‚Einfließens‘ ist allerdings zu vermeiden. Gerade wenn die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung eine Ergebniskontrolle für die nationale Auslegung darstellen soll, kann sie in die nationalen Auslegungsvorgänge nicht schon ‚einfließen‘. Insgesamt wird man die verfassungskonforme und die richtlinienkonforme Auslegung zwar nicht als Zwillinge begreifen können819. Aber sie haben jedenfalls eine strukturelle Verwandtschaft: Es gibt zu einem Normtext mindestens zwei Lesarten, wovon eine mit der höherrangigen Rechtsquelle im Einklang steht und die andere (n) nicht. Der Auslegungsgrundsatz fordert, dann die konforme Lesart auszuwählen, solange die voll konkretisierte Rechtsnorm dies zuläßt.
328.3 Normative Grundlagen für die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung Damit die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung zur Pflicht der nationalen 428c Gerichte werden kann, müssen zwei Voraussetzungen gegeben sein: Einmal muß dem Gemeinschaftsrecht Vorrang vor dem nationalen Recht zukommen. Zum andern muß, jedenfalls solange man das Gemeinschaftsrecht und das nationale Recht nicht als einheitliche Rechtsordnung sieht, ein Mechanismus zur Regelung der Divergenz vorliegen.
328.31 Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts Für eine Verpflichtung zur Auslegung nationalen Rechts in Konformität mit Gemeinschaftsrecht, insbesondere mit Richtlinien, spricht der „supranationale“ Vorrang des Europarechts820. Aus Sicht der Europäischen Gemeinschaft genießen alle Normen des EG-Rechts Vorrang vor nationalem Recht, einschließlich des Verfassungsrechts. Eine „völkerrechtliche Lösung“ wäre dagegen für die Gemeinschaft problematisch: Da die Mitgliedsstaaten völkerrechtlichen Verträgen unterschiedlichen Rang einräumen, ergäbe sich eine unterschiedliche Rechtsverbindlichkeit europäischer Normen in den einzelnen Staaten. Nachfolgende gleichrangige oder höherrangige Gesetze auf nationaler Ebene würden eine einheitliche Geltung in den Mitgliedsstaaten verhindern. Die letztverbindliche Auslegungskompetenz der
Vgl. zu dieser Metaphorik Metallinos, S. 2. So E. Klein, S. 9 f., 12 f.; Bach, S. 1110; Zuleeg I, S. 470 f.; ders. III, S. 22, 25, 31; Grabitz II, S. 5; ders. III, S. 41 ff.; H. P. Ipsen I; S. 58 f., 70 ff.; Beutler / Bieber / Piepkorn / Streil, 2.2.4.3., 2.3.1.; Groß, S. 523; Nicolaysen, S. 30; Dendrinos, S. 281; Geiger, § 52 I; Lutter, S. 605 f.; Salzwedel, 65 ff.; Spetzler I, S. 362 ff.; ders. II, S. 286 ff.; ders. III, S. 579 ff.; Buckel I, S. 266 ff. 819 820
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nationalen Verfassungsgerichte würde unweigerlich zu unterschiedlichen Lösungen führen. Daher hat der EuGH schrittweise den Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor nationalem Recht festgestellt821: Nach seiner Rechtsprechung, ausgehend von Costa / ENEL, bildet das Gemeinschaftsrecht eine eigene, den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen hierarchisch übergeordnete Rechtsquelle. Aus Sicht der nationalen Verfassungsgerichte – besonders des Bundesverfassungsgerichts – begegneten der Vorranganspruch und der Grundsatz der unmittelbaren Anwendbarkeit jedoch grundlegender Skepsis, weil das Gemeinschaftsrecht keinen geschriebenen Grundrechtskatalog enthält822 und weil zunächst allein der Rat als Gesetzgeber wirkte. In Deutschland akzeptierte das Bundesverfassungsgericht die Rechtsprechung des EuGH denn auch nur in mehreren Stufen823: In der Entscheidung „Solange I“824 vom Mai 1974 entschied es, auf Vorlage der Rechtssache Internationale Handelsgesellschaft, daß in einem Konflikt zwischen Gemeinschaftsrecht und Grundrechten nach dem Grundgesetz die Grundrechte Vorrang genießen, so lange die zuständigen Gemeinschaftsorgane einen derartigen Konflikt nicht entsprechend dem Vertragsmechanismus beseitigt haben. So lange die Europäischen Gemeinschaften, und vor allem die Rechtsprechung des EuGH, also noch keinen dem deutschen Grundrechtskatalog entsprechenden Schutz gewährleisten, würde demnach das Bundesverfassungsgericht den Vorrang der deutschen Grundrechte feststellen. Es handelt sich dabei um ein Argument aus dem rechtserzeugten Normbereich des Art. 24 GG. Im Oktober 1986 war das Bundesverfassungsgericht erneut mit einem derartigen Konflikt befaßt. In der Zwischenzeit hatten sich aber diverse Veränderungen im Gemeinschaftsrecht ergeben. So entschied es denn auch in dem sogenannten Solange II-Urteil825 anders als in Solange I. Der Beschwerdeführer machte die Ungültigkeit 821 Rs. C-26 / 62, NV. Algemene Transport Expeditie Onderneming van Gend en Loos gegen Nederlandse Administratie der Belastingen, EuGH Slg. 1963, 1; Rs. C-6 / 64, Flaminio Costa gegen ENEL, EuGH Slg. 1964, 1251; Rs. C-14 / 68 Wilhelm gegen Bundeskartellamt, EuGH Slg. 1969, 1; Rs. C-11 / 70 Internationale Handelsgesellschaft gegen Einfuhr- und Vorratsstelle Getreide, EuGH Slg. 1970, 1125; Rs. C-106 / 77 Staatliche Finanzverwaltung gegen Simmenthal, EuGH Slg. 1978, 629; sowie aus jüngerer Zeit: EuGH, Urt. v. 14. 12. 2000, Rs. C-344 / 98 Masterfoods Ltd. / HB Ice Cream Ltd. Und HB Ice Cream Ltd. / Masterfoods Ltd., handelnd unter der Firm Mars Ireland, EuZW 2001, 113 ff. 822 Das hat sich bekanntlich bis heute nicht geändert. Selbst die im Rahmen der Regierungskonferenz von Nizza (2001) verabschiedete Grundrechtscharta ist noch nicht ins Primärrecht aufgenommen. Es handelt sich um eine rechtlich nicht unmittelbar verbindliche feierliche Proklamation, die vor allem dem Grundrechtskatalog des deutschen GG nicht vergleichbar ist. Sie wird vorrangig als Auslegungshilfe und über den Mechanismus des Art. 6 II EU Bedeutung erlangen. 823 Vgl. Trautwein, S. 893. 824 BVerfGE 37, 271. 825 BVerfGE 73, 339.
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sekundären Europarechts geltend. Seine Verfassungsbeschwerde wies das Gericht aber wegen des Anwendungsvorrangs des Gemeinschaftsrechts als unzulässig ab. Dieser Vorrang gelte jedoch nicht unbegrenzt. Vielmehr gingen die „konstituierenden Strukturen“ des GG dem Europarecht vor. Dazu gehörten auch die Grundrechte. Solange die Rechtsprechung des EuGH allerdings ausreichenden Grundrechtsschutz sichere, werde das Bundesverfassungsgericht die ihm zustehende Kompetenz zur Kontrolle von Gemeinschaftsrecht nach dem Maßstab der deutschen Grundrechte allerdings nicht ausüben. Mit der nächsten Stufe der europäischen Integration erreichte auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht eine neue Stufe im Maastricht-Urteil vom Oktober 1993826. Das Gericht hat hier die Verfassungsmäßigkeit des Vertrages über die Europäische Union bestätigt. Allerdings enthält die Entscheidung einige Einschränkungen. Das Demokratieprinzip verlange, daß dem Deutschen Bundestag Aufgaben von nennenswertem Gewicht verbleiben. Dies sei derzeit noch der Fall. Jedoch sei es nicht zulässig, neue Kompetenzen der EU durch die Rechtsprechung des EuGH zu begründen. Entgegen der bisherigen Rechtsprechung (Solange II) behielt sich das Gericht nunmehr wieder die Kontrolle von Europarecht nach dem Maßstab der Grundrechte vor, allerdings in „Kooperation“ mit dem EuGH. Dieser müsse zunächst entschieden haben, ehe die Verfassungsbeschwerde zulässig sei. Weiter sei die Kontrolle auf eine „generelle Gewährleistung der unabdingbaren Grundrechtsstandards“ beschränkt827. Somit gilt, daß Gemeinschaftsrecht durch Art. 23 GG auch grundgesetzlich legitimiert ist. Es hat im Prinzip immer Vorrang vor nationalem Recht828 einschließlich des Verfassungsrechts und unmittelbare Wirkung im deutschen Rechtsraum. Grenze ist nach Ansicht des Gerichts der Kernbereich nationaler Grundrechtsgarantien und fundamentaler Strukturprinzipien der nationalen Verfassung. Alle Fragen hinsichtlich des Rangs, der unmittelbaren Anwendung und der Auslegung des Gemeinschaftsrechts werden aber letztinstanzlich vom EuGH beantwortet. Er hat dabei die wesentlichen Grenzen nationalen Rechts zu respektieren. Erst wenn das generell nicht mehr gewährleistet ist, wäre ein Verfahren beim Bundesverfassungsgericht wieder zulässig829. In der Vergangenheit haben sich immer wieder Brüche angedeutet, so in der Verfassungsbeschwerde gegen die Kennzeichnungspflicht von Tabakerzeugnissen830, von einigen als „Solange III“-Entscheidung bezeichnet831. Das Bundesverfassungsgericht hat dort die Beschwerde von fünf Tabakherstellern gegen die Pflicht zum Aufdruck von Warnhinweisen auf Tabakerzeugnissen zurückgewiesen. Art. 5 826 827 828 829 830 831
Brunner gegen den EU-Vertrag, BVerfGE 89,155 = NJW 1993, 3047. s. im übrigen das Urteil „Rundfunk-Richtlinie“ vom März 1995, ZUM 95, 405. BVerfG NJW 92, 964. Zu diesem „Kooperationsverhältnis“ vgl. nur Vitzthum, S. 161 f. BVerfG NJW 1997, S. 2871. Vgl. Dauses II, S. 705.
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Abs. 1 GG schütze nicht vor der Pflicht, eine erkennbar fremde, den Beschwerdeführern nicht zurechenbare Meinung beim Vertrieb von Waren verbreiten zu müssen. Dies wurde als Renationalisierung des Grundrechtsschutzes gegenüber Akten der Gemeinschaftsgewalt interpretiert. Insgesamt muß aber berücksichtigt werden, daß das Gemeinschaftsrecht sich im Spannungsfeld von zwei widersprüchlichen Konzepten entwickelt hat: „Europäischer Bundesstaat“ einerseits und „Europäischer Staatenbund“ andererseits. Dadurch sind Konflikte betreffend das Verhältnis zwischen nationalem und europäischen Recht vorprogrammiert. EuGH wie Bundesverfassungsgericht verfolgen zwar beide das Ziel, praktische Konkordanz im Verhältnis von Grundgesetz und europäischem Gemeinschaftsrecht herzustellen832, jedoch gehen sie dabei von unterschiedlichen Ausgangslagen aus, was zwangsläufig zu neuen Verwerfungen führt833. Besonders deutlich wurde das in dem Bananenmarktkonflikt834. Die Klägerin des deutschen Ausgangsverfahrens, eine traditionelle Bananenimporteurin, beantragte über das Kontingent der EU hinausgehende Lizenzen für Bananenimporte aus „Drittstaaten“. Sie berief sich dabei auf einen Härtefall, da ihre Importe während des Bemessungszeitraums, der die Grundlage für das Kontingent bildet, ungewöhnlich niedrig waren. Sie machte außerdem geltend, durch die Importregelung in ihrer wirtschaftlichen Existenz gefährdet zu sein. Der VGH Kassel835 gewährte einstweiligen Rechtsschutz und ersuchte zugleich den EuGH um Entscheidung. Der EuGH stellte fest, daß die in der BananenmarktVO durch die Kommission zu treffende Härtefallregelung es ausschließt, daß Gerichte der Mitgliedsstaaten vor einer Regelung der Kommission einstweilige Härtefallregelungen formulieren. Der Erlaß einstweiliger Maßnahmen kann nur von Gemeinschaftsgerichten getroffen werden. Das Bundesverfassungsgericht hat die dagegen gerichtete Verfassungsbeschwerde zurückgewiesen836. Die Begründung ließ aber die wichtige Frage des Verwerfungsmonopols offen, falls die Bananenmarktordnung gegen WTO-Vorschriften verstößt. Das VG Frankfurt837, wegen der gleichen Problematik angegangen, legte diese Angelegenheit schließlich dem Bundesverfassungsgericht vor und fragte nach der Vereinbarkeit einzelner Regelungen der VO mit den Art. 3, 12, 14 und 23 GG bzw. nach der Vereinbarkeit mit dem deutschen Zustimmungsgesetz.
Vgl. Schwarze, S. 1077 f., Kirchhof, S. 965 f., Karpenstein, S. 942 f. Vgl. G. Meier, S. 193, Rupp III, S. 213; Schwarze, S. 1077 f.; Kirchhof, S. 965 ff. und den „Bananenmarkt“-Komplex. 834 EuGH EuZW 1997, S. 61; Zum Gesamtkomplex: EuZW 1997, S. 165 und Trautwein, S. 893; N. Reich, S. 110 f.; U. Everling III, S. 401. 835 EuZW 1995, S. 222. 836 EuZW 1995, S. 412. 837 EuZW 1997, S. 182. 832 833
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Zeitgleich haben einige „Drittstaaten“, die Exportländer von Bananen sind, erfolgreich die WTO angerufen. Die Welthandelsorganisation erklärte die Einfuhrbeschränkungen der EU als völkerrechtswidrig. Daraus ergeben sich weitreichende Grundsatzprobleme, auch im Innenverhältnis der Gemeinschaft zu ihren Mitgliedsstaaten838. Das Bundesverfassungsgericht machte dem Streit vorerst ein Ende, indem es die Verfassungsbeschwerde als unzulässig abwies. Wörtlich heißt es im Leitsatz: „Verfassungsbeschwerden und Vorlagen von Gerichten, die eine Verletzung in Grundrechten des Grundgesetzes durch sekundäres Gemeinschaftsrecht geltend machen, sind von vornherein unzulässig, wenn ihre Begründung nicht darlegt, daß die europäische Rechtsentwicklung einschließlich der Rechtsprechung des europäischen Gerichtshofs nach Ergehen der Solange II-Entscheidung unter den erforderlichen Grundrechtsstandard abgesunken sei. Deshalb muß die Begründung der Vorlage oder einer Verfassungsbeschwerde im einzelnen darlegen, daß der jeweils als unabdingbar gebotene Grundrechtsschutz generell nicht gewährleistet ist. Dies erfordert eine Gegenüberstellung des Grundrechtsschutzes auf nationaler und auf Gemeinschaftsebene in der Art und Weise, wie das Bundesverfassungsgericht sie in BVerfGE 73, 339 (378 bis 381) geleistet hat.“839 Tragendes Argument für die Abgrenzung der Kompetenzen von Bundesverfassungsgericht und Europäischen Gerichtshof und auch die Bestimmung des Verhältnisses von Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht ist eine Erwägung aus dem rechtserzeugten Normbereich der Grundgesetznormen, welche Souveränität auf die Gemeinschaft übertragen. Die Entscheidung bedeutet eine Rückkehr zu Solange II: Die Begründung einer Vorlage muß qualifizierten Anforderungen genügen. Man muß darlegen können, daß der EuGH generell hinter den Standard unserer Grundrechte zurückfällt, wie es das Bundesverfassungsgericht in seinem Solange II-Urteil getan hat. Ansonsten ist eine Vorlage von vornherein unzulässig840. Die grundlegenden Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum Verhältnis von Verfassungsrecht und Europarecht waren bisher in zwei Bereiche aufgeteilt: Einmal hatte es in Solange I-, Solange II-841 und der Bananenmarktordnung-Entscheidung dargelegt, eine Übertragung von nationalen Hoheitsrechten auf die Union sei nur zulässig, solange auf der supranationalen Ebene ein Schutz gewährleistet sei, der dem Standard des deutschen Grundrechtsschutzes entspricht. Zum anderen
Vgl. EuZW 1997, S. 325. BVerfGE 102, 147, 147. 840 Es bleibt abzuwarten, wie lange „Solange“ diesmal wird. Zur Zeit ist ein Vorabentscheidungsverfahren bezüglich der Vereinbarkeit der deutschen Wehrpflicht mit dem EG-Recht, insbesondere der Gleichbehandlungsrichtlinie 76 / 207 / EWG anhängig. Die Erfolgsaussichten erscheinen eher trübe, so daß es allem Anschein nach zu keinem neuen Konflikt kommen dürfte (Stand Anfang des Jahres 2002). – Vgl. zum Verhältnis von Vorlageverfahren nach Art. 100 und Vorabentscheidungsverfahren zum EuGH: BVerfGE 106, 275, 295. 841 BVerfGE 73, S. 339 ff. 838 839
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hat das Gericht in der grundlegenden Maastricht-Entscheidung842 und in der späteren Entscheidung Honeywell843 angekündigt, es wolle gegenüber der Union eine ultra-vires-Kontrolle in Anspruch nehmen und dabei prüfen, ob die Union ein Mehr an Hoheitsgewalt ausübe, als ihr von der Bundesrepublik übertragen worden war. Zwar sagte es in der Honeywell-Entscheidung, diese ultra-vires-Kontrolle beziehe sich nur auf evidente Verletzungen; trotzdem hat es damit einen wichtigen Grundsatz festgehalten. Diese beiden Linien seiner Judikatur hat das Bundesverfassungsgericht inzwischen in den Entscheidungen zum Lissabonner Reformvertrag und zum Europäischen Rettungsschirm844 miteinander verbunden. Die Besonderheit beider Verfahren bestand darin, dass es sich um Eilverfahren nach § 32 Bundesverfassungsgerichtsgesetz handelte. Diese waren nicht nur vorläufig, sondern auch vorbeugend, weil nach der Ratifikation der betreffenden Verträge eine verfassungsgerichtliche Kontrolle im Hinblick auf das Irrelevanztheorem zu spät gekommen wäre. Beiden Entscheidungen gemeinsam ist der Gedanke einer gespaltenen, oder besser gesagt koordinierten Volkssouveränität als subjektives Recht. Das Wahlrecht ist als grundrechtsgleiches Recht nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG rügefähig; es konkretisiert den Anspruch auf demokratische und gleiche Teilhabe an der Ausübung der Staatsgewalt. Es gehört zu den Grundsätzen, die Art. 79 Abs. 3 GG schützt und ist somit nicht abwägungsfähig. Dank ihres Status als Teil der „Ewigkeitsgarantie“ wird die freie und gleiche Ausübung der Staatsgewalt selbst dem verfassungsändernden Gesetzgeber aus der Hand genommen. Zugleich aber ist die deutsche Demokratie für Übertragungen von Hoheitsgewalt in supranationale Rechtsordnungen offen (Art. 23, 24 GG). Das Grundgesetz ist völkerrechtsfreundlich (Art. 25 GG) und auch europarechtsfreundlich. Trotz dieser Besonderheiten steht das Übertragen von Hoheitsgewalt auf supranationale Rechtsordnungen unter näheren Bedingungen, die das Bundesverfassungsgericht in den beiden genannten Entscheidungen herausarbeitet. Allgemein formuliert, sind es drei Voraussetzungen: zunächst das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung, dann die Achtung vor der Handlungsfähigkeit des einzelnen Mitgliedsstaats und schließlich der grundrechtliche Schutz für den Bürger, auch auf internationaler Ebene. An diesen drei Vorgaben hat das Bundesverfassungsgericht sowohl den Lissabonner Reformvertrag als auch die Regelung zum Europäischen Rettungsschirm gemessen. Das heißt, das Übertragen von Hoheitsgewalt darf nie dazu führen, dass die Demokratie im nationalen Bereich völlig ausgehöhlt würde. Positiv formuliert, müssen besonders demokratiebedeutsame Sachbereiche den nationalen politischen Entscheidungen verfügbar bleiben. Einen Eingriff in Art. 38 GG als Prinzip gleicher Teilhabe an der demokratischen Staatsgewalt hat das Bundesverfassungsgericht deswegen beanstandet, weil die Union als supranationale Organisation immer noch Demokratiede842 843 844
BVerfG, in: NJW 1993, S. 3047 ff. BVerfG, Urteil vom 06. 07. 2010, Az.: 2 BvR 2661 / 06. BVerfG, Urteil vom 12. 09. 2012, 2 BvR 1390 / 12.
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fizite aufweist. Zu nennen sind hier die Zusammensetzung des Parlaments, die Einschränkung der Wahlrechtsgleichheit sowie vor allem die Lücken an demokratischer Kontrolle gegenüber dem Rat. Der Eingriff bleibt allerdings dadurch im Ergebnis gerechtfertigt, dass der Lissabonner Vertrag ein noch ausreichendes Legitimationsniveau gewährleistet. Entscheidend ist dafür zunächst, dass das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung nicht in Frage gestellt wird; insoweit besteht nicht die Gefahr, aus der Union könne ein klassischer Obrigkeitsstaat im Sinn der KompetenzKompetenz werden. Auch werden im Lissabon-Vertrag einige Schritte unternommen, um das Demokratiedefizit zu vermindern. Schließlich stellt die Brückenklausel des 78 Abs. 7 EUV-Lissabon als solche keine Verletzung des Demokratieprinzips dar. Nur die innerstaatliche Umsetzung in Deutschland hin zu einem bloßen Informationsrecht des Parlaments verletzt die Verfassung. Das ist inzwischen durch eine Änderung des Gesetzes korrigiert worden. Der Bundestag muss jetzt jeder Übertragung aus der dritten in die erste Säule zustimmen. Damit ist gesichert, dass die allmähliche Nivellierung der Säulenstruktur nicht ohne positive Mitwirkung des Parlaments erfolgen kann. Insgesamt ist die sozusagen vernunftrechtliche Aufladung des Art. 38 GG mit der Forderung nach gleicher Teilhabe am Ausüben der Staatsgewalt für das konservative Staatsrecht überraschend; angesichts des Demokratiedefizits im Vorgang der Globalisierung des Rechts war sie aber nicht nur nötig, sondern auch methodisch folgerichtig. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Europäischen Rettungsschirm hat die Grundlinien der Lissabon-Entscheidung im Wesentlichen bestätigt. Zu bedenken ist auch hier wieder, dass es sich um eine Eilentscheidung handelt, deren Prüfungsmaßstab entsprechend einzuschränken ist: „Die über eine reine Folgenabwägung hinausgehende summarische Prüfung der Verfassungsmäßigkeit eines Zustimmungsgesetzes zu einem völkerrechtlichen Vertrag bereits im Eilrechtsschutzverfahren nach § 32 BVerfGG ist insbesondere dann geboten, wenn eine Verletzung der Schutzgüter des 79 Abs. 3 GG in Rede steht. In einer derartigen Situation muss es Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts sein, die Identität der Verfassung zu schützen. Ergibt die summarische Prüfung, dass eine behauptete Verletzung von 79 Abs. 3 GG mit hoher Wahrscheinlichkeit gegeben ist, läge in der Nichtgewährung von Rechtsschutz ein schwerer Nachteil für das gemeine Wohl im Sinne des § 32 Abs. 1 BVerfGG (im Anschluss an BVerfGE 111, 147 [153 = NJW 2004, 2814 = NVwZ 2004, 1483 L]). Dieser Maßstab gilt auch für begleitende gesetzliche Regelungen, wenn ein enger Sachzusammenhang mit der zugleich angegriffenen völkerrechtlichen Vereinbarung besteht.“845 Zentral für die Begründetheit war wieder die mögliche Verletzung von Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG. Das Bundesverfassungsgericht hebt hervor, diese Vorschrift bewahre den einzelnen Staatsbürger vor einem Substanzverlust der deutschen Staatsgewalt. Sie stelle kein allgemeines Kontrollrecht auf demokratiekonforme Gesetzgebung dar, schütze jedoch den Kernbe845
BVerfG, in: NVwZ 2012, S. 1313 ff.
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reich des Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG vor Aushöhlung. Zum Kernbereich der demokratischen Staatsgewalt gehörten vor allem die Haushaltsverantwortung und das Budgetrecht des Parlaments. Das Eingehen internationalrechtlicher Verpflichtungen verletze dabei das Budgetrecht nicht grundsätzlich; wohl aber dann, wenn es sich um unbestimmte finanzielle Ermächtigungen oder Automatismen handelt, die sich ohne Kontrolle des Parlaments vollziehen und die damit sein künftiges Handeln stark einschränken könnten. Als Eingriff in Art. 38 Abs. 1 GG kommt laut Bundesverfassungsgericht nicht schon die Einführung des Art. 136 Abs. 3 AEUV in Betracht, sondern erst die Schaffung des ESM (Europäischer Rettungsschirm). Dieser verletzt demnach allerdings den Kernbereich nicht, weil er keinen unkontrollierbaren Automatismus erzeugt. Zwar wird in Art. 25 ESMV eine Nachschusspflicht vorgesehen, deren Auslegung mehrdeutig sein könnte. Das lässt sich aber über einen Vorbehalt bei der Ratifizierung noch genauer fassen. Auch die Höhe der Verbindlichkeiten führt nicht zu einer Selbstentrechtung des Parlaments, da es hinreichende Kontrollrechte des deutschen Bundestags gibt. Das Gericht kommt deshalb zu dem Ergebnis, die Einführung des Europäischen Rettungsmechanismus verstoße bei summarischer Prüfung nicht gegen die Art. 38, 20 Abs. 1 GG und 20 Abs. 2 GG in Verbindung mit 79 Abs. 3 GG: „Zwar kann sich das Bundesverfassungsgericht in Bezug auf die demokratischen Gestaltungs- und Entscheidungsspielräume für zukünftiges Ausgabeverhalten nicht mit eigener Sachkompetenz an die Stelle der dazu zuvörderst berufenen Gesetzgebungskörperschaft setzen; es hat jedoch sicherzustellen, dass der demokratische Prozess offen bleibt, aufgrund anderer Mehrheitsentscheidungen rechtliche Umwertungen erfolgen können und eine irreversible rechtliche Präjudizierung künftiger Generationen vermieden wird.“846 Für die normativen Vorgaben der gemeinschaftsrechtskonformen und der richtlinienkonformen Auslegung gilt daher: Gemeinschaftsrecht gleich welchen Ranges hat Vorrang vor nationalem Recht, da es sich um eine den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen übergeordnete Rechtsquelle handelt. Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts wird heute nur noch selten bestritten847. Als Hauptargument wird vorgebracht, daß Gemeinschaftsrecht entgegenstehendes Nationalrecht nicht unwirksam macht. Wenn aber gleichzeitig zugegeben wird, daß Gemeinschaftsrecht bei Konflikten trotzdem allein den Fall regiert, wird daran deutlich, daß es sich hier um einen rein terminologischen Konflikt handelt. Die Frage von Geltungsvorrang oder Anwendungsvorrang kann für die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung offen bleiben. Sie setzt nur Anwendungsvorrang voraus, den niemand bestreitet.
846 Bundesverfassungsgericht, Eilanträge gegen Ratifikation von ESM-Vertrag und Fiskalpaket, in: NVwZ 2012, S. 1313. 847 Vgl. Di Fabio, S. 947 ff.
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Obwohl damit im Ergebnis der Vorrang des Gemeinschaftsrechts auch in der Literatur überwiegend zur Begründung der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung herangezogen wird848, gibt es dennoch einige wenige Stimmen, die diese Begründung für überflüssig halten849. Vor allem für die richtlinienkonforme Auslegung soll sich die Begründung allein schon aus Art. 10 und 249 Abs. 3 EG ergeben. Dieser Meinung ist zwar zuzugeben, daß der spezielle Mechanismus für die Begründung unverzichtbar ist. Denn das Gemeinschaftsrecht bildet (noch) keine einheitliche Rechtsordnung mit dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten. Aber andererseits würde allein dieser normative Mechanismus nicht ausreichen, wenn es nicht als tragenden systematischen Zusammenhang einen Vorrang des Gemeinschaftsrecht gäbe. Es geht um die Anwendung des Gemeinschaftsrechts, das regeln die Art. 10 und 249 Abs. 3 EG; aber eben eine um Anwendung mit Vorrang des Gemeinschaftsrechts. Daher braucht man für die Begründung auch der richtlinienkonformen Auslegung neben dem normativen Mechanismus noch den prinzipiellen Vorrang des Gemeinschaftsrechts. 328.32 Konfliktmechanismus im nationalen Recht Häufig wird davon ausgegangen, es spreche eine Vermutung dafür, daß der nationale Gesetzgeber eine zur Umsetzung von Gemeinschaftsrecht erlassene Norm mit dem Willen geschaffen habe, mit dieser Norm den Auftrag des Gemeinschaftsrechts erfüllen zu wollen850. Daraus würde eine Pflicht zur gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung kraft nationalen Rechts folgen851. Dagegen wird angeführt, eine derartige Vermutung lasse sich empirisch und normativ kaum begründen: Hätte der Gesetzgeber diese Absicht gehabt, so hätte er eine begrifflich engere, nur die gemeinschaftsrechtskonforme Entscheidung zulassende Formulierung gewählt852. Dieser Einwand ist aber vor dem Hintergrund der generellen Unbestimmtheit von Sprache nicht tragfähig. Texte erlauben es niemals, ihre Lesarten von vornherein festzulegen. Es spricht allerdings noch etwas gegen die Ansicht, eine Pflicht zur gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung mit dem Willen des nationalen Gesetzgebers begründen zu können. Folgte man nämlich (allein) dieser Begründung, so stellte eine Nichtbeachtung dieser Pflicht allein eine Verletzung nationalen Rechts und nicht des EG-Rechts dar. Es bliebe auch fraglich, ob sich dieser ‚Wille des nationalen Gesetzgebers‘ auch auf andere Gesetze, die nicht zur Umsetzung von Gemeinschaftsrecht gedacht waren, erstreckt. Das wird zumindest bei Gesetzen, die vor Erlaß der Umsetzung bereits existierten, abzulehnen sein. 848 849 850 851 852
E. Klein, S. 9 f., 12 f.; Bach, S. 1110; Ipsen I, S. 58 f., 70; Dendrinos, S. 281. Frisch, S. 69. Jarass I, S. 217; Meilicke, S. 1178 (m. Bsp.). Scherzberg III, S. 231. Nettesheim, S. 267.
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Wollte man die richtlinienkonforme Auslegung nur durch den Willen des nationalen Gesetzgebers begründen, so bezöge sich die Pflicht allein auf die von diesem Willen umfaßten nationalen Normen. Aber nach Ansicht des EuGH erstreckt sich die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung auf das gesamte nationale Recht. Sie gilt also auch für die bei Erlaß der Richtlinie bereits geltenden Bestimmungen853. Das spielt eine besondere Rolle dort, wo nationales Recht schon in seinem bisherigen Bestand einer Richtlinie konform ist854. Diese Art der Auslegung erfaßt grundsätzlich das gesamte nationale Recht, andernfalls würden sich schwierige Abgrenzungsprobleme ergeben: Wird etwa eine Richtlinie nicht durch eine spezielle Vorschrift des nationalen Rechts, sondern durch allgemeine Regelungen umgesetzt, fragt es sich, ob auch diese, die ohne Bezug zu der betreffenden Richtlinie ergehen, als Umsetzungsvorschriften eingestuft werden können. Auch schon an dieser Schwierigkeit scheitert eine nationalstaatliche Begründung. Der entscheidende Gesichtspunkt liegt darin, daß der Verweis des EuGH auf Art. 10 EG für das gesamte nationale Recht trägt855. Deswegen bedarf es einer Begründung durch Gemeinschaftsrecht.
328.33 Konfliktmechanismus im Gemeinschaftsrecht Der Gerichtshof hat die gemeinschaftsrechtskonforme Interpretation nationalen Rechts auf Art. 10 EG gestützt, das Gebot richtlinienkonformer Auslegung nationalen Rechts im besonderen auf Art. 249 Abs. 3 EG und die Richtlinie selbst. Gegen diese Position des EuGH wird eingewendet, daß im Fall der fehlenden bzw. fehlerhaften Umsetzung von Richtlinienrecht die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens gemäß Art. 226, 227 EG und die Anerkennung der unmittelbaren Wirkung ausreiche, um dem Geltungsanspruch des Gemeinschaftsrechts zu genügen856. Dagegen spricht jedoch, daß sich die Bundesrepublik Deutschland widersprüchlich im Sinn eines venire contra factum proprium verhalten würde, wenn sie sich trotz Anerkennung der Pflichten aus Art. 10 und 249 Abs. 3 EG das Schaffen oder Aufrechterhalten richtlinienwidrigen Rechts vorbehielte857. Wegen der begrenzten Zwangsgewalt der Gemeinschaft ist das Vertragsverletzungsverfahren nicht in gleicher Weise geeignet, dem Gemeinschaftsrecht zur Wirksamkeit zu verhelfen. In Betracht käme nur eine Verhängung von Zwangsgeld nach Art. 228 Abs. 2 EG, der Gerichtshof kann die Entscheidung des Mitgliedstaats aber nicht aufheben858. Scherzberg III, S. 232. Steindorf II, S. 455. 855 Jarass I, S. 220. 856 Di Fabio, S. 951. 857 Lutter, S. 605. In diese Richtung argumentiert der Gerichtshof im übrigen, um zu begründen, daß der Staat sich gegenüber dem einzelnen weder auf die Nichtumsetzung noch auf die unmittelbare Geltung von Richtlinien berufen kann. 853 854
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Schließlich wird gegen eine Verpflichtung zur gemeinschaftsrechtskonformen bzw. richtlinienkonformen Auslegung eingewandt, daß es gemäß Art. 23 Abs. 1 GG nur möglich sei, unmittelbar geltendes und anwendbares Gemeinschaftsrecht in die nationale Rechtsordnung zu integrieren; dies wird mit Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts begründet859. Hierin erschöpft sich die Funktion des Art. 23 Abs. 1 GG jedoch nicht. Art. 23 Abs. 1 2 GG ermächtigt den Bund dazu, zur Verwirklichung eines vereinten Europas Hoheitsrechte zu übertragen. Der Begriff der Übertragung von Hoheitsrechten ist zu eng gesehen, wenn hierunter allein die Integration von unmittelbar geltendem und anwendbarem Gemeinschaftsrecht verstanden wird. Auch mit dem Erlaß von Richtlinien übt die Gemeinschaft Hoheitsrechte aus860. Sie verpflichtet nicht nur die Mitgliedstaaten in ihrer Gesamtheit, sondern alle staatlichen Stellen dazu, die Ziele der Richtlinie zu erreichen. Hierzu ist sie aufgrund der Übertragung von Hoheitsrechten gemäß Art. 23 Abs. 1 2 GG in Verbindung mit dem Zustimmungsgesetz zum EGV berechtigt861. Die Interpretation nationalen Rechts in Übereinstimmung mit Sekundärrecht hat der Europäische Gerichtshof, beispielsweise in der Rechtssache Adidas862 aus 1999, auf Art. 10 EG gestützt: „Schließlich ist, wenn der Vollzug einer Gemeinschaftsverordnung den nationalen Behörden obliegt, (…) der Rückgriff auf nationale Vorschriften nur in dem zur ordnungsgemäßen Anwendung dieser Verordnung erforderlichen Umfang möglich, soweit dies weder die Tragweite, noch die Wirksamkeit der Verordnung beeinträchtigt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Mai 1982 in den Rechtssachen 146 / 81, 192 / 81 und 193 / 81, Bay Wa u. a., Slg. 1982, 1503, Rn. 29). Diese nationalen Maßnahmen müssen aufgrund der durch Artikel 10 EG festgelegten Pflichten ganz allgemein die Anwendung der Gemeinschaftsverordnung erleichtern und dürfen ihre Durchführung nicht behindern (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Dezember 1970 in der Rechtssache 30 / 70, Scheer, Slg. 1970, 1197, Rn. 8).“ Die Möglichkeit der richtlinienkonformen Auslegung nationaler Transformationsgesetzgebung erkannte der Gerichtshof bereits in dem Urteil „Felicitas“863 an. Dort hielt er es für die Aufgabe der nationalen Justiz, die einheitliche Auslegung und Anwendung von innerstaatlichen Durchführungsvorschriften dadurch sicherzustellen, daß die Gerichte auf die allgemeinen Auslegungsgrundsätze zurückgriffen.
Vgl. hierzu Dauses I, S. 120; Everling I, S. 390. Di Fabio, S. 947, 952. unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Urteil BVerfGE 73, 339 (374 f.). Die Rechtsprechung des BVerfG bestätigt die Auffassung Di Fabios jedoch nicht. Es sieht die Begründung der Verpflichtung gem. Art. 249 Abs. 3 und 10 EG als eine Rechtsfortbildung des EuGH an, die von Art. 23 GG gedeckt ist, vgl. BVerfGE 75, 223 (237). 860 Everling I, S. 379; Frisch, S. 71. 861 So auch Everling I, S. 379; ders. III, S. 101 i.V. m. 113; Jarass I, S. 216. 862 Rs. C-223 / 98 Adidas AG, Slg. 1999, I-7081, Rn. 23 ff. 863 EuGH Slg. 1982, 2771 Felicitas gegen Finanzamt für Verkehrssteuern. 858 859
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Dies solle insbesondere dadurch erreicht werden, daß an den Willen des Gesetzgebers zur vertragsgemäßen Umsetzung angeknüpft wird864. Erstmalig taucht die zur gemeinschaftsrechtskonformen Interpretation mitgliedstaatlichen Rechts in der Rechtsprechung des Gerichtshofs im Vorabentscheidungsverfahren „von Colson und Kamann“865 und im Urteil „Harz“866 aus dem Jahr 1984 in der Form der richtlinienkonformen Auslegung angeglichenen nationalen Rechts auf. Der EuGH betonte dort, daß die sich aus einer Richtlinie ergebende Pflicht der Mitgliedstaaten, das in ihr vorgesehene Ziel zu erreichen, sowie die aus Art. 10 EG, alle zur Erfüllung dieser Verpflichtung geeigneten Maßnahmen allgemeiner und besonderer Art zu treffen, allen Trägern öffentlicher Gewalt in den Mitgliedstaaten obliege, auch den Gerichten. Daher müssen mitgliedstaatliche Gerichte bei der Anwendung nationalen Rechts dieses im Lichte des Wortlauts und des Zwecks der Richtlinie interpretieren, um das von Art. 249 Abs. 3 EG aufgestellte Ziel zu erreichen867. Besonders hat der Richter das nationale Recht, das zur Umsetzung der jeweiligen Richtlinie bestimmt ist, in Übereinstimmung mit den aus dem Gemeinschaftsrecht erwachsenden Verpflichtungen zu konkretisieren, soweit er dazu nach nationalem Recht eine Kompetenz hat868. Eine andere wichtige Frage der Reichweite dieser Pflicht behandelte der Gerichtshof in der Rechtssache „Kraaijeveld“869. Ein nationales Gericht wurde im Rahmen einer Nichtigkeitsklage gegen eine Entscheidung angerufen, mit der ein Flächennutzungsplan genehmigt worden war. Mußte es dabei von Amts wegen die Frage aufgreifen, ob gemäß der Richtlinie eine Umweltverträglichkeitsprüfung vorzunehmen war? Der Gerichtshof führt dazu aus: „Ist also ein Gericht nach dem nationalen Recht verpflichtet oder berechtigt, von Amts wegen die sich aus einer zwingenden innerstaatlichen Vorschrift ergebenden rechtlichen Gesichtspunkte aufzugreifen, die die Parteien nicht geltend gemacht haben, so hat es im Rahmen seiner Zuständigkeit von Amts wegen zu prüfen, ob die Gesetzgebungs- oder Verwaltungsorgane des Mitgliedstaats innerhalb des in Artikeln 2 Absatz 1 und 4 Absatz 2 der Richtlinie festgelegten Ermessensspielraums geblieben sind, und dies im Rahmen der Prüfung der Nichtigkeitsklage zu berücksichtigen. Ist dieser Ermessensspielraum überschritten und haben daher die nationalen Bestimmungen insoweit außer Betracht zu bleiben, so ist es Sache der Träger der öffentlichen Gewalt des Mitgliedstaats, im Rahmen ihrer Zuständigkeiten alle erforderlichen allgemeinen oder besonderen Maßnahmen zu treffen, damit die Projekte im Hinblick darauf ge864 Everling I, S. 378 mit Hinweis auf das Urteil „Felicitas“, an dem er selbst als Richter mitgewirkt hatte. 865 Rs. C-14 / 83, Von Colson und Kamann gegen Land Nordrhein-Westfalen, EuGH Slg. 1984, 1891. 866 Rs. C- Harz gegen Deutsche Tradax, EuGH Slg. 1984, 1921. 867 Rn. 26 des Urteils. 868 Rn. 28. 869 Rs. C-72 / 95 Aannemersbedrijf P. K. Kraaijeveld BV u. a. gegen Gedeputeerde Staten van Zuid-Holland, EuGH Slg. 1996 I-5403.
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prüft werden, ob bei ihnen mit erheblichen Auswirkungen auf die Umwelt zu rechnen ist (…)“ Auch dies begründet der Gerichtshof vor allem mit Art. 10 EG, aber auch mit Art. 249 Abs. 3 EG und der Richtlinie selbst. Daß der EuGH die Pflicht zur gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung aus Art. 10 und 249 EG ableitet, wird in der Literatur zum Teil kritisiert. Gegen eine Pflicht aus Art. 249 EG wird dessen systematische Stellung im fünften Teil des Vertrages „Die Organe der Gemeinschaft“ angeführt. Auch müsse man bedenken, daß der Artikel den Rechtsakten der Gemeinschaft bestimmte Wirkungen zuschreibt, nicht aber den Umgang mit kollidierendem nationalen Recht regelt870. Diese nur formale Betrachtungsweise überzeugt aber nicht. Die Vorschrift statuiert ausdrücklich, daß die Mitgliedstaaten an das durch die Richtlinie festgeschriebene Ziel gebunden sind, dagegen Form und Mittel der (strengen) Umsetzungsverpflichtung selbst wählen dürfen. Eine Umsetzung darf nur dann unterbleiben, wenn das nationale Recht bereits dem Richtlinieninhalt entspricht. Mit dieser Bindung der Mitgliedstaaten wäre es unvereinbar, wenn die Gerichte und sonstigen innerstaatlichen Rechtsinstanzen dieser Bindung nicht durch die konforme Auslegung nationalen Rechts Rechnung trügen. Daneben wird auch eine Verpflichtung aufgrund Art. 249 Abs. 3 und 10 EG abgelehnt: mit dem Argument, daß nach dem Wortlaut der Art. 249 Abs. 3 und 10 EG nur die Mitgliedstaaten, nicht aber alle innerstaatlichen Stellen wie Gerichte und Behörden verpflichtet werden871. Gegen diese Auffassung spricht, daß die Mitgliedstaaten notwendig durch ihre Organe handeln. Alle Träger hoheitlicher Gewalt sind Adressat der Pflichten der Art. 10 und 249 Abs. 3 EG872. Der Begriff „Mitgliedstaaten“ kann nicht allein mit deren Rechtssetzungsorganen gleichgesetzt werden. Dies gilt übrigens ebenso im allgemeinen Völkerrecht, auch dort sind alle staatlichen Organe von der jeweiligen Verpflichtung betroffen873. Im ganzen vermag also die Argumentation des EuGH zu überzeugen874. Neben dem Vorrang des Gemeinschaftsrechts bedarf es zur Begründung der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung noch eines kombinierten Heranziehens von Art. 10 und 249 EG. Gegen eine Begründung allein mit Art. 10 EG spricht, „daß eine KolliNettesheim, AöR 1994, S. 261 [268]. Di Fabio, S. 953; s. auch Ehricke, S. 615 f.; Jarass I, S. 216. Daraus ergibt sich, daß Di Fabio konsequenterweise nicht nur die Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung, sondern auch zur gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung ablehnt. 872 Dies entspricht der ständigen Rechtsprechung des EuGH, s. unten, insbesondere Urteile „Von Colson und Kamann“, „Dorsch Consult“, „Fratelle Costanzo“ (bzgl. unmittelbarer Wirkung); s. auch Classen, S. 83; Götz, S. 1856; Gellermann, S. 17; Everling I, S. 379 f.; Ress, S. 489 f. 873 s. auch Classen, S. 83 mit Hinweis auf Verdross-Simma, §§ 1270 – 1280. 874 Neben den bereits genannten Urteilen ist insbesondere hinzuweisen auf Urteil vom 17. 09. 1997 Dorsch Consult Ingenieursgesellschaft mbH gegen Bundesbaugesellschaft Berlin mbH, EuGH Slg. 1997, I-4961, Rn. 43; s. auch Brechmann, S. 263; Everling I, S. 380; Rüffler, S. 124. 870 871
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sion zwischen Richtlinien und nationalem Recht immer nur dann möglich ist, wenn die Richtlinie auf nationaler Ebene unmittelbar anwendbar ist.“875 An der Judikatur des EuGH läßt sich sehen, daß die konforme Auslegung einer unmittelbaren Anwendung der Richtlinie vorgeht. Daraus ergibt sich, daß bei richtlinienkonformer Auslegung die Richtlinie eine mittelbare Wirkung auf nationaler Ebene erlangt. Daraus wird gefolgert: „Daher kann die Argumentation, daß Art. 249 Abs. 3 EG nur den Umgang mit kollidierendem Recht regelt, nicht überzeugen, denn die unmittelbare Wirkung einer Richtlinie stellt den Ausnahmefall zu Art. 249 Abs. 3 EG dar, der grundsätzlich nur die mittelbare Wirkung der Richtlinie im nationalen Raum vorsieht.“876 Gegen eine Argumentation allein mit Art. 249 Abs. 3 EG spricht, daß erst der systematische Zusammenhang zu Art. 10 EG seinen Inhalt deutlich macht. Art. 249 Abs. 3 EG regelt nicht nur die Umsetzung der Richtlinie in nationales Recht, sondern auch die Anwendung des nationalen Rechts unter dem Gesichtspunkt der Richtlinie 328.4 Anwendungsbereich der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung 428d
Man kann die richtlinienkonforme Auslegung als Unterfall der gemeinschaftsrechtskonformen auffassen. Letztere hat eine Anzahl spezifischer Probleme, wobei vor allem der Anwendungsbereich stark umstritten ist. 328.41 Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung Zur gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung als Technik der primärrechtskonformen Interpretation nationalen Rechts gehört das Konkretisieren innerstaatlicher Normen in Übereinstimmung mit Gemeinschaftsgrundrechten, systematischen Zusammenhängen des Gemeinschaftsrechts und Gemeinschaftsgewohnheitsrecht. Im Vordergrund steht dabei die Frage des Rechtsschutzes durch nationales Prozeßrecht und durch Verfahrensgarantien. Besonders der Effektivitätsgrundsatz fordert, daß sich der Bürger vor innerstaatlichen Gerichten auf Vorschriften des Gemeinschaftsrechts wirksam berufen kann. Weder der Vertrag noch abgeleitetes Gemeinschaftsrecht haben ein grundlegendes Rechtsschutz- bzw. Verfahrenssystem für die Durchsetzung von Gemeinschaftsrecht zum Gegenstand877. Die Grundhaltung des Europäischen Gerichtshofs kann so beschrieben werden: materielle Rechte behandelt er als Gegenstand des Gemeinschaftsrechts, Rechtsschutzmöglichkeiten als Teil des nationalen Rechts.
Frisch, S. 68. Ebd. 877 Obwohl es einige Gemeinschaftsrechtsakte gibt, die Verfahrens- oder Rechtsschutzgarantien in bestimmten Gebieten von Gemeinschaftspolitiken niederlegen, so in den Bereichen der geschlechtlichen Diskriminierung und der Vergabe öffentlicher Aufträge. 875 876
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In der Rechtssache „Simmenthal“ entschied der Gerichtshof, daß keine innerstaatliche Vorschrift den nationalen Richter davon abhalten darf, innerstaatliches Recht, welches dem Gemeinschaftsrecht widerspricht, unangewendet zu lassen878. In „Rewe“879 und „Comet“880 verwies der Gerichtshof auf das Prinzip der nationalen Verfahrensautonomie, darauf also, daß es Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung sei, wie die durch eine Verletzung von Gemeinschaftsrecht beeinträchtigten Interessen eines Bürgers geschützt werden sollten881. Unter Anwendung des Loyalitätsgebots nach Art. 10 EG müssen daher die innerstaatlichen Gerichte den Rechtsschutz der Bürger, welchen diese aus der Direktwirkung des Gemeinschaftsrechts herleiten, garantieren. Wegen der fehlenden gemeinschaftsrechtlichen Regelung dieses Themas, ist es Sache des innerstaatlichen Rechtssystems jedes Mitgliedstaates, die entsprechenden zuständigen Gerichte zu benennen. Außerdem muß er die verfahrensrechtlichen Bedingungen festlegen, welche auf gerichtlichen Schutz für Rechtspositionen gerichtet sind, die aus unmittelbar wirkendem Gemeinschaftsrecht hergeleitet werden. Der Gerichtshof stützt sich auch hier wieder auf Art. 10 EG, welcher die Gerichte dazu verpflichtet, die volle Wirksamkeit und gleichmäßige Anwendung des Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten zu gewährleisten882. Der EuGH überprüft seit 1976 fortwährend, ob der nationale Rechtsschutz zur Durchsetzung materiellen Gemeinschaftsrechts angemessen ist. Ausgangspunkt waren Fälle, in denen die prozessuale Wirksamkeit von unmittelbar wirkendem Gemeinschaftsrecht im Streit war. Der EuGH formulierte in einer Vielzahl von Urteilen, daß das nationale Verfahrensrecht für die Durchsetzung unmittelbar geltenden Gemeinschaftsrechts einerseits keine ungünstigeren Bedingungen als für die Durchsetzung mitgliedstaatlich begründeter Rechtspositionen vorsehen dürfe, und daß andererseits die Durchsetzung der gemeinschaftsrechtlichen Rechte durch die Ausgestaltung des Verfahrensrechts nicht „praktisch unmöglich“ gemacht werden dürfe883. In späteren Urteilen hat er diese Formulierung dahin erweitert, daß das nationale Verfahrensrecht die Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts auch nicht „übermäßig erschweren“ dürfe884. Auf dieser Grundlage hat der Gerichtshof nicht nur den vollständigen Aus878 Rs. C-106 / 77 Amministrazione delle Finanze dello Stato gegen Simmenthal SpA, EuGH Slg. 1978, 629. 879 Rs. C-33 / 76, EuGH Slg. 1976, 1989. 880 Rs. C-45 / 76, EuGH Slg. 1976, 2043. 881 Rs. C-6 / 60 Humblet gegen Belgien, EuGH Slg. 1960, 559; Salgoil gegen Italienisches Ministerium für Außenhandel, EuGH Slg. 1973, 453. 882 Rs. C-33 / 76 Rewe, Slg. 1976, 1989, Rn. 5; Rs. C-45 / 76 Comet, Slg. 1976, 2043, Rn. 11 / 18; Rs. C-213 / 89 Factortame I, Slg. 1990, I-2433, Rn. 19; Rs. C-312 / 93 Peterbroek, Slg. 1995, I-4599, Rn. 12; Rs. C-430 / 93 v. Schijndel, Slg. 1995, I-4705, Rn. 17. 883 Rs. C-68 / 79 Just, EuGH Slg. 1980, 501, Rn. 25; Rs. 811 / 79 Ariete, Slg. 1980, 2545, Rn. 12; Rs. C-826 / 79 Mireco, Slg. 1980, 2559, Rn. 13; Rs. C-205 – 215 / 82 Deutsche Milchkontor, Slg. 1983, 2633, Rn. 19, 22 f. 884 Rs. C-188 / 95 Fantask, Slg. 1997, I-6783, Rn. 47; Rs. C-366 / 95 Steff-Houlberg, Slg. 1998, I-2661, Rn. 15; Rs. C-231 / 96 Edis, Slg. 1998, I-4951, Rn. 34.
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schluß von Klagemöglichkeiten gerügt, sondern auch ungünstige Beweisregeln zu Lasten des Bürgers verworfen885. Er hat schließlich die nationalen Gerichte aufgefordert, einstweiligen Rechtsschutz im Interesse der gemeinschaftsrechtlich verankerten Rechte zu gewähren, damit nicht zu Lasten gemeinschaftsrechtlicher Positionen irreversible Fakten geschaffen werden können886. Der „Äquivalenzgrundsatz“ und der „Effektivitätsgrundsatz“887 gehören daher heute zum Kernbereich europarechtlicher Garantien. Dabei verkennt der Gerichtshof nicht, daß dem Interesse des Gemeinschaftsbürgers und der Gemeinschaft an der diskriminierungsfreien Verwirklichung des Europäischen Rechts gewichtige Argumente entgegenstehen können. Der EuGH hat daher das mitgliedstaatliche Bedürfnis nach Rechtssicherheit, das in verfahrensrechtlichen Ausschlußgründen und -fristen zum Ausdruck kommt, in seine Abwägung einbezogen888. Auch hat der Gerichtshof, beginnend mit dem „v. Schijndel“-Urteil, anerkannt, daß der nationale Richter Gemeinschaftsrecht von Amts wegen anwenden muß, wenn es eine derartige Verpflichtung nach nationalem Recht gibt (Äquivalenz) und wenn innerstaatliches Recht eine solche Anwendung erlaubt und wenn sie zum Rechtsschutz des einzelnen erforderlich ist. Allerdings kann auch diese ex officioVerpflichtung durch einige nationale Verfahrensprinzipien beschränkt werden. In „v. Schijndel“ war dies das Prinzip der Parteiautonomie. Dabei hat der Gerichtshof eine Art Billigkeitskontrolle für nationale Rechtsvorschriften entwickelt. Er prüft, ob die fragliche Beschränkung aufgrund von systematischen Zusammenhängen der nationalen Rechtsordnung gerechtfertigt sein kann, zum Beispiel: Regeln über das Verhältnis zwischen Staat und Individuum (Parteiautonomie), Rechte der Verteidigung oder der ordnungsgemäßen Verfahrensdurchführung (z. B. Konzentrationsmaxime / Prozeßökonomie)889. In diesem Zusammenhang ergeben sich im deutschen Recht beispielsweise Modifikationen des § 42 II VwGO durch dessen gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung. In der VwGO ist eine Klage auf Aufhebung oder Erlaß eines Verwaltungsaktes bekanntlich nur dann zulässig, wenn die Verletzung eines subjektiven öffentlichen Rechts geltend gemacht wird; und sie ist nur dann begründet, wenn die Verlet-
885 Rs. C-199 / 82 San Giorgio, Slg. 1983, 3595, Rn. 14; Rs. C-331, 376 und 378 / 85 Bianco & Girard, Slg. 1988, 1099, Rn. 12; Rs. C-104 / 86 Kommission gegen Italien, Slg. 1988, 1799, Rn. 7. 886 Rs. C-213 / 89 Factortame I, Slg. 1990, I-2433, Rn. 19, Rn. 20 ff. 887 Rs. C-231 / 96 Edis, Slg. 1998, I-4951, Rn. 34; ausführliche Diskussion bei v. Danwitz, Verwaltungsrechtliches System und Europäische Integration (1996), 296 ff. und S. Prechal, „Community law in national courts: the lessons to be learned from v. Schijndel“ in (1998) CMLRev. 35, 681 ff., sowie A. Biondi, „The European Court of Justice and certain national procedural limitations: not such a tough relationship“, (1999) CMLRev. 36, 1271 ff. 888 Rs. C-68 / 9 Just, Slg. 1980, 501, Rn. 22; Rs. C-188 / 95 Fantask, Slg. 1997, I-6783, Rn. 47; Rs. C-312 / 93 Peterbroeck, Slg. 1995, I-4599, Rn. 14; Rs. C-430 / 93 v. Schijndel, Slg. 1995, I-4705, Rn. 13. 889 s. dazu Biondi, Prechal.
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zung auch wirklich vorliegt. Damit ist eine hohe Hürde für den Zugang zu den Verwaltungsgerichten errichtet. Subjektive Rechte, nicht bloß rechtlich geschützte oder gar nur faktische Interessen sind vorzuweisen. Sie werden vom Gesetzgeber festgelegt und sind aus der Rechtsnorm abzuleiten, auf die sich der Kläger beruft. Wenn die Vorschrift, wie üblich, subjektive Rechte nicht ausdrücklich einräumt, ist danach zu fragen, ob sie nur Allgemeininteressen oder auch Individualinteressen schützt. Dabei spricht bei schweren Beeinträchtigungen die grundrechtskonforme Auslegung im Zweifel für die Annahme eines Individualschutzes. Sonst ist die Frage zu stellen, ob der Tatbestand des Gesetzes aus der Gesamtheit aller Rechtsunterworfenen einen bestimmten Personenkreis heraushebt. Das Kernproblem dieser Doktrin ist die Annahme, man könne zwischen individueller und allgemeiner Schutzrichtung von Gesetzen unterscheiden. Diese Unterscheidung war in einer Zeit notwendig, in der es darum ging, dem monarchisch fundierten Staat Freiheitssphären abzuringen; Sphären, in denen das Bürgertum durch sein Parlament den Staat zwang, sich in bestimmten Politikausschnitten auch dem Individualinteresse zuzuwenden. Heute könnte man diese Einschränkung aufgeben, weil unter den Vorgaben des Grundgesetzes eine normative Entgegensetzung von abgehobenem Staatswohl und individuellem Staatsbürger nicht mehr vorausgesetzt werden kann. Das Gemeininteresse muß immer auch die Interessen der einzelnen verfolgen. Politik ausschließlich im Allgemeininteresse oder mit bloßem „Reflex“ auf die einzelnen ist in einer parlamentarischen Demokratie jedenfalls nicht schon konstitutionell vorgesehen. Beim Durchsetzen gemeinschaftsrechtlicher Positionen ist die Klagebefugnis so zu erweitern, daß die deutsche Schutznormtheorie keine Rolle mehr spielt. Im Europarecht und in der Rechtsstaatstradition anderer Mitgliedstaaten ist dieser spezifisch deutsche Gedanke des Obrigkeitsstaats als Einschränkung der Rechtsdurchsetzung nämlich nicht enthalten. Der Kläger muß nur faktisch in einem Interesse beeinträchtigt sein, das (rechtlich) von der angerufenen Vorschrift geschützt wird. Dabei muß der Schutz des Interesses nicht durch Individualgerichtetheit der Norm ausgedrückt sein, vielmehr kommt es nur darauf an, ob das Klägerinteresse zu dem normativ geschützten öffentlichen Teilinteresse gehört. Dabei handelt es sich allerdings nicht um eine gemeinschaftsrechtliche Popularklage. Zu Recht stellt das OVG Münster890 fest, daß für die unmittelbare Anwendung zwar eine subjektiv-rechtliche Formulierung einer Gemeinschaftsvorschrift (hier Art. 49 EG) im Anschluß an die Rechtsprechung des EuGH nicht erforderlich ist, daß dies jedoch keinesfalls automatisch die Klagebefugnis des Bürgers bewirkt. Vielmehr muß ihm die Vorschrift dafür nach wie vor subjektive Rechte verleihen. Auf Art. 49 EG kann keine Popularklage gestützt werden. Es bedarf vielmehr einer gemeinschaftsrechtskonformen Interpretation deutscher Normtexte.
890
OVG Münster, Beschl. v. 17. 12. 1999 – 5 A 4915 / 98, NVwZ 2000, 1069 (1070).
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Auch die Vorschriften über die Rücknahme und den Widerruf von Verwaltungsakten werden durch Gemeinschaftsrecht modifiziert. In der Rs. C-298 / 96891 wandte der Gerichtshof die Kriterien der tatsächlichen Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts und des Diskriminierungsverbots auf die Rückforderung zu Unrecht gezahlter Gemeinschaftsbeihilfen an, wobei es vor allem um die gemeinschaftsrechtliche Zulässigkeit des Ausschlußgrundes eines Wegfalls der Bereicherung ging. Der EuGH leitete aus der verfahrensrechtlichen Autonomie der Mitgliedstaaten grundsätzlich ab, daß der Wegfall der Bereicherung die Rückforderung der Gemeinschaftsbeihilfen ausschließen könne; allerdings nur unter der Voraussetzung, daß der Empfänger schon zum Zeitpunkt der Bewilligung der Beihilfe den Vermögensvorteil weitergegeben habe und ein Regressanspruch gegen Dritte wertlos wäre. Zudem müsse der gute Glaube des Empfängers nachgewiesen, und die Rückforderung rein nationaler finanzieller Leistungen müsse parallel geregelt sein. Im Gegensatz zu der Situation bei staatlichen Beihilfen führe eine gegebenenfalls nicht erfolgte Rückforderung auch nicht zur Ineffektivität der gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften, denn mit den Gemeinschaftsbeihilfen gingen gerade keine Wettbewerbsvorteile nationaler Unternehmen einher892. Was nationale Beihilfen angeht, werden §§ 48 Abs. 2 und 49a VwVfG ebenfalls durch Gemeinschaftsrecht in ihrer Anwendung verändert. In der Entscheidung „Alcan Deutschland GmbH“893 wehrte sich die Klägerin, eine Aluminiumhütte, gegen die Rückforderung gemeinschaftswidriger Beihilfen. Diese waren ihr vom Land Rheinland-Pfalz gewährt, nach Auszahlung jedoch von der Kommission rechtskräftig für rechtswidrig erklärt worden. Gleichzeitig wurde die Rückzahlung der Beihilfen angeordnet. Das Land erließ einen Rückforderungsbescheid, gegen den die Klägerin mit § 48 VwVfG argumentierte, daß die einjährige Ausschlußfrist sowie die Grundsätze von Treu und Glauben und des Wegfalls der Bereicherung entgegenstünden. Der EuGH wies diese Einwände jedoch zurück. Die zuständige Behörde ist gemeinschaftsrechtlich auch dann zur Rücknahme verpflichtet, wenn nationale Ausschlußfristen entgegenstehen. Die Bewilligung ist ohne Rücksicht darauf zurückzunehmen, daß die Behörde selbst für die Rechtswidrigkeit die Verantwortung trägt. Die Rücknahme ist sogar dann erforderlich, wenn dies nach nationalem Recht wegen Wegfalls der Bereicherung mangels Bösgläubigkeit des Beihilfeempfängers ausgeschlossen ist. Zwar erkennt der Gerichtshof grundsätzlich eine Berufung auf Vertrauensschutz an894, jedoch kann im Bereich des Art. 87 EG kein derartiger Ein-
EuGH, EuZW 1998, 603. Zum Vertrauensschutz bei der Rückforderung von Gemeinschaftsbeihilfen s. auch Urteil „Steff-Houlbeg“, EuGH Slg. 1998, I-2661 und Urteil „Ölmühle“, EuGH Slg. 1998, I-4767; Michaelis, S. 757. 893 EuZW 1997, S. 276. 894 Urteil in der Rs. Milchkontor, EuGH Slg. 1983, 2633; Alcan Deutschland, EuGH Slg. 1997, I-1591; s. auch BVerwG Urt. v. 23. 4. 1998, DVBl. 1999, S. 44 ff. 891 892
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wand durchgreifen, wenn das Notifizierungsverfahren nicht mit positivem Ergebnis durchlaufen wurde. In diesen Kontext gehört auch das Urteil des EuGH vom 28. 11. 2000 in der Rechtssache „Roquette Frères“895. Dort hatte sich der Gerichtshof mit der Frage auseinanderzusetzen, ob nationale Ausschlußfristen auch auf den entgegengesetzten Fall der Rückzahlung gemeinschaftsrechtswidrig erhobener Abgaben anzuwenden sind. Denn ähnlich wie die Vertrauensschutzregeln bei der Rückforderung nationaler Beihilfen könnten auch nationale Ausschlußfristen zur Rückerstattung gemeinschaftsrechtswidrig erhobener Abgaben und Steuern die Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts – hier aber zu Lasten der Abgabepflichtigen – erschweren. Es ging um eine französische Regelung, wonach im Bereich des Steuerrechts ein Antrag auf Erstattung rechtsgrundlos gezahlter Beträge eingeschränkt wird. Der Antrag muß darauf gestützt sein, daß ein nationales oder ein Gemeinschaftsgericht eine innerstaatliche Vorschrift mit einer höherrangigen nationalen Vorschrift oder mit einer Gemeinschaftsvorschrift für unvereinbar erklärt hat. Dieser Antrag kann dann nur auf die Zeit nach dem 1. Januar des vierten Jahres vor dem Jahr erstreckt werden, in dem die Unvereinbarkeit gerichtlich festgestellt worden ist. Der EuGH stellt nun fest, daß diese Regelung mit dem Grundsatz der Effektivität vereinbar ist. Die Frist sei angemessen. Die Beschränkung des Zeitraums könne zwar in bestimmten Fällen zur vollständigen Abweisung des Antrags führen, Gemeinschaftsrecht würde dann also im Einzelfall nicht zur Anwendung kommen. Dadurch werde den einzelnen die Ausübung der durch die Gemeinschaftsrechtsordnung verliehenen Rechte aber weder praktisch unmöglich gemacht, noch übermäßig erschwert. Gleiches gelte für den Grundsatz der Äquivalenz. Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts wirkt sich weiterhin auch auf bestandskräftige Verwaltungsakte aus. In der Rs. C-224 / 97896 ging es um die Bestandskraft eines wegen Verstoßes gegen Art. 49 EG (Art. 59 EGV a. F.) gemeinschaftswidrigen Verwaltungsakts. Der EuGH betonte, der Vorrang des Gemeinschaftsrechts impliziere, daß jeder dem Gemeinschaftsrecht zuwiderlaufende nationale Rechtsakt außer Anwendung bleiben müsse; dies gelte sowohl für generell-abstrakte als auch für individuell-konkrete Rechtsakte. Daher seien auch bestandskräftige, aber gemeinschaftsrechtswidrige Verwaltungsakte jedenfalls bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Geldstrafe nicht anzuwenden. Auch wenn der Urteilstenor ausdrücklich auf die Unanwendbarkeit eines Verwaltungsakts für die (spätere) Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Geldstrafe beschränkt bleibt, legt die durch den EuGH herangezogene Begründung doch die Annahme nahe, daß die Gemeinschaftsrechtswidrigkeit ganz allgemein zur Unanwendbarkeit eines Verwaltungsakts – auch wenn er bestandskräftig ist, führt.
895 896
Rs. C-88 / 99, NJW 2001, 741; JA 2001, 545 m. Anm. Michaelis. EuGH, NJW 1999, 2355 = EuZW 1999, 405 m. Anm. Schilling = NVwZ 1999, 977.
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328.42 Richtlinienkonforme Auslegung Nicht nur bei unmittelbar wirkendem Gemeinschaftsrecht, sondern auch im Bereich von Richtlinien verpflichtet der Europäische Gerichtshof die Gerichte, „die volle Wirkung dieser Bestimmungen (zu) gewährleisten und die Rechte (zu) schützen, die das Gemeinschaftsrecht dem einzelnen verleiht“897. Beispielsweise betont der Gerichtshof im bislang weitgehend durch Richtlinien harmonisierten Gesellschaftsrecht bei den gesellschaftsrechtlichen Mitwirkungsrechten, daß er „die Angemessenheit des Rechtsschutzes überprüft, wenn es um Rechte geht, auf die sich ein einzelner auf der Grundlage des Gemeinschaftsrechts beruft“898. So hat sich der EuGH mehrfach mit der Frage befaßt, ob der Klage von Einzelaktionären gegen Strukturmaßnahmen in der Aktiengesellschaft der Einwand des Rechtsmißbrauchs entgegengehalten werden kann899. Es handelte sich jeweils um Fälle, in denen sich griechische Aktionäre gegen die staatlich angeordnete Kapitalerhöhung sanierungsreifer Aktiengesellschaften wehrten. Allerdings ist zu beachten, daß die insoweit regierende Norm, Art. 25 Abs. 1 der 2. Richtlinie, hier vertikale Direktwirkung entfaltete. Der Gerichtshof stellte fest, die Anwendung nationaler Regeln über den Rechtsmißbrauch dürfte nicht dazu führen, daß die volle Wirksamkeit und die einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts beeinträchtigt werden. Dabei sei es Angelegenheit des Europäischen Gerichtshofs, die Angemessenheit des nationalen Rechtsschutzes zu überprüfen. Beispielhaft für einen zulässigen Mißbrauchseinwand hat das Gericht ausgeführt, daß die mißbräuchliche und betrügerische Berufung auf Gemeinschaftsrecht nicht zulässig sei; daß es aber andererseits den mitgliedstaatlichen Prozeßrechten nicht ermöglicht werden könne, mit Hilfe eines pauschalen Mißbrauchsurteils die volle Wirksamkeit und einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen900. Damit wird deutlich, daß die Beschränkung der Klagebefugnisse des Aktionärs an autonom europarechtlichen Kriterien zu messen ist901. Nicht ganz klar ist aber der Hinweis auf den Mißbrauch. Offen bleibt, ob das Gericht diesen Gesichtspunkt dem nationalen Recht oder dem Gemeinschaftsrecht entnimmt. Im letzteren Fall hätte sich ein Rückgriff auf die mitgliedstaatliche Regelung erübrigt. Wie bereits dargelegt, entschied der Gerichtshof in „Von Colson und Kamann“ und „Harz“, daß die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, das in der Richtlinie vorgesehene Ziel zu erreichen, sowie die Pflicht der Mitgliedstaaten aus Art. 10 EG, alle zur Erfüllung dieser Verpflichtung geeigneten Maßnahmen allgemeiner und besonRs. C-6 / 90 Francovich, Slg. 1991, I-5357, Rn. 32. Rs. C-441 / 93 Pafitis I, Slg. 1996, I-1347, Rn. 69. 899 Rs. C-19 und 20 / 90 Karella, Slg. 1991, I-2691; C-381 / 89 Evangelikis Ekklissias, Slg. 1992, I-2111; s. auch Rs. C-134 und 135 / 91 Kerafina, Slg. 1992, I-5699; C-441 / 93 Pafitis I, Slg. 1996, I-1347; C-367 / 96 Kefalas, Slg. 1998, I-2834 = EuZW 1999, 57; C-373 / 97 Diamantis, Slg. 2000. 900 s. Urteil Kefalas, Rn. 22. 901 Triantafyllou, Anm. zu EuGH 12. 5. 1998, CMLRev. 1999, 157 (160 ff.); Schön, S. 32. 897 898
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derer Art zu treffen, allen Trägern öffentlicher Gewalt in den Mitgliedstaaten obliegen, auch den Gerichten. Daher müssen mitgliedstaatliche Gerichte bei der Anwendung nationalen Rechts dieses im Licht des Wortlauts und des Zwecks der Richtlinie auslegen, um das von Art. 249 Abs. 3 EG aufgestellte Ziel zu erreichen902. Dabei zeigt die Argumentation des Gerichtshofs, daß er diese Verantwortlichkeit nicht spezifisch auf Transformationsgesetzgebung, also angeglichenes Recht, beschränken will903. Das Urteil war prägend im Hinblick auf die Verbesserung der Effektivität des EG-Rechts vor allem im Bereich der nicht oder der falsch umgesetzten Richtlinien. Zwar trat in dem Ausgangsverfahren kein Problem hinsichtlich der fehlenden horizontalen Direktwirkung von Richtlinien auf, da es sich um einen öffentlichen Arbeitgeber handelte. Allerdings war die einschlägige Vorschrift der Gleichbehandlungsrichtlinie nicht hinreichend genau, um vertikale Direktwirkung zu entfalten. Folglich stand hier deutlich der Aspekt der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung im Vordergrund. Dabei wird ein grundlegendes Strukturelement der EuGH-Rechtsprechung erkennbar: Sowohl vertikale Direktwirkung als auch richtlinienkonforme Interpretation waren im Prinzip denkbar; in dieser Situation gab der EuGH jedoch der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung Vorrang. In den Urteilen „Murphy“904 und „Wagner-Miret“905 dehnte der Gerichtshof die Verpflichtung zur gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung, deren wichtigster Unterfall die richtlinienkonforme Auslegung ist906, auf das gesamte innerstaatliche Recht aus. In der Rechtssache „Marleasing“907 erklärte er expressis verbis, daß nationales Recht – „gleich ob es sich um vor oder nach der Richtlinie erlassene Vorschriften handelt“ – bei der Auslegung „soweit wie möglich“ am Wortlaut und Zweck der Richtlinie ausgerichtet werden muß. Somit trifft diese Pflicht die Gerichte nicht nur bezüglich der Transformationsgesetzgebung. Eine logische Prämisse für eine Pflicht zur richtlinienkonformen Interpretation nationalen Rechts bildet der Anwendungsbereich der Richtlinie. Dieser ist durch deren Auslegung zu ermitteln. Demgemäß ist zu beurteilen, ob der Regelungsbereich der zu konkretisierenden innerstaatlichen Norm mit dem der Richtlinie zumindest teilweise deckungsgleich ist. Probleme ergeben sich, wenn die nationale Vorschrift den Regelungsgehalt der Richtlinie übertrifft oder unterschreitet908. In diesem Fall ist fraglich, ob die Richtlinie eine solche Abweichung erlaubt.
Rn. 26 des Urteils. So Craig / de Burca, S. 199. 904 Rs. C-157 / 86 Murphy gegen An Bord Telecom Eireann, EuGH Slg. 1988, 673, Rn. 11. 905 Rs. C-334 / 92 Wagner Miret, EuGH Slg. 1993, l-6911. 906 So Frisch, S. 55 m.w. N. in Fn. 35. 907 EuGH Slg. 1990, I-4135, Rn. 8, zum Sachverhalt unten; bestätigt auch durch Urteil in Faccini Dori, EuGH Slg. 1994, I-3325, Rn. 26 und Urteil in Rs. C-54 / 96 Dorsch Consult, EuGH Slg. 1997, I-4961, Rn. 43. 908 Vgl. zur Frage von Höchst- und Mindestmaßregelungen: Bleckmann III, S. 372 f.; Brechmann, S. 273 ff.; Lutter, S. 605 ff.; Meilicke, S. 1173 ff.; Steindorf II, S. 253 f. 902 903
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Eine strengere nationale Norm ist nur dann zulässig, wenn die Richtlinie dies ausdrücklich ermöglicht oder wenn die Auslegung der Richtlinie ergibt, daß diese nur eine Minimalanforderung festlegen will909. Legt die Richtlinie jedoch einen Höchststandard fest, muß versucht werden, durch richtlinienkonforme Interpretation des nationalen Rechts dieses einzuschränken910. Ist das nicht möglich, könnte die richtlinienkonforme Rechtsfortbildung in Form der teleologischen Reduktion greifen. Sonst bleiben nur noch die Möglichkeiten einer unmittelbaren Wirkung der Richtlinienvorschriften und der aus ihr folgenden Verdrängung nationalen Rechts911 bzw. der Staatshaftung des Mitgliedstaats. Sofern die innerstaatliche Norm geringere Anforderungen als die Richtlinie stellt, ist im Weg der Auslegung zu untersuchen, ob die entsprechende Richtlinienbestimmung lediglich einen Höchststandard festlegen oder ob die Regelung nicht gleichzeitig auch das Minimum bestimmen wollte. In diesem Fall muß erneut eine Anpassung der innerstaatlichen Vorschrift anhand der Interpretation geprüft werden. Im übrigen gilt das gleiche wie für den Fall der strengeren nationalen Vorschrift.
328.43 Zeitlicher Anwendungsbereich der richtlinienkonformen Auslegung Fraglich ist ferner die zeitliche Komponente der Methode. Während die vertikale Direktwirkung von Richtlinienvorschriften und die Schadensersatzpflicht der Mitgliedstaaten nur im Fall der Nicht- oder Falschumsetzung, also nach Ablauf der Umsetzungsfrist, eintreten912, läßt sich an eine den beiden Figuren vorrangiger gemeinschaftsrechtskonformer Auslegung nationaler Normen auch schon vorher denken. In der Rechtssache „Wallonie“913 ging es um die Richtlinie 75 / 442 / EWG über die Abfallbeseitigung, welche durch die Richtlinie 91 / 156 / EWG geändert worden war. Mit seiner ersten Frage suchte das vorlegende Gericht im wesentlichen zu klären, ob die Artikel 10 und 249 EG es verbieten, daß die Mitgliedstaaten während der Umsetzungsfrist der Richtlinie 91 / 156 Maßnahmen ergreifen, die dieser Richtlinie widersprechen. Zur Beantwortung stellt der Gerichtshof zunächst fest, daß die
Ob hiervon im Grundsatz auszugehen ist, ist streitig, vgl. Frisch, S. 99, Fn. 48. Vgl. dazu das Marleasing-Urteil. 911 Vgl. dazu das Karellas-Urteil. 912 s. o.; im übrigen bezüglich der Direktwirkung: Urteil „Ratti“ (s. o.), Rn. 43, 44, 46: „Erst am Ende der Umsetzungsfrist und bei Unterlassen der Umsetzung durch den Mitgliedstaat kann die Richtlinie Direktwirkung entfalten. Bis zu diesem Datum bleibt der Mitgliedstaat in diesem Bereich frei. Weil eine Richtlinie allein den Mitgliedstaaten Pflichten auferlegt, kann ein einzelner nicht auf Vertrauensschutz / legitime Erwartungen vor Ablauf der Umsetzungsfrist plädieren.“ Bezüglich Staatshaftung s. Urteil „Francovich“. 913 Rs. C-129 / 96 Inter-Environnement Wallonie ASBL gegen Region wallone, Slg. 1997, I-7411. 909 910
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Pflicht eines Mitgliedstaates, alle zur Erreichung des durch die Richtlinie vorgeschriebenen Zieles erforderlichen Maßnahmen zu treffen, eine durch Artikel 249 Absatz 3 des Vertrags und durch die Richtlinie selbst auferlegte zwingende Pflicht ist. Diese obliegt allen Trägern öffentlicher Gewalt in den Mitgliedstaaten. „Sodann werden nach Artikel 191 Absatz 2 EWG-Vertrag, der auf den im Ausgangsverfahren maßgebenden Zeitraum Anwendung findet, die Richtlinien und Entscheidungen (…) denjenigen, für die sie bestimmt sind, bekanntgegeben und werden durch diese Bekanntgabe wirksam. Aus dieser Vorschrift ergibt sich, daß eine Richtlinie gegenüber dem Mitgliedstaat, an den sie gerichtet ist, schon vom Zeitpunkt ihrer Bekanntgabe an Rechtswirkungen entfaltet. Im vorliegenden Fall ist in der Richtlinie 91 / 156 entsprechend einer gängigen Praxis eine Frist festgelegt, bei deren Ablauf die Rechts- und Verwaltungsvorschriften, die erforderlich sind, um der Richtlinie nachzukommen, in den Mitgliedstaaten in Kraft getreten sein müssen. Da diese Frist den Mitgliedstaaten insbesondere die für den Erlaß der Umsetzungsmaßnahmen erforderliche Zeit geben soll, kann ihnen kein Vorwurf gemacht werden, wenn sie die Richtlinie nicht vor Ablauf dieser Frist in ihre Rechtsordnung umsetzen. Gleichwohl obliegt es den Mitgliedstaaten während der Umsetzungsfrist, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um sicherzustellen, daß das in der Richtlinie vorgeschriebene Ziel bei Ablauf dieser Frist erreicht wird. Die Mitgliedstaaten sind zwar nicht verpflichtet, diese Maßnahmen vor Ablauf der Umsetzungsfrist zu erlassen, doch ergibt sich aus Artikel 10 Absatz 2 in Verbindung mit Artikel 249 Absatz 3 des Vertrages und aus der Richtlinie selbst, daß sie während dieser Frist den Erlaß von Vorschriften unterlassen müssen, die geeignet sind, das in der Richtlinie vorgeschriebene Ziel ernstlich in Frage zu stellen. Es ist Sache des nationalen Gerichts, zu beurteilen, ob dies bei den nationalen Vorschriften, deren Rechtmäßigkeit es zu prüfen hat, der Fall ist. Bei dieser Beurteilung hat das nationale Gericht insbesondere zu prüfen, ob sich die betreffenden Vorschriften als eine vollständige Umsetzung der Richtlinie darstellen, und es hat die konkreten Folgen der Anwendung dieser mit der Richtlinie nicht übereinstimmenden Vorschriften und ihrer Geltungsdauer zu untersuchen.“ Dieser Rechtsprechung haben sich einige Stimmen in der Literatur angeschlossen914. Dagegen wendet sich eine andere Auffassung, nach der die Verpflichtung erst mit der Transformation bzw. mit dem Ablauf der Transformationspflicht beginnen soll915. Hauptargument ist hier, die Pflicht der innerstaatlichen Stellen bei der Rechtsanwendung dürfe nicht weiter gehen, als die Pflicht der Legislative zur Rechtsetzung, welche erst mit Ablauf der Umsetzungsfrist erfüllt sein muß916. Die Möglichkeit der richtlinienkonformen Auslegung nationalen Rechts bereits ab Erlaß der Richtlinie wird von dieser Auffassung hingegen nicht bestritten.
Lenz, S. 908; Metallinos, S. 98 ff.; Gellermann, S. 105; Sack, S. 242 ff. BGH GRUR 1993, 825 (826); NJW 1998, 2208 (2211); Brechmann, S. 284; Jarass I, S. 220 f.; ders. II, S. 92; Everling I, S. 383; Rüffler, S. 124; Frisch, S. 84 ff. 916 s. Frisch, S. 84 m.w. N. 914 915
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Stützt man die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung auf den Willen des nationalen Gesetzgebers, so entsteht sie bereits mit Erlaß der nationalen Umsetzungsregelung. Dieser Ansatz ist dann nicht tragfähig, wenn eine Richtlinie einer Umsetzung ganz oder teilweise nicht bedarf, weil das nationale Recht ihr bereits entspricht917. Begründet man die Auslegungspflicht dagegen gemeinschaftsrechtlich, so ist weithin ungeklärt, ob die Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung bereits mit Erlaß der Richtlinie einsetzt918 oder aber erst mit dem Zeitpunkt, zu dem eine Richtlinie spätestens umzusetzen ist919. Gegen die erste Auffassung spricht jedoch, daß der EuGH die richtlinienkonforme Auslegung gerade auch auf die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Umsetzung einer Richtlinie stützt. Diese Pflicht kann erst mit Ablauf der Umsetzungsfrist verletzt sein; dann können die Pflichten der innerstaatlichen Stellen aber nicht weiter gehen. Eine Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung kann daher erst mit Ablauf der Umsetzungsfreist angenommen werden920. Zu beachten ist hier aber die praktische Schwierigkeit für den Entscheider, daß Umsetzungsfristen oftmals nicht klar sind und bisweilen von der Kommission dem einen oder anderen Mitgliedstaat gegenüber einseitig verlängert werden921. Diese Probleme vermögen zwar nicht die Pflicht zur Konformauslegung zu begründen; aber sie führen doch dazu, vom Gemeinschaftsrecht her die grundsätzliche Möglichkeit einer vorzeitigen Konformauslegung anzuerkennen. Zur Frage der nationalstaatlichen Zulässigkeit einer richtlinienkonformen Auslegung schon vor Ablauf der Umsetzungsfrist hat der Bundesgerichtshof Stellung genommen: „Der BGH ist an einer richtlinienkonformen Auslegung nicht dadurch gehindert, daß die Frist für die Umsetzung der Richtlinie zur vergleichenden Werbung noch nicht abgelaufen ist. Läßt sich Richtlinienkonformität mittels einfacher Auslegung im nationalen Recht herstellen, so ist der Richter jedenfalls nach deutschem Rechtsverständnis befugt, sein bisheriges Auslegungsergebnis zu korrigieren und den geänderten rechtlichen und tatsächlichen Verhältnissen Rechnung zu tragen. Dies gilt grundsätzlich auch für den Zeitraum vor Ablauf der Umsetzungsfrist. Der Senat hält es indessen beim gegenwärtigen Stand der Rechtsentwicklung für geboten, die Richtlinie 97 / 55 / EG auch schon vor Ablauf der 30monatigen Umsetzungsfrist zu berücksichtigen. Die Generalklausel des § 1 UWG ermöglicht eine Änderung des deutschen (Richter-)Rechts. Sie verweist für die Beurteilung wettbewerblicher Verhaltensweisen auf den Wertmaßstab der guten Sitten. Damit eröffnet sie die Möglichkeit zu richterlicher Rechtsfortbildung und zu einer Rechtsanwen917 918 919 920 921
Everling I, S. 383. Steinhauer, S. 185. Vgl. Ress, S. 493; Steindorf II, S. 455. Vgl. Bach, S. 1112; Jarass I, S. 221. Hakenberg, S. 1512.
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dung, die der Entwicklung des Wirtschaftslebens und einem Wandel der Verkehrsauffassung sowie auch langfristigen Änderungen der Auffassung der Allgemeinheit Rechnung tragen kann. (…) Im Zuge der Harmonisierung des Lauterkeitsrechts ermöglicht die Generalklausel des § 1 UWG nunmehr eine frühzeitige Anpassung an die europäische Rechtsentwicklung anstelle einer Festschreibung bisheriger (abweichender) Rechtsprechungsgrundsätze, die ohnehin spätestens nach Ablauf der Umsetzungsfrist keinen Bestand mehr haben. Dies entspricht der Rechtsprechung des EuGH, wonach die Mitgliedstaaten Maßnahmen zu unterlassen haben, die von der Zielsetzung einer Richtlinie wegführen (…).“922 An dieser Entscheidung wird deutlich, daß vor Ablauf der Umsetzungsfrist zwar noch keine Pflicht, aber doch schon die Möglichkeit einer richtlinienkonformen Auslegung besteht. Diese findet allerdings im Grundgesetz ihre Grenze in der funktionellen Gewaltenteilung. Der Richter darf sich mit seiner Auslegung nicht an die Stelle des Gesetzgebers setzen. Zulässig ist aber, daß das Gericht im Rahmen des methodisch Möglichen seine Interpretation ändert. Dadurch wird die Gewaltenteilung nicht verletzt. Der BGH reflektiert dieses Problem wenn er ausführt: „Die Verpflichtung der Gerichte zur richtlinienkonformen Auslegung gilt freilich nicht bereits mit der Verabschiedung der Richtlinie. Art. 249 Abs. 3 EG räumt den Mitgliedstaaten bei der Umsetzung von Richtlinien ein Ermessen ein, das in erster Linie vom Gesetzgeber ausgeübt werden muß. Die (insoweit subsidiäre) Verpflichtung der Gerichte zur richtlinienkonformen Auslegung der innerstaatlichen Gesetze setzt grundsätzlich erst dann ein, wenn der Gesetzgeber bis zum Ablauf der Umsetzungsfrist nicht tätig geworden ist und der Inhalt der Richtlinie insgesamt oder im angewendeten Bereich eindeutig ist (EuGH, NJW 1997, 3365 [3367] Tz. 43 – Dorsch Consult; BGH NJW 1996, 3139 – DOS). Die Bedenken, eine richtlinienkonforme Auslegung der nationalen Gesetze durch die Gerichte vor Ablauf der Umsetzungsfrist greife in die Kompetenzen des Gesetzgebers ein (…), sind unbegründet, solange sich die Konformität mittels Auslegung im nationalen Recht – hier der Generalklausel des § 1 UWG – herstellen läßt und soweit dem Gesetzgeber ohnehin kein Spielraum bei der Umsetzung bleibt (…).“923
328.5 Grenzen der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung Als zweistufiges Verfahren weist die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung 428e Grenzen auf, die sich einerseits aus dem Gemeinschaftsrecht und andererseits aus dem nationalen Recht ergeben.
922 923
BGH NJW 1998, S. 2208. BGH NJW 1998, S. 2208.
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328.51 Grenzen aus den normativen Grundlagen des Gemeinschaftsrechts Eine Grenze ergibt sich nicht aus Art. 249 Abs. 3 EG. Man könnte denken, durch die Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung könnte die Pflicht zur richtlinienkonformen Gesetzgebung umgangen werden. Allerdings besteht eine Umsetzungspflicht für die Mitgliedstaaten nicht, soweit nationales Recht bereits dem Richtlinieninhalt entspricht. Das kann auch gerade wegen der richtlinienkonformen Auslegung der Fall sein. Ergibt diese also, daß nationales Recht bereits der Richtlinie entspricht, kann eine Umsetzung unterbleiben. 328.52 Grenzen aus der Systematik des Gemeinschaftsrechts Beschränkungen ergeben sich aus systematischen Zusammenhängen des Gemeinschaftsrechts wie denen der Rechtssicherheit, des Vertrauensschutzes und des Rückwirkungsverbots924. Eine Einschränkung der Pflicht zur gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung ist der Fall der Verletzung rechtlich geschützter Interessen einzelner925. Der Vertrauensschutz ist in der Rechtsprechung des Gerichtshofs seit längerem anerkannt926. Er greift, sofern eine schutzwürdige Vertrauensgrundlage besteht und der Konflikt zwischen den betroffenen Individualinteressen und den Belangen der Gemeinschaft zugunsten der ersteren zu lösen ist927. Voraussetzung ist jedoch, daß die Gemeinschaftsorgane durch ihr Handeln bestimmte Erwartungen geweckt haben928. Der Grundsatz des Vertrauensschutzes darf jedoch nicht gegen eine klare Gemeinschaftsbestimmung angeführt werden929. Ob auch durch die richtlinienkonforme Auslegung diese Voraussetzungen erfüllt sein können, ist bisher mangels konkret zu entscheidender Fälle nicht geklärt930. Einschränkungen aufgrund des Rückwirkungsverbots und der Rechtssicherheit können sich ergeben, wenn die Richtlinie noch nicht ordnungsgemäß in nationales Recht umgesetzt ist. Sobald dies aber geschehen ist, entfällt diese Grenze. Aus teleologischen Gründen beschränkte der Gerichtshof die Pflicht der nationalen Gerichte zur „harmonischen“ oder „sympathischen“ Auslegung im Hinblick auf Brechmann, S. 275; Everling I, S. 383 ff.; Jarass I, S. 221. Everling I, S. 384, 388; ders. IV, S. 160; Borchardt, S. 315; EuGH „Deuka gegen Einfuhr- und Vorratsstelle Getreide“ (Deuka I), Slg. 1975, 421; EuGH „Deuka gegen Einfuhrund Vorratsstelle Getreide“ (Deuka II), Slg. 1975, 759. 926 s. dazu die Darstellung bei: Borchardt, S. 309 ff. 927 Ebd., S. 311 f. 928 Everling I, S. 384; mit Hinweis auf EuGH „Mavridis gegen Parlament“, Slg. 1983, 1731, Rn. 21; EuGH „Chomel gegen Kommission“, Slg. 1990, II-131, Lts. 2. 929 EuGH „Hauptzollamt Hamburg-Jonas gegen Krücken“, Slg. 1988, 2213, Rn. 24. 930 s. Everling I, S. 384; der zutreffend davon ausgeht, daß die Frage abstrakt schwer zu beantworten ist. 924 925
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ein durch sie erzieltes unerwünschtes Ergebnis im vertikalen Verhältnis Staat – Bürger. In der Rechtssache „Kolpinghuis Nijmegen“931 aus dem Jahr 1986 wurde von einem Mitgliedstaat beantragt, nationales Recht im Licht einer fehlerhaft umgesetzten Richtlinie gegen eine private Partei auszulegen. Der Gerichtshof betonte, daß die Verpflichtung der nationalen Gerichte, bei der Auslegung des relevanten nationalen Rechts den Inhalt der Richtlinie zu beachten, durch die allgemeinen Rechtsgrundsätze, die Teil des Gemeinschaftsrechts bilden, vor allem durch die Regeln des Vertrauensschutzes und des Rückwirkungsverbots, beschränkt wird. Denn der EuGH hatte bereits im Urteil „Pretore di Salo gegen Unbekannt“932 entschieden, daß eine Richtlinie nicht von sich aus und unabhängig von zum Zweck ihrer Umsetzung erlassenem mitgliedstaatlichen Recht die Wirkung haben kann, die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Personen, die konträr zu den Vorschriften der Richtlinie handeln, zu begründen oder zu verschärfen933. Der Grundsatz der Rechtssicherheit führt also im Fall der strafrechtlichen Verantwortung zu einem Verbot der richtlinienkonformen Auslegung, sofern hierdurch das strafrechtliche Rückwirkungsverbot verletzt wird934. Strukturell bleibt also festzuhalten, daß der Gerichtshof hier einen Gleichlauf der Ergebnisse zwischen vertikaler Direktwirkung und gemeinschaftsrechtskonformer Auslegung schaffen möchte: beides kann nicht zu Lasten einzelner wirken. Auch im Verhältnis zwischen einzelnen Bürgern kann die Systematik des Gemeinschaftsrechts zu einer Grenze der richtlinienkonformen Auslegung führen. In der Rechtssache „Marleasing,“935 in welcher der Gerichtshof mit einer horizontalen Situation, das heißt einem Rechtsstreit von zwei Privatpersonen vor einem nationalen Gericht, konfrontiert war, handelte es sich zugleich um eine Konstellation, in der – anders als in „Kolpinghuis“ – die richtlinienkonforme Auslegung nationalen Rechts keiner Partei eine strafrechtliche Verantwortlichkeit auferlegen, wohl aber die Rechtsposition einer Partei in nachteiliger Weise beeinflussen würde. Ferner gab es – anders als etwa in den Rechtssachen „Harz“ und „Kolpinghuis“ – keine mitgliedstaatlichen Umsetzungsmaßnahmen, die im Licht der Richtlinie hätten ausgelegt werden können; sondern lediglich nationales Recht, das der Richtlinie zeitlich vorrangig und nicht dazu bestimmt war, diese umzusetzen. Der Gerichtshof statuierte, daß die Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung nationalen Rechts auch in einem rein privaten Rechtsstreit besteht und daß dies auch für nationales Recht gilt, das älter ist als die Richtlinie936.
Rs. C-80 / 86, Strafverfahren gegen Kolpinghuis Nijmegen BV, EuGH Slg. 1987, 3969. Rs. C-14 / 86, EuGH Slg. 1987, 2545. 933 Rn. 13 in „Kolpinghuis Nijmegen“. 934 Brechmann, S. 276; Dendrinos, S. 208, 300; Zuleeg I, S. 764 f. 935 Rs. C-106 / 89, Marleasing SA gegen La Comercial lnternacionale de Alimentacion SA, EuGH Slg. 1990, I-4135; bestätigt u. a. in den nachfolgenden Urteilen C-373 / 90 Strafverfahren gegen X, Slg. 1992, I-131; C-334 / 92 Wagner gegen Miret, Slg. 1993, I-6911 (= EuZW 1994, S. 182); und C-271 / 91 Marshall (Nr. 2), Slg. 1993, I-4367. 931 932
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Dabei spielen Vertrauensschutzgesichtspunkte eine Rolle. Denn der Bürger konnte hier darauf vertrauen, daß die Richtlinie vor ihrer Umsetzung keine Anwendung im Weg richtlinienkonformer Auslegung finden durfte937. Aber auch der andere Bürger muß darauf vertrauen können, daß die Richtlinie entsprechend der Verpflichtung nach Art. 249 Abs. 3 EG Beachtung findet, sofern die konforme Auslegung möglich ist. Beide Interessen müssen als gleichwertig erachtet werden, so daß kein vorrangiger Vertrauensschutz besteht938. Dies steht auch im Einklang mit der Rechtsprechung zu einer weiteren Form der „indirekten Wirkung“ von Gemeinschaftsrecht zwischen Privaten, nämlich der Möglichkeit, sich in einem privaten Rechtsstreit auf die vertikale Direktwirkung einer Bestimmung einer Richtlinie zu berufen939. Ebenso stimmt dieses Ergebnis mit der frühzeitigen Anerkennung der Möglichkeit, daß durch die richtlinienkonforme Auslegung auch Private belastet werden können, in der Rechtssache „Harz“ überein940. Allerdings ist diese Belastung nicht grenzenlos zulässig. Auch hier ist wieder eine vergleichende Betrachtung mit der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien heranzuziehen. Während die vertikale Direktwirkung auch von Richtlinien relativ unproblematisch ist, weil der Staat sich nicht auf sein eigenes Fehlverhalten berufen kann und dem Gemeinschaftsrecht Wirksamkeit zukommen muß, ist der Konflikt im Bereich der unmittelbaren Anwendbarkeit von EG-Recht zwischen Privaten anders gelagert. Denn bereits im Rahmen der vertikalen Direktwirkung ist anerkannt, daß diese nicht zu Lasten einzelner wirken soll. Bei der horizontalen Situation handelt es sich aber um einen Rechtsstreit, an dem nur Private beteiligt sind. Eine Partei würde also im Falle von Direktwirkung der EG-Norm benachteiligt. Diese Konstellation entschied der Gerichtshof im Grundsatz unzweideutig in der Rechtssache „Dori“941. Es besteht hiernach keine horizontale Direktwirkung von Richtlinienvorschriften942. Argumentativ stützte der EuGH dieses Ergebnis auf die s. Rn. 8 des Urteils und Schlußantrag von GA Van Gerven, Rn. 7, 8. So Müller-Graff, S. 21 f. 938 So auch Brechmann, S. 279; Frisch, S. 107; Rüffler, S. 130. 939 s. EuGH-Urteile in „CIA Security International SA gegen Signalson SA und Securitel SPRL“, Slg. 1996, I-2201; C-129 / 94, „Strafverfahren gegen Rafael Ruiz Bernáldez“, Slg. 199, I-1829; auch: C-441 / 93, „Panagis Pafitis gegen Trapeza Kentrikis Ellados AE“, 1996, I-1347; sowie jüngst Rs. C-443 / 98, „Unilever Italia gegen Central Foods“, EuZW 2001, 153. 940 Dort war allerdings bereits eine Umsetzung in nationales Recht erfolgt. Wie in „Von Colson und Kamann“ ging es um die alte – nicht richtlinienkonforme – Fassung des § 611a II BGB. Potentieller Arbeitgeber war jedoch nicht der Staat, sondern ein privates Unternehmen. Bereits nach der alten Fassung des § 611a II BGB war aber das Vertrauen der Firma, bei einer Diskriminierung gar nicht sanktioniert zu werden, ausgeschlossen. Somit konnte eine weitergehende richtlinienkonforme Auslegung nationalen Rechts im Hinblick auf eine effektivere Sanktion erfolgen. 941 Rs. C-91 / 92 Paola Faccini Dori gegen Recreb Srl, Rn. 20 ff. 942 Eine horizontale Direktwirkung hat der Gerichtshof auch für Primärrecht nur eingeschränkt anerkannt. Eine solche entfalten nur Diskriminierungsverbote (Art. 12, 39, 43, 141 EG) (vgl. Urteile „Bosman“, „Angonese“; „Defrenne“), das Wettbewerbsrecht (Art. 81, 82 936 937
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Überlegung, daß zum einen der Bürger nicht Adressat der Umsetzungsverpflichtung ist, zum anderen eine Direktwirkung nicht zu Lasten des Bürgers gehen darf. Daneben würde eine Ausdehnung der Direktwirkung auf den Bereich der Beziehungen zwischen den Bürgern bedeuten, daß der Gemeinschaft im Ergebnis die Befugnis zuerkannt würde, mit unmittelbarer Wirkung zu Lasten der Bürger durch Richtlinien Verpflichtungen anzuordnen, obwohl sie dies nur in den Bereichen dürfe, in denen sie eine Befugnis zum Erlaß von Verordnungen hat. Im übrigen weist der Gerichtshof darauf hin, daß der Bürger durch die Pflicht zur gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung nationalen Rechts und durch die Schadensersatzpflicht der Mitgliedstaaten hinreichend geschützt sei943. Wie bei der unmittelbaren Anwendbarkeit von Richtlinien in privaten Rechtsstreitigkeiten ist der Grundsatz also klar, die Grenze im Einzelfall aber schwer zu ziehen. 1998 war der Gerichtshof mit der Rechtssache „Bellone“944 befaßt. In dem Ausgangsverfahren ging es um eine Frage nach der Auslegung der Richtlinie 86 / 653 / EWG des Rates vom 18. Dezember 1986 zur Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend die selbständigen Handelsvertreter. Frau Bellone hatte mit Yokohama einen Handelsvertretervertrag abgeschlossen, war aber nicht, was nach italienischem Recht erforderlich war, in das entsprechende Register eingetragen gewesen. Nach der italienischen Rechtsprechung sind derartige Verträge nichtig; mit der Folge, daß die betreffende Person auch nicht auf Zahlung der Provisionen und Entschädigungen bezüglich der von ihr ausgeübten Tätigkeit klagen kann. Nach Ansicht von Frau Bellone und des Berufungsgerichts bestand ein gemeinschaftsrechtliches Problem, da die genannte Richtlinie die Einführung eines solchen Registers nicht vorsieht und daher diese den nationalen Vorschriften entgegenstehen könnte. Zunächst legte der EuGH die Richtlinie aus, vor allem im Hinblick auf Art. 43 EG, der in den Begründungserwägungen genannt war. Sodann kam er zu dem Ergebnis, daß das nationale Recht der Richtlinie und ihren Zielen EG), Art. 28 EG (vgl. Urteile „Spanische Erdbeeren“, „Vlaamse Reisbureaus“) wohl nicht, Art. 49 EG (Urteil „Walrave“) ggf. bedingt / beschränkt. Im Sekundärrecht gilt sie jedenfalls für Verordnungen. 943 Generalanwalt Lenz schlug übrigens vor, es für die Vergangenheit bei dem Ergebnis zu belassen, für die Zukunft aber horizontale Direktwirkung von Normen in Richtlinien (wenn die van Gend & Loos-Kriterien erfüllt sind) im Weg der Rechtsfortbildung unter der Geltung des EG-Vertrages im Interesse einer einheitlichen und effizienten Anwendung des Gemeinschaftsrechts notwendig anzuerkennen, um die berechtigten Erwartungen zu erfüllen, die die Unionsbürger nach der Verwirklichung des Binnenmarktes und dem Inkrafttreten des Vertrages über die Europäische Union hegen. Nicht zuletzt aus diesen Gründen ist kürzlich eine neue Debatte aufgelebt, ob man nicht das Konzept der unmittelbaren Wirkung bzw. Direktwirkung über Bord werfen und Gemeinschaftsrecht einfach als höherrangiges innerstaatliches Recht qualifizieren solle, eine vor allem politisch äußerst brisante These; s. dazu S. Prechal, S. 1047. Zu der nachfolgenden Diskussion siehe das Konferenzpapier der Konferenz „Direct Effect – Rethinking a classic of EC legal doctrine“ vom 01. 06. 2001 in Amsterdam. 944 Rs. C-215 / 97 Barbara Bellone gegen Yokohama SpA, Slg. 1998, I-2191.
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widerspricht, und daher nicht anwendbar ist, das heißt außer Betracht bleiben mußte. Das kommt einer horizontalen Direktwirkung bereits nahe. Dies wurde jüngst erneut in der Rechtssache „Unilever“945 deutlich. In seinem Urteil entschied der EuGH, daß das nationale Gericht in einem Zivilrechtsstreit zwischen einzelnen über vertragliche Rechte und Pflichten die Anwendung einer nationalen technischen Vorschrift ablehnen muß, die während einer Aussetzungsfrist nach Art. 9 Richtlinie 83 / 189 / EWG des Rates vom 28. 3. 1983 (…) erlassen worden ist. Mit dieser Entscheidung hat der EuGH erstmals die Berufung auf eine vom nationalen Gesetzgeber mißachtete Richtlinie in einem Rechtsstreit zugelassen, der allein die Erfüllung vertraglicher Verpflichtungen unter Privaten betraf946. Zugleich macht die Entscheidung aber deutlich, daß die gefestigte Rechtsprechung zum grundsätzlichen Ausschluß der horizontalen Direktwirkung von Richtlinien nicht aufgegeben werden soll947. Die Grenzziehung für die richtlinienkonforme Auslegung ist also in vertikalen Situationen wie im Fall der vertikalen Direktwirkung recht eindeutig, in horizontalen Konstellationen wie im Fall der horizontalen Direktwirkung dagegen äußerst schwierig. 328.53 Grenzen aus dem nationalen Recht In der Literatur wird zum Teil eine Begrenzung der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung durch die Methodik des nationalen Rechts abgelehnt. Wenn nötig, sei die Konformauslegung auch contra legem (des nationalen Gesetzes) durchzuführen948. Zu Recht wird aber dagegen eingewandt949, daß eine solche Auffassung an der teleologischen Auslegung von Art. 249 Abs. 3 EG scheitere: „Sofern nämlich eine richtlinienkonforme Auslegung auch gegen den Wortlaut und Sinn der nationalen Gesetze verpflichtend ist, besteht keine Veranlassung mehr, zur Erreichung des jeweiligen Richtlinienziels eine Umsetzung in positives nationales Recht vorzunehmen. Gerade diese wird durch Art. 249 Abs. 3 EG bezweckt.“950 Auch die Stellungnahme des EuGH zur Frage einer horizontalen Drittwirkung von Richtlinien spricht eindeutig dagegen. Im Urteil in der Rechtssache „Strafverfahren gegen Luciano Arcaro“951 läßt sich beobachten, daß der Gerichtshof in einem Fall, in dem das End945 EuGH, Urt. v. 26. 9. 2000, Rs. C-443 / 98 Unilever Italia SpA gegen Central Food SpA, EuZW 2001, S. 153 ff. 946 s. aber die Möglichkeit der Berufung auf die vertikale Direktwirkung einer Richtlinie in einem privaten Rechtsstreit in „CIA“, „Ruiz Bernáldez“ und „Pafitis“, oben, Fn. 566. 947 s. Anmerkung von Gundel, S. 143 ff. 948 Vgl. Grundmann I, S. 419 ff.; ders. II, S. 282; Dendrinos, S. 288. 949 S. 91. 950 Ebd. 951 Rs. C-168 / 95, EuGH Slg. 1996, I-4705, Rn. 41, 42.
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ergebnis als Form von horizontaler Direktwirkung angesehen werden kann, es nicht einfach dem mitgliedstaatlichen Gericht überläßt, zu entscheiden, wie weit es mit der Auslegung nationalen Rechts im Licht der Richtlinie gehen möchte. Hier zeigt sich eine Auslegungsgrenze. Es handelt sich aber nicht um ein Gleichsetzen der Wortlautgrenze mit der Konkretisierungsleistung der grammatischen Auslegung. Vielmehr ist dies offenbar eine Grenze, die durch die potentielle Auswirkung der Interpretation gezogen wird. In seinem Schlußantrag zur Arcaro-Entscheidung führt der Generalanwalt aus, daß die fragliche Auslegungsmethode nicht in einer Art und Weise angewendet werden könne, durch die es zu einer eigentlichen Neuschreibung der nationalen Vorschrift kommen würde. Das wäre nämlich gleichbedeutend mit der Einführung einer Direktwirkung von Richtlinienvorschriften ‚durch die Hintertür‘. Eine Grenze findet die Methode der richtlinienkonformen Auslegung, wie die verfassungskonforme Auslegung im deutschen Recht, im umfassend ausgelegten Wortlaut des innerstaatlichen Gesetzes. Hier sind noch einmal das „Von Colson und Kamann“-Urteil und das „Harz“-Urteil zu erwähnen: Der nationale Richter hat vor allem das nationale Recht, das zur Umsetzung der jeweiligen Richtlinie bestimmt ist, in Übereinstimmung mit den aus dem Gemeinschaftsrecht erwachsenden Verpflichtungen zu interpretieren und anzuwenden, und zwar unter voller Ausschöpfung des Beurteilungsspielraums, den ihm das nationale Recht einräumt952. Ebenso deutlich wird dies im Urteil in der Rechtssache „Wagner Miret gegen Fondo de Garantía Salarial“953. Zwar habe jedes nationale Gericht bei der Behandlung des nationalen Rechts davon auszugehen, daß der Staat die Absicht hatte, den sich aus der Richtlinie ergebenden Verpflichtungen voll nachzukommen. „Wie der Gerichtshof (Slg. I 1990, 4135 Tz. 8 – Marleasing) entschieden hat, muß das nationale Gericht, soweit es bei der Anwendung des nationalen Rechts – gleich, ob es sich um vor oder nach der Richtlinie erlassene Vorschriften handelt – dieses Recht auszulegen hat, seine Auslegung soweit wie möglich am Wortlaut und Zweck der Richtlinie ausrichten, um das mit dieser verfolgte Ziel zu erreichen und auf diese Weise Art. 249 Abs. 3 EG nachzukommen. Der Grundsatz der richtlinienkonformen Auslegung gilt für ein nationales Gericht besonders dann, wenn ein Mitgliedstaat wie im vorliegenden Fall der Ansicht war, daß die bereits geltenden Vorschriften seines nationalen Rechts den Anforderungen der betreffenden Richtlinie genügen. Dem Vorlagebeschluß scheint sich entnehmen zu lassen, daß die nationalen Vorschriften nicht in einem der Richtlinie (…) konformen Sinn ausgelegt werden und daher nicht sicherstellen können, daß den leitenden Angestellten die in der Richtlinie vorgesehenen Garantien zugute kommen. Für diesen Fall ergibt sich aus dem Urteil Francovich, daß der betreffende Mitgliedstaat verpflichtet ist, leitenden Angestellten die Schäden zu ersetzen, die ihnen dadurch entstanden sind, daß die Richtlinie 80 / 987 / EWG in bezug auf sie nicht durchgeführt worden ist.“
952 953
Rn. 28. EuZW 1994, 182, Rn. 20, 21, 22 m. Anm. Böhmer.
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Hierzu ist anzumerken, daß der Gerichtshof bereits in der Sache C-157 / 86 „Murphy gegen An Bord Telecom Eireann“954 festgestellt hatte, es sei Sache des nationalen Gerichts, das innerstaatliche Gesetz unter voller Ausschöpfung des Beurteilungsspielraums, den ihm das nationale Recht einräumt, in Übereinstimmung mit den Anforderungen des Gemeinschaftsrechts auszulegen und anzuwenden; soweit eine solche gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung nicht möglich ist, darf es entgegenstehende innerstaatliche Vorschriften nicht anwenden. In einem solchen Fall – aber auch erst dann – greift der gemeinschaftsrechtliche Staatshaftungsanspruch, wie das Urteil in „Wagner Miret“ zeigt. Die richtlinienkonforme Auslegung wird also durch die nationalen Auslegungsregeln begrenzt955. Die Entscheidung darüber, was diese Regeln zulassen, liegt allein in der Kompetenz der nationalen Gerichte bzw. Rechtsanwender. Diese Begrenzung ist deshalb erforderlich, weil andernfalls die der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien gesetzten Grenzen fast beliebig unterlaufen werden könnten, läßt sich doch mit Hilfe der richtlinienkonformen Interpretation eine ähnliche Wirkung wie mit der Figur der unmittelbaren Wirkung erzielen. Es gilt also auch für die richtlinienkonforme Auslegung unter anderem die „Wortlautgrenze“. Die richtlinienkonforme Auslegung wirkt folglich nicht grenzenlos; sondern gerade dann, wenn sie sich zu Lasten eines einzelnen auswirkt, muß sie rechtsstaatlichen Anforderungen genügen956. Mit Hilfe der richtlinienkonformen Interpretation können daher im nationalen Recht keine neuen Institute geschaffen werden. Desgleichen ist es ausgeschlossen, daß auf dem Weg über richtlinienkonforme Interpretation eine strafrechtliche Verantwortlichkeit begründet oder auch nur erweitert wird957. 328.6 Beispiele aus der Praxis deutscher Gerichte 428f
Die vom EuGH entwickelte Methode der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung hat bereits einige Bundesgerichte beschäftigt. Während sie vor dem Bundesverfassungsgericht, dem Bundessozialgericht und dem Bundesfinanzhof noch kaum eine Rolle gespielt hat, waren Bundesverwaltungsgericht, Bundesgerichtshof (Zivilsachen) und das Bundesarbeitsgericht bei verschiedenen Gelegenheiten mit diesem Problem konfrontiert. 328.61 Die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung in der Praxis des Bundesverwaltungsgerichts Bereits im Jahr 1992, also noch vor der endgültigen Ratifikation und dem folgenden Inkrafttreten des Vertrages von Maastricht, war das Bundesverwaltungsgericht 954 955 956 957
Slg. 1988, 673, Rn. 11. Jarass I, S. 217. Langenfeld, S. 965. Jarass I, S. 218.
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mit der Methode befaßt. Während in dem ersten Verfahren958 das Bedürfnis von gemeinschaftsrechtskonformer Auslegung des § 9 UVPG (angeglichenes Recht) offen bleiben konnte, wandte das Gericht die Methode in dem „Diätwurst“-Urteil959 erstmalig an. Die Klägerin in dem Rechtsstreit vertrieb sog. „Diät-Kalbsleberwurst“, „DiätTeewurst“ und „Diät-Würstchen“. Diese Erzeugnisse enthielten weniger Fett als vergleichbare normale Wurstarten. In einem Schreiben an die obersten Gesundheitsbehörden der Bundesländer erklärte der Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit die streitbefangenen Erzeugnisse der Klägerin mit den erwähnten Bezeichnungen für nicht verkehrsfähig, da sie weder als diätetisches Lebensmittel noch als Wurstarten anzusehen seien. Das Bezirksamt des beklagten Landes trat daraufhin an verschiedene Kaufhausunternehmen heran und bat diese unter wörtlicher Wiedergabe der ministeriellen Erklärung, „dringend dieses Schreiben zu beachten“. Die auf Widerruf dieser Erklärung gerichtete Klage wurde vom Verwaltungsgericht abgewiesen. Das Oberverwaltungsgericht gab der Klage statt. Die Revision des beklagten Landes führte zur Aufhebung und Zurückverweisung der Sache durch das Urteil des erkennenden Senats vom 12. 12. 1985. Hinsichtlich der Bezeichnung der streitbefangenen Erzeugnisse als Diät-Lebensmittel wurde im Revisionsurteil zwar eine Irreführung verneint; eine Verletzung von Bundesrecht durch das Berufungsurteil aber insoweit bejaht, als nicht hinreichend geklärt war, ob die Bezeichnung der umstrittenen Diät-Erzeugnisse als Wurst bzw. Würstchen eine Irreführung des Verbrauchers hervorrufe und damit gegen § 17 Abs. 1 Nr. 5 Satz 1 i.V. m. Satz 2 lit. b LMBG verstoße. Das Bundesverwaltungsgericht billigte der Klägerin einen Anspruch auf Widerruf der Erklärung des Bezirksamtes zu, da nach nunmehr gebotener gemeinschaftsrechtskonformer Auslegung des § 17 Abs. 1 Nr. 5 Satz 1 und Satz 2 lit. b LMBG von einer Irreführung bei dem Vertrieb der streitbefangenen Erzeugnisse nicht ausgegangen werden könne. Der Begriff der Irreführung sei nach ständiger Rechtsprechung dahin auszulegen, daß die Verwendung einer rechtlich zulässigen Bezeichnung für sich genommen den Tatbestand des § 17 Abs. 1 Nr. 5 Satz 1 und Satz 2 lit. b LMBG nicht erfülle. Verwendet werden dürften insbesondere auch die Bezeichnungen, deren Zulässigkeit sich aus dem Gemeinschaftsrecht ergebe960. Die Zulässigkeit der Bezeichnung für die streitbefangenen Erzeugnisse der Klägerin folge aus der Richtlinie des Rates 79 / 112 / EWG – Etikettierungsrichtlinie. Die nationalen Vorschriften über das Verbot der Irreführung sind nach den Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts „im Lichte des Gemeinschaftsrechts“ auszulegen: „Ihre Handhabung kann nicht den Mitgliedstaaten mit ihren unterschiedlichen Vorstellungen überlassen werden. Das folgt unmittelbar aus dem ersten Erwägungsgrund zur BVerwG, Beschl. v. 30. 10. 1992 – 4 A 4 / 92, NVwZ 1993, 565 ff. BVerwGE 89, 320. 960 EuGH Urt. v. 14. 07. 1988, Rs. C-298 / 87, Slg. 1988, 4489 („Joghurt-Fall“); Urt. v. 12. 12. 1990, Rs. C-241 / 89, Slg. 1990, I-4695 („synthetischer Süßstoff“). 958 959
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Richtlinie 79 / 112 / EWG. Ziel der Etikettierungsrichtlinie ist es gerade, die Unterschiede, die gegenwärtig zwischen den Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Etikettierung von Lebensmitteln bestehen und die zu einer Behinderung des freien Warenverkehrs führen und eine ungleiche Wettbewerbslage hervorrufen können, zu beseitigen. Es ist dabei durchaus sachgerecht, für die Auslegung die Gesichtspunkte heranzuziehen, die der Europäische Gerichtshof bezüglich des Verbraucherschutzes und der Verwechslungsgefahr zum Begriff der Maßnahmen gleicher Wirkung wie mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen im Sinne des Art. 30 EWG-Vertrag (jetzt Art. 28 EG) entwickelt hat.“961 Das Bundesverwaltungsgericht geht davon aus, daß der Verbraucherschutz in Anwendung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit nicht durch ein Verkehrsverbot sicherzustellen sei, wenn eine Irreführung im Sinne des § 17 Abs. 1 Nr. 5 Satz 1 und Satz 2 lit. b LMBG nicht vorliege: „Eine nichtharmonisierte einzelstaatliche Vorschrift kann hier nicht in Betracht kommen, da sie nicht durch den Schutz vor Täuschung gerechtfertigt ist. Anderenfalls würde die nationale Regelung bewirken, daß die Regelung in Art. 5 der Etikettierungsrichtlinie selbst beeinträchtigt wird und über die Anforderungen hinausgeht, die in Art. 2 der Richtlinie zur Verhinderung der Irreführung selbst aufgestellt sind. Da die Bezeichnung der streitbefangenen Erzeugnisse durch das Gemeinschaftsrecht zugelassen ist, kommt im vorliegenden Fall eine Irreführung im Sinne des deutschen Lebensmittelrechts nicht mehr in Betracht.“ An dieser Entscheidung sei der Senat auch nicht durch eine in entsprechender Anwendung des § 144 Abs. 6 VwGO eingetretene Selbstbindung an das im ersten Revisionsverfahren ergangene zurückverweisende Urteil vom 12. 12. 1985 gehindert: „In Fortführung seiner mit Urteil vom 29. 11. 1990 – BVerwG 3 C 77.87 – (BVerwGE 87, 154 = Buchholz 451.90 Nr. 97) begründeten Rechtsprechung geht der Senat auch in diesem Fall davon aus, daß das Bundesverwaltungsgericht auch dann an seine in derselben Rechtssache in einem früheren Revisionsverfahren vertretene Rechtsauffassung nicht gebunden ist, wenn aufgrund der Auslegung einer gemeinschaftsrechtlichen Norm durch den Europäischen Gerichtshof eine neue Rechtslage eingetreten ist. Auch für diesen Fall gilt die Freistellung von der Selbstbindung, da der für die verbindliche Klärung europarechtlicher Fragen zuständige Europäische Gerichtshof die für die Zukunft maßgebende Richtschnur aufgestellt hat. Durch die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 14. Juli 1988 – Rs. 298 / 87 – (Slg. 1988, 4489) und vom 12. Dezember 1990 – Rs. C-241 / 98 – (Slg. 1990, I-4695) hat die Etikettierungsrichtlinie (79 / 112 / EWG) in den hier interessierenden Fragen ihre verbindliche Auslegung gefunden. Erst durch diese Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs, die nach dem zurückverweisenden Urteil des Senats ergangen sind, ist eindeutig und endgültig klargestellt worden, wie Art. 5 und 15 der Etikettierungsrichtlinie auszulegen sind.“
961 Das BVerwG verweist an dieser Stelle auf zahlreiche Entscheidungen des Gerichtshofs, s. S. 324 des Urteils. Es führt im folgenden die Rechtsprechung aus und prüft die Voraussetzungen der Zulässigkeit aus der Richtlinie im vorliegenden Fall.
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Es ist festzuhalten, daß das Bundesverwaltungsgericht hier eine Konformität des nationalen Rechts mit Primär- und Sekundärrecht bzw. der diesbezüglichen Rechtsprechung des EuGH herbeiführte. Dabei ging es um eine innerstaatliche Regelung, die nicht explizite Transformationsgesetzgebung darstellt. In einem Rechtsstreit aus dem Jahr 1997962 ging es um die Frage, ob eine „Nagelund Hautschutzcreme“ bzw. ein „Nagel- und Hautschutzöl“ wegen eines darin enthaltenen Wirkstoffs nicht zugelassene zulassungspflichtige Arzneimittel oder kosmetische Mittel sind und ob für die Abgrenzung § 4 LMBG oder allein § 2 AMG herangezogen werden könne. Der EuGH hatte für den Bereich des Gemeinschaftsrechts allerdings den Vorrang der arzneimittelrechtlichen Bestimmungen festgelegt. In einer Reihe von Entscheidungen hat er ausgesprochen, daß allein die Richtlinie des Rates vom Januar 1965 zur Angleichung der Rechtsund Verwaltungsvorschriften über Arzneispezialitäten (65 / 65 / EWG) mit den nachfolgenden Änderungsrichtlinien und nicht die Richtlinie 76 / 768 / EWG zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über kosmetische Mittel mit Änderungsrichtlinien zur Anwendung kommt, wenn ein Produkt die begrifflichen Voraussetzungen eines Arzneimittels im Sinn der Arzneimittelrichtlinie erfüllt963. Das Bundesverwaltungsgericht stößt hier an eine Grenze der Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung. Es gehe nicht an, diese zur Auslegung gemeinschaftsrechtlicher Richtlinien getroffenen Aussagen ohne weiteres in innerstaatliches Recht zu übertragen. Die Pflicht, den Richtlinien soweit als möglich durch eine konforme Auslegung des innerstaatlichen Rechts Rechnung zu tragen, rechtfertige jedenfalls keine Auslegung der nationalen Gesetze, die im Widerspruch zu deren Sinngehalt stehe. So sei die Lage aber im vorliegenden Fall, denn der deutsche Gesetzgeber habe die Entscheidung getroffen, daß die Abgrenzung zwischen Arzneimitteln und kosmetischen Mitteln nach Maßgabe des § 4 Abs. 1 LMBG erfolgen solle. Nach dem Wortlaut des § 4 Abs. 1 LMBG schließe eine Bestimmung zur Krankheitsvorbeugung die Einordnung als Kosmetikum nicht aus. Dies stehe ebenso wenig mit der Arzneimittel-Richtlinie in der geschilderten Auslegung des Europäischen Gerichtshofs im Einklang wie die Regelung, daß nur eine überwiegende Bestimmung zur Heilung von Krankheiten die Zuordnung zu den kosmetischen Mitteln ausschließe. Angesichts der Eindeutigkeit der innerstaatlichen gesetzlichen Regelung bleibe für eine gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung kein Raum.
BVerwGE 106, 90 – 99. Urt. v. 16. 04. 1991, Rs. C-112 / 89, Slg. 1991, 1703; Urt. v. 21. 03. 1991, Rs. C-60 / 89, Slg. 1991, 1547 und vom selben Tag Rs. C-369 / 88, Slg. 1991, 1487. 962 963
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328.62 Die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung in der Praxis des Bundesarbeitsgerichts Besonders auf dem Feld der gemeinschaftsrechtlichen Diskriminierungsverbote war das Bundesarbeitsgericht häufig mit der Auslegung nationalen Rechts im Hinblick auf Gemeinschaftsrichtlinien befaßt. In einem 1992 entschiedenen Rechtsstreit964 ging es um die Zulässigkeit der Frage des Arbeitgebers nach einer Schwangerschaft einer potentiellen Arbeitnehmerin. Das Bundesarbeitsgericht gibt hier seine entgegenstehende Rechtsprechung (u. a. Urt. v. 20. 02. 1986) im Anschluß an die neuere Rechtsprechung des EuGH im Urteil vom 08. November 1990 (Rs. C-177 / 88 Dekker, EuGHE 1990, 3941 – 3977) auf. Dieser hatte dort festgestellt, daß die Frage nach einer Schwangerschaft im Hinblick auf den Gleichbehandlungsgrundsatz nach Art. 2 und 3 der Richtlinie 76 / 207 / EWG unzulässig sei. Das BAG hatte bis dahin vertreten, eine unzulässige Benachteiligung wegen des Geschlechts sei lediglich dann anzunehmen, „wenn sich männliche und weibliche Arbeitnehmer gleichermaßen um denselben Arbeitsplatz bewürben.“ Diese sog. „gespaltene Lösung“ wurde damals vom Senat im Hinblick auf die Neuregelung des § 611a BGB, die ihrerseits das deutsche Arbeitsrecht an die Richtlinie 76 / 207 / EWG angepaßt hat, gerechtfertigt. Sodann führt der Senat nunmehr aus: „Bei der Anwendung des nationalen Rechts – hier des § 611a BGB – müssen nach dem Grundsatz der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung (…) die vom EuGH der Richtlinie 76 / 207 EWG entnommenen Rechtssätze befolgt werden (…). Nach dem „Dekker“-Urteil darf der Arbeitgeber eine Bewerberin nicht wegen ihrer Schwangerschaft abweisen (…). Aufgrund der EuGH-Entscheidung – (…) – sieht sich der Senat (…) gehindert, an der sog. gespaltenen Lösung festzuhalten, zumal die nationalen Gerichte die EWG-Richtlinien so auszulegen haben, daß sie i. S. ihrer Zielsetzung tatsächlich möglichst wirksam sind (…). Da die auf der Richtlinie 76 / 207 EWG beruhende Vorschrift des § 611a BGB in der Interpretation des Senats im Urteil vom 20. Februar 1986 sachlich in allen Fällen wirkungslos bleibt, in denen ein männlicher Mitbewerber nicht vorhanden ist oder die Frau – selbst wenn letzteres der Fall wäre – dies jedenfalls nur selten bzw. unter erschwerten Bedingungen erfährt, gibt der Senat in Befolgung einer gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung die gespaltene Lösung zugunsten einer generalisierenden Verhinderung der Diskriminierung schwangerer Frauen auf, ohne daß noch auf die vor Verkündung des EuGH-Urteils an der Senatsrechtsprechung geäußerte Kritik eingegangen zu werden braucht. Dem läßt sich nach Auffassung des Senats nicht mit Erfolg entgegenhalten, die Richtlinie 76 / 207 EWG, zu deren Durchführung § 611a BGB ins Bürgerliche Gesetzbuch eingeführt wurde, führe selbst nicht zu der Verpflichtung, ein Arbeitsverhältnis einzugehen (so EuGH vom 10. April 1984 – Rechtssache 79 / 83 – AP Nr. 2 zu § 611a BGB). Einer schwangeren Bewerberin, die auf Befragen bei der 964
BAGE 87, 252 Urt. v. 15. 10. 1992.
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Einstellung wahrheitswidrig ihren Zustand verschweige, werde aber ein Arbeitsplatz verschafft, wenn der Arbeitgeber zu einer Anfechtung nicht berechtigt sei (…). Dabei wird nicht berücksichtigt, daß es gerade Ziel der Richtlinie (Art. 1) ist, den Grundsatz der Gleichbehandlung von Männern und Frauen insbesondere hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung zu erleichtern, was in Art. 3 dahin konkretisiert wird, daß bei Bedingungen des Zugangs zu den Beschäftigungen oder Arbeitsplätzen keine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts erfolgt. Ließe man daher, nachdem der Zugang mit Hilfe des Diskriminierungsverbots erleichtert wurde, anschließend wieder eine Anfechtung wegen arglistiger Täuschung zu, würde der Sinn der Richtlinie in ihr Gegenteil verkehrt. Eine derartige Handhabung der Richtlinie stünde, wenn sie nicht schon durch Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie unterbunden wird (…), jedenfalls im Widerspruch zu Ziff. 23 des „Dekker“-Urteils, wonach die Richtlinie im Sinne ihrer Zielsetzung möglichst wirksam auszulegen ist.“ Auch wenn dies in dem zu entscheidenden Fall nicht vorlag, führt der Senat aus, daß er dazu neigt, (zukünftig) eine Anfechtung durchgreifen zu lassen, wenn das eingegangene Vertragsverhältnis überhaupt nicht realisiert werden kann, d. h. wenn die Bewerberin für die angestrebte Arbeit objektiv nicht geeignet ist. Auch der EuGH habe in Ziff. 14 des „Dekker“-Urteils angemerkt, das Diskriminierungsverbot gelte für den Arbeitgeber nur hinsichtlich einer von ihm „für geeignet befundenen Bewerberin“. Damit ist festzuhalten, daß das BAG in diesem Urteil eine gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung innerstaatlicher Transformationsgesetzgebung wegen eines bestimmten Inhalts der Richtlinie, festgelegt aufgrund eines EuGH-Urteils965, uneingeschränkt anerkannt hat. Es ging so weit, seine eigene ständige Rechtsprechung zu korrigieren. Ebenso stellte der Senat in einer Art obiter dictum fest, daß er bezüglich seiner Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung des nationalen Rechts im Hinblick auf die größtmögliche Wirksamkeit auch Grenzen anerkennt. In einem Urteil aus dem Jahr 1995966 bekräftigte das Gericht, daß das europarechtliche Lohngleichheitsgebot für Mann und Frau durch die gemeinschaftskonform auszulegende Bestimmung des § 612 Abs. 3 BGB in innerstaatliches Recht umgesetzt worden ist. Das Gericht wies die Klage in diesem Fall jedoch ab, weil es sich nicht um gleichwertige Arbeiten handele. Das Gesetz, vor allem § 612 Abs. 3 BGB, bestimme nicht, wann Arbeiten „gleichwertig“ seien. Auch aus der durch § 612 Abs. 3 BGB umgesetzten Richtlinie 75 / 117 / EWG zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Anwendung des Grundsatzes des
965 Der EuGH hat bereits nach Art. 234 I lit. a EG die alleinige letztverbindliche Kompetenz zur Auslegung von Gemeinschaftsrecht. Daher verweist das BAG nur auf die Auslegung der Richtlinie durch den EuGH; es nimmt keine eigenständige Auslegung vor, was jedenfalls bei einem Auslegungsergebnis, welches die Effektivität des Gemeinschaftsrechts gewährleistet oder verbessert, unproblematisch ist. Ansonsten müßte das Gericht dem EuGH die Frage vorlegen. 966 BAGE 80, 343 v. 23. 8. 1995.
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gleichen Entgelts für Männer und Frauen vom 10. Februar 1975 ergäben sich keine Anhaltspunkte für eine Begriffsbestimmung der gleichwertigen Arbeit. Im Ergebnis stellt das Gericht fest, daß die Arbeit der Klägerin mit den Arbeiten der von ihr zum Vergleich herangezogenen Männer weder gleich noch gleichwertig sei: „Aus denselben Erwägungen ergibt sich, daß die Klage auch nicht nach Art. 119 Abs. 1 EGVertrag begründet ist. Hiernach ist der Grundsatz des gleichen Entgelts für Männer und Frauen bei gleicher Arbeit anzuwenden. Es ist Aufgabe der für die Beurteilung des Sachverhalts zuständigen nationalen Gerichte festzustellen, ob die Arbeiten der Frauen und die der Männer gleich oder gleichwertig sind (EuGH Urt. v. 31. Mai 1995 Rs. C-400 / 93 EuroAS 1995, 130, 132). Der Maßstab für die Gleichheit oder Gleichwertigkeit der zu vergleichenden Arbeiten ist derselbe wie bei § 612 Abs. 3 BGB, der seinerseits gemeinschaftsrechtskonform auszulegen ist (…)“. In diesem Fall bestätigt die Anwendung der Konformauslegung also das nationalstaatliche Ergebnis.
328.63 Die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung in der Praxis des Bundesgerichtshofs für Zivilsachen In einem Rechtsstreit aus dem Jahr 1983967 entschied der Bundesgerichtshof, daß die Befreiung des Alleingesellschafter-Geschäftsführers von dem Verbot, Geschäfte der Gesellschaft mit beschränkter Haftung mit sich selbst abzuschließen, im Handelsregister einzutragen sei: „Das folgt aus § 10 I 2 GmbHG. Danach ist einzutragen, ‚welche‘ – eingeschränkte oder nicht eingeschränkte – ‚Vertretungsbefugnis die Geschäftsführer haben‘. Diese Vorschrift ist durch Art. 3 des Gesetzes zur Durchführung der ersten Richtlinie des Rates der Europäischen Gemeinschaften zur Koordinierung des Gesellschaftsrechts vom 15. August 1969 in das Gesetz betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung eingefügt worden. Art. 2 Abs. 1 Buchstabe d Satz 2 der genannten Richtlinie sah vor, daß offengelegt werden muß, ‚ob die zur Vertretung der Gesellschaft befugten Personen die Gesellschaft allein oder nur gemeinschaftlich vertreten können.‘ Auf diese Angaben will das vorlegende Oberlandesgericht die Eintragungspflicht beschränken. Es hat damit sowohl die Richtlinie wie das Koordinierungsgesetz, mithin § 10 I 2 GmbHG zu eng ausgelegt. Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften hat auf Vorlage des Senats (WM 1974, 510) in seinem Urteil vom 12. November 1974 für die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung des § 10 I 2 GmbHG auf den Zweck der Richtlinie abgestellt, die Rechtssicherheit in den Beziehungen zwischen Gesellschaft und Dritten im Hinblick auf eine Intensivierung des Geschäftsverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten nach der Schaffung des Gemeinsamen Marktes zu gewährleisten (a. a. O. S. 1207). Die vom Gerichtshof zur Erreichung dieses Ziels aufgezeigten Erfordernisse haben über den damals zu entscheidenden Fall hinaus auch für die Befreiung 967
BGHZ 87, 59 ff.
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vom Verbot des Insichgeschäfts Bedeutung. Jeder, der Geschäftsverbindungen zu Gesellschaften in anderen Mitgliedstaaten zu knüpfen gedenkt, soll sich unschwer Kenntnis über die Befugnisse der mit der Vertretung betrauten Personen verschaffen können. Dazu gehört auch die Erweiterung der organschaftlichen Vertretungsmacht um die Befugnis, Insichgeschäfte abzuschließen (…). Nicht wirksam beschlossen und eingetragen werden kann, daß der Geschäftsführer befreit sein soll, wenn er alleiniger Gesellschafter ist“. 1993 war der BGH968 mit der Frage der Anwendbarkeit des Haustürwiderrufsgesetz auf Bürgschaftserklärungen befaßt. Dies hatte er bislang abgelehnt, was von der Literatur heftig kritisiert worden war. Jetzt führt das Gericht aus: „Dieser Kritik kann sich der erkennende Senat nicht verschließen. Besonders Gewicht hat dabei die Überlegung, daß das Haustürwiderrufsgesetz vom deutschen Gesetzgeber im Hinblick auf die beabsichtigte europäische Rechtsangleichung beschlossen wurde (…). Die vom Rat der EG erlassene Richtlinie vom 20. Dezember 1985 betreffend den Verbraucherschutz in Fällen von außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen enthält die – für die bisherige Rechtsprechung entscheidende – Einschränkung des Widerrufsrechts auf Verträge über eine entgeltliche Leistung nicht; vielmehr bezieht die Präambel einseitige Verpflichtungserklärungen ausdrücklich in den Regelungsbereich der Richtlinie ein (…). Um insoweit Konflikte zwischen innerstaatlichem und europäischem Recht zu vermeiden, liegt es nahe, die notwendige Übereinstimmung durch gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung des Haustürwiderrufsgesetzes sicherzustellen (…). Auch in vergleichbaren Fällen ist der BGH davon ausgegangen, daß der deutsche Gesetzgeber nicht hinter den Anforderungen einschlägiger EG-Richtlinien zurückbleiben wollte (BGHZ 63, 261, 264 / 265 = WM 1975, 8; BGHZ 87, 59, 61 = WM 1983, 446)“. Schließlich ging es in einem Urteil aus 1998969 um die richtlinienkonforme Ausfüllung innerstaatlicher Generalklauseln vor Ablauf der Umsetzungsfrist und die Zulässigkeit vergleichender Werbung in Form eines Testpreisangebots: „Nachdem inzwischen die Richtlinie 97 / 55 / EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. 10. 1997 zur Änderung der Richtlinie 844 / 50 / EWG über irreführende Werbung zwecks Einbeziehung der vergleichenden Werbung ergangen ist, ändert der Senat seine Rechtsprechung im Hinblick auf eine gebotene richtlinienkonforme Auslegung des § 1 UWG. (…) Soweit der Senat in seiner bisherigen Rechtsprechung jedoch von einem grundsätzlichen Verbot der vergleichenden Werbung ausgegangen ist, dem er einen allgemeinen Ausnahmegrundsatz gegenübergestellt hat, wird an diesem Regel-Ausnahme-Verhältnis nicht mehr festgehalten. Vergleichende Werbung ist nunmehr als grundsätzlich zulässig anzusehen, sofern die unter Art. 3 a l lit. a bis h der Richtlinie 97 / 55 / EG genannten Voraussetzungen erfüllt sind. (…) Mit der jetzt erlassenen Anpassungsrichtlinie 97 / 55 / EG steht § 1 968 969
BGH WM 1993, 683. BGH NJW 1998, 2208.
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UWG in der Ausprägung, die diese Bestimmung in der Rechtsprechung zur vergleichenden Werbung bisher erfahren hat, nicht in Einklang. Die weite Fassung dieser Generalklausel erlaubt jedoch eine richtlinienkonforme Auslegung durch die Rechtsprechung. Adressat des Umsetzungsgebots sind nicht allein die gesetzgebenden Körperschaften. Vielmehr obliegt es allen Trägern der öffentlichen Gewalt in den Mitgliedstaaten, die zur Erfüllung der Umsetzungsverpflichtung erforderlichen Maßnahmen zu treffen (Art. 10 EG). Dies gilt im Rahmen ihrer Zuständigkeit auch für die Gerichte; sie haben das nationale Recht im Lichte des Wortlauts und des Zwecks der Richtlinie auszulegen (…).“ Der BGH ändert hier seine Rechtsprechung wegen einer Gemeinschaftsvorschrift. Dabei bestand nicht, wie sonst häufig, ein Problem der Feststellung des Inhalts der Richtlinie, welches durch eine EuGH-Entscheidung und eine nachfolgende Anwendung des Urteils durch den nationalen Richter gelöst würde. Vielmehr war die Richtlinie bezüglich der streitentscheidenden Frage eindeutig. Eine Erlaubnis der vergleichenden Werbung wurde durch die „alte“ Richtlinie nicht vorgeschrieben, wäre aber für den Bundesgerichtshof anhand einer erweiternden Auslegung des nationalen Rechts sicher möglich gewesen. Nunmehr war sie ausdrücklich aufgrund einer Gemeinschaftsrichtlinie zugelassen, so daß der BGH, seine Pflicht nach Art. 10 EG anerkennend, das UWG entsprechend in Übereinstimmung mit der Richtlinie auslegte. Gerade bei der Konkretisierung innerstaatlicher Generalklauseln besteht demnach Raum und Bedürfnis für die gemeinschafts- und richtlinienkonforme Auslegung. Ferner handelt es sich bei derartigen Normen regelmäßig nicht um Transformationsgesetzgebung. Durch die Interpretation in Übereinstimmung mit Gemeinschaftsrecht verhilft der BGH diesem wegen dessen Vorrang und wegen der ausdrücklich zitierten Pflichten aus Art. 10, 249 Abs. 3 EG und der Richtlinie selbst zur Wirksamkeit im innerstaatlichen Rechtsraum. Ferner erkennt und gebraucht der Bundesgerichtshof sein Recht, dies bereits vor Ablauf der Umsetzungsfrist zu tun, wobei er ausdrücklich auf einen Konflikt mit dem Gewaltenteilungsgrundsatz hinweist. Er begründet das zum einen damit, daß diese Auslegung auch anhand der nationalen Methodik möglich ist; daß also auch ohne die Gemeinschaftsvorschrift ein derartiges Ergebnis hätte erzielt werden können, nunmehr allerdings ein konkretes Bedürfnis für eine bestimmte neue Auslegung spricht. Zum anderen argumentiert der BGH mit rechts- und staatsökonomischen Erwägungen. Die Formulierung des Gerichts läßt erkennen, daß die Rechtsprechungsänderung ihre Gründe vor allem in der Höherrangigkeit des Gemeinschaftsrechts als Rechtsquelle, insbesondere also in den normativen Vorgaben für die richtlinienkonforme Auslegung hat.
328.64 Keine richtlinienkonforme Rechtsfortbildung Im Arsenal der Sanktionsmittel für den Fall eines unterbliebenen oder nicht ordnungsgemäßen Umsetzens von Richtlinien wird seit einiger Zeit eine neue Wunderwaffe geführt, die richtlinienkonforme Rechtsfortbildung. Erstmals tauchte sie in
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höchstrichterlicher Judikatur in der viel beachteten Quelle-Entscheidung des BGH970 auf. In einem weiteren Judikat hat sich nun auch das BAG in der Rs. Schultz-Hoff971 dieses neuen Instruments bedient. Den Entscheidungen beider Gerichte war jeweils ein Urteil des EuGH972 vorausgegangen, das eine Änderung der bisherigen Rechtsprechung erforderlich machte. Beide Gerichte gehen davon aus, das neue Instrument sei in methodischer Hinsicht großzügigeren Grenzen unterworfen als eine richtlinienkonforme Auslegung. Der BGH hatte noch in seiner Vorlage an den EuGH darauf beharrt, dass eine Konformauslegung des BGB an dem eindeutigen Wortlaut scheitern müsse973. So resümieren die Karlsruher Richter: „Eine einschränkende Auslegung des § 439 Abs. 4 BGB dahin, dass die Verweisung auf die Rücktrittsvorschriften nicht auch einen Anspruch des Verkäufers auf Nutzungsvergütung begründet, widerspräche somit dem Wortlaut und dem eindeutig erklärten Willen des Gesetzgebers. Eine solche Auslegung ist unter Berücksichtigung der Bindung der Rechtsprechung an Recht und Gesetz (Art. 20 Abs. 3 GG) nicht zulässig.“ Sodann hat aber der BGH im Anschluss an das Luxemburger Urteil974 seine bisherige Rechtsprechung geändert, indem er eine teleologische Reduktion des § 439 BGB im Weg einer richtlinienkonformen Rechtsfortbildung vornahm975. Das BAG wiederum lässt offen, ob es sein Ergebnis auch mit einer Auslegung des Bundesurlaubsgesetzes rechtfertigen könnte: „Ob eine einschränkende Auslegung innerhalb der Grenzen des Wortlauts des nationalen Rechts möglich ist, kann offenbleiben. Jedenfalls ist eine richtlinienkonforme Rechtsfortbildung durch teleologische Reduktion der zeitlichen Grenzen des § 7 Abs. 3 S. 1, 3 und 4 BUrlG in Fällen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit bis zum Ende des Urlaubsjahres und / oder des jeweiligen Übertragungszeitraums geboten und vorzunehmen.“976 Denn die richtlinienkonforme Auslegung verpflichte auch zur Rechtsfortbildung jenseits der Wortlautgrenze; der EuGH habe für die Konformauslegung nur eine funktionelle Grenze gesetzt977. Eine Interpretation oder Rechtsfortbildung contra legem liege folglich nur dann vor, wenn der Richter eine eindeutige Entscheidung des Gesetzgebers auf Grund eigener rechtspolitischer Vorstellungen ändern will978. Die richtlinienkonforme Auslegung wird also durch die nationalen Auslegungsregeln begrenzt979. Die Entscheidung darüber, was diese Regeln zulassen, liegt allein BGH v. 26. 11. 2008 – VIII ZR 200 / 05, NJW 2009, 427. BAG v. 24. 3. 2009 – 9 AZR 983 / 07, NZA 2009, 538. 972 EuGH v. 17. 4. 2008 – C-404 / 06, NJW 2008, 1433 (Quelle) bzw. EuGH v. 20. 1. 2009 – C-350 / 06, NJW 2009, 495 (Schultz-Hoff). 973 BGH v. 16. 8. 2006 – VIII ZR 200 / 05, NJW 2006, 3200, Rn. 12c-15. 974 EuGH v. 17. 4. 2008 – C-404 / 06, NJW 2008, 1433 (Quelle). 975 BGH v. 26. 11. 2008 – VIII ZR 200 / 05, NJW 2009, 427. 976 BAG v. 24. 3. 2009 – 9 AZR 983 / 07, NZA 2009, 538, 544, Rn. 64. 977 BAG v. 24. 3. 2009 – 9 AZR 983 / 07, NZA 2009, 538, 544, Rn. 65. 978 BAG v. 24. 3. 2009 – 9 AZR 983 / 07, NZA 2009, 538, 544, Rn. 65. 970 971
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3 Juristische Methodik – 33 Rangordnung der Elemente
in der Zuständigkeit der nationalen Instanzen. Diese Begrenzung ist deshalb notwendig, weil andernfalls die der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien gesetzten Grenzen fast beliebig unterlaufen werden könnten, lässt sich doch mit Hilfe der richtlinienkonformen Interpretation eine ähnliche Wirkung wie mit der Figur der unmittelbaren Wirkung erzielen. Es gilt also auch für die richtlinienkonforme Auslegung die „Wortlautgrenze“. Der nationale Richter darf sich nicht an die Stelle seiner Legislative setzen.980
33 Rangordnung der Konkretisierungselemente (Elemente der Normkonstruktion) 330 Unverbindliche Kunstregeln und verbindliche methodenbezogene Normen
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Dem herkömmlichen Methodendenken gelang es nicht, eine Rangfolge oder sonst ein erkennbares gleichmäßiges Verhältnis unter den canones aufzustellen981. Dieses Scheitern war zu erwarten. Methodischen Hilfsmitteln kommt normative Verbindlichkeit nicht zu. Alle Versuche, aus der „Natur der Sache“ praktisch tragfähige Haltepunkte für den Fall widersprüchlicher Teilergebnisse aufzustellen, mußten bei dieser Sachlage kapitulieren. Insofern trifft Savignys Bestimmung der von ihm entwickelten grammatischen, logischen, historischen und systematischen Elemente der Auslegung unverändert den Kern des Problems: Sie sind nicht verschiedene Arten der Auslegung, unter denen beliebig zu wählen wäre, aber auch nicht fixiert aufeinander bezogene „Methoden“. Sie sind vielmehr unterschiedliche, aufeinander angewiesene Teilmomente des Auslegungsgeschäfts. Sie sind Fragestellungen, von denen „bald die eine, bald die andere wichtiger sein und sichtbarer hervortreten“ wird, „so, daß nur die stete Richtung der Aufmerksamkeit nach allen diesen Seiten unerläßlich ist“982.
430
Die Erörterung des Gebots verfassungskonformer Gesetzesauslegung hat zudem bereits ein Beispiel dafür geboten, daß nicht-normative methodische Regeln von methodenbezogenen Normen983 des geltenden (Verfassungs-)Rechts betroffen und 979 Jarass, H., Richtlinienkonforme bzw. EG-rechtskonforme Auslegung nationalen Rechts, in: EuR 1997, S. 211 ff., S. 217. 980 Vgl. im übrigen Müller, F. / Christensen, R. I, oben z. B. S. 533 ff., 538 ff., u. ö. 981 Nachweise bei Kaufmann I, S. 389 und v. Pestalozza I, S. 433; zu den Versuchen einer Verhältnisbestimmung: einige Hinweise bei Larenz I, S. 343 ff. und, für das Verfassungsrecht, Leisner, S. 641 ff., 643 ff. – Gegen den hier gemachten Vorschlag: Enderlein, und zwar von „der moralischen Begründungsebene“ aus; v. a. S. 326 ff., 330 ff., 335 f. u. ö. 982 v. Savigny I, S. 215; s. ferner S. 320. 983 Zur Bedeutung dieser methodenbezogenen Normen für die Anforderungen an die Richtigkeit einer juristischen Entscheidung vgl. Engländer II, S. 143. – Zum Zusammenwirken der methodenbezogenen Normen des Art. 19 Abs. 4 und Art. 103 Abs. 1 GG vgl. BVerfGE 119, S. 292, 296. Während Art. 19 Abs. 4 das formelle Ankommen des Bürgers beim Richter ga-
331 Wirkungsmodi der Konkretisierungselemente
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überlagert werden können: Ergeben die methodischen Regeln einschließlich des Normtextes in seiner begrenzenden Funktion im Einzelfall zwei oder mehrere gleichermaßen vertretbare Lösungsmöglichkeiten, von denen nur die eine im Einklang mit bestimmten (und angesichts des vorliegenden Einzelfalls ebenfalls zu konkretisierenden) Verfassungsvorschriften steht, so darf nur diese Variante dem praktischen Ergebnis zugrunde gelegt werden. In dieser Fassung, die das Arbeiten mit sämtlichen Konkretisierungselementen (verfassungs-)juristischer Methodik nicht beschneidet, sondern die unter den genannten Voraussetzungen einen zusätzlichen Auswahlaspekt durch Heranziehen der betreffenden Verfassungsnormen auch als Sachnormen einführt, bietet die insoweit unbedenkliche und sogar gebotene methodische Figur verfassungskonformer Auslegung ein Beispiel für das Hineinwirken von Normen geltenden Rechts in den im übrigen mit nicht-normativen Kunstregeln arbeitenden Vorgang der Konkretisierung. Noch weiter reichen die schon mehrfach genannten, teils geschriebenen, teils ungeschriebenen rechtsstaatlichen Klarheits- und Bestimmtheitsgebote und die Funktionsabgrenzungen des Grundgesetzes. Sie sind, da geltendes Recht, für eine Rangfolge der Elemente juristischer Methodik verbindlich984. Das Ergebnis einer Entscheidung ist dann vertretbar (s. o. S. 13), wenn und insofern ihre Begründung es ist. Ist diese ausnahmsweise nicht nur „vertretbar“, sondern „zwingend“ (etwa bei numerisch bestimmtem Normtext ohne weitere Komplikationen), dann kann das Ergebnis „richtig“ heißen. Diese Richtigkeit ist (nur) der Grenzfall der Vertretbarkeit.
331 Wirkungsmodi der Konkretisierungselemente
331.1 Direkt normtextbezogene Elemente Die methodologischen Elemente im engeren Sinn (grammatische, historische, ge- 431 netische, systematische und – mit Einschränkungen – teleologische Auslegung) sind unmittelbar normtextbezogen. In Orientierung am Rechtssatz bereiten sie angesichts
rantiert, soll Art. 103 Abs. 1 gewährleisten, daß er mit seinen Argumenten dort auch inhaltlich ankommt, daß er „rechtliches Gehör“ finden wird. – Die hier seit langem vertretenen Positionen des Einbezugs methodenrelevanter Normen in die Methodik wie auch der Ablehnung von „echtem Richterrecht“ (d. h. von gerichtlichen Aussprüchen, die Normtexte außerlegislatorisch usurpieren) sind inzwischen der Sache nach vom Bundesverfassungsgericht übernommen worden: Beschluß vom 15. 1. 2009 (Beachtlichkeit nachträglicher Protokollberichtigung im Strafverfahren – zu den „verfassungsrechtlichen Grenzen der richterlichen Rechtsfindung“) in: Neue Juristische Wochenschrift 2009, S. 1469 ff. und Beschluß vom 25. 1. 2011 (Bemessung des nachehelichen Unterhalts) in: ebd. 2011, S. 836 ff. – Zu beiden Entscheidungen die Bemerkungen von Bernd Rüthers, Klartext zu den Grenzen des Richterrechts, in: Neue Juristische Wochenschrift 2011, S. 1856 ff. 984 Gern, der dieser Linie folgt, unterläßt einen Hinweis auf den hier seit jeher entwickelten Ansatz; z. B. ebd., S. 430 f.
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3 Juristische Methodik – 33 Rangordnung der Elemente
des zu lösenden Falls durch bestimmte Arten der Normtextbehandlung die Rechtsund Entscheidungsnorm mit vor. Die erörterten „Prinzipien der Verfassungsinterpretation“ sind, wie gezeigt wurde, zum größten Teil unselbständig. Sie stellen Unterfälle oder Sonderfälle dieser Hauptrichtungen der Textauslegung dar. Die Prinzipien verfassungskonformer Auslegung (für die Interpretation unterverfassungsrechtlicher Normtexte) und funktioneller Richtigkeit des Ergebnisses sind dagegen positivrechtlichen Ursprungs. Sie gehen auf die Normativität der Verfassung insgesamt bzw. auf die Funktions- und Organisationsvorschriften des Grundgesetzes zurück. Verstöße gegen diese sind Normverstöße und insofern nicht in der Problematik einer Verhältnisbestimmung von Methodenelementen enthalten. 432
Auch die Normbereichs-Elemente wirken in verbindlicher Normtextorientierung – wenn auch ermittelt auf dem Weg der nicht primär sprachlichen Normbereichsanalyse – bei der fallbezogenen Konkretisierung der Rechts- und Entscheidungsnorm mit Hilfe des Normtextes mit. Sie können nicht wahllos aus den sachlichen Gegebenheiten des Ausschnitts sozialer Wirklichkeit genommen werden, der irgendwie von der fraglichen Norm betroffen sein kann. Vielmehr werden sie aus den Sach- und Fallbereichen durch die verbindlich auswählende Perspektive des mit Hilfe von Normtext und direkt normtextorientierten Elementen formulierten Normprogramms herausgehoben. Die dogmatischen Argumente der Konkretisierung sind teilweise noch unmittelbar normtextbezogen. Das ist der Fall, soweit sie nur die Formulierung von bereits konkretisierten und aus Rechtsprechung, Praxis und Wissenschaft übernommenen Rechtsnormen enthalten, die in den Spielraum des hic et nunc erneut zu bearbeitenden Normtextes gehören.
331.2 Nicht direkt normtextbezogene Elemente Soweit Dogmatik über diesen unmittelbaren Normtextbezug hinausgeht und „dogmatische“ Figuren eigener Art, Konstruktionen, Systematisierungen oder normativ nicht mehr abgestützte, frei entwickelte Begriffe und Begriffszusammenhänge enthält, kann sie nur in methodisch begrenzter Hilfsfunktion Anregungen für Möglichkeiten der Präzisierung, Abgrenzung und unterscheidenden Erläuterung der zu bildenden Rechts- und Entscheidungsnorm bieten. Das zur Rolle der nicht umittelbar normtextbezogenen Aussagen der Dogmatik Gesagte gilt auch für die lösungstechnischen, rechtspolitischen, rechtsvergleichenden und für die Theorie-Elemente der Konkretisierung.
332 Konflikte zwischen den Konkretisierungselementen
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332 Konflikte zwischen den Konkretisierungselementen
332.0 Ist eine Rangfolge unmöglich? Gegen die Möglichkeit einer Rangfolge von Konkretisierungselementen wendet 433 sich, in Übereinstimmung mit der traditionell verbreiteten Meinung, neuerdings Schroth985: Die Rangfolge lasse sich „abstrakt und generell“ nicht bestimmen, vielmehr im Hinblick darauf, daß die Konkretisierungselemente für Interessen stünden, nur durch eine Gewichtung im Einzelfall. An dieser Argumentation ist aber schon das unterstellte Repräsentationsmodell fragwürdig. Daß z. B. der Wortlaut einer Vorschrift ein Vertrauensinteresse der Rechtsunterworfenen schützen wolle, läßt sich nur begründen, wenn man eine homogene und für jedermann gleichermaßen verständliche Umgangssprache voraussetzt. Daß die historische Auslegung „Authentizitätsinteressen“ des Gesetzgebers schütze, setzt wiederum einen einheitlichen Willen beziehungsweise eine einheitliche Handlung des Gesetzgebers als Bezugspunkt der Auslegung voraus. Die Behauptung einer die Konkretisierungselemente tragenden Hinterwelt von Interessen führt damit zu Behauptungs- und Nachweislasten, welche die juristische Methodik kaum wird erfüllen können. Eine nüchterne Betrachtung der Rechtsarbeit führt statt dessen zu dem Ergebnis, daß die Konkretisierungselemente Kontexte des fraglichen Normtextes erschließen und daß sie dabei auch nach formalen Gesichtspunkten gewichtet werden können. Im übrigen geht es aber auch der Strukturierenden Rechtslehre nicht um eine abstrakte Rangfolge unabhängig vom Gewicht der Argumente im Einzelfall. Das wird deutlich, wenn man sich aus der Spekulation über Interessen in die Wirklichkeit praktischer Rechtsentscheidungen begibt. Die Konkretisierungselemente sind nur jeweils im Einzelfall als Argumente für und gegen im Streit befindliche Verständnismöglichkeiten des Normtextes erheblich oder nicht. Gerade diese Auseinandersetzung um Deutungshypothesen, die sich jeweils auf unterschiedliche Zusammenhänge berufen, prägt die Realität von Rechtsentscheidungen. Erst dieser Streit macht Kontexte wichtig und führt zu methodologischen Konflikten im Einzelfall, die generelle Vorzugsregeln verlangen. Diese Vorzugsregeln sind insoweit nicht vom Fall abstrakt, sondern einzelfallbezogen. Aber sie sind rechtsstaatlich generalisierbar im Gegensatz zur Willkür einer Kadi-Justiz.
332.1 Der methodologische Begriff des Konflikts Von Konflikten zwischen einzelnen Konkretisierungselementen ist nur dort zu 434 sprechen, wo ein frontaler Gegensatz auftaucht; also nicht dort, wo z. B. das histori985 Schroth I, S. 78 ff. – Den hier erarbeiteten Ansatz verschweigt Gern; sein eigener Versuch bleibt schon deshalb illusionär, weil er von „Eindeutigkeits“-Vorstellungen ausgeht. – Wie hier m.w. N. zu der im Rahmen des Strukturkonzepts entwickelten „neueren und wohl schon überwiegenden Auffassung“ Deckert, S. 39 f. – s. auch die Überlegungen bei Looschelders / Roth, S. 192 ff.
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3 Juristische Methodik – 33 Rangordnung der Elemente
sche Element zwei oder mehrere Möglichkeiten offenläßt, von denen nur eine mit der grammatischen Auslegung vereinbar ist. Dann besteht nur in dieser einen partiellen Hinsicht ein Widerspruch, nicht zwischen „dem“ grammatischen und „dem“ historischen Auslegungsaspekt. Ein Konflikt besteht ferner nur zwischen solchen Elementen, die im vorliegenden Fall und im gegenwärtigen Stadium des Konkretisierungsvorgangs tatsächlich ergiebig, aussagekräftig sind. Andernfalls ist das als nichtssagend erwiesene Element in der Folgezeit auszusparen. Keineswegs müssen – und das zeigt alle praktische Erfahrung – etwa sämtliche Konkretisierungsaspekte in jedem Fall herangezogen und aktualisiert werden können. Kein methodologischer Konflikt ist gegeben, wo die Divergenz aufgrund einer Hierarchie der Rechtsquellen aufzulösen ist: Verfassungs- und Unterverfassungsrecht, Europarecht und nationales Recht. Die Fälle der verfassungs- und der gemeinschaftsrechtskonformen Interpretation gehören also nicht hierher.
332.2 Typen von Konfliktslagen zwischen einzelnen Konkretisierungselementen 332.21 Konflikte zwischen den nicht unmittelbar normtextbezogenen Elementen 435
Bei Konflikten zwischen verfassungspolitischen, lösungstechnischen TheorieElementen und zwischen dem nicht unmittelbar normtextbezogenen Teil der dogmatischen Argumente gibt es weder Vorrangstellungen noch Präferenzregeln. Diese Aspekte sind eben nur methodische Hilfsmittel ohne direkte Normtextorientierung. Innerhalb ihrer rechtlichen Unverbindlichkeit sind fixierbare Stufen größerer oder geringerer Verpflichtungswirkung für die konkretisierende Stelle nicht unterscheidbar. Auch für sie gilt jedoch in gleicher Weise das rechtsstaatliche Gebot der Begründung und Darstellung auf erstens vollständige und zweitens rational kontrollierbare Art.
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Die genannten Elemente können im Einzelfall danach abstufbar sein, welche Lösung sich „besser“, „richtiger“, „einleuchtender“, „eindeutiger“ oder „zweckmäßiger“ mit den Teilergebnissen der direkt normtextbezogenen Faktoren oder mit der Grenzfunktion der Normtexte vereinbaren läßt. Bei diesen Auswahlvorgängen handelt es sich um Wertungen, deren normgelöster Charakter weder vermeidbar ist noch verschleiert werden darf. In der Begründung muß hervorgehoben und bezeichnet werden, welche Denk- und Auswahloperationen jeweils durch solche und vergleichbare Wertungen bestimmt sind. Eine pragmatische Abstufung kann sich im Einzelfall zum Beispiel auch dadurch ergeben, daß alle Argumente außer einem einzigen sachlich in dieselbe Richtung weisen. Doch können auch solche unverbindlichen Auswahl- und Abstufungsgesichtspunkte weder methodisch fixiert noch quasi-normativ verallgemeinert werden.
332 Konflikte zwischen den Konkretisierungselementen
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332.22 Konflikte der nicht direkt normtextbezogenen mit den direkt normtextbezogenen Elementen Die unmittelbar normtextbezogenen Konkretisierungselemente (methodologische 437 i. e. S., Normbereichs- und einzelne dogmatische Elemente) gehen den nicht direkt normtextbezogenen (ein Teil der dogmatischen, ferner lösungstechnische, verfassungspolitische und Theorie-Elemente) im Fall des Widerspruchs vor. Diese Vorzugsregel ist normativ. Sie folgt aus der durch die geltende (Verfassungs-)Rechtsordnung statuierten Verfassungs- und Rechtsgebundenheit staatlicher Funktionsausübung. In einem weiteren, weil nach geltendem Recht nicht praktisch sanktionierbaren Sinn gilt das auch für die Rechtswissenschaft, soweit sie normtextorientiert arbeitet.
332.23 Konflikte zwischen den direkt normtextbezogenen Elementen 332.231 Normtextbezogene dogmatische Argumente auf der einen – methodologische und Normbereichselemente auf der andern Seite Im Fall des Konflikts gehen die methodologischen und die Normbereichs-Elemente vor, insoweit durch sie belegt werden kann, daß die früher von Praxis und Wissenschaft gebildeten und durch die herangezogenen dogmatischen Aussagen tradierten Rechtsnormen die für den anstehenden Fall mit Hilfe desselben Normtextes zu konkretisierende Rechtsnorm nicht betreffen. Die Mühe der Konkretisierung muß dann ohne Hilfe früherer Normbildung neu ansetzen. 332.232 Normbereichselemente – methodologische Elemente im engeren Sinn Die erste Stufe der Disziplinierung von Sachgehalten normativer Regelungsfelder bestand in der Auswahl der empirischen Gegebenheiten aus Sachbereich und Fallbereich, die ihrerseits orientiert am Sachverhalt und am herangezogenen Normtext gewonnen worden waren, zum Normbereich; das Normprogramm diente dabei als verbindlicher Maßstab. Das vorausgesetzt, sind die Normbereichselemente für die positive Inhaltsbestim- 438 mung der zu entwickelnden Rechts- und Entscheidungsnorm den Elementen der Textinterpretation gleichrangig. Negativ, d. h. für die Bestimmung der Grenze zulässiger Ergebnisse, haben aus rechtsstaatlichen Gründen die am unmittelbarsten und ausschließlichsten auf Normtexte bezogenen Interpretationselemente, also die grammatische und systematische Auslegung, Vorrang vor allen anderen, auch vor den Elementen des Normbereichs. Im Sinn der Abgrenzung und Begrenzung steuert das anknüpfend an den amtlichen Wortlaut gewonnene Normprogramm nicht nur den Vorgang der Auswahl von Sachgesichtspunkten aus dem allgemeinen Regelungsbereich der Vorschrift (Sachbereich) und aus dem Fallbereich zum Normbe-
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3 Juristische Methodik – 33 Rangordnung der Elemente
reich, sondern den gesamten Vorgang der Konkretisierung. Aus demselben Grund wird eine Kollision von Normbereichselementen mit den im Einzelfall das Normprogramm ergebenden Sprachdaten nicht aktuell. Es ist nicht etwa so, daß in Konflikten zwischen Konkretisierungsfaktoren jeweils die Realdaten „ihren“ Sprachdaten, das heißt jenen folgen würden, mit deren Hilfe sie aus dem Sachbereich ausgewählt und im Rahmen des Normbereichs zur Erstellung der Rechtsnorm herangezogen worden sind. Das Normprogramm in seiner verbindlichen Formulierung ist vielmehr bereits ein Gesamtergebnis aus den einschlägigen sprachlichen Konkretisierungselementen – sei es im Sinn der Konvergenz, sei es im Fall methodologischer Konflikte aufgrund von Präferenz. Diesem Gesamtergebnis als dem Maßstab für die Qualifizierung der Realdaten folgt dann inhaltlich der Normbereich. Die Auswahl der Realdaten zum Normbereich fügt sich der vorherigen Formulierung der Sprachdaten insgesamt, dem Normprogramm.
332.233 Konflikte der methodologischen Elemente im engeren Sinn (Interpretationselemente) untereinander 439
Wegen seiner demokratischen Erzeugung sowie der rechtsstaatlichen Klarheitsund Bestimmtheitsgebote ist der Normtext der im Konfliktsfall als Grenzbestimmung zulässiger Entscheidungsmöglichkeiten vorrangige Bezugspunkt der Konkretisierung. Der Wortlaut ist nicht das Gesetz, sondern als Eingangsdatum des Entscheidungsvorgangs eine Vorform des Gesetzes. Es ist jedoch der Wortlaut, im Ausgang von welchem – bei aller Unabgeschlossenheit sprachlicher Umsetzung – das als sachliche Direktive wie als normative Grenze verbindliche Normprogramm vom Juristen erarbeitet wird. Damit liegt im Zweifel das Schwergewicht bei den Interpretationselementen, die Normtexte (den Wortlaut der zu konkretisierenden Vorschrift wie auch die Wortlaute systematisch herangezogener Vorschriften) bearbeiten. Zurückzutreten haben die Faktoren der Auslegung, die sich auf Nicht-Normtexte beziehen (genetische und historische Auslegung; ferner die lösungstechnischen, dogmatischen, verfassungspolitischen und die Theorie-Elemente). Dieser Vorgang entstammt nicht rechtstheoretischen oder methodologischen Überlegungen, nicht philosophischen „Höherwertigkeiten“ oder geisteswissenschaftlichen Präferenzen. Weder gibt es solche Präferenzen mit dem für praktische Konkretisierung erforderlichen Grad von Bestimmtheit, noch wären sie auf Rechtswissenschaft und Rechtspraxis übertragbar. Der Vorrang folgt vielmehr aus den rechtsstaatlichen Geboten der Unverbrüchlichkeit der Verfassung, der Bindung an Gesetz und Recht, der Rigidität des Verfassungsrechts im Sinn seiner Normtext-Klarheit, ferner aus den Geboten der Normklarheit und Tatbestandsbestimmtheit, der Methodenklarheit, der Rechtssicherheit und der verfassungsrechtlich normierten Funktionsabgrenzungen. Diese Gebote gehören zum anerkannten ungeschriebenen Verfassungsrecht im Umkreis des Rechtsstaatsprinzips; zum Teil sind sie auch in einzelnen Vorschriften des Grundgesetzes spezialgesetzlich normiert (z. B. Art. 19 Abs. 1 Satz 2, Art. 79 Abs. 1 Satz 1, Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG). Gleichwertig daneben steht die Tatsache
332 Konflikte zwischen den Konkretisierungselementen
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der Produktion der Normtexte im demokratisch geformten politischen Prozeß. Schließlich gehören auch die verfahrensrelevanten Verfassungsvorschriften, welche die Subjektqualität der Beteiligten, Waffengleichheit und Fairneß anordnen, mit zu denen, die eine fühlbare Gesetzesbindung begründen.
332.233.1 Verhältnisbestimmung der canones Im Zweifel gehen somit die Teilergebnisse der grammatischen und systemati- 440 schen Interpretation denen der andern Konkretisierungselemente vor. Abweichende Aussagen zwischen historischen und genetischen Aspekten sind im Sinn einer Vorzugsregel nicht entscheidend, da sich beide auf die Interpretation von Nicht-Normtexten beziehen. Die Entscheidung kann dann nicht partiell durch Auseinandersetzung zwischen historischer und genetischer Auslegung, sondern im Zusammenhang der gesamten Konkretisierung, d. h. zusätzlich am Leitfaden der andern Elemente und besonders der grammatischen und der systematischen Auslegung gefunden werden. Das Spannungsverhältnis zwischen historischen und genetischen Argumenten ist, für sich allein genommen, nicht tragfähig genug. Soweit mit den Mitteln historischer und genetischer Auslegung auf Sachbestandteile des Normbereichs hingewiesen wird, die auf diesem Weg ins Spiel kommen, sachlich aber selbständige Bedeutung entfalten, sind sie wie die erörterten Normbereichselemente im allgemeinen zu behandeln.
332.233.2 Die Rolle des genetischen Aspekts Aus dem Gesagten erhellt auch der Grund dafür, warum die herrschende Lehre 441 unreflektiert so große Hemmungen zeigt, den „subjektiven Willen“ des historischen Normtextgebers mit einem Vorrang vor dem „objektiven Willen der Norm“ auszustatten986. Stünde in den Gesetzgebungsmaterialien nichts als derselbe Normtext, der im Gesetzblatt veröffentlicht worden ist, so gäbe der genetische Aspekt sachlich nichts her. Dasselbe gilt in den häufigen Fällen, in denen sich die Materialien zu der fraglichen Vorschrift nicht äußern. Wenn und sofern also die Materialien überhaupt Gesichtspunkte liefern, tun sie das mit Hilfe sprachlicher Formulierungen, die von der des Normtextes abweichen. Zöge man im Einzelfall das Gesetzgebungsmaterial 986 Der Eindruck von Schwierigkeiten mit den Motivationen und dem „Willen“ des historischen Normsetzers ist alt: „Warum wurden keine Gründe für die Rechtsvorschriften mitgeteilt? Weil die Gründe für zwei Vorschriften mitgeteilt wurden, und selbst der Weiseste unter den Menschen (sc. König Salomo) strauchelte schon bei ihnen“, Sanhedrin 21 b. – Interessante Kontroversen zur Rolle und den Grenzen des genetischen Elements zwischen den Mehrheitsrichtern und zwei Sondervoten in der Entscheidung des Thüringer Verfassungsgerichtshofs zum Ausschluß vom Richteramt wegen vorheriger Mitwirkung am Gesetzgebungsverfahren „in derselben Sache“: LVerfGE 4, S. 413 ff. (416), 418 ff. (421 f.), 423 ff. (425 f.).
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3 Juristische Methodik – 33 Rangordnung der Elemente
dem Normtext vor, so würde damit mit einer bei den andern Elementen nicht so leicht erreichbaren Deutlichkeit aus einem Nicht-Normtext gegen den Normtext entschieden. Die Deutlichkeit wäre hier deshalb besonders groß, weil dann sprachliche Formulierungen aus zwei verschiedenen Stadien der Wirkungsgeschichte derselben Vorschrift herangezogen würden: aus dem noch nicht verbindlichen Stadium ihrer Entstehungsgeschichte und aus dem nunmehr verbindlichen Stadium ihres Geltens in Gestalt eines amtlichen Normtextes. Das Entscheiden gegen die Grenzfunktion des Wortlauts unter Berufung auf Nicht-Normtexte (historische Auslegung, dogmatische, lösungstechnische, verfassungspolitische und Theorie-Elemente) ist, wie dargelegt, auch sonst unzulässig. 332.233.3 Die Unbrauchbarkeit der „subjektiven“ und der „objektiven Theorie“ 442
Vielfältig hat sich gezeigt, daß die Fragestellung der einander entgegengesetzten sogenannten subjektiven und objektiven Theorie die Probleme der Konkretisierung und des Verhältnisses der Konkretisierungselemente nicht zu erfassen vermag. So kann der genetische Aspekt im Fall des Widerspruchs nur hinter den grammatischen und den systematischen zurückgesetzt werden (wobei er denselben Rang hat wie die übrigen Elemente der Konkretisierung). Die herrschende Lehre geht987 dagegen davon aus, der genetische Aspekt der „subjektiven Theorie“ habe bei Widerspruch der Teilergebnisse auch hinter die historische und die teleologische Auslegung zurückzutreten. Diese These ist unbegründet. Daß die genetischen Gesichtspunkte im Zweifel den grammatischen und systematischen den Vorrang zu lassen haben, ist normativ und nur normativ gestützt. Diese normative Ausgangslage betrifft aber nicht allein den genetischen Aspekt. Die Auffassung der herrschenden Lehre, grammatische, systematische, teleologische und historische Auslegung hätten den „objektivierten Willen“ der Norm selbst zu Gegenstand und Ergebnis, der genetische Faktor aus den Gesetzesmaterialien jedoch lediglich den „subjektiven Willen“ des Normgebers (recte: Normtextgebers), ist nach den hier erarbeiteten Regeln nicht haltbar. Es läßt sich nicht generell deklarieren, aus welchen Elementen in einem bestimmten Einzelfall und angesichts bestimmter für ihn zu konkretisierender Vorschriften etwas ermittelt werden könne, das die herkömmliche Lehre und Praxis als objektiven Gehalt oder Willen der Norm hypostasieren. Das Differenzierungskriteri-
987 Zum großen Teil in Anlehnung an BVerfGE 1, 306, 312 und die sich anschließende ständige Rechtsprechung. – Differenzierter dagegen das „Schallplatten-Urteil“ des Bundesgerichtshofs, BGHZ 46, 74, 79 ff.: in der inkonsequenten Praxis der höchstrichterlichen Judikatur sei das genetische Element häufig das maßgebende; speziell zur Ermittlung des Zwecks von Normen im Zusammenhang mit ihren wirtschaftlichen Normbereichen im Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen sei der genetische Aspekt häufig der führende; Nw.e ebd. – s. aber BGHZ 37, 58 ff., 60 f. – Zur Debatte in der Literatur: Windscheid, S. 98, 102; Kohler, S. 1 f.; Heck I, S. 8 f.; Wüstendörfer, S. 159 ff.; Larenz I, S. 316 ff., 328 ff.; Engisch II, S. 85 ff., 242 (Anm. 82 d), 249 f. (Anm. 106 b); eingehend: Mennicken.
332 Konflikte zwischen den Konkretisierungselementen
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um objektiv-subjektiv ist sachlich ebenso unbrauchbar wie die Bezugnahme beider Kriterien auf die Vorstellung eines vorgegebenen, im Einzelfall nur noch zu ermittelnden Willens988. Was soll überhaupt allgemein das Ziel des Verstehens sein: die Vorstellung des Autors, eine diesen übersteigende „objektive“ Bedeutung – und woher ist diese zu nehmen? Oder etwa nur die Vorstellung des Verstehenden (von Paul Valéry – „Il n’y a pas de vrai sens d’un texte“ – für die Dichtung bejaht, was bei einem redlichen Hermeneutiker wie Gadamer natürlich eine Panikreaktion – „hermeneutischer Nihilismus“ – auslöste)? Und was soll, unter den wesentlich härteren Bedingungen einer verbindlichen Rechtsordnung, das juristische Auslegungsziel bilden: der „Wille des Gesetzgebers“ oder der „Wille des Gesetzes“? Die das eine beziehungsweise das andere behauptende sogenannte subjektive beziehungsweise objektive Auslegungslehre bekämpfen einander seit Menschen- und Juristengedenken ohne sichtbaren Fortschritt in der Sache. Für die Strukturierende Rechtslehre und Methodik stellt sich diese Frage nicht als 443 ausschließende Alternative; genauer: überhaupt nicht in dieser von den Geisteswissenschaften bestimmten Form. Rechtsarbeit in der vollziehenden und der rechtsprechenden Gewalt sowie in der Wissenschaft, der Beratungs- und Anwaltspraxis ist Entscheiden oder besteht in der Vorbereitung (wissenschaftliche Diskussion, Gutachten, Schriftsätze) bzw. der Nachbereitung (Überprüfung, Kontrolle, Kritik) von Entscheidungen. In einem indirekten Sinn – Vorbereiten späterer Entscheidungen durch das Setzen von Normtexten – gilt das auch für die Funktionen der Legislative. Das Ziel aller Arbeitsvorgänge in Exekutive und Justiz ist nicht die eine oder andere Form des „Verstehens“ oder des „Nachvollzugs“ von etwas Vorgegebenem, von etwas vorher Vollzogenem. Es ist auch nicht ein „Aus-legen“ von etwas zuvor Hinein-gelegtem, das aus diesem Grund nunmehr darin enthalten wäre. Was bei den juristischen Entscheidungsvorgängen tatsächlich geschieht, ist: im Ausgang von Normtexten auf der einen und vom Rechtsfall auf der anderen Seite das Schaffen einer Rechtsnorm und, diese individualisierend, die Entscheidung des vorliegenden Einzelfalls. Sofern dabei von einem „Ziel“ gesprochen werden kann, liegt dieses darin, eine inhaltlich und methodisch korrekte Rechtsnorm zu erarbeiten und dementsprechend den Fall richtig zu entscheiden. Der „Wille des Gesetzgebers“ ist eine Chimäre. Ein zurechenbarer Willensinhalt eines definierten bewußten Subjekts ist nicht zuletzt unter den heutigen Bedingungen der Legislationsvorgänge in hochdifferenzierten Rechtssystemen nicht vorhanden. Auch der „Wille des Gesetzes“ ist ein Phantom, geht er doch von der sprachwissenschaftlich nicht mehr haltbaren Vorstellung einer vorgegebenen, dem Norm-
988 Sachlich gleichlaufende Kritik an der subjektiven Lehre zum Beispiel auch bei Vesting II, S. 78 ff.
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3 Juristische Methodik – 33 Rangordnung der Elemente
text innewohnenden und unter dem Anspruch der Richtigkeit feststellbaren Bedeutung aus. 444
Für die Strukturierende Methodik ist aber das, was mit „Wille des Gesetzgebers“ gemeint wird, unter zwei Bedingungen durchaus wichtig. Zum einen gehen vertextete Vorstellungen einzelner Beteiligter am Gesetzgebungsvorgang insoweit in die Ausarbeitung des Normprogramms ein, als sie methodisch mit Normtext und Fall in Beziehung gebracht werden können; mit anderen Worten: zu den Konkretisierungselementen gehören in diesem Umfang auch die genetischen. Und zweitens bestimmen die genetischen Elemente die endgültige Fassung des Normprogramms, damit auch den Maßstab für die Umgrenzung des Normbereichs mit, insoweit sie nicht bei etwaigen methodologischen Konflikten durch Vorzugsregeln ausgeschaltet werden989. Liegt ein solcher Konflikt nicht vor und sind die anderen Konkretisierungselemente wenig aussagekräftig, so kann das genetische für die Entscheidung eine große inhaltliche Rolle spielen. Das hat aber nichts mit einem „subjektiven Auslegungsziel“ im Sinn der Tradition und nichts mit einem Vorzug für die „subjektive Theorie“ zu tun; so wenig wie mit einem Bekenntnis zur „objektiven Theorie“ in all den andern Fällen, in denen der genetische Faktor entweder inhaltlich nichts beitragen kann oder durch normtextnähere, im Konfliktsfall stärkere Konkretisierungselemente, wie etwa das grammatische und systematische, im Ergebnis ausgeschaltet wird. 332.233.4 Vorrang der Grenzfunktion grammatischer und systematischer Auslegung
445
In Wahrheit besteht das Kriterium darin, daß sich die methodologischen Konkretisierungselemente im engeren Sinn, also die Verfahren der Textauslegung, zum Teil auf die Sprachfassungen geltender Rechtsvorschriften, genauer: auf Normtexte, zum Teil auf Nicht-Normtexte beziehen. Das begründet wegen der mehrfach genannten Rechtsstaatsgebote den Vorrang der grammatischen und systematischen Auslegungsart in ihrer Funktion als Grenze zulässiger Entscheidungsbildung. Es zeigte sich aber zugleich, daß in bezug auf die historischen, die teleologischen und die genetischen Interpretationselemente Abstufungen von deren Geltungsrang oder verbindlichen Wirksamkeit untereinander für den Vorgang praktischer Konkretisierung nicht behauptet werden können. Um einen „Willen“ von Gesetzgeber oder Gesetz handelt es sich ohnehin nie. Immer handelt es sich um Sachaspekte für die Konkretisierung bestimmter Rechtsvorschriften in bestimmten Rechtsfällen. Solche Sachaspekte liefert unter den auf Nicht-Normtexte bezogenen unmittelbar normtextorientierten Interpretationshilfen der genetische Aspekt ebenso „objektiv“ wie der historische und der teleologische. Es verdient weder die „subjektive Theorie“ noch die „objektive Theorie“ den Vorzug. Beide gehen von einer teils unrichtigen, teils unzulänglichen Fragestellung aus. Sie sollten besser zugunsten der hier entwickelten differenzierten Gesichtspunkte und Präferenzregeln aufgegeben werden. 989
s. dazu die Abschnitte 332.233, -233.1, -233.2.
332 Konflikte zwischen den Konkretisierungselementen
507
332.234 Widerspruch zwischen grammatischem und systematischem Aspekt Für die Zweifels- und Konfliktsfälle ist nur noch die Frage offen, wie bei Widerspruch zwischen dem grammatischen und dem systematischen Aspekt verfahren werden soll. Diese Fragestellung bezieht sich auf die Konkretisierung umgangssprachlicher Ausdrücke der Normtexte. Bei fachsprachlichen Rechtsbegriffen, die dogmatisch hinreichend umschrieben sind (und insofern der Alltagssprache entkommen), wird ein solcher Widerspruch nicht auftreten. Hier speist sich dann das grammatische Element aus dem systematischen, das die anderen begrifflichen Optionen auszuschließen erlaubt. Ein solcher Widerspruch ist für die positive Aussagebestimmung des Wortlauts 446 durch eine methodisch generalisierbare Präferenzregel allein nicht aufzulösen. Die sonstigen für den Fall aussagekräftigen Hilfsgesichtspunkte sind wie immer hinzuzuziehen. Wertende Entscheidungen sind dabei wie stets als solche zu kennzeichnen. Vielfach wird im Ergebnis eine vertretbare Entscheidung getroffen werden können: zugunsten des grammatischen Aspekts, also des für die Fallösung herangezogenen Normtextes, und zuungunsten anderer Vorschriften, die für den Fall nicht einschlägig sind, aber auf systematischem Weg herangezogen wurden. Eine derartige Entscheidung ist dann geboten, wenn der systematische Zusammenhang – wie häufig – nicht deutlich genug nachgewiesen werden kann. In der komplexen Materie des Verfassungsrechts dürfte solch ein überzeugender Nachweis eher die Ausnahme sein. Für die Hauptmasse verfassungsrechtlicher Fälle hat, soweit das so ist, also im Ergebnis der grammatische Aspekt den Vorzug. In seiner negativen Funktion, als Grenze, als Limitierung der im Spielraum kon- 447 kretisierter Teilergebnisse verbleibenden Entscheidungsmöglichkeiten hat der grammatische Aspekt im Fall eines Konflikts mit dem systematischen gleichfalls den Vorrang. Das gilt nach den genannten Voraussetzungen für einen frontalen Konflikt, der aber beiderseits (Normtext A’ als Ausgangspunkt für die einschlägige Norm A – Normtexte B’, C’ als Ausgangspunkte für die nicht einschlägigen, aber „systematisch“ herangezogenen Normen B, C …) nur die Begrenzungsfunktionen der beteiligten Wortlaute betrifft. Ist dagegen der Widerspruch zwischen den Teilergebnissen nicht so zugespitzt, läßt etwa der grammatische Aspekt Spielraum für zwei Möglichkeiten, so kann die Auswahl zwischen ihnen ohne weiteres anhand des (konkret ergiebigen) systematischen Gesichtspunkts getroffen werden. Dann liegt nicht ein Konflikt, sondern ein normales Ergänzungsverhältnis zwischen den beteiligten Elementen vor. Die Bestimmung dieses Rangverhältnisses verdeutlicht noch einmal das schon 448 oben bei der Diskussion der sogenannten Wortlautgrenze Ausgeführte. Die Anforderung, daß die Entscheidung mit dem Wortlaut jedenfalls noch vereinbar sein müsse, ist nicht methodologisch, sondern verfassungsrechtlich begründet. Die angespro-
508
3 Juristische Methodik – 33 Rangordnung der Elemente
chene Vereinbarkeit mißt sich dabei nicht allein an der Konkretisierungsfunktion des grammatischen Auslegungselements. Die „Wortlaut“grenze ist vielmehr im Regelfall eine Normprogrammgrenze. Gibt es dagegen bei methodologischen Konflikten unter den einzelnen Konkretisierungsfaktoren den dargestellten Ausnahmefall, daß sich allein das grammatische Argument durchsetzt, so trägt für diese Fälle die grammatische Auslegung auch allein die Grenzfunktion des Wortlauts. Die „Wortlaut“grenze bleibt aber auch in diesem Fall, systematisch beurteilt, Normprogrammgrenze, weil erst nach einer vollständig durchgeführten Konkretisierung unter Heranziehung der eben dargestellten Konfliktregeln festgestellt werden kann, daß hier dieser Falltyp vorliegt, in dem allein die grammatische Auslegung die Grenzfunktion begründet. Es sei nochmals festgehalten, daß jedenfalls im Verfassungsrecht „Systematik“ relativ oft nicht eine eindeutige normative Gegebenheit, sondern eine theoretisch vorgreifende Unterstellung ist. Im übrigen kann der (Verfassungs-)Gesetzgeber auch „unsystematisch“ oder „systemwidrig“ normieren; eben diese Feststellung ist aber mit den Mitteln systematischer Auslegung zu treffen.
333 Fälle mangelnder Aussagekraft des grammatischen und systematischen Elements
333.1 Nur begrenzende Aussagekraft des grammatischen und systematischen Aspekts 449
Eine Vorschrift kann im Einzelfall insoweit einschlägig sein, als – von den übrigen Elementen einmal abgesehen – der grammatische und der systematische Aspekt zwar negativ als Grenzbestimmung möglicher Entscheidungsalternativen fungieren können, sie jedoch darüber hinaus positiv inhaltlich bestimmend über die vom anstehenden Fall aufgeworfene Frage nichts aussagen. Als Beispiel sei Art. 21 GG für die Frage der Parteienfinanzierung aus öffentlichen Mitteln genannt990. Art. 21 GG äußert sich hierzu nicht im Sinn einer expliziten Aussage. Gleichwohl wäre die Meinung nicht haltbar, er sei für die Prüfung des Problems der Parteienfinanzierung aus öffentlichen Mitteln nicht einschlägig. Vielmehr liefert schon der Wortlaut des Art. 21 GG in seiner rechtsstaatlichen Funktion als Grenze, als Markierung des Spielraums verfassungsrechtlich noch zulässiger Rechts- und Entscheidungsnormen unentbehrliche Gesichtspunkte. In solchen und ähnlichen Fällen gibt es zwischen den übrigen Elementen der Konkretisierung ebensowenig wie sonst eine normativ verbindliche Rangfolge ihres Einflusses auf die Entscheidung. Nach den hier unter 332.21 angegebenen nichtverbindlichen Wertungsregeln ist dann die inhaltliche Überzeugungskraft eines der
990 Zur staatlichen Zuwendung an politische Parteien und deren Jugendorganisationen vgl. OVG Berlin-Brandenburg, NVwZ 2012, S. 1265 ff.
333 Fälle mangelnder Aussagekraft
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möglichen Ergebnisse herauszuarbeiten und dieses Ergebnis an der verbindlichen Grenzfunktion des Normtextes (bei Gleichsinnigkeit zwischen grammatischer und systematischer Auslegung) zu messen. 333.2 Nicht einschlägige Norm Unbeantwortet ist noch die Frage, wie zu verfahren ist, wenn der grammatische 450 und der systematische Aspekt für den Fall überhaupt nichts aussagen und damit nicht einmal in ihrer limitierenden Funktion wirksam werden können. Die Antwort lautet, daß dann der zur Lösung des Falls arbeitshypothetisch herangezogene Rechtssatz nicht einschlägig ist. Es muß ein anderer Normtext herangezogen werden. Die bisherige Normtexthypothese hat sich als unrichtig oder – was im Ergebnis dasselbe sagt, als im zu entscheidenden Rechtsfall für eine Konkretisierung unergiebig herausgestellt. 333.3 „Lücken“ im Verfassungsrecht Findet man bei solchem Vorgehen die vom Fall aufgeworfene Frage im geltenden 451 (Verfassungs-)Recht nicht hinreichend deutlich belegbar geregelt – das „Lückenproblem“ der herkömmlichen Methodenlehre –, so ermächtigt das Verfassungsrecht keineswegs dazu, durch Lückenausfüllung, durch sogenannte schöpferische Rechtsfortbildung praeter und contra legem gleichsam auf Biegen oder Brechen eine den Mangel einer Regelung ersetzende Rechtsnorm ohne positiv geltenden Normtext zu substituieren. Je nach dem sachlichen Bezug der „Lücke“ zum Antrags- oder Klagebegehren ist – wenn sonst nur noch methodisch nicht mehr zu rechtfertigende Unterstellungen und apokryphe Normtext- und Rechtsnormerzeugungen zum Ziel führen würden – nach der prozeßrechtlichen Lage zu entscheiden. Methodenehrliches Vorgehen muß davor haltmachen, die verfassungsrechtlich normierte Unterscheidung und Zuordnung der Funktionen von Rechtskonkretisierung zu überspielen. So ist zum Beispiel die Finanzierung politischer Parteien aus öffentlichen Mitteln vom Grundgesetz ausdrücklich weder geboten noch verboten. Eine Gebots- oder Verbotsnorm kann methodisch vertretbar nicht durch „Lückenfüllung“ und verwandte Operationen behauptet werden. Das heißt aber nicht, das Grundgesetz könne für die zwischen diesen beiden Endpunkten der Problemskala „Parteienfinanzierung aus öffentlichen Mitteln“ verbleibenden zahlreichen weiteren Fragen nicht eine Reihe normativer Indizien an die Hand geben. Wie mit dem Begriff „Lücke“ umgegangen wird, mag ein Blick auf die Recht- 452 sprechung zu den Verkehrszeichen deutlich machen. So führt das Oberverwaltungsgericht Münster in einem Beschluß vom 19. 11. 1968991 aus, es sei „durch die nach 991 Juristenzeitung 1969, S. 261 f.; vgl. hierzu auch den Beschluß des Bundesgerichtshofs vom 23. 7. 1969, Juristenzeitung 1969, S. 747 ff. – Zur „Lücken“diskussion in der Literatur
510
3 Juristische Methodik – 33 Rangordnung der Elemente
Inkrafttreten der Verwaltungsgerichtsordnung in der höchstrichterlichen Rechtsprechung vorgenommene Charakterisierung der Verkehrszeichen als Verwaltungsakte in Form von Allgemeinverfügungen“ eine „Gesetzeslücke entstanden“, die „im Wege der richterlichen Rechtsfindung“ geschlossen werden müsse. Eine vom Richter ausfüllbare echte Gesetzeslücke sei immer dann vorhanden, „wenn der Schluß gerechtfertigt ist, der Gesetzgeber hätte einen Fall, wenn er an ihn gedacht hätte, in einem bestimmten Sinne, etwa entsprechend der Regelung eines im Sachverhalt oder rechtlich vergleichbaren Falles, geregelt“992. 453
Dieser „Fall“ ist nach der angeführten Judikatur hier nicht die Erscheinung „Verkehrszeichen“ oder eine bestimmte Gestaltung des Sachverhalts (Fallgruppe), sondern kennzeichnenderweise der Wechsel der herrschenden Auffassung in der höchstrichterlichen Rechtsprechung. Eine (in der Tendenz geänderte) Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts kann nur methodisch begründet werden. Das Oberverwaltungsgericht will ihr dagegen normativen, weil normverändernden Charakter zubilligen. Selbst wenn man dieser Behauptung folgen könnte, wäre vorliegend nicht eine Lücke entstanden, sondern ihr Gegenteil: eine zusätzliche, eine neue Normierung in Form der Erstreckung der Vorschrift des § 80 Abs. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung auch auf Verkehrszeichen. Die Annahme dieser Normerstreckung führt nach Ansicht des Gerichts in der Frage einer aufschiebenden Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage nach § 80 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung zu einer praktisch unvernünftigen Folgerung. Diese soll durch gerichtliche Interpretationskunst in eine vernünftige Folgerung umgewandelt werden. Das Ganze wird als „Entstehen“ und „Schließen“ einer (normativen) „Gesetzeslücke“ vorgestellt. (Zur Fragwürdigkeit der „Lücke“ s. grundsätzlich auch Abschnitt 222.348.)
334 Zur Normativität von Vorzugsregeln
454
Soweit sich die erarbeitete Verhältnisbestimmung der Konkretisierungselemente für Konfliktsfälle zu verbindlichen Vorzugsregeln verdichtet hat, wirkt sie nicht aufgrund geisteswissenschaftlicher, philosophischer, rechtstheoretischer oder methodologischer Konzepte, sondern als Gebot positiven Verfassungsrechts. Zwar wurde sie hier am Grundgesetz entwickelt. Doch gilt sie wegen ihrer normativen Herkunft und wegen der rangüberlegenen Verbindlichkeit des Verfassungsrechts für die gesamte Rechtsordnung auch für die Methodiken der anderen Rechtsdisziplinen. Das
vgl. etwa Canaris I; Schreiber, S. 188 ff.; Larenz I, S. 370 ff.; Engisch II, v. a. S. 138 ff.; für das Verfassungsrecht: Göldner I, S. 216 ff. Wie hier gegen die „Lücken“doktrin z. B. Mennikken, S. 47, 101. – Systematische Darstellung und Kritik der herrschenden Praxis und Lehre bei Müller XXII. 992 Vgl. hierzu auch das Bundesverwaltungsgericht in: BVerwGE 2, 10; 8, 239, 245; 11, 263. – Zur weitgehenden Beliebigkeit von Analogie oder Umkehrschluß vgl. ferner etwa: OVG Münster, in: DÖV 1972, S. 794 einerseits, VGH Mannheim, in: NJW 1971, S. 2089 andererseits.
334 Zur Normativität von Vorzugsregeln
511
Grundgesetz hat eine Reihe von Zügen, die es als „rigide Verfassung“ bezeichnen lassen. Es kennt eine Formstrenge der Verfassung, Textstrenge ihrer Urkunde und rechtsstaatliche Klarheitsgebote993. Sein Verbot der Verfassungsdurchbrechung (Art. 79 Abs. 1 S. 1 GG) entspricht dem Postulat der Textvollständigkeit. Ungeschriebene Tatbestände, die zur Einschränkung von Grundrechten führen, sind ausdrücklich ausgeschaltet; zulässigerweise grundrechtseinschränkende Gesetze unterliegen zusätzlich einem Zitiergebot (Art. 19 Abs. 1 S. 1 und 2 GG). Daneben hat die Verfassung noch weitere Gebote der Normklarheit und der Tatbestandsbestimmtheit normiert994. Diese Besonderheiten des Grundgesetzes als einer ausgesprochen formstrengen demokratischen Verfassung kommen zu der grundsätzlichen Feststellung hinzu, hier handle es sich nicht um eine gewohnheitsrechtliche, sondern um eine ebenso ausführlich wie ausdrücklich vertextete Verfassungsordnung. Ihre Legalität und Legitimität sind mit den demokratischen und rechtsstaatlichen Mitteln, deren sich das Grundgesetz bedient, an die Vollständigkeit, Zuverlässigkeit und hinreichende Deutlichkeit seiner Vertextung gebunden. Das begründet für den Fall methodologischer Konflikte den Vorrang der jeweils normtextnäheren Konkretisierungselemente. Je nach der Konfiguration der methodischen Elemente kann im Ergebnis mehr 455 als nur eine Variante als vertretbar erscheinen; es bleibt dann eine Wahl zu treffen, die im Rahmen des Begründungstextes gleichfalls zu erläutern ist. Wann aber ist – dies ist die praktische Grundsatzfrage juristischer Methodik – eine Entscheidung (Rechtsnorm plus Entscheidungsnorm) überhaupt „vertretbar“? Sie ist es dann, wenn all die in Frage kommenden Sprachdaten und Realdaten einbezogen wurden, wenn ihre Verarbeitung den Anforderungen demokratisch-rechtsstaatlich anspruchsvoller Methodik standhält und wenn Ergebnis und Begründung dabei konsistent bleiben. Bei alldem darf allerdings nicht unversehens wieder in den Fehler des Gesetzes- 456 positivismus verfallen werden, von juristischer Methodik statt möglichst rationaler arbeitsfähiger Regelvorschläge absolut sichere „Methoden“ zu erwarten. Diese Haltung überspannt in wertungsblindem Rigorismus das Maß der möglichen Rationalität und verfehlt es damit. Auch die genannten methodenbezogenen Rechtsstaatsnormen des Grundgesetzes müssen, wie alle rechtlichen Vorschriften, jeweils erst konkretisiert werden. Auch die Ergebnisse der Interpretation ihrer Sprachdaten unterliegen – so wie die der Sprachdaten der im fraglichen Einzelfall zu schaffenden und anzuwendenden Norm – der Interpretation. Dasselbe gilt für die Frage, ob nun ein methodologischer Konflikt vorliege oder nicht. Schließlich muß auch das durch In-
BVerfG, in: NVwZ 2003, S. 715 ff., 715 zu Formenklarheit und Formenbindung. Dazu Müller XVIII, S. 114 ff., 121 ff. – Sehr weit geht der Vorschlag von Siegfried: Erlaß eines „Bundesmethodengesetzes“ vor dem Hintergrund der methodenrelevanten Rechtsstaats-, Demokratie- und Sozialstaatsvorschriften. – Zur verfassungsrechtlichen Begründung der Klarheitsanforderungen, die an Rechtsarbeit zu stellen sind, unter Aspekten der juristischen Fachsprache: Jeand’Heur XIII, S. 1292 u. ö. 993 994
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3 Juristische Methodik – 33 Rangordnung der Elemente
terpretation ermittelte Normprogramm sprachlich formuliert, das heißt von dem entscheidenden Juristen vertextet werden; damit unterliegt es seinerseits wieder der Interpretation. 457
Mit anderen Worten: Auch soweit die hier entwickelten methodologischen Vorzugsregeln wegen ihrer Herkunft aus rechtsstaatlichen Normen verbindlichen Charakter haben, entgehen sie nicht dem Schicksal aller Normen, im Ausgang von Normtexten und den Gegebenheiten des vorliegenden Falls erst einmal konkretisiert werden zu müssen. Damit gilt für sie das am Anfang dieses Buches (11) Gesagte: Auch verbindliche Präferenzregeln sind kein „abschließbarer Katalog fraglos zuverlässiger Arbeitstechniken“; auch sie sind nicht kanonisch zu übernehmen, sondern kritisch zu praktizieren und aus Erfahrung zu verbessern.
4 Zur Formaltechnik der Fallösung (vgl. oben 325)
41 Vorbemerkung Die monographische Methodendebatte ist lebhaft geworden. Daneben hat die 458 Studien-, Ausbildungs- und Examensliteratur einen außerordentlichen Umfang angenommen. Ein vollständiger Überblick wäre nicht leicht zu geben. Vor allem wäre er hier nicht sinnvoll: Die vorliegende Methodik entwickelt über monographische Problembehandlung hinaus ein systematisches Rahmenmodell der praktisch erprobten und wissenschaftlich anerkannten Konkretisierungselemente. Anleitungen zur formalen (Aufbau-, Argumentations- usw.) Technik von Fallösung gehören nicht zu juristischer Methodik in diesem Sinn. Im folgenden wird allein zur Information für den Rechtsstudenten eine Anmerkung zur Studienliteratur gemacht; daran schließt sich eine ergänzende Bestimmung der Funktionen von Methodik und Fallösungstechnik innerhalb der juristischen Arbeit an. Nur entfernt in den Zusammenhang gehören Arbeiten, die – zwischen gebräuchlichem Lehrbuch und Fallsammlung – als „Studienkurse“, „Casebooks“, „Lernbücher“, „Grundrisse“, „induktive Lehrbücher“ in didaktisch aufgelockerter Weise primär Wissen bzw. Stoff vermitteln und dabei versuchen, den Leser stärker zu aktivieren. Der Vermittlung von (sehr spezifischem) Wissen dienen in noch engerem Sinn die zahlreichen Examensreihen, mögen sie als Fragenkataloge oder als „examenswichtige Klausurprobleme“ auftreten. Weder die Studienbücher noch die Examensbücher wollen in einem generalisier- 459 baren und damit für juristische Arbeit sachlich relevanten Sinn auf Fallösungstechnik oder gar auf Methodik hinaus; die zuletzt genannte Gruppe zielt nur auf eine examenstaktisch erfolgversprechende Argumentationsabfolge. Im übrigen enthalten viele Anleitungsbücher sowohl materiellrechtliche als auch lösungs-, klausur- usw.technische, typischerweise aber eben nicht methodische Fragen und Anweisungen. Ebenfalls noch im weiteren Sinn gehören in diesen Zusammenhang die Sammlungen von Fällen mit Lösungen; dabei handelt es sich um höchstrichterliche Entscheidungen oder um vom Verfasser gebildete Fälle. Zum Teil bemühen sich die Autoren bewußter darum, Lösungstechnik (klausur-, hausarbeits-, gutachten-, relationsusw.-technische Richtlinien) in die Fallösungen einzuarbeiten.
514
4 Zur Formaltechnik der Fallösung – 42 Funktionsbestimmung
42 Funktionsbestimmung 460
Die Unterschiede in der Funktion von Falltechnik und Methodik lassen sich beispielsweise an dem Einzelpunkt „Lösungsschema“ klar machen. Entsprechend dem Zweck der Anleitungsbücher, inhaltlich-dogmatisch und / oder konventionell-formal, sind diese Schemata angelegt, nicht aber methodisch, d. h. nicht auf das feinstrukturelle Vorgehen bei der eigentlichen Konkretisierung der fallentscheidenden Normen bezogen. Von der Art und Weise des Bildens und Zurechnens von Entscheidungsnormen in bezug auf die „dahinter stehenden“ Normtexte und die daraus vom Rechtsarbeiter entwickelten allgemeinen Rechtsnormen, welche allein die Lösung des Falls rechtfertigen, nehmen die lösungstechnischen Regeln keine Notiz. Sie setzen sie vielmehr voraus; und das, was sie voraussetzen, die juristische Kernproblematik, Rechtsnormen im Fall zu produzieren und sie auf eben diesen Fall durch Entscheidungs- und Darstellungsvorgänge „umzusetzen“, behandelt die juristische Methodik.
461
Das Fortschreiten „von Stufe zu Stufe“ im Rahmen der Lösungsschemata setzt jeweils Konkretisierungsarbeit voraus und zieht ferner, bis zur definitiven Lösung des Falls, weitere Konkretisierungen nach sich; und zwar ohne daß die lösungstechnischen Aspekte als solche anzugeben erlaubten, wie denn nun im Einzelfall die einschlägigen Normen „richtig“ erarbeitet und wie sie „richtig“ zu einer Entscheidungsnorm umgeformt werden können. „Richtig“ heißt im Verfassungsstaat des uns vorliegenden Typus: so, daß die Operation hinreichende Aussicht hat, als rechtmäßig akzeptiert zu werden. Ein lösungstechnisches Schema kann somit nur dabei helfen, die aus inhaltlich-dogmatischen und aus konventionell-formalen Gründen angebrachte, weil erwartete, weil als akzeptabel oder als entscheidungs„ökonomisch“ geltende Abfolge und Reihenfolge von Fragestellungen festzuhalten. Diese Abfolge bzw. Reihenfolge hilft dem Juristen, der den Fall lösen soll, diesen Fall zu gliedern: beispielsweise Aufbauschemata für die verwaltungsgerichtliche Klage, weiter differenziert nach Klagearten; für die verschiedenen Verfahren der Normenkontrolle; für die materiellrechtlichen Fragen des Amtshaftungsrechts; für typische Polizeirechtsfälle; für Strafrechtsfälle mit einem oder mehreren Beteiligten, mit einem oder mit mehreren Delikten; für den strafrechtsdogmatischen Aufbau von Unterlassungsdelikten, und so weiter. An jedem Einzelpunkt der schematisierten Abfolgen sind die jeweils einschlägigen Normtexte einzuführen und versuchsweise durch Konkretisierung mit dem Sachverhalt zu verarbeiten. Aus dieser Stellung in der alltäglichen Praxis juristischer Funktionsträger und in der Juristenausbildung erhellt nicht nur die entscheidende Begrenzung lösungstechnischer Gesichtspunkte, sondern auch ihre Unentbehrlichkeit. Sie erlauben es, dogmatisch wie konventionell-formal sowohl für die Entscheidung wie für deren Begründung die Teilergebnisse dessen zu gruppieren, was das Kernproblem der Jurisprudenz und das Kernstück praktischer Rechtsarbeit ist: der methodischen Normkonkretisierung.
462
Über dieses praktische Beispiel der Stellung lösungstechnischer Schemata hinaus läßt sich die Aufgabe juristischer Methodik wie die formaler Lösungstechnik auch
4 Zur Formaltechnik der Fallösung – 42 Funktionsbestimmung
515
allgemeiner formulieren. Funktion juristischer Methodik ist, Aussagen über die Art und Weise der Normbildung im Fall zu machen; Funktion der Lösungstechnik ist die Gliederung der Fallbehandlung. Was heißt das, da doch „Norm“ und „Fall“ gerade in der praktischen Arbeit der Juristen untrennbar aneinander gekoppelt werden? „Methodik der Normbildung“ heißt: die Art und Weise a) der (entwerfenden, Hypothesen formulierenden, alle Konkretisierungselemente durchspielenden) Bildung von Rechtsnormen ausgehend von Normtexten und Fall, endend bei der Kombination aus Normprogramm und Normbereich; b) der (darstellenden) Zurechnung der anschließend daraus gebildeten Entscheidungsnormen an die allgemeinen die Einzelentscheidung systematisch rechtfertigenden Rechtsnormen und an die Eingangsdaten der Normtexte; und schließlich c) der Messung von Rechtsnormen niedrigeren Ranges an höherrangigen, z. B. an Verfassungsrecht. „Gliederung der Fallbehandlung“ betrifft dagegen nicht die Schaffung und Um- 463 setzung von Rechtsnormen auf unmittelbar zu entscheidende Fallfragen, sondern den dogmatisch-konventionellen Rest der praktischen Probleme bei Anlage, Aufbau, Reihenfolge, Darstellung der Fallösung, d. h. ihrer Gründe wie ihrer Begründung1. Die dabei gemeinten dogmatischen Elemente sind ersichtlich die nicht unmittelbar normbezogenen; soweit es sich um direkt normbezogene handelt (zu der Unterscheidung oben 324.3, zu ihren Auswirkungen unter 331 und 332), geht es um methodische Fragen der Normkonkretisierung, d. h. wirken allgemeine Rechtsstaats- oder besondere Verfahrensnormen unmittelbar in die Aufbaufragen hinein. Die Fragen der Fallbehandlung im normativ nicht vorgeschriebenen und daher konventionellen Sinn bilden den Rahmen der einzelnen Fallentscheidung; die Fragen der Normkonkretisierung sind das wissenschaftlich wie praktisch im Zentrum stehende Hauptproblem aller Rechtsarbeit2. Dieses Hauptproblem umfaßt die methodische Beherrschbarkeit der Spannungslage zwischen Fall, Normtexten, Rechtsund Entscheidungsnorm und betrifft aus diesem Grund das „Konkrete“ an normorientierter juristischer Entscheidungstätigkeit.
1 Der Schwerpunkt liegt auf Darstellungsfragen. Von diesen „schematischen Regeln für die Abfassung von Voten und Entscheidungen“ wird in einer rechtssoziologischen Studie zu Funktionen formalisierter Verfahren gesagt, es handle sich „um berufsinternes, halbsuspektes, nicht zitierfähiges Wissen, das außerhalb der eigentlichen Universitätsgelehrsamkeit und ohne hohe Ansprüche rein handwerklich gelernt und tradiert wird … Schon die Auflagenhöhe und der Wechsel der Bearbeiter lassen erkennen, daß es sich hier nicht um Bücher im gewöhnlichen Sinne handelt, sondern um Institutionen“, Luhmann V, S. 66 f. mit Anm. 15. 2 Schlehofer, S. 578, zieht die „Konsequenz …, sich von der herkömmlichen Methodik der Fallbearbeitung zu verabschieden und sie zu ersetzen durch die juristische Methodologie“.
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4 Zur Formaltechnik der Fallösung – 42 Funktionsbestimmung
Von ihren verschiedenen Funktionen her lassen sich juristische Methodik und Falltechnik also klar unterscheiden; die Unterschiedlichkeit der Strukturen erhellt allgemein aus dem Gesagten und wird im einzelnen aus dem vorliegenden Buch auf der einen, aus den Anleitungsbüchern falltechnischer Art auf der anderen Seite unmittelbar deutlich. Die verschiedenen Funktionen können auch als Fragen ausgedrückt werden: Das Thema der juristischen Methodik ist: Wie löse ich Fälle nach geltendem Recht? – d. h. ausgehend von den einschlägigen und daher den Fall betreffenden Normtexten; wobei ersichtlich unterstellt wird, daß die Operationen der Entscheidungserarbeitung und Ergebnisbegründung methodisch so überzeugend ausfallen, daß sie Aussicht haben, als rechtmäßig akzeptiert zu werden. Thema der Falltechnik ist: Wie löse ich Fälle, deren Normkonkretisierung ich akzeptabel begründen kann, nach den im Juristenstand herrschenden professionellen Konventionen? – d. h. im Sinn der üblichen und daher in Klausur und Hausarbeit, in Übung und Prüfung, in Ausbildung und Spruchpraxis von Lehrern, Prüfern, Ausbildern, Kollegen, höheren Instanzen erwarteten und im Falle der Einhaltung akzeptierten, im entgegengesetzten Fall (mit verschiedenen Folgen) vermißten und eingeforderten Form. Beide Fragengruppen, die methodische und die lösungstechnische, überschneiden sich, wie schon angedeutet, dort, wo sich das geltende Recht unmittelbar auf Fragen der Form einer Fallösung auswirkt: Gerichtsverfassungsrecht (Organisation, Kompetenz, Besetzung usw.) – Verfahrensrecht – inhaltliche Verweisung einer Norm auf die andere bzw. Abhängigkeit einer Vorschrift von einer anderen (Auswirkung auf die Reihenfolge der Fragestellung usw.).
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Das Gesagte wurde für das positive (geschriebene) Recht entwickelt, gilt aber in gleicher Weise für Gewohnheitsrecht, soweit Normen dieser Herkunft für die Fallentscheidung einschlägig sind. Die Regeln der Fallösungstechnik werden wegen ihrer Norm-Indifferenz (von den genannten Überschneidungsfällen abgesehen) nicht davon berührt, ob die den Fall regierenden Vorschriften gewohnheitsrechtlicher oder positivierter Herkunft sind. Auch die Regeln juristischer Methodik sind im Grundsatz dieselben, gleich ob es sich um die Konkretisierung von Normen positiver Qualität oder aus der „ungeschriebenen“ Kategorie Gewohnheitsrecht handelt; dasselbe gilt für die Fragen der Messung niederrangiger (positiver oder gewohnheitsrechtlicher) Normen an höherrangigen. Besonderheiten bestehen bei gewohnheitsrechtlichen Vorschriften nur insofern, als sie einen autoritativ in einer einzigen Sprachfassung fixierten Normtext nicht aufweisen.
5 Grundlinien der juristischen Methodik 50 Vorbemerkung – Begriffe Was ist „juristische Methodik“? Sie ist die Arbeitsmethodik der Juristen. Was tun 466 Juristen in einer Rechtsordnung vom Typus der unseren? (a) Sie setzen Normtexte (d. h. sie bereiten sie rechtspolitisch vor und formulieren sie für die Legislativorgane); (b) sie konkretisieren Rechtsnormen und führen sie aus (im weiten Umkreis der „vollziehenden Gewalt“) und (c) sie überprüfen Handlungen oder Normtexte bzw. Rechts- und Entscheidungsnormen an anderen Normtexten und an den mit ihrer Hilfe entwickelten Rechts- und Entscheidungsnormen (rechtsprechende Funktionen). Immer handelt es sich um Entscheidungsvorgänge, die im rechtsstaatlich geformten Verfassungsstaat in Bindung an geltendes Recht durchzuführen sind. Juristische Methodik ist also die wissenschaftspraktische Technik normtext- bzw. normorientierter Entscheidungsprozesse. Sie behandelt die inhaltlichen Fragen der Rechtsproduktion und betrifft damit das Zentrum juristischer Tätigkeit; im Gegensatz dazu beschränkt sich die Lösungstechnik auf die äußerlichen Fragen von Aufbau und Darstellung (dazu oben 325 und 4). Es versteht sich, daß die komplexen Probleme juristischer Methodik nicht in Kurzform durch Leitsätze ausreichend erfaßbar sind. Die Lektüre des Abschnitts 5 kann das Durcharbeiten des ganzen Buchs nicht ersetzen, gibt aber eine grundlegende Orientierung und eine Zusammenfassung zu einigen wichtigen Einzelpunkten. In der technischen Terminologie der hier entfalteten Methodik werden die primär sprachlich begründeten Interpretationsgesichtspunkte (z. B. die grammatischen, systematischen, genetischen) Sprachdaten genannt; Realdaten dagegen die empirischen Elemente, die als primär natürliche oder soziale Fakten primär nichtsprachlich konstituiert sind, die aber gleichwohl, damit juristische Praxis und Wissenschaft mit ihnen arbeiten können, sekundär sprachlich vermittelt sein müssen (Sachbereichs-, Normbereichselemente). Der hier zentrale Begriff Konkretisierung ist nicht positivistisch als „Syllogis- 467 mus“, „Subsumtion“ oder „Anwendung“ mißzuverstehen, aber auch nicht als „Nachvollzug“ vorvollzogener und im Gesetzestext „repräsentierter“ Interessenabwägungen oder Wertungen. Schließlich meint „Konkretisierung“ auch nicht, eine vor dem Rechtsfall schon vorhandene Norm werde auf diesen hin individualisiert, „konkreter“ gemacht, in ihrem Umfang sozusagen verengt. Vielmehr geht es bei juristischer Fallösung um Normkonstruktion; die Rechtsnorm muß im Fall jeweils erst produziert werden. „Konkreter“ werden dabei von Stufe zu Stufe die Arbeitsinstru-
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5 Grundlinien der juristischen Methodik – 50 Vorbemerkung
mente; und die Formulierung der erzeugten Rechtsnorm ist notwendig konkreter als der üblicherweise so genannte Gesetzeswortlaut. Dieser heißt hier im technischen Sinn Normtext (Rechtssatz, amtlicher Wortlaut); er ist das sprachliche Gebilde (die Zeichenkette), das in Gestalt von „Paragraphen“ oder „Artikeln“ die Kodifikationen zusammensetzt. Der Normtext ist, neben dem Fall, das Eingangsdatum des Konkretisierungsvorgangs. Die laienhafte Fassung (Fallerzählung) des Rechtsfalls wird zum zweiten Eingangsdatum in der juristischprofessionellen Form des Sachverhalts. 468
Der Jurist, der den Fall zu entscheiden hat, wählt vom Sachverhalt her die ihm nach seinem Vorwissen „einschlägig“ erscheinenden Normtexte aus. Über diese fließen Sachgesichtspunkte der damit als passend unterstellten Rechtsnormen in die Arbeit ein (Sachbereich), die normalerweise aus Gründen der Arbeitsökonomie gemäß der Individualität des Sachverhalts zum Fallbereich eingegrenzt werden. Die Interpretation sämtlicher Sprachdaten, also die Textauslegung mit allen methodisch anerkannten Mitteln, ergibt das Normprogramm. Mit dessen Hilfe wählt der entscheidende Jurist aus dem Sach- bzw. dem Fallbereich die Teilmenge der für das Fallergebnis mit-normativen Tatsachen aus, den Normbereich; dieser umschreibt also die Menge derjenigen Realdaten, die zu Recht mit zur Grundlage der Entscheidung gemacht werden. Normprogramm und Normbereich setzen die abstrakt-generell (im Sinn von Leitsätzen) zu formulierende Rechtsnorm zusammen („In einem Fall wie diesem gilt …“). Im letzten Abschnitt seiner Arbeit individualisiert der Jurist diese zur Entscheidungsnorm (Entscheidungsformel, Urteilstenor); dieser letzte Schritt vollzieht sich dann als methodisch simple Schlußfolgerung, insoweit – aber nur insoweit! – in der Tat als Subsumtion unter die vorher produzierte Rechtsnorm („Da ein solcher Fall vorliegt, ist die Klage abzuweisen“, usw.). Normativität kommt dabei noch nicht dem Normtext zu; alle Eingangsdaten der Rechtsarbeit (Normtext, Sachverhalt) sind nicht-normativ. Normativ sind erst deren Resultate: die Rechtsnorm als generell formuliertes Zwischenergebnis, die Entscheidungsnorm als verbindliche Bestimmung des einzelnen Falls.
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Was dagegen die Normtexte auszeichnet, ist ihre Geltung. Diese besteht einmal in der Verpflichtung der Normtextadressaten, sich in ihrem Verhalten entsprechend zu orientieren; und zum andern in der Rechtspflicht der Richter oder der sonst zur Entscheidung zuständigen Juristen, die für den Fall einschlägigen Normtexte vollständig als Eingangsdaten heranzuziehen und sie methodisch korrekt zu verarbeiten. Dementsprechend stellt das sogenannte geltende Recht die Normtextmenge dar, also die Gesamtheit aller Normtexte in den (nach verfassungsrechtlichen Maßstäben „zur Zeit in Kraft befindlichen“) Gesetzbüchern. Sowohl Normtexte als auch Argumente und Meinungen treten als Texte auf. Aber sie sind Texte von verschiedenem Status: Meinungen können durch andere Meinungen bekämpft, Argumente nur durch bessere Argumente entkräftet werden; Normtexte sind als geltende rechtmäßig zu beachten und abzuarbeiten.
5 Grundlinien der juristischen Methodik – 51 Rechtserzeugung
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51 Gesetzespositivismus – Rechtserzeugung – Norm / Fall – Norm / Wirklichkeit In der allgemeinen juristischen Methodendiskussion spielt der Gesetzespositivis- 470 mus noch immer eine wesentliche Rolle; für die verfassungsrechtliche Methodik ist er der einzige traditionelle Gesamtentwurf (v. Gerber, Laband). Savignys Kunstregeln der Interpretation beziehen sich nicht ausdrücklich auf das Staats- und Verfassungsrecht. In diesen Rechtsbereichen ist daher die Kluft zwischen überlieferten Dogmen und den Anforderungen an die alltägliche Arbeitsweise besonders spürbar geblieben. Weder die Analyse der Verfassungsrechtsprechung (oben 21) noch der Diskussionsstand der wissenschaftlichen Literatur (oben 22) noch auch die methodischen Praktiken von Gesetzgebung, Regierung und Verwaltung ergaben eine über die gesetzespositivistische hinausführende, einheitlich durchdachte Konzeption. Was in Praxis und Wissenschaft an neueren Ansätzen vorgeschlagen und auch geübt wird, ist zum Teil widersprüchlich, zum Teil noch nicht hinreichend diskutiert und erprobt. Es fügt sich nicht zu einem einheitlichen Bild und ermangelt der Begründung durch eine nach-positivistische Strukturtheorie der Rechtsnorm. Der hier vorgelegte Entwurf baut dagegen ausdrücklich auf einer solchen auf und versucht durch seine systematische Anlage, der wissenschaftlichen und der fallentscheidenden Rechtspraxis die Möglichkeit zu zeigen, umfassend und durchgängig Rechenschaft von dem abzulegen, was sie tut. Das Ziel der Strukturierenden Rechtslehre besteht nicht in der Korrektur einiger Oberflächenphänomene des Gesetzespositivismus. Es besteht unter anderem auch in der Überwindung von dessen Grundannahme, „die“ Rechtsnorm sei dem juristischen Funktionsträger im Rahmen einer als abgeschlossen gedachten Rechtsordnung schon vorgegeben und daher syllogistisch anwendbar. Juristische Methodik ist, realistisch gesehen, Rechtserzeugungsreflexion, nicht 471 Rechtfertigungskunde im Sinn des Legitimierens von Text„auslegung“. „Konkretisieren der Rechtsnorm“ heißt nicht, die Norm sei schon vor der Konfrontation mit dem Fall, vor dem von diesem veranlaßten Vorgang der Fallösung, gegeben. Das meinen der Positivismus, der Neopositivismus und verschiedene Antipositivismen. Nach der aus diesen Strömungen zusammengesetzten noch herrschenden Meinung muß die als solche bereits vorhandene Rechtsnorm nur noch auf den Fall hin konkreter, das heißt enger und genauer gemacht, muß sie vom Allgemeinen auf das Besondere, vom Abstrakten auf das Konkrete, vom Generellen auf das Individuelle hin „konkretisiert“ werden. Der Jurist stutzt nach diesem herrschenden Konzept „die“ Rechtsnorm sozusagen auf ihre passende, den Fall entscheidende Miniaturversion zusammen. Durch ihre Einsicht in die Notwendigkeit aktiven Tuns des Juristen unterscheiden sich die antipositivistischen Schulen vom klassischen Gesetzespositivismus, demzufolge die Rechtsnorm als hypothetischer Imperativ, als syllogistisch traktierbarer Obersatz nicht einmal konstitutives Handeln voraussetzte; vielmehr wurde sie als logische Falle angesehen, die zuschnappte, sobald ein (als Untersatz) „passender“ Rechtsfall des Weges kam. Die fragwürdige Annahme, die
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5 Grundlinien der juristischen Methodik – 51 Rechtserzeugung
Rechtsnorm als vor dem Rechtsfall existent anzusehen, die Illusion einer lex ante casum, ist dagegen positivistischen und antipositivistischen Ansätzen bis heute gemeinsam. Es erscheint einleuchtender, erst die lex in casu „Rechtsnorm“ zu nennen: hinreichend konkret, um den Ausgang des Verfahrens normativ zu steuern. Recht ist alles, was der (entschiedene) Fall ist. Auf der allgegenwärtigen, aber selten reflektierten Erfahrung, die Rechtsnorm werde erst im Fall hergestellt, beruhen auch die rechtsstaatlichen Begründungspflichten. Andernfalls bedürfte es keiner konkreten (richterlichen und exekutivischen) „Gründe“ für die konkrete Entscheidung; die Amtliche Begründung und die Angaben der beschließenden parlamentarischen Mehrheit im Verfahren der Normtextsetzung würden ausreichen.Weil aus der Sicht des sprachreflexiven Rechtsstaatsverständnisses das Recht im Verfahren erst erzeugt wird, bedarf die Entscheidung jeweils einer Begründung. Weil Recht das Ergebnis eines Verfahrens mit kontradiktorischer Perspektive ist, muß die Argumentation, die zu diesem Ergebnis führt, auch nach außen hin dargestellt werden. Die Begründung hat dabei die Rolle eines Diskussionsprotokolls, in dem die Argumente, die sich als beständig erwiesen haben, aufgeführt werden.1 Es geht also nicht um irgendeine Begründung; sondern um eine Begründung, die präzise auf die Argumentation in diesem Verfahren bezogen ist. Das ist der Inhalt des vom Bundesverfassungsgerichts erarbeiteten Verbots der Überraschungsentscheidung: „Das Bundesverfassungsgericht hat aus dem Gebot rechtlichen Gehörs nach Art. 103 Abs. 1 GG das Verbot von Überraschungsentscheidungen abgeleitet. Die Verfahrensbeteiligten dürfen weder vom Ergehen einer gerichtlichen Entscheidung an sich (BVerfGE 34, 1, 7 f.) noch von deren tatsächlichem (BVerfGE 84, 188, 190 f.) oder rechtlichen (BVerfGE 86, 133, 144 f.) Inhalt überrascht werden. Einer gerichtlichen Entscheidung dürfen nur solche Tatsachen und Beweisergebnisse zu Grunde gelegt werden, zu denen sich die Parteien äußern konnten. Eine bloße Information der Verfahrensbeteiligten allein genügt nicht; es muß für diese auch eine konkrete Möglichkeit der Äußerung zum Sachverhalt bestehen (BVerfGE 59, 330, 333). Der sachverhalts- und tatsachenbezogenen Äußerung als Voraussetzung der Gehörsgewährung im Sinne des Art. 103 Abs. 1 GG ist die Möglichkeit zur Äußerung zur Rechtslage gleichgestellt (BVerfGE 60, 175, 210; 64, 125, 134; 86, 133, 144; 98, 218, 263). Dem Beteiligten muß die Möglichkeit gegeben werden, sich im Prozeß mit tatsächlichen und rechtlichen Argumenten zu behaupten. Dabei kann es in besonderen Fällen auch geboten sein, den Verfahrensbeteiligten auf eine Rechtsauffassung hinzuweisen, die das Gericht der Entscheidung zu Grunde legen will. Eine dem verfassungsrechtlichen Anspruch genügende Gewährung rechtlichen Gehörs setzt voraus, daß der Verfahrensbeteiligte bei Anwendung der von ihm zu verlangenden Sorgfalt zu erkennen vermag, auf welche Gesichtspunkte es für die Entscheidung ankommen kann. Es kann im Ergebnis der Verhinderung eines Vortrags zur Rechtslage gleichkommen, wenn
1 Vgl. zu diesem Begriff des Argumentationsprotokolls aus der philosophischen Argumentationstheorie Wohlrapp I, S. 43 ff., 55.
5 Grundlinien der juristischen Methodik – 51 Rechtserzeugung
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das Gericht ohne vorherigen Hinweis auf einen rechtlichen Gesichtspunkt abstellt, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozeßbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen nicht zu rechnen brauchte. Das gilt insbesondere, wenn die Rechtsauffassung des Gerichts bislang weder in der Rechtsprechung noch in der Literatur vertreten wurde, wenngleich grundsätzlich kein Anspruch auf ein Rechtsgespräch oder einen Hinweis auf die Rechtsauffassung besteht (BVerfGE 86, 133, 144 f.; 96, 189, 204; 98, 218, 263).“2 Weil das Recht dem Verfahren nicht vorgeordnet ist, sondern die vom Rechtssystem bereitgestellten Arbeitsmittel erst konkreter gemacht werden müssen, ist genau dieser Vorgang darzustellen. Über diesen Zwang zur Begründung entfaltet die juristische Methodik ihre (indirekte) Bindungswirkung für die Praxis.3 „Die Wahrheit ist konkret“ – jedenfalls die des Rechts: einzelne Streitfälle normativ, von Rechts wegen zu entscheiden, die sich auf anderen Wegen privaten oder gesellschaftlichen Sich-Vertragens als nicht lösbar herausstellen. Der Konflikt ist „konkret“ im Sinn von einzeln, und dem Recht wird abverlangt, in ihm – in casu – normativ zu werden. Die Wendung gegen die lex ante casum der traditionellen Modelle heißt nicht, 472 vom Beginn der Fallösung an herrsche Freiheit von Bindung. Die in dem zu bearbeitenden Fall und für die Entscheidung zu entwickelnde Rechtsnorm, die lex in casu, stellt vielfache Bedingungen an methodologische und rechtsstaatliche Standards, um als vertretbar gelten zu können; die hier vorgelegte Methodik ist der Entfaltung solcher Standards gewidmet. Und wenn im übrigen die Justiz gelegentlich die Versuchung verspürt, künftige Fälle zu antizipieren und im selben Begründungstext gleich vorweg „mit zu lösen“ – etwa im Fall eines Verfassungsgerichts, um den Gesetzgeber vorbeugend einzuschüchtern –, wenn sie also leges post casum anbietet, dann überschreitet sie ihre positivrechtliche Kompetenz. Die Maßstäbe einer rechtsstaatlichen Methodik erlauben es, solche Fälle erkennbar und damit die normative Disziplinierung der (Verfassungs-)Justiz durch Kompetenzvorschriften und Prozeßrecht wirksam zu machen. Während die Rechtsnorm im Rahmen dieser Rechtsanwendungslehren gleichsam 473 als apriorische Vorgabe fungiert, aus der die jeweilige Fallösung abgeleitet werden soll, will die Rechtserzeugungsreflexion der Strukturierenden Rechtslehre induktiv bei den praktischen Problemen von Rechtsarbeit ansetzen. Unter Rückbindung an das durch das Rechtsstaatsprinzip und andere methodenrelevante Normen der Verfassung gesetzte Postulat, juristische Entscheidungstätigkeit arbeitsfähig, damit auch nachvollziehbar zu gestalten, stellt die Strukturierende Rechtslehre die Analyse der alltäglichen Rechtsarbeit in den Mittelpunkt ihres Vorgehens4. Es zeigt sich dann, daß die Rechtsnorm auf eine zweifache Weise mehr ist als ihre Sprachfas2 BVerfGE v. 24. 09. 2003 / 2BvR1436 / 02, zitiert nach der Internetseite des Gerichts, Minderheitsvotum, Rn. 134. 3 Vgl. in diesem Sinne auch Kramer, S. 27, Fn. 8. 4 Dazu Müller XIX, S. 246 ff., 226 f., 232 und 431.
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5 Grundlinien der juristischen Methodik – 51 Rechtserzeugung
sung. Strukturell ist zunächst zu untersuchen, wie weit die in normtextorientierten Entscheidungsvorgängen wirksamen Elemente den gewöhnlich mit den Ausdrücken „Recht“ und „Wirklichkeit“ bezeichneten Bereichen zuzurechnen sind. Dem so aufzuklärenden Verhältnis von Wirklichkeit und Norm ist als zweites Thema der Analyse die Beziehung zwischen Norm und Fall hinzuzufügen. Die herkömmliche Annahme, „die“ Rechtsnorm sei dem Juristen schon anwendungsbereit vorgegeben, verhinderte bislang die Klärung der Frage, in welchem sachlichen Bezug die Norm zu den von ihr zu regelnden Wirklichkeitsausschnitten steht. Daher ist es ein Ziel der hier vertretenen Rechts(norm)theorie und der aus ihr entwickelten Methodik, die Vorschriften auf den beiden Problemachsen Norm-Wirklichkeit und Norm-Fall in einem sachbestimmten, wissenschaftlich gegliederten Vorgang zu konkretisieren. Das läßt nicht nur den Positivismus, sondern ebenso die antipositivistischen Normkonzepte hinter sich. Auch diese bleiben noch dem angeblichen Gegensatz NormWirklichkeit verhaftet; sie suchen ihn nur nachträglich zu vermitteln, ihn sozusagen abzumildern. Dagegen sind die Elemente des Normativen wie die des Wirklichen hier von Anfang an gemeinsam verarbeitet und in einem realistisch strukturierten Ablauf aufeinander bezogen. 474
In bezug auf das Verhältnis Norm-Fall kann demnach nicht schon der Normtext, sondern könnte erst das Ergebnis einer umfassenden Sprachinterpretation als „Rechtsnorm“ bezeichnet werden. Im Blick auf das Verhältnis Norm-Wirklichkeit genügt nicht einmal das. Hier setzt sich die Rechtsnorm erst aus dem genannten sprachlichen Teilergebnis (Normprogramm) und aus der Bearbeitung von einschlägigen Sachstrukturen (Normbereich) zusammen. Anders ausgedrückt, wird damit auf der Achse Norm-Wirklichkeit der Eintrittspunkt der Sozialwissenschaften in juristische Entscheidungstätigkeit sichtbar, während die Achse Norm-Fall die Wichtigkeit der Sprachwissenschaft für die Rechtsarbeit markiert5. 5 s. zu den beiden Problemachsen: Müller XIX, S. 228 f., 234 f. sowie dens. XXII, S. 43 ff. – Wenn „trotz des sprachtheoretisch angemessenen Ausgangspunkt(s)“ der hier entwickelten Position „letztendlich nicht beigepflichtet werden“ könne (Goebel, S. 133, ebd. zum folgenden), dann wird das so begründet, die Strukturierende Rechtslehre gehe „implizit (sic) von der Prämisse aus, daß die Kontexte richterlichen Sprechens festgefügte Standards und Routinen sprachlichen Handelns vorgeben würden, welche die institutionalisierten Sprachspiele der Kreation von Recht durch das Gericht fest umgrenzen“. Bei so viel „festgefügt“ und „fest umgrenzen“ wundert es dann nicht mehr, daß das Strukturkonzept dem Verdikt „eines rigiden Kontexts richterlichen Sprechens“ verfällt, unvereinbar mit dem „Verweisungszusammenhang eines Wittgensteinianischen Sprachverständnisses“ und mit „der Derridaischen Sprachzerstreuung“. Nicht nur das Verhältnis der hier entfalteten Position zum späteren Wittgenstein verdient doch eine genauere Lektüre; auch Derrida wird man durch zu viel Wegsehen von seiner neueren Befassung mit der [Zeichen-]Praxis, mit Recht, Ethik und politischer Philosophie, d. h. durch eine zu starke Konzentration auf die Sprach- und Bedeutungstheorie, wie sie in einem Teil seiner Schriften der 60er und 70er Jahre entwickelt wurde, zumindest in diesem Punkt nicht gerecht. Und wie die Strukturierende Rechtslehre mit dem „Kollektiv des Rechtsstabs“ in seinem Entscheidungsverhalten (das ein Sprachhandeln ist), umgeht, wie sie richterliches Sprechen“ theoretisch auffaßt und praktisch operationalisiert, das sollte besser nicht unter Aussparen ausgerechnet der vorliegenden „Juristischen Methodik“ beurteilt werden; eben das ist
5 Grundlinien der juristischen Methodik – 52 Konkretisierungselemente
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52 Gruppen von Konkretisierungselementen Juristische Methodik hat es zum einen mit Texten, zum andren mit Sachge- 475 sichtspunkten zu tun. Normkonkretisierung ist einerseits Normtextauslegung, Interpretation (dazu unter 53), andererseits Normbereichsanalyse (dazu unter 54). Die herkömmlichen Mittel juristischer Methodik beziehen sich explizit allein auf die Behandlung von Texten. Implizit enthalten sie bereits Möglichkeiten, Sachgehalte aus den Normbereichen theoretisch unreflektiert und methodisch undifferenziert in die Konkretisierung einzubeziehen („Zweckmäßigkeit“, „Praktikabilität“, „Natur der Sache“, „teleologische“ Auslegung usw.). Sie sind durch methodische Faktoren zu ergänzen, die den Sachgehalt der Normbereiche ausdrücklich und auf rational nachprüfbare Art für die Arbeit der Entscheidung von Rechtsfällen verwerten lassen. Savigny hatte vier Auslegungselemente unterschieden. An ihnen ist grundsätzlich festzuhalten; und zwar deshalb, weil in ihnen systemgegebene Eigenschaften einer Rechtsordnung des uns vorliegenden Typus getroffen sind (dazu oben v. a. unter 222.23 und .24). Sie sind aber (a) rechtstheoretisch und methodologisch noch wesentlich genauer, als das her- 476 kömmlich geschieht, an den Erfahrungen heutiger Rechtsarbeit zu erproben und zu untersuchen (s. oben unter 31 und 32), nicht zuletzt im Hinblick auf die verschiedenen Typen von Normstruktur und auf die Nichtidentität von Norm und Normtext. Eine systematische Folgerung aus diesem zuletzt genannten Gesichtspunkt ist die Unterscheidung von Normtextauslegung und Normbereichsanalyse, also der beiden Hauptgruppen von Operationen der Normkonkretisierung; (b) ferner sowohl umfassend als auch systematisch zu erläutern und in ihren praktischen Funktionsweisen zu analysieren;
aber Goebels Absicht, vgl. ebd., S. 123 („… da es hier nicht um Methodologie, sondern um die ihr vorausgehende Ebene geht, ob Rechtspraxis überhaupt reflektieren soll“) oder S. 130 (es handle sich dort nicht um „die methodischen Vorgaben der Strukturierenden Rechtslehre“, sondern nur um „die theoriestrategischen Leitentscheidungen“). Auf diese Art kommen zwei Herzstücke dieses Gesamtansatzes erst gar nicht in den Blick: das in den theoretischen Schriften seit der „Strukturierenden Rechtslehre“ so genannte Konzept des „Kreislaufs der Rechtsverwirklichung“ – eines Kreislaufs, der entschieden über den richterlichen Rechtsstab hinausgeht; und über die in das vorliegende Buch gehörende Konzeption des „nicht beendbaren Spiels der Differenzen“, des über den (seiner Absicht nach feststellenden, abschließenden) Diskurs des Rechtsstabs unausweichlich und ständig hinausführenden „sekundären diskursiven Prozesses (siehe unten, Randnummern 505 ff., 518 ff.), der aller rechtsförmlichen Fixierungsversuche spottet: eben weil es um Sprachlichkeit und damit um deren allgemeine, vom Recht nicht abschaffbare Bedingungen geht (so schon 1975 in einer der Programmschriften dieses Konzepts, in „Recht – Sprache – Gewalt“, Müller X. – Zum Kreislaufmodell bereits Müller X; XIX, S. 323, 329; XXVII, S. 41; im vorliegenden Buch RNr. 2, S. 157 f.).
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5 Grundlinien der juristischen Methodik – 52 Konkretisierungselemente
(c) in ein allgemein handhabbares sowie zum Teil normativ abgestütztes und insofern verbindliches Wirkungs- bzw. Rangverhältnis zu bringen (s. oben 33) und schließlich (d) je nach rechtlichem Arbeitsgebiet (dazu grundsätzlich unter 58) um spezielle Konkretisierungselemente zu ergänzen; das geschah hier für das Verfassungsrecht (s. oben 212.2 und .3, 222.3, 322.2). 477
Praktische Normkonkretisierung bringt folgende Gruppen von Gesichtspunkten ins Spiel: 5.21 Methodologische Elemente im engeren Sinn (grammatische, genetische, historische, systematische und „teleologische“ Auslegung einschließlich zusätzlicher Interpretationsfiguren wie Analogie, Prinzipien der Verfassungsinterpretation usw.), 5.22 Normbereichselemente, 5.23 dogmatische Elemente, 5.24 Theorie-Elemente, 5.25 lösungstechnische Elemente und 5.26 rechtspolitische Elemente.
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Die Elemente zu 5.21 und 5.22 sowie ein Teil derjenigen zu 5.23 sind unmittelbar normtext- bzw. normprogrammbezogen. Die restlichen Elemente zu 5.23 (normtextgelöste dogmatische Figuren, Systematisierungsversuche usw.) und die Elemente zu 5.24 bis 5.26 sind nicht unmittelbar normtextbezogen und daher auf Hilfsfunktionen im Vorgang der Konkretisierung beschränkt. Eine genauere Untersuchung zur Praxis der einzelnen Aspekte erbringt auch für die herkömmlichen zu 5.21 zahlreiche über den Gesetzespositivismus hinausführende Einsichten in die Struktur des Vorgangs praktischer Rechtsbildung für Einzelfälle (dazu oben z. B. 322).
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Es ist dargelegt worden, daß Konkretisierung hier nicht im Sinn der herkömmlichen Hermeneutik verstanden wird. Sie bezeichnet nicht die Vorstellung einer substanzhaft vorgegebenen Norm, die im Weg der Verteilung in einzelne Fälle hinein „konkretisiert“ wird. Vielmehr meint der Begriff den Entscheidungsprozeß, in dem eine allgemeine Rechtsnorm im Lauf der Fallösung formuliert und durch Techniken methodischer Zurechnung mit einem Normtext in Beziehung gebracht wird. Nicht ergibt sich die Rechtsnorm „aus“ dem Normtext; sondern die Rechtsnorm wird am Normtext gemessen und hat sich an ihm zu bewähren. Dieser hier rechtswissenschaftlich immanent entwickelte Grundansatz ist in gewisser Weise dem Falsifikationsmodell der kritisch-rationalistischen Wissenschaftslehre verwandt. Im Gegensatz zu dieser stützen sich aber wesentliche Elemente der hier vertretenen Rechtstheorie und Methodik auf den Versuch einer politisch-historischen Analyse des neuzeitlichen Verfassungsstaats, vor allem in seiner kontinentaleuropäischen Gestalt6. Die 6 Dennoch wundert sich Pauly, warum es hier an einem uneingeschränkten Bekenntnis zu Popper fehlt und „warum die ,Juristische Methodik‘ nach wie vor ohne den in der Naturwis-
5 Grundlinien der juristischen Methodik – 53 Interpretation
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hier vorgeschlagene Konzeption läßt sich auch deshalb nicht unter eine der wissenschaftstheoretischen Hauptschulen der gegenwärtigen Debatte subsumieren, weil sie nicht aus dieser insoweit abstrakten Debatte durch parteinehmendes Bekenntnis zu einer von ihnen mit anschließender „Anwendung auf“ die Rechtsordnung entstanden ist, sondern weil sie rechts- und verfassungstheoretisch, rechtsdogmatisch und rechtsmethodisch immanent erarbeitet wurde.
53 Interpretation (Normtextauslegung) Grammatische Auslegung: Interpretation des Normtextes als Beginn der Ausar- 480 beitung einer Rechtsnorm. Sie steht in aller Regel am Anfang der methodischen Operationen. Sie ist nur in den seltenen Fällen echter Subsumtion (v. a. bei numerischen Rechtssätzen) allein tragfähig; hier hat sie Bestimmungswirkung. Normalerweise entfaltet sie dagegen in positiver Richtung nur Indiz-, in negativer Grenzwirkung. Sie ist in der Praxis mit den übrigen Elementen, vor allem mit den anderen zu 5.21, eng verflochten. Die normative Anweisung ist nicht im Normtext substantiell „vorhanden“ oder „enthalten“; diese These gehört zu den irrigen Glaubenssätzen des Gesetzespositivismus. Juristische Begriffe können sowenig wie andere ihre Aussagen verdinglichen. Sie können nur auf ihre Gebrauchsweise hin untersucht werden; sie haben Zeichenwert. In den damit abgesteckten Grenzen zwingt der (nur scheinbar eindeutige) grammatische Aspekt häufig dazu, zwischen mehreren möglichen Gebrauchsweisen der verwendeten Begriffe, zwischen alltagssprachlichen und fachsprachlichen und oft auch zwischen verschiedenen fachsprachlichen (gesetzessprachlichen, dogmatischen, theoretischen) Gebrauchsweisen zu entscheiden. Daran erweist sich unmittelbar, daß auch die grammatische Auslegung nicht nur den vorhandenen Normtext, sondern die herzustellende Norm betrifft. Schon in diesem ersten Stadium muß – abgesehen etwa von den Grenzfällen numerisch abschließend determinierter Vorschriften – über philologische Sinnerfassung des Wortlauts hinaus der mögliche Normsinn in bezug auf den zu entscheidenden Fall vorwegnehmend gedeutet werden. Dabei wird unausweichlich auf andere Elemente als das grammatische übergegriffen: auf andere, mit der für den Fall in Aussicht genommenen Vorschrift in Zusammenhang zu bringende Normtexte (systematische Auslegung), auf den Wortlaut von Vorläufern der zu konkretisierenden Norm (historische Auslegung) und auf den der (Nicht-Normtexte darstellenden) Gesetzgebungsmaterialien (genetische Auslegung). Grammatische, systematische, historische und genetische Auslegung sind nicht aus einem ihnen substantiell innewohnenden Grund die am nächsten liegenden und sich in der Regel gemeinsam anbietenden Konkretisierungselemente; sie sind es vielmehr funktionell in einer geschriebenen (kodifizierten) Rechtsordnung dieses Typs. Für die Auslegung von Gewohnheitsrecht innerhalb senschaft herrschenden falsifikationistischen Ansatz arbeitet“; ebd., S. 612. – Mit einem doktrinären Verständnis wird nicht zuletzt Popper selbst mißbraucht; dazu etwa Christensen VII, S. 223 f., 266 ff. u. ö. m.w. N.
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5 Grundlinien der juristischen Methodik – 54 Normbereichsanalyse
dieses Rechtssystems gilt grundsätzlich nichts anderes. Es verfügt nur nicht, wie das geschriebene Recht, über eine einzige autoritativ festgelegte (ausgefertigte, verkündete, veröffentlichte) Sprachfassung, über einen Normtext. Seine (mehr oder weniger stark wechselnde) Textfassung ist in Lehrbüchern, Kommentaren und vor allem in (gerichtlichen) Entscheidungen enthalten. Aus verfassungsrechtlichen, rechtsstaatlichen Gründen bildet der Normtext die Grenze des Spielraums zulässiger Konkretisierung. Das heißt nicht, die Entscheidung müsse „sich aus dem Wortlaut ergeben“; das tut sie, wie gesagt, nur in seltenen Grenzfällen. Die Rechts- und die Entscheidungsnorm muß aber mit dem Normtext noch vereinbar sein. Eine Entscheidung gegen den Wortlaut ist zwar methodisch möglich; methodische Regeln haben keinen normativen Rang. Sie ist aber – abgesehen von den Fällen, in denen der Wortlaut nachweislich fehlerhaft oder mißverständlich ist – nicht rechtmäßig. Damit ist eine Grenze für Rechtsbildung durch Normkonkretisierung gezogen: hier steckt der Wortlaut die äußersten Grenzen funktionell (Gesetzgebung – Rechtsprechung und Exekutive) zulässiger Sinnvarianten ab. Es handelt sich, am Ende der Konkretisierungsarbeit und angesichts der Frage nach deren Grenze, aber notwendig nicht mehr um den „bloßen“, sondern um den konkretisierten Wortlaut. Die Grenze ist also, genau genommen, durch das Normprogramm gezogen (s. u. 59).
54 Normbereichsanalyse 481
Der Vorgang praktischer Erarbeitung von Rechtsnormen für zu regelnde Rechtsfälle erweist sich als strukturiert. Nur in relativ seltenen Grenzfällen ist er als „Anwendung“, als „syllogistischer Schluß“ oder als „Subsumtion“ erfaßbar, wie es der Gesetzespositivismus allgemein glauben machen möchte. Die Rechtsnorm ist mehr als der anfängliche Normtext. Die Interpretation des Normtextes bildet einen wichtigen, aber meist nicht den einzigen Bestandteil der Umsetzung legislatorischer Signale auf zu entscheidende Fälle der sozialen Wirklichkeit. Daher ist nicht länger nur von Interpretation oder Auslegung, also von Normtextbehandlung (dazu oben 53) zu sprechen, sondern umfassend von Normkonkretisierung (s. oben 52).
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Der Normtext ist nicht das Gesetz, sondern eine Vorform des Gesetzes. Die Normen gehen aus dem Vorgang praktischer Fallösung als sachbestimmte Ordnungsmodelle hervor, die sowohl nach den einzelnen Rechtsdisziplinen als auch innerhalb dieser strukturell und funktionell zu differenzieren sind7. Je nach dem Typus von Normstruktur (Generalklausel, Spezialnorm, Materienregelung, Legaldefinition, Verweisungsnorm, Grundrecht, Verfahrensvorschrift, Formbestimmung, Fristregel usw.) wird mehr oder weniger deutlich, daß praktisch wirkende Normativität rechtlicher Vorschriften in grundsätzlich gleicher Weise wie durch die von Texten geliefer-
7 Das ist eines der Ergebnisse meiner „hermeneutischen“ Untersuchung „Normstruktur und Normativität“ (1966); die Position wurde inzwischen rechts(norm)theoretisch präzisiert: Müller XIX, S. 241 ff., 263 ff. u. ö.
5 Grundlinien der juristischen Methodik – 54 Normbereichsanalyse
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ten Entscheidungsaspekte auch durch den Sachgehalt des Normbereichs mitbegründet wird, soweit er ein begriffener Sachgehalt ist. Aus den allgemeinen Berührungspunkten der Norm mit der sozialen Realität, dem „Sachbereich“ bzw. dem daraus verdichteten Fallbereich hebt das (mit den Mitteln der Textinterpretation zu erarbeitende) Normprogramm den für praktische Normativität mitkonstitutiven Normbereich heraus. Der Normbereich ist somit umschrieben als die Grundstruktur des Ausschnitts sozialer Wirklichkeit, den „sich“ das Normprogramm als Regelungsfeld ausgesucht und / oder häufig erst geschaffen hat. Anders ausgedrückt: „Normbereich“ heißt die Grundstruktur des Sachbereichs der Rechtsnorm; also die Summe und der Zusammenhang der vom Rechtsarbeiter anhand des Normprogramms als mit diesem vereinbar und für die Fallösung wesentlich, damit aber als (mit-)normativ begründbaren Tatsachen8. Ist der Normbereich zur Gänze rechtserzeugt (wie etwa bei Vorschriften über Fristen, Termine, Formalien, bei gewissen Institutionsund Verfahrensregeln, bei abstrakter Abgrenzung von Rechtswegzuweisungen usw.), dann liefert er oft keine zusätzlichen Gesichtspunkte. In diesen Fällen kann die Konkretisierung insgesamt als Auslegung des Normtextes erfolgen, d. h. durch Bestimmung des Normprogramms mit Hilfe aller anerkannten Interpretationselemente von der grammatischen Auslegung bis zu methodischen Figuren einzelner Rechtsgebiete. Dort dagegen, wo das Normprogramm auf soziale Strukturen verweist (Ehe und Familie, Handelsgesellschaften, die Bereiche des Besonderen Verwaltungsrechts, Grundrechte und so weiter), auf typisierbare Handlungs- bzw. Verhaltenszusammenhänge (z. B. im Strafrecht), oder wo es Funktionsabläufe erfaßt (Verfahrensrecht, Funktionsnormen von Institutionen, Gerichtszweigen usw.) bzw. Sachmaterien umschreibt (Kompetenzregeln), gehören Sachgesichtspunkte aus der sozialen Wirklichkeit, d. h., begriffene Sachgegebenheiten, erfahrungsgemäß und legitimermaßen zu den Determinanten der Fallentscheidung durch Normkonkretisierung. Diese Sachfaktoren der Rechtsnorm sind empirisch zu ermitteln und mit den Elementen der Normtextauslegung rational, d. h. durch eine nicht zuletzt auch
8 Der Begriff des Normbereichs ist enger als jener des Regelungs- und Schutzbereichs von Normen in der Ausdrucksweise der herrschenden Auffassung. Was dort mit „Regelungsbereich“ gemeint wird, kommt dem hier gebrauchten Begriff des Sachbereichs am nächsten. „Schutzbereich“ ist dagegen ein dogmatisch verengter Begriff, weil er gegenläufige und einschränkende Normen, zum Beispiel Vorbehaltsgesetze bei Grundrechten, bereits berücksichtigt. Eine einzelne Gemeinsamkeit des Schutzbereichs mit dem Normbereich besteht aber darin, daß die Dogmatik einschränkender Vorschriften sowie die der Schutzrichtungen einer bestimmten Norm zu den Sprachdaten gehören, aus denen das Normprogramm erarbeitet wird; und dieses dient als Auswahlkriterium für die Fakten des Normbereichs. – Andererseits setzt sich der Normbereich nur aus empirischen Gegebenheiten zusammen – eben aus denen des Sachbereichs, mit Hilfe des Normprogramms selektiert. Der Normbereich ist die Menge der die Entscheidungsnorm zu Recht mittragenden Tatsachen. Anders ausgedrückt: Der Sachbereich ist die Menge der de facto, der Normbereich die Menge der de iure fallerheblichen Tatsachen. Dagegen wird der Ausdruck „Schutzbereich“ nicht für eine Teilmenge von Realdaten, sondern für eine Teilmenge von Entscheidungsnormen verwendet: nämlich für diejenigen Entscheidungsnormen, die sozusagen zugunsten der fraglichen Rechtsnormen ausfallen und, wie diese auch, auf ein und denselben Normtext methodisch zurückgeführt wurden.
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5 Grundlinien der juristischen Methodik – 54 Normbereichsanalyse
systematisch ansetzende Methodik, in Beziehung zu bringen. Wieweit das fachlich kompetent oder dilettantisch erfolgt, ist unmittelbar eine Frage der Juristenausbildung. Die Tendenz der Hochschulpolitik zu kostensparender „Effizienz“ und gegen Wissenschaftlichkeit der Ausbildung läßt für die Zukunft wenig Hoffnung. Davon abgesehen, erfordert Normbereichsanalyse als wesentlicher Faktor juristischer Entscheidung aber auch grundsätzlich eine funktionale Arbeitsteilung zwischen Juristen und anderen Sozialwissenschaftlern – eine Zusammenarbeit, welche die nichtjuristischen Beteiligten nicht an ihnen fremde normative Fragestellungen ketten, sondern vielmehr die methodische und politische Verantwortung für das Ganze der rechtlichen Entscheidungsvorgänge bei den normkonkretisierenden Juristen belassen soll.9 483
Es ist wichtig, angesichts dieser nach-positivistischen10 Rechtsnormtheorie und Methodik nicht in die Haltung pseudo-wissenschaftlicher Verdinglichung zurückzufallen, die den Gesetzespositivismus kennzeichnet. Es ist wichtig, sich über folgendes klar zu sein: „Das“ Normprogramm ist ebensowenig wie „der“ Normbereich, Sach- und Fallbereich etwas, das dinghaft vorgegeben wäre und das daher nur noch richtig entdeckt, nachvollzogen, aufgefunden werden müßte. Diese Lebenslüge eines formalistischen Rechtsstaatsverständnisses wird mit der hier vorgeschlagenen Konzeption verlassen. Die genannten Begriffe sind wie die andern, mit denen diese Methodik operiert, Arbeitshypothesen; genauer: Arbeitsanforderungen an den Juristen, soweit er rechtsgebunden zu entscheiden hat. Der Begriff „Normbereich“ besagt in diesem Zusammenhang: Die Fakten, die in einem Entscheidungsfall ins Spiel zu bringen sind, dürfen nicht wahllos („rein pragmatisch“ – je nachdem, ob es „in den Kram paßt“ oder nicht) zu mitbestimmenden Faktoren der Entscheidung gemacht werden, sondern nur in generalisierbarer Form. Der Gesetzespositivismus kann nicht auf der Seite des bewußten Einbeziehens der sozialen Wirklichkeit überwunden werden, wenn man auf der Seite seiner rechtsstaatlichen Technizität und Formqualitäten verfassungsgeschichtlich hinter ihn zurückfällt. Eine nach-positivistische Rechtsnormtheorie und Methodik muß versuchen, beiden Varianten von Rationalität gerecht zu werden. Regeln für die Verallgemeinerungsfähigkeit der normativ relevanten Sachbestandteile der Rechtsnorm entwickelt deshalb die vorliegende strukturierende Methodik mit ihren Aussagen zu Elementen aus dem Normbereich und über deren Beziehungen zu den übrigen Elementen. Normbereichsanalyse ist ein Teilvorgang der Rechtsnormkonkretisierung. Sie ist kein Verfahren der Sozialwissenschaften, sondern eines der angewandten Rechts9 Das Gesagte richtet sich nicht gegen die anderen Disziplinen. Es ist eine prozeßrechtliche Feststellung; sie verortet die für Juristen spezifische Art von Verantwortung. 10 Den hier seit Anfang der 70er Jahre eingeführten Term „nachpositivistisch“ im Zusammenhang einer realistischen Rechtstheorie übernimmt Wyduckel I, S. 359 ff.; zu Unrecht und ohne Begründung nennt ders. II, S. 468, die hier entwickelte Position „hermeneutisch-konkretisierend“; ein neuerer Aneignungsversuch bei Somek / Forgó. – Zur Auseinandersetzung um „nachpositivistisch“ in bezug auf das vorliegende Konzept z. B. einerseits Sendler, andererseits Christensen VIII. – Zur Kritik an Sendler a. Goebel. S. 131; eingehende Würdigung bei Villacorta Mancebo I.
541 Sachbereich / Normbereich / Normprogramm
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wissenschaft. Sie bringt keine „neuen“ sozialwissenschaftlichen Ergebnisse, sondern Elemente für die juristische Arbeit. Normbereichsanalyse gehört zur Rechtsnormkonkretisierung. Sie kann Konkreti- 484 sierung nicht grundsätzlich verändern, macht sie aber vollständiger, methodisch genauer und damit kontrollfähiger. Sie weist die immer schon einfließenden Sachargumente aus dem tatsächlichen Umfeld, in dem die rechtliche Vorschrift wirken soll, aus und weist ihnen zugleich, orientiert an den interpretierten Sprachdaten (Normprogramm) ihren Platz zu. Fragestellungen in diesem Zusammenhang sind typischerweise etwa die folgenden: Setzt das Normprogramm die einen oder anderen der im Entscheidungsvorgang ins Spiel gebrachten Realdaten notwendig voraus? Spart der Normtext sie aus oder sagt er etwas zu ihnen; „regelt“ er sie, und wenn ja, in welcher Richtung? Schließt das Normprogramm die fraglichen Tatsachen aus oder ein? Wie werden die tatsächlichen Gegebenheiten im Umkreis der Vorschrift, die zu konkretisieren ist, von den vorhersehbaren Folgen der ins Auge gefaßten Entscheidung berührt werden und welche Bedeutung haben sie für die Realisierbarkeit der Entscheidung selbst? Auch die Denkoperation der Folgenbewertung11 kann, statt methodisch weiterhin in der Beliebigkeit vernünftiger Alltagstheorien zu verbleiben, durch eine methodisch vollständige, ausgewiesene und offen dargestellte Normbereichsanalyse an Präzision und Kontrollierbarkeit nur gewinnen.
541 Sachbereich / Normbereich / Normprogramm – Rechtsnorm und Entscheidungsnorm
Der Normbereich ist ein Ausschnitt aus dem Sach- bzw. Fallbereich; das durch 485 Interpretation ermittelte Normprogramm „schneidet“ ihn „heraus“. Das ist keine quasi-ontologische Bestimmung, sondern eine Aussage über den Ablauf eines Arbeitsprozesses, nämlich der juristischen Entscheidung. M. a. W.: Normativität ist keine „Eigenschaft“, sondern ein „Vorgang“; sie „ist“ nicht, sie „wirkt“. Alle Elemente, die diesen Entscheidungsvorgang mitbestimmen, sind sprachlich geformt und vermittelt12. Sie unterscheiden sich aber nach ihrer Herkunft danach, ob sie als Texte oder als soziale Fakten konstituiert sind. Noch genauer denn als „sprachliche“ und „nichtsprachliche“ sind sie als „primär sprachliche“ (= Sprachdaten) und „nicht primär sprachliche“ (= Realdaten) Elemente zu bezeichnen13. Herkömmliche juristiVgl. dazu den eingehenden Versuch bei Deckert. Dazu Müller X. 13 Entsprechend ist auch die sprachliche Verarbeitung der Realdaten im rechtlichen Entscheidungsprozeß funktional aufzuklären. Man darf dabei nicht in die ungut metaphysische Alternative einer externalisierenden Dichotomie von Welt und Sprache durch einen Abbildrealismus einerseits oder andererseits in deren internalisierende Kontaminierung durch einen linguistischen Idealismus zurückfallen. Zu „ ,Realismus‘, ,Idealismus‘, etc.“ und zu in bezug auf das Verhältnis von Welt und Sprache „schon von vornherein metaphysische(n) Namen“ Wittgenstein I, § 55. Zur Überwindung jener Alternative Putnam II. Differenz und Verhältnis von Welt und Sprachlichkeit verweisen analytisch auf entsprechende „Spracheingangsregeln“ bzw. 11
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5 Grundlinien der juristischen Methodik – 54 Normbereichsanalyse
sche Methodik beschränkt sich bis in die Gegenwart darauf, wissenschaftliche Regeln für die Verwendung der Sprachdaten zu beschreiben bzw. vorzuschreiben. Die hier entwickelte Normtheorie und Methodik versucht, darüber hinaus auch die Realdaten regelhaft (und nicht willkürlich oder „rein pragmatisch“) in den rechtlichen Entscheidungsprozeß ein- bzw. sie von ihm auszuschließen. 486
Das bedeutet für „Sach“- bzw. „Fallbereich“ und „Normbereich“: So wie „Normprogramm“ die Summe der (jeweils) normativ relevanten Sprachdaten bezeichnet, meint „Normbereich“ die der (jeweils) normativ relevanten Realdaten. Diese sind empirisch zu ermitteln und mit den primär sprachlichen Konkretisierungselementen (als dem Normprogramm) innerhalb des einzelnen Entscheidungsprozesses, der aus Normtext und Fall die Rechtsnorm und aus der Rechtsnorm die Entscheidungsnorm (= Urteilstenor, allgemein: die Entscheidungsformel) erarbeitet, zu vermitteln.
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Der „Sachbereich“ meint dagegen die insoweit erste Phase des Entscheidungsvorgangs. In dieser geht der Jurist zunächst vom Sachverhalt aus. Er wählt mit Hilfe von dessen Merkmalen aus der Normtextmenge des sogenannten geltenden Rechts diejenigen Normtexthypothesen aus, die er nach seinem Vorwissen für einschlägig hält. Er kommt von diesen zu den Sachbereichen der durch die Auswahl der Normtexthypothesen als einschlägig unterstellten Vorschriften. In diesem ersten Arbeitsabschnitt treten also die versuchsweise herangezogenen Vorschriften als Normtexthypothesen auf, die Summe der anfänglich in den Konkretisierungsvorgang eingeführten Tatsachenhypothesen heißt „Sachbereich“14.
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Angesichts des zu entscheidenden Falls wird aus ihm in der Regel der Fallbereich verengt. Dieser bildet gegenüber der größeren und unbestimmteren Faktenmenge des Sachbereichs den fallbezogenen Filter, der eine sonst übergroße Komplexität auf arbeitstechnisch wünschenswerte Art einschränkt. Der Ausdruck „Fallbereich“ benennt demnach die für den jeweiligen Sachverhalt voraussichtlich erhebliche Teilmenge aus den Tatsachen der Sachbereiche derjenigen Vorschriften, deren Normtexte vom Juristen versuchsweise in die Fallösung eingeführt worden sind. Es ist also meist der Fallbereich, aus dem durch methodisch offengelegte und rechtsstaatlich akzeptable Vermittlung mit dem Normprogramm (= den auf den Fall hin interpretierten Sprachdaten) der die Entscheidung mit-konstituierende Normbereich „Sprachausgangsregeln“, zu denen Putnam I, S. 27 am Beispiel der Fähigkeit, etwa „Äpfel und Äcker wahrzunehmen, mit ihnen umzugehen und etwas mit ihnen anzufangen“, erläutert: „Unser Sprechen von Äpfeln und Äckern steht in engem Zusammenhang mit unserem nichtsprachlichen Umgang mit Äpfeln und Äckern. Es gibt ,Spracheingangsregeln‘, die uns von Apfel-Erlebnissen zu solchen Äußerungen führen wie ,Ich sehe einen Apfel‘, sowie ,Sprachausgangsregeln‘, die uns von sprachlich artikulierten Entscheidungen (,Ich werde ein paar Äpfel kaufen‘) zu nichtsprachlichen Handlungen führen.“ Vgl. auch Sellars, v. a. S. 423. Grundsätzlich zu dem hier angesprochenen Problem des faktisch Gegebenen weiter Quine I. 14 Der Begriff ist also terminologisch besetzt. Aus diesem Grund ist es nicht klärend, wenn Hoffmann-Riem III, S. 23 ff., auf der Basis dieser Normtheorie den Normbereich lieber „Sachbereich der Norm“ zu nennen vorschlägt. Das wäre sachlich vertretbar, ist aber nach den gegebenen Erläuterungen nicht nötig.
542 Grundrechte und Generalklauseln
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herausgearbeitet wird. Nochmals mit anderen Worten: Der Jurist, der mit allen Mitteln sprachlicher Konkretisierung, von der grammatischen Auslegung bis zu den theoretischen und lösungstechnischen Faktoren, ermittelt, welche Steuerungswirkung die Normtexthypothese für den konkret zu entscheidenden Fall haben kann (= der also ermittelt, wie das Normprogramm der so entworfenen Rechtsnorm lautet), entscheidet dabei nicht nur über die Relevanz von Normtexten und sonst primär sprachlichen Elementen, sondern notwendig (jedenfalls im Normalfall – anders etwa bei bloßen Formvorschriften) zugleich über die normative Relevanz oder Irrelevanz der diesen Fall mitbegründenden Faktoren der sozialen Wirklichkeit, der fraglichen Realdaten. Auch dieser Teil des Entscheidungsvorgangs muß methodisch beherrscht und das heißt zunächst: reflektiert, offengelegt und dargestellt werden.
542 Grundrechte und Generalklauseln
Die Analyse der Struktur von Grundrechten ergibt: Grundrechte sind – anders als 489 herkömmlich behauptet wird – keine „Generalklauseln“. Sie sind Normen mit gesteigert sachhaltigen Normbereichen15. Ihre Positivität ist eine strukturierte; ebenso wie sich allgemein die Normativität rechtlicher Regeln als strukturiert herausgestellt hat. Zu den Einzelgrundrechten können und sollten sektorale Dogmatiken entwikkelt werden. Je genauer diese gefaßt und in generalisierbare Teilregeln differenziert sind, desto entbehrlicher werden auch in der Praxis die aus rechtsstaatlichen Gründen bedenklichen bis unzulässigen Doktrinen und Praktiken von „Wertordnung“, „Schrankenübertragung“, „Güterabwägung“ usw. Entsprechend wichtig ist die Diskussion empirischer Methoden für die Analyse grundrechtlicher Normbereiche. Generalklauseln (wie die §§ 138, 242, 826 BGB, § 1 UWG, § 1 GWB usw.) sind 490 im Umkreis der Grundrechte ausnahmsweise, und zwar wegen der besonderen Formulierung des Normtextes, der Allgemeine Gleichheitssatz, Art. 3 Abs. 1 GG, sowie – folgt man der herrschenden Meinung – auch Art. 2 Abs. 1 GG. Sie haben, was an Art. 3 Abs. 1 und – gemäß der herrschenden Auffassung – an Art. 2 Abs. 1 GG unmittelbar zu sehen ist, gesteigert vage Normtexte und weisen einen sachlich bestimmbaren Normbereich zunächst überhaupt nicht auf. Gleichwohl werden ihnen, soweit die Praxis sie „anwendet“, normale, d. h. den Einzelfall durchaus fühlbar und bestimmt regelnde Rechts- und Entscheidungsnormen zugeschrieben, zugerechnet. Da diese Rechtsnormen aber beides brauchen, ein „normal“ handhabbares Normprogramm wie einen ebenso funktionierenden Normbereich16, werden in der 15 Das hier entwickelte Konzept übernimmt z. B. auch Gomes Canotilho, S. 645 ff. u. ö. für die Grundrechte; allg. für das Verfassungsrecht ebd., S. 207 ff., 230 f. u. ö.; zur „Multifunktionalität“ der Grundrechte: Villacorta Mancebo II. – Übernahme des Strukturkonzepts für grundrechtliche Bereichsdogmatik etwa bei Meyer-Bornholdt II. 16 Zu einfach will Sachs II das Normbereichsproblem bei den Diskriminierungsverboten des GG lösen; ebd., S. 241 f. – Der Sache nach wie im strukturierenden Konzept jetzt das BVerfG: Der Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) sei „bereichsspezifisch anzuwenden“: E 75,
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5 Grundlinien der juristischen Methodik – 54 Normbereichsanalyse
Praxis stets andere positivrechtliche Normtexte hinzugezogen: in aller Regel Rechtssätze des Unterverfassungsrechts, an denen etwa die Relevanz der Sachgesichtspunkte des Entscheidungsfalls für die abstrakten und ambivalenten Aussagen „gleich“ bzw. „ungleich“ gemessen werden soll. Die gesamte Judikatur zum Allgemeinen Gleichheitssatz und zum (nicht nach der „Persönlichkeitskerntheorie“ aufgefaßten) Grundrecht der freien Entfaltung der Persönlichkeit belegt diese Entscheidungsstrategie. Was in ihr methodisch exakt vor sich geht, ist also: Es werden andere, „normal“ ausarbeitbare Normen hinzugezogen, mit deren Normprogrammen die nach Ansicht der entscheidenden Instanz normativ relevanten Fakten aus dem diffusen Sach- bzw. dem verengten Fallbereich in Hinblick auf den Fall („Sachverhalt“) herausgehoben werden. Diese Fakten, die also – im Gegensatz zu anderen Tatsachen des Entscheidungsfalls – als in relevantem Sinn „gleich“ oder „ungleich“ behandelt werden, übernehmen somit die Rolle, die bei einer Nicht-Generalklausel die Umschreibung ihres Normbereichs übernimmt. Deutlich ist das ebenso für das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG (das nach der Konsequenz der h. M. eben kein Grundrecht mehr ist, sondern eine Generalklausel): Die hier herangezogenen Normtexte sind die Verfassungs- und Unterverfassungsvorschriften, mit denen und an denen festgestellt werden soll, ob die fragliche einschränkende Norm zur „verfassungsmäßigen Rechtsordnung“ i. S. der h. M. zu Art. 2 Abs. 1 GG gehört oder nicht. 543 Beispiel: Methodik der Prüfung des Allgemeinen Gleichheitssatzes
(a) Ausgangspunkte sind die beiden praktischen Grundfragen 491
Erstens: Welche faktischen Sachverhalte sollen miteinander verglichen werden? Wie unter 542 begründet, dient hier der Normbereich der zu prüfenden Vorschriften (wie immer in Verbindung mit dem Sachverhalt, d. h. mit den Fakten des zu entscheidenden Rechtsfalls) als Materialquelle. Soweit nach längerer Rechtsprechungstradition die Ergebnisse früherer Entscheidungsvorgänge nunmehr (über die Dogmatik vermittelt) als „Inhalt“ des Art. 3 Abs. 1 GG erscheinen, belegt das die allge108 ff., 157; 76, 256 ff., 329; 78, 249 ff., 278; 84, 239 ff., 268 und ff. – Aufschlußreich (bei Kim, S. 195 ff., 216 ff., u. ö.) die Analyse des zweiten Transsexuellen-Beschlusses (BVerfGE 88, S. 87 ff.): das Ergebnis einer Normbereichsuntersuchung läßt innerhalb von Art. 3 Abs. 1 GG einen Kernbereich und verschieden starke Schutzzonen unterscheiden und dadurch besser differenzierte Prüfungsmaßstäbe formulieren. – Auch die Verwaltung darf die Bereichsspezifität nicht vernachlässigen. Vgl. VGH Mannheim NVwZ-RR 2000, 631: Erstattet eine Stadt durch Satzung den berechtigten Schülern in ihrem Zuständigkeitsbereich einen Teil ihrer Beförderungskosten in der Weise, daß sie ihnen einen einheitlichen Zuschuß gewährt, obwohl die Entfernungen zwischen Wohnort und Schule und damit die Fahrtkosten sehr unterschiedlich sind, kann dies wegen zu grober Typisierung gegen Art. 3 I GG verstoßen. – Wegweisend für die theoretische Diskussion von Gleichheitssatz und Diskriminierungsverboten vgl. Somek VI. Wichtig sind dabei die Diskussion des Begriffs der Überdeterminierung, S. 51, 382 f. und das Verständnis der Diskriminierung als Reflexionskategorie der autonomen Moral. Vgl. dazu auch Somek VII.
543 Beispiel: Methodik der Prüfung des Allgemeinen Gleichheitssatzes
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meine These, daß den Vorschriften durch Konkretisierungspraxis genauer strukturierte Normbereiche und daß den Generalklauseln auf diesem Weg überhaupt erst abgrenzbare Normbereiche gegeben werden. Zweitens: Woher sind die Maßstäbe dafür zu nehmen, ob verschiedene Sachverhalte „wesentlich gleich“ oder „wesentlich ungleich“ sein sollen? Auf dieser Stufe der Prüfung bietet allein die Verfassung die Quelle für solche Maßstäbe. Es kommt also darauf an, ob die aus den Normbereichen ermittelten Vergleichsgruppen im verfassungsrechtlich relevanten Sinn „gleich“ oder „ungleich“ genannt werden müssen. Die Frage der Herkunft der Maßstäbe ist damit noch nicht für alle möglichen Phasen der Gleichheitsprüfung beantwortet. Zunächst sind nun aber diese Abschnitte darzustellen. (b) Drei Stufen der Prüfung des Gleichheitssatzes Die Prüfung einer staatlichen Regelung oder sonstiger staatlicher Aktivitäten am Allgemeinen Gleichheitssatz vollzieht sich nach folgendem Modell: Fallgestaltung 1: (1) Liegt eine verfassungsrechtlich relevante Gleichheit der Tatbestände vor? Nur dann, wenn diese Frage mit „ja“ beantwortet ist, folgt (2) die Frage: Werden diese gleichen Tatbestände auf verfassungsrechtlich relevante Weise ungleich behandelt? Nur dann, wenn diese Frage mit „ja“ zu beantworten ist, folgt (3) die Frage: Gibt es für diese Ungleichbehandlung gleicher Tatbestände einen „sachlichen Grund“ (im Sinn der herrschenden Judikatur)? Nur dann, wenn die Frage zu (3) mit „nein“ zu beantworten ist, liegt eine im Sinn der ständigen Rechtsprechung willkürliche Regelung und damit ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG vor. Fallgestaltung 2: (1) Liegt eine verfassungsrechtlich relevante Ungleichheit der Tatbestände vor? Nur dann, wenn diese Frage zu bejahen ist, folgt (2) die Frage: Werden diese ungleichen Tatbestände von staatlichen Stellen auf verfassungsrechtlich relevante gleiche Weise behandelt? Nur dann, wenn diese Frage zu bejahen ist, folgt (3) die Frage: Gibt es für diese Gleichbehandlung ungleicher Tatbestände einen „sachlichen Grund“?
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5 Grundlinien der juristischen Methodik – 54 Normbereichsanalyse
Nur dann, wenn diese Frage zu verneinen ist, liegt ein Verstoß gegen den Allgemeinen Gleichheitssatz vor17. (c) Beispiel für den Gang der Prüfung In einem vom Bundesverfassungsgericht im Jahr 1973 entschiedenen Fall18 war die Verfassungsmäßigkeit des § 3 Nr. 9 Tierschutzgesetz vom 24. 7. 1972 zu überprüfen. Diese Vorschrift verbot es, „ein Tier mit Nachnahme zu versenden“. Eine methodisch reflektierte Untersuchung geht hier folgendermaßen vor: Aus dem Normbereich dieser Vorschrift können zwei Vergleichsgruppen von Sachverhalten gewonnen werden, die das (wie immer durch Auslegung zu ermittelnde) Normprogramm aus dem Sachbereich auf eine hier sehr einfach liegende Art heraushebt: – Tiere / Nicht-Tiere; d. h. Tiere auf der einen, andere Versandobjekte (Waren, Güter) auf der anderen Seite; und – Nachnahmeversand von Tieren / Tierversand ohne Nachnahme.
Als Prüfungsmaßstab für diese aus dem Normbereich der am Gleichheitssatz zu messenden Vorschrift stammenden Vergleichsgruppen dient auf der ersten Stufe allein die Verfassung: Liegen hier im verfassungsrechtlich relevanten Sinn „gleiche“ oder „ungleiche“ Sachverhalte vor? 492
Nach dem BGB sind sowohl Tiere als auch Pflanzen oder unbelebte Versandobjekte in gleicher Weise „Sachen“. Für das Verfassungsrecht wird dagegen in Art. 74 Nr. 20 GG mit der (konkurrierenden Bundes-)Kompetenz zum „Tierschutz“ nicht nur eine formale Zuständigkeit, sondern – wie bei allen Kompetenzvorschriften – zugleich eine inhaltliche Aufgabenstellung an die Legislative (und ihr folgend an die übrigen Staatsfunktionen) normiert; nämlich die Aufgabe, „Tiere“ als etwas zu behandeln, das zu „schützen“ ist. In eben dieser Richtung sind die Vergleichsgruppen „Tiere / sonstige Versandobjekte“ im verfassungsrechtlich relevanten Sinn „ungleiche“ Sachverhalte. Auf der zweiten Stufe zeigt sich, daß diese ungleichen Sachverhalte vom Gesetzgeber des § 3 Nr. 9 Tierschutzgesetz auch „ungleich“ behandelt wurden. Die Prüfung des Gleichheitssatzes auf der dritten Stufe ist nicht mehr erforderlich. Entsprechendes ergibt sich für die zweite Vergleichsgruppe. Bei einem Nachnahmeverbot etwa für Fahrräder läge dagegen eine „ungleiche“ Behandlung von im verfassungsrechtlich relevanten Sinn „gleichen“ Sachverhalten 17 Vgl. dazu Müller VIII, S. 97 ff., 100 ff. mit praktischen Beispielen aus dem Schulverwaltungs-, Wehrpflicht- und Kirchensteuerrecht. – Neuere Formeln für den Gleichheitssatz vgl. z. B. in BVerfGE 55, 72, 88; 70, 230, 239 ff.; 75, 382, 393; daneben auch etwa E 71, 39, 58 f.; 76, 256, 329 f. Jetzt klärend BVerfG in: DVBl. 2000, S. 479 ff., 481 sowie NJW 1999, S. 1535 ff. – Zum Willkürverbot bei Rechtsprechung vgl. BVerfGE 96, 189, 203. 18 BVerfGE 35, 47 ff. – Wie hier, zur Zeit vor Einfügung der Staatszielbestimmung „Tierschutz“ in das GG: Faller, S. 54 ff.; für die Zeit danach: Ebd., S. 105 ff.
5 Grundlinien der jurustischen Methodik – 55 Rangordnung
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vor. Hier wäre dann auf der dritten Stufe im Sinn der Judikatur zu untersuchen, ob dafür ein „sachlicher Grund“ feststellbar oder ob die Regelung als „willkürlicher“ Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG zu werten ist19. Die Maßstäbe auf dieser dritten Stufe sind also nicht mehr verfassungsrechtlicher Art. Sie sind dem Unterverfassungsrecht zu entnehmen; bzw. nach der recht unscharfen ständigen Rechtsprechung20 der sogenannten „Natur der Sache“, d. h. meist rechts- bzw. verfassungspolitischen Aspekten der Wünschbarkeit, der sozialen Folgenberechnung, der „Vernünftigkeit“ im Sinn von common sense und so weiter.21 55 Weder „objektive“ noch „subjektive“ Auslegungstheorie – Rangordnung der Konkretisierungselemente Herrschend ist die sogenannte objektive Theorie: „Der Wille des Gesetzgebers 493 fällt zusammen mit dem Willen des Gesetzes“22. Maßgebend für die Auslegung ei19 Allerdings kann sich bei den Gründen, die eine Differenzierung tragen sollen, eine Rangverschiedenheit ergeben; vgl. dazu OVG Münster, in: NVwZ 2013, S. 890 ff. Das Gericht lehnt hier ein Streikrecht für Beamte kraft Art. 11 der EMRK ab: Die Menschenrechte hätten in der Bundesrepublik den Rang eines einfachen Bundesgesetzes, seien somit an den Vorgaben des höherrangigen Grundgesetzes zu messen. 33 Abs. II GG stelle mit den „hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums“ insoweit einen höherrangigen Rechtfertigungsgrund dar. – Vgl. zur Inländerdiskriminierung, die mit der Eintragungspflicht eines Handwerksbetriebs in der Handwerksrolle verbunden sein kann, sowie zur Verfassungsmäßigkeit von Eintragungspflichten: Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 31. 08. 2011 – 8 C 9 / 10, in: NVwZ-RR 2012, S. 23 ff. – Es verstößt nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG, dass Richter – anders als Beamte – ihre Altersgrenze nicht hinausschieben können. Der sachliche Grund dafür liegt in der richterlichen Unabhängigkeit: OVG Münster, NVwZ-RR 2012, S. 444 ff.; vgl. dazu auch schon OVG Münster, in: NVwZ-RR 2010, S. 203 = DRIZ 2009, S. 373. Die Urteile des OVG Münster orientieren sich an der grundlegenden Entscheidung des EuGH, in: NVwZ 2011, S. 1249 ff. = ZBR 2011, S. 341, Rn. 33 ff. 20 Dazu Müller I, S. 103 ff. 21 BVerfG, Beschluss vom 07. 02. 2012 – I BvL 14 / 07, BVerfGE 130, 240 = NJW 2012, 1711: Zwar kann man an die Staatsangehörigkeit zur Differenzierung anknüpfen, dazu bedarf es jedoch eines Sachgrundes. – Eine längere Kette von Entscheidungen zu Art. 3 Abs. 1 GG bezieht sich auf das Rauchverbot; Nachweis hierzu in BVerfG, Beschluss vom 24. 01. 2012 – I BvL 21 / 11, NVwZ-RR 2012, 257. – Eine ausführliche Sach- und Normbereichsanalyse zum Begriff „Familie“ findet sich in BVerfG, Urteil vom 19. 02. 2013 – I BvL 1 / 11, I BvR 3247 / 09, in: NJW 2013, S. 847 ff. Dabei geht es um die Sukzessivadoption durch eingetragene Lebenspartner. Zur Ungleichbehandlung von Ehegatten eingetragener Lebenspartner gibt es eine Serie von Entscheidungen, zuletzt nachgewiesen in BVerfG, Beschluss vom 18. 07. 2012 – I BvL 16 / 11, in: NJW 2012, S. 2019 sowie in BVerfG, Beschluss vom 19. 06. 2012 – II BvR 1397 / 09, zur Ungleichbehandlung beim beamtenrechtlichen Familienzuschlag: Eine Gleichbehandlung lasse sich immer nur relativ zu einer bestimmten juristischen Person einfordern. – Vgl. zum Problem der Nachdiplomierung von Absolventen der 1. juristischen Staatsprüfung: VGH Mannheim, Urteil vom 06. 08. 2012 – 9 S 1904 / 11, in: NVwZ-RR 2012, S. 965 ff. 22 BVerfGE 11, 130.
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5 Grundlinien der jurustischen Methodik – 55 Rangordnung
ner Norm ist demnach „der in dieser zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers, so wie er sich aus dem Wortlaut der Gesetzesbestimmung und dem Sinnzusammenhang ergibt, in den diese hineingestellt ist“23. Die Materialien aus dem Legislativvorgang sollen nicht dazu verleiten, die subjektiven Vorstellungen der gesetzgebenden Instanzen dem objektiven Gesetzes„inhalt“ gleichzusetzen24. Der Entstehungsgeschichte einer Vorschrift soll nach herrschender Lehre für die Auslegung nur bestätigende Bedeutung zukommen; allenfalls kann sie Zweifel beheben, die mit den übrigen methodischen Hilfsmitteln nicht auszuräumen sind. 494
Dieses Bekenntnis zur „objektiven Auslegungstheorie“ hat unrichtige Voraussetzungen. Praktisch drückt sich das darin aus, daß entgegen der grundsätzlichen Position häufig eben doch der aus Entstehungsgeschichte und Gesetzgebungsmaterialien gezogene Schluß zum entscheidenden Angelpunkt des Falls gemacht wird25. Methodisch liegt die Unhaltbarkeit der herrschenden Auffassung daran, daß die Fragestellung nach einander entgegengesetzten „subjektiven“ und „objektiven“ Aspekten die Probleme der Konkretisierung und des Verhältnisses der einzelnen Elemente zueinander nicht zu erfassen vermag. Es läßt sich nicht generell dekretieren, aus welchen Elementen einer bestimmten Norm in einem bestimmten Einzelfall der „objektive Gehalt“ der Vorschrift ermittelt werden könne. Die Differenzierung nach „objektiv-subjektiv“ ist sachlich ebenso unbrauchbar wie die Bezugnahme beider Kriterien auf die Vorstellung eines „in“ der Rechtsnorm angeblich vorhandenen „Willens“; eines „Inhalts“, der im Einzelfall nur noch mit technischen Auslegungsmitteln „heraus“gefunden werden müsse. Vielmehr handelt es sich, knapp gesagt, um Entscheidungsprozesse; und zwar um solche, die nach der Struktur des Politischen Systems im bürgerlich-liberalen Verfassungsstaat an Normtexten des geltenden Rechts legitimiert werden müssen, wenn sie nicht als „rechtswidrig“ und damit unzulässig angesehen werden sollen. Wie das Zurechnen der Einzelentscheidung und ihrer sprachlichen Formulierung (der Entscheidungsnorm) an die vorher erarbeitete Rechtsnorm und dieser selbst an den amtlichen Normtext der Kodifikation so vorzunehmen ist, daß diese Operation hinreichende Aussicht hat, als rechtmäßig, weil regulär akzeptiert zu werden – diese Frage beantworten die Regeln juristischer Methodik. Sachgesichtspunkte aus Entstehungsgeschichte und Gesetzgebungsmaterialien sind in diesem Zusammenhang weder subjektiver noch objektiver als andere Konkretisierungselemente. Vielmehr ist die Rangordnung dieser Elemente nach rechtsstaatlichen Normanweisungen zu beurteilen, die sich auf die einzelnen Aspekte, je nach deren Eigenart und Funktion, verschieden auswirken. Sie ist in Gestalt generalisierbarer und überprüfbarer Kollisions- und Vorzugsregeln möglich. Im Fall widersprüchlicher (Teil-)Ergebnisse gehen die unmittelbar normtextbezogenen Elemente (methodologische und Normbereichs-Elemente sowie der normativ geBVerfGE 1, 312; 8, 307; 10, 244; 11, 130 f. und st. Rspr. BVerfGE 1, 312; 10, 51 und st. Rspr. 25 Z. B. in BVerfGE 2, 266, 276; 4, 299, 304 f.; 6, 309, 349 ff.; ausführliche Erörterung mit Nachweisen im „Schallplatten-Urteil“ des Bundesgerichtshofs, BGHZ 46, 74, 79 ff. – Vgl. a. die Darstellung bei Sachs I. 23 24
5 Grundlinien der jurustischen Methodik – 56 Vorverständnis
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stützte Teil der dogmatischen Aspekte) den übrigen, nicht unmittelbar normtextbezogenen Faktoren des Konkretisierungsvorgangs vor. Da es das Normprogramm ist, mit dessen Hilfe alle die Entscheidung letztlich mittragenden tatsächlichen Faktoren (Normbereichselemente) ausgewählt werden, können zwischen diesen und den im Einzelfall das Normprogramm bestimmenden Sprachdaten keine methodologischen Konflikte entstehen: Mögliche Kollisionen unter den Sprachdaten werden in deren Rahmen beim Erarbeiten des Normprogramms ausgetragen; die Auswahl der Normbereichsfaktoren folgt dann dem Gesamtergebnis der miteinander vereinbarten beziehungsweise der einen methodologischen Konflikt beherrschenden Sprachdaten, also dem Normprogramm. In dessen Rahmen haben unter den direkt normtextbezogenen Elementen die der grammatischen und systematischen Auslegung im Konfliktsfall den Vorrang, weil sie die Interpretation von Normtexten, die anderen Verfahren dagegen die von Nicht-Normtexten betreffen. Die rechtsstaatliche Begrenzungsfunktion des Wortlauts der zu konkretisierenden Vorschrift (und der Normtexte systematisch herangezogener anderer Vorschriften) gilt also auch gegenüber empirischen (Teil-)Ergebnissen aus dem Normbereich; während allgemein das Normprogramm für die empirische Normbereichsanalyse Fragestellungen entwirft und Direktiven für die Bewertung der Relevanz von Ergebnissen zu formulieren erlaubt. 56 Vorverständnis Allgemeine Arbeitserfahrungen aus dem Bereich der Sprachlichkeit, wie sie etwa 495 in Wittgensteins Begriff des Sprachspiels26, im kommunikationstheoretischen Ansatz der imperativen Kommunikationssituation oder in Gadamers Aussagen zu Aktualität und Lebensbezug praktischer Hermeneutik formuliert sind, können an den Funktionen, Strukturen und Arbeitsweisen der Rechtsordnung nicht nur immanent, sondern auch besonders deutlich beobachtet werden. Der als „Aktualität“ gefaßte Praxisbezug von Methodik und Interpretation, das den Verstehenden wie das zu Verstehende umschließende Vorverständnis werden in der juristischen Arbeit angesichts ihrer institutionellen Rolle, ihrer spezifischen Formalisierung, ihres entscheidend erhöhten Grads von Verbindlichkeit und wegen ihrer Relevanz für „geltende“, im Tatsächlichen fühlbare Entscheidung wesentlich verschärft. Das allgemeine Vorverständnis wird begründet durch Anschauungen, Verhaltensweisen, Sprachmöglichkeiten und Sprachbarrieren der den einzelnen prägenden Sozialschicht. An die26 Nach Wittgenstein heißt Sprachspiel, „daß das Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit, oder einer Lebensform“, die damit Horizonte von Verständnis und Verständigung praktisch vorzeichnet, Wittgenstein I, Philosophische Untersuchungen, § 23; vgl. auch ebd., § 7. Denn: „Richtig und falsch ist, was Menschen sagen; und in der Sprache stimmen die Menschen überein. Dies ist keine Übereinstimmung der Meinungen, sondern der Lebensform.“ Ebd., § 241, sowie weiter § 242: „Zur Verständigung durch die Sprache gehört nicht nur eine Übereinstimmung in den Definitionen, sondern (so seltsam dies klingen mag) auch eine Übereinstimmung in den Urteilen.“ Ausführlich zu den hier interessierenden Aspekten des Sprachspielbegriffs Fischer, S. 19 ff., 30 ff., 168 ff.
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5 Grundlinien der jurustischen Methodik – 57 Funktion
ser Stelle werden die Ergebnisse der Justizsoziologie und ähnlicher Forschungsrichtungen über die dem typischen Juristen gegenwärtigen Vorstellungsmodelle und Reaktionsweisen unmittelbar für juristische Methodik aufschlußreich. „Vor“ dieses allgemeine (intuitive) Vorverständnis schiebt sich ein besonderes juristisches und rechtstheoretisches Vorverständnis, dessen legitimierende Bezugspunkte geltende, d. h. die Rechtsarbeiter in ihrem Handeln verpflichtende Normtexte sowie mit deren Hilfe entwickelte Rechtsnormen und auf diese mehr oder weniger deutlich bezogene wissenschaftliche Systematisierungsversuche („Theorien“, „Schulen“, „Grundpositionen“) sind. Hier arbeitet juristische Methodik Hand in Hand mit wissenschaftlicher Ideologiekritik und mit rechtstheoretischer (Selbst-)Kritik an Grundpositionen wie Gesetzespositivsmus, Integrationslehre, marxistischer Rechtslehre, Dezisionismus usw. (die mit dieser Nennung nur beispielhaft aufgezählt, nicht auf eine Ebene gestellt werden). Als dritter Faktor neben dem intuitiven und dem fachspezifischen ist das institutionelle Vorverständnis der Rechtsarbeiter (in Wissenschaft, Justiz, Wirtschaft, Anwaltschaft usw.) der Untersuchung wert. 57 Funktion juristischer Methodik (siehe auch 42) 496
Juristische Methodik im hier vorgeschlagenen Sinn ist aus den Bedingungen der verschiedenen normtextsetzenden, normkonkretisierenden und normkontrollierenden Funktionen (Gesetzgebung, Regierung, Verwaltung, Rechtsprechung, Wissenschaft, Rechtspolitik) zu erarbeiten. Sie analysiert die den praktischen Handlungsbereichen im Grundsatz gemeinsame Eigenart fallbezogener Konkretisierung und ergänzt die Strukturanalyse der Konkretisierungsvorgänge durch ein Strukturmodell von Konkretisierung (zu dessen Relevanz für die verschiedenen Rechtsgebiete s. unten 58). Sie versteht sich in diesem Sinn als „Strukturierende Methodik“.
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Über die Jurisprudenz nicht als sammelnde, sichtende Rechtskunde, sondern als Wissenschaft kann allgemein nur insofern gesprochen werden, als sie eine wissenschaftliche Methodik aufweist. Der Rechtsstaat des Grundgesetzes verlangt normativ von der juristischen Arbeit insgesamt, also gerade auch von praktischer Fallentscheidung, eine wissenschaftliche i. S. einer rationalen, kontrollierbaren Methodik. Über diese Methodik kann ferner nur als methodische Praxis zureichend gesprochen werden; d. h. über die tatsächliche alltägliche Arbeitsweise der Träger juristischer Funktionen: von Richtern, Verwaltungsbeamten, Staatsanwälten, „Gesetzgebern“, Rechtspolitikern, wissenschaftlichen Juristen und so fort.
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Damit ist für die Frage nach der Funktion juristischer Methodik aber erst der allgemeine Rahmen skizziert. Die Probleme juristischer Methodik sind nicht nur nicht durch Leitsätze erfaßbar (oben 50). Sie sind durch Sätze überhaupt nicht in dem Sinn erfaßbar, daß sie in diesen dann ihrerseits „enthalten“ wären. Dasselbe gilt, wie ausgeführt, für die soziale Wirkungsweise von Rechtsnormen in bezug auf die vorgängige Sprachfassung in den Normtexten. Weder die amtlichen Wortlaute noch
5 Grundlinien der jurustischen Methodik – 58 Methodik und Methodiken
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die Texte von Rechtsnormen (= Leitsätze der Entscheidung) noch der Text einer wissenschaftlichen Methodik über die Behandlung von Normtexten bzw. Normen können die normativen Direktiven bzw. die methodologischen Regeln substantiell in sich aufnehmen. Normtexte geben Markierungspunkte und Rahmenbedingungen für die rechtliche Legitimierung der einzelnen Entscheidungen („Entscheidungsnormen“) und der in Richtung auf sie vorher im Lauf der Falllösung zu formulierenden leitsatzartigen abstrakt-generellen Vorschriften („Rechtsnormen“). Methodentexte, wie die „Juristische Methodik“, auf die sich dieser Abschnitt bezieht, geben wissenschaftspraktische Regeln für methodologisch vertretbare, damit rechtsstaatlich zulässige (und somit politisch legitime) Ermittlung und Begründung ebendieser Zurechnungsoperationen. Methodische Regeln in diesem Sinn können die juristischen Arbeitstechniken beschreiben, formalisieren, systematisieren; sie können sie durch Nötigung zur Reflexion und Offenlegung tatsächlich geübter Praxis diskutierbar und wissenschaftlich, instanziell und politisch kontrollierbar(er) machen; können sie auf ihre Stimmigkeit, Folgerichtigkeit, Methodenehrlichkeit hin überprüfen; können sie ergänzen, kritisieren, weiterentwickeln und können durch systematisches Praktizieren der so zu entwickelnden Arbeitsweisen genauer, als es bisher geschieht, Motivationen anderer Art, also vor allem politische, kenntlich machen und zur Rechenschaft auffordern. Juristische Fallösung ist Entscheidungstechnik mit Funktionen von Steuerung und Stabilisierung, von Verteilung und Ausgleich und stets auch mit solchen der Rechtfertigung von Herrschafts- und allgemeiner: von gesellschaftlichen Zuständen, Zusammenhängen, Änderungen. Juristische Methodik als Reflexion der Arbeitstechniken der Entscheidungsformulierung und Entscheidungsbegründung ist Zurechnungstechnik; nämlich im formalen, im professionellen und im politischen Sinn Technik der Zurechnung von Entscheidungsnormen und Rechtsnormen zu Normtexten. Als wissenschaftliche i. S. von: rationale, kontrollierbare und diskutierbare Methodik erzeugt sie zum einen instrumentell die der bürgerlichen Verkehrsgesellschaft notwendige Berechenbarkeit („funktionelle“ Rationalität i. S. von Karl Mannheim), und sie ist zum andern Voraussetzung dafür, Entscheidungsprozesse für Kritik und Kontrolle und damit für die legitimierende Chance von Zustimmung, Kompromiß und Konsens zu öffnen – so der Anspruch des liberalen Verfassungsstaats. 58 Methodik und Methodiken Juristische Methodik ist Sachlogik. Als Methodik alltäglicher Rechtsarbeit ist sie 499 nach Normtypen, Funktionstypen und typischen Regelungs- und Entscheidungslagen der einzelnen Rechtsgebiete vielfach zu differenzieren. Eine abstraktgleichmäßig ausgearbeitete einheitliche Methodik wäre entweder illusionär oder unfruchtbar27. Die Methodiken der verschiedenen dogmatischen Rechtsgebiete haben folgende Faktoren gemeinsam: 27 So jetzt auch der Ansatz bei Maus II; s. a. Udke, S. 95 f. – Ein frühes Beispiel für die Bemühung um eine Methodik des öffentlichen Rechts bietet Stoerk (Erstveröffentlichung 1885).
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5 Grundlinien der jurustischen Methodik – 58 Methodik und Methodiken
(a) eine verallgemeinerungsfähige Normtheorie als Strukturtheorie der Rechtsnorm; (b) die Bindung an methodenrelevante Verfassungssätze und sonstige Rechtssätze (rechtsstaatliche Norm- und Methodenklarheit, Tatbestandsbestimmtheit, Kontrollnormen, Verfahrensnormen, Legaldefinitionen usw.); (c) eine Rahmentheorie von Normkonkretisierung i. S. eines für alle dogmatischen Rechtsgebiete brauchbaren und relevanten Strukturmodells und (d) eine (Verfassungs-)Theorie der verschiedenen normtextsetzenden, normkonkretisierenden, normkontrollierenden Funktionen. 500
Unterschiede ergeben sich je nach Kodifikationsstand, sozialen Regelungsbereichen, Wissenschaftsgeschichte und internem Diskussionsstand für die großen Teilrechtsgebiete, z. B. nach dem Stellenwert einzelner methodischer Hilfsmittel oder nach der Rolle von materiellem Recht und Verfahrensrecht. Ferner gibt es spezielle methodenbezogene Rechtsstaatsvorschriften, die sich nicht an alle juristischen Arbeitsbereiche wenden, so das Analogieverbot im Strafrecht. Schließlich hat die für die großen Teilrechtsgebiete vielfach feststellbare Abweichung in den jeweils vorherrschenden Typen von Normstruktur das Auftreten zusätzlicher Interpretationsfiguren zur Folge, wie etwa die größere Rolle der Analogie im Zivilrecht gegenüber dem öffentlichen Recht oder wie die besonderen „Prinzipien der Verfassungsinterpretation“. Der Plural „Methodiken“ meint also nicht, daß die Methodik jedes der großen Rechtsgebiete beim Nullpunkt anzufangen hätte. Soweit Rechtsarbeit in Normkonkretisierung besteht, entwirft vielmehr die hier entwickelte Juristische Methodik ein zusammenhängendes und für alle Rechtsgebiete gedachtes Rahmenmodell. Mit dessen Mitteln ist grundsätzlich jede normtextorientierte Rechtsentscheidung zu analysieren bzw. zu erarbeiten.
501
Der Plural „Methodiken“ hat noch einen weiteren Grund. Mit im Spiel sind hier Methoden, die von den Sozialwissenschaften entwickelt werden. Der Sachbereich, also die Faktenbasis des Normbereichs, ist empirisch zu ermitteln: mit den (jeweils) anerkannten, bewährten Vorgehensweisen erfahrungswissenschaftlicher Tatsachenfeststellung, und nicht etwa mit „juristischen“ Sondermethoden.
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Die manchmal erhobenen Vorwürfe, die strukturierende Methodik könne – wie auch die Strukturierende Rechtslehre – nicht schon ihrerseits angeben, wie der Normbereich (richtiger: der Sachbereich) zu erfassen sei, richten sich in seltsamer Verengung des Blicks an die falsche Adresse. Eine Tatsache ist nicht ein Normtext, eine faktische Folge keine Rechtsnorm; Empirie ist nicht Recht.
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Daß strukturierende Methodik und Rechtslehre auch auf andere Wissenschaften und deren Methoden verweisen, gehört gerade zu den Eigenschaften, die sie als nach-positivistisch bezeichnen lassen. Der, immer noch fortwirkende, Gesetzespositivismus des 19. Jahrhunderts28 blieb mit seinem illusionären Pochen auf ,rein 28 Knapp dazu: F. Müller XXI m. Nw.en. – Auseinandersetzung mit den genannten Vorwürfen bei F. Müller XIX, S. 349 ff., bes. 351 ff. – Semiotisch (im Anschluß an Morris) bewertet
591 „Rechtsstaatlich Zulässiges“ und „methodisch Mögliches“
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juristische‘ Argumente gegenüber der Realität der gesellschaftlichen Vorgänge von Rechtsproduktion und Rechtsdurchsetzung auf dramatische Weise unterkomplex. Daß in den Sozialwissenschaften Methodenstreit herrscht, darf nicht daran 504 hindern, auf dort Anerkanntes und Praktiziertes zurückzugreifen – so wenig, cum grano salis, ein unentschiedener Methodenstreit in der Jurisprudenz die am Rechtsleben Beteiligten hindert, beispielsweise zu Gericht zu gehen. Es kann gar nicht anders sein, als daß Rechtslehre und Rechtsmethodik, sobald sie sich der wirklichen Komplexität ihrer Aufgaben ehrlicherweise bewußt geworden sind, stets nur auf den jeweiligen ,Stand der Technik‘ empirischer Faktenermittlung verweisen. Die Unvollkommenheit und Vorläufigkeit der menschlichen Dinge ist gewiß ein Argument auch gegen diese Konzeption; aber damit befindet sie sich, endlich einmal, in bester Gesellschaft.
59 Normtext – Legitimität – Spiel der Differenzen: Arbeit mit Texten in einer staatlichen Institution 591 Das „rechtsstaatlich Zulässige“ vor der Folge des „methodisch Möglichen“
Nach noch herrschender Rechts„anwendungs“lehre haben Gesetze einen Inhalt, 505 der vom Willen ihres Autors bestimmt ist. Dieser „objektive Wille des Gesetzgebers“29 ist durch den Vorgang schriftlichen Setzens, durch Kodifizierung „objektiviert“ worden. Auf solche Art in die Normtexte hineingelegt, muß und kann der inhaltliche „Wille“ von den Richtern und von anderen Funktionären, die zur Rechtsentscheidung befugt sind, mit Hilfe des überkommenen Kanons herausgeholt, ausgelegt werden: für „die Auslegung einer Gesetzesvorschrift“ ist demnach „der in dieser zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers maßgebend (…), so wie er sich aus dem Wortlaut der Gesetzesbestimmung und dem Sinnzusammenhang ergibt“. Es spricht also der Gesetzgeber (durch den Mund des Richters), nicht etwa der Richter. Ungereimtheiten dieses Modells werden herkömmlich als Randphänomene (z. B. bei Generalklauseln, Ermessenstatbeständen, unbestimmten Rechtsbegriffen) eingeräumt, in solchem Rahmen auch sogenannte volitive Faktoren richterlichen Handelns wahrgenommen. Im Grundzug aber steht das Modell fest wie Erz: Der Rechtsfall kennt eine richtige Entscheidung (nämlich die
Neves, S. 56 ff., 58 ff. die hier entwickelte Konzeption von Normativität und Konkretisierung als semantischen Ansatz, welcher auf die Komplexität der modernen Gesellschaft antworte – im Gegensatz zum Rechtspositivismus, der „die Verfassungsfrage als Rechtsfrage primär unter ihren syntaktischen Aspekten“ behandle (logische Ableitung, Subsumtion) und an eben dieser Komplexität, am Mangel einer gesellschaftlichen „Interessen- und Weltanschauungseinheit“ scheitere; a. a. O., S. 59. – Dazu hier, RNr. 213. 29 BVerfGE 1, 299, 312; 10, 234, 244; 11, 126, 130 f. und ständige Rspr. – Ebd., auch die folgenden Zitate.
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5 Grundlinien der jurustischen Methodik – 59 Entscheidung und Diskurs
Anwendung des inhaltlich objektiven, textlich objektivierten Willens „des“ Gesetzgebers auf eben diesen Fall); diese wird durch den Text kognitiv vermittelt, vom Richter kognitiv ermittelt und durch Urteilsspruch ausgeführt. Dieses vertraute Modell macht Voraussetzungen (jeweils einzige richtige Deutung, Sinnzentrum, objektive Sinneinheit des Textes), die vor dem Forum einer inzwischen seit Jahrzehnten entfalteten neueren Sprachphilosophie und heutiger linguistischer Texttheorie illusionär erscheinen. Juristische Erfahrung hatte dort, wo sie hinreichend luzide reflektiert war, schon früher erkannt, daß „jeder Sinn nur Teilsinn in einem unendlichen Sinnzusammenhang ist und in diesem Sinnzusammenhang unübersehbare Wirkungen hervorruft“30. Die Rechtsentscheidung ist schon – und vor allem – deshalb nicht die einzig richtige, weil sie Text ist. Jedenfalls innerhalb der Textstruktur eines demokratischen Rechtsstaats kann sie außerhalb von Sprache nicht existieren. Rechtsnorm, Entscheidungsnorm und Begründung müssen sprachlich formuliert werden; und als Text sind sie nie in Quarantäne, sind sie vor anderem Text (der ihnen vorhergeht, der sich auf sie pfropft, der sie kritisiert und – alternativ – kommentiert) nie sicher. Und dabei pflegt sich herauszustellen, daß in aller Regel noch zumindest ein anderer Text von Rechtsnorm, Entscheidungsnorm und „Gründen“ als vertretbar erscheint; daß also die erste Version der Entscheidung ebenfalls nur „vertretbar“ genannt werden kann. Aussagen wie „Juristisches Entscheiden ist nicht Finden, sondern Produzieren“; „Rechtsarbeit ist Textarbeit“; „die Arena praktischer Rechtswissenschaft ist konstituiert durch Text, Text und Text“ sind offenbar so banal, daß das alte Paradigma all das nicht bemerkt hat; und sind so wenig banal, daß es (bereits) an ihnen scheitert. 506
Die Unbeherrschbarkeit „meines“ Sinns, die des Sinnzentrums, das ich in den Text legen „will“, ist nicht eine Randerscheinung. Sie ist das – in aller Regel verdrängte – Grundphänomen der Vertextung; ist zudem noch kategorial verschärft im Augenblick des Verschriftens. Dem schriftlichen Text ist eine Sinneinheit, ist ein Sinnzentrum (und noch weniger sein einer Sinn) nicht unterzuschieben. Er wird durch andere (schriftliche) Texte in einen ebenso unvermeidlichen wie unabbrechbaren Semantisierungsvorgang und – nicht zuletzt auch als juristischer Text – in als solche ebensowenig beendbare semantische Kämpfe31, in praktische Sprachkämpfe hineingezogen. Diese Vorgänge und diese Kämpfe sind es, welche die Realität der Rechtsarbeit ausmachen; und nicht das kognitive Auffinden des einen richtigen „Normsinns“, nicht das getreue Anwenden des „objektiv / objektivierten“ gesetzgeberischen „Willens“32. 30 Radbruch, S. 213. – s. hier auch RNr. 180, 528. – Die von Radbruch verwendete Formel vom „Besser-Verstehen“ des Gedankens durch den Anwender ist ein alter juristischer Topos, den schon Savigny verwendete. Vgl. dazu Meder, S. 106 ff. – Vgl. zu Radbruch auch Neumann XI. 31 Vgl. auch Bung II; zur semantischen Auseinandersetzung um den Sachverhalt vgl. Upmeier.
591 „Rechtsstaatlich Zulässiges“ und „methodisch Mögliches“
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Das heißt nicht etwa, der Streit über „den Sinn des Gesetzes“ sei sinnlos; er ist vielmehr für die Rechtsordnung funktional. Genauer gesagt: die Auseinandersetzungen um die Bedeutsamkeit (des Normtexts), die materielle Bedeutung für einen Fall wie diesen (die Rechtsnorm) und die verfahrensrechtliche Bedeutung für den vorliegenden Fall (die Entscheidungsnorm) finden ständig statt, machen die für juristische Entscheidungsarbeit kennzeichnenden semantischen Kontroversen aus. Aber es heißt, daß keiner der an ihnen Beteiligten den Gang, den Ausgang und den Fortgang der Bedeutungszuschreibungen durch die anderen „im Griff haben“ sowie in Zukunft „im Griff behalten“ kann. Auch die Institutionen des demokratischen Rechtsstaats beruhen auf (zu interpretierenden, änderbaren) Texten. Gewalt wird erst durch Sprache (durch versprachlichtes Recht) zu legitimer Macht: Blätter bedruckten Papiers zwischen dem bellum omnium contra omnes und der res publica. Zwischen dem Natur- und dem Gesellschaftszustand steht (so und nicht anders – aber das ist nie ein für allemal klar) organisierte Sprache. Am konsequentesten wie am radikalsten ist die Rede vom Fehlen eines den Tex- 507 ten vorgebbaren Sinnzentrums und von der mit Schrift überhaupt gegebenen „Abwesenheit“ in den Arbeiten Jacques Derridas entfaltet. Mit dem Text als Schriftlichem gerät „der Logos“ in „die Gefahr“ (…), „durch die Schrift sowohl den Schwanz als auch den Kopf“ zu verlieren33. Ein Text in diesem Sinn ist nicht mehr abgeschlossenes Corpus, nicht mehr das mit sich (auch durch die Identität des Urhebers) identische, eine definitive Bedeutung beherbergende Buch der Tradition; dieses ist dem „sprengenden Einbruch der Schrift“34 zum Opfer gefallen. Der Text, der ein „Draußen“ behauptet, ist „nicht mehr das mittels einer Innerlichkeit oder einer Identität mit sich selbst abgedichtete Drinnen“35. Schrift funktioniert in der Wiederholung, ihre Struktur ist iterativ: von einem ursprünglichen Sagen-Wollen (vouloirdire) nicht einzufangen, ohne zwingenden Kontext36. Der Text erscheint, in solchem Licht, als heterogenes „Gewebe von Differenzen“. 508 Er ist nach dem „Draußen“ nicht abschirmbar, weshalb es sein (= ein außertextli32 Insoweit für die hier entwickelte Position: im vorliegenden Text oben z. B. die Abschnitte 312.5, 314.1 m.w. N.; Müller XIX, v. a. S. 372 ff. m. Nw. – Vgl. ferner die Beiträge in Müller XXIV. – Grundlegend zur richterlichen Gesetzes„anwendung“: Christensen V; VII; ebenso bahnbrechend für die Frage des Referierens auf soziale Wirklichkeit im richterlichen Handeln: Jeand’Heur IV; jeweils mit zahlreichen Nw.en auf Geschichte und Stand der interdisziplinären Diskussion. – Konkretisierung ist nicht „Anwendung“ von Vorgegebenem, der Richter nicht bloß „bouche de la loi“. Vor dem Hintergrund der Sprachwissenschaft zum Montesquieu-Paradigma: Müller XXXVIII. – Umfassend zur praktischen Bedeutung pragmatischer Konzepte dafür, die richterliche Tätigkeit realistisch zu verstehen: Christensen / Kudlich II, S. 25 ff., 127 ff. und durchgehend. 33 Derrida, La Pharmacie de Platon, in: ders. V, S. 89. 34 Derrida I, S. 35. 35 Derrida, Hors livre, in: ders. V, S. 42. 36 Derrida IV.
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5 Grundlinien der jurustischen Methodik – 59 Entscheidung und Diskurs
ches, dem Spiel der Differenzen ein für alle Mal entrücktes) Draußen nicht gibt: also auch keinen „eigentlichen“ oder „ursprünglichen“ Sinn, weder den einen Ursprung des Textes noch seine eine Wahrheit. Nichts im, nichts am Text ist dem Spiel der Differenzen entrückt; nichts kann diesem Spiel – durch einen Gewaltakt des Autors oder durch den einer (kommentierenden, „auslegenden“, verkündenden) Autorität – im Rahmen des textlich / schriftlichen Diskurses entzogen werden. Alle bisherige Überlieferung der Metaphysik und der Ontologie hat „die volle Präsenz, den versichernden Grund, den Ursprung und das Ende des Spiels geträumt“37. Davon heißt es Abschied nehmen. So gesehen, gibt es – eindringlich entwickelt seit Derridas „De la Grammatologie“ (1967) – kein Text-Äußeres. Jeder Text ist – unentrinnbar; von der Tradition her beurteilt : unrettbar – auf andere Texte hin offen; jede Schrift bezieht sich auf andere Schriften; die Zeichen sind iterierbar, Zitate aufpfropfbar, die Kontexte nirgendwo festgemacht, nirgends endgültig zu verankern: endloses Zirkulieren von Texten. Es ist dies, was im wesentlich engeren Rahmen des hier vorgestellten Methodenkonzepts seit jeher das „methodisch Mögliche“ genannt worden war. 509
Diese durch Derrida unvergeßlich gewordenen Bedingungen unseres Umgangs mit Schrift (und allgemeiner mit Text) scheinen für das Herzstück der Rechtswelt, für juridische Entscheidungsvorgänge38, dementiert zu sein: und zwar für deren Endpunkt wie für ihren Beginn: Zwar zeigt sich schon „rein“ juristisch, bereits im engeren Bereich der Rechtswelt die vielfältige Bedingtheit der Normtexte: Die Rechtsgeschichte (mit dem „historischen“ Konkretisierungselement) erweist sie oft als durch Normvorläufer, die Rechtsvergleichung als durch ähnliche Vorschriften anderer Rechtsordnungen beeinflußt. Die Entstehungsgeschichte (mit dem „genetischen“ Konkretisierungsfaktor) belegt ihre sachliche Bedingtheit, inhaltliche Abhängigkeit, häufig auch ihre Zufälligkeit, ihre Inkonsistenz. Ein Normtext kann, wenn er in Geltung tritt, mehrheitlich nicht ernst gemeint worden sein; oft ist er bereits im Moment seines Inkrafttretens obsolet, schon hat die Debatte um seine gerichtliche Annullierung, seine legislatorische Aufhebung oder Änderung begonnen; schon beginnen auch, unvermeidlich, solange er „gilt“, die als solche unabschließbaren „Interpretations“- und „Anwendungs“diskurse. Den Anschein einer gewissen Derrida II, S. 441. Im folgenden ist also von juristischen Entscheidungs- und Begründungstexten, von den „anordnenden“ und den „rechtfertigenden“ Texten im Sinn der rechtsstaatlichen Textstruktur (zu dieser Müller XII, S. 80 ff., 95 ff.; ders. XXIV, S. 205 f., 215; oben im Text Abschnitt 312.7) die Rede und nicht von juristischen Wissenschaftstexten, für die prinzipiell die Handlungsformen „Verstehen“ und vor allem „Interpretieren“ kennzeichnend sind. – Genauer zu den Texttypen der Anordnungs-, Zurechnungs- und Rechtfertigungstexte in der Spanne zwischen Gesetzgebung auf der einen und der Vollstreckung von Einzelentscheidungen auf der anderen Seite: F. Müller / Christensen / Sokolowski, S. 116 ff. – Zu den Interpretations- und Kommentierungsverboten: Codex Justinianus 1, 17, 1, 12; 1, 17, 2, 21 (Constitutio Tanta). – Art. XVIII des Publikationspatents des ALR (1794): Verbot „bei Vermeidung Unserer höchsten Ungnade“, aufgrund „eines vermeinten philosophischen Raisonnements die geringste eigenmächtige Abweichung von klaren und deutlichen Vorschriften der Gesetze sich zu erlauben“ – ein gesetzespositivistisches Programm par excellence! 37 38
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Reflexion der Schrift-Problematik erwecken nur vereinzelte Beispiele aus der Rechtsgeschichte, und auch diese eher ungewollt. Die Interpretationsverbote in Justinians Corpus iuris und im Preußischen Allgemeinen Landrecht verraten mehr Einsicht in die Natur schriftlicher Diskurse als die selbstsichere Pose heutiger Kodifikationen und ihrer offiziellen Ausleger; und auf die mit Schrift unausweichlich gegebene „Abwesenheit“ hat das ALR von 1794 mit einem Normtext reagiert: mit der Verpflichtung der Richter zur Rückfrage an die königliche Gesetzgebungskommission; in Frankreich läßt sich ähnliches über das Institut des „référé législatif“ sagen. Dabei konnte diese Rückfrage nicht erfolgen, ohne den Streitfall bzw. seinen problematischen Teil zu berichten, durch den die (angeblich) „klare und deutliche Vorschrift“ jetzt unklar geworden war. Das Gericht wurde so ent- und die Gesetzgebungskommission belastet – aber die problematische Aufgabe, den Streitfall rechtens zu lösen, blieb als solche bestehen. Im besten Fall ist ein Normtext eine ernst „gemeinte“ Momentaufnahme des poli- 510 tisch-juristischen Stellungskriegs; er ist in der Tat kein „Ursprung“. Und dennoch verlangt der demokratische Rechtsstaat, den Normtext als Ursprung zu fingieren: als gewaltgestützte Fiktion eines Ursprungs, um einen im Sinn des Staats verbindlichen Anfangs- und Maßpunkt für die vom Staat durchgeführten Entscheidungsvorgänge vorweisen zu können. Jedenfalls sagt dies das noch immer herrschende positivistische Paradigma. Für die Strukturierende Rechtslehre ist der Normtext nur Eingangsdatum; und zwar eines Vorgangs der Konkretisierung, durch den eine Rechtsnorm erst konstruiert wird. Dagegen mystifiziert der Gesetzespositivismus den Normtext zur „Norm“, fingiert er einen vorgegebenen Ursprung. Die im Staat akkumulierte, durch seine Verfassung und Gesetze organisierte, die 511 ihn ausmachende Gewalt stützt diese Fiktion und ihre Sanktionierung ab, ist aber selber zugleich von derartigen fingierenden und sanktionierenden (Norm-)Texten begründet, kompetent gemacht, legitimiert und nicht zuletzt hinter ihnen versteckt. Sie sprengt, beeinflußt, bricht, kurz: sie „ordnet“ (im Sinn von Foucault) den Rechtsdiskurs bereits dadurch, daß sie mit ihren „geltenden“ Normtexten den Anfang, den Ursprung für den fraglichen Entscheidungsvorgang setzt; indem sie gewaltsam (weil durch Gewalt sanktioniert) ein Text-Äußeres aufzwingt. Dieses Text-Äußere ist dabei nicht der Normtext als solcher; als solcher bleibt er Text und kann der conditio, Text zu sein, nicht entkommen. Von einem „Äußeren“ wird auch nicht deshalb gesprochen, weil im Recht neben Sprache auch Gewalt wirkt; das ist ohnehin so, auch außerhalb der fachlichen Rechtssprache, in Sprache überhaupt. Das gewaltsame Äußere, das von der gesetzespositivistischen Haltung der conditio des Normtexts aufgenötigt wird, ist die Fiktion, er sei ein privilegierter, ein (für die Dauer seiner staatlich bestimmten „Geltung“) dem unabschließbaren Spiel der Differenzen und dem Zirkulieren der (als Texte notwendig) gleichgeordneten Texte entzogener Text. Entsprechendes fingiert der Staatsapparat für das (von der Textlichkeit her nicht 512 mögliche) Ende des Entscheidungsdiskurses: die wiederum gewaltsam durchsetzbare Fiktion, mit dem Text des Urteils (genauer: den Texten von Rechtsnorm, also Leitsatz; von Entscheidungsnorm, also Tenor; und mit denen der Gründe) sei ein
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5 Grundlinien der jurustischen Methodik – 59 Entscheidung und Diskurs
privilegierter Endpunkt, also eine Gestalt für die eine Wahrheit dieses Falles setzbar, so wie der als einschlägig herangezogene Normtext seinen einen Ursprung hatte fingieren müssen39. Das „Äußere“ liegt hier darin, daß bei der rechtlich nicht mehr anfechtbaren Entscheidung, die Text ist, die Gemengelage von Gewalt und Sprache entmischt wird, daß der Faktor Gewalt allein dominieren und es der Sprache (dem Rechtsdiskurs) untersagt werden soll, weiter zu sprechen. Warum zwingt der moderne Staat am Anfang wie am Endpunkt juridischer Entscheidung je ein Text-Äußeres auf? Anders gefragt: Warum muß unter Berufung auf (schriftliche) Normtexte und in Form (schriftlich) begründeter Urteilstexte entschieden werden? 513
Daß überhaupt entschieden werden muß, ist kein Phänomen erst des modernen Staates; und es ist keine Textfrage. Es ist eine – wenn auch in Texten behandelte, von Texten begleitete – Frage von Macht / Gewalt in den tatsächlich konflikthaften menschlichen Gruppen; und zwar immer dann, wenn ein Konflikt nicht intersubjektiv, nicht „intern“ in der Untergruppe der „Beteiligten“40 hat gelöst werden können. Ein jeder gleichsam „geplatzter“, also nur noch unter Berufung auf die Legitimität der Gesamtgruppe lösbarer Konflikt, kann natürlich durch Gewalt beseitigt werden; aber das ist dann kein Rechtsvorgang und damit kein Gegenstand dessen, was hier untersucht wird. Ferner kann die Lösung durch schweigende, bloß performative Dezision nach ungeschriebenem Rechtsbrauch, nach herkömmlich praktizierten Grundsätzen oder allein kraft dem Charisma der entscheidenden Person gefunden werden – dann aber durch Hordenchef, Clanvater, Stammesmutter, durch Häuptling oder Kaziken, und eben nicht von einem „Richter“ genannten oder von anderen verfassungsmäßigen Rechtsfunktionären des Rechtsstaats, von dem hier die Rede ist. Die Streitfrage könnte auch ohne strenge Bindung an Normtexte, notfalls auch gegen das Gesetz (rechts-)politisch erwogen und entschieden werden; dann aber haben wir so etwas wie einen klassisch-römischen Prätor und nicht einen heutigen Richter vor uns. Sie ist auch so entscheidbar, daß zwar auf Normtexte hingewiesen wird, die Verbindung des Ergebnisses mit ihnen aber ohne Begründung nur behauptet werden darf – dann handelt es sich um eines der autoritären politischen Systeme, nicht aber um einen verfassungsrechtlich konstituierten Rechtsstaat.
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Dieser bezieht seit dem Aufgang der modern-europäischen, später auch der nordamerikanischen Neuzeit seine besondere Legitimation daraus, „möglichst weitgehend mit formalisierter, kontrollierbarer, sprachlich vermittelter konstitutioneller Gewalt auszukommen und möglichst wenig die deswegen entlegitimierende ,blo39 Das Gesagte gilt im strengen Sinn nur für die „rechtskräftig“ gewordenen, genauer: für die durch keinen Rechtsbehelf, z. B. auch nicht mehr durch Verfassungs- oder Menschenrechtsbeschwerde angreifbaren Entscheidungstexte. – Das hier entfaltete Denken über die Entscheidung hinaus (das auch dem hier vorgeschlagenen Modell vom Kreislauf der Rechtswelt zu Grunde liegt) treibt auch die Reflexionen bei Seibert XIII voran. 40 Was unter beiden Begriffen jeweils zu verstehen ist, hängt vom Typus der Vergesellschaftung, in dessen Rahmen zum Teil auch von Rechtsvorschriften ab.
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ße‘, d. h. die aktuelle Gewalt einsetzen zu müssen“41. Entscheidungen in diesem Rechtsstaatstypus stehen unter derart lastenden Vorgaben, daß die beunruhigende Zweideutigkeit42 dessen, was bei derartigen Entscheidungen wirklich vor sich geht, nicht mehr kaschiert werden kann: einerseits die (legitimierende) Entscheidungspflicht als ein Text-Äußeres; andererseits die (gleichfalls legitimierende) normative Vorgabe, die Entscheidung müsse durch schriftliche rationale Texte erfolgen – in einem Medium also, das ein solches Äußeres nicht (an)erkennt. Dem diskursiv nicht abbrechbaren Zirkulieren von Norm- und Kommentar- und Entscheidungstexten stehen normativ in Form der rechtsstaatlichen Normenmasse und Normenhierarchie, nicht-normativ methodologisch in Gestalt von Normprogrammgrenze und Präferenzregeln Instrumente der Disziplinierung des Diskurses gegenüber, die zwar sprachlich illusionär sind, die der Rechtsstaat aber gleichwohl aufnötigt. Sprache ist bei alldem nicht „an sich“ unschuldig; als vorgeschriebenes System 515 (langue43) transportiert und bewirkt sie immer schon Abrichtung und Vor-Schrift. Sie wird nicht erst als Rechtssprache von Gewaltverhältnissen durchsetzt. Der mit „Recht – Sprache – Gewalt“ benannte Teilansatz der Strukturierenden Rechtslehre geht davon aus, daß Sprache nicht das lichte Reich der Gewaltlosigkeit sein kann. Ebensowenig ist sie, trotz der Unabschließbarkeit des Diskurses, der anarchische Bereich gewaltfreier Erkenntnis. Sie ist – wie das Recht auch – immer schon von sozialer Gewalt durchwirkt: bereits als kollektives System wie auch als Abrichtung beim Spracherwerb der Kinder im Sinn Wittgensteins. Als Rechtssprache ist sie zusätzlich von Staatsgewalt und von Gruppengewalt imprägniert. Derrida spricht von einer „Kontamination im Herzen des Rechts“; ebenso davon, daß die Gewalt „der Rechtsordnung nicht äußerlich (ist). Sie bedroht das Recht in dessen Innerem“44. Sprache trägt die Spuren von Gewalt an sich und übt ihrerseits Gewalt aus; Recht, das gewaltsam gesetzt wird und seinerseits Gewalt installiert, ist unausweichlich auf Sprache angewiesen. Die Aufgabe und der Versuch, Gerechtigkeit zu verwirklichen, spielen sich im Raum dieses mehrfachen Zwiespalts ab. Weder eine „Reine Rechtslehre“ noch eine „Reine Sprachlehre“45 können diesen Raum angeben, in dem es unter den tatsächlichen Bedingungen um Gerechtigkeit Müller X, S. 31. Zur grundsätzlichen Zweideutigkeit modern-bürgerlicher Rechtsinstitutionen zwischen politischer Legitimation und wirtschaftsbürgerlicher Verfahrensrationalität: ebd., S. 20 f., 28 ff., 36 f. – Zur Ambivalenz des Rationalitäts- und des Textkonzepts bürgerlicher Verfassungen: Müller XXVIII, S. 162 ff.; ders. XXIX, S. 172 ff.; ders. XXX, S. 197 ff. – Zur strukturellen und institutionellen Gewalt: Müller X, S. 46 ff. 43 Im Sinn von Saussure, S. 27: „La langue est un système qui ne connaît que son ordre propre“ (S. 43 im Original). 44 Derrida III, S. 84, 75; der Begriff der Gewalt meint in diesem Zusammenhang nichts bloß Natürliches oder Physisches, sondern gehört „der symbolischen Ordnung des Rechts, der Politik und des Sittlichen“ an; ebd., S. 70. 45 Vgl. unter diesen Stichworten die Notizen zu Kelsen und Wittgenstein und die Bestimmung der Aufgaben einer der Realität gewachsenen Theorie des Rechts bei Müller XXV, S. 98 ff. 41 42
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geht. Dagegen hat sich die Strukturierende Rechtslehre als „entschieden unrein“ vorgestellt46: „unrein“ für alle die Rechtsarbeit prägenden Relationen wie „Sein und Sollen“, „Norm und Fall“, „Wirklichkeit und Norm“, „kognitive und volitive Elemente“. Von ihr her wird die Unreinheit von Sprache gegenüber Gewalt besonders deutlich: als Grundbestimmung innerhalb des genannten Ensembles von Relationen. In dem zwiespältig konstituierten Feld von Recht und Gewalt und Sprache wird Genauigkeit zu einer notwendigen Bedingung von Gerechtigkeit47; wird das, was die Rede von der Kontaminierung festhält, zur Arbeitsaufgabe einer nachpositivistischen Methodologie der Rechtsarbeit. 516
Vor diesem Hintergrund hat, als kennzeichnende Einzelfrage, gerade auch die Normprogramm- (in der Tradition: Wortlaut-)grenze als Grenze etwas Gewaltsames. Warum soll das „rein“ methodisch, soll das anhand der Texte und in Gestalt von Texten ins Unbegrenzte fortführbare Spiel von Argument und Gegengesichtspunkt, von Kommentartext und Gegenkommentar an einer bestimmten Stelle abgebrochen werden? Diese Stelle ergibt sich in der Tat nicht aus dem Flechtwerk der behandelten sozialen Konflikte, diese Grenze nicht aus den „Methoden“. Das vorliegende Konzept hat von Anfang an48 klargestellt, daß es nicht um Grenzziehung in dem Sinn gehen könne, als beginne jenseits der Grenze die Unmöglichkeit weiteren Argumentierens; vielmehr gehe es um Eingrenzung gemäß dem normativen, dem demokratisch-rechtsstaatlichen Code „noch erlaubt / nicht mehr erlaubt“. Und vor der Ausarbeitung dieser Methodik wurde schon bei der Erstbegründung der Strukturierenden Rechtslehre49 hervorgehoben, bei der „äußerste(n) Grenze möglicher Konkretisierung“ gehe es um die „Grenze zulässiger (…)“, um „den Bereich legitimer Konkretisierungsergebnisse“. Das methodisch Mögliche ist unbegrenzt; das Postulat der Legitimität, hier an die praktisch durch Entscheidung handelnden Juristen gerichtet, setzt Grenzen. Diese drücken sich im Konzept der Strukturierenden Methodik vor allem durch folgende Figuren aus: – die Unterscheidung von Sprachdaten und Realdaten; – die Überordnung der Sprachdaten beim Erarbeiten des Normbereichs aus dem Sach-(bzw. Fall-)bereich am Maßstab des Normprogramms;
Müller XIX, S. 438. Müller XXVII, S. 38 ff.: Inhaltsgerechtigkeit; Verfahrensgerechtigkeit; Methodengerechtigkeit; Methodenehrlichkeit als demokratisch und rechtsstaatlich einzuforderndes Arbeitsethos. 48 Juristische Methodik, 1. Auflage 1971, z. B. S. 72 ff., 140 ff., 182, 188 ff. u. ö. (Zur weiteren sprachtheoretisch / linguistischen Debatte um die traditionelle „Wortlaut“grenze und zum Stellenwert dieses Problems in der Praxis des Europäischen Gerichtshofs siehe Band II des vorliegenden Buchs.) 49 In: Müller I (1966), z. B. S. 147 ff., 155 ff.; die im Text folgenden Zitate: ebd., S. 157, 160; Hervorhebungen nicht im Original. 46 47
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– die Unterscheidung von norm(text)bezogenen und nicht-norm(text)-gestützten dogmatischen Elementen sowie durchgängig: von Konkretisierungsfaktoren, die geltenden Normtexten zugerechnet werden können und solchen, die es nicht können; und schließlich – die Überordnung der Sprachdaten beim Präferieren der jeweils normtextnäheren Elemente im Fall methodologischer Konflikte.
Das beunruhigendste Paradox liegt darin, daß gerade das, was ein diskursives An- 517 halten unmöglich macht – die kodifizierte Rechtsordnung als Schrift –, sowohl den Grund als auch die praktischen Maßstäbe für ein gewaltsames Anhalten liefern muß: der für den Rechtsfall zuständige Normtext (zumeist eine Mehrzahl von Vorschriften) als Text; er wird zudem in seine für rechtlich legitime Entscheidung ausgezeichnete Rolle seinerseits durch andere Normtexte des demokratischen Rechtsstaats befördert. Und nicht nur die Normtexte: auch die (im Fall zu produzierenden) Texte von Rechtsnorm und Entscheidungsnorm wie auch die der Begründung sind – aus verfassungsrechtlich vorgeschriebenen Gründen – Schrift. Über sie hinaus gehen die Diskurse weiter: der Entscheidungstenor wird, zusammen mit seiner Begründung, durch Berufung, Revision und durch sonstige Rechtsbehelfe formell in Frage gestellt; er wird von höherer Instanz hin- und hergewendet, wird bestätigt, verworfen, verändert. Der Begründungstext, mit seinem Tenor, wird wiedergegeben, diskutiert, verteidigt, kritisiert, „abweichend“ interpretiert, wird zum Ausgangspunkt prinzipiell endloser weiterer Diskurse gemacht; und diese werden es ihrerseits. Die unablässig betriebene alltägliche juristische Praxis wie auch das erdrükkende reiche Material der Rechtsgeschichte bieten (neben der „Theo“logie) das wohl grandioseste Beispiel für das von Foucault formulierte „unendliche Gewimmel der Kommentare“50, wie sie zugleich ungezählte Beispiele für Eingriffe in den Rechtsdiskurs und für sonstige Formen der Diskursverknappung liefern. Das befohlene Innehalten im Begründungsdiskurs am Maßstab der Normtextnähe, um zur Entscheidung zu kommen (– a – überhaupt; und – b – zu dieser einen und keiner anderen Entscheidung), ist gewaltgestützt. Es ist, von seiner Begründbarkeit aus beurteilt, nur Gewalt; ist Gewalt, die den Rahmen des Text- / Schriftdiskurses, des Diskurses also, aufgesprengt hat. Das nicht beendbare Spiel der Differenzen (im Sinn Derridas) beherrscht, als not- 518 wendiges, zur Gänze diejenigen Stufen des Umgangs mit Texten, mit Schrift, die oben51 (intuitives) „Verstehen“ und (reflektiertes) „Interpretieren“52 genannt wor50 Foucault, S. 18; s. a. oben Abschnitt 12. – Foucault nennt ebd. die Figuren der Ausschließungssysteme, der Verknappung, der internen Kontrollprozeduren. – Dazu, wie (rechtskräftige) Gerichtsentscheidungen von amtlicher Seite bzw. durch Private kommentiert und kritisiert werden, zahlreiche Beispiele (aus Deutschland und den USA) und Untersuchung bei Mishra. 51 Abschnitt 12; dort auch zur „Arbeit mit Texten“. 52 Wobei die Interpretation eines Textes, also das interpretierende Handeln eines Interpreten, unfähig ist, an die Stelle der Zeichen dieses Textes dessen „Bedeutung“ zu setzen. Unaus-
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den sind. Es beherrscht, als Spiel53 in der Sprache, zwar auch noch die im Unterschied dazu so bezeichnete „Arbeit mit Texten“, wird dabei aber von einem „Draußen“ gestört: vom Gewaltkomplex des Staatsapparats. Dieser Einbruch von Gewalt in die Welt der Schrift, dieses – um der im Namen der Legitimität geschuldeten Entscheidung willen – gewaltsame Anhalten des diskursiv unanhaltbaren Diskurses bietet ein nachdrückliches Beispiel für das, was Arbeit mit Texten in einer (staatlichen) Rechtsinstitution heißen kann. 519
Die mit Sprache überhaupt – durch Sprache als System (langue) und durch ihre abrichtende Kraft – gegebene Gewalt, die allgemeine Gewalt-Kontaminierung von Sprache erscheint nicht als Text-Äußeres. Als Text-Äußeres dagegen kann die abschneidende und verpflichtende, die sanktionierende und exekutierende Staatsgewalt gelten: eine sehr spezifische Gewalt im Rahmen der überall verteilten allgemeinen, eine einmalig konzentrierte. Die (rechtskräftig handelnde) Staatsgewalt ist ein Draußen des Diskurses insoweit, als sie sich durch ihr Handeln anmaßt, ihn zu beenden und sich dadurch bemüht, sich außerhalb seiner zu stellen. Sie ist in dem Maß ein Hors-Texte, in dem sie den Bedingungen von Textualität für ihr Teil entkommen zu können praktisch vorgibt. Der Differenzstruktur der Zeichen unterliegt auch die Staatsgewalt. Aber sie ist nicht einfach eines unter den Zeichen; sie ist, als abschneidende, deren Vergewaltigung.
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Eine Gesetzesvorschrift (ein Normtext) wird nicht erlassen, um von wem auch immer, besonders aber von Juristen, geisteswissenschaftlich „verstanden“ zu werden. Ein Normtext wird in die Rechtswelt gesetzt, um von institutionell zuständigen, mit Staatsgewalt bewehrten Entscheidungsträgern benutzt zu werden. Normtexte schreiben sich nicht einem (Gadamerschen) „hermeneutischen Universum“ ein; sondern der rechtsstaatlichen Textstruktur aus anordnenden und rechtfertigenden Zeichenketten, durch die der Verfassungsstaat seine Gewalt nicht so sehr real konstituiert, als vielmehr konstitutionalisiert. Ein demokratischer Rechtsstaat ist somit ein Gemeinwesen mit einer Textstruktur (vgl. RNr. 219 ff., 509 ff., 520 ff.); ist eine rechtlich-politische Form, eine Gesellschaft zu organisieren, in der auch das gültige Ergebnis von Staatsgewalt (das in Kraft getretene Gesetz, der bestandskräftige Verwaltungsakt, die rechtskräftig gewordene Gerichtsentscheidung) kritisiert, mit Argumenten bekämpft werden darf. Der allgemeine Diskurs der Gesellschaft, der die Äußerungen von Staatsgewalt begleitet, wird nicht seinerseits gewaltsam unterdrückt.
weichlich setzt der Interpret nur eine (nämlich seine „interpretierende“) Zeichenkette an die Stelle einer anderen (nämlich der des Ausgangstextes). – Dazu allgemein am Beispiel richterlichen Handelns Auseinandersetzung und Nw.e bei Christensen VII. 53 „Das systematische Spiel der Differenzen, der Spuren von Differenzen, der Verräumlichung“ (auch als „Raum-Werden der gesprochenen Kette“) heißt bei Derrida „différance“: z. B.: ders., Semiologie und Grammatologie. Gespräch mit Julia Kristeva, in: Derrida VI, S. 52 ff., 67 f.
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Die von Normtexten geforderte Arbeit muß, bei den hier gemeinten Vorgängen, 521 zu praktischen Entscheidungen führen. Das den Diskurs (vergeblich, aber tatsächlich) abschneidende Urteil ist in dieser abschneidenden Funktion nur Gewalt: einer der strategischen Punkte, an denen Staatsgewalt die Maske abnimmt54. Und doch ist dieses Abschneiden, gegeben mit der Existenz eines Staatsapparats dieser Art, zwar tatsächlich, aber vergeblich. Der Staat schlägt auf die Sprache (er kann nicht anders, es ist seine raison d’être); doch die Sprache schlägt zurück. Die Texte des Staates sind Gewalt; aber sie bleiben Texte, bleiben Schrift – bis zum Jüngsten Gericht können andere Sätze an ihre (noch so rechtskräftigen, sogar an ihre exekutierten) Urteilssätze geknüpft55 werden. 54 Zur historisch-systematischen Position des Rechts zwischen Gewalt und Sprache im bürgerlichen Verfassungsstaat der Neuzeit: Müller X. – Ebd., dazu, daß „das spezifisch Rechtliche an Herrschaftszusammenhängen und an der die Rechtsentscheidung letztlich sanktionierenden Gewaltanwendung … an Sprache gebunden (ist) und damit an deren allgemeine Bedingungen“; S. 37. – Nicht extern bleibt, sondern umfassend reflektiert wird Diskursethik für die Rechtswissenschaft bei Windisch (durchgehend diskursiv-deliberative Struktur legitimen demokratischen Rechts). 55 Daß ein Staat derlei gelegentlich nicht übersteht, ist ein anderes Thema. – Zum Schicksal der Verkettung heterogener genres de discours: Lyotard. – Daß der Staat durch gewaltgestütztes Entscheiden zwar Herrschaft über die sozialen Verhältnisse, nicht aber über den Diskurs erlangen kann, daß die staatlichen Entscheidungsträger nolens volens subjektiv im Diskurs verbleiben, zeigt sich auch in den aufschlußreichen Fällen einer späteren „Aufgabe der Rechtsprechung“ oder eines „Wechsels der Rechtsprechung“ in Judikaten desselben Gerichts (zu dieser Frage im Strafrecht: Hettinger / Engländer). – Dafür bietet ein spektakuläres Beispiel die – im Ergebnis gegenüber den Vorentscheidungen (BVerfGE 73, 206 ff.; E 76, 211, 217) entgegengesetzte – Judikatur des Bundesverfassungsgerichts zur Zulässigkeit von Sitzdemonstrationen / Sitzblockaden: 1 BvR 718 / 19 / 22 / 23 aus 1989, vom 10. 1. 1995 (BVerfGE 92, 1 ff.). – Sorgfältig begründet das Gericht unter Rückgriff auf Prozeßrecht (§ 15 Abs. 3 Satz 3 BVerfGG), es handele sich nicht inhaltlich um eine Änderung, sondern um eine klärende Entscheidung einer bis dahin im Gericht selbst streitigen Frage (a. a. O. Abschn. B I 3, am Anfang). Natürlich handelt es sich genau um das, was dementiert wird: Im Gegensatz zu bisher beurteilt jetzt eine Mehrheit der Richter die uferlose „Vergeistigung“ (d. h. Ausdehnung) des gesetzlichen Gewaltbegriffs als verfassungswidrig. In diesem Sinn schon oben im Text, S. 283 ff. – Besonders bemerkenswert erscheint, daß ein so plastisches Beispiel für das Spiel zwischen Gewalt und Diskurs ausgerechnet den juristischen Begriff der „Gewalt“ betrifft. – Auf dem Gebiet des Zivilrechts vgl. etwa BGH NJW 1998, S. 2208 oder den Wechsel der Judikatur des Bundesgerichtshofs (Juni 2001) zum Verfahren der Unterhaltsberechnung im Scheidungsrecht. – Allg. verfassungsrechtliche Legitimierung des Abweichens von eigener früherer Judikatur z. B. in BVerfGE 84, S. 212 ff., 227. – Aufrichtiger (wenn auch immer noch diskret) als BVerfGE 92, 1 ff. formuliert der Bundesgerichtshof in seinem Urteil vom 11. 2. 2000, in: NJW 2000, S. 1555 ff. (Staatliche Gewährung von Rechtsschutz in Kirchensachen), wo er sich von seiner früheren Rechtsprechung abwendet: „Sollte in BGHZ 46, 96, 101 … und in BGHZ 34, 372, 374 … hierzu etwas anderes zum Ausdruck gekommen sein, hält der Senat hieran nicht fest“; ebd., S. 1556. – Auch der Europäische Gerichtshof tut sich schwer, frühere Spruchpraxis ausdrücklich zu ändern oder aufzugeben. Erst spät hat er in drei spektakulären Urteilen begonnen, frühere Urteile zu korrigieren bzw. sich offen zu einem Neuansatz zu bekennen; vgl. Everling V, S. 138, sowie Band II des vorliegenden Buchs. Als ein älteres Beispiel einer Änderung der Judikatur des Gerichtshofs s. z. B. EuGH Slg. 1990, 1 – 3711 (HAG II). – Vgl. ferner auch Kähler, S. 155 ff. – Die Fälle, in denen der Europäische Gerichts-
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Das liegt an einem sehr einfachen Sachverhalt. Die Urteilssätze, die hinsichtlich der Rechtswirkung den Diskurs abschneiden, kann nicht „der Staat“ formulieren. Es sind natürlich immer einzelne Funktionsträger; und diese bleiben als professionell trainierte und ständig geforderte Subjekte, ungeachtet der Rechtskraft56 ihrer praktischen Entscheidungsakte, im Diskurs. Gelegentlich bekommt das dann wieder Rechtswirkung: wenn die Justiz ihre bisherige Judikatur in einer bestimmten Frage aufgibt, sich zu einem „Wechsel der Rechtsprechung“ durchringt57. Beispiele dafür gibt es seit jeher und aus allen Gerichtsbarkeiten. Aktuell und zugleich auf höchstem Normenniveau, dem der Verfassungsjustiz, sind der Fall der Zulässigkeit von Sitzblockaden (Entscheidung vom 10. 1. 1995) ebenso wie jener der Änderung der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts zum Fahrverbot bei Geschwindigkeitsüberschreitung (wegen Wandels im Sachbereich: mehr Unfälle aufgrund dichteren Verkehrs, Entscheidung vom 24. 3. 1996) oder die Änderung der Spruchpraxis zur Zulässigkeit von Überhangmandaten im Wahlrecht (Entscheidung 2 BvF 1 / 91 in NJW 1997, S. 1553 ff.), wo die Begründung für Überhangmandate (und damit auch die Ergebnisse) völlig ausgewechselt werden.
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Die zu Entscheidungen berufenen Juristen bleiben also subjektiv auf dem laufenden. Was aber stößt überhaupt den Diskurs an, tatsächlich weiterzulaufen? Er geht über eine endgültige Entscheidung hinaus zum einen „allgemein menschlich“ weiter: Die Menschen sind Sprecher, die Teilnehmer am gesellschaftlichen und rechtlichen Zusammenleben reagieren, diskutieren; es ist durch nichts auszuschließen, daß sie einer bestimmten Art, Recht zu sprechen, beispielsweise sprachlichen Widerstand entgegensetzen. Und zum andern gehen Rede und Widerrede „allgemein wissenschaftlich“ weiter: insofern Wissenschaft es zur Aufgabe und Funktion hat, sich mit den sie betreffenden Themen so lange zu befassen, als sie aktuell bleiben können (und darüber hinaus geht der Diskurs fach- und wissenschafts-historisch weiter). Beide allgemeinen Vorgänge könnte man „primär diskursiv“ nennen. Der „sekundär diskursive“ Prozeß ist demgegenüber der, den eine inzwischen erheblich veränderte Sachlage erneut und auf (zum Teil) neuer Grundlage hervorruft: so wie der Wandel im Sachbereich (und, je nach gebotener Konkretisierung der betreffenden Normprogramme, auch im Normbereich) im genannten Fall des Fahrverbots bei Überschreiten der Höchstgeschwindigkeit. Dann ändert sich gegebenenfalls die Rechtsprechung aufgrund eines Faktenwandels (beziehungsweise eines Wandels im Normbereich).
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In einem besonderen, nämlich sprachtheoretischen Sinn ist auch die mit Rechtsbehelfen nicht mehr angreifbare Entscheidung ein erst sekundär diskursives Datum. hof offen von eigenen Entscheidungen abweicht, sind sehr selten. Vgl. die Nachweise bei F. Müller / R. Christensen I, S. 325. 56 Vgl. als Einstieg in diese Problematik Röhl III, S. 536 ff. 57 Vgl. dazu BVerfGE 99, 1, 15 f. – Analyse der Änderungen der Rechtsprechung des spanischen Verfassungsgerichts bei Segado. – Zu den Gründen für eine Änderung der Rechtsprechung vgl. Kähler, S. 77 ff. – Unter dem Gesichtspunkt der Zukunftswirkung eingehend zum Wechsel in der Judikatur: Klappstein.
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Als Text ist sie grundsätzlich kein Text-Äußeres; aber doch nicht mit demselben Status wie der sonstige Diskurs. Denn diesen schneidet sie (staats-)gewaltsam ab; sie ist gewaltgestützt und in dieser Eigenschaft nicht mehr beeinflußbar, im Sinn von: im vorliegenden Verfahren nicht mehr veränderbar. Aber vielleicht wird sie sich in einem neuen Verfahren als veränderbar erweisen dank eines Wechsels der Entscheidungspraxis als Folge primär und sekundär diskursiver Prozesse. Die Entscheidungs- und die Begründungstexte des Staates sind, wie seine Normtexte auch, nichts als Pfeiler im Strom: aus Wasser gefertigte Pfeiler, wenn auch mit den Scharfschützen des Gewaltapparats an den Ufern postiert. Es ist erst am hervorgehobenen Punkt der rechtlich nicht mehr angreifbaren Ent- 525 scheidung, daß im Namen des Rechts die Elemente Gewalt und Sprache so weit auseinandertreten, zueinander in Opposition geraten. Indem der Rechtsdiskurs endgültig angehalten wird, setzt sich allein die (Staats-)Gewalt durch. Im gesamten der Entscheidung vorhergehenden Vorgang befinden sich Sprache und Gewalt in der Gemengelage, die ihr Grundverhältnis bestimmt, und zudem im Aktualzustand des semantischen Kampfes. Der Fortgang von Kommentar und Debatte nach der Entscheidung zeigt, daß diese den Diskurs nicht wirklich beenden kann; sie nimmt ihm nur die Rechtswirkung. Die Fälle von „Aufgabe, Änderung der Judikatur“58 markieren – wenn auch nur für künftige Entscheidungen – die mögliche Rückwirkung des Diskurses auf die Rechtsarbeit in der staatlichen Institution59. 58 In einem anderen neueren Fall (Beschl. v. 24. 3. 1996 – 2 BvR616 / 91 – 2 BvR 588 / 92 – 2 BvR 1585 / 93 – 2 BvR 1661 / 93) ändert das Bundesverfassungsgericht seine frühere Judikatur (Beschl. v. 16. 7. 1969, BVerfGE 27, 36 ff., bes. 42 f.) in der Frage der Verhängbarkeit von Fahrverboten. Dieser Fall liegt komplexer: einerseits Änderung der Rechtsprechung und der zugrundeliegenden tatsächlichen Verhältnisse; andererseits Änderung der Verhältnisse und – hierdurch herbeigeführte – zwischenzeitliche Änderung der Normtexte, und zwar auf Gesetzes- und auf Verordnungsebene (§ 26 a StVG durch Ges. v. 28. 12. 1982; Bußgeldkatalog-VO. v. 4. 7. 1989). Den Hintergrund bildet eine kollektive Tatsache: „Der motorisierte Straßenverkehr, die Verkehrsübertretungen und die Unfallzahlen waren gewaltig angewachsen“. Unter diesen Umständen müsse das Fahrverbot, um verhältnismäßig zu bleiben, „nicht mehr nur in extremen Ausnahmefällen“ verhängt werden: „Die vom Bundesverfassungsgericht unter früheren tatsächlichen Verhältnissen und auf die damalige Gesetzeslage bezogenen konkreten Folgerungen aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz sind damit überholt“ (Beschl. v. 24. 3. 1996, Abschn. II 2 a). – Es handelt sich um Normwandel im Verfassungsbereich – Verhältnismäßigkeitsprinzip – aufgrund geänderter Fakten des Sach- und Normbereichs mit ihrerseits durch die tatsächliche Änderung herbeigeführter neuer Gesetzes- und Verordnungslage: nicht-rechtserzeugte und rechtserzeugte Sachbereichs- bzw. Normbereichselemente. – Die Frage des Wechsels der Judikatur wird erörtert unter dem Aspekt einer etwaigen Rückwirkung auf frühere Sachverhalte bei Huep. Siehe ferner Langenbucher I, S. 105 ff. – Fragen der Legitimität bei Änderung der Judikatur wirft Neumann IV auf, und zwar – wie hier – unter „Verzicht auf eine objektivistische Interpretation der Idee der Richtigkeit der Entscheidung“ (ebd., S. 160). – Aufschlußreich schon BVerfGE 18, 224 ff., 240 f. zur Möglichkeit eines Wechsels der Judikatur „im Licht geläuterter Erkenntnis oder angesichts des Wandels der sozialen, politischen oder wirtschaftlichen Verhältnisse“. 59 Zur Rechtsprechungsänderung und deren Begriff grundlegend Pohl, S. 83 ff. Zur Art und Weise der Änderung ebd., S. 102 ff.
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Die alte Schule räumt, nolens volens, („wie das Leben so spielt“) dem Leben ein, erfinderischer zu sein als der Gesetzgeber. Aber um so sicherer ist sie sich ihrer Sache, mit ihrer Sprache der überraschenden Wucherungen des Alltags allemal Herr zu werden (neben tatbestandlicher Abstraktion und Typisierung vor allem „Richterrecht“, „extensive“ Interpretation, Analogie). Was die alte Schule nicht sieht, und, sähe sie es, nicht einräumen dürfte, ist: mindestens so unvorhersehbar, so wenig stillstellbar wie „das Leben“ sind künftige Sprechweisen und ihre Sprecher; weshalb die Sicherheiten „unserer“ Rechtssprache im Paradies der abgelegten sprachlichen Verwendungsweisen ein homerisches Gelächter hervorrufen müssen.
592 Normprogrammgrenze statt „Wortlautgrenze“
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Rechtsarbeiter in der vollziehenden und rechtsprechenden Gewalt haben die Aufgabe, Entscheidungs- und Begründungstexte hervorzubringen. Sie haben dabei die Amtspflicht, im Prozeß der Rechtserzeugung von den einschlägigen Normtexten auszugehen. Sie müssen sich in der Frage der Zulässigkeit ihrer Normkonkretisierung an das vorgegeben Vertextete halten, eben an Gesetzeswortlaute60. Die ständige höchstrichterliche Rechtsprechung wird denn auch nicht müde, diesen Grundsatz in ihren methodischen Leitlinien immer wieder zu erwähnen; allerdings nur, um ihn dann in der eigenen Spruch- und Entscheidungspraxis ebenso regelmäßig zu überspielen61. Und die um das Problem der „Wortlautgrenze“ kreisende rechtstheoretische Debatte legt in Anlehnung an das (im übrigen eher selbstbezügliche als informationshaltige) Diktum von Karl Kraus über die Psychoanalyse62 den Schluß nahe, daß es sich bei der Verpflichtung auf den Gesetzeswortlaut genau um das Problem handelt, für dessen Lösung sie einstehen soll: das Problem der Gewaltsamkeit juristischer Semantik und das der Willkür richterlichen Entscheidens63. Diesem Problem widmet sich die herkömmliche Literatur im Zusammenhang mit der Frage der Auslegung nach dem Gesetzeswortlaut anhand des strafrechtlichen Analogieverbots64 besonders gern. In ihren realistischeren Teilen vermag sie nur re60 Müller XXVI, S. 129. – Zum ganzen des angesprochenen Problemkreises des Verhältnisses von Rechtstext und juristischer Textarbeit in Hinblick auf deren Einbindung in die Textstruktur des Rechtsstaates jetzt ausführlich Müller / Christensen / Sokolowski. 61 Dazu die Ergebnisse einer eingehenden Analyse von Entscheidungen der Bundesgerichtsbarkeit bei Christensen VII, S. 23 ff. Zu den gleichen Befunden kommt auch die Analyse schweizerischer Bundesgerichtsentscheidungen bei Ogorek. 62 s. Kraus, S. 351: „Psychoanalyse ist jene Geisteskrankheit, für deren Therapie sie sich hält.“ 63 Entsprechend weist Forgó in Hinblick auf den (der Vorstellung einer durch die Sprache im Gesetzeswortlaut vorgegebenen Grenze zugrunde liegenden) Bedeutungsidealismus bei Carl Schmitt eine verborgene Einheit von Dezisionismus und Positivismus nach. – Looschelders / Roth gehen ihrerseits immer noch davon aus, es gebe Vorschriften mit „eindeutigem Wortlaut“ (Hervorhebung i. Or.) und andere, die „einen Auslegungsspielraum“ lassen, S. 66 ff., 67 f. – Klar zur „Wortlautgrenze“ dagegen Laudenklos I, S. 281 ff.
592 Normprogrammgrenze statt „Wortlautgrenze“
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signiert festzustellen, daß sich aufgrund des unvermeidlich sinnschöpfenden und damit analogen Charakters allen Interpretierens die Forderung nach einer Grenzziehung zwischen „wortlautgerechter Auslegung“ und einer den Rahmen des Gesetzeswortlauts sprengenden Analogie nicht zuverlässig ziehen läßt. „Diese Grenze ,gibt‘ es nicht.“65 Um sie durch Gewaltstreich dennoch herzustellen, bedient sich der Gesetzgeber seit alters her der sogenannten Legaldefinition. Mag durch diese auch manche Unklarheit beseitigt werden können, so ist sie selber doch nur ein Normtext – mit allem, was daraus folgt. Und schon gar nicht läßt sich eine solche Grenze sprachtheoretisch dem juristischen „Akt des Textverstehens“ abstrakt vorgeben und von außerhalb der Auslegung auferlegen66. Für den Nachweis der Gesetzeskonformität ihrer Ergebnisse ist die juristische Auslegungstätigkeit, nüchtern beurteilt, auf sich selbst zurückverwiesen. Sie kann diesen Nachweis nur erbringen, indem sie argumentativ den ihr in der „juristischen Kommunikationsgemeinschaft“ auferlegten Begründungspflichten nachkommt und damit ein in den entsprechenden Standards institutionalisiertes Mißtrauen ausräumt67. Eine Kontrolle richterlicher Interpretations- und Entscheidungstätigkeit kann darüber hinaus allenfalls „durch eine wache, interessierte und informierte Öffentlichkeit“ wahrgenommen werden68. „Richtiges Recht“ kann nicht durch „richtiges Sprechen“ gewährleistet werden, sondern kann sich nur als „legitime Sprache“ beweisen69. Und was für das strafrechtliche Analogieverbot im besonderen gilt, gilt allgemein für das Problem der Überschreitung des Bereichs einer Rechtsfindung aus dem Gesetzeswortlaut in Richtung auf die Rechtsschöpfung gegen das Gesetz70.
64 Vgl. zur Verwertbarkeit rechtswidrig erhobener personenbezogener Informationen im Strafprozess: BVerfGE 130, 1 ff., 43 f. 65 Hassemer IV, S. 89. – Auch z. B. nach Morlok / Kölbel / Launhardt, S. 42, „kann von der Existenz eindeutiger, unzweifelhafter Wortbedeutungen keine Rede sein“. – Die Position des Bundesverfassungsgerichts ist von diesen Einsichten noch unberührt: Unter den „herkömmlichen Auslegungsmethoden“ habe „keine einen unbedingten Vorrang vor einer anderen“. Allerdings komme im Strafrecht „freilich der grammatikalischen Auslegung eine herausgehobene Bedeutung zu; hier zieht der mögliche Wortsinn einer Vorschrift gerade mit Blick auf Art. 103 Abs. 2 GG der Auslegung eine Grenze, die unübersteigbar ist“ (BVerfGE 105, 135, 157 unter Hinweis auf E 85, 69, 73 und E 87, 209, 224). – Zu Legaldefinitionen aus Sicht der Gesetzgebungslehre: Bratschi. 66 Hassemer IV, S. 90. Zur linguistischen Unhaltbarkeit der herkömmlichen „Wortlautgrenze“ Busse III, S. 33 f. Ausführlich rechtslinguistisch dazu Christensen VII, S. 68 ff. 67 Ausführlich dazu Yi, S. 198 ff. 68 Hassemer IV, S. 90. Vgl. auch Christensen VII, S. 231: „Tatsächlich hängt die Ordnung juristischen Sprechens von den politischen Grundentscheidungen der Verfassung ab, ist nur in den entsprechenden Formen veränderbar und bedarf der ständigen öffentlichen Diskussion. Wenn man diese Ordnung zur normativen Sprachordnung überhöht, entzieht man sie jeglicher Kontrolle und überantwortet sie der Willkür zufälliger Machtkonstellationen.“ 69 Zum ersten Hassemer IV, S. 78 ff. Zum zweiten Begriff Bourdieu, S. 35 ff., der zugleich das darin liegende Moment von Macht herausarbeitet; auch Hassemer IV, S. 90 spricht in Hinblick auf das juristische „Sprechen“ und „Verstehen“ von der „Interpretationsherrschaft der Rechtsprechung“.
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Theorien der Rechtserkenntnis, die von einem kraft seiner Bedeutung im Gesetz schon enthaltenen und derart „objektiven“ Recht ausgehen, machen zu ihrem Gegenstand, was sich unter den Bedingungen verschriftet kodifizierter Rechtssetzung zuallererst als Forderung stellt: den Fall unter Bindung an das Gesetz zulösen. Von daher verweist die Aporie der Theorie mit dieser Umkehrung von einer vermeintlichen Lösung in ein reales Problem auf eine ,Wahrheit‘ der Praxis. Um diese „als Angelpunkt“ ist die methodische Bewältigung des Problems zu „drehen“71.
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Mit der Verpflichtung auf den Gesetzeswortlaut hat sich die für eine Erarbeitung von Recht am Text zentrale Frage der Gewalt richterlichen Handelns nicht etwa erledigt. Vielmehr stellt sie sich damit um so klarer. Die Frage der Gewalt der Rechtsprechung kehrt in der Verpflichtung auf den Gesetzeswortlaut wieder, sofern diese Verpflichtung genau die wieder rechtsförmig eingeforderte Art von Antwort auf sie darstellt72. Sie stellt sich dann als Frage nach der Gewalt, derer es bedarf, um dem Normtext seine Bedeutung für ein Urteil in dem zur Lösung anstehenden Fall überhaupt erst zu geben. Sie stellt sich mit einem jeden zu entscheidenden Fall neu, mit jedem Schritt der Lösung des Falls anhand der Texte73. Gewalt hat ihren Grund allein schon in der unabdingbaren Sprachlichkeit von Recht. Die Gewalt juristischer Textarbeit ist aufgrund der eigentlich endlos möglichen Semantisierung sprachlicher Zeichen74 mit jeder verbindlichen und für gültig gesetzten Entscheidung über Sprache gegeben. Diese Entscheidung kann nur in einer negativen Hermeneutik des Ausschlusses zur Reduzierung der Vielfalt der Semantisierungen auf die rechtlich ausschlaggebend eine Bedeutung des Zeichens hin getroffen werden75, die es allein 70 Dazu Neuner. – Die Methodik des Strafrechts ist nicht nur durch besondere methodenbezogene Vorschriften (wie z. B. Art. 103 II, III GG) und eigene dogmatische Figuren (wie das aus Art. 103 II GG hergeleitete Verbot strafbegründender oder -verschärfender Analogie) gekennzeichnet; sondern auch durch spezifische Konkretisierungselemente wie etwa die strafrahmenorientierte Auslegung; zu dieser exemplarisch: Kudlich. 71 Im Sinn von Wittgenstein I, Philosophische Untersuchungen, § 108. 72 Entsprechend zur Semantik des Fragens Wittgenstein VI, S. 227. 73 Von der Linguistik her zu dieser „Arbeit mit Texten“, die als Praxis von Recht über „Verstehen“ und „Interpretieren“ hinausgeht: Busse IV, S. 167 ff., 187 ff.; sowie ders. III ausführlich an einem Beispiel je aus dem Strafrecht, S. 119 ff. und aus dem Zivilrecht, S. 191 ff. – Rechtsarbeit als Textarbeit im hier entfalteten Sinn ist dem Ansatz von Felder III zugrunde gelegt. – Die hiesige Position ist gelegentlich auch schon in anspruchsvollen Pressemedien anzutreffen, z. B. bei Grasnick X, S. 36: „Rechtsarbeit ist Textarbeit, Arbeit am eigenen Text mit Hilfe fremder Texte. Diese dienen dem Richter als Referenztexte beim Verfertigen der Begründung seiner Entscheidung“. – Vgl. ferner Felder V, VI. 74 Allgemein zur „Unendlichkeit der Sprache“ und über die „entgrenzte Ökonomie semantischer Oppositionen“ Frank S. 560 ff. Des näheren hält Christensen VII, S. 81 f. im Ausgang davon, daß „sich aber die Bedeutung eines bestimmten Begriffs nur differential bestimmen (läßt) als Gesamtheit der Unterschiede zu den Bedeutungen aller anderen Begriffe“ fest, „daß es keine natürliche Grenze für diesen Bedeutungsdifferenzierungsprozeß gibt. Jede neue Fallkonstellation kann vielmehr das System der Bedeutungsbestimmungen verschieben.“ 75 Zur Reduktion der Vielfalt der Semantisierungen auf eine Einfalt der Bedeutung und zu dem darin liegenden Moment von Gewalt Schlag. – In „Rechtstext und Textarbeit“ (Müller /
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dadurch erklärtermaßen ,hat‘. Juristen „verstehen“ nicht (nur), sie handeln (vor allem). Ihr Tun ist weniger ein Nachvollziehen als ein (durch Arbeitsstandards gebundenes) Handeln. Rechtsarbeit ist Textarbeit: mit zu rezipierenden, zu deliberierenden, zu produzierenden Texten (und rezipiert wird dabei auch die sprachliche Formulierung der generellen Tatsachen, die durch den Fall ins Spiel kommen, m. a. W. die Texte über den Sachbereich). Ihre Rechtfertigung findet die Gewalt juristischer Textarbeit unter den Bedingungen des modernen Rechts- und Verfassungsstaats darin, daß Recht anders nicht zur Sprache zu bringen und damit anders nicht ,zu haben‘ ist. Nur im Einsatz der Gewalt juristischer Textarbeit kann dem Gesetz Genüge getan werden, auf das der Rechtsarbeiter für seine Fallösungen verfassungsrechtlich unmißverständlich verpflichtet ist76. Die für die Wahrnehmung seiner Aufgabe unabdingbare Gewalt, die dem Rechts- 529 arbeiter mit dem Amt in aller Form übertragen ist, wird ihm zugleich positivrechtlich genommen und in eine Pflicht überführt. Die Zentrierung der symbolischen Gewalt77 juristischer Semantisierung auf den Normtext bleibt nicht einem bloß subjektiven „Willen zum Gesetz“ überlassen, den er aus freien Stücken aufzubringen hat. Sie verläßt sich auch nicht auf eine nur subjektiv verbindliche rechtsethische Einsicht. Sie ist mit der Bindung der Rechtserzeugung „an das Gesetz“78 selbst als geltendes Recht festgeschrieben. Dem Artikel 92 des Grundgesetzes, der die „rechtsprechende Gewalt“ in die Hände des Richters legt, folgt umgehend Art. 97 GG, der ihm diese Hände bindet, indem er ihn in seiner Arbeit am Recht „nur dem Gesetz“ unterwirft: Die Sprache der Rechtserzeugung muß den von der Verfassung definierten Legitimitätsstandards genügen. Der Status der Priorität von Sprachdaten vor den Realdaten ebenso wie der Status 530 der Präferierung jeweils normtextnäherer Elemente im methodologischen Konflikt Christensen / Sokolowski) ist hierzu ein Prototyp herausgearbeitet worden: innerhalb der streitigen Gerichtsbarkeit der sich als nicht vergleichsfähig erweisende, der streitig bleibende Rechtskonflikt. Das Wünschenswerte wie auch die empirische Häufigkeit kooperativer Streitentscheidung durch Arrangement oder Vergleich werden damit nicht bestritten. 76 Müller XXIII, S. 67 f.; Christensen VII, S. 29. – Zu grundsätzlichen Fragen der juristischen Textarbeit auch Müller XXXIV, S. 55 ff., 71 ff.; ebd., zu deren sprachwissenschaftlichen Voraussetzungen. 77 Zu diesem Begriff Bourdieu / Passeron, S. 12. 78 Dazu Christensen VII, S. 19: „Das Modell einer ,Bindung an das Gesetz‘ sieht die Zeichenfolge des Normtextes als Gegenstand der Bindung an. Mittel der Bindung sind die verfassungsrechtlich begründeten Standards einer praktischen Bedeutungskonstitution. Das Ausmaß der Bindung ist nicht vollständige Determination, sondern relative Plausibilität im Rahmen einer vorgegebenen Argumentationskultur.“ Dieses neu vorgeschlagene Modell ist zur Aufhebung einer „Mehrdeutigkeit“ „im Begriff der Gesetzesbindung“ gegen das herkömmliche Postulat einer „Bindung durch das Gesetz im Sinne einer Erkenntnis seiner objektiven Bedeutung“ abzuheben: „Für das mit dem Stichwort ,Bindung durch das Gesetz‘ bezeichnete Modell ist Gegenstand der Bindung die objektive Bedeutung des Normtextes. Mittel der Bindung ist die von einer Auslegungs- oder Bedeutungstheorie ermöglichte Erkenntnis der objektiven Bedeutung. Das Ausmaß der Bindung ist hier eine über die richtige Erkenntnis vermittelte Determination.“
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ist damit der einer diskurswidrigen, aber normativ angeordneten, von der verfaßten Staatsgewalt postulierten Disziplinierung der Rechtsarbeit. Dasselbe gilt für die Frage von deren Begrenzung: Es hatte sich oben (Abschnitt 320) gezeigt, daß dem Normtext (Wortlaut) auch bei der Frage, wo die Grenze zulässigen rechtlichen Begründens und Entscheidens liege, eine Sonderstellung zukommt. Diese folgt gleichfalls, vor dem Hintergrund des zur Sprache gebrachten mehrfachen Zwiespalts (Abschnitt 591), aus dem positivierten, und das heißt hier: aus dem schriftlichen Charakter dieses Typus von Rechtssystem. 531
Der Normtext kann die Last aber nicht ,als solcher‘, nicht unvermittelt tragen. Er gewinnt Bedeutung in voller Hinsicht erst dadurch, daß er als Textformular in Arbeit genommen wird. Der Normtext als Ausdruck, als Zeichen „hat“ seine Bedeutung nur so, wie sie ihm vom Rechtsarbeiter durch die Erklärungen gegeben wird79, die den Text im Prozeß der Rechtserzeugung auf eine Lesart festlegen. Ohne sie erhielte der Normtext nicht die normativ ausreichende Bedeutung für den zu entscheidenden Fall. Allerdings ist er von Anfang an mehr als nur ein Stück Papier, bedeckt mit Druckerschwärze80, denn er liefert sowohl für die am Rechtsleben beteiligten Laien als auch für die Fachjuristen eine vorläufige Semantik (vgl. z. B. RNr. 17, 18, 278, 305). Der Rechtsarbeiter legt dann durch die von ihm erzeugte Rechtsnorm den Text auf eine Bedeutung als die seine fest. Er verleiht zugleich der von ihm erzeugten Norm die Worte und die Würde des Gesetzes als einen Titel auf Recht.81 Damit verschiebt82 der Rechtsarbeiter das zunächst zur Entscheidung des anstehenden Falles ,von sich aus‘ nichts Zulängliches sagende Zeichen des Gesetzes in das 79 s. allgemein Wittgenstein V, S. 51 f.: „Vergiß nicht, daß die Wörter die Bedeutungen haben, die wir ihnen gegeben haben; und wir geben ihnen Bedeutung durch Erklärungen.“ Und weiter, gerade in Hinblick auf die Versuche zur sprachtheoretischen Rechtfertigung herkömmlich objektivistischer Vorstellungen von der Wortlautgrenze: „Philosophen sprechen sehr häufig davon, die Bedeutung von Wörtern zu untersuchen, zu analysieren. Aber laßt uns nicht vergessen, daß ein Wort keine Bedeutung hat, die ihm gleichsam von einer von uns unabhängigen Macht gegeben wurde, so daß man eine Art wissenschaftlicher Untersuchung anstellen könnte, um herauszufinden, was das Wort wirklich bedeutet. Ein Wort hat die Bedeutung, die jemand ihm gegeben hat.“ Zur Kritik der „sprachanalytische(n) Begründung der Grenzfunktion des Wortlauts“ in diesem Sinn Yi, S. 68 ff.; für die Konsequenzen daraus weiter S. 133 ff. mit Rekurs auf die Wittgensteinsche Bedeutungskonzeption. 80 So allerdings Ogorek, S. 28: „Erst die Interpretation schafft Sinn. Ohne sie gibt es kein Dasein, keine Bedeutung der Norm. Der uninterpretierte Text ist Druckerschwärze auf dem Papier. Noch einmal formuliert: Das Dasein oder der Sinn eines Textes (auch der ,wahre‘, der , richtige‘, der ,eigentliche‘ und der ,vernünftige‘ Sinn) ist identisch mit dem Sinn, den sein Interpret ihm gibt.“ (Hervorhebung im Original). – Entsprechend allgemein zum Problem der Signifikanz von „Tintenstrichen auf dem Papier“ Wittgenstein VI, S. 103 ff. – Neumann V, S. 43 f., bemüht sich, die Formulierung der 7. Auflage des vorliegenden Buchs aufzuspießen, indem er den hier entwickelten Kontext „Bedeutsamkeit – Bedeutung“ ausblendet. 81 Vgl. Wittgenstein VII, Band 1, § 116: „Wir verleihen Wörter, wie wir, bereits vorhandene, Titel verleihen.“ 82 Dazu allgemein der Begriff der „Iteration“ als Wiederholung und Verschiebung des Zeichens bei Derrida IV. Bezogen auf die besonderen Verhältnisse der Rechtserzeugung Christensen VII, S. 142 und öfter.
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für diesen Fall bedeutende Zeichen seines Textes einer Rechtsnorm. Er produziert, „gibt“ akut das Gesetz im Sinn eines Gehalts an Recht.83 Damit schafft er aber auch zugleich den „Angriffspunkt“84 für die Frage der Zulässigkeit. Durch die Festlegung des Normtextes auf die eine Bedeutung legt der entscheidende Jurist bilateral ineins85 den Text auf einen Ausdruck fest, den einen Ausdruck von Recht. Mit dem Zusammenschluß zu einem Zeichen des Rechts sind ihm nun weitere Semantisierungen verschlossen. Indem die Rechtserzeugung der Bedeutung des Normtextes eine Grenze dort zieht, wo ohne dies keine gezogen ist86, wird die Bedeutungsgebung als Grenzziehung thematisierbar. Der entscheidende Jurist ist herausgefordert, unter Beweis zu stellen, daß er in seiner semantischen Praxis bei aller nötigen Erarbeitung des Textes doch nichts anderes tut, als mit dem Text zu arbeiten und so dem sprichwörtlichen Buchstaben des Gesetzes zu folgen. Im realen Ablauf des einzelnen Entscheidungsvorgangs beginnt der Rechtsarbeiter mit einem Text (Fallbericht), formuliert ihn professionell um (Sachverhalt), zieht einige „geltende“ Texte heran (gesetzliche Vorschriften, Normtexte); sodann sammelt er viele nicht-“geltende“ Texte über Texte sowie eine Anzahl von Texten über Tatsachen (primär sprachliche und sekundär sprachliche Entscheidungsdaten), arbeitet all diese Texte methodisch durch und endet wieder mit einem Text (Entscheidungsnorm). Dieser eine letzte gibt die individuelle „Wahrheit“ dieses Falles wieder; nämlich die „Bedeutung“ der geltenden Rechtsordnung für ihn (was das Recht den am Fall Beteiligten zu tun oder zu lassen „bedeutet“) – so wie der eine erste Text die Tatsächlichkeit des konkreten einzelnen Falls wiedergeben sollte. Kurz vor dem Stadium der Entscheidungsnorm war der Rechtsarbeiter (demokratisch, rechtsstaatlich) verpflichtet, die individuelle „Wahrheit“ dieses Falls als allgemeine zu formulieren: die „Bedeutung“ des geltenden Rechts „für einen Fall wie diesen“, d. h. den Text der im Fall hergestellten Rechtsnorm. Die Paradoxie, daß sich juristische Textarbeit die Grenze erst selbst zu ziehen 532 hat, der sie unterworfen und an der sie zu messen ist, ist nur eine vordergründige. Sie besagt nichts anderes, als daß die Frage der Wortlautgrenze unvermeidlich eine solche des Verfahrens ist: des Vorgangs der Erarbeitung des Normprogramms und des Textes der Rechtsnorm sowie der Entscheidungsnorm aus den Sprachdaten. Die Frage nach der Wortlautgrenze kann nicht auf einen Fixpunkt außerhalb der juristi83 Im Anschluß an den Humboldtschen Begriff der Sprache als Energeia und an die Wittgensteinsche Bedeutungskonzeption vermerkt Zäch II, S. 53 als rechtstheoretische Konsequenz, allerdings zu Unrecht beschränkt auf die „Präzisierung bei der Rechtsanwendung“, daß „das Recht für die Entscheidung nicht vom Gesetzgeber, sondern vom Richter gesetzt“ wird. Und er folgert: „Der Richter wird (…) in hohem Maß zum Gesetzgeber.“ 84 Im Sinn von Wittgenstein VI, S. 168 f. 85 Dazu die Saussuresche Blattmetapher. Vg. Saussure, S. 43. Zum internen Zusammenhang von Ausdruck und Bedeutung auch Hjelmslev, S. 54, im übrigen mit kritischem Verweis auf Saussure. Eingehend zeichentheoretisch zu einem aktivisch produktiven Zeichenbegriff gegenüber einem passivisch reproduktiven, repräsentationalistischen Keller I, S. 22 ff. 86 Vgl. Wittgenstein I, Philosophische Untersuchungen, §§ 68 ff.
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schen Arbeit an Sprache verlagert werden.87 Das zeigt sich gerade auch in den seltenen Grenzfällen, da die Begründung sich allein auf den Wortlaut konzentriert. Für diese Fälle wurde oben (Abschnitt 320.3) gesagt, daß sogar hier dieser Wortlaut vom Arbeitsvorgang her ein geschrumpftes Normprogramm darstellt. Auch dann ist es also nicht der in herkömmlicher Lehre verkürzend so genannte „mögliche Wortsinn“, welcher letztlich lexikalisch fixierend argumentieren muß, der die normative Forderung des Rechtsstaats nach Verfassungs- und Gesetzesbindung realisieren hilft. Diese Forderung, einschließlich der sich an sie knüpfenden Normen (wie: Vorrang-, Vorbehalts-, Kollisions-, Maßstabs-, Verfahrens- und Kontrollvorschriften), wird vielmehr normalerweise mit Hilfe des Normprogramms, in den genannten Grenzfällen mit der des grammatisch ausgelegten, zuvor aber durch alle Stadien der Interpretation hindurchgegange Normtexts (beziehungsweise: aller einschlägigen Normtexte) eingelöst. In keinem Fall kann „die Wortlautgrenze“ gegenständlich vorausgesetzt werden, auch nicht in „Begriffskern“ und „Begriffshof“ scheinbar abgeschichtet88; in keinem Fall ist sie eine generalisierte, gleichsam – aus sprachlich / linguistischen Gründen – „gültige“ Vorgegebenheit. Die begrenzende Wirkung ist keine (lexikalisch autoritativ formulierbare und daher für den Rechtsfall abzulesende) Eigenschaft des Normtexts beziehungsweise seiner einzelnen Ausdrücke. 533
Die „Wortlautgrenze“ ist überhaupt keine, die durch die Sprache selbst vorgegeben wäre. In der Sprache tragen Wörter und Sätze keine Grenzen mit sich herum. Daher kann, bei Licht besehen, allein schon aus „den Verhältnisse(n)89 unserer Sprache heraus“ das Konzept der Wortlautgrenze keine Lösung des Problems einer Begrenzung juristischer Semantisierung von Texten bieten. Eine solche Grenze ist in der Sprache zu errichten. Sie ist praktizierte Sprache. Und sie ist genau damit auch nicht ein Problem, das immer schon gelöst wäre, sondern eines, das der juristischen Praxis immer wieder aufgegeben ist. Die Wortlautgrenze ist keine, die man vor der Argumentation bestimmen könnte, etwa durch das schlichte Nachschlagen im Wörterbuch90. Sie entfaltet sich erst im Prozeß der als juristische Zeichensetzung initiierten und sich an ihr entzündenden praktischen Auseinandersetzung. Als ständige Aufgabe ist sie integraler Bestandteil juristischer Textarbeit. Sie richtet sich nicht von außen auf das Verfahren der Erarbeitung des Normprogramms und der Rechtsund Entscheidungsnorm aus den Sprachdaten, sondern sie vollzieht sich in diesem Verfahren. Entsprechend komplex fällt die nur noch zum terminologischen Querverweis so zu titulierende „Wortlautgrenze“ dann als Normprogrammgrenze auch aus. Sie ergibt sich erst aus der Verbindung und dem Wechselspiel von methodenbezogenen Normen des Verfassungsrechts und methodischen Standards, die in der ratio-
s. auch Wittgenstein IV, § 95: „In der Sprache wird alles ausgetragen.“ Gegen dieses und verwandte Bedeutungskonzepte Nowak S. 225 ff. 89 Vgl. Wittgenstein I, Philosophische Untersuchungen, § 130. 90 Zu dieser durchaus gängigen Übung einer Bedeutungsermittlung anhand des Wörterbuchs Christensen VI, S. 68 f. Sprachwissenschaftlich zum Problem der „Kodifizierung von Gebrauchsweisen in Wörterbüchern“ Wimmer III, S. 34 ff. 87 88
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nalen Durchformung juristischer Textarbeit deren Beachtung zu tragen haben. Sie ist eine relationale Größe, welche die zu bearbeitende Zeichenkette in Beziehung zur betreffenden juristischen Argumentationskultur und zu den verfassungsrechtlichen Anforderungen an deren Standards setzt. Konkret ist die begrenzende Wirkung des Normtextes einsetzbar nur jeweils im 534 vorliegenden Rechtsfall. Angesichts dieser vom Rechtsarbeiter gewählten Gebrauchsweise der Ausdrücke heranzuziehender Gesetzeswortlaute, angesichts dieser von ihm durchgeführten Referenzfixierung zwischen Sprachdaten und Realdaten (Tatsachen) eines Falls, ist sie ein methodisch schlüssig zu begründendes und ehrlich darzustellendes Arbeitsergebnis; ein Ergebnis, das im Verlauf des rechtsstaatlich und demokratisch verpflichteten Arbeitsvorgangs „Konkretisierung“ erst hervorzubringen ist91. Statt zu fragen, ob ein bestimmtes Ergebnis „die Wortlautgrenze des gesetzlichen Ausdrucks x überschreitet oder nicht“ (wobei sowohl die „Bedeutung“ von x wie damit auch die „Grenzen seiner Bedeutung“ als im Prinzip gegeben, vorhanden, als lexikalisch beweisbar unterstellt werden), sollte realistischer gefragt werden: Ist – bei vollständiger Heranziehung aller Konkretisierungselemente (Sprachdaten und Realdaten) dieses Falles – das vorgeschlagene Ergebnis dem einschlägigen Normtext (den Normtexten) noch methodisch plausibel zurechenbar oder nicht? Die vertretbare Begründung für das Ergebnis liegt hier in dem gesamten Arbeitsvorgang, weshalb seine Vollständigkeit und seine ehrliche Darstellung auch so wichtig sind; und nicht in einer dem Normtextausdruck x aufgepfropften „Eigenschaft“ (sc. von „Bedeutung“ und „Bedeutungsgrenze“). Nur so bleiben die Normtexte des geltenden Rechts „verschont von Forderungen, die in der Sprache nicht einzulösen sind und sich an anderen objektiven oder subjektiven Größen des Rechtsfindungsprozesses abzuarbeiten hätten.“92 Mit einem Wort (und „seiner“ Bedeutung) kann man einen Rechtsfall ohnehin nicht entscheiden; auch nicht mit mehreren Wörtern. Man braucht, zumindest, einen Satz dafür (also Satzsemantik); in aller Regel mehrere extern zu verbindende (Kontextsemantik) bzw. auch untereinander zusammenhängende Sätze (Textsemantik). Nimmt man „Text“ nicht nur als Satzfolge, grammatisch verknüpft, sondern als strukturierte Kette kommunikativer Handlungen in einer Situation, so rückt das den Normtext (die „Gesetze“ in der Kodifikation) an seinen realen Platz. Ihm fehlt noch die Situation; er ist, in linguistischer Rede, erst Textformular, noch nicht Text; hat erst Bedeutsamkeit, noch nicht Bedeutung. Rechtstheoretisch gesagt, „gilt“ er; „normiert“ noch nicht. Das normative Stadium erreicht dann die Entscheidung. Mit seiner Entscheidung hält der Rechtsarbeiter etwas an – für eine „juristische Sekunde“;
91 Intensive Studien zur Gesetzesbindung bzw. Referenzfixierung im juristischen Handeln als einem rechtsstaatlich verpflichteten und offen argumentierenden Arbeitsvorgang bei Christensen VII und Jeand’Heur IV. 92 Die zuletzt genannte, mit Blick auf das hier entwickelte Konzept gegebene Formulierung bei Gast V, S. 556. – Emphatisch aufgegriffen wird die hier vorgestellte nachpositivistische Rechtslehre und Methodik bei Villacorta Mancebo I, III.
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fixiert etwas – für diesen einen Fall und auch das nur vorbehaltlich weiterer Gerichtsinstanzen und ihrer Fixierungen. Er entscheidet über den Fall und nicht allgemein über „die“ Bedeutung der dabei gebrauchten Begriffe. Diese kann er – linguistisch – gar nicht geben. Was er – linguistisch gesehen – gibt, ist stets nur ein weiteres Beispiel für Gebrauch der fraglichen Ausdrücke. Da die Juristen (als Ausgangspunkt, Arbeitsmittel und Endergebnis) sowieso immer nur Text haben, kommt es so sehr darauf an, welchen; d. h. darauf, mit den Normtexten und den Entscheidungstexten sorgfältig umzugehen. Und da auch nicht eine abstrakte Instanz namens „die Sprache“ die aktuelle Bedeutung der Normtexte im Fall garantieren kann, ist der gesamte Arbeitsvorgang einschließlich des Resultats so wichtig, und nicht allein das Ergebnis als solches – das meinen nur (Krypto-) Positivisten mit einem vorschnell positivistischen Verständnis auch von Sprache. Das alte Denken im mainstream hält deswegen den hier entwickelten Gedanken der Methodenehrlichkeit sei es für eine Marotte, sei es für einen moralischen Appell; dabei ist diese Forderung – so wie der Vorzug eines Arbeitskonsenses gegenüber einem bloßen Ergebniskonsens – Teil eines theoretischen Konzepts. Dieses ist konsequent nach-positivistisch und borgt sich, anders als das alte Denken, keine objektiven Garantien oder prästabilierten Harmonien mehr aus: weder beim „Willen“ von Gesetzgeber bzw. Gesetz noch bei „der Rechtsidee“, weder bei „der Gerechtigkeit“ noch bei „der sprachlichen Bedeutung“, weder bei einer „Einheit der Verfassung“ noch übrigens auch bei angeblich außersprachlichen Tatsachen. 535
Die Strukturierende Methodik schlägt also nicht nur vor, die polarisierenden Dualismen Sein / Sollen, Norm / Fall, Norm / Wirklichkeit, die Vorstellung von Rechts „anwendung“ als Subsumtion und Syllogismus, die von Konkretisierung als dem Konkretermachen einer im Gesetzbuch bereits vorhandenen Norm, sowie andere Erbstücke aus der Geschichte der Rechtswissenschaft, zu verabschieden; sondern auch das überkommene Konzept einer Wortlautgrenze, bei der dem Normtext eine vorgegeben begrenzende Kraft sei es naturhaft mit der Sprache, sei es sozial durch „den“ Sprachgebrauch, sei es autoritär durch die Expertise der Sprachwissenschaft zuweisbar wäre93. 93 Den Abschied von der herkömmlichen Vorstellung einer „Wortlautgrenze“ hat die Strukturierende Methodik seit der Mitte der siebziger Jahre eingeleitet: Müller XII, S. 77 ff., 80 ff.; ders. XVI, S. 271 ff., 274; zu korrigieren ist ebd. die Aussage zu den Normbereichselementen: diese tragen für die Grenzbestimmung nichts bei, da sie selbst dem Normprogramm (d. h. der Gesamtinterpretation der Sprachdaten) konform sein müssen (zu ebd., S. 274, Fn. 8). – Zu der Linie „Normprogramm- statt Wortlautgrenze“ ferner Müller XIX, S. 370 f. Zu den gemeinsamen Problemen zwischen Sprach- und Rechtswissenschaft die Beiträge in dems. XXIV. – Intensive Studien zur Gesetzesbindung bzw. Referenzfixierung im juristischen Handeln als einem rechtsstaatlich verpflichteten und offen argumentierenden Arbeitsvorgang bei Christensen VII und Jeand’Heur IV. – Von der Linguistik her zur „Arbeit mit Texten“, die über „Verstehen“ und „Interpretieren“ hinausgeht: Busse IV, S. 167 ff., 187 ff.; zur linguistischen Unhaltbarkeit der herkömmllichen „Wortlautgrenze“: ders. III, S. 33 f. – Zu dem sogleich im Text folgenden Punkt (3): Der hier begründeten Position, es gebe beinahe nie die eine richtige Rechtsansicht / Entscheidung, entspricht die Praxis des Bundesverfassungsgerichts; als ein Bei-
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Mit einem neueren, aus der Theorie der Neuen Medien stammenden Begriff läßt sich auch sagen, das Recht sei an entscheidenden Punkten im Gegensatz zur herkömmlichen Auffassung nur virtuell: (1) Gegen die Sicht der Tradition stehen in Verfassungen, in Gesetz- und Verordnungsblättern keine Rechtsnormen, steht nicht schon „das Recht“. Nur virtuelles Recht enthalten sie, nur Normtexte als Ausgangspunkte der praktischen Rechtsarbeit. (2) Die Rechtsnorm in praxi, das law in action, läßt sich sinnvoll als strukturiert denken, als aus Normprogramm und Normbereich zusammengesetzt – traditionell ausgedrückt: aus Sollens- und aus Seinselementen. Sollen als ein angeblich „reines“ bleibt bloß virtuell. Real wirksam wird Sollen nur als ein durch Faktizität mit-konstituiertes, als durch Realität verunreinigtes. (3) Die einzig richtige Lösung des Rechtsfalls, dieser Fetisch positivistischer Tradition, ist nichts als virtuell. Real – in den meisten typischen Fällen der Praxis – ist die „vertretbare“. Neben ihr gibt es in aller Regel noch andere, die mit akzeptablen Gründen gleichfalls vertreten werden können. Die Aussage des geltenden Rechts zu einem einzelnen rechtlichen Problem / Konflikt bringt nichts (eineindeutig, wie im mathematischen Algorithmus) „auf den Punkt“. Die legitimierbaren Entscheidungen reduzieren sich nicht auf die „einzig richtige“. Den singulär herausgehobenen Punkt der Fall-Lösung gibt es nicht, weil der Archimedische oberhalb der natürlichen Sprache, deren Teil die Rechtssprache darstellt, nicht auffindbar ist. Das geltende Recht eröffnet, nochmals bildlich gesprochen, einen Raum. Er ist nicht a priori begrenzt, wohl aber durch Rechtsarbeit im einzelnen Fall begrenzbar. Das Recht macht eine Arena für Auseinandersetzungen um Bedeutungen auf, für semantische Kämpfe. In diesem Streitraum, Spielraum, sind, in aller Regel, mehrere Lösungen rechtlich vertretbar: sei es verschiedene Entscheidungsnormen, sei es die gleiche, aber mit verschiedenen Begründungen (Entscheidung = Tenor plus Gründe). Die genannten Fragen sind zentral: Welche Eigenschaften können wir einer Rechtsnorm realistisch zuschreiben? Wo überhaupt finden wir die Rechtsnormen, die unsere Arbeit rechtfertigen sollen? Und: wie kann, realistisch bewertet, die Lösung von Rechtsproblemen konzipiert werden? In diesen drei Grundfragen weist die Strukturierende Rechtslehre – bestrebt, von den Tatsachen Zeugnis abzulegen – auf Virtualität hin: Virtualität des Rechts, noch spiel für viele: BVerfGE 98, 263 („Vielfalt vertretbarer Rechtsauffasssungen“) sowie die gesamte Judikatur zur verfassungskonformen Auslegung; zu dieser unter Aspekten der Demokratie: F. Müller XL, S. 25 ff. – Näher zur Virtualität: ders. XL, S. 32 f., 34, jeweils anhand einer Analyse der Rechtspraxis; zur Virtualität demokratierechtlicher Vorschriften: S. 35 ff. – Gegen die Doktrin von der einen (d. h. punktgenauen einzigen) richtigen Fallentscheidung sehr plastisch an einem Beispiel aus der Dogmatik des Strafrechts: Grasnick IX (zur „Punktstrafe“). – Gleichfalls für das Strafrecht auf der Basis der Strukturierenden Methodik für Fragen des „Rechtsmißbrauchs“-Arguments: Kölbel II.
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bevor sich dieses der technisch, insofern von außen, induzierten Virtualität als einer Erscheinungsweise der Neuen Medien zu stellen hat. Dieser Ansatz bietet angemessene und auch schon ausgearbeitete Parameter, nicht zuletzt in der Form der Juristischen Methodik. Sie machen es besser möglich, uns neben der Globalisierung und anderen Beunruhigungen des Hergebrachten auch mit der technisch provozierten Variante von Virtualität zu befassen. Das neuartige technische Paradigma sollten wir Rechtsarbeiter nicht mit dem juristischen von vorgestern angehen, mit dem Gesetzespositivismus. Das gestrige war ein Versuch geblieben: die bunte Schar von Antipositivismen im Verlauf des 20. Jahrhunderts hatte es nicht zum Status des detailliert konsistenten und, vor allem, des den Positivismus im normtheoretischen Zentrum treffenden, von der Wurzel her überschreitenden Neuansatzes gebracht. Macht diese Virtualität des Rechts dann nicht auch die Demokratie virtuell? Im Grundsatz ja, was das Ideal betrifft. Für das Sprachspiel „Demokratie“ inmitten der anderen Sprachspiele des Gesellschaftlich-Politischen kann das nicht anders sein und war es noch nie anders: government from a speaking, by a speaking and for a speaking people – mit aller Unsicherheit, die das mit sich bringt. Im einzelnen dagegen können eine realistische Rechtstheorie und Methodik viel dafür tun, daß „Virtualität“ nicht „Willkür“ bedeutet.
6 Juristische Methodik und Rechtspolitik – Metamethodologische Fragen – Maßstäblichkeit und Konsens 61 Juristische Methodik und Rechtspolitik Die Stellung der rechtspolitischen Konkretisierungselemente wurde hier schon erörtert (dazu oben vor allem Abschnitt 327). Nun geht es darum, die rechtspolitische Position des vorliegenden Methodenkonzepts unter einigen Aspekten zu umschreiben.
611 Zur rechtspolitischen Rolle des „Theorie“ansatzes
Juristische Methodologie ist eine im Ansatz theoretische Bemühung; und zwar 536 hier auf der Linie einer Theorie der Praxis. Solche Theorie ist, selbst ohnehin stets eine Form von Handeln, demjenigen Handeln, das wir juristische „Praxis“ nennen, weder autoritär übergeordnet noch im Sinn einer Pflicht unterworfen, nachträglich zuzustimmen und möglichst zu rechtfertigen. Beide Handlungsfelder stehen an verschiedenen gesellschaftlichen Orten, nehmen unterschiedliche Aufgaben in der sozialen Arbeitsteilung wahr, arbeiten demgemäß mit je eigenen Mitteln. Sie sind einander gleichgeordnet. Theorie erläutert, was geschieht; aber mit ihren Instrumenten, und das sollte doch wohl heißen, mit analytischen1. Das große Wort „Analyse“ wird in der Wissenschaft recht oft, aber nicht immer zu Recht beansprucht. Der Stil des Wissenschaftsbetriebs ist mehrheitlich affirmativ: für die „herrschende Lehre“ und die „herrschende Rechtsprechung“, mit dem innerhalb der Fachdisziplin etablierten mainstream; affirmativ damit in aller Regel, und nicht zuletzt, angesichts der „herrschenden“ gesellschaftlichen Verhältnisse. Dem entsprechen, auch wenn dabei das ominöse Wort immer wieder unterlaufen mag, die bekannten Vorgehensweisen: den Gegenstand vorweg domestizieren ; seine problematischen Punkte wählerisch einbeziehungsweise ausschließen; die eigene (mainstream-)Vorgabe in Position bringen; Störfaktoren rechtzeitig ausgrenzen, Dissidenten totschweigen – now anything goes. Analyse, wie sie hier gemeint ist, hat mit all dem nichts im Sinn. Sie gibt ihr Ergebnis aus der Hand, läßt sich von ihm überraschen. Neugier auf ein – etwaiges, nicht sicher mögliches – Ergebnis treibt sie an; und nicht der Vorsatz, ein zwar nicht 1 Der Ausdruck wird hier nicht auf gewisse „analytische“ Denkschulen bezogen verwendet (beispielsweise bestimmte Richtungen in der Sprachphilosophie, der Moraltheorie, der Rechtslehre).
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6 Methodik und Rechtspolitik – 61 Juristische Methodik
vorab kognitiv „gewußtes“, wohl aber vorweg gewolltes Resultat, sei es mehr autoritär, sei es eher rhetorisch, eindrucksvoll zu rechtfertigen. Bildlich gesprochen, arbeitet sie, wie schon die Herkunft des Wortes andeutet, mit einem Becken voll Säure, in das alles erkennbar zum Problem Gehörige, einschließlich der eigenen Gegebenheiten (Vorwissen, Position, generelles wie fachliches Vorverständnis) eingegeben wird. Analyse akzeptiert damit auch „negative“ Ergebnisse als Ergebnisse, auch „zersetzende“ Aussagen als Aussagen; einschließlich solcher, die mitgebrachte eigene Positionen im Lauf der Arbeit aufgelöst haben. Analyse gibt die Bestandteile der Säure bekannt und hat deren Wirkungsweise zu verantworten. Es geht ihr, und das sogar in der Rechtswelt, die von ihrer Hauptfunktion her die Neigung hat, umgekehrt gepolt zu sein, um Einsicht statt um Macht2. 537
Theorie erläutert, was geschieht; juristische Methodologie erklärt, was im juristischen Handeln, in verschiedene Richtung reflektiert und begrifflich aufgeschlüsselt, tatsächlich vor sich geht. Selbstverständlich sind dabei abweichende Begriffsnetze, sind diverse Methodenkonzepte möglich. Jedes von ihnen sollte seine Grundannahmen und seine begrifflichen Mittel jedenfalls offen ein- und folgerichtig durchführen. Was hier methoden„politisch“ allerdings von Anfang an nicht angezielt wird, ist ein im Grund nur beschreibender, ein im vorhinein „die“ Praxis bejahender Ansatz, der auf Vertrauensappelle zugunsten der amtlichen Funktionsträger, die es schon recht machen, die es schon richten werden, hinauslaufen muß. Statt dessen geht es hier, im oben genannten Sinn, um analytische Arbeit: zum einen, damit trennschärfer als bei autoritätsgläubiger Deskription das, was in der Praxis juristischen Handelns offenbar unausweichlich geschieht, auf den Begriff gebracht werden kann. Und zum andern, damit es gerade durch die damit erzielbare Genauigkeit und Tiefenschärfe möglich wird, einen – an demokratischen und rechtsstaatlichen Maßstäben beurteilt – recht gemischten Ist-Zustand juristischer Entscheidungspraktiken einem verbesserten Soll-Zustand anzunähern.
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Die Erfahrung, aus der es zu lernen gilt3, ist nicht die einer selbstsicheren Routinehaltung, eines selbstgefällig personalisierten „Judizes“ oder gar einer kollektiven Festungsmentalität der juristischen Entscheidungsstäbe4. Sie muß reflektierte Erfahrung sein. Rechtsstaat und Demokratie verlangen und verdienen nichts Geringeres. 2 Eine größer angelegte Analyse in diesem Sinn, dort zum verfassungspolitischen Sanktuarium einer unterstellten „Einheit der Verfassung“, findet sich bei Müller XVIII; eine andere zu der dem mainstream so teuren Figur des sogenannten Richterrechts bei dems. XXII. – Zu einer anderen Sicht auf das beliebte Ergebnisdenken: im eingeschränkten Sinn (nur als Hypothesen bildende Abduktion) dazu Arthur Kaufmann V, S. 57 f. u. ö. – Allg. nach dem „Nutzen der Rechtstheorie für die Rechtspraxis“ fragt Jestaedt. 3 Dazu auch oben, z. B. Abschnitte 11, 334. 4 Die Umgangssprache der Zunft spiegelt solche Haltungen boshaft genau wider: „So haben wir das schon immer gemacht!“ – „Da könnte ja jeder kommen!“ – „Wo kämen wir denn da hin?“ – Zur Praktikermethode aus der Sicht der Sprachwissenschaft: Busse VIII. – Zur Rolle eines ehrlichen methodischen Vorgehens dafür, daß Demokratie realisierbar werden kann: Müller XXXV.
611 Zur rechtspolitischen Rolle des „Theorie“ansatzes
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Die wichtigste, weil am ehesten verallgemeinerungsfähige, nachprüfbare, demokratisch diskutierbare Form reflektierter Erfahrung liefert die Wissenschaft. Theorie, die sich dem Ist-Zustand der Rechtspraxis analytisch nähert, hilft auch dabei, diese (selbst-)kritisch fortzuentwickeln. Theorie in diesem Sinn will sich nicht durch die Erhabenheit ihrer Gegenstände („allgemeine Rechtsprinzipien“, „oberste Rechtswerte“, „Vernunftrecht“, und ähnliches) als Theorie auszeichnen, sondern allein durch den Grad ihrer begreifenden Durchdringung des – altbekannten, alltäglichen – Gegenstands. Die Aufklärung dessen, was eigentlich vor sich geht, wenn juristisch gehandelt und entschieden wird, setzt ein hochgradiges Durchdringen der vertrauten Wortfassaden voraus. Mit „Vertrauen“ als Grundhaltung gegenüber den gewohnten Textfassaden, nur 539 weil sie von richterlichen Gremien stammen – und alles, was Richter unmittelbar erzeugen, ist Text –, ist es unter den Bedingungen der kontinental-europäischen und besonders der deutschen Rechtsstaatstradition nicht getan5. Für eine juristische Methodik in diesem (Typus von) Rechtssystem geht es weder um „Vertrauen in die Richterschaft“ noch um „Vertrauen in den Gesetzgeber“ als angeblich entscheidende Alternative. Es geht um das von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit dominierte geltende Verfassungsrecht dieser Rechtsordnung. Eine unmittelbar demokratische Legitimation der Justiz (sowenig wie der Exekutive) ist nicht (vor-)gegeben. Sie ist durch beständiges, in jedem Entscheidungsfall von neuem zu erweisendes rechtsstaatlich regelhaftes Einbeziehen und offenes Verarbeiten demokratisch gesetzter Normtexte, des „geltenden Rechts“ also, erst zu erwerben. Im demokratischen Rechtsstaat des Grundgesetzes sind die maximal mögliche Genauigkeit, die optimal erreichbare gleichheitliche Rationalität der Rechtsarbeit keiner Vertrauensoption überlassen; sie sind Rechtspflicht aller mit Entscheidungsgewalt versehenen Amtsträger, nicht zuletzt auch der Justiz. Sowohl in der Fallrechts- wie in der Gesetzesrechtsordnung ist es die Aufgabe der Rechtsprechung, strittige Fälle durch vertretbares Umsetzen des geltenden Rechts auf den Einzelfall zu entscheiden („von Rechts wegen“, de iure). Zugleich ist der Richterspruch nach außen hin darzustellen und dadurch zu rechtfertigen. Textproduktion und Textreferenz sind in beiden Rechtsordnungstypen die hauptsächlichen Handlungsformen der Justiz, und in beiden Typen erfolgen sie im Aktionsund Wirkungsraum der natürlichen (Rechts-)Sprache. Der Hauptunterschied im Ansatzpunkt liegt darin, daß im Fallrecht der Text verbindlicher Vorentscheidungen, im Statutenrecht dagegen Normtexte – jeweils überwiegend – die „geltenden“ Referenztexte abgeben, daß somit die neue Fallentscheidung jeweils an ihren argumentativ abzuarbeiten ist.
5 Dies und das folgende zu der bei Kriele I vertretenen Position. – Zur Frage von „Präjudizien“ unter dem Gesichtspunkt, wie weit eine demokratisch verfaßte Gesellschaft durch Normtexte gesteuert werden kann: Müller XXXVI, S. 19 ff.; ebd., zum rechtslinguistischen Verhältnis zwischen Fallrechtsordnung und Gesetzesrechtsordnung. – (Deliberative) Demokratie und Justiz spielen eine zentrale Rolle bei: Windisch, z. B. 239 ff., 435 ff., u. ö.
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6 Methodik und Rechtspolitik – 61 Juristische Methodik
Das Bemühen um normtextuell vollständige, um argumentativ einsichtige und im einzelnen dargestellte Entscheidungsarbeit sollte unter der Geltung des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland keiner Verteidigung bedürfen. Das sorgfältige, wissenschaftlich verantwortbare – und das heißt notwendig auch: Sprach- und Sozialwissenschaft zur Kenntnis nehmende – Austesten vertretbarer rechtsstaatlicher Offenheit über die illusionären Tabu-Linien des Gesetzespositivismus hinaus ist mühsam genug; „entzaubern“ läßt es sich dagegen mit großer und globaler Geste. Zu den Hauptvorwürfen gegen das hier entwickelte Konzept hat es etwa gezählt, die richterlichen „Präjudizien“ zu ignorieren. Dabei bildet die Auseinandersetzung mit dem, was die deutsche Justiz tatsächlich tut – und nicht etwa die akademisch-literarische Beschäftigung mit der internen Diskussion der Fachgelehrten – die sachliche Grundlage dieser Methodik. Gerichtsentscheidungen – notfalls „gegen den Strich“ gelesen, analysiert, auf Begriffe gebracht – tragen und begleiten sie von Anfang an; nur tauchen sie hier nicht als (Pseudo-common-law-)„Präjudizien“ auf, sondern als das, was sie in dieser Rechtsordnung sind: als bestimmte Urteile oder Beschlüsse dieses bestimmten Gerichts in diesem bestimmten Fall6. Entscheidungen wirken über die in ihnen entwickelten Rechtsnorm-Texte („Leitsätze“) und über den Rest ihrer Begründungstexte („Gründe“) auf andere Entscheidungen ein; an den Maßstäben des geltenden Rechts beurteilt aber nicht, weil dieses Gericht so entschieden und dieses oder jenes gesagt hat (außer in den seltenen Fällen gesetzlich angeordneter Bindungswirkung); sondern nach Maßgabe ihrer rechtsstaatlich-methodisch überzeugend verarbeiteten und damit den geltenden Normtexten plausibel zurechenbaren Sachargumente. Die Legitimierung eines Entscheidungshandelns und auch seine zuweilen vorbildliche Wirkung über den Fall hinaus liegen in seinem gesamten Vorgehen: nicht nur im praktischen Ergebnis, sondern auch im Procedere seiner Bearbeitung und in der Aufrichtigkeit seiner Begründung. Darum ist es so wichtig, die einschlägig erscheinenden Norm- und Konkretisierungsfaktoren vollständig einzubeziehen, zu verarbeiten und (zumindest in Pilotfällen und in der höchstrichterlichen Judikatur) ebenso darzustellen. Das hier entwickelte Konzept hebt durchweg hervor, wie stark die Realisierung des demokratischen Rechtsstaats vom tatsächlichen täglichen Tun der Rechtsarbeiter abhängt. Weniger pathetisch gesagt als systematisch beurteilt, steht in jedem dieser Vorgänge alles auf dem Spiel: nicht nur die einschlägigen Normtexte des materiellen und des Verfahrensrechts, sondern auf dem Weg über methodenerhebliche Standards des Rechtsstaats auch dieser selbst und wegen der (begrenzten, aber unverzichtbaren) Signalfunktion der demokratisch in Geltung gesetzten Normtexte auch das politische Gefüge „parlamentarische Demokratie“. Die Richtung der Schlußfolgerung lautet nicht: weil dies hier die richtige rechtstheoretische und methodologische Lehre ist, müßt Ihr so und nicht anders vorgehen; sondern: Dieses politische System rechtfertigt sich dadurch, einen demokratischen Rechtsstaat zu verwirklichen. Dann müssen seine (Verfas-
6 Die über „Präjudizien“ vor allem reden, werfen denen, die vor allem mit „Präjudizien“ konkret arbeiten, vor, „die Präjudizien“ zu vernachlässigen.
611 Zur rechtspolitischen Rolle des „Theorie“ansatzes
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sungs-)Normtexte auch dafür beim Wort genommen werden, und es gehört zu den Aufgaben von Rechtslehre und Methodik, das argumentativ zu entwickeln. Eine Methodik, die das detailliert genug auszuarbeiten versucht, wird gelegent- 541 lich beschuldigt, „präskriptiv“ sein zu wollen. Bei solchen Attacken geraten leicht die Begriffe ins Schwanken. Präskriptiv ist nicht normativ. Unter „normativ“ soll eine mit fremdgesteuerten (hier: durch den Staat) Sanktionen bewehrte Verhaltensverpflichtung verstanden werden („es muß …“), und zwar aufgrund eines Fremdcodes (hier: der staatlichen Rechtsordnung). Unter „präskriptiv“ wird verstanden eine ohne formelle Sanktionen auskommende standesgemäße (professionelle) Verhaltenserwartung („es sollte …“) gemäß einem Eigencode (hier: dem selbsterhobenen Anspruch der juristischen Tätigkeit, entweder unmittelbar wissenschaftlich zu sein oder – in der Rechtspraxis – eine wissenschaftliche Basis aufzuweisen). In diesem Sinn sind zwei Aussagen des Strukturkonzepts „präskriptiv“: Was wir als Juristen ohnehin tun, sollten wir (als wissenschaftlich fundierte, angeleitete Juristen) bewußt, reflektiert machen. Und was wir reflektiert so machen, sollten wir als demokratisch / rechtsstaatlich verpflichtete Juristen auch so darstellen, kommunizieren, „sagen und schreiben“. Normativ ist diese Methodik also sowenig wie jede andere wissenschaftliche Methodologie; präskriptiv im Sinn von exemplarisch ist sie (nur) im Maß ihrer Realitätsbezogenheit, Stimmigkeit, Brauchbarkeit – wie jede andere; und dann noch im Sinn der beiden genannten Postulate. Wenn sie zusätzlich die methodenbezogenen und die methodenrelevanten Vorschriften des geltenden (Verfassungs-)Rechts, wie es hier geschieht, in das Konzept einbezieht, erweist sie sich eben als eine die Vollständigkeit des Relevanten anstrebende Methodik dieser Rechtsordnung. Auch dieser letzte Punkt war für die Tradition deutscher Methodenlehre – leider – eine Neuheit. Noch mehr sollten die davor genannten Gesichtspunkte als banal gelten dürfen. Sie dienen aber immerhin der Abgrenzung gegen im wesentlichen nur deskriptive Ansätze, denen das, was in der deutschen Justiz ist, schon als Gewähr dafür gilt, daß es im großen und ganzen „gerecht“ und „vernünftig“ zugehe. Appelle an Gerechtigkeit können dies aber nicht verbürgen, Appelle an Vernunft ersetzen nicht wissenschaftliche Ausarbeitung7. Wo allerdings von einer anderen Theorie der Rechtsgewinnung der seit Montes- 542 quieu diesseits und seit den nordamerikanischen founding fathers auch jenseits des Atlantik begründete Gedanke, den immer möglichen Mißbrauch staatlicher Macht normativ und institutionell möglichst zu erschweren, als ungesundes Mißtrauen in die Richterschaft abgetan wird, kann eine analytisch strukturierende Methodik nur noch dem Bannstrahl verfallen. Wie es sich gehört, hat das Bannverfahren mehrere Stufen: Die strukturierende Methodik kommt zunächst ins Abseits der Anführungszeichen8. Denn sie macht juristisches Entscheiden an demokratisch gesetzten Norm7 Vgl. dazu auch Müller V. – Der hier gegebenen Erläuterung von „normativ“ und „präskriptiv“ auf einer allgemeineren Ebene vergleichbar: Lyotard, S. 168 ff. 8 „Wir empfehlen aber doch den Studenten nicht … eine auf Bedürfnisse der Dogmatik zugeschnittene ‚juristische Methodik‘, mag diese die Savigny’schen Interpretationselemente auch noch so verdienstvoll ergänzt und verfeinert haben“, Kriele I, S. 324; dazu auch oben RNr. 274.
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6 Methodik und Rechtspolitik – 61 Juristische Methodik
texten fest und verarbeitet die Rechtsprechung so, daß sie alle von dieser eingeführten Argumente im Rahmen einer umfassenden normtextorientierten Entscheidung aufnimmt und, soweit notwendig, kritisiert; und eben nicht als formell zwar nicht „geltende“, aber angeblich doch pseudo-gültige „Präjudizien“. Damit macht sie sich eines Kapitaldelikts schuldig; wird doch durch sie gerade nicht „gelehrt, was kraft der präjudiziellen Wirkung der Rechtsprechung in der Bundesrepublik als Recht gilt“ (!)9. Darum ist es nur vernünftig und gerecht, den Inhalt derartiger Methodenkonzepte aus den Übungen an den Rechtsfakultäten durch hochschulpolizeiliche10 und prüfungspolizeiliche11 Maßnahmen fernzuhalten. Wie aus alter, von Vernunft und Gerechtigkeit noch durchdrungener Zeit bekannt, hat sich ein Bann schließlich über die störenden Texte hinweg gegen die Person ihrer Autoren zu richten, um diese endgültig aus der Bahn zu werfen12. Die Stärke der Worte und die der Argumente ist erfahrungsgemäß nicht notwendig proportional. Mag Polemos der Vater aller Dinge sein, die Polemik ist jedenfalls nicht mit Sicherheit die Mutter nuancierter Einsicht. Das in diesem Abschnitt skizzierte und in diesem Buch erarbeitete Konzept von methodologischer Theorie und
9 Kriele I, S. 324; Hervorhebung nicht im Original. – Ausgerechnet mit der tatsächlichen höchstrichterlichen Judikatur steht diese rechtssystem-fremde Eloge „präjudizieller“ Rechtsprechung auf Kriegsfuß. Vgl. etwa BVerfGE 87, 273, 278: „Richter sind unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen (Art. 97 Abs. 1 GG). Ein Gericht braucht deswegen bei der Auslegung und Anwendung von Normen einer vorherrschenden Meinung nicht zu folgen. Es ist selbst dann nicht gehindert, eine eigene Rechtsauffassung zu vertreten und seinen Entscheidungen zugrunde zu legen, wenn alle anderen Gerichte – auch die im Rechtszug übergeordneten – den gegenteiligen Standpunkt einnehmen. Die Rechtspflege ist wegen der Unabhängigkeit der Richter konstitutionell uneinheitlich“; vgl. dazu auch BVerfGE 78, 123, 126. – Vgl. z. B. noch BVerfGE 84, 212 ff., 227 (Koalitionsfreiheit): „Höchstrichterliche Urteile sind kein Gesetzesrecht und erzeugen keine damit vergleichbare Rechtsbindung … Ihr Geltungsanspruch über den Einzelfall hinaus beruht allein auf der Überzeugungskraft ihrer Gründe sowie der Autorität und den Kompetenzen des Gerichts. Es bedarf deswegen nicht des Nachweises wesentlicher Änderungen der Verhältnisse oder der allgemeinen Anschauungen, damit ein Gericht ohne Verstoß gegen Art. 20 Abs. 3 GG von seiner früheren Rechtsprechung abweichen kann.“ 10 „ … Wir … verlangen (auch) von den Studenten, daß sie sich nicht davon beeinflussen lassen“, Kriele II, S. 95 mit Bezug auf dieses und auf andere Methodenkonzepte. 11 „Denken wir uns also, er (sc. der Student) würde die gesetzliche Norm durch den Versuch konkretisieren, ‚methodologische Elemente, Normbereichselemente, dogmatische Elemente, Theorieelemente, lösungstechnische und rechts- bzw. verfassungspolitische Elemente ins Spiel zu bringen‘ (F. Müller) … die Arbeit wäre unbrauchbar und könnte nur mit ‚mangelhaft‘ bewertet werden, ganz unabhängig davon, ob ihr Ergebnis zufällig (!) mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung übereinstimmt (!) …“, Kriele II, S. 95; Hervorhebungen nicht im Original. 12 „Solche Methodenlehren leben ein Eigenleben im rein akademischen Raum; man kann mit ihrer Hilfe Professor werden“, ebd., S. 96. – Doch ist für finale Abhilfe gesorgt: Wer das von jener „Theorie der Rechtsgewinnung“ behauptete „Prinzip der Präjudizienvermutung“ „nicht beachtet, wird als Jurist aus der Bahn geworfen, er kann … mit Gutachten, Büchern oder Aufsätzen kaum Einfluß ausüben“, ebd., S. 94; Unterstreichung im Original.
612 Juristische Methodik und normative Staatsform
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seine rechts- und verfassungspolitische Position verdienen vielleicht doch eine andere Art von Antwort.
612 Juristische Methodik und normative Staatsform
Von der „Rechtsstaatsidee“ des Grundgesetzes zu reden, ergibt keinen Sinn. Was 543 in der Politikwissenschaft wie auch im allgemein gesellschaftlichen Sprachgebrauch auf diese Art verallgemeinert wird, wurde vom Grundgesetz in bestimmter Form – so und nicht anders – ausdifferenziert und vorgeschrieben. Das vorliegende Methodenkonzept ist ausgehend von dieser Rechts- und Verfassungsordnung (und zudem für Rechtssysteme von diesem Typus) entwickelt worden. Schon deshalb ist es nicht rechtspolitisch neutral, nicht im Namen welcher Tradition oder welcher Logik auch immer „gereinigt“; auch darum, weil es die methodenbezogenen und die für juristische Arbeitsweise relevanten Verfassungsnormen nicht aus den Augen läßt. Dabei dürfen neben dem Rechtsstaat die anderen Normativbestandteile der 544 Staatsform des Grundgesetzes13 nicht übersehen werden. Die bundesstaatliche Ordnung wirft bekanntlich ganz eigene dogmatische Fragen auf; sie ist auch ein interessantes Thema von Staatslehre und Verfassungstheorie, bleibt aber methodologisch unspezifisch. Dagegen ist die im Grundgesetz normierte Demokratie die entscheidende Grundlage für die hier entworfene Methodik; und die Art und Weise, wie der Zusammenhang von Demokratie und Rechtsstaat in Grundlagen und Einzelheiten des methodischen Instrumentariums operationalisiert wird, hat – auf dem Umweg über die rechtspolitische Debatte und den politischen Prozeß – Bedeutung für die Sozialstaatlichkeit. Die Normtexte „gelten“. Soweit sie als einschlägig erscheinen, müssen sie vollständig herangezogen und korrekt verarbeitet werden – beides aus normativ gefordertem Respekt vor Demokratie und Rechtsstaat14. 13 Zur Republik die Ansätze bei Schachtschneider, mit weiterführenden Nw.en. – Der Rechtsstaat fällt nicht als Geschenk vom Himmel. Sehr aufschlußreich für die Entwicklung in der Türkei: Sağlam III. 14 Wenn „eine offensichtlich einschlägige Norm nicht berücksichtigt“ oder wenn „der Inhalt einer Norm in krasser Weise mißdeutet wird“, liegt nach BVerfGE 87, 273, 279 m.w. N., nicht nur „fehlerhafte Auslegung eines Gesetzes“, sondern liegt den allgemeinen Gleichheitssatz verletzende „Willkür“ vor. – Im Ergebnis folgt das Gericht damit weitgehend der Forderung, ein „Grundrecht auf Methodengleichheit“ anzuerkennen und zu praktizieren – dazu Müller XII, S. 65 ff., 107 –; allerdings gemäßigt durch die Linie seiner generellen Rechtsprechung zu Art. 3 Abs. 1 GG, die diesen vom Gleichheitsgebot zum Willkürverbot umdeuten will. – Funktionell vergleichbar die Linie des Spanischen Verfassungsgerichts zur (Un-) Gleichheit der Gesetzeskonkretisierung; z. B. in Sentencias del Tribunal Constitucional (STC) 183 / 1991; STC 207 / 1992; STC 28 / 1993; dazu auch die Ausführungen bei Gómez de Arteche. – Das Grundrecht auf Methodengleichheit untersucht eingehend Gaebel in seiner gleichnamigen Monographie; er möchte den hier entwickelten Vorschlag „erweitern“ – hin auf eine „gesetzliche Regelung“; ebd. S. 149 ff., 178 ff., 197. – Zur Demokratie das brasilianische
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6 Methodik und Rechtspolitik – 61 Juristische Methodik
Die Fakten des Sachbereichs müssen beides nicht. Tatsachen haben im strikten Rechtssinn keine „Geltung“. Sie bei der Lösung des Rechtsfalls heranzuziehen und mit zu verarbeiten ist nur unausweichlich; daher geschieht es auch ständig, allerdings oft weder methodisch verallgemeinerungsfähig noch offen und kontrollierbar. 545
Damit die Tatsachen des Sachbereichs offen und kontrollierbar herangezogen sowie korrekt verarbeitet werden können, begründet die strukturierende Rechts(norm) theorie zugleich die strukturierende Methodik. „Korrekt“ heißt dabei angesichts der Vorentscheidung, Fakten seien mit Normen zwar verflochten, aber dennoch etwas anderes als Normen: unter normativer Kontrolle. Und dies wiederum heißt in einem System versprachlichten und im Prinzip geschriebenen Rechts, in einem System, dessen Ausgangspunkte und Grenzlinien rechtlichen Handelns Normtexte darstellen: unter der Kontrolle von Arbeitselementen von der Art der Normtexte, das heißt unter der von Sprachdaten. Die Sprachdaten des Einzelfalls heißen in ihrer ausgearbeiteten, synthetisierten Form hier „Normprogramm“.
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Das Normprogramm liefert den verbindlichen Maßstab für die rechtliche Korrektheit der Auswahl des Normbereichs aus dem Sach(bzw. dem Fall-)bereich. Diejenige Teilmenge an Tatsachen aus dem Sachbereich, die im Ergebnis den Normbereich (und mit ihm einen Strukturbestandteil der im Fall erarbeiteten Rechtsnorm) ausmacht, gelangte dorthin nach Kriterien des Normprogramms (– a – gemäß dem Normprogramm erheblich?; und – b – mit dem Normprogramm vereinbar?); also in herkömmlicher Ausdrucksweise nach ‚normativen‘ Kriterien, ohne Gleichrangigkeit mit dem Normprogramm. Dieses dominiert die Teilmengenbildung von Fakten des Normbereichs aus denen des Sach(bzw. des Fall-)bereichs.
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Das oben genannte Zusammenspiel von Rechts(norm)theorie und juristischer Methodik hat also das Ziel – und bei intentionsgerechter Arbeit auch die Funktion –, das real Erreichbare an Rationalität in Sprachdaten und Realdaten – herkömmlich ausgedrückt: in „Recht“ und „Wirklichkeit“ – rechtsstaatlich zu operationalisieren, damit diese Rechtsordnung überhaupt noch eine Chance hat, wenigstens zum Teil demokratisch bestimmt zu sein. Gleichzeitig ist diese – bei ehrlicher rechtsstaatlicher Arbeit der Juristen realisierbare – demokratische Bestimmung der einzige Garant dafür, daß die Gesellschaft, soweit sie überhaupt durch Recht gesteuert wird, sozialstaatliche Impulse erhält.
613 Explikation und rechtspolitische Rolle des „Strukturierungs“-Projekts
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Nach den soeben gegebenen Hinweisen darauf, wie sich die Teilkonzepte „Sprachdaten / Realdaten“ und „Sachbereich / Normprogramm / Normbereich“ rechtspolitisch auswirken können, sei als weiteres Beispiel der Ausdruck „strukturieren“ aufgegriffen. Es handelt sich hier auch bei ihm nicht um ein austauschbares Wort Bundesverfassungsgericht (RE 633703; HC 104,286) unter Rückgriff auf „Volk“ im Sinn der Strukturierenden Verfassungslehre.
613 Rechtspolitische Rolle des „Strukturierungs“-Projekts
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aus dem Überschneidungsbereich von Umgangs- und Fachsprache, etwa innerhalb des Wortfelds „unterscheiden / differenzieren, gliedern, ordnen, …“; sondern um einen explizierten Arbeitsbegriff, um einen technischen Term15. Er ist sachlich an die Aussagen der hier entfalteten Konzeption gebunden. Was das für die Methodik und für ihre rechtspolitische Positionswahl sagen kann, sei im folgenden angedeutet. Was üblicherweise Rechts„anwendung“ heißt, wird hier ‚auf der Zeitschiene‘ dy- 549 namisiert: es wird in zeitliche Verlaufsform gebracht, zu einem Ablaufmodell entwickelt. Es wird, anders gesagt, zunächst einmal auf der Achse „Norm“ / Fall – in der hiesigen Ausdrucksweise: Normtext / Fall – strukturiert. Das veranlaßt dazu, etwas zu problematisieren, was im gesetzespositivistischen Paradigma einschließlich seiner para- und antipositivistischen Epizykeln kein Problem zu werden brauchte. Es muß jetzt notwendig gefragt werden, wo in diesem Ablauf, ab wann in diesem „Konkretisierung“ genannten Arbeitsvorgang sinnvoll von „Rechtsnorm“ und von „normativ“ gesprochen werden kann. Die tatsächliche Zeitlichkeit des Daseins, der Gesellschaft, der Konflikte ist hier also von Anfang an der Konzeption und ihren Begriffen immanent, sie ist in sie integriert, eingearbeitet. Nicht nur die Konkretisierung, auch die Normativität selbst sind als Vorgänge im tatsächlichen Zeitverlauf gefaßt. Für die linguistische Seite dieses Ansatzes drückt sich das im Ablaufmodell „Verstehen → Interpretieren → Arbeit mit Texten“ aus; im genaueren Sinn der juristischen Semantik im Ausgehen von der „Bedeutsamkeit“ und dem Ergebnis der Konkretisierungsarbeit als der „Bedeutung“ des positiven Rechts für den zu entscheidenden Rechtsfall. Nicht zuletzt hierin zeigt sich der Abschied vom herkömmlichen akademischen Diskurs, welcher die Meta-Themen kultiviert („Recht und Zeit“, „Zeit und Verfassung“, „Recht und Ethik“, und ähnliche). Die hier entfaltete Rechtslehre und Methodik der Immanenz sind bescheidener in der Form, dafür in der Sache näher an der Realität, die zu bearbeiten ist. Für die Fragen der Ethik gilt dasselbe: sie sind allem hier Gesagten immanent; sie drücken sich in hier vorgeschlagenen Teilkonzepten wie optimale Klarheit der Konkretisierungsgründe, Methodenehrlichkeit oder Recht auf Methodengleichheit praktisch aus, ohne je plakativ zum Meta-Thema gemacht zu werden.16 Ergebnisse dieser hierauf antwortenden Strukturierung, die zu den Grundlagen des vorliegenden Konzepts zählen, sind vor allem: – die Abschichtung von Normtext und Norm; – die stufenweise fortschreitende Unterscheidung von Normtext, Text des Normprogramms, Text des Normbereichs, Text der Rechtsnorm und Text der Entscheidungsnorm; 15 Dazu Müller XIX, S. 384 ff., 431 f., dort v. a. in bezug auf die Dogmatik. – Das Konzept der Textstufen wird von Felder III plausibel seinem Konzept eingefügt. 16 Grundsätzlich weiterführend zur Rolle der Ethik für Rechtswissenschaft und legitimes Recht, Strukturierende Rechtslehre, Diskursethik, Politische Philosophie, Verfassungs- und Urteilstheorie integrierend: Windisch, etwa S. 21 ff., 76 ff., 89 ff., 100 ff., 108 ff., 156 ff., 212 ff., 218 ff., u. ö. – Analyse rechtsethischer Fragen bei Adeodato II.
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6 Methodik und Rechtspolitik – 61 Juristische Methodik
– die Bestimmung von „Konkretisierung“ (herkömmlich Rechts„anwendung“) als Rechtserzeugung, als Rechtsnormkonstruktion.
Der Jurist, der zu entscheiden hat, geht also in Stufen vor, bildlich gesprochen. Alle Stufen und Mittel seines Arbeitsvorgangs sind entweder schon vertextet (Normtexte, Texte von Normvorläufern, Texte aus dem Entstehungsverfahren der fraglichen Normwortlaute, Texte dogmatischer Argumente, usw.) beziehungsweise müssen von ihm vertextet werden. Normtext, Normprogramm, Normbereich (in seiner sekundär sprachlichen Formulierung), Rechtsnorm und Entscheidungsnorm ergeben, vereinfachend gesprochen, fünf Textstufen. Diese bezeichnen zum einen die genannten Strukturbegriffe des Normmodells, zum andern die hauptsächlichen Stationen des tatsächlichen Konkretisierungsablaufs. Der Normtext ist in bezug auf die Fälle, für die er gelten wird, abstrakt, sowie generell in bezug auf die von ihm betroffenen Beteiligten (die Tradition sagt das von „der Rechtsnorm“) und noch nicht normativ. Der Text der Rechtsnorm ist dann typologisch-generell („in einem Fall wie diesem … gilt“)17, jener der Entscheidungsnorm-konkret-individuell. Die Rechtsnorm ist, anders gesagt, die Entscheidung als generalisierbare; oder: Die Rechtsnorm ist der materiellrechtliche Ausspruch des geltenden Rechts für einen Fall „wie diesen“, die Entscheidungsnorm (der Tenor) ist die prozeßrechtliche Aussage des geltenden Rechts „für diesen Fall“ und „für diese bestimmten Adressaten“. 550
Strukturiert im hier verwendeten besonderen Sinn wird ferner das seit alters her so genannte Verhältnis von „Sein und Sollen“, also die Problemachse „Norm“ (Normtext) / Wirklichkeit. Dabei wird – dieses gemeinhin der Rechtsphilosophie überlassene Verhältnis in rechts(norm-) theoretische Arbeitsbegriffe (Sachbereich – Fallbereich – Normbereich) aufgelöst und damit zunächst differenziert; – werden diese Arbeitsbegriffe in die oben genannte realistische zeitliche Verlaufsform eingeführt und insoweit operationalisiert sowie
551 – die so zustande gekommenen Gruppen von Konkretisierungselementen in doppelter Weise zugunsten der Sprachdaten hierarchisiert: einmal allgemein und in jedem Rechtsfall dadurch, daß die Menge der Realdaten (Sachbereich / Fallbereich) beim versuchten Übergang in das Stadium des Normbereichs am Normprogramm (der ausgearbeiteten und synthetisierten Menge der Sprachdaten) scheitern kann, sei es bei der Relevanz- oder sei es bei der Vereinbarkeitsprüfung. Und zweitens in all den Fällen – also keineswegs in allen –, in denen es zu methodologischen Konflikten zwischen einzelnen Konkretisierungselementen kommt, dadurch, daß die je nach Konfliktgruppe unterschiedenen und abgestuften Präferenzregeln durchweg den je normtextnäheren Elementen den Vorzug einräumen (wobei es sich notwendig nicht mehr um den „bloßen“, sondern stets schon um den interpretierten Gesetzeswortlaut handelt). 17
So der Sache nach jetzt z. B. auch Pavčnik VII, S. 216.
613 Rechtspolitische Rolle des „Strukturierungs“-Projekts
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Diese zuletzt genannte hierarchische Strukturierung – Vorrang der jeweils norm- 552 textnäheren Elemente – ist ebenso wie die erste – Auswahl der Normbereichsfakten aus den Tatsachen des Sach- (bzw. Fall-)bereichs am Maßstab des Normprogramms – nicht diskursintern methodologisch begründet, sondern diskurs-äußerlich durch geltendes Recht: durch die Demokratie- und Rechtsstaatsgebote in diesem System vertexteten geschriebenen Rechts einschließlich seiner rangüberlegenen Verfassungsvorgaben. Im Bereich der Rechtsordnung ist, außerhalb der parlamentarischen Vorschriften, das Hauptmittel, ein gewisses Maß an demokratischer Inhaltsbestimmung der gesellschaftlichen Verhältnisse zu verwirklichen, eben die Normtext- und Normengruppe, die man die „rechtsstaatliche“ nennt. Die Setzung von Normtexten wird durch formale Verfahren und durch Organe / Institutionen allgemein legitimiert. Sie ist im einzelnen oft jahrelang, zuweilen jahrzehntelang (die strafrechtliche Problematik des Schwangerschaftsabbruchs usw.) umkämpft und bis in kleinste textliche Nuancen umstritten. Dieses Setzen von Normtexten, in der Regel durch parlamentarische Gremien, kann nur dann implementiert, nur dann einigermaßen gemäß den Positionen solcher politischer Entscheidungsvorgänge umgesetzt werden, wenn sich die Arbeitsmethodik der in Exekutive und Rechtsprechung damit unmittelbar befaßten Juristen aus Respekt vor der Demokratie strikt rechtsstaatlich verpflichtet sieht. Umgekehrt, und hierzu ergänzend, tragen größtmögliche Rationalität des Entscheidens und Ehrlichkeit des Begründens gegenüber den vom Verfahren direkt Betroffenen, gegenüber der interessierten (Fach-)Öffentlichkeit, den an wissenschaftlicher Debatte und am rechtspolitisch fortgeführten Kampf Beteiligten im ‚Rechtskreislauf‘ dazu bei, die Argumentationen leichter nachvollziehbar, sie sachlich genauer diskutierbar zu machen: also in diesem allgemeinen Sinn zu einer Demokratisierung juristischer Diskurse. Dieser hier verfolgte Ansatz prägt das gesamte Konzept. So ist, um an ein weite- 553 res Beispiel zu erinnern, „Normbereich“ nicht etwa ein anderer, also austauschbarer Name für „Regelungsbereich“ oder ähnliches aus der juristischen Tradition18, sondern der an diesem Punkt der Problematik von „Recht und Wirklichkeit“, von „Sein und Sollen“ endlich arbeitsfähig gemachte Ausdruck, der terminus technicus für die normtheoretisch / methodologische Unterscheidbarkeit von „Wirklichkeit“ und „Recht“ in Gestalt von Real- und von Sprachdaten der Konkretisierung und zugleich für die demokratisch und in der Folge rechtsstaatlich begründete Hierarchisierung: Sprachdaten – Realdaten, im Arbeitsprozeß durch das Normprogramm vermittelt. Oder es ist, als letztes Beispiel an dieser Stelle, kein Zufall, daß die Strukturieren- 554 de Rechtslehre wie auch die vorliegende Methodik keine sachlichen Entsprechungen zu einer herkömmlichen logischen Semantik oder zu bloßer Wortsemantik aufweisen; daß sie dagegen vielfach Ansatzpunkte gewählt haben und, unabhängig
18
Dazu Müller XIX, S. 338 f.; sowie oben, Abschnitt 54.
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6 Methodik und Rechtspolitik – 61 Juristische Methodik
von der Linguistik, zu Positionen gekommen sind, die von der linguistischen Pragmatik geteilt werden19. Nach dem hier entwickelten Konzept geht es in der tatsächlichen Rechtsarbeit nicht etwa vorrangig um Autorintention und autorbezogene Semantik („Wille des Gesetzgebers“); geht es um sehr viel Komplexeres als um lexikalisch fundierbare Wortsemantik; geht es keineswegs in erster Linie um „Verstehen“ und nicht einmal nur um „Interpretieren“. Sondern es geht zentral um eine institutionell getragene und gebundene sowie eine demokratisch und rechtsstaatlich verpflichtete, nicht selten sogar zusätzlich zu den ‚einschlägigen‘ Vorschriften noch weitergehend normierte Arbeit mit Texten. Buchstäblich alles („Bedeutung“, „Gesetzesinhalt“, „Einhaltung der Wortlautgrenze“, „legales Handeln bei der Rechtsanwendung“ und ähnliche traditionelle Aspekte) hängt davon ab, was der Benutzer (der entscheidende Jurist bzw. der Entscheidungen der Praxis vorbereitende oder kommentierende Rechtswissenschaftler) mit den fraglichen Zeichen (den von ihm in die Bearbeitung des Rechtsfalls eingeführten Normtexten) wie anstellt; und ob er dabei oder ob er dabei nicht den verallgemeinerungsfähigen Standards seiner demokratisch / rechtsstaatlich dominierten, auch von methodenrelevanten Vorschriften geprägten Argumentationskultur genügt. Hier geht es ersichtlich weder um Soziologismus noch um Normen- oder Regelskeptizismus. Es ist nicht so, als gebe es keine Normen; es gibt Rechtsnormen – aber an anderen Orten als im Gesetzbuch, zu anderen Zeitpunkten als bei der Verkündung im Gesetzblatt, von anderen produziert als vom parlamentarischen „Legis“lator. Es ist auch nicht so, als stünden „Recht“ und „Wirklichkeit“ entweder unableitbar nebeneinander oder als könnten sie konturlos ineinanderfließen. Fakten provozieren zwar Normen, beeinflussen sie, tragen sie mit; aber sie bleiben von dem, was wir „Normen“ nennen, unterschieden und unterscheidbar. Und es ist auch nicht so, als käme juristisches Entscheiden „freirechtlich“, freihändig oder sonstwie „frei“ zur Geltung. Die Entscheidungen, die den Juristen täglich abverlangt werden, kommen vielmehr angesichts des Legitimierungscodes „Demokratie / Rechtsstaat“ normativ keineswegs aus einem Nichts. 555
Das strukturierende Konzept arbeitet seit langem dafür, hergebrachte Illusionen aufzuklären, ohne gleichzeitig neue zu schaffen. Irrationalität in der Rechtsarbeit läßt sich durch eine noch so reflektierte Rechtslehre und Methodologie nicht einfach beseitigen; aber durch deren Mittel läßt sie sich vermindern. Willkür oder Unfairneß in juristischen Entscheidungen kann man nicht aus der Welt schaffen. Aber sie lassen sich, nicht zuletzt dank der rechtsstaatlich angeordneten Begründungs- und Darstellungspflichten der Amtsträger, erschweren. Wo tatsächlich willkürlich20 oder aus anderen Gründen unvertretbar entschieden wurde, wird durch methodisch sorgfältige Entscheidungskritik dieser Nachweis erleichtert, damit auch die sich gegebenen19 Jouanjan nennt das Strukturkonzept einen rechtswissenschaftlichen „tournant pragmatique“ parallel zur Pragmatischen Wende in der Sprachwissenschaft; Jouanjan I, S. 21; vgl. bes. auch die grundsätzlichen Erörterung bei dems. IV. – „Linguistisch betrachtet“ wird das hier begründete Konzept der Konkretisierung bei Christensen XIII. 20 Dazu BVerfGE 87, 273, 279; unter Hinweis auf E 62, 189, 192; 83, 82, 85 ff.; 86, 59, 62 ff.
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falls anschließende Debatte versachlicht. Durch nachvollziehbar strukturierte Kritik, Kommunikation, Diskussion und sich möglicherweise anschließende Änderungen sei es der Judikatur, sei es der Gesetz(Normtext-)Gebung21 wird – im Gesamtzusammenhang des Gewalttransfers in der Gesellschaft – wenigstens ein Stück weit Gewalt reversibel gemacht; das heißt, in (verfassungsmäßig legal institutionalisierte) Macht rückverwandelt22. Eine der Hauptwirkungen, welche dieses Konzept anstrebt, besteht gerade darin, (illegale / illegitime) Gewalt zugunsten von (legaler / legitimer) Macht zurückzudrängen. Die Mittel von Rechtslehre, Verfassungstheorie und Methodik reichen im ganzen gesellschaftlicher Realität nicht besonders weit; aber so weit sie reichen, darf es über dieses Projekt keinen Zweifel geben.
62 Metamethodologische Fragen Das vorliegende Buch konzentriert sich auf sein Thema; es verzichtet auf theoretische Manierismen23 und will nicht auf eine Meta-Methodik übergreifen. Dagegen meidet die Kritik an diesem Konzept gern das dornige Terrain methodischer Praxisund methodologischer Theoriefragen und greift nicht selten schon vorweg zum Mittel rechtspolitischer Vorwürfe; operiert sozusagen ungewollt im Meta-Bereich.
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Die hier gemachten Vorschläge nehmen von überkommenen regelplatonistischen 556 Vorstellungen Abschied; und zwar zugunsten eines von der tatsächlichen Praxis angeleiteten pragma-linguistischen Regel- beziehungsweise pragma-juristischen Normbegriffs. Würde dies zur Kenntnis genommen und sachlich verarbeitet, so könnte sich rasch zeigen, daß der aufgrund dieses Fehlverständnisses24 erhobene Vorwurf einer „zu engen Tatbestandstheorie“ für die methodische Grundrechtsbehandlung in der Luft hängt. Und der Vorhalt, eine Rechtsnorm sei ein „semantischer Gegenstand“, und Semantik (im engen Sinn einer logischen Semantik) könne äußerlich, additiv mit der juristischen Argumentation verbunden werden, übersieht das Bestreben nach einer integralen Analyse der juristischen Argumentation als einer Dazu Luhmann XI, S. 403 ff., 405. Zum Ansatz der Strukturierenden Verfassungstheorie im Begriffsfeld von „Recht“, „Sprache“ und „Gewalt“ sowie zur Unterscheidung von konstitutioneller (hier: „Macht“) und aktueller (nicht legitimer, „bloßer“) Gewalt vgl. Müller X. – Zur faktischen Macht von Gerichtsentscheidungen: Hof. – Bizarr die Einschätzung bei Görgen, S. 119, die Strukturierende Rechtslehre und die vorliegende Methodik bekümmerten sich „nicht um die Funktion des Rechts in der Gesellschaft“. – Wie hier zur Wichtigkeit von Verfassungstheorie (auch) für die Methodik: Gomes Canotilho, S. 1185 ff. 23 Das wird anerkannt z. B. von Morlok, S. 260. 24 s. oben, Abschnitt 222.347 zu Alexy. Zu dem im Text folgenden: oben, Abschnitt 314.1 zu dems. 21 22
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semantischen Praxis im Rahmen der Strukturierenden Methodik und Rechtslehre; er entwertet so die eigenen Einwände. 557
Gelegentlich wird unterstellt, dieses Konzept untergrabe, weil es den Gesetzespositivismus hinter sich läßt, das Normative des Rechts; es führe, weil es das juristische Arbeitsmaterial vollständig einbezieht und strukturiert, zu einer modernisierten Fassung der „normativen Kraft des Faktischen“. Die Befürchtung, der Einbezug des Sach- (und des Norm-)bereichs in das Methodenkonzept bewirke eine „Gefährdung der Autonomie des Rechtssystems“25, beruht vor allem auf der altpositivistischen Gleichsetzung von Normtexten und „Rechtsnormen“26, ignoriert also eine der (auch für die rechtspolitische Beurteilung) wichtigsten begrifflichen Strukturierungen, die das vorliegende Modell vorgeschlagen hat.
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Zu ähnlichen Vorwürfen, jeden eigenständigen Sinn „der Rechtsnorm“ aufzugeben27, kommt eine Sicht, die zudem die dominierende Rolle der Sprachdaten im Konkretisierungsvorgang sowie die strenge Unterscheidung von Sach- (bzw. Fall-) bereich und Normbereich nicht zur Kenntnis genommen hat. Die „Einbeziehung gesellschaftlicher Sachverhalte und Strukturen in die Rechtskonkretisierung“ wie auch der dadurch bewirkte „völlige Umbau der Rechtsnormtheorie“ werden als solche begrüßt. Doch führe diese Theorie „zur Soziologisierung der Rechtsnorm“, zu einer „Herrschaft der Justiz über den Gesetzgeber durch die Herrschaft der Rechtswissenschaft“, die antidemokratisch wirke28. Auch diese Befürchtungen beruhen nur auf Mängeln der Rezeption. Der hier gegebene Vorschlag arbeitet gerade darum folgerichtig rechtsstaatlich, weil er kompromißlos demokratisch ansetzt. Alle Aussagen dieses Textes zur Rechtsstaatlichkeit und ihrer zu ermöglichenden Rationalität, zu ‚Demokratieprinzip und Methodik‘ sowie zu ‚Politik und juristische Methodik‘ legen sich ohne Vorbehalt in diesem Sinn fest. Diese rechtspolitische Positionswahl ist bis in die systematische Begrifflichkeit des Konzepts und seine technischen Einzelheiten hinein aufgefächert, nämlich strukturierend ausgearbeitet; so, in Antwort auf die genannte Kritik, mit der jeweils entscheidenden Differenz zwischen Normtext und Text der Rechtsnorm, zwischen Sprachdaten und Realdaten und mit dem Unterschied von Sach(bzw. Fall-)bereich und Normbereich sowie den hierarchisierenden Angaben zur jeweiligen Stellung dieser Faktoren untereinander.
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Nimmt man die genannten und vergleichbare Äußerungen beim Wort, und das verdienen sie, dann ergibt sich zweierlei: einmal die Feststellung rechts- und verfassungspolitischer Einigkeit der Kritiker mit dem Kritisierten darin, daß es gilt, auch mit den Mitteln der Rechtswissenschaft unzweideutig für die rechtsstaatliche Demokratie zu arbeiten. Und zum andern, daß im vorliegenden Theorie- und Methodenkonzept, rezipiert man nur seinen Begriffsapparat und seine Detailvorschläge, diese Ladeur II, S. 186 ff., z. B. 188. Ebd., S. 187 und ff. 27 Maus II, S. 107 ff., z. B. 118 f. 28 Maus I, S. 153 ff.: einerseits S. 157; andererseits z. B. S. 159 f., 161, 163 f., 171 f. Zur Position von Maus im vorliegend festgehaltenen Sinn eingehend Laudenklos III, S. 153 ff. 25 26
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verfassungspolitische Grundforderung offenbar aufgegriffen und folgerichtig verarbeitet ist29.
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622.1 Moralphilosophie Nicht nur um Rezeptionsmängel geht es bei einer anderen Gruppe der Diskussi- 560 onsbeiträge, die auf Meta-Ebenen ausweichen. Sie schirmen sich durch ausdrücklichen Rückgriff auf eine jeweils rechtsexterne, offensichtlich höhere Wissensinstanz ab; „die“ Moralphilosophie und der Kritische Rationalismus seien als Beispiele herausgegriffen. Dabei brauchen so bekannte Richtungen wie die Diskursethik der Neuen Frankfurter Schule oder das, was von Poppers Ansatz übriggeblieben ist, nicht erst eigens dargestellt zu werden. Angestrebte Interdisziplinarität wird rasch borniert, wenn sie die Fachgrenzen nicht wahrnimmt; wenn sie ohne Umschweife „Anwendung“, „Übertragung“ der höheren Wissensinstanz Philosophie oder Allgemeine Wissenschaftstheorie auf das Vorgehen einer Einzeldisziplin wie der Jurisprudenz fordert. Die Darlegungslast liegt dann doch wohl bei denen, die wissenschaftsmethodische Kreuzzüge im Namen des einen oder anderen selbsternannten Universalmodells unternehmen; statt bei denen, die – wie im vorliegenden Text – aufgrund selbstkritisch kontrollierter fachimmanenter Arbeitserfahrung argumentieren; und die dabei nicht, wie es andere juristische Textsorten in Überbewertung ihrer praktischen Funktion tun (Kommentare, Leitfäden, Ausbildungsliteratur), jeder Problematisierung nach Möglichkeit ausweichen, sondern die das eigene fachliche Handeln durchweg zu reflektieren suchen. Nichts anderes ist die Aufgabe einer juristischen Methodik. Solange die Probleme verantwortbaren juristischen Handelns in einem Staat, der demokratisch und rechtsstaatlich sein soll, nicht abgearbeitet sein werden, wird diese Aufgabe nicht überholt sein. Demgegenüber macht die Kolonisierung der Rechtsarbeit durch, beispielsweise, 561 neukantische30 oder neometaphysische Philosopheme offenkundig unangreifbar. Dabei wird, unter anderem, übersehen, daß der Fehler des klassischen Gesetzespositivismus nicht darin bestand, die Rechtswissenschaft methodisch autonom, also juristisch haben entwickeln zu wollen; sondern darin, wie und mit welchen Mitteln (und unter Verdrängen welcher Rechtsrealitäten) das geschehen sollte. So erstaunt es nicht, daß ein Globalangriff auf das hier vorgestellte Konzept erfolgt aus „der Perspektive dessen …, der einen Maßstab wie die Verfassung nicht einfach als Handlungsmaßstab hinnimmt“; und auf der Grundlage eines ausdrücklich nicht-ju29 Das wird, für die verfassungspolitische Wirkung, anerkannt z. B. auch bei Böckenförde II, S. 2096 f.; Grimm V, S. 709. 30 Vgl. zum Einfluß des Neukantianismus in der Jurisprudenz Rückert V sowie Kersting.
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ristischen Geltungsbegriffs31, demzufolge „auch Rechtsnormen … nur dann (gelten), wenn es begründet ist, der Norm gemäß zu handeln“. Da das Kriterium hierfür eine „moralische Ebene“ sein soll, deren „Begründungen … am Maßstab der Moral orientiert (sind), ohne dabei positivrechtlichen Restriktionen zu unterliegen“, versteht es sich ohne weiteres, daß es „nicht möglich ist, das methodische Vorgehen und die Zuordnungsnormen in letzter Instanz positivrechtlich zu begründen“32. Eine moralische Begründung des Rechts würde aber dessen Legitimationskern zerstören. Das Recht ist weder ein Instrument zur Verwirklichung der Moral, noch ist es selbst moralisch. In einer freiheitlichen Ordnung ist seine Beziehung zur Moral vielmehr mittelbar. Es garantiert die Bedingungen, die es den einzelnen erlauben, eine individuelle Moral zu entwickeln. Das zeigt sich gerade in den grundlegenden Konflikten einer legal funktionierenden Demokratie.33 Es geht wie beim Streitfall „Kopftuch als religiöses Zeichen“ gerade darum, inwieweit diese Bedingungen ihrerseits einer individuellen moralischen Entscheidung entzogen werden müssen. Dort, wo eine Gemeinschaft eine solche Grenze für unausweichlich hält, zehrt das Recht zur Aufrechterhaltung seiner Legitimität seine eigene Legitimation teilweise auf. Das moderne Recht als Bedingung der Möglichkeit individueller Moral erweist sich in Konflikten dieser Art notwendig zugleich als Bedingung der Unmöglichkeit individueller Moral. Hier wird es dann unumgänglich, die Differenz von Recht und Moral immer wieder rekursiv auf sich selbst anzuwenden: Wieviel an individueller moralischer (religiöser) Orientierung kann sich die Gemeinschaft erlauben; und wieviel allgemein geltendes Recht braucht sie zur Aufrechterhaltung der Bedingungen individueller Moral? Gerade darin liegt die Autonomie des Rechts.34 Wenn man diese zugunsten einer Moralisierung des Rechts aufhebt, macht man das zentrale und niemals endgültig zu lösende Gestaltungsproblem der Demokratie unsichtbar. Recht und Moral wären damit zwar zu einer Harmonie gebracht; aber der Demokratie wäre ihre Substanz entzogen. Eine erneute Moralisierung des Rechts wäre ein unzivilisierter Versuch, gegen die Entwicklungsrichtung der Gesellschaft die Überordnung der Moral über das Recht wieder herzustellen.35 562
Gegen solche Versuche ist nichts einzuwenden, solange sie folgerichtig dazu stehen, außerhalb der juristischen Wissenschaft und im Rahmen einer anderen zu sprechen. Das ändert sich dann, wenn über Recht und Rechtswissenschaft eindimensioEnderlein, S. 36 f.; das Zitat ebd., S. 37. Ebd., S. 335; zum folgenden S. 330 ff. 33 Vgl. dazu grundsätzlich Ch. Menke I, S. 109 ff.; ders., II; Honneth I, S. 133 ff.; Habermas IV, S. 133 ff.; ders., V, S. 367 ff. 34 Vgl. dazu Smid I, S. 51 ff.; Maus V; Waldron I, S. 8 ff. Überblick bei Seelmann I, § 11. – Das Bundesverfassungsgericht operiert in seinem „Kopftuch“-Urteil (E 108, 282, v. a. 303 ff.) denn auch nicht „von oben“ mittels Moral, sondern auf dem empirisch untersuchten Feld „gesellschaftlichen Wandels“ und hält dem demokratischen (Landes-)Gesetzgeber politischen Spielraum offen. 35 Vgl. Luhmann IV, S. 151 f., der diese Feststellung für das Verhältnis von Politik und Wirtschaft trifft. 31 32
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nal befunden wird, obwohl und geradezu indem der Handlungsmaßstab der Verfassung nicht „hingenommen“ und der speziell juristische, der positivrechtliche Geltungsbegriff nicht beibehalten werden sollen. Es ändert sich, wenn einer Fachdisziplin von außen und von oben Zensuren erteilt werden, lange bevor man deren internes Begründungspotential ausgeschöpft, ja auch nur zur Kenntnis genommen hat. Die vorliegende Methodik hat nie ein Geheimnis daraus gemacht, von einem juristischen Geltungsbegriff auszugehen und die geltende Verfassung als Handlungsmaßstab ernst zu nehmen. Darum hat sie sich stets als Methodik nur dieses Typus von (Verfassungs-)Rechtsordnung verstanden; sich gegen Konzepte abgegrenzt, die als „universal“, „allgemein“ oder jedenfalls als vorbildhaft exportierbar auftreten. Wer das wahrnähme, würde nicht mehr vorwerfen, positivrechtliche Maßstäbe für ein bestimmtes methodisches Vorgehen – hier vor allem Demokratie und Rechtsstaat in der besonderen Ausformung des Grundgesetzes – setzten „voraus, was eigentlich erst zu begründen wäre: die positivrechtliche Geltung bestimmter Zuordnungsnormen“36. Auch wenn es „auf moralischer Ebene“ Unverständnis auslösen mag: das Inkraft- 563 setzen eines Normtexts so und nicht anders, das Setzen von materialen und prozeduralen Demokratie- und Rechtsstaatsvorschriften so und nicht anders ist nicht nur für das Recht, sondern auch für die Rechtswissenschaft ein Tatbestand, von dem sie auszugehen hat und der ihr Grenzen ziehen kann. Und der uralte Verdacht wirklich oder scheinbar zirkulärer Strukturen der Argumentation37 ist kein Einwand, der nur die sich demokratisch und rechtsstaatlich bindende Rechtsmethodik träfe, der „die“ Moralphilosophie über diese erheben könnte. Auch philosophische Texte sind Sprache, sind Schrift; und sonst gar nichts. Auch sie sind umstreitbar, umstritten und begründungsbedürftig. Auch sie führen zu Regreß oder Axiom, wenn man nur lange genug nachfragt. Auch sie müssen in jedem Stadium interpretiert werden (und mit welcher Methode? – neue Axiome, neue Regresse auf dem Feld der Texte über Methoden der Philosophie); ebenso wie die Texte, auf die sie sich zu ihrer Begründung beziehen wollen. Archimedische Punkte liegen nicht auf der Straße. Für die Fragen der Rechtsarbeit und juristischer Methodik sind deren immanent, nämlich positivrechtlich, gesetzten normativen Maßstäbe und deren immanent, nämlich juristisch, elaborierten Arbeitsmittel im Vergleich dann doch verläßlicher – im Sinn von: enger geknüpft, dichter argumentiert und genauer nachvollziehbar; und zwar in der Tat vor dem Hintergrund einer nun allerdings allgemeinen Unverläßlichkeit, Bestreitbarkeit und vor allem angesichts der unausweichlichen Sprachlichkeit, Schriftlichkeit, Textualität aller wissenschaftlichen Äußerung. Ein Beispiel liefert die Kritik von „moralischer Ebene“ herab selber. Ihr Autor38 564 wundert sich darüber, „warum … nur die … herangezogenen Normen im Umkreis
36 37 38
Ebd., S. 335; das folgende Zitat S. 334. Ebd., z. B. S. 329 f. Ebd., S. 332.
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des Rechtsstaatsprinzips Bewertungsmaßstab sein“ sollen und „nicht auch andere Normen, die sich dem Rechtsmaterial Verfassung zuordnen lassen, Prinzipien der Berufsfreiheit, des Eigentumsschutzes oder der Volksgesundheit beispielsweise“. Positivrechtlich, rechtsdogmatisch und rechtsmethodisch liegt hier aber kein Rätsel. Demokratie – vom Kritiker in diesem Zusammenhang vergessen – und Rechtsstaat sind für das Grundgesetz allgemeine Parameter, sind für die Anforderungen an die Arbeit der Juristen immer ,einschlägig‘. Jeder Normtext wurde im Sinn dieses Grundgesetzes demokratisch erzeugt und in Geltung gesetzt; er ist in der Praxis so zu behandeln, daß eben das dabei respektiert wird. Und jede staatliche Rechtshandlung hat rechtsstaatlich zu erfolgen – weil eben das, materiell- und prozeßrechtlich, Thema und Funktion der grundgesetzlichen Rechtsstaatsvorschriften ist. In diesem spezifischen Sinn wirken Demokratie und Rechtsstaat im strukturierenden Konzept seit jeher als „methodenrelevante Normen“. Dagegen sind Einzelvorschriften wie die kritisch genannten genau dann einzuarbeiten, wenn sie thematisch zutreffen. Sie wirken dann nicht als methodenrelevante fundamentale Anordnungen, sondern als unmittelbar bzw. systematisch heranzuziehende Sachvorschriften. Des Kritikers vager Ausdruck „Bewertungsmaßstäbe“ verwischt diesen Unterschied; und seine Rede von „Prinzipien“ – hier der Philosophie entliehen und dem juristischen Diskurs unterschoben – verfälscht: Berufsfreiheit und Eigentumsschutz sind nicht „Prinzipien“, sondern Grundrechtssätze, die zusammen mit systematisch anzuschließenden und zu verarbeitenden weiteren Normtexten jeweils einen (grundgesetzlichen und unterverfassungsrechtlichen) Komplex positiver Normen bilden39. 565
Demokratie- und Rechtsstaatsvorschriften, die sich auf das methodische Arbeiten der Juristen beziehen bzw. für dieses relevant werden, sind entweder selber geschriebenes Recht, also Normtexte, oder Gewohnheitsrecht, also Texte. In beiden Formen sind sie ihrerseits der Interpretation und Konkretisierung bedürftig und fähig. Sie sind dem Entscheidungsdiskurs damit nicht äußerlich, sondern schreiben sich ihm ein. Sprachtheoretisch gesagt, sind sie sprachspielimmanent; juristisch ausgedrückt bilden sie im jeweils zu lösenden Rechtsfall immer zusätzlich einschlägige Vorschriften.
622.2 Kritischer Rationalismus 566
Die vorliegende Konzeption versteht sich weder als präskriptiv (im Sinn von pseudo-normativ) noch als doktrinär. Sie schließt Zusammenarbeit mit anderen 39 Daß methodenbezogene und methodenrelevante Verfassungs(wie auch Gesetzes)vorschriften ihrerseits interpretations- und konkretisierungsbedürftig sind, wurde hier nie bestritten; vgl. oben, – zu Präferenzregeln –, z. B. Abschnitt 334, u. ö. – Ebd., ferner z. B. Abschnitte 312.7, 332.233, 622.2, u. ö. – So ergeben nicht zuletzt auch prozessuale Normtexte, wie z. B. die über abstrakte und konkrete Normenkontrolle oder über die Verfassungsbeschwerde, konkretisiert, Bindungs-, Maßstäblichkeits-, Ehrlichkeits- und Kontrollierbarkeitsdirektiven, die entsprechende rechtsmethodische Arbeitsverfahren als von dieser Verfassung gefordert erweisen. – Zur strukturierenden Methodik (und Theorie) der Grundrechte Müller XXXIV, S. 9 ff.
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Konzepten nicht aus, solange nicht gewichtige Gründe dagegen sprechen. Wenn innerjuristischer Dogmatismus möglichst vermieden werden soll40, besteht allerdings kaum Anlaß, einen der Allgemeinen Wissenschaftslehre zugeschriebenen (und von Popper so offenbar gar nicht gewollten) Dogmatismus einer Rechtslehre aufzupfropfen, die sich fähig erweist, eine Rechtsmethodik immanent zu entwickeln. Solche Versuche können und sollen gemacht werden; hier fragt sich, ob sie überzeugen41. Die Herrschaft „der“ Allgemeinen Wissenschaftstheorie über die Einzeldiszipli- 567 nen ist ebenso fragwürdig, wie die des in geordnetem Rückzug mehrfach revidierten Falsifikationismus über die Wissenschaftslehre eine Frage wert ist. Davon, ob naturwissenschaftlich gewonnene Theoreme auf „Geistes-“ und Sozialwissenschaften, auf die juristische Entscheidungswissenschaft übertragbar seien, und von der Berechtigung regionaler Besonderer Wissenschaftslehren ist dabei noch gar nicht gesprochen. Vor allem ist Wissenschaftstheorie selber Wissenschaft, ist sie ihrerseits den Problemen wissenschaftlichen Arbeitens und Aussagens ausgeliefert, ist sie den Fachdisziplinen vielleicht und allenfalls sachlich vor-, jedenfalls aber nicht autoritär überzuordnen. Auch sie ist nichts anderes als Text und Schrift und damit nicht aus sich hierarchisierbar. Popper hat eingeräumt, daß auch sein Konzept auf dezisionistische beziehungsweise konsensuelle Stützen nicht verzichten kann. Schlußfolgerungen wie: „So wie im Kritischen Rationalismus, oder so wie in der Systemtheorie, oder so wie im (Radikalen) Konstruktivismus, oder so wie in der Analytischen Sprachphilosophie, oder und so weiter und so fort, so muß man überhaupt denken, vorgehen, argumentieren, also auch in der Rechts(oder … -)wissenschaft“, solche Schlüsse haben die lange Geschichte (krypto-)metaphysischer Überzeugungskraft bereits hinter sich. Der Kritische Rationalismus braucht Basissätze als Instanz, um Allsätze falsifi- 568 zieren zu können. Sie sind Beobachtungssätze und müßten, um ihrer Aufgabe zu genügen, ihrerseits verifizierbar sein. Das ist nicht der Fall. Ferner gehen in das Formulieren der Basissätze nicht-empirische Momente ein (Transzendenz der Wahrnehmung); auch sprechen sie mehr an gesetzmäßigen Eigenschaften ihrer Gegenstände aus, als beobachtet werden können (Transzendenz der Darstellung). Im erkenntnistheoretischen Ergebnis kommt diese Position über Fallibilismus nicht hinaus, schwächt sie das Kriterium der Falsifizierbarkeit zu einem der Prüfbarkeit ab, werden aus Basissätzen Prüfsätze. Das ist sicherlich immer noch gut verwertbar für Naturwissenschaft, in der – bei aller Vorentscheidung, die in der Thematisierung und in der Meßanordnung steckt – tatsächlich entdeckt wird, die nach dem Code „wahr(richtig) / falsch“ vorgehen kann und die erkenntnistheoretisch Fragen von Empirie und Empirismus aufwirft. Aber es erscheint unfruchtbar für die Rechtsarbeit, die daraus nichts wirklich Neues lernt, die mit Entwurf und Ausprobieren, mit 40 Vgl. auch oben, Abschnitt 324, z. B. 324.3, zum hier vertretenen undogmatischen „Dogmatik“-Begriff. 41 Zur Kritik an der Popper-Nachfolge bei Albert VI vgl. etwa Neumann XII.
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6 Methodik und Rechtspolitik – 62 Metamethodologische Fragen
Prüfsätzen, Maßstabssätzen und Zurechenbarkeiten auf ihre Weise schon immer zu tun hat. Und es ist ungeeignet für sie, die nach dem Code „rechtmäßig / rechtswidrig“ vorgehen muß; die nicht Entdeckungen zu machen, sondern Entscheidungen zu konstruieren hat; die normative und pragmatische Probleme rechtsstaatlicher Vertretbarkeit aufwirft. Der Graben zwischen den naturwissenschaftlichen Disziplinen und den anderen ist nicht mehr im alten Sinn kategorial, ist nicht schlechthin unüberbrückbar42; aber Problemrahmen und Arbeitsvorgaben sind typischerweise doch sehr verschieden. Die Rechtsarbeit ist sicherlich keine empirische Disziplin, sondern eine entscheidungswissenschaftliche; und sie geht auch über bloßes „Verstehen“ (im Verständnis geisteswissenschaftlicher Hermeneutik) und „Interpretieren“ (im Sinn gesetzespositivistischen „Auslegens“) signifikant hinaus und bietet als komplex semantisierende „Arbeit mit Texten“ im Rahmen staatlicher Institutionen und in Orientierung an institutionellen Texten (Normtexten) einen im Ensemble der Wissenschaften wahrscheinlich einmaligen Fall. Dabei behalten auch die außerhalb bestimmter Verfahren stehenden Textsorten der juristischen Kommentierung, Erörterung und Forschung die genannten institutionellen Grundfunktionen im Blick und arbeiten ihnen mehr oder weniger unmittelbar zu. 569
Der verfassungsstaatliche Rahmen der Rechtsarbeit stellt Forderungen an deren Arbeitsweise. Entwickeln, Mitteilen und Begründen der Entscheidung sind positivrechtlich angeordnet, zugleich bilden sie ein wichtiges Moment demokratischrechtsstaatlicher Legitimität. Das Darstellen und Bekanntgeben der Gründe soll die Betroffenen überzeugen und damit zum Rechtsfrieden beitragen43. Es soll im Dienst weiteren Rechtsschutzes den Ausspruch nachvollziehbar, überprüfbar machen; soll die Entscheidungsargumente der praktischen, der wissenschaftlichen und auch der allgemein (rechts-)politischen Debatte zugänglich werden lassen. Das erzeugt eine Amtspflicht nicht zu irgendeiner, sondern zu einer ehrlichen Darlegung der tatsächlichen „Gründe“ des betreffenden Entscheidungsvorgangs. Nachgeschobene unwahre Fassadentexte sabotieren diesen für staatliche Legitimität zentralen Funktionszusammenhang.
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Wurde das rechtliche Ergebnis Schritt für Schritt entwickelt, so fallen „Finden“ und „Begründen“ real zusammen. Wurde es zwar irrational entworfen, erweist sich aber als rechtsstaatlich korrekt rechtfertigungsfähig, so genügt das Angeben dieser nachträglich ausgearbeiteten – aber eben doch: vertretbar ausgearbeiteten – Argu42 Vgl. dazu nur, im engeren Rahmen der hier vertretenen Rechtslehre, Müller XIX, S. 13 ff. – Von einem sehr speziellen Standpunkt neuerer Wissenschaftstheorie, vor allem von der evolutionären Erkenntnistheorie aus (Pattern-Wahrnehmung) kritisiert Aoi „das falsche Idealbild der Falsifikationstheorie“ und eine „Einwirkung der Popperschen Philosophie auf die Richter“ im Strafrecht; a. a. O., S. 362 ff., 371. – Zum konsequenten Entwickeln einer Rechtstheorie auf der Grundlage des kritischen Rationalismus vgl. K. Schneider I; besonders zur Methodologie: ebd., S. 76 f. 43 Bei Luhmann V etwas nüchterner als „Absorption von Protesten“ bezeichnet. – Zum Rationalitätspotential des Luhmannschen Konzepts für praktische Rechtsfälle vgl. die anregenden Gedanken bei Grasnick IV, V, VI.
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mente den normativen Vorgaben, die der entscheidende Jurist zu wahren hat. Trotzdem ist für dessen Arbeitsethik diejenige Haltung hilfreicher, die – sobald die Normtexthypothese mit Hilfe des fachjuristischen Vorverständnisses gesetzt ist – darin besteht, von Beginn an die verschiedenen Formen der Methodenehrlichkeit44 ins Spiel zu bringen und das Ergebnis (Rechtsnorm und Entscheidungsnorm) allmählich zu elaborieren, statt es selbstsicher vorab („mein“ bewährtes Judiz!) zu postulieren. Auf jeden Fall vermindert die Haltung: „Hierbei darf doch nur dieses herauskom- 571 men – Begründung wird nachgereicht“ den praktischen Anreiz zu dem rationalen Erarbeiten, das methodisch möglich ist. Die gefährlichste Versuchung liegt darin, für „mein“ Ergebnis unpassende oder störende Normtexte entweder ungenannt unter den Tisch fallen zu lassen oder sie mit wohlbekannten rhetorischen Wendungen für „vorliegend unbeachtlich“ zu erklären45; in der Masse der veröffentlichten Judikate finden sich immer wieder Beispiele für diese (grund-)rechtswidrige Strategie46. Aber ganz anders als bei naturwissenschaftlichem Suchen und Entdecken ist in der Rechtsarbeit die Suche nach der Lösung des Konfliktfalls von Beginn an durch Rechtspflichten (Amtspflichten, Entscheidungs- und Begründungspflichten, Kompetenz- und Verfahrensvorschriften, das einschlägige materielle Recht) bestimmt; auch betrifft die Entscheidung in aller Regel reale, auf Menschen und / oder Gruppen bezogenen Konflikte, gegensätzliche Interessen; meist kann die eine Seite nicht ohne Benachteiligung der anderen begünstigt werden. Das gesuchte Ergebnis ist nicht „meines“, ich darf als Jurist nicht so handeln, als gehöre es mir. Ich habe „nach geltendem Recht“ – und in diesem präzis demokratisch-rechtsstaatlichen Sinn „Im Namen des Volkes“ zu entscheiden. „Versuch und Irrtum“ ist keine dem argumentierenden Individuum (in Wahrheit: Amtsträger) überlassene Richtlinie; andernfalls verkäme diese in den empirischen Wissenschaften aufklärende und Illusionen vermeidende Formel zur autoritär aneignenden juristischen Standesideologie. Der verantwortlich entscheidende Jurist ist verpflichtet, seine komplexen und lastenden normativen Vorgaben auf dem Feld der Sprachdaten und dem der Realdaten seines Falls abzuarbeiten und seine Argumente zutreffend mitzuteilen. Von Anhängern des Kritischen Rationalismus in der Rechtswissenschaft wird ge- 572 legentlich gefordert, die Lösung des Falls nicht in einem einzigen Ablaufmodell durchzuspielen, sondern grundsätzlich zwischen „Findungs-“ und „Rechtfertigungs-“zusammenhang zu unterscheiden47. Die Frage, die sich zunächst an diesen 44 Zu dieser schon Müller XVI, S. 286 ff.; ferner ders., XXVII, S. 43 f., 46 f.; vgl. auch oben, z. B. Vorwort zur 5. Auflage, Abschnitte III, V. 45 Nach BVerfGE 87, 273, 279 im Fall einer „offensichtlich einschlägigen Norm“ ein Fall von „Willkür“ i. S. von Art. 3 Abs. 1 GG. 46 Lasse ich mich auf eine solche Haltung im Einzelfall ein, dann habe ich mich durch einen – zunächst noch nicht (und vielleicht auch überhaupt nicht) begründbaren – Vorgriff selbst voreingenommen; „mein“ Ergebnis hat mich eingenommen; in der Folge wird es dann darum gehen, es „rechtsmittelfest“ zu machen und überhaupt, es „ans Publikum zu bringen“. – Zur Methodenehrlichkeit konstruktiv auch Hoffmann-Riem IV, S. 50 ff.
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6 Methodik und Rechtspolitik – 62 Metamethodologische Fragen
Vorschlag richtet, geht dahin, welches Konkretisierungselement oder welcher Faktor der Entscheidung denn zunächst frei „gefunden“ und erst im Anschluß daran anhand „der Rechtsnorm“ als „falsifizierender Instanz“ überprüft werden soll. Soweit damit nur gemeint ist, daß für den ersten Schritt nach der Aufnahme des Sachverhalts, der darin besteht, im Gesetzbuch nach einer voraussichtlich geeigneten Vorschrift zu suchen, methodische Regeln kaum werden aufgestellt werden können und daß dafür auch kein Bedarf besteht, weil die eigentliche Arbeit erst danach beginnt, sagt das nichts Neues. Der Rechtsarbeiter wählt den (die) wahrscheinlich einschlägige(n) Normtext(e) aufgrund seines fachlichen Vorwissens und juristischen Trainings aus; die im einzelnen sorgfältig durchzuführenden und zutreffend mitzuteilenden Operationen der Fallösung setzen dann erst ein. Das wird nirgends bestritten, auch traditionelle Methodenlehren gehen davon aus. Allerdings kann keinesfalls „die Rechtsnorm“ als Falsifizierungsinstanz gegenüber der „Normhypothese“ auftreten. Es handelt sich vielmehr um die Frage, ob die mit der vorläufigen Wahl bestimmter Normtexte eingeführten Sprachdaten und Realdaten dem Rechtsfall angemessen erscheinen. Diese Frage läßt sich nicht an einem einzelnen Element beantworten; nur aus dem Vorgang im ganzen, in dessen Verlauf eine allgemein formulierte Rechtsnorm versuchsweise erarbeitet wird. 573
Wenn man schon, aus welchem Grund auch immer, die Vorgänge nach „Finden“ und „Rechtfertigen“ strikt trennen möchte, wäre es – formal gesehen – sinnvoller, das Ergebnis als „frei“ (intuitiv, aus „Judiz“, aus fachlich-praktischer Erfahrung, im Einzelfall vielleicht auch noch aus weniger ehrenhaften Quellen) „findbar“ anzunehmen und den anschließenden gesamten Konkretisierungsvorgang als „Instanz“ der Bewährung oder Verwerfung einzuführen. Unter „Ergebnis“ kann dabei entweder das individuelle Endergebnis, der Tenor, verstanden werden („Diese Klage muß einfach Erfolg haben“, „Dieser Angeklagte darf doch nicht verurteilt werden“ – Entscheidungsnormhypothesen); oder aber die im Sinn eines vorweg entworfenen Leitsatzes allgemein formulierbare, für „einen Fall wie diesen“ gültige Textfassung der Entscheidung (Rechtsnormhypothese). Für die erste Version bräuchte man nicht den – woanders herkommenden und hier grundsätzliche Schwierigkeiten aufwerfenden – Falsifikationismus zu bemühen; der Vorgehenstypus „Ergebnis aufgrund von Judiz, anschließendes Nachreichen der rhetorischen, im besseren Fall der dogmatischen Begründung“ war schon unseren juristischen Altvorderen geläufig und wert. Wegen der institutionellen Begrenztheit der Zahl vorwegnehmbarer Ergebnisse (verurteilt / freigesprochen, verfassungsmäßig / verfassungswidrig, Klage zulässig / Klage unzulässig, usw.) kann das Endergebnis aber meist auch von Laien nach dem „Rechtsgefühl“ oder Wahrscheinlichkeitsregeln vorab getroffen werden. Mit den methodisch durchzuspielenden Teilschritten der Einzelausarbeitung der Argumentationskette – zweite Version von „Ergebnis“ – geht das jedoch nicht; sie sind aber auch für das fachliche Judiz oft zu komplex oder zu materialreich. Das Konkretisieren in methodischer Fein-Einstellung muß wegen der rechtsstaatlichen Begrün47
Dazu ein Beispiel bei Müller XIX, S. 229 m. Nw.; ebd., das Zitat im Text.
622 Ablehnung vom Archimedischen Punkt aus
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dungspflichten ohnehin noch erfolgen – auch dann, wenn in dieser zweiten Variante eine Rechtsnormhypothese eingangs entworfen oder geahnt worden sein sollte. Demokratisch-rechtsstaatlich ist, wie schon gesagt, beides erlaubt: methodisches 574 Argumentieren Schritt für Schritt mit offenem Ergebnis; oder unmethodisches Vorwegnehmen des Ergebnisses – hypothetische Rechtsnorm bzw. Entscheidungsnorm – und anschließendes methodisches Argumentieren. Das Endergebnis muß mit methodisch plausiblen Mitteln sich als normativ rechtfertigungsfähig (d. h. geltenden Normtexten zurechenbar) erweisen – übrigens nicht selten erst durch eine gerichtliche Oberinstanz, die es, mit anderen Argumenten und nunmehr überzeugend, bestätigt. Wenn Vertreter des Kritischen Rationalismus in der Jurisprudenz meinen, der 575 juristische Konkretisierungsvorgang biete sich als Paradebeispiel für extern herangeholten, für auf das Recht „übertragenen“ Falsifikationismus an, unterliegen sie vielleicht einer Art optischer Täuschung. Diese bestünde darin, zwischen dem „Makro-“ und dem „Mikro-“Aspekt der praktischen Rechtsarbeit nicht genügend zu unterscheiden. Als Makro-Aspekt erscheint dabei die Frage nach der vertretbaren Rechts- bzw. Entscheidungsnorm; als Mikro-Aspekt die Einzelfragen etwa nach der vertretbaren grammatischen Interpretation dieses einzelnen Tatbestandsbegriffs, nach dem vertretbaren Einbeziehen dieser individuellen bzw. generellen Tatsache des Rechtsfalls, und ähnliches. Was Rechtsarbeit aber ausmacht und wodurch sie täglich gefordert wird, ist nicht das globale Vorentwerfen von Endergebnissen; sondern ist die Feinstruktur dieses hochkomplexen Entscheidungs- (nicht: Entdekkungs-)handelns. Dieses hat in einem Staat wie dem des Grundgesetzes methodisch nachvollziehbar und kontrollierbar zu erfolgen; und es hat, da seit jeher in den Einzelschritten (Mikro-Aspekt) entwerfend und ausprobierend durchgeführt, pragmatisch eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Vorgehen nach „trial and error“. Das macht es aber nicht zu einem „Anwendungs“fall kritisch rationalistischer Allgemeiner Wissenschaftstheorie auf deren Abstraktionsniveau. Rechtsarbeit braucht insoweit wohl doch keinen Archimedischen Punkt. Eine Notwendigkeit, juristische Methodik falsifikationistisch zu modellieren, ist 576 nicht erkennbar; und die grundsätzlichen Argumente dagegen erscheinen nicht ausgeräumt. Entsprechend schwach fallen die bisherigen Forderungen aus, auf Vorschläge aus dem Kritischen Rationalismus einzugehen. Entweder soll, „mutatis mutandis“ als „Grundlage für einen juristischen Falsifikationismus“ mangels geeigneter „Basis-“ oder auch nur „Prüfsätze“ im Sinn Poppers die Möglichkeit genügen, in der juristischen Arbeit „Aussagen über Normen heranzuziehen“, soll heißen: „gleichartige Aussagen einer niedrigeren Allgemeinheitsstufe“, die „(mit den üblichen juristischen Methoden) aus dem geltenden Recht, vor allem also aus dem Gesetz zu gewinnen“ seien. Dieser Vorschlag48, der für „juristischen Falsifikationismus“ eintreten will, „ohne daß die Rechtswissenschaft deshalb ihre herkömmliche
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Canaris III, v. a. S. 386 ff.; ebd., das im Text folgende Zitat.
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Methodologie zugunsten einer empiristischen aufgeben müßte“, dient denn auch nur der Überprüfung „juristischer Theorien“ (gemeint ist: dogmatischer Aussagen), also einer wohlbekannten Operation mit und an dogmatischen Konkretisierungselementen im Rahmen der Fallösung. 577
Oder die Postulate in Poppers Namen richten sich tatsächlich an die Adresse der juristischen Methodik. Sie gelten hier zwar auch nur der „Erarbeitung von Anforderungen an die Aufstellung, Überprüfung, Bewährung und Verwerfung rechtsdogmatischer (!) Hypothesen und Theorien“49, sollen aber gleichzeitig die methodologische Forderung tragen können, in der „ersten“, der „Findungs“-phase der Rechtsarbeit im wesentlichen assoziativ, durchaus auch irrational vorzugehen und erst in der „zweiten“ Phase, beim Rechtfertigen beziehungsweise Begründen der „Normhypothese“, nunmehr „die Rechtsnorm“ als „falsifizierende Instanz“ einzusetzen50. Dabei sind, unter anderem, Normtext und Rechtsnorm verwechselt. Die „Normhypothese“ ist eine Normtexthypothese. Das ist nicht nur ein Streit um Worte. Die Frage, wo der Jurist im Gesetzbuch blättern und welche Normtexte er seiner Arbeit versuchsweise zugrundelegen will, steht am Anfang der Fallösung51 und ist jeweils relativ schnell beantwortet; aus ihr läßt sich kaum eine „erste Phase“ konstruieren. Denn hier beginnt erst die Arbeit, mit der sich die vorliegende juristische Methodik beschäftigt; und hier hat die falsifikationistische Forderung, die sich an sie richtet, in der Sache nichts Abweichendes geltend gemacht. Mit der strikten Trennung von „Finden“ und „Rechtfertigen“ ersetzt sie den gesetzespositivistischen Gegensatz von „Sein und Sollen“ durch den von Norm und Entscheidung, geht damit an dem hier entwickelten nachpositivistischen Ansatz vorbei, bleibt ihm gegenüber unterkomplex und verkennt, unter anderem, daß „Konkretisierung“ im hier explizierten technischen Sinn52 weder mit traditioneller Hermeneutik zu tun hat noch mit dem „klassischen Auslegungs- und Subsumtionsmodell“53. Für den – nach Aufnahme beziehungsweise Formulierung des Sachverhalts – ersten Arbeitsschritt – „Wo blättere ich im Gesetzbuch nach, welche Normtexte lege ich zunächst meinem Versuch der Fallösung zugrunde?“ – bedarf es keiner elaborierten methodischen Regeln, was hier auch nie behauptet worden ist. Dazu wurde das, was gesagt werden kann, unter dem Stichwort des fachlichen, des juristischen Vorverständnisses skizziert54. 49 Schlink IV, S. 102; Hervorhebung nicht im Original. – Dazu schon eingehend Müller XVI, S. 271 ff., 280 ff. 50 Schlink V, S. 87 ff. – Dazu beispielsweise Müller XVI, S. 280 ff., v. a. 285 ff. 51 Auf der Seite der Fakten entspricht der Normtexthypothese der ausgehend von dieser durch Faktenhypothesen zusammengetragene Sach(Fall-)bereich. – Dabei ist von „Faktenhypothesen“ deshalb die Rede, weil die herangezogenen Tatsachen nur dann im Fall verbleiben werden, wenn die Normtexthypothese, der sie folgen, ihrerseits beibehalten werden kann. 52 s. oben, Abschnitt 314.8, und durchgehend. 53 So aber Schlink IV, S. 101; ebd., S. 102, wird „das methodische Konzept der Konkretisierung“ parallel zum „Konzept der Auslegung“ eingeordnet. – Dabei bedeutet es hier, ausgehend von der grundlegenden Verschiedenheit von Normtext und Rechtsnorm, deren Erzeugung, deren Konstruktion. 54 Oben, Abschnitt 314.6, und öfter.
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Konkretisierung im hier begründeten Sinn setzt nie eine substanzhaft vorgegebe- 578 ne („normierte“) Rechtsnorm voraus, die in einzelne Fälle hinein „konkretisierend“ (individualisierend, zu kleinerer Münze geschlagen) verteilt werden könnte. Der Begriff meint den Entscheidungsvorgang, in dem eine allgemein formulierbare Rechtsnorm jeweils erst zu erarbeiten, in dem deren Text erst zu artikulieren ist. Weil sie dem Normtext, von dem versuchshalber ausgegangen wurde, nach methodisch plausiblen Regeln zurechenbar sein muß, mag man das auch so nennen, sie habe sich an ihm – aber an ihm als einem intensiv bearbeiteten (Normprogramm)! – „zu bewähren“55. Da die falsifikationistische Forderung in der Sache nichts Abweichendes vorgestellt hat, reduziert sich die Klage darauf, die Arbeitsaufgabe, um die es geht, bleibe (sc. in den Ausdrücken des Falsifikationismus) „terminologisch … ausgeblendet“56. Eine Notwendigkeit, eine rechtswissenschaftlich und durch Analyse rechtlicher Entscheidungspraxis immanent entwickelte Konzeption nach einer außerjuristischen, der Allgemeinen Wissenschaftslehre, die zu ihrer Entfaltung nichts beitrug, umzubenennen, ist nach alldem nicht einsichtig57.
63 Zu einigen Fragen von Maßstäblichkeit und Konsens in der juristischen Methodik Wissenschaft braucht Konsens; gewiß gilt das auch für die in Entscheidungs- 579 pflichten und deren Folgen eingespannte Wissenschaftspraxis des Rechts. Aussagen zielen entweder auf „Wahrheit“ (bzw. eines ihrer Äquivalente), sollen zumindest „wahrheits“fähig sein; oder ihnen wird funktionell, vom institutionellen Zusammenhang her, Wahrheit im Sinn von „Richtigkeit“, „Vertretbarkeit“ abverlangt (die „rechtsstaatlich legale“, die „verfassungskonforme“, die im Fall prozessualen Zurückverweisens mit der Oberinstanz übereinstimmende Entscheidung). Die betreffenden Aussagen (Texte), werden nicht selten (Übereinstimmung im Gremium), 55 Zu den Punkten: Entscheidung, Entscheidungspraxis, Entscheidungsvorgang in diesem Zusammenhang z. B. schon Müller XVI, S. 281. Klare Rekonstruktion der „juristischen Methodik als Strukturmodell der Rechtskonkretisierung“ bei Laudenklos III, S. 147 ff. und durchgehend. 56 Schlink IV, S. 102. 57 Das gilt auch für die Forderung von Pauly, S. 612 f., weil – wie bekannt – Mendelejew das Periodensystem der Elemente beim Patiencelegen assoziiert und Kékulé, noch dazu in Heidelberg, die Strukturformel des Benzolrings erträumt hätten, solle doch die vorliegende Methodik dem „in der Naturwissenschaft herrschenden falsifikationistischen Ansatz“ endlich folgen und „die entwickelten Konkretisierungselemente weitgehend (?) als Falsifikationsinstanzen, die keiner Hierarchie bedürfen, … reformulieren“; solle sie „ihre Konkretisierungselemente in Instanzen der Falsifikation und sonstige (?) Komponenten“ umformen; Fragezeichen nicht im Original. – Anders liegt der Ausnahmefall, in dem ein rechtliches Ergebnis, das sich anschließend als dogmatisch wie methodisch begründbar erweist, wirklich rein intuitiv gefunden worden war. Dann ist es ausreichend, diese konsistente Begründung wiederzugeben. „Methodenehrlichkeit“ hat nichts mit sogenanntem Wahrheitsfanatismus zu tun; sie ist – wie die anderen hier vorgeschlagenen auch – ein pragmatisches Konzept.
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aber nicht notwendig durch Konsens formuliert. Gesetzlich gebildete Spruchkörper machen hier keine Ausnahme; denn für sie gelten Mehrheits- oder Stichentscheidsregeln („Bei Stimmengleichheit gibt … den Ausschlag“) beziehungsweise weitere prozessuale Vorschriften („Bei Stimmengleichheit gilt … als abgelehnt“, usw.). Aber im sich anschließenden, im weiterlaufenden Diskurs der Wissenschaft werden sie durch Konsens wirksam gemacht, durch Konsens sei es als „zutreffend“, sei es als „vertretbar“, sei es als „noch nicht überzeugend widerlegt“ überhaupt erst ausgewiesen. Auch dabei bildet die Rechtswelt mit „Bestandskraft“ und „Rechtskraft“ von Entscheidungen keine Ausnahme; diese gesetzlich geregelten Institute machen nur rechtsförmlich unangreifbar, können aber das Fortsetzen des Rechtsdiskurses nicht verhindern. Bei dieser zwar positivrechtlich auf solche Art eingeschränkten, aber dennoch unausweichlichen Rolle von Konsens im Recht fragt es sich vor allem, worüber Konsens hergestellt, jedenfalls angestrebt wird, und auf welcher allgemein formulierbaren Ebene. 580
Der Juristenstand neigt herkömmlich zum Ergebniskonsens. „Ergebnisse“ sind die Normtexte bei der Gesetz- bzw. Verordnungsgebung, sind die Texte von Rechtsnorm und Entscheidungsnorm bei administrativen und richterlichen Beschlüssen. Diese Orientierung hat für die Arbeit von Exekutive und Judikative sowie für deren Kommentierung ungute Folgen. Sie begünstigt geradezu heuristisch stilisierte VorUrteile, die alles andere als „hermeneutisch“ unvermeidlich sind, sondern die machtstrukturell verfestigt sein und taktisch / strategisch eingesetzt werden können. Jedes Obergericht, das in ‚hard cases‘ mit einander kunstvoll ausschließenden Rechtsgutachten konfrontiert wird, kann von diesem „Argumentieren vom Ergebnis her“ ein Lied singen. Das methodisch Fragwürdige liegt dabei vor allem in zweierlei: Das Wichtige ist dann kaum mehr der Rechtsfall, sondern sind eher die an ihm beteiligten Personen oder Gruppen beziehungsweise die mit ihnen verknüpften Interessen und Bestrebungen. Und das maßgebende Eingangsdatum sind dann weniger die für den Fall erkennbar einschlägigen Normtexte, als vor allem das, was in einem sehr besonderen Sinn mit ihnen „gemacht“ wird: etwa vom erwünschten Ergebnis her selektiert, stillschweigend weggelassen oder rhetorisch ausgeschaltet („tritt hier … zurück“, „kommt vorliegend schon deshalb nicht zum Zug, weil …“)58. 58 Nur ein Beispiel außerhalb der Justiz: Während meiner Vorstellung im Verlauf eines Berufungsverfahrens ging mich ein Mitglied der betreffenden renommierten Juristenfakultät an: „Wozu ist denn Ihre Normbereichstheorie gut, wenn Sie damit für die Privatschulen argumentieren können?“ – Wem die Arbeit der privaten Ersatzschulen aus welchen Gründen auch immer nicht gefällt (in diesem Fall aus politischen), der muß auf die Änderung der Normtexte, also des „geltenden Rechts“ setzen, hier besonders des Art. 7 Abs. 4 GG. Bis zu einer solchen Änderung drängt sich die bei Müller / Pieroth / Fohmann gegebene Argumentation geradezu auf; auch das Bundesverfassungsgericht (seit E 75, 40) ist ihr gefolgt. – Das Strukturkonzept „ist gut“ als Vorschlag für ein möglichst vollständiges, nachvollziehbares und gleichheitliches Argumentieren und Entscheiden auf der Grundlage und im Rahmen des geltenden Rechts – und ist nicht entwickelt worden, um bestimmte (politische oder sonstige) Vor-Urteile zu bedienen oder um sonst parteiisch agieren zu können.
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Fälle, in denen über das Vorliegen oder Nicht-Vorliegen eines Normtexts mit jeweils gut vertretbaren Gründen gestritten werden kann, sind damit nicht gemeint; nur Fälle sichtlicher Manipulation des Ausgangsmaterials – Rechtsfall und Normtexthypothesen59 – der Konkretisierung. Wenn ich das praktische Ergebnis meiner Fallentscheidung nicht etwa vor-entwerfe, um es mit offenem Ausgang durchzuprobieren, sondern es „schon weiß“ und an ihm festzuhalten entschlossen bin, dann werden die Mittel fachlicher Dogmatik, Methodik und vor allem Rhetorik zu stark in die Rolle gedrängt, „mein“ Ergebnis „gut zu verkaufen“. In einem sehr besonderen Sinn mache ich dann die Rechtsentscheidung zur (genetisch unwahren) Ware. Das Gesagte beschreibt nur eine idealtypische Opposition; in der Praxis spielen beide Tendenzen mehr oder weniger ineinander. Aber das gedankliche Gegenüberstellen klärt die Aufgabe, welche die Rechtsarbeit in der rechtsstaatlichen Demokratie hat: Ich – als der zur Entscheidung verpflichtete Jurist – lasse das Ergebnis bewußt noch offen, formuliere nur vorläufige Normtexthypothesen und konstruiere am Ende diejenige Begründungssequenz als die „Gründe“ meiner Entscheidung, die alle einschlägigen Daten juristisch am überzeugendsten synthetisiert – alle Sprachdaten, alle Realdaten (einschließlich der unterstellten im Rahmen der Folgeneinschätzung), und die methodenbezogenen normativen Anforderungen aus Verfassungs- und Verfahrensrecht. Die Formulierung dieser Synthese ist das begründete Ergebnis der Entscheidung. Und nicht: Ich setze mein Ergebnis vorweg fest (wie auch immer, nur nicht durch Rechtsarbeit im Fall) und konstruiere anschließend die für dieses Resultat beste, weil am ehesten marktgängige und den übergeordneten Instanzen am leichtesten vermittelbare Begründung. Den erwünschten Konsens besorge ich mir anschließend, und hier liegt die zweite 581 bedenkliche Folge, diskursiv: mit Hilfe der von mir begünstigten Gruppe und ihrer Juristen. Ein solcherart von Beginn an zweckhaft auf Rechtfertigung eingeschworener Diskussionsbeitrag wird im Zweifel nicht normtext-orientiert vorgehen, sondern auf andere Gründe („Vernünftigkeit“, „Zweckmäßigkeit“, „höherwertige“ Rechtsgüter, und andere leichter als die geltenden Normtexte zu benützende Topoi) abstellen müssen. Stil und Zweck der nicht normtext-orientierten Debatte sind zwar nicht der Bildung von Schulen (hinter denen man jeweils theoretische Konzepte vermuten darf), wohl aber der von sogenannten Zitierkartellen, von juristischen „Lagern“ und interessebestimmten Wagenburgen günstig. Sie fördern die Regression praktischer Rechtswissenschaft zur Rechtskunde und bleiben hinter dem zurück, was für den demokratischen Rechtsstaat nicht nur vorausgesetzt und gebraucht wird, sondern was dieser Verfassungsstaat auf der Ebene seiner Legitimation an Richtigkeits / Rechtsmäßigkeitsstandards auch verspricht. Savignys methodologische canones können als ältester bis heute traditionsbilden- 582 der Versuch verstanden werden, Konsens in der Rechtsarbeit nicht vom Ergebnis 59 Also Fälle von – gegen Art. 3 Abs. 1 GG als Basis eines „Grundrechts auf Methodengleichheit“ verstoßender – „Willkür“ im Sinn von BVerfGE 87, 273, 279 m.w. N.
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her, sondern auf dem Weg über die Arbeitsmittel herzustellen. Eine Zurückhaltung Savignys gegenüber den Erscheinungsformen und den typischen Folgen von Ergebniskonsens läßt sich vielleicht auch aus seiner relativen Askese gegenüber teleologischen Argumenten rekonstruieren. Auf jeden Fall sind Topoi aus dem Umkreis von „Teleologien“, die als „Sinn“, „Zweck“, „Funktion“ oder als was auch immer mit Hilfe der sonstigen Konkretisierungselemente gerade nicht zu gewinnen sind und die daher zusätzlich postuliert werden, seit langem zu einem bevorzugten Instrument juristischen Ergebnisdenkens geworden. 583
Wenn es wünschenswert ist, Ergebniskonsens durch das angestrebte Übereinstimmen bezüglich des Vorgehens, der Methodik, kurz durch Arbeitskonsens zumindest zu ergänzen, wenn nicht zu ersetzen, dann erfordert das eine neue Anstrengung der Rechts(norm)theorie und Methodik, in der Folge auch der reflektierten, der undogmatischen Dogmatik über Savignys historische Leistung und vor allem über den seither etablierten Gesetzespositivismus hinaus. Es sind Instrumente auszuarbeiten, die so weitgehend operational und darstellbar, die hinreichend verallgemeinerungsfähig sind, daß Konsensbildung über sie und ihren Einsatz im einzelnen Rechtsfall besser möglich wird. Ein solcher Konsens läßt den konkreten Fall und die in ihm geleistete Entscheidungsarbeit in höherem Grad unabhängig von Interessenprojektion und (rechts-)politischem „Wollen“ beurteilen. Die thematisch vollständigen, rechtsstaatlich-demokratisch ehrlichen und fachjuristisch vertretbaren Arbeitsschritte rechtfertigen das damit am geltenden Recht einsichtig ausweisbare Ergebnis – für oder gegen welche Personen, Gruppen oder Interessen auch immer es sich auswirken möge. Nicht über diese Auswirkung kann dann der wissenschaftliche und praktische Diskurs weitergehen, sondern über die generalisierbaren Arbeitsprozeduren. „Auswirkungen“ im hier benutzten Sinn sind, wie schon gesagt, para-normativ, sind vom entscheidenden Juristen („meine Partei“, „meine Kirche“, „unsere soziale Schicht und ihre Überzeugungen“, bewußt / halbbewußt / unbewußt immer im Spiel) ohne Stütze im geltenden Recht angestrebte Folgen seines Tuns. Soweit dagegen, im Unterschied dazu, aufgrund und im Rahmen der Normtexte und mit Hilfe der sonstigen Elemente Folgenerwägungen methodisch legitim (und ihrerseits verallgemeinerungsfähig) verwertet werden können, geschieht das schon im Verlauf der Konkretisierung60.
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Die Wendung vom Ergebnis- zum Arbeitskonsens ist zumutbar; sie erfordert keinen „neuen Menschen“, ein Jurist „neuen“ Typs – und er ist ja auch schon anzutreffen – genügt dafür. Die Aufgabe ist allerdings nicht einfach, in politisch, sozial, ökonomisch oder ideologisch brisanten Streitfällen über den eigenen Schatten springen zu sollen. Aber der durch rechtliche Delegation mit Entscheidungsmacht versehene Jurist hat diese „Im Namen des Volkes“ übertragen bekommen. Er ist, der Demokratie- und der Rechtsstaatsforderung nach, verpflichtet, vom empirischen Juristen abzusehen, der er doch ist, und als gleichsam transzendentaler Jurist zu han60 s. oben, Abschnitte 327, 54. – Das hier vorgeschlagene Grundrecht auf Methodengleichheit wird monographisch untersucht bei Gaebel.
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deln. Aber dieses Adjektiv ist zu hoch gegriffen; ein ehrlicher Rechtsarbeiter, ein redlicher Berufstätiger unter den erschwerten Bedingungen verbindlichen Entscheidens ist bereits das, was dieser Typus von Verfassungsstaat braucht61. Das Recht auf Methodengleichheit meint ein gleiches Recht aller Betroffenen auf eine nach Gründen und Ergebnis vertretbare (s. etwa S. 13, Randnote 430) Entscheidung. Es dürfen nicht nur keine methodenerhebliche Vorschrift des demokratischen Rechtsstaats und kein einschlägiger Normtext weggelassen werden („unter den Tisch fallen“); sondern auch kein Konkretisierungselement, dessen Ergiebigkeit im Fall begründbar ist und welches das Ergebnis beeinflussen kann. Die Maßstäbe hierfür liefern insofern gleich liegende Fälle wie dieser. Neben den berufsethischen richten sich auch noch im engeren Sinn rechtswissen- 585 schaftliche Anforderungen an einen „Juristen neuen Typs“62: Die notwendige Vollständigkeit der einschlägigen Entscheidungsdaten (einschließlich der Realdaten) macht das Material reichhaltiger, die wünschbare Methodenehrlichkeit macht die Arbeit komplexer. Nicht nur „Tips“ und „Tricks“, sondern auch Abkürzung oder Vereinfachung der Entscheidungsprozesse sind von einer anspruchsvollen Methodik nicht zu erwarten. Das kann zusätzliche Schwierigkeiten schaffen, jedenfalls scheinbar. Auf der einen Seite gibt es keine hinnehmbaren Frage-, Denk- oder Theoriebildungsverbote an Rechtslehre und Methodik; etwa von der Art, Methodenstandards dürften nur in solchem Grad entwickelt werden, als sie von der Praxis angesichts von deren Überlastung und ihrer (zum Teil erzwungenen) kur-sorischen Arbeitsweise auch tatsächlich Tag für Tag verkraftet werden könnten. Eine solchen Ratschlägen folgende fortlaufende Korrektur des methodischen Niveaus nach unten ließe zuletzt noch Leitfäden der Art „Wie verwalte und vermehre ich meine Textbausteinsammlung?“ zu. Aber das ist nur ein argumentum ad absurdum und damit von minderem Wert. Denkverbote an Theorie sind schon als solche absurd. Jedenfalls im Prinzip könnten die Vorschläge einer wirklichkeitsnah und rechts- 586 staatlich möglichst transparent ausgearbeiteten Methodik die Praxis juridischer Entscheidung ein Stück weit beeinflussen. Der Gang zum Gericht könnte dann vielleicht etwas weniger ein Lotteriespiel unter der Moderation eines Kadi und in etwas höherem Grad ein plausibel antizipierbares Vorgehen sein. Die Justiz ist nicht die bloße „bouche de la loi“, ist keinesfalls „en quelque façon nulle“. Sie arbeitet in eigener Verantwortung. Gerade deshalb sollte es in der rechtsstaatlichen Demokratie für sie darauf ankommen, sich bewußt und gewollt „die Hände zu binden“; sie sich zu binden beim fairen und fair dargestellten Produzieren von Rechts- und Entscheidungsnormen im Streitfall. Nicht zuletzt in höchstrichterlicher Judikatur wird im übrigen durch gründliches Durcharbeiten der Dogmatik des Einzelfalls mit Blick auf künftige Fälle weit mehr „erledigt“ als nur der vorliegende. Durch dichtes und tendenziell vollständiges Argumentieren (z. B. die Brokdorf- oder die Mitbestim-
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s. auch oben, Vorwort zur 5. Auflage, v. a. Abschnitte III, V. Dazu etwa Müller X, S. 41.
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mungsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts) wird in der Folge die praktische Beanspruchung der Justiz in dem fraglichen dogmatischen Bereich besser entlastet als durch die übliche Praxis, sich nur nicht über den Fall hinaus – und in diesem selbst möglichst nur minimal – festzulegen. Verbindlichkeit durch inhaltliche richterliche Aussagen wird nicht selten offenbar gar nicht angestrebt, die prozeßrechtliche Verbindlichkeit der Entscheidung soll schon genügen. In diese Richtung wirkt auch der als sakrosankt behandelte (aber nicht normativ geforderte) „Urteilsstil“ gerichtlicher Argumentation mit seinem Bestreben, möglichst viele der für den Fall einschlägigen und wichtigen Rechtsfragen „hier dahingestellt bleiben“, „hier offen bleiben“, „hier auf sich beruhen“ zu lassen. So hält man sich eben die Hände frei, denn das für diesen Gegensatz zum „Gutachtenstil“ vorgebrachte Argument der Arbeitsersparnis ist auf längere Sicht von zweifelhaftem Wert. Wer sich beständig die Hände nicht binden will, bekommt umso mehr an überflüssigerweise neuen Anfragen in die Hand gedrückt. 587
Die Strukturierende Rechtslehre hat, zwischen „maximaler“ und „optimaler“ Rationalität unterscheidend63, seit jeher nichts Unmögliches verlangt, und die vorliegende Methodik hat sich immer um das Ermöglichen vollständiger, generalisierbarer und gleichheitlicher Rechtsarbeit bemüht; nie hat sie pseudo-präskriptiv deren Erzwingen oder Aufnötigen angestrebt. Auch wurde aus gutem Grund nie gesagt, die Maßstäbe des möglichen Optimums, die Theorie und Methodik zu entwickeln haben, seien unterschiedslos, ohne Abstriche, an jeden Entscheidungsträger und jeden Entscheidungsvorgang anzulegen; die hier verarbeitete Judikatur (Oberste Gerichtshöfe des Bundes, vorwiegend Bundesverfassungsgericht, das funktionell die Rolle der „Philosophenkönige“ der Tradition innehat) ist in ihrer Auswahl nicht zufällig. Es bleibt abzuwarten, ob und in welchem Grad die Arbeitsmittel und Maßstäbe einer in der rechtsstaatlichen Demokratie möglich zu machenden anspruchsvollen Methodik noch einmal die „Praktikermethode“64 der Eingangsinstanzen und gar der Routine- bzw. Massenverfahren erreichen können. Wichtig im Aufgabenbereich der Wissenschaft ist, diese Maßstäbe generalisierbar und nachvollziehbar auszuarbeiten, damit sie von jedem Rechtsarbeiter auf jeder Stufe der administrativen oder richterlichen Hierarchie eingesetzt werden können, falls er sich dazu entschließt und soweit die Umstände seiner Arbeitslage es ihm erlauben65. An die Oberinstanzen, 63 Z. B. bei Müller XIX, S. 71: „Maximale Rationalität erhellt ihr eigenes Vorgehen möglichst redlich; optimale Methodenehrlichkeit provoziert im nachprüfenden juristischen Bewußtsein möglichst wenige pauschale Wertungen. Mit all dem ist kein utopischer Perfektionismus gemeint, sondern eine Darstellung rechtlicher Konkretisierungsvorgänge, welche die ihnen zugrunde liegende Anstrengung des Verstehens auch in ihren eigenen Grenzen offenlegt und Askese gegen überredende wie überlistende Postulate durchhält.“ – Zur lokalen Rationalität auch ebd., z. B. S. 75 („jeweils auf engem Raum nachprüfbare ‚Methoden‘“). 64 Dazu oben, Abschnitt 231. 65 Im Sinn der „hohen Ansprüche(n) an gute, einsichtige, professionell gekonnte Argumentation“, die, bedingt durch ihre unvermeidliche „Abhängigkeit von Fällen und Texten“, nicht umfassende, immerhin aber eine „lokale“ Rationalität erreichen kann; so Luhmann XI, S. 401 f.; ferner ebd., S. 404, 405. – Diesen Ansatz hatte Luhmann schon 1970 von der hier
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besonders soweit sie sich aus Gründen des Verfahrensrechts nur noch auf die Rechtsfragen des Falls zu konzentrieren haben, sind deutlich höhere Maßstäbe anzulegen. Und schließlich erscheint es angesichts der Rolle, die das Bundesverfassungsgericht in Staat und Gesellschaft des Grundgesetzes einnimmt, notwendig, zumindest in seinen (nach der Bedeutung des Rechtsproblems und / oder der sozialen Reichweite der Auswirkung) wichtigen Fällen nicht nur die allen Juristen geltenden ethischen Erwartungen, sondern auch die nachweislich möglichen rechtsmethodischen Standards einzufordern.
entwickelten Position übernommen: Der Richter könne „seinen eigenen Entscheidungsbeitrag ins Offene bringen und neu legitimieren. Er braucht ihn nicht länger als lediglich kognitiven Prozeß, als Erkenntnis und logische Folgerung darzustellen, sondern kann eigene normbildende Entscheidungsarbeit vertreten“ – in einem Vorgang „der Reduktion der Unbestimmtheit rechtlicher Entscheidungsprogramme, in dem sich logische Sprünge nicht vermeiden, aber auf kleine Schritte verteilen, ‚hermeneutisch‘ ausweisen und kontrollieren lassen“; Luhmann IV, in: ders., Ausdifferenzierung des Rechts, 1981, S. 113 ff., 126 f. – Ebenso bereits 1969 Luhmann III für das Einbeziehen der Realdaten in die juristische Konkretisierungsarbeit: Ebd., S. 273 ff., 293. – Mit seinem Verharren auf einigen Vorstellungen des historischen Positivismus im übrigen bleibt Luhmann (horribile dictu!) „alteuropäischer“, als er es vorhatte.
7 Literatur 71 Alphabetisches Verzeichnis Das folgende Literaturverzeichnis ist eine auswählende wissenschaftliche Bibliographie zu den Kern- und Randproblemen der juristischen Methodologie insgesamt. Soweit die genannten Titel in den Anmerkungen dieses Buches verwertet und nachgewiesen sind, dient es zusätzlich als Schlüssel für die in den Anmerkungen verwendete Zitierweise. Aaken, A. van: „Rational choice“ in der Rechtswissenschaft: zum Stellenwert der ökonomischen Theorie im Recht, Baden-Baden 2003. Abboud, G.: Discrecionariedade: alcance da atuação administrativa e judicial no Estado Constitucional, São Paulo 2014. Abel, G.: (I) Interpretationswelten, in: Philosophisches Jahrbuch 1989, S. 1 ff. – (II) Sprache, Zeichen, Interpretation, Frankfurt am Main 1999. Achterberg, N.: Probleme der Funktionenlehre, München 1970. Adeodato, J. M.: (I) Ética e Retórica. Para uma Teoria da Dogmática Jurídica, São Paulo, 4. Auflage 2009. – (II) A Retórica Constifucional, São Paulo 2009. Adomeit, K.: (I) Methodenlehre und Juristenausbildung, in: Zeitschrift für Rechtspolitik 1970, S. 176 ff. – (II) Juristische Methode, in: Handlexikon zur Rechtswissenschaft, hrsg. von A. Görlitz, München 1972, S. 217 ff. – (III) Zur Einführung: Rechtswissenschaft und Wahrheitsbegriff, in: Juristische Schulung 1972, S. 628 ff. – (IV) Normlogik – Methodenlehre – Rechtspolitologie. Gesammelte Beiträge zur Rechtstheorie 1970 – 1985. Mit einer Einführung: Jurisprudenz und Wissenschaftstheorie, Berlin 1986. Adorno, Th. W. / Albert, H. / Dahrendorf, R. / Habermas, J. / Pilot, H. / Popper, K. R.: Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, Neuwied / Berlin 1969 (zit.: Adorno u. a.). Agamben, G.: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt am Main 2002. Alan, Ö. / Steuten, U.: Kopf oder Tuch – Überlegungen zur Reichweite politischer und sozialer Akzeptanz, in: ZRP 1999, S. 209 ff. Albers, M.: Information als neue Dimension im Recht, in: Rechtstheorie 2002, S. 61 ff.
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7 Literatur – 71 Alphabetisches Verzeichnis
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7 Literatur – 71 Alphabetisches Verzeichnis
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– (IV) Argumentative Geltung, in: (II), S. 280 ff. – (V) Überlegungen zu einer möglichen Lösung des Problems inkommensurabler Welten mit Hilfe des Konzepts von der Bewegung des Begriffs, in: Hegel-Jahrbuch 1981 / 82, hrsg. von W. R. Beyer, S. 314 ff. – (VI) Der Begriff des Arguments. Über die Beziehungen zwischen Wissen, Forschen, Glauben, Subjektivität und Vernunft, Würzburg 2008. Wolff, S. / Müller, H.: Kompetente Skepsis, Opladen 1997. Wolffers, A.: Logische Grundformen der juristischen Interpretation, Bern / Stuttgart 1971. Wolski, W.: (I) Das Lemma und die verschiedenen Lemmatypen, in: Handbücher zur Sprachund Kommunikationswissenschaft, Band 5.1, Berlin / New York 1989, S. 360 ff. – (II) Schlechtbestimmtheit und Vagheit – Tendenzen und Perspektiven. Methodologische Untersuchungen zur Semantik, Tübingen 1980, S. 5 ff. Wolter, Th.: Die juristische Subsumtion als institutioneller Zeichenprozeß. Eine interdisziplinäre Untersuchung der richterlichen Rechtsanwendung und der forensischen Kommunikation, Frankfurt am Main u. a. 1994. Würtenberger, Th.: (I) Strafrechtsdogmatik und Soziologie, in: Zur Einheit der Rechts- und Staatswissenschaften, hrsg. von der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Freiburg i. Br. / Karlsruhe 1967, S. 123 ff. – (II) Die irrationalen Elemente bei der Strafzumessung, in: Weltanschauliche Hintergründe in der Rechtsprechung, hrsg. von W. Böhme, Karlsruhe 1968, S. 57 ff. – (III) Methodik der Kriminologie, in: Enzyklopädie der geisteswissenschaftlichen Arbeitsmethoden, hrsg. von M. Thiel, 11. Lieferung: Methoden der Rechtswissenschaft Teil I, München / Wien 1972, S. 81 ff. Würtenberger, Th. jun.: Auslegung von Verfassungsrecht realistisch betrachtet, in: J. Bonnert (Hrsg.), Verfassung, Philosophie, Kirche. Festschrift für A. Hollerbach, Berlin 2001, S. 223 ff. Wüstendörfer, H.: Zur Methode soziologischer Rechtsfindung. Zwei systematische Abhandlungen, hrsg. von M. Rehbinder, Berlin 1971. Wyduckel, D.: (I) Recht und Rechtswissenschaft im nachpositivistischen Rechtsrealismus, in: E. Kamenka u. a. (Hrsg.), Soziologische Jurisprudenz und realistische Theorien des Rechts, in: Rechtstheorie Beiheft 9, Berlin 1986, S. 349 ff. – (II) Normativität und Positivität des Rechts, in: Aarnio, A., u. a. (Hrsg.), Rechtsnorm und Rechtswirklichkeit. Festschrift für Werner Krawietz, Berlin 1993, S. 437 ff. Wyschinskyi, A. J.: Die Hauptaufgaben der Wissenschaft vom sozialistischen Sowjetrecht, in: Autorenkollektiv, Sowjetische Beiträge zur Staats- und Rechtstheorie, Berlin 1953, S. 50 ff. Wyss, M.: Vom Nutzen und Schaden der Rechtsvergleichung für die Rechtsetzung, in: LeGes 2012 / 2013, S. 259 ff. Yi, S.-D.: Wortlautgrenze, Intersubjektivität unjd Kontexteinbettung, Frankfurt am Main u. a., 1992. Zaccaria, G.: Questioni di Interpretazione, Milano 1996.
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7 Literatur – 71 Alphabetisches Verzeichnis
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7 Literatur – 72 Literatur zu einzelnen Sachgebieten
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72 Literatur zu einzelnen Sachgebieten Die folgende Übersicht will nicht vollständig sein. Sie gibt dem Leser, der sich in eines der genannten Sachgebiete vertiefend einarbeiten will, jeweils eine Reihe von Titeln an. Die Zitierweise folgt dem alphabetischen Literaturverzeichnis (oben 71). Der Text des vorliegenden Buchs ist dabei nicht berücksichtigt; hier dienen das Inhaltsverzeichnis und vor allem das Register der Aufschlüsselung zu den einzelnen Fragen.
Juristische Methodik, allgemein
Methodik des Zivilrechts
Baumgarten Bydlinski I Christensen VI Christensen / Kudlich II Coing II Du Plessis Engisch II, IV Esser V Fikentscher Frosini Germann Grau II Hamann Heck I, II, III Höhn Koch / Rüßmann Kramer Larenz I Levin Looschelders / Roth Mastronardi Mennicken Müller, F. I, V, IX, XXI, XLIII, XLIV Ott, E. E. I Patterson I Pawlowski I, II Perelman u. a. Raisch II v. Savigny, F. C. I, II, III Schapp Schmalz II Schmidt, F. Treder Troller Vogel, J. Vogenauer Zippelius I
Brandenburg Bydlinski I, III Canaris I, II Esser I, II, III, IV, V, VI, VII, IX Frassek Frommel Goebel Heck I, II, III Henke Honsell Langenbucher I Larenz III Laudenklos II Nierwetberg Oldag Pawlowski Petersen Progl Rahlf Rohls Rückert I, II, III v. Savigny, F. C. I, II, III Schäfer Schiffauer Träger Vollmer Wieacker I, II, V Methodik des Strafrechts Bindokat Christensen / Kudlich III Engisch Haag Haft Jescheck Kölbel Kudlich / Christensen (II)
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7 Literatur – 72 Literatur zu einzelnen Sachgebieten
Schroth I, III Würtenberger I Methodik des öffentlichen Rechts Böckenförde II Dreier, R. / Schwegmann Ehmke I, III Fohmann I Forsthoff I, II, III Häberle V Hesse II, III Huber II Jeand’Heur XI Kriele Krüger I Ladeur III Müller, F. VI, XVIII Müller, F. / Christensen Müller, H. J. Ossenbühl I Prümm II Ridder II Roellecke III Sachs Schlink V Schneider, P. I Stoerk Wimmer, N. Verfassungsgerichtsbarkeit Berkemann III Billing Chryssogonos Dolzer Feldmann Grimm IV Hoffmann-Riem I Klein, F. Klein, H. H. Laufer Lietzmann Rinken III Schefold Schlothauer Schuppert II Wittig
Methodische Behandlung der Grundrechte Alexy III Bethge Böckenförde I Fohmann II Freihalter Häberle I Höfling Hoffmann, J. Hoffmann-Riem III Huber III Jeand’Heur I, XII Koch VII Majewski Müller, F. II, III, IV, VII, VIII Müller, F. / Pieroth / Fohmann Ossenbühl II Rossen Schneider, L. Scholz Schwäble Zöbeley Verfassungskonforme Auslegung Bender Bettermann Bogs Burmeister Eckardt Häfelin Müller, F. XL Prümm I Roellecke IV Schack / Michel Schiffauer Gemeinschaftsrechts- und richtlinienkonforme Auslegung Anweiler Buck Everling I Frisch Grundmann I Jarass I Potacs
7 Literatur – 72 Literatur zu einzelnen Sachgebieten Methodik des Prozeßrechts
Richterrecht
Bruns Fenge I Goebel Tschentscher Weber, F.
Badura II Biaggini Christensen IV Coing III Esser II, III, VI Ipsen I Langenbucher I Larenz II Meier-Hayoz II Müller, F. XXII, XXIII, XLIII Reinhardt Schneider, H.-P. I, IV Sendler Wank Wieacker II
Methodik und Didaktik Adomeit I Leibfried Lux Wassermann I Zur Rolle der Topik Bäumlin Ballweg II, III Ballweg / Seibert Diederichsen I Ehmke III Gadamer Gast IV Grasnick II Haft III Haverkate I, II Ladeur Larenz I, S. 140 ff. Launhardt Lüderssen II Müller, F. I, S. 56 ff., XLIII Seibert II Sobota I, II Struck I, III, IV Thümmel Ueding Viehweg I, II Weinberger II
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Justizsoziologie Dahrendorf II Kaupen I Lautmann / Peters Richter Wassermann III Zwingmann Psychologische Elemente der juristischen Methodik – Rechtswissenschaft und Psychoanalyse Bendix Bohne Ehrenzweig Hagen II Meier Rotter Weimar I Juristische Methodik und Rechtstheorie
Natur der Sache Ballweg Diesselhorst Kaufmann II Larenz I, S. 131, 401 ff. Maihofer I Müller, F. I, S. 175 ff., XLIII Poulantzas Rinck Stratenwerth
Baden II Broekman I Christensen III Dubischar II Engisch II Gomes Canotilho Jouanjan Kaufmann / Hassemer v. Kempski Koch IV
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7 Literatur – 72 Literatur zu einzelnen Sachgebieten
Krawietz II Krawietz / Alexy Laudenklos I, III Moor III Müller, F. I, X, XII, XVIII, XIX, XXV, XXVI, XLIII, XLIV Neumann, U. I Ott, W. I Passavant Podlech II Rhinow Somek Somek / Forgó Weimar II Zippelius II Zur Rolle der Rationalität in der juristischen Methodik Alexy I Christensen / Kudlich II Clemens Eckhoff / Jacobsen Esser V, VII Harenburg Koch II Krawietz IV Maus Müller, F. V, X, XII, XV, XIX Peczenik Priester Thaler Zielcke Werte, Werturteile Adorno u. a. Albert I Bauer Goerlich I Habermas I Larenz I, S. 205 ff. Podlech I Rüßmann Weber, M. I Normen und soziale Wirklichkeit; Realisierung von Normen Christensen VII, XII
Christensen / Kudlich II, IV Fisahn Grimmer Hof Kininger Lüdemann Müller, F. I, II, IV, X, XII, XLIII, XLIV Philippi Popitz II Ritter Röhl Scheuner II Schöpf Spittler Starck I Winter Wissmann Methodologische Aspekte zu Rechtswissenwissenschaft und Sozialwissenschaften Blomeyer Damm Ehrlich Emge Geiger Grüber Hagen I Henke Hopf Hufen I, II Lautmann II, IV Lüscher Luhmann I, III, VI, VII Müller, F. X, XII, XIX Naucke I, II Naucke / Trappe Rittner II Rottleuthner II Ryffel IV Wittkämper Wüstendörfer Beziehungen der juristischen Arbeit zum gesellschaftliche und politischen System Ehrlich Galbraith
7 Literatur – 72 Literatur zu einzelnen Sachgebieten Geiger Grimm II, III, V Gusy Haverkate II Heller II Hesse I Jaeggi Jeand’Heur X Kühnl Luhmann I, III, IV, V, VI, VII Miliband Müller, F. X, XII, XLIII, XLIV Naucke / Trappe Nierwetberg Offe Opp / Peuckert Pasukanis Popitz II Preuß Rasehorn III, IV, V Richter Rottleuthner I, II Rüthers Scheuner I Schindler Schluchter Stein III Stučka Unger II Wassermann III Waterkamp Weber, M. II Weldon Wiethölter I, IV Zwingmann Juristische Methodik und Sprachtheorie Braunroth u. a. Brinckmann / Grimmer Busse I, II, III Christensen I, VII Corbineau-Hoffmann / Nicklas Cornu Cunningham u. a. Eckmann Fish II
Fleiner Hartmann Hassemer IV Hegenbarth Heinz Heringer u. a. II Horn I, II, III Jackson Jeand’Heur II, III, IV, XIII Jouanjan Koch III Kramm Kramsch / Luttermann Lachmayer Lampe Larenz I, S. 193 ff. Morris Müller, F. X, XIX, XXIV, XLIII, XLIV Müller, F. / Christensen / Sokolowski Nußbaumer I Oksaar Podlech V Rave / Brinckmann / Grimmer II Rodingen I, III Schiffauer Schmidt, J. I Seibert I, III, V Wagner, H. IV Wimmer, R. I, II Wittmann Juristische Methodik und Rechtslinguistik Baumann I–IV Busse I–III, V–IX Christensen I, IV–IX, XI Christensen / Kudlich Christensen / Sokolowski II Cornu Cunningham / Fillmore / Luttermann Felder I, II, III Feldner / Forgó Gast II, IV, V Grasnick I, II, III Haß-Zumkehr Hermanns II Jeand’Heur II, III, IV, XIII
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682
7 Literatur – 72 Literatur zu einzelnen Sachgebieten
Jouanjan III, IV Klein, J. Kramsch / Luttermann Lachmayer Luttermann I, II Müller, F. XIII, XXII, XXIV, XXV, XXXIV, XXXV, XXXVII–XXXIX, XLIII, XLIV Müller, F. / Christensen / Sokolowski Müller, F. / Wimmer, R. Nussbaumer I, III Podlech V Rave / Brinckmann / Grimmer I, II Schendera Schiffauer Seibert I–IX, XI Wimmer, R. II, IV, V, VI Wimmer / Christensen
Juristische Methodik und Rechtsinformatik
Juristische Methodik und formale Logik
Normenlogik (deontische Logik)
Engisch III Fiedler, H. II Fohmann I Haag Horn I Joerden Klug Philipps Podlech VII Ratschow Rödig Schneider / Schnapp Schreiber I v. Stephanitz Wolffers
Kalinowski Keuth Lenk I Röhl II Weinberger I, III
Benjamin Deutsch, K. I, II Fiedler, H. III Fohmann I Haft / Müller-Krumbhaar Kerkan Lang Reisinger I, II Schlink I Simitis I, II Steinmüller I, II Suhr Wieacker II
Juristische Methodik und Argumentationstheorie Alexy I Christensen / Kudlich II Gast III, IV Neumann I, VI Seifert Wohlrapp VI
8 Register Die Zahlen beziehen sich auf die Randnummern. Das Register gibt besonders kennzeichnende Fundstellen an. Hauptfundstellen sind kursiv gesetzt. Personennamen sind aufgenommen, soweit sie im Text bzw. im Zusammenhang systematisch wichtiger inhaltlicher Aussagen in den Anmerkungen erscheinen. Abduktion 536 Abhör-Urteil 373, 385 Ablaufmodell der Rechtsnorm 14 ff., 549 ff., 570 ff. Absterbetheorie 199 Abtreibungsurteil 364, 370 Abwägung s. Güterabwägung Adressat des Gesetzes s. Normadressat, Normtext Agamben, Giorgio 185, 189, 192 Alexy, Robert 140 ff., 254 ff., 556 Allgemeines Preußisches Landrecht (ALR) 309, 509 Allgemeinsprache s. Alltagssprache Alltagssprache 85, 258 – s. a. Umgangssprache Amtsrecht 110, 121 – s. a. Gewohnheitsrecht Analogie 371 Analogieverbot 320, 526 Analyse 536 ff. – s. a. Normbereich Analyse, semantische 135 – s. a. Semantik Analytische Philosophie 235 Anfechtungsklage 320 Anstaltsstaat, kontinentaler 194 Antipositivismus 274 – s. a. Methodik, nach-positivistische „Anwendung“ s. Subsumtion, Syllogismus Applikation 261, 302 – s. a. Hermeneutik Arbeit, menschliche 197 ff. Arbeit mit Texten s. Verstehen Arbeitskonsens 415, 534, 579 ff.
Arbeitsmethodik der Juristen 111, 159 ff., 466 Argument – Meinung, Normtext 469 – rechtspolitisches 388 – s. a. Meinung; Normtext, Geltung Argumentation – expositive 24 – juristische 2, 256 f., 351 – rechtspolitische 132 – topische 118 ff. – s. a. Topik Argumentationskultur, juristische 180, 183, 262, 325 Argumentationslehre, juristische s. Argumentation, juristische Argumentationstheorie 257 Argumente – direkt normtextbezogene 431 – Konflikte zwischen diesen Argumenten 437 – nicht direkt normtextbezogene 437 Argumentieren „vom Ergebnis her“ 151, 580 f. argumentum ad absurdum 366 argumentum e contrario 370 Auslegung – Begriff 13, 505 – extensive 31, 92, 94, 394 – funktionsdifferente 95, 331 ff. – gemeinschaftsrechtkonforme 428b, d, e, f – genetische 28, 67d, 351 ff., 360 ff., 361c – f, 390, 440 f., 480 – grammatische 25 f., 29, 95, 67c, d, 350 f., 351a – g, 354, 358 f., 362, 375, 381 – herkömmliche 31 ff., 67, 87, 95 ff., 263
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8 Register
– historische 25 f., 29, 67d, 350, 360 f., 361a, b, 390 – rechtsfolgenorientierte 67d – restriktive 92 ff. – richtlinienkonforme 428b ff. – strafrahmenorientierte 526 – systematische 25 f., 67d, 92, 95, 104, 350, 351e, 360, 363, 365 ff., 374, 382 – teleologische 25 f., 67d, 92, 95 f., 311, 350, 363 f., 376 f., 582 – verfassungskonforme 31, 100 ff., 103 f., 130, 234, 352, 377, 430 – Ziel 442 ff. – s. a. Konkretisierung, Konkretisierungselemente, Subsumtion Ausnahme- und Standgerichte 306 Ausnahmevorschrift 370 Austin, John 24 Automation 396 autoritäres Argument 295, 413, 508 ff., 540 Axiomatisierbarkeit des Verfassungsrechts 395 f. Axiomatisierung der Rechtsordnung 395 f. Bedeutung 18, 153, 185 ff., 210, 326 ff., 346, 351a – g, 358, 531 – Autonomie der 167 – Ganzheitskonzept von 208 – und Bedeutsamkeit 186 – und Geltung 145, 177, 185 – und Zeichenkette 185 ff. – s. a. Normtext, Begriff Bedeutungskonstitution 223, 331, 406, 528 f., 534 Bedeutungsobjektivismus 213, 351b Bedeutungstheorie 206, 208, 210 Bedeutungswandel 33 Begnadigungsrecht 297 Begriffe – bestimmte 167 – Gebrauchsweisen 85 – Intension und Extension 235 – juristische 83, 204, 276, 358 – komparative 230 – unbestimmte 67d, 167 – wertausfüllungsbedürftige 167 – s. a. Bedeutung Begriffsbildung 5, 258
Begriffsjurisprudenz 93, 116 – s. a. Gesetzespositivismus Begriffsrealismus, positivistischer 271 Begriffsschema 84, 166 Begründung, rationale 160, 351, 384, 471 Begründungsdefizit 141 Begründungspflicht, richterliche 222 ff., 471 Berechenbarkeit der Entscheidungsbildung 132, 498 Bereichsdogmatik 42 f., 70, 365, 397, 399, 404, 489 – s. a. Dogmatik, Normbereich Berkemann, Jörg 161 Berufsfreiheit 57 ff. Bestimmbarkeit 67d, 163 ff., 184 Bestimmtheit 67d, 163 ff., 184, 306 Bestimmtheitsgebot 67d, 120, 163 f., 226, 236, 241, 306, 356, 430, 439 – rechtsstaatliches 67d, 165 f. – strafrechtliches 67d, 165 f. – s. a. Normklarheit Bloch, Ernst 200 Bluntschli, Johann Caspar 78 Bonavides, Paulo 248, 273, 281, 299 Brasilianische Verfassung 243, 247 Brokdorf-Beschluß 50 Brugger, Winfried 236, 371 Bürgertum 198 Bundesarbeitsgericht s. Rechtsprechung des Bundesfreundliches Verhalten 352 Bundesgerichtshof s. Rechtsprechung des Bundesstaat 290, 540 Bundesverfassungsgericht s. Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgericht s. Rechtsprechung des Bundeszuständigkeit kraft Sachzusammenhangs 356 Busse, Dietrich 11, 208, 212 f., 227 f., 236, 324 Canones – im Verfassungsrecht 67b, 154 ff. – in Savignys Verständnisweise 90 ff., 582 – tatsächliche Rolle 239, 346f – Unentbehrlichkeit und Grenzen 67b, 375 – Verhältnisbestimmung 440 – s. a. Auslegung, Konkretisierungselemente
8 Register Christensen, Ralph 140 f., 160, 175, 191, 208, 211 ff., 224, 226, 230 f., 256, 299, 301, 310, 312, 423, 479, 506, 535 Chryssogonos, Kostas 238 Churchill, Sir Winston 309 common sense 121, 135 Datenverarbeitung 395, 398, 417 Davidson, Donald 166 ff., 210, 351e, 351g Deduktion 5 Definition 186 Dekonstruktivismus 273, 340, 345, 507 ff. Demokratie, repräsentativ-parlamentarische 290 f., 540 Demokratie und Methodik 21 f., 101, 110, 120, 159, 257, 270, 291 f., 301, 312, 407, 427, 538 ff., 565 Demokratie und Virtualität des Rechts 535 Demonstrationsfreiheit 50 f. Denkvorgang, juristischer 134 Derrida, Jacques 142, 149, 185, 206 f., 219, 273, 275, 361d, 474, 507 ff., 515 ff., 531 Determinismus, juristischer 90 Dezision 157, 223, 312, 319, 324 Dezisionismus 83, 186, 192, 223, 260, 264, 299, 312, 419, 423 f. – s. a. Schmitt Dezisionstechnik 427 Didaktik 19, 402, 410 Direktiven – methodische 153 – rechts(norm)theoretische 153 Diskriminierungsverbot 35 Diskursiver Prozeß 474, 505 ff., 518 ff. Diskurstheorie 140, 254 Dogmatik – Begriff 401 – juristische 410 – positivistische 403 – rationale 299 – sektorale 489 – strukturierende 405 ff. – undogmatischer Begriff von 401 ff., 410, 566 – (mehrere) vertretbare 2, 7, 100, 102, 166, 234, 430, 535 – Voraussetzungen juristischer 131
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– s. a. Konkretisierungselemente, dogmatische Dogmatiksprache 24 Drath, Martin 419 Drittwirkung der Grundrechte 66 Dualismus von Norm und Faktum 419 Dubischar, Roland 236 Eco, Umberto 340 ff. Eheähnliche Gemeinschaft 41 Eigenständigkeit – Begriff 116 – der Europäischen Gemeinschaften 116 – der Familie 116 – der Gemeinden 116 f. – der Kirchenrechtsordnung 116 – der Länder 116 – der Verwaltung 116 – des Individuums 116 – von öffentlich-rechtlichen Verbänden 116 – von Wirtschaftsverbänden 116 Eigentum, soziale Funktion 199 Eigentumsbindung 54 Eigentumsgarantie 54 Eigentumsgrundrecht 54 Eindeutigkeit 100, 192, 202, 234, 308 f. – Ideal 29, 192 – s. a. Wortlautgrenze, Normprogrammgrenze Eingangsdaten – der Entscheidungsarbeit 226 – des Konkretisierungsvorgangs 224 – s. a. Konkretisierung, Normtext Einheit der Verfassung 130, 291, 383 ff., 391 Elfes-Urteil 334 Enderlein, Wolfgang 429, 561 ff. Entscheidung – Aufbau 460 ff. – Begründung 23, 33 – Bildung 161, 192, 223, 534 – Dogma 264 – „einzig richtige“ 100, 234, 505, 535 – Folgen s. Folgenbewertung – normwidrige 34 – Rechtfertigung 408 – rechtspolitische 283 – und Lösungstechnik 462 – vertretbare 2, 7, 100, 102, 166, 234, 430, 471, 535, 584; Begriffsbestimmung S. 13
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8 Register
– s. a. Dezisionismus, Konkretisierung Entscheidungselemente s. Konkretisierungselemente Entscheidungserwägung, Struktur vernunftrechtlicher 132 Entscheidungsformel 16 Entscheidungsgründe 221 Entscheidungsinteresse 261, 267, 443 Entscheidungsnorm – als Endergebnis der Konkretisierung 233, 279, 549 – Begriff 16, 233, 236, 279 – Erzeugung 233, 573 – und Dogmatik 400, 404, 409 – und Generalklausel 490 – und Rechtsnorm 16, 161, 206 ff., 236, 281, 284, 311, 371, 400, 404, 409, 418, 432, 468, 494, 498 – s. a. Normtext, Rechtsnorm Entscheidungsprozeß 112, 132, 192, 277 ff. Entscheidungstechnik 380, 498 Entscheidungstext 10 Entscheidungsvorgänge 11, 191 ff., 386, 443, 509 ff., 540 ff., 548 ff., 572 ff. Entscheidungswissenschaft 191 ff., 567 ff. Entstehungsgeschichte 25, 27, 359 ff., 493 – s. a. Konkretisierungselemente, genetische Erforderlichkeit s. Übermaßverbot Ergebniskonsens 415, 534, 579 ff. Erkenntnisinteresse 5, 261, 267 Ermessensbegriff 397 Ersatzdienst 330 f. Ersatzdienstverweigerung, Beschluß zur 39 Erziehungsauftrag 44 Erziehungsrecht, elterliches 44 Esser, Josef 115, 118, 364 Ethik, immanente 549 Europäischer Gerichtshof s. Rechtsprechung des Europäisches Gemeinschaftrecht 428a ff. Evidenz 87, 123, 192, 258 – s. a. im übrigen Eindeutigkeit Extension s. Begriffe Fachsprache 15, 17, 95, 116, 193, 226, 301, 351b, 394, 454 – s. a. Sprache
Faktenwandel im Normbereich 41 – s. a. Sachbereich Fall 267 f., 399 Fallbearbeitung 131, 463 ff. Fallbereich 16, 131, 235, 238, 279 ff., 310, 397 ff., 437, 468, 482, 485 f., 490 – s. a. Normbereich, Sachbereich Fallerzählung 15, 467 Fallösung 7, 14, 24, 85, 134, 458 ff., 535 Fallrechtsordnung 539 – s. a. Gesetzesrechtsordnung Falltechnik – ihre Unentbehrlichkeit 460 ff. – ihre unterschiedliche Funktion im Vergleich zur Methodik 460 ff. – Thema 464 Falltypus 231 Falsifikationismus 160, 479, 567 ff. – s. a. Kritischer Rationalismus Felder, Ekkehard 17, 213, 224, 306, 323, 345, 528, 548 Feuerbach, Ludwig 261 Finanzhilfe-Urteil 28, 48 Fohmann, Lothar H. 396, 398, 405, 580 Folgenbewertung 33, 132 ff., 426 ff., 484, 583 Folterverbote 236, 371 Forgó, Nikolaus 186, 483, 526 Form, rechtsstaatliche 220, 454 Formalität 194 Formallogik, juristische 1, 82 f., 90, 396 – s. a. Subsumtion, Syllogismus Foucault, Michel 11, 511, 517 founding fathers 542 Freiheit 121, 127 Freiheitsrecht, allgemeines 63 Freiheitsstrafe, lebenslange 37 Freirechtsschule 115, 155, 299 Fremdsprache 11 Friedrich, Manfred 83, 419, 423 funktionelle Richtigkeit 31, 352, 378 f. Funktionenlehre 118, 159 Funktionsabgrenzungen 439 Funktionsdifferenz 331 ff. Funktionsträger 158, 161 Funktionsverteilung 102
8 Register Gadamer, Hans-Georg 442, 495, 520 Ganzheit 72 Garantie, institutionelle 48 Gast, Wolfgang 2, 151, 310, 534 Gattungstypen 42 Gebrauchsbeispiele 323 – s. a. Sprachgebrauch Gebrauchswert 197 Geeignetheit s. Übermaßverbot Geisteswissenschaft 6, 191, 269, 423, 567 „geltendes Recht“ 17, 281, 306, 469 Geltung 185 ff. – Anforderungen an 6 – Anordnung 226 – Begriff 17 f., 158, 189, 221 ff., 305 ff., 544, 557 – Substanz 399 – und Bedeutung 145, 175 – s. a. Recht, geltendes; Normativität Gemeinschaftsvorbehalt, immanenter 70 Generalklausel 32, 35, 45, 135, 156, 241 f. 245, 313 ff., 489 f., 505 v. Gerber, Carl Friedrich 78, 83, 93, 154, 265, 303, 472 Gerechtigkeit 133, 137, 142 ff., 321, 329 f., 346, 515 – als Lückenbüßer 192 – als methodische Größe 142 ff., 192 ff., 329 – als Problem 150 – Begriff der 150 – und Genauigkeit 150 Gerichtspraxis 385 Gesamtbild, vorverfassungsmäßiges 130, 389 f. Gesamtrechtsordnung 374 Geschichtswissenschaft 265 Geschwindigkeitsüberschreitung, Rechtsprechung zur 522, 525 Gesellschaft, bürgerlich-kapitalistische 199 Gesellschaftstheorie, kritische 324 Gesetz – abstrakt-allgemeines 118 – progressive Rolle 200 – revolutionäres 200 – verfassungswidriges 31 Gesetzesanalogie s. Analogie Gesetzesauslegung s. Auslegung
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Gesetzesbindung 222, 312, 346 f., 527 ff. – s. a. Normtext Gesetzesinhalt – mehrdeutiger oder unbestimmter 31 – objektiver 25 Gesetzeskonkretisierung, Kompetenz zur 102 – s. a. Konkretisierung Gesetzeslücke 453 Gesetzesmaterialien 23, 25, 265, 351, 360, 361c – f, 374, 441 – s. a. Konkretisierungselemente, genetische Gesetzespositivismus 503, 505, 510 – Darstellung 75 ff., 472 ff. – in marxistischer Rechtstheorie 199 – Überwindung 73, 153 ff., 248 ff., 295 ff., 503 – und Datenverarbeitungsanlagen 240 – und Dezisionismus 147, 186, 265 f. – und die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 68 – und Objektivitätsbegriff 269 – und Politik 21 f., 79 ff. – und Rechtsnormtheorie 84, 93, 121, 153, 248 ff., 422 ff. Gesetzesrechtsordnung 539 – s. a. Fallrechtsordnung Gesetzesvorbehalt 71 Gesetzeszweck 92, 94 Gesetzgeber – als Normtextsetzer 165 – demokratischer 263 – nicht „zweiter Stufe“ 165 – Regelungsabsichten 26, 361d – Regelungstechniken des 183 – und Gerichte 145 – und Sinngebungsmonopol 206, 361d Gesetzgebung – Ermessen 65 – und andere Funktionsträger 20, 118, 158 ff., 497 – und Gewohnheitsrecht 352 – und verfassunggebende Gewalt 293 f. – und Verfassungsrechtsprechung 30, 61, 101, 120, 129, 135 – und wissenschaftliche Arbeitsweise 161 Gesetzgebungslehre 234, 526
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Gesetzgebungsmaterialien s. Gesetzesmaterialien Gesetzgebungsverfahren 25 Gestaltungsklage 320 Gewalt – gesetzgebende 31 – Legitimierung von 163 – nicht legitimierbare 150 – Nötigungsmittel 322, 327 ff. – rechtsprechende 31, 181, 337 ff., 347, 528 ff. – strukturelle 324, 510 ff., 515, 555 – und Sprache 337 ff., 510 ff., 515 ff., 519 ff., 528 ff. Gewaltbegriff – Anwendung 324 – Ausdehnung 322, 328 – einzelne Gebrauchsbeispiele 324 – Vergeistigung 327 ff. Gewaltenteilung, als Textteilung 222 ff. Gewaltenteilungslehre 118, 221 ff. Gewaltenteilungsprinzip 109 Gewissensentscheidung 39 Gewissensfreiheit 39 Gewohnheitsrecht 4, 108, 193, 294, 352, 465, 480 – s. a. Amtsrecht, Volksrecht Gleichberechtigungsgebot 47 Gleichberechtigungs-Urteil 385 Gleichheitsprüfung 491 f. Gleichheitssatz – allgemeiner 35, 45, 490 ff. – Prüfung 490 ff. Gnadenentscheidung 28 Goebel, Joachim 140, 158, 165, 180, 190, 233, 254, 351g, 474, 483 Goethe, Johann Wolfgang v. 309 Gomes Canotilho, José Joaquim 274, 281, 299, 377, 385, 555 Gómez de Arteche, Salvador 23, 237, 406, 544 Gothaer Programm 200 Grasnick, Walter 151, 215, 274, 278, 528, 535, 569 Gröschner, Rolf 85, 90, 254 Großengstingen-Beschluß 322, 328, 521
Grundgesetz – als „rigide Verfassung“ 454 (s. im übrigen Grundrechte, Verfassungsrecht) – als verfassungsrechtliche Wertordnung 290 – Positivität 387 Grundnorm 83, 384 Grundrechte – als individuelles Recht 127 – als objektives Recht 65, 127 – als Wert- und Anspruchssystem 64 ff., 90 – Ausgestaltung 35, 64 – Bindung 72, 243 f. – Dogmatik 42, 489 – Drittwirkung 66 – „Eigenständigkeit“ 116 f. – Einschränkung 35, 62 f., 70 ff., 87, 489 f. – institutionelle Deutung 99 – Konkurrenz 392 – Mißbrauch 73 – Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 36 ff., 61 ff. – rechtswissenschaftliche Behandlung 68 ff., 77 f., 564 f. – Sachelemente 36 ff., 61 ff., 489 ff. – Schutz durch Verfahren 374 – Spezialität 35, 62 – „System” 377, 391 – und Formalität 71 f. – und Kompetenznorm 130 – und Normtypologie 242, 482, 489 f. – und Rechtsnormtheorie 489 ff. – vorbehaltlos gewährleistete 42 f. – s. a. Normbereich, von Grundrechten; Drittwirkung Grundrechtseffektivität 130, 394 Gruppengrundrecht 52 f. Gruppensprachen 323 Güterabwägung 35, 42, 62 f., 71 f., 131, 140 f., 364, 392 Gumplowicz, Ludwig 419 Gutachtenstil, Gutachtentechnik 151, 586 Habermas, Jürgen 200, 256 Haltung zur Verfassung 292 Handeln – juristisches 146 – politisches 21
8 Register Handlungssatz – als Kippbild 184 – Extension 175 – Intension 175 – Mannigfaltigkeit des 173 – Theorie des 169 ff. – und Normbereich 175 – und Normkonkretisierung 175 – und Sachbereich 179 Harenburg, Jan 410 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 235 Heller, Hermann 419 Hermeneutik – Aktualität 495 – aufklärendes Moment 11 – Begriff 7 ff. – im Verfassungsrecht 129 – juristische 87, 129 – Lebensbezug 495 – Objektivität einer juristischen 133 – philosophische 11, 129, 191, 235, 302, 340 – Schranken 9 f. hermeneutischer Zirkel 29, 272, 563 „herrschende Meinung“ 412 ff., 536 Hilfsgesichtspunkte, methodische 136 historische Auslegung 480 – s. a. im übrigen Auslegung Hobbes, Thomas 234, 306 Hochschulzulassungsrecht 60 Hoffmann, Gerd 86 Holismus – irrationaler 388 – semantischer 208 – unstrukturierter 351e, 384 Humboldt, Wilhelm von 210 f., 531 Hypertext 67b Ideologiekritik 268, 423, 495 Immanenz von Ethik, Politik und Zeit 549 Implementation 233, 552 Implikationen, politische in juristischer Arbeit 157 „in dubio pro libertate“ 130, 373, 394 Institution 127 institutionelle Garantie 49 institutionelles Denken im Verfassungsrecht 122, 127
689
Integrationslehre 299, 420, 423 Intension 235 – s. a. Begriff Intensionstiefe 183 intentio operis 342 f. Interessenabwägung – rechtspolitische 132 f. – vernunftrechtliche 136 Interessenjurisprudenz 155 Interpretation s. Auslegung, Konkretisierung Interpretationskonflikt 180 Interpretationsverbot 509 Interpretieren s. Verstehen Interpretieren als Ausüben von Macht 285 f., 413, 519 ff., 580 Intertextualität 67d Interventionsgarantie 49 Investitionsbegriff 235 Jeand’Heur, Bernd 15, 17, 33, 42, 49, 208, 226, 233, 248, 301, 312, 374, 397, 405, 454 Jellinek, Georg 419 Jerusalem, Franz W. 419 Jhering, Rudolf v. 78, 93, 154 Jouanjan, Olivier 11, 213, 219, 423, 554 Judiz 11, 538, 570, 573 Jurisprudenz – als Entscheidungswissenschaft 191 f. – als normative Geisteswissenschaft 269 – als Normativwissenschaft 191 f. – als praktische Wissenschaft 270 – Interessen- 299 – soziologische 298 – Wissenschaftscharakter 191 f. – s. a. Rechtswissenschaft Juristenausbildung 397, 482, 584 f. juristische Arbeitstechniken 498 juristische Begriffe – als Anknüpfungsbegriffe 204, 276 – als Signalbegriffe 204, 276 – Gebrauchsweise 480 – Zeichenwert 480 – s. a. Begriff juristisches Handeln 11 Justizsoziologie 495
690
8 Register
Kadi-Justiz 226, 433, 586 Kampf, semantischer 180, 190, 351f, g, 506, 535 – s. a. Praxis, semantische Kant, Immanuel 128 Kapitalismus 197 ff. Kasuistik 87, 183 Kaufmann, Erich 419 Kékulé, August von 578 Kelsen, Hans 75, 83, 153, 283, 384, 419, 423 f. Keynesianismus 235 Klarheit s. Eindeutigkeit, Normklarheit Klassenjustiz 121 Klausurtechnik 151 Koalitionsfreiheit 52 Koch, Hans-Joachim 235, 255, 351f, g Körperschaft des öffentlichen Rechts 335 Kollisionsproblem 392 Kollisionsregeln 494 Kommentarliteratur 399 Kommunikation 6, 202 ff., 219 f., 351 – Krise der 190, 208, 351 – s. a. Rechtsdiskurs Kommunikationsgeschichte 208 Kommunikationsmodell 205, 208 Kommunikationssituation, imperative 203, 495 Kommunikationssystem, imperatives 203 Kommunikationstechnik(en) der Rechtswelt 202 f., 220 f., 408, 526 Kommunikationstheorie 202 ff. Kommunistisches Manifest 200 Kompetenzkompetenz 222 Kompetenzverteilung 360 Kompetenzvorschriften 35, 130, 158, 356, 391, 492 Kompetenzzuweisung 103 Konflikt – gesellschaftlicher 513 f. – methodologischer 434 ff., 516, 551 Konkordats-Urteil 362 Konkretisierung (Normkonstruktion) 180 – Ablaufmodell 281, 549 ff., 570 ff. – als Gegenstand der juristischen Methodik 85 f., 248 ff., 293 ff., 467 ff., 475 ff. – Begriff 1, 3, 14 f., 273 ff., 281, 578
– der Rechtsnorm zur Entscheidungsnorm 259, 275 ff., 409 – Eingangsdaten 277 ff. – Grenze 304 ff., 516 ff., 526 – Makro-Aspekt 575 – Mikro-Aspekt 575 – sachbezogene 32 ff., 123 ff., 127 – Subjekt 8, 166, 182, 207, 282 ff. – Textstufen 257, 549 – und Anwendung 31, 90 – und Funktionsträger 19 ff., 86, 158 ff., 295, 496 ff. – und geltendes Recht 118 f., 428 ff. – und „Nachvollzug“ 276 – und Willensdoktrin 29 – von Grundrechten 89, 381, 391, 394 – Vorgang 1, 62, 162, 225, 235, 265, 278, 376, 391, 434, 494, 549 – s. a. Auslegung, Konkretisierungselemente Konkretisierungselemente (Elemente der Normkonstruktion, Entscheidungselemente) – aus dem Normbereich s. Normbereich – aus Fallbereich 397 ff. (s. im übrigen Fallbereich) – direkt normbezogene 408 ff., 494 – dogmatische 350 ff., 400 ff., 432 – gemeinschaftsrechtskonforme 428b, d, e, f – genetische 28, 67d, 352 ff., 360 ff., 361c – f, 440 ff., 477 – grammatische 24 ff., 29, 67, 67c, d, 95, 166, 350 ff., 351a–g, 445 ff., 477 f. – Gruppen 157 – historische 28, 67d, 360 ff., 361a, b, 477 ff. – Konflikte 433 ff. – lösungstechnische 400, 416 f. – methodologische 350 ff. – nicht direkt normbezogene 408 ff. – Rangordnung 26, 361d, 362, 429 ff., 494 – rechtspolitische 400 f., 403, 425 ff. – richtlinienkonforme 428b ff. – systematische 24 ff., 67d, 351e, 365 ff. – Theorie-Elemente 418 ff. – verfassungspolitische 425 ff. – Wirkungsmodi 431 f. – s. a. Auslegung, Canones, Narrative Rechtstheorie, Rechtsvergleichung
8 Register Konkurrenzproblem im Verfassungsrecht 392 Konsens s. Arbeitskonsens, Ergebniskonsens Konstitutionalität 291 f. Konstruktivismus 235 Kontexte, Unendlichkeit der 180, 505 f., 528 Kontinuität 105 Kontrollierbarkeit – als Aufgabe juristischer Methodik 2, 131 f., 428 – der Rechtsarbeit des Juristen 110 f., 428, 496 ff. – und Topik 115 – von Rechtspraxis und Wissenschaft 158 ff. Kraus, Karl 526 Kreislauf der Rechtsverwirklichung 2, 157, 158, 474, 512 Kreislauf von Sein und Sollen 84 Kriegskommunismus 200 Kriele, Martin 105, 132 ff., 267, 273, 407, 416, 427, 539 ff. Kritischer Rationalismus 301, 566 ff. – s. a. Falsifikationismus Kudlich, Hans 160, 191, 224, 256, 301, 506, 526 Kunstfreiheit 42, 67c, 70, 236 Laband, Paul 75 ff., 84, 93, 154, 265, 303, 470 Laclau, Ernesto 200 Ladeur, Karl-Heinz 225, 557 Landesverfassungsgerichte s. Rechtsprechung der Laplacescher Dämon 190 Larenz, Karl 84, 108, 115, 135, 142 f., 226, 230, 252, 310, 358, 370, 429, 442, 452 Laudenklos, Frank 115, 191, 241, 248, 274, 281, 291, 310, 312, 397, 526, 558, 578 Laun, Rudolf v. 419 Lautstruktur 210 „law in action“ 131 Lebach-Urteil 40 Legaldefinition 526 Legalität – der Verfassungsordnung 292, 454 – Strukturen und Funktionen 291 f. – von Gesetzesrecht 389 Legislative 102, 118, 352 Legitimierbarkeit 4
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Legitimierungsstruktur 294 Legitimität – der Entscheidung 185 – der Verfassungsordnung 67f, 291 ff., 454 – des Verfassungsstaates 20, 505 ff., 516, 539, 581 – durch Begründung 142, 145 – Gebot 105, 569 – Strukturen und Funktionen 291 f. Leistungsklage 320 Leitsatz 215, 227, 267, 296, 359, 498, 512, 573 lex ante casum 14, 471 f. lex imperfecta 245 lex in casu 471 f. lex postum casum 472 Lexikologie 351d Linguistik 3, 212 f. – s. a. Sprachwissenschaft Literaturwissenschaft 339 ff. Locke, John 234 Lösungsalternativen 380 Lösungstechnik 282, 416 ff., 458 ff. Logik – formale 350, 396 – moderne 230 – traditionelle 230 Lücke 107 f., 144, 146, 371, 451 ff. Lüth-Urteil 65 Luhmann, Niklas 182, 200, 213, 275, 281, 291, 310, 397, 463, 555, 569, 587 Lukács, Georg 198 Mainstream-„Methode“ 534, 536 – s. a. Praktikermethode Mandado de Injunção (verfassungsrechtliche Verpflichtungsklage) 247 Mannheim, Karl 20, 498 Markt, kapitalistischer 197 Marx, Karl 195 ff. Maßstab integrierender Wirkung 382, 425 Maus, Ingeborg 205 f., 236, 281, 499, 558 Meinung 469 – s. a. Argument – Meinung, Normtext; Normtext, Geltung Meinungsfreiheit 40, 67c Mendelejew, Dimitrij 578 Menschenwürde 42
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8 Register
Mephisto-Beschluß 42, 70, 131 Meta-Methodologie, Fragen einer 555 ff. Metaphern in der Rechtswissenschaft 153, 248 Metasprache / Objektsprache 24, 243 Methodenbezogene Vorschriften s. Norm Methodendualismus 269, 419 Methodenehrlichkeit 427, 534, 536 ff., 555, 571, 578, 580 ff. Methodengleichheit 406, 544, 581 ff.; und S. 13 Methodenklarheit 69, 71, 113, 136, 153, 220, 267 ff., 304, 384, 394, 428, 439 Methodenlehre – Begriff 6 – verfassungsrechtliche 154 – s. a. Methodologie Methodenmonismus 100 Methodensynkretismus 298 Methodik – als Auslegung von Sprachtexten 85 – als Entscheidungstechnik 275 – als Zurechnungstechnik 275 – Begriff 6, 466 – Eigenständigkeit juristischer 302 f. – Funktionen juristischer 4, 159 ff., 427, 456, 460 ff., 496 ff. – gesetzespositivistische 202, 248 – Grundlinien juristischer 466 ff. – juristische 2, 21, 131, 159, 359, 395, 410, 416 f., 428 – nach-positivistische 186, 483, 515, 534, 577 – sprachreflektierte 121 – und Funktionenlehre 158 ff. – und Kommunikationstheorie 202 – und Methodiken 499 ff. – und Normtheorie 157 – und Politik 21 – und Rechtspolitik 536 ff. – verfassungsrechtliche 87, 137, 151, 291, 311, 383 ff. – von juristischer Praxis und Wissenschaft 159 ff. – Voraussetzungen juristischer 5 f., 131 – s. a. Strukturierende Methodik Methodologie 303 – s. a. Methodenlehre
„Mißbrauchs“-Vorbehalt 73 – s. a. Grundrechtsmißbrauch Mitbestimmungs-Urteil 56 Mohl, Robert v. 78 Monetarismus 235 Montesquieu 286, 542 Montesquieu-Paradigma 506 Moor, Pierre 191, 226 Moralphilosophie 559 ff. Morris, Charles William 213 Mouffe, Chantal 200 Nachpositivistische Rechtstheorie s. Methodik, nachpositivistische Nachvollzug 14, 24, 29 Namenstheorie der Bedeutung 208 Narrative Rechtstheorie 274, 361b Naßauskiesungs-Entscheidung 55 Natur der Sache 32, 34, 47, 99, 123 ff., 363, 375, 380, 429 Naturrecht 142, 198 Naturwissenschaft 6, 567 f. Nawiasky, Hans 419 Neopositivismus 274 Neue Medien 535 Neue Ökonomische Politik 200 Neuner, Jörg 108, 143 ff., 148, 526 Neves, Marcelo 503 „Nichtstörungsschranke“ 70 Niedersächsisches Landesrundfunkgesetz 237 Nietzsche, Friedrich 285 Nötigung, Strafbarkeit 322 ff. Norm – als logische Falle 282 – methodenbezogene 100 ff., 430 (s. v. a. auch Rechtsstaat, normative Gebote und S. 13) – Nichtidentität mit Normtext 114, 136, 238, 306 – positivistische Gleichsetzung mit Normtext 85 – sprachliche Gestalt 384 – Struktur 358 – und Faktum 131 – und Fall 136, 248, 258 ff., 470 ff. – und Normativität 112 – wertausfüllungsbedürftige 136 – s. a. Rechtsnorm
8 Register Normadressat 17, 158, 161, 228 normative Kraft der Verfassung 393, 425 normative Kraft des Faktischen 423, 557 Normativität 185 – als Gegenstand der juristischen Methodik 224 ff., 298 ff. – als strukturierbarer Vorgang 225 ff., 276, 549 ff. – Begriff 16, 36, 131, 156, 165, 191, 225 ff., 305 ff., 471, 541 – und Bindung an das Gesetz 422 – und verfassunggebende Gewalt 293 ff. – von Sprachregeln 351e Normativwissenschaft s. Entscheidungswissenschaft Normbehandlung 136 Normbereich – als Konkretisierungselement 38, 42 f., 48 f., 67f, 397 ff., 432 – als sachliche Begrenzung 70 – Analyse 48, 53, 55, 66, 67e, 139, 235 ff., 241, 375, 421, 432, 473, 481 ff. – Begriff 16, 230 ff., 235 ff., 481 ff. – in der Redeweise des Bundesverfassungsgerichts 41, 67e, 237, 281, 492 – nicht-rechtserzeugt 42, 233 – rechtserzeugt 204, 233 – Struktur s. Normstruktur – und Handlungssatz 175 – und Institution 127 – und Natur der Sache 126 – und Rechtspolitik 137 ff. – und Savigny 93, 239 – und Vorverständnis 420 f. – Veränderung s. Normwandel, Sachbereich – von Generalklauseln 490 – von Grundrechten 38 ff., 61 ff., 233, 365 – s. a. Fallbereich, Sachbereich Normbestimmtheit 136 Normbetroffener 161 Normbild, positivistisches 121 Normendurchdringung, vertikale 104 Normenkontrolle 72, 100, 103, 157 Normerstreckung 453 Normhypothesen 86, 99, 132 ff. Normklarheit 17, 71, 78, 89, 113, 163, 165, 301, 304, 306, 351 f., 365, 394, 428, 439, 454 – s. a. Bestimmtheitsgebot
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Normkonkretisierung (Normkonstruktion) 3, 48, 118, 126, 131, 136 ff., 258, 277 ff., 281 ff., 477 ff. – und Handlungssatz 175 – s. a. im übrigen Konkretisierung Normlogismus 420, 423 f. – s. a. Reine Rechtslehre Normmodell, positivistisches 403 Normprogramm – Begriff 16, 38, 44 ff., 56, 85, 93, 126, 131, 162, 230 ff., 233 ff., 546 ff. – und Normbereich 230 ff. – s. a. Normtext, Rechtsnorm, Rechtsnormtheorie Normprogrammgrenze 312, 337 ff., 347, 448, 480, 516 ff., 526 ff. – s. a. Wortlaut, Wortlautgrenze Normsetzung 133, 157, 375, 399 Normstruktur – Analyse 111, 156 – Konzept 139, 225, 403 – nicht gleich Normtextstruktur 156 – Typologie 98, 240 ff., 354 ff. – und Handlungssatz 175 – und Normativität 113, 396 Normtext 162, 166, 175 ff., 185 ff., 351 – Adressat 17, 158, 191, 226, 305 f., 322 – als Ausgangspunkt 26 – als Eingangsdatum der Fallösung 15, 226, 275 ff. – als Rahmen 177 – als Zeichenkette 235, 325, 505 ff., 516 ff., 529, 531 ff. – Begriffsgeschichte 381 – Bestimmungswirkung 308, 312 – Bindung an 114 f., 119, 305 ff., 347, 526 ff., 531 ff. – Eindeutigkeit 67c, 234, 251 – Erzeugen von 157 – Geltung 17 f., 469 – Grenzfunktion 26, 121, 156, 311, 318, 336, 353, 436, 439, 480 – Hypothesen von 235, 259, 278 ff., 284, 416, 450, 572, 577 – in der Redeweise des Bundesverfassungsgerichts 26, 67c, 281, 306 – Indizwirkung 308, 312, 315, 359 – numerischer 86, 156, 309, 480
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8 Register
– – – – – – – – – –
„ohne Sachbereich“ 246 Polyfunktionalität 305 f. Referenz 208, 231 Revision von 157 Setzen von 4, 21, 110, 151, 160 Signalwirkung 204 ff., 231 Sprachgestalt des 165 sprachliche Anforderungen an 182, 234 Systematik von 362 Unterschied zu Rechtsnorm 136, 156, 162, 204, 214, 248 ff., 276, 313 – Vagheit 241, 351f – zeichentheoretisch 186 – zweifache Aufgabe 165 – s. a. Auslegung, Konkretisierungselemente, grammatische; Normprogramm, Rechtssatz, Semantik, Wortlaut Normtextsetzung 175 Normtheorie, verallgemeinerungsfähige 499 Normtypen 86, 131, 354, 396 Normumsetzung 157, 159 Normverständnis, gesetzespositivistisches 240 Normverstoß 21 Normverwirklichung 21 Normvorbilder 359 Normvorläufer 359 Normwandel 33, 35, 525 Normwortlaut s. Wortlaut Normzweck 93 f. Notstandsvorschriften 387 numerische Tatbestandsmerkmale s. Normtext, numerischer Obersatz 29, 84 „Objektive Theorie” 27, 208, 263, 340, 362, 442 ff., 493 f. Objektivität 6, 105, 269 ff. Objektsprache 24 Obrigkeitsstaat 198, 220 Öffentlich-rechtliche Verbände 52 f. Ökonomie, politische 11 Ontologie von Ereignissen 171 Oppenheimer, Franz 419 Ordnung, soziale 5 Ordnungsmodell – rechtliches 226
– sachgeprägtes 48 (s. a. Normbereich, Rechtsnorm, Rechtsnormtheorie) Paktentheorie 361 Pandektenwissenschaft 265 pandektistisches Willensdogma 29 Parlamentarischer Rat 27, 360 Parteien, innere Demokratie 236 Parteienfinanzierung 40, 449 ff. Pašukanis, Eugen 197 ff. Pauly, Walter 479, 578 Pieroth, Bodo, 49, 226, 255, 281, 402, 405, 580 Plan 234 Plausibilität s. Vertretbarkeit „political question“-Doktrin 130 Politik – als Sachelement 77 f. – demokratische 200, 220 – immanente 549 – und juristische Methodik 420 f., 425, 494, 498 Politische, das 121, 200 politisches System 121, 157 Politökonomie, Marxsche 198 Polyfunktionalität s. Normtext (Adressat) Polysemie s. Normtexte, Sprache Popper, Karl R. 301, 559, 566, 577 Positivismus s. Gesetzespositivismus Post-analytische Philosophie 235 Post-Marxismus 200 Post- und Fernmeldegeheimnis 53, 70 Präferenzregeln, methodische 457 Präjudiz 132, 142, 193, 539 ff. – s. a. Fallrechtsordnung präskriptiv 541 Pragmatik juristischen Text-Handelns 192, 208, 213, 351f, 506 ff., 554, 578 „pragmatische Wende“ 210 ff., 215, 340 – s. a. Linguistik; Praxis, semantische; Semantik, Sprachwissenschaft Pragmatismus der Rechtsprechung 151 Praktikabilität 363, 380 Praktikermethode 151 f., 410, 414 f., 536, 560, 580 ff. – s. a. mainstream-„Methode“ praktische Konkordanz 130, 392
8 Register praktische Semantik 212 – s. a. Linguistik; Praxis, semantische; Semantik, Sprachwissenschaft Praxis – juristische 161, 209 – rechtsstaatliche 401 – semantische 141, 191 f., 207 f., 250, 361, 506, 519 ff., 526 ff., 531 ff., 554, 556 – s. a. Linguistik, Sprachwissenschaft „preferred freedoms“-Doktrin 130 Pressefreiheit 40, 67 Prinzip und Regel 141 Prinzipien 140 f. Prinzipien der Verfassungsinterpretation s. Verfassungsinterpretation, Prinzipien Problemachse Norm-Fall 474 – s. a. Norm Problemachse Norm-Wirklichkeit 474 – s. a. Norm Problemdenken s. Topik Produktionsverhältnisse, kapitalistische 197 „Programmsätze“ 243 ff. Prototypen 84, 351 Prototypensemantik 351g Prüfungsrecht, Rechtsprechung zum 60 Pseudo-Normtext 108 – s. a. Quasi-Normtext Puchta, Georg Friedrich 93 Purismus 79 Quasi-Normtext 108 – s. a. Pseudo-Normtext Quine, Willard Van Orman 166 ff. Radbruch, Gustav 505 Rationalität – als Aufgabe der juristischen Methodik 2, 5, 67e, 85, 87, 105, 132, 213, 219, 234a, 257, 268, 270, 301, 351, 552, 587 – als praktisches Ablaufmodell 428 – funktionelle 20, 498 – philosophisch-abstrakte 257 – rechtsstaatlich geforderte 67e, 299, 351, 426, 539 ff., 548 ff. (s. a. Rechtsstaat, normative Gebote) – substantielle 20 Realdaten 13, 37, 42 ff., 55, 235, 397, 403 f., 438, 466, 485, 530
695
– und Moral 561 – s. a. Normbereich Realismus und Konstruktivismus 235 Recht – als Beschreibungssystem 172 – als Gegenstand 142, 351 – als Instrument der Sozialsteuerung 121, 200 – als Instrument von Herrschaft 220 – als lückenloses System 153 – geltendes 17, 281, 306, 469 (s. a. Geltung, Normativität) – positives 76 ff., 87, 219, 275, 306 – rechtsstaatliches 142, 220 – und Moral 561 – und Wirklichkeit 84, 90, 126, 131, 548 ff. „Recht des Stärkeren“ 2, 152 rechtliches Gehör 222b, c, d Rechtsanwendung 153, 204, 230, 276 Rechtsanwendungslehre, positivistische 153 Rechtsarbeit – Begriff 11 ff., 428, 433, 443 – juristische Methodik als Instrumentarium 11, 138, 298 ff., 496 ff. – normative Elemente von 279, 285, 288, 454, 526 – praktische 190, 375, 395 – Rationalität 401 – s. a. Auslegung, Konkretisierung, Lösungstechnik, Normsetzung Rechtsarbeiter 85, 215, 232, 280 ff., 284 ff., 584 Rechtsbefehl 118, 232 Rechtsbegriff, unbestimmter 67d Rechtsbegriffe 67d, 81 ff. Rechtschreibreform 351d Rechtsdiskurs 506 ff., 511 ff., 517 ff., 525 – Disziplinierung des 413, 506 ff., 511 ff., 530 – primär bzw. sekundär diskursive Vorgänge 523 f. Rechtserkenntnismodell 143, 147 Rechtserkenntnisquelle 153, 400 Rechtserzeugung als strukturierter Vorgang 470 ff. Rechtserzeugungsreflexion 214, 274, 347, 471
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8 Register
Rechtsetzung s. Gesetzgebung, Gesetzgebungslehre, Normsetzung Rechtsfindung s. Auslegung, Konkretisierung, Rechtsfortbildung Rechtsform – bürgerliche 199, 297 – materialistische Kritik 195 ff. Rechtsfortbildung 97, 105, 147, 451 Rechtsgeschichte 3, 369 – s. a. Auslegung, historische Rechtsgewinnung s. Auslegung, Konkretisierung, Rechtsfortbildung Rechtsinformatik 240 Rechtskonkretisierung s. Konkretisierung Rechtskraft 512 ff., 521 ff. Rechtsnorm – abstrakte und generelle 230 ff., 549 – als imperatives Kommunikationssystem 202 f. – Erzeugung 86, 118, 192, 275, 306 f., 374 – Konstruktion 118, 374 – Strukturmodell 156, 281 – Typologie 240 ff. – und Fall s. Norm – und Handlungssatz 175 – und Legitimität 294 ff., 306, 554 – und Wirklichkeit s. Norm – Unterschied zu Entscheidungsnormen s. Entscheidungsnorm – Verbindlichkeit 113 f., 429 ff. – s. a. Norm, Normativität, Normbereich, Normprogramm, Normstruktur, Normtext Rechtsnormtheorie 3, 9 ff., 67c, 90, 126, 132 f., 136, 157, 175, 203, 215, 249, 303, 483 Rechtsordnung – als geschlossenes System 96, 145, 383 ff. – als Kommunikationssystem 202 f. – archaische 159, 295 ff., 513 – bürgerliche 198 – der europäischen Neuzeit 194, 296 f., 514 ff., 539 – Sprachlichkeit 219 ff. – Textstruktur 221 – s. a. Konkretisierungselemente, systematische Rechtsphänomenologie 423 Rechtsphilosophie 131
Rechtspolitik 135, 137 ff., 398, 425 ff., 535 ff. – s. a. Konkretisierungselemente, rechtspolitische Rechtspositivismus s. Gesetzespositivismus Rechtsprechung – Änderung der 322, 328, 521 ff., 525 – als Gegenstand juristischer Methodik 158, 161, 586 f. – der Landesverfassungsgerichte 23, 425 – der Verwaltungsgerichte 35 – des Bundesarbeitsgerichts 428 f. – des Bundesgerichtshofs 123, 428d, f – des Bundesverfassungsgerichts 23 ff., 50 ff., 102 ff., 235, 380, 385 f., 392 ff., 587 – des Bundesverwaltungsgerichts 54, 61, 428f – des Europäischen Gerichtshofs 428a ff. Rechtsquellen 93, 387, 400 Rechtsquellenlehre 352, 356 Rechtssatz 95, 263, 318, 375, 431, 467 Rechtssicherheit 27, 70, 72, 89, 113, 120, 128, 164, 177, 311, 394, 439 Rechtssoziologie 201, 423 Rechtsstaat – bürgerlicher 199 – demokratischer 220, 520, 543 ff. – Formalität 200, 483 – liberaler 290 – materieller 220 – Modell eines freiheitlichen 127 – normative Gebote 6, 89, 137, 225, 300 f., 311, 384, 439, 454, 540, 565 – Rationalität 20, 257, 295 f. – (sprach)reflexiver 213, 299, 471 – Textstruktur 108, 221 – und Grenzfunktion des Wortlauts s. Wortlautgrenze – s. a. Kontrollierbarkeit, Rationalität Rechtsstaatsprinzip 67c – e, 163 Rechtstatsachenforschung 33 Rechtstheorie – als Theorie des Rechts 157 – marxistische 195 ff. – nach-positivistische s. Methodik, nachpositivistische – Typus von 157 – und juristische Methodik 157
8 Register – s. a. Konkretisierungselemente, Theorieelemente, Rechtsnormtheorie Rechtsvergleichung 3, 140, 349, 369 Rechtsvernunft 135 Rechtsverweigerungsverbot 223 Rechtsverwirklichung s. Konkretisierung, Kreislauf, Rechtsarbeit Rechtswissenschaft – als Konkretisierungselement 400 ff. – als praktische Normwissenschaft 131 – als Rechtserzeugungsreflexion 274, 471 – Arbeitsweise 160 f. – des 19. Jahrhunderts 29 – Hauptaufgaben 160 – Rationalität und Objektivität von 136 – rhetorische 2, 299 Redaktionsversehen 67c, 310 référé législatif 509 Referenz 48, 208, 406, 506, 534 Regeln – Begriff 213 – semantische 190, 211, 213, 256, 351e – sprachliche 211 – und Anwendung 184 Regelplatonismus 210 ff., 213 Regelskeptizismus 554 Regelungsbereich 482 Regelungstechniken, gesetzgeberische 183 Regierung 23, 159 Reine Rechtslehre 83, 419, 423 – s. a. Normlogismus Relativität, ontologische 171 Religionsausübung 39 Renner, Karl 199 Repräsentationsmodell 208, 433 Rhetorik 2, 115, 151 f., 536, 571, 580 ff. – s. a. Topik Richter, Bindung des 149, 183 Richterrecht – contra legem 107 – im Verfassungsrecht 99, 105 ff., 379 – methodologische Seite 108 – normative Seite 108 – praeter legem 107 – rechtstheoretische Seite 108 ff., 296
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Rousseau, Jean-Jacques 121 Rundfunkfreiheit – fünfte Rundfunk-Entscheidung 41, 235 – neue Kommunikationsdienste 41 – Normbereich 235, 237 f. Sachbereich 16, 38, 44 f., 85, 131, 157, 175, 235 f., 238, 278 ff., 284, 310, 318, 397, 437 f., 468, 482, 491, 501, 544 ff., 577 – in der Redeweise des Bundesverfassungsgerichts 67e, 175, 281, 492 – s. a. Fallbereich, Normbereich Sachelemente – grundrechtliche 61 – in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 31, 281 – und juristische Methodik 131 – von Grundrechten 36 f. – s. a. Normbereich, Sachbereich Sachlogik 396 Sachverhalt 16, 86, 134, 208, 226, 235, 281, 285, 337, 359, 437, 467 f. Salomo, König 288, 440 Satz vom unzureichenden Grund 181 Saussure, Ferdinand de 515, 531 Savigny, Friedrich Carl v. 33, 77 f., 87 ff., 123, 131, 151, 154, 239, 252 f., 265, 300, 308, 311, 375, 429, 470, 475 f., 582 f. Schallplatten-Urteil 265, 442, 494 Schlink, Bernhard 577 ff. Schmitt, Carl 192, 262 ff., 384, 419, 422 f. Schneider, Ludwig 64, 118 Schrankenübertragung 70 Schriftlichkeit des Rechts 219 ff., 505 ff., 517 ff., 530, 563 Schroth, Ulrich 361, 433 Schutzbereich 482 Schutzengel aller heiligen Texte 190 Seibert, Thomas-Michael 2, 15, 112, 115, 150 f., 166, 186, 209, 212, 299, 323, 512 Sein und Sollen 84 ff., 131, 423, 548 ff., 577 Selbstjustiz 306 Semantik 162, 208, 213, 255, 351f, g, 361, 503, 554 – verbindliche 18, 278, 305, 531 – vorläufige 18, 278, 305, 531 – s. a. Praxis, semantische; Kampf, semantischer; Normtext, Hypothesen von
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8 Register
Semiotik 213 Sendler, Horst 233, 483 „sens-clair-Doktrin“ 258 Sexualkunde-Beschluß 44 Signalfunktion 4 – s. a. Normtext Sittengesetz 125 Sitzdemonstration 322, 328, 521 f. Smend, Rudolf 384, 388, 419 Sobota, Katharina 2 Sokolowski, Michael 207 f., 312 Somek, Alexander 186, 483 Soraya-Entscheidung 2, 26, 86, 408 Sozialstaat 290, 544 Sozialsteuerung 157 Sozialverband 157 Sozialwissenschaft 3, 397, 474 Soziologie 398 – s. a. Rechtssoziologie, Sozialwissenschaft Soziologismus 260, 422 ff., 554, 558 Spanisches Verfassungsgericht, Rechtsprechung 23, 237, 544 Spezialität – von Einzelgrundrechten 35 – von Freiheitsrechten 62 – von Gleichheitsrechten 64 Spiel der Differenzen 474, 508 ff., 518 ff. Spinoza, Baruch 235 Spontandemonstration 50 Sprachauffassung der Juristen 167 Sprachdaten 13, 85, 232, 235, 312, 404, 482, 486, 530 ff., 548 ff. – s. a. Konkretisierungselemente, methodologische; Normprogramm Sprache 67c, 128, 208 ff., 219 f., 253, 351, 474, 505 ff. – zweifache Unbestimmtheit der 166, 234, 351f – s. a. Gewalt und Sprache Sprachgebrauch 210, 311, 323 ff., 351 – s. a. Gebrauchsbeispiele Sprachkritik 209 f. Sprachnormkonflikt 351 Sprachpsychologie / Kognitionswissenschaft 212 (Sprach)reflexiver Rechtsstaatsbegriff 121, 213, 299, 471 Sprachregel 141, 351e
Sprachspiel 141, 208, 495, 535 Sprachsystem 215, 515, 519 Sprachverständnis, dinglich-ontologisches 208 Sprachwissenschaft 67, 210, 235, 339 ff., 351d, 474, 505 ff. – s. a. praktische Semantik; Praxis, semantische Sprechakttheorie 24 Sprecher 211 f. Staatskirchenrecht 335 Staatslehre – frühpositivistische 265 – marxistische 200 Stabilität 105 Standards 241, 318, 356, 587 Standgerichte, Verbot von 296, 306 Stegmüller, Wolfgang 178 Stein, Ekkehart 236 Stereotypen 84, 351g Stereotypensemantik 351g Strafrecht 3, 72, 154 f., 278, 322 f., 526, 535 Struktur, Zentrum der 149 Strukturalismus, linguistischer 210, 340 Strukturelle Koppelung 145 Strukturierende Dogmatik 9, 403 ff., 411 Strukturierende Methodik 3, 76, 121, 126, 151, 298 f., 411, 444, 496, 503, 536 ff., 548 ff., 587 Strukturierende Rechtslehre 76, 118, 141, 205, 208, 213 ff., 254 ff., 273, 284, 443 f., 470 ff., 502, 515, 548 ff., 587 – s. a. Verfassungstheorie Strukturierende Rechtsnormtheorie 11, 126, 131, 411 – und Wissensgesellschaft 397 Stučka, Pjotr 200 Subjekt, interpretierendes 8, 207 f., 282 ff. „Subjektive Theorie“ 361d, 362, 442 ff., 494 Subnormtexte, Setzung richterrechtlicher 316 Subsumtion – „Anwendungs“logik 142 – in der wissenschaftlichen Literatur 87 f., 192 – und Gesetzespositivismus 29, 82, 84, 90, 118, 135 f., 503, 505 – und Kommunikationstheorie 202 f.
8 Register – und Vorverständnis 260 – Verwendbarkeit 90, 154 f., 308 f. – s. a. Syllogismus Südweststaats-Urteil 385 Supplement 142 Syllogismus 14, 24, 29, 80, 274, 282 – s. a. Subsumtion Syntaktik 213 System – als lückenloses 81 – Begriff 77, 90, 112, 149 – des geltenden Rechts 77 – „offenes“ 112 Systematik – zweiter Ordnung (= der Entscheidungspraxis) 365 – s. a. Auslegung, systematische; Konkretisierungselemente, systematische Talmud 177, 441 Tatbestand – analytische Theorie des 168 ff. – Lehre vom gesetzlichen 202 Tatbestandsbestimmtheit 78, 113, 163, 384, 428, 439 Tatsache, übermäßige 178 Tauschwert 197 Telefonbuch „und Gesetzbuch“ 166 Teleologie 364 – s. a. Auslegung, teleologische Termini, rechtliche 116 Text – anordnender 219 ff. – Arbeit am 11, 206 f., 215, 256, 534 – Eigenschaften des 166, 534 – Gravitationszentrum von 207, 505 ff. – rechtfertigender 219 – sprechender 214 – Vollständigkeit 156 – s. a. im übrigen Normtext Text-Äußeres 508 ff., 519 Textarbeit, juristische 337 ff., 528 ff. Textformsystematik 96 Textformular 187, 210, 305, 307, 531, 534 Textkohärenz 340 ff., 344 Textlinguistik 235 Textproduktion 539 Textreferenz 539
699
Textstruktur der Rechtsordnung 158, 219 ff., 257, 509 ff., 520 ff. Textstufen 549 Theorie der Praxis 536 ff. Theorie der Sprachhandlung 212 Topik 112, 115 f., 118 ff., 121, 155, 205, 299, 310, 379 – s. a. Rhetorik Typus, Lehre vom 230 f. Udke, Gerwin 214, 499 Übergangsgesellschaft 199 Übermaßverbot 386 Umgangssprache 394, 433, 538 – s. a. Alltagssprache Umkehrschluß 371, 452 Unabhängigkeit der Richter, Bundesverfassungsgericht zur 542 Unbestimmtheit – der Sprache 166 – der Übersetzung 166 – des Rechtsbegriffs 67d Unverbrüchlichkeit der Verfassung 439 Unversehrtheit, körperliche 39 Urteilskritik 397 Urteilsstil, Urteilstechnik 151, 586 Urteilstenor 16 Urteilsvorbehalt 66 Valéry, Paul 442 Verdinglichung – positivistische 93 – von Rechtsvorschriften 81 ff. Vereinigungsfreiheit 52 Verfahren, rechtsstaatliches 180, 183 Verfassung – als Kontrollnorm 31 – als Sachnorm 31 – als Werteordnung 377 – als Wertsystem 377 – Einheit 31, 383 ff. (s. a. Verfassungsinterpretation, Prinzipien) – Formstrenge 454 – Gesetzesform 98 – normative Kraft der 130, 158 – rechtsstaatliche Klarheitsgebote 454 (s. a. Rechtsstaat, normative Gebote) – „rigide“ 71
700
8 Register
– Textstrenge 454 – Wille zur 158 verfassunggebende Gewalt 293 ff. Verfassungsaktualisierung 158 Verfassungsauftrag 247 Verfassungsbewegung, liberale 290 Verfassungsbindung 312, 384 Verfassungsform 292 Verfassungsgerichtsbarkeit 103, 289 ff., 472, 587 – Prüfungsumfang 67c–e – s. a. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Verfassungsgewohnheitsrecht 156, 352 ff. Verfassungsinterpretation – als „Postulat der praktischen Vernunft“ 128 – als praktische Verfassungstheorie 129 – als Verwirklichung von Autonomie 128 f. – Prinzipien 122, 130 f., 350, 376 ff. – Überblick 376 f. verfassungskonforme Auslegung 31, 100 ff., 103 f., 130, 352, 377, 430 Verfassungskonkretisierung s. Verfasssungsinterpretation, Konkretisierung Verfassungslehre 418 Verfassungsordnung – Legalität und Legitimität 294, 454 – normativer Gehalt 135 – vertextete 454 Verfassungsrecht – Aufgabe 291 f. – Besonderheit 91, 95 f., 118, 291 – Bindung 113 ff., 118, 426 ff. – Formtypik 98 – Lücken 451 ff. – Strukturen und Funktionen 291 f. – und Gesetzesrecht 100 ff. – s. a. Grundrechte Verfassungsstaat – der europäischen Neuzeit 199, 291 f. – Formalität 200 – Legitimität 20, 292, 313 – liberaler 498 Verfassungstheorie – Richterrecht 105 ff. – und Grundrechtseingriffe 70
– und juristische Methodik 151, 399, 479, 512 ff., 555 – und Prinzipien der Verfassungsinterpretation 130 – s. a. Konkretisierungselemente, Theorie Elemente, Vorverständnis Verfassungsverständnis 289 f. Verfassungswandel 34 – s. a. Normwandel Vergleich 528 Verhältnismäßigkeit 397 Verpflichtungsklage 320 Versammlungsfreiheit 50 f. Verständlichkeit von Rechtstexten s. Klarheit, Normklarheit Verstehen / Interpretieren / Arbeit mit Texten 11 ff., 161, 216 ff., 273, 528, 535, 554, 568 – s. a. Entscheidungsinteresse, Entscheidungswissenschaft, Rechtswissenschaft Vertretbarkeit der Entscheidung s. Entscheidung, vertretbare Verwaltung 23, 159 Verwaltungsgerichte s. Rechtsprechung der Verwaltungsrecht 335, 397, 428d, 452 f. Viehweg, Theodor 112 Virtualität, dreifache des Rechts 100, 535 Volksrecht 110, 121 – s. a. Amtsrecht Voluntarismus, rechtspolitischer 115 Vorbehalt des Gesetzes 296 Vorbehaltsgesetze 392 Vorverständnis 11, 129, 161, 268 ff., 273, 302, 355, 420 f., 495, 577 Waffengleichheit 180 – s. a. Verfahren, rechtsstaatliches Waldenfels, Bernhard 181 Ware 197 Warenanalyse 198 Weber, Max 126, 269 „Wechselwirkung“ 392 Weimarer Reichsverfassung 243 ff., 360 Wertabwägung 89, 140, 392 – s. a. Güterabwägung Wertfreiheit in der Rechtswissenschaft 269 Wertordnung 35, 65, 87, 89, 143, 291 – s. a. Wertsystem
8 Register Wertphilosophie 82 Wertsystem 62, 64 ff., 87, 89, 291 – s. a. Wertordnung Wertung 11, 64 ff., 268 ff., 364 Wertungsjurisprudenz 143, 155 Willensdoktrin 29, 262 ff., 361d, 442 ff., 505 Willkürverbot 32 Windisch, Florian 3, 521, 539, 549 Wirklichkeit 10, 32, 34 f., 53, 84, 90, 132, 226, 351 – s. a. Sachelemente Wirklichkeitsmodell 124, 235, 238 Wissenschaften, textbezogene 339 ff. Wissenschaftsfreiheit 43 Wissenschaftstheorie 301, 567 ff., 579 Wissensgesellschaft 396 Wittgenstein, Ludwig 170 ff., 208 ff., 280, 345, 474, 495, 531 Wörterbuch 351d – s. a. Lexikologie Wohlrapp, Harald 257 Wortlaut 162 – s. a. Konkretisierungselemente, grammatische; Normtext Wortlaut zweiter Ordnung 359a, 365 „Wortlautgrenze“ – als Normprogrammgrenze 318, 448, 480, 516 ff., 526 ff.
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– – – –
Begriff 323, 526 Eigenart 312, 526 Überschreitung 320 ff., 526 ff. s. a. im übrigen Konkretisierungselemente, grammatische; Normprogramm, Normtext Wortsemantik 208, 235 Wortsinn 351a – als vorgegebener Inhalt der Norm 323, 351b – möglicher 310, 312 – s. a. Konkretisierungselemente, grammatische; Normtext Zachariä, Heinrich A. 78 Zeit(lichkeit) 549 Zirkelschluß 361a, 372 f. Zivilrecht – Methodik 233, 241, 397, 499 ff. – und herkömmliche Auslegung 78, 151 – und marxistische Rechtstheorie 200 – und Topik 115 Žižek, Slawoj 236 Zöbeley, Günter 70 Zukunftsgesellschaft, kommunistische 199 Zurechnungstechnik 4, 498 Zwangsvereinigung 52 Zweckmäßigkeitserwägung 363, 375