Jugend und ihre Sprache: Darstellung - Materialien - Kritik [1986 Reprint 2010 ed.] 9783110862553, 9783110109672


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German Pages 399 [400] Year 1995

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Table of contents :
Vorwort
Motti
1. Jugend, Sprache und Geschichte - eine Hinführung zum Thema
2. Musik - „Sprache" der Jugend
3. Texte und Materialien zur Musik der Jugend
3.1. Der Zupfgeigenhansl 1908 ff
3.2. Die Jugendmusikbewegung 1919 ff
3.3. Rock'n'Roll, Beat und Rock
3.4. Musik-Szenen
4. Jugendsprache 1982
4.1. Zur Fragebogenaktion
4.2. Ein einzelner Fall
5. Jugendsprache 1982: Klassenaspekte
5.1. ,Freund' und ,Freundin': Bezeichnungsvielfalt und Verletzungsprobleme
5.2. ,Begrüßungen' und ,Abschiede': Leitformen, Vielfalt und Regionalismen
6. Jugendsprache 1982: Namenwelt, Lautwörterkommunikation und „Sprüchekultur"
6.1. Über-, Spitz- und Phantasienamen
6.2. Lautwörterkommunikation
6.3. „Sprüchekultur"
7. Interviews — zögernde Annäherungen
7.1. Partnervokabular und Kosenamen
7.2. Die Jungen und die Alten und jugendliche Sprechweisen
7.3. Innenansichten
7.3.1. Verstärkung, Aufmerksamkeit, Unsicherheit
7.3.2. Vorgeformte Kurztexte („Spruchtexte") als Aufführung im Gespräch
7.3.3. Variable Bedeutung des Wortschatzes
8. Schulwortschatz
9. Jugendsprache in den Medien
10. Theorie der Jugend und jugendliche Gruppensprachen
10.1. Jugend, Gruppe und Gruppensprache
10.2. Zur Gruppensprache der Jugend: Sprechformen und Strukturen
10.3. Inhaltliche Bereiche und ein Modell der „Jugendsprache"
11. Sprachforschung und Sprachkritik: Jugend — der Stein des Anstoßes
11.1. Sondersprache, Gruppensprache und innere Mehrsprachigkeit des Deutschen
11.2. Forschungen zur Jugendsprache nach 1945 — Irritation und Gewißheit
11.3. Sprachbewertung, Sprachkritik und kritische Sprachwissenschaft
Literaturverzeichnis
Texte und Zeichen
Wortregister
Sachregister
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Jugend und ihre Sprache: Darstellung - Materialien - Kritik [1986 Reprint 2010 ed.]
 9783110862553, 9783110109672

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Helmut Henne · Jugend und ihre Sprache

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Helmut Henne

Jugend und ihre Sprache Darstellung Materialien Kritik

Walter de Gruyter · Berlin · New York 1986

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei - pH 7, neutral)

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ClP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Henne, Helmut: Jugend und ihre Sprache : Darst., Materialien, Kritik / Helmut Henne. - Berlin ; New York : de Gruyter, 1986. ISBN 3-11-010967-0

© Copyright 1986 by Walter de Gruyter & Co., Berlin 30. Printed in Germany. Alle Rechte des Nachdrucks, der photomechanischen Wiedergabe, der Herstellung von Photokopien — auch auszugsweise — vorbehalten. Satz: Arthur Collignon GmbH, Berlin. Druck: Werner Hildebrand, Berlin. Buchbindearbeiten: Lüderitz & Bauer, Berlin.

Inhalt Vorwort

VII

Motti

IX

1. Jugend, Sprache und Geschichte — eine Hinführung zum Thema

l

2. Musik — „Sprache" der Jugend

26

3. Texte und Materialien zur Musik der Jugend 3.1. Der Zupfgeigenhansl 1908 ff 3.2. Die Jugendmusikbewegung 1919 ff 3.3. Rock'n'Roll, Beat und Rock 3.4. Musik-Szenen

37 37 43 47 55

4. Jugendsprache 1982 4.1. Zur Fragebogenaktion 4.2. Ein einzelner Fall

61 61 66

5. Jugendsprache 1982: Klassenaspekte 5.1. ,Freund' und ,Freundin': Bezeichnungsvielfalt und Verletzungsprobleme 5.2. ,Begrüßungen' und ,Abschiede': Leitformen, Vielfalt und Regionalismen

81 81 87

6. Jugendsprache 1982: Namenwelt, Lautwörterkommunikation und „Sprüchekultur" 96 6.1. Über-, Spitz- und Phantasienamen 96 6.2. Lautwörterkommunikation 104 6.3. „Sprüchekultur" 115 7. Interviews — zögernde Annäherungen 130 7.1. Partnervokabular und Kosenamen 130 7.2. Die Jungen und die Alten und jugendliche Sprechweisen 142

VI

Inhalt

7.3. Innenansichten 149 7.3.1. Verstärkung, Aufmerksamkeit, Unsicherheit 149 7.3.2. Vorgeformte Kurztexte („Spruchtexte") als Aufführung im Gespräch 150 7.3.3. Variable Bedeutung des Wortschatzes . . . . 152 8. Schulwortschatz

154

9. Jugendsprache in den Medien

185

10. Theorie der Jugend und jugendliche Gruppensprachen . 10.1. Jugend, Gruppe und Gruppensprache 10.2. Zur Gruppensprache der Jugend: Sprechformen und Strukturen 10.3. Inhaltliche Bereiche und ein Modell der „Jugendsprache" 11. Sprachforschung und Sprachkritik: Jugend - der Stein des Anstoßes 11.1. Sondersprache, Gruppensprache und innere Mehrsprachigkeit des Deutschen 11.2. Forschungen zur Jugendsprache nach 1945 — Irritation und Gewißheit 11.3. Sprachbewertung, Sprachkritik und kritische Sprachwissenschaft

201 201 207 212 216 216 221 227

Literaturverzeichnis

241

Texte und Zeichen

253

Wortregister

355

Sachregister

380

Vorwort Am Ende eines Weges, der zu Anfang viel kürzer schien, atmet man auf. Meine historisch und empirisch ausgerichteten Studien, die sich, über die Fachwelt hinaus, an eine breitere, sprachinteressierte Öffentlichkeit wenden, sind der qualitativen und interpretativen Methode verpflichtet. An die Stelle nicht einzuholender quantitativer Repräsentativität mußten interpretative Behutsamkeit und Erfahrung, historische und aktuelle, treten. Wie schwierig es ist, Gruppensprachen von innen zu erfahren, weiß jeder Kundige. Zu danken habe ich vielen. Den Jugendlichen zunächst und vor allem, die Auskunft gaben; den Lehrern an den Schulen, die mich leiteten; den Pädagogen in Jugendzentren, die mir den Weg wiesen. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat diesen Weg durch die Gewährung eines Forschungsfreijahres dankenswerterweise geebnet. Dr. Wilhelm Vesper (Neue Oberschule Braunschweig) hat mit mir zusammen eine Unterrichtseinheit in einer 8. und 11. Klasse zum Thema ,Vielfalt von Sprache' entworfen und durchgeführt; Dr. Bernhard Bock in Braunschweig hat mir in langen Gesprächen seine eigene Erfahrung mit der Jugendbewegung vermittelt; Heidrun Kämper-Jensen M. A. hat Teile der Fragebögen ausgewertet; Stefan Kleefeldt, Isa Schikorsky, Marlies Nowottnick, Gudrun Klingenberg, Olaf Schmidt und Birgit Richter haben, nach- und zum Teil miteinander, mehr als wissenschaftliche Hilfsarbeiten geleistet. Ihnen allen bin ich zu Dank verpflichtet, vor allem auch Ursula Wolf, die als Sekretärin nicht nur zur Herstellung des Typoskripts beitrug. Thomas H. und Anja H. waren — in gewisser Weise - „Experten". Das Interesse am Thema ist ihnen geblieben, wenn auch die Distanz größer wurde (aber das gehörte in eins der nachstehenden Kapitel

VIII

Vorwort

eingetragen). Dank auch ihnen, wie gleichfalls Prof. Dieter Cherubim in Göttingen, Prof. Sigurd Wichter in Münster und Dr. Helmut Rehbock in Braunschweig, die das Manuskript gelesen, vieles vermerkt und sehr vieles verbessert haben. Braunschweig, im Januar 1986

H. H.

Motto N. ,Denkspruch, Leitspruch' = ital. Motto, Plur. Motti gleicher Bedeutung, daneben auch witziger Einfall, Witzwort. Deutsches Fremdwörterbuch Schläft ein Lied in allen Dingen, Die da träumen fort und fort, Und die Welt hebt an zu singen, Triffst Du nur das Zauberwort. Joseph von Eichendorff (Jugend?!!) Arno Schmidt Der Jugendliche Jeder Jugendliche ist weise. Jeder Jugendliche erkennt, daß die Welt schlecht ist. Jeder Jugendliche will sie bessern. Der eine will die Verhältnisse bessern, der andere will die Menschen bessern. Jeder vergißt aber, sich selber zu bessern. Junge Menschen. Blatt der dt. Jugend. 1923 Ende der Zwanziger fängt es an zu dämmern. Friedrich Nietzsche 1875 It is never too late to have a happy childhood. Tom Robhins A.: „How old are you?" B.: „Too old to rock'n'roll, too young to die."

Solange die Musik laut genug ist, hören wir nicht, wie die Welt zusammenfällt! An den Folgen eines schweren Verkehrsunfalls verstarb am Freitag, dem 9. November 1979, unser Freund [Vorname Name] In lauter Trauer vermissen ihn die Braunschweiger Punx Pedder Frank Wolle Dieter Leo Martina Kat Wocki Olli Muffi Karsten Migo Wolle B. Rainer M. Günther Roger Toto Helmut Jareld Dackel Jan Eule Fletscher Frank D. Annette Olaf Bella Nancy Martina W. Harry Elke Rainer Kai Boots Heuboden Treibhaus [...]

Aus der „Braunschweiger Zeitung" Bang, bang — wumm, wumm — hammer, hammer ... Aus einer Plattenkritik der „Badischen Zeitung" Unbändige Jugend! Anonymus Zuruf an Jünglinge Was steht ihr am Wege so müßig und träge zu Arbeit und Müh'?

Joachim Heinrich Campe S. 36, 2. Zeile: lies Jugend statt Tugend

S. 33, 4. Zeile: anstelle Tugendtraume lies Jugendtraume Korrekturen Hölderlins in Widmungsexemplaren seines „Hyperion"

XI

Humorlos Die Jungen werfen zum Spaß mit Steinen nach Fröschen Die Frösche sterben im Ernst

Erich Fried Endlich gegen Mitternacht kommen die Söhne vom Kino mit neuen Redensarten nach Hause, und die müden Eltern auf dem Sofa lachen demütig mit. Peter Handke Die Wünsche und Begehren der Jüngeren sind heftig und kurz. Albert Camus Jugend ist Trunkenheit ohne Wein. Johann Wolfgang von Goethe Mich setzen die Menschen in Erstaunen, welche so nach ihrer Jugend zurückseufzen, z.B. nach den Studentenjahren: es ist ein Zeichen, daß sie unfreier geworden sind und sich selbst damals besser befanden. Ich empfinde gerade umgekehrt und kenne nichts weniger Wünschbares als Kindheit und Jugend: ich fühle mich jetzt jünger und freier als je. Friedrich Nietzsche 1876 ... und dann in der Mensa des berühmte Hallo-Schreien da ... hab zweihundert Leut kennt alle auf der Hallo-Basis ... Heinz Weber, Studentensprache Höchstes Glück der Erdenkinder sei nur die Persönlichkeit. Johann Wolfgang von Goethe ... die Lehrer (innen) dieses Kollegiums sprachen sich mit dem Vornamen an ... Bei Oberstufenschülern mußte sie sogar das vertraute „Du" aufgeben. Ihre Formel: „Ich bin die Karin" wurde schief ... Edition Suhrkamp. Neue Folge 101

XII

Ein stiller, aber eben doch ein wenig unheimlicher Wiedergänger einer verflossenen Jugendbewegung, der sich unberührbar eingenistet hat in sein zwanzigstes Jahr ... Botho Strauß An einem schönen Tage läßt sich ja fast jede Sangart hören, und die Natur, wovon es her ist, nimts auch wieder. Friedrich Hölderlin Auch was die Sprache betrifft, bringen wir im Leben manche Häutung hinter uns. Ernst Jünger Diese Jugend, die lernt ja nichts anderes als deutsch denken, deutsch handeln. Ihr seid für uns alle der weitaus größte Schatz, den es gibt. Adolf Hitler Wenn wir heute die Gegenwart befragen, wo denn die heutige Jugend stehe, ... so gibt es viele oder keine Antworten. Phönix 1947. Ein Almanach für junge Menschen Ein Teil der Jugend hat kein Verhältnis zu der Gesellschaftsordnung, in die sie hineingeboren ist. Der junge Mensch wird in ein Netz gesetzt... Wenig darin stimmt mit seinen Intentionen überein. Verlangt wird jedoch, er solle sich wohlfühlen ... Irene Böhme Zu den Worten, die jedem Gebildeten geläufig, aber keinem Denkenden verständlich sind, hat sich ein weiteres hinzugesellt: das vom ,Dialog mit der Jugend'. Aus der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" In der Deutschen Demokratischen Republik stimmen die grundlegenden Ziele und Interessen von Gesellschaft, Staat und Jugend überein. Aus der Präambel des Jugendgesetzes der DDR vom 31. 1. 1974

XIII

Die Sprache der Soldaten enthält manche recht derbe Ausdrücke. Wer dergleichen bisher etwa mitgeteilt hat, hat sich meist deshalb entschuldigen zu müssen geglaubt. Ich thue dies nicht. Da mir die Soldatensprache in linguistischer wie kulturhistorischer Hinsicht es in hohem Grade wert zu sein schien, sie einmal eingehender zu behandeln, so mußte ich die Konsequenzen dieser Meinung ziehen und durfte nichts unterschlagen. Paul Hörn 1905 Die drei genannten Untersuchungen haben eines gemeinsam: sie beziehen sich auf einen Diskurstypen ... Aus einem Antrag an die Deutsche Forschungsgemeinschaft Man empfand die Jugend als ,Widerstand', und darum entdeckte man sie als ,Gegenstand'. Hans Heinrich Muchow Was ist das Allgemeine? Der einzelne Fall. Was ist das Besondere? Millionen Fälle. Johann Wolfgang von Goethe Zu Sigmund Freud kam einst ein Mann, der ihm einen seltsamen Traum mitteilte. Sein Es habe — im Traum — Triebansprüche geäußert, das Über-Ich habe sie zu unterdrücken versucht, das Ich habe sie daraufhin sublimiert. „Haben Sie das wirklich geträumt?" fragte Freud. „Ja" entgegnete der Mann. Freud überlegte einen Moment und sagte dann: „Die Erklärung des Traumes ist einfach. Ihr Es wird vom Über-Ich unterdrückt und äußert Triebansprüche, die vom Ich ..." „Das ist aber keine Erklärung, das ist mein Traum", unterbrach ihn der Mann. Robert Gernhardt

XIV

Um zu beobachten muß man vergleichen lernen. Um zu vergleichen muß man schon beobachtet haben. Durch Beobachtung wird ein Wissen erzeugt, doch ist Wissen nötig zur Beobachtung. Und: Schlecht beobachtet der, der mit dem Beobachteten nichts zu beginnen weiß. Schärferen Auges überblickt der Obstzüchter den Apfelbaum als der Spaziergänger. Bertolt Brecht Werter sol men wegn un nit zejln. Jiddisches Sprichwort

1. Jugend, Sprache und Geschichte — eine Hinführung zum Thema Der Student, der durch sein ganzes Wesen sich von allen nicht studirenden Jünglingen unterscheidet, und oft sorgfältig zu unterscheiden sucht, hat auch eine Anzahl eigenthümlicher Ausdrücke und Phrasen. Bey allen Studirenden aller Universitäten findet sich ein mehr oder weniger wortreiches Idiotikon. Viele Wörter sind auf jeder Universität zu finden; viele hingegen sind nur auf Einer gebräuchlich. Manche sind so ziemlich sinnlos, manche hingegen sehr naiv und ihrer Bedeutung angemessen. Kürze und Derbheit sind das Gepräge der meisten. — Man muß selbst Student sein, um Wohlgefallen daran zu finden. Sobald man der Burschenwelt entrückt ist, fallen nach und nach die fremdartigen Wörter weg, so wie sich allmählig die Studenten-Manieren abschleifen. Das vorstehende Stück wissenschaftlicher Prosa stammt aus der Feder des Göttinger Studenten Daniel Ludwig Wallis und wurde 1813 veröffentlicht.1 Es ist ein Musterstück verständlich argumentierenden Stils. Wallis war damals 21 Jahre alt und stand in der Blüte seiner Studentenjahre. Souverän, fast abgeklärt spricht er vom „mehr oder weniger wortreichen Idiotikon"2 der Studenten und leitet dieses aus deren Bedürfnis ab, sich von anderen zu unterscheiden. Zugleich bestimmt er wesentliche Eigenschaften (,lokal', jüberregional', ,derb' und ,Kürze') der „Ausdrücke und Redensarten der Studenten" und gibt eine kritische Einschätzung der „fremdartigen Wörter", die nach dem Abschied von der Studentenwelt „wegfielen". 1 2

Objartel 1984, 54; Henne/Objartel 1984, Bd. 3., 55 f. Campe 1813, 363: „ein Wörterbuch, welches nur die in einer Gegend eigentümlichen Wörter enthält."

2

1. Jugend, Sprache und Geschichte

Die Studenten haben, wie man sieht, den Germanisten vorgearbeitet, vielfach haben sie zudem einen klaren und präzisen Stil gepflegt, der von den Forschern nicht immer erreicht wurde. Diese haben um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert die historische Studentensprache entdeckt und in das Gesamt der damaligen „Sondersprachen" eingegliedert.3 Zugleich haben sie den besonderen Charakter der studentischen Gruppensprache herausgearbeitet und den lexikalischen Beitrag zur allgemeinen Standardsprache zu kalkulieren versucht: „Einer Reihe dieser Wörter hört man den studentischen Ursprung noch an, so den Wörtern abgebrannt, auskneifen, bemoost, Bierbaß, blechen, Brandbrief, büffeln, burschikos, Fuchs, Kater, Katzenjammer, Kneipe und kneipen, ledern, ochsen, Philister, pumpen, Schmollis, Spießbürger, Spießer und Bruder Studio. Bei anderen ist wohl das Gefühl, daß man es mit alten Studentenwörtern zu tun hat, schon schwankend geworden: so bei aufschneiden, ausstechen, flott, Hallore, Haupthahn, Jux, Knote, kohlen, Moneten, Pech ,Unglückf, pomadig, Salbader, schauderös, Schwager „Postillion", Schwulität, Datterich, Wieder bei anderen ist jedes Gefühl dafür geschwunden, so bei Backfisch, Blamage und blamieren, duzen, Ehrenhandel, Fersengeld, Gassenhauer, genieren, sich genieren, Kaff er, läppisch, Luftikus, Mucker, paff sein, prellen, regulieren, Runks, Sammelsurium, schäkern, Schmaus, Schwachmatikus, schwadronieren, Ständchen, stibitzen und trist."* Der Germanist Alfred Götze bezieht sich offensichtlich auf Akademiker und deren sprachliche Kenntnisse, wenn er z.B. Philister und Schmollis unter die Wörter rechnet, deren studentische Herkunft bekannt sei. Gerade die studentische Duzformel „Schmollis!", gesprochen von demjenigen, der das Du anbietet, worauf der andere mit „Fiducit!" antwortet, ist dem inneren Kreis studentischer Konversation zuzurechnen. Schon das dritte der uns bekannten Studentenwörterbücher, das „Studentenlexicon" von Kindleben, erschie3

4

Grundlegend die Monographien von Kluge (1895) und Meier (1894); die Forschung wird dokumentiert von Henne/Objartel 1984, Bd. 1—6; vgl. Objartel 1984a, 62-72 u. Henne 1984a, 1-31 Götze 1928; Henne/Objartel 1984, Bd. 5, 421

1. Jugend, Sprache und Geschichte

3

nen in Halle 1781, führt die Freundschaftsformel: „Schmollis, ein Wort, dessen sich die Studenten bedienen, wenn sie einander zutrinken, worauf der andere, dem zugetrunken wird, fiducit erwiedert."5 Dreizehnmal ist die Formel insgesamt in den zwischen 1749 und 1888 erschienenen 21 Wörterbüchern und Wörterbuchfragmenten zur Studentensprache notiert, wobei z.T. die Variante Smollis bevorzugt wird, wie bei Schuchardt (1825), der die Etymologie gleich mitliefert: „Smollis, {sis mihi mollis) Gruß bei Commersen oder beim Anerbieten der Brüderschaft. Der Gegengruß und das Zeichen des angenommenen Anerbietens ist: Fiducit (Fiducia sit!). Man vergleiche zur richtigen Würdigung dieses Ausdrucks Houwalds Worte: Begreift ihr auch, warum man ,Smo///s' trinket/ und was das tiefe Wort ,Fiducit' heißt? -/ Ja Smollis dem ganzen Menschengeschlecht/ und dann Fiducit auf Gott und Recht'."6 Die Studenten, als Gruppe, pflegen besondere sprachliche Verkehrsformen - und sind doch geneigt, wie „Houwalds Worte" zeigen, diese Verkehrsformen auszuweiten, wenn sie die eigenen Ideen transportieren. Eine doppelte Bewegung jugendlichen Denkens wird schon hier deutlich: Ganz auf sich selbst zu sehen und sich der eigenen Gruppe hinzugeben; und auszugreifen und die eigenen, in der Gruppe entwickelten Ideen als allgemeine zu propagieren. Erst einmal aber waren „Schmollis" und „Fiducit" Verkehrsformen, die Freundschaften stifteten und die Gruppe nach innen stärkten und nach außen abschlössen: „O Freundschaft! Alles muß dir weichen Dir dankt die Tugend ihren Lohn! Du fliehst den Schwärm der blinden Reichen, So wie der Fürsten stolzen Thron. Zum beständigen Denkmahl der Freundschaft" schrieb dies am 11. September 1784 — vor 200 Jahren - der Jurastudent Müldner aus ,Heßen' einem Göttinger Freund ins Stammbuch.7 Und noch 5

Henne/Objartel 1984, Bd. 2, 212 < Henne/Objartel 1984, Bd. 3, 185 7 Gönnern und Freunden gewidmet von G.H.E. Hintze. (Stammbuch im Privatbesitz)

4

1. Jugend, Sprache und Geschichte

eleganter versucht der Duisburger Student F. Vorster die Bedeutung der Freundschaft für die Studenten herauszustellen, wenn er seinem Mitstudenten Ludwig Senger im Juli 1786 ins Stammbuch schreibt: „Es lebe die Feindschaft und es sterbe die Freundschaft in unserem Hertzen — Niemahlen."8 Und etliche Jahre später, ca. 1808, schreibt der Theologiestudent H.E.Sergel einem anderen ins Stammbuch: „Die Roll' ist ausgespielt, Der Vorhang fällt jetzt nieder. Augusta, lebe wohl! Dich seh' ich schwerlich wieder."9 Und am Rande notiert er, wie es üblich war, „Mem[orabilia]", also Denkwürdigkeiten, denkwürdige Ereignisse aus dem Studentenleben: „Unser Smollis auf Mariaspring" ... (das ist ein beliebter „Lust-Ort" „vor den Toren" Göttingens). Mit dem „Smollis", der Besiegelung der Freundschaft durch die „Brüderschaft", also dem Verhältnis „vertrauter Freundschaft"10, beginnt die Freundschaftskarriere: „Die Gläser werden gefüllt, die Trinkenden reichen sich gegenseitig die linke Hand, während sie mit der Rechten die Gläser ergreifen und dieselben mit verschränkten Armen bis auf den Grund austrinken. Hierauf stellen sie die Gläser hin, geben sich die rechte Hand, nennen ihren Vor- und Zunamen und bekräftigen die so geschloßne Brüderschaft mit einem Kuß. — Eine andere, weniger feierliche Art ist diese: X erhebt sein Glas, ruft: „Smollis Bruder Y!" und leert es aus; entgegnet: „Fiducit Bruder X"! und thut desgleichen. Hierauf folgt ebenfalls Handschlag und Kuß."11 X und stehen hier für die Nachnamen der „Brüder". Zwar werden sie sich duzen, aber doch beim Nachnamen rufen: „Auch ohne diese Zeilen [im Stammbuch] würdest du, lieber Sergel, dich gewiß oft erinnern deines wahren Freundes ...",12 schreibt 8

9 10 11 12

Amicis carum hoc album offert Ludovicus Senger. Duisburg d. 1. Januarij 1785 (im Privatbesitz) Stammbuch von 1808 (im Privatbesitz) Campe 1807, 630 Henne/Objartel 1984, Bd. 3, 136 Vgl. Anm.9

1. Jugend, Sprache und Geschichte

5

F. W. Rodowe am 18. Sept. 1808 eben seinem Bruder Sergel ins Stammbuch. Damit unterscheiden sich heutige Jugendliche von den Studenten um 1800. Heute folgt man eher dem allgemeinen „Ducomment", wie er zu Anfang des 19. Jahrhunderts in Halle und Jena aufkam13, verzichtet dabei aber auf jegliche Rituale und bedient sich des Vornamens. Die Studenten der 70er und 80er Jahre unseres Jahrhunderts pflegen, wie andere Jugendliche, diesen allgemeinen Ducomment mit der Anrede durch Vornamen, so daß zwei Namensschichten in der heutigen Universität übereinanderliegen: „Jürgen!" oder: „Du, Jürgen (könntest Du mir 'mal helfen)?" — als übliche Anrede der Studenten untereinander. Und: „Herr Müller, könnten Sie das Referat zum nächsten Termin übernehmen?", geäußert z. B. von einem Professor gegenüber einem Studenten. (Daneben gibt es Zwischenformen, wie „Jürgen Müller, Sie ...", und „Müller, Du ...", die hier nur zu erwähnen sind.) Wie Jugendliche heute bedurften die Studenten im 18. und 19. Jahrhundert der Bindung untereinander: Sie lief u.a. über die durch spezifische Verkehrsformen gestiftete Freundschaft. Zugleich bedurften die Studenten der Abgrenzung nach außen: also der Abgrenzung gegen die Philister. Schon im ersten Studentenwörterbuch von R. Salmasius aus dem Jahre 1749 heißt es: „Philister heissen überhaupt die Bürger auf Universitäten, weil sie, wenn sie nur könten, gern über die Burschen hergingen, wie die Philister über den ehrlichen Simson."14 Da haben wir, schon zu Mitte des 18. Jahrhunderts, die Feindbilder, die Jugendliche suchen, um ganz bei sich zu sein. „Philister über dir!" wurde zu einem Kampfesruf, der noch in der Jugendbewegung (zu Anfang des 20. Jahrhunderts) zu hören war. Einstweilen waren die Studenten noch der Philister bedürftig, wie die abschätzigen Bezeichnungen Pferdephilister (der 13

14

Henne/Objartel 1984, Bd. 3, 27; Bd. 4, 133; vgl. Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch Bd.2. 1860, 1468: „(...) auf einigen Universitäten, wie z. b. in Jena und Leipzig, redet jeder student den ändern du an, wenn er ihn auch nicht kennt." Henne/Objartel 1984, Bd. 2, 12

6

1. Jugend, Sprache und Geschichte

heutige Autoverleiher), Bierphilister (heute Kneipier), Haus- und Kostphilister (heute Hauswirt(in) und Studentenheim) nahelegen. Die zweigeteilte Welt — Burschen hie (die von den Studenten bevorzugte Eigenbezeichnung) und Philister da - wurde dann doch, wenigstens in sich, weiter differenziert. Und dann gab es ja noch den Pennal, Pennäler oder Schulfuchs. „Pennal heißt Schüler. Die Pennale machen sich sehr forsch! — ein üppiges Pennal!" schreibt der uns nun schon bekannte Göttinger Student Wallis im Jahr 181315. Pennal in der Bedeutung ,Federbüchse' aus lat. penna ,Feder' ist im 17. Jahrhundert zunächst Spott wort für den Studenten im 1. Semester, der „noch gewissenhafter die Vorlesungen besuchte und also die Federbüchse mit sich führte"16 (und oft dem älteren Studenten damit aushelfen mußte). Pennäler ist eine Pluralbildung zu Pennal und wird zum erstenmal 1846 notiert: „Das Wort Pennal wird auch mit zwei nn geschrieben und hat im Plural Pennale und -/er."17 Im Jahr 1875 wird dann folgende Differenzierung getroffen: „Pennal = Gymnasium, Lyceum, gelehrte Schule. Pennäler, Schüler eines Pennals." 18 Penne schließlich in der Bedeutung »Schule, insbesondere Gymnasium' wird zuerst 1904 gebucht19 und ist wohl eine Rückbildung aus Pennal und sicher nicht unbeeinflußt vom rotwelschen pennen »schlafen*. Man sieht: Die Bezeichnung für die Welt der Schüler wächst aus der Studentensprache heraus: Ihre Bezeichnung für den Studenten im 1. Semester (Pennal) geben sie schon ab 1813 an die Gymnasiasten ab. Mit der Bezeichnung Schulfuchs für ,Schüler eines Gymnasiums', zuerst 1808 gebucht20, werden die Schüler direkt der Welt der Studenten zu- und damit untergeordnet. Allerdings gibt es hinsichtlich der Bedeutung von Schulfuchs bald unterschiedliche regionale Verwendungen: Ein Wörterbuch von 1822 gibt an, dies sei die „allgemeine Benennung derer, die bereits 15 16 17 18 19 20

Henne/Objartel 1984, Bd. 3, 82 Melzer, Breslauer Schülersprache. In: Henne/Objartel 1984, Bd. 5, 537 f. Henne/Objartel 1984, Bd. 4, 371 Henne/Objartel 1984, Bd. 3, 599 Henne/Objartel 1984, Bd. 6, 145 Henne/Objartel 1984, Bd. 3, 34

1. Jugend, Sprache und Geschichte

7

die Schule verlassen haben, um die Universität zu beziehen"21, während ein nur drei Jahre später erscheinendes Studentenwörterbuch die Bedeutung von 1808 bestätigt: „Schulfuchs, Pennal ist jeder Schüler einer hohen Schule. In der Zwischenzeit seiner Schulund Universitätsjahre wird er Maulesel genannt."22 Damit werden die Gymnasiasten der von den Studenten etablierten Burschenhierarchie unterworfen, die im folgenden in einer Version aus dem Jahre 1825 vorgestellt wird: „Die Eintheilung der Studenten nach der verschiedenen Zeit ihrer Anwesenheit auf der Universität ist folgende: crasser Fuchs ist einer im ersten Semester; nach Ablauf dieses wird er Brandfuchs, Brander, welches er bis zum dritten Semester bleibt, wo er junger Bursch, Junghursch wird; im vierten Semester wird er Bursch, im fünften alter Bursch, Altbursch, im sechsten endlich bemooster Herr, bemoostes Haupt. Dies bleibt er bis zu seinem Eintritt ins Philisterium."23 Diese Einteilung in Hinsicht auf die „Verweildauer" der Studenten zeigt, daß das Triennium, also der Zeitraum von drei Jahren, die Regelzeit für Studenten war. Diese Hierarchie — denn um eine solche handelt es sich — wurde nun nach u n t e n verlängert: Dem crassen Fuchs wurde der Schulfuchs vorgeordnet — der Gymnasiast wurde so ideell der Welt der Studenten zugezählt. Und zwischen Schulfuchs und crassen Fuchs stellte man den Maulesel^ einen ehemaligen Schulfuchs und künftigen crassen Fuchs „in der Zwischenzeit seiner Schul- und Universitätsjahre"24. Der Maulesel, also ein Bastard von Pferdehengst und Eselin, schien die richtige Bezeichnung für den, der nicht mehr Gymnasiast und noch nicht Student war. Man versteht nun den Studenten Wallis besser, wenn er „Kürze und Derbheit" als herausragende Eigenschaften des studentischen „Idiotikons" bezeichnet. Friedrich Kluge spricht allgemein von der „burschikosen Zoologie"25, welche die Studenten systematisch zum Zwecke der Kennzeichnung der Welt aus ihrer Sicht eingesetzt haben. Auch die Pennäler, zunächst Schulfüchse und dann 21 22 23 24 25

Henne/Objartel Henne/Objartel Henne/Objartel Henne/Objartel Henne/Objartel

1984, 1984, 1984, 1984, 1984,

Bd. 3, Bd. 3, Bd. 3, Bd. 3, Bd. 5,

118 160 158 f. 160 150 ff.

8

1. Jugend, Sprache und Geschichte

Maulesel, wurden dieser Welt wenn nicht eingegliedert, so doch zugeordnet. Zusammen mit der Studentensprache wird auch die Pennäler- bzw. Schülersprache als wissenschaftlicher Gegenstand und spezielle Form einer Sondersprache entdeckt. Kurt Schladebach publiziert im Jahre 1904 die erste Arbeit unter dem Titel „Die Dresdener Pennälersprache"26. Ausdrücklich beschränkt er sich auf die Gegenwart und auf das Gebiet „Dresden, Pirna, Meißen" und betont damit den regionalen Aspekt der Pennälersprache. Er sammelt rund 180 Wörter, die er alphabetisch anordnet und glossiert. Einleitend gibt er einen Kommentar, in dem er betont, daß Pennäler „kopieren" — vor allem die Studenten, aber auch „Eigenart" entwickeln: „In den weitaus zahlreichsten Fällen benützt die Pennälersprache das vorhandene Sprachmaterial und deutet es zweckmäßig um. Sie verfährt dabei oft nach des Dichters Wort: ,Es liebt die Welt, das Strahlende zu schwärzen und das Erhab'ne in den Staub zu ziehen'." Schladebach zitiert hieran anschließend u. a. Kasten, Affenkasten (für ,Schule'), Schmöker und Schwarte (für ,Buch' bzw. ,HefV), aber auch die „Anredeform hähä oder man, die in Meißen Primaner gern Obersekundanern gegenüber anwenden."27 Darüber hinaus charakterisiert er die Herkunft der Wörter (aus dem Französischen, Englischen, Lateinischen, der Soldatensprache und Gaunersprache), wobei folgende Feststellung überraschend ist: „In der heutigen Dresdener Schülersprache sind Worte, die aus dem Lateinischen stammen, verhältnismäßig selten."28 Sein kleines Wörterbuch reicht von abspicken, abhatten, abklauen ,verbotenerweise abschreiben' bis Ziffern ,Zensuren'. „Die Muttersprache im Munde des Breslauer höheren Schülers und ihre Läuterung im deutschen Unterricht" lautet der Titel der nächsten Arbeit zur Schülersprache aus dem Jahre 1906.29 Schon im Titel gibt der Verfasser seine sprachkritische und sprachkultivie26 27 28 29

Henne/Objartel 1984, Bd. 6, 141 -147 Henne/Objartel 1984, Bd. 6, 143 Henne/Objartel 1984, Bd. 6, 141 von Karl Steinhäuser 1906, Henne/Objartel 1984, Bd. 5, 237-260

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rende Absicht zu erkennen. Insgesamt notiert er knapp 700 Schülerausdrücke und versichert in der ersten, halbfett gesetzten Anmerkung zu dieser Liste: „Dieses Wörterverzeichnis gelangt nicht in die Hände der Schüler". Es ist das Geheimnis des Oberlehrers und Professors Karl Steinhäuser, wie er das bewerkstelligt hat; ließ er doch seine wertvolle Arbeit als „wissenschaftliche Beilage zum Jahresbericht der evang. Realschule I" Ostern 1906 publizieren (sie) (Druck der Breslauer Genossenschafts-Buchdruckerei, E.G.m.b.H.). Und noch weitere, zutreffende Anmerkungen macht der Verfasser: „K hinter einem Ausdruck bedeutet, daß er sich auch in Kluge, Deutsche Studentensprache, befindet"; „die mit versehenen Ausdrücke gehören der Breslauer Studentensprache an, sind aber schon in der Prima gebräuchlich".30 Diese Bemerkungen zeigen die Abhängigkeit der Pennäler von den Studenten an — Steinhäuser registriert sie penibel: „In Kluges deutscher Studentensprache sind auch verzeichnet 42 [Ausdrücke] (6%): Affenschande f. ,Schande'; anpumpen ,etwas entleihen'; anständig ,ist der gerechte, gütige Lehrer'; ausführen ,wegnehmen'; auskratzen ,fortlaufen'; ausspannen ,wegnehmen'; bemopeln ,betrügen'; beschummeln ,betrügen'; Blech n. ,Unsinn'; blechen ,bezahlen'; brummen ,Arrest haben'; büffeln ,arbeiten'; bummeln ,spazieren gehen'; ,träge sein'; durchfallen ,eine Prüfung nicht bestehen'; fix ,Ausdruck der Anerkennung'; gemein ,ist die schwere Aufgabe; das Thema des Aufsatzes; der Lehrer, der streng ist; der Reinfall'; Hausknochen ,Hausschlüssel'; Hund! »Schelte'; Jürge ,Schelte' [Kluge 1895, 197: ,Kaffer, bornierter Kerl'; Rag(otzk)y 1831, 243: „Der Kerl ist ein Jürge, heißt so viel, als: er hat rohe Sitten, ist überhaupt borniert"]; Jux m. loslassen ,Spaßmachen'; Kaffer m. jSchelte'; Keile f. ,Hiebe'; keilen ,hauen'; Kerl ,Bezeichnung des Mitschülers' [Kluge 1895, 199: Plural Kerls schon in Zachariaes Renommist im guten und im bösen Sinn: „ein lieber, dummer, schlechter Kerl". 1795]; klemmen ,dem Mitschüler heimlich wegnehmen'; Kohl ,Unsinn'; Laus f, keine lahme Laus! ,nicht im geringsten' [Kluge 1895, 204 „Keine Laus" ,neu, gar nicht modern']; mogeln ,täuschen'; ochsen ,arbeiten'; patent ,fein' ein patenter Kerl; petzen ,anzeigen, angeben'; Pfote ,Hand'; plumpsen ,durchs Examen fallen'; Poussade ,höhere Tochter, die verehrt wird' [Kluge 1895, 215 Pous30

Henne/Objartel 1984, Bd. 5, 254

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sade 1822; 1831 = Poussement ,Liebschaft' 1813]; Pudel m. ,PedeIl'; pumpen ,borgen, leihen'; schassen , der Anstalt verweisen'; schwänzen ,den Unterricht ohne rechten Grund versäumen'; Tröster ,Klatsche' [Kluge 1895, 231: ,Hülfsbuch, Eselsbrücke']; Ulk ,Spaß'; verkloppen ,verkaufen'. - Vgl. Henne/Objartel 1984, Bd. 5, 200; Bedeutungserklärungen habe ich nach Steinhäuser, Verweise auf Kluge in eckigen Klammern hinzugefügt.

Nimmt man diesen Durchschnitt von Breslauer Schülersprache von 1906 und bei Kluge verzeichneter Studentensprache einmal als repräsentativ an und versucht, ,jugendsprachliche' Merkmale dieses Wortschatzes herauszuarbeiten, so kann man folgendes lernen: Der Wortschatz ist einerseits g r u p p e n i n t e r n und andererseits i n s t i t u t i o n e l l orientiert. Der gruppenintern orientierte Wortschatz zeichnet sich dadurch aus, daß er zwischenmenschliche Verhaltensweisen, die gruppenspezifisch sind, umbenennt, und zwar 1.1 indem er vergröbert und vergrößert: z.B. pumpen für ,borgen, leihen'; blechen für ,bezahlen'; ausführen für ,wegnehmen'; 1.2 indem er verbildlicht: vgl. die vorstehenden Verben, aber auch klemmen »heimlich wegnehmen'; keilen und Keile für ,hauen' und ,Hiebe'. Diese Form des hyperbolischen (1.1) und metaphorischen (1.2) Sprachgebrauchs erzeugt einen besonderen Gruppenton, der sehr bald mit jugendlichen Sprechweisen insgesamt gleichgesetzt wurde. Der institutionell orientierte Wortschatz ist natürlich gleichfalls hyperbolisch und metaphorisch geprägt (vgl. ochsen, büffeln, plumpsen, Pudel); darüber hinaus ist er aber sympathieheischend und zugleich drastisch: Die Gruppe der Schüler in der Institution ,Schule' stellt sich selbst dar. Man arbeitet nicht intensiv, sondern ochst oder büffelt und bedarf zuweilen des Trösters; wenn es dann doch nicht reicht, plumpst man oder fällt durch. Quer zu dieser Zweiteilung kann man spezifische Lebensbereiche ausmachen, die mit Pennälerwortschatz „eingedeckt" werden: - der Bereich des erlaubten und unerlaubten „Gebens und Nehmens": anpumpen, ausspannen, klemmen, — der Bereich schulischer Arbeit, Erfolge und Mißerfolge: ochsen, brummen, schwänzen, plumpsen;

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— der Bereich akzeptierter und nicht akzeptierter Verhaltensweisen: anständig, fix, patent; petzen, gemein, Affenschande; — der Bereich der feindlichen und zu verachtenden Umwelt: Pudel, Jürge, Kaffer, Kerl; — der Bereich jugendlichen Übermuts und jugendlicher Spottlust: Jux, einen Jux loslassen (heute sagen Jugendliche: „Laß den Joke 'raus"!), keine lahme Laus, Ulk. Natürlich ist die hier interpretierte Schnittmenge nicht wirklich repräsentativ; aber sie vermittelt doch eine Ahnung von dem, was Pennälerwortschatz ist und welche Funktion er hat. Nach Steinhäusers Arbeit erscheint 1910 von R. Eilenberger: „Pennälersprache. Entwicklung, Wortschatz und Wörterbuch" und 1928 von F. Melzer: „Die Breslauer Schülersprache".31 Im Gefolge der Erforschung der Sondersprachen wird nun auch der Schülerbzw. Pennälersprache die gebührende Aufmerksamkeit entgegengebracht. Eilenberger hat seine Monographie ganz nach dem Vorbild von Kluges „Studentensprache" gearbeitet. Kap. I lautet: „Die Entwicklung der Pennälersprache", in dem er, wie Kluge zuvor für die Studentensprache, „Einflüsse" auf die Pennälersprache zu sortieren sucht. Und zwar sowohl die über die Studentensprache vermittelten wie die unmittelbaren: der griechischen, lateinischen, französischen und englischen Sprache; der „Gauner- und Rinnsteinsprache" (des Rotwelschen); der Soldatensprache und übrigen Sondersprachen und der Dialekte. Dem Kapitel „Burschikose Zoologie" bei Kluge32 ist das Kapitel „Schülerzoologie" nachempfunden u. a. mit folgenden Beispielen: Gympel ,Gymnasiast', Grünspecht ,Seminarist' (jmd., der zum Lehrer ausgebildet wird), Tischmops »Untertertianer', Windhund ,Bälgetreter für die Orgel', Bock ,Lehrer'. Eilenberger schließt sein Kapitel: „[...] so sehen wir die Pennälersprache [...] als das ziemlich getreue Abbild der Studentensprache, ja zum Teil als eine Projektion der Studentensprache auf das Pennälertum [...]."33 Ein weiteres Kapitel widmet Eilenberger der „sachlichen 31 32 33

Henne/Objartel 1984, Bd. 5, 345-416; 435-582 Henne/Objartel 1984, Bd. 5, 93-236 Henne/Objartel 1984, Bd. 5, 386

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Anordnung des Pennälerwortschatzes", um dann als Kapitel III ein „Wörterbuch der Pennälersprache" folgen zu lassen, das mit 15 Synonymen für ,eine Arbeit abschreiben, bei Klassenarbeiten vom Nachbar absehen' einsetzt: abbohren, abholzen, abhacken, abhauen, abholzen, abklatschen, abklauen, abklitschen, abklappen, abkratzen, abluchsen, abpumpen, abschmandern, abtypen, abwichsen. So epigonal scheint die Pennälersprache dann doch nicht zu sein. Sie hat zudem ein strukturelles Merkmal mit heutiger Jugendsprache gemeinsam: Präfixe (hier ab-) werden systematisch eingesetzt, um neue Verbbedeutungen zu schaffen: Von 102 Präfixverben gegenwärtiger Jugendsprache, die in einem Fragebogencorpus enthalten sind34, ist ab- das am häufigsten belegte Präfix und abfahren in der phraseologischen Wendung auf etwas abfahren (, etwas begeistert sein und entsprechend reagieren') die am häufigsten belegte Präfixbildung, abfahren verzeichnet übrigens auch Eilenberger, allerdings in der Bedeutung ,nichts wissen', wie er auch die Bedeutung ,eine junge Dame auf der Straße ansprechen' verzeichnet, die durch die Verben ankeilen bzw. anschwirren ausgedrückt wird. Wer denkt da nicht an das jugendsprachliche anmachen von heute (Duden. Dt. Universalwb. 1983, 79: ,(herausfordernd) ansprechen und unmißverständlich zeigen, daß man (sexuelles) Interesse an jrndm. hat'), das die Jugendlichen inzwischen mit den Erwachsenen teilen müssen. — Immerhin hat auch Eilenbergers Wörterbuch rund 800 Einträge, von Aatkäfterchen ,Zimmer für schnarchende Schüler' bis Zwinger ,Schulgarten'. Bevor die Arbeit von F. Melzer vorgestellt werden soll, muß noch auf Helmut Wocke verwiesen werden, der 1918 die Prinzipien von immerhin elf „Schülergeheimsprachen" dargestellt hat.35 So z. B. die „fe-Sprache": „Hinter jeden Vokal eines Wortes wird die Silbe fe eingefügt"36: Ufensefer Kafenzlefer hefeifeßt Hefelmufet. Etwas komplizierter ist die U-Sprache: „Sie wird von Schülern vielfach auch als Schriftsprache' empfohlen. Bei den mit einem 34 35 36

Vgl. dazu Kap. 4 Henne/Objartel 1984, Bd. 6, 149-152 Henne/Objartel 1984, Bd. 6, 150

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Konsonanten beginnenden Worten läßt man den anlautenden Konsonanten fort, verwandelt den darauffolgenden Vokal in u und setzt den Anfangskonsonanten, den man zuerst weggelassen hat, dahinter, in Verbindung mit ä."37 uhäaben usäie udäas uväerustäanden? Kindlichem Gemüt entspricht die Erbsensprache: „An jeden einzelnen Buchstaben eines Wortes wird ,erbse' angehängt, an Vokale nur ,rbse'"38: Erbse cherbse terbse gerbse erbse irbse lerbse! Abschließend weist Wocke darauf hin, daß „kindliche Spielereien", die „systematische Entstellungen" bewirkten, den Geheimsprachen zugrundelägen. Er vereinfacht damit die Funktion dieser Geheimsysteme doch zu sehr, die natürlich auch die Geschlossenheit der Klassenverbände bzw. von Gruppen innerhalb dieser Verbände unterstützen sollen.39 Die theoretisch und methodisch fortgeschrittenste Arbeit präsentiert zehn Jahre später, also 1928, F. Melzer.40 „Alle vorliegenden Arbeiten bieten nur Wörterverzeichnisse", schreibt Melzer einleitend. Vor allem in zwei Hinsichten geht Melzer über seine Vorgänger hinaus: Er skizziert „Die Breslauer Schülergeheimsprachen" und spricht vom „Leben des Breslauer höheren Schülers": „Die Sprache des Schülers trägt oft ein rauhes Gewand. Sie ist aber keineswegs so gemeint. Die so genannten „Flegeljähre" wirken hier sehr mit. Aufschäumende Lebenskraft tut sich kund. Der Schüler benimmt sich wie ein Flaps. Steht eine Bande oder Blase beisammen, und tritt ein anderer Kerl hinzu, so wird er bepfotelt und begrunzt'· Na, du altes Reff! Vertraute Anreden sind: olle Socke! und: mein lieber Spiez, mein lieber Scholly. Die kleineren Kerle sind Gemüse, sind Grünzeug und Kulis. Und wie spricht man voneinander? Das ist dir vielleicht ein Hammen Kennste die Maske auch schon? Bonze, Boy, Kaffer, Korpe, Kulpe, Pimf (sie) sagt man 37

38 39

40

Henne/Objartel 1984, Bd. 6, 151; es fehlen die Regeln für Wörter mit anlautendem Vokal; für Zusammensetzungen und für Wörter mit Diphthongen/Zwielauten. Henne/Objartel 1984, Bd. 6, 152 Leider habe ich es versäumt, bei meinen Erhebungen (Kap. 4 ff.) nach Geheimsprachen zu fragen. Henne/Objartel 1984, Bd. 5, 435-582

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aufeinander (!). Wer sich modisch kleidet, wird als Mode, als Schnacker oder Schnastel bezeichnet. Die Gymnasiasten werden von den Volksschülern Gimpel ausgeheißen."41 Wer so schreibt, hat der einseitigen Lexikalisierung abgeschworen, versucht also, Sprache und Leben in Beziehung zu setzen. Von daher kommt Melzer auch zu einer differenzierten Einschätzung dieser Gruppensprache: „Der Wortschatz ist in den Hauptteilen seiner Entstehung eng mit der Geschichte des Schulwesens verknüpft: Die alten Beziehungen der Schüler zu den Studenten ließen manches Sprachgut der Studenten, meist die geläufigsten und ältesten Ausdrücke, in die Schülersprache einströmen (Pauker, Penne). Der Zusammenhang fahrender Schüler und Studenten mit Landstreichern und Gaunern brachte, meist über die Studentensprache, manches rotwelsche Wort in die Schülersprache, das oft auch weiteren Kreisen nicht fremd blieb (Schmu, Kaff er). Man darf aber den Einfluß der Studenten- wie der Gaunersprache nicht überschätzen. Er war groß am Anfang, da die Schülersprache sich bildete. Auch waren damals die Beziehungen der drei Kreise [Studenten, Landstreicher, Schüler] zueinander ungleich enger als heute. Mancher jener Ausdrücke ist geblieben. Doch die wesentliche Arbeit leistete der Schüler selbst. Er war überall nur der Nehmende und mußte es sein. Doch konnte er hier seine Schöpferkraft entfalten — ein großes Kapitel."42 Das sind neue Töne — und Melzer führt aus, wie die „Schöpferkraft" arbeitet: inhaltliche Verengung (Käfer ,hübsches junges Mädel'), Erweiterung (segeln ,gehen, fahren': „Na, wo segelst du denn hin?") und Umgestaltung (s. die vorstehenden Beispiele) eingeführter Wörter der Umgangssprache; „neue Bildungen" (fahrten ,wandern', lächerbar, Köpplas ,Kopf sprung ins Wasser'). „Scherz und übermütige Laune lassen ihn [den Schüler] die Wörter verdrehen (Leichenzehrer ,Zeichenlehrer', Stubenrat ,Studienrat'). Die Sucht nach dem Geheimnisvollen läßt ihn Geheimsprachen erfinden und eifrig benutzen [...]. Das Tier- und Pflanzenreich muß zu anschaulichen 41

42

Henne/Objartel 1984, Bd. 5, 457; die kursive Auszeichnung stammt von mir. Henne/Objartel 1984, Bd. 5, 436 f.

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Vergleichen herhalten (Mokalb ,Schimpfwort, an Mondkalb angelehnt'; Eierpflaume ,der Fußball',,Spottwort'; Kürbis ,der Fußball'; ,scherzhafte Anrede': na, du oller Kürbis? ,der Hintere'). Übertreibungen und Kraftwörter sind beliebt und beherrschen den Plan (wahnsinnig: eine wahnsinnige Sachel·, wahnsinnig schön, schwer]; kolossiv Steigerungsadverb wie kolossal). Gewisse wechselnde Modewörter engen den Reichtum deutschen Ausdrucks ein (knorke einzigartig, unübertrefflich'; fabelhaft ,anerkennend, fein'; adv. fabelhaft schön; Ei »verächtlich, Spottwort': so 'n Ei\ Der Narr, das Kind der Klasse heißt Klassenei). Die fremden Sprachen sind nur in wenigen Entlehnungen vertreten (Direx ,Direktor'; poussieren, franz. pousser ,Mädchen den Hof machen'; pesen franz. peser, ital. pesare ,wiegen, wägen'; »schwer schleppen'; »angestrengt Radfahren, laufen')."43 Melzers Wörterbuch von abbeißen (einen) ,einen trinken' bis zwiebeln ,jmdn. eingehend und schwer bei der Prüfung fragen' umfaßt rund 1200 Einträge, wobei Melzer nestalphabetisch arbeitet, also Wortbildungen unter dem Stammwort notiert: (unter fetzen z.B. die Präfixbildungen ausfetzen »Blätter aus einem Heft reißen'; hinfetzen ,rasch abschreiben'; abfetzen ,etwas unerlaubt abschreiben'; einfetzen »etwas einschreiben: a) »allgemein, etwas'; b) ,jmdn. in das Klassenbuch'; Fetzapparat »Klatsche'). Sieht man Melzers Sammlung aufmerksam durch, stößt man auf solche Beispiele wie: Älterenschaft, Fahrt, Großfahrt, Kleinfahrt, Klotzfahrt, Klotzbruder, Wanderfahrt, fahrten, fein, Jüngerenschaft, Jungen und Mädeln, Jungenbund, Kluft, Mädel, Nest, Nestabend. Damit verweist Melzer — eher nebenbei — auf eine 43

Henne/Objartel 1984, Bd. 5, 436 f. Die semantischen Erklärungen habe ich nach dem Wörterbuch Melzers (S. 460 —583) den Beispielen hinzugefügt. — An dieser Stelle sei auf die Monographie zur französischen Schülersprache von W. Gottschalk 1931 verwiesen und auf seinen „Anhang" (150 — 180), in dem er durch Vermittlung einiger Gießener Studenten „[...] einen kleinen Beitrag zur deutschen Pennälersprache" leistet: Er liefert ein begrifflich angeordnetes Wortverzeichnis von „Schule" bis „Schimpfwort" mit entsprechenden regionalen pennälersprachlichen Ausdrücken.

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Sprachschicht, die der Jugendbewegung zuzurechnen ist. Wortschatz und Tonlage, die sich hieraus herleiten, haben aber die Sprache von Jugendlichen grundlegender verändert, als dies Melzer darstellt. Und eigentlich wäre nun die Tonlage zu wechseln, ein neuer Stil einzuführen, um dem gerecht zu werden, was zu Anfang des 20. Jahrhunderts Wandervogel heißt. Nehmen wir den frühen Namen dieser Jugendbewegung und halten ihn gegen Burschenschaft und Pennälertum. „Der Wandervogel ist ein Kind der Mark, einer Landschaft, die am Tage so einfältig daliegt, und dem Abende zu immer größer wird, bis sie des Nachts ihr mächtigstes Wort spricht"44 - so beginnt Hans Blüher, der erste (und umstrittene) Historiker der Jugendbewegung, seine Darstellung. Und Blüher fährt (später) fort: „Eines Tages, es war der vierte November 1901, versammelten sich im Steglitzer Ratskeller einige angesehene Männer [...]. Fischer kam mit einigen seiner Freunde. Auch Wolf wurde von ihm hingenötigt, obgleich er noch ein sehr junges Bürschchen war, ein Mechanikerlehrling, der wenig von sich sagen konnte. Und doch sagte er an diesem Abend das Beste von allen. Nämlich, als es sich darum handelte, dem Kinde [...] einen Namen zu geben, da stockte man und kramte in allerhand ausgefallenen Vereinstiteln, man krümmte sich unter dem Druck einer ungefügen Sprache, bis endlich der Jüngste von allen die Qual des Wählens beendete. ,Wenn das Kind nun einmal einen Namen haben muß', meinte Wolf Meyen,,warum soll man's nicht Wandervogel nennen!' Damit war's geschehen; das Wort war indiskutabel: Zehntausende junger Menschen sollten sich an ihm begeistern und darin den Sinn ihrer Jugend finden."45 Der „indiskutable" Name wurde einem Grabstein „entnommen", der auf dem Friedhof der alten Dahlemer Dorfkirche stand (und heute noch steht) und an dem die wanderbewegten Jungen oft vorbeizogen. Geheimrat Branco, Professor der Geologie an der Universität Berlin, hatte seiner früh verstorbenen Frau, der Tochter 44 45

Blüher 1920, l Blüher 1920, 121 f.

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des Physikers Hermann von Helmholtz, im Jahre 1877 einen Grabstein mit folgender Inschrift gesetzt: Wer hat euch Wandervögeln Die Wissenschaft geschenkt, Dass ihr auf Land und Meeren Nie falsch den Flügel lenkt? Dass ihr die alte Palme Im Süden wieder wählt, Dass ihr die alten Linden Im Norden nicht verfehlt?46 Von jUngefüger Sprache' war bei Blüher die Rede; in den Versen des „Branco-Steines" wird eine Gegenwelt entworfen, die in dem Namen ,Wandervogel' ihr Zentrum findet: „Wie wäre es sonst möglich, daß für so viele kein Name schöner klingt als ,Wandervogel', weil sie ein Gefühl von Heimat und fremden Ländern zugleich, von frischer gegenwärtiger Jugend und lang entschwundenen Zeiten, beides in Einem, damit verbinden müssen."47 Seit es diesen Namen gibt, hat die Welt der Jugend einen neuen Glanz. Die Barbarei des Dritten Reiches hat auch diese Welt zerstört. Wenn ich bisher vom ,Wandervogel' gesprochen habe, so war dieser nur der auffälligste und wirkungsmächtigste Teil der „positiven Gestalt der Jugend"48, wie sie sich zu Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelte. Gegründet im Jahr 1901, hernach in mehrere Bünde gespalten und zum Teil 1912/13 wiedervereinigt49, hatte der Wandervogel seine Hochblüte vor dem Ersten Weltkrieg. Danach trat die „Bündische Jugend", eine Vielzahl vor allem politisch orientierter Bünde, an seine Stelle. „Der Kern dieser Bewegung [des Wandervogels] ist natürlich nicht in eine Formel zu pressen. Drang 46

47

48 49

Vgl. Trübners Deutsches Wörterbuch 8. 1957, 43 f. Der Text wird im Wb. falsch zitiert. „Von einem Führer". In: Der Anfang. Zeitschrift der Jugend. 1. 1913, 15 Tenbruck 1965, 82 Vgl. Aufmuth 1979, 35 — 43 (mit weiteren Literaturangaben); Henne 1981; Die Wandervogelzeit 1968, 18 ff.

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nach Selbständigkeit, Abenteuerlust, Anlage zur Romantik, Wille zu Gesundheit und Natürlichkeit, Lust sich auszutoben — das ist die dauernde psychologische Grundlage, und natürlich ist das Ganze zu einem guten Teil Reaktion gegen falsche Erziehung und unbefriedigende Zustände (Großstadt, Industrialisierung) überhaupt, und ebenso natürlich mitbedingt durch in der Zeit liegende Tendenzen: der Rembrandtdeutsche hat im Anfang stark in den Köpfen gespukt, die künstlerische Bewegung der Zeit und die auf Lebensreform irgendwie gerichteten Bestrebungen haben ihr Quantum beigesteuert; Heimatkunst, Dürerbund, Kunstwart gelten als natürliche Bundesgenossen"50. Mit diesen Zeilen weist „ein Führer" des Wandervogels zum einen auf die „(jugend-)psychologische Grundlage" der Bewegung, zum anderen auf die kulturelle, wirtschaftliche und politische Krise hin, die der Nährboden für ein neues Generationsbewußtsein zu Anfang des 20. Jahrhunderts wurden. „Der Rembrandtdeutsche" — das war August Julius Langbehn, der im Jahr 1890 das kulturkritische Buch „Rembrandt als Erzieher. Von einem Deutschen" (anonym) publizierte, das schnell mehrere Auflagen erlebte und Millionen Leser fand: „Dies eine Thema durchzieht das ganze Buch, ,die Behauptung nämlich, Wissenschaft und Intellektualismus hätten die deutsche Kultur zerstört und diese könne nur durch ein Wiederaufleben der Kunst und dadurch, daß in einer neuen Gesellschaft große künstlerische Menschen an die Macht kämen, erneuert werden'."51 Die zuvor zitierte Selbstdarstellung eines Wandervogel-Führers ist in der Sprache ihrer Zeit geschrieben und formuliert im zweiten Teil zumindest implizit auch den Beitrag der Erwachsenengeneration zur Herausbildung des Wandervogels. Gerade diesen Aspekt sieht die neuere Forschung schärfer: Der Wandervogel sei „ebensosehr eine generelle Veranstaltung des Bildungsbürgertums der Jahrhundertwende, wie das originäre Werk der bildungsbürgerlichen 50 51

Vgl. Anm.47, S. 13 Aufmuth 1979, 128; das Zitat in Aufmuth ist Stern 1963, 154 entnommen.

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Jugend selbst."52 Das Bildungsbürgertum habe versucht, seine „idealistische Daseinsauffassung" gegenüber Industrialisierung und Materialismus zu behaupten - und dazu habe der Wandervogel gedient: „In der Selbstbehauptungsstrategie des Bildungsbürgertums, an deren Gestaltung progressive Pädagogen [...] mitwirkten, nahm der Wandervogel eine zentrale Stellung ein; er war zugleich Produkt und Mittel des Ringens der Bildungsbürgerschicht um die Wahrung ihres Status und die Reprofilierung ihrer erschütterten kollektiven Identität."53 Dennoch: Der Wandervogel entwickelte zunehmend ein jugendliches „Autonomiebewußtsein" und eine „dynamische Eigenständigkeit"54; zudem versuchten die konkurrierenden Bünde unterschiedliche Antworten zu geben auf die Frage nach der Selbst- und Eigenständigkeit der Jugend' — hier im wesentlichen der Gymnasialjugend zwischen 14 und 18 Jahren und ihrer studentischen Führer und Junglehrer. Wandervogel zu sein — das bedeutete, ein Doppelleben zu führen: Einerseits dem Elternhaus und der Schule verpflichtet zu sein; andererseits an Wochenenden und in den Ferien auf Fahrt zu gehen und in der Woche sich spätnachmittags oder abends auf dem Nest zu treffen. Man erkennt sofort: Die zeitweilige Trennung von der Familie gibt die Möglichkeit, ein Jugendreich zu entwerfen, das aus unzähligen Kleingruppen bestand, die sich u. a. Horden nannten, was ,Gruppen auf Wanderfahrt' waren: „Von vornherein verband sich mit dem neu entdeckten Wandern ein ganzer Komplex von neuen Lebensformen: erst in Sprache und Sitte, dann in Geselligkeit, Kleidung, Kunstübung und Geschmack."55 So bildete sich innerhalb des Wandervogels ein Wortschatz heraus, der z.B. die jugendliche Wanderwelt speziell zu erfassen sucht: Den Abschluß der Seelenwanderung (,Vorbereitung der Fahrt') bildet die Fahrtenbesprechung·, u. a. wird notiert, wer welches Hordengut, insbesondere den Hordenpott, zu schleppen hat, wer den Nähkrempel und 52 53 54 55

Aufmuth 1979, 236 Aufmuth 1979, 236 Neuloh/Zilius 1982, 179 Wyneken 1920, 98

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wer die Klampfe mitbringt. Wer nur den G-Dur-Akkord reißen kann, soll das Ding daheim lassen. Der Kommunismus der Hordenkasse schützt vor Einzelschlemmerei und Filzigkeit (,Geiz'). Klotzmärsche (,Wanderungen, auf denen Kilometer gefressen werden') sind die Ausnahme. Der Führer kann sie anordnen, die Scholaren fügen sich seinen Anordnungen. Bei Rast heißt es: Raus aus der Kluft] Dann heißt es: Feuerstelle bauen, es gibt einen Feuermann und den Hordenkoch. Hat dieser sein Werk vollendet, heißt es: Auffüllen1. Jeder bekommt drei Hiebe in den Napf. Danach: gründliche Reinigung. Zwei Stunden sind hin. Schlafen, Träumen, Lesen, Erzählen, Herumstreichen. Tagebuch schreiben, lichtbildern, Skizzen zeichnen. Nur einer darf sagen: Aufbruch\ — der Führer.56 Und die nationalistisch und sprachpuristisch gesonnene „Zeitschrift des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins" versucht auf ihre Weise, das sprachlich Besondere im Wandervogel hervorzuheben: „Beim Durchwandern deutschen Landes hat sich auch eine eigene kräftige Wandervogelsprache eingebürgert [...]. Trifft man sonst gerade beim Reisen [...] so viel Sprachbarbarei an, so berührt es besonders wohltuend, wenn man die Verachtung der jungen Wandervögel gegen solche Art miterlebt. Sie verwahren sich ganz entschieden, wenn einer ihre Fahrten ,Touren' nennen wollte. [...] Ihr Wanderanzug ist meist aus Loden oder Rippensamt (Manchester!), gegen Nässe schützt sie der Wettermantel. Dieses vom Touristen ,Cape' genannte Kleidungsstück des Wanderers erfährt [...] lustige Benennungen wie Regenhaut oder Wetterfell. Die Wandervogelhorden führen gern eine Zupfgeige (Gitarre) mit sich [...]. Der eine oder andere nimmt auch eine Strahlenfalle [,Fotoapparat'] mit [...]."57 Im Laufe der Entwicklung des Wandervogels wurden Naturbeobachtung und Naturerfahrung immer wichtiger. So entwickelte die Wandervogel-Jugend ein neues Verhältnis zur Natur — das „Wandervogel-Buch" von H. E. Schomburg und G. Koetschau schildert das so: „Ehe der Junge aber auf große 56 57

Adaptiert aus Schomburg/Koetschau o. J. (1917), 17-20 Zeitschrift des Allg. Deutschen Sprachvereins 25. 1910, 276; Kursivsetzung von mir.

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Fahrt mitgenommen wird, hat er an manchem Sonntag und an manchem Ferientag in eintägigen Fahrten staunenden Auges geschaut, was die nächste Heimat birgt: stille Wiesen, vom Wald umsäumt; Dörfer im Sonntagsschmuck; Berge, zu deren Gipfel keine Wegebezeichnungen, aber unbegangene Schneisen führen; Aussichtspunkte, von denen man nur das Eine sieht: wie die Sonne sinkt; ein altes Burggemäuer, das gar nicht,berühmt' ist. Auf diesen Wegen lernen die Augen schauen, und die Seele bekommt einen Inhalt: die Schönheit der engsten Heimat glänzt darin. Nicht jedes Auge weitet sich zur selben Stunde. Der eine faßt die stolze, schweigende Pracht der Königskerzen am ersten Tage, und der andere muß erst vielmal das Rot des Fingerhutes gesehen haben, ehe er wie selbstverständlich den Lichtbildkasten hervorlangt und schweigend sich die Schönheit am Hang am Walde zu eigen macht. Man liegt erst einmal am Waldboden, ehe man den Eidechsen und den Mäuslein mit den klugen Augen ihr Leben ablauschen kann. Das wogende Kornfeld und der im Sturm schwer ächzende Wald - ja glaubt denn einer, daß offene Jungensherzen je solche selbsteroberten Erlebnisse wieder verlieren? Oder daß solcher Seeleninhalt sich nicht auswirke in der Lebensführung?"58 Das ist die Sprache feinsinniger und formulierungsmächtiger Erwachsener, die die künftige Lebensführung der Wandervögel in den Blick nehmen. Den F a h r t e n w o r t s c h a t z hatten Schomburg und Koetschau ref e r i e r t : Der kam aus der Mitte der Jugendlichen selbst; aber die einfühlsame Sprache der Naturbeschreibung war Erwachsenensprache. Die Arbeit der Bildungsbürger für den Wandervogel (s. o. S. 18f.) fand hier ihren Niederschlag. Dadurch wurde ein i n n i g e r Ton in die Wandervogelgemeinschaft gebracht, der auch die Volkslieder des Wandervogels (in ihrer Mehrheit) auszeichnete. Denn zu Fahrt und Naturerlebnis kam die Musik hinzu, insbesondere das einzeln und gemeinschaftlich gesungene Volkslied, begleitet von der Gitarre, die zünftig Zupfgeige, auch Klampfe genannt wurde, oder der Laute: „Vom Wandern ist das Naturerlebnis nicht zu trennen. Aber erst mit dem Singen und dem Musizieren entsteht 58

Schomburg/Koetschau o. J. (1917), 18

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1. Jugend, Sprache und Geschichte

der Akkord, der den Lebensstil der Wandervögel vornehmlich bestimmte."59 Textliche Grundlage für diesen „Akkord" waren die Liederbücher, von denen der Zupfgeigenhansl von 1908 (s. dazu S. 37) das bekannteste und erfolgreichste war. Vor dem Zupf oder dem Hansl (so die zünftigen Kurzformen) war im Steglitzer „Wandervogel" (e.V.) ein von S. Copalle und F. Fischer zusammengestelltes Liederbuch erschienen (1905), dessen zweite Auflage F. Fischer besorgte und das den Chorgesang und das „Kunstlied" bewußt förderte: „Des Wandervogels Liederbuch" (1910).*° Andere regionale Liederblätter, die alte und neue Lieder einer bestimmten Landschaft sammelten, hießen z.B.: „Gießener, Nedderdüütsches, Sächsisches, Märkisches, Thüringer und Münchener Liederblatt."61 Man sieht: Neben dem zentralen und erfolgreichen Liederbuch (dem Zupf) gibt es regionale Traditionen. „Und das Lied, das schlichte Volkslied, war unsere Sprache, dort um das Feuer auf dem Burghof über der Unstrut, wie es weiterhin unsere langsam wiedergefundene Sprache sein und bleiben soll", schreibt Frank Fischer im Jahre 1910.62 Deshalb sind zuvor wenigstens die Titel der Liederbücher notiert worden. Mit dem Singen und Spielen im Wandervogel breitete sich ein fachlich getönter Musikwortschatz aus. Hier ein kleines „Musik-Lexikon" des Wandervogels, das auf den Vorworten Hans Breuers zum „Zupfgeigenhansl" und auf den Nachworten Heinrich Scherrers, des „Kgl. bayr. Kammervirtuosen" basiert: ,Lied' und entsprechende Wortbildungen: Liederstoff, Liedersammlung, Liederblatt, Liederwelt, Liederbuch, Fahrtenlied, Klagelied, Liederquelle, liederfroh, Volkslied, Volkslieddichter, Volksliedreste, Volksliedzeitalter, Volksliedsache 59 60

61 62

Neuloh/Zilius 1982, 75 Vgl. Höckner 1927, 32 f. Frank Fischer schreibt in der 2. Auflage von 1910, IV: „Unser Liederbuch will vorwiegend dem Chorgesang dienen, der ,Zupfgeigenhansr ist die im Wandervogel und aus dem Leben entstandene Fibel für Einzelgesang zur Gitarre." Zitiert nach Wandervogel 8. 1913 (Heft 7), 230; vgl. Helwig 1960, 401; Ziegler 1950, 140; Höckner 1927, insbes. 15-62 Die Wandervogelzeit 1968, 96

1. Jugend, Sprache und Geschichte

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Instrumente' und entsprechende Wortbildungen: Zupfgeige, Gitarre, Klampfe, Laute, Zupfgeigenakkord, Gitarrespiel, Klampfenkunst, Klampfengriff, Lautenbegleitung ,singen* im Wandervogel: Gesungenes, Sangeskunst, Sängertum, Singbuch, Wiedersingen, im Chorus singen, sangesfroh, Wandervogelsingen, Wandervogel-Sänger Fachsprachliche Wörter: Melodie, Baßsaite, Anschlag, Spielhand, Akkord, Mollakkord, Akkordgriffe, Tonqualität, Note, Notenzeichen, Septime, Quarte, Terz, Dur-Akkord, A-Dur, Moll, Oberdominant-Septime Gegenbilder: Singsang, Musispiel, Schlager, Chorgebrüll, Schrumm-Schrumm, Wumpdata, Musikfexe63 In den Jahren 1975/1976 haben O. Neuloh und W. Zilius 142 ehemalige Jugendbewegte, davon 133 Wandervögel, zu den Grundwerten und zum Lebensstil der „Bewegung" befragt. „Von den 142 Befragten sind 24 Frauen, also 17%.u64 Wenigstens an dieser Stelle sei darauf verwiesen, daß auch Mädchen den Wandervogel geprägt haben. Seit 1907 hat der vom Altwandervogel abgespaltene „Wandervogel, Deutscher Bund für Jugendwandern" das Mädchenwandern in sein Programm aufgenommen (nachdem der 1905 im Rahmen des Altwandervogels gegründete „Bund der Wanderschwestern" nur kurzen Bestand hatte)65: „Jungen- und Mädchengruppen wanderten entweder getrennt oder auch gemeinsam. Dies war örtlich und regional verschieden. Im allgemeinen haben sich die ,gemischten' Fahrten in Süd- und Westdeutschland stärker eingebürgert als im Norden des Reiches."66 Mit 25000 aktiven Mitgliedern der Wandervögelbünde rechnet man 1913, wahrscheinlich sind 17% = 4250 weibliche Mitglieder eine viel zu hohe Zahl. Aus der Befragung der Verfasser sei hier aus der „Charakteristik der Jungen und Mädchen" zitiert, die den Typus des ,Wandervogels' 63 64 65 66

Die Zusammenstellung basiert auf der Seminararbeit von C. Foss 1983, 21; zu Breuer und Scherrer vgl. Höckner 1927, 26 — 31 Neuloh/Zilius 1982, 188 Die Wandervogelzeit 1968, 107 Die Wandervogelzeit 1968, 107 f.

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1. Jugend, Sprache und Geschichte

erfüllten: Der Wandervogel-Junge war ein feiner Kerl, wofür auch das Kürzel F. K. eingesetzt wurde. Zusätzliche Prädikate: ein patenter, ganzer, anständiger und dufter Kerl, der, und nun folgen negative Kennzeichnungen, nicht rumdruckste und wegguckte und mit dem man reden konnte. Schaut man in einem Wörterbuch der Zeit, etwa in der 5. Auflage des „Deutschen Wörterbuchs" von Weigand/Hirt 1909/1910 nach, so muß man feststellen, daß die spezifische jugendsprachliche Bedeutung dieser Adjektive nicht im Wörterbuch verzeichnet ist. Entweder wird, wie bei fein, ganz und anständig, nur die übliche Bedeutung erläutert; oder das Adjektiv ist als Stich wort nicht vertreten (dufte); oder die Bedeutungserklärung führt in die Irre, wie bei patent, das mit ,modisch, geschniegelt' erläutert wird — eine Bedeutung, die sich aus studentischem Sprachgebrauch herleitet, während patent hier meint: „Er konnte dieses und jenes, er machte alles mit, er konnte sich einfügen."67 Man sieht, daß sich eine jugendsprachliche Bedeutungsschicht spezifischer Wörter der Standardsprache entwickelt, eine Bedeutungsschicht, die aus den standardsprachlichen Wörterbüchern nicht zu erschließen ist. Das Wandervogel-Mädchen sollte aufgeschlossen und patent sein, dazu fröhlich und kameradschaftlich. Auffällig ist, daß das charakteristische Adjektiv fein für Mädchen hier keine Verwendung findet und Reflexionen über die äußere Erscheinung sehr wichtig sind: „Also das modisch Betonte wurde abgelehnt. Ein anständiges Mädchen trägt lange Zöpfe. Aber damit die Haare nicht wild herumfliegen, ein Stirnbändchen, was dann den Anlaß gab, am Nestabend einmal die Aufgabe zu stellen: Wie machen wir uns hübsch mit Stirnbändchen?"68 Namen, Fahrten-, Natur- und Musikwortschatz waren Beispiele für eine Wandervogelsprache. Diese ist jedoch nicht nur lexikalisch fundiert; Grüße (Heill), Anreden („Es war in Steglitz nicht üblich, sich zu duzen. [...] Ich habe den großen Reiz des schlichten allgemeinen ,Du' später genug kennen gelernt. Seit den 67 68

Neuloh/Zilius 1982, 100 Neuloh/Zilius 1982, 102

1. Jugend, Sprache und Geschichte

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Zeiten der Einigungsbestrebungen (1910/1911) und in großen Zusammenkünften wurde das Du in allen größeren Gruppen Norddeutschlands Sitte") und Gelöbnisformeln („Ich gelobe Respekt, Treue und Gehorsam") prägen auch die Sprachwelt des Wandervogels.69 Studentensprache im 18. und 19. Jahrhundert, Pennälersprache im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Sprache der Jugendbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts am Beispiel des Wandervogels — das sind historische Stationen deutscher Jugend und ihrer Sprache. Aber schon das ,am Beispiel' des vorstehenden Satzes zeigt auf, daß kein Gesamtbild gezeichnet werden konnte: Zu Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelt sich eine sozialistische Jugendbewegung70, nach dem I.Weltkrieg löst die Bündische Jugend den Wandervogel ab71, und im Jahre 1934 veröffentlicht Will Vesper ein Buch, in dem Friedrich Blunck, ein ehemaliger Wandervogel, unter dem Titel „Vom Wandervogel zur SA" folgendes schreibt: „Die Revolution ist gelungen, eine Revolution, die in der Jugendbewegung begann und im Nationalsozialismus zur Höhe geführt wurde."72 Kein Wörterbuch erklärt, daß Höhe ,Untergang, Vernichtung' meint. Nach 1945 wird die Mehrheit der Jugendlichen dem Begriff des Deutschen skeptisch gegenüberstehen und sich öffnen für Einflüsse, die vor allem aus dem Westen kommen. »Skeptische Generation' ist das erste Etikett, das der Jugend nach 1945 im Westen Deutschlands zugesprochen wird.73

69 70 71 72 73

Vgl. Henne 1981, 20-33 Vgl. z.B. Giesecke 1981, 38-54 Vgl. Die bündische Zeit 1974 Vesper 1934, 7 Schelsky 1963 (zuerst 1957), 74 ff.

2. Musik — „Sprache" der Jugend „So klingt aus jeder Wanderstunde draußen ein Volkslied heraus, es ist die unmittelbarste Sprache von allem unserem Erleben. — Aber das Volkslied ist auch unsere ehrlichste Sprache", schrieb ein Wandervogel vor 75 Jahren.1 Dieser: Hans Breuer, der Herausgeber des 1925 schon in 137 Auflagen vorliegenden „Zupfgeigenhansl", des einfluß- und erfolgreichsten Liederbuches der Jugendbewegung, ergänzte im Vorwort von 1913: „Auf der Bühne und im Ballsaal ist das Volkslied Modeware, es wird vergehen; dem Wandervogel ist es lebendige Sprache, und es wird leben, solange noch deutsche Wandervogellust zum Ausdruck drängt."2 Und einer aui der Bündischen Jugend, die nach dem 1. Weltkrieg den Wandervogel ablöste, erinnert sich so: „Gesungen wurde zur Klampfe oder Mundharmonika, schwermütige Lieder wie ,Wildgänse rauschen durch die Nacht' von Walter Flex."3 ,Schwermütig' bezieht sich auf Melodie und Text, in erster Linie wohl auf diesen, der die Nordlandsehnsüchte und — später auch erfahrungen vieler Bünde in Sangesworte faßt: „Wildgänse rauschen durch die Nacht Mit schrillem Schrei nach Norden — Unstäte Fahrt! Habt acht, habt acht! Die Welt ist voller Morden." Dabei ging die Bündische Jugend über das vom Wandervogel bevorzugte (historische) Volkslied hinaus; zusätzlich trugen das Chorlied und klassische Musik („die drei großen B's": Bach, Beethoven, Bruckner) Stimmung und Hoffnung der Jugend. Über 1 2 3

Die Wandervogelzeit 1968, 1011 Der Zupfgeigenhansl 1913 Sombart 1983, 391; ich zitiere nach Flex o. J., 2

2. Musik - „Sprache" der Jugend

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die Bünde hinweg entstand eine Jugendmusikbewegung, die sich in Musikgilden sammelte. „Vom ,Zupfgeigenhansl' zurück zum Volkslied des ausgehenden Mittelalters, dann hinauf zu Bach und weiter über August Hahn zu Paul Hindemith und Carl Orff — das sind die Stationen des Weges gewesen, der in etwas mehr als zwei Jahrzehnten durchschritten wurde."4 ,Unmittelbar', ,ehrlich' und ,lebendig' war die „Sprache" ihrer Musik, was heißt, daß sie das Gegenbild zur Sprache (ohne Anführungszeichen) der Erwachsenen war. Diese war und ist von Konventionen beherrscht, also nicht ,unmittelbar', verlogen, z. B. in ihren Höflichkeitsphrasen („habe die Ehre"), also nicht »ehrlich', und siech, also nicht ,lebendig', weil kein Funke von Sprecher zu Sprecher übersprang - wie bei jugendlicher Fahrt und jugendlichem Gesang. Im Jahre 1981 wird eine Studentin ihre Vorliebe für eine Stilrichtung der Rockmusik, für Punk-Rock, mit der ,Ehrlichkeit' dieser Musik begründen. Für ,ehrlich' halten alle i h r e Musik deshalb, weil ihr Leben, zumindest ihre Welt, darin aufgehoben scheint. Und auch die Studenten von 1817, die das Wartburgfest mit selbst verfaßten Liedern feierten, legten in diese Texte ihre ,ehrliche' Welt — wie August Binzer, Student der Rechte aus Kiel, der folgenden Liedtext verfaßte: „Stoßt an! Freies Wort lebe! Hurra hoch! Wer die Wahrheit kennet, und sagt sie nicht, Der bleibt führwahr ein knecht'scher Wicht. Frei ist der Bursch!"5 Was zeichnet Musik in ihren unterschiedlichen Formen als Studentenlied, Volkslied und Rocksong aus, das sie befähigt, das Lebensgefühl Jugendlicher zu tragen, Ausdrucksform für ,ehrliches' und ,wahres', also ihr jugendliches Leben zu sein? Im Alten Testament hat Musik stimulierende Funktion, übt gleichsam Macht aus: Bei der Belagerung Jerichos fielen die Mauern, nachdem Feldgeschrei erhoben und die Posaune geblasen 4 5

Haase 1951, 88 Henne/Objartel o. J., 23

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2. Musik — „Sprache" der Jugend

wurde: „Da machet das volck ein Feldgeschrey / vnd bliesen Posaunen / Denn als das volck den hal der Posaunen höret / macht es ein gros Feldgeschrey / Vnd die mauren fielen umb / Vnd das volck ersteig die Stad / [...]."6 Friedlicher sind die Nachrichten aus dem alten Griechenland: Hier verzauberte Orpheus mit der Laute und seinem Gesang Menschen, Tiere und Pflanzen. Der Zaubermacht seines Lautenspiels und seines Gesanges konnte sich keiner entziehen: Auch Vögel, Fische und Landtiere eilten herbei, um Orpheus musizieren zu hören, die Flüsse standen still, und die Winde verstummten in seiner Gegenwart. Die Posaunen von Jericho, die Laute des Orpheus, das Studentenlied auf dem Wartburgfest und das Volkslied im Wandervogel: Das sind h i s t o r i s c h e Beispiele für die Macht der Musik, der sich die moderne Jugend in besonderer Weise, eben auf ihre Weise hingibt. Musik wird zu einer Instanz der Sinngebung für Jugendliche in dürftiger Zeit — und aus der Perspektive der Jugend ist die Erwachsenenwelt notwendig dürftig. Welche Eigenschaft hat nun ,die' Musik, daß sie solche Wirkung ausüben kann? „Musik ist ein arithmetisches Exerzitium der Seele, wobei diese sich nicht bewußt ist, daß sie zählt. Dieser Satz ist leider nicht von mir, sondern von Leibniz."7 So dunkel und wunderbar diese Aussage zu sein scheint, eines wird klar formuliert: Musik spricht die Seele an und ist deshalb eine ,unmittelbare', ,ehrliche' und ,lebendige' »Sprache'. Leibniz formuliert, wenn er von ,Seele' spricht, in seiner Sprache, was heutzutage unter den Begriff ,Gefühl' (oder ,Emotion') gebracht wird. „Musik ist eine unübersetzbare Sprache, über deren Grammatik man sprechen kann, deren Bedeutung aber jeder anders versteht. Sollten wir beide dasselbe verstehen, so sagt es weniger über die Musik aus, als über unsere Seelenverwandtschaft."8 Ich fasse es so: Musik„sprache" schafft Einverständnis, Übereinstimmung, gerade weil der symbolisch gefaßte Sachverhalt, das „Darzustellende", diffus bleibt. Karl 6 7 8

Luther 1545, 413 f. Hildesheimer 1980, 812 Hildesheimer 1980, 812

2. Musik - „Sprache" der Jugend

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Bühler hatte die „Darstellungsfunktion" menschlicher Sprachzeichen als „dominierende Funktion" der Menschensprache bezeichnet9; für die Musik„sprache" ist die Ausdrucks- und Appellfunktion dominierend (und nunmehr ist erklärt, wofür die Anführungsstriche in Musik„sprache" stehen). Man gibt seiner Stimmung musikalischen A u s d r u c k und findet Zu-stimmung bei den anderen, an die man a p p e l l i e r t . Und um dann die Gemeinsamkeit vollends herzustellen, gibt es noch die Sangestexte. Wer kann ermessen, was sie aufnehmen — Sehnsucht, Trotz, Angst, Hoffnung ... Daß Jugendliche ihre Musik gleich aufnehmen und interpretieren, resultiert aus ihrer Seelenverwandtschaft, aus ihrer gemeinsamen Erlebniswelt. Und da diese auch innerhalb der Jugend geteilt ist, gibt es — in der Moderne - unterschiedlich favorisierte Richtungen und Gruppen. Welche? Sehr grob kann man Musik als die Verbindung von Tönen bestimmen, deren besondere Form der Verbindung den R h y t h m u s ergibt. Die sukzessive Folge von Tönen ergibt darüber hinaus die Melodie, die simultane Verbindung von Tönen den A k k o r d . Wie man nun diese Grundbegriffe auch weiterentwickeln mag, sicher ist, daß Rhythmus und Melodie eine besondere Form der Bewegung darstellen, die jugendlichem Lebensgefühl entspricht. Die Mehrzahl der Jugendlichen nach 1945 knüpfte nun musikalisch nicht an die Bündische Jugend oder gar den Wandervogel an, sondern gab sich ab Mitte der 50er Jahre dem Rock'n'Roll hin, der aus den Vereinigten Staaten von Nordamerika kam. Rock'n'Roll war aus dem „Rhythm and Blues" der 40er und 50er Jahre hervorgegangen10, einer Form schwarz-amerikanischer Musik, die sich ihrerseits vom afroamerikanischen Blues, einem instrumental vorgetragenen weltlichen Lied, und Elementen des Jazz herleitet. Schon die beiden Komponenten ,Blues' und ,Rhythm' betonen in stilistischer Hinsicht die melodischen (»Blues') und rhythmischen Aspekte, wobei »Rhythmus' hier auch und gerade Bewegung, nämlich Anregung zum Tanz meint. Rock'n'Roll nun ist die „musika9 10

Bühler 1965, XXVI Sandner 1977, 25; Kneif 1978, 172

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2. Musik — „Sprache" der Jugend

lisch wie sprachlich geglättete Form des Rhythm and Blues"11, der eben in dieser Glättung auch für weiße Musiker und deren Publikum annehmbar wurde. Der Ausdruck Rock'n'Roll „wurde vermutlich von dem Discjockey Alan Freed 1951 zum ersten Mal gebraucht, als er seine Rhythm and Blues-Musiksendung mit dem neuen Begriff versah und Bill Haleys Rock a Beatin' Boogie so annoncierte."12 Man kann es so formulieren: „Rhythm and Blues eroberte den Pop-Markt als Rock'n'Roll."13 Zunächst ahmten die weißen Musiker Rhythm and Blues nach — in sogenannten ,Cover Versions' (also Neuauflagen); damit hatten sie die Musik hoffähig gemacht, und die Originalversion konnte sich durchsetzen. Rhythm and Blues war eine schwarze Musik gewesen. In der Form des Rock'n'Roll hat sie den Widerstand der Weißen überwunden, besser: sind die schwarzen und weißen Fronten verwischt worden. Jetzt gab es plötzlich andere Fronten: Rock'n'Roll galt als Teil der „Teenage Scene", die gegen die Erwachsenen und deren Unterhaltungsmusik a la Frank Sinatra stand.14 Seit dieser Zeit, als die Jugend Nordamerikas sich zum Rock'n'Roll bekannte und gegen die Erwachsenen weit votierte, sind Rock'n'Roll und die Nachfolgestile Jugendmusiken geblieben. Am Ende der 50er Jahre war Rock'n'Roll akzeptiert — und „eroberte" die Jugend Europas. Wenn Rhythm and Blues ein rhythmisch gestraffter zwölftaktiger Blues mit Merkmalen von Swing, Harlem Jump und KleinCombo-Jazz ist, so ist Rock'n'Roll durch Elemente der „Country Music" und der weißen (romantischen) Ballade erweitert und geglättet. Der Prophet des Rock'n'Roll war Chuck Berry, der Abgott Elvis Presley. Den ersten Welterfolg erzielte Bill Haley mit „Rock Around the Clock". 1954 als Single veröffentlicht, war dieser Song die Neuauflage (,Cover-Version') eines schwarzen Hits. Erst als „Rock Around the Clock" 1955 zum Thema-Song des Films „Black11 12 13 14

Sandner 1977, 28 Sandner 1977, 27 f. J. Kamin, zitiert bei Sandner 1977, 28 Vgl. Sandner 1977, 31

2. Musik - „Sprache" der Jugend

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board Jungle", deutsch: „Saat der Gewalt" wurde, erhielt dieses Musikstück eine Bedeutung, die man so nicht hatte voraussehen können: „Rock around the Clock" wurde zur „Marseillaise der Teenager Revolution".15 Dieser Song schien der Entfremdung und Frustration (sie) der amerikanischen High-School-Teenager Ausdruck zu geben und zugleich ein „Aufruf zur Rebellion" zu sein.16 Als Bill Haley 1958 eine Deutschland-Tournee machte, zertrümmerten deutsche Jugendliche in Stuttgart, Essen, Hamburg und Berlin (West) das Gestühl der Konzertsäle. Die in Berlin (Ost) erscheinende Zeitung ,Neues Deutschland' „bezichtigte damals den ,Rock'n'Roll-Gangster' Haley, eine ,Orgie der amerikanischen Unkultur' angerichtet zu haben; der ,Rheinische Merkur' klagte, daß ausgerechnet ,am Tag der Papstwahl' der ,Komet der Triebentfesselung' im Bistum Essen einen ,Generalangriff auf Geschmack, Anstand und Selbstachtung* gewagt hatte."17 Das Jahr 1958 ist ein Schlüsseljahr: Zum ersten Mal nach 1945 trug Musik „sichtbar" Revolte und Protest der Jugendlichen in Deutschland. Rock'n'Roll wurde ihre Musik. Was war geschehen? Dazu Bill Haley: „Ich dachte mir, wenn ich eine DixielandMelodie nehme und den ersten und dritten Rhythmus-Schlag weglasse, dafür aber den zweiten und vierten betone und einen Beat hinzugebe, nach dem die Zuhörer klatschen oder auch tanzen können — das wäre genau nach ihren Wünschen. Der Rest war einfach: Ich nahm alltägliche Redewendungen wie ,Crazy, man, crazy; See you later, alligator; Shake, rattle and roll' und machte nach der geschilderten Methode Songs daraus."18 Das macht deutlich: Bill Haley sah dem jungen Volk auf Maul, Ohr und Hand, soll heißen: auf ihre rhythmischen und melodischen Bedürfnisse und auf ihre Sprache. Seine Musik und die unterlegten Texte täuschen jedoch nicht darüber hinweg, daß er recht oberflächlich 15

16 17 18

Lillian Roxon, zitiert bei Schmidt-Joos/Graves 1975, 164; vgl. auch Shaw 1978, 147 Shaw 1978, 147 Schmidt-Joos/Graves 1975, 164 Schmidt-Joos/Graves 1975, 163 f.

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2. Musik - „Sprache" der Jugend

arbeitete. Das erkennt man, wenn man seine Arbeitsweise mit der Chuck Berrys vergleicht. Dieser schuf die eigentlichen „TeenageKlassiker"19, Songs, in denen Erwachsenenwelt und Establishment — Berry ist Schwarzer — zugleich kritisiert werden. Chuck Berry, selbst kein Jugendlicher, wurde zum Beobachter der jugendlichen Szene in Nord-Amerika: in „Roll over Beethoven" setzte er sich für Jugendliche und ihre Musik, den Rhythm and Blues, ein. „School day, Johnny B. Goode and Sweet little sixteen aus den Jahren '57 —'58 waren kleine Meisterwerke voller Einsicht und Verständnis. School day (Ring! Ring! Goes the bell!) traf haargenau die Gefühle eines High School-Schülers vom morgendlichen Schulbeginn, wenn ,the teacher ist teachin' the golden rule' bis zum erlösenden Klingelzeichen am Nachmittag um drei Uhr, wenn man endlich befreit war und zur Musikbox-Kneipe um die Ecke rannte: „Hail! Hail! Rock'n'Roll / Deliver me from the days of old [...]."2° Die „Jugendmusik" versuchte also, Spuren des amerikanischen Alltags zu sichern, diesen detailtreu und authentisch in seinen Liedern nachzuzeichnen. Damit erweist sich: Musik für Jugendliche kann ohne Jugendliche und die Kenntnis ihrer Probleme, ihres Lebenshungers und ihrer Lebensangst, nicht gemacht werden. Rock'n'Roll wurde zur modernen Jugendmusik. Was danach kam, kann hier nur angedeutet werden. Da ist zunächst, in den 60er Jahren, die Liverpooler Beatmusik. „Beat als Terminus und Gattungsbezeichnung der Musik — [...] — taucht zum ersten Male als Mersey Beat um 1960 auf."21 Die Umbenennung der „Silver Beetles", also der ,Silberkäfer' in Beatles soll auf die Besonderheit der Rhythmik, aber auch auf die Nähe zur amerikanischen Beat-Generation verweisen. Warum Liverpool? Diese Hafenstadt Englands stellte die Verbindung zu Amerika her: Englische Matrosen brachten die neuesten Platten mit und inspirierten so die Liverpooler Musikszene.22 Die neue Generation 19 20 21 22

Shaw 1978, 155 Shaw 1978, 155 Sandner 1977, 21 Sandner 1977, 23; vgl. auch Kap. 3, S. 49 ff.

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der Liverpooler Beat-Musiker war eine Protestgeneration, die gegen die Erwachsenen stand, deren Werte sie in sog. Events, Protestereignissen, z. B. unter dem Titel ,Bomb', kritisierten. Musikalisch setzten sie die antiphilharmonische Tradition fort: Die Gruppen spielten vorzugsweise verstärkte Gitarren und Schlagzeug.23 Was nach dem Beat kommt, soll Rock heißen. „Zwischen 1966 und 1976 haben sich unzählige neue Trends gebildet, die das ewige Thema Rockmusik modifizieren. Jazz Rock, Klassik-Rock, Nostalgie-Rock, Glitter-Sound, Reggae, Electronic Rock, HardRock, um nur die hervorstechendsten zu nennen. Grundlage aller dieser Stile ist nach wie vor der Rock'n'Roll der 50er Jahre."24 Der Chronist, der dies 1977 schrieb, konnte zumindest zwei weitere ,Stile' nicht kennen, die seitdem die Szene mitbestimmten: Punk Rock, der auch unter der Bezeichnung ,New Wave' läuft (lief), und die ,Neue Deutsche Welle'. Punk Rock war eine anarchistische „Bewegung" aus Großbritannien, die von den „Sex Pistols" initiiert wurde. Deren erste LP [elpi] hieß „Anarchy in the UK": „Ich bin der Antichrist, ich bin ein Anarchist, ich weiß nicht, was ich will, aber ich weiß, wie ich es kriegen kann." Diese wenigen Zeilen geben die widersprüchliche Botschaft, „die sich aufhebt"25, wieder. Auf jeden Fall: Auch der Punk Rock ist eine Sinnsuche, reason (,Sinn') ist eines der Schlüsselworte der Texte der Sex Pistols; aber: mißtraut wird den festen Entwürfen, den „festgeschriebenen Haltungen"26, dem, was man landläufig Jdeologie' nennt. Anarchische Motive und anarchistische Sehnsüchte, wie hält man die durch? „Punk wurde ordnungsgemäß vom Rockbiz [-business] vereinnahmt", schreibt ein Kritiker 1980.27 Er nennt drei Gründe für die Bedeutung des ,Punk': Dieser sei Ausdruck der Subkultur und des Klassenbewußtseins jugendlicher Arbeiter gewesen; er sei zum zweiten eine Bewegung gewesen, die sich der 23 24 25 26 27

Sandner 1977, 23 Sandner 1977, 32 Schmidt 1980, 7 Schmidt 1980, 10 Frith 1980, 94

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kapitalistischen Warenproduktion verweigerte nach dem Motto: do it yourself; er sei drittens eine Bewegung der wirklich neuen Ausdrucksformen gewesen. Es sollte nicht überlesen werden, daß diese Aussagen im Perfekt, also in der vollendeten Gegenwart stehen. Im März 1981 spricht F. Schöler vom „Post-Punk-Rock", Musik „aus dem Augenblick für den Augenblick"28, die sich durch „kalkulierte Formlosigkeit" auszeichne und insofern gegen den „Rockmusikbetrieb der siebziger Jahre" stehe. „Include me out" sei ein „paradox-programmatischer" Titel dieser Richtung. Damit wird signalisiert, daß der Ausstieg aus der Geschichte des Rock'n'Roll auf dem Programm steht oder sogar: die Rückkehr zum frühen Rock'n'Roll. Beides war zum Scheitern verurteilt. Im Juli 1982 meldet sich derselbe Autor zu Wort und nennt neue „Stars der Stunde: die kläglichen Musikanten der Neuen Deutschen Welle."29 Anfangs ein „Untergrund-Phänomen" mit nationalem Touch und zum Tanz nach „deutschen Tönen" auffordernd — das Konzept: „aggressive Synthesizer-Monotonie, Reizverse und im Befehlston gehämmerte Slogans" — , sei die Neue Deutsche Welle („Punk macht dicken Arsch") schnell vermarktet worden. Der Kritiker dieser musikalischen Pop-Mode beantwortet die selbstgestellte Frage: „Was ist nun eigentlich die Neue Deutsche Welle?" so: „Vornehmlich ein Marketing-Konzept, hinter dem sich eine Vielzahl von stilistisch völlig verschiedenen Gruppen verbirgt; ein Riesengeschäft für die Plattenindustrie, die nun absahnt wie bei keiner anderen ,Welle' zuvor. Längst reicht das Spektrum des NDWMarktes vom eher traditionell instrumentierten Dialekt-Pop (Zeltinger, Spider Murphy Gang) über die Fraktionen der ElektronikPopper (DAF [Deutsch-Amerikanische Freundschaft], Krupps) und „Sozialkritiker" (Neues Deutschland, Interzone) bis zu den NeoApokalyptikern, den neuen Schlagermachern, den Minimal-PopKomödianten a la Der Plan und den methodisch vorgehenden Dilettanten, die zurück zum Dadaismus wollen." Man sieht: die i8 29

Die Zeit 6.3.1981 Die Zeit 16.7.1982

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Wellen kommen und gehen, und Jugendliche schwimmen auf ihnen und gegen sie; immer aber sind sie im Strom ihrer Musik. Epilog: „Anfang 1980 war die große Zeit der Neuen Deutschen Welle. Bands wie Spliff oder Nena, Bei Ami oder Ideal polierten den spöttischen Begriff des „Kraut-Rock" auf. Nach rund vier Jahren haben sich die Wogen geglättet. Die Plattenindustrie, die zu Beginn der Neuen Deutschen Welle sogar mit vielen Künstlern Verträge abschloß, die besser nicht zustandegekommen wären, hält sich jetzt wesentlich bedeckter: Nach dem „großen Schnitt" ist die Welle abgeebbt."30 Auf Fragebögen, die ich über 500 Schülern vorlegte (s. dazu S. 64), hieß es, ziemlich zu Anfang: „Kennst du Jugend- oder umgangssprachliche Bezeichnungen für gute bzw. schlechte Musik?" 21 Schüler und Schülerinnen der Klasse 11 eines Braunschweiger Gymnasiums führten 11 für ,gute Musik' Mucke an, einmal ohne jeden Zusatz, 10 mit folgenden Zusätzen: gute Mucke, saugute M., irre M., dufte M. (2 ), geile M. (2 ), spitzen M. (2 ), fetzige M. Für ,schlechte Musik' wurde 4 Mucke angeführt, jeweils mit folgenden Zusätzen: ätzende M., keine M., miese M., saublöde M. Zu vermuten ist, daß Mucke ursprünglich ein positiv besetztes Wort war — die attributlose Anführung für ,gute Musik' und die Kombination ,keine Mucke' für ,schlechte Musik' lassen dies vermuten — , daß aber dieses Jugendwort sehr schnell in den Wertekampf gezogen wurde und dann entsprechend positiv und negativ bewertet wird. Dabei ist Mucke dem amerikanischen muck entlehnt, das ,Drecksarbeit' heißt, dann aber jargonaler, negativ bewerteter Ausdruck für den bezahlten Auftritt eines Musikers wurde31, der (für einen Abend) „eine Mucke" spielte. Das Pendant zum „Braunschweigischen" Mucke ist in Melsungen (in Nordhessen) Musi. 32 Schüler und Schülerinnen der Klasse 11 (bzw. was dem entspricht) eines Melsunger Gymnasiums führten bei 21 Antworten für ,gute Musik' 6 Musi an, 3 ohne jeden Zusatz, 3 mit folgenden Attributen: gute M., schöne M., spitzen 30 31

C. Döll in: Der Tagesspiegel vom 14.10.1984 Vgl. Duden. Das große Wb. d. dt. Sprache Bd. 4. 1978, 1824

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2. Musik — „Sprache" der Jugend

M. Bei 20 Antworten für ,schlechte Musik' wurde nur 2 Musi angegeben mit folgenden Attributen: schlechte M., scheiß M. Musi hat nicht, so kann man aufgrund dieser Unterlagen sagen, die beherrschende Stellung, die Mucke in Braunschweig hat. Die Melsunger mußten also häufiger zu Synonymen greifen, hier eine kleine Auswahl für ,schlechte Musik': Schrott, Schund, Ramsch, Gejammer, Disco-Fuck, Disco-Stampf, organisierter Lärm, oder einfach auch: Peter Maffay. Mannheimer Schülern nun steht keine Leitform wie Mucke oder Musi zur Verfügung. Die 26 Schüler und Schülerinnen der Klasse 11 eines Mannheimer Gymnasiums führen bei 12 Antworten für ,gute Musik' 5 Musik mit folgenden Zusätzen: saustarke M., sinnige l A M., geile M. (3 ). Die Mannheimer müssen sich also verstärkt synonymisch profilieren und ersetzen am intensivsten die nominale Struktur der Antworten durch Verbstrukturen; da geht die Post ah, die fetzt's, die bringt's voll, sin des geile Lieder. Hier kommt ein umgangssprachlicher Ton in die Antworten, der eine landschaftliche Basis hat. In den 18 Antworten für ,schlechte Musik' wird das Substantiv Musik nicht einmal genannt, dafür aber eine reichhaltige Synonymik entfaltet, wie: so'n Radau, mieses Gekrächze, ödes Klangbild, Discoschrotti, die packt's net, oder einfach, parallel zu Peter Maffay, Heino (2 ). Man könnte sagen: Wenn profilierte Leitformen, wie Mucke in Braunschweig und Musi in Melsungen fehlen, ist die Phantasie gefragt. Die Profilierung läuft dann eher über Text und Stil als über den Wortschatz.

3. Texte und Materialien zur Musik der Jugend 3.1. Der Zupfgeigenhansl 1908 ff. Das Vorwort zur I.Auflage von 1908, 137.Auflage 1925 (757. bis 761. Tausend), „Reprint" nach einem Exemplar der 10. Auflage 1913, München 1983, lautet: So geleite denn, kleines Büchlein, den fahrenden Gesellen hinaus auf seinen Weg! Die Zupfgeige sei dein Genoß, und wenn ihr gute Freunde seid, wird eure Reise fein lustig werden. Du aber, sangesfroher Wandervogel, wenn du die Seiten blätterst, wirst manches missen, was anderen ein Pläsier: Moritat und Schauerg'schichten, den Ruf wie Donnerhall, das Lied vom braunen Cerevis. — Sei friedlich und laß dir erzählen, wie es auf Wanderfahrten mit solchen Liedern zu gehen pflegt: die ersten Tage sind erfüllt von Singsang und Musispiel, der bringt den „neuesten Schlager" mit, der gibt ein neues „Larida" zum besten. Das schlägt auch schnell an, denn es ist seicht und jedermann kommod. Bald aber sind die flachen Weisen abgesungen, es wird stiller im Reviere, endlich versagt auch der „Stumpfsinn", und ohne Sang und Klang, den Kopf in den Staub gehängt, trottelt man durch die Lande: 40km sei's Panier! — Wir aber sagen: die Güte eines Liedes erprobt sich an seiner Dauerhaftigkeit; was hier gebracht wird, hat seit Wandervogels Anbeginn eine unverwüstliche Lebenskraft bewiesen, nein viel mehr, das hat Jahrhundert um Jahrhundert im Volke fortgelebt. Was der Zeit getrotzt, das muß einfach gut sein. Nur Gutes, kein Allerweltskram, um keinen Fingerbreit gewichen dem herrschenden Ungeschmack, das war unser redliches Bemühen, als wir an das Sichten des Liederstoffes gingen. Mit dem bloßen Wiedersingen des hier Gegebenen soll es aber nicht getan sein, das lehren dich die leeren Seiten im Anhang. — Da schreibe hinein, was du auf sonniger Heide, in den niedrigen Hütten dem Volke abgelauscht hast, wir müssen alle, alle mithelfen, aus dem Niedergang der schaffenden Volkspoesie zu halten, was noch zu halten ist. Noch lebt das alte Volkslied, noch wandelt frisch und

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3. Texte und Materialien zur Musik der Jugend

lebensfroh in unserer Mitte, was unsere Väter geliebt, geträumt und gelitten. Noch heute raunt die totgesprochene Freya aus dem Blättergewande der Haselin, und Tannhusers Klagelied tönt wie vor tausend Jahren aus Vrenelis Berg. Das Erbe ist groß und herrlich, aber die Erben können nichts mehr und wissen nicht, was sie besitzen. Auch heute noch gehen und kommen neue volkstümliche Lieder, „Volkslieder", wem's gefällt, aber das trieft von Sentimentalität und verschwommenen Gefühlen. Wo ist das Schlichte, Innige, Liebenswürdige geblieben? — Hier gilt's, ein edles Gut zu bewahren. Zum Schlüsse noch ein Wort an des Büchleins Freund. Falls dir jenes oder dieses Lied fremd und unverständlich dünkt, so vergiß nicht: auch die Melodie hat eine oft schwierige Pointe, die erfaßt sein will. — Singe das Lied des öfteren; ein paar Zupfgeigenakkorde, die das Verständnis überraschend erleichtern, findest du im Anhang: c'est la sauce, qui fait le poisson. - Nur nicht zu viel in den Saiten herumgekratzt, hier ein weicher Mollakkord angeschlagen und dort eine fragende Septime, das gibt deinem Vortrage Leben. Und dann noch eins: bitte möglichst wenig Chorgebrüll! Auf der Landstraße selbstverständlich und unter dem Stadttore fortissimo. Aber inmitten der freien Landschaft, da ist die einzelne Menschenstimme etwas eigenartig Schönes; der einzelne wird immer Gefühl und Temperament in das Gesungene hineinlegen; eine gehaltvolle Melodie im Chorus gesungen ist und bleibt: Bastardierung der Gefühle. So soll das Büchlein endlich dazu dienen, Sangeskunst und Sinn für die schlichte, schöne Art des Volkes zu fördern, mit hinwirken nach dem Brennpunkte unserer heutigen Kulturbestrebungen: Liebe zum Volk und Ehrfurcht vor seinen unvergänglichen Werken. Heidelberg, Weihnachten 1908. Dies ist ein ,klassischer* Text: Schon in der ersten Zeile wird die Zielgruppe des Liederbuchs angesprochen: fahrende Gesellen, die mit der Zupfgeige auf die Reise, eigentlich: die Fahrt gehen. Mit dieser ,Ansprache' des Herausgebers Hans Breuer wird fortgesetzt, was Karl Fischer, der (erste) regierende Oberbachant des Wandervogels (1901), begonnen hatte: der Jugend die deutsche Vergangenheit zu öffnen, sie auf eine Welt fahrender Gesellen, also der Vaganten (,umherziehende Studenten oder Kleriker') und Scholaren (,umherziehende Schüler bzw. Studenten') zu verweisen.1 Damit wird eine jugendliche Gegenwelt zu „Moritat" und „SchauerVgl. Henne 1981, 26 f.

3.1. Der Zupfgeigenhansl 1908 ff.

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g'schichten", zum „Ruf wie Donnerhall" und zum „Lied vom braunen Cerevis" (,Bier') entworfen. Breuer distanziert sich von der kleinbürgerlichen Welt der Moritatensänger, die rührselige oder schauerliche Geschichten (als Lieder) mit belehrender Moral auf den Jahrmärkten vortragen; von dem gesanglichen National- und Hurrapatriotismus, wofür das von Max Schneckenburger 1840 verfaßte „Nationallied" steht, das im Krieg von 1870/71 zum Kampf- und Siegeslied wurde2; von der bierseligen (cerevisia ,das Bier') Sangeslust studentischer Korporationen („Gaudeamus igitur ..."), deren Traditionen erstarrt schienen. Schon zu Beginn der deutschen Jugendbewegung und ihrer Musik wird eine Grundregel jugendlicher Selbstbestimmung deutlich: Man entwirft das Reine und Neue gegen abgelebte und verbrauchte jugendliche und erwachsene Lebens weiten. Dagegen wird auf das in Jahrhunderten gewachsene Lied gesetzt — und jeder fahrende Geselle soll selbst zum Sammler wertvollen Liedguts werden. Und zum Sänger und Musikanten. Und damit zum Förderer der Kultur, indem er „Liebe zum Volk und Ehrfurcht vor seinen unvergänglichen Werken" zeigt. In den folgenden Vorworten, die Hans Breuer bis zur 11. Auflage 1915 (dieses schon aus dem Krieg, der „Stellung von Badonviller") schreibt, wird der Zug zum Deutschtum verstärkt, werden die „deutsche Art" und die „deutschen Lieder" immer intensiver hervorgehoben. Das Vorwort der 9. Auflage von 1912 schließt: „In diesen ernsten Zeitläuften hat das Volkslied für uns einen viel tieferen Sinn; möge es uns stärken und heben im bewußten Empfinden dessen, was deutsch ist, möge es an seinem kleinen Teile mitwirken an dem inneren Streben der Nation, an der Vollendung des Deutschtums." Und im Krieg schreibt der Herausgeber schließlich: „Der Krieg hat dem Wandervogel recht gegeben, hat seine tiefe nationale Grundidee los von allem Beiwerk stark und licht in unsere Mitte gestellt. Wir müssen immer deutscher werden ..." — Dagegen ist festzuhalten: Der Krieg hat den Wandervogel und das Leben Hans Breuers zerstört. Der Nachdruck von 1983 folgt der Vgl. Scherer u. Lipperheide 1871

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3. Texte und Materialien zur Musik der Jugend

10. Auflage (von 1913) und enthält folglich nicht die von Erich Matthes 1918 verfaßte Todesanzeige Hans Breuers, die in der 12. Auflage von 1918 den Vorworten voransteht: HANS BREUER O Tod, das hast du schlecht gemacht, So stolze Kraft für nichts geacht't. Viel Krauter stehen hundertweis'. Was rauftest du dies Edelreis? Hans Breuer gefallen! Nach vier Kriegsjahren mußte auch er sein Leben lassen wie viele hundert Wandervögel, die herausgezogen sind, mit ihrem Leibe die Heimat zu schützen. Mit der Geschichte des Wandervogels ist der Name Hans Breuer verknüpft, wie kaum ein zweiter. Diesem Führer verdankt die deutsche Wandervogelsache und unsere völkische Bestrebung unendlich viel. Hans Breuer war es, der aus wandernden Schülervereinen jene mächtig aufstrebende Jugendbewegung schuf, die sich eine eigene Jugendkultur erwanderte. Er war es, der dem Wandervogel immer wieder neue Seiten abzugewinnen vermochte. Zehn Jahre sind es nun her, daß der Zupfgeigenhansl zum ersten Male seinen Weg in die deutschen Lande antrat. Begeistert aufgenommen von den Wandervögeln, fehlte es diesem wackern Kerl doch nicht an Anfeindungen aller Art. Viel Feind', viel Ehr'! Dem Zupfgeigenhansl hat's nichts anhaben können. „Unser Hansel" ist für uns Wandervögel und Wanderer keine xbeliebige Liedersammlung, er ist ein Stück von unserer Seele. So wurde dieses Buch Tausenden jungen Menschen ein Erlebnis, das sie nie mehr vergessen werden, auch wenn sie dem Wandervogel längst den Rücken kehrten. Als der Krieg kam, wanderte der Zupfgeigenhansl mit hinaus ins Feld, war unser ständiger Begleiter, ein Stück Heimat ging mit uns, das Buch und seine Lieder ward uns Symbol. Jener Heidelberger Student hat wohl kaum geahnt, welche Tragweite einst sein Werk haben konnte. Das kleine graue Büchel wurde ein Wandervogelerzieher, ein Maßstab für alles Echte, so ist es auch mehr als eine bloße Liedersammlung oder ein Verlagsartikel, es ist eine nationale Tat. Über seine Arbeit im Wandervogel schrieb Breuer noch kurz vor seinem Tode an den Vater: „In meiner Jugend habe ich die deutsche Wandersache bewußt gefördert. Mit ganzer Kraft habe ich in diesen wundervollen Teppich manchen Faden hineingewoben, der heute noch ist und bleiben wird. Ich habe bewußt das Deutsche, das Nationale in dieser Sache

3.1. Der Zupfgeigenhansl 1908 ff.

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gefördert und gepflegt, lange schon bevor der Krieg ausbrach, und der Krieg hat gezeigt, daß dieser Weg der richtige war," Irgendwo in Frankreich vermodert sein Leib, das Werk Hans Breuers aber wird fortleben, solange noch ein deutscher Wandervogel und Wanderer singt. In diesen schweren Tagen ist der Zupfgeigenhansl uns ein nationales Besinnungsbuch edelster Art, wohl dem, der sich noch daran erfreuen und erbauen kann „trotz Tod und Tränen". Leipzig, am 9. Oktober 1918. Erich Matthes.

Nunmehr ist es soweit: Das Liederbuch wird zum Mythos, zum „Stück von unserer Seele", zur „nationalen Tat", kurz: ein „nationales Besinnungsbuch." Ein „Hoffnungsbuch der Jugend" nennt es Hans Lißner im Jahre 192l.3 Dies zeigt an, daß der Zupf bzw. der Hansl dem Kreis der Wandervögel längst entwachsen war. Auch der Nachdruck im Jahre 1983 deutet darauf hin. Die Jugend der 20er Jahre war hingegen längst dabei, neue Formen zu erproben. Der neue Sammelname lautete Bündische Jugend. Was lehren die vorstehenden Texte in sprachlicher Hinsicht? Daß in der frühen Jugendbewegung eine archaische Wortwelt aufgebaut wird: Wandervogel, (fahrender) Gesell, Genoß; (totgesprochene) Frei/a, (Blättergewand der) Haselin, Tannhuser(s Klagelied). Gegen diese raunende Welt ehrwürdiger Vergangenheit wird, auch sprachlich, eine oberflächliche Gegenwart ausgespielt: Nur Pläsier versprechen Moritat, Singsang, Musispiel und Schlager. Diese sind — und jetzt kommen die den Unwert anzeigenden Adjektive — : seicht und kommod. Hingegen sind die Fahrten fein lustig - und damit wird das Wertadjektiv (fein) genannt (hier als Adverb), das zusammen mit frei und wahr die neue Wertorientierung anzeigen sollte.4 Das Nachwort spricht den „geneigten Leser" an und wirbt für die Wandervogelsache: „Hast du, geneigter Leser, das Büchlein wohl durchstudiert und mit Lust und Liebe dir zu eigen gemacht und gehst du wieder auf deine Sommerreise, so suche einmal nach jenen sangesfrohen Bubenscha3 4

Lißner 1921, 388 f. Henne 1981, 20

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3. Texte und Materialien zur Musik der Jugend

ren, die alljährlich ihre heimatlichen Wälder und Berge durchstreifen. Das sind die Wandervögel. Setze dich zu ihnen ans Lagerfeuer und nimm vorlieb mit ihrem Feldkessel; laß dir ihre Lieder singen, du wirst vieles, was hier steht, da wiederfinden. Laß dir von ihren Abenteuern erzählen, von Burgen und mauerumkränzten Städtlein, die sie geschaut, von ihren Freinächten auf einsamer Jägerhütte, von ihrer beispiellos einfachen, spartanischen Lebensart. Und du wirst inne werden, daß solche Jugendtage golden seien, daß es nichts Schöneres für einen Buben gibt, als eine gesunde Verwirklichung seiner romantischen Ideale, daß hier Gesundheit, Freiheit und Freude leben, daß hier einmal etwas Positives geschieht im Kampfe gegen fade Bierkommentspoesie und lächerliche Pennälerblasiertheit. Und wenn du ein guter Mensch bist und ein offenes, weites Herz für die Jugend hast, so wirst du auch Lust verspüren, mitzuhelfen, mitzuarbeiten am Weiterbau der Wandervogelsache. Wohlan! Tritt herein in unsere Reihen! Du sollst uns willkommen sein, die Jugend wird dir's lohnen. Klein, ganz klein hat der Wandervogel angefangen, aber er war ein notwendiges Heilmittel der Zeit, er war gut und schön, und darum hat er soviel begeisterte Anhänger geworben. ,Schön ist Geringstes, das die rechte Form gefunden. Und wertlos Edelstes, von falscher Form gebunden.'"

Wiederum wird der Zauber goldener Jugendtage und die neue Lebensart beschworen: Wandervögel am Lagerfeuer, die Freinächte auf einsamer Jägerhütte verbringen, Abenteuer bestehen und Burgen und mauerumkränzte Städtlein schauen. Geschickt wird der Fahrtenwortschatz eingeführt. Dieser wiederum weist hin auf die romantischen Ideale, die Heilmittel der Zeit sind — gegen fade Bierkommentspoesie und lächerliche Pennälerblasiertheit. Die eherne Regel, daß die (Wandervogel-)Sterne nur leuchten, wenn es Nacht ist, wird auch hier eingehalten. Pennäler und Studenten sollten, wenigstens vorübergehend, Wandervögel werden. Nur so waren sie vom studentischen Komment und der pennälerhaften Blasiertheit zu erlösen — das Neue der Bewegung stand gegen die aus dem 19. Jahrhundert überlieferten Formen.

3.2. Die Jugendmusikbewegung 1919 ff.

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3.2. Die Jugendmusikbewegung 1919 ff. „Das Volkslied ist der vollendete musische Ausdruck unserer Wandervogelideale", schrieb Hans Breuer 1910.5 Gegen diesen Satz, sicher der meistzitierte der Wandervogelzeit, wendet sich zwei Jahre später R W. Rittinghaus, wenn er schreibt: „Nein, das Volkslied ist ein Ersatz, ein sehr, sehr hochstehender, aber nicht vollgültiger für etwas, was wir nicht haben, für das unserer Zeit entsprechende, ihre innersten Regungen wiedergebende und dabei alle Kreise pakkende Lied. Wo ist dieses neue deutsche ,Volkslied'?u6 Der Verfasser meinte Lieder, die wirklich Besitz des ,Volkes' seien; so ist, wie seine weiteren Ausführungen ergeben, sein Begriff des ,Volksliedes' zu interpretieren. Wenn man also die Musik im Wandervogel auf den ,ZupfgeigenhansP reduziert, vereinfacht man die Musikszene im Wandervogel doch sehr. Zwei Jahre zuvor, also 1910, hatte Hans Breuer das „Wandervogel-Liederbuch" Frank Fischers angezeigt. Fischer hatte in dieses Liederbuch Marsch- und Chorlieder, Volksund Soldatenlieder aufgenommen und damit bewußt über das Volkslied hinausgegriffen. Breuer schrieb: „Der Charakter des Büchleins ist: vornehm-schöngeistig, es tendiert zweifellos nach dem textlich höher entwickelten Kunstlied. Uhland, Eichendorff, Rückert, Geibel sind in überaus glücklicher Auswahl in das noch lebende Volkslied hinein verwoben, als wüchsen sie aus ihm hervor."7 Und aus dieser Bewertung zog Breuer die Konsequenz: „Der Zupfgeigenhansl mag den Klampfenspielern weiter dienen, als Bundesliederbuch gelte fortab das schöne und gute Frank Fischersche Bändchen."8 Man sieht, noch in der Wandervogelzeit gibt es Entwicklungen, die hindeuten auf die neue „Musikalische Jugendkultur" — wie ein Sammelband heißt, der 1918 von Fritz Jode, dem führenden Kopf der neuen Bewegung, herausgegeben wurde. In diesem Band 5 6 7 8

Die Wandervogelzeit Die Wandervogelzeit Die Wandervogelzeit Die Wandervogelzeit

1968, 1968, 1968, 1968,

1012 1017 1014 1015

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3. Texte und Materialien zur Musik der Jugend

schreibt Gustav Wyneken, einer der einflußreichen Mentoren der Jugendbewegung9: „Um was handelt es sich bei einer Neuorientierung der musikalischen Jugendkultur des Wandervogels? Handelt es sich um eine Reform, etwa eine Säuberung im Sinne strengerer Auslese, eine Erweiterung und Ergänzung, eine Vertiefung der bei ihm ausgeübten Pflege des Liedes und der Laute? Ein solches Bestreben sollte freilich immer vorhanden sein und nie einschlafen; doch vermöchte ich hierzu meinerseits einen Beitrag nicht zu liefern; diese Arbeit muß im wesentlichen der Wandervogel selbst leisten, und er hat ja auch immer wieder Anläufe dazu genommen."

[...] „Nun sind aber im Wandervogel auch Menschen, die noch eine ganz andere Musik kennen als die des Volksliedes, nämlich die sogenannte große Kunst, die im Konzertsaal, am Klavier, im Streichquartett usw. gepflegt wird. Im Gehirn dieser Menschen können diese zwei Arten der Musik auf die Dauer nicht beziehungslos nebeneinander ihr Dasein führen. Und zwar ist eine gewisse Überlegenheit der großen Kunst über die Liedkultur unmittelbar einleuchtend. Sie bewegt sich in größeren Formen, in unendlich reicherer Harmonie, sie kennt wirkliche Entwicklung, Steigerung, Aufbau, und sie hat einen fast unübersehbaren Reichtum an mächtigen Werken hervorgebracht, eine Literatur, die eine ganze Welt für sich ist." Damit wird angezeigt: Die musikalische Basis soll breiter ausgebaut, der Kanon dessen, was zur musikalischen Jugendkultur gehört, erweitert werden. Im Jahre 1922 wird die Zeitschrift „Laute" umbenannt in „Die Musikantengilde", die den Untertitel „Blätter der Erneuerung aus dem Geist der Jugend" trägt. Fritz Jode und Fritz Keusch geben die neue Zeitschrift heraus. Neben sie sind zu stellen die „Finkensteiner Blätter. Ein lebendiges Liederbuch in monatlicher Folge", herausgegeben seit 1923 von Walther Hensel im Bärenreiter-Verlag Augsburg.10 Die einflußreichen neuen Publikationen tragen die neuen musikkulturellen Aktivitäten, die Hans Mersmann so beschreibt11: 9 10 11

Die Wandervogelzeit 1968, 1023 Die bündische Zeit 1974, 1630-1632 Die bündische Zeit 1974, 1664 f.

3.2. Die Jugendmusikbewegung 1919 ff.

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„Es war zunächst nur eine praktische Aufgabe zu lösen: den Gemeinschaften junger Menschen Liederbücher in die Hand zu geben, welche ihnen entsprachen und ihre Haltung zum Ausdruck brachten. Wie stark das gelang, ist nun sichtbar, nachdem der alte im einzelnen noch recht bunte und ungleiche ,Zupfgeigenhansl' durch Fritz Jodes ,Musikanten' abgelöst wurde. Hier ist der Weg vorgezeichnet, der von der Singzeile, nach welcher die Kinder auf der Straße tanzen, bis zu einer Bachkantate führt, in sechs Heften, sorgsam gestuft und in hohem Verantwortlichkeitsgefühl ausgewählt. Es besteht zwischen diesem Buche und ändern Liederbüchern kein Grad-, sondern ein Wesensunterschied; in ihm ist gelungen, Musik zu einem Stück des Lebens zu machen und alle sein Formen zu durchdringen. Beihefte folgen; sie bringen den wundervollen 23. Psalm von Schütz, Zwiegesänge von Praetorius, Lieder im Volkston von J. A.P. Schulz und neuere Lied Vertonungen. Die Erstarkung polyphonen Gesanges, zu welcher die Pflege des alten Volkslieds von innen heraus führt, [...] gipfelt in der zweiten großen Veröffentlichung Jodes, seiner dreibändigen Kanonsammlung. Alles, was früher als Denkmäler der Musikgeschichte verborgen lag, steht hier in billigen, jedem zugänglichen Ausgaben da, welche zum ersten Male die Möglichkeit gewähren, alte Musik zum Volksgut werden zu lassen." Eindrucksvoll zeigt dieser Text, was die musikalische Jugendkultur nunmehr einbegreift. H. Mersmann formuliert zudem einen wichtigen Satz. Er schreibt, mit Jodes Publikation sei es gelungen, „Musik zu einem Stück des Lebens zu machen und alle seine Formen zu durchdringen." Das ist fast ein Gegen-Satz zu Breuers Diktum vom Volkslied als musischem Ausdruck der Wandervogelideale: Nunmehr ist nicht die Musik Ausdruck jugendlicher Werte, sondern ein Stück des Lebens. Musik steht nicht im Dienst von etwas; sie ist vielmehr das Leben selbst, oder doch ein Stück von ihm. Fritz Jodes Selbstankündigung des „Musikanten" aus dem Jahre 1922 hat folgenden Wortlaut:12 „Der Musikant, Lieder für die Schule, (Selbstanzeige). Es ist klar, daß unsere Musikarbeit erst dann zur rechten Entfaltung kommen kann, wenn ihr von der Schulmusik her ein Boden bereitet worden ist. Daß davon heute noch nicht die Rede sein kann, wissen wir alle. Wenn auch in der Schule allmählich immer nachdrücklicher 12

Die bündische Zeit 1974, 1646 f.

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3. Texte und Materialien zur Musik der Jugend

der Versuch gemacht wird, den bisherigen Gesangsunterricht zu einem Musikunterricht auszugestalten, so steht vor uns immer noch die Möglichkeit und darum die Pflicht, auch die Schuljugend durch ihr eigenes Tun wirklich an die Musik zu binden, also ein jugendliches Musikleben auch in der Schule anzubahnen. Ansätze sind genug da; aber es bedarf der Unterstützung und Stärkung, damit aus diesen Ansätzen ein tatsächlich Maßgebendes werde. Um nun auch hier die Entwicklung im Sinne unserer Arbeit zu beeinflussen, habe ich begonnen, eine Sammlung ,Lieder für die Schule' zusammenzustellen, die im Keime das in sich birgt, was wir mit aller unserer Musikarbeit erstreben. Es ist hier heute nicht mehr der Raum, ausführlicher darauf einzugehen. Aber es soll hier wenigstens eine kurze Übersicht gegeben werden. ,Der Musikant' erscheint in folgenden 6 Heften: Für die Unterstufe: 1. Heft: Kinderlieder und -spiele, teilweise mit einem Melodieinstrument. 2. Heft: Bunte Lieder, hin und wieder mit freien zweiten Stimmen und mit Instrumenten. Für die Mittelstufe: 3. Heft: Alte und neue Volkslieder für Einzel-, Wechsel- und Chorgesang; einstimmig, zweistimmig und mit Instrumenten. 4. Heft: Volks- und Kunstlieder, meist in polyphonem Satz, mit und ohne Instrumente. Für die Oberstufe: 5. Heft: Lieder und Gesänge von Händel, Mozart, Beethoven, Schubert und ändern Meistern, mit und ohne Instrumente. 6. Heft: Ein- und mehrstimmige Gesänge mit und ohne Instrumente von Joh. Seb. Bach." Der jMusikant' Fritz Jodes, in sechs Heften musikpädagogisch gegliedert und zur Klassischen Musik hinführend, verdeutlicht, daß die neue musikalische Jugendkultur ein Zusammenspiel von Schule und Jugendbünden anstrebt. Die Verbreiterung der Basis hebt die jugendspezifische Bewertung von Musik auf. Die Musikpädagogen wurden die musikalischen Führer der Jugend. Am 1. April 1923 wurde Fritz Jode zum „ordentlichen Professor für Methodik der Schulmusik an die Staatliche Akademie für Kirchen- und Schulmusik Berlin-Charlottenburg" berufen.13 In der „Kurzchronik" der 13

Die bündische Zeit 1974, 1630

3.3. Rock'n'Roll, Beat und Rock

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„Jugendmusikbewegung in der Zeit der ,Bündischen Jugend'"14 werden für das Jahr 1926 „500-600 Singkreise mit etwa 15.000 bis 20.000 aktiven Mitgliedern" angegeben. Daß die Liedkultur des Wandervogels aus den subkulturellen Bezügen gelöst und in die neue musikalische Jugend- und Erwachsenenkultur der Bündischen Zeit überführt wurde, zeigt sich u. a. daran, daß die hier vorgeführten Texte gruppensprachlich nicht besetzt sind. Die offizielle Musikkultur (als die herrschende) schließt allerdings nicht aus, daß daneben auch jugendbestimmtes Musikleben existiert. Nur ist dieses nicht auf die Ebene offizieller Dokumentation gehoben worden.

3.3. Rock'n'Roll, Beat und Rock

ROCK'N'ROLL „Wer heute über Jugend reden will, kommt um Pop und Rock und ihre Folgen nicht mehr herum" (Kursbuch 54, S. 4). - Und konnte man gestern über Jugend reden, ohne deren Musik und ihre spezielle Funktion zu bedenken? „Peter Kraus war's nicht, Conny Froboeß auch nicht. Ted Herold noch am ehesten, aber dann doch nicht. Elvis kam zuerst über den Soldatensender, AFN Munich: ,Lantschin in Mantschin'. Aus dem Volksempfänger meiner Großmutter nach der Schule und nach dem Abendessen und morgens um sechs Country & Western Hitparade. Fernsehen gab's erst zur Fußballweltmeisterschaft 1954. Jeans hab ich mir keine kaufen dürfen, nicht mal vom Taschengeld. 24 Mark war auch verdammt teuer. Im Ingolstädter Volksbad hatte einer so einen 45er-Apparat mit, zum Vornreinschieben. Da bin ich zufällig in der Nähe gewesen und unruhig geworden, wie ich zum erstenmal Chuck Berry gehört hab. Und Little Richard. Und Fats Domino. Und dazwischen Johnny Cash, die Everly Brothers und Bill Haley. Little Richard und Chuck Berry waren echt, das hab ich gleich gemerkt. Später Gene Vinant, Jerry Lee Lewis, Bo Diddley, Eddi Cochran, Earl Bostic, Duane Eddy, La Vern Baker. Noch später Luis Jordan, Link Wray, The Coa14

Die bündische Zeit 1974, 1624-29

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3. Texte und Materialien zur Musik der Jugend

sters und Hank Williams. Tommy Steele und Gene Vincent and his Blue Caps hab ich dann in der Sonntagnachmittagsvorstellung im Kino gesehen. Ging um rebellische Teenager, mit denen die Lehrer nicht klarkamen. Dazwischen Rock'n'Roll und ,wilde' Autofahrten. Das also war Amerika. Das war der Rock'n'Roll. Die Jeans hab ich dann doch gekriegt, und auf Nyltest-Hemden stand sogar meine Mutter, die nicht gern bügelte. Stiefel waren schwierig, Slop-Hosen, Shake-Hosen, Rüschenhemden — das ging schnell ins Geld. Vor allem aber Platten. Ich hatte keinen Plattenspieler. Kaum ein Schüler hatte einen. Aber ich ging von einem der beiden Elektroläden zum anderen und kaufte 45er. Brunswick, London, RCA, Decca — magische Namen. Rock'n'Roll vom feinsten. Sogar die Namen in den Klammern lernte ich, ohne zu wissen, was sie bedeuteten (Marascalo-Blackwell, Leiber-Stoller, Bartholomew-Domino, Richard-Penniman) — ich kann sie jetzt noch auswendig."15

„Meine Rock'n'Rollgeschichte" hat der Verfasser diesen Text überschrieben. Er enthält wesentliche Stichworte der Musikszene der 50er Jahre: Die nicht unwesentliche Rolle des amerikanischen (American Forces Network) Militärsenders (englisches Pendant: British forces Network); die 45er-(,Nenndrehzahl': 45 Umdrehungen pro Minute) Plattenkultur und ein Beispiel eines öffentlichen Ortes („Volksbad"), der zugleich, für die Gruppe, einen Schutzraum darstellt, die Namen und immer wieder die Namen der Rock'n'RollMusiker und -bands; die Teenager-Filme am Sonntagnachmittag im Kino — gleichfalls ein öffentlicher und doch abschirmender „Ort" jugendlicher Gruppen. Zugleich wird die subkulturelle Komponente ins Spiel gebracht: Zum Rock'n'Roll gehören Jeans, Slop- und Shake-Hosen, Stiefel, Rüschen-Hemden wie zum Wandervogel dessen Kluft („Die Sehnsucht zum (!) Leben in Wäldern und Bergen vertrug sich zunächst noch sehr gut mit grünem Lodenanzug, gleichfarbigem Hut mit Fasanenfeder, mit dem roten Halstuch, der Stahlsaitengitarre und dem Spirituskocher").16 Die Fülle „musikalischer" Namen dient dazu, ein Verwirrspiel zu inszenieren, das die Erwachsenen 15 16

Reichert (Hrsg.) 1981, 10 Die Wandervogelzeit 1968, 320; daß die „Kluft" nicht einheitlich war, vielmehr den sich wandelnden „Idealen" folgte, zeigt diese Passage (aus dem Jahre 1913) an: „Die langen Hosen, in schilfgrüne Segeltuchgamaschen gesteckt, wurden von kurzen abgelöst, derber Rippensammet

3.3. Rock'n'Roll, Beat und Rock

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draußen hält. Zugleich gibt es eindeutige Bewertungen („Little Richard und Chuck Berry waren echt") und „magische" Namen: Welcher normale Erwachsene konnte diesen Namen einen Zauber abgewinnen? Brunswick und London waren amerikanische Tochterfirmen („Unterlabels") von Decca (Records). Deren Aufstieg begann, als Bill Haley 1954 mit seinen Comets zur Firma kam. Hinter RCA wiederum verbirgt sich die Radio Corporation of America, die 1955 Elvis Presley für eine relativ niedrige „Ablösesumme" von Sun Records übernahm. Das alles kann man heute mithilfe eines Lexikons entzaubern17; die Magie der Namen in den 50ern wird davon nicht berührt. Noch in eine andere Richtung weist der Begriff ,Magie': Er macht deutlich, daß nunmehr die Medien die Jugendmusik okkupieren. Und einen weiteren magischen Namen enthält die kurze und subjektive Rock'n'Rollgeschichte: den des Volksempfängers. Zwar führt der Sprachbrockhaus von 1935 und auch noch der von 1948 dieses Wort; beide bieten zudem, als „Deutsches Bildwörterbuch für jedermann", eine Außen- und Innenansicht des häßlichen schwarzen Kleinradios; aber schon der Sprachbrockhaus von 1958 (wie auch unsere großen sechsbändigen Wörterbücher der Gegenwartssprache) führen dieses Wort nicht mehr. Es weist zurück in eine Zeit, da braune Ver-führung die Jugend beherrschte. Zugleich zeigt das Wort, auf vertrackte Weise, den Abstand an, der zwischen der „Jugendmusikbewegung" der 20er Jahre und der aufkommenden Rock'n'Roll-Begeisterung der 50er Jahre liegt: Ein „Medium", in den 30er Jahren zum Mittel der Volksbeeinflussung und -Verführung geworden, wird in den 50ern umfunktioniert und dient, langsam verlöschend, als Medium neuer Töne. BEAT „Es war ein Hafen. Das heißt, daß es weniger spießig war als irgendwo im englischen Midland ... Wir waren diejenigen, die von

17

verdrängte den langweilig grünen Lodenstoff, mehr und mehr verschwanden die sittsamen grün-rot-goldenen Wandervogelmützen". (Die Wandervogelzeit 1968, 102) Z. B. Kneif 1978

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3. Texte und Materialien zur Musik der Jugend

den Southeners, den Londonern von oben herab wie Tiere angesehen waren ... Wir hatten einen großen irischen Einschlag, und Schwarze und Chinesen gab es. [...] Es gab nichts Großes in Liverpool. Es war arm, sehr arm und tough. Aber die Leute haben da viel Sinn für Humor, weil's ihnen so dreckig geht ... Es ist kosmopolitisch, und es ist dort, wo die Matrosen nach Hause kamen mit den BluesPlatten aus America. Ich haben Country and Western Musik in Liverpool gehört, bevor ich Rock and Roll gehört habe. Die Leute dort nehmen ihre Musik sehr ernst. Es gab Folk-, Blues- und Country and Western-Clubs in Liverpool, bevor der Rock and Roll kam, und wir waren die nächste Generation, die neu rauskam."18 „Ihre ,Kunst' ist ,volksnah' und »volkstümlich', [...] ihre ,Chansons' sind »ungeheuer wirkungsvoll und echt, wie Porridge oder Fish and Chips' [...] Die ,vier Titusköpfe* sind ,Lieblinge der Nation'. [...] Die Lieder dieser ,Liverpudel' kennt heute in ihrem Heimatland jeder Altersheiminsasse [...]. Diese ,Mistkäfer', die ,in rosafarbenen Anzügen auftreten', wirkten ,nach Ansicht der Psychologen auf den Kichernerv der halbwüchsigen Generation', lösten mit ihrem .musikalischen Virus in Zehntausenden von Jugendlichen Hysterie und Psychose' aus. [.,.]"19 „Beatlemania wird die überspannte Reaktion des zumeist zwölf- bis zwanzigjährigen Publikums auf das Auftreten der Beatles von Mitte 1963 bis etwa 1966 genannt. Sie zeigte Merkmale einer Massenhysterie, die sich nicht nur in Straßenverfolgungen der einzelnen Beatles, im beschädigten Mobiliar der Konzertsäle und im unaufhörlichen Kreischen fünfzehnjähriger Mädchen während der Live-Auftritte niederschlug, sondern auch in manchem unangemessenen Vergleich zwischen den Beatles und Beethoven bzw. Schubert durch überschwengliche Journalisten, f...]"20

Drei Texte und drei unterschiedliche Schlaglichter auf die jugendliche Musikszene der ersten Hälfte der 60er Jahre. — John Lennon, einer der Hauptakteure und spiritus rector der Beatles, gibt einen Rückblick, der zugleich, sehr subjektiv, die ,Wurzeln' seiner Musik bloßlegen möchte. 18

19 20

John Lennon erinnert sich. Hrsg. von Release Verlag. Hamburg o. J., 112. Zit. nach Sandner 1977, 23 Plaumann 1978, 213 Kneif 1978, 34

3.3. Rock'n'Roll, Beat und Rock

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— Danach eine Reminiszenz eines (inzwischen altgewordenen) Zeitgenossen („Rock'n'Roll-Wracks mit Glatzenansatz, deren Hände nur zittern, wenn sie in alten Platten wühlen, sind alles, was von unserer Begeisterung übriggeblieben ist")21, der das Bild der Beatles in den „Printmedien" (sie), vom „Vorwärts" über den „Spiegel" bis zur F.A.Z., nachzuzeichnen versucht: Die in einfache Häkchen gekleideten Aussagen sind Pressezitate. — Schließlich eine seriöse Lexikonnotiz, die das Phänomen »Beatles' auf den Begriff (,Beatlemania') zu bringen und, nicht überlesbar, zugleich Kritik zu üben versucht. Die Beatles spielten die (vorläufig?) letzte allgemeine Jugendmusik. Natürlich waren sie schon zu ihrer Zeit heftig umstritten; aber ihre Musik war doch allgegenwärtig und dominierte eindeutig über die der Konkurrenten. Und zugleich präsentierten sie sich Stilvoll', wobei vor allem der Haarschnitt stilbildend wirkte. Die Presse sprach von Pilzköpfen und Liverpudeln (in Anlehnung an die und Umdeutung der Selbstbezeichnung Liverpudlians), auch von Titusköpfen. Wer wird da nicht, könnte man (den Witz der Beatles fortführend) fragen, an die Titusköpfe der Studenten im frühen 19. Jahrhundert erinnert? Der Student aus Göttigen, Daniel Ludwig Wallis (s. o. S. 1), schreibt dazu im Jahre 1813: „Zöpfe und Perücken sind glücklich aus der Mode, und haben durch ihren Untergang allen Friseurs Herzeleid zugefügt. Die Eitelkeit der Studenten ist ihnen einigermaßen dafür Entschädigung, denn gekräuseltes Haar, einen hübschen Tituskopf oder zierlichen Hahnenkamm mag Jeder gern leiden, t...]"22 Ein zeitgenössisches Wörterbuch, das von J. H. Campe aus dem Jahre 1810, führt dazu aus: „Der Tituskopf, [...] eigentlich ein Kopf eines Titus. Man belegt aber mit diesem Namen in unsern Zeiten [...] 1) einen Kopf mit kurz geschnittenen krausen Haaren. [...] 2) Eine Person mit solchem Kopfe."23 Wenn auch der Inhalt der Köpfe stark differiert 21 22 23

Plaumann 1978, 296 Henne 1984a, 23 J. H. Campe 1810, 831. Die kurzgeschnittene Lockenfrisur war einer Büste des Kaisers Titus (79 — 81) nachempfunden.

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3. Texte und Materialien zur Musik der Jugend

haben mag, die äußere Form einte die Studenten des frühen 19. Jahrhunderts und die Stars der Musikszene in den frühen 60ern. Gemeinsam war den meisten ihre Eitelkeit. Zur „Kluft" gehörte eben auch der Haarschnitt. Dessen Mutationen sind Ausdruck jugendlichen Profilierungsdranges. ROCK Stile, Stilrichtungen und Stilaspekte der Rockmusik (aufgrund unsystematischer Auswertung von „Sounds" (einer Rockzeitschrift), „Spiegel" und „Braunschweiger Zeitung" über einen Zeitraum von ca. drei Monaten (Ende 1979): Acid-Rock ~-Klänge ~ -Kritiker Beach Boys-Harmonien ~-Souffle ~ -Musik Beat ~ -Tradition ~ musik ~ musik ~ -Trend ~ musiker ~ musikbühne ,Haut-hin'- ~ Punk, Punk-Rock Blues ~-Bands ~ -Qualität ~er ~ -Quintett ~ -Erhebung ~ -Feeling ~ presse ~ -Gitarre ~ -Rebellion ~ songs Country-Musik Rasta-Music ~ -Spontaneität ~- Jodler ~ -Mann ~ stelle ~ stück ~ -Platte ~ -Lied ~-Rock Reggae —Till Deutscher Rock ~ -Rhythmen ~ veteran Folkmusic ~ -Weltreisen ~ -Vitalität ~ -Aufrichtigkeit Rhythm'n'Blues ~ -Zelebritäten Folk-Rock ~ -Phrasen Kunst-~ er Hard Rock, Heavy Rock, Rock Profi— Tranquilizer- ~ Heavy Metal Rock ~ -Anklänge Honky Tonk ~ -Aristokratie Rock'n'Roll ~ -Atmosphäre ~ -Ballade ~ -Buchhalter ~ -Band ~ -Musik Jazzrock ~ -Feeling ~ -Schmutz Minimal Music Neue Welle ~ freak Soul New Wave ~ geschiente ~ig „on the road"-Musik ~ -Quartett ~ig Papp-Rock ~ -Journalist Fließband- ~ er Texas-Südstaaten-Rock Pop-Rock ~ -Konzert ~ -Balsam ~ -Krise Westcoast-Rock

3.3. Rock'n'Roll, Beat und Rock

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Nach dem Beat, also nach 1966, setzt sich eine Stilvielfalt durch, die insofern noch unübersichtlicher wird, als die sog. „RevivalMusik" die jeweils aktuelle Szene zusätzlich belebt. Die vorstehende Liste ist, als Momentaufnahme, nur ein schwacher Abglanz dieser Vielfalt. Im folgenden liefere ich Materialien für einen Wörterbuchartikel Rock, wie er in einem Wörterbuch stehen könnte, das Wörter erklärt, die aus dem Englischen bzw. Amerikanischen in die deutsche Sprache übernommen wurden („Anglizismen"). Dabei sollte der fachsprachliche Akzent nicht unterschlagen werden. Rock der; - [s], ohne Mehrzahl; „Sammelbezeichnung für alle populären, aus der schwarzen Blues- und der weißen Country & Western-Tradition abgeleiteten Musizierstile nach dem Rock'n'Roll (1954)" (Schmidt-Joos/Graves 1975, 410); teilweise synonym mit f Rockmusik; R. hören, R. spielen, „R. in den 70ern" (Titel eines Buches); R. ist eine Kurzfassung von | Rock'n'Roll , aber mit dieser Bezeichnung nicht identisch. „Blues - Rhythm & Blues - Rock'n'Roll - Beat - Rock, das ist mehr als eine unter kompensatorischem Drang zur Wissenschaftlichkeit konstruierte theoretisch-spekulative Traditionslinie" (Sandner 1977, 31 f.). In gleicher Weise wären lexikalisch zu erklären: Beat, Blues, Honky Tonk, Jazz, Minimal Music, New Wave, Pop(-Musik), Punk (-Musik), Reggae, Rhythm'n'Blues, Rock Jazz, Rock'n'Roll, Soul. Schon diese Reihe zeigt die englischsprachige Grundlage des Rock. Eine systematische Darstellung gibt L. Ortner in ihrer Arbeit „Wortschatz der Pop-/Rockmusik."24 Diese hat in den Jahren 1973/74 Hefte von sieben „populären Pop/Rockmusikzeitschriften", dazu „24 Zusatzhefte aus den Jahrgängen 1972 und 1975" lexikalisch untersucht.25 Als „englische Bezeichnungen" für Musikinstrumente führt Ortner z.B. auf: Bag Pipe Chanter, Concertina, Cymbals, Drums, Dulcimer, Fiddle, Harpsichord, Hi-Hat, Hurdy-Gurdy, Ka24 25

Ortner 1982 Ortner 1982, 15

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3. Texte und Materialien zur Musik der Jugend

zoo, Keyboards, Percussion, Recorder, Snare-Drum, Twinwhistle (auch Penny whistle], Washboard, Woodwinds.™ Für die Zwecke der Demonstration mag die generalisierende Einordnung »Musikinstrumente des Rock' genügen; dennoch sei dem Leser Vorsicht angeraten: Percussion z. B. ist nicht einfach ein Synonym für Drums (jSchlagzeug'), sondern „Sammelbezeichnung für Instrumente, die geschlagen oder geschüttelt werden. Es sind dies hauptsächlich Glockenspiele, Triangel, Gong und verschiedene Arten von Rasseln [,..]."27 Doch nicht nur die strikt fachsprachliche Komponente des Rock ist englischsprachig besetzt (korrekt: nährt sich von Wörtern englischer und amerikanischer Herkunft); auch der Wortschatz für spezifische Seelenlagen hat vielfach eine fremdsprachige Basis. Unter der Überschrift „Saloppe Anglizismen, die die Gruppenbezogenheit besonders manifestieren", notiert Ortner u. a. cool, groove und vibrations. Zu letzterem schreibt sie: „Seit dem Beach Boys Song (Good vibrations) hat sich dieser Ausdruck [...] fest in die Sprache der Rockmusik eingebürgert. Mit ,guten Schwingungen' (korrekt übersetzt) beschreibt man die funktionierende Kommunikation zwischen Musikern und Publikum bei einem Live-Konzert."28 Groovy (als Adjektiv) bedeutet ,gut aufgelegt', »fröhlich*, Groove (als Substantiv) „positive Stimmung, die vom Musiker bzw. seiner Musik auf das Publikum übergeht"29, cool schließlich ist eine wichtige Leitvokabel jugendlicher Verhaltensnormen: ,emotionslos und zugleich konzentriert', ,distanziert und zugleich erfahren' — so könnte eine Annäherung an das erzielt werden, was das Wort meint. „Cool heißt, sich von nichts ablenken lassen, um der ,Melodie seines Ichs' zu lauschen" zitiert Ortner eine Stimme aus dem Jahre 1969.30 Und Sandner schreibt im Jahre 1980: „Udo Lindenberg verkörpert genau dieses Ideal des ,coolen Musikers'. 26 27 28 29

30

Ortner 1982, 40-42 Ortner 1982, 42 Ortner 1982, 206 nach Schober 1973 Zu groovie vgl. Kneif 1978, 88, der u.a. den Titel „Feelin' groovy" zitiert; Ortner 1982, 191, die u. a. notiert: „Der alte Groove mit dem neuen feeling". (205) Mühr 1969, 35 nach Ortner 1982, 190

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3.4. Musik-Szenen

Er ist der Sänger, der durchblickt, dem man nichts mehr vormachen kann, der aber auch selbst keine Show abzieht, es sei denn mit der für andere ,coole Typen' notwendigen parodistischen Ubertreibung. Sprachliche Wendungen wie: ,Alles klar', ,Alles unter Kontrolle' [...] vermitteln diese Aura."31

3.4. Musik-Szenen Sommerlied am Bodensee (1910) 1. [1. Et wassen twe Küniges kinner, de hadden enanner so lef; de können tonanner nich kummen, dat Water was vil to bred. 2. „Lef Herte, kannst du der nich swemmen? Lef Herte, so swemme to mi! Ick will di twe Keskes upstecken, und de solid lochten to di!" 3. Dat horde ne falske Nunne up ere Slopkammer, o weh! Se deit de Keskes utdömpen: — lef Herte blef in de See.

Es waren zwei Königskinder, die hatten einander so lieb; die konnten zueinander nicht kommen, das Wasser war viel zu tief (wörtlich: zu breit). 2. „Lieb Herze, kannst du nicht schwimmen? Lieb Herze, so schwimme zu mir! Ich will dir zwei Kerzen anzünden, und die sollen leuchten dir!" 3. Das hörte eine falsche Nonne in ihrer Schlafkammer, o weh! Sie tat die Kerzen auslöschen: Lieb Herze blieb in der See.]32

„Da lagen wir [1910] einmal auf den alten, blumenbeschatteten Terrassen der Meersburger Bischofsschlösser. Es war ein wundervoller, schwüler Sommerabend. Vor uns ruhte dunkel und tief der Bodensee. Weit am jenseitigen Ufer blinkten schon einige Lichter. So still war der Abend. Ab und zu platschte ein Fisch über das warme 31 32

Sandner 1980, 69 nach Schierholz 1981, 125 Der Zupfgeigenhansl 1983, 77. - Die hochdeutsche Übersetzung stammt von mir. Sie bemüht sich, den Text möglichst wörtlich zu nehmen.

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3. Texte und Materialien zur Musik der Jugend

Wasser. Da war viel Poesie in der weiten Landschaft, und es sang wie von selbst aus der Ferne: „lef Herte blef in de See - ". Und wir stimmten die Lauten und summten das leise: „Et wassen twe Küniges kinner [...].33

Die Finkensteiner Singwoche 1923 Ort: Finkenstein. (Ein einsames Waldhaus bei Mähr. Trübau.) Zeit: Acht Arbeitstage von Dienstag, dem 10. bis Dienstag, den 17. Juli. [...] Bedeutung der Woche: Es soll das erste Mal versucht werden, durch längeres Zusammenleben und Zusammenarbeiten junger Menschen die Musik in den Dienst der Erneuerung zu stellen, indem wir durch ihre gemeinschaftsbildende Kraft gleiche Kräfte in uns wecken und zu gemeinsamem Erleben führen. Grundbedingungen des Gemeinschaftslebens bei der Woche: 1. Unbedingte freiwillige Unterordnung aller Teilnehmer unter selbst auferlegte Gebote. 2. Ernstes Mitarbeiten, getragen vom Bewußtsein gemeinsamer Verantwortung. Wohnungsverhältnisse: Sauberes Strohlager für 110 Burschen und Mädchen in getrennten Räumen. Wochengrundsatz: Strenge Ordnung und Pünktlichkeit. Daher teilweise Mitarbeit der Teilnehmer bei deren Aufrechterhaltung. [...] Finkenstein soll kein bloßer Versuch bleiben, es soll ein begeisterter Anfang sein zur Befreiung des Urdeutschen, des Göttlichen in uns, vom Schutte der Unkultur durch die schöpferische Gemeinschaftskraft der Musik. Die Singwoche soll uns zweierlei Arbeit bringen: 1. Praktische Arbeit an uns selbst (Stimm- und Gehörübungen, Chorgesang, lebendiges Erfassen musikalischer Formen, Einführung in Geist und Technik der Streichinstrumente, rhythmische Gymnastik usw.). 2. Sollen von der Gemeinschaft Fragen über die Grundeinstellung der Musik aufgeworfen werden, die uns alle bewegen; diese Fragen sollen von der Gemeinschaft geprüft und, so weit es in unsern Kräften steht, gelöst werden. Der Unterschied zwischen Vortragenden und Hörern ist aufgehoben, doch liegt die Leitung der Wechselrede in fester Hand. 33

Die Wandervogelzeit 1968, 1010 f.

3.4. Musik-Szenen

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Die Mußestunden gehören dem Gemeinschaftsleben. Es ist notwendig, daß alle Teilnehmer sich bis dahin die Kenntnis der Noten erworben haben. [,..]34

Parteitag der SPD im November 1960 in Hannover „Auf dem Parteiabend für die Delegierten und Gäste zogen sich Erich und Martha Ollenhauer mit Gleichgesinnten in eine Ecke zurück und sangen Lieder der Jugendbewegung. Brandt und Erler kamen zeitweise dazu, schließlich hatten sie in der SAJ [Sozialistischen Arbeiterjugend] die gleichen Lieder gelernt. [...]"35

Pink Floyd, The Wall Another Brick in the Wall part 1. Daddy's flown across the ocean Leaving just a memory A snapshot in the family album Daddy what else did you leave for me Daddy what d'ya leave behind for me All in all it was just a brick in the wall All in all it was all just bricks in the wall Another Brick in the Wall part 2 We don't need no education We don't need no thought control No dark sarcasm in the classroom Teacher leave the kids alone Hey teacher leave us kids alone All in all it's just another brick in the wall All in all you're just another brick in the wall Another Brick in the Wall part 3 I don't need no arms around me I don't need no drugs to calm me I have seen the writing on the wall Don't think I need anything at all No don't think I'll need anything at all All in all it was all just bricks in the wall All in all you were all just bricks in the wall36 34 35 36

Die bündische Zeit 1974, 1647 f. Brigitte Seelbacher-Brandt in der „Zeit" vom 28.9.1984 Another Brick in the Wall, part 1-3. In: Pink Floyd, The Wall. Pink Floyd Music Pubs. Ltd., 1979. Plattenhülle

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3. Texte und Materialien zur Musik der Jugend

Jimi Hendrix ist tot Am 18. September 1970 starb der amerikanische Beatmusiker Jimi Hendrix im Londoner St. Mary Abbot's Hospital, in das er kurz zuvor bewußtlos eingeliefert worden war. Die Todesursache ist bisher nicht bekannt, eine Autopsie wurde angeordnet.

[..·] Nach der Trennung von seiner „Experience" im Sommer 1969 mietete er in Liberty in der Nähe des heute fast schon zum Mythos gewordenen Woodstock ein Haus, in dem er in einer häufig die Mitglieder wechselnden Musik-Kommune Jamsessions veranstaltete. Mit einer neuen Formation „A Band of Gypsies" (mit dem Baßgitarristen Billy Cox und dem Schlagzeuger und Sänger Buddy Miles) gab er sein erstes öffentliches Konzert am 31. Dezember 1969 im New Yorker „Fillmore". Beim „open-Air festival" auf Fehmarn war er vor wenigen Tagen noch die Hauptattraktion. — In seiner neuen Band (LP.: Hendrix Band of Gypsies) verzichtete er weitgehend auf die früheren spektakulären Shows, sang nur noch selten und konzentrierte sich auf die Entwicklung eines dem modernen Blues verhafteten Stils. Der in der letzten Zeit überaus erfolgreiche Musiker (Schallplattenverkauf einige Millionen, Tagesgage um die 100 000 DM) galt nicht nur als einer der exzentrischsten der an eigenwilligen Persönlichkeiten nicht armen Popszene, sondern als einer der bedeutendsten und virtuosesten Gitarristen. WOLFGANG SANDNER37

Jimis letzter Tag London, 20. September „Ich brauch' Hilfe, Mensch" — das waren des Pop-Stars Jimi Hendrix' letzte auf Tonband gesprochene Worte. Das Band wurde am Freitagmorgen gefunden, als das Büro seiner Londoner Agenten mit der Arbeit anfing. Die Londoner Sonntagszeitung „News of the World" berichtet, daß der süchtige Jimi am Tage vor seinem Ende ohne Erklärung einer Konferenz seiner Anwälte über sich widersprechende Forderungen an seine Tantiemen ferngeblieben war. Stattdessen machte er einen Besuch im Stadtteil Chelsea. Wie ein Mädchen, das ihn dort sah, berichtete, war er in „schrecklichem Zustand", „hochnervös und hatte eine Menge Haschisch bei sich". Hendrix sei von einer Stimmung in die andere verfallen. Von der Wohnung seiner deutschen Freundin Monika Dannermann rief er abends im leeren 37

F.A.Z., 21.9.1970

3.4. Musik-Szenen

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Büro seiner Agenten an. Als sie morgens um zehn Uhr den auf Band festgehaltenen verzweifelten Hilferuf des Pop-Musikers vorfanden, riefen sie sofort zurück. Er konnte aber nur noch ins Telephon stöhnen: „Ruf mich später an, Mensch." Es war zu spät, als man ihn ins Krankenhaus brachte. Jimi-Hendrix-Aufnahmen sind mittlerweile in Londoner Schallplattengeschäften nicht mehr zu haben — sie sind ausverkauft. Ein eigenartiger Kult hat sich entwickelt: Fans tragen Trauerflor am Arm und um die Stirn, und in den Diskotheken werden seine Platten ständig gespielt.38

Geschichte geworden: John, Paul, George, Ringo Neben all den Filmen, die bald nach ihrem Erscheinen vergessen werden, und den wenigen anderen, in denen man mit der Zeit die Klassiker erkennt, gibt es auch noch jene Sonderfälle, die mit den Jahren unversehens ihr Genre wechseln. So ist Richard Lesters früher Spielfilm über die Beatles gerade eben als Dokumentarfilm in die Kinos zurückgekommen — ohne daß dafür auch nur ein einziges Bild in dem Streifen hätte ausgetauscht werden müssen. Während alle rein numerischen Rekorde der Beatles inzwischen längst um ein Vielfaches gebrochen worden sind, von statistisch erfolgreichen Künstlern, die außerhalb der Branche oft kaum mit dem Namen und noch seltener von den Gesichtern bekannt sind, kennt immer noch jeder diese Liverpooler Beatband, die seit mehr als zehn Jahren nicht mehr existiert. Um dieses Rätsel zu erklären, ist die „Beatlemania" der sechziger Jahre daher schon oft zu einem soziologischen Phänomen erhoben worden. Daher vermag Lesters Film, der dieses an sich noch relativ kurzlebige Phänomen damals zu einem beständigeren UnterhaltungsMythos erweiterte, recht deutlich zu dokumentieren, was den Beatles so nachhaltiges Überleben sicherte - und wie harmlos und bieder es heute aus der zeitlichen Entfernung wirkt: die Band als verschworene Bande, als vier große Kinder und dicke Freunde, die jederzeit zu allen möglichen Streichen aufgelegt sind. Sie sind frech, unkompliziert und natürlich respektlos gegen alle Alten. Zusammen gehen sie ständig durch dick und dünn. Die Welt ist wie ein großes Klassenzimmer, in dem die vier hinter dem Rücken der Lehrer ihre Faxen machen. An verschrobene Paukeroriginale erinnern dann auch alle Erwachsenen, die in dem Film auftauchen, und an archetypische Schülernatu38

F.A.Z., 21.9.1970

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3. Texte und Materialien zur Musik der Jugend

ren die jungen Künstler selbst: John als Primus, Paul als Sunnyboy, George als Streber und Ringo als Sitzenbleiber. Der Ausbruch aus den Konventionen der Unterhaltungskunst, zu dem die frühen Erfolge der Beatles später hochstilisiert werden sollten, hat hier, realistisch betrachtet, noch nicht einmal das Format des Schuleschwänzens, sondern gerade eben eines gelegentlichen Ausbüchsens vor den Hausaufgaben. Die Freiheit, der sie bei solchen Gelegenheiten nachjagen, erschöpft sich deshalb auch schon darin, auf einem großen englischen Rasen nach Herzenslust und Laune übereinander zu purzeln. Die „Fab Four" sind — man sieht es und hört es in jedem ihrer Lieder - in Wirklichkeit die „Glücklichen Vier": glücklich, daß sie sich gefunden haben. Dieses Konzept war so betörend, daß man am liebsten auch heute noch daran glauben möchte. Darum sind die Beatles die Größten geblieben, weil sie mit ihren einprägsamen Ohrwürmern eben auch so perfekt und so lange wie keine andere Gruppe die Illusion ewiger Jugend und Freundschaft aufrechtzuerhalten verstanden.39

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F.A.Z., 19.8.1984

4. Jugendsprache 1982 4.1. Zur Fragebogenaktion Kein Wunder, daß mir nichts einfällt. Gute Ideen hab ich nur, wenn's draußen regnet. Aber dieses Bilderbuchwetter frustriert mich total. „Enttäuscht" würde die Semmler, unsere Deutschlehrerin, sagen, denn sie kann Fremdwörter nicht ausstehn. Aber wer sagt schon „schade", wenn er „Scheiße" meint. Ich finde, jeder hat ein Recht auf seine Lieblingswörter. „Frustrieren" find ich eben schön, genau wie: Shit, Teufel, verdammt. Dafür hab ich so dämliche Wörter wie: riesig, dufte, super ... längst abgelegt. Am liebsten würde ich eine ganz neue Sprache erfinden mit Wörtern, die sich anhören wie eine Melodie: Will o biiii oder torn a haiiiii oder huahuaheeee. Dagmar Kekule: Ich bin eine Wolke. Stuttgart 1982

Studenten im 18. und 19. Jahrhundert, Pennäler im gleichen Zeitraum, Jugendliche im 20. Jahrhundert haben eigentümliche Wörter, Lieblingswörter sagt Dagmar Kekule, und sprächen am liebsten eine „ganz neue Sprache". Vom Hörensagen kennt man Bruchstücke dieser Sprechweisen. Die Medien, insbesondere Fernsehen, Radio, Zeitungen und Zeitschriften vermitteln sie — beispielsweise. So überschrieb die „Frankfurter Allgemeine Zeitung" vom 4.1.1979 einen Artikel im Feuilleton: „Können Sie noch Deutsch? Aus der Discosprache: Als ich neulich mit Peter in die City drückte, macht der mich unheimlich an aufs Tilbury. Na, schon bohren wir dahin, obwohl ich eigentlich aufs Lollipop stand. Ich Chaot hatte keine Matte mit, weil ich meinen Kaftan vergessen hatte und sagte zu Peter, er solle mal ausklinken. In dem Schuppen zogen ein paar People schon eine heiße Show ab. Wir machten eine kurze Fleischbeschauung, und Peter machte sich sofort daran, eine riesige Tussi anzugraben. [...]" Dieser „Original"-Text hält für Kenner der Szene zwei grammatische Überraschungen parat: Zum einen das

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4. Jugendsprache 1982

in der Szene selten gehörte Erzählpräteritum, zum anderen den gekonnten Einsatz des Konjunktivs („er solle mal ausklinken").1 Ihren Lesern präsentierte die Zeitung anschließend sofort eine „Übersetzung" „ins Normaldeutsche": „Als ich neulich mit Peter in die City fuhr, überredete er mich, ins Tilbury zu gehen. Nun, wir fuhren dorthin, obwohl ich lieber ins Lollipop gegangen wäre. Dummerweise hatte ich kein Geld dabei, weil ich mein Jackett vergessen hatte und bat Peter, er möchte für mich zahlen. In dem Lokal sorgten einige Leute gehörig für Stimmung. Wir sahen uns etwas um, und Peter begann sofort [Komma] mit einem sehr hübschen Mädchen zu flirten. [...]" Zwar beruft sich die Zeitung auf einen „jungen Autor"; aber Absonderlichkeiten gibt es dennoch genug in dieser Übersetzung. Zum Beispiel: „Na, schon bohren wir dahin" wird mit „Nun, wir fuhren dorthin" übersetzt. Gilt also die Gleichung discodeutsch (ddt.) na, normaldeutsch (ndt.) nun, ddt. dahin, ndt. dorthin? Und ist das Adverb schon im Normaldeutschen unbekannt? Sorgt einer (wirklich) gehörig für Stimmung, wenn er eine heiße Show abzieht') „Wer eine Show abzieht, versucht, sich ,in Szene zu setzen', sich »aufzuspielen', ,gibt an'", belehrt uns ein Buch mit dem Titel „Laß uns mal 'ne Schnecke angraben".2 Man sieht: Jugenddeutsch ist eine schwere Sprache, und ihre Vermittlung will gelernt sein. Unter dem Datum des 17. September 1983 teilt dieselbe Zeitung ihren Lesern „Wortschatz der Jugend" (so die Überschrift) mit. Die ersten vier Zeilen dieser Wortschatzsammlung füllen folgende Wörter: „anmachen, ranwachsen, rüberblühen, nicht rüberkommen, antörnen, der bringt das nicht, ausklinken, Putz machen, strukturieren, sensibilisieren." Auch diese „Sammlung" gibt Rätsel auf: Es gibt Infinitive, Negativ-Infinitive und die dritte Person Singular als Zitierformen des Verbs. Justus Georg Schottelius, der große Grammatiker im 17. Jahrhundert, war da konsequenter; seine Zitierform des Verbs war der Imperativ: komm rüber, torn an usw. Zudem: strukturieren und sensibilisieren sind eher dem Wissenschafts- und Bildungsjargon zuzurechnen 1 2

Vgl. hierzu Schleuning 1980, 15 Müller-Thurau 1983, 158

4.1. Zur Fragebogenaktion

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(wobei Jargon' vorläufig als ,Sprache der anderen' bestimmt sei). In dieser Auffassung bestätigt uns das neue „Deutsche Universalwörterbuch", das sensibilisieren als „bildungssprachlich" einstuft3 und unter strukturieren folgenden Beispielsatz bringt: „die Wirtschaft völlig neu strukturieren."4 Das, allerdings, wird man der Jugend dann doch noch nicht zutrauen. Man sieht, wie notwendig ein Zugang zur Jugend und ihrer Sprache ist, der einigermaßen verläßlich ist. Es geht darum, Schneisen in das Dickicht einer hermetischen Sprachlandschaft zu schlagen. Der im folgenden abgedruckte Fragebogen wurde in mehreren Vorläufen erprobt und zur Diskussion gestellt. An persönlichen Daten wurden nur Geschlecht und Alter erfragt, dazu Angaben über den „Spitznamen" oder einen „Phantasienamen" (dazu unten S. 96). Die Zugehörigkeit zur Klasse einer bestimmten Schulform stellte ein weiteres Datum dar. Mit diesen Angaben war die Anonymität der Schüler gewährleistet - Voraussetzung dafür, daß die Ministerien die Fragebogenaktionen genehmigten und die Schüler und Schülerinnen unbefangen antworteten. Der Fragebogen war so angelegt, daß er in einer Schulstunde (45 Minuten) beantwortet werden konnte. Der Rücklauf betrug 100%, da der Interviewer zusammen mit dem Lehrer jeweils anwesend war. Zum Vergleich: eine 13. Klasse aus Neuß (14 Schüler), die ich während einer Exkursion in Braunschweig mündlich interviewte, schickte vier Fragebögen zurück. Die Fragen sind durchweg dem Typus der „offenen Frage" zuzurechnen5, d.h. die Antwortmöglichkeiten sind nicht vorgegeben. Darüber hinaus ist die Anordnung der Fragen kalkuliert: In der „Vorbemerkung" wird eine vorsichtige „Beziehung" zwischen dem Befrager und den Schülern aufgebaut. Mit dem Hinweis auf das „Discodeutsch", das in der Zeitung stand, soll an das originäre Wissen der Schüler appelliert werden. Sie selbst sind die Experten (was ja nicht eben häufig vorkommt). Zunächst wird 3 4 5

Duden. Deutsches Universalwörterbuch 1983, 1151 Duden. Deutschen Universalwörterbuch 1983, 1231 Vgl. u.a. Scheuch 1973, 82f.; Friedrichs 1973, 197f.; Atteslander 1975, 103f.;Münch 1971, 77 f.

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4. Jugendsprache 1982

das Thema ,Musik' verhandelt. Danach wird versucht, Angaben über bevorzugte Lektüre, Filme und Theaterstücke zu erhalten. Damit werden, in etwa, die weitergehenden Interessen des Schülers markiert. Erst danach werden Fragen zu spezifischem sprachlichen Verhalten formuliert. Im Vordergrund stehen Lautwörter und deren Verwendung, Sprüche, Anreden und Grüße, also „Sprache in der Kommunikation". Danach gibt es einen Block, in dem nach schülersprachlichem Wortschatz gefragt wird. Dann folgen Fragen nach den Spitznamen der Mitschüler; zugleich wird erbeten, die Gründe darzulegen, die zu dieser „Namengebung" führen. Eingerahmt ist der „Namenkomplex" (dem zugleich eine Ergänzungs- und Kontrollfunktion gegenüber der Eingangsfrage nach dem eigenen Spitznamen zukommt) von Fragen nach Ausdrücken für jugendliche Kleidungsstücke und der Bitte, einen Mauerspruch von drei Händen zu erklären. Abschließend ist jugendlicher Wortschatz, z.B. solcher aus der Braunschweiger Region (u.a. hau rein) und aus der DDR (urst) vorgegeben; es wird um die Erklärung der Bedeutung der Wörter gebeten. Die Frage nach der Einschätzung der eigenen Sprache (und damit zugleich nach der Einstellung zur eigenen Sprache) „runden" den Fragebogen ab. Die Fragebogenaktion wurde im ersten Halbjahr 1982 in folgenden Schulen durchgeführt: 1. Neue Oberschule Braunschweig, Klasse 8: l — 27 2. Neue Oberschule Braunschweig, Klasse 11: 28 - 48 3. Ludwig Frank-Gymnasium Mannheim, Klasse 11: 49 — 75 4. Ludwig Frank-Gymnasium Mannheim, Klasse 8: 76 - 108 5. Realschule Wohlgelegen Mannheim, Klasse 8: 109 - 135 6. Realschule Wohlgelegen Mannheim, Klasse 10: 136 - 157 7. Hauptschule Wohlgelegen Mannheim, Klasse 8: 158 — 175 8. (Sonstige: Schüler und Jugendliche in Mannheim und Umgebung): 176 - 183 9. Schulzentrum Braunschweig-Volkmarode, Hauptschule, Klasse 8/2: 184 - 213 10. Schulzentrum Braunschweig-Volkmarode, Hauptschule; Klasse 8/3: 214 - 236

4.1. Zur Fragebogenaktion

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11. Gymnasium Martino-Katharineum, Braunschweig, Klasse 8a: 237 - 263 12. Gymnasium Martino-Katharineum, Braunschweig, Klasse 8b: 264 - 290 13. Gymnasium Martino-Katharineum, Braunschweig, Klasse lla: 291 - 310 14. Gymnasium Martino-Katharineum, Braunschweig, Klasse lib: 311 - 326 15. Schulzentrum Braunschweig-Volkmarode, Realschule, Klasse lOb: 327 - 352 16. Schulzentrum Braunschweig-Volkmarode, Realschule, Klasse lOa: 353 - 382 17. Berufsbildende Schule II Braunschweig: 383 - 397 18. Geschwister-Scholl-Schule; Oberstufengymnasium Melsungen, Klasse 11: 398 - 431 19. Gesamtschule, Hauptschule Melsungen, Klasse 8: 432 - 457 20. Gymnasium Neuss, Klasse 13: 458 - 461 (siehe dazu S. 130) Dieser „Kampagne" im Jahre 1982 folgte eine „Nachuntersuchung" im Jahre 1983 (gleichfalls erstes Halbjahr). Der Klasse 8 der Neuen Oberschule (oben unter Nummer 1), die nunmehr Klasse 9 war, wurde der gleiche Fragebogen nochmals vorgelegt, dazu einer jeweils „neuen" Klasse 8 und 11: 21. Neue Oberschule Braunschweig, Klasse 9: 462 - 489 22. Neue Oberschule Braunschweig, Klasse 8: 490 — 517 23. Neue Oberschule Braunschweig, Klasse 11: 518 - 536 Die Verteilung der 536 Fragebögen erfolgte nach unterschiedlichen Kriterien. Zunächst galt es, unterschiedliche Schulformen zu „bedenken": Gymnasium, Realschule, Hauptschule, Berufsschule. Für die ersten drei Schulformen boten sich die Klassen 8 und 11 (bzw. 10 für die Realschule) an: Es wurde unterstellt, daß in Klasse 8 eine jugendliche Sprechweise sich zu entwickeln beginnt, die in Klasse 11 ihren Höhepunkt schon überschritten hat. Ggf. sind hier erste Anzeichen einer Distanz zum Jargon' (als Sprache der anderen) festzustellen. Somit gibt es eine Differenzierung nach Schulformen und eine nach dem Alter. Darüber hinaus wurde eine

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4. Jugendsprache 1982

regionale Differenzierung vorgesehen. Dem hochdeutsch sprechenden niederdeutschen Untersuchungsgebiet (Braunschweig) sollten mitteldeutsche Sprachgebiete (Melsungen bei Kassel, Mannheim) konfrontiert werden. 4.2. Ein einzelner Fall Schulklassen boten sich insofern an, als diese spezifische Formen jugendlicher Peer-Groups, also Gruppen Gleichaltriger, darstellen, die der Ort sind, an dem sich ein jugendliches Problembewußtsein und, entsprechend, eine altersbedingte Art des Sprechens entwickelt (s. dazu Kap. 10). Da im folgenden jugendliches Sprechen jeweils vergleichend, dessen Merkmale zusammenfassend, auf jeden Fall: kollektiv, also klassen- und damit gruppenbezogen vorgestellt wird (s. dazu Kap. 5), nehme ich hier die Gelegenheit wahr, den Fragebogen anhand eines Beispiels vorzustellen, das erst einmal für sich, für eine achtzehnjährige Neusser Gymnasiastin sprechen soll. Daß auch die Antworten dieses Fragebogens zu generalisierenden Betrachtungen hinführen, wird die Interpretation dieser „Sprachdaten" erweisen. Prof. Dr. H. Henne Lehrstuhl für Germanistische Linguistik Seminar für deutsche Sprache und Literatur Technische Universität Braunschweig

Mühlenpfordtstr. 22/23 3300 Braunschweig

Fragebogen zur Jugendsprache Vorbemerkung: Anredeprobleme gibt's auch in einem Fragebogen. Zum Zwecke der Vereinfachung habe ich das „Du" gewählt. Wo es nicht (ganz) paßt: Entschuldigung. - Vielen Dank für die Mitarbeit. Hinweis: Eine überregionale Zeitung wußte zumindest, was „DiscoDeutsch" ist: „Als ich neulich mit Peter in die City drückte, macht der mich unheimlich an aufs Tilbury. Na, schon bohren wir dahin, obwohl ich eigentlich aufs Lollipop stand. Ich Chaot hatte keine Matte mit, weil ich meinen Kaftan vergessen hatte ..." - Jugenddeutsch?

4.2. Ein einzelner Fall

Junge

D

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Mädchen

Alter: 18

1. Bitte den eigenen Spitznamen oder einen Phantasienamen eintragen: Cici (Kiki); Tina; Cicus; „Kikus der Waldspecht" (es existiert ein Märchen mit diesem Titel) 2. Welche Musik (welcher Gruppen) hörst Du gern? 1. Chris de Burgh; 2. Genesis; 3. Novalis; 4. Alan Parsons Project; 5. Jethro Tüll; 6. Barclay James Harvest; 7. Reinhard Mey. Im Grunde eine Musik, die romantisch und dadurch zum Träumen veranlaßt. Welche Titel (Stücke)? 1. The Girl with April in her eyes / Old Fashioned People I 2. Carpet Crawl I 3. Wunderschätze I 4. Day after day; Don't let it show I 5. Hymn; Sea of Tranquility I 6. Von Luftschlössern, die zerbrochen sind; Was weiß ich schon von dir; Ab heut und ab hier. 3. Mit welchen Worten „Deiner" Sprache bezeichnest Du eine Platte/Cassette, die Dir gefällt? Super Platte irre Platte Mir fallen dazu nur Attribute ein und gute Platte halt keine richtigen Namen, ast-reine Platte oder aber halt... Scheibe tierische Platte die Dir nicht gefällt? tödliche Scheibe tödliche Leier 4. Wie drückst Du Deinen Ärger aus (wie fluchst Du)? „So'n Scheiß" „Scheiße" (am häufigsten) „Merde" (franz.) „Jetzt reicht's mir aber wirklich" „Schitt" „Der oder dem hau' ich jetzt eine" „So'n Schitt" „Himmel, Arsch und Zwirn" „Himmel!" „Sakrament" Jetzt reicht es mir aber, volle Suppe! 5. Kennst Du Jugend- oder umgangssprachliche Bezeichnungen für folgende Ausdrücke: Gute Musik: irrer Sound, dufter Sound, tofter Ton schlechte Musik: (stell doch die Orgel ab; mach das Ding aus) sich seinen Gefühlen hingeben: „Feeling haben"; „emotions" spezieller Klang: „Sound" Kennst Du andere (wichtige) Ausdrücke zur Musik (bitte erläutern)?

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Q.

7.

8.

9.

4. Jugendsprache 1982

Neue Welle - I New Wave Anmache Musik l Musik die einem auf Anhieb gut gefällt klassische Musik I Classics (englischer Ausdruck) Welches sind Bücher, die Du gern liest (Lieblingsbücher, auch Comics, Zeitschriften, Zeitungen)? Zeitschriften: Pan, Mode-Zeitschriften Bücher: .Victoria' (Knut Hamsun); ,Narziß und Goldmund' und .Siddharta', ,Steppenwolf (H. Hesse); .Stiller', „Homo Faber", „Andorra" (Frisch); „D. Fremde", „D. Pest", „Der Fall" (Camus); „Der Verdacht", „Das Versprechen" (Dürrenmatt); „Die Leiden des jungen Werthers" (Goethe), „Desiree". Vor zwei oder drei Jahren fand ich „Die neuen Leiden des jungen W." (Plentzdorf) und „Der Fänger im Roggen" (Salinger) ganz toll, da es in einem solch lockeren und legeren Stil geschrieben ist, im Grunde mag ich so etwas heute noch. Welche Filme (auch Theaterstücke) haben Dich besonders beeindruckt? Filme: „Bilitis" von Hamilton; „Sissi"; „Frühstück bei Tiffany"; „Griechische Feigen"; „Pappillon"; „Spiel mir das Lied vom Tod."; „Das Boot". „Die Blechtrommel"; „Die wunderbaren Jahre". (Kunze) Theaterstücke: „Amadeus". „In der Sache Oppenheimer" Kennst Du Klangwörter (z. B. peng, ächz, lechz usw.)? Welche? kotz; schnief; würg; süß!!; trief; schludder; fetz; tödlich; Welche benutzt Du am häufigsten? süß; tödlich; schnief; trief; bös Beschreibe bitte die Bedeutung dieser Wörter: süß: Etwas ist niedlich oder reizend z. B. ein Kleid oder ein Kind, tödlich: Etwas ist unmöglich, schrecklich, auch entnervend, schnief: Etwas ist traurig und man ist ein wenig niedergeschlagen, trief: Z.B. ein Streber in der Schule. Bei uns sagt man heute auch Schleimer, so hinterläßt er eine ,Schleimspur'. Es trieft dann. Auch dicke Leute werden so kommentiert. Gib an, in welcher Situation Du diese Wörter benutzt: Ich benutze diese Wörter als Kommentar z.B. zu gesehenen Situationen oder auch zu erlebten Situationen. So etwas ist effektiver als viele Worte. - Eine unmögliche Situation. - Eine köstliche, d.h. lustige Situation. - ein außergewöhnliches Ereignis. - Oder aber einfach ohne Grund, um z. B. die Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Welche „Sprüche" sind augenblicklich in (auch Sprüche aus Liedern, Filmen, Fernsehsendungen)?

4.2. Ein einzelner Fall

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/. Ich glaub mich knutscht ein Elch! II. Sollte uns das nicht zu denken geben? Ich glaube nein, guten abend" (Otto) III. „Soll ich dir 20 Pfennig geben? Wieso? Dann kannste das deiner Parkuhr erzählen." Gib bitte einen Kommentar zu den Sprüchen (z. B. wann werden sie benutzt?) /. Z.B. in einer verrückten eigenartigen Situation, in der man etwas nicht mit Worten auszudrücken vermag. II. Wenn man ein unliebsames Gespräch abbrechen möchte, denn darauf weiß ein zweiter oder dritter kaum etwas zu erwidern; Einfach so, weil man sonst nichts zu sagen hat! III. Man bricht einfach so zum Spaß in ein Gespräch ein, im Grund absurd, vielleicht um jemanden zu ärgern. 10. Nimm an, Du möchtest Deinem Freund/Deiner Freundin Deinen Lieblingsfilm/-theaterstück/-buch „anpreisen". Wie sprichtst Du mit ihm/ihr? Ich erkläre ihr oder ihm sehr sachlich und ernst ein Buch oder Theaterstück etc, weil ich dann ganz ernst genommen werden will und auch so am glaubwürdigsten erscheinen kann. Mir liegt dann meist auch am Herzen, daß der andere auch diesen sagen wir mal „Genuß" entdecken kann, im übrigen ist es auch interessant sich danach gemeinsam zu unterhalten. 11. Wie grüßt Ihr Euch am Anfang eines Gesprächs? H.HO; Na/,· Guten Tag na M e,nem

/

hier wird das o und das a verwechselt! Wie am Ende eines Gespräches? Tschüs; Tschö; Also dann; Bis dann; Arrivederci (ital.?) Bey, Bey; A bientot (franz.); Au revoir (franz.) See you later alligator! Wie grüßt Ihr Euch, wenn Ihr aneinander vorbeigeht? Na; Hallo; Geht's gut? Hey! (spaßeshalber) Holla 12. Wie beginnst Du einen Brief (an einen Freund/an eine Freundin)? Mein(e) liebe(r) ...; Liebe(r); Allerliebste; Liebste ...

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Wie beendest Du ihn? Sei herzlich umarmt; Es grüßt dich; Auf bald; Alles Liebe und Gute; Mach's gut;

Bis bald und tschüs dann. 13. Gibt es (bei den Jungen bzw. bei den Mädchen) spezielle Ausdrücke zur Bezeichnung einer Freundin bzw. eines Freundes? Die Mädchen nennen ihren Freund häufiger „Macker" Die Jungen hingegen ihre Freundin „Meine Keule" (leider) „Meine Alte" (leider) 14. Gibt es spezielle jugendsprachliche/schülersprachliche Bezeichnungen für den Direktor der Schule: die Direx; der Direx; der Alte; der Obermotz; Lehrer der Schule: Pauker; Motzer; Macker; Proff; den Hausmeister der Schule: unser Hausmeister heißt Turrowsky und wir nennen ihn Tucholsky den Klassensprecher/die -Sprecherin: ./. einen guten Schüler: ./. den besten Schüler: Streber; Schleimer; Kriecher einen schlechten Schüler: Hohlkopf; Niete; Null; einen Schüler, den man nicht leiden kann: gemeine Abkürzungen z.B. ein Mädchen mit einem großen Kopf H2O-K.O.P.F. gute Noten: Meist durch Daumenzeichen

sssssr-

eine (sehr) schlechte Arbeit: volle Hand Arbeit das Abitur: Abi die Schule (insgesamt): Penne die Eltern: die Ollen; die Alten; die Macher. 15. Welche Fächer haben spezielle Bezeichnungen? Zumeist Fächer - in denen nicht normaler Unterricht abläuft. Z. B. Bei einem langweiligen Lehrer nennt man ein Fach: Schlafstunde und jeder weiß, was und wer gemeint ist. - Außerdem Abkürzungen z.B. ein Lehrer von uns heißt mit dem Vornamen Albert, die Stunde ist die Albi-Stunde. 16. Zähle weitere charakteristische schülersprachliche Ausdrücke auf, die sich auf die Schule beziehen. Erkläre sie bitte: 17. Kennst Du „jugendliche" Ausdrücke für jugendliche Kleidungsstücke?

4.2. Ein einzelner Fall

Schuhe: Latschen - Latschis; Schühlein Trenchcoat: Trench weiter Pullover. Sack Tasche: Taschli Pullover: Pullöverken; Pulloverli Strümpfe: Strümplis

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Ausdrücke

\ " 1°

Hut: Hütli

18. Welche Namen gebt Ihr anderen Schülern (Spitznamen)? Meist wählen wir Abkürzungen, die verniedlichen. Z. B. Michaela, Michi - oder aber situationsbedingte Namen. Einer der häufig über den Durst trinkt heißt z.B. „Schluckspecht'. — Oder der Kleidung wegen, wenn sich eine(r) gut kleidet z. B. „die Madame", „der Monsieur", „der Herr". Auch Namensabkürzungen z.B. Michael Zimmermann M.Z. Gib an, warum sie Spitznamen erhalten. Spitznamen drücken eine gewisse Beziehung zu einem zweiten aus. So ist die Atmosphäre nicht mehr unpersönlich. Man erinnert an z. B. gemeinsame Unternehmungen. 19. l. Geh lieber zu John Wayne II. Middle Class Fantasies III. Kreisch Erkläre bitte (wenn Du kannst), was dieser „Mauerspruch" (von drei verschiedenen „Händen") bedeutet: /. Laß mich in Ruh! II. Erwachsenen-Vorstellungen III. Zum Kotzen Alles zusammen drückt das eine meines Erachtens desillusionierte Einstellung zur Gesellschaft aus. Das sinnlos gewordene Heute. 20. Erkläre bitte (wenn Du kannst) die Bedeutung folgender Wörter: hau rein: essen, eine Ohrfeige geben; lall: sprechen (aber irgendwie blöd) labern Tussi: eine zu elegante Frau oder Mädchen ätz: das tut weh, wenn man z.B. jemanden sieht, wegen der Kleiderordnung Arafatlappen: ein 4-eckiges bedrucktes oder besticktes Tuch urst: - - - (kenne ich nicht) Alternativ!: einer der von der Norm abweicht. Bei uns werden Leute mit langen Haaren und schlampiger Kleidung und passender pol. Einstellung (grün) so bezeichnet. Zuweilen sogar als

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4. Jugendsprache 1982

Schimpfwort benutzt. Zombie: Einer der schlampig (nur lange Haare) herumläuft. Keule: ein Mädchen meist die Freundin von jemandem logo: klar, offensichtlich einen Hau haben: nicht ganz richtig im Kopf sein; blöd ej: Mann, oh Mann Spasti: hat nicht alle Tassen im Schrank Müsli: ein „Muttersöhnchen" Travi: Transvestit Alki: - - - unbekannt fetzig: schwungvoll poppig: bunt und farbenfroh 21. Zum Abschluß: Wie schätzt Du Deine eigene Sprache ein? Gibt es viele Ausdrücke, die z. B. Deine Eltern nicht verstehen? Im großen und ganzen schätze ich meine eigene Sprache im Zusammenhang mit anderen Erwachsenen neben meinen Eltern recht gut ein. Ich versuche mich dort möglichst nicht mit einer speziellen Jugendsprache auszudrücken, sondern vielleicht .etwas gewählter' zu reden und zu erzählen, denn irgendwo mag ich auch mit ,Nicht-Jugendlichen' gar nicht so im Grunde vertraut reden. Eine Jugendsprache ist erst auf der Basis von gegenseitigem Verständnis möglich und auch angebracht. Ein „geistiges auf einer Welle funken", vielleicht so! Ich hoffe Sie verstehen, was ich damit ausdrücken möchte. Nochmals: Vielen Dank! gez. Helmut Henne Anmerkung: Ich finde auch eine andere vielleicht als rückwärtige Tendenz in der Jugendsprache (siehe erste Seite) als wichtig zu bemerken. Bei uns ist es jetzt auch wieder häufiger zu registrieren, daß insbesondere Mädchen „ältere", heute kaum mehr angewandte Wörter z.B. schlechthin, just (halt in dieser Art) (Wörter) immer mehr benutzen. Auch auf diese Art und Weise möchte man sich dann auch wohl von der .Erwachsenen-Sprache' unterscheiden. Man wählt hierzu nicht neue, erfundene Wörter, sondern nimmt alte, weniger gebrauchte Wörter dazu auf und kommt sich wohl irgendwo schon ziemlich toll und gebildet vor, weil man nicht mehr abgegriffene Worte wie z.B. ,tierisch' benutzt, sondern eben eine andere Alternative gefunden hat. Von der ersten Silbe des Vornamens Christiane sind (unter Schwund des r) die unterschiedlichen Versionen des Spitznamens

4.2. Ein einzelner Fall

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(Cici bzw. Cicus} abgeleitet. Tina hingegen ist eine Kurzform des Namens, die sich von einer Version des Vornamens (Christina) und hier von den Endsilben herleitet. C/'d, gesprochen jeweils mit K (durch eine Klammerversion: Kiki angezeigt), hat das „übliche" i-Suffix, das in die Kindheit führt; Cicus hingegen wird auf das Märchen mit dem Titel „Kikus der Waldspecht" ausdrücklich zurückgeführt. Schon die ersten „Eintragungen" erweisen: Die Gymnasiastin arbeitet sprachbewußt, ja sprachreflexiv. Dabei lassen die Angaben zu den Spitznamen zwei Prinzipien der Spitznamengebung erkennen: regelhafte Variation des eigentlichen Namens und Anlehung an vorgegebene, z. B. literarische Namen aufgrund lautlicher Ähnlichkeit. Kiki verdankt sich dem ersten Prinzip, Cicus der Mischung beider Prinzipien. Die Angaben zur Musik (Gruppen und Titel) folgen dem Duktus der Angaben zu den Spitznamen: Die Vorlieben werden durch Namen- und Titelangaben detailliert beschrieben und zugleich zusammengefaßt und bewertet: „Im Grunde eine Musik, die romantisch (ist) und dadurch zum Träumen veranlaßt." Noch eines dokumentieren die Titel und Namen: Die Welt der jugendlichen Musik ist englisch orientiert: „Old Fashioned People" swim in a „Sea of Tranquility" and meet „The Girl with April in her eyes". Diese Titel sind super Scheiben, irre, astreine, tierische Scheiben; oder aber, wenn sie nicht gefallen, tödliche Scheiben oder gar eine tödliche Leier. Die Gegenüberstellung von romantischer Musik und derben Vokabeln (irre, tierisch] ist eindrucksvoll. Die aus der Sicht der Erwachsenen grobianische und derbe Stilart ist eine Folge der superlativischen Struktur jugendlicher Ausdrucksweise. Tierische Scheibe und tödliche Leier: Dieses Muster wird sich wiederholen. In den Fragekomplex 4 und 5 hat sich eine zweite Hand gemischt. Offensichtlich erschienen ihr die Angaben zu den Phrasen des Ärgers und zur Musikwelt zu konventionell: der irre und dufte Sound der Gymnasiastin wird ergänzt durch einen toften Ton (welch schöne Alliteration), und der eher konventionell formulierte „Ärger" wird angereichert mit: „Jetzt reicht es mir aber, volle

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Suppel" Kann man sich vorstellen, wie 18jährige im Jahre 1947 fluchten? Eher werden sie den leeren Teller, vielleicht die d ü n n e Suppe beschworen haben, um ihren Verdruß auszudrücken. Wie jugendliche Ausdrücke mit „ihrer" Zeit verflochten sind, zeigt eine positive Wendung der späten 40er und frühen 50er Jahre in Berlin, an die sich ein 58jähriger im Jahre 1981 erinnert: „Det is paramount"-, und er erläutert: „Weil amerikanische Filme sehr hohes Ansehen hatten."6 Die Angaben zur bevorzugten Literatur führen u. a. anspruchsvolle Klassiker der „Jugendliteratur" auf: Johann Wolfgang Goethes „Werther", Hermann Hesses „Steppenwolf", Salingers „Fänger im Roggen" und Ulrich Plenzdorfs Goethe und Salinger nachgeschriebenes „Die neuen Leiden des jungen W." Labsal für jugendliche Seelen ist diese Literatur deshalb, weil jeweils Einzelne, noch nicht erwachsene und verfestigte Naturen: Werther, Harry Haller, Holden Caulfield, Edgar Wibeau gegen „die Gesellschaft" stehen und um Selbstverwirklichung kämpfen. Welcher Jugendliche möchte nicht wie Holden Caulfield „Fänger im Roggen" sein: „Aber jedenfalls stelle ich mir immer kleine Kinder vor, die in einem Roggenfeld ein Spiel machen. Tausende von kleinen Kindern, und keiner wäre in der Nähe — kein Erwachsener, meine ich — außer mir. Und ich würde am Rand einer verrückten Klippe stehen. Ich müßte alle festhalten, die über die Klippe hinauslaufen wollen — ich meine, wenn sie nicht achtgeben, wohin sie rennen, müßte ich vorspringen und sie fangen. Das wäre einfach der Fänger im Roggen. Ich weiß schon, daß das verrückt ist, aber das ist das einzige, was ich wirklich gern wäre. Ich weiß natürlich, daß das verrückt ist."7 Aber die Gymnasiastin weiß weitere, und zwar stilistische Gründe ins Feld zu führen, die für die angegebene Literatur als Lektüre „der" Jugend sprechen: „Vor zwei, drei Jahren 6

7

Im Anschluß an einen Vortrag mit dem Titel „Jugend und Sprache" (vgl. Literaturverzeichnis) im Nov. 1981 habe ich Fragebögen ausgegeben, die die Erwachsenen auf die Spur ihrer Jugend und ihrer damaligen Sprache führen sollten. Salinger 1979, 127

4.2. Ein einzelner Fall

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fand ich ,Die neuen Leiden des jungen W.' und ,Der Fänger im Roggen' ganz toll, da es in einem lockeren und legeren Stil geschrieben ist, im Grunde mag ich so etwas heute noch." Der Inhalt muß im Stil seinen Ausdruck finden; der Kampf gegen Zwänge und Konventionen der Gesellschaft ist auch einer gegen erstarrte Regeln des Sprachstils. Und dann, wie der Fragebogen es vorschreibt, der Übergang zu den Lautwörtern, englisch: sound words (die der Fragebogen noch als ,Klangwörter' führt). Sie sind den Comics entlehnt und dienen dort dazu, die visuelle Welt der Comic-Szenen lautlich zu beleben. In sprachwissenschaftlicher Perspektive sind sie laut- bzw. schallnachahmende Zeichen: Die sanfte Willkür ihrer Lautstruktur (die Sprachzeichen auszeichnet) ist insofern teilweise aufgehoben, als sie das, was sie bedeuten, in ihrer Lautstruktur abbilden. Man kann zwei Sorten unterscheiden: L a u t n a c h a h m e n d e Interjektionen (wie man traditionell sagen würde) wie knacks und peng\ und lautcharakterisierende, wie ächz und würg. Letztere sind, um mit Johann Christoph Adelung, einem Grammatiker des 18. Jahrhunderts, zu sprechen, „Ausdrücke der innern Empfindungen."8 Sie sind als solche Rückbildungen der entsprechenden Verben, in diesem Fall von ächzen und würgen.9 Die Gymnasiastin nun führt zunächst drei solcher verbalen Rückbildungen an: kotz, schnief, würg; dann das Adjektiv süß, das möglicherweise in gleicher Funktion benutzt wird; anschließend wiederum drei verbale Rückbildungen: trief, schludder und fetz (von triefen, schluddern (?) und fetzen) und schließlich tödlich, das, mit dem Suffix -lieh, nur schwerlich der Klasse der Lautwörter zuzurechnen ist, aber offensichtlich gleiche oder ähnliche Funktionen erfüllt. Die Verwendungsweise von Lautwörtern und ihrer Substitute (wie süß und tödlich) zeichnet sich nun dadurch aus, daß sie als Einwortkommentare eingesetzt werden, wobei spezifische Lautwörter, z. B. schnief, schnief auch verdoppelt werden können. Die semantische 8 9

Adelung 1795, 329 Vgl. hierzu (zum Thema Lautwörter) Henne 1984, 68 f.

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Erklärung z. B. von tödlich: ,etwas ist unmöglich, schrecklich, auch entnervend' ist relativ präzis, auch der pragmatische Kommentar, der u. a. lautet: „So etwas [also die Verwendung von Lautwörtern] ist effektiver als viele Worte." Und anschließend wird gleich eine Typologie der Situation mitgeliefert: „unmögliche", „lustige", „außergewöhnliche Situationen" werden mit Lautwörtern belegt, aber auch Situationen, in denen man die Aufmerksamkeit auf sich lenken möchte. Hier gibt jemand seine Kommunikationspraxis in der Gruppe preis. Die Aufdeckung von Kommunikationsstrategien wird im „Kapitel" „Sprüche" fortgesetzt. Natürlich gibt es den obligatorischen Medienspruch von Otto („Sollte uns das nicht zu denken geben? Ich glaube nein, guten Abend"), mit dem ein „unliebsames Gespräch" abgebrochen werden kann. Der oder die Partner sind nach der Plazierung dieses Spruches sprachlos - das ist zumindest die kommunikative Erfahrung der Gymnasiastin. Der zitierte OttoSpruch stellt den Schluß seiner Ansprache dar, die den Titel: „Das Wort zum Aberglauben" trägt: „Liebe Brüder und Schwestern! Es herrscht zuviel Aberglauben auf dieser Welt; allzuviel, auch heute noch. Da gibt es Menschen, die stecken ihre Füße in kleine Wollsäcke, weil sie glauben, somit die Götter des Frostes milde stimmen zu können. Andere wiederum kleben kleine bunte Läppchen auf ihre Briefumschläge, um so das Heer der Götterboten zu einem schnelleren Brieftransport zu bewegen. Ja, der Aberglaube führt einige unserer Mitmenschen sogar soweit, daß sie sich Kerben und Zickzackmuster in ihre Autoreifen schnitzen lassen, um somit die Götter des Aquaplaning zu überlisten. Andere wiederum stülpen sich kleine Gummitütchen über ihren Schniedelwutz, um somit die Götter des Familienplaning gnädig zu stimmen. Das alles ist dunkelster, dunkelster Aberglaube. Wirklichen Schutz, wirkliche Hilfe versprechen nur die großen Religionen. Ich selbst hab' immer eine geweihte Christopherusplakette an meiner Orgel und bin seitdem noch nie mit einer anderen Orgel zusammengesto-

4.2. Ein einzelner Fall

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ßen. Ich könnte Euch noch tausend weitere Beispiele nennen, wenn ich nur welche wüßte. Sollte uns das nicht zu denken geben? Ich glaube nein. Guten Abend."10

Um den Stellenwert des Ottospruches richtig einschätzen zu können, muß man den Text kennen, den der Spruch „im Rücken" hat. Der unbändige Witz des Textes (den ich dem Leser nicht vorenthalten wollte) färbt auch den Jugendspruch ein und gibt ihm in der jugendlichen Sprüchewelt einen herausragenden Stellenwert — den auch der folgende Ottospruch hat: „Da fiel es ihm wie Schuppen aus den Haaren. Und sollte nicht auch einer von uns, oder morgen, oder heute, oder vielleicht nicht. Wer weiß."11 Dieser Jugendspruch ist Ottos „Wort zum Montag" entnommen. Die verbrauchte Rhetorik religiöser Erwachsenenprosa, die dieses „Wort" aufdeckt, ist Nervennahrung für jugendliche Oppositionshelden. Sie handeln sie freimütig, über und unter der Bank. — Der Spruch unter Nr. III („Soll ich dir 20 Pfennig geben? Wieso? Dann kannste das deiner Parkuhr erzählen") ist dialogisch konzipiert. Die Struktur des Spruches weist auf seine kommunikative Funktion unmittelbar hin. Konnte man, nach den Angaben der Gymnasiastin, mit dem Ottospruch ein Gespräch „abbrechen", so kann man mit diesem Spruch in ein Gespräch „einbrechen", „einfach so, zum Spaß, [...] vielleicht um jemanden zu ärgern". Überdeutlich wird hier, daß Sprüche zwar eine Botschaft haben, daß sie aber zugleich die Kommunikation steuern. Und ein weiteres zeigt Spruch Nr. III an: Die Welt der Sprüche ist in die Zeitläufte verstrickt (s. o. S. 74): „deine Parkuhr" — das tangiert eigentlich so richtig nur motorisierte Zeitgenossen. Die Antwort auf Frage 10 verstärkt den Eindruck, daß „Literatur" ein existentieller Faktor für die Probandin ist. Der Hinweis, daß sie „ganz ernst genommen werden will und auch so am glaubwürdigsten erscheinen kann", lenkt die Aufmerksamkeit auf Sprachbereiche, die möglicherweise nicht gruppensprachlich be10 11

Waalkes 1980, 201 Waalkes 1980, 9

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setzt sind, dennoch aber eine jugendliche Komponente haben. Welche? Die Antworten zu den Grüßen und An- und Abreden enthalten die üblichen jugendsprachlichen Partikeln (Hallo, holla, na, hey usw.)· Auffällig ist vor allem der „Gang durch die Fremdsprachen": arrwederci, bey bey (sie), a bientot, au revoir demonstrieren erst einmal vielsprachige Weitläufigkeit. Die „fremde Hand" fügt hier noch einen „Punkt" mit: „See you later alligator!" hinzu (eine Phrase aus einem Song der 50er Jahre). Die Antworten zur Bezeichnung eines Freundes bzw. einer Freundin (seitens der Mädchen bzw. der Jungen) bringen nun eine entschiedene Wertung: Mädchen sagen „häufiger" Macker, Jungen meine Keule („leider") bzw. meine Alte („leider"). Hier wird ein sprachkritischer Ton angeschlagen, der in populären Arbeiten zur Jugendsprache, etwa in Müller-Thuraus weit verbreitetem „Laß uns mal 'ne Schnecke angraben"12, nur einseitig ausgebildet ist: „Unbefangenheit, die Neigung zu bildlichen Sprachformen, Verzicht auf gedankliche Pedanterie"13 sind zweifellos charakteristische Merkmale jugendlichen Umgangs mit Sprache; aber: „bildliche Sprachformen" können auch verletzen, in diesem Falle diejenigen, die mit diesen Bildern belegt werden — mit Bildern, die zwischenmenschliche Beziehungen ausdrücken und dabei eine Reduktion der Person (wie bei Keule) vornehmen. Seit dem 18. Jahrhundert, als Studenten ihre „Umwelt" gruppensprachlich ordneten (und sie damit in gewisser Weise reduzierten), gibt es solche Verletzungen: Besen etwa, die für junge Mädchen zentrale studentensprachliche Bezeichnung (die dann durch Wortbildung, z.B. Florbesen ,Mädchen vornehmer Abkunft', oder Attribute, z.B. famose, flotte, patente Besen differenziert wurde), stellt eine frühe Form sprachlicher Verletzung dar.14 Daß es auch liebevollere Bezeichnungen gibt, lehrt uns z.B. eine kleine Abhandlung aus dem Jahre 1929, die den Titel trägt: „Aus der 12

13 14

Müller-Thurau 1983 A. a. O., 29 Vgl. Henne 1984a, 17 f.

4.2. Ein einzelner Fall

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Pennälersprache": „Eine Persönlichkeit im Leben des Pennälers, die ihm das Herz höher schlagen läßt, ist die Flamme. Die Flamme ist eine heimliche Liebe des Pennälers, wovon ,sie' oft selbst nichts ahnt. [...] Heute ist der Pennäler moderner geworden. Anstatt der Flamme hat er jetzt eine Kleine. Die Kleine ist auch eine Liebe, aber keine heimliche [,..]."15 Ich übergehe die Antworten zum schulspezifischen Wortschatz und zu den Bezeichnungen für jugendliche Kleidungsstücke. Die Antworten zu letzteren weisen eigentlich nur unterschiedliche Versionen der Verkleinerungssilbe norddt. -chen bzw. süddt. -lein auf (Pullöverken, Pulloverli). Dadurch erhalten die Bezeichnungen einen sekundären, kindersprachlichen Klang, der gegen die Standardsprache der Erwachsenen steht. Die Antworten zu den Spitznamen folgen dem eingangs festgestellten ersten Prinzip: regelhafte Variation des eigentlichen Namens („verniedlichende" Abkürzungen: Michaela > Michi) und formulieren zugleich ein weiteres (drittes) Prinzip: Spitznamen werden „situationsbedingt" zuerteilt, wobei es sich um Eigenschaften („über den Durst trinken": Schluckspecht) oder Gewohnheiten („gut gekleidet": die (!) Madame, der (!) Monsieur] handelt. Auch die Funktion der Spitznamen, die Beziehungen persönlicher zu gestalten, wird angesprochen. Lassen wir die Erklärung des „Mauerspruchs" und der vorgegebenen jugendsprachlichen Wörter beiseite, und betrachten wir abschließend die Einstellung zur eigenen Sprache (die Erläuterungen zu Alternativi und Zombie nehmen wir mit in diese Überlegungen hinein). Alternativi ist „einer, der von der Norm abweicht". Damit wird eine Distanz aufgebaut, die nicht nur für die Gymnasiastin selbst, sondern offensichtlich für den größeren (?) Teil der Gruppe gilt: „Bei uns", fährt die Probandin fort und erläutert, daß Alternativi sogar ein Schimpfwort sei. Vor der Stellungnahme zur eigenen Sprache und zum eigenen Sprachverhalten war diese u. a. politisch besetzte Bezeichnung „eingeschmuggelt", um Positionen zu klären. Die folgende Stellungnahme zeigt auf, daß Gruppensprache „gegenseitiges Verständnis" voraussetzt und nur unter dieser 15

Janberg 1929

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4. Jugendsprache 1982

Voraussetzung „angebracht" ist. Man müsse „geistig auf einer Welle funken" — woraus man folgern darf, daß die Sprache zerfällt, wenn die Gruppe sich auflöst. Nur Versatzstücke werden bleiben — ähnlich denen, die die Standardsprache von den Jugendlichen übernimmt (s. unten S. 232). Und die „Anmerkung" führt aus, daß auch veraltete, der Umgangssprache entfremdete Wörter (schlechthin, just) die Funktion übernehmen können, abgegriffene Wörter (tierisch, das eingangs als superlativisches Wort aufgeführt wird) zu ersetzen und zugleich die Sprache (gegen die der Erwachsenen) kenntlich zu machen. Nach Goethe ist der einzelne Fall das Allgemeine (s. Motti). Wir wollen das so auffassen, daß der einzelne Fall uns Möglichkeiten jugendlicher Sprachgebung in der Gruppe („bei uns", „wir") lehrt. ,Gruppe* steht hier im Singular. Gruppei\orientierung der Jugend bedeutet aber, daß erst die Vielzahl der Gruppen und ihrer unterschiedlichen Werte und Normen ein wirkliches Bild „der" Jugend vermittelt. Wir wollen dazu weitere Beiträge liefern.

5. Jugendsprache 1982: Klassenaspekte 5.1. ,Freund' und ,Freundin': Bezeichnungsvielfalt und Verletzungsprobleme Als in der Unterrichtseinheit ,Vielfalt von Sprache' der Klasse 11 der Neuen Oberschule in Braunschweig am 28. April 1982 eine Kassette mit jugendsprachlichen Dialogen vorgespielt wird, sagt ein Schüler anschließend: „Wir haben unsere eigene Jugendsprache hier in unserer Klasse, die ist vielleicht schon ein bißchen älter!" In den Klassen herrscht ein je eigener „Ton", der, wenn auch mühsam, auch den Fragebögen zu entnehmen ist. Demgemäß sind je spezifische Unterschiede beim Vergleich der Klassen auszumachen. Unterschiede gibt es aber auch innerhalb der Klassen. Einer ist der zwischen Jungen und Mädchen. Als in derselben Klasse der Text aus der „Discosprache" (s. S. 66) vorgelegt wird, diskutieren die Schüler und Schülerinnen das Wort Fleischbeschauung („Wir machten eine kurze F. [...]"). Dabei wurde deutlich, daß dieses Wort nur dem Blick der Jungen auf Mädchen folgt, „daß es aber nicht gilt, wenn Mädchen die Jungen anschauen". Gibt es einen wesentlichen Unterschied, wie Jungen „ihre" Mädchen und Mädchen „ihre" Jungen sprachlich behandeln? Die Frage 13 des Fragebogens lautete: „gibt es (bei den Jungen bzw. bei den Mädchen) spezielle Ausdrücke zur Bezeichnung einer Freundin bzw. eines Freundes?" 21 Schülern der 11. Klasse der Neuen Oberschule in Braunschweig wurde der Fragebogen vorgelegt, 10 Mädchen und 11 Jungen. Von den Mädchen haben 7 die Frage 13 nicht beantwortet; 3 Schülerinnen beantworteten sie folgendermaßen: Nr. 431: Süßer 1

Das sind im folgenden die laufenden Nummern meines Fragebogenkorpus.

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5. Jugendsprache 1982: Klassenaspekte

(für Jungen); Nr. 48: meine Alte, meine Frau; Nr. 39: mein Alter, meine Alte, meine Frau, Tussi, Lucy, Eilt, mein Weib. Von den 11 Jungen beantworten 4 die Frage nicht. Einer dieser vier schreibt: Nein! 7 Schüler geben folgende Antworten: Nr. 31: Tussi, Knacker; Nr. 36: Tussi, Alte, Macker; Nr. 37: Alte, Tussi, Alter; Nr. 38: Lucy, Eilte, Alte; Nr. 40: Alte, Eilt, Macker, Alter, „benutze ich nicht"; Nr. 41: meine Alte, Tussy, „passiv"; Nr. 42: Tussi, Eilt, Schraube, Straßenkreuzer („für ein tolles Mädchen"). Faßt man diese lexikalischen „Vorkommen" (tokens) zu Typen (types) zusammen, erhält man folgende Liste: Liste l : Alte (7mal) · Tussi (6mal, davon Imal als Tussy) · Elli (4mal, davon Imal als Eilte) - Alter (3mal) · Lucy (2mal) · Frau (2mal) · Macker (2mal) · Knacker (Imal) · Schraube (Imal) · Süßer (Imal) · Weib (Imal). Da diese Liste im wesentlichen von den Jungen erstellt ist, führen Bezeichnungen für die Freundin die Liste an. Die Mädchen beteiligen sich eigentlich nicht. Bei Nr. 39 hat man den Eindruck, als ob eher Zitierformen genannt werden, und der Beitrag von Nr. 43 (Süßer) ist eher der sanften Art zuzurechnen. Aber auch die Jungen gehen nicht „in die vollen". Auch sie enthalten sich zum Teil oder schreiben „benutze ich nicht", oder sie beherrschen die Ausdrücke nur „passiv". An erster Stelle werden von den Jungen immer Bezeichnungen für die Freundin genannt. Die Leitformen, wenn es sie überhaupt gibt, sind Alte und Tussi (für Mädchen) und Alter und Macker (für Jungen). Sowohl nach Typ wie nach Vorkommen überwiegen die Bezeichnungen für ,Freundin' die von ,Freund' bei weitem (8 Bezeichnungen für jFreundin', insgesamt 24mal genannt; 4 Bezeichnungen für ,Freund', 7mal genannt). Offensichtlich wirkt die negative Einstellung eines großen Teils der Klasse dämpfend auf die Bezeichnungsproduktivität. Da ist die Klasse 11 des Mannheimer Ludwig-FrankGymnasiums von anderem Kaliber. 27 Schüler haben den Fragebogen beantwortet, davon sind 10 Mädchen und 17 Jungen.

5.1. .Freund' und ,Freundin'

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Von den Mädchen hat eine die Frage nicht beantwortet, die Antworten der 9 Mädchen lauten: Nr. 51: Scheich, Tussi, Schnalle, Buchs, Nr. 53: Dein [Name], Dein Macker; Nr. 54: Kumpel, Macker, Typ („für Freund"); Nr. 61: Frau, Macker („nie allgemein, aber immer Freund oder Freundin"); Nr. 62: Dein Scheich, dein Boy, deine Puppe; Nr. 63: geiler Typ („natürlich, nur gebrauche ich selbst solche Ausdrücke nicht"); Nr. 64: Tussi, Feger („für Mädchen"), Macker („für Jungen"); Nr. 74: Kerl, Typ. Von den 17 Jungen haben 3 die Frage 13 nicht beantwortet, die Antworten der 14 Jungen lauten: Nr. 49: Flamme, Anhänger; Nr. 50: Tussi, Schnalle; Nr. 52: Tussi, Schachtel, Pferd, Alte, Charlotte, Frau; Nr. 55: Schlampe, Schnalle, Mutti, Arschloch, Wichser, Nr. 56: Waffel, Weih, Tussi, Alte, Schneck; Nr. 59: Tussi, Mädel, Nr. 66: Kumpel; Nr. 67: Typ („Jungen"), Mädel („Mädchen"); Nr. 68: Seine Alte, Tussi; Nr. 69: Torti, Weih, Freundin, Schnalle, Tussi, Schatz, Liebling, Titti; Nr. 70: Tussi, Nr. 72: Schatz, Mädel, Alti, Kleini; Nr. 73: Macker, Puppe, Dein Alti, Schleuder; Nr. 75: Tussi. Eine Liste der (Wort-)Typen (sie) sieht so aus: Liste 2 : Tussi (lOmal) · Macker (5mal) · Schnalle (4mal) · (geiler) Typ (4mal) · Mädel (4mal) · Alti (3mal) · Scheich (2mal) · Kumpel (2mal) · Frau (2mal) · Puppe (2mal) · Weib (2mal) · Alte (2mal) · Schatz (2mal) · Buchs (Imal) · Boy (Imal) · Feger (Imal) · Kerl (Imal) · Flamme (Imal) · Anhänger (Imal) · Schachtel (Imal) · Pferd (Imal) · Charlotte (Imal) · Schlampe (Imal) · Schneck (Imal) · Mutti (Imal) · Arschloch (Imal) · Wichser (Imal) · Waffel (Imal) · Torti (Imal) · Freundin (Imal) · Liebling (Imal) · Titti (Imal) · Kleini (Imal) · Schleuder (Imal). Da die Mädchen der Klasse sich an diesem „Sprachspiel" beteiligen — möglicherweise ein Grund dafür, daß dieser Bereich der Sprachprofilierung ausgeliefert ist -, liegt es nahe, eine Mädchen- und eine Jungen-Liste zu erstellen; also eine von Mädchen benannte und eine von Jungen benannte:

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5. Jugendsprache 1982: Klassenaspekte

Liste 3 : Von Mädchen: Macker (4mal) · (geiler) Typ (3mal) · Scheich (2mal) · Tussi (2mal) · Kerl · Boy · Kumpel · Schnalle · Buchs · Frau · Puppe · Feger (alle Imal) Liste 4 : Von Jungen: Tussi (8mal) · Schnalle (3mal) · Mädel (3mal) · Alti (3mal) · Schatz (2mal) · Kumpel · Flamme · Schachtel · Pferd · Charlotte · Frau · Schlampe · Mutti · Alte · Torti · Weib · Freundin · Liebling · Schneck · Titti · Kleini · Puppe · Schleuder · Anhänger · Arschloch · Wichser · Typ · Waffel · Macker (alle Imal) Und eine weitere Ordnung der Bezeichnungen ist — als Grundlage der Interpretation — hilfreich: die Differenzierung von Bezeichnungen, die für ,Freundin' und die für ,Freund' genannt wurden (nur die Typen sind vermerkt): Liste 5 : ,Freundin': Tussi · Schnalle · Mädel · Frau · Puppe · Weib · Alte · Schatz · Buchs · Feger · Flamme · Schachtel · Pferd · Charlotte · Schlampe · Mutti · Waffel · Torti · Freundin · Liebling · Schneck · Titti · Schleuder Liste 6 : ,Freund': Macker · Typ · Alti · Scheich · Kumpel · Boy · Kerl · Anhänger · Kleini · Arschloch · Wichser Diese Listen beinhalten einen Unsicherheitsfaktor, der auf die Fragestellung zurückzuführen ist: In Frage 13 wurde unterstellt, daß es sich bei der Antwort jeweils um die Freundin eines Jungen und den Freund eines Mädchens handelt: Die Formulierung der Frage war zumindest so angelegt.2 Es ist aber nicht ganz sicher, ob alle diese Frage so verstanden haben und dementsprechend sich z.B. nicht auch Bezeichnungen für den Freund eines Jungen und die Freundin eines Mädchens eingeschlichen haben - oder ob gar Bezeichnungen mehrfach verwendbar sind. 2

Siehe oben S. 70

5.1. ,Freund' und ,Freundin'

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Sprachwissenschaftlich gesehen liegen nach unterschiedlichen Kriterien aufgebaute Synonymenfelder vor. Diese Synonyme (im Sinne von bedeutungsähnlichen oder -verwandten Sprachzeichen) unterscheiden sich hinsichtlich ihrer konnotativen Bedeutung, also ihrer Mit-Bezeichnung ( find ich zu ordinär!)" Gäbe es einen Preis für ehrliches Bemühen — Nr. 398 sollte ihn bekommen.

5.2. .Begrüßungen' und ,Abschiede'

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Eine andere Gymnasiastin (Nr. 417) ist da sicherer: „Alte oder ähnliches ist hier nicht gebräuchlich." Dieser Probandin wäre ein Preis für Selbstsicherheit zuzusprechen. Denn natürlich kennen oder gebrauchen ihre Mitschüler z. B. Alte, wie u. a. Nr. 405, 414, 416, 417, 419, 424, 425, 428 bezeugen. „Die sind zusammen", schreibt, sich den kritischen Stimmen beigesellend, Nr. 421 und verweigert die Lexikalisierung der besonderen Verhältnisse oder Beziehungen. Andere versuchen, das ungeschriebene Lexikon der Jugendsprache zu bereichern: „das Kleene" sei üblich, und „der Große", schreibt Nr. 412. Unüberhörbar mischt sich hier der Dialekt unter die Wörter und gibt ihnen einen landschaftlichen Charme. Zu solchen regionalen Wörtern müssen wir wohl auch alte Wutz (Nr. 407) rechnen. Wir stutzen, wenn wir im Universalwörterbuch lesen, Wutz sei ein landschaftlicher, auf Lautmalerei beruhender Ausdruck für ,Schwein'.4 Schimpfwörter als Kosenamen?

5.2. ,Begrüßungen' und ^Abschiede': Leitformen, Vielfalt und Regionalismen „Begrüßungen und Abschiede sind die rituellen Klammern für eine Vielzahl von Aktivitäten", schreibt Erving Goffman.5 Als allgemeinste Funktion dieser „Klammern" benennt er den Übergang zu erhöhter bzw. (beim Abschied) verminderter „Zugänglichkeit". Er spricht deshalb allgemein von „Zugänglichkeitsritualen", wobei „Begrüßung im Vorbeigehen" als eine „zeremonielle Bekundung der Möglichkeit des Zugangs" eingestuft wird.6 Goffman läßt bei seiner Dreiteilung der Gruß weit das „Nicht-Grüßen" außer acht, das umgangssprachlich unter dem Begriff jemanden schneiden' geführt wird und eine Lehnübersetzung aus dem Englischen 4 5 6

Deutsches Universalwörterbuch 1983, 1485 Goffman 1974, 118 Goffman 1974, 119

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5. Jugendsprache 1982: Klassenaspekte

ist ( cut a person).7 Jugendliche haben dafür eine eigene Variante entwickelt, die, je nach Standpunkt, härter oder ehrlicher oder härter und ehrlicher eingestuft werden kann: A sagt zu B über C, die gerade vorübergeht: „Ach mein Gott, die schon wieder!" (alle sind ca. 14 bis 15 Jahre alt). Oder D sagt zu E über F, der (gleichfalls) vorübergeht: „O guck ma, schon wieder der Blöde!" In beiden Fällen soll der/die, über den/die „gesprochen" wird, das vernehmen. Wahrscheinlich muß diese jugendliche Variante im Sinne der vorgeschlagenen Bewertungen als ,härter und ehrlicher' eingestuft werden. Sie ist härter als die Praxis der Erwachsenen, weil die zumindest mögliche Symmetrie der Verletzung, also die wechselseitige Nicht-zur-Kenntnisnahme, aufgegeben wird zugunsten einer eindeutigen Asymmetrie: Zwei (oder mehrere) gegen einen; sie ist ehrlicher, weil die Antipathie nicht unterdrückt wird, sondern offen zum Ausdruck kommt. Die jugendliche Welt bedarf offensichtlich noch nicht so sehr der Versicherung, daß die „Möglichkeit des Zugangs" jederzeit offengehalten wird. Die angeführte Variante zerstört diese Möglichkeit, zumindest vorübergehend, eindeutig. Darüber hinaus ist festzustellen, daß, wie die Angaben zu Frage 11 [c] meines Fragebogens („Wie grüßt Ihr Euch, wenn Ihr aneinander vorbeigeht?") erweisen, diese Form des Grußes problematisch ist oder ganz abgelehnt wird. So schreibt ein Mädchen (Nr. 423) aus Melsungen: „Wir gehen nicht aneinander vorbei, wenn wir uns sehen [...] dann reden wir auch zusammen." Drei Jungen dieser Klasse (Nr. 405, 410, 411, insgesamt 33 Schüler) verweigern immerhin die Aussage. Der Vorgabe der Schülerin aus Melsungen folgt ein Mädchen (Nr. 28) der 11. Klasse der Neuen Oberschule in Braunschweig: „Hallo, versuche aber trotzdem ein Gespräch anzufangen." Dieser Stellungnahme schließt sich eine andere Schülerin (Nr. 39) an: „Gehe aber nicht vorbei." In dieser Klasse (21 Schüler) gibt es zwei Verweigerungen (Nr. 47, ein Mädchen, Nr. 45, ein Junge, der „entfällt" 7

Dt. Universalwb. 1983, 1110: „jmdn. bei einer Begegnung absichtlich, demonstrativ nicht beachten, übersehen u. ihm damit zeigen, daß man nichts mehr mit ihm zu tun haben möchte".

5.2. .Begrüßungen' und ,Abschiede'

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schreibt). Die Tendenz, diesen Gruß zu problematisieren oder die Antwort zu verweigern, wird in zwei anderen 11. Klassen des Gymnasiums Martino-Katharineum in Braunschweig, wenn auch nur schwach, fortgesetzt. „Es kommt auf die Personen drauf an, die ich treffe", schreibt ein Mädchen (Nr. 292) der Klasse lla. Und aus Klasse lib enthält sich ein Junge (Nr. 325) der Antwort. Mit zwei Enthaltungen folgt die Klasse 11 des Mannheimer Gymnasiums dem vorgegebenen Trend der Verweigerung. Allerdings gibt es keine Problemformulierungen; dafür profiliert sich diese Klasse durch nichtsprachliche Grußzeichen für diese Form des Grüßen^. Vereinzelt gibt es die auch in anderen Klassen: „Nicken, hallo" schreiben zwei Mädchen (426, 431) aus Melsungen, und ein Junge (417) schreibt: „mit Handzeichen". In den drei Braunschweiger 11. Klassen gibt es drei Antworten, in denen Gestik und Mimik eine Rolle spielen: Nr. 33: „Hallo oder durch 'Winken" (Mädchen); Nr. 44: „Hallo (Winken)" (Junge); Nr. 298: „Hallo (Durch Handheben und Lächeln}" (Mädchen). Nun mag auch die natürliche Trägheit oder Unlust die Schüler abhalten, das nichtsprachliche Repertoire, teils in Zusammenhang mit sprachlichen Formen, auszubreiten. Dennoch ist der Unterschied zur 11. Klasse des Mannheimer Gymnasiums auffällig. Nur einmal fällt, wie angemerkt, in Melsungen der Begriff ,Handzeichen'. In Mannheim gibt es hingegen sechs Jungen, die diesen Begriff in der Antwort führen oder ihn umschreiben; z. T. wird er zusammen mit sprachlichen Formen eingeführt: Nr. 52: „Wie! Hallo! In Form eines Handzeichens, unter Umständen mit erhobenem Mittelfinger"8; Nr. 55: „Mit Handgruß (Die Hand nur hochheben und einmal nach links kippen)"; Nr. 58: „Hai, Wie l 8

Dieses Handzeichen hat seinen Ursprung in den USA. „Nehmen wir etwa das ,Fingeremblem' ^, das eine ziemlich starke Beleidigung zum Inhalt hat. Begleitet von einem gewissen Lächeln ist das ,fuck you' ein Scherz, mit einem anderen Lächeln oder mit einem wütenden, angeekelten oder verächtlichen Gesichtsausdruck versehen wird das Emblem dagegen mit großer Wahrscheinlichkeit zu einer Auseinandersetzung führen. Wir haben gerade erst begonnen, kontextuelle Modifikationen zu untersuchen." Ekman 1977, 192 f.

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5. Jugendsprache 1982: Klassenaspekte

mit einem Handzeichen"; Nr. 67: „Durch Kopfnicken oder Zeigen des Peace-Zeichens mit den Händen ß| "; Nr. 70: „Handzeichen, Hallo" Nr. 75 muß als eine Sonderforni nichtsprachlicher Grußzeichen betrachtet werden: „Er bekommt einen Hieb in den Sack." Damit ist, wiederum exemplarisch, demonstriert, daß sich jugendliche Sprach- und Verhaltensweisen, insbesondere solche, die sich von der Erwachsenenwelt entfernen, in der Gruppe, hier der Klasse, ausbilden. Offensichtlich sind die Mädchen, die in ihren Antworten keine Handzeichen führen, von diesem Signalsystem ausgeschlossen. Der ordinäre (Nr. 75) und obszöne (Nr. 52) Charakter einiger „Handzeichen" spricht, möglicherweise, für diese Interpretation. Wenden wir uns nun der „Klammer" zu, zunächst dem Gesprächsbeginn („Wie grüßt Ihr Euch am Anfang eines Gesprächs?"). Die ersten fünf Positionen aller fünf 11. Klassen (drei in Braunschweig: NO, M-K Ha, M-K lib; eine in Melsungen; eine in Mannheim) stellen sich folgendermaßen dar (s. S. 91). Das ist eine aufregende Tabelle, zeigt sie doch Leitformen, Vielfalt und Regionalismen - wie die Überschrift (5.2.) es verspricht. Die laufenden Ziffern auf der linken Seite geben den Rang an, den der jeweilige Gruß in der Klasse gemäß der Häufigkeit der Nennungen besitzt. Schon die Addition der Zahlen, z.B. der Mannheimer Nennungen, ergibt, daß alle Mehrfachnennungen berücksichtigt wurden, daß aber nur die jeweils fünf häufigsten „Grußformen" aufgenommen wurden. Erstaunlicherweise hat, relativ zur Schülerzahl, M-K Ha in Braunschweig die meisten Nennungen, nämlich 58; das macht 2,90 Nennungen im Durchschnitt pro Schüler (wobei die Jungen mit 3,38 im Durchschnitt die Zahlen hochtreiben). Dichtauf folgt Melsungen mit 98 Nennungen; das macht 2,88 pro Schüler (wobei Jungen mit 2,93 und Mädchen mit 2,84 im Durchschnitt sich die Waage halten). Die geringsten Nennungen, wieder relativ zur Schülerzahl, hat die NO in Braunschweig, nämlich 47. Hier liegen die Mädchen mit 2,55 im Durchschnitt über den Jungen mit 1,90. Die größte Variationsbreite hingegen hat die Melsunger Klasse, dicht gefolgt von der Mannhei-

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5.2. »Begrüßungen* und ,Abschiede'

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