John Keats und das romantische Bewußtsein [Reprint 2020 ed.] 9783112392843, 9783112392836

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John Keats und das romantische Bewußtsein [Reprint 2020 ed.]
 9783112392843, 9783112392836

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John Keats und das romantische Bewußtsein

Von Dr. Hildegard Schumann

TrledericbB*n, de Qmyter & Co. / Hambarg 1038

(D. 18) D r a e k i A . P r e l l l p p e r , H a m b u r g 11

EINTEILUNG

Seile

I. Kapitel: Einleitung

7

IL Kapitel: Keats' Verhältnis zu Wahrheit und Schönheit

14

1. in seinen Briefen

14

2. in seinen Dichtungen

20

a) Endymion

20

b) Ode on a Grecian Urn

26

c) Lamia

86

d) die beiden Hyperion-Fassungen

32

e) Znsammenfassung

39

DI. Kapitel: Das Bewußtsein von der Entzweiung in der Welt 1. Der Zwiespalt im gegenwärtigen Leben

41 41

2. Die Vergänglichkeit der Schönheit 3. Die Begrenztheit des Menschen 4. Lösung vom Bewußtsein

44 46 49

a) im starken Gefühl der Liebe b) in der Hingabe an die Natur

60 61

c) in der Hingabe an Musik d) im Zustand des Schlafs und des Träumern

52 63

e) im Tod. — Keats' Doppelverhältnis zum Tod f) Vergleich mit Shelley und der deutschen Romantik

66 ....

60

1. Kapitel EINLEITUNG». Fast mit jeder neuen Arbeit über einen Gegenstand der Romantik, sei es der deutschen, der englischen oder der franzosischen, entsteht eine neue Definition dessen, was eigentlich «romantisch" ist. Alle diese Definitionen treffen das literarische Phänomen der Romantik in einzelnen Punkten; sie sind alle auf Einzelerscheinungen innerhalb der romantischen Bewegung anzuwenden, auf diesen oder jenen romantischen Dichter; aber selten nur gelingt es, die Gesamterscheinung der romantischen Bewegung in Europa zu umschreiben, den Begriff Romantik so zu deuten, daß er auf alle Romantiker zutreffen würde. Was ist der Grund für diese Divergenz der Anschauungen? Es scheint mir dieser zu sein: jeder der Interpreten geht von einem anderen Standpunkt aus und kommt entsprechend zu einer anderen Formel. Die einen nehmen ihren Ausgangspunkt vom S t o f f ; und diese Richtung hat ihre Vertreter vor allem in England und Amerika. Romantisch ist für sie gleichbedeutend etwa mit romanzenhaft, Romantik setzen sie gleich mit der Rückkehr zum Mittelalter, mit der literarischen Erscheinung des Mediaevalismus. Der neueste Vertreter dieser Betrachtungsweise ist wohl Henry A. Beert, der schon in seiner "History of English Romanticism in the 18th Century" im Anschluß an Heine, bewußt sich begrenzend, sagt: "Romanticism, then, in the sense in which I shall commonly employ the word, means the reproduction in modern art or literature of the life and thoughts of the Middle Age* 2 ". Zwar gibt Beers fortfahrend zu, daß diese Erklärung nicht den Begriff romantisch vollkommen zu decken vermag: "Some other elements will have to be added to this definition, and some modifications of it will suggest themselves from time to time8 . . . The mediaeval revival was only an incident — though a leading incident — of this movement. But it is the side of it with which the present work will mainly deal. Thus I shall have . . . to say . . . very little about Byron, intensely romantic as he was in many meanings of the word . . . 4 ". 1

fessor * • *

In meinen Anschauungen von der Romantik bin ich grundlegend durch ProEmil Wolffs Vorlesungen fiber den Gegenstand beeinflußt worden. EL A. Beers, History of the English Romanticism in the 18th Century, p. 2. ibid. p. 2. ibid. p. M.

7

Deutlicher aber und verhärtet spricht Beer» solche Ansicht in seinem zweiten Bande über das 19. Jahrhundert aus: " I have a clear title to the use of r o m a n t i c in one of its commonest acceptions; and, for myself, I prefer the simple dictionary definition, 'pertaining to the style of the Christian and popular literature of the Middle Ages' to any of those more pretentious explanations which seek to express the true inwardness of romantic literature by analysing it into its elements, selecting one of these elements as essential, and rejecting all the rest as accidental 5 ." Tatsächlich scheint mir Beers selbst aber gerade ein Element, einen Teilbegriff für das Ganze zu setzen. Denn indem Romantik und Mediaevalismus gleichbedeutend für ihn sind, kommt er dazu, Scott mit den Worten Stevensons als "king of the Romantics" zu bezeichnen 6 , Shelley und Wordsworth aber aus seinem Kreis der Romantiker auszuschließen: " I prefer to think . . . of Shelley as an idealist, and of Wordsworth as a transcendental realist, and to reserve the name romanticist for writers like Scott, Coleridge, and Keats 7 ." Romantisch aber ist Keats für Beers nur in seinen mediaevalistischen Gedichten; denn nur sie behandelt er. Die Dichtungen, in denen sich Keats der Antike zuwendet, zieht Beers nicht in den Kreis der Betrachtung. Neben solcher Anschauungsweise, die vom Stoff ausgeht, aber steht eine andere, die ihren Ausgangspunkt vor allem in der F o r m d e r D a r s t e l l u n g sieht. Und diese Richtung findet sich etwa durch Sidney Colvin vertreten, wenn er den Unterschied von klassisch und romantisch als unabhängig vom Gegenstand erkennt: "The distinction lies deeper, and is a distinction much less of subject than of treatment . . . In classical writing every idea is called up to the mind as nakedly as possible, and at the same time as distinctly . . . In romantic writing, on the other hand, all objects are exhibited, as it were, through a coloured and iridescent atmosphere . . . The virtues of the one style are strength of grasp, with clearness and justice of presentment; the virtues of the other style are glow of spirit, with magic and richness of suggestion 8 ." Und ganz ähnlich geht Saihtsburys Erklärung des Begriffspaares klassisch und romantisch von der künstlerischen Form aus: "The terms classic and romantic apply to treatment not to subject, and the difference is that the treatment is classic, when the idea is represented as directly and with as exact an adaption of form as possible, while it is romantic when the idea is left to the reader's faculty of divination assisted' only by suggestion and symbol 9 ." — Und schließlich auch Walter Paters so oft 5 H. A. Beers, History of the English Romanticism in the 19th Century, p. VI. * ibid. p. 44. T ibid p. V I I ' S. Colvin: Selections from-W. S; Laitdor. Zitiert bei Beers: L c. VoL I, p. 16 f. * Saintsbury: A Short History of French Literature, p. 582, zitiert bei W. L. Phelps: Beginning of the Early English Romantic Movement .1

8

zitierte Erklärung der romantischen Kunst als "the addition of stran genes« to beauty 10 " stellt sich vor allem als ästhetisch-formale Interpretation dar. Wieder andere Versuche, den Begriff der Romantik zu deuten, gehen vor allem vom geistigen G e h a l t der Dichtung aus. Sind aber diese drei, Stoff, Form und Gehalt zu trennen? Tatsächlich bilden sie eine mehr oder minder ausgewogene Einheit in jeder Dichtung; denn sie erwachsen aus der Individualität und Tdtalität des Dichters. Im Einzelfall mag das Romantische des Stoffes überwiegen, wie das etwa bei Scott der Fall ist, mag die romantische Form zurücktreten vor romantischem Gehalt und Stoff, wie es sich bei Wordsworth sehr oft findet. Da aber, wo alle drei vereint sich darstellen, da erscheint die Romantik besonders rein und essentiell; und das geschieht in England bei Coleridge und vor allem Keats. Was sind nun die Bestrebungen der Romantik, wenn wir sie in ihrer Gesamtheit als geistige Bewegung Europas betrachten? Es ist nicht die Wiedererweckung des Mittelalters allein, worauf sich der Wunsch der Romantiker richtet. Es ist überhaupt nicht nur ein Zurückgehen in die Vergangenheit; denn die Romantik wendet ihre Sehnsucht nicht allein dem Vergangenen zu, sondern auch dem Zukünftigen, wie es Hölderlin und Novalis zeigen, wie es in einem ganz anderen Sinne, auch bei Shelley zutage tritt. Nichts weniger als die Erneuerung des Lebens überhaupt erstrebt die Romantik. Das Verlangen nach einem ursprünglichen Dasein, nach Einheit und Unmittelbarkeit kennzeichnet die Gesamtheit der Romantiker. Und alle die einzelnen Erscheinungen, die wir bei diesem oder jenem Dichter der Epoche als romantisch zu bezeichnen gewohnt sind, die Liebe zur unbewußten Natur, die Liebe zum instinktiven Tier, zur Unschuld des Kindes^ zur Naivität des primitiven Menschen, die Liebe zur geschichtlichen Vergangenheit des Volkes, zu dessen Fähigkeit, an Geheimnis und Wunder zu glauben, die Liebe zu dessen ursprünglichen dichterischen Formen — Volkslied und Ballade, Mythos und Märchen — alle diese einzelnen Tendenzen stellen sich nur dar als Elemente jener Gesamterscheinung: der Sehnsucht nach einem „einigen", ursprünglichen Leben. Aber der Wunsch nach Unmittelbarkeit in Gefühl und Phantasie, die Absage an eine Welt, die vor allem vom Verstandesmäßigen beherrscht wird, kennzeichnet ja in mehr oder minder starkem Maße die ganze zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts. Das Verlangen nach einem von Gefühl erfüllten Leben bewegt Rousseau und den Sturm und Drang; die Wendung zum Irrationalen setzt sich, oft ihrer selbst kaum bewußt, in England seit Young, seit Gray und Thomson fort; die Wendung zur ursprünglichen Vergangenheit des Volkes beginnt schon mit Percys Balladensammlung, mit Macpherson und Chatterton. 10

Walter Pater: Appreciations, Portacript, p. 258. 9

Und doch scheint eben nicht die Berechtigung zu bestehen, hier schon von Romantik zu sprechen, wie das des öfteren geschehen ist 1 1 . Wir haben hier die frühen Anfinge jener großen irrationalen Bewegung, die sich in Deutschland bis über das ganze erste Drittel des 19. Jahrhunderts erstreckt, die in Frankreich und England noch länger dauert; einer Bewegung, die Steigerung und Höhepunkt in der Romantik fand. Aber wir haben in diesen Anfingen nicht die romantische Bewegung selbst. Was unterscheidet nnn die eigentliche Romantik von jenen Anfangen des Irrationalismus? Während die Romantik erfüllt ist von der Sehnsucht nach der Einigkeit und Unmittelbarkeit eines früheren Lebens im Gefühl, während sie leidet an dem Bewußtsein von der Entzweiung der gegenwältigen Welt, in der überall Gegensätze sich bekämpfen, so will sie doch nicht zurückkehren zu dem Zustand jener unbewußten Vorzeit. Ihr Weg geht vielmehr vorwärts; sie will nicht verzichten auf „Bewußtsein" und „Bildung", sondern sie sucht nach einer neuen Einheit und Totalität des Lebens, wo der Mensch die ganze Intensität des Gefühls besitzt und doch alle Schärfe des Denkens; wo der Mensch ein geistiges und ein fühlendunmittelbares Wesen zugleich ist 1 2 . Hier bilden sich bei den Dichtern der deutschen Romantik jene — letztlich an Schiller angelehnten — triadischen Systeme, die eine Synthese der Gegensätzlichkeiten suchen; so wenn Ntwalis die „poetische" Unschuld, den „moralischen Instinkt", entgegengestellt der „prosaischen" Tugend und dann fortfahrend die Forderung stellt: „Die Tugend soll wieder verschwinden und Unschuld („gebildete Unschuld" nämlich) werden 13 ." Vor allem aber erscheint in Kleists „Marionettentheater" diese Synthese von instinkthaftem und bewußtem Dasein am Ende einer unendlichen Entwicklung: „ . . . das Paradies ist verriegelt und der Cherub hinter uns; wir müssen die Reise um die Welt machen und sehen, ob es vielleicht von hinten irgendwo wieder offen ist ... Mithin . . . müßten wir vom Baum der Erkenntnis essen, um in den Stand der Unschuld zurückzufallen . . . das ist das letzte Kapitel von der Geschichte der Welt." Jene Überwindung der Gegensätze, jene neue Einheit aber fordert die Romantik auch schon für die gegenwärtige Zeit. Der romantische Dichter soll die Synthese in sich vollenden: er gibt sich dem unmittelbaren Gefühl hin und besitzt doch Bewußtsein und Erkenntnis. Die romantische Dich1 1 Vgl. H. A. Beer«: 1. c. Vol. I ; W. L. Phelps: The Beginnings of the Early English Romantic Movement. Helene Richter: Geschichte der englischen Romantik. Bd. 1. u C. H. Herford spricht in "The Age of Wordsworlh" aus, wie die Romantik die Grenzen der Rousseauschen Anschauung, den Gegensatz von „Kultur" und „Natur" überwand, "advancing to a reconciliation of Civilization and Nature as elements in a Single ideal" (p. XVII). Auch J. Petersen weist in seiner „Wesensbestimmong der deutschen Romantik" (p. 47 f.) auf diesen Willen zur Synthese bei den deutschen Romantikern hin. M Novalis, Fragmente, hrsg. E. Kamnitser, p. 456.

10

tung soll Poesie und Philosophie in sich vereinen; kaum eine Forderang sonst erscheint so häufig in den theoretischen Äußerungen der Romantik. Das wird deutlich, wenn Schelling, der Philosoph, will, daß alle Philosophie Kunst werde; dem gibt vor allem Novalis in seinen Fragmenten Ausdruck: „Ohne Philosophie unvollkommener Dichter" 1 4 , oder: JDie Trennung von Poet und Denker ist nur scheinbar und zum Nachteil beider. Es ist ein Zeichen einer Krankheit und krankhaften Konstitution 15 ." Und noch deutlicher erklärt Novalis an anderer Stelle, wie im Dichter sich jene höchste Einheit darstellen soll: „Am Ende weiß der Denker ans jedem alles zu machen. Der Philosoph wird zum Dichter. Dichter ist nur der höchste Grad des Denkers und Empfinders 1 6 ." Wie die Philosophie und die Dichtung nicht zu trennen sind, das spricht auch Friedrich Schlegel aus: „Poesie und Philosophie sind ein unteilbares Ganzes, ewig verbunden, obgleich selten beisammen, wie Kastor und Pollux. . . . Aber . . . im Innersten und Allerheiligsten ist der Geist ganz, und Poesie und Philosophie völlig eins und verschmolzen 17 ." Die tatsächliche Vereinigung von Dichtung und Erkenntnislehre aber fordert Schlegel von der Romantik an anderer Stelle: „Was sich tun läßt, solange Philosophie nnd Poesie getrennt sind, ist getan und vollendet. Also ist die Zeit nun da, beide zu vereinigen 18 ." Und noch einmal spricht er aus, wie in der Dichtung die Philosophie ihre Fortsetzung finden soll; und ganz besonders deutlich wird hier, wie die Romantik nicht zurück will zum primitiven „natürlichen" Leben, unter Verzicht auf die Bildung, sondern nur immer nach höherer Entwicklung strebt: „Wo die Philosophie aufhört, muß die Poesie anfangen. Einen gemeinen Standpunkt, eine nur im Gegensatz der Kunst und Bildung natürliche Denkart, ein bloßes Leben soll es gar nicht geben; d. h. es soll kein Reich der Rohheit jenseits der Grenzen der Bildung gedacht werden 1 9 ." Und nicht auf die deutsche Romantik bleibt diese Forderung beschränkt, daß der Dichter in sich jene innere Totalität herstelle, jenen Zusammenhang von Denken und Fühlen. Gerade diese Anschauung ist eine der stärksten Gemeinsamkeiten der englischen und der deutschen Romantik. Das tritt vielleicht am deutlichsten in dem Vorwort zu den ,Lyrical Ballads' hervor, wo Wordsworth für den Dichter neben leidenschaftlichem Gefühl in nicht minder starkem Maße da« Moment der Reflexion fordert 2 0 , wo er in der Folge, noch deutlicher seine Ansicht for14

Noraiis, Fragmente, p. 36. ibid. p. 607. ibid. p. 39. 17 Fr. Schlegel: Uber die Philosophie, Athenaewn II, 1, p. 21 f. 18 Fr. Schlegel: Ideen, Athenaeum III, 1, p. 23. 19 ibid. p. 12 f. 20 Wordsworth, Preface: "For all good poetry . . . [was] never produced . . . bot' by a man, who, being possessed of more than usnal organic sensibilitjr, l u d also tbought long and deeply." — Prose Works of W. Wordsworth, ed. W. Knigbt, Vol. I, p. SO. 18

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mend, sagt: "Aristotle . . . has said, that Poetry is the most philosophical of all writings; it is so: its object is truth, not individual and local, bat general and operative . . . carried alive into the heart by passion 2 1 ." Kaum an anderer Stelle aber ist endgültiger die romantische Anschauung von der innigen Verwandtschaft der Poesie mit allem Wissen, j a mit allen Wissenschaften ausgesprochen, als wenn Wordsworth erklärt: "Poetry is the breath and finer spirit of all knowledge; it is the impassioned expression which is in the countenance of all Science . . . the poet binds together by passion and knowledge the vast empire of human society . . . Poetry is the first and last of all knowledge»." Tatsachlich empfanden andere der englischen Romantiker, daß dieser Zusammenhang von Philosophie und Poesie in Wordsworths eigener Dichtung nicht immer harmonisch war, daß seine philosophischen, seine ethischen Anschauungen oft zu greifbar, nicht genügend aufgelöst in dichterischen Stoff erschienen. Solchem Gefühl gab Keats besonders Ausdruck und auch bei Coleridge 23 deutet sich diese Kritik an. Wie aber auch gerade Coleridge jjene Verbindung von poetischen und Erkenntniskräften für den Dichter verlangte, das wird offenbar, wenn er sagt: "No man was ever yet a great poet, without being at the same time a profound philosopher 2 4 ", wenn er in den 'Lectures on Shakespeare 1 diese Einheit in dem elisabethanischen Dichter erreicht sieht: "Shake* speare, the poet, the philosopher, who combined truth with beauty and beauty with truth . . . 2 5 ' \ und an anderer Stelle: "Shakespeare, possessed of wit, humour, fancy, and imagination . . . was not only a great poet, but a great philosopher . . . í 6 " , — Das Verlangen der Romantik geht also dahin, das auseinandergefallene Leben auf einer höheren Stufe zu einen, die Gegensätzlichkeiten von Sinnlichkeit und Geist, von unbewußtem Gefühl und bewußtem Gedanken auszusöhnen. Aber immer wieder muß für die Romantik der Augenblick kommen, wo im tatsachlichen Leben diese Aussöhnung nicht mehr gelingt; wo der Mensch die Entzweiung der gegenwärtigen Welt schmerzlich erkennt; wo das Bewußtsein jede schöne Empfindung zerstört, wo das Denken jedes unmittelbare Leben aufgelöst hat. Und dann kann die Wendung zur Vergangenheit, sei es zum Mittelalter oder zur Antike, wirklich etwas wie eine Flucht vor der Gegenwart werden. Dann wird die Sehnsucht nach einem unbewußten Zustand, die Sehnsucht nach Lösung im Schlaf und im Tod zu einer Flucht vor dem Bewußtsein. 2 1 Wordsworth, Preface, p. 59. » ibid. p. 62. 3 3 Vgl. Biograpbia Literaria, Ch. XVII—XXI, wo Coleridge »ich mit den 'Lyrical Bailada* ausemanderaeUt. M Biograpbia Literaria II, p. 21. 3 6 Lecture« on Shakespeare, p. 116. ibid. p. 487.

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Für die deutsche Romantik aber gibt es noch einen anderen Ausweg, von der Zwiespältigkeit des gegenwärtigen Lebens sich zu befreien: sie flieht zum reinen Geist. Durch Ironie sucht sie sich von der Wirklichkeit zn befreien; indem sie phantastisch-ironisch mit der Wirklichkeit spielt und sie immer wieder auflöst, sucht sie ihrer Herr zu werden. Diese „romantische Ironie** aber ist vor allem eine Erscheinung der deutschen Romantik. In England kennt nur Byron die Lösung von der Wirklichkeit im ironischen Znstand; und doch ist seine Ironie nicht identisch mit der romantischen Ironie bei den Brüdern Schlegel und bei Tieck. Denn das Moment des vollkommenen Abstandes von der Wirklichkeit, des ewigen Spielens, der immerwährende Wechsel des Standpunkts gegenüber der realen Welt, fehlt bei ihm.

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2. KapiteL KEATS'

V E R H Ä L T N I S ZU W A H R H E I T UND S C H Ö N H E I T .

Welches Verhältnis hat nun Keats zu Bewußtsein und Erkenntnis? Auch er weiß von dem Zwiespalt in der Welt; auch er sucht sein ganzes Leben hindurch nach einer neuen Einheit. Diese Einheit, die wiederherzustellen er in allen seinen Werken sich bemüht, ist vor allem die Übereinstimmung von sinnlicher, schöner Erscheinung und Idee, die Einheit von Schönheit und Wahrheit. Der junge Keats beginnt in der naiven, ungebrochenen Haltung dem Leben gegenüber; die schönen Einzelerscheinungen, die ihn in der Welt greifbar umgeben: in der Natur, in der Kunst, am Menschen, will er genießend in sich aufnehmen; Ausdruck solcher Haltung sind die Gedichte der Frühzeit. Am höchsten entwickelt in dieser Richtung steht " I stood tip-toe", wo Keats sich voller Liebe an die Beobachtung des zarten Details in der Natur verliert ("and watch intently Nature's gentle doings 2 7 "), wo er, vom Gedanklichen unbeschwert, die schönen Impressionen auf sich wirken läßt. Hier ist es berechtigt, vom „sensualistischen" Keats zu sprechen 28 . Erst allmählich zeigt sich auch jene andere Seite bei Keats: das gedankliche Element taucht auf, Wissen und Denken gegenüber dem unbewußten, schönen Leben in Gefühl und Empfindung ("sensation"). Aber gerade weil dieses Wissen dem schönen Erleben entgegensteht, weil es seine Unmittelbarkeit zerstört, weil eine Kluft sich zu ziehen scheint zwischen der Schönheit des Lebens und dem Wissen der Wahrheit, deswegen lehnt Keats die Erkenntnis zunächst ab, und er gibt in seinen Briefen auch die Begründung dafür: "With a great poet the sense of Beauty overcomes every other consideration 29 ." So verwirft er zunächst die Philosophie und alle rein-rationale, logische Wissenschaft, weil dieser Weg ihn selbst nie in die Dinge hineinführen kann: "I have never yet been able to perceive how anything can be known for truth by consecutive reasoning—and yet it must be", so schreibt er an Bailey. "Can it be that even the greatest Philosopher ever arrived at his Goal without "I stood lip-toe", 63. Vgl. Syb. Geest: Der Sensualismus bei John Keats. -*» Letters of John Keats: 22. Dez. 1817 an G. u. Th. Keats (B. F., p. 57).

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patting aside numerous objections?" Gefühl und Empfindung können nur Keats 1 eigenes Leben erfüllen, und so fährt er fort in diesem Brief: " O for a life of Sensations rather than of Thoughts 3 0 ." Und in dem Sonett: "What the Trush said", gibt er drei Monate später seiner Ansicht noch einmal Ausdruck: " 0 fret oot after knowledge — I have none, And yet my song comes native with the warmth, O fret not after knowledge — I have none. And yet the Evening listens 31 ."

Weil jedes philosophische System schon eine Vereinseitigung in seinen Augen darstellt, eine Verengung und Abstraktion vom Leben, so kommt Keats dazu, auch Wordsworth in dieser Hinsicht abzulehnen: " . . . for the sake of a few fine imaginative or domestic passages, are we to be bullied into a certain Philosophy engendered in the whims of an Egotist? Every man has his speculations, but every man does not brood and peacock over them till he makes a false coinage . . . We hate poetry that has a palpable design upon us 3 2 ". . . . A. C. Bradley83 hat kurz auf Keats' Verhältnis zu Wissen und Philosophie hingewiesen und nach ihm Veronika Orend-Schmidt34 ausführlicher. Aber den tieferen Grund, warum Keats gerade in den ersten Jahren die Welt der Gedanken und der Erkenntnis ablehnt, gibt diese nicht: die Furcht nämlich vor dem wachsenden Bewußtsein, das jede unmittelbare Freude zerstört, das jedem Positiven gegenüber an das Negative denken läßt, bei jedem Glück die Einbildungskraft auf das mögliche Unglück hinführt. Seiner eigenen bewußten Haltung stellt Keats die seiner Schwägerin Georgiana gegenüber, die sich, unbeschwert, einem glücklichen Gefühl hinzugeben vermag: . . To see an entirely disinterested girl quite happy is the most pleasant and extraordinary thing in the world . . . Women must want imagination, and they may thank God for it; and so may we, that a delicate thing can feel happy without any sense of crime 3 5 ." Die Erklärung aber für solche Ablehnung des Wissens ist- nicht nur dieses: daß Keats' „anschaulich gerichtetem Geiste eine Auflösung der Erscheinungswelt in mathematische Gesetze . .. lediglich als negatives Vorgehen" erscheint 3 6 , ist nicht nur seine Scheu vor begrifflicher Festlegung, „ d a sie stets zu eng begrenzt ist, um das volle Leben zu erfassen 3 7 ", nicht nur seine ablehnende Haltung gegen geistige und künstlerische Beein* • L. o. J. K.: 22. Nov. 1817 an B. Bailey (B. F„ p. 53). Lines from a Letter to J. H. Reynolds: " 0 thou whose face." L. o. J. K.: 3. Febr. 1818 an Reynolds (B. F., p. 81). 3 3 A. C. Bradley: The Letters of Keats (Oxford Lectures on Poetry), p. 234ff. 9 4 V. Orend-Scbmidt: John Keats' Schönheitsideal und Weltanschauung. " L. o. J. K . : 10. Juni 1818 an Bailey (B. F„ p. 139). 8 8 V. Orend-Schmidt, 1. c., p. 76. 3 7 V. Orend-Schmidt, 1. c , p. 77. 31

32

15

fluasung38. Keats sieht tiefer: er weiß, daß der denkende und reflektierende Mensch getrennt wird vom Gefühl und unmittelbaren Leben, daß mit der Erkenntnis auch das Bewußtsein wichst vom Zwiespalt in der Welt zwischen Leben und Denken, zwischen Gefühl und Verstand. Die erste natürliche Reaktion ist darum, die Augen zu schließen vor zerstörendem Wissen und sich noch mehr auf die Seite des sinnlich-fühlenden Erlebens zu schlagen. Darum der Ausruf: "O for a life of Sensations rather than of Thoughts 39 !" Und doch ist Keats solche Vereinseitigung nicht möglich; denn er strebt nach dem Ganzen, nach der Einheit. Wenn erst der zweifelnde Gedanke in die Welt der schönen Wirklichkeit gedrungen ist,