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German Pages [332] Year 2019
Theologische Bibliothek
Michael Wolter
Jesus von Nazaret
Theologische Bibliothek Herausgegeben von Christoph Auffarth / Irene Dingel / Bernd Janowski / Friedrich Schweitzer / Christoph Schwöbel und Michael Wolter
Band VI Michael Wolter Jesus von Nazaret
Michael Wolter
Jesus von Nazaret
Vandenhoeck & Ruprecht
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. © 2019, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: textformart, Göttingen | www.text-form-art.de Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2567-9481 ISBN 978-3-7887-3408-4
Vorwort Es gibt nur wenige Menschen, die mit ihrem Auftreten und ihrem Geschick eine so nachhaltige Wirkung erfahren haben wie Jesus von Nazaret. Ihren Ursprung hat diese mittlerweile über einen Zeitraum von fast 2000 Jahren reichende Wirkungsgeschichte bei dem theologischen Anspruch genommen, den Jesus seinen Worten und Taten zuschrieb, und ohne diesen Anspruch kann man den Zusammenhang zwischen dem Auftreten Jesu und dem Entstehen seiner Nachwirkung auch nicht verstehen. In einer Reihe mit dem Titel „Theologische Bibliothek“ darf darum ein Buch über den historischen Jesus nicht fehlen. Dementsprechend habe ich mich darum bemüht, im Wege einer kritischen Lektüre der einschlägigen Quellen ein plausibles Bild des Programms zu entwerfen, mit dem dieser jüdische Wanderprediger aus Galiläa unter den Menschen seiner Zeit aufgetreten ist. Ein dreifaches „Dankeschön!“ begleitet die Veröffent lichung dieses Buches: Ich danke meinem Kollegen Christoph Auffarth aus dem Herausgeberkreis der „Theologischen Bibliothek“ für seine engagierte Lektüre des Manuskripts und die große Zahl der hilfreichen Hinweise, die ich für die Publikation berücksichtigen konnte. Ich danke den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Bonner „Jesusübung“, die das entstehende Manuskript gelesen und mit mir diskutiert haben. Ihre Verbesserungsvorschläge habe ich gerne aufgegriffen. Und ich danke Dr. Elisabeth Hernitscheck, Miriam Espenhain und Renate Rehkopf vom Verlag Vandenhoeck & Ruprecht für die sachkundige und freundliche Begleitung des Buches auf dem Weg der Drucklegung. Wer im Alter von beinahe 70 Jahren ein Jesusbuch schreibt, fängt natürlich nicht bei Null an, sondern
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Vorwort
hat schon vorher über seinen Gegenstand gearbeitet. Das vorliegende Buch enthält darum Kapitel und Abschnitte, über deren Themen ich bereits in der Vergangenheit Untersuchungen veröffentlicht habe. Keine von ihnen hat aber unverändert Eingang in das vorliegende Buch gefunden. Es handelt sich um die folgenden Titel: – „Was heisset nu Gottes reich?“, ZNW 86 (1995) 5–19 (s. auch M. Wolter, Theologie und Ethos im frühen Christentum, Tübingen 2009 = 2017, 9–30). – Interaktive Erzählungen. Wie aus Geschichten Gleichnisse werden, und was Jesu Gleichnisse mit ihren Hörern machen, Glaube und Lernen 13 (1998) 120–134 (s. auch Wolter, Theologie und Ethos, 64–81). – „Gericht“ und „Heil“ bei Jesus von Nazareth und Johannes dem Täufer, in: J. Schröter / R. Brucker (Hg.), Der historische Jesus, Berlin / New York 2002, 355–392 (s. auch Wolter, Theologie und Ethos, 31–63). – Jesus as a Teller of Parables: On Jesus’ Self-Interpretation in His Parables, in: J. H. Charlesworth / P. Pokorný (Hg.), Jesus Research, Grand Rapids / Cambridge 2009, 123–139. – Was macht die historische Frage nach Jesus von Nazaret zu einer theologischen Frage?, in: Erinnerung an Jesus. FS Rudolf Hoppe, Göttingen 2011, 17–33. – Which Jesus is the real Jesus?, in: J. G. van der Watt (Hg.), The Quest for the Real Jesus, Leiden 2013, 1–17. – Die „Wunder“ in der neutestamentlichen Jesusüberlieferung, in: E. Gräb-Schmidt / R. Preul (Hg.), Wunder, Leipzig 2016, 31–58. – Warum wurde Jesus gekreuzigt?, in: Korrespondenzblatt, herausgegeben vom Pfarrer- und Pfarrerinnenverein in der evangelisch-lutherischen Kirche in Bayern 133/4 (2018) 73–79.
Meckenheim, am 10. Juni 2019
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Michael Wolter
Allgemeine Hinweise Hebräische und griechische Wörter werden in Umschrift wiedergegeben. Die beim Lesen zu betonenden Silben sind mit Betonungszeichen ( ́) versehen. Für den hebräischen Namen Gottes verwende ich das konsonantische Tetragramm JHWH. Auf einen Text aus dem Spruchevangelium (zu ihm s. u. S. 37 f) verweise ich, indem ich diejenigen Texte des Lukasevangeliums und des Matthäusevangeliums nenne, aus denen er jeweils erschlossen wird (z. B. „Lk 4,1–13 und Mt 4,1–11“ für die Erzählung von der Versuchung Jesu). Die Kapitel- und Verszählung folgt jeweils dem Lukasevangelium. Die Texte aus Qumran werden so zitiert, dass zunächst die Nummer der Höhle genannt wird, in der der erwähnte Text gefunden wurde (also 1Q bis 11Q), und dann entweder die laufende Textnummer (z. B. 4Q521) oder ein gebräuchliches Buchstabensigel (z. B. 1QGen Apocr, 1QH oder 1QM). Weitere Informationen finden sich bei Maier, Qumran-Essener, Bd. I, S. V–VII. Auf jüdische und christliche Schriften außerhalb der Bibel wird mit den folgenden Abkürzungen verwiesen: 1–4Makk 5Esra Ant.
1. bis 4. Makkabäerbuch 5. Esrabuch (Flavius Josephus) Antiquitates Judaicae („Jüdische Altertümer“) AssMos Assumptio Mosis („Himmelfahrt des Mose“) äthHen Äthiopisches Henochbuch Bar Baruchbuch bAZ Traktat Aboda Zara („Götzendienst“) aus dem Babylonischen Talmud Bell. (Flavius Josephus) Bellum Judaicum („Jüdischer Krieg“) bSanh Traktat Sanhedrin („Gerichtshof“) aus dem Babylonischen Talmud
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Allgemeine Hinweise bSchab
Traktat Schabbat („Sabbat“) aus dem Babylonischen Talmud CD Cairo Document (Damaskusschrift) Decal. (Philo v. Alexandrien) De decalogo („Über den Dekalog“) EvMaria Mariaevangelium EvPhil Philippusevangelium EvThom Thomasevangelium GenR Midrasch Genesis Rabba hebrHen Hebräisches Henochbuch Jdt Judithbuch JosAs Die Erzählung von Joseph und Aseneth Jub Jubiläenbuch LevR Midrasch Leviticus Rabba Lib. Ant. (Pseudo-Philo) Liber Antiquitatum Biblicarum („Buch der biblischen Altertümer“) LXX Septuaginta mAvot Traktat Avot („[Sprüche der] Väter“) aus der Mischna mBerak Traktat Berakot („Segenssprüche“) aus der Mischna Mut. Nom. (Philo v. Alexandrien) De mutatione nominum („Über die Änderung der Namen“) NHC Nag Hammadi Codex PsSal Psalmen Salomos SibOr Sibyllinische Orakel Sir Sirachbuch slawHen Slawisches Henochbuch Spec. Leg. (Philo v. Alexandrien) De specialibus legibus („Über die einzelnen Gesetze“) syrBar Syrische Baruchapokalypse TestAbr Testament Abrahams TestAss Testament Assers TestDan Testament Dans TestGad Testament Gads TestHiob Testament Hiobs TestIsaak Testament Isaaks TestJos Testament Josefs TestLevi Testament Levis TestSal Testament Salomos Tg Targum Theod. Theodotion Tob Tobitbuch
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Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Allgemeine Hinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 I.
Jesus von Nazaret im Spannungsfeld von Geschichte und Glaube . . . . . . . . . . 15
1.
Die Frage nach Jesus von Nazaret als historisches und theologisches Problem . . . 15 Es gibt nur Jesus-Bilder . . . . . . . . . . . . . . . 21
2.
II. Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.
Die Paulusbriefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die synoptischen Evangelien . . . . . . . . . . . . Das Johannesevangelium . . . . . . . . . . . . . . Die apokryphen Evangelien . . . . . . . . . . . . Die sog. Agrapha . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Flavius Josephus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rabbinische Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . Griechisch-römische Autoren . . . . . . . . . . . Der Brief des Mara bar Sarapion . . . . . . . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
36 37 40 41 45 45 47 48 50 51
III. Biographisches und Persönliches . . . . . 53 1. 2.
Name . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Eltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Geschwister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Abstammung von David? . . . . . . . . . . . . . .
53 53 53 55 55
9
Inhalt
3. 4. 5. 6. 7.
Geburtsort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geburtsjahr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beruf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Todestag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sonstiges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
56 58 60 61 63
IV. Der zeitgeschichtliche Kontext . . . . . . . 65 1. 2.
Der politische Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . . Galiläa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Aufs Ganze gesehen . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Orte und Wege Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Galiläa und Jesus . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
65 68 68 69 71
V. Johannes der Täufer . . . . . . . . . . . . . . . . 75 1. 2. 3. 4.
Im Neuen Testament und bei Josephus . . . . 75 Johannes der Täufer – ein Prophet . . . . . . . 79 Johannes der Täufer – „mehr als ein Prophet“ (Lk 7,26 und Mt 11,9) . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 Jesus und Johannes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 4.1 Die Taufe Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 4.2 Gemeinsamkeiten und Unterschiede . . . . . . 87
VI. Die Mitte der Verkündigung Jesu: „Gottesherrschaft“ – „Reich Gottes“ – „Königsherrschaft Gottes“ . . . . . . . . . . . 95 1. 2. 3.
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Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Bestandsaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Zum Begriff und seiner Übersetzung . . . . . . Die Vorstellung von der Gottesherrschaft im nachexilischen Judentum . . . . . . . . . . . Was hat Jesus veranlasst, die Gottesherrschaft zum zentralen Thema seiner Verkündigung zu machen? . . . . . . . .
95 95 96 100 108
Inhalt
4.
Jesus und die Gottesherrschaft . . . . . . . . . . 4.1 Jesus kündigt das Kommen der Gottesherrschaft an . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Jesus selbst bringt die Gottesherrschaft zu den Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Das Verhältnis von Gegenwart und Zukunft der Gottesherrschaft in der Verkündigung Jesu . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . .
112 112 116 119 120
VII. „Er heilte viele, die an mancherlei Gebrechen litten, und trieb viele Dämonen aus“ (Mk 1,34) . . . 125 1. 2. 3.
Warum man nicht von „Wundern“ sprechen sollte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Welche „Machttaten“ Jesu haben eine historische Grundlage? . . . . . . . . . . . . 130 Wie hat Jesus seine Heilungen und Exorzismen theologisch gedeutet? . . . . . . . 141
VIII. „Ein Fresser und Weinsäufer, ein Freund von Zöllnern und Sündern“ (Lk 7,34 und Mt 11,19) . . . . . . . . . . . . . 153 1. 2. 3.
Worauf bezieht sich dieser Vorwurf? . . . . . 153 „Fresser und Weinsäufer“ . . . . . . . . . . . . . . 156 „Freund von Zöllnern und Sündern“ . . . . . 160
IX. Die Gleichnisse Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . 169 1. 2. 3. 4.
Die Rede von Gott in den Gleichnissen . . . . Wie kommt Jesus in den Gleichnissen vor? Krise und Chance: Die Situation der Menschen in den Gleichnissen . . . . . . . Jesus als Gleichniserzähler . . . . . . . . . . . . .
172 178 186 192
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Inhalt
X. Ethisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 1. 2.
Was sollen die Menschen tun? . . . . . . . . . . 197 Wie geht Jesus mit der Tora um? . . . . . . . . 207
XI. Die Verteilung von Heil und Unheil im Reich Gottes . . . . . . . . . . . . . 219 1. 2.
Die Seligpreisungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 Woran orientiert sich die Verteilung von Heil und Unheil? . . . . . . . . . . . . . . . . . 227
XII. Die Nachfolge der Jünger Jesu . . . . . . . 235 1. 2. 3.
Die Nachfolge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 Das Ethos des Jüngerkreises . . . . . . . . . . . . 241 Die Einsetzung der Zwölf . . . . . . . . . . . . . . 250
XIII. „Wer ist der?“ (Mk 4,41; Lk 7,49 u. ö.) . . . . . . . . . . . . . 253 1. 2. 3.
Fragen und Antworten . . . . . . . . . . . . . . . . 253 „Menschensohn“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 „Gesalbter“ („Messias“, „Christus“) . . . . . . . 266
XIV. Jesu Wirken und Ergehen in Jerusalem 273 1. 2. 3. 4.
5.
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Zur Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Tempelaktion“ und „Tempelwort“ . . . . . . . Das letzte Mahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verhaftung, Prozess und Tod . . . . . . . . . . . . 4.1 Jesu Kreuzigung als römische Strafe . . . . . . 4.2 Der römische Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Verhaftung und jüdisches Verhör . . . . . . . . 4.4 Beweggründe und Gründe . . . . . . . . . . . . . Hat Jesus seinen Tod theologisch gedeutet?
273 277 281 284 284 289 292 296 300
Inhalt
XV. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 1. 2.
Nach Golgatha . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 Nach Ostern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307
Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 Karte 1: Die Aufteilung der von Herodes d. Gr. beherrschten Gebiete unter seine Söhne im Jahre 4 v. Chr. . . . Karte 2: Orte Jesu in Galiläa . . . . . . . . . . . . . . . . Karte 3: Der Tempel in Jerusalem zur Zeit Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Überlieferung vom letzten Mahl Jesu . . . . . . .
313 314 315 316
Bibliographische Abkürzungen . . . . . . . . . . . 317 Verzeichnis der zitierten Literatur . . . . . . . . . 318 Bibelstellenregister (Auswahl) . . . . . . . . . . . 324 1. 2.
Altes Testament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 Neues Testament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326
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I. Jesus von Nazaret im Spannungsfeld von Geschichte und Glaube
1. Die Frage nach Jesus von Nazaret als historisches und theologisches Problem 1.1 Was hat Jesus von Nazaret mit z. B. Alexander dem Großen, Martin Luther oder Nelson Mandela gemeinsam? Sicher dies, dass er wie diese über seinen Tod hinaus großen Einfluss auf den weiteren Verlauf der Geschichte genommen hat. Außerdem wurden über das Wirken und das Geschick Jesu genauso Bücher geschrieben wie über das Leben und die historische Leistung der anderen drei Männer. Offenkundig ist aber auch der Unterschied zwischen ihnen: Weder Alexander der Große noch Martin Luther noch Nelson Mandela sind zum Gegenstand von religiösen Bekenntnissen geworden. Über keinen von ihnen wird z. B. gesagt, dass er Gottes „einziggeborener Sohn“ ist, dass Gott ihn von den Toten auferweckt und zu sich in den Himmel erhöht hat und dass er es ist, durch den Gott sein Heil für alle Menschen erschlossen hat. Auf der anderen Seite wissen wir aber auch, dass nicht alle Menschen in eine solche Charakterisierung Jesu von Nazaret einstimmen können. Sie begegnet vielmehr nur im Munde von Menschen christlichen Glaubens. Jedermann kann ein Buch über das Leben und Wirken Jesu von Nazaret schreiben. Er oder sie muss dabei durchaus nicht glauben, was die Christen über Jesus sagen. Er oder sie muss dafür nicht einmal an Gott glauben. Um ein lehrreiches und historisch zuverlässig informierendes Buch über Jesus von Nazaret zu schreiben, muss man lediglich mit den geschichts-
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I. Jesus im Spannungsfeld von Geschichte und Glaube
wissenschaftlichen Methoden verantwortungsbewusst, d. h. kritisch und ehrlich umgehen können. Denn ein Buch über das Auftreten und den Weg Jesu von Nazaret unterscheidet sich in methodischer Hinsicht nicht von einem Buch über die Lebenswege Alexanders des Großen, Martin Luthers oder Nelson Mandelas. Aber der von den Historikern rekonstruierte Jesus ist nicht der Jesus, an den die Christen glauben. Denn sie setzen in ihren Büchern Jesus nicht in Beziehung zu Gott, wie es das christliche Bekenntnis tut. Gott muss in einem Buch über den historischen Jesus nur insoweit vorkommen, als Jesus von ihm spricht. Der Jesus des christlichen Bekenntnisses kann dabei ganz außerhalb der Betrachtung bleiben. Dass Jesus Gottes Sohn ist oder dass, wer Jesus begegnet, Gott begegnet, oder dass Gott Jesus von den Toten auferweckt hat – diese Gewissheiten des christlichen Glaubens sind für die historische Rückfrage nach Jesus nicht nur unerreichbar, sondern sie interessieren sie auch nicht. Historiker können allenfalls danach fragen, wie diese Aussagen des christlichen Bekenntnisses entstanden sind. Wenn wir demgegenüber eine theologische Per spektive einnehmen, können wir der Frage, wie sich der historische Jesus und der Jesus des christlichen Bekenntnisses zueinander verhalten, nicht ausweichen. Ein kurzer Überblick über die Geschichte der Erörterung dieser Frage lässt freilich erkennen, dass in Bezug auf ihre Beantwortung bisher kein Einvernehmen erzielt werden konnte. 1.2 Beginnen können wir mit dem Vortrag von Martin Kähler (1835–1912), der unter dem Titel „Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche, biblische Christus“ im Jahr 1892 publiziert wurde.1 Kähler 1
Kähler, Jesus.
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1. Die Frage nach Jesus als historisches und theologisches Problem
setzt sich hier mit der sog. „Leben-Jesu-Forschung“ auseinander, die man mit Hermann Samuel Reimarus (1694–1768) beginnen lässt. Der hatte zwar bereits eine ähnliche Unterscheidung vorgenommen2, daraus jedoch ganz andere Konsequenzen gezogen. Reimarus hatte Jesus im Wesentlichen als einen ethischen Lehrer dargestellt, der ganz ins Judentum gehört und mit seiner Lehre die Menschen „innerlich und von ganzem Herzen bessern“ gewollt hätte3. Demgegenüber seien Jesu Auferstehung und Erhöhung, seine Messianität und seine Gottessohnschaft genauso von den Aposteln nach dem Tod Jesu erfunden worden wie die Vorstellung von der Heilsbedeutung seines Todes, die Erwartung seiner Wiederkehr und vieles andere mehr. Demgegenüber geht Kähler davon aus, dass der historische Jesus in den Texten der Evangelien nicht zugänglich ist. Weil die Evangelien keine historischen Berichte, sondern Verkündigung seien, könne es sich bei dem „sogenannte(n) historischen Jesus“, wie er in der Leben-Jesu-Forschung rekonstruiert wird, um nichts anderes handeln als um „eine moderne Abart von Erzeugnissen menschlicher erfindender Kunst“4. Dieser Jesus sei für den christlichen Glauben völlig bedeutungslos, denn es handele sich bei ihm einzig und allein um ein Geschöpf der „modernen Schriftsteller“, das „uns den lebendigen Christus (verdeckt)“.5 Dieser, der „geschichtliche, biblische Christus“, sei der „wirkliche Christus“, der von den Aposteln als Heilsmittler ge In seiner Schrift „Von dem Zwecke Jesu und seiner Jünger“ aus dem Jahr 1784 hatte Reimarus gefordert, „dasjenige, was die Apostel in ihren eignen Schriften vorbringen, von dem, was Jesus in seinem Leben würklich selbst ausgesprochen und gelehret hat, gänzlich abzusondern“ (226). 3 Ebd., 230. 4 Kähler, Jesus, 16. 5 Ebd. 2
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I. Jesus im Spannungsfeld von Geschichte und Glaube
predigte Christus, der für unsere Sünden gestorben ist und am dritten Tage auferstanden ist, „den unser Glaubensauge und unser Gebetswort zur Rechten Gottes trifft“, „Christus, der Herr“6. 1.3 Mit den Positionen von Hermann Samuel Reimarus und Martin Kähler ist ein Rahmen abgesteckt, der der Frage nach dem historischen Jesus und seiner theologischen Bedeutung bis in die Gegenwart hinein Struktur und Richtung vorgibt. 1.3.1 Viele sind dem Weg gefolgt, den Martin Kähler gewiesen hat. Unter ihnen ist natürlich vor allem Rudolf Bultmann (1884–1976) zu nennen. Die Begründung, mit der Bultmann seine Wahl des Kähler-Weges versehen hat, ist wohlbekannt: Zum einen verhindere es der Charakter der Evangelien als Zeugnisse des Glaubens der nachösterlichen Gemeinden, dass man in ihnen einen Zugang zum historischen Jesus findet, denn „sie wollen ja nach ihrer eigenen Intention nicht als historische Berichte gelesen werden, sondern als ein Stück Verkündigung“7. Zum anderen sei es aber auch aus theologischen Gründen nicht sachgerecht, den historischen Jesus zum Gegenstand des Glaubens zu machen, weil dies immer nur der Christus der Verkündigung und des Glaubens sein könne.8 Darum gebe es zwar eine historische Kontinuität zwischen dem historischen Jesus und der Verkündigung des frühen Christentums, nicht aber zwischen dem historischen Jesus und dem Christus der Verkündigung und des Glaubens, denn dieser – so Bultmann – „ist keine historische Gestalt, die mit dem his-
Ebd., 34.40. Bultmann, Verhältnis, 450. 8 Ebd., 447. 6 7
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1. Die Frage nach Jesus als historisches und theologisches Problem
torischen Jesus in Kontinuität stehen könnte“.9 Theologisch wichtig – schreibt Bultmann so berühmt wie umstritten – ist allein, dass es Jesus gab: „Das Entscheidende ist schlechthin das Dass“, nicht hingegen „das Was und Wie des historischen Jesus“.10 Bultmann kann das so sagen, weil der christliche Glaube bei sich nicht auf Jesus Christus richtet, sondern ein menschliches „Selbstverständnis“ ist, mit dem der Glaubende sich in seinem Verhältnis zu Gott als ein ausschließlich Empfangender versteht.11 – Einige Jahrzehnte später begegnen wir neben den Schülern Bultmanns (bekanntlich mit der Ausnahme von Ernst Käsemann12) u. a. auch K. Wengst auf diesem Weg. Er ist der Meinung, dass die Suche nach dem historischen Jesus ausschließlich für Historiker interessant sei, während „es keinen einzigen Grund“ gebe, „der das Verfolgen dieser Frage theologisch nahelegen könnte“.13 1.3.2 Auf dem Weg, den Hermann Samuel Reimarus gewiesen hat, trifft man vor allem die frühen Vertreter der sog. „Dritten Frage (‚Third Quest‘) nach dem historischen Jesus“ an. Hierbei handelt es sich um eine zunächst in den USA, dann aber auch in Europa verbreitete Richtung der Rückfrage nach dem historischen Ebd., 448. Ebd., 450. 11 Bultmann, Theologie, 324. 12 Von ihm ging die sog. „neue Frage“ nach dem historischen Jesus aus. Es handelt sich hierbei um eine Diskussion, die Ernst Käsemann (1906–1998) mit seinem Aufsatz über Das Problem des historischen Jesus im Jahr 1953/54 eröffnet hatte. Er hält die Frage nach dem historischen Jesus nicht nur für theologisch „legitim“ als „Frage nach der Kontinuität des Evangeliums in der Diskontinuität der Zeiten und in der Variation des Kerygmas“ (213), sondern er sieht in dem „Festhalten an der Historie“ durch die synoptischen Evangelien „eine Weise, in welcher das extra nos des Heiles seinen Ausdruck findet“ (202). 13 Wengst, Jesus, 13. 9
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I. Jesus im Spannungsfeld von Geschichte und Glaube
Jesus, die in den 1970er Jahren aufgekommen ist und sich inzwischen in eine große Vielfalt ausdifferenziert hat. Sie ist getragen von dem dezidierten Interesse an einer sozialgeschichtlichen Beschreibung und Erklärung des Auftretens Jesu. Darüber hinaus verankert sie den historischen Jesus konsequent in seiner jüdischen Umwelt. Gleichzeitig ist für sie auch ein dezidiertes Desinteresse an der theologischen Dimension des Wirkens Jesu charakteristisch.14 Dass sie sich auf dem Reimarus-Weg befindet, lässt exemplarisch die Vorge hensweise von J. D. Crossan erkennen. Im Vorwort seines jüngeren Jesus-Buches, das die programmatische Überschrift „Von Christus zu Jesus“ trägt, kündigt er an, „hinter die Vorstellungen der Gläubigen von den Tatsachen … auf die Tatsachen selbst zurückzugehen und hinter dem Christus des christlichen Bekenntnisses den historischen Jesus sichtbar zu machen“.15 Dabei wird der historische Jesus als „ein bäuerlicher jüdischer Kyniker“ dargestellt16, der „eine Erneuerung der Gesellschaft von unten auf der Basis der Gleichheit“ „verheißen und gefordert“ hat17. Und es ist dieser Jesus, der für Crossan dann dadurch theologische Bedeutung gewinnt, dass er zum Gegenstand des christlichen Bekenntnisses wird. Im Epilog seines Buches, der komplementär zum Vorwort mit „Von Jesus zu Christus“ überschrieben ist, formuliert er die „Überzeugung, dass kein Vgl. z. B. Meier, Present State, 463, der eine „rein empirische und historische Frage nach Jesus“ einfordert, „die das, was der Glaube weiß, außer Betracht lässt oder einklammert“. Noch deutlicher Sanders, Jesus, 333: „Seit einigen Jahren setze ich mich dafür ein, Geschichtswissenschaft und Exegese von der Kontrolle durch die Theologie zu befreien“. 15 Crossan, Jesus. Ein revolutionäres Leben, 14. 16 Ebd., 250: Solche Kyniker seien „sozusagen Hippies in einer Welt augusteischer Yuppies“ gewesen (ebd.). 17 Ebd., 247. 14
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2. Es gibt nur Jesus-Bilder
Christentum auf das Bekenntnis verzichten kann: So sehen wir den damaligen Jesus als den heutigen Christus. Die Christenheit muss in jeder Generation aufs neue mit den besten historischen Methoden, die verfügbar sind, ihr Bild des historischen Jesus entwerfen und auf dieser Basis ihr Christentum neu definieren.“18
2. Es gibt nur Jesus-Bilder Das Gegenüber von „historischem Jesus“ und „dem Christus des Glaubens“ sollte nicht verdecken, dass beide durchaus etwas miteinander gemeinsam haben. Bei beiden handelt es sich um Jesus-Bilder. Das eine entwerfen die Historiker. Darum gibt es auch nicht nur den einen historischen Jesus, sondern es gibt so viele, wie es Historiker gibt, die über ihn schreiben.19 Und genauso wenig gibt es natürlich auch nur den einen Christus des Glaubens, sondern es gibt so viele, wie es Glaubende gibt, für deren Existenz – um es ganz allgemein zu formulieren – Jesus in irgendeiner Weise eine Rolle spielt. „Der historische Jesus“ und „der Christus des Glaubens“ sind darum Verallgemeinerungen, die bestimmte Typen von Jesusbildern zusammenfassen wollen. Darüber hinaus stehen sie einander aber auch nicht antithetisch gegenüber, denn in den Quellen, die den Historikern für ihre Suche nach dem historischen Jesus zur Verfügung stehen, wird erkennbar, dass sich beide Typen durchaus miteinander verbinden können. Wer nach dem histori Ebd., 253. K. Wengst spricht sogar von einem „Chaos unterschiedlicher Jesusbilder“ (Jesus, 250) und leitet aus deren Vielzahl die resignierte Forderung ab, dass man in der Theologie überhaupt darauf verzichten sollte, nach dem historischen Jesus zu fragen.
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I. Jesus im Spannungsfeld von Geschichte und Glaube
schen Jesus fragt, findet hier erst einmal Bilder, die den Christus des Glaubens darstellen wollen. Und wenn man sich die Quellen noch etwas genauer anschaut, wird in ihnen sogar noch eine ganze Reihe weiterer Jesus-Bilder erkennbar, die so etwas wie eine Zwischenposition zwischen dem „historischen Jesus“ und dem „Christus des Glaubens“ einnehmen und das Gegenüber dieser beiden Typen überbrücken. Alle diese Bilder lassen sich typologisch voneinander unterscheiden. Sie sollen im Folgenden skizziert werden. Die Darstellung hat dabei rein idealtypischen Charakter, d. h. sie stellt lediglich gedankliche Konstrukte dar. Wir beginnen mit den beiden Bildern, die bereits im vorangegangenen Abschnitt besprochen wurden. 2.1 Da ist zunächst der historische Jesus als Resultat der historischen Rückfrage nach Jesus von Nazaret. Ihm begegnen darum auch die Leser dieses Buches. Es wäre jedoch ganz unsachgemäß, wenn wir behaupten wollten, dass der „historische Jesus“, wie er von der wissenschaftlich arbeitenden Jesusforschung ermittelt wird, etwas anderes sei als eine historiographische Fiktion. Vor einem solchen Fehlschluss sollte uns schon der jüngere geschichtstheoretische Diskurs bewahren, der erneut bewusst gemacht hat, dass es keine Geschichtsschreibung gibt, die das Geschehen der Vergangenheit so rekonstruiert, wie es sich „tatsächlich“ oder „wirklich“ abgespielt hat.20 Nicht nur durch die Auswahl und die Anordnung des Materials, sondern allein schon dadurch, dass das vergangene Geschehen im Medium der Sprache präsentiert und damit gewissermaßen in einen anderen Aggregatzustand transformiert wird, werden Vgl. dazu exemplarisch Goertz, Umgang; Lorenz, Konstruktion. – Mit Bezug auf die Frage nach dem historischen Jesus: Schröter, Jesus und die Anfänge der Christologie, 6–36. 20
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die „Fakten“ zu „Fiktionen“ und entpuppen sich die angeblichen „Rekonstruktionen“ der historischen Ereignisse als „Konstruktionen“.21 Wie jeder geschichtliche Gegenstand, der historiographisch und damit sprachlich vergegenwärtigt wird, ist auch der „historische Jesus“ ein Geschöpf der Historiker. Der „historische Jesus“ besteht darum aus Papier und Druckerschwärze. Es handelt sich um das Bild, das die Historiographie in ihren Jesusbüchern von ihm entwirft. Und wie gesagt: Es gibt so viele historische Jesusse, wie es historische Darstellungen seines Auftretens gibt. Diese Darstellung ist davon natürlich nicht ausgenommen. 2.2 Das zweite Bild möchte ich Jesus Christus nennen. Martin Kähler hatte es seinerzeit „der geschichtliche, biblische Christus“ genannt und es dem „sog. historische(n) Jesus“ gegenübergestellt. An anderer Stelle spricht er vom „lebendigen Christus“ und vom „wirklichen Christus“.22 Auch hierbei handelt es sich natürlich um ein Bild. Es ist das Bild, mit dem der christliche Glaube Jesus charakterisiert. Es existiert ausschließlich im christlichen Bekenntnis. Mit den Methoden historischer Rückfrage ist es unerreichbar, denn die kann ja auch von Nichtchristen betrieben werden. Es ist vielmehr allein der Gewissheit des christlichen Glaubens zugänglich. Aus diesem Grunde kann man den histo rischen Jesus auch nicht „Jesus Christus“ nennen. Und nur wenn man über „Jesus Christus“ spricht, kann man sagen, dass Gott in Jesus Mensch geworden ist, dass Jesus für die Sünden der Menschen gestorben ist oder Vgl. in diesem Sinne Goertz, Unsichere Geschichte, 14 im Anschluss an Gabrielle M. Spiegel: „… dass die Sprache sich zwischen uns und die Wirklichkeit schiebt, den Zugang zur Wirklichkeit verwehrt, zumindest aber reguliert und sich aus dieser Position nicht mehr verdrängen lässt“. 22 Kähler, Jesus, 16. 21
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dass Gott ihn von den Toten auferweckt hat. Es handelt sich hierbei um Aussagen, die nur der christliche Glaube formulieren kann und die darum keine historischen Sachverhaltsaussagen sein können. Historische Phänomene beschreiben sie nur insofern, als sie sich auf theologische Deutungen beziehen. In historiographischen Darstellungen können sie darum nur dann vorkommen, wenn diese die Geschichte der christlichen Theologie zum Gegenstand haben. 2.3 Das dritte Bild kann man mit einigen Einschränkungen als eine Kombination aus den ersten beiden Bildern identifizieren. Es soll hier der irdische Christus heißen. Bei ihm handelt es sich um das Bild, das die neutestamentlichen und apokryphen Evangelien von Jesus entwerfen.23 Durch diese Bezeichnung wird zum Ausdruck gebracht, dass wir hier einem Bild begegnen, das den Glauben an „Jesus Christus“ (Abschn. 2.2) voraussetzt und das Leben und Wirken Jesu von Nazaret in der Sprache des christlichen Glaubens erzählt. Im Adjektiv „irdisch“ steckt das semantische Gegenüber zu „himmlisch“, und mit dieser Charakterisierung soll zum Ausdruck gebracht werden, dass es sich hierbei um das aus der Retrospektive entworfene Bild vom irdischen Wirken des auferstandenen Gottessohnes handelt. Die Bezeichnung „irdischer Christus“ impliziert darum immer die österliche Perspektive. Im Falle der lukanischen Jesusgeschichte kann man vielleicht sogar sagen, dass auch seine Darstellung des Bildes vom „irdischen Christus“ sich historiographischer Methoden bedient, doch handelt es sich hierbei noch nicht um die Methoden der neuzeitlichen Historiographie, wie sie sich in der Aufklärung ausgebildet haben.
Vgl. dazu S. 37–44.
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2. Es gibt nur Jesus-Bilder
Darüber hinaus besteht der Unterschied zu den Darstellungen des „historischen Jesus“ darin, dass diese mit Jesu Tod enden müssen, während Wirken und Geschick des „irdischen Christus“ für die Autoren der Evangelien nur die Vorgeschichte der Verkündigung von „Jesus Christus“ nach Ostern sind. In der Überschrift des Markusevangeliums („Anfang des Evangeliums von Jesus Christus, dem Sohn Gottes“; Mk 1,1) kommt diese Perspektive ebenso deutlich zum Ausdruck wie darin, dass die lukanische Jesusgeschichte in der Apostelgeschichte eine Fortsetzung erhält und die Jesusgeschichten, die Matthäus und Johannes erzählen, mit einer Aussendung der Jünger enden (Mt 28,18–20; Joh 20,21–23). Andererseits gilt aber auch: Selbst wenn diese Darstellungen den Glauben an „Jesus Christus“ voraussetzen und ein Bild von dessen Wirken unter den Menschen darstellen wollen, sind sie für die historiographische Rückfrage nach Jesus nicht wertlos. Wenn man sie nicht biblizistisch, sondern kritisch liest, kann man ihnen durchaus historisch zuverlässige Informationen entnehmen. 2.4 Der erinnerte Jesus Christus soll ein weiterer Typus unter den Jesusbildern heißen. Diese Bezeichnung ist in Anlehnung an den von James D. G. Dunn so genannten „erinnerten Jesus“ formuliert.24 Dunn bezeichnet damit den „Eindruck“ (engl.: „impact“), den Jesus bei seinen Jüngern hinterließ.25 Diese Kategorie trägt dem Sachverhalt Rechnung, dass die Jesusüberlieferung ursprünglich von Menschen weitergegeben wurde, die Vgl. vor allem Dunn, Jesus Remembered, 130–132. Dunn war nicht der erste, der diese Kategorie verwendet hat; vgl. außer den von ihm selbst Genannten (Jesus Remembered, 131 Anm. 111) vor allem Gerhardsson, Memory, aber auch Gnilka, Jesus von Nazaret, 252. 25 Vgl. Dunn, Jesus Remembered, 130. 24
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Ohren- und Augenzeugen des Wirkens Jesu gewesen waren. Wichtig an diesem Bild ist dreierlei: Zum einen handelt es sich um ein nachösterliches Jesusbild. Es hat zwar Wurzeln, die bis in die Zeit des Lebens Jesu von Nazaret zurückreichen, doch kann diese Kategorie nur ein Gesamtbild der Person bezeichnen, und das kann es erst in der Retrospektive geben, wenn man auf das abgeschlossene Ganze des Wirkens und des Geschicks Jesu zurückblickt. Es geht bei dieser Bezeichnung also nicht nur um die Erinnerung an einzelne Taten oder Worte Jesu. Die Erinnerung an sie schließt vielmehr immer auch eine Gesamtbeurteilung des Wirkens und Ergehens Jesu ein. Zum anderen soll die von Dunns Bezeichnung abweichende Formulierung „der erinnerte Jesus Christus“ zum Ausdruck bringen, dass es sich hierbei um ein Jesusbild handelt, für das die Auferstehungsperspektive maßgeblich ist: Die Erinnerung an das Wirken und das Geschick Jesu erfolgt vom Osterglauben aus. Natürlich können auch Menschen, die diesen Glauben nicht teilen, nach Jesu Tod eine „Erinnerung“ an Jesus haben.26 Sie beinhaltet aber eine andere Deutung von Jesu Reden, Handeln und Ergehen als bei denen, die im Lichte ihres Osterglaubens darauf zurückblicken. Der „erinnerte Jesus Christus“ trägt darum bei denen, die sich im Lichte des Osterglaubens an Jesus erinnern, dieselben Züge wie der „irdische Christus“ von Abschn. 2.3. Der Unterschied ist darum auch eher ein medialer: Der Jesus, den wir „der irdische Christus“ genannt haben, ist eine literarische Figur; „der erinnerte Jesus Christus“ ist lediglich nichtliterarischer Bestandteil des Wissens derjenigen, die sich an ihn erinnern. Er ist insofern eine rein virtuelle Größe, als er als solcher nicht zugäng Sie entspricht eher dem in Abschn. 5 dargestellten Jesusbild.
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lich, sondern in dem in literarischer Gestalt überlieferten „irdischen Christus“27 aufgegangen ist. Wir können behaupten, dass es ihn gab, beschreiben können wir ihn aber nicht. Darüber hinaus impliziert das idealtypische Konstrukt eines „erinnerten Jesus Christus“ einen engen Erinnerungsbegriff. Er setzt voraus, dass nur Menschen, die Jesus begegnet sind, Subjekt der Erinnerung an ihn sein können. Dementsprechend verfügt keiner der Verfasser der Evangelien, wie sie heute vorliegen, über Erinnerung an Jesus, denn keiner von ihnen ist Jesus jemals begegnet. Wenn wir in ihnen so etwas wie „Erinnerung“ vorfinden, dann kann es sich allenfalls um die Erinnerung an die Erinnerung an Jesus handeln. Und schließlich darf drittens nicht vergessen werden, dass auch der „erinnerte Jesus Christus“ eine idealtypische Größe ist. Er ist nicht einer und auch nicht ein bestimmter, sondern wir haben es wie beim „historischen Jesus“ und beim „irdischen Christus“ mit einer Vielzahl von Erinnerungsbildern zu tun. Es gibt so viele „erinnerte“ Jesusbilder wie es Menschen gibt, die sich an das Wirken und das Geschick Jesu erinnern. Demgegenüber versteht J. Schröter unter dem „erinnerten Jesus“ etwas anderes: Er verwendet diesen Ausdruck im Anschluss an J. Assmann28 als eine kulturhermeneutische Kategorie, „mit der der Zugang zur Vergangenheit aus der Perspektive der jeweiligen Gegenwart erfasst werden soll“.29 „Erinnerung“ ist hiernach verstanden als Aktua lisierung des kollektiven Gedächtnisses einer Gruppe, die sich ihrer Identität vergewissert, indem sie ihre jeweilige Gegenwart in das Licht der ihre Identität konstituierenden Vergangenheit stellt: „‚Erinnerung‘ ist in dieser Perspektive … Teil eines geschichtshermeneutischen Zugangs, der den Bezug auf die Vergangenheit im Rahmen Zu ihm s. o. S. 24 f. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis; s. auch ders., Kollektives Gedächtnis. 29 Schröter, Der „erinnerte Jesus“, 118; s. auch ders., Jesuserinnerung. 27 28
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I. Jesus im Spannungsfeld von Geschichte und Glaube eines an der Deutung der jeweiligen Gegenwart orientierten Rückgriffs auf Personen und Ereignisse versteht“.30 So verstanden, findet „Erinnerung an Jesus“ z. B. in den Evangelien genauso statt wie im Gottesdienst, den Christen „im Namen Gottes – des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes“ feiern, oder wenn Christen Bücher über den historischen Jesus schreiben. Jeder Erinnerungsvorgang lässt einen neuen „erinnerten Jesus“ entstehen. Aus diesem Grund ist auch der auf diesem Wege erinnerte Jesus nicht einer, sondern es gibt so viele, wie es Vergegenwärtigungs- oder Erinnerungsvorgänge gibt.
2.5 Jesus aus Nazaret möchte ich das Bild nennen, das sich die Menschen von Jesus gemacht haben, mit denen er durch sein Wirken und Ergehen zu tun bekommen hat. Dazu gehören seine Kritiker genauso wie seine Anhänger. Diese Bezeichnung umschreibt die Außenwahrnehmung der Person und des Auftretens Jesu durch seine Zeitgenossen. Zu diesem Typus gehört z. B. die Einschätzung Jesu, die Pilatus veranlasste, ihn kreuzigen zu lassen. Nicht anders als bei dem im vorangegangenen Abschnitt skizzierten Bild handelt es sich auch bei diesem Bild um einen Typus, der sich in eine große Zahl von individuellen und unterschiedlichen Einzelbildern ausdifferenziert hat. Auch bei ihm können wir darum mit so vielen Jesusbildern rechnen, wie Menschen Jesus begegnet sind und sich eine Meinung über ihn gebildet haben. Dem Jesusbild, das sich dieser Außenwahrnehmung verdankt, steht das Bild gegenüber, das Jesus von sich selbst hatte. 2.6 Dieses Bild soll hier die Selbstauslegung Jesu heißen. Es handelt sich gewissermaßen um die komplementäre Entsprechung zu dem im vorangegangenen Abschnitt beschriebenen Bild, denn die Außenwahrnehmungen eines Menschen durch seine Zeitgenossen und seine 30
Schröter, Der „erinnerte Jesus“, 118.
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Selbstwahrnehmung weichen immer voneinander ab. In der Jesusforschung ist dieser Bildtypus auch schon seit langem eine wohlvertraute Größe. Er wird hier z. B. „das Selbstbewusstsein Jesu“31 oder „das Selbstverständnis Jesu“32 oder „der Sendungsanspruch Jesu“33 oder „Jesu Anspruch“34 genannt. Nicht nur wichtig, sondern geradezu von entscheidender Bedeutung ist, dass es sich auch hierbei um ein Bild handelt: um das Bild nämlich, das Jesus von sich selbst, von dem Sinn und der Bedeutung seines Redens und Handelns hatte. Von diesem Bildtypus gibt es im Unterschied zu allen anderen bisher besprochenen Bildern darum auch nur ein einziges Exemplar. 2.7 Halten wir kurz inne und schieben eine Zwischenbemerkung ein. Das Vorstehende könnte den Eindruck nahelegen, dass die in den vorangegangenen Abschnitten dargestellten Jesusbilder unverbunden nebeneinanderstehen. Das wäre aber ein Missverständnis, denn was zu Beginn dieses Kapitels über das Verhältnis des „historischen Jesus“ zum „Christus des Glaubens“ gesagt wurde, gilt auch für die anderen Jesusbilder: Sie sind durch zahlreiche Überschneidungen miteinander verbunden. In „Jesus Christus“ können z. B. genauso Elemente der „Selbstauslegung Jesu“ enthalten sein wie im „erinnerten Jesus Christus“, in „Erinnerungen an Jesus“ oder in Darstellungen des „historischen Jesus“ oder in den Bildern, die die Evangelien vom „irdischen Christus“ entwerfen. Man kann es auch andersherum sagen: Die Feststellung: „unter Pontius Pila Diesen Titel trägt das Buch von E. Kühl; s. auch Mußner, Wege. So z. B. der gleichnamige Titel des Buches von M. Kreplin; s. auch Goppelt, Theologie, 207; Schröter, Jesus von Nazaret, 273. 33 Hahn, Überlegungen, 49; Frey, Der historische Jesus, 299. 34 Schweizer, Jesus Christus, 18; M. Konradt spricht vom „Vollmachtsanspruch“ Jesu. 31 32
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tus gekreuzigt, gestorben und begraben“, die im Apostolischen Glaubensbekenntnis zum Bild von „Jesus Christus“ gehört (Abschn. 2.2), findet sich nicht nur in Bildern vom „historischen Jesus“ (Abschn. 2.1) und vom „irdischen Christus“ (Abschn. 2.3), sondern kann auch als Bestandteil der Bilder vom „erinnerten Jesus Christus“ (Abschn. 2.4) und von „Jesus aus Nazaret“ (Abschn. 2.5) vorausgesetzt werden. 2.8 Eine Frage bleibt zum Schluss noch offen: Gibt es jenseits der Bilder, die sich die Menschen seit Jesu Lebzeiten von ihm gemacht haben und immer noch machen, auch noch so etwas wie eine Gestalt, von der wir sagen könnten, sie sei der wirkliche Jesus? In der Literatur ist man mit diesem Prädikat erstaunlich schnell bei der Hand. Schon M. Kähler hatte seinen „geschichtlichen, biblischen Christus“ den „wirklichen Christus“ genannt35, und L. T. Johnson ist ihm mehr als 100 Jahre später darin gefolgt: Der wirkliche Jesus sei kein anderer als der Auferstandene, der im Neuen Testament und in der Geschichte der Christenheit verkündigt wird und als solcher im Glauben präsent ist.36 Klaus Berger will mit seinem Jesusbuch die Frage beantworten, wer Jesus „wirklich“ war.37 Joseph Ratzinger Benedikt XVI. stellt in seinem Jesusbuch zunächst fest, dass „das Volk Gottes – die Kirche“ „so recht eigentlich der tiefere ‚Autor‘“ der Evangelien ist, und identifiziert dann deren Jesusbild als den „wirklichen Jesus“, den er „als den ‚historischen Jesus‘ im eigentlichen Sinn“ von den Jesusbildern der historischen Jesusforschung
Kähler, Jesus, 16. Vgl. Johnson, Jesus, 166 und passim. 37 Berger, Wer war Jesus wirklich? 35 36
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unterscheidet.38 Bei ihm ist also das Jesusbild der (katholischen) Kirche der „wirkliche“ Jesus. Alle hier Genannten begehen ein und denselben Fehler: Sie identifizieren ein bestimmtes Jesusbild, das Menschen sich machen und das natürlich vorzugsweise ihr eigenes Jesusbild ist, mit dem „wirklichen Jesus“. Können wir die Frage, ob es jenseits unserer Jesusbilder auch einen „wirklichen“ Jesus gibt, darum nur mit „Nein!“ beantworten, und ist es sinnlos, sie überhaupt zu stellen? Das wäre in der Tat der Fall, wenn wir das Wirklichkeitsverständnis des sog. „Radikalen Konstruktivismus“ voraussetzen. Von seinen Vertretern wird bestritten, dass überhaupt so etwas wie eine vom menschlichen Erkennen und Wissen unabhängige Realität oder objektive Gegebenheit jenseits der subjektiven menschlichen Wirklichkeitswahrnehmungen existiert.39 Daraus würde konsequent folgen, dass es auch keinen „wirklichen Jesus“ geben kann, der von den Bildern unabhängig wäre, die die Menschen sich von ihm machen. Eine andere, weniger „radikale“ Möglichkeit besteht darin, dass man sagt: Ja, es gibt diesen „wirklichen Jesus“ durchaus im Sinne einer vom menschlichen Erkennen und Wissen unabhängigen Gegebenheit, doch können wir keinerlei Aussagen über ihn machen, weil jede sprachliche Bezeichnung einer solchen Realität immer mit einer bestimmten Deutung verbunden ist. Diese Deutung ordnet den durch das Medium der Sprache bezeichneten Sachverhalt in das Paradigma jener Sinnwelt ein, in der die Benutzer der Sprache leben.40 Und mehr noch: wir können nicht nur keine Aussagen über ihn machen, sondern wir können den „wirklichen Ratzinger Benedikt XVI., Jesus I, 20. Vgl. z. B. v. Glasersfeld, Wurzeln; Fischer, Abschied, 19–22. 40 Vgl. hierzu das o. S. 23 mit Anm. 21 Gesagte. 38 39
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Jesus“ nicht einmal als solchen erkennen. Das ist so, weil es kein Erkennen geben kann, ohne dass zugleich eine deutende Einordnung in die kulturelle Enzyklopädie stattfindet, mit der die Erkennenden ausgestattet sind. Dieser „wirkliche Jesus“ muss darum ein Postulat bleiben, weil unser Wissen niemals eine „vom erkennenden Bewusstsein unabhängige Wirklichkeit“ repräsentieren kann.41 Jeder Historiker, der nach Jesus fragt und dabei ehrlich bleiben will, muss darum zugeben, dass ihm der „wirkliche Jesus“ nicht zugänglich ist und er ihn darum weder erkennen noch darstellen kann. Dasselbe gilt natürlich nicht nur für das Erkennen und die Beschreibung des „wirklichen Jesus“, sondern auch für das historische Erkennen und die Darstellung von gegebenen Sachverhalten in Vergangenheit und Gegenwart überhaupt. Historiker rekonstruieren nicht die Geschichte, wie sie „wirklich“ war, sondern sie bemühen sich darum, sie so zu konstruieren, dass in ihrer Gegenwart ein plausibles Bild von den Ereignissen entsteht. Es ist nicht ganz unwichtig, dass die Wurzeln dieses Verständnisses von Geschichtsschreibung bis in die Antike zurückreichen. Der Satiriker und Essayist Lukian von Samosata hatte bereits kurz nach der Mitte des 2. Jahrhunderts n. Chr. die Hauptaufgabe des Geschichtsschreibers darin gesehen, ein plausibles Geschichtsbild zu erschaffen. In seiner Abhandlung „Wie man Geschichte schreiben soll“ (Quomodo historia conscribenda sit) heißt es in § 51: „Überhaupt muss man sich vorstellen, dass der Geschichtsschreiber einem … der Bildhauer gleicht; sie haben auch nicht selbst das Gold, Silber, Elfenbein oder sonst ein Material produziert; nein, es war bereits vorhanden und wurde ihnen geliefert …; sie brauchten es nur zu bearbeiten …; ihre ganze Kunst bestand darin, das Material kunstgerecht zu behandeln. Ähnlich ist die Aufgabe des Geschichtsschreibers; er muss die Ereignisse gut anordnen und möglichst klar darstellen. Wenn dann einer der Zuhörer glaubt, das Erzählte mit eigenen Augen deutlich vor Fischer, Abschied, 19.
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2. Es gibt nur Jesus-Bilder sich zu sehen und daraufhin die Schilderung lobt – ja, dann hat der Autor etwas Vollendetes geleistet …“ Bemerkenswert an dieser Beschreibung ist zweierlei: Zum einen, dass nach Lukians Meinung der Historiker dasselbe tut wie ein Künstler: Er stellt ein Bild her, an dem die Leser dieselbe Freude haben sollen wie die Betrachter eines Kunstwerks; zum anderen, weil für Lukian nicht die Übereinstimmung der Darstellung mit dem Dargestellten über die Qualität des Geschichtswerkes entscheidet, sondern die Wirkung auf die Leser: Das Geschichtswerk gilt dann als gut gelungen, wenn die Darstellung den Lesern plausibel erscheint und sie es darum loben.
Zu den Gegebenheiten, die für menschliches Erkennen und Beschreiben unerreichbar sind, gehören darüber hinaus aber auch das erkennende Subjekt und seine Identität selbst. Kein Mensch kann von sich sagen, wer er oder sie „wirklich“ ist, denn es ist keine Wirklichkeit denkbar, die mit den Bildern identisch sein könnte, die sich die Menschen von ihr machen. Das schließt selbstverständlich auch das Bild ein, das jeder Mensch von sich selbst hat, und die Selbstauslegung Jesu ist davon nicht ausgenommen. Als Historiker können wir darum auch nicht sagen, dass der „wirkliche“ Jesus mit der Selbstauslegung Jesu (Abschn. 2.6) identisch ist. Noch einmal anders fällt die Beantwortung der Frage nach dem „wirklichen Jesus“ aus, wenn wir dabei eine Perspektive einnehmen, die in ein theologisches Wirklichkeitsverständnis eingebettet ist. Ein solches Wirklichkeitsverständnis findet seine Eigenart darin, dass es jede Wirklichkeit als durch Gott gegebene und bestimmte Wirklichkeit deutet. Vielleicht ist es am einfachsten, wenn wir mit einer Abgrenzung beginnen: Die Frage nach dem „wirklichen“ Jesus wäre sicher falsch beantwortet, wenn man auf ein vulgärtheologisches Konzept von der Allwissenheit Gottes zurückgreifen und sagen wollte, dass kein Mensch, wohl aber Gott Jesus kennt. Das wäre viel zu kurz gesprungen, denn Gottes Erkennen ist ein kate-
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gorial anderes Erkennen als das der Menschen. Während die Wirklichkeit einer Gegebenheit menschlichem Erkennen immer entzogen bleibt, entsteht sie als solche überhaupt erst durch das Erkennen Gottes. Was existierende Gegebenheiten in diesem Sinne „wirklich“ sind, sind sie nur als das, als was Gott sie erkennt. Man kann es auch andersherum sagen: Was Gott als etwas erkennt, ist nicht seinem Erkennen als ein von diesem Unabhängiges vorgegeben, sondern es wird als das, was es „wirklich“ ist, allererst durch Gottes Erkennen erschaffen. Man kann darum sogar sagen, dass auch der „wirkliche Jesus“ nichts anderes ist als ein Bild. Er ist das Bild, das Gott sich von Jesus gemacht hat. Der „wirkliche Jesus“ jenseits der Bilder, die die Menschen in seiner Zeit und seither sich von ihm gemacht haben, ist damit derselbe, als welchen Gott ihn erkannt und zu welchem Gott ihn durch sein Erkennen gemacht hat. Das ist aber auch schon alles, was wir über den „wirklichen“ Jesus sagen können. Wir können seine Existenz darum lediglich theologisch postulieren. Aus diesem Grunde bleibt er natürlich auch für die folgende Darstellung unerreichbar. Sie kann darum nicht mehr liefern als ein Bild des historischen Jesus, das sich um Kohärenz und Plausibilität bemüht. Am Anfang muss darum die Frage nach den Quellen stehen, die uns im Sinne Lukians von Samosata das „Material“ für unsere Darstellung des historischen Jesus zur Verfügung stellen.
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II. Quellen Jesus selbst hat nichts Schriftliches hinterlassen. Wenn wir etwas über sein Wirken und sein Geschick erfahren wollen, sind wir darum auf Schriften angewiesen, die alle erst nach seinem Tod entstanden sind. Diese Schriften haben miteinander gemeinsam, dass keiner ihrer Autoren Augen- oder Ohrenzeuge von Jesu Auftreten oder gar einer seiner Jünger gewesen ist. Keiner von ihnen ist Jesus jemals begegnet. Was wir von Jesus wissen, was er gesagt und getan hat, ist über mehrere Jahrzehnte hinweg mündlich überliefert worden. Es wurde über mehrere Zwischenstationen hinweg erzählt und gehört und weitererzählt. Erst nach einiger Zeit ist es schriftlich festgehalten worden, und es entstand das, was wir heute „Quellen“ nennen. Zusätzlich vergrößert wird die Distanz zur ursprünglichen Verkündigung Jesu noch dadurch, dass Jesus Aramäisch gesprochen hat, während die ältesten erhaltenen Quellen seine Worte auf Griechisch wiedergeben. Irgendwann im Prozess der Überlieferung sind Jesu Worte aus dem Aramäischen ins Griechische übersetzt worden. Weil es aber keine Übersetzung gibt, die nicht zugleich eine Interpretation ist, rückt der Wortlaut dessen, was Jesus ursprünglich gesagt hat, dadurch in noch weitere Ferne. Bisweilen sind Versuche einer Rückübersetzung ins Aramäische unternommen worden.1 Sie vergrößern die Distanz jedoch noch eher, denn es handelt sich in allen Fällen um Übersetzungen von Übersetzungen, also um Interpretationen von Interpretationen. Den Wortlaut dessen, was Jesus ursprünglich gesagt hat, machen sie nicht zugänglich. Solche Versuche finden sich vor allem bei Dalman, Worte, und in den im Literaturverzeichnis genannten Arbeiten von G. Schwarz. 1
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II. Quellen
Unter den Quellen können wir zwischen christlichen (Abschn. 1–5) und nichtchristlichen (Abschn. 6–9) Texten unterscheiden.
1. Die Paulusbriefe Die Paulusbriefe sind die ältesten Schriften, in denen sich Informationen über Jesus finden. Paulus spricht wiederholt von Jesu Tod am Kreuz.2 In Röm 1,3 schreibt er, dass Jesus von David abstammte, und in 1Kor 11,23– 25 erwähnt er die Mahlzeit, die Jesus „in der Nacht, in der er dahingegeben wurde“, mit seinen Jüngern eingenommen hat. Hier findet sich mit den Deuteworten über Brot und Wein auch das einzige explizite Zitat eines Jesuswortes bei Paulus.3 Zweimal bezieht Paulus sich ausdrücklich auf ein Wort Jesu, das er dann aber nicht zitiert, sondern nur sinngemäß wiedergibt: in 1Kor 7,10–11 auf das Scheidungsverbot4 sowie in 1Kor 9,14, wo die Worte: „Denen, die das Evangelium verkündigen, hat der Herr geboten, vom Evangelium zu leben“, als Anspielung auf das in Lk 10,7b und Mt 10,10b überlieferte Jesuswort („der Arbeiter ist seines Lohnes / seiner Nahrung wert“) angesehen werden.
1Kor 1,23; 2,2.8; 2Kor 13,4; Gal 3,1; Phil 2,8; s. auch 1Kor 1,17; Gal 6,12.14; Phil 3,18. 3 In 1Thess 4,15 zitiert Paulus kein Jesuswort. Wenn er schreibt: „Das sagen wir euch mit einem Wort des Herrn“, beruft er sich lediglich auf Jesu Autorität. Es handelt sich um eine prophetische Legitimationsformel, die aus dem Alten Testament stammt (1Kön 13,1.2.5.32; 20,35; 1Chr 15,15; 2Chr 30,12; Sir 48,3.5). Paulus will hier also nicht mehr sagen, als dass er „im Auftrag des Herrn“ redet. 4 S. auch Mk 10,11–12; Lk 16,18; Mt 19,9. 2
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2. Die synoptischen Evangelien
Darüber hinaus gibt es bei Paulus mitunter Berührungen mit Worten, die in den Evangelien von Jesus gesprochen werden, und zwar an den folgenden Stellen: – in Röm 12,14 die Aufforderung „segnet, die euch verfolgen, segnet und verflucht nicht“ (vgl. Lk 6,28); – in 1Kor 13,2 die Worte „wenn ich allen Glauben hätte, um Berge zu versetzen“ (vgl. Mk 11,23; Lk 17,6 und Mt 17,20); – in 1Thess 5,2.4 die Worte vom Dieb in der Nacht (vgl. Lk 12,37–39 und Mt 24,42–43); – in 1Thess 5,13 die Aufforderung „haltet Frieden untereinander“ (vgl. Mk 9,50).
Keines dieser Worte macht Paulus aber als Jesuswort kenntlich.
2. Die synoptischen Evangelien Die zahlreichsten und ausführlichsten Informationen über Jesus von Nazaret können wir den synoptischen Evangelien entnehmen. Das älteste von ihnen ist das Markusevangelium, das wir ziemlich genau auf die Jahre 69/70 datieren können. Es ist also ungefähr 30 Jahre nach den in ihm berichteten Ereignissen entstanden. Die Verfasser des Matthäus- und des Lukasevangeliums haben es als Vorlage für ihre eigenen Jesuserzählungen benutzt. Wann diese beiden Evangelien entstanden sind, können wir nicht genau sagen. Meistens werden sie in die 80er bis frühen 90er Jahre des 1. Jahrhunderts datiert. Den Verfassern dieser beiden Evangelien stand außer dem MkEv mit großer Wahrscheinlichkeit noch eine zweite schriftliche Quelle zur Verfügung: das sog. Spruchevangelium, das für gewöhnlich mit dem Buchstaben Q (für „Quelle“) abgekürzt wird. Diese Quelle wird vor allen Dingen dort greifbar, wo Mt und Lk gemein-
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II. Quellen
same Überlieferungen wiedergeben, die sich nicht auch im MkEv finden. Das gilt z. B. für die Darstellung der Verkündigung Johannes des Täufers (Lk 3,7–9.16–17 und Mt 3,7–12), die Erzählung von der Versuchung Jesu (Lk 4,1–13 und Mt 4,1–11), die Seligpreisungen (Lk 6,20b–23 und Mt 5,3–12), die Erzählung vom Hauptmann von Kapernaum (Lk 7,1–10 und Mt 8,5–13), das Vaterunser (Lk 11,2b–4 und Mt 6,9–13) oder das Gleichnis vom verlorenen Schaf (Lk 15,3–7 und Mt 18,12–14). Es gibt aber auch Jesusüberlieferungen, die sich sowohl bei Markus als auch im Spruchevangelium finden. Das gilt z. B. für die Beelzebul-Kontroverse (Mk 3,22–27; Lk 11,14–23 und Mt 12,22–30) oder das Gleichnis vom Senfkorn (Mk 4,30–32; Lk 13,18–19 und Mt 13,31–32). Umfang und Wortlaut des Spruchevangeliums sind freilich nicht mehr rekonstruierbar. Neben diesen schriftlichen Quellen haben Matthäus und Lukas auch noch Jesusworte und -geschichten aus mündlicher Überlieferung in ihre Darstellungen aufgenommen und zu einem Bestandteil ihres Jesusbildes gemacht (das sog. Sondergut [SLk und SMt]). Im MtEv gilt dies u. a. für die Gleichnisse vom Schatz im Acker und der kostbaren Perle (Mt 13,44.45–46) sowie von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20,1–16) und im LkEv u. a. für die Erzählung von Maria und Martha (Lk 10,38–42) sowie für die Gleichnisse vom dummen Kornbauern (Lk 12,10–21) und vom verlorenen Sohn (Lk 15,11–32). Dass wir in den drei synoptischen Jesusgeschichten nicht mehr als drei z. T. sehr unterschiedliche Bilder vom „irdischen Christus“ vorfinden, wurde bereits dargelegt.5 Dementsprechend stellt jedes Evangelium den Weg Jesu nicht als Abbildung seines tatsächlichen Verlaufs dar, sondern erzählt ihn so, wie er der theologischen Konzeption des jeweiligen Verfassers entspricht. S. o. S. 24 f.
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2. Die synoptischen Evangelien Drei Beispiele können diese Arbeitsweise illustrieren: Markus erzählt zu Beginn des öffentlichen Auftretens Jesu die Berufung der ersten Jünger (1,16–20); dann folgen die Machttaten Jesu in Kapernaum (1,21–34), während der Besuch Jesu in seiner Heimatstadt Nazaret erst sehr viel später erfolgt (in 6,1–6a). Bei Lukas wird diese Reihenfolge umgedreht: Erst kommt der Besuch in Nazaret (Lk 4,16–30); daran schließen sich die Machttaten in Kapernaum an (4,31–41), und erst auf sie folgt die Berufung der ersten Jünger (5,1–11). – Der Unterschied ist deutlich: Im Markusevangelium tritt Jesus von Anfang an in Begleitung seiner Jünger auf, während er im Lukasevangelium eine ganze Zeitlang allein agiert und die Jünger sich ihm erst später anschließen. Oder die Platzierung des Vaterunsers: Matthäus bringt es als Bestandteil der Bergpredigt, die Jesus in Mt 5–7 gleich zu Beginn seines Wirkens auf einem Berg in Galiläa vorträgt. Es steht hier bei den Weisungen zum rechten Beten (Mt 6,9–13), die von Mahnungen zum Almosengeben und zum Fasten eingerahmt werden. Lukas bringt es sehr viel später (in Lk 11,2–4), als Jesus bereits nach Jerusalem unterwegs ist und sich an einem unbekannten Ort befindet. Dort beantwortet er mit dem Vaterunser die Bitte seiner Jünger, er möge sie beten lehren, wie auch Johannes seine Jünger beten gelehrt habe (Lk 11,1). Das dritte Beispiel sei der Umgang mit dem Gleichnis vom verlorenen Schaf bei Lukas und Matthäus: In Lk 15,3–7 antwortet Jesus mit ihm auf die Kritik der Pharisäer an seiner Gemeinschaft mit Zöllnern und Sündern (V. 1–2). Sie sind darum auch die Adressaten des Gleichnisses. Wie die Freunde und Nachbarn im Gleichnis (V. 6) sollen sie sich über das Wiederfinden des Verlorenen mitfreuen. Demgegenüber ist es in Mt 18,12–14 Teil der großen Gemeinderede Jesu, deren Adressaten die Jünger sind (vgl. V. 1–2), die ermahnt werden, „nicht einen dieser Kleinen zu verachten“ (V. 10). Sie sollen vielmehr wie der Hirt einem verlorenen Schaf jedem Mitglied der Gemeinde nachgehen, das sich „verirrt“ hat oder das „verloren“ zu gehen droht.
Auch die Abfolge und Verknüpfung der Einzelepisoden sind das Werk der Evangelisten.6 Die literarische Abfolge der einzelnen Szenen und Worte Jesu bildet nicht deren
S. auch u. S. 276 f.
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II. Quellen
historische Abfolge ab, sondern es handelt sich um eine von theologischen Interessen geleitete Komposition, die von den Verfassern der Evangelien vorgenommen wurde.
3. Das Johannesevangelium Den drei synoptischen Evangelien gegenüber nimmt das Johannesevangelium eine Sonderstellung ein. Mit großer Wahrscheinlichkeit hat es das MkEv und das LkEv gekannt, möglicherweise auch das MtEv. Es hat diese drei Jesusgeschichten aber nicht in derselben Weise als Vorlage für die eigene Darstellung verwendet wie das MtEv und das LkEv das MkEv. Sein Verfasser setzt die Kenntnis der anderen Evangelien vielmehr auch bei seinen Lesern voraus. Er will die synoptischen Evangelien darum auch nicht ersetzen, sondern eine neue Interpretation der Jesusgeschichte liefern. Das JohEv ist das jüngste der vier neutestamentlichen Evangelien. Genau können wir es aber nicht datieren; am meisten für sich hat aber die Annahme, dass es gegen Ende des 1. Jahrhunderts entstanden ist. Gegenüber den synoptischen Evangelien weist es eine ganze Reihe von bemerkenswerten Unterschieden auf: Während Jesu Tätigkeit bei diesen weniger als ein Jahr umfasst, dauert sie im JohEv mehrere Jahre, denn in der Zeit des Auftretens Jesu wird dreimal das Passa gefeiert (2,13; 6,4; 11,55). Auch hält Jesus sich nicht nur einmal in Jerusalem auf wie in den synoptischen Evangelien, sondern viermal (von Joh 2,13 bis 3,21; von 5,1 bis 5,47; von 7,10 bis 10,39 und dann von 12,12 bis zu seinem Tod). Im Unterschied zu den Synoptikern berichtet Johannes auch von einer Tauftätigkeit Jesu (3,22.26). Außerdem stirbt Jesus im JohEv am Tag vor dem Beginn des Passafestes (nach dem jüdischen Ka-
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4. Die apokryphen Evangelien
lender am 14. Nisan), während er bei den Synoptikern am ersten Tag des Passafestes (also am 15. Nisan) gekreuzigt wird.7
4. Die apokryphen Evangelien Die wichtigsten nicht-neutestamentlichen Quellen sind die sog. apokryphen Evangelien. Hierbei handelt es sich um Texte, die den Anspruch erheben, Worte und Taten Jesu zu überliefern, aber nicht in den Kanon des Neuen Testaments Aufnahme gefunden haben.8 Die ältesten von ihnen wie das Petrusevangelium, das Thomasevangelium, das Hebräerevangelium, das Maria evangelium oder das Judasevangelium sind bereits um die Mitte des 2. Jahrhunderts schriftlich niedergelegt worden.9 Die meisten von ihnen sind jedoch nur unvollständig und bruchstückhaft erhalten. Mitunter kennen wir sie lediglich durch Zitate bei den Kirchenvätern wie z. B. das Ägypterevangelium, oder sie existieren als Papyrus-Fragmente.10 Zur Erörterung dieses Unterschieds s. u. S. 61 f. Der Begriff „apokryph“ kommt aus dem Griechischen und bedeutet „verborgen“ oder „geheim“. – Deutsche Übersetzungen der apokryphen Evangelien mit Erörterungen der Einleitungsfragen finden sich in ACA I/1–2. – Eine Einführung in die apokryphen Evangelien hat H.-J. Klauck geschrieben. Zum Thema „Jesus-Überlieferung in den apokryphen Evangelien“ vgl. auch Frey/Schröter (Hg.), Jesus. 9 Zu ihnen vgl. M. Vinzent / T. Nicklas, in: ACA I/1, 683–695 (Petrus evangelium), J. Schröter / H.-G. Bethge, in: ebd. 483–522 (Thomasevangelium); J. Frey, in ebd. 593–606 (Hebräerevangelium); J. Hartenstein, in: ACA I/2, 1208–1216 (Mariaevangelium); G. Wurst, in: ebd. 1220–1234 (Judasevangelium). 10 Vgl. vor allem Ch. Markschies, in: ACA I/1, 661–682 (Ägypterevangelium); T. Nicklas, in: ebd. 357–359 (Pap. Oxyrhynchus 840); S. E. Porter, in: ebd. 360–367 (Pap. Egerton 2 mit Pap. Köln 255). 7 8
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II. Quellen
Für die Rückfrage nach Jesus hat das Thomasevangelium eine wichtige Rolle gespielt. Seine Existenz war zwar schon lange auf Grund von Erwähnungen und Zitaten bei den Kirchenvätern bekannt, eine nahezu vollständige Handschrift von ihm wurde jedoch erst 1945 im oberägyptischen Nag Hammadi entdeckt. Erhalten ist der Text des Thomasevangeliums auf Koptisch, geschrieben wurde es aber ursprünglich auf Griechisch.11 Als Entstehungsort gilt Syrien. Es handelt sich um eine Sammlung von 114 Worten Jesu, die unverbunden nebeneinander stehen und mit kurzen Einleitungen (meistens: „Jesus sagte“) oder Situationsangaben versehen sind. Mitunter werden auch kleine Dialoge kon struiert. – Etwas mehr als die Hälfte der Logien berührt sich mit Jesusworten, die in den synoptischen Evangelien überliefert sind.12 Ein großer Teil ist ohne synoptische Parallele. Vier Beispiele: EvThom 58: Selig der Mensch, der sich abgemüht hat (oder: der gelitten hat). Er hat das Leben gefunden. EvThom 82: Wer mir nahe ist, ist dem Feuer nahe. Und wer mir fern ist, ist dem Königreich fern. EvThom 97: Das Königreich des Vaters gleicht einer Frau, die einen Krug trug, angefüllt mit Mehl. Während sie auf dem Weg ging und weit entfernt war, brach der Henkel des Kruges, und das Mehl rieselte hinter ihr auf den Weg. Sie merkte es nicht. Sie hatte keinen Schaden wahrgenommen. Als sie in ihr Haus gelangt war, stellte sie den Krug auf den Boden und fand ihn leer. EvThom 98: Das Königreich des Vaters gleicht einem Menschen, der einen mächtigen Menschen töten wollte. Er zog das Schwert in seinem Haus und stach es in die Wand, um zu erkennen, ob seine Hand stark ist. Dann tötete er den Mächtigen. Von der ursprünglichen griechischen Fassung sind nur wenige Fragmente unter den Oxyrhynchus-Papyri erhalten. Dazu mit deutscher Übersetzung: J. Schröter, ACA I/1, 523–526; vgl. auch Plisch, Thomasevangelium. 12 Zwei Logien enthalten Parallelen zu Jesusworten des Johannes evangeliums: EvThom 38,2 zu Joh 7,34 und EvThom 77,1 zu Joh 8,12. 11
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4. Die apokryphen Evangelien
Mitunter werden auch Jesusworte, die aus den synoptischen Evangelien bekannt sind, mit dort unbekannten Worten kombiniert wie z. B. in EvThom 47: (1) Jesus sagte: Es ist unmöglich, dass ein Mensch zwei Pferde besteigt oder zwei Bögen spannt; (2) und es ist unmöglich, dass ein Diener zwei Herren dient; sonst wird er den einen ehren und den anderen schmähen. (3) Niemand trinkt alten Wein und begehrt sofort, neuen Wein zu trinken. (4) Und man gießt nicht neuen Wein in alte Schläuche, damit sie nicht zerreißen; und man gießt nicht alten Wein in einen neuen Schlauch, damit er ihn nicht verdirbt. (5) Man näht nicht einen alten Lappen auf ein neues Kleid, weil ein Riss entstehen wird.13
Die Interpretation dieses Befundes bewegt sich zwischen zwei extremen Positionen: Auf der einen Seite steht die Annahme, dass das Thomasevangelium von den synoptischen Evangelien unabhängig sei und einen eigenständigen Zugang zur ursprünglichen Jesusüberlieferung eröffne, der ein älteres Stadium der Überlieferung repräsentiere als die kanonischen Evangelien. Dementsprechend vermittle es auch einen direkteren Zugang zum historischen Jesus als die Synoptiker. Mit dieser Auffassung einher ging in der Regel eine Datierung des Thomasevangeliums oder zumindest einer literarischen Vorstufe in die 50er Jahre des 1. Jahrhunderts.14 Auf der anderen Seite stehen Interpretationen, de nen zufolge das Thomasevangelium durchgängig von EvThom 47,1 ist ohne synoptische Parallele; 47,2 überschneidet sich mit Lk 16,13 und Mt 6,24 und 47,3–5 mit Lk 5,36–37.39 (s. auch Mk 2,21–22 und Mt 9,16–17). 14 In diesem Sinne z. B. Koester, Gospels, 75–128; Crossan, Der historische Jesus, 563. – Das 1985 gegründete „Jesus-Seminar“, das seine Ergebnisse unter dem Titel „The Five Gospels“ publiziert hat, nimmt als fünftes Evangelium das Thomasevangelium (vgl. Funk u. a., Five Gospels). 13
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II. Quellen
den synoptischen Evangelien abhängig sei. Es nehme eine gnostisierende Neuinterpretation von deren Jesusüberlieferung vor und eröffne keinen unmittelbareren Zugang zur authentischen Jesusüberlieferung. Für die Frage nach der Verkündigung Jesu sei es darum wertlos.15 Inzwischen ist man zu einer Sichtweise gelangt, die die Einseitigkeiten der beiden Extreme zu vermeiden sucht. Ihr zufolge muss die Frage des Verhältnisses zur synoptischen Jesusüberlieferung bei jedem einzelnen Wort separat geprüft werden. Diese Prüfung kann zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen führen: Bei manchen Logien lässt sich eine Abhängigkeit von den syn optischen Evangelien (meistens vom Lukasevangelium) wahrscheinlich machen, während in anderen Logien durchaus alte, von den Synoptikern unabhängige Jesusüberlieferung erhalten sein kann. Dieser methodische Grundsatz gilt natürlich nicht nur für das Thomasevangelium, sondern ist auch auf alle anderen apokryphen Evangelien anzuwenden. In Bezug auf Erzählstoff, der nur in apokryphen Evangelien begegnet, kann man davon ausgehen, dass es sich um unhistorische Erfindungen handelt. Als Beispiele dafür können die im Protevangelium des Jakobus erzählte Geschichte Marias und ihrer Eltern Joachim und Anna gelten oder die Kindheitserzählung des Thomas, in der Geschichten über die außergewöhnliche Begabung des Jesuskindes erzählt werden.16
So z. B. Grant/Freedman, Geheime Worte Jesu, 106–113; s. auch Grant, Notes, bes. S. 179. 16 Deutsche Übersetzungen der beiden Schriften sind leicht zugänglich in ACA I/2, 903–929 (Protevangelium des Jakobus; S. Pellegrini) und 930–959 (Kindheitserzählung des Thomas; U. U. Kaiser / J. Tropper). – Für weitere Details, die in den apokryphen Schriften erfunden wurden, vgl. Bauer, Leben Jesu, der freilich die erst 1945 entdeckten Nag-Hammadi-Texte noch nicht gekannt hat. 15
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5. Die sog. Agrapha
5. Die sog. Agrapha Als „Agrapha“17 gelten nach der Definition von O. Hofius „Aussprüche …, die dem irdischen Jesus zugeschrieben werden und in der ältesten Fassung der vier kanonischen Evangelien nicht überliefert sind“.18 Diese Formulierung ist zu ungenau, denn es muss heißen: „… die in den vier kanonischen und in den apokryphen Evangelien nicht überliefert sind“. Solche Worte gibt es bereits im Neuen Testament: In Apg 20,35 zitiert der lukanische Paulus das allgemein verbreitete Sprichwort „Geben ist seliger als Nehmen“ als Jesuswort. Der Beitrag, den diese versprengten Jesusworte für die Frage nach dem historischen Jesus leisten, wird durchweg als sehr gering eingeschätzt. Weil es unter ihnen aber auch Worte gibt, die sich in nichtchristlichen Schriften finden, sind wir mit ihnen schon bei der Frage angelangt, wie Jesus in außerchristlichen Quellen vorkommt.19
6. Flavius Josephus Unter den jüdischen Autoren des 1. und 2. Jahrhunderts findet Jesus nur bei dem Historiker Flavius Josephus Erwähnung. In dessen Antiquitates Judaicae, einer Gesamtdarstellung der jüdischen Geschichte von der Diese Bezeichnung ist irreführend, denn wir finden auch die sog. „ungeschriebenen“ (das bedeutet das griechische Wort ágrapha) Worte Jesu immer nur in Texten. Auch die „Agrapha“ sind darum geschrieben. 18 Hofius, Herrenworte, 185; s. auch die ebd. 184 f genannte Literatur. Stroker, Sayings, hat die zur Zeit ausführlichste Zusammenstellung; vgl. aber auch Jeremias, Jesusworte. 19 Vgl. hierzu den Überblick bei Gemeinhardt, Zeugnisse, mit dem Hinweis auf ältere Literatur. 17
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II. Quellen
Schöpfung bis zum Beginn des Jüdischen Krieges im Jahre 66 n. Chr., die in den 80er und frühen 90er Jahren des 1. Jahrhunderts n. Chr. in Rom entstanden ist, kommt er zweimal vor: In dem Teil seines Werkes, in dem Josephus die Situation in Judäa unter dem Statthalter Pontius Pilatus beschreibt, heißt es (Ant. 18,63–64): Um diese Zeit lebte Jesus, ein weiser Mensch, wenn man ihn überhaupt einen Menschen nennen darf. Er war nämlich ein Vollbringer unglaub licher Taten, ein Lehrer der Menschen, die mit Freuden die Wahrheit annahmen. Viele Juden, aber auch viele griechischen Charakters zog er an. Dieser war der Gesalbte. Und obwohl Pilatus ihn auf Grund der Anzeige der vornehmsten Männer bei uns zum (Tod am) Kreuz verurteilte, gaben die, die ihn vorher geliebt hatten, nicht auf. Denn er erschien ihnen am dritten Tag als wiederum lebend, wie gottgesandte Propheten dies und unzählige andere wunderbare Dinge über ihn gesagt hatten. Und bis auf den heutigen Tag ist das Volk der Christianer, das nach ihm benannt wird, nicht ausgestorben.
Dieser Text, das sog. Testimonium Flavianum, war und ist Gegenstand intensiver Diskussion, weil Teile von ihm Jesus in einer Weise charakterisieren, wie sie nur von christlicher Seite aus vorstellbar ist. Zur Zeit wird von den meisten angenommen, dass der Text mit großer Wahrscheinlichkeit nicht als Ganzer ein christliches Produkt ist, sondern lediglich von christlichen Tradenten der Werke des Josephus mit Ergänzungen versehen wurde. In der Übersetzung sind diese Textteile kursiv gedruckt. Was Josephus schreibt, ist insofern bemerkenswert, als seine Bemerkung über die Art und Weise der jüdischen Beteiligung am Tod Jesu („auf Grund der Anzeige unserer vornehmsten Männer“) sich von dem Bild, das die christliche Überlieferung von ihr entwirft, charakteristisch unterscheidet. Dieser Sachverhalt erlaubt die Annahme, dass Josephus über eigenständige Informationen in Bezug auf Jesus verfügte, die nicht auf christlicher Vermittlung basierten.
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7. Rabbinische Literatur
Möglicherweise stand auch an der Stelle, wo man im Testimonium Flavianum „dieser war der Gesalbte“ liest, nicht einfach nichts, sondern eine Formulierung wie „dieser wurde für den Gesalbten gehalten“. Das legt der zweite Jesus-Text bei Josephus nahe20, der im Unterschied zum Testimonium Flavianum nicht christlich ergänzt wurde: In Ant. 20,200 berichtet Josephus vom Tod des Jakobus und nennt diesen dort „den Bruder des Jesus, der Gesalbter genannt wurde“. An Jesus ist dieser Text nur indirekt interessiert. Josephus schreibt lediglich, dass es Juden gab, die ihn für den Gesalbten hielten. Trotzdem ist Jesus in diesem Text die eigentlich prominente Gestalt, denn Josephus nennt ihn nicht nur an erster Stelle, sondern er identifiziert Jakobus als Jesu Bruder und schreibt ihm damit eine lediglich von diesem abgeleitete Bedeutung zu.
7. Rabbinische Literatur Aus der rabbinischen Literatur sind zwei Texte zu nennen: In dem Traktat Avoda Zara („Götzendienst“) des babylonischen Talmud (bAZ 16b–17a) wird von einem Gespräch zwischen Rabbi Eliezer und einem Christen berichtet, in dem es im Anschluss an Dtn 23,19 um die Frage geht, ob die Einnahmen von Dirnen für Tempelzwecke verwendet werden dürfen. Hierzu lässt der Text den Christen sagen (bAZ 17a): So hat mich Jeschu, der Nazarener, gelehrt: Von Hurenlohn ist es gesammelt, zu Hurenlohn soll es zurückkehren. Vom Ort des Schmutzes sind sie gekommen, zum Ort des Schmutzes sollen sie gehen. Zu beiden Texten und ihrem Verhältnis zueinander vgl. S. Mason, Jüdische Quellen, in: Flavius Josephus, in: Schröter/Jacobi (Hg.), Jesus Handbuch, 165–171. 20
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II. Quellen
Dass es sich bei diesem Wort um ein ursprüngliches Jesuswort handelt, gilt mit Recht als ausgeschlossen.21 Es wird vielmehr als Produkt einer antichristlichen Polemik angesehen, die das Ziel verfolgt, Jesus dadurch zu diskreditieren, dass man ihm ein judenfeindliches Zitat in den Mund legt. Ebenfalls ein spätes Produkt ohne historischen Wert ist der Bericht von Jesu Tod im Traktat Sanhedrin („Gerichtshof“) des babylonischen Talmud (bSanh 43a): Am Vorabend des Passa hängte man Jeschu, den Nazarener, und der Ausrufer ging 40 Tage zuvor herum: „Jeschu, der Nazarener, geht hinaus, um gesteinigt zu werden, weil er Zauberei getrieben sowie Israel verführt und abtrünnig gemacht hat. Jeder, der etwas zu seiner Entlastung weiß, komme und bringe es für ihn vor.“ Aber sie fanden für ihn keine Entlastung und hängten ihn am Vorabend des Passa.
Aufs Ganze gesehen hat schon J. Maier nach seiner Untersuchung der rabbinischen Jesus-Texte festgestellt: „Kontextanalyse, überlieferungs-, stoff-, motiv- und formgeschichtliche Beobachtungen sprechen … dafür, dass es keine einzige rabbinische ‚Jesus-Stelle‘ aus tannaitischer Zeit (bis ca. 220 n. Chr.) gibt“.22
8. Griechisch-römische Autoren Sehr spärlich sind auch die Informationen, die wir griechisch-römischen Autoren entnehmen können. Der römische Historiker Tacitus berichtet in seinen in den Jahren 105–110 entstandenen Annales, dass Nero für den Brand Roms eine Gruppe von Menschen verantwortlich gemacht habe, „die das Volk ‚Chrestianer‘ 21 22
Vgl. Maier, Jesus von Nazaret, 172 f. Ebd., 268.
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8. Griechisch-römische Autoren
nannte“, und erklärt dann die Herkunft dieser Bezeichnung: „Der Urheber dieses Namens, Christus, ist unter der Regierung des Tiberius durch den Prokurator Pontius Pilatus hingerichtet worden“ (Annalen 15,44). Bemerkenswert an dieser Erklärung ist, dass sie „Christus“, für einen Eigennamen hält. Letzeres gilt auch für Sueton, der in seinen um 120 entstandenen Kaiserbiographien mitteilt, dass Claudius die Juden aus Rom vertrieb, weil sie „auf Veranlassung eines Chrestus fortwährend Unruhe machten“ (Leben der Caesaren, Claudius 25,4). Sueton hält „Chrestus“ ganz offensichtlich für einen Juden, der zur Zeit des Kaisers Claudius (reg. 41–54) in Rom lebte. Tatsächlich dürfte die „Unruhe“ unter den römischen Juden ihren Grund aber darin gehabt haben, dass es unter ihnen Auseinandersetzungen zwischen christlichen und nichtchristlichen Juden über die Messianität Jesu von Nazaret gab. Mehrere Jahrzehnte später schreibt der geistvolle Spötter Lukian von Samosata in Syrien über die „Christi aner“, dass sie „jenen Menschen verehren, der in Palästina gekreuzigt worden ist, weil er diesen neuen Geheimkult gegründet hat“ (De morte Peregrini 11). In demselben Werk nennt er Jesus wenig später den „ersten Gesetzgeber“ der Christen, „der sie zu der Überzeugung gebracht hat, dass sie alle untereinander Brüder seien, nachdem sie einmal übergetreten wären und den griechischen Göttern abgeschworen hätten, eben jenen gekreuzigten Sophisten anbeten und nach seinen Geboten leben“ (ebd. 13). Dass diese Zeilen auf der Kenntnis von schriftlichen Quellen basieren, wird man nicht annehmen können. Es ist eher damit zu rechnen, dass sie auf Hörensagen zurückgehen.23 Lukian gibt wieder, was
23
Gemeinhardt, Zeugnisse, 217.
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II. Quellen
man sich in der nichtchristlichen Öffentlichkeit seiner Zeit über die „Christianer“ erzählte.24
9. Der Brief des Mara bar Sarapion Ebenfalls als nichtchristliches Jesus-Zeugnis gilt ein Abschnitt in einem auf Syrisch geschriebenen Brief eines stoischen Philosophen namens Mara bar („Mara, Sohn des“) Sarapion an seinen Sohn.25 Geschrieben wurde der Brief wahrscheinlich zwischen 73 und 165 n. Chr. Denn was hatten die Athener für einen Nutzen davon, dass sie Sokrates töteten, was ihnen mit Hungersnot und Pest vergolten wurde? Oder die Samier von der Verbrennung des Pythagoras, da ihr ganzes Land in einem Augenblick vom Sand verschüttet wurde? Oder die Juden von der Hinrichtung ihres weisen Königs, da ihnen von jener Zeit an das Reich weggenommen war? Denn gerechtermaßen nahm Gott Rache für jene drei Weisen: die Athener starben Hungers, die Samier wurden vom Meer bedeckt, die Juden, umgebracht und aus ihrem Reich vertrieben, leben allenthalben in der Zerstreuung. Sokrates ist nicht tot – wegen Platon, noch Pythagoras – wegen der Herastatue, noch der weise König – wegen der neuen Gesetze, die er gegeben hat.
Um eine antichristliche Polemik, die durch den Glauben an die Geburt Jesu aus einer Jungfrau veranlasst ist, handelt es sich auch bei der Behauptung, die der Philosoph Celsus von einem Juden gehört haben will: dass Jesus aus einer ehebrecherischen Beziehung Marias mit einem römischen Soldaten namens Panthera hervorgegangen sei (Origenes, Gegen Celsus 1,32). Wahrscheinlich ist der Name Panthera eine Verballhornung des griechischen Wortes für Jungfrau (parthénos). 25 Übersetzung nach F. Schulthess, Der Brief des Mara bar Sarapion, ZDMG 51 (1897) 365–391, hier 371–372. – Vgl. zu diesem Brief auch Van Voorst, Jesus, 53–58. Bei diesem Brief handelt es sich um die einzige schriftliche Hinterlassenschaft des Mara bar Sarapion, der sonst nirgendwo erwähnt wird. 24
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10. Fazit
In der historischen Jesusforschung wird relativ konsens haft angenommen, dass der „weise König“, von dem in dem Brief die Rede ist, Jesus sein soll. Der Abschnitt über Jesus ist in diesem Fall jedoch mindestens zum Teil von christlichen Quellen abhängig. Indizien dafür sind, dass der Verfasser die Schuld für Jesu Tod den Juden zuschreibt und ihre Diasporaexistenz als Gottes gerechte Strafe deutet. Auch dass Jesus als „König“ gilt, der „Gesetze gegeben hat“, dürfte sich christlicher Vermittlung verdanken.
10. Fazit Mit einer einzigen Ausnahme finden sich in keinem nichtchristlichen Text Informationen über Jesus von Nazaret, die über das hinausgehen, was wir aus den neutestamentlichen Evangelien wissen, oder die uns nötigen, es zu korrigieren. Die Ausnahme ist Josephus’ Mitteilung, derzufolge Jesus „auf Grund der Anzeige unserer vornehmsten Männer“, d. h. der führenden Vertreter der jüdischen Selbstverwaltung in Jerusalem, von Pilatus zum Tod am Kreuz verurteilt worden war (Ant. 18,64; s. o. Abschn. 6). Demgegenüber lesen wir in den Evangelien, dass die Jerusalemer Juden Pilatus, der an Jesu Tun nichts fand, was mit dem Tode hätte bestraft werden müssen, unter Druck gesetzt und gezwungen hätten, Jesus kreuzigen zu lassen. Diese Differenz wird bei der Darstellung der Leidensgeschichte Jesu zu berücksichtigen sein.26
26
S. dazu u. S. 284–300.
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III. Biographisches und Persönliches 1. Name Der Name „Jesus“ ist aus dem Griechischen abgeleitet. In der Septuaginta, der griechischen Übersetzung der Hebräischen Bibel, wird „Josua“, der Nachfolger Moses, immer Iēsoús genannt. Auf Hebräisch hieß er Jehōschúʽa. Dieser Name war unter Einschluss seiner Kurzformen Jēschúʽa und Jḗschu im antiken Judentum sehr weit verbreitet.1 Seine Bedeutung ist „JHWH ist Hilfe/Rettung“.2
2. Familie 2.1 Eltern An dieser Stelle ist es angebracht, noch einmal an die Unterscheidung zwischen den unterschiedlichen Jesusbildern zu erinnern, wie wir sie in Kap. I vorgenommen haben. Der historische Jesus, wie die wissenschaftliche Geschichtsschreibung ihn (re)konstruiert, wurde gezeugt und empfangen wie jeder andere Mensch auch. Diese Sicht teilen nicht nur das Markus- und das Johannesevangelium, sondern auch bei Paulus und in Vgl. Ilan, Lexicon I, 126–133; II, 103–106; III, 103–105; IV, 85–86; s. auch W. Foerster, ThWNT III, 284–287. 2 Vgl. auch die Deutung des Namens „Jesus“ in Mt 1,21: „Du sollst ihm den Namen Jesus geben, denn er wird sein Volk retten von ihren Sünden“. Philo v. Alexandrien übersetzt „Josua“ mit „Heil des Herrn“ (Mut. Nom. 121). Auch hinter dem „Hosianna“, mit dem Jesus nach Mk 11,9–10 und Joh 12,13 bei seinem Einzug nach Jerusalem begrüßt wird, steckt ein hebräischer Ausruf, der von demselben Verb abgeleitet ist wie der hebräische Name Jesu (s. dazu u. S. 275 mit Anm. 8). 1
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III. Biographisches und Persönliches
allen anderen Schriften des Neuen Testaments gibt es keinerlei Hinweis darauf, dass es sich anders verhalten könnte. Im Matthäus- und im Lukasevangelium findet sich demgegenüber die Annahme, dass Jesus durch den heiligen Geist von einer Jungfrau empfangen und geboren wurde.3 Hierbei handelt es sich aber um eine Aussage über die Herkunft des irdischen Christus, die das Wesen Jesu Christi charakterisieren will. Sie ist durch die griechische Übersetzung von Jes 7,14 inspiriert.4 Es handelt sich um ein Stück erzählte Christologie, mit dem die beiden Evangelisten zum Ausdruck bringen wollen, dass die Bedeutung des irdischen Christus nur recht verstanden werden kann, wenn man sie jenseits aller Verhältnisse, wie sie unter Menschen üblich sind, ansiedelt und als Einbruch der Wirklichkeit Gottes in die Welt der Menschen interpretiert. Wenn wir demgegenüber nach dem historischen Jesus fragen, können wir nichts anderes sagen, als dass Josef nicht nur der soziale, sondern wohl auch der biologische Vater Jesu war. Eine zusätzliche Bemerkung verdient Mk 6,3, wo die Bewohner von Nazaret Jesus „Sohn der Maria“ nennen und ihn nicht über seinen Vater identifizieren, wie es sonst üblich ist.5 Diese Besonderheit wird meistens durch die Annahme erklärt, dass Josef noch vor dem öffentlichen Auftreten Jesu verstorben sei und Maria als Witwe zurückgelassen habe. Diese Hypothese ist nicht ganz von der Hand zu weisen, zumal Josef außerhalb der Vorgeschichten in Lk 1–2 und Mt 1–2 im Unter Vgl. Mt 1,18–23; Lk 1,26–38; 2,5. Dieser Text wird in Mt 1,22–23 zitiert, doch wird sein Sinn dabei verändert: Während in Jes 7,14 von einer „Jungfrau“ die Rede ist, die erst noch schwanger wird und dabei ihre Jungfräulichkeit verliert, spricht Matthäus von einer Schwangeren, die auch als solche immer noch „Jungfrau“ ist. 5 In den Parallelen Lk 4,22 und Mt 13,55 tritt Jesu Vater an die Stelle seiner Mutter (s. auch Joh 1,45; 6,42: „Jesus, der Sohn des Josef“). 3 4
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2. Familie
schied zu Jesu Mutter6 auch sonst in den Evangelien nicht als Erzählfigur vorkommt. 2.2 Geschwister Ebenfalls in Mk 6,3 werden vier Brüder Jesu erwähnt, nämlich Jakobus, Joses7, Judas und Simon; außerdem mehrere Schwestern, deren Namen nicht genannt werden. Allgemein von „Brüdern des Herrn“ spricht auch Paulus in 1Kor 9,5, und Brüder Jesu finden auch in Mk 3,31; Joh 2,12; 7,3.5.10 Erwähnung. 2.3 Abstammung von David? Paulus stellt in Röm 1,3 fest, dass Jesus „nach dem Fleisch“, d. h. auf Grund genealogischer Herkunft, „von David abstammte“. Es wird seit Langem darüber diskutiert, ob Paulus hiermit historisch zuverlässiges Wissen wiedergibt und Jesu Familie ihre Abstammung von König David herleitete oder ob umgekehrt die davidische Herkunft erst nach Ostern so ähnlich wie Bethlehem als Geburtsort (s. u. Abschn. 3) aus dem Glauben an die Messianität Jesu erschlossen wurde. In Joh 7,42 wird gegen Jesus vorgebracht, er könne nicht der Gesalbte sein, weil er weder von David abstamme noch in Bethlehem geboren sei. Auch Mk 12,35–37 lässt sich als Auseinandersetzung mit dem Einwand interpretieren, Jesus könne nicht der Gesalbte sein, weil er kein Nachkomme Davids sei. Wir müssen diese Frage darum offen lassen. Falls Jesu Familie ihre Herkunft doch von Vgl. Mk 3,31; Mt 12,46 und Lk 8,19; Joh 2,1.3.5.12; 19,25–27. In der Parallele Mt 13,55 lautet die Reihe „Jakobus und Josef und Simon und Judas“. Der Unterschied ist jedoch nicht groß, denn „Joses“ (Mk 6,3) ist das griechische Äquivalent des hebräischen Namens Josef; s. auch Mk 15,40 und Mt 27,56. 6 7
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III. Biographisches und Persönliches
David hergeleitet haben sollte, so bedeutet das nicht, dass sie darum auch wohlhabend oder einflussreich gewesen wäre. Ohne jeden historischen Wert sind die beiden Geschlechtsregister in Mt 1,2–16 und Lk 3,23–38. Sie widersprechen sich schon bei Jesu Großvater (in Mt 1,16 heißt er „Jakob“, in Lk 3,23 „Eli“). Auch sonst weisen sie zahlreiche Differenzen auf, die sich nicht miteinander vereinbaren lassen. So liegen z. B. zwischen dem jeweils letzten biblischen Namen „Serubbabel“ (Mt 1,13; Lk 3,27) und Jesus bei Matthäus 10 Generationen, während es bei Lukas nicht weniger als 19 Generationen sind.
3. Geburtsort Mit sehr großer Wahrscheinlichkeit ist Jesus nicht nur in Nazaret aufgewachsen, sondern er wurde dort auch geboren. Nazaret liegt im untergaliläischen Bergland, ca. 6 km südlich von Sepphoris, das nach seiner weitgehenden Zerstörung durch Publius Quinctilius Varus im Jahr 4 v. Chr. von Herodes Antipas wieder aufgebaut wurde.8 Nazaret wird bis zum 3. Jahrhundert n. Chr. außerhalb des Neuen Testaments weder literarisch noch inschriftlich erwähnt. Es muss sich also um ein kleines und gänzlich unbedeutendes Dorf gehandelt haben, das von keiner Durchgangsstraße berührt wurde. Nicht selten wurde sogar daran gezweifelt, dass es zu Beginn des 1. Jahrhunderts n. Chr. überhaupt als Wohnort existierte. Es wurde angenommen, dass Jesu Herkunft aus Nazaret aus den nicht mehr verstandenen Bezeichnun Vgl. auch Karte 2 u. S. 314.
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3. Geburtsort
gen „Nazoräer“9 und „Nazarener“10 erschlossen worden sei. Doch das ist noch unwahrscheinlicher, denn einen Ort, den es nicht gibt, kann auch keiner aus einem unverstandenen Beinamen erschließen. Ausgrabungen haben dort, wo heute Nazaret liegt, bis ungefähr 2000 v. Chr. zurückreichende Siedlungsspuren zutage gefördert. Auf Grund des archäologischen Befundes rechnet man damit, dass es in herodianisch-römischer Zeit aus ungefähr 50 Häusern bestand, in denen 200–400 Menschen lebten.11 Von Jesu Geburt in Bethlehem ist nur in den Vorgeschichten des Lukas- und des Matthäusevangeliums die Rede (Lk 1–2 und Mt 1–2). Zwischen ihnen gibt es aber unaufhebbare Widersprüche: Nach der Darstellung des MtEv waren die Eltern Jesu schon vor seiner Geburt in Bethlehem ansässig, wo sie ein Haus hatten (2,11). Im galiläischen Nazaret nehmen sie erst nach ihrer Rückkehr aus Ägypten Wohnung (2,19–23). Demgegenüber wohnen Jesu Eltern bei Lukas von Anfang an in Nazaret (Lk 1,26–27) und reisen erst zum Zweck der steuerlichen Veranlagung nach Bethlehem, wo Jesus dann das Licht der Welt erblickt. Diese Konstruktion ist aber schon darum historisch unwahrscheinlich, weil die Steuerveranlagung, von der Lukas hier spricht, nicht das gesamte Imperium Romanum umfasste, sondern auf Judäa beschränkt war. Sie fand in den Jahren 6/7 n. Chr. statt, nachdem Judäa zu einem Teil der römischen Provinz Syrien geworden war. Da Nazaret, wo Jesu Eltern lebten, aber zum Herrschaftsgebiet des Herodes Antipas gehörte12, konnten sie von dem nur So u. a. Mt 26,71; Lk 18,37; Joh 18,5; Apg 2,22. So Mk 1,24 und Lk 4,34; Mk 10,47f; 14,67; 16,6; Lk 24,19. 11 Vgl. Bagatti, Excavations; Tzaferis/Bagatti, Nazaret; Bösen, Galiläa, 97–110. 12 Zu ihm s. u. S. 67; vgl. auch Karte 1 u. S 313. 9
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III. Biographisches und Persönliches
in Judäa durchgeführten Provinzialcensus überhaupt nicht betroffen sein.13 – Es spricht darum alles dafür, dass Matthäus und Lukas die Geburt Jesu nach Bethlehem verlagert haben, weil dort nach Mi 5,1 der Messias könig geboren werden sollte. Auf diesen Text wird darum auch expressis verbis in Mt 2,6 Bezug genommen, um den Geburtsort Jesu zu identifizieren. Auch die Lokalisierung von Jesu Geburt in Bethlehem gehört darum nicht zum Bild des historischen Jesus, sondern zum Bild des irdischen Christus.14 Sie ist ein Produkt des Glaubens, dass Jesus der erwartete Gesalbte Israels aus dem Hause Davids ist, dessen Kommen von den Propheten des Alten Testaments verheißen wurde.
4. Geburtsjahr Angaben zum Geburtsjahr Jesu finden sich wiederum nur bei Matthäus und bei Lukas. Sie schließen einander aber aus: Matthäus datiert die Geburt Jesu in die Regierungszeit Herodes’ d. Gr., der im Jahr 4 v. Chr. gestorben ist (Mt 2,1). Demgegenüber wird Jesus bei Lukas mindestens zehn Jahre später geboren: nachdem im Jahr 6 n. Chr. Judäa der römischen Provinz Syrien angegliedert wurde und der neuernannte Statthalter Publius Sulpicius Quirinius im Anschluss daran einen Census durchführen ließ, um den Besitzstand der einheimischen Bevölkerung feststellen zu lassen.15 Gegen die lukanische Datierung spricht vor allem ihr fehlerhafter Außerdem erfolgte die steuerliche Registrierung nicht am Herkunftsort der Familie, sondern bei der zuständigen Steuerbehörde. 14 S. dazu o. S. 22 f. 23 f. 15 Dieser Census wird auch bei Josephus erwähnt; vgl. Ant. 17,355; 18,1–3; 20,102; Bell. 2,117 f; 7,253; in Ant. 18,26 datiert er ihn in das 37. Jahr nach der Schlacht bei Actium, die 31 v. Chr. stattfand. 13
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4. Geburtsjahr
Umgang mit der römischen Censuspraxis.16 Es ist offensichtlich, dass Lukas Jesu Geburt mit dem Census korreliert, damit Josef und Maria nach Bethlehem reisen und Jesus dort geboren werden kann. Damit ist aber noch nicht der positive Beweis dafür erbracht, dass die matthäische Datierung zutreffend ist und Jesu Geburt tatsächlich in die Regierungszeit Herodes’ d. Gr. fiel. Denn dass Herodes Jesus umbringen will, hängt unmittelbar mit der unhistorischen Lokalisierung der Geburt Jesu in Bethlehem und den damit verbundenen messianischen Konnotationen zusammen. Dasselbe gilt auch für den „Stern“, der nach Mt 2,2.7.10 den Magiern aus dem Osten den Weg zum Haus der Eltern Jesu weist. Auch dieses Erzählmotiv setzt den nachösterlichen Glauben an die Messianität Jesu voraus, und in dieser Zeit wird sich ganz bestimmt niemand mehr an bestimmte astrale Phänomene erinnert haben, die mehrere Jahrzehnte vorher zu beobachten gewesen waren17. Wenn Jesus in Nazaret geboren wurde, wovon mit sehr großer Wahrscheinlichkeit ausgegangen werden kann, hat niemand in Jerusalem, in Bethlehem oder gar außerhalb Judäas davon Notiz genommen. In welchem Jahr Jesus tatsächlich geboren wurde, wissen wir darum nicht. Dass er gegen Ende der Regierungszeit Herodes’ d. Gr. geboren wurde, können wir darum nicht mit Bestimmtheit sagen. Ausgeschlossen ist es aber auch nicht.18
S. o. S. 58 mit Anm. 13. Eine Zusammenstellung der Erklärungen, die in der Literatur vorgeschlagen wurden, findet sich bei Luz, MtEv I, 162. 18 Keine Hilfe ist Lk 3,23 („Jesus war, als er anfing, ungefähr 30 Jahre alt“), denn diese Angabe ist viel zu ungenau. Vielleicht will Lukas an 2Sam 5,4 erinnern, wonach David 30 Jahre alt war, als er König wurde. 16 17
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III. Biographisches und Persönliches
5. Beruf In Mk 6,3 heißt es, dass Jesus den Beruf eines téktōn ausübte; nach Mt 13,55 war dies der Beruf seines Vaters. Beides muss sich natürlich nicht widersprechen. Mehr, als dass Vater und Sohn ganz allgemein als „Handwerker“ bezeichnet werden, ist damit aber nicht gesagt.19 Da Nazaret wohl zu klein war, um einem selbständigen Handwerksbetrieb eine auskömmliche Auftragslage zu gewährleisten, ist damit zu rechnen, dass Josef und alle Söhne, die in seinem Betrieb mitarbeiteten, auch außerhalb ihres Wohnortes arbeiten mussten, wenn sie die Familie ernähren wollten. Es ist darum denkbar, dass erst Josef und dann auch Jesus an anderen Orten Arbeit gefunden haben: zunächst beim Wiederaufbau des nahen Sepphoris20 und später vielleicht auch in dem ca. 30 km von Nazaret entfernten, am See Genezareth gelegenen Tiberias, das Herodes Antipas sich ab 17 n. Chr. als neue Residenz erbauen ließ. Dass sie sich als Tagelöhner verdingen mussten, ist damit nicht gesagt. Es ist auch möglich, dass sie als mehr oder weniger selbständige Subunternehmer tätig waren.
In der Septuaginta, dem griechischen Alten Testament, wird häufig spezifiziert: Ein „téktōn des Eisens“ (1Sam 13,19; Jes 44,12) ist ein Schmied, ein „téktōn des Holzes“ (2Sam 5,11; 2Kön 12,12; 1Chr 14,1; 22,15; Jes 44,13) ein Zimmermann und ein „téktōn der Steine“ (2Sam 5,11) ein Maurer. Nach Justin, Dialog mit Trypho 88,8 sei Mk 6,3 so zu verstehen, dass Jesus „Pflüge und Joche“ hergestellt hat. Dasselbe steht auch in der Kindheitserzählung des Thomas (Kap. 13; ACA I/2, 954). 20 S. o. S. 56. 19
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6. Todestag
6. Todestag Nach dem Zeugnis aller vier neutestamentlichen Evangelien starb Jesus an einem Freitag (Mk 15,42; Mt 27,62; Lk 23,54; Joh 19,31). Damit ist aber noch nicht gesagt, welcher Freitag das war. Nach Joh 18,28; 19,14.31.42 starb Jesus am Vorbereitungstag des Passafestes. Das ist nach dem jüdischen Kalender der 14. Nisan. Dieser Tag fiel in den Jahren 30 und 33 auf einen Freitag. Dementsprechend war das letzte Mahl Jesu mit seinen Jüngern, von dem in Joh 13,1–30 erzählt wird, kein Passamahl, sondern es fand vor dem Beginn des Passafestes statt. Jesus stirbt dann am Nachmittag des nächsten Tages, dem Tag vor dem Beginn des Passafestes. Demgegenüber starb Jesus nach den synoptischen Evangelien am 15. Nisan, der in den Jahren 27 und 34 auf einen Freitag fiel. Am Vorabend hatte er mit seinen Jüngern als letzte gemeinsame Mahlzeit noch das Passa gefeiert (Mk 14,12–17; Mt 26,17–20; Lk 22,7–14). Beide Darstellungen schließen einander aus. Die Lösung des Widerspruchs wird mit Hilfe der Frage gesucht, welche der beiden Chronologien wir eher als eine theologische Konstruktion interpretieren und damit als nachträgliche Veränderung einer ursprünglich theologisch „neutralen“ Datierung erklären können. Diese Vorgehensweise ist jedoch nur von begrenztem Nutzen, weil beide Datierungen theologisch aufgeladen sind: Bei Johannes ist die Passalammtypologie geradezu mit den Händen zu greifen: Jesus stirbt nicht nur an dem Tag, an dem die Passalämmer geschlachtet werden, sondern mit dem Zitat von Ex 12,46 und Num 9,12 in Joh 19,36 wird darüber hinaus auch ein expliziter Bezug auf die alttestamentliche Passa-Tora hergestellt. Mit seiner Hilfe wird Jesus als das wahre Passalamm identi-
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III. Biographisches und Persönliches
fiziert, das im Sinne von Joh 1,29 „das Lamm Gottes“ ist, das mit seinem Tod „die Sünde der Welt wegnimmt“. Zugunsten der Annahme, dass die synoptische Datierung einer theologischen Deutung Vorschub leisten soll, kann man geltend machen, dass durch sie das letzte Mahl Jesu mit seinen Jüngern zu einem Passamahl wird. Dadurch würde das Herrenmahl in die theo logische Kontinuität des Passamahles gestellt, und es würde von diesem her seine Bedeutung empfangen. Die Mehrheit der Interpreten entscheidet sich für die Historizität der johanneischen Datierung, weil in den synoptischen Evangelien der Passabezug nur im erzählerischen Rahmen präsent ist und weder im Ablauf des Mahles erkennbar ist noch in die theologische Deutung von Brot und Wein übernommen wird. Gerade dadurch entfällt aber jede Möglichkeit, in der synoptischen Datierung eine theologische Konstruktion zu sehen, die auch nur entfernt an die Intensität heranreicht, die die johanneische Deutung dem Tod Jesu mit Hilfe seiner Datierung auf den 14. Nisan zuschreibt.21 Diese theologische Vernachlässigung des Passa-Bezuges von Jesu letztem Mahl in den synoptischen Evangelien spricht dafür, dass es sich nicht bei ihrer, sondern bei der johanneischen Darstellung um eine nachträgliche theologische Konstruktion handelt und dass die synoptische Datierung des Todes Jesu auf einen 15. Nisan die größere historische Wahrscheinlichkeit für sich hat.
Hinzu kommt noch, dass eventuell vorhandene Worte mit PassaBezug in der Erzählung vom letzten Mahl Jesu durch die Einfügung der Deuteworte über Brot und Kelch verdrängt worden sein können (s. dazu u. S. 282). 21
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7. Sonstiges
7. Sonstiges Welchen Status Jesu Familie in Nazaret hatte, wissen wir ebensowenig, wie wir ihre wirtschaftliche Situation kennen. Die Sprache, die Jesus und seine Familie im Alltag gesprochen haben, ist das Aramäische gewesen. Die hebräische Bibel dürfte ihm aus dem Synagogengottesdienst vertraut gewesen sein. Wie es mit seinen Griechischkenntnissen stand, wissen wir nicht. Vielleicht war er in der Lage, langsam gesprochenes Griechisch zu verstehen und sich auch selbst rudimentär in dieser Sprache verständlich zu machen. Zwei Angehörige des Zwölferkreises tragen griechische Namen: Andreas, der Bruder Simons, und Philippus, die beide aus Bethsaida stammten. Über die Bildung Jesu wissen wir nichts. Man wird jedoch gut beraten sein, ihm in dieser Hinsicht nicht allzu wenig zuzutrauen. Das machen schon die Texte wahrscheinlich, die zu generieren er in der Lage war wie z. B. die von ihm erzählten Gleichnisse.22 In ihnen wird erkennbar, dass Jesus über eine nicht geringe sprachliche Kompetenz verfügte. Ähnliches legen auch seine ethischen Weisungen nahe.23 Mit großer Wahrschein lichkeit konnte er lesen, und vielleicht konnte er auch schreiben. Von Bedeutung ist noch, was Paulus und Lukas über das Auftreten von Jesu Bruder Jakobus nach Ostern in Jerusalem erzählen.24 Ihre Berichte reflektieren sowohl ein theologisches Bewusstsein als auch eine kommunikative Kompetenz, die es unwahrscheinlich machen, dass er und damit auch sein Bruder Jesus in einem bildungsfernen Elternhaus groß geworden sind.
S. dazu Kap. IX S. 169–193. S. dazu u. S. 197–213. 24 Vgl. Gal 1,19; 2,1–10.12; Apg 15,13–21; 21,18–25. 22 23
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III. Biographisches und Persönliches
Davon, dass Jesus verheiratet war, ist nichts bekannt. Mitunter wird ihm ein außereheliches Verhältnis mit Maria Magdalena25 angedichtet. Hierbei handelt es sich jedoch um die Erfindung eines Bestsellerautors des frühen 21. Jahrhunderts. Was uns die neutestamentlichen Quellen über die Beziehung zwischen Jesus und Maria Magdalena erzählen, ist sehr wenig: dass Jesus sieben Dämonen aus ihr ausgetrieben hat (Lk 8,2) und dass sie zu den Frauen gehört hat, die Jesus nach Jerusalem begleitet haben und dann gesehen haben, wo er begraben worden war (Mk 15,40.47). Äußerungen über das Verhältnis Jesu zu Maria Magdalena, die sich in den apokryphen Evangelien aus Nag Hammadi finden, sind samt und sonders historisch wertlos.26 Die Sonderstellung, die Maria Magdalena in diesen Texten im Gegenüber zu den anderen Jüngern zugeschrieben wird (Jesus „liebt“ sie mehr als die anderen Jünger), bezieht sich nicht auf ein erotisches Verhältnis zwischen ihr und Jesus. Maria Magdalena wird vielmehr als Garantin der gnostischen Tradition aufgeboten, während die anderen Jünger die Tradition der Großkirche repräsentieren. Dementsprechend sind alle vier Texte von einem offenkundigen Interesse geleitet: Sie wollen suggerieren, dass die gnostische Tradition mit Jesus enger verbunden ist als die Tradition der Großkirche. Zu diesem Zweck lassen sie Maria Magdalena Jesus näher stehen als die Jünger. Sie verdankt ihren Namen wohl der Herkunft aus dem am Westufer des Sees Genezareth gelegenen Magdala (vgl. Mk 15,40.47; 16,1; Joh 19,25; 20,1.18). Diese Verbindung wurde allerdings erst im 6. Jahrhundert erstmals hergestellt (Theodosius, De situ terrae sanctae 2 [CChr.SL 175, S. 115,18–19]). Zu Maria Magdalena s. auch u. S. 238 f. 26 Es handelt sich um EvPhil 32 (NHC II/3, 59,6–11); 55b (NHC II/3, 63,33–64,5); EvMaria 10,1–9 (ACA I/2, 1214); 18,10–15 (ACA I/2, 1216). Alle Texte sind um die Mitte des 2. Jh. n. Chr. entstanden. 25
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IV. Der zeitgeschichtliche Kontext Wirken und Ergehen Jesu von Nazaret sind Bestandteil der Geschichte des Judentums in Palästina1 in den Jahrzehnten vor und nach der Zeitenwende. Ohne ihre Einbettung in diesen Zusammenhang kann man sie nicht verstehen. Aus diesem Grunde soll eine kurze Darstellung des zeitgeschichtlichen Kontextes am Anfang stehen.
1. Der politische Rahmen Palästina war seit 63 v. Chr., als Pompeius mit der Eroberung Jerusalems die hasmonäische Dynastie politisch entmachtete, ein Teil des Imperium Romanum. Als Jesus geboren wurde, regierte in Jerusalem wahrscheinlich noch Herodes d. Gr.2 Er war im Jahr 40 v. Chr. vom römischen Senat als König von Judäa eingesetzt worden. Diesen Rechtstitel konnte er jedoch erst im Jahr 37 v. Chr. durchsetzen, als es ihm gelang, mit Hilfe römischer Truppen Jerusalem zu erobern. Von da an regierte er bis zu seinem Tod im Jahr 4 v. Chr. als römischer Klientelkönig, der zwar innerhalb seines Herrschaftsgebiets über weitgehende Handlungsfreiheit Diese Bezeichnung für die Region zwischen Syrien im Norden und Ägypten im Süden findet sich schon bei Herodot (Historien 1,105,1; 2,104,3; 106,1 u. ö.). Pomponius Mela (1. Jh. n. Chr.) nennt Palästina das Gebiet, „wo Syrien Arabien berührt“ (Chorographie 1,63). 2 Seiner genealogischen Herkunft nach gehörte Herodes keinem der zwölf Stämme Israels an. Er stammte vielmehr aus dem südlich von Judäa gelegenen Idumäa (dem alttestamentlichen Edom), dessen Bewohner erst unter Johannes Hyrkanos I. (reg. 134–104 v. Chr.) das Judentum angenommen hatten. 1
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IV. Der zeitgeschichtliche Kontext
verfügte, sich aber auf der übergeordneten Ebene immer den machtpolitischen Interessen des römischen Imperiums zu fügen hatte. Es gelang ihm, das Territorium, über das seine Herrschaft sich erstreckte, im Laufe der Zeit immer mehr zu vergrößern, so dass es am Ende nahezu denselben Umfang hatte wie einst das davidisch-salomonische Großreich. Wenn man seine Herrschaft charakterisieren will, bekommt man ein ambivalentes Bild. Vor allen Dingen entfaltete er eine rege Bautätigkeit. Er gründete die Stadt Cäsarea am Meer als eine hellenistisch-römische Stadt mit einem Kaisertempel, der der Dea Roma und dem Caesar Augustus geweiht war. In Jerusalem ließ er den jüdischen Tempel vergrößern und prachtvoll neu ausbauen, so dass eine Anlage entstand, die im gesamten Imperium Romanum nicht ihresgleichen hatte. Herodes herrschte aber auch mit großer Brutalität und Grausamkeit. Tatsächliche und eingebildete Gegner ließ er reihenweise umbringen, unter ihnen auch eigene Ehefrauen und Kinder. Und selbst wenn die in Mt 2,16–18 erzählte Geschichte vom Kindermord in Bethlehem unhistorisch ist, so geht aus ihr doch hervor, was man ihm zutraute. Nach seinem Tod im Jahr 4 v. Chr. kam es zu schweren Unruhen, die von Publius Quinctilius Varus, dem damaligen römischen Statthalter in der Provinz Syrien, nur unter Einsatz von massiver militärischer Gewalt beendet werden konnten. Herodes’ Herrschaftsgebiet wurde im Wesentlichen unter drei Söhne aufgeteilt (vgl. Josephus, Ant. 17,317–320; Bell. 2,93–100)3: (Herodes) Philippus, ein Sohn von Herodes’ fünfter Ehefrau Kleopatra, bekam die Gaulanitis (den „Golan“) Vgl. dazu Karte 1 u. S. 313. – „Im Wesentlichen“ heißt: mit Ausnahme der Städte Gaza, Gadara und Hippos, die mit ihrem Umland der Verwaltung der Provinz Syrien unterstellt wurden.
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1. Der politische Rahmen
und andere Territorien östlich und nordöstlich des Sees Genezareth als Tetrarchie („Viertelfürstentum“) zugewiesen (reg. 4 v. Chr. – 34 n. Chr.).4 Sein Halbbruder (Herodes) Antipas, ein Sohn von Herodes’ vierter Frau Malthake, erhielt ebenfalls als Tetrarchie die nicht miteinander zusammenhängenden Gebiete Galiläa westlich vom See Genezareth und Peräa östlich des Jordan (reg. 4 v. Chr. – 39 n. Chr.). Er wurde dadurch nicht nur zum Landesherrn Jesu5, sondern er war es auch, der Johannes den Täufer umbringen ließ (Mk 6,14–29). Dessen Bruder (Herodes) Archelaos, ebenfalls ein Sohn Malthakes, wurde zum Ethnarchen („Volksfürsten“) über Judäa, Samaria und Idumäa eingesetzt. Er erwies sich jedoch als so unfähig, dass Augustus ihn auf Betreiben einflussreicher Judäer und Samaritaner im Jahr 6 n. Chr. aus seinem Amt entfernte und nach Gallien verbannte (vgl. Josephus, Ant. 17,342–344). Sein Herrschaftsgebiet wurde der römischen Provinz Syrien als Prokuratur angegliedert. Legat in Syrien war damals der bereits erwähnte Publius Sulpicius Quirinius6 von Lk 2,2, der in dem neu hinzugekommenen Territorium als erstes den Besitz der einheimischen Bevölkerung erfassen ließ, um die Höhe der von ihr aufzubringenden Abgaben festlegen zu können. Erster Präfekt in Judäa wurde Coponius, und als dessen vierter Nachfolger amtierte dann in den Jahren 26–36 Pontius Pilatus, der Jesus kreuzigen ließ. Aus Rücksicht auf jüdische Empfindlichkeiten nahm der Präfekt seinen Amtssitz Im Neuen Testament kommt er nur in Lk 3,1 vor. Seiner Erwähnung in Mk 6,17 und Mt 14,3 liegt ein Irrtum zugrunde, denn Herodias war die Frau nicht von Herodes Philippus, sondern von dessen Halbbruder Herodes Boëthos. Es war deren Tochter Salome, mit der Herodes Philippus verheiratet war. 5 Auch er wird in Lk 3,1 erwähnt; s. auch Lk 8,3; 9,7.9; 13,31; 23,6–12. 6 S. o. S. 58. 4
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IV. Der zeitgeschichtliche Kontext
nicht in Jerusalem, sondern in der von Herodes d. Gr. gegründeten Stadt Caesarea am Meer. In Jerusalem blieb auf der nördlich des Tempelbezirks gelegenen Burg Antonia7 lediglich eine Kohorte stationiert. Der Präfekt selbst kam nur dann nach Jerusalem, wenn es die Sicherheitslage seiner Meinung nach erforderlich machte. Das war u. a. vor allem dann der Fall, wenn hohe jüdische Feste gefeiert wurden, zu denen viele Juden in Jerusalem zusammenkamen.
2. Galiläa 2.1 Aufs Ganze gesehen „Galiläa“ (hebr. ha-gālī́l) war seit alttestamentlicher Zeit der Name einer Landschaft im Norden Palästinas. Durch die Teilung des herodianischen Großreiches im Jahre 4 v. Chr. wurde es ein Teil der Tetrarchie des Herodes Antipas. Mit Herodes Antipas hatte Galiläa auch zum ersten Mal in seiner Geschichte einen Regenten, der vor Ort, d. h. in einer galiläischen Stadt residierte. Das war zunächst mit dem Beginn seines Amtsantritts Sepphoris und dann ab 17 n. Chr. Tiberias am Westufer des Sees Genezareth8 – nach Josephus, Ant. 18,36 „der schönsten Gegend Galiläas“. Die Ostgrenze Galiläas wird durch den Lauf des Jordan markiert. Alle anderen Grenzen lassen sich nur ungefähr bestimmen. Die Ost-West-Achse Galiläas hatte eine Länge von gut 35 km, während für die Nord-Süd-Achse knapp 55 km zu veranschlagen sind. Insgesamt bedeckte es eine Fläche von etwas weniger als 1600 km². Galiläa war relativ 7 8
Vgl. Karte 3 u. S. 315. Vgl. Karte 2 u. S. 314.
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2. Galiläa
dicht besiedelt. Moderne Schätzungen rechnen mit einer Einwohnerzahl von 200.000 bis 300.000 Menschen. Das ergäbe eine Besiedlungsdichte von 125 bis knapp unter 190 Menschen pro km². Josephus teilt mit, dass es in Galiläa 204 Städte und Dörfer gab (Vita 235), und es gibt keinen Grund, an dieser Angabe zu zweifeln. Für Herodes Antipas galt in seinem Herrschaftsgebiet dasselbe, was bereits für Herodes d. Gr. galt: Er war ein von Rom abhängiger Klientelfürst, der zwar nach innen mit weitgehend freier Hand regieren konnte, dessen Autonomie aber nach außen immer durch die machtpolitischen Interessen der Römer begrenzt war. Und er war natürlich genauso wie die anderen beiden Herodes söhne gegenüber Rom tributpflichtig. Damit war das Imperium Romanum in Galiläa anders als in Judäa und Jerusalem nicht durch die Stationierung von Soldaten präsent, was dort immer wieder zu Zwischenfällen führte und eine zunehmende Spannung hervorrief, die dann im Jahre 66 n. Chr. in den jüdischen Krieg mündete. Demgegenüber sind aus Galiläa bis zum Ende der Herrschaft des Herodes Antipas, d. h. weit über die Lebenszeit Jesu von Nazaret hinaus, weder antijüdische Übergriffe römischer Soldaten bekannt noch antirömische Unruhen oder Aktionen von Seiten politisch aktiver Juden, wie es vor allem die Zeloten waren. 2.2 Orte und Wege Jesu Die Orte, die in den neutestamentlichen Evangelien als Stätten der Wirksamkeit Jesu erwähnt werden, liegen genauso wie Nazaret alle in Untergaliläa sowie in den unmittelbar nach Osten angrenzenden Gebieten.9 In den synoptischen Evangelien sind das vor allem der See Genezareth und Orte, die in seiner Nachbarschaft lie Vgl. dazu Karte 2 u. S. 314.
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IV. Der zeitgeschichtliche Kontext
gen: Kapernaum und Chorazin, Dalmanutha (Mk 8,10; wahrscheinlich am Nordwestufer des Sees Genezareth gelegen)10, Bethsaida in der Gaulanitis und das Gebiet der Dekapolis11 am Südostufer des Sees. – Lk 7,11–16 spielt etwas entfernt von diesen Orten in Naïn, das ca. 15 km südsüdöstlich von Nazaret liegt. Weit außerhalb Galiläas hält Jesus sich in Mk 7,24–31 auf: in Tyrus am Mittelmeer. In Mk 8,27 führt ihn sein Weg in die Umgebung von Cäsarea Philippi am Fuße des Hermon. Im Johannesevangelium begegnen wir Jesus außer in Kapernaum auch noch in Kana, das wahrscheinlich wie Nazaret im untergaliläischen Bergland lag, dessen genaue Lage aber unbekannt ist. Außerdem weiß das Johannesevangelium, dass Petrus und sein Bruder Andreas sowie Philippus aus Bethsaida in der Gaulanitis stammten (Joh 1,44; 12,21 [hier fälschlicherweise in Galiläa lokalisiert]). Bemerkenswert ist, dass es in den Evangelien keinerlei Jesusüberlieferung gibt, die in Sepphoris oder Tiberias angesiedelt ist. Über die Frage, wie dieser Befund zu interpretieren ist, gehen die Meinungen auseinander: Manche nehmen an, dass das Fehlen dieser beiden Städte seinen Grund darin habe, dass Jesus in ihnen auf Ablehnung gestoßen sei. Das ist jedoch wenig wahrscheinlich, denn in anderen Fällen wird Jesu Misserfolg in den Evangelien durchaus nicht verschwiegen (vgl. z. B. Mk 6,1–6a; Lk 10,13 und Mt 11,21). Als Alternative wurde vorgeschlagen, dass Jesus die beiden Städte gemieden habe, weil er Berührungsängste gegenüber Die genaue Lage ist unbekannt. Die Dekapolis war ein Verbund von zehn hellenistischen Städten östlich und südöstlich des Sees Genezareth, der sich im 1. Jh. v. Chr. gebildet hatte. Scythopolis lag als einzige Stadt auf der Westseite des Jordan. Die Zusammensetzung und auch die Zahl der zur Dekapolis gehörenden Städte wechselte im Laufe der Zeit mehrfach. Im Neuen Testament wird die Dekapolis in Mt 4,25; Mk 5,20; 7,31 erwähnt. 10 11
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2. Galiläa
der urbanen Kultur gehabt oder weil er sich durch Herodes Antipas bedroht gefühlt habe. Die zuletzt genannte Annahme liegt durchaus im Bereich des Möglichen, denn davon, dass Herodes Antipas gegen Jesus vorgehen wollte, ist in Lk 13,31 die Rede. Außerdem dürfte es Jesus nicht unbekannt geblieben sein, dass Herodes Antipas es war, der Johannes den Täufer ermorden ließ (Mk 6,17–29; s. auch Lk 3,19–20). In Mk 6,14 wird auch erzählt, dass Herodes Antipas Jesus und Johannes ausdrücklich miteinander in Verbindung bringt. Vielleicht gibt es aber auch überhaupt keinen besonderen Grund dafür, dass Jesus nicht in Sepphoris und Tiberias gewesen ist, denn von allen galiläischen Ortschaften hat er ganz offensichtlich nur ganz wenige aufgesucht. Von den Orten, die in den Evangelien als Orte des Wirkens Jesus identifiziert werden, liegen nur Nazaret, Kana, Naïn, Kapernaum, Chorazin und Dalmanutha in Galiläa. Der Radius seines Wirkens war insofern recht klein. Von Kapernaum aus wird Bethsaida in einer Entfernung von ca. 6 km lokalisiert, Chorazin von ca. 3 km und Tiberias von ca. 16 km. Nazaret war von Kapernaum ca. 48 km entfernt. 2.3 Galiläa und Jesus In den vergangenen Jahrzehnten sind die Kultur und die Geschichte Galiläas im 1. Jahrhundert n. Chr. inten siv untersucht worden.12 Zu den wichtigsten Ergebnissen dieser Forschungstätigkeit gehört, dass wir vor allem in Untergaliläa mit einer jüdisch geprägten Kultur zu rechnen haben, die sich nicht wesentlich von der Situation in Judäa unterschied. Selbstverständlich gab Vgl. vor allem Freyne, Galilee; Bösen, Galiläa; Chancey, Greco-Roman Culture; Claußen/Frey (Hg.), Jesus; Fiensy/Strange (ed.), Galilee, jeweils mit älterer Literatur.
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IV. Der zeitgeschichtliche Kontext
es Orte (vor allem größere wie Sepphoris und Tiberias), in denen der hellenistische Einfluss deutlicher wahrnehmbar war als in anderen (vor allem kleineren) Orten, doch änderte dies nichts am grundsätzlich jüdischen Charakter sowohl dieser Städte als auch von Galiläa insgesamt. Als falsch erwiesen hat sich damit die früher nicht selten vertretene Behauptung, in Galiläa habe es lediglich so etwas wie ein „Halbjudentum“ gegeben.13 Sie war in vielen Fällen von dem Interesse geleitet, Jesus vom „eigentlichen“ Judentum zu distanzieren oder gar zu trennen.14 Aber auch wenn kein Zweifel daran besteht, dass Galiläa genauso „jüdisch“ war wie Judäa und Jerusalem, sollte man nicht von einer wichtigen geographischen Gegebenheit absehen. Denn es war gerade die Lage Galiläas als eines von mehrheitlich nichtjüdischen Gebieten umgebenen jüdischen Territoriums, die es zu einem Durchgangsland machte, „das mit den umliegenden nicht-jüdischen Gebieten in regem Austausch stand“15. – Aufs Ganze gesehen war Galiläa nicht von politischen und sozio-ökonomischen Spannungen geprägt.16 Man muss sich jedoch vor Generalisierungen hüten, denn auch in Zeiten wirtschaftlicher Prosperität gibt es immer Menschen, die sozial und kulturell an den Rand gedrängt werden. Dass die Jesus-Bewegung gerade solche Menschen anzog, die aus ökonomischen und politischen Gründen entwurzelt waren, ist aber unwahrscheinlich. Texte wie Mk 10,28–29 und Lk 8,3 lassen vielmehr erkennen, dass mindestens ein Teil von Jesu Jüngern und Sympathisanten aus relativ gesicher-
Nicht selten berief man sich dabei auf das in Mt 4,15 zitierte Wort vom „Galiläa der Heiden“ in Jes 8,23. 14 Vgl. hierzu Deines, Galiläa und Jesus. 15 Schröter, Jesus aus Galiläa, 258. 16 Vgl. hierzu vor allem Ostmeyer, Armenhaus. 13
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2. Galiläa
ten Verhältnissen gekommen ist und sie für die Nachfolge Jesu aufgegeben hat.17 Darüber hinaus hat die intensive Erforschung Galiläas ergeben, dass es abgesehen von den Orten und Wegen Jesu und der möglichen Gefährdung durch Herodes Antipas18 in der erhaltenen Jesusüberlieferung nichts gibt, was durch galiläische Besonderheiten, d. h. durch Gegebenheiten der für Galiläa spezifischen religiösen, politischen oder sozio-ökonomischen Kultur veranlasst oder auf sie bezogen wäre. Die Reichweite, die Jesus seinem Reden und Handeln zuschrieb, ging vielmehr von Anfang an weit über den Kontext seiner kleinen galiläischen Heimat hinaus. Sie erstreckte sich auf ganz Israel und nahm theologisch sogar die gesamte Schöpfung in den Blick. Diese Dimension von Jesu Selbstverständnis wird auch daran erkennbar, dass er nicht in Galiläa blieb, sondern zusammen mit dem engsten Kreis seiner Anhänger nach Jerusalem zog, weil er erwartete, dass der Gott Israels dort erscheinen würde, um seine universale und ewige Herrschaft über die gesamte Schöpfung aufzurichten. Aber auch schon vor dem Beginn seines öffentlichen Auftretens hatte Jesus Galiläa hinter sich gelassen. Denn das früheste biographische Ereignis, von dem wir wissen, ist seine Begegnung mit Johannes dem Täufer, die weit außerhalb Galiläas stattfand, aller Wahrscheinlichkeit nach in Peräa am Ostufer des Jordan.19
S. dazu u. S. 241–245. S. dazu o. S. 69–71. 19 Vgl. Karte 1 u. S. 313. 17 18
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V. Johannes der Täufer 1. Im Neuen Testament und bei Josephus Das Bild, das die neutestamentlichen Texte von Johannes dem Täufer zeichnen, weist zahlreiche Facetten auf, die aber alle einen gemeinsamen Nenner haben: Johannes wird konsequent in das Licht Jesu von Nazaret gestellt. Das geht aus Texten wie Mk 1,2–8; Lk 1,76–79; Joh 1,6–8.19–34; Apg 19,4 hervor. Er wird als Vorläufer Jesu dargestellt. Dieser gilt als die eigentliche Heilsgestalt, und die Autoren dieser Texte schreiben Johannes dem Täufer lediglich die Aufgabe zu, Jesus den Weg zu bereiten. Er weist auf Jesus hin, indem er ihn als den „Stärkeren“ ankündigt, der nach ihm kommen und das Gericht vollziehen wird (Mk 1,7; Lk 3,16–17 und Mt 3,11–12). Zur Vorbereitung auf die Begegnung mit Jesus fordert er alle Menschen in Israel auf, umzukehren und sich von ihm, Johannes, im Jordan „zur Vergebung der Sünden“ taufen zu lassen (Mk 1,4; Lk 3,3; s. auch Mt 3,1.6). Außerdem wird in Mk 6,17–29 davon erzählt, dass speziell Herodes Antipas es ebenfalls mit dem Täufer zu tun bekam. Johannes hatte Herodes kritisiert, weil dieser seine Frau, eine Tochter des Nabatäerkönigs Aretas IV., entlassen und seinem Halbbruder Herodes Boëthos1 dessen Frau Herodias ausgespannt hat. Letzteres war nach jüdischem Recht verboten (vgl. Lev 18,16), und eben dies wirft Johannes seinem Landesherrn nach Mk 6,18 vor. Daraufhin sorgt Herodias dafür, dass Johannes umgebracht wird. In Mk 6,17 wird Herodes Boëthos mit (Herodes) Philippus verwechselt.
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V. Johannes der Täufer
Ein ganz anderes Bild zeichnet Flavius Josephus. In einem ausführlichen Bericht schreibt er über Johannes den Täufer (Ant. 18,116–119): (116) … Johannes, genannt „der Täufer“. (117) Diesen hatte Herodes (Antipas) umgebracht, einen guten Menschen, der die Juden aufgefordert hatte, nach Tugend zu streben, nämlich untereinander Gerechtigkeit und Gott gegenüber Frömmigkeit zu praktizieren sowie zur Waschung zu kommen. So erschien ihm auch die Waschung als wohlgefällig, weil sie sie nicht zur Abbitte von irgendwelchen Sünden benutzten, sondern zur Heiligung des Leibes, nachdem schon vorher die Seele durch (ein Leben in) Gerechtigkeit gereinigt wurde. (118) Als sich nun auch andere zusammenfanden, die durch diese Rede in höchstem Maße erregt waren, begann Herodes zu fürchten, dass solche Beredtsamkeit die Menschen zum Aufruhr treiben könnte, denn es sah so aus, dass sie in allem, was sie taten, seinem [des Johannes] Rat folgten. Herodes zog es darum vor, ihn rechtzeitig, bevor von ihm vielleicht eine Erhebung ausginge, aus dem Weg zu räumen, als abzuwarten und möglicherweise durch einen Umsturz in eine schwierige Lage zu geraten und dann einen Fehler eingestehen zu müssen. (119) Aufgrund von Herodes’ Besorgnis wurde er als Gefangener nach Machärus2 gebracht … und dort umgebracht.
Obwohl die neutestamentlichen Texte und Josephus ganz unterschiedliche Bilder von Johannes dem Täufer entwerfen, weisen sie doch deutliche Gemeinsamkeiten auf: Hier wie dort heißt Johannes „der Täufer“ (ho baptistḗs)3, und hier wie dort spielt seine „Taufe“ (baptismós oder báptisis) eine prominente Rolle.
Machärus war ursprünglich eine Befestigungsanlage im Süden von Peräa, die von Alexander Jannaios (reg. 103 – 76 v. Chr.) errichtet und von Herodes d. Gr. zu einer Residenz ausgebaut worden war (Josephus, Bell. 7,171–177). 3 Josephus, Ant. 18,116; Mt 3,1; 11,11–12; 14,2; 17,13; Mk 6,25; Mk 8,28; Lk 7,20.33. Diese Übereinstimmung ist umso bedeutsamer, als die griechische Bezeichnung ho baptistḗs („der Täufer“) in der gesamten griechischen Literatur der Antike sonst nirgendwo belegt ist. Sie findet sich nur mit Bezug auf Johannes, den „Täufer“. 2
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1. Im Neuen Testament und bei Josephus Zur Wortbedeutung ist noch zu sagen, dass das griechische Wort baptízō, das wir meistens mit „taufen“ übersetzen, eigentlich „eintauchen“ oder auch „waschen“ bedeutet.4 Erst durch den Bezug auf das christliche Initiationsritual wurde daraus „taufen“. Johannes ist also eigentlich „der Eintaucher“ oder „der Wäscher“ und die von ihm durchgeführte Handlung eine „Eintauchung“ oder „Waschung“.
Darüber hinaus wird bei Josephus wie im Neuen Testament Herodes Antipas für Johannes’ Tod verantwortlich gemacht. Ebenso deutlich treten aber auch die Unterschiede hervor: Während die neutestamentlichen Texte Johannes als einen eschatologischen Propheten darstellen, der angesichts des unmittelbar bevorstehenden Gerichts zur Umkehr auffordert, präsentiert Josephus ihn als einen ethischen Lehrer, der seine jüdischen Zeitgenossen zu einem gerechten und gottgefälligen Lebenswandel auffordert. Dementsprechend dient die Johannes-„Taufe“ bei Josephus nicht wie im Neuen Testament der Sündenvergebung, sondern der „Heiligung des Leibes“ aller gerecht und fromm lebenden Juden. Sie hat darum nur eine äußerliche Wirkung; die „Seele“ wurde schon vorher durch einen ethisch einwandfreien Lebenswandel „gereinigt“. Auch der Tod des Johannes bekommt einen anderen Grund. Nach Mk 6,17–29 und Mt 14,1–12; Lk 3,19–20 wurde Johannes wegen seiner Kritik an Herodes’ Ehebruch ermordet. Demgegenüber stirbt er bei Josephus aus Gründen der Staatsräson: Herodes hält es für möglich, dass von Johannes eine seine Herrschaft bedrohende Aufstandsbewegung ausgeht, und zieht ihn darum lieber aus dem Verkehr. Darüber hinaus ergänzen sich die neutestament lichen Texte und Josephus aber auch gegenseitig: Bei Josephus ist die Information, dass Johannes von Hero Vgl. in der Septuaginta 2Kön 5,14; Jdt 12,7; Sir 34,25 sowie im Neuen Testament Mk 7,4; Hebr 9,10. 4
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V. Johannes der Täufer
des Antipas in der in Peräa gelegenen Festung Machärus gefangen gesetzt und dort umgebracht wurde, nicht unwichtig. Aus ihr geht hervor, dass Johannes am Ostufer des Jordans aufgetreten ist, und zwar in Peräa, dem anderen Teil der Tetrarchie des Herodes Antipas5. Nur unter dieser Voraussetzung hatte Herodes Antipas Zugriff auf Johannes den Täufer, so dass er ihn gefangen nehmen und dann umbringen lassen konnte. Auch Joh 10,40 spricht davon, dass Johannes „jenseits des Jordans“ getauft hat (s. auch 3,26). – Ob die lukanische Mitteilung, dass Johannes aus einer priesterlichen Familie stammte und seine Eltern Zacharias und Elisabeth hießen, auf zuverlässiger biographischer Erinnerung basiert, muss offen bleiben.6 Wenig aussagekräftig ist auch Lk 3,1–2a mit der Datierung von Johannes’ Auftreten in das 15. Jahr der Regierung des römischen Kaisers Tiberius (reg. 11/12–37 oder 14–37 n. Chr.), denn wir wissen nicht, wie Lukas diesen Zeitpunkt berechnet hat.7 Damit stehen wir bei Johannes dem Täufer vor derselben Frage wie bei Jesus von Nazaret: Wie verhält sich das Bild, das Johannes von sich selbst und seiner Aufgabe hatte, zu den Johannes-Bildern, die wir in den Quellen vorfinden?
S. dazu Karte 1 u. S. 313. Dass Maria und Elisabeth (und damit auch Johannes und Jesus) miteinander verwandt waren (so Lk 1,36), ist unwahrscheinlich. Lukas konstruiert ein solches Verhältnis vielmehr aus erzählerischen Gründen. Er will, dass Maria mit Elisabeths Situation vertraut ist (erst Kinderlosigkeit, dann Schwangerschaft), und braucht einen Grund für den Besuch Marias bei Elisabeth (1,39–40). 7 S. dazu Wolter, LkEv, 155. 5 6
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2. Johannes der Täufer – ein Prophet
2. Johannes der Täufer – ein Prophet Der Text, dem wir Informationen über die Botschaft entnehmen können, mit der Johannes in der jüdischen Öffentlichkeit aufgetreten ist, findet sich in Lk 3,7– 9.16–17 und Mt 3,7–12. Beide Texte stimmen sehr weitgehend miteinander überein. Ihre Vorlage stand im Spruchevangelium8 und hatte vermutlich den folgenden Wortlaut: (7) Schlangenbrut! Wer hat euch in Aussicht gestellt, dem bevorstehenden Zorn zu entrinnen? (8) Bringt darum Frucht, die der Umkehr entspricht, und meint nicht, euch selbst einreden zu können: „Wir haben Abraham zum Vater“. Denn ich sage euch: Gott kann dem Abraham aus diesen Steinen Kinder erwecken. (9) Die Axt ist schon an die Wurzel der Bäume gelegt, und jeder Baum, der nicht gute Frucht bringt, wird umgehauen und ins Feuer geworfen. (16) Ich tauche euch in Wassser zur Umkehr. Der nach mir kommt, ist jedoch stärker als ich. Ich bin nicht würdig, seine Sandalen zu bringen. Er wird euch in Feuer tauchen. (17) Seine Schaufel ist in seiner Hand, und er wird seinen Dreschplatz aufräumen und den Weizen in seiner Scheune sammeln. Das Stroh aber wird er in unauslöschlichem Feuer verbrennen.
Dieser Text macht das Bild eines typischen Unheilspropheten sichtbar. Johannes hat ein unmittelbar bevorstehendes und umfassendes Vernichtungshandeln Gottes angekündigt. Die Stichworte „Zorn“ und „Feuer“ verbinden sich schon im Alten Testament miteinander, wenn Gottes Strafgericht über die Sünder und Frevler angekündigt wird.9 Für die Durchführung dieses Gerichts Zu ihm s. o. S. 37 f. Vgl. z. B. Jes 30,27: „Siehe, des Herrn Name kommt von ferne! Sein Zorn brennt, und mächtig erhebt er sich; seine Lippen sind voll Grimm und seine Zunge wie ein verzehrendes Feuer“; Ez 21,36: „Und ich will meinen Zorn über dich ausschütten; ich will das Feuer meines Grimms über dich entfachen“; Mal 3,19: „Denn siehe, der Tag kommt, der wie ein Backofen brennt. Da werden alle Frechen und alle, die 8 9
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V. Johannes der Täufer
wird Gott selber auf die Erde kommen. Es ist darum Gott, den Johannes in Lk 3,16–17 und Mt 3,11–12 (s. auch Mk 1,7–8) als den „Stärkeren“ ankündigt, der „in Feuer tauchen wird“10 und der den einen Heil zuweisen („in seiner Scheune sammeln“) und die anderen vernichten („in unauslöschlichem Feuer verbrennen“) wird. Dieses Gericht steht nicht nur unmittelbar bevor, sondern es kommt auch unbedingt. Es ist unabwendbar und ergeht auch über Israel. Kein Jude kann sich mehr darauf berufen, dass er zu dem Volk gehört, das Gott sich in Abraham zu seinem Eigentumsvolk erwählt hat (Lk 3,8 und Mt 3,9). Möglicherweise hat Johannes sich als Elias redivivus verstanden, den Gott nach Mal 3,23–24 senden will, „bevor der große und furchtbare Tag des Herrn kommt“.11 Johannes kündigt zwar an, dass das Vernichtungsgericht auf jeden Fall stattfinden wird, doch gibt es bei ihm natürlich auch eine Heilsperspektive. Aus Lk 3,9.17 und Mt 3,10.12 geht hervor, dass das kommende Gericht keigottlos handeln, Stroh sein. Und der kommende Tag wird sie verbrennen …“. 10 Mit großer Wahrscheinlichkeit hat Johannes der Täufer nur von einer „Eintauchung“ „in Feuer“ gesprochen. Der „heilige Geist“, von dem auch in Lk 3,16 und Mt 3,11 gesprochen wird, ist hier aus Mk 1,8 eingedrungen, wo Johannes als Heilsprophet dargestellt wird. 11 Als solchen hat ihn dann jedenfalls die christliche Überlieferung dargestellt; vgl. Mk 9,13; Mt 11,14; Lk 1,17 (s. auch Mk 1,2). Die Tradition, dass Johannes in der Nähe der Stelle auftrat, von der aus Elia nach 2Kön 2,11 entrückt wurde, ist erstmals im Reisebericht des Pilgers von Bordeaux aus dem Jahr 333 n. Chr. belegt (Itinerarium Burdigalense 19 [CSEL 39, S. 24, Zl. 20–21; dt. Übers. bei Donner, Pilgerfahrt, 61]). – Dass schon der historische Johannes das in Mk 1,2 zitierte Wort aus Jes 40,3 („Stimme eines Rufenden in der Wüste: Bereitet den Weg des Herrn, macht seine Pfade eben!“) benutzt hat, um sich und seine Sendung zu charakterisieren, ist aber unwahrscheinlich. Hier spricht ein Heilsprophet, der ankündigt, dass Gott kommt, um Israel Heil zu bringen. Das ist beim Täufer genau umgekehrt.
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3. Johannes der Täufer – „mehr als ein Prophet“
neswegs nur Unheil über die Menschen bringen wird. Es gibt vielmehr auch Menschen, die nicht zu den Bäumen gehören, die „umgehauen und ins Feuer geworfen werden“, sondern die wie „Weizen“ in Gottes „Scheune gesammelt werden“. Das heißt: Johannes eröffnet den Menschen durchaus die Möglichkeit, vom kommenden „Zorn“ und „Feuer“ Gottes verschont zu werden und sich am Ende auf der Heilsseite wiederzufinden. Auch auf welchem Weg er seine Hörer zu diesem Ziel führen wollte, geht aus den neutestamentlichen Texten deutlich hervor. Es ist der Weg, der ihm den Beinamen „der Täufer“ eingebracht hat und der ihn gleichzeitig „mehr“ sein lässt als ein Prophet: die durch ihn selbst praktizierte „Taufe der Umkehr zur Vergebung der Sünden“ (Mk 1,4 und Lk 3,3; s. auch Mt 3,11; Apg 13,24; 19,4).
3. Johannes der Täufer – „mehr als ein Prophet“ (Lk 7,26 und Mt 11,9) „Mehr als ein Prophet“ ist Johannes, weil er sich nicht darauf beschränkt, das kommende Unheil anzukündigen, sondern weil er mit der von ihm propagierten Taufe auch das Mittel bereitstellt, das diejenigen, die es ergreifen, vor der Vernichtung bewahrt. Symbolische Waschungen, die nicht lediglich von äußerer Unsauberkeit, sondern von kultischer Unreinheit sowie von Schuld und von Sünde befreien sollten, waren in der Umwelt des Täufers weit verbreitet.12 Nach Mt 27,24 Vgl. für das Alte Testament z. B. Lev 15,19–22; Num 19,16–19; Dtn 23,11–12; s. auch Jdt 12,5–9. Eine große Rolle spielten rituelle Waschungen in der Gemeinschaft von Qumran und bei den Essenern (vgl. 1QS 3,4–6; 5,13–14; CD 11,18–23; Josephus, Bell. 2,128–129.138.149). 12
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V. Johannes der Täufer
wäscht auch Pilatus seine Hände in Unschuld, bevor er Jesus zum Tode verurteilt. Was vor diesem Hintergrund die Besonderheit der Johannestaufe ausmacht, sind vor allem drei Elemente: Zum einen wurde sie nicht als Selbstwaschung praktiziert, sondern sie war an die Person eines bestimmten und nicht austauschbaren Täufers gebunden, der die Handlung des Eintauchens nicht nur selbst vollzog, sondern auch ihre theologische Bedeutung festlegte. Zum anderen war die Johannestaufe im Unterschied zu allen anderen religiösen Waschungen in der Umwelt ein einmaliger Vorgang. Sie wurde nicht nur von Gott anerkannt, sondern beanspruchte auch eine eschatologische Reichweite, weil sie darüber entschied, wem Gott ewiges Heil und wem ewiges Unheil zuweisen wird. Und zum dritten schließlich war sie als „Taufe der Umkehr“ (Mk 1,4 mit der Parallele in Lk 3,3; Apg 13,24; 19,4; s. auch Mt 3,11) eine Bekehrungstaufe. Ihr ging ganz offensichtlich ein Bekenntnis der Sünden voraus (Mk 1,5 und Mt 3,6), und die sich daran anschließende Eintauchung in den Jordan war es, die Johannes nach Mt 3,8 als „Frucht“ bezeichnet, „die der Umkehr entspricht“.13 Die Taufe ist bei Johannes darum keine Ini tiationstaufe, die die Getauften in eine Gemeinschaft eingliedert14. Dem entspricht, dass sich in der Überlieferung, die auf den historischen Täufer zurückgeht, keine Aussagen über den Lebenswandel finden, den die Getauften in Zukunft an den Tag legen sollen. Die sog. Standespredigt in Lk 3,10–14 hat Lukas dem Täufer In der Parallele Lk 3,8 steht der Plural: „Bringt Früchte, die der Umkehr entsprechen“. Damit wird die Aufforderung des Täufers ethisiert und auf die sog. Standespredigt in Lk 3,10–14 bezogen, die aber von Lukas stammt. 14 So deutet Paulus die christliche Taufe in 1Kor 12,13 und in Gal 3,27–28. 13
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3. Johannes der Täufer – „mehr als ein Prophet“
in den Mund gelegt, weil er ihn ganz ähnlich wie Flavius Josephus als einen ethischen Lehrer darstellen will. In ihr kommt darum das spezifisch lukanische Täuferbild zum Ausdruck. Beides, der Verzicht auf die Gründung einer Gemeinschaft von „Täuferschülern“ und das Fehlen von Weisungen zur Lebensführung, dürfte seinen Grund in der Naherwartung des Täufers gehabt haben: Für Johannes stand das Hereinbrechen von Gottes Zorngericht so nahe bevor (vgl. Lk 3,9 und Mt 3,10: „schon ist die Axt an die Wurzel der Bäume gelegt“), dass vor allem die Frage nach der Gestaltung des Lebens der Getauften zwischen ihrer Taufe und dem Kommen des „Stärkeren“ (Mk 1,7–8; Lk 3,16–17 und Mt 3,11–12) sich überhaupt nicht gestellt hat. Mit der Taufpraxis Johannes’ des Täufers und ihrer theologischen Deutung geht eine radikale Individualisierung einher. Die durch die Abstammung von Abraham vermittelte Zugehörigkeit zu Israel ist angesichts des kommenden Vernichtungsgerichts nichts mehr wert. Was allein zählt, ist die von jedem einzelnen geforderte Umkehr, die ihren Ausdruck darin findet, dass man sich von Johannes „taufen“ lässt. Alles hängt davon ab, wie jeder einzelne auf die Verkündigung des Täufers reagiert. Ob man beim Kommen des Feuerrichters auf der Heilsseite oder auf der Unheilsseite steht (mit dem Bild von Lk 3,17 und Mt 3,12 gesagt: ob man zum Weizen oder zum Stroh gehört), hängt somit einzig und allein davon ab, ob man sich von Johannes hat „taufen“ lassen oder nicht. Johannes erhebt damit den Anspruch, dass seiner „Taufe“ die Wirkung eines quasi sakramentalen Vorgangs zukommt. Wer getauft ist, dem hat Gott die Sünden definitiv vergeben, und als der kommende „Stärkere“ wird er das Ergebnis nur noch ratifizieren, indem er den Getauften (nach Lk 3,17 und Mt 3,12 dem „Weizen“) Heil zuweist und über alle anderen (das „Stroh“) Unheil bringt. Die Trennung zwi-
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V. Johannes der Täufer
schen ihnen hat bereits Johannes der Täufer vorgenommen, und daran wird Gott nichts mehr ändern. Die Evangelien und Josephus berichten übereinstimmend, dass Johannes bei seinen jüdischen Zeitgenossen große Resonanz fand. Einer von denen, die zu ihm kamen, ihre Sünden bekannten und sich von ihm taufen ließen, war Jesus von Nazaret.
4. Jesus und Johannes 4.1 Die Taufe Jesu Nach der Kreuzigung durch Pontius Pilatus ist Jesu Taufe durch Johannes das historisch am besten gesicherte Ereignis in seinem Leben. Das kann man so zuversichtlich sagen, weil kaum ein frühchristlicher Autor sich einfallen lassen würde, den irdischen Christus15, der doch eigentlich der von Johannes angekündigte „Stärkere“ ist, an die Seite von Menschen zu stellen, die ihre Sünden bekennen und sich einer „Taufe der Umkehr zur Vergebung der Sünden“ (Mk 1,4 und Lk 3,3; s. auch Mt 3,11; Apg 13,24; 19,4) unterziehen. Die Schwierigkeiten, die christliche Autoren mit Jesu Taufe durch Johannes haben, kommt schon in Mt 3,14 zum Ausdruck, wo Johannes Jesu Taufbegehren mit den Worten abwehrt: „Ich habe es nötig, mich von dir taufen zu lassen, und du kommst zu mir?“16 Zu ihm s. o. S. 24 f. Vgl. auch die Erzählung im Nazaräerevangelium (Frgm. 2 bei Hieronymus, Adversus Pelagianos 3,2 [CChr.SL 80, S. 99,5–9]; dt. nach J. Frey, in: ACA I/1, 642): „Siehe, die Mutter des Herrn und seine Brüder sprachen zu ihm (sc. Jesus): ‚Johannes tauft mit einer Taufe zur Vergebung der Sünden; wir wollen hingehen und uns von ihm taufen lassen‘. Er aber sprach zu ihnen: ‚Was habe ich gesündigt, dass 15 16
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4. Jesus und Johannes
Daraus, dass Jesus sich von Johannes hat taufen lassen, können wir schließen, dass er der Botschaft des Täufers zugestimmt hat, weil er von ihrer Wahrheit überzeugt war: dass Gott binnen Kurzem die Menschheit mit einem Vernichtungsgericht überziehen wird, dass Israel seine Erwählungsprivilegien verloren hat und dass nur diejenigen vor diesem Gericht bewahrt werden, die von Johannes „zur Vergebung der Sünden“ getauft wurden. Es bleibt dabei freilich eine biographische Lücke: Wir wissen nicht, was Jesus aus Nazaret zu Johannes geführt hat. Wir wissen nicht, ob er in seiner galiläischen Heimat vom Täufer gehört und diesen gezielt aufgesucht hat, oder ob er aus anderen Gründen an den Jordan gekommen und erst dort dem Täufer begegnet ist.17 Genauso wenig können wir auch sagen, aus welchen Gründen Jesus die prophetische Gerichtsankündigung, mit der Johannes seine Umkehrforderung begründet hat, für plausibel hielt. Es gab ja unter seinen jüdischen Zeitgenossen auch genügend andere, die dem Täufer keinen Glauben schenkten und sich nicht taufen ließen. Das war bei Jesus anders, ohne dass wir aber wüssten, warum das Programm, mit dem Johannes der Täufer auftrat, bei ihm auf fruchtbaren Boden fiel. Darüber hinaus wissen wir nicht, wie es mit Jesus unmittelbar nach seiner Taufe weiterging. Es ist wahrscheinlich, dass er sich noch eine Zeitlang in der Nähe des Täufers aufgehalten hat. Trotzdem wird man nur mit großer Zurückhaltung sagen können, dass er ein „Täuferschüler“ war, denn dass Johannes als Bestandteil seines Programms so etwas wie einen „heiligen Rest“18 ich hingehe und von ihm getauft werde? Außer, dass vielleicht das, was ich gesagt habe, eine Unwissenheit(ssünde) gewesen ist‘.“ 17 Es ist auch möglich, dass Jesus bei einem Besuch in Jerusalem von Johannes gehört und ihn dann von dort aus aufgesucht hat. 18 Backhaus, Jesus, 248.
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V. Johannes der Täufer
als Keimzelle eines neuen Israel gesammelt oder eine Gemeinde von Getauften gegründet hätte, ist nicht nur nicht erkennbar, sondern aus den im vorangegangenen Abschnitt genannten Gründen auch unwahrscheinlich. Auf der anderen Seite kann man der Johannes-Taufe nicht absprechen, dass von ihr de facto doch eine gemeinschaftsstiftende und gruppenbildende Wirkung ausging. Dazu musste es, je länger das angekündigte Vernichtungsgericht ausblieb19 und der Täufer noch aktiv war, mehr oder weniger zwangsläufig kommen. Nicht jeder, der sich von Johannes taufen ließ, ist danach gleich wieder nach Hause gegangen, sondern es ist damit zu rechnen, dass eine nicht geringe Zahl von ihnen beim Täufer blieb und schon dadurch dafür sorgte, dass in dessen unmittelbarer Umgebung so etwas wie eine Gruppe oder eine Gemeinschaft von „Johannes-Getauften“ entstand und auch über einen gewissen Zeitraum hinweg existierte.20 Erst die Festnahme und Ermordung des Täufers durch Herodes Antipas wurde dann zum Anfang ihres Endes. Mehr als Vermutungen können solche Überlegungen aber nicht sein. Erheblich festeren Boden haben wir unter den Füßen, wenn wir der Erzählung in Joh 1,35–51 einen historischen Kern zuschreiben und annehmen, dass einige Dass das Ausbleiben des angekündigten Gerichts noch zu Johannes’ Lebzeiten als Problem empfunden wurde, lässt die Anfrage erkennen, die in Lk 7,19 und Mt 11,3 überliefert ist: „Bist du es, der da kommen soll, oder sollen wir auf einen anderen warten?“ Auch Lk 3,9.17 und Mt 3,10.12 passt in diesen Zusammenhang. 20 In Apg 19,1–7 erzählt Lukas, dass Paulus in Ephesus auf eine Gruppe von zwölf Johannesjüngern traf. Ob diese Begegnung aber tatsächlich stattgefunden hat, ist mehr als zweifelhaft, denn das kulturkritische Ethos des Täufers (sein Aufenthaltsort sowie seine Kleidung und seine Speise) macht es unwahrscheinlich, dass es seine Anhänger in eine Metropole wie die Hauptstadt der römischen Provinz Asia verschlagen haben könnte. 19
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4. Jesus und Johannes
der nachmaligen Jünger Jesu ursprünglich Jünger Johannes’ des Täufers waren und Jesus mit ihnen erstmals im Umfeld Johannes’ des Täufers zusammengetroffen ist. Von den vier dort namentlich genannten Johannesjüngern kehren drei, nämlich das Brüderpaar Andreas (V. 40) und Simon gen. Kephas/Petrus (V. 41–42) sowie Philippus (V. 43–46), als Mitglieder des Zwölferkreises wieder (Mk 3,16–18; Apg 1,13).21 Alle drei stammen aus Bethsaida (Joh 1,44). Sollte diese Darstellung einen belastbaren historischen Kern haben, hätte Jesus einen Teil seiner späteren Jünger bei Johannes dem Täufer kennengelernt. Für diese Annahme spricht auch, dass die Jerusalemer Urgemeinde, deren Kern der Zwölferkreis war, nach Ostern eine Taufe praktizierte, deren Gestalt und Interpretation der Johannestaufe stark ähnelte. Auf der anderen Seite sollte aber auch nicht verschwiegen werden, dass in Mk 1,16–20 eine andere Geschichte erzählt wird: Ihr zufolge hätte Jesus seine ersten Jünger, die Brüderpaare Simon Kephas/Petrus und Andreas sowie Johannes und Jakobus, beim Fischen bzw. beim Netzeflicken am See Genezareth getroffen und in seine Nachfolge gerufen. 4.2 Gemeinsamkeiten und Unterschiede 4.2.1 Drei Elemente, die Johannes und Jesus mitein ander gemeinsam haben, sind unstrittig: zum einen die Sendung zu Israel, zum anderen die Gewissheit, dass das Kommen Gottes unmittelbar bevorsteht, und zum dritten die Forderung der Umkehr. Wie diese Elemente in der Verkündigung Jesu aufeinander bezogen sind und inhaltlich gefüllt werden, ist eine andere Frage. Sie wird uns im Folgenden immer wieder beschäftigen. Der vierte, Nathanael (Joh 1,45–50), kommt in den synoptischen Evangelien nicht vor. Nach Joh 21,2 stammte er aus Kana in Galiläa. 21
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V. Johannes der Täufer
Darüber hinaus haben Johannes und Jesus miteinander gemeinsam, dass das Kommen Gottes Heil und Unheil gleichermaßen mit sich bringen wird. Es ist darum auf keinen Fall so, dass Johannes die dunkle Gestalt ist und Jesus die helle, d. h. dass Johannes als Unheilssprophet aufgetreten ist und mit dem zornigen Gott gedroht hat, während Jesus als Heilsprophet die frohe Botschaft vom liebenden und barmherzigen Gott verkündigt hat. Es ist aber auch nicht einmal so, dass beide zwar das Kommen von Heil und Unheil angekündigt hätten – Jesus also auch Unheil und Johannes auch Heil –, jedoch mit ganz unterschiedlicher Gewichtung. So heißt es oft, dass Johannes das Unheil in den Vordergrund gestellt und „apodiktisch, nicht bedingt“ vom Gericht22, aber nur „bedingt“ vom Heil gesprochen und seine Umkehrforderung vom Zorn Gottes her begründet habe (das kommende Heil sei nur ein „Nebenmotiv“23), während es bei Jesus genau umgekehrt gewesen sei: Das Heil komme „unbedingt“, und das Gericht ergehe nur über diejenigen, die den Ruf zum Heil ausschlagen. Bei Jesus werde dementsprechend die Umkehrforderung von der Heilszuwendung Gottes her begründet.24 Tatsächlich dürfte es in dieser Hinsicht aber keinen substantiellen Unterschied zwischen Johannes und Jesus gegeben haben, denn aus Lk 12,58–59 und 13,1–5 geht hervor, dass Jesus seine Umkehrforderung durchaus auch mit einer massiven Gerichtsdrohung begrün Merklein, Gottesherrschaft, 147. Becker, Johannes der Täufer, 22; Ernst, Johannes der Täufer, 308. 24 S. u. a. Becker, Johannes der Täufer, 97; Merklein, Jesu Botschaft, 36. Lediglich als unterschiedlichen rhetorischen Gestus beschreibt M. Reiser die Differenz zwischen Johannes und Jesus: „Gericht und Heil sind zwei Seiten einer Medaille. Der Täufer hält dem Volk die Gerichtsseite vor, Jesus die Heilsseite; aber beide wissen, was auf der anderen Seite ist, und machen auch keinen Hehl daraus“ (Gerichtspredigt, 307). 22 23
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4. Jesus und Johannes
den konnte, und umgekehrt lässt die Gegenüberstellung des unterschiedlichen Geschicks von Stroh und Weizen in Lk 3,17 und Mt 3,12 erkennen, dass die Ankündigungen von Unheil und Heil auch bei Johannes gleichgewichtig nebeneinanderstehen konnten. Auch an dieser Stelle gibt es darum keinen Unterschied zwischen Johannes und Jesus: Beide kündigen das Kommen Gottes an, und bei beiden bringt dieses Kommen sowohl Heil als auch Unheil über die Menschen. 4.2.2 Sehr viel schwerer zu beantworten ist die Frage, ob auch Jesus getauft hat. Die neutestamentlichen Texte vermitteln kein eindeutiges Bild: In den synoptischen Evangelien wird eine Tauftätigkeit Jesu mit keinem Wort erwähnt. Demgegenüber ist in Joh 3,22.26; 4,1 davon die Rede, dass Jesus nach Judäa kam, sich dort längere Zeit aufhielt und dabei taufte.25 Diese Tätigkeit übte er noch zu Lebzeiten und in Konkurrenz zu Johannes dem Täufer aus. Erst bei der letzten dieser drei Erwähnungen ergänzt der Evangelist ein Dementi: „… wobei jedoch Jesus selbst nicht taufte, sondern seine Jünger“ (4,2). – Gegen die Annahme einer Tauftätigkeit Jesu lassen sich drei Gründe anführen: dass sie bei den Synoptikern gänzlich unerwähnt bleibt, dass die frühe Kirche ihre eigene Taufpraxis niemals mit Verweis auf Jesu Tauftätigkeit legitimiert hat und dass in Joh 4,1 mit der Gleichsetzung von „taufen“ und „Jünger machen“ ein christliches Taufverständnis vorausgesetzt ist, wie aus der Wiederkehr derselben Kombination im Missionsund Taufbefehl von Mt 28,19 hervorgeht. Nicht zufällig haftet die Bezeichnung ho baptistḗs („der Täufer“) darum In 3,22 heißt es einfach „… und taufte“, in 3,26 bekommt Johannes erzählt: „dieser (sc. Jesus) tauft, und alle kommen zu ihm“, und in 4,1 wird berichtet, „dass Jesus mehr Jünger macht und tauft als Johannes“.
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auch einzig und allein an Johannes.26 Es gibt keinen anderen, der so genannt würde. Auch von einem längeren Aufenthalt Jesu und seiner Jünger in Judäa, von dem in Joh 3,22 die Rede ist, wissen die synoptischen Texte nichts. Aus diesem Grunde wird man wohl annehmen müssen, dass der ursprüngliche Verfasser des JohEv Jesu Tauftätigkeit erfunden hat, um einen Anlass für die in Joh 3,27–36 erzählte Rede des Täufers zu schaffen. Es spricht darum mehr dafür, dass Jesus nicht getauft hat. 4.2.3 Damit sind aber schon die Unterschiede zwischen Johannes und Jesus in den Blick getreten. Alle drei synoptischen Evangelien lassen mit großer Eindeutigkeit erkennen, dass im Zentrum der Verkündigung Jesu das jüdische Heilskonzept der Königsherrschaft Gottes (griech.: basileía tou theoú) steht. Es spielt in der Botschaft Johannes des Täufers keine Rolle.27 Für Jesus ist im Unterschied zu Johannes darüber hinaus typisch, dass er seine Botschaft häufig durch das Erzählen von Gleichnissen vermittelt28, dass er Menschen in seine Nachfolge ruft29 und dass er ethische Weisungen gibt30. Auch in seinem Handeln und Verhalten unterscheidet Jesus sich von Johannes: Während Johannes sich in der „Einöde“ (érēmos) aufhielt31 und die Menschen zu ihm „hinauskamen“ (Mk 1,5), spielt Jesu Wirksamkeit sich S. o. S. 76 Anm. 3. Nach Mt 3,2 kündigt zwar auch Johannes das Kommen der Königsherrschaft Gottes an, doch spricht hier nicht der historische, sondern der matthäische Johannes. Es ist der Evangelist gewesen, der dem Täufer hier die Zusammenfassung von Jesu Verkündigung von Mk 1,15 („nahe herbeigekommen ist die Königsherrschaft Gottes“) in den Mund gelegt hat. 28 Vgl. S. 169–193. 29 S. u. S. 236–241. 30 Vgl. S. 197–213. 31 Vgl. Mk 1,4; Mt 3,1; Lk 3,2; 7,24 und Mt 11,7. 26 27
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4. Jesus und Johannes
dort ab, wo die Menschen leben, d. h. in den Dörfern und Kleinstädten Galiläas und Umgebung32. Und zum Schluss zieht er mit dem engsten Kreis seiner Anhänger sogar nach Jerusalem. Auch dass Jesus als charismatischer Heiler und Exorzist tätig war33, unterscheidet ihn von Johannes, und dann natürlich auch sein Ernährungsstil: Ganz anders als der Täufer, der sich von „Heuschrecken und wildem Honig“ ernährte (Mk 1,6), lebte Jesus nicht asketisch und galt darum im Urteil seiner Zeitgenossen als „Fresser und Weinsäufer“ (Lk 7,33–34 und Mt 11,18–19).34 Und schließlich markiert auch noch die Einsetzung des Zwölferkreises durch Jesus, in der zum Ausdruck kommt, dass seine Verkündigung auf die Sammlung ganz Israels abzielt35, einen deutlichen Unterschied zum Programm Johannes’ des Täufers. 4.2.4 Mit diesen unterschiedlichen Merkmalen des Auftretens von Johannes und Jesus verbindet sich eine grundsätzliche theologische Differenz, die beide voneinander trennt und einen nicht überbrückbaren Bruch zwischen ihnen markiert. Sie hat ihren Grund in dem theologischen Anspruch, mit dem Jesus auftritt. Das gilt zunächst in einem ganz äußerlichen Sinne: Schon durch das Faktum seines eigenen Auftretens bestreitet Jesus die Ankündigung des Täufers, dass nach ihm nur noch Gott mit Zorn und Feuer kommt. Erst kommt vielmehr noch er, Jesus, und Johannes ist gegen seinen eigenen Anspruch nicht mehr der letzte, sondern nur noch der vorletzte Bote Gottes. Darüber hinaus werden aber auch die Verkündigung des Täufers und seine Taufe entwertet: Der theologische 34 35 32 33
S. o. S. 69–71. Vgl. S. 125–151. Vgl. S. 153–167. S. u. S. 250–252.
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V. Johannes der Täufer
Anspruch, mit dem Jesus auftritt, macht es unwichtig, ob man von Johannes getauft wurde oder nicht, denn über die Zuweisung von Heil und Unheil entscheidet jetzt einzig und allein, wie man sich zur Verkündigung Jesu verhält.36 Darin liegt eine zweifache Konsequenz, die dem soteriologischen Anspruch der Johannestaufe widerspricht: Zum einen können auch Menschen, die sich nicht von Johannes haben taufen lassen, bei Gottes Kommen auf der Heilsseite stehen, wenn sie auf Jesu Verkündigung hin umgekehrt sind. Für die Teilhabe am Heil, das Gott mitbringt, wenn er kommt, braucht man die Johannestaufe darum nicht. Und zum anderen hilft es Menschen, die den Anspruch Jesu zurückweisen, überhaupt nichts, wenn sie vorher von Johannes getauft wurden. Jesus spricht der Johannestaufe damit genau das ab, was Johannes ihr zugeschrieben hat: dass sie das Mittel ist, das nicht nur alle Getauften, sondern auch nur sie aus dem Zorn, den Gott in allernächster Zeit über die Menschen bringen wird, zuverlässig rettet. Dieses Verhältnis der Selbstauslegung Jesu zu Johannes dem Täufer hat vielleicht in Jesu Wort über Johannes seinen Niederschlag gefunden, das in Lk 7,28 und Mt 11,11 überliefert ist: Dort sagt Jesus über ihn, dass es zwar unter den Menschen „keinen gibt, der größer als Johannes“ sei, doch sei „im Reich Gottes“ selbst „der Geringste größer als er“. Es wäre zweifellos ein Missverständnis, wenn man annehmen wollte, dass Jesus selbst nunmehr diese Rolle des letzten Propheten vor dem Gericht für sich beansprucht hätte, denn die Differenz gegenüber der Verkündigung des Täufers geht noch sehr viel weiter: Sie findet ihr theologisches Zentrum darin, dass Jesus sein eigenes Auftreten als integralen Bestandteil der machtvollen Durchsetzung der Königsherrschaft Gottes 36
S. dazu u. S. 227–234.
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4. Jesus und Johannes
auf Erden angesehen hat. Jesus kündigt nicht nur das Kommen der Königsherrschaft Gottes an, sondern er erhebt auch den Anspruch, dass das mit ihr einhergehende Heil in seinem eigenen Wirken bereits erfahrbar und für die Menschen zugänglich ist. Damit haben wir aber schon den wesentlichen Gehalt des nächsten Kapitels vorweggenommen.
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VI. Die Mitte der Verkündigung Jesu: „Gottesherrschaft“ – „Reich Gottes“ – „Königsherrschaft Gottes“ VI. Die Gottesherrschaft als Mitte der Verkündigung Jesu
1. Überblick 1.1 Bestandsaufnahme Innerhalb der Jesusüberlieferung gibt es ein Leitmotiv, das in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen immer wieder anklingt und nicht zu überhören ist: das Thema der „Königsherrschaft Gottes“ (griech. meistens basileía tou theoú; im Matthäusevangelium meistens basileía tōn ouranṓn [„Königsherrschaft der Himmel“]). Wir begegnen diesem Ausdruck in allen Bereichen der synoptischen Überlieferung: – im Markusevangelium: Mk 1,15; 4,11.26.30; 9,1.47; 10,14–15.23– 25; 12,34; 14,25; – im Spruchevangelium Q: Lk 6,20 und Mt 5,3; Lk 7,28 und Mt 11,11; Lk 10,9 und Mt 10,7; Lk 11,2 und Mt 6,10; Lk 11,20 und Mt 12,28; Lk 12,31 und Mt 6,33; Lk 13,20–21 und Mt 13,33; Lk 13,29 und Mt 8,11; Lk 16,16 und Mt 11,12; – im Sondergut des Lukasevangeliums (SLk): Lk 4,43; 8,1; 9,11.60.62; 10,11; 13,28; 17,20–21; 18,29; 21,31; – im Sondergut des Matthäusevangeliums (SMt): Mt 5,10.19.20; 7,21; 13,24.43–45.47.52; 16,19; 18,1.3–4.23; 19,12; 20,1; 21,31.43; 22,2; 23,13; 25,1.1
1 Demgegenüber ist von der basileía tou theoú im übrigen Neuen Testament nicht mehr so häufig die Rede. Während der Begriff in der johanneischen Literatur nur in Joh 3,3.5 vorkommt, haben ihn Paulus und die deuteropaulinischen Briefe zehnmal und die Apostelgeschichte sechsmal. Die Johannesoffenbarung hat ihn nur in Apk 12,10, allerdings in einer für das Verständnis der Gottesherrschaft bei Jesus sehr wichtigen Gebrauchsweise (s. dazu u. S. 110).
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VI. Die Gottesherrschaft als Mitte der Verkündigung Jesu
In diesem Zusammenhang ist auch bemerkenswert, dass das Thema der Gottesherrschaft häufig in Gleichnissen behandelt wird. Jesus benutzt immer wieder die Redeform des Gleichnisses, um seinen Hörern zu erklären, was es mit der Gottesherrschaft auf sich hat. Mit Ausnahme des lukanischen Sonderguts geschieht dies wieder in allen Bereichen der synoptischen Jesusüberlieferung.2 Auch wenn die Rede von der Gottesherrschaft in manchen der genannten Texte erst auf die Evangelisten zurückgeht, so wird doch auch in ihnen ein Stück Nachwirkung der Verkündigung Jesu greifbar, aus dem hervorgeht, dass wir es hier mit einem Element zu tun haben, das aufs Ganze gesehen für ihn typisch war. 1.2 Zum Begriff und seiner Übersetzung Zum besseren Verständnis sollen einige Bemerkungen zur Übersetzung der beiden oben genannten griechischen Ausdrücke an den Anfang gestellt werden. Martin Luther hatte den griechischen Begriff basileía tou theoú immer mit „Reich Gottes“ übersetzt und das matthäische Äquivalent basileía tōn ouranṓn mit „Himmelreich“. Er hatte sich dabei an der lateinischen Bibelübersetzung, der Vulgata, orientiert, in der er als Übersetzungen der griechischen Begriffe die lateinischen Formulierungen regnum Dei bzw. regnum caelorum vorfand. In der exegetischen Literatur hat es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Debatte darüber gegeben, ob diese Übersetzung sachgerecht ist. Sie wurde mit dem Argument kritisiert, dass „Reich“ für eine räumliche und statische Größe stehe, während der Das ist der Fall in Mk 4,26–29.30–32; Lk 13,18–19 und Mt 13, 31–32; Lk 13,20–21 und Mt 13,33; Lk 14,15–24 und Mt 22,1–10; Mt 13,24–30.44.45–46.47–50; 18,23–35; 20,1–16; 25,1–13.
2
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1. Überblick
neutestamentliche Begriff doch eher den dynamischen Vollzug der Herrschaft bezeichnen wolle, die von Gott ausgeübt wird.3 Diese Debatte hat dazu geführt, dass heute die Übersetzung „Gottesherrschaft“ in der exegetischen Literatur dominiert.4 Vielleicht hat dabei auch eine Rolle gespielt, dass der Begriff „Reich“ im Deutschen historisch belastet ist. Mit der genannten Begründung bilden die beiden Bezeichnungen freilich keine wirkliche Alternative, denn jede „Herrschaft“ erstreckt sich über einen räumlichen Bereich und jedes „Reich“ entsteht durch eine dynamische Herrschaftsausübung und wird durch sie erhalten. Eine eher räumliche Vorstellung von der Gottesherrschaft setzen auch die Worte voraus, die vom „Hineinkommen in das Reich Gottes“ sprechen.5 Die meisten sind erst nach Ostern entstanden, doch ist nicht ausgeschlossen, dass manche von ihnen auch auf Jesus selbst zurückgehen. Ganz ähnlich kann auch vom „Hineinkommen ins Leben“ (Mt 18,8.96; 19,17; Mk 9,43.45), „in die Hochzeitsfeier“ (Mt 25,10) oder „in die Freude deines Herrn“ (Mt 25,21.23) gesprochen werden.7 Vor dem Hintergrund dieses Sprachgebrauchs kann die For Vgl. z. B. Schnackenburg, Gottes Herrschaft, 247; Merklein, Jesu Botschaft, 37–39. 4 Das einschlägige Artikelstichwort in der Theologischen Realenzy klopädie lautet darum auch „Herrschaft Gottes / Reich Gottes“ (TRE 15 [1986] 172–244). Demgegenüber meint V. Gäckle, dass der Ausdruck bei Jesus in erster Linie räumlich zu verstehen sei (Reich Gottes, 35–133). 5 Mk 9,47; 10,15; 10,23–25; Mt 5,20; 7,21; 18,3; 23,13; Joh 3,5; auch Mt 21,31. 6 In Mt 18,9 ersetzt Matthäus die Formulierung „hineinkommen ins Reich Gottes“, die er in Mk 9,47 vorgefunden hat, durch „hineinkommen ins Leben“. 7 Hebr 3,11.18; 4,1.3.5.6.10.11 sprechen vom „Hineinkommen in die Ruhe“ und meinen damit das heilige Land des Himmels. Bildspendender Bereich ist hier das Hineinkommen Israels ins Land Kanaan. 3
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VI. Die Gottesherrschaft als Mitte der Verkündigung Jesu
mulierung „in das Reich Gottes hineinkommen“ unschwer erklärt werden als metaphorische Umschreibung für die Teilhabe am ewigen Heil Gottes. Dementsprechend steht dem Reich Gottes / Reich der Himmel auch ein „Unheilsraum“ gegenüber. Das ist „die äußerste Finsternis“ (Mt 8,11–12) oder einfach nur „draußen“ (Lk 13,28–29), wo es „Heulen und Zähneklappern“ gibt. Trotzdem ist die Übersetzung von basileía mit „Herrschaft“ einer Übersetzung mit „Reich“ vorzuziehen, weil das deutsche Wort „Herrschaft“ genauso wie das griechische Wort basileía ein Verbalsubstantiv ist. Beide Worte sind von einem Verb abgeleitet (von basileúein bzw. von „herrschen“), und sie machen damit den mit ihnen verbundenen Genitiv zur Bezeichnung dessen, der die Herrschaft ausübt. Sie stellen also die Person des Herrschers in den Vordergrund, und der Ausdruck basi leía tou theoú bringt ganz pointiert zum Ausdruck, dass Gott es ist, von dem allein alle Macht ausgeht und dessen Wille einzig und allein gilt. Dieser Akzent tritt beim Ausdruck „Reich Gottes“ mehr in den Hintergrund. Die zweite und die dritte Bitte der matthäischen Fassung des Vaterunsers („deine basileía komme, dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden“; Mt 6,10) haben darum ein und denselben Inhalt. Wenn Matthäus meistens von der basileía tōn ouranṓn (wörtlich: „Herrschaft der Himmel“) spricht, so ist damit kein inhaltlicher Unterschied verbunden, denn diese Formulierung entspricht der auch sonst in jüdischen Texten und im Neuen Testament belegten Praxis, „Himmel“ statt „Gott“ zu sagen.8 Dass Matthäus es aus religiöser Scheu vermeiden wollte, von „Gott“ zu sprechen, wie früher häufig angenommen wurde, ist sicher nicht der Grund für seinen besonderen Sprach gebrauch. Eine solche Scheu hat Matthäus sonst durchaus nicht, und mehrfach kann man auch bei ihm das sonst übliche basileía tou theoú
Z. B. in 1Makk 3,19; 4,10; 12,15; 2Makk 7,11; Mk 11,30f; Lk 15,18.21; Joh 3,27. 8
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1. Überblick lesen9. Beide Bezeichnungen meinen ein und dieselbe Sache. Nicht umsonst richtet sich die zweite Bitte des Vaterunsers in Mt 6,10 („dein Reich komme“) an Gott, der „unser Vater in den Himmeln“ ist (V. 9).10
Man könnte die Genauigkeit sogar noch erhöhen, wenn man basileía tou theoú mit „Königsherrschaft Gottes“ übersetzt. Damit würde ein semantisches Element aus dem griechischen Begriff aufgenommen, das in den beiden anderen Übersetzungen unausgesprochen bleibt, dass nämlich in dem Wort basileía das griechische Wort für „König“ (basileús) steckt. Das entsprechende Verb lautet basileúein („als König herrschen“). Dasselbe gibt es auch im Hebräischen, wo mǽlæk „König“ bedeutet, mālák „als König herrschen“ und mal ekút „Königsherrschaft“. In diesem Sinne sprechen 1Chr 28,5 und 2Chr 13,8 von der „Königsherrschaft JHWHs“ (mal ekút JHWH; die Septuaginta übersetzt jeweils: basileía kyríou [„Königsherrschaft des Herrn“]). Analoges gilt für das Aramäische, die Sprache, die Jesus im Alltag gesprochen hat. Hier ist in den Targumim, den Übersetzungen der Schriften der Hebräischen Bibel ins Aramäische, wiederholt von der mal ekūtāʼ́ d ejwj („Königsherrschaft JWJs“) die Rede (z. B. TgOb 21; TgMi 4,7; TgSach 14,9). Diese Übersetzung würde noch deutlicher machen, dass der neutestamentliche Ausdruck basileía tou theoú eine Metapher ist, die die Eigenart der Gottesherrschaft nach dem Modell einer bestimmten politischen Herrschaftsform beschreibt und sie als Alleinherrschaft des Gottes Israels charakterisiert. Bereits aus den eben genannten Texten geht hervor, dass nicht erst Jesus die Vorstellung von der „Königsherrschaft“ des Gottes Israels entwickelt und als ein Das ist der Fall in Mt 6,33; 12,28; 19,24; 21,31.43. Vgl. auch Mt 13,43: „die Gerechten werden im Reich ihres Vaters leuchten wie die Sonne“. 9
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VI. Die Gottesherrschaft als Mitte der Verkündigung Jesu
bisher unbekanntes eschatologisches Heilskonzept eingeführt hat. Diese Metaphorik ist schon im Alten Testament belegt und findet sich dann auch in einer ganzen Reihe von außerbiblischen jüdischen Texten aus der Zeit des Zweiten Tempels. Jesus greift sie auf, weil sie ihm auf Grund ihres semantischen Profils geeignet erschien, das von Gott auf die Menschen zukommende eschatologische Geschehen zu charakterisieren. Jesus konnte bei seinen Zeitgenossen ein Wissen darüber voraussetzen, was von der Königsherrschaft Gottes zu erwarten war. Aus diesem Grunde beginnen wir die Darstellung mit der Frage nach dem inhaltlichen Profil der eschatologischen Erwartung der Königsherrschaft Gottes, das Jesus bei seinen Zeitgenossen voraussetzen konnte und das ihn dazu veranlasst hat, diese Vorstellung zum Zentrum seiner Verkündigung zu machen.
2. Die Vorstellung von der Gottesherrschaft im nachexilischen Judentum Unabhängig von allen Nuancierungen im Einzelnen sind als Zentrum der Vorstellung von der Königsherrschaft Gottes im antiken Judentum zwei Elemente identifizierbar, die zwar auf den ersten Blick zueinander in Spannung stehen, tatsächlich aber ganz eng zusammengehören: Gottes Herrschaft ist zeitlich und räumlich universal, und sie ist gleichzeitig israelzentrisch. Gottes Königsherrschaft ist in dem Sinne universal, dass sie Himmel und Erde, die gesamte Schöpfung also, umgreift. Als solche hat sie sich bereits in der Überwindung des Chaos erwiesen. Gleichzeitig ist sie aber auch israelzentrisch, weil sie in der Bewahrung von Israels heilvoller Integrität erfahren wird. Es ist schließlich
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2. Die Gottesherrschaft im nachexilischen Judentum
der Gott Israels, d. h. der Gott, der sich Israel zu seinem Eigentumsvolk erwählt hat, der als König über die gesamte Schöpfung herrscht. Ihre kultische Vergegenwärtigung findet die Herrschaft Gottes im Tempel, denn in ihm überschneiden sich himmlische und irdische Welt.11 Drei Psalmtexte, die z. T. aus vorexilischer Zeit stammen, können diese Vorstellung illustrieren: Ps 29,1–2.9b–11: (1) Gebt JHWH, ihr Göttersöhne, / gebt JHWH Ehre und Macht. / (2) Gebt JHWH seines Namens Ehre, / fallt nieder vor JHWH in heiliger Pracht! …(9b) In seinem Palast rufen alle: „Ehre!“ / (10) JHWH thront über der Flut, / JHWH thront als König auf ewig / (11) JHWH gebe Kraft seinem Volk. / JHWH segne sein Volk mit Heil. Ps 96,9–10: (9) Fallt nieder vor JHWH in heiliger Pracht, / es bebe vor seinem Angesicht die ganze Erde. / (10) Sagt unter den Völkern: „JHWH ist König!“ / Ja, fest gegründet ist der Erdkreis, er wird nicht wanken. / Er wird Recht sprechen unter den Völkern in unabhängiger Weise. Ps 103,19: JHWH hat seinen Thron im Himmel aufgestellt, / und seine Königsherrschaft regiert über alles.
Von der spätexilischen Zeit an wird die Vorstellung von der Königsherrschaft Gottes zu einem festen Bestandteil der Hoffnung auf ein eschatologisches Heilshandeln Gottes an Israel. Zur Sprache gebracht wird sie vor allem in der Situation der Unterdrückung Israels durch fremde Völker und deren Herrscher, die als Infragestellung des universalen Herrschaftsanspruchs und der Einzigkeit des Gottes Israels wahrgenommen wurde.12 Darum kann Jesaja, als er im Tempel den Saum des Gewandes des auf seinem Thron sitzenden Gottes erblickt, ausrufen: „Meine Augen haben den König JHWH Zebaot gesehen“ (Jes 6,5). 12 Während bei Deuterojesaja dieses Merkmal gegen die fremden Götter gewendet wird (vgl. Jes 41,21–24; 44,6–8), sind es in den Texten aus hellenistisch-römischer Zeit die fremden Herrscher, gegen die Gottes überlegene Königsherrschaft zur Geltung gebracht wird (vgl. z. B. Dan 3,31–33; 4,31–34; 2Makk 7,9; 3Makk 2,2; PsSal 2,28–32; Tob 1,18[S]; 1QM 12,7–9; 1QGenApocr 20,12–16). 11
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VI. Die Gottesherrschaft als Mitte der Verkündigung Jesu
Dementsprechend wurde von Gottes Herrschaftsantritt erwartet, dass Israel wieder restituiert und in den heilvollen Status versetzt wird, der ihm als Gottes Eigentumsvolk zukommt. Komplementär dazu geht mit der irdischen Durchsetzung der Königsherrschaft Gottes ein Vernichtungshandeln einher, das Gott über die Heiden und ihre Herrscher bringt. Über sie kommt Gottes Zornund Vernichtungsgericht, oder sie werden gezwungen, sich der Herrschaft Gottes und seines Volkes zu unterwerfen, was bisweilen unter Rückgriff auf das Motiv von der Zionswallfahrt geschildert wird. Auch diese Erwartung soll durch einige Texte illustriert werden: Ob 15–21: (15) Nahe ist der Tag JHWHs für alle Völker … (17) Aber auf dem Berg Zion wird Rettung sein, und er wird heilig sein. Und die vom Haus Jakob werden ihre Besitztümer in Besitz nehmen. (18) Und das Haus Jakob wird ein Feuer sein und das Haus Joseph eine Flamme. Das Haus Esau aber wird zu Stroh. Und sie werden sie in Brand setzen und sie verzehren. Und das Haus Esau wird keinen Entronnenen haben. … (21) Und es werden Retter hinaufziehen auf den Berg Zion, um das Gebirge Esaus zu richten. Und die Königsherrschaft wird JHWH gehören. Dan 2,44: Und in den Tagen dieser Könige wird der Gott des Himmels ein Königreich aufrichten, das auf ewig nicht zerstört wird. Und das Königreich wird keinem anderen Volk überlassen; es wird all jene Königreiche zermalmen und vernichten, selbst aber wird es ewig bestehen. Sach 14,3–21: (3) Dann wird JHWH ausziehen und gegen jene Völker kämpfen, wie er schon immer gekämpft hat am Tag der Schlacht. (4) Und seine Füße werden an jenem Tag auf dem Ölberg stehen …, und der Ölberg wird sich von seiner Mitte aus nach Osten und nach Westen spalten zu einem sehr großen Tal, … (5) … Dann wird JHWH, mein Gott, kommen und alle Heiligen mit ihm. (6) Und es wird geschehen an jenem Tag, da wird kein Licht sein, die prächtigen Gestirne ziehen sich zusammen. … (8) Und es wird geschehen an jenem Tag, da werden lebendige Wasser aus Jerusalem fließen, die eine Hälfte zum östlichen Meer und die andere Hälfte zum westlichen Meer; im Sommer wie im Winter wird es so geschehen. (9) Und JHWH wird König sein über die ganze Erde. An jenem Tag wird JHWH einzig sein und sein Name einzig. … (10) Das ganze Land wird sich
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2. Die Gottesherrschaft im nachexilischen Judentum verwandeln, … (11) und man wird darin wohnen. Und einen Bann wird es nicht mehr geben, und Jerusalem wird in Sicherheit wohnen. (12) Und dies wird die Plage sein, mit der JHWH alle Völker plagen wird, die gegen Jerusalem in den Krieg gezogen sind: Er lässt jedem sein Fleisch verfaulen, während er noch auf seinen Füßen steht, und seine Augen werden verfaulen in ihren Höhlen, und seine Zunge wird in seinem Mund verfaulen. … (16) Und es wird geschehen: Alle Übriggebliebenen von allen Völkern, die gegen Jerusalem gekommen sind, die werden Jahr für Jahr hinaufziehen, um den König, JHWH Zebaot, anzubeten und das Laubhüttenfest zu feiern. (17) Und es wird geschehen, wenn eines von den Geschlechtern der Erde nicht nach Jerusalem hinaufziehen wird, um den König, JHWH Zebaot, anzubeten: Über diese wird kein Regen kommen. (18) … Das wird die Plage sein, mit der JHWH die Völker plagen wird, die nicht hinaufziehen werden, das Laubhüttenfest zu feiern. … (21) An jenem Tag wird es keinen Händler mehr geben im Hause JHWHs Zebaot. AssMos 10,1–1013 (in Kap. 8–9 werden die Schreckensherrschaft des gottfeindlichen Endtyrannen und das Martyrium der Gerechten geschildert): (1) Und dann wird erscheinen seine (sc. Gottes) Herrschaft (regnum sui) über seine ganze Schöpfung, und dann wird der Teufel ein Ende finden, und die Traurigkeit wird mit ihm hinweggenommen werden. … (3) [Es wird aufstehen] der Himmlische vom Sitz seiner Herrschaft (regnum sui) und heraustreten aus seiner heiligen Wohnung mit Empörung und Zorn wegen seiner Kinder. (4) Und die Erde wird erbeben, bis zu ihren Enden erschüttert werden, und die hohen Berge werden niedrig gemacht und erschüttert werden, und die Täler werden einsinken. … (7) Denn der höchste Gott, der allein ewig ist, wird sich erheben, und er wird öffentlich kommen, um die Völker zu strafen, und alle ihre Götzenbilder wird er vernichten. (8) Dann wirst du glücklich sein, Israel, und du wirst auf die Nacken und Flügel des Adlers14 hinaufsteigen, und so werden sie ihr Ende haben. (9) Und Gott wird dich erhöhen, und er wird dir festen Sitz am Sternenhimmel verschaffen, am Ort ihrer Wohnung. (10) Und du wirst von oben herabblicken und deine Feinde auf Erden sehen und sie erkennen und dich freuen, und du wirst Dank sagen und dich zu deinem Schöpfer bekennen.15 Übersetzung E. Brandenburger, JSHRZ V/2, 76–77. Der Adler steht hier für Rom. 15 Vgl. darüber hinaus Jes 43,14f; 52,1–10; Mi 2,12f; 4,6f; Dan 7,26f; SibOr 3,46–61.702–720.767–784. 13 14
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VI. Die Gottesherrschaft als Mitte der Verkündigung Jesu
Aus allen Texten geht hervor, wie das Ineinander von Universalismus und Israelzentrik der Gottesherrschaft verstanden werden will. Entscheidend ist der Gedanke, dass es der Gott Israels ist, der über die gesamte Schöpfung herrscht, und dass Israel damit zum Herrschaftsvolk wird, das an der Herrschaft seines Gottes über alle anderen Völker partizipiert. Auch das Interesse an einem wie auch immer gearteten Heilsgeschick der Heiden ist darum in diesem Zusammenhang niemals etwas anderes als ein Aspekt des Interesses am Heilsgeschick Israels. Darüber hinaus gibt es aber auch noch weitere Elemente, die das theologische Profil der jüdischen ReichGottes-Vorstellung zur Zeit Jesu kennzeichnen. Ganz wichtig ist: Das „Kommen“ von Gottes Herrschaft und Reich vollzieht sich immer als „Kommen“ Gottes, d. h. als Theophanie. Die jüdischen Texte sprechen immer nur vom „Kommen“ Gottes. Außer in Sach 14,5 und AssMos 10,7 begegnet diese Erwartung auch anderswo. Drei Beispiele: Jub 1,28: Und der Herr wird erscheinen dem Auge eines jeden, und jeder wird erkennen, dass ich der Gott Israels bin und der Vater für alle Kinder Jakobs und der König auf dem Berg Zion16. äthHen 25,3 spricht vom „Thron, auf den sich der Heilige und Große, der Herr der Herrlichkeit, der König der Welt setzen wird, wenn er herabkommt“17. SibOr 3,47–50: … dann wird die herrlichste Herrschaft des unsterblichen Königs unter den Menschen erscheinen. Es wird kommen der heilige Herrscher, der das Szepter über die ganze Erde innehaben wird in alle Ewigkeiten.
Erst in der Jesusüberlieferung ist davon die Rede, dass das Reich Gottes „kommt“.18 Die Erwartung des Reiches Übersetzung K. Berger, JSHRZ II/3, 319–320. Übersetzung S. Uhlig, JSHRZ V/6, 560. 18 Mk 9,1; Lk 11,2 und Mt 6,10; Lk 17,20; 22,18. 16 17
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2. Die Gottesherrschaft im nachexilischen Judentum
Gottes ist also immer mit der Erwartung der Anwesen heit Gottes selbst verbunden, der seine im Himmel bereits bestehende Herrschaft durch seine Präsenz nun auch auf der Erde durchsetzt. Aus diesem Grund gilt die irdische Aufrichtung der Herrschaft Gottes auch stets als das ureigene Werk Gottes selbst, das er mit niemand anderem teilt, denn es geht ihm immer um die endgültige Durchsetzung der Einzigkeit seines Gott-Seins und seiner Alleinherrschaft. Als weiteres Element, das für die jüdische Erwartung der irdischen Durchsetzung von Gottes universaler Königsherrschaft konstitutiv ist, kann der Ort gelten, an dem die Theophanie Gottes stattfinden wird und von dem aus Gott seine königliche Herrschaft über die gesamte Welt auf immer und ewig ausüben wird. Beides wird nirgendwo anders geschehen als an dem Ort, den Gott sich als seine Residenz auf Erden schon vor langer Zeit erwählt hat: in Zion-Jerusalem, der „Stadt JHWHs“19, und in dem hier befindlichen Tempel, dem „Haus JHWHs“20: Jes 24,23: Da wird der Mond schamrot werden und die Sonne sich schämen. Denn JHWH Zebaot herrscht als König auf dem Berg Zion und in Jerusalem, und vor seinen Ältesten ist Herrlichkeit. Mi 4,7: Und ich will die Lahmen als Rest übriglassen und die Verstoßenen zum großen Volk machen. Und JHWH wird König über sie sein auf dem Berg Zion von nun an bis in Ewigkeit. SibOr 3,716–718 (alle „Inseln und Städte“ werden sagen): Kommt, auf die Erde wollen wir uns alle niederwerfen, flehen zum unsterblichen König, dem großen und ewigen Gott. Lasst zum Tempel uns senden, denn er allein ist der Herrscher.21
Ps 48,9, 101,8; Jes 60,14; Jer 31,38; s. auch Ps 48,2; 87,3; Jes 45,13. Z. B. Ex 23,19; 1Kön 8,10–11; Ps 23,6; 27,4. 21 Vom endzeitlichen Kommen Gottes nach Zion-Jerusalem sprechen auch Jes 33,17–24; 52,7–8; Ez 43,2–7; Sach 8,3; 14,16–19; Jub 1,26–28. 19 20
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VI. Die Gottesherrschaft als Mitte der Verkündigung Jesu
Dem entspricht, dass im Kontext der frühjüdischen Reich-Gottes-Erwartung immer wieder auch von Gottes Heiligkeit die Rede ist und die herrscherliche Präsenz Gottes als Anwesenheit seiner Heiligkeit beschrieben wird.22 Vom Kommen Gottes und der Aufrichtung seiner Königsherrschaft wird erwartet, dass sie durch seine unmittelbare Anwesenheit auch seine Heiligkeit in ganz anderer Weise präsent werden lässt, als dies in der Gegenwart der Fall ist.23 Dem entspricht, dass auch in den Theophanieaussagen und -schilderungen das Einschreiten Gottes als Erscheinung seiner Heiligkeit dargestellt wird, die alles ausschaltet, was ihr entgegensteht.24 Es ist darum vielleicht auch kein Zufall, dass im Qaddisch und im Vaterunser die Bitten, die auf die Heiligkeit des Namens Gottes und auf sein Reich bezogen sind, unmittelbar nebeneinander stehen. In den Eröffnungsbitten des Qaddisch, mit dem ursprünglich die Gottesdienstgemeinde auf die Predigt antwortete, lautet diese Bitte: Groß gemacht und geheiligt werden soll sein großer Name in der Welt, die er geschaffen hat nach seinem Willen, und seine Herrschaft soll herrschen zu euren Lebzeiten und in euren Tagen und zu Lebzeiten des ganzen Hauses Israel in Eile und in naher Zeit.25
Dass die Ausübung von Gottes universaler Königsherrschaft mit der Heiligung seines Namens einhergeht, steht auch schon in Ps 99,1–3:
Dasselbe gibt es auch schon in vorexilischen und exilischen Texten; vgl. Ps 47,9; 93,1–5; 99,3–5; Jes 6,3; 43,15. 23 Vgl. z. B. Ob 15–21; Jes 52,1–10; TestDan 5,5–13; äthHen 25,3–7; 4QFlor 1,1–6; SibOr 5,492–503. 24 Vgl. Sach 14; äthHen 25,3–7; AssMos 10,1–10; SibOr 3,46–62. 25 Weil das Qaddisch erst in spätantiker Zeit entstanden ist, kann das Vaterunser nicht von ihm abhängig sein. Beide Gebete haben aber wohl dieselben Wurzeln in der jüdischen Gebetssprache des 1. Jahrhunderts. 22
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2. Die Gottesherrschaft im nachexilischen Judentum (1) JHWH ist König (geworden) – es erzittern die Völker. Er thront auf Keruben – es wankt die Erde. (2) JHWH in Zion ist groß, und erhaben ist er über die Völker. (3) Sie sollen loben deinen Namen, den großen und furchtbaren: „Heilig ist er!“.
Umgekehrt gibt es aber auch ein Element, das unter den Zeitgenossen Jesu dezidiert nicht zur Hoffnung auf die Durchsetzung von Gottes Königsherrschaft gehörte, und das war die Erwartung eines Messiaskönigs. In keinem der Texte aus der Zeit des Zweiten Tempels, die von der irdischen Durchsetzung von Gottes Königsherrschaft sprechen, spielt eine menschliche Heilsgestalt wie der aus Davids Geschlecht kommende Messias eine Rolle. Der einzige Text aus dieser Zeit, in dem die Messiaserwartung mit der Vorstellung vom Königtum Gottes verbunden wird, ist PsSal 17. Hier wird Gott als König im Unterschied zu den anderen oben zitierten Texten jedoch gerade in seiner himmlischen Transzendenz belassen. Der Messiaskönig übt seine Herrschaft als irdischer Vasallenkönig des himmlischen Gottes aus (V. 34: „Der Herr selbst ist sein König“). Davon, dass Gott selbst kommt, ist hier mit keinem Wort die Rede.
Dass die sich auf eine menschliche Messiasgestalt richtende Erwartung nicht zur Hoffnung auf die irdische Durchsetzung von Gottes Herrschaft gehört, kann nicht wirklich überraschen, denn der Grund liegt auf der Hand: Wenn Gott selbst es ist, der seine Herrschaft auf Erden vom Tempel in Zion-Jerusalem aus ausübt, gibt es keinen Platz für einen menschlichen Herrscher neben ihm. Mit der Erwartung der irdischen Durchsetzung von Gottes Königsherrschaft und der Erwartung eines Messiaskönigs aus Davids Geschlecht haben wir es darum mit zwei ganz unterschiedlichen eschatologischen Konzepten zu tun, die im frühen Judentum nicht miteinander verbunden waren.
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VI. Die Gottesherrschaft als Mitte der Verkündigung Jesu
3. Was hat Jesus veranlasst, die Gottesherrschaft zum zentralen Thema seiner Verkündigung zu machen? 3. Der Anstoß für Jesu Verkündigung der Gottesherrschaft Dass Jesus die Gottesherrschaft zum Leitmotiv seiner Verkündigung gemacht hat, trennt ihn von Johannes dem Täufer. Diese Differenz kommt sowohl in Jesu Wort über Johannes Lk 7,28 und Mt 11,11 zum Ausdruck26 als auch in dem noch zu besprechenden Jesuswort, das in Lk 16,16 und Mt 11,12–13 überliefert ist27. Ursprünglich hatte Jesus die eschatologische Erwartung des Täufers geteilt: dass Gottes Zorn- und Vernichtungsgericht unmittelbar bevorsteht und dass von ihm nur diejenigen verschont werden, die von Johannes mit der „Taufe der Umkehr zur Vergebung der Sünden“ getauft worden waren. Auch Jesus selbst hatte diese Möglichkeit ergriffen und sich von Johannes taufen lassen. Damit stellt sich die Frage, was Jesus zu dieser Neuausrichtung seiner eschatologischen Erwartung geführt hat. Wodurch wurde dieser Wandel veranlasst? Was hat Jesus dazu gebracht, Gott nicht mehr als Feuerrichter zu erwarten, sondern als königlichen Herrscher, und damit ein eschatologisches Modell zu verwenden, dem in Israel nicht mit Furcht, sondern mit Hoffnung entgegengeblickt wurde? Für die Abkehr Jesu von Johannes dem Täufer hat die Proklamation als Gottessohn, die nach Mk 1,10–11 im Anschluss an Jesu Taufe erfolgt sein soll, keine Rolle gespielt. Es handelt sich bei dieser Episode vielmehr um ein Stück erzählte Christologie, das sich der gestaltenden Hand des Evangelisten verdankt. Markus will mit ihrer Hilfe Jesus als den Gottessohn darstellen, der von Anfang an mit dem Geist begabt war. Gegen die Annahme, dass hier so etwas wie Jesu Berufungs 26 27
S. o. S. 92. S. u. S. 117.
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3. Der Anstoß für Jesu Verkündigung der Gottesherrschaft erlebnis erzählt wird, sprechen vor allem drei Gründe: Zum einen heißt es, dass nur Jesus den Himmel offen und den heiligen Geist wie eine Taube herabkommen sah („er sah …“; V. 10) – niemand sonst. Dem entspricht, dass nur er angeredet wird („du bist …“; V. 11). Der Vorgang hätte darum in der Form eines Selbstberichts Jesu („ich sah …, ich hörte …“) erzählt werden müssen und nicht wie in Mk 1,10–11 als ein Bericht über Jesus. Zum anderen ist nicht ersichtlich, wie sich aus diesem allein auf Jesus bezogenen Geschehen die Verkündigung der Gottesherrschaft hätte ergeben sollen. Zwischen diesem und jenem gibt es keinen inhaltlichen Zusammenhang. Und zum dritten schließlich ist die Erzählung auf Grund ihrer Verknüpfung mit Jesu Taufe historisch unwahrscheinlich: Wenn man mit guten Gründen davon ausgeht, dass Jesus sich auch nach seiner Taufe noch eine Zeitlang in der Umgebung des Täufers aufgehalten hat, müsste man annehmen, dass das in Mk 1,10–11 erzählte Geschehen zunächst ohne jegliche Folgen geblieben wäre. Das ist historisch aber ganz unplausibel.
Vor allem aber spricht gegen die Historizität von Mk 1, 10–11, dass der hier erzählte Vorgang mit der in einem anderen Text erwähnten visionären Erfahrung konkurriert, von der wir mit sehr viel größerer Wahrscheinlichkeit annehmen können, dass sie der Anstoß für Jesu Verkündigung der Gottesherrschaft war. Es handelt sich um Lk 10,18, wo Jesus nun tatsächlich in der Form eines Visionsberichts („ich sah …“) von einem Ereignis berichtet, das er als Bestandteil der Durchsetzung von Gottes Herrschaft über die gesamte Schöpfung auffassen konnte: Als die von Jesus ausgesandten „zweiundsiebzig Anderen“ (Lk 10,1) zu ihm zurückkehren und berichten, dass sich ihnen in Jesu Namen sogar die Dämonen unterwerfen (V. 17), erklärt Jesus diese Erfahrung mit den Worten von Lk 10,18: Ich sah den Satan wie einen Blitz aus dem Himmel fallen.
Nach Überzeugung vieler Interpreten bezieht diese Auskunft sich auf eine visionäre Erfahrung Jesu, die von
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VI. Die Gottesherrschaft als Mitte der Verkündigung Jesu
ihm als Sturz des Satans aus dem Himmel wahrgenommen wurde28, und das ist wohl auch zutreffend. Hieraus konnte Jesus in einem zweiten Schritt den Schluss ziehen, dass der Satan den Himmel nicht freiwillig verlassen hat, sondern gewaltsam aus ihm vertrieben wurde, und daraus konnte er wiederum folgern, dass Gott damit begonnen hatte, seine immerwährende Herrschaft über die gesamte Schöpfung aufzurichten. Der innere Zusammenhang dieses Ereignisgefüges, d. h. dass Gott die Aufrichtung seiner universalen Herrschaft mit der Entmachtung des Teufels beginnt, war bereits in AssMos 10,1 erkennbar geworden.29 Darüber hinaus ist er aber auch in Apk 12,7–10 belegt: (7) Und es kam zu einem Kampf im Himmel. Michael und seine Engel kämpften mit dem Drachen, und der Drache kämpfte, und seine Engel. (8) Und er hielt nicht stand, und es fand sich kein Platz mehr für sie im Himmel. (9) Und der große Drache, die alte Schlange, die „Teufel“ und „Satan“ genannt wird, der den gesamten Erdkreis verführt, wurde auf die Erde hinabgestürzt, und mit ihm wurden seine Engel hinabgestürzt. (10) Und ich hörte eine laute Stimme im Himmel rufen: „Jetzt ist angebrochen das Heil und die Macht und die Königsherrschaft (basileía) unseres Gottes und die Gewalt seines Gesalbten. Denn hinabgestürzt wurde der Ankläger unserer Brüder, der sie anklagte vor unserem Gott Tag und Nacht“.
Die oben beschriebene Ereignisfolge ist in diesem Text deutlich erkennbar: Die Niederlage des Satans im himmlischen Kampf (V. 8) hat dessen Sturz auf die Vgl. vor allem U. B. Müller, Vision, 417–429; Vollenweider, „Ich sah …“; Ebner, Jesus von Nazaret, 100–108. – Welches astrophysikalische Phänomen Jesus gesehen haben könnte (vgl. z. B. Ebner, a. a. O., 103: ein Meteor), ist unerheblich, denn wichtig ist einzig und allein die Deutung, die Jesus seiner Vision gegeben hat. – An der Formulierung ist sprachlich merkwürdig, dass von Blitzen sonst nie gesagt wird, dass sie „aus dem Himmel fallen“. Es gibt keinen einzigen antiken Text, in dem ein Blitz „fällt“. 29 S. o. S. 103. 28
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3. Der Anstoß für Jesu Verkündigung der Gottesherrschaft
Erde zur Folge (V. 9), und der mündet in einen Siegesruf, mit dem der Anbruch der Königsherrschaft Gottes gefeiert wird (V. 10). Mit der Vertreibung des Satans aus dem Himmel ist diese Herrschaft dort bereits endgültig etabliert. Was noch aussteht, aber mit Sicherheit sowie in allerkürzester Zeit zu erwarten ist, ist lediglich ihre Durchsetzung auf der Erde. Wichtig ist noch, dass der Satanssturz nach dieser Deutung nicht als Sachgrund, sondern als Erkenntnisgrund für den Beginn der Durchsetzung von Gottes universaler Herrschaft fungiert. Der Sturz des Satans ist nicht die Voraussetzung für den Beginn der Gottesherrschaft, sondern seine Folge. Jesus erkennt an ihm, dass Gott seine Herrschaft angetreten hat. Man kann darum nicht sagen: „weil der Satan entmachtet wurde, kann die Gottesherrschaft beginnen“, sondern es geht andersherum: Weil die Gottesherrschaft begonnen hat, ist der Satan entmachtet worden. Dass aus der Durchsetzung von Gottes Herrschaft im Himmel nun auch ihre Durchsetzung auf der Erde folgt, ergibt sich aus dem Wirklichkeits- und Geschichtsverständnis, das im Judentum zur Zeit Jesu in Geltung stand. Seine Grundlage ist die Überzeugung, dass jedes irdische Geschehen in Gottes himmlischer Welt präformiert ist und von dorther auf die Erde herabkommt.30 Dementsprechend konnte Jesus aus der Erkenntnis, dass Gott seine Herrschaft bereits im Himmel gegen den Satan durchgesetzt hat, die Schlussfolgerung ziehen, dass dies jetzt auch auf der Erde geschehen wird. Wie z. B. das himmlische Jerusalem nach Apk 3,12; 21,2. Diese Vorstellung setzt auch die Apokalyptik voraus: Weil jedes Geschehen, bevor es auf der Erde Wirklichkeit wird, im Himmel schon vorhanden ist, kann der Apokalyptiker durch eine Himmelsreise Kenntnis von ihm erlangen, so dass er auf diese Weise Einblick in den zukünftigen Verlauf der irdischen Geschichte bekommt. 30
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VI. Die Gottesherrschaft als Mitte der Verkündigung Jesu
Man kann danach fragen, ob die Vision vom Satans sturz, die mit großer Wahrscheinlichkeit Jesu Abkehr von Johannes dem Täufer veranlasst hat, nicht in irgendeiner Verbindung zur Erzählung von der Versuchung Jesu durch den Satan steht, die mit einer Niederlage des Satans endet. Sie ist nicht nur im Spruchevangelium überliefert (Lk 4,1–13 und Mt 4,1–11), sondern hat auch Spuren im Markusevangelium hinterlassen (Mk 1,12–13). Das deutet auf ein hohes Alter dieser Überlieferung hin. Außerdem steht sie im Aufriss aller drei Evangelien an derselben Stelle, an der auch die Vision vom Satanssturz stattgefunden haben muss, nämlich zwischen Jesu Taufe durch Johannes und dem Beginn seiner öffentlichen Verkündigung in Galiläa. Auf jeden Fall aber stellt uns Lk 10,18 vor die Frage, welche Konsequenzen Jesus aus der Vision vom Satanssturz und der durch sie gewonnenen Erkenntnis gezogen hat, dass Gott dabei ist, seine Königsherrschaft über die gesamte Schöpfung durchzusetzen. Welche Rolle in diesem Geschehen hat er sich selbst zugeschrieben?
4. Jesus und die Gottesherrschaft 4.1 Jesus kündigt das Kommen der Gottesherrschaft an Diese Konsequenz liegt am nächsten. Die aus der Vision vom Satanssturz gewonnene Erkenntnis setzt Jesus in die Ankündigung um, dass Gott seine universale Königsherrschaft in allernächster Zukunft auch auf Erden durchsetzen wird. Jesus würde mit dieser Botschaft gewissermaßen als Prophet der Gottesherrschaft auftreten, der wie eine ganze Reihe von alttestamentlichen Propheten erst durch eine Vision veranlasst wird, seine Botschaft auszurichten, und sich dann zur Legitimation
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4. Jesus und die Gottesherrschaft
seiner Verkündigung auf diese Vision beruft.31 Mit der prophetischen Ankündigung des Kommens der Gottesherrschaft unmittelbar verbunden wäre dann auch die an Jesu Zeitgenossen gerichtete Aufforderung, sich durch ein bestimmtes Verhalten oder durch die Änderung desselben (d. h. durch „Umkehr“) auf dieses Kommen vorzubereiten. Dieses Bild wird in etlichen Texten erkennbar, in denen Jesus vom unmittelbar bevorstehenden „Kommen“ der Gottesherrschaft spricht. Nach Mk 9,1 ist dieses „Kommen in Macht“ so nahe, dass einige der Zeitgenossen Jesu es noch „sehen“ (d. h. „erleben“32) werden. Im Vaterunser fordert Jesus die Jünger auf, Gott um das Kommen seiner Herrschaft zu bitten (Lk 11,2c und Mt 6,10a). Die sich in Mt 6,10b–c anschließende Bitte: Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden,
entspricht nicht nur inhaltlich der Bitte um das Kommen der Gottesherrschaft, sondern sie beschreibt auch die Bewegung, die dieses Kommen kennzeichnet: vom Himmel auf die Erde, wo Gott seinen Willen mit der Aufrichtung seiner Herrschaft durchsetzen wird. Hierauf beziehen sich die ersten beiden Bitten des Vaterunsers: Lk 11,2 und Mt 6,9–10:
Geheiligt werde dein Name. Dein Reich komme.
Vgl. in diesem Sinne U. B. Müller, Vision, 423–426. – Als Analogien in Frage kommen vor allem die Propheten Amos (Am 7,1–9; 8,1–3; 9,1–4), Jesaja (Jes 6,1–11), Ezechiel (Ez 1–3) und Sacharja (Sach 1,7–17; 2,1–4.5–9; 3,1–10; 4,1–14; 5,1–4.5–11; 6,1–8). 32 Vom „Sehen“ der Gottesherrschaft spricht auch Joh 3,3. „Sehen“ steht u. a. auch in Ps 27,13; 89,49; 98,3; Jer 5,12; Ez 39,21; Lk 2,26; 17,22; Apg 2,27.31; 13,36f für „erleben“; s. auch Bauer, Wörterbuch, 445.1172. 31
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VI. Die Gottesherrschaft als Mitte der Verkündigung Jesu
Die Entsprechung zum Beginn des Qaddisch und zu Ps 99,1–333 ist offenkundig. In der ersten Bitte fordert Jesus seine Jünger auf, Gott darum zu bitten, sich den Menschen als Gott zu offenbaren und ihnen gegenüber sein Gott-Sein zu erweisen. „Seinen Namen heiligen“ bezeichnet die Reaktion der Menschen, die auf das Kommen Gottes mit dem Bekenntnis reagieren, dass Gott Gott ist. In der zweiten Bitte wird dann erkennbar, dass sich nach Jesu Erwartung diese Hoffnung darauf richtet, das Gott seine königliche Herrschaft in der gesamten Schöpfung durchsetzt. Anders als die jüdischen Texte34, spricht Jesus hier und auch sonst in der synoptischen Jesusüberlieferung nicht vom Kommen Gottes, sondern vom Kommen der Königsherrschaft Gottes (vgl. noch Mk 9,1; Lk 17,20; 22,18). Zwischen beiden Redeweisen besteht jedoch kein sachlicher Unterschied, denn nach jüdischer Erwartung geht die Errichtung von Gottes universaler Herrschaft immer damit einher, dass Gott selbst kommt. Dieselbe Vorstellung kommt auch in solchen Worten zum Ausdruck, die davon sprechen, dass die Gottesherrschaft „nah“ oder „nahe herbeigekommen“ ist35, auch wenn es sich überwiegend um nachträgliche Zu sammenfassungen der Botschaft Jesu handelt. Dass Jesus auch noch am Vorabend seines Todes mit dem nahe be-
S. o. S. 106 f. S. o. S. 103 f. 35 Mt 4,17; Lk 10,9 und Mt 10,7; Lk 10,11; 21,31; Mk 1,15. Das Prädikat steht meistens im Perfekt. Das ist auch der Fall z. B. in Dtn 31,14 („nahe herbeigekommen sind die Tage deines Todes“) oder Röm 13,12 („die Nacht ist vorgedrungen, und der Tag ist nahe herbeigekommen“). Daraus geht hervor, dass es kein „Schon jetzt“ bezeichnet, sondern ein „Noch nicht“. Es bringt zum Ausdruck, dass das Eintreten eines Geschehens unausweichlich ist und dass es unmittelbar bevorsteht. 33 34
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4. Jesus und die Gottesherrschaft
vorstehenden Kommen der Gottesherrschaft gerechnet hat, geht aus Mk 14,25 hervor: Amen, ich sage euch: Niemals mehr werde ich vom Gewächs des Weinstocks trinken bis zu jenem Tag, wenn ich es aufs Neue trinken werde im Reich Gottes.
Auch die Worte, die metaphorisch vom „Hineinkommen in das Reich Gottes“ sprechen36 und damit die Teilhabe am Heil der Gottesherrschaft meinen37, setzen die Vorstellung voraus, dass die Aufrichtung von Gottes Königsherrschaft auf der Erde noch bevorsteht. In diesen Zusammenhang der für die allernächste Zeit erwarteten Etablierung der Gottesherrschaft auch auf Erden lässt sich auch Jesu Zug nach Jerusalem einordnen. Denn nirgendwo anders als hier, in der Stadt des Gottes Israels und ihrem Heiligtum, sollte gemäß der eschatologischen Erwartung des frühen Judentums der Gott Israels erscheinen, um seine Herrschaft über die gesamte irdische Schöpfung aufzurichten.38 Darüber hinaus kann auch die in Mk 11,15–16 (und Mt 21,12; Lk 19,45; s. auch Joh 2,14–16) erzählte Tempelaktion Jesu in diesen Zusammenhang eingeordnet werden. Mit ihr macht Jesus im Anschluss an Sach 14,2139 darauf aufmerksam, dass der gegenwärtige Kultbetrieb am Jerusalemer Heiligtum mit dem Kommen Gottes und der Aufrichtung seiner Königsherrschaft nicht mehr in derselben Gestalt weitergeführt werden kann, in der er jetzt praktiziert wird.40
Mk 9,47; 10,15; 10,23–25; Mt 5,20; 7,21; 18,3; 23,13; Joh 3,5; s. auch Mt 21,31. 37 Vgl. zu diesen Texten auch o. S. 97 f. 38 Vgl. dazu o. S. 104. 39 S. o. S. 103. 40 S. dazu u. S. 277–281. 36
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VI. Die Gottesherrschaft als Mitte der Verkündigung Jesu
4.2 Jesus selbst bringt die Gottesherrschaft zu den Menschen Neben den Texten, in denen Jesus von dem noch ausstehenden Kommen der Gottesherrschaft spricht, gibt es aber auch eine Reihe von Worten, denen zufolge die Gottesherrschaft bereits in der Gegenwart anwesend ist, und zwar in Jesu eigenem Wirken. Am deutlichsten findet dieser Anspruch seinen Ausdruck innerhalb der sog. „Beelzebul-Kontroverse“ (Mk 3,22–27; Lk 11,14–23 und Mt 12,22–30)41, in der Jesus sich mit dem Vorwurf auseinandersetzt, er würde die Dämonen „mit Beelzebul, dem Herrscher der Dämonen“, austreiben (Mk 3,22; Lk 11,15 und Mt 12,24).42 Ihm setzt er die Behauptung entgegen: Lk 11,20 und Mt 12,28: Wenn ich mit dem Finger Gottes die Dämonen austreibe, dann ist die Gottesherrschaft bei euch angekommen.43
Für das Verständnis dieses Wortes ist wichtig, dass die Formulierung „ist bei euch angekommen“ (griech. éphthasen eph’ hymás) nicht zeitlich gemeint ist (im Sinne von: „was bisher von der Zukunft erwartet wurde, ist jetzt Gegenwart geworden“). Zum Ausdruck gebracht wird vielmehr eine räumliche Bewegung: Die im Himmel bereits bestehende Heilswirklichkeit der königlichen Herrschaft Gottes wird in den Exorzismen Jesu auch auf der Erde und unter den Menschen erfahrbar.44 Sie Es handelt sich um eine Überlieferung, die Lukas und Matthäus sowohl im Spruchevangelium als auch bei Markus vorgefunden haben. Ihr kommt darum ein hohes Alter zu. 42 Zu dieser Auseinandersetzung vgl. auch u. S. 141–146. 43 Zum Unterschied zwischen der lukanischen und der matthäischen Fassung s. u. S. 145 Anm. 44. 44 Diese Bewegung von oben nach unten bzw. von Gott zu den Menschen beschreibt derselbe griechische Ausdruck auch in 1Thess 2,16 und TestLevi 6,11 (jeweils vom Zorn Gottes); Dan 4,24Theod. (vom Urteil Gottes); TestAbr A 1,3 (vom Tod). 41
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4. Jesus und die Gottesherrschaft
ist gewissermaßen „auf die Erde und die Menschen herabgekommen“. Von der bereits jetzt erfahrbaren Anwesenheit der Gottesherrschaft in seinem Wirken spricht Jesus auch in einem nur bei Lukas überlieferten Wort. Hier fragen ihn die Pharisäer: „Wann kommt die Gottesherrschaft?“ (Lk 17,20b), und er antwortet: Lk 17,20d–21 (s. auch EvThom 113): Die Gottesherrschaft kommt nicht mit Beobachtung. Man kann nicht sagen: „Siehe hier!“ oder „dort!“, denn siehe, die Gottesherrschaft ist mitten unter euch. Die Übersetzung von entós hymṓn am Ende durch „mitten unter euch“ ist umstritten. Martin Luther hatte es ursprünglich mit „… inwendig in euch“ wiedergegeben – erneut in Anlehnung an die Vulgata (intra vos).45 Er hatte damit die Gottesherrschaft zu so etwas wie einer rein geistigen Größe gemacht. Das ist aber für Lukas und erst recht für Jesus eine theologisch ganz unmögliche Vorstellung von der Gottesherrschaft, weil sie alle Konkretionen und Konturen, die sich mit diesem eschatologischen Konzept verbinden, zum Verschwinden bringt.46
Auf der Vorstellung von der bereits jetzt gegebenen Anwesenheit der Gottesherrschaft basiert auch ein im Spruchevangelium überliefertes Jesuswort, dessen ursprüngliche Fassung freilich nur hypothetisch rekon struiert werden kann. Lk 16,16: Das Gesetz und die Propheten bis Johannes – seitdem wird die Gottesherrschaft verkündigt, und jeder wird in sie hineingenötigt. Mt 11,12–13: Seit den Tagen Johannes des Täufers bis jetzt erleidet das Himmelreich Gewalt (biázetai), und Gewalttäter (biastaí) plündern es. Denn alle Propheten und das Gesetz haben bis Johannes prophezeit.
In der Regel wird angenommen, dass der Wortlaut der Vorlage im Spruchevangelium aus den unterstrichenen Textteilen bestand und hier von den Feinden der Gottesherrschaft gesprochen wird: 45 46
Erst seit der Revision von 1956 heißt es „… mitten unter euch“. Vgl. auch die ausführliche Erörterung bei Wolter, LkEv, 576–578.
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VI. Die Gottesherrschaft als Mitte der Verkündigung Jesu Das Gesetz und die Propheten bis Johannes – seitdem erleidet die Gottesherrschaft Gewalt, und Gewalttäter plündern sie.
Auch wenn die Übersetzung ins Deutsche nicht über jeden Zweifel erhaben ist47, setzt dieses Wort die Gegenwart der Gottesherrschaft im Wirken Jesu voraus. Dieser Text geht sogar noch über das hinaus, was oben zur Differenz zwischen Johannes dem Täufer und Jesus gesagt wurde48: Die beiden unterscheiden sich nicht lediglich dadurch voneinander, dass Johannes das Zorn- und Feuergericht Gottes ankündigt und Jesus das Kommen der Königsherrschaft Gottes. Der Unterschied zwischen ihnen besteht vielmehr vor allem darin, dass Jesus sich nicht auf die Ankündigung der Gottesherrschaft beschränkt, sondern auch den Anspruch erhebt, dass er selbst sie unter den Menschen Wirklichkeit werden lässt. Es ist darum wahrscheinlich, dass Jesus den Ausdruck „bis Johannes“ inklusiv verstanden wissen wollte: Johannes gehört in die Zeit von „Gesetz und Propheten“, nicht aber in die Zeit der Gottesherrschaft. Die beginnt erst mit seinem eigenen Auftreten. Aus den beiden vorangegangenen Abschnitten geht hervor, dass die Gottesherrschaft in der Verkündigung Jesu sowohl als eine noch zukünftige als auch als eine schon gegenwärtige Wirklichkeit begegnet. Damit stellt sich die Frage, wie sich diese beiden Vorstellungen zueinander verhalten.
Zur Begründung vgl. G. Schrenk, ThWNT I, 609–610; Luz, MtEv II, 176–179. Die oben stehende Übersetzung orientiert sich an Plutarch, Moralia 203c, wo es heißt, dass Soldaten „Gewalt ausüben und plündern“ (biázesthai kai harpázein). Hier finden sich dieselben Verben wie in Mt 11,12 (s. auch Appian, Bellum Civile 4,9,73; 16,120; Lukian v. Samosata, Menippus 20). 48 S. o. S. 90 f. 47
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4. Jesus und die Gottesherrschaft
4.3 Das Verhältnis von Gegenwart und Zukunft der Gottesherrschaft in der Verkündigung Jesu Das Nebeneinander der beiden Textreihen – nach der einen kommt die Gottesherrschaft noch, nach der anderen ist sie schon da – wurde in der Vergangenheit oftmals als Widerspruch empfunden. Ihn meinte man in vielen Fällen nur dadurch lösen zu können, dass man entweder die Zukunftsaussagen oder die Gegenwartsaussagen in den Vordergrund stellte und die Aussagen der jeweils anderen Seite relativierte oder sie gar Jesus absprach und für nachösterliche Gemeindebildungen erklärte.49 Versuche, solche Einseitigkeiten zu vermeiden und beide Aussageweisen in gleicher Weise zu ihrem Recht kommen zu lassen, gibt es natürlich auch. Sie stellen das Verhältnis von Gegenwart und Zukunft der Gottesherrschaft häufig als einen kontinuierlichen Entwicklungs- oder Wachstumsprozess dar, der zwar bereits in der Gegenwart begonnen habe, jedoch erst in der Zukunft zur Vollendung gelangen werde.50 Wenn man jedoch die Vorstellung zugrundelegt, die die Erwartung der eschatologischen Durchsetzung von Gottes Königsherrschaft im frühen Judentum kennzeichnete, und in Rechnung stellt, dass Jesus mit ihr In diesem Sinne betonen vor allem die Vertreter der sog. „konsequenten Eschatologie“ die Zukünftigkeit der Gottesherrschaft; so z. B. Weiß, Predigt, 71 („… dass die Verkündigung des kommenden Reiches Gottes … das Normale, die proleptischen Aussagen aber Ausnahmen sind“); s. auch Schweitzer, Geschichte, 402–450. – Auf der anderen Seite kann als klassischer Vertreter der „präsentischen“ Auffassung Dodd, Parables, 40f gelten: „Das eschaton hat sich von der Zukunft in die Gegenwart bewegt, aus dem Gegenstand der Erwartung ist ein Gegenstand der realen Erfahrung geworden“. 50 So z. B. Jeremias, Gleichnisse, 227 („sich realisierende Eschatologie“); Bultmann, Theologie, 6 („… dass die Gottesherrschaft … im Anbruch ist“); Merklein, Botschaft, 59 („die Gottesherrschaft als bereits in Gang gekommenes Geschehen“); Becker, Jesus von Nazaret, 154 („Prozess der sich unaufhaltsam ausbreitenden Gottesherrschaft“). 49
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VI. Die Gottesherrschaft als Mitte der Verkündigung Jesu
vertraut war, liegt es nahe, das Verhältnis von Gegenwart und Zukunft der Gottesherrschaft in der Verkündigung Jesu in etwas anderer Weise zu beschreiben. Demnach gilt beides: Die Königsherrschaft Gottes ist bereits in der Gegenwart und auf Erden als eine erfahrbare Wirklichkeit überall dort punktuell präsent, wo Jesus auftritt. Jesus erhebt damit den Anspruch, dass er es ist, durch den die Gottesherrschaft zu den Menschen kommt. – Was er demgegenüber als ein noch ausstehendes und zukünftiges Geschehen erwartet, ist in Übereinstimmung mit dem konventionellen jüdischen Reich-Gottes-Wissen die Endtheophanie Gottes im Jerusalemer Tempel, mit der der Gott Israels seine Herrschaft dann auch in einem universalen Maßstab über die gesamte Schöpfung durchsetzen wird. Es ist diese Erwartung, die Jesus veranlasst hat, zusammen mit seinen Jüngern nach Jerusalem zu ziehen. 4.4 Zusammenfassung und Ausblick Für Jesu jüdische Zeitgenossen war die Erwartung der eschatologischen Durchsetzung der Gottesherrschaft untrennbar mit der Vorstellung verbunden, dass Gott selbst und Gott allein es sein wird, der mit einer den gesamten Erdkreis erschütternden Theophanie in Jerusalem seine universale Herrschaft durchsetzen wird. Diese Erwartung verwendet Jesus, um die Bedeutung seines eigenen Wirkens zu erklären. Damit ist nicht zu übersehen, worin die Besonderheit besteht, die Jesu Anspruch kennzeichnete. Sie kommt nicht lediglich darin zum Ausdruck, dass Jesus die Gegenwärtigkeit der Gottesherrschaft postulierte, während sie von seinen jüdischen Zeitgenossen noch von der Zukunft erwartet wurde. Die Besonderheit der Verkündigung Jesu bestand vielmehr darin, dass er für sich, Jesus von Nazaret, etwas in Anspruch nahm, was seit alters einzig und al-
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4. Jesus und die Gottesherrschaft
lein von Gott erwartet wurde: dass er es ist, durch den die Königsherrschaft Gottes zu den Menschen kommt, und dass er es ist, der die eschatologische Hoffnung erfüllt, die sich bisher in exklusiver Weise auf Gott richtete. Diese Selbsteinschätzung findet ihren Ausdruck vor allem in der Seligpreisung der Jünger als Augenund Ohrenzeugen Jesu, wie sie in Lk 10,23–24 und Mt 13,16–17 überliefert ist51: Selig die Augen, die sehen, was ihr seht. Denn ich sage euch: Viele Propheten und Könige wünschten zu sehen, was ihr seht, und sie sahen es nicht, und zu hören, was ihr hört, und sie hörten es nicht.
Was nach dem Verständnis dieser Seligpreisung die Augen der Jünger sehen und ihre Ohren hören, bezieht sich auf nichts anderes als auf Jesu Taten und Worte. Sie sind es, die Jesus als Erfüllung aller Heilshoffnungen deutet, auf die das Gottesvolk in seiner Geschichte schon immer gewartet hat. Er versteht seine Worte und Taten darum auch nicht lediglich als Zeichen, die auf das nahe bevorstehende Kommen der Gottesherrschaft vorausweisen. Er sieht in ihnen vielmehr ein Stück der Heilsgegenwart der Gottesherrschaft real erfahrbar werden. Aus diesem Grunde steckt in dieser Seligpreisung der Jünger auch ein ganz profiliertes Element von Jesu eigener Selbstauslegung. Mit dieser Ausrichtung auf sein eigenes Auftreten nimmt Jesus eine semantische Innovation der jüdischen Vorstellung von der Gottesherrschaft vor, deren Bedeutung kaum zu überschätzen ist. Der Anstoß, den Jesus mit seiner Behauptung gegenüber der vertrauten jüdischen Reich-Gottes-Erwartung hervorrief, musste vor allem von dem in ihr zum Ausdruck kommenden Selbstverständnis ausgehen: Nicht nur, dass ein Mensch den Sie begegnet ebenfalls in Lk 7,23 und Mt 11,6. Dieser Text wird u. S. 227 f besprochen. 51
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VI. Die Gottesherrschaft als Mitte der Verkündigung Jesu
Anspruch erhob das zu tun, was eigentlich Gott vorbehalten war, sondern es war vor allem auch das eklatante Missverhältnis zwischen Jesu Wirken und der traditio nellen Reich-Gottes-Erwartung, das Anlass geben musste, seine Behauptung anzuweifeln bzw. – mit Lk 7,23 und Mt 11,6 gesagt – an ihm „Anstoß zu nehmen“. Man brauchte dafür nur Jesu Auftreten mit den Vorstellungen von den Begleitumständen zu vergleichen, die sich mit der Durchsetzung von Gottes universaler Herrschaft verbanden und die z. B. in Sach 14,3–21 beschrieben werden.52 Hinter den mit ihr einhergehenden kosmischen Begleiterscheinungen musste das Auftreten eines abgerissenen galiläischen Wanderpredigers, auch wenn zu ihm auch Heilungen und Exorzismen gehörten, hoffnungslos zurückbleiben. Mit Recht ist darum wiederholt von der „Unscheinbarkeit“ der Gottesherrschaft im Auftreten Jesu gesprochen worden.53 Aber auch an dieser Stelle ist zu präzisieren: Jesus hat sein Auftreten durchaus nicht als Alternative zur erwarteten eschatologischen Theophanie Gottes verstanden. Er hat nach wie vor fest damit gerechnet, dass Gott auch noch selbst kommen wird, um seine Herrschaft über die gesamte Schöpfung endgültig durchzusetzen, und er hat dieses Kommen für die allernächste Zeit erwartet. Diese Hoffnung hat ihn auch nach Jerusalem geführt. Für den von Jesus erhobenen Anspruch ist damit charakteristisch, dass beides zusammengehört: dass sein eigenes Wirken gerade in seiner Unscheinbarkeit ein integraler und konstitutiver Bestandteil der eschatologischen Durchsetzung von Gottes Königsherrschaft über die gesamte Schöpfung ist. Diesen Zusammenhang
Vgl. die Übersetzung des Textes o. S. 102 f. Vgl. Kümmel, Theologie, 34; Welker/Wolter, Unscheinbarkeit.
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4. Jesus und die Gottesherrschaft
erläutert Jesus durch eine Reihe von Gleichnissen, die an anderer Stelle zu besprechen sind54. Die Aufgabe, die sich daraus für die folgenden Kapitel ergibt, liegt auf der Hand: Es soll danach gefragt werden, wie die anderen Aspekte des Auftretens und des Geschicks Jesu von Nazaret mit der besonderen Weise verbunden sind, die seinen Umgang mit der jüdischen Erwartung des Reiches Gottes kennzeichnet, wie wir sie im vorangegangenen Kapitel dargestellt haben.
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S. u. S. 180–186.
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VII. „Er heilte viele, die an mancherlei Gebrechen litten, und trieb viele Dämonen aus“ (Mk 1,34) VII. Jesu Heilungen und Exorzismen
1. Warum man nicht von „Wundern“ sprechen sollte 1.1 In diesem Kapitel soll es um einen Aspekt des Auftretens Jesu gehen, der häufig unter die Überschrift „Wunder“ oder „Wundertaten“ Jesu gestellt wird. Auf die Verwendung dieser Begriffe soll aber im Folgenden bewusst verzichtet werden. Der Grund dafür ist leicht zu verstehen: Wunder gibt es nur insofern, als manche Menschen bestimmte Vorgänge als „Wunder“ wahrnehmen oder „Wunder“ nennen. Das gilt sowohl für den Inhalt als auch für den Umfang des Begriffs.1 In Bezug auf den Inhalt des Begriffs können wir das deutsche Wort „Wunder“ als Ausgangspunkt nehmen, das aus derselben Wurzel wie „sich wundern“ (griech. thaumázō), „Verwunderung“ oder auch „wunderbar“ kommt. Es beschreibt damit ein Phänomen, indem es die Wirkung eines Geschehens auf einen außenstehenden Betrachter in den Mittelpunkt stellt. Wenn wir ein Ereignis als „Wunder“ bezeichnen, schreiben wir ihm eine bestimmte Eigenschaft zu. Wir charakterisieren es als ein Geschehen, über das man sich „wundert“, weil es von der Normalität abweicht und man es sich nicht erklären kann. Das heißt aber auch umgekehrt: Wer sich ein Geschehen erklären kann, für den ist es Als Begriffsinhalt gilt die gedankliche Vorstellung von dem, was ein Wunder ist, während der Begriffsumfang die Menge aller Geschehnisse umfasst, die als „Wunder“ bezeichnet werden.
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VII. Jesu Heilungen und Exorzismen
kein „Wunder“ mehr, weil er sich über es nicht mehr „wundert“.2 Es kommt also immer auf die individuelle Perspektive der außenstehenden Betrachter an. Was die einen für ein „Wunder“ halten, können andere für ein Ereignis halten, für das es eine vernünftige und nachvollziehbare Erklärung gibt. Es gibt kein Geschehen, das von sich aus ein „Wunder“ wäre und das von allen Menschen darum auch als ein „Wunder“ wahrgenommen werden könnte. Wenn bestimmte Menschen ein Ereignis für ein Wunder halten, so sagt das immer nur etwas über diese Menschen aus, nicht das Geringste hingegen über den Charakter dieses Ereignisses selbst. Wenn Jesu Handlungen in diesem Sinne als „Wunder“ bezeichnet werden, so wird dadurch nicht die Eigenart der Handlungen charakterisiert, die Jesus selbst ihnen beigelegt hat, sondern ihre Beurteilung durch Außenstehende vor dem Hintergrund ihrer kulturellen Enzyklopädie. Der Begriff „Wunder“ drängt darum die materiale Eigenart des Handelns Jesu in den Hintergrund und macht sich selbst zu dessen eigentlichem Gegenstand. Nicht was Jesus getan hat, ist dann mehr von Bedeutung, sondern dass es Wunder waren. Dieser Charakter des Begriffs „Wunder“ hat zur Folge, dass sein Umfang überaus unspezifisch und diffus wird. Alles Mögliche kann auf diese Weise als „Wunder“ deklariert werden. Mit Bezug auf die Jesusüberlieferung findet sich ein Gebrauch von „Wunder“ als Sammelbegriff, der auf ganz heterogene Ereignisse bezogen wird. Zu ihnen wird aus der Jesusüberlieferung die Geburt Jesu aus einer Jungfrau (Mt 1,18–25; Lk 1,26–38; 2,1–7) genauso gezählt wie die Schwangerschaft der unfrucht In diesem Sinne schreibt bereits Strauß, Glaubenslehre I, 231 unter der Überschrift „Auflösung des Wunderbegriffs“: „Das Wunder (ist) nur ein von der Unwissenheit in ein gemeintes Wissen verkehrtes Nichtwissen“.
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1. Warum man nicht von „Wundern“ sprechen sollte
baren Elisabeth (Lk 1,5–26), die Heilungen und Dämonenaustreibungen Jesu, die Speisung der Fünftausend (Mk 6,30–44), der Seewandel (Mk 6,45–52), der wunderbare Fischfang (Lk 5,1–11), die Verfluchung des Feigenbaums (Mk 11,12–14.20), die Verwandlung von Wasser in Wein (Joh 2,1–10), die Verklärung Jesu (Mk 9,2–8) oder gar die Auferstehung Jesu, obwohl es von der nicht einmal eine Erzählung gibt. Die Charakterisierung all dieser Ereignisse und der Erzählungen von ihnen als „Wunder“ ebnet die Unterschiede zwischen ihnen ein und lässt auf diese Weise ihr individuelles theologisches Profil in den Hintergrund treten. Dem entspricht auch ein formgeschichtlicher Sachverhalt: Es gibt weder in den oben genannten noch in den anderen neutestamentlichen Texten, die als „Wundergeschichten“ oder „Wundererzählungen“ bezeichnet werden, auch nur ein einziges sprachlich beschreibbares Element, das ihnen allen gemeinsam wäre und damit als obligatorisches Merkmal für so etwas wie eine Gattung „Wundererzählung“ fungieren könnte. Das Vorhandensein eines solchen Merkmals ist aber eine unverzichtbare und notwendige Bedingung für die Identifikation eines Textes als „Wundererzählung“. Sein Fehlen ist darum ein zuverlässiges Indiz dafür, dass es für das Postulat einer solchen Gattung keine Textgrundlage gibt.3 1.2 Das Ergebnis des vorangegangenen Abschnitts wird auch durch den Quellenbefund bestätigt. In den neutestamentlichen Evangelien wird nur ein einziges Mal mit einem Begriff von Jesu Handlungen gesprochen, der sich mit dem deutschen Wort „Wunder“ be Vgl. in diesem Sinne auch Berger, Formen, 362–367. – Dementsprechend ist es auch kein Zufall, dass in dem von D. Lamping herausgegebenen „Handbuch der literarischen Gattungen“ ein Artikel zum Stichwort „Wundergeschichte“ oder „Wundererzählung“ fehlt.
3
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VII. Jesu Heilungen und Exorzismen
rührt: In Mt 21,15 nennt Matthäus die Heilung von Blinden und Lahmen im Tempel „die thaumásia, die er tat“. Martin Luther u. a. übersetzen hier zwar mit „Wunder“, doch lässt der Gebrauch dieses Wortes in der antiken griechischen Literatur erkennen, dass diese Wiedergabe viel zu eng ist. Angebracht wäre eine Übersetzung mit „wunderbare Dinge“.4 Auch sonst „wundern“ (thaumázō) sich die Menschen häufig über Jesu Taten5, doch werden die dadurch noch lange nicht zu „Wundern“. Das Verb bringt hier genauso wie im Deutschen einfach nur zum Ausdruck, dass die Menschen etwas nicht verstehen.6 Dasselbe gilt auch für die Bezeichnung der Taten Jesu als „unglaubliche Taten“ (parádoxa érga) bei Flavius Josephus.7 In der hellenistischen Umwelt Jesu war der Begriff parádoxa so etwas wie ein terminus technicus zur Bezeichnung von Geschehnissen, für die es auf Grund der menschlichen Erfahrung keine Erklärung gab. Mit ihm wurden u. a. Geschichten von Geschlechtswechseln, androgynen Menschen, Monstergeburten, schwangeren Männern u. a. m. bezeichnet.8 Dieser Begriff gab sogar einer ganzen Literaturgattung ihren Namen,
4 In der Septuaginta bezeichnet ta thaumásia meistens die Taten Gottes, die man erzählt, an die man sich erinnert und die man in den Psalmen besingt (z. B. Ri 6,13; 1Chr 16,9.12; Neh 9,17; PsLXX 9,2; 25,7; 39,6; 70,17; 71,18; 76,12.15 u. ö.). – Interessant sind auch Hiob 17,8; 18,20 und Apk 17,6, wo das griechische Wort thaúma („Wunder“) nicht ein Geschehen bezeichnet, sondern den Schauder, die Verwunderung oder das Entsetzen, das die Zeugen eines Geschehens ergreift. 5 Vgl. Lk 8,25 und Mt 8,27; Mt 9,33; 15,31; 21,20; Lk 9,43; 11,14; Joh 5,20; 7,21. 6 Vgl. z. B. Lk 20,26 und Mt 22,22; Mk 5,20; 6,6; 15,5.44; Lk 2,18.33; 11,38; Joh 4,27. 7 S. o. S. 46. 8 Vgl. z. B. Sir 43,24–25: „Die das Meer befahren, erzählen von seiner Gefahr, und wir wundern uns (thaumázomen) über das, was unsere Ohren hören, denn dort gibt es unglaubliche und wundersame Taten (parádoxa kai thaumásia érga), Vielfalt von allem Lebendigen, Schöpfung von Ungeheuern“.
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1. Warum man nicht von „Wundern“ sprechen sollte der „Paradoxographie“.9 In Lk 5,26 legt Lukas dieselbe Deutung den Zeugen der Heilung des Gichtbrüchigen in den Mund: „Und Entsetzen ergriff alle, und sie priesen Gott und sagten voller Furcht: ‚Heute haben wir parádoxa gesehen‘.“ Lukas charakterisiert damit nicht die Eigenart der Heilung, sondern deren Deutung durch die Augenzeugen. Er will auf diese Weise zu verstehen geben, dass die Menschen den Charakter der Heilung nicht verstanden haben. Sie halten sie für ein Geschehen, das von derselben Art ist, wie wenn in Rom eine Frau ein zweiköpfiges Kind zur Welt bringt, wovon Phlegon v. Tralleis in seinem „Wunderbuch“ erzählt (Mirabilia 25; s. Anm. 9).
Demgegenüber verwenden die Verfasser der neutestamentlichen Evangelien für die Taten Jesu ganz andere Sammelbegriffe: In den synoptischen Evangelien dominiert der Begriff dýnamis, dynámeis („Machttat“, „Machttaten“).10 Diese Bezeichnung unterscheidet sich insofern von unserem Wunderbegriff, als sie nicht von der Wirkung der so bezeichneten Taten auf den Betrachter ausgeht, sondern auf ihren Vollbringer blickt. Sie kennzeichnet ihn damit als „Machttäter“, den Gott mit einer herausragenden „Kraft“ (dýnamis) ausgestattet hat. Es wird angenommen, dass diese Kraft, die durchaus als Substanz verstanden ist, ihn in die Lage versetzt, Dinge zu tun, zu denen sonst kein Mensch fähig ist.11 Die mit dieser Bezeichnung einhergehende Deutung der Taten Jesu basiert auf einem Weltbild, das durch die Annahme gekennzeichnet ist, dass die gesamte Welt sowie alles Geschehen in ihr durch die Wirkung und Interaktion von „Kräften“ (dynámeis) bestimmt ist, die allem innewohnen, was in der Welt belebt oder unbelebt existiert. Vgl. O. Wenskus / L. Daston, Art. Paradoxographoi, DNP 9 (2000) 309–314. Aus der einschlägigen griechischen Literatur ist leicht zugänglich: Phlegon v. Tralleis, Das Buch der Wunder, eingel., hg. u. übers. v. K. Brodersen, Darmstadt 2002. 10 Lk 10,13 und Mt 11,21; Mk 6,2.5; Lk 19,37; Mt 11,20.23. 11 Vgl. Mk 5,30; 6,14; Lk 4,36; 5,17; 6,19; 8,46. 9
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VII. Jesu Heilungen und Exorzismen
Von so etwas wie einer „Durchbrechung der Natur gesetze“ kann bei dieser Vorstellung darum keine Rede sein, denn ihr zufolge agiert Jesus ganz innerhalb des zu seiner Zeit in Geltung stehenden Weltbildes. Demgegenüber heißen Jesu Taten im Johannesevangelium immer und ohne Ausnahme sēmeíon, sēmeía („Zeichen“).12 Der Evangelist nennt sie so, weil sie die Herrlichkeit Gottes erkennbar machen. Man kann den Sinn dieser Bezeichnung auch mit Joh 1,14 („Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit“) erklären: Die Taten Jesu sind gewissermaßen das „Fleisch“, durch das die „Herrlichkeit“ des Wortes überhaupt erst sichtbar und erfahrbar wird. Sie sind „Zeichen“, weil sie die wahrnehmbare Gestalt von etwas sind, das als solches unerkennbar ist. Wie man ein „Wort“ nicht sehen kann, es sei denn, es wird „Fleisch“, kann man die „Herrlichkeit“ Gottes nicht sehen, wenn sie sich nicht im Tun dessen offenbart, durch den sie in die Welt gekommen ist.
2. Welche „Machttaten“ Jesu haben eine historische Grundlage? 2.1 Die langjährige Erforschung der sog. „Machttaten“ Jesu hat, was die Frage ihrer Historizität angeht, zu einem Ergebnis geführt, das heute mit einer in der Jesusliteratur äußerst seltenen Einmütigkeit vertreten wird. Es besagt, dass nur die Krankenheilungen und Dämonenaustreibungen (Exorzismen) Jesu als Bestandteil des öffentlichen Auftretens Jesu in Frage kommen. Diese Joh 2,11.23; 3,2; 4,54; 6,2 („sie sahen die Zeichen, die er an den Kranken tat“).14.26; 7,31; 9,16; 11,47; 12,18.37; 20,30. 12
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2. Welche „Machttaten“ Jesu haben eine historische Grundlage?
Annahme lässt sich in der Tat gut begründen. Für sie spricht vor allem, dass in den Evangelien nicht nur zahlreiche Erzählungen von individuellen Heilungen und Exorzismen überliefert sind13, sondern dass dieser Aspekt des Wirkens Jesu auch in die Wortüberlieferung Eingang gefunden hat. Das gilt nicht nur für die sog. Beelzebul-Kontroverse Mk 3,22–27 sowie Lk 11,14–23 und Mt 12,22–3014, Jesu Antwort an die Boten des Täufers Lk 7,22 und Mt 11,515 sondern auch für Lk 13,32, wo Jesus mit den Worten: „Siehe, ich treibe Dämonen aus und vollbringe Heilungen heute und morgen“, sein Wirken zusammenfassend charakterisiert. Solche Summarien finden sich als komprehensive Berichte über Jesus an zahlreichen Stellen der synoptischen Evangelien.16 Auch in ihnen ist immer nur von Heilungen und Exorzismen als einem Tun die Rede, das für Jesu Auftreten insgesamt typisch ist. Diese Sammelberichte stammen zwar von den Verfassern der Evangelien, doch darf man sie durchaus als Nachwirkung und Wiedergabe des Gesamteindrucks von Jesu Wirken ansehen, deren Wurzeln bis in die Zeit Jesu selbst zurückreichen. Nach Mk 3,22 sowie Lk 11,15 und Mt 12,24 ziehen selbst Jesu Gegner nicht in Zweifel, dass er Dämonen austreibt. Sie werfen ihm lediglich vor, dass er sich dabei die Hilfe einer stärkeren dämonischen Macht zunutze macht.
Die meisten finden sich im Markusevangelium und wurden dann mit ganz geringen Ausnahmen von Matthäus und/oder Lukas übernommen. Es gibt sie aber auch im Spruchevangelium Q (Lk 7,1–10 und Mt 8,5–13; Lk 11,14 und Mt 9,32–33 und 12,22) sowie im Johannesevangelium (Joh 4,46–53; 5,1–9; 9,1–7). 14 Zu ihr s. o. S. 116 und u. S. 141–146. 15 Zu diesem Text s. u. S. 146–148. 16 Vgl. Mk 1,34.39; 3,10–11; 6,55–56; Lk 9,11 und Mt 14,14; Lk 5,15; 6,18; 7,21; 8,2; Mt 4,23.24; 9,35; 15,30; 21,14. 13
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VII. Jesu Heilungen und Exorzismen
Wenn Heilungen und Exorzismen als ein Element gelten können, das für Jesu Auftreten insgesamt charakteristisch war, so entlastet uns dies bei der Beurteilung der Historizität der individuellen Erzählungen. Einerseits macht die Gewissheit, dass Jesus Kranke geheilt und Dämonen ausgetrieben hat, noch nicht jede einzelne Heilungs- oder Exorzismuserzählung der Evangelien zur Wiedergabe eines historisch gesicherten Geschehens. Wir müssen vielmehr damit rechnen, dass etliche von ihnen keine Grundlage im Wirken Jesu haben, ohne dass wir in jedem Einzelfall sagen könnten, bei welchen das der Fall ist. Andererseits können wir dieses Problem aber leicht umgehen, wenn wir die Einzelerzählungen als verdichtete Erinnerungen an einen für das Auftreten Jesu insgesamt charakteristischen Aspekt ansehen. Selbst wenn keine der Heilungen und keiner der Exorzismen sich so abgespielt hätten, wie die Evangelien sie erzählen, würde das nichts daran ändern, dass Jesus Kranke geheilt und Dämonen ausgetrieben und diese Tätigkeit seinem Auftreten ein markantes Profil verliehen hat. Aus der umgekehrten Perspektive betrachtet kann als wahrscheinlich gelten, dass innerhalb der Jesusüberlieferung solche Einzelerzählungen auf einer historischen Reminiszenz basieren, in denen die Geheilten durch die Nennung eines Namens individuell identifiziert werden. Das ist der Fall bei der Schwiegermutter des Petrus (Mk 1,29–31), bei der Tochter des Synagogenvorstehers Jaïrus (Mk 5,21–24a.35–43), bei dem Sohn des Timaios (aramäisch/griechisch: „Bar-Timaios“; Mk 10,46–52), bei Maria Magdalena (Lk 8,2) und möglicherweise auch bei Lazarus aus Bethanien (Joh 11,1–45). Von den beiden Totenerweckungen in Mk 5,21–24a. 35–43 (Tochter des Jaïrus) und Joh 11,1–45 (Lazarus) wird in der Regel angenommen, dass es sich ursprünglich um Krankenheilungen gehandelt hat, die im
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2. Welche „Machttaten“ Jesu haben eine historische Grundlage?
Nachhinein zu Auferweckungen von Toten ausgestaltet wurden. Diese Umformung wurde durch das jüdische Verständnis von Krankheit erleichtert. Ihm zufolge befindet auch der kranke Mensch sich schon im Machtbereich des Todes. In der Krankheit ragt der Tod in das menschliche Leben hinein, so dass Heilung als Rettung aus dem Tod wahrgenommen werden kann17. Demgegenüber sprechen gute Gründe dafür, dass es sich bei der Erzählung von der Auferweckung des Sohnes der Witwe vor den Toren von Naïn (Lk 7,11–17) um eine Erzählung handelt, die Lukas von 1Kön 17,17–24 her gelesen wissen will, damit er sie zusammen mit der in V. 1–10 erzählten Heilung in das Licht von 4,25–27 stellen kann.18 Auffällig ist an dieser Erzählung auch, wie intensiv Lukas sie mit Motiven aus hellenistischen Totenerweckungs-Erzählungen ausgestattet hat.19 2.2 Was ist mit den anderen „Machttaten“? In der Fachliteratur werden sie häufig unter der Überschrift „Naturwunder“ zusammengefasst.20 Im allgemeinen sind es die folgenden Episoden, die mit diesem Etikett versehen werden: – die Sturmstillung (Mk 4,35–41 und Lk 8,22–25; Mt 8,23–27), – die Speisung der Fünftausend (Mk 6,30–44 und Lk 9,12–17; Mt 14, 13–21; Joh 6,1–13) und ihre Dublette, die Speisung der Viertausend (Mk 8,1–9 und Mt 15,32–38), – der Seewandel (Mk 6,45–52 und Mt 14,22–36; Joh 6,16–21), Vgl. z. B. Ps 18,5–6; 22,16; 49,16; 86,13; 88,4–6; 116,3.8. Darum wiederholt Lukas in 7,15 die Worte „und er gab ihn seiner Mutter“ aus 1Kön 17,23. Zu dieser Perspektive gehört auch, dass Lukas die Mutter des Verstorbenen in den Mittelpunkt der Erzählung stellt. Von ihr ist in V. 12–13 nicht weniger als sechsmal die Rede. 19 Vgl. dazu Wolter, LkEv, 274–277; Kollmann, Jesus, 266–268; ders., Wundergeschichten, 93–94. 20 Vgl. z. B. Bultmann, Geschichte, 230(–233); Schenke, Jesus 158–159; Kollmann, Jesus, 271–281; ders., Wundergeschichten, 98–103. 17 18
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VII. Jesu Heilungen und Exorzismen – der reiche Fischzug (Lk 5,1–11), – die Verfluchung des Feigenbaums (Mk 11,12–14.20 und Mt 21,18–19) sowie – die Verwandlung von Wasser in Wein auf der Hochzeit in Kana (Joh 2, 1–10).
Von den Heilungen und Exorzismen unterscheiden sie sich dadurch, dass Jesus in diesen Erzählungen nicht unmittelbar an Menschen handelt, sondern im Rahmen von „natürlichen“ Gegebenheiten. – Es sind aber vor allem zwei Gründe, die die Bezeichnung „Naturwunder“ für die Charakterisierung dieser Ereignisse ungeeignet machen. Zum einen markiert sie keine plausible Abgrenzung von den anderen „Machttaten“. Totenerweckungen oder Heilungen von Aussätzigen und Blinden sind genauso „ein unmittelbarer Eingriff in das Naturgeschehen“21 wie die Stillung eines Sturmes oder die Verwandlung von Wasser in Wein. Zum anderen sind die als „Naturwunder“ charakterisierten Episoden unter einander viel zu heterogen, um unter ein und derselben Sammelbezeichnung zusammengefasst werden zu können. Es gibt darum auch Vorschläge, sie durch andere Kategorien zu ersetzen.22 Mit ihnen verbindet sich die Intention, die Unterschiede zwischen den oben genannten Handlungen Jesu deutlich zu machen. Sie unterscheiden sich von Jesu Heilungen und Exorzismen auch durch ihre Einmaligkeit. Außerdem haben sie keine Spuren in der Wortüberlieferung hinterlassen und begegnen auch nicht in summarischen Zusammenfassungen des Wirkens Jesu, denen es stets darum geht, die für Jesu Auftreten typischen Merkmale zu beschreiben.23 So definiert Kollmann, Wundergeschichten, 98 die „Naturwunder“. Vgl. z. B. die von Theißen, Wundergeschichten, 102–120 vorge schlagene Einteilung in „Epiphanien“, „Rettungswunder“, „Geschenk wunder“ und „Normenwunder“, die von vielen übernommen wurde. 23 S. o. S. 131 Anm. 16. 21 22
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2. Welche „Machttaten“ Jesu haben eine historische Grundlage?
Einige dieser Erzählungen haben miteinander gemein sam, dass sie Jesus Fähigkeiten zuschreiben, über die eigentlich nur Gott verfügt. In diesem Sinne zeigt etwa die Erzählung von der Sturmstillung (Mk 4,35–41), dass Jesus wie Gott Macht hat über die Chaoselemente Wind und Meer.24 Und wenn die Erzählung vom Seewandel (Mk 6,45–52) Jesus über das Wasser gehen lässt, attestiert sie ihm ein Vermögen, das in alttestamentlich-jüdischer Tradition allein Gott zukommt.25 Ebenso könnte auch die Steigerung der Erzählungen von Lazarus (Joh 11,1–45) und der Tochter des Jaïrus (Mk 5,21–24a.35–43) von ursprünglichen Heilungen zu Totenerweckungen damit zu tun haben, dass Gott es ist, dem allein die Fähigkeit zugeschrieben wurde, Tote lebendig zu machen.26 Diese Fähigkeit wird nun auf Jesus übertragen. Die Erzählung von der Speisung der 5000 mit fünf Broten und zwei Fischen (Mk 6,30–44), um ein letztes Beispiel zu nennen, ist unschwer als Überbietung der Brotvermehrung zu erkennen, durch die es dem Propheten Elisa in 2Kön 4,42–44 gelingt, mit zwanzig Broten 100 Menschen satt zu machen. Diese Erzählungen wollen darum so etwas wie erzählte Christologie sein. Vom Glauben an die Auferstehung und Erhöhung Jesu aus tragen sie die himmlische Hoheit Jesu in das Wirken des Irdischen ein. Dem entspricht, dass bei allen Erzählungen aus den synoptischen Evangelien, die zu Beginn dieses Abschnitts genannt wurden, außer Jesus nur noch die Jünger beteiligt sind.
Vgl. z. B. Ps 107,23–32, aber auch 1QH 13,18: „Du, mein Gott, hast Sturmwind in Stille verwandelt“. 25 Vgl. vor allem Hiob 9,8: „… der die Himmel ausspannt, er allein, und schreitet auf den Wogen des Meeres“. 26 In der zweiten Benediktion des 18-Bitten-Gebets heißt es: „Gepriesen seist du, JHWH, der die Toten auferweckt“; s. auch JosAs 20,7. 24
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VII. Jesu Heilungen und Exorzismen Das gilt auch für die Speisung der 5000 (Mk 6,30–44): Hier ereignet sich die Vermehrung der Brote und Fische zwischen den Jüngern und der Menge. Die Geschichte wird so erzählt, dass man den Eindruck gewinnt, dass Jesus im Tun der Jünger wirkt. Die Menge bekommt gar nicht mit, was passiert. Das merken nur die Jünger. Nur sie wissen, dass es nur fünf Brote und zwei Fische sind, die sie verteilen. Die Pointe dieser Episode und ihrer Dublette, der Speisung der 4000 (Mk 8,1–9), besteht nach Mk 8,19–20 darin, dass am Ende mehr übrig bleibt, als zu Beginn vorhanden war. Markus erzählt die beiden Speisungen darum als eine Allegorie auf die christliche Mission unter Juden und Heiden.
In keinem einzigen der sog. „Naturwunder“ sind Menschen, die nicht dem Jüngerkreis angehören, Zeugen dessen, was Jesus tut. Keine einzige Episode wird als Bestandteil von Jesu öffentlichem Wirken erzählt, und drei von fünf spielen in einer Situation, als Jesus mit seinen Jüngern in einem Boot über den See Genezareth fährt. Man kann darum mit guten Gründen vermuten, dass diese Geschichten im Kreis der Anhänger und Nachfolger Jesu entstanden sind. 2.3 Der Sammelbericht über Jesu Wirken aus Mk 1,34, der diesem Kapitel als Überschrift vorangestellt wurde, stellt die Beseitigung von Krankheiten und die Austreibung von Dämonen durch Jesus nebeneinander. Der Text unterscheidet damit zwischen Jesu Heilungen und seinen Exorzismen. Auch in anderen Sammelberichten über das Wirken Jesu treffen wir dieses Nebeneinander an.27 In ihm können wir eine Wahrnehmung individueller menschlicher Leidenszustände erkennen, die zwischen „Krankheit“ und „Besessenheit“ unterscheidet. Diese Unterscheidung lässt sich verstehen, wenn man von den nach außen hin sichtbaren Phänomenen aus Vgl. Mk 1,32; 3,10–11; Lk 6,18; 7,21; 8,2; 13,32; Mt 4,24; s. auch Lk 9,1 und Mt 10,1; Mk 6,13. 27
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2. Welche „Machttaten“ Jesu haben eine historische Grundlage?
geht. Als „Krankheit“ würde dann ein Leiden gelten, das durch etwas am oder im Menschen verursacht ist. Das gilt z. B. für Menschen, die taub oder stumm oder blind oder gelähmt sind, genauso wie für Menschen, die unter inneren Krankheiten leiden wie die blutflüssige Frau von Mk 5,25–34 oder der Wassersüchtige von Lk 14,1–6. Auch wenn das Leiden natürlich die gesamte körperliche und soziale Existenz des Kranken beeinträchtigt, bleiben dessen Personalität und sein Selbst unangetastet. Demgegenüber würde die Wahrnehmung eines Leidens als „Besessenheit“ zum Ausdruck bringen, dass die Betroffenen ihre Personalität verloren haben. Sie sind nicht mehr sie selbst, weil sie von einer fremden Macht beherrscht werden, die in sie eingedrungen ist. Der „Dämon“ oder der „böse“ bzw. „unreine Geist“ bestimmt das Verhalten des Menschen, so dass der Eindruck entsteht, dass dieser Mensch nicht mehr sich selbst gehört und nicht mehr als er selbst agiert. In Mk 1,23–24 und 5,6–7 wird diese Vorstellung dadurch zum Ausdruck gebracht, dass die Worte, die die Besessenen an Jesus richten, nicht als deren eigene Worte identifiziert werden, sondern als Worte, die von den Dämonen gesprochen werden, die in die Menschen Einzug gehalten haben, in ihnen „sitzen“ (hiervon ist das deutsche Wort „besessen“ abgeleitet) und sie beherrschen.28 Und wenn es in Mk 3,11 heißt, dass „die unreinen Geister“ vor Jesus „niederfielen“, so ist damit selbstverständlich gemeint, dass es die von ihnen besessenen Menschen sind, die sol Dieselbe Sicht findet sich auch in der Vita des neupythagoreischen Wanderphilosophen Apollonius von Tyana, der in der zweiten Hälfte des 1. Jahrhunderts auftrat. Der sagt zu einem jungen Mann, welcher einen seiner Lehrvorträge durch lautes Gelächter unterbrochen hatte: „Nicht du frevelst hier, sondern der Dämon, der dich treibt, ohne dass du es weißt“ (Philostratus, Vita Apollonii 4,20; ähnlich auch Lukian v. Samosata, Philopseudes 16: nicht der Kranke, sondern der Dämon antwortet). 28
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VII. Jesu Heilungen und Exorzismen
ches tun (vgl. Mk 5,6).29 „Besessenheit“ ist so etwas wie eine volkstümliche Diagnose, die innerhalb eines Weltbildes möglich ist, das mit der Existenz von „Dämonen“ rechnet, die in die Menschen eindringen und die Herrschaft über sie ergreifen können.30 Es handelt sich um ein Zuschreibungsphänomen, das innerhalb einer bestimmten symbolischen Sinnwelt plausibel ist, weil man sich mit seiner Hilfe das Verhalten und den Zustand von Menschen erklären kann.31 Und wenn in einem kulturellen System Einvernehmen darüber besteht, dass Dämonen in Menschen eindringen und sie beherrschen können, ist es auch möglich, sie aus ihnen wieder auszutreiben. Auf der anderen Seite sollte man „Krankheit“ und „Besessenheit“ bzw. „Heilungen“ und „Exorzismen“ in der Jesusüberlieferung aber auch nicht allzu dualistisch voneinander trennen, denn zwischen ihnen und den mit ihnen verbundenen Vorstellungen gibt es bisweilen Überschneidungen. In diesem Sinne kann es heißen, dass Jesus Menschen „heilt“, die von „unreinen/bösen Geistern“ besessen sind.32 Dem entspricht umgekehrt, dass Lukas die Heilung der fieberkranken Schwiegermutter des Petrus mit einem erzählerischen Element ausstattet, das sich sonst nur in Exorzismen findet: Jesus „schrie das Fieber an“ (Lk 4,39), wie er sonst Dämonen „anschreit“ (vgl. Lk 4,35.41; 9,42). Diese Überschneidung hat ihren Grund sicher darin, dass hohes Fieber mitunter Folgen haben kann, die Sympto men gleichen, die aus den oben genannten Gründen als „Besessenheit“ gedeutet wurden. Nach Mt 9,32 ist In diesem Sinne führt Josephus, Ant. 6,166.168.214 Sauls Depressionen auf das Wirken von Dämonen zurück. 30 Vgl. hierzu Lk 11,24–26 und Mt 12,43–45. 31 Dasselbe gilt natürlich auch von solchen Diagnosen, die heute als „wissenschaftlich“ gelten. 32 Vgl. Mt 12,22; Lk 9,42 und Mt 17,18; Lk 6,18; 7,21. 29
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2. Welche „Machttaten“ Jesu haben eine historische Grundlage?
ein Mensch stumm und nach 12,22 blind und stumm, weil er besessen ist. Die Parallele Lk 11,14 spricht von einem „stummen Dämon“. Ansonsten wird ein solcher Zusammenhang bei Blinden und Stummen nirgendwo hergestellt.33 Wenn man die äußere Gestalt von Jesu Heilungen und Exorzismen mit den Erzählungen von Heilungen und Exorzismen in seiner Umwelt vergleicht, kann man sowohl Gemeinsamkeiten als auch Besonderheiten feststellen. Zu den Gemeinsamkeiten gehört, dass auch in der antiken volksmedizinischen Literatur und in Heilungserzählungen z. B. Spucke wie in Mk 7,33f; 8,23; Joh 9,6 als heilende Substanz bei Augenleiden Erwähnung findet.34 Ebenso sind Heilungen durch Berührung oder Handauflegung35 sowie durch ein heilendes oder exorzistisches Wort36 auch in Texten aus der Umwelt des Neuen Testaments belegt. Demgegenüber ist für die Erzählungen von Jesu Heilungen und Exorzismen eigentümlich, dass manche Elemente, die außerhalb des Neuen Testaments reichlich belegt sind, in der Jesusüberlieferung komplett ausfallen. In diesem Sinne hat Jesus den Kranken niemals diätetische Anweisungen erteilt37 oder die Durchfüh Demgegenüber gilt die Frau, der Lk 13,11 einen „Geist der Krankheit“ zuschreibt, nicht als besessen. Das geht aus V. 12 („du bist von deiner Krankheit erlöst“) hervor. 34 Plinius, Naturgeschichte 28,7,37; 28,22,76; Tacitus, Historien 4,81,1–3. 35 Vgl. Mk 1,31; 6,5; 7,33; 8,23.25; Lk 4,40; 6,19; 13,13; 14,4; 22,51; s. auch Philostratus, Vita Apollonii 4,45; Tacitus, Historien 4,81,1–3; Plutarch, Pyrrhus 3,4; 1QGenApocr 20,28–29. 36 Vgl. Mk 1,25; 2,11; 5,8.41; 7,34; 9,25; 10,52; Mt 8,16; Joh 5,8; s. auch Lukian v. Samosata, Philopseudes 9.16; Philostratus, Vita Apollonii 4,20.45. Beispiele aus den Zauberpapyri nennt Trunk, Heiler, 395–404. 37 Beispiele sind vor allem die Ernährungsanweisungen, die den Kranken im Kurbetrieb der Asklepios-Heiligtümer gegeben wurden (Texte mit deutscher Übersetzung bei Wolter, Theologie, 95.102 f.104f). 33
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VII. Jesu Heilungen und Exorzismen
rung bestimmter Handlungen aufgegeben, die sie auf den Weg zur Heilung führen sollten, die dann erst in der Zukunft erfolgt38. Die Kranken werden bei ihm immer sofort gesund. Bei Exorzismen heilt Jesus immer nur durch das Wort. Er benutzt keine Hilfsmittel39, und er berührt die Besessenen auch nicht, sondern er erteilt den Dämonen immer nur Ausfahrbefehle40. Vom Erscheinungsbild professioneller Ärzte unterscheidet Jesu Auftreten sich auch dadurch, dass er kein Honorar nimmt und dass die Heilung Suchenden vor ihm niederfallen (Mk 1,40; 3,11; 5,6; 7,25). – Was Jesu Heilungen und Exorzismen vor diesem Hintergrund vor allem kennzeichnet, ist aber noch etwas anderes: Sie setzen nicht bestimmte Kenntnisse oder Fertigkeiten voraus, die sich jeder Mensch aneignen und dann erfolgreich anwenden könnte. Aus diesem Grunde kann auch die Kategorie der „Magie“ die Eigenart der Heilungen und Exorzismen Jesu nicht erklären. Denn magische Praktiken kann man lernen. Es sind höchstens seine Gegner, die Jesus in diese Schublade stecken wollen, wenn sie ihm vorwerfen, er treibe die Dämonen „mit Beelzebul“ aus (Mk 3,22; Lk 11,15 und Mt 12,24). Jesus repräsen Vgl. z. B. Philostratus, Vita Apollonii 3,39. – Die Anweisungen von Mk 1,45 und Lk 17,14, dass die Aussätzigen sich den Priestern zeigen sollen, führen nicht die Heilung herbei, sondern beziehen sich auf die Feststellung der Gesundung. Die kann nach Lev 13–14 bei Aussatz nur ein Priester vornehmen (vgl. Lev 13,37 u. ö.). Auch das in Mk 1,45 erwähnte Opfer setzt die bereits erfolgte Heilung voraus (vgl. Lev 14,1–31). 39 Vgl. z. B. Josephus, Ant. 8,47, wo von einem Eleazar erzählt wird, der einen Dämon mit Hilfe eines Fingerrings durch die Nasenlöcher aus einem Besessenen rauszieht. Nach Ant. 6,166.168.214 benutzt David die Musik, um die Dämonen aus Saul „herauszusingen“. In den griechischen Zauberpapyri werden u. a. Amulette, Siegelringe und Räucherpraktiken zur Vertreibung von Dämonen empfohlen (vgl. Trunk, Heiler, 404; Deines, Josephus, 382 Anm. 49). 40 Vgl. Mk 1,25; 5,8; 9,25; Mt 8,16. 38
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3. Ihre theologische Deutung
tiert vielmehr den Typus des charismatischen Heilers, dessen Erfolg auf seiner individuellen „Ausstrahlung“ beruht, die von ihm ausgeht und die ihm von den Kranken zugeschrieben wird. Man hat sie, oder man hat sie nicht. „Lernen“ kann man sie nicht. Diese Wechselbeziehung zwischen der Person des Heilers und denen, die Heilung suchen, hat in der Jesusüberlieferung der synoptischen Evangelien ihren Niederschlag darin gefunden, dass die Heilung auf den „Glauben“ zurückgeführt wird – oder vielleicht sollte man besser sagen: auf das „Vertrauen“, das der Person Jesu entgegengebracht wird und das sich darauf richtet, von ihm Heilung zu empfangen.41 Von hier aus ist es nur noch ein kleiner Schritt zur letzten Frage, die in diesem Kapitel zu erörtern ist.
3. Wie hat Jesus seine Heilungen und Exorzismen theologisch gedeutet? 3. Ihre theologische Deutung
3.1 Wir können von der bereits erwähnten Beelze bul42-Kontroverse ausgehen, die sich mit großer Wahr scheinlichkeit so ähnlich abgespielt hat, wie sie in Mk 3,
Vgl. Mk 5,34.36; 9,24; 10,52; Lk 7,7.9 und Mt 8,8.10; Lk 17,19; Mt 9,27–31; 15,28. 42 In der AT-Übersetzung des Symmachus aus dem 2./3. Jh. n. Chr. heißt der Gott von Ekron in 2Kön 1,2–3 „Beelzebul“. Im hebräischen Text steht hier baʽál-z ebúb („Herr der Fliege“, vulgo „Beelzebub“). Das ist jedoch eine Verballhornung, denn in ugaritischen Texten ist zbl („Fürst“) als Prädikat des Gottes Baʽál belegt. In ihm steckt hebr. z ebúl, was soviel wie „Haus, Wohnstätte“ bedeutet. Baʽál-z ebúl hieße dann: „Herr des Hauses / der Wohnstätte“. Genauso wie die anderen nichtjüdischen Götter wurde auch er zu einem Dämon depotenziert (vgl. 41
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VII. Jesu Heilungen und Exorzismen
22–27 sowie Lk 11,14–23 und Mt 12,22–30 erzählt wird.43 Sie nimmt ihren Ausgang bei einem Vorwurf, der gegen Jesus erhoben wird: Mk 3,22: Und die Schriftgelehrten, die von Jerusalem herabgekommen waren, sagten: „Er hat den Beelzebul“, und: „Mit dem Obersten der Dämonen treibt er die Dämonen aus“. Lk 11,14–15: (14) Und er trieb einen stummen Dämon aus. Es geschah aber, als der Dämon ausgefahren war, da begann der Stumme zu reden, und die Leute wunderten sich. (15) Einige von ihnen aber sagten: „Mit Beelzebul, dem Obersten der Dämonen, treibt er die Dämonen aus“. Mt 12,22–24: (22) Da wurde ein besessener Blinder und Stummer zu ihm gebracht, und er heilte ihn, so dass der Stumme redete und sah. (23) Und alle Leute gerieten außer sich und sagten: „Ist das etwa der Sohn Davids?“ (24) Die Pharisäer aber hörten das und sagten: „Dieser treibt die Dämonen auf keine andere Weise aus als mit Beelzebul, dem Obersten der Dämonen“.
Aus den drei Texten geht hervor, dass Jesu Kritiker nicht bestreiten, dass er Dämonen austreibt. Strittig ist vielmehr, wie diese Fähigkeit zu erklären oder zu deuten ist. Nach Meinung von Jesu Gegnern handelt es sich bei seinen Exorzismen um Auseinandersetzungen innerhalb des vom Teufel regierten Machtbereichs, der Gott und dem Bereich seiner Herrschaft feindlich gegenübersteht. In ihnen beruhe die Überlegenheit Jesu über die Dämonen in den Menschen allein darauf, dass er es ver-
Ps 96,5 in der Fassung der Septuaginta: „Alle Götter der Heiden sind daimónia“). Aus dem Folgenden geht hervor, dass „Beelzebul“ in der Hierarchie der Dämonen zwar eine hohe Stellung einnimmt, aber nicht der Teufel selbst ist. 43 Bei Markus fehlt das szenische Setting, das dem Vorwurf von Jesu Gegnern in Lk 11,14 und Mt 12,22–23 vorausgeht. Wer ursprünglich den Vorwurf erhoben hat, die Schriftgelehrten (Mk 3,22), „einige“ von den „Leuten“ (Lk 11,14–15) oder die Pharisäer (Mt 12,24), ist wahrscheinlich im Sinne der lukanischen Fassung zu beantworten.
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3. Ihre theologische Deutung
stehe, sich der Unterstützung durch eine noch stärkere dämonische Macht zu bedienen. Dieser Deutung liegt der Gedanke zugrunde, dass jeder Exorzist, der einen „Obersten der Dämonen“ veranlassen kann, ihm seine Macht zur Verfügung zu stellen, weniger mächtige Unterdämonen austreiben kann. Es ist aber auch J esus selbst, der mit dieser Deutung dämonisiert und zu einem Bestandteil des vom Teufel regierten Macht bereichs gemacht wird. Die Antwort, mit der Jesus auf diesen Vorwurf reagiert, besteht aus drei Teilen. In den ersten beiden argumentiert er mit dem gesunden theologischen Menschenverstand: Mk 3,23b–26: (23b) Wie kann Satan den Satan austreiben? (24) Denn wenn ein Reich mit sich selbst entzweit ist, kann dieses Reich keinen Bestand mehr haben. (25) Und wenn ein Haus mit sich selbst entzweit ist, wird dieses Haus keinen Bestand mehr haben können. (26) Und wenn der Satan gegen sich selbst einen Aufstand macht und mit sich selbst entzweit ist, kann er keinen Bestand mehr haben, sondern es ist mit ihm vorbei. Lk 11,17b–18b: (17b) Jedes Reich, das mit sich selbst entzweit ist, wird zerstört, und ein Haus nach dem anderen fällt um. (18) Wenn aber auch der Satan mit sich selbst entzweit ist, wie kann sein Reich dann noch Bestand haben? Mt 12,25b–26: (25b) Jedes Reich, das gegen sich selbst entzweit ist, wird zerstört, und jede Stadt oder jedes Haus, die gegen sich selbst entzweit sind, werden keinen Bestand haben. (26) Und wenn Satan den Satan austreibt, ist er mit sich selbst entzweit. Wie kann sein Reich dann noch Bestand haben?
Mit diesem Wort weist Jesus die Deutung zurück, die seine Exorzismen für eine Auseinandersetzung innerhalb der vom Teufel beherrschten Welt hält und dadurch Jesus selbst zu einem dämonischen Akteur macht. Einen solchen Konflikt innerhalb seines Machtbereichs, so argumentiert Jesus, könne der Teufel niemals zulassen, weil es seiner Herrschaft dann erge-
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VII. Jesu Heilungen und Exorzismen
hen würde wie jedem sozialen oder politischen Gebilde unter den Menschen: Wenn seine Einigkeit zerbricht und seine Angehörigen sich gegenseitig bekämpfen, wird sie sich selbst zerstören. Jesus spricht davon, dass „Satan den Satan austreibt“, um deutlich zu machen, dass der gegen ihn gerichtete Vorwurf behauptet, dass der Teufel gegen sich selbst vorgeht. Das zweite Argument ist nur im Spruchevangelium überliefert. Mit ihm führt Jesus den gegen ihn erhobenen Vorwurf, einen Konflikt innerhalb der Welt des Teufels auszutragen, ad absurdum: Lk 11,19 und Mt 12,27: Wenn ich aber die Dämonen mit Beelzebul austreibe – eure Söhne mit wem treiben sie (sie) aus? Darum werden sie eure Richter sein.
„Eure Söhne“ – das sind hier andere Juden, die ebenfalls Dämonen austreiben. Dieses Argument macht zunächst deutlich, dass es in der Tat nicht lediglich darum geht, dass Jesus Dämonen austreibt, denn das tun andere auch. Es geht hier aber auch nicht eigentlich um Jesus, sondern um seine Kritiker, und Jesu Rückfrage will nichts anderes als deren Voreingenommenheit gegen ihn zutage fördern: Wenn sie der Meinung sind, dass er die Dämonen mit Beelzebul austreibt, müssten sie denselben Vorwurf auch gegen andere jüdische Exorzisten erheben. Darum lässt Jesus die Frage, womit die anderen Exorzisten die Dämonen austreiben, unbeantwortet und stellt lediglich fest, dass seine Kritiker durch sie ins Unrecht gesetzt werden („darum werden sie eure Richter sein“). Daran kann man erkennen, dass es ihm nicht um eine Abgrenzung von anderen jüdischen Exorzisten geht, sondern allein um die Auseinandersetzung mit seinen Kritikern. Der dritte Teil der Auseinandersetzung ist kein Argument, sondern es handelt sich um die Antithese, die Jesus dem Vorwurf seiner Kritiker entgegensetzt:
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3. Ihre theologische Deutung Lk 11,20 und Mt 12,28: Wenn ich mit dem Finger Gottes44 die Dämonen austreibe, dann ist die Gottesherrschaft bei euch angekommen.
Der antithetische Bezug auf den gegen Jesus erhobenen Vorwurf lässt das theologische Profil dieser Deutung, die Jesus seinen Exorzismen und über sie seinem gesamten Auftreten gibt, deutlich zutage treten: Jesus gehört nicht auf die Seite des Satans, sondern er steht auf der Seite Gottes und bekämpft die Herrschaft, die der Satan durch die Dämonen über die Menschen ausübt. Seine Exorzismen sind Bestandteil des Siegeszuges, mit dem Gott dabei ist, die Herrschaft des Satans zu beseitigen. Sie tragen den Sieg, den Gott nach Lk 10,18 bereits im Himmel über den Satan errungen hat, auf die Erde und zu den Menschen.45 Mit jedem Dämon, den Jesus austreibt, befreit er einen Menschen aus der Herrschaft des Satans und nimmt diesem ein Stück seiner Macht. Diesen Zusammenhang zwischen der Niederlage des Satans im Himmel nach Lk 10,18 und seinen Dämonenaustreibungen erläutert Jesus in einem Bildwort, das sich in der Spruchquelle an das eben zitierte Wort unmittelbar anschließt, und auch bei Markus noch zur Beelzebul-Kontroverse gehört: Mk 3,27: Niemand kann in das Haus eines Starken eindringen, um seinen Hausrat zu rauben, wenn er nicht zuvor den Starken fesselt; dann kann er sein Haus ausrauben. Lk 11,21–22: (21) Solange der bewaffnete Starke seinen Palast bewacht, ist sein Besitz in Sicherheit. (22) Sobald ihn aber einer, der In Mt 12,28 steht hier „mit dem Geist Gottes“. Wahrscheinlich ist die lukanische Formulierung „mit dem Finger Gottes“ älter. Es handelt sich um eine Anspielung auf Ex 8,15: Die ägyptischen Magier sagen hier zu dem Stab, mit dem Aaron die Mückenplage auslöst: „Das ist der Finger Gottes“. 45 Vgl. zu diesem Zusammenhang o. S. 111–112 sowie gleich im Folgenden. 44
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VII. Jesu Heilungen und Exorzismen stärker ist als er, überfällt und besiegt, nimmt der seine gesamte Rüstung weg, auf die er sich verlassen hat, und verteilt seine Beute. Mt 12,29: Wie kann einer in das Haus des Starken eindringen und seinen Hausrat rauben, wenn er nicht zuvor den Starken fesselt? Dann kann er sein Haus ausrauben.46
Die Metaphorik dieses Wortes ist leicht zu verstehen: Man kann erst das Haus eines „Starken“ ausrauben, wenn man ihn seiner Macht dadurch beraubt, dass man ihn besiegt und fesselt. „Der Starke“ soll der Satan sein, und seine Überwindung bzw. Fesselung stehen für dessen Entmachtung durch die Vertreibung aus dem Himmel. Dieses Geschehen ist die Voraussetzung dafür, dass Jesus nun „sein (d. h. des Satans) Haus ausrauben“ bzw. – unmetaphorisch gesagt – die Dämonen austreiben kann. Was Gott im Himmel getan hat, setzt Jesus auf der Erde fort. Durch ihn handelt Gott auf Erden, oder andersherum gesagt: Jesus ist es, der mit seinen Dämonenaustreibungen auf der Erde Gottes Werk tut. Und hierin besteht dann auch der Unterschied zu den anderen Dämonenaustreibern: dass Jesus mit seinen Exorzismen das eschatologische Heil der Königsherrschaft Gottes unter den Menschen zu einer konkret erfahrbaren Realität werden lässt. Aus Lk 11,20 und Mt 12,28 geht hervor, dass dieses Alleinstellungsmerkmal von Jesu Exorzismen einzig und allein darauf beruht, dass Jesus es ist, der die Dämonen austreibt. 3.2 Diese Eigenart von Jesu Wirken kommt auch in einem Wort zum Ausdruck, das Lukas und Matthäus aus dem Spruchevangelium übernommen haben. Es handelt sich um die Antwort, die Jesus Johannes dem Täufer übermittelt, als dieser ihn fragen lässt, ob er derjenige sei, dessen Kommen von ihm, Johannes, ange Dieses Wort ist auch in EvThom 35 überliefert.
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3. Ihre theologische Deutung
kündigt wurde.47 Jesus gibt hier eine Beschreibung seines Wirkens, in der es vor allem um seine Heilungen geht. Angeredet werden die Boten des Täufers, und der Wortlaut von Jesu Antwort ist in beiden Evangelien nahezu identisch: Lk 7,22b–23 und Mt 11,4c–6: Geht und berichtet Johannes, was ihr gesehen und gehört habt: Blinde sehen, Lahme gehen, Aussätzige werden rein, und Taube hören, Tote werden auferweckt, den Armen wird gefrohbotschaftet. Und selig, wer an mir keinen Anstoß nimmt.
Die Deutung seiner Heilungen, die Jesus in diesem Wort vornimmt, erfolgt dadurch, dass er auf eine Reihe von prophetischen Verheißungen aus dem Jesaja-Buch anspielt. In diesen Texten wird Gottes eschatologisches Heilshandeln an Israel metaphorisch umschrieben und für die Zukunft angekündigt: Jes 26,19: Deine Toten werden leben, und deine Leichname werden auferstehen. Jes 29,18–19: (18) An jenem Tag werden die Tauben die Worte des Buches hören, und die Augen der Blinden werden aus Dunkel und Finsternis sehen, (19) und die Elenden werden wieder jubeln. Jes 35,5–6: (5) Dann werden die Augen der Blinden aufgetan, und die Ohren der Tauben werden geöffnet. (6) Dann werden die Lahmen springen wie ein Hirsch, und die Zunge der Stummen wird froh locken. Jes 61,1: Er (sc. der Herr) hat mich gesandt, den Armen zu frohbotschaften.
Dieselben Schriftworte werden auch in einem Text aus Qumran aufgenommen, der ebenfalls in metaphorischer Umschreibung von Gottes endzeitlichem Heilshandeln an den Frommen und Gerechten seines Volkes spricht: Ob diese Einbettung des Jesus-Wortes eine historische Grundlage hat, ist unsicher bis zweifelhaft. 47
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VII. Jesu Heilungen und Exorzismen 4Q521 Fragm. 2 II,5–13:48 (5) Denn der Herr kümmert sich um Fromme und ruft Gerechte beim Namen. (6) Über Elenden schwebt sein Geist, und Getreue stärkt er neu durch seine Kraft. (7) Er macht Fromme herrlich auf einem Thron des ewigen Königreichs. (8) Er löst Gebundene, öffnet blinde (Augen), richtet auf Ge[beugte]. … (9) Und ich will für [im]mer anhaf[ten den Ho]ffenden und in Seiner Huld […] (10) Und die Fruch[t guter Ta]t wird sich einem Mann nicht verzögern. (11) Und glorreiche Dinge, die nicht gewesen, wird der Herr tun, wie er ges[agt hat]. (12) Dann heilt er Durchbohrte, und Tote belebt er, Elenden frohbotschaftet er. (13) Und [Niedrig]e sät[tigt er, Ve]rlassene leitet er, und Hungernde macht er rei[ch].
Aus diesem Text geht hervor, dass es im frühen Judentum die Hoffnung auf ein eschatologisches Eingreifen Gottes zugunsten seines Volkes gab, deren sprachliche Gestalt sich aus den oben zitierten prophetischen Texten speiste. Auf diese Hoffnung greift Jesus zurück, um sein Wirken theologisch zu deuten. Von maßgeblicher Bedeutung ist dabei, dass die alttestamentlichen Texte und deren Rezeption in 4Q521 Gottes endzeit liches Heilshandeln an seinem Volk beschreiben. Dementsprechend findet das Wort Jesu seine Pointe darin, dass er es ist, der Gottes Werk tut. Was Israel auf Grund der prophetischen Verheißungen von Gott erwartete, wird nun durch Jesus in die Tat umgesetzt. 3.3 Um Jesu Deutung seiner Heilungen und Exorzismen auf den Punkt zu bringen, genügen wenige Worte: Wenn Jesus den Menschen Heilung bringt, bringt er ihnen das Heil Gottes. Wenn Jesus Menschen heilt, schenkt er ihnen, was nur Gott schenken kann. Die theologische Ebene, auf der Jesus sich mit dieser Deutung bewegt, tritt dabei nicht nur zwischen den Zeilen hervor. Es ist die Ebene der heilvollen Schöpfungsordnung, die Gott der von ihm erschaffenen Welt 48
Übersetzung nach Maier, Qumran-Essener, 684.
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3. Ihre theologische Deutung
geschenkt hat und die durch das Wirken des Teufels und den ihm folgenden Einbruch der Sünde und des Leidens zerstört wurde. Dieser Deutungszusammenhang war bereits erkennbar geworden, als im Umfeld von Lk 10,18 Texte in den Blick traten, denen zufolge Gott seine eschatologische Herrschaft über die gesamte Schöpfung damit durchzusetzen beginnt, dass er den Teufel entmachtet.49 Wenn Gott seine universale Herrschaft etabliert, stellt er seine gute Schöpfung50 wieder her, und schafft nicht nur die Macht des Teufels, sondern auch die Unheilsfolgen aus der Welt, die durch dessen Wirken über die Menschen gekommen waren. Zwei apokalyptische Texte lassen erkennen, wie präsent dieser Zusammenhang in der Vorstellung des Judentums zur Zeit Jesu war: syrBar 56,6 über die Folgen des Ungehorsams Adams: „Denn als er übertreten hatte, ist der vorzeitige Tod gekommen, und Trauer ward genannt und Trübsal vorbereitet, die Krankheit ward geschaffen und Mühsal ward vollendet …“ syrBar 73,1–2: Und einst wird es geschehen, wenn er alles erniedrigt hat, was in der Welt besteht, und sich gesetzt auf den Thron seiner Königsherrschaft in ewigem Frieden, dass Freude dann geoffenbart und Ruhe erscheinen wird. Gesundheit wird im Tau herniedersteigen, die Krankheit wird verschwinden, und Angst und Trübsal und Wehklagen gehen vorüber an den Menschen, und Freude wird umhergehen auf der ganzen Erde.
S. o. S. 111–112 mit den Übersetzungen von AssMos 10,1 (S. 103) und Apk 12,7–10 (S. 110). 50 Vgl. Gen 1,4.10.12.18.21.25.31. Auf diese Texte wird in Mk 7,37 angespielt, wo Markus die Zeugen der Heilung eines Taubstummen mit den Worten reagieren lässt: „Er hat alles gut gemacht; er macht sowohl die Tauben hören als auch die Stummen reden“. Diese Akklamation bezieht sich aber nicht nur auf die unmittelbar vorangegangene Heilung, sondern nimmt im Rückblick eine ganze Reihe von Heilungen Jesu in den Blick. Darum lässt Markus die Leute auch „alles“ sagen. 49
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VII. Jesu Heilungen und Exorzismen Schon Jes 33,22c–24 hat Gottes Königsherrschaft in Zion-Jerusalem ganz ähnlich beschrieben: JHWH ist unser König. Er ist es, der uns Hilfe schafft. …. Kein Mensch, der dort wohnt, wird sagen: „Ich bin krank.“ Dem Volk, das in ihr wohnt, ist seine Schuld vergeben.51
Krankheit hat ihren Grund demnach nicht wie im medizinischen Denken der hellenistischen Umwelt Jesu in einer Störung der Natur (phýsis), sondern als Folge der Sünde in einer Störung des Gottesverhältnisses.52 Wenn man die Heilungen und Exorzismen Jesu in diesen Zusammenhang einordnet, bekommen sie einen profilierten theologischen Sinn. Sie werden dann als ein integraler Bestandteil eines Handelns Gottes erkennbar, mit dem dieser die Störung des Verhältnisses zwischen ihm und den Menschen von sich aus überwindet und die heilvolle Schöpfungsordnung, die er der Welt ursprünglich eingestiftet hatte, wiederherstellt. Dem Zusammenhang von Krankheit und Sünde entspricht bei Jesus der Zusammenhang von Heilung und Sündenvergebung, wie er in Jes 33,24 erkennbar geworden ist und wie er innerhalb der Jesusüberlieferung seinen deutlichsten Ausdruck in den Worten findet, die Jesus bei der Heilung des Gelähmten erst an seine Kritiker und dann an den Kranken richtet: Mk 2,10–11: „Damit ihr seht, dass der Menschensohn Vollmacht hat“ – spricht er zu dem Gelähmten: „Ich sage dir, steh auf, nimm dein Bett und geh nach Hause“. Vgl. auch Ps 146,6–10: Zu den Merkmalen von Gottes Königsherrschaft (V. 10) gehört sowohl, dass er „Himmel und Erde gemacht hat, das Meer und alles, was darinnen ist“ (V. 6), als auch, dass er „die Augen der Blinden öffnet“ und „die Gebeugten aufrichtet“ (V. 8). 52 Auf dieser Linie liegt auch der Versuch einer Erklärung, die die Jünger in Joh 9,2 bei einem Blindgeborenen unternehmen, indem sie Jesus fragen: „Wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, so dass er blind geboren wurde?“ Vgl. auch Ps 38,4: „nichts Heiles ist an meinen Gebeinen wegen meiner Sünde“. 51
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3. Ihre theologische Deutung
Dass Jesus mit dieser Deutung seiner Heilungen und Exorzismen einen Anspruch zur Geltung brachte, der – um es zurückhaltend auszudrücken – von seinen jüdischen Zeitgenossen als außergewöhnlich empfunden werden konnte (Joh 10,33 lässt sie von Gotteslästerung sprechen), geht aus beiden Texten hervor, die in diesem Abschnitt besprochen wurden. In der Beelzebul-Kontroverse Lk 11,14–23 und Mt 12,22–30 steht Jesu Wort über den Charakter seiner Dämonenaustreibungen (Lk 11,20 und Mt 12,28) in einem unmittelbaren Zusammenhang mit dem gegen ihn erhobenen Vorwurf, er würde die Dämonen mit der Hilfe von Beelzebul austreiben (Lk 11,15 und Mt 12,24; s. auch Mk 3,22). Hiermit lässt sich die Seligpreisung verbinden, mit der Jesus in Lk 7,22b–23 und Mt 11,4c–6 seine Antwort an Johannes den Täufer abschließt: „Und selig, wer an mir keinen Anstoß nimmt.“ In Mk 3,28–30 und Mt 12,31–32 folgt sogar noch Jesu Feststellung, dass die Lästerung des heiligen Geistes die einzige Sünde ist, die Gott nicht vergeben wird. Bei Lukas steht sie an einer anderen Stelle (Lk 12.10). Alle drei Texte lassen sich ohne Schwierigkeiten miteinander verbinden, denn sie zielen auf ein und denselben Punkt: Wer Jesus vorwirft, er treibe die Dämonen mit Beelzebul aus, nimmt an ihm Anstoß und lästert den heiligen Geist. Hieraus geht hervor, dass die theologische Deutung, mit der Jesus seine Heilungen und Exorzismen versieht, ein Selbstverständnis impliziert, das extrem profiliert und gerade darum für seine Zeitgenossen schwer zu akzeptieren gewesen sein dürfte.
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VIII. „Ein Fresser und Weinsäufer, ein Freund von Zöllnern und Sündern“ (Lk 7,34 und Mt 11,19) VIII. „Fresser und Säufer“, „Zöllner- und Sünderfreund“
1. Worauf bezieht sich dieser Vorwurf? Der in der Überschrift wiedergegebene Vorwurf gehört zu einem Jesuswort, das im Spruchevangelium überliefert wurde. Jesus kritisiert mit ihm seine Zeitgenossen als Menschen, die so voreingenommen sind, dass man ihnen nichts recht machen kann. Als Beleg dafür nimmt er ihr Urteil über Johannes den Täufer und ihn selbst: Obwohl Johannes und er gegensätzliche Ernährungsstile praktizieren, werden beide ihretwegen von ihren Zeitgenossen diffamiert: Johannes gilt ihnen als „besessen“, weil er asketisch lebt1 (Lk 7,33 und Mt 11,18), während sie Jesus, der im Unterschied zum Täufer keine Nahrungsaskese praktiziert, genau darum einen „Fresser und Weinsäufer“ sowie „Freund von Zöllnern und Sündern“ nennen. Dass Jesus sich von Johannes dem Täufer unter anderem auch dadurch unterschied, dass er ganz offensichtlich programmatisch und theologisch reflektiert keine Speisetabus beachtete, geht auch aus der sog. „Fastenfrage“ hervor, die erstmals im Markusevangelium begegnet:
Das ist mit der Formulierung „aß kein Brot und trank keinen Wein“ in Lk 7,33 gemeint. In der Parallele Mt 11,18 heißt es darum auch: „aß nicht und trank nicht“ (vgl. auch Röm 14,3.6 neben 14,2). Zur Sache vgl. Mk 1,6: Johannes ernährte sich von „Heuschrecken und wildem Honig“.
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VIII. „Fresser und Säufer“, „Zöllner- und Sünderfreund“ Mk 2,18: Die Jünger des Johannes und die Pharisäer pflegten zu fasten. Und sie kommen und sagen zu ihm: „Warum fasten die Jünger des Johannes und die Jünger der Pharisäer, während deine Jünger nicht fasten?“
Es ist darum sicher auch kein Zufall, dass sich in den synoptischen Evangelien immer wieder Szenen finden, in denen Jesus an einem Gastmahl teilnimmt.2 Bei keiner dieser Mahlzeiten ist Jesus selbst der Gastgeber. Wie sollte er auch? Er hatte ja keinen festen Wohnsitz. Er ist darum immer der Eingeladene, und in allen Fällen erwecken die Erzählungen den Eindruck, dass er nicht nur der wichtigste Gast war, sondern seine Anwesenheit überhaupt erst den Anlass für die Veranstaltung einer Festmahlzeit abgegeben hat. Man kann darum für die Gastmahlszenen dasselbe sagen wie für Jesu Heilungen und Exorzismen: Selbst wenn keine einzige von ihnen sich so abgespielt hat, wie sie erzählt wird, haben wir es hier mit einem für sein Auftreten typischen Element zu tun. Hinzu kommt sogar noch eine weitere Besonderheit: Die beiden Teile der in Lk 7,34 und Mt 11,19 wiedergegebenen Charakterisierung Jesu, ein „Fresser und Weinsäufer“ und „Freund von Zöllnern und Sündern“ zu sein, werden auch sonst des Öfteren miteinander verknüpft. Es sind gerade „Zöllner und Sünder“, bei denen Jesus zu Gast ist und mit denen er zusammen isst. Das beginnt beim Zöllner Levi, den Jesus gerade in die Nachfolge gerufen hat und in dessen Haus er zusammen mit seinen Jüngern und „vielen Zöllnern und Sündern“ zu Tische sitzt (Mk 2,15). In Lk 19,1–10 kehrt Vgl. jeweils mit Parallelen Mk 2,15; 7,2; 14,3; Lk 7,36; 14,1.15; s. auch Mk 3,20; Lk 13,26; 15,2; 19,5–7. – Die Erzählungen von den Speisungen der 5000 (Mk 6,32–44) und der 4000 (Mk 8,1–9) gehören nicht in diesen Zusammenhang, weil es sich um Allegorien für die christliche Mission handelt (s. o. S. 135 f). 2
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1. Worauf bezieht sich dieser Vorwurf?
er gerade beim „Oberzöllner“ Zachäus ein. Dieses Verhalten erregt Anstoß: Von Lk 7,34 und Mt 11,19 nicht weit entfernt ist Lk 15,1–2, wo Lukas erst feststellt, dass „ständig die Zöllner und die Sünder“ zu Jesus „kamen, um ihn zu hören“, wofür ihn dann die Pharisäer und Schriftgelehrten tadeln: „Dieser nimmt Sünder auf und isst mit ihnen!“ Dem entspricht in Mk 2,16 die verwunderte Frage der Schriftgelehrten: „Mit den Zöllnern und Sündern isst er?“ In Lk 7,36–38 ist es eine „Sünderin“, die Jesus die Füße salbt, als er im Hause eines Pharisäers zu Tische liegt. Auch dieser wundert sich, und zwar darüber, dass Jesus sich der Berührung einer sozial stigmatisierten Frau nicht entzieht (V. 39). Bemerkenswert ist dann auch, dass Jesus auf den Anstoß, den die Pharisäer und Schriftgelehrten an seinem Umgang mit „Zöllnern und Sündern“ nehmen, in allen drei Fällen mit einem Gleichnis reagiert: In Mk 2,17 mit dem Bildwort vom Arzt, den nicht die Gesunden, sondern die Kranken brauchen, in Lk 7,41–43 mit dem Gleichnis von den beiden ungleichen Schuldnern und in Lk 15,3–32 mit den drei Gleichnisses vom Verlorenen.3 Aus diesem Textbefund geht hervor, dass es ganz offensichtlich ein charakteristisches Merkmal von Jesu Auftreten war, dass er nicht nur oft und gerne mit anderen Menschen zusammen gegessen und getrunken hat, sondern dass er diese Praxis auch mit einer profilierten theologischen Deutung versehen hat. Darüber hinaus hat Jesus dabei gezielt die Gemeinschaft mit Menschen gesucht, die in seiner Umwelt als sozial und religiös stigmatisiert angesehen wurden.
Vgl. dazu ausführlich u. S. 165.176–178.
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VIII. „Fresser und Säufer“, „Zöllner- und Sünderfreund“
2. „Fresser und Weinsäufer“
2. „Fresser und Säufer“ Um den theologischen Sinn zu verstehen, den Jesus seinen Mahlfeiern zugeschrieben hat, fängt man am besten noch einmal bei Johannes dem Täufer und seiner Fastenpraxis an, von der Jesu und seiner Jünger Verhalten in Mk 2,18 sowie in Lk 7,34 und Mt 11,19 abgegrenzt wird. Die Nahrungsaskese Johannes’ des Täufers steht in einem engen Zusammenhang mit seiner Ankündigung eines umfassenden Vernichtungsgerichts, das Gott in allernächster Zeit über die gesamte Menschheit bringen wird.4 In dieser Situation fungiert das Fasten als ein Selbstminderungsritus, der als sog. „Bußfasten“ die Bestrafung durch das Gerichtshandeln Gottes vorwegnimmt. Es soll Gott dazu bewegen, diejenigen, die sich durch Fasten und andere Selbstminderungshandlungen für ihre Sünden schon selbst „bestraft“ haben, bei der Durchführung seines Gerichts zu verschonen. Beispiele für ein solches Fasten finden sich z. B. in Joel 1,14; 2,12.15; Jona 3,5–9; Ps. Philo, Lib. Ant. 22,7; 30,4. Diese Zusammengehörigkeit von Unheil und Fasten findet ihre antithetische Entsprechung darin, dass in der Erwartung des antiken Judentums dem eschatologischen Heil Gottes die Gestalt eines Festmahles zugeschrieben wurde. Sowohl die endzeitliche Sammlung des Gottesvolkes als auch das Zusammenströmen der Völker zum Zion gehen demnach mit einem üppigen Gelage einher, das von Gott selbst ausgerichtet wird. Drei Texte können diese Vorstellung exemplarisch belegen: Jes 25,6: Und JHWH Zebaot wird auf diesem Berg allen Völkern ein Mahl von fetten Speisen bereiten, ein Mahl von alten Weinen, von markigen fetten Speisen, dekantierten alten Weinen.
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S. dazu o. S. 79–81.
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2. „Fresser und Säufer“ äthHen 62,13–14: (13) Die Gerechten und Auserwählten werden an jenem Tage gerettet werden … (14) Und der Herr der Geister wird über ihnen wohnen, und sie werden mit jenem Sohn aus dem Geschlecht der Mutter der Lebenden speisen. slawHen 42,5: Beim letzten Kommen wird er (sc. Gott) Adam mit den Vorfahren … hier hineinführen, damit sie sich erfreuen, wie ein Mensch seine Lieben herbeiruft, damit sie mit ihm speisen. Und jene kommen herbei mit Freuden und unterhalten sich vor dem Palast jenes Mannes, während sie mit Freuden sein Mahl erwarten.5
Aus dem Neuen Testament kann man noch Apk 19,9 ergänzen. Hier werden diejenigen seliggepriesen, „die zum Hochzeitsmahl des Lammes eingeladen sind“.6 Diese Erwartung hat auch in die Verkündigung Jesu Eingang gefunden. In Lk 13,28–29 und Mt 8,11–12 findet sich die Ankündigung, die in der Fassung des Spruchevangeliums wahrscheinlich gelautet hat: Viele werden von Osten und Westen kommen7 und sich zum Essen niederlegen mit Abraham und Isaak und Jakob im Reich Gottes.
Ausblicke auf Mahlfeiern im Reich Gottes finden sich bei Jesus auch in Mk 14,25 und in Lk 22,28–30. Damit bewegt er sich ganz im Rahmen der jüdischen Eschatologie. Darüber hinaus nimmt Jesus dieses Motiv aber auch in der Weise auf, dass er die Mahlzeiten, zu denen er sich mit anderen Menschen zusammenfindet, von dieser Erwartung her deutet und als endzeitliche Heilsmahle feiert. Es waren dann auch eben diese Mahlfeiern, die ihm den Ruf einbrachten, ein „Fresser und Übersetzung nach Ch. Böttrich, JSHRZ V/7, 955. Vgl. darüber hinaus 1Q28a 2,1–22; hebrHen 48,10AE; TestIsaak 8,11; 5Esra 2,38; mAvot 3,16; Apk 3,20. 7 Damit sind hier nicht die Heiden gemeint, sondern die in der Diaspora verstreuten Juden. 5 6
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VIII. „Fresser und Säufer“, „Zöllner- und Sünderfreund“
Weinsäufer“ zu sein. Ihren greifbarsten Ausdruck findet diese Deutung in Jesu Antwort auf die oben zitierte Frage von Mk 2,18, warum seine Jünger im Unterschied zu den Jüngern Johannes’ des Täufers und der Pharisäer nicht fasten8: Mk 2,19: Können etwa die Hochzeitsgäste fasten, wenn der Bräutigam bei ihnen ist? In der Zeit, in der sie den Bräutigam bei sich haben, können sie nicht fasten.
Der Sinn dieser Metapher ist leicht zu verstehen. In ihr tritt ein charakteristisches Element von Jesu Selbstauslegung zutage. Überall dort, wo er ist, geht es zu wie auf einer Hochzeitsfeier. Und wie kein Mensch auf einer Hochzeitsfeier fastet, so fasten auch seine Jünger nicht. Jesus behauptet damit nichts weniger, als dass seine Anwesenheit unter den Menschen die Gegenwart zur eschatologischen Heilszeit macht und dass darum jede Mahlzeit mit ihm als endzeitliches Heilsmahl gefeiert werden kann. Die Mahlzeiten, die Jesus mit anderen Menschen feiert, werden dadurch zu realsymbolischen9 Vergegenwärtigungen des eschatologischen Heils, das Gott seinem Volk verheißen hat. Diese Deutung basiert auf der gedanklichen Voraussetzung, dass nicht jede Mahlzeit das eschatologische Heil vergegenwärtigt, sondern nur diejenige, die zusammen mit Jesus gefeiert wird. Erst seine Anwesenheit macht eine Mahlfeier zum endzeitlichen Heilsmahl. Eine Nachwirkung dieses Selbstverständnisses Jesu findet sich noch im Lukasevangelium. Hier antwortet Jesus auf die gegen seine Einkehr beim Zöllner Zachäus gerichtete Kritik S.o. S. 154. Diesen Begriff übernehme ich von Karl Rahner. Ein „Realsymbol“ ist bei ihm ein Symbol, „das die Wirklichkeit des Symbolisierten selbst enthält“ (Rahner, Schriften IV, 297). Es unterscheidet sich von einem „Vertretungssymbol“, das ein austauschbares „Zeichen“ oder „Sinnbild“ ist und auf einen Sachverhalt lediglich hinweist. 8 9
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2. „Fresser und Säufer“
(V. 7: „Bei einem Sünder hat er sich einquartiert!“) mit den Worten: Lk 19,9–10: (9) Heute ist diesem Haus Heil widerfahren. Denn auch dieser ist ein Sohn Abrahams. (10) Der Menschensohn ist nämlich gekommen, um das Verlorene zu suchen und zu retten.
Wenn man ein wenig in die Runde schaut, wird deutlich, dass Jesus die Vorstellung vom Festmahl auch anderswo gebraucht, um die Eigenart seines Auftretens zu veranschaulichen. Im Gleichnis von der zurückgewiesenen Einladung (Lk 14,16–24 und Mt 22,1–10) deutet Jesus sein Auftreten als Einladung zu einem Festmahl, zu dem Gott die Menschen ruft. Jesus nennt es aber auch „mein Mahl“ (V. 24), und er warnt davor, diese Einladung auszuschlagen. Auch beim Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lk 15,11–32) steht ein Festmahl im Mittelpunkt (V. 23–24.25–32). Wie in Mk 2,15–17 und Lk 19,7.9–10 setzt Jesus sich auch hier mit der Kritik an seiner Tischgemeinschaft mit Zöllnern und Sündern auseinander (Lk 15,1–2) und deutet deren Hinwendung zu ihm als ein Ereignis, über das Gott sich so sehr freut, dass er ein großes Festmahl veranstaltet (V. 23–24; s. auch V. 6.9).10 In Lk 19,10 reiht Jesus auch Zachäus in die Reihe derer ein, die „verloren“ sind. Aufs Ganze gesehen treffen wir hier auf dasselbe Nebeneinander von Gegenwart und Zukunft wie in Jesu Rede von der Gottesherrschaft.11 Nach Lk 13,28–29 und Mt 8,11–12 steht das große eschatologische Heils In dem sicher nachösterlichen Gleichnis von den klugen und törichten Jungfrauen Mt 25,1–13 wird die Wiederkehr des Auferstan denen als Kommen des Bräutigams zur Hochzeit dargestellt. Matthäus will seinen Lesern mit dieser Erzählung verdeutlichen, dass es unbedingt erforderlich ist, sich bereits zu Lebzeiten durch das Tun der Worte Jesu auf dessen Wiederkommen vorzubereiten. Das Einschlafen aller zehn Mädchen steht für den Tod der Christen. 11 S. o. S. 119 f. 10
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VIII. „Fresser und Säufer“, „Zöllner- und Sünderfreund“
mahl, zu dem sich das über die gesamte Welt verstreute Israel mit den Erzvätern zusammenfinden wird, noch aus (s. auch Mk 14,25; Lk 22,28–30). Gleichzeitig kann nach Mk 2,19; Lk 15; 19,9–10 aber auch jede Mahlzeit, bei der Jesus anwesend ist, als ein Mahl gefeiert werden, das Gottes eschatologisches Heil punktuell vergegenwärtigt. Von den „sonstigen Mählern im jüdischen wie paganen Kontext“ unterscheiden sich die Mahlfeiern Jesu darum nicht lediglich „durch ihre Offenheit gegenüber Personen, die nicht zur eigenen Gruppe gehören bzw. die aus dieser ausgeschlossen wurden“12, sondern dadurch, dass Jesus an ihnen teilnimmt und ihnen den Charakter von endzeitlichen Heilsmahlen gibt. Analoges war auch schon von den Heilungen und Exorzismen Jesu im Vergleich mit anderen Heilern und Exorzisten festzustellen.
3. „Freund von Zöllnern und Sündern“
3. „Zöllner- und Sünderfreund“ 3.1 „Zöllner und Sünder“ – diese Zusammenstellung gibt es in der gesamten antiken Literatur nur in der Jesusüberlieferung der synoptischen Evangelien.13 Es handelt sich um ein Begriffspaar, bei dem die beiden Teile erst einmal nicht zueinander passen14: „Zöllner“ ist eine Berufsbezeichnung, deren Umfang sich in dem oben dargestellten Sinn15 eindeutig bestimmen lässt. Dieser Begriff umfasst eine Gruppe von Menschen, die mit Hilfe von objektiven Kriterien eindeutig Strotmann, Jesus, 129. Außer in Lk 7,34 und Mt 11,19 auch in Mk 2,15.16 und Lk 15,1. 14 Dasselbe gilt für das Begriffspaar „Heide und Zöllner“ in Mt 18,17; zu ihm s. u. S. 163 Anm. 25. 15 S. o. S. 125 Anm. 1. 12 13
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3. „Zöllner- und Sünderfreund“
identifiziert werden kann und nach außen hin abgrenzbar ist. Die „Zöllner“, von denen in den Evangelien die Rede ist, standen weder im Dienst der regierenden Landesherren noch waren sie gar Repräsentanten der römischen Besatzungsmacht. Es handelte sich vielmehr um Privatunternehmer, die das Recht, Steuern und Abgaben wie Wege- und Brückenzoll, Pachtzins, Marktgebühren oder andere Verkaufssteuern zu erheben, zuvor von den Regierenden meistbietend ersteigert hatten.16 Sie gingen dabei in finanzielle Vorleistung (darum mussten sie recht kapitalkräftig gewesen sein) und waren daran interessiert, dass sie nicht nur ihre Kosten wieder einspielten, sondern auch einen Gewinn erwirtschafteten. Das gelang ihnen nur, wenn sie sich unter Ausnutzung ihrer Machtposition nicht um die festgesetzten Tarife kümmerten, sondern den Menschen so viel Geld abnahmen, wie es ging.17 Es ist darum in keiner Weise überraschend, dass ihr ökonomischer Status und ihr soziales Prestige weit auseinanderklafften: Einerseits waren sie recht wohlhabend18, andererseits hatten sie ein ausgesprochen schlechtes Image. In Lk 18,11 bildet der Pharisäer als Repräsentant einer elitären Frömmigkeit Es wäre darum besser, das griechische Wort telṓnēs nicht mit „Zöllner“, sondern mit „Abgabenpächter“ zu übersetzen. – Zu den Zöllnern vgl. vor allem Herrenbrück, Jesus. 17 Diese Praxis wird in Lk 3,13 erkennbar, wo Johannes die Zöllner auffordert, „nicht mehr“ zu verlangen, „als für euch festgesetzt ist“. Sie konnten sich die Unkenntnis der festgesetzten Tarife bei der normalen Bevölkerung zunutze machen und auf diese Weise überhöhte Abgaben einfordern (vgl. O. Michel, ThWNT VIII, 99). 18 Diese offenkundige Nähe zwischen Jesus und den reichen Zöllnern macht es schwer, die Jesusbewegung undifferenziert als eine „Armenbewegung“ (W. Stegemann, Jesus, 346 u. ö.) zu charakterisieren. Auch die beiden Zöllner, die in der Jesusüberlieferung vorkommen, waren nicht arm: Levi hatte nach Mk 2,15 ein Haus, in dem sich viele Gäste zu einer Mahlzeit zusammenfinden konnten, und von Zachäus wird in Lk 19,2 ausdrücklich gesagt, dass er „reich“ war. 16
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VIII. „Fresser und Säufer“, „Zöllner- und Sünderfreund“
die Reihe „Räuber, Ungerechte, Ehebrecher, Zöllner“.19 Sie kennzeichnet ganz gut, was man von Zöllnern hielt. Andererseits muss man aber wohl damit rechnen, dass sie in Wirklichkeit nicht so schlecht waren wie ihr Image. Letzterem ist jedenfalls geschuldet, dass sich der Zöllner, der in Lk 18,9–14 als Gegenbild zum Pharisäer aufgeboten wird, einen „Sünder“ nennt (V. 13) und dass Volkes Stimme den „Oberzöllner“ Zachäus allein auf Grund seines Berufs einen „sündigen Mann“ nennen kann (Lk 19,7). Mit diesen beiden Texten sind wir darum schon bei dem anderen Teil des Begriffspaars. Beim Begriff „Sünder“ darf man nicht den Fehler machen, ihn einer bestimmten, soziologisch beschreibbaren Gruppe von Menschen zuzuordnen, denn die gibt es nicht. Das unterscheidet die „Sünder“ von den „Zöllnern“. Wir können vielmehr nur den Inhalt20 und den Gebrauch des Begriffs beschreiben. Man darf nicht danach fragen, wen er bezeichnet, sondern nur, was er beinhaltet. Er fungiert als Sammelbegriff für Menschen, die – so allgemein wie möglich gesagt – notorisch nicht in Übereinstimmung mit Gottes Willen leben und die den Rechtsforderungen Gottes zuwiderhandeln – bzw. von denen man meint, dass sie sich so verhalten. Er verweist dabei meistens gar nicht auf konkrete Menschen, sondern wird lediglich typologisch gebraucht.21 Wenn demgegenüber bestimmte andere Menschen als „Sünder“ bezeichnet werden22, fungiert der Begriff als ein abwertendes Stereotyp, mit dem Menschen belegt wer In Mt 21,31–32 findet sich zweimal das Begriffspaar „Zöllner und Huren“. Im Mischna-Traktat Nedarim („Gelübde“) 3,4 gibt es nicht nur die Reihe „Mörder, Räuber, Zöllner“, sondern es wird auch festgestellt, dass man sie anlügen darf. 20 S. o. S. 125 Anm. 1. 21 Das ist z. B. in Ps 1,1.5; 9,18; 10,2; 104,35 der Fall. 22 Auch sich selbst kann man natürlich einen „Sünder“ nennen (vgl. z. B. Ps 51,7; Lk 5,8; 18,13). 19
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3. „Zöllner- und Sünderfreund“
den, weil sie mit ihrem Verhalten von den Normen und Werten der Begriffsbenutzer abweichen. Weil die Rede von „Sünde“ immer eine Relation zu Gott herstellt, kann das Etikett „Sünder“ immer nur in sozialen Systemen Verwendung finden, die sich durch ihr Gottesverhältnis definieren und ihre symbolische Sinnwelt durch Gott normiert sein lassen. Die Kombination mit den „Sündern“ gibt der Berufsbezeichnung „Zöllner“ darum den Charakter einer religiösen Stigmatisierung. Sie behauptet, dass sie bei ihrer Berufsausübung auch dem Willen Gottes zuwiderhandeln, und macht auf diese Weise die soziale Kritik an ihnen zu einer Sache Gottes. 3.2 Mit dem Thema „Jesus als Freund von Zöllnern und Sündern“ verhält es sich so ähnlich wie mit Jesu Heilungen und Exorzismen, auch wenn die Textbasis jetzt viel schmaler ist: Es begegnet sowohl in Einzelepisoden23 als auch in der Wortüberlieferung24. Lk 15,1 („es kamen alle Zöllner und Sünder zu ihm, um ihn zu hören“) spricht in generalisierender Übertreibung von Jesu Popularität bei diesem Personenkreis. Auch in anderen Teilen der Wortüberlieferung kommen die Zöllner immer gut weg.25 Bemerkenswert ist aber vor allem, dass das Zöllner-und-Sünder-Thema in der Jesusüberlieferung immer mit Kontroversen einhergeht, und zwar in zweifacher Weise: Entweder wird Jesu Nähe Mk 2,13–14.15–17; Lk 7,36–50; 19,1–10. Lk 7,34 und Mt 11,19; Lk 15,2. 25 Mt 21,31–32; Lk 7,29; 18,9–14. – In abwertender Weise ist von den Zöllnern nur zweimal bei Matthäus die Rede: erst in Mt 5,46: „Wenn ihr liebt, die euch lieben, welchen Lohn habt ihr? Tun nicht auch die Zöllner dasselbe?“ (der Text stammt aus Q; die Parallele in Lk 6,32 hat „Sünder“ statt „Zöllner“), und dann in 18,17: Wenn ein Bruder sündigt, soll er mehrfach ermahnt werden, zuletzt vor der gesamten Gemeinde; sollte er aber auch auf die nicht hören, „sei er dir wie der Heide und der Zöllner“. 23 24
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VIII. „Fresser und Säufer“, „Zöllner- und Sünderfreund“
zu Zöllnern und Sündern kritisiert oder mit Verwunderung zur Kenntnis genommen26, oder Jesus stellt das Verhalten von Zöllnern und Sündern dem der jüdischen Autoritäten und Frömmigkeitseliten (Hohepriester, Älteste, Pharisäer, Schriftgelehrte) so gegenüber, dass jene dabei immer besser wegkommen als diese.27 Auch hier gilt: Selbst wenn nicht alle Texte einen historischen Kern haben sollten, reflektieren sie eine für Jesu Auftreten insgesamt typische Eigenart. Damit stellt sich die Frage, worin die besondere Nähe Jesu zu „Zöllnern und Sündern“ ihren Grund hat. Auf Seiten Jesu ist dieser Grund sicher nicht dadurch gegeben, dass er mit seiner Botschaft von vornherein nur auf sozioreligiös marginalisierte Menschen in Israel abzielte. Dem widerspricht schon, dass das Reich-GottesKonzept, das seiner Verkündigung Orientierung gab, immer auf ganz Israel bezogen war. Eben damit ist unsere Frage aber auch schon beantwortet. Denn auch die jüdischen Zöllner und Sünder gehören zu „ganz Israel“. Jesu Proklamation der in seinem Wirken unter den Menschen präsenten Gottesherrschaft kann darum als ein profiliertes Integrationsprogramm gelten, denn es schloss gerade auch diejenigen ein, die von der Mainstream-Gesellschaft an den Rand gedrängt worden waren. Auch ein „Oberzöllner“ (Lk 19,2), den alle Welt für einen „Sünder“ hält (V. 7), ist ein „Kind Abrahams“ (V. 9) und gehört damit zu Israel. Zwei Aspekte kennzeichnen die theologische Grundlage, auf der Jesu Nähe zu den „Zöllnern und Sündern“ basiert. Sie treten in den Argumenten zutage, mit denen Jesus sich in Mk 2,17 sowie in Lk 15,4–32 und 19,9–10 mit den Kritikern an dieser Nähe auseinandersetzt.
Mk 2,16; Lk 7,34 und Mt 11,19; Lk 7,39; 15,2; 19,7. Mt 21,31–32; Lk 7,29–30; 7,44–46; 18,9–14.
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3. „Zöllner- und Sünderfreund“
Zum einen bestreitet Jesus nicht, dass diejenigen, die als „Sünder“ gelten, auch tatsächlich Sünder sind. Sein Anliegen besteht jedoch darin, seinen Kritikern deutlich zu machen, dass sie damit im Urteil Gottes auch noch etwas ganz anderes sind, nämlich Menschen, die „verloren gegangen“ sind (Lk 15,4–6.8–9.24.32; 19,10). Daraus leitet er das Erfordernis ab, mit den Sündern so umzugehen, wie man mit allem umgeht, was verloren gegangen ist: Man soll es suchen, und wenn man es wiedergefunden hat, soll man sich freuen. Derselben Logik folgt Mk 2,17: Sünder sind wie „Kranke“, die geheilt werden wollen und darum einen Arzt brauchen. Nach Lk 15,4–7.8–10 wird das Verlorene (auf der Sachebene: der Sünder) allein schon dadurch, dass es verloren ist, wertvoller als das Nichtverlorene. Analog argumentiert Jesus in Mk 2,17, wo ebenfalls das Gegenüber von „Sündern“ und „Gerechten“ begegnet: Nur um die Kranken muss sich ein Arzt kümmern, nicht um die Gesunden. Auf diesen selbstverständlichen Sachverhalt führt Jesus hier seine Hinwendung gerade zu den „Zöllnern und Sündern“ zurück. Und wenn ein Sünder umkehrt (dieser Vorgang wird in Lk 15,21 beschrieben), so ist das, wie wenn Verlorenes wiedergefunden wird. Im Himmel freut man sich darüber mehr als über alle, die nicht verloren gegangen sind (Lk 15,7.10). Nach Lk 19,10 ist Jesus es, dessen Auftreten seine Bestimmung darin findet, „das Verlorene zu suchen“ und dadurch, dass er es wiederfindet, „zu retten“. Mit dem letzten Wort hat Jesus die Ebene der Metaphorik hinter sich gelassen und ist auf die Sachebene der Gottesbeziehung übergewechselt. Damit ist der zweite Aspekt in den Blick getreten, denn in Lk 19,10 kommt genauso wie in Mk 2,17 ein zentrales Element von Jesu Selbstauslegung zum Ausdruck: Gott hat diejenigen, die ihm verloren gegangen sind, dann wiedergefunden, wenn Jesus sie wiederfin-
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VIII. „Fresser und Säufer“, „Zöllner- und Sünderfreund“
det oder wenn sie zu Jesus „kommen, um ihn zu hören“ (Lk 15,1). Wenn man es unmetaphorisch formulieren will, kann man darum sagen, dass Jesus der Hinwendung der Sünder zu ihm eine Bedeutung zuschreibt, die bis zum Himmel reicht: Wenn sie zu Jesus kommen oder ihn bei sich aufnehmen, gilt das bei Gott als Umkehr, die die Entfremdung zwischen ihm und den Sündern aus der Welt schafft. Diese Interpretation, die Jesus seinem Wirken gibt, verdichtet sich darin, dass er selbst sich herausnimmt, den Menschen die Vergebung ihrer Sünden zuzusprechen, indem er feststellt, dass Gott ihnen die Sünden vergeben hat (Mk 2,5; Lk 7,48).28 In Mk 2,10 geht er darüber hinaus, denn hier macht er sich selbst zum Subjekt der Sündenvergebung: „Der Menschensohn hat Vollmacht, Sünden zu vergeben auf der Erde“. Daraus geht hervor, dass Jesus mit dem Zuspruch der Sündenvergebung nicht lediglich über das informieren will, was Gott getan hat. Sein Wort hat vielmehr performativen Charakter. In ihm ereignet sich Gottes Vergebung der Sünden. Beides – Sündenvergebung durch Gott und Sündenvergebung durch Jesus – kann man vielleicht so zusammendenken, dass man sagt: Gott bleibt zwar das alleinige Subjekt der Sündenvergebung, doch verbindet sich mit Jesu Zuspruch der Sündenvergebung der Anspruch, dass er es ist, durch den Gott selbst handelt und den Menschen ihre Sünden vergibt.29 3.3 Jesu Nähe zu den „Zöllnern und Sündern“ hat Weiterungen, die sich soziologisch beschreiben lassen. Das geht aus den Passiv-Formen hervor, die in Mk 2,5 und Lk 7,48 verwendet werden („sind vergeben“), die als sog. passivum divinum jeweils das Handeln Gottes umschreiben. 29 Eben dies geht auch aus der ersten Szene des Gleichnisses vom unbarmherzigen Knecht hervor (s. u. S. 174). 28
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3. „Zöllner- und Sünderfreund“
Wenn Jesus ihre Hinwendung zu ihm als Rückkehr zu Gott deutet, folgt daraus nicht, dass sie wieder in die Mehrheitsgesellschaft, in der sie zuvor an den Rand gedrängt waren, integriert werden. Sie werden vielmehr Teil einer Art „Alternativgesellschaft“, zu einer eigenen „Familie“ (Mk 3,31–33), die neben der Mehrheitsgesellschaft existiert und die durch die Nähe zu Jesus von Nazaret entsteht. Mit dieser Deutung gewährt Jesus den „Zöllnern und Sündern“, was ihnen die Mehrheitsgesellschaft verweigerte: die Zugehörigkeit zu einer durch die Nähe zu Gott konstituierten Heilsgemeinschaft. Deren sozioreligiöses Selbstverständnis unterschied sich von dem der Mehrheitsgesellschaft dadurch, dass sie sich zum einen als eine eschatologische Heilsgemeinschaft verstand, deren empirische Erfahrbarkeit zum anderen durch Jesus von Nazaret gegeben war. Diese Konstellation impliziert einen Exklusivitätsanspruch, der seine Entsprechung in der Umkehrforderung findet, die Jesus gegenüber seinen Zeitgenossen erhoben hat: Auch von ihnen wurde verlangt, den Weg der „Zöllner und Sünder“ zu gehen, indem sie an Jesus „keinen Anstoß nehmen“ (Lk 7,23 und Mt 11,6), sondern erkennen, dass der Zugang in die heilvolle Gemeinschaft der eschatologischen Nähe Gottes allein durch ihn vermittelt wird, und die entsprechenden Konsequenzen daraus ziehen.30 In soziologischer Hinsicht handelt es sich hierbei um eine Forderung, wie sie generell für gesellschaftliche Außenseiter typisch ist. Zu den Eigenarten solcher Forderungen gehört, dass sie in aller Regel bei anderen gesellschaftlichen Außenseitern eine weitaus positivere Resonanz finden als innerhalb der jeweiligen Mehrheitsgesellschaft. Aus den in diesem Kapitel besprochenen Texten geht hervor, dass dies auch bei Jesus so war. Außenseiter ziehen Außenseiter an. Zu diesem Thema s. u. S. 186–189.197–205.
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IX. Die Gleichnisse Jesu Zu den für Jesu Auftreten typischen Merkmalen gehört auch, dass er oft und gerne Gleichnisse erzählt hat. Ein starkes Indiz dafür ist der Sachverhalt, dass diese Redeform in allen Bereichen der synoptischen Überlieferung belegt ist.1 Es gibt sie sowohl im Markus evangelium2 als auch im Spruchevangelium Q3 sowie im Sondergut des Lukasevangeliums4 und im Sondergut des Matthäusevangeliums5. Das Johannesevangelium hat kein einziges der synoptischen Gleichnisse oder Bildworte übernommen; die gleichnishafte Rede Jesu hat in ihm weniger erzählende als beschreibende Gestalt.6 Angesichts der weiten Verbreitung der Redeform der Gleichnisse in der synoptischen Überlieferung ist es keine Überraschung, dass sich auch andere Merkmale, die charakteristisch für das Auftreten Jesu sind, mit ihr verbinden. Das gilt vor allem für das Thema der Gottesherrschaft7, das auch in zahlreichen Gleichnissen
Einige der synoptischen Gleichnisse sind auch im Thomasevangelium überliefert (EvThom 8.9.20.21.57.63.64.65.76.96.107). 2 Mk 2,17.19–20.21–22; 4,3–9.21.26–29.30–32; 12,1–12; 13,28–29. 33–37. 3 Lk 6,47–49 und Mt 7,24–27; Lk 7,31–32 und Mt 11,16–17; Lk 11, 9–13 und Mt 7,7–11; Lk 12,35–48 und Mt 24,43–51; Lk 12,57–59 und Mt 5,25–26; Lk 13,18–19 und Mt 13,31–32; Lk 13,20–21 und Mt 13,33; Lk 14,16–24 und Mt 22,1–10; Lk 15,4–7 und Mt 18,12–14; Lk 19,11–27 und Mt 25,14–30. 4 Lk 7,41–43; 10,25–37; 12,16–21; 13,6–9; 14,7–11.28–33; 15, 8–10.11–32; 16,1–9.19–31; 17,7–10; 18,1–8.9–14. 5 Mt 13,24–30.44–45.46.47–50; 18,23–35; 20,1–16; 21,28–32; 25,1–13. 6 Vgl. vor allem Joh 10,1–18 und 15,1–8. 7 S. dazu o. S. 95–123 (Kap. VI). 1
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IX. Die Gleichnisse Jesu
begegnet8. Auch auf Kritik an seiner Nähe zu „Zöllnern und Sündern“, antwortet Jesus mehrfach in der Form gleichnishafter Rede.9 Natürlich stammen nicht alle Gleichnisse, die Jesus in den synoptischen Evangelien erzählt, wirklich von ihm. Manche sind ihm vielmehr erst nachträglich in den Mund gelegt worden. Das dürfte vor allem für solche Gleichnisse gelten, die Jesu Wiederkehr und deren Verzögerung thematisieren10, oder für das Gleichnis von den bösen Winzern (Mk 12,1–9), weil es Jesu Tod voraussetzt. Darüber hinaus ist damit zu rechnen, dass auch andere Gleichnisse nicht auf Jesus zurückgehen oder von Jesus nicht so erzählt wurden, wie sie in den Evangelien überliefert sind. Doch selbst solche Gleichnisse können durchaus einen Beitrag zum Verständnis des Wirkens Jesu liefern.
Von einem „Gleichnis“ sprechen wir dann, wenn wir es mit einer Erzählung zu tun haben, die nicht um ihrer selbst willen erzählt wird, sondern über sich hinausweist und sich auf die Situation oder auf den Kontext bezieht, in der oder in dem Erzähler und Hörer sich gerade befinden. Eine Erzählung wird dadurch zu einem Gleichnis, dass eine Verbindung zwischen der „erzählten Welt“ des Textes und der „besprochenen Welt“ des Kontextes hergestellt wird.11 Wenn eine Erzählung erst durch den Kontext, in dem sie erzählt wird, zu einem Gleichnis wird, steht die Interpretation der Gleichnisse Jesu vor einem gravierenden Problem. Es besteht darin, dass uns die individuellen historischen Situationen, in denen Jesus seine Gleichnisse ursprünglich erzählt hat und mit denen sie interagieren, nicht mehr bekannt sind. Was wir haben, sind allein die literarischen Kontexte, wie sie in den Vgl. Mk 4,26–29.30–32; Lk 13,20–21 und Mt 13,33; Mt 13, 24–30.44.45–46.47–50; 18,23–35; 20,1–16; 25,1–13. 9 Vgl. Mk 2,17; Lk 7,41–43; 15,3–32. 10 Das gilt z. B. für Mk 13,33–36; Lk 12,35–48 und Mt 24,43–51; Mt 25,1–13 und Lk 19,11–27 und Mt 25,14–30. 11 Für diese Begriffe vgl. den Untertitel von Weinrich, Tempus. 8
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IX. Die Gleichnisse Jesu
Evangelien konstruiert werden. Die können mit den konkreten historischen Situationen durchaus identisch sein, müssen es aber nicht. Beim Gleichnis vom verlorenen Schaf (Lk 15,1–7 und Mt 18,10–14) wird diese Problematik deutlich erkennbar: In Lk 15,1–7 erzählt Jesus es den Pharisäern und Schriftgelehrten, um seine Tischgemeinschaft mit „Zöllnern und Sündern“ zu verteidigen. Demgegenüber erzählt er das Gleichnis nach Mt 18,10–14 seinen Jüngern und fordert sie mit ihm auf, dass sie kein Mitglied der christlichen Gemeinde, das verloren zu gehen droht, aufgeben, sondern ihm immer nachgehen und sich darum bemühen sollen, es wieder zurückzuholen. Den Bezug auf die erzählte Situation stellen die Evangelisten durch eine sog. „Anwendung“ her. Das ist im vorliegenden Fall einerseits Lk 15,7: „So wird im Himmel eher Freude sein über einen Sünder, der umkehrt, als über 99 Gerechte, die keine Umkehr nötig haben“, und andererseits Mt 18,14: „So ist es nicht der Wille eures Vaters im Himmel, dass eines von diesen Kleinen verloren geht“. Analoges gibt es auch am Schluss von anderen Gleichnissen.12 Sie dürften überall auf die Evangelisten zurückgehen. Jesus selbst hat seine Gleichnisse wahrscheinlich ohne solche Anwendungen erzählt.13
Damit ist nun aber ausgerechnet jener Faktor fraglich geworden, der eine Erzählung allererst zu einem Gleichnis macht und der über dessen Sinn entscheidet, nämlich die Kenntnis des Kontextes, in dem das Gleichnis erzählt wurde und von dem her es seinen Sinn bezog. Aus dieser Notlage können wir uns aber befreien, wenn wir nicht nach einer „konkreten Situation des Lebens Jesu“, einer „einmaligen … Lage“ oder einem „bestimmten historischen Ort in seinem Leben“ fragen14, sondern auf einer übergeordneten Ebene nach einem typischen Kontext, in dem sich alle individuellen, Vgl. Mt 13,49–50; 18,35; 20,16; 21,43; 22,14; 25,13; Lk 11,13; 12,21; 14,11; 15,10; 16,9; 17,10; 18,6–8b.14c–d. 13 Sie fehlen z. B. am Ende von Mt 13,44.45–46; Mk 4,26–29.30–32; Lk 13,20–21 und Mt 13,33; Lk 14,16–24; 15,11–32. 14 Jeremias, Gleichnisse Jesu, 17.18. 12
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IX. Die Gleichnisse Jesu
bestimmten und konkreten Situationen unterbringen lassen. Das ist das Auftreten Jesu in seiner Gesamtheit. Dass dieser Kontext durchaus ein individuelles und bestimmtes Profil aufweist, liegt auf der Hand. Es besteht in Jesu Anspruch, der so etwas wie eine Interaktion entstehen lässt, die von drei Polen bestimmt ist: dass nämlich das eschatologische Heil Gottes durch Jesu Wirken in der Welt der Menschen Platz greift. Dieses Dreieck ist die „besprochene Welt“, die in der „erzählten Welt“ der Gleichnisse in unterschiedlicher Weise zur Sprache gebracht und kommentiert wird. Für das Verständnis der Gleichnisse Jesu ist darum von geradezu fundamentaler Bedeutung, dass jeweils nach der Interaktion gefragt wird, die sich auf den drei Seiten dieses Dreiecks abspielt.
1. Die Rede von Gott in den Gleichnissen 1.1 Gott kommt als Gott nur in Lk 12,20 und 18,14b vor. In beiden Fällen tritt er erst am Schluss des Gleichnisses auf, weil der Erzähler ihn benutzt, um das Verhalten der jeweiligen Erzählfiguren abschließend zu beurteilen. Ansonsten wird von Gott unter Rückgriff auf sog. „feste“ oder „konventionalisierte“ Metaphern gesprochen. Sie lassen ihn in Gestalt einer menschlichen Erzählfigur auftreten, die jeder Hörer sofort entschlüsseln kann, weil es sich um eine geläufige Weise handelt, von Gott zu reden. Von großer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang, dass Gott dabei immer zugleich in seinem Verhältnis zu den Menschen dargestellt wird. Jede Rolle, die Gott als menschlicher Erzählfigur in einem Gleichnis zugeschrieben wird, setzt ihn in Beziehung zu den Menschen in der besprochenen Welt. Man kann darum vielleicht sogar sagen, dass es eigentlich das Gottesverhältnis der Menschen ist, das in diesen
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1. Die Rede von Gott in den Gleichnissen
Gleichnissen mit Hilfe der jeweiligen metaphorischen Charakterisierung Gottes beschrieben werden soll. 1.2 In diesem Sinne wird Gott als Vater dargestellt15 oder als König16 oder als Weinbergbesitzer17. Auf Gott hin transparent sind aber auch Erzählfiguren, die mit ihren Untergebenen abrechnen18 oder denen gegenüber Menschen verschuldet sind19. In Lk 14,16–24 wird Gott auf einem Umweg als solcher kenntlich gemacht: Weil man sich das endzeitliche Heil als ein Festmahl vorstellte, das von Gott ausgerichtet wird20, ist der „Mensch“, der ein Festmahl ausrichtet und „viele“ einlädt (V. 16), unschwer als metaphorische Abbildung Gottes erkennbar. Es liegt auf der Hand, dass Erzählung und Hörer damit einander nicht mehr gegenüber stehen, denn mit Hilfe der stehenden Metaphern, die es möglich machen, in bestimmten menschlichen Erzählfiguren Gott und zugleich auch ihre Beziehung zu ihm zu erkennen, greifen die Erzählungen in die Welt der Hörer über. Sie signalisieren den Hörern auf diese Weise, dass es in der jeweiligen Erzählung um sie und ihr Gottesverhältnis geht. Jesus bringt in den Gleichnissen unterschiedliche Aspekte des Gottesbildes zur Sprache, aus denen sich gravierende Konsequenzen für die Existenz seiner Hörer ergeben. Mt 21,28–32; Lk 11,11–12; 15,11–32. Mt 18,23–34; 22,2–14. 17 Mt 20,1–15; 21,28–32; Mk 12,1–12; Lk 13,6–9. 18 Mt 18,23; Lk 16,1. 19 Mt 18,24; Lk 7,41–43; s. auch Lk 12,57–59 und Mt 5,25–26. – Im Hintergrund steht hier die Vorstellung, dass Sünden als Schulden gelten, die man bei Gott hat. Im Aramäischen können „Sünden“ und „Schulden“ darum auch durch ein und dasselbe Wort bezeichnet werden (ḥōbā́ʼ). Diese semantische Isotopie hat ihre Spuren auch im Vaterunser hinterlassen: Nach Mt 6,12a sollen die Jünger um die Vergebung der „Schulden“ bitten, in der Parallele Lk 11,4a um die Vergebung der „Sünden“. 20 S. o. S. 156–160. 15 16
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IX. Die Gleichnisse Jesu
1.2.1 Das Gleichnis vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18, 23–34) besteht aus drei Szenen. Von entscheidender Bedeutung sind die beiden ersten: In V. 23–27 wird zunächst erzählt, dass ein „König“ sich eines bei ihm hochverschuldeten „Knechts“ „erbarmt“ und dem Schuldner nicht nur den erbetenen Zahlungsaufschub gewährt (V. 26), sondern ihm alle Schulden erlässt (V. 27). – In der zweiten Szene (V. 28–30) begegnet derselbe Knecht dann einem Kollegen, der ihm eine sehr geringe Summe schuldet und ihn mit denselben Worten wie zuvor er den König (vgl. V. 29 mit V. 26) um Zahlungsaufschub bittet. Er bekommt diesen Wunsch aber nicht erfüllt, sondern der Knecht, dem zuvor seine große Schuld erlassen worden war, sorgt dafür, dass er in Schuldhaft genommen wird. Von entscheidender Bedeutung für das Verständnis des Gleichnisses ist, dass in der zweiten Szene ein ganz normaler Vorgang aus der Alltagswelt der Hörer geschildert wird, der nicht über den Rahmen des Üblichen hinausgeht. Der unbarmherzige Knecht handelt nach Recht und Gesetz. Trotzdem ruft seine Handlungsweise Protest hervor, und zwar aus dem einzigen Grund, weil zuvor die erste Szene erzählt wurde. Durch sie wurde die Erwartung der Hörer an das Verhalten des Knechtes zunächst verändert und dann enttäuscht, weil sich durch die erste Szene nur sie, die Erwartung der Hörer, nicht aber die Gesetzmäßigkeiten des Alltags geändert haben. Diese Enttäuschung wird innerhalb des Gleichnisses durch die „Mitknechte“ in V. 31 artikuliert. In der Interaktion zwischen der Erzählung und dem Hörer ist damit eine ganze Menge passiert: Unter der Perspektive von des „Königs“, d. h. von Gottes außerordentlichem Erbarmen (1. Szene) werden die menschliche Alltagswirklichkeit und die ihr zugrundeliegenden Handlungsnormen (2. Szene) fragwürdig. Die Hörer werden ihrer bisher für normal gehaltenen Welt ent-
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1. Die Rede von Gott in den Gleichnissen
fremdet. Sie werden genötigt zu erkennen, dass das grenzenlose Erbarmen Gottes die Gesetzmäßigkeiten in Frage stellt, auf denen ihre alltägliche Existenz basiert. Sie verlangt eine Neuausrichtung, die sich daran orientiert, dass sie an sich selbst die Barmherzigkeit Gottes erfahren haben. 1.2.2 Auch im Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20,1–15) wird deutlich, dass der Erzähler sich in seine Hörer hineinversetzen und ihre Gedanken lesen kann. Dafür muss er die Hörer aber erst einmal konditionieren. Dies erreicht er in V. 4, wo der Hausherr den später angeworbenen Arbeitern zusagt, ihnen zu geben, „was gerecht ist“. Er lenkt die Hörer dadurch zu V. 2 zurück, wo der Lohn für die Arbeit eines ganzen Tages festgelegt wird. Dadurch wird die Erwartung erzeugt, dass am Ende ein proportional abgestufter Lohn ausgezahlt wird: Wer den ganzen Tag gearbeitet hat, bekommt einen Denar, und diejenigen, die kürzer gearbeitet haben, entsprechend weniger. Als die Erzählung dann genau an dem Punkt angelangt ist, an dem es darum geht, diese Erwartung zu realisieren (nach V. 9), wechselt sie von der Außenperspektive in die Innenperspektive: Nachdem die Arbeiter, die nur eine Stunde tätig waren, dafür einen ganzen Denar erhalten hatten, dachten die Ganztagsarbeiter natürlich, „dass sie entsprechend mehr erhalten würden“ (V. 10). Diese Erwartung wird aber nicht nur von den Ganztagsarbeitern gehegt, sondern auch von den Hörern: Weil sie wissen, dass der Hausherr „gerecht“ (V. 4) entlohnt, hat sich bei ihnen die Erwartung eines proportionalen „mehr“ eingestellt. Es ist genau diese Stelle, an der die Erzählung in die Welt der Hörer überspringt. Nicht umsonst ist aus dem „Hausherrn“ inzwischen auch „der Herr des Weinbergs“ geworden (V. 8), und damit ist klar, dass es hier um Gott geht, genauer: um die Erwartungen der Hörer
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IX. Die Gleichnisse Jesu
an Gottes Gerechtigkeit. Die gleiche (und nach ihrer Meinung nicht gerechte) Entlohnung aller Arbeiter sowie vor allem das Schlusswort des Weinbergbesitzers (V. 13–15) sollen auf Seiten der Hörer bestehende Vorstellungen von Gottes Gerechtigkeit revidieren: Gottes Gerechtigkeit ist nicht dasselbe, was unter den Menschen als gerecht gilt, sondern sie ist von seiner Güte geleitet. Die Erzählung endet mit einer offenen Frage derjenigen Erzählfigur, die für Gott steht. In der erzählten Welt ist damit die Story zu Ende, in der besprochenen Welt geht sie aber weiter, weil sie inzwischen zur Story der Hörer geworden ist. Es ist nun an diesen, daraus die erforderlichen Konsequenzen für ihr eigenes Leben zu ziehen. 1.2.3 In dem einen Fall ist es Gottes Erbarmen (Mt 18, 27.33) und in dem anderen Fall Gottes Güte (Mt 20,15), die nach Meinung des Gleichniserzählers die Hörer dazu nötigen, ihre eigene Lebensorientierung auf eine neue Grundlage zu stellen. Hierum geht es auch im Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lk 15,11–32), das mit den beiden eben besprochenen Gleichnissen durch manche Gemeinsamkeit verbunden ist, sich von ihnen aber auch charakteristisch unterscheidet. Genauso wie Mt 20,1–15 wird die Erzählfigur, die für Gott steht, auch in Lk 15,11–32 kritisiert (V. 29–30). Hier wie dort gibt sie eine Antwort, die über die erzählte Geschichte hinausweist und an die Hörer weitergegeben wird. Darüber hinaus geht es wie in Mt 18,23–34 auch hier um das Erbarmen Gottes gegenüber dem Sünder. In Lk 15,20 steht dasselbe Wort wie in Mt 18,27: „Und er erbarmte sich“.21 Jedem Hörer, der seine Bibel kennt, In den gängigen deutschen Bibelübersetzungen wird Lk 15,20 durchweg falsch übersetzt, so dass diese wichtige Übereinstimmung zwischen den beiden Gleichnissen unerkennbar wird. 21
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1. Die Rede von Gott in den Gleichnissen
fällt hier Ps 103,13 ein: „Wie ein Vater sich über Kinder erbarmt, so erbarmt JHWH sich über die, die ihn fürchten“. Wenn der Vater als metaphorischer Repräsentant Gottes auf die Rückkehr seines missratenen Sohnes mit Erbarmen reagiert, so dürfte das darum keinen der Hörer des Gleichnisses überraschen. In Lk 15,20 lernen die Hörer darum nichts über Gott, was sie nicht schon vorher gewusst hätten. Das ändert sich ab V. 22–23, wo erzählt wird, dass der Vater ein Fest vorzubereiten beginnt, um die Rückkehr seines Sohnes zu „feiern“ (V. 23.24.32; s. auch V. 29). Gegen das dann stattfindende Fest protestiert der ältere Bruder, der immer brav daheim geblieben ist und seinem Vater gehorcht hat. Er kritisiert dabei nicht des Vaters Erbarmen gegenüber dem verlorenen Sohn. Er protestiert vielmehr dagegen, dass ein Fest gefeiert wird (V. 29–30). In dieser Reaktion kehrt damit die Kritik wieder, die nach Lk 15,2 die Pharisäer und Schriftgelehrten an der Feier-Gemeinschaft Jesu mit den Zöllnern und Sündern üben: „Dieser nimmt Sünder auf und isst mit ihnen“. Dementsprechend weisen die Worte, mit denen der Vater auf die Kritik seines älteren Sohnes antwortet, über die im Gleichnis erzählte Situation hinaus. Sie werden zur Antwort, mit der Gott auf die Kritik an Jesu Tischgemeinschaft mit Zöllnern und Sündern antwortet, und sie besagen auf dieser Ebene: Wenn Sünder sich Jesus zuwenden, kehren sie zu Gott um. Sie sind wie Verlorene, die wiedergefunden wurden, und wie Tote, die wieder lebendig wurden. Die Pharisäer und Schriftgelehrten sollten Jesus darum nicht kritisieren, sondern sich mit Gott über die Umkehr der Sünder freuen. Jesus selbst bekommt zwar in diesem Gleichnis keine metaphorische Rolle zugeschrieben, doch ist die Auseinandersetzung über einen wesentlichen Aspekt seines Auftretens, die Tischgemeinschaft mit Zöllnern
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IX. Die Gleichnisse Jesu
und Sündern22, das eigentliche Thema in dieser Erzählung. Sie ist der Kontext, auf den die Erzählung bezogen ist und durch den sie zu einem Gleichnis wird. Von hier aus ist es darum nur noch ein kleiner Schritt bis zur nächsten Frage.
2. Wie kommt Jesus in den Gleichnissen vor? 2.1 In den Gleichnissen vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–34) und von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20,1–15) ist Jesus dort präsent, wo das Handeln Gottes metaphorisch erzählt wird: im Erlassen der Schuld (18,27) und darin, dass die in der elften Stunde eingestellten Arbeiter für die Arbeit eines ganzen Tages entlohnt werden (20,9). Seine Rolle bei diesem Geschehen besteht aber nicht lediglich darin, dass er über Gottes Erbarmen und Gottes Güte informierte. Er erhebt vielmehr den Anspruch, dass in seinem Auftreten selbst, d. h. wenn er Kranke heilt, Dämonen austreibt sowie mit sozialen und religiösen Außenseitern genauso Tischgemeinschaft praktiziert wie mit Pharisäern, Gottes Erbarmen und Güte sich ereignen. Die Erzählungen wollen darum auch nicht allgemeine Wahrheiten über Gott und Mensch mitteilen, sondern sie reden über Gott so, wie er den Menschen durch Jesus begegnet. In diesem Bezug berühren sich auch die Bildfelder in den Gleichnissen vom verlorenen Sohn (Lk 15,11–32; vor allem V. 22–32) und von der Einladung zum Festmahl (Lk 14,16–24 und Mt 22,2–10). Mit ihnen deutet Jesus sein Auftreten als Einladung, mit der Gott die Menschen aufruft, sich zu einem von ihm veranstalteten Festmahl zusammenzufinden. Auf derselben Linie 22
S. dazu o. S. 160–167.
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2. Wie kommt Jesus in den Gleichnissen vor?
liegt auch die Selbstauslegung Jesu, wie sie in den beiden Gleichnissen vom Schatz im Acker und der kostbaren Perle (Mt 13,44.45–46) zum Ausdruck kommt: Wenn man Jesus begegnet, so ist das, wie wenn man einen Schatz oder eine kostbare Perle findet. Eine Deutung des Auftretens Jesu findet auch in dem Gleichnis vom klugen Verwalter statt (Lk 16,1–7). Wir begegnen ihr in V. 2, wo erzählt wird, dass dem Verwalter durch seine Entlassung die bisherige Sicherheit seiner Existenz entzogen wird und er gezwungen ist, sich in seinem Leben vollständig neu zu orientieren. Eben dies geschieht nach Jesu Verständnis auch mit den Menschen, die ihm und seiner Verkündigung begegnen: Ihnen wird die Grundlage ihrer bisherigen Heilsorientierung entzogen, so dass sie gezwungen sind, ihr Gottesverhältnis von Grund auf neu auszurichten. In Lk 12,58–59 und Mt 5,25–26 platziert Jesus die metaphorische Charakterisierung seines Auftretens vor dem Hintergrund eines drohenden Unheilsszenarios: Die lukanische Fassung geht so: Lk 12,58–59: (58) Wenn du mit deinem Prozessgegner zum Gericht unterwegs bist, bemühe dich (noch) auf dem Weg, von ihm loszukommen, sonst schleppt er dich vor den Richter, und der Richter wird dich dem Vollzugsbeamten übergeben, und der Vollzugsbeamte wird dich ins Gefängnis werfen. (59) Ich sage dir, du wirst von dort nicht rauskommen, bis du auch den letzten Cent zurückgezahlt hast!
Demnach ist jeder einzelne bereits auf dem Weg zum Gericht, wo ihm auf Grund seiner Schulden (unmetaphorisch gesagt: seiner Sünden)23 das Unheil droht. Die Begegnung mit Jesus ist die allerletzte Möglichkeit, vom Gläubiger „loszukommen“ (V. 58), d. h. sich mit ihm gewissermaßen außergerichtlich zu einigen und auf diese Zum Zusammenhang von Sünden und Schulden s. o. S. 173 Anm. 19. 23
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Weise der drohenden Verurteilung zu entgehen. Für das Selbstverständnis Jesu ist in diesem Gleichnis bedeutsam, welche Bedeutung er der Begegnung mit ihm zuschreibt: Sie eröffnet den Menschen die letzte Möglichkeit, ihre Sündenschulden gegenüber Gott aus der Welt zu schaffen. Auf welche Weise sie das tun können, geht aus Lk 13,1–5 hervor, wo Jesus ohne metaphorische Einkleidung ebenfalls eine Drohkulisse aufbaut, um seine Zuhörer davon zu überzeugen, dass es höchste Zeit ist umzukehren. Wie „Umkehr“ konkret aussehen kann, wird an anderer Stelle zu besprechen sein.24 Es ist aber sehr schön zu sehen, wie beide Texte sich gegenseitig interpretieren. 2.2 Noch deutlicher thematisiert Jesus sein Wirken in einer Reihe von Gleichnissen, die sich in erzählerischer Hinsicht von den bisher besprochenen charakteristisch unterscheiden. Es handelt sich um die Gleichnisse vom vierfachen Acker (Mk 4,3–8; s. auch EvThom 9), von der selbstwachsenden Saat (Mk 4,26–29), vom Senfkorn (Mk 4,30–32 und Lk 13,18–19 und Mt 13,31–32; s. auch EvThom 20) und vom Sauerteig (Lk 13,20–21 und Mt 13,33; s. auch EvThom 96,1–2). Die Besonderheit dieser Gleichnisse besteht darin, dass sie eigentlich nicht erzählen, sondern beschreiben. Sie enthalten keine erzählerischen Knotenpunkte, die unterschiedliche Optionen oder Möglichkeiten für den Fortgang der Erzählung markieren und bei denen die Hörer sich fragen, wie die Geschichte nun weitergeht.25 Stattdessen schildern sie natürliche Vorgänge, S. u. S. 195–207. Ein solcher Knotenpunkt findet sich z. B. in Mt 18,26: Der König hat die Möglichkeiten, entweder die Bitte des Schuldners zu erfüllen und diesem die Rückzahlung der Schuld zu stunden oder ihn und seine Familie als Sklaven zu verkaufen (V. 25). Erzählerisch realisiert wird dann eine ganz andere, unerwartete Möglichkeit. Den nächsten 24 25
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2. Wie kommt Jesus in den Gleichnissen vor?
von denen alle Menschen ganz genau wissen, wie sie ablaufen und wie sie enden. Es wird jeweils ein Geschehen beschrieben, das einer natürlichen Gesetzmäßigkeit folgt, und nicht zufällig lässt z. B. das Gleichnis von der selbstwachsenden Saat die Erde „von selbst“ (griech.: automátē) Frucht bringen (Mk 4,28). Die Hörer werden in diesen Gleichnissen nicht eingeladen, an dem erzählten Geschehen als potentiell Handelnde teilzunehmen. Sie bleiben in diesen Erzählungen vielmehr außen vor und nehmen lediglich die Rolle von außenstehenden Beobachtern ein.26 Wenn wir fragen, welches Erzählziel solche Gleichnisse verfolgen, fällt die Antwort nicht schwer. Man erzählt Geschichten, die allseits Bekanntes reproduzieren, wenn es darum geht, Unbekanntes, Befremdliches, Neues oder schwer Verständliches zu erklären. Solche Geschichten fungieren als Beispiele, die Unverständnis und Widerspruch aus der Welt schaffen wollen, indem sie das Neue und Fremde mit Hilfe der Analogie von bereits Bekanntem plausibel machen. Der „Text“ der erzählten Welt und der „Kontext“ der besprochenen Welt27 verhalten sich dabei so zueinander, dass das Befremdliche auf der Seite des Kontextes sich befindet Knotenpunkt eröffnet dann V. 29: Wie wird der „Knecht“, dessen große Schuld erlassen wurde, nun auf die Bitte um die Stundung der viel kleineren Schuld reagieren? – In Lk 12,17 und 16,3 wird der erzählerische Knotenpunkt durch die Frage: „Was soll ich tun?“ markiert. 26 Die ältere Gleichnisforschung hat diese Gleichnisse als „Gleichnisse im engeren Sinn“ bezeichnet (in ihm werden alltägliche Dinge erzählt), während Gleichnisse, die einen nichtalltäglichen Vorgang erzählen, „Parabeln“ genannt werden (vgl. Harnisch, Gleichniserzählungen, 66–68). Obwohl diese Unterscheidung durchaus sachgerecht ist (s. gleich im Folgenden), ist die Wahl dieser beiden Begriffe unglücklich. Vielleicht könnte man mit Baudler, Jesus, 58–62 von „Vorgangsgleichnissen“ und „Handlungsgleichnissen“ sprechen. 27 Zu diesen Kategorien s. o. S. 170 mit Anm. 11.
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und dem Text die Aufgabe zukommt, diese Dissonanz in Harmonie und Verständnis zu überführen. Wenn wir die „Texte“ dieser Gleichnisse auf den „Kontext“ des Auftretens Jesu beziehen, fällt es nicht schwer, die Interaktion zwischen erzählter und besprochener Welt zu verstehen. Es geht allen vier Gleichnissen um den Ausgleich des Widerspruchs zwischen der traditionellen Vorstellung von der eschatologischen Durchsetzung der Gottesherrschaft (Gott kommt selbst) und Jesu Anspruch, dass in seinem Wirken diese Erwartung bereits in der Gegenwart Realität geworden ist.28 2.2.1 Diesen Widerspruch will Jesus mit den Gleichnissen vom Senfkorn (Mk 4,30–32 und Lk 13,18–19 und Mt 13,31–32) und vom Sauerteig (Lk 13,20–21 und Mt 13,33) beseitigen. Mit Hilfe dieser beiden Gleichnisse will er deutlich machen, dass die Unscheinbarkeit der Gottesherrschaft in seinem eigenen Wirken ein integraler Bestandteil ihrer die gesamte Schöpfung umfassenden universalen Durchsetzung ist, die Gott mit seinem Kommen herbeiführen wird. Die trivialen Vorgänge, die in den beiden Gleichnissen beschrieben werden, wollen deutlich machen, dass jedes Ende auch einen Anfang haben muss und dass Anfang und Ende durch einen unlöslichen Zusammenhang miteinander verbunden sind, auch wenn der Anfang klein und das Ende groß ist. Dementsprechend werden das kleine Senfkorn und die geringe Menge Sauerteig als Beispiel dafür aufgeboten, dass ein unscheinbarer Anfang wie Jesu Wirken und ein gewaltiges Ende wie das universale, die gesamte Schöpfung umfassende Reich Gottes nicht nur keine Gegensätze sein müssen, sondern untrennbar zusammengehören.
S. dazu o. S. 116–118.
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2. Wie kommt Jesus in den Gleichnissen vor?
Im Gleichnis vom Senfkorn lässt Jesus sogar die bezeichnete Sache (die universale Gottesherrschaft) in das Bild übergreifen. Die Senfstaude kann zwar bis zu einer Höhe von drei Metern wachsen, doch ein „Baum“ mit „Zweigen“, in dem „die Vögel des Himmels nisten“, wird sie definitiv nicht. Die Beschreibung des Endzustands basiert darum nicht auf der Beobachtung der Natur, sondern sie greift auf Elemente anderer Provenienz zurück. Im vorliegenden Fall ist das die in einigen alttestamentlichen Texten belegte Beschreibung des Weltenbaums, der dort als Symbol für eine Herrschaft fungiert, die mit ihrer Macht die gesamte Welt umgreift.29 Die Pointe des Gleichnisses besteht demnach darin, dass es gerade das unscheinbare Senfkorn ist, aus dem ein „Baum“ wächst, dem die aus der alttestamentlichen Weltenbaum-Metaphorik bekannten Attribute zugeschrieben werden, bzw. dass es gerade das unscheinbare Auftreten Jesu in der Gegenwart ist, mit dem Gott begonnen hat, seine die gesamte Schöpfung umgreifende Herrschaft aufzurichten. 2.2.2 Im Gleichnis von der selbstwachsenden Saat (Mk 4, 26–29) fehlt zwar der Kontrast zwischen klein und groß, doch wird auch hier der Zusammenhang zwischen Vgl. Ez 17,23: „Auf den hohen Berg Israels werde ich ihn (sc. einen Trieb) pflanzen, und er wird Zweige treiben und Frucht tragen und zu einer herrlichen Zeder werden, und unter ihr werden alle Vögel ausruhen, alles, was Flügel hat; im Schatten ihrer Zweige werden sie wohnen“; 31,6: „In ihren (sc. der Zeder) Zweigen nisteten alle Vögel des Himmels, und unter ihren Ästen brachten alle Tiere des Feldes ihre Jungen zur Welt; und in ihrem Schatten wohnten all die vielen Völker“; Dan 4,18: „Sein Laub war dicht und seine Frucht zahlreich, und an ihm war Nahrung für alle; unter ihm lebten die Tiere des Feldes, und in seinen Ästen wohnten die Vögel des Himmels“; die Septuaginta ergänzt noch: „die Macht der Erde und der Völker und aller Zungen bis an die Enden der Erde und alle Länder werden dir versklavt sein“ (DanLXX 4,21). 29
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Anfang und Ende betont. Geschildert wird der „Automatismus“ (V. 28) des Wachstumsprozesses zwischen Aussaat und Ernte, der dafür sorgt, dass die Erde aus dem Samen, der in sie gesät wird, am Ende Frucht hervorbringt. Auch wenn der Bauer nicht weiß, wodurch das Wachstum bewirkt wird (vgl. V. 27: „ohne dass er es sich erklären kann“30), weiß er (und wissen die Hörer des Gleichnisses) doch aus Erfahrung, dass es genauso kommt, wie Jesus es erzählt. Ebenso – diese Übertragung liegt nicht fern – steht darum auch Jesu Wirken in einem organischen Zusammenhang mit der kommenden universalen Durchsetzung von Gottes Königsherrschaft. 2.2.3 Dieselbe Gewissheit will auch das Gleichnis vom vierfachen Acker (Mk 4,3–8) vermitteln. Sein Thema sind nicht vier verschiedene Modelle der menschlichen Existenz, von denen drei zum Scheitern verurteilt sind. Darum will Jesus die Menschen mit diesem Gleichnis auch nicht auffordern, „guter Acker“ zu sein. Für das Verständnis dieses Gleichnisses ist vielmehr entscheidend, dass man die Zeitstruktur erkennt, die der Abfolge der Szenen zugrundeliegt: Gleichsam im Zeitraffer wird wie in Mk 4,26–29 eine ganze Wachstumsperiode zwischen Aussaat und Ernte beschrieben, wie sie jedes Jahr auf jedem Feld zu beobachten ist: Viele Monate hindurch gibt es nur Verlust – erst durch die Vögel, dann durch die Sonne und schließlich noch durch das Unkraut –, und trotzdem kann der Bauer gewiss sein, dass am Ende der ausgesäte Same reiche Frucht bringt. Mit Verweis auf die alljährliche Erfahrung will das Gleichnis die Gewissheit vermitteln, dass der letztendliche Erfolg der Aussaat nicht in Frage steht, auch wenn fast das ganze Jahr
Jeremias, Gleichnisse, 151.
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über nichts als Misserfolg zu beobachten ist. Der hyperbolische Schluss (manche Saatkörner geben 30fachen, manche 60fachen und andere 100fachen Ertrag) hat rhetorische Funktion: Er soll zum Ausdruck bringen, dass der vorherige Misserfolg verblasst, wenn er in das Licht des finalen Erfolges gestellt wird. – Es ist gut vorstellbar, dass Jesus mit diesem Gleichnis angesichts der geringen Resonanz, die er unter seinen Zeitgenossen fand (s. auch Lk 17,26–30), auf Zweifel am Erfolg seines Wirkens reagiert und mit Hilfe dieses Gleichnisses deutlich machen will, dass anfänglicher Misserfolg den letztendlichen Erfolg nicht nur nicht ausschließt, sondern ihm sogar als etwas ganz Normales vorausgeht. 2.2.4 Gerade diese Gleichnisse mit ihrem so wenig aufregenden Inhalt lassen ein profiliertes Selbstverständnis Jesu erkennbar werden: dass durch sein Wirken die Gottesherrschaft bereits in der Gegenwart unter den Menschen anwesend ist, auch wenn es weit hinter dem zurückbleibt, was seine Zeitgenossen vom Kommen der Gottesherrschaft erwarten. Die Vorgänge, die hier jeweils beschrieben werden, wollen den Blick der Hörer auf die alltägliche Erfahrung lenken, um auf diese Weise die Zumutung, die Jesu Anspruch seinen Zeitgenossen bereitet, zu entschärfen und zu erklären, wie man sich vorstellen kann, dass sein Wirken ein integraler Bestandteil der nahe bevorstehenden Durchsetzung von Gottes universaler Herrschaft ist. Dieselbe rhetorische Strategie verfolgen auch die sog. Bildworte, mit denen Jesus sein Handeln kommentiert. Auch in ihnen gibt es keine erzählerischen Knotenpunkte, sondern es handelt sich um Metaphern, die an Selbstverständliches erinnern, weil sie das Außergewöhnliche erklären wollen, um diesem den Charakter des Anstößigen zu nehmen. In diesem Sinne erklärt Jesus seine Hinwendung zu den Zöllnern und Sündern,
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die ihm von den Pharisäern zum Vorwurf gemacht wird, mit einer Binsenweisheit: „Nicht die Starken brauchen einen Arzt, sondern die Kranken“ (Mk 2,17). Ebenso begegnet er der Kritik an seiner Gewohnheit, oft und gerne mit anderen Menschen zu feiern, indem er ebenfalls Selbstverständliches in Erinnerung ruft: Kein Mensch fastet, wenn Hochzeit gefeiert wird. Es ist nicht ausgeschlossen, dass Jesus auch mit den in Mk 2,21–22 folgenden Bildworten (kein Mensch näht einen neuen Flicken auf einen alten Stoff, und kein Mensch füllt neuen Wein in alte Schläuche) sein Wirken kommentieren will. Er würde mit ihm dann erklären wollen, warum das „Neue“ der Gottesherrschaft ihn Dinge tun lässt, die mit dem Vertrauten und „Alt“hergebrachten brechen. Es ist aber auch möglich, dass Jesus mit diesem Wort die Menschen davon überzeugen will, dass die Begegnung mit ihm und der Gottesherrschaft von ihnen eine vollständige Änderung der Existenzorientierung erforderlich macht. Sie verlangt von den Menschen eine Reaktion, die sich voll und ganz auf das Kommen der Gottesherrschaft einstellt und keine Kompromisse erlaubt. Das Neue geht nicht mit dem Alten zusammen.
3. Krise und Chance: Die Situation der Menschen in den Gleichnissen 3.1 Die Situation, die Jesu Gleichnisse den Menschen zuweisen, die Jesus und seiner Verkündigung begegnen, können wir in Anlehnung an das in Abschn. 2.1 Gesagte beschreiben: Wenn Menschen Jesus begegnen, begegnen sie dem Erbarmen und der Güte Gottes (Mt 18,27; 20,15). Dann ist das so, wie wenn ein Mensch einen Schatz oder eine kostbare Perle fin-
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det (Mt 13,44.46) oder wie wenn er eingeladen wird, zu einem fertig vorbereiteten Festmahl zu kommen (Lk 14,16–17 und Mt 22,2–4; Lk 15,25–28). Diese Begegnung ist aber auch so beschaffen, dass sie die Menschen in eine Situation stellt, die sie ihrer bisherigen existentiellen Sicherheit beraubt, so dass sie einem Verwalter gleichen, der von seinem Arbeitgeber entlassen wird (Lk 16,2). Jesus kann die Begegnung mit sich aber auch als letzte Chance deuten, der drohenden Verurteilung gerade noch zu entgehen (Lk 12,58–59). Wenn wir die pragmatische Dimension der Gleichnisse in den Blick nehmen und danach fragen, welches Verhalten sie den Hörern als Reaktion auf die Begegnung mit Jesus anempfehlen, ergibt sich ein überraschend kohärentes Bild. Wir können die Texte miteinander verknüpfen, denn sie interpretieren sich gegenseitig. Wie alle Texte, die das Verhalten von Menschen beeinflussen wollen, nehmen auch die Gleichnisse Jesu beide Richtungen in den Blick: Sie sagen nicht nur, was man tun soll, sondern auch, was man lassen soll. Dementsprechend erzählen sie nicht nur von Menschen, die es richtig machen, sondern auch von Menschen, die sich falsch verhalten. Die Erzählfiguren fungieren dabei als positive oder als negative Exempla, deren Verhalten zur Nachahmung empfohlen wird bzw. der Abschreckung dient. 3.2 Richtig verhalten sich in diesem Sinne der Mensch, der einen Schatz im Acker findet, und der Kaufmann, der die lange gesuchte kostbare Perle findet, weil sie sich von ihrem gesamten Besitz trennen, um den Acker bzw. die Perle erwerben zu können (Mt 13,44.45–46). Mit ihnen vergleichbar ist der Verwalter, der aus seiner Arbeit entlassen wird und sich nun nicht mehr an seinen früheren Verhältnissen orientiert, sondern entschlossen und moralisch durchaus nicht ganz einwand-
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frei die Seiten wechselt (Lk 16,1–7). Er verlässt sich ab sofort nicht mehr auf seinen bisherigen Arbeitgeber, sondern auf dessen Schuldner, und dabei geht er sogar so weit, dass er seinen bisherigen Arbeitgeber schädigt. Falsch reagiert demgegenüber der unbarmherzige Knecht, der sich durch das Erbarmen, das er erfahren hat, nicht zu einer Änderung seines Verhaltens motivieren lässt, sondern nach wie vor ausschließlich nach Recht und Gesetz handelt (Mt 18,30). Dasselbe gilt für alle, die zu einem Festmahl eingeladen sind und die Einladung zurückweisen, weil sie den Alltag und seine Erfordernisse für wichtiger halten (Lk 14,18–20 und Mt 22,5). Einen solchen Fall erzählt auch das Gleichnis vom reichen Kornbauern in Lk 12,16–2031: In ihm ging es ursprünglich nicht um die Warnung vor Habgier32, sondern um die rechte Beurteilung der Zeit: Der Kornbauer wird dadurch zum negativen Exempel, weil er damit rechnet, seinen Reichtum noch „viele Jahre“ (V. 19) genießen zu können, und nicht bedenkt, dass er „noch in dieser Nacht“ sterben kann (V. 20).33 Dieses Gleichnis will davor warnen, die Begegnung mit Jesus
Dass der reiche Kornbauer das Gegenbild zum klugen Verwalter sein soll, kann man daran erkennen, dass beide sich fragen: „Was soll ich tun?“ (Lk 12,17; 16,3), und dann ihre jeweilige Entscheidung treffen. Außerdem entsprechen sich die Urteile über ihre Entscheidungen: Beim Kornbauern lautet es „unverständig“ (áphrōn; Lk 12,20), während dem Verwalter bescheinigt wird, er habe „verständig“ (phronímōs; Lk 16,8a) gehandelt. 32 Mit dieser Ausrichtung hat erst Lukas das Gleichnis versehen, indem er es auf die in Lk 12,13–15 erzählte Situation bezogen und mit V. 21 eine entsprechende Anwendung hinzugefügt hat. 33 Hierbei handelt es sich um ein in Jesu Umwelt weit verbreitetes Bild von reichen Menschen. Für sie gilt als typisch, dass sie glauben, noch viele schöne Jahre vor sich zu haben, und dabei die Möglichkeit eines plötzlichen Todes verdrängen; vgl. Ps 49,11–13; Sir 11,16– 17/18–19; Pred 5,18–19; Dio Chrysostomus 16,8: „Bedenke doch, 31
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nicht zum Anlass für eine Neuausrichtung der eigenen Existenz zu nehmen, sondern damit zu rechnen, dass das bisherige Leben so weitergeht wie bisher. Der Kornbauer gleicht insofern den Menschen, die die Einladung zum Festmahl ausschlagen, weil sie ihren Alltag nicht unterbrechen wollen. 3.3 Alle Gleichnisse, in denen die Situation und die Reaktion von Menschen als metaphorische Abbildung der Begegnung mit Jesus und ihrer Reaktion darauf erzählt wird, sind durch eine deutlich erkennbare Gemeinsamkeit miteinander verbunden. Sie alle wollen den Menschen einschärfen, dass die Begegnung mit Jesus ein Zerbrechen der bisherigen existentiellen Sicherheiten zur Folge hat, das eine Neuorientierung des Lebens verlangt. Als positive Beispiele schildern die Gleichnisse das Verhalten von Menschen, die eine solche Neuorientierung ins Werk setzen, während alle Menschen scheitern, die sich ihr verweigern und an dem festhalten wollen, was ihnen bisher wichtig war und existentielle Sicherheit gegeben hat. Die Schilderung ihres Verhaltens und Geschicks soll darum abschrecken. Alle Gleichnisse werden zudem so erzählt, dass sie keine Kompromisse zwischen diesen beiden möglichen Reaktionen zulassen. In dieselbe Richtung weist auch das in Lk 9,62 überlieferte Bildwort: „Niemand, der die Hand an den Pflug gelegt hat und nach hinten schaut, ist für die Gottesherrschaft geeignet“. Mit ihm reagiert Jesus auf die Bitte eines Menschen, der sich erst noch von seinen Angehörigen verabschieden will, bevor er Jesus nachfolgt. Wenn Jesus diesen Wunsch zurückweist, verlangt er nicht weniger, als du Dummkopf, … woher nimmst du die Gewissheit, dass du den morgigen Tag erlebst und nicht plötzlich mitten aus allen scheinbaren Gütern weggenommen wirst?“
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dass jeder, der ihm nachfolgen will, kompromisslos alle Brücken hinter sich abbricht.34 Bereits am Schluss des vorangegangenen Abschnitts haben wir gesehen, dass sich auch die Bildworte vom neuen Flicken und vom neuen Wein (Mk 2,21–22) in diesen Zusammenhang einordnen lassen. Wenn wir über die Gleichnisse hinausgehen, begeg net uns diese Konstellation auch in anderen Teilen der Jesusüberlieferung, zum Beispiel in der Geschichte von Maria und Martha (Lk 10,38–42). Hier wird der eben beschriebene Unterschied in Szene gesetzt: Als Jesus bei den beiden Schwestern einkehrt, ist es Maria, die ihren Alltag unterbricht und sich zu seinen Füßen niederlässt, um ihm zuzuhören, während Martha sich von ihrer Arbeit weiterhin in Anspruch nehmen lässt (V. 39b–40a). Aus Jesu Kommentar in V. 41–42 geht hervor, dass Maria es richtig macht, Martha hingegen nicht. Sie steht darum denen nahe, die nach Lk 14,18–20 und Mt 22,5 die Einladung zum Festmahl ausschlagen und zur Begründung auf die Erfordernisse des Alltags verweisen. Mit dieser Reaktion geben sie zu erkennen, dass ihnen diese Erfordernisse wichtiger sind als das Heil Gottes, das ihnen in Jesus begegnet. Nicht weit entfernt ist auch Lk 17,26–30: Hier droht Jesus all denen eschatologisches Unheil an, die sich von seinem Auftreten nicht davon abbringen lassen, mit ihren alltäglichen Verrichtungen einfach so weiterzumachen wie bisher. Hinzu kommt noch, dass die Konfiguration der Erzählfiguren in Lk 10,38–42 eine Struktur aufweist, die sich auch in zahlreichen Gleichnissen findet: das sog. „dramatische Dreieck“. Man begegnet ihm überall dort, wo die Erzählung auf der Interaktion zwischen einer zentralen Autoritätsfigur, dem sog. „Handlungssouverän“, und einem Paar Zu diesem Bildwort s. auch u. S. 241.
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3. Die Situation der Menschen in den Gleichnissen
von „Zwillingen“ basiert, das dem Handlungssouverän zugeordnet ist. Die „Zwillinge“ stehen zwar formal auf einer Ebene, repräsentieren aber zwei gegensätzliche Verhaltensmöglichkeiten.35 Darüber hinaus ist auch nicht zu übersehen, dass die Pragmatik dieser Gleichnisse ihre Entsprechung in der Forderung der Umkehr findet, wie sie expressis verbis in anderen Bereichen der Jesusüberlieferung belegt ist36. Sie tritt besonders deutlich in den Gleichnissen vom Schatz im Acker und der kostbaren Perle (Mt 13,44. 45–46) zutage, in denen der Kauf des Ackers und der Perle jeweils die Trennung vom gesamten Besitz zur Voraussetzung hat und damit unübersehbar ein existentielles Umkehrgeschehen metaphorisch in Szene setzt. Dasselbe gilt auch für den klugen Verwalter von Lk 16,1–7, der sich zur Sicherung seiner Existenz so konsequent von seinem bisherigen Arbeitgeber ab- und dessen Schuldnern zuwendet, dass er dafür sogar seinen bisherigen Arbeitgeber schädigt. Auch dass die Erzählfigur, die in den Gleichnissen vom unbarmherzigen Knecht und der Einladung zum Festmahl für Gott steht, auf das Festhalten am Bisherigen mit Zorn reagiert (Mt 18,34; Lk 14,21 und Mt 22,7), ist auf die Begegnung mit Jesus hin transparent. In beiden Gleichnissen warnt Jesus wie in Lk 13,3.5 vor den Unheilsfolgen, die eine Verweigerung der Umkehr nach sich ziehen wird. Möglicherweise gehört auch das Bildwort, das zur „Annahme“ der Gottesherrschaft „wie ein Kind“ auffordert Vgl. z. B. Mt 21,28–32 und Lk 15,11–32: ein Vater, zwei Söhne; 25,1–13: ein Bräutigam, fünf dumme und fünf kluge Mädchen; Lk 7,41–43: ein Gläubiger, zwei Schuldner; 10,30–37: ein unter die Räuber Gefallener, zwei Typen von Passanten: der eine geht vorbei (Priester und Levit), der andere erbarmt sich (Samaritaner); 18,9–14: Gott, zwei Beter. 36 Vgl. Mk 1,15; Lk 10,13 und Mt 11,21; 18,3; Lk 13,3.5; s. auch Lk 11,32 und Mt 12,41; Lk 5,32; 15,7.10. 35
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IX. Die Gleichnisse Jesu
(Mk 10,15), in diesen Zusammenhang: Wer „umkehrt“, beginnt ein neues Leben und wird dadurch wieder „wie ein Kind“. So ist dieser Vorgang wohl auch in Mt 18,3 verstanden worden. In Lk 13,24 und in Mt 7,13–14 umschreibt Jesus seine Umkehrforderung mit der Metapher vom „Reingehen durch die enge Pforte“. Dass die Erfahrung von Gottes Barmherzigkeit die Menschen dazu nötigt, sich auch untereinander mit Barmherzigkeit zu begegnen, wie es das Gleichnis vom unbarmherzigen Knecht verlangt (Mt 18,23–34), hat eine enge Entsprechung in Lk 6,36 („Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist“).37 In anderen Texten wird die Reihenfolge umgedreht: Diejenigen, die anderen Menschen gegenüber barmherzig sind und ihnen vergeben, werden auch von Gott Barmherzigkeit und Vergebung erfahren.38
4. Jesus als Gleichniserzähler Die Gleichnisse in den synoptischen Evangelien können nur als Bestandteil von Jesu Selbstauslegung sachgerecht verstanden werden. Diese Selbstauslegung findet aber nicht nur dadurch statt, dass Jesu Wirken als Bestandteil der Begegnung Gottes mit den Menschen innerhalb der Gleichnisse metaphorisch charakterisiert und auf diese Weise erschlossen wird. Die Gleichnisse wollen vielmehr auch auf der Ebene der erzählerischen Performanz ein unverzichtbarer Ausdruck von Jesu Selbstverständnis sein. Sie erheben den Anspruch, In der Parallele Mt 5,48 steht „vollkommen“ statt „barmherzig“. Es besteht ein Konsens darin, dass die lukanische Fassung älter ist. 38 Vgl. Mt 5,7; 6,14–15; Lk 11,4 und Mt 6,12; Mk 11,25; s. auch Lk 6,37 und Mt 7,1. 37
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4. Jesus als Gleichniserzähler
dass Jesus in ihnen tatsächlich von Gott und von der Gottesherrschaft spricht, die den Menschen durch ihn begegnet. Jesus verlangt mit ihnen von seinen Hörern, diese Vorgabe zu akzeptieren – dass Gott wirklich so ist, wie Jesus ihn in seinen Gleichnissen auslegt, und dass es sich mit Jesu eigenem Wirken so verhält, wie er es in den Gleichnissen erzählt. Die Gleichnisse können darum niemals als autonome ästhetische Objekte oder allein auf Grund ihrer poetischen Qualität überzeugen. Sie bleiben vielmehr untrennbar mit der Auslegung durch ihren Erzähler verbunden, weil auch in ihnen Jesu Anspruch begegnet, dass man es in seinem Wirken mit Gott zu tun bekommt. In Lk 14,24, dem Schlusswort des Gleichnisses von der Einladung zum Festmahl, kommt dieses Ineinander deutlich zum Ausdruck: Wenn es hier heißt: „Darum sage ich euch: Keiner von den eingeladenen Männern wird von meinem Mahl essen“, greift die erzählte Welt auf die besprochene Welt über39. Es ist nicht mehr zu unterscheiden, wer hier spricht, denn das Ich des Erzählers Jesus, der sich an seine Hörer wendet („ich sage euch“), und das Ich Gottes werden hier miteinander verschmolzen. Das Festmahl, zu dem Gott einlädt, wird auf diese Weise zum Mahl Jesu. Als Ausdruck von Jesu Selbstauslegung wollen die Gleichnisse darum nicht lediglich über Gott, Jesus und die Menschen sowie über deren Verhältnis zueinander belehren, sondern sie erheben keinen geringeren Anspruch, als dass sich in ihnen das Verhältnis zwischen Gott, Jesus und den Menschen ereignet.
39
Zu dieser Unterscheidung s. o. S. 170 mit Anm. 11.
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X. Ethisches Wir fragen in diesem Kapitel nicht nach der „Ethik“ Jesu, denn „Ethik“ ist ein „Theorieunternehmen“1, das über Eigenart und Begründung eines Sollens nachdenkt, das sich aus der menschlichen Existenz in der Welt ergibt. So etwas findet man in der Jesusüberlieferung nicht. Was wir dort antreffen, sind lediglich Weisungen, mit denen Jesus seine Zeitgenossen immer wieder auffordert, bestimmte Dinge zu tun und andere zu lassen. Diese Weisungen können sowohl als Mahnworte formuliert werden (wie z. B. Mt 5,44: „Liebt eure Feinde!“) als auch die Gestalt von Aussageworten annehmen, deren Aufforderungscharakter aber deutlich vernehmbar ist (z. B. Mt 5,7: „Selig die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen“). Wenn wir nach einem gemeinsamen Nenner fragen, der die unterschiedlichen Weisungen Jesu miteinander verbindet, können wir noch einmal zum vorangegangenen Kapitel zurückkehren. In dessen vorletztem Abschnitt2 ist deutlich geworden, dass Jesus die Hörer seiner Gleichnisse dazu veranlassen möchte, auf die eschatologische Situation der unmittelbar bevorstehenden Durchsetzung von Gottes universaler Herrschaft, die in seinem Wirken bereits punktuell präsent ist, mit einem Verhalten zu reagieren, das wir mit den Begriffen „Umkehr“ oder „Neuausrichtung der eigenen Existenz“ oder „Neuorientierung des Lebens“ umschrieben haben. Die Frage ist dann: Wie macht man das? Oder auch: durch welche Handlungen oder durch was für E. Herms, RGG4 2 (1999) 1598. Dementsprechend soll die Überschrift zu diesem Kapitel nicht eine Ableitung von „Ethik“ sein, sondern von „Ethos“. 2 S. o. S. 186–192. 1
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X. Ethisches
ein Verhalten bringt man zum Ausdruck, dass man sein Leben auf Grund der von Jesus proklamierten eschatologischen Situation neu ausrichtet? Vor der Präsentation von Jesu Äußerungen zu diesem Thema ist daran zu erinnern, dass es auch schon in den Evangelien Zusammenstellungen der ethischen Weisungen Jesu gibt. Das Spruchevangelium hat wahrscheinlich die sog. Feldrede geschaffen, deren Umfang ungefähr dem entspricht, was in Lk 6,12–49 steht. Diese Rede ist wohl nicht so von Jesus gehalten worden, wie wir sie heute lesen, sondern es handelt sich um eine Zusammenstellung von Worten, die in der Jesusüberlieferung ursprünglich getrennt voneinander oder in kleineren Teilsammlungen überliefert wurden. Von Matthäus ist diese Rede dann um weiteres Material ergänzt und zur Bergpredigt Mt 5–7 ausgebaut worden.3 Dabei hat er die einzelnen Worte durchaus auch an seine Bedürfnisse und Interessen angepasst, und er hat auch eigene Texte hinzugefügt. Dieser literarische Charakter der beiden Reden spricht natürlich nicht dagegen, dass in ihnen authentisches Jesusgut erhalten ist. Und schließlich: Jesus hat ethische Weisungen für zwei unterschiedliche Gruppen formuliert: zum einen für jenen engeren Kreis unter seinen Anhängern, die seinetwegen „alles verlassen haben“ und ihm „nachgefolgt“ sind (Mk 10,28), und zum anderen für solche Menschen, die mit seiner Botschaft zwar sympathisierten, ihre Familien und Berufe aber nicht verlassen und Jesus nachfolgen wollten, sondern die lediglich wissen wollten, was sie tun sollten, um sich der oben beschrie In diesem Sinne findet sich z. B. der gesamte Komplex Mt 6,19–34 im Lukasevangelium verstreut in Lk 12,33–34 (Mt 6,19–21); 11,34–36 (Mt 6,22–23); 16,13 (Mt 6,24); 12,22–32 (Mt 6,25–34). Das Vaterunser, bei Matthäus ein Bestandteil der Bergpredigt (Mt 6,9–13), steht bei Lukas in 11,2–4. 3
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1. Was sollen die Menschen tun?
benen eschatologischen Situation angemessen zu verhalten. Dass es hier einen Unterschied gibt, kann man auch daran erkennen, dass Jesus den Ruf in seine Nachfolge niemals gegenüber der Öffentlichkeit erhoben, sondern immer nur an bestimmte einzelne Menschen gerichtet hat.4 Aus pragmatischen Gründen sollen hier zunächst nur die für die Öffentlichkeit bestimmten ethischen Weisungen vorgestellt werden. Weisungen, die der Gruppe der Jünger und Jüngerinnen galten, die Jesus nachfolgten und sein heimat- und besitzloses Leben teilten, werden in einem eigenen Kapitel besprochen.5
1. Was sollen die Menschen tun? 1.1 Aus dem Material, das in der Jesusüberlieferung verstreut ist, können wir drei Gruppen bilden. Sie unterscheiden sich dadurch voneinander, dass die zu jeder Gruppe gehörenden Weisungen jeweils einen thematischen Zusammenhang bilden. 1.1.1 Der ersten Gruppe waren wir bereits im Kapitel über Jesu Gleichnisse begegnet.6 Sie beinhaltet die Weisung, sich im Umgang mit den anderen Menschen von Barmherzigkeit leiten zu lassen (Mt 18,23–34; Mt 5,7; Lk 6,36). Ihr an die Seite stellen lässt sich eine ganze Reihe anderer Aufforderungen: den Mitmenschen einseitig zu vergeben (Mt 6,14–15; Mk 11,25; Lk 11,4 und Mt 6,12), sie nicht zu richten (Lk 6,37a und Mt 7,1) und sie nicht zu verurteilen, sondern freizusprechen (Lk 6,37b–c). Zur Begründung verweist Jesus in Vgl. S. 235–241. S. u. S. 241–249. 6 S. o. S. 174 f. 4 5
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X. Ethisches
Mt 18,23–34 auf die Barmherzigkeit Gottes, die man selbst empfangen hat und nun an die anderen Menschen weitergeben soll. In Lk 6,36 („Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist“) nimmt das Argument den Mitmenschen in die Perspektive auf Gott mit hinein. Es besagt, dass man dem, dessen Gott sich erbarmt, auch das eigene Erbarmen nicht verweigern kann. In anderen Texten wird die Reihenfolge von Tun und Ergehen umgedreht:7 Ihnen zufolge werden nur diejenigen, die sich anderer Menschen erbarmen, ihnen vergeben, sie nicht richten usw., auch von Gott Erbarmen und Vergebung erfahren. Hiernach ist das zwischenmenschliche Vergeben nicht die Folge, sondern die Bedingung dafür, dass man auch von Gott Vergebung erfährt. Dass beides sich nicht widersprechen muss, sondern auch zusammengedacht werden kann, geht aus Mt 18,23–34 hervor: Hiernach wird Gott demjenigen seine zuvor gewährte Vergebung wieder entziehen, der sie nicht an seine Mitmenschen weitergibt. Beide Argumentationsrichtungen finden sich schon im antiken Judentum. Im Sinne von Lk 6,37 und Mt 18,32–33 heißt es im Aristeasbrief (208): „Du sollst Barmherzigkeit üben, denn auch Gott ist barmherzig“, sowie im Targum Ps. Jonathan zu Lev 22,28: „Wie ich barmherzig bin im Himmel, so sollt ihr auf Erden barmherzig sein“. – In die umgekehrte Richtung argumentiert Sir 28,2: „Vergib deinem Nächsten das Unrecht, und dann werden deine Sünden beseitigt werden, wenn du darum bittest“. Derselbe Zusammenhang ist auch in der rabbinischen Literatur an vielen Stellen belegt; z. B. in bSchab 151b: „Wer sich über die Menschen erbarmt, über den erbarmt man sich vom Himmel her; wer sich nicht über die Menschen erbarmt, über den erbarmt man sich nicht vom Himmel her“.
In denselben Zusammenhang gehört auch das Wort vom Splitter im Auge des Bruders und dem Balken im Vgl. Mt 5,7; 6,14–15; Mk 11,25; Lk 6,37a und Mt 7,1; Lk 11,4 und Mt 6,12. 7
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1. Was sollen die Menschen tun?
eigenen Auge (Lk 6,41–42 und Mt 7,3–5).8 Hier wird vor einer Beschuldigung des anderen mit dem Argument gewarnt, dass die Schuld, die auf einem selbst lastet, viel größer ist. 1.1.2 Das zweite semantische Feld besteht aus ethischen Weisungen zum Umgang mit dem Besitz. „Jedem, der dich bittet, gib, und von dem, der nimmt, was dir gehört, verlange es nicht zurück“ (Lk 6,30; s. auch Mt 5,42). Ebenso soll man das, was man besitzt, „ausleihen, ohne auf eine Rückerstattung zu hoffen“ (Lk 6,35). Dem entspricht die Aufforderung, sich „nicht auf Erden Schätze zu sammeln“, sondern „im Himmel“ (Mt 6, 19–20). Dieselbe Alternative gibt es auch in Lk 16,13 und Mt 6,24: „Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon“. Wer über Besitz verfügt, soll sich demnach von ihm trennen, indem er ihn denen gibt, die nichts haben: „Verkauft euren Besitz und gebt Almosen“ (Lk 12,33). Wenn diese Aufforderung dann mit den Worten: „Schafft euch Geldbeutel, die nicht altern, einen unerschöpflichen Schatz im Himmel“, erläutert wird, ist die Entsprechung zu den Aufforderungen zur Barmherzigkeit mit ihren Begründungen, wie sie im vorangegangenen Abschnitt dargestellt wurden, nicht zu übersehen.9 Dasselbe gilt auch für Jesu Antwort, als ein reicher Jüngling ihn fragt, was er tun müsse, „um das ewige Leben zu gewinnen“ (Mk 10,17): „Geh hin, Auch Matthäus hat diesen Zusammenhang wahrgenommen, denn sonst hätte er das Wort nicht mit der Warnung vor dem Richten (Mt 7,1–2) verbunden. 9 Vgl. auch Tob 12,8–9: „Es ist besser, ein Barmherzigkeitswerk (eine eleēmosýnē) zu tun, als Gold anzuhäufen. Das Barmherzigkeitswerk rettet vom Tode, und es reinigt jede Sünde. Die ein Barmherzigkeitswerk tun, werden mit Leben gesättigt werden.“ 8
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X. Ethisches
verkaufe alles, was du hast, und gib’s den Armen, dann wirst du einen Schatz im Himmel haben“. Diese Entsprechung geht sogar noch weiter: In Lk 12,33 steht „Almosen“ für das griechische Wort eleēmosýnē. Diese Übersetzung ist aber missverständlich, denn eleēmosýnē bezeichnet nicht lediglich eine „milde Gabe“, sondern hat eine viel weiter reichende Bedeutung. Sprachlich ist es eine Ableitung vom griechischen Wort éleos („Erbarmen“, „Barmherzigkeit“, „Mitleid“; hebräisch ḥǽsæd [„Gnade“, „Erbarmen“]). Es bedeutet darum so viel wie „Barmherzigkeitstat“ oder „Werk des Erbarmens“. Dieser Sachverhalt ist vor allem auch darum wichtig, weil es gerade der Gott Israels ist, von dem man weiß, dass er „Barmherzigkeitstaten“ tut und sie den Menschen zugute kommen lässt.10
In diesen Zusammenhang gehört auch Mk 10,25, obwohl dieses Wort nicht als Weisung, sondern als Feststellung formuliert ist: „Es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr geht, als dass ein Reicher ins Reich Gottes reinkommt“. Im Kontext der bisher besprochenen Weisungen ist die Pragmatik dieser Aussage offenkundig. Ein „Reicher“ ist einer, der einen „Schatz auf Erden“ hat (Mt 6,19), und „ins Reich Gottes reinkommen“ bedeutet hier dasselbe wie in Mk 10,17 „das ewige Leben gewinnen“. Die Feststellung impliziert damit die Aufforderung, sich von seinem Besitz kompromisslos zu trennen. 1.1.3 Eine dritte Gruppe von ethischen Weisungen thematisiert die Reaktion auf die Erfahrung von Unrecht und Gewalt im Alltagsleben. Wenn einem andere Menschen Böses antun, soll man sich dagegen nicht zur Wehr setzen (Mt 5,39: „Leistet gegen das Böse keinen Widerstand“). Jesu Forderung geht darüber sogar noch hinaus: Die Menschen sollen Gewalt und Unrecht nicht lediglich passiv hinnehmen, sondern sie sollen 10
Vgl. z. B. Ps 23/24,5; 32/33,5; 102/103,6; Spr 3,3; 14,22; Bar 5,9.
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1. Was sollen die Menschen tun?
den Gewalttätern und ihren Feinden entgegenkommen, deren Ziele und Wünsche übererfüllen und sich ihnen zuwenden. Lukas und Matthäus haben die entsprechenden Weisungen zusammengestellt und mit unterschiedlichen Konkretionen kombiniert, die zum überwiegenden Teil von Jesus selbst stammen dürften: Lk 6,27–29.35: (27) Liebt eure Feinde! Tut denen Gutes, die euch hassen! (28) Segnet, die euch verfluchen! Betet für die, die euch schmähen! (29) Dem, der dich auf die (eine) Wange schlägt, halte auch die andere hin, und dem, der dein Obergewand nimmt, verwehre auch das Untergewand nicht! (35) Liebt eure Feinde und tut Gutes und leiht, ohne auf eine Rückerstattung zu hoffen. Dann wird euer Lohn groß sein, und ihr werdet Söhne des Höchsten sein, denn er ist freundlich zu den Undankbaren und Bösen. Mt 5,38–45: (38) Ihr habt gehört, dass gesagt wurde: „Auge um Auge und Zahn um Zahn“. (39) Ich aber sage euch: Leistet gegen das Böse keinen Widerstand, sondern wer dich auf deine rechte Wange schlägt – wende ihm auch die andere zu! (40) Und dem, der mit dir vor Gericht ziehen und dein Untergewand nehmen will – überlass ihm auch das Obergewand! (41) Und wer dich zu einer Meile Frondienst zwingt – geh’ zwei mit ihm. (42) Dem, der dich bittet, gib. Und den, der von dir leihen will, weise nicht ab. (43) Ihr habt gehört, dass gesagt wurde: „Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen“. (44) Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen, (45) so dass ihr Kinder eures Vaters in den Himmeln werdet, denn der lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute, und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.11
Bei Matthäus sind die Aufforderungen zum Verzicht auf Wiedervergeltung (V. 39) und zur Feindesliebe (V. 44) Teile von antithetischen Gegenüberstellungen („Ihr habt gehört, dass gesagt wurde: ‚…‘. Ich aber sage euch: …“). Bei Lukas stehen sie ohne diese Abgrenzung. Es besteht Einigkeit darin, dass Matthäus es war, der den beiden Weisungen diese Gestalt gegeben hat. Ihnen gehen in der Bergpredigt vier weitere „Antithesen“ voraus (Mt 5,21–26.27–30.31–32.33–37), die z. T. ebenfalls von Matthäus geschaffen wurden. 11
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X. Ethisches
Im Zentrum dieser Weisungen steht das Gebot der Feindesliebe, das mit sehr großer Wahrscheinlichkeit auf Jesus selbst zurückgeht. Die „These“, der Matthäus das Gebot der Feindesliebe als „Antithese“ gegenüberstellt, ist nicht das Gebot der Nächstenliebe aus Lev 19,18b („Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“), das er in V. 43 verkürzt zitiert, sondern die Fortsetzung: „… und deinen Feind hassen“. Sie steht nicht im Alten Testament, sondern es handelt sich um eine Interpretation, die aus dem Gebot der Nächstenliebe die Schlussfolgerung zieht, dass es die Aufforderung impliziert, den Feind zu hassen. Es ist diese Interpretation, von der Matthäus das Gebot der Feindesliebe abgrenzt. Die Gegenüberstellung lautet darum nicht: „nicht den Nächsten lieben, sondern den Feind“, sondern: „den Feind nicht hassen, sondern lieben“.
Das Bild der Feinde, die Jesus hier beschreibt, ist den Psalmen entnommen. In ihnen wird über die Feinde gesagt, dass sie sich über den Frommen „erheben“ (Ps 13,3), ihn „hassen“ (Ps 18,18.41; 25,19; 38,20), „Böses gegen ihn reden“ (Ps 41,6), ihn „verhöhnen“ und „verspotten“ (Ps 102,9), ihn „verfolgen“ (Ps 7,6; 31,16; 143,3) und „zu Boden treten“ (Ps 143,3). Es ist darum kein Zufall, dass in der Umgebung des Gebots der Feindesliebe von Menschen die Rede ist, die genau dasselbe tun, nämlich „hassen“, „verfluchen“, „schmähen“ und „verfolgen“. Jesus spricht damit nicht von unterschiedlichen Gruppen, sondern von dem, was „Feinde“ tun. Mit „lieben“ bezeichnet Jesus darum auch nicht lediglich die affektive und emotionale Zuneigung, die sich im Inneren des Menschen abspielt. Seine Aufforderung bezieht sich vielmehr auf den konkreten Umgang mit den „Feinden“. Das geht auch aus den Fortsetzungen der beiden Texte hervor: Man soll den Feinden „Gutes tun“, sie „segnen“, für sie „beten“. Durch diese Handlungen gewinnt die Feindesliebe ihre konkrete ethische Gestalt. Was „Gutes tun“ bedeutet, muss man nicht erklären, denn das weiß jeder: Man soll den Feind so
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1. Was sollen die Menschen tun?
behandeln wie einen Freund oder wie den „Nächsten“ und den in Israel lebenden „Fremden“ von Lev 19,18.34 und Dtn 10,19. Damit wird das Gebot der Feindesliebe zu einer Verallgemeinerung von Weisungen, wie sie sich in Ex 23,4–5 und in Spr 25,21 finden.12 Wie originell ist das Gebot der Feindesliebe? Wenn man sich an den Wörtern orientiert, ist die Sache klar: Nirgendwo in der antiken Literatur gibt es die Aufforderung, „Feinde“ zu „lieben“13 – im Gegenteil: „Ein guter Mann soll … mit den Freunden die Feinde hassen und … die Freunde lieben“ (Polybius, Historien 1,14,4). Und wenn einer diejenigen liebt, die ihn hassen, beschämt er seine Freunde und seine Familie (2Sam 19,6–7).14 Orientiert man sich aber an der Sache, ist der Befund ebenso eindeutig, denn es gibt auch anderswo Feststellungen und Weisungen, die in dieselbe Richtung gehen wie das Gebot der Feindesliebe. Der verbreitete Grundsatz, es sei „gerecht, den Freund gut zu behandeln, den Feind aber schlecht“, wird schon bei Plato kritisch hinterfragt (Res publica 335a–d u. ö.).15 Darüber hinaus ist in der gesamten Antike die Mahnung verbreitet, das Böse nicht mit Bösem zu beantworten, sondern mit Gutem. In einer altägyptischen Weisheitslehre heißt es: „Besser ist es, einen anderen zu segnen, als demjenigen Leid anzu-
Ex 23,4–5: „(4) Wenn du das Rind deines Feindes oder seinen Esel umherirrend antriffst, sollst du sie ihm auf jeden Fall zurückbringen. (5) Wenn du den Esel deines Hassers unter seiner Last zusammengebrochen siehst, dann lass ihn nicht ohne Beistand; du sollst ihn mit ihm zusammen aufrichten“; Spr 25,21: „Wenn dein Hasser Hunger hat, gib ihm Brot zu essen, und wenn er Durst hat, gib ihm Wasser zu trinken.“ 13 Auch der in diesem Zusammenhang oft zitierte Text Epiktet, Dissertationes 3,22,54 spricht nicht von so etwas wie Feindesliebe. Epiktet schreibt hier über den kynischen Philosophen: „Es ist erforderlich, dass er geschlagen wird wie ein Esel und dass er als Geschlagener diejenigen liebt, die ihn schlagen, wie ein Vater von allen, wie ein Bruder“. Nach ebd. 56 ist es Zeus, der den Kyniker mit allem, was er von Seiten der Menschen erleidet, „ertüchtigt“. 14 In der Nacherzählung dieser Geschichte bei Josephus, Ant. 7,254 wird David vorgeworfen, „die schlimmsten Feinde zu lieben“. 15 Weitere Beispiele finden sich bei Betz, Sermon, 305 f. 12
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X. Ethisches tun, der dich beleidigt hat“.16 Aus dem Judentum kann JosAs 23,9 als Beispiel fungieren: „Wir sind gottesfürchtige Männer, und es gehört sich für uns nicht, Böses für Böses zu vergelten“; oder TestJos 18,2: „Wenn euch jemand Böses tun will, so betet ihr durch Gutestun für ihn“. Auch in den Qumran-Texten findet sich dieser Gedanke: „Nicht vergelte ich einem Mann das böse Tun, mit Gutem verfolge ich jeden. Denn bei Gott ist das Gericht über alles Lebendige, und er vergilt dem Mann seine Tat“ (1QS 10,17–18). Nichtjüdische Autoren warnen davor, Böses mit Bösem zu vergelten; so z. B. Sophocles, Ajax 362f: „Vergrößere nicht, indem du das Böse gegen das Böse als Heilmittel gibst, das Unheil des Verderbens“; Herodot, Historien 3,53,4: „Heile nicht mit dem Bösen das Böse“; Plato, Crito 49c: dass einer, der Böses erlitt, Böses vergilt, ist nicht gerecht; Polybius, Historien 5,11,1: wer „mit Bösem Böses heilt“, begeht eine „Gottlosigkeit“.
Es ergibt sich damit ein relativ deutliches Bild: Jesu Aufforderung, die „Feinde“ zu „lieben“, ist in dieser sprachlichen Gestalt in der Tat analogielos. Wenn man sie jedoch auf ihre ethische Konkretion hin befragt (im Sinne von: „Wie macht man das?“), stellt sich sehr schnell heraus, dass sie in ein ethisches Ideal eingebettet ist, das seit alters belegt ist: dass man Böses nicht mit Bösem vergelten soll, sondern mit Gutem. Die extremen Aufforderungen, auch die andere Wange hinzuhalten17, wenn man auf die eine geschlagen wird, und dem, der einen Teil der Bekleidung haben will, auch den anderen zu überlassen (Lk 6,29 und Mt 5,39–40), können als exemplarische Zuspitzungen dieser Forderung verstanden werden: Wenn man es ernst damit meint, auf die Konfrontation mit dem Bösen von Seiten anderer Men Pap. Insinger 509 bei Brunner, Weisheit, 331; s. auch syrAchiqar 24 (Grünberg): „Begegnet dir dein Feind mit Bösem, so begegne du ihm mit Gutem“. 17 In die Nähe dieser Forderung kommt Klgl 3,30: Hier heißt es unter der Überschrift „Es ist gut, dass man schweigend hofft auf die Rettung JHWHs“ (V. 26): „Er soll dem, der ihn schlägt, die Wange hinhalten und sich an Schmach sättigen“. 16
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1. Was sollen die Menschen tun?
schen immer mit Gutem zu reagieren, muss man im Extremfall so weit gehen, wie es hier beschrieben wird. Warum soll man das tun? Die Antwort, die wir den Texten entnehmen können, ist unmissverständlich: weil Gott es genauso macht und nicht Böses mit Bösem vergilt, sondern auch die „Undankbaren und Bösen“ mit Freundlichkeit behandelt (Lk 6,35) bzw. zwischen „Bösen“ und „Ungerechten“ auf der einen Seite sowie „Guten“ und „Gerechten“ auf der anderen keinen Unterschied macht (Mt 5,45).18 Nicht zurückgegriffen wird damit auf Begründungen wie die, dass man Gott die Vergeltung überlassen soll19 oder dass man durch ein solches Verhalten die Feindschaft vielleicht überwindet und den Feind zum Freund macht20. Zur Geltung gebracht wird hier vielmehr dieselbe Begründungsfigur, mit der Jesus auch schon seine Aufforderungen zu Vergebung und Barmherzigkeit versehen hatte (s. o. Abschn. 1.1.1): Man soll sich daran orientieren, wie Gott mit den Menschen umgeht. 1.2 Die Gemeinsamkeit, die diese drei Gruppen von ethischen Weisungen miteinander verbindet, ist deutlich zu erkennen: Alle Weisungen beziehen sich auf das Verhältnis zu den Mitmenschen, und sie stellen es in Mit einer vergleichbaren Begründung versieht auch Seneca, De Beneficiis 4,26,1 eine ähnliche Aufforderung: „Willst du die Götter nachahmen, erweise auch Undankbaren Wohltaten, denn auch über den Bösen geht die Sonne auf und auch den Seeräubern stehen die Meere offen“. 19 So der oben zitierte Text aus 1QS 10,17–18; s. auch TestGad 6,7: „Wenn einer gegen dich sündigt (V. 3) … und an der Bosheit festhält, … vergib ihm von Herzen und überlass Gott die Vergeltung“ sowie Röm 12,19. 20 So z. B. Vita Aesopi 110: „Trage den Feinden nicht das Böse nach; tue ihnen lieber Gutes, damit sie anderen Sinnes werden und erkennen, was für einem Menschen sie Unrecht getan haben“. 18
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X. Ethisches
das Licht der Gottesbeziehung. Das existentielle Selbstverhältnis kommt nicht vor. Jesu ethische Weisungen lassen sich darum ganz gut verstehen: Sie wollen die Menschen veranlassen, die Lebensordnung der Gottesherrschaft bereits in der Gegenwart, d. h. unter der Bedingung des Noch-nicht ihrer universalen Durchsetzung, punktuell zu verwirklichen. Jesus fordert die Menschen dazu auf, die Integrität der eigenen Existenz nicht selbst behaupten und durchsetzen zu wollen, sondern sie einzig und allein von Gottes Güte, Liebe und Barmherzigkeit zu erwarten. Und es sind darum auch diese Eigenschaften Gottes, seine Güte, Liebe und Barmherzigkeit, die die Menschen in ihren alltagsweltlichen Lebenszusammenhängen zum Ausdruck bringen sollen. Daraus entsteht eine ethische Paradoxie, die leicht verständlich ist. Jesus verlangt, dass die Wirklichkeit Gottes innerhalb und unter den Bedingungen der menschlichen Alltagswelt praktiziert wird. Nimmt man diese Forderung aus der umgekehrten Perspektive in den Blick, wird Jesu Forderung paradox und absurd, wie es immer geschieht, wenn die Wirklichkeit Gottes in das Licht menschenweltlicher Handlungslogiken gestellt wird. Dieser Spannung sind Jesu Hörer schon im Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20,1–15) begegnet, in dem der Weinbergbesitzer allen gleich viel zahlt, obwohl sie unterschiedlich lange gearbeitet haben.21 Wenn man den Blick in die andere Richtung lenkt, finden diese Weisungen ihr Widerlager in den wiederholten Aufforderungen Jesu, sich im Gebet an Gott zu wenden und auf diese Weise zum Ausdruck zu bringen, dass man sich mit seiner gesamten Existenz allein von ihm und seiner Güte, Liebe und Barmherzigkeit abhängig weiß:
S. dazu o. S. 175 f.
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2. Wie geht Jesus mit der Tora um? Lk 11,9–10: (9) Bittet, und euch wird gegeben. Sucht, und ihr werdet finden. Klopft an, und euch wird aufgetan. (10) Denn jeder, der bittet, empfängt; und wer sucht, der findet; und dem, der anklopft, wird aufgetan werden.22
2. Wie geht Jesus mit der Tora um? 2.1 Für Jesus und seine jüdischen Zeitgenossen war das „Gesetz“ (die Tora23) ein unaufgebbarer Bestandteil der Erwählung Israels. Demnach hat Gott seinem Volk die Tora gegeben, damit es seine Unterscheidung von den Völkern, die er durch die Erwählung vorgenommen hat, auch im alltäglichen Leben zum Ausdruck bringen und erfahren kann. Die Gebote der Tora zu erfüllen, stellt für keinen Juden darum eine Belastung dar, denn auf diese Weise veranschaulicht er seine Zugehörigkeit zu dem Volk, das Gott sich zu seinem Eigentum erwählt hat. Das ist die theologische Grundlage, auf der auch Jesu Umgang mit der Tora basiert. Gleichwohl ist noch zweierlei zu berücksichtigen: Zum einen ergab sich auf Grund der schriftlichen Fixierung der Tora die Notwendigkeit, ihre Weisungen in sich permanent ändernden kulturellen Kontexten immer wieder neu ethisch zu aktualisieren. Die Bestimmungen der Tora wurden dabei auf die jeweils neu gegebenen Verhältnisse hin ausgelegt und an sie ange S. auch die Parallele in Mt 7,7–8 sowie Mk 11,24; Lk 11,5–8.11–13; 18,1–8; Mt 9,9–11. 23 Das hebräische Wort tōrā́h bedeutet „Weisung“. Es bezeichnet darum nicht nur die „Weisung“, die Gott seinem Volk am Sinai übergeben hat, sondern es kann u. a. auch die „Weisungen“ bezeichnen, die der Sohn von seiner Mutter empfängt (Spr 1,8; 6,20) oder die von der Hausfrau gegeben werden (Spr 31,26). Auch die Lehre der Weisheit kann tōrā́h genannt werden (z. B. Spr 3,1; 7,2). 22
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X. Ethisches
passt. Dieser Vorgang führte zur Unterscheidung zwischen schriftlicher und mündlicher Tora bzw. zwischen Tora und Halacha24. Wer die Tora mit dem Anspruch von Verbindlichkeit auslegt, erteilt selbst wieder Tora. Es liegt in der Natur der Sache, dass diese Interpretationen und Anpassungen einzelner Tora-Gebote an neue Gegebenheiten zu jeder Zeit nicht nur unterschiedlich, sondern durchaus auch ausgesprochen kontrovers abgelaufen sind. Zum anderen führte die permanente Notwendigkeit, die Weisungen der Tora immer wieder neu zu aktualisieren, nicht selten auch zu einer nicht unerheb lichen Distanz zwischen ihnen und ihren halachischen Fortschreibungen.25 Ein Beispiel kann das Gebot der Sabbatruhe sein, das selbst fromme und gesetzestreue Juden bewusst übertreten haben, wenn es die Notwendigkeit gebot (1Makk 2,29–41; Josephus, Ant. 12,276–277). Die Gegenposition vertritt Jub 50,12–13: „Jeder Mensch, der eine Arbeit tut, und auch der, der einen Weg geht, und auch der, der den Acker bebaut, … und auch der, der im Schiff das Meer bereist, … und auch der, der fastet und Krieg macht am Tage des Sabbats, … soll sterben“. Josephus schreibt über die Pharisäer, dass sie „dem Volk … Gesetzesvorschriften überliefert haben, die nicht in den Gesetzen des Mose aufgeschrieben sind“ (Ant. 13,297; s. auch ebd. 408).26 Zu solchen Vorschriften gehörten u. a. die in Mk 7,3–4 erwähnten Reinigungsge Der Begriff „Halacha“ ist mehrdeutig. Er ist vom hebräischen Verb hāláḥ („gehen“, „wandeln“) abgeleitet und bezeichnet sowohl die Gesamtheit der schriftlichen und mündlichen Tora als auch die sich an ihr orientierende Lebensführung. 25 S. dazu K. Müller, Toraleben, 16f sowie ders., Beobachtungen, 117: „Die Anbindung der Halacha an die Tora bleibt unter inhaltlicher Rücksicht vage und letztlich unerfindlich“; ebd., 105 spricht er von der „Entfernung …, welche die Halacha unter normalen Umständen von der Tora trennt“. 26 Beispiele nennt K. Müller, Toraleben, 12–16.17–20; ders., Beobachtungen, 105–114. 24
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2. Wie geht Jesus mit der Tora um? bote, die als „Überlieferung der Alten“ bezeichnet werden (Mk 7,3.5) und nicht in der Tora stehen und von den Jüngern Jesu ganz offensichtlich nicht beachtet wurden. Kritisch äußert Jesus sich auch über die Pharisäer, die ihr Essgeschirr von außen reinigen und die von der Tora gebotene Zehntpflicht auch auf die Gartenkräuter ausweiten, weil sie dabei die viel wichtigere innere Reinheit vernachlässigten (Lk 11,39–41.42 und Mt 23,25–25.23–24).
Im Folgenden soll es darum gehen, den Umgang Jesu mit einzelnen Weisungen der Tora in diese Landschaft einzupassen. Wir beginnen mit den bisher noch nicht behandelten Weisungen, die sich unter den Antithesen der Bergpredigt finden, und besprechen dann die Frage, wie Jesu Heilungen am Sabbat sich zum Sabbatgebot des Dekalogs verhalten. Außerhalb der Betrachtung bleibt das Wort, das Mk 7,15 Jesus in den Mund legt: „Es gibt nichts, das von außerhalb des Menschen in ihn hineingeht, das ihn unrein machen kann, sondern das, was aus dem Menschen herauskommt, das ist es, das den Menschen unrein macht“. Markus bemerkt am Schluss von V. 19 zum ersten Teil dieser Feststellung, dass Jesus mit ihm „alle Speisen für rein erklärte“, und macht damit seinen Stellenwert deutlich: Mit ihm werden alle Unterscheidungen zwischen reinen und unreinen (d. h. zwischen für den Verzehr erlaubten und nicht erlaubten) Speisen, die in der Tora vorgenommen werden, für irrelevant erlärt.27 Hierbei handelt es sich aber um eine Problematik, die in dieser Pauschalität erst virulent wurde, als die frühen Christen nach Ostern damit begannen, die Grenzen des Judentums zu überschreiten und gemeinsame Mahlzeiten mit nichtjüdischen Jesusgläubigen zu feiern (vgl. Apg 10,1–11,18; 15; Gal 2,11–14). Dieses Wort geht darum nicht auf Jesus selbst zurück, sondern wurde ihm erst nach Ostern in den Mund gelegt. – Dasselbe gilt auch für Lk 10,8, wo es im Aussendungsbefehl heißt: „Und wenn ihr in eine Stadt kommt und man euch aufnimmt, esst, was euch
Die Rede ist hier nur vom Essen. Es ist darum nicht zulässig, die Reichweite dieser Feststellung auf das „gesamte andrängende Unreine, wie es jedem Zeitgenossen Jesu aus der zwiegespaltenen Schöpfung entgegenkam“, auszudehnen (Becker, Jesus von Nazaret, 386).
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X. Ethisches vorgesetzt wird“. Hier ist der Kontext der judenchristlichen Heidenmission geradezu mit den Händen zu greifen.28 Auch die Verknüpfung von Dtn 6,5 und Lev 19,18 zum Doppelgebot der Liebe in Mk 12,30–31 sowie Lk 10,27 und Mt 22,37–39 geht nicht auf Jesus zurück. Es basiert auf dem hellenistischen Kanon der zwei Tugenden, der die Gesamtheit des menschlichen Verhaltens auf zwei elementare Relationen reduziert: das Verhalten gegenüber Gott und gegenüber den anderen Menschen. Der jüdisch-hellenistische Philosoph Philo v. Alexandrien benutzt dieses Schema, um die Einzelbestimmungen der Tora in „zwei Hauptpunkten“ zusammenzufassen (Spec. Leg. 2,63).
2.2 In der ersten Antithese geht es um das Tötungsverbot des Dekalogs. Hier kann die antithetische Form durchaus auf Jesus zurückgehen: Mt 5,21–22: (21) Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt wurde: „Du sollst nicht töten; wer aber tötet, wird dem Gericht verfallen sein“. (22) Ich aber sage euch: Jeder, der seinem Bruder zürnt, wird dem Gericht verfallen sein. Wer aber zu seinem Bruder sagt: „Narr!“, wird dem Hohen Rat verfallen sein. Wer aber zu seinem Bruder sagt: „Dummkopf!“, wird der Feuerhölle verfallen sein.29
Jesus erklärt mit seiner Antithese natürlich nicht das Töten für erlaubt. Er setzt sich vielmehr mit bestimmten Interpretationen des sechsten Gebots auseinander. In EvThom 14 werden diese beiden Worte nicht nur miteinander verbunden, sondern auch in eben diesen Zusammenhang eingeordnet: „Wenn ihr in irgendein Land geht und die Dörfer durchwandert und man euch aufnimmt, esst, was sie euch vorsetzen. Heilt die Kranken bei ihnen. Denn was in euren Mund hineingeht, wird euch nicht unrein machen. Sondern das, was aus eurem Mund herauskommt, das ist es, was euch unrein machen wird“. 29 Die drei Feststellungen, die Jesus in V. 22 formuliert, bilden keine Steigerung, sondern die erste ist den beiden folgenden übergeordnet und wird durch diese beiden Verunglimpfungen konkretisiert und veranschaulicht. Sie werden dadurch umgekehrt zu exemplarischen Ausdrucksformen des Zorns gegen den Bruder. 28
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2. Wie geht Jesus mit der Tora um?
Seine Position lässt sich darum sehr leicht als Bestandteil einer innerjüdischen Debatte um die Auslegung der Tora verständlich machen. Er wendet sich gegen eine Auffassung, die sich ausschließlich am Wortlaut des Gebots orientiert: dass erst die Ermordung eines Menschen ein Verstoß gegen das Tötungsverbot des Dekalogs ist. Dem hält er entgegen, dass schon der Zorn gegen einen Mitmenschen, der sich in dessen Beschimpfung artikuliert, als Übertretung des Gebots zu gelten hat.30 Entsprechendes gilt für die zweite Antithese, deren Form ebenfalls auf Jesus zurückgehen kann: Mt 5,27–28: (27) Ihr habt gehört, dass gesagt wurde: „Du sollst nicht ehebrechen“. (28) Ich aber sage euch: Jeder, der eine (verheiratete) Frau ansieht, um sie zu begehren, hat schon Ehebruch mit ihr begangen in seinem Herzen.
Die These, gegen die Jesus sich hier wendet, ist nicht das siebte Gebot, sondern sie bleibt anders als in V. 21 unausgesprochen. Trotzdem kann sie ohne Mühe rekon struiert werden. Jesus setzt sich mit einer Interpretation dieses Gebots auseinander, die behauptet, dass erst der sexuelle Verkehr mit der Ehefrau eines anderen Mannes31 Ehebruch ist. Dem hält er entgegen, dass schon,
Eine späte, aber schöne Parallele findet sich in dem rabbinischen Traktat Derek Eretz Rabba 11,15 (van Loopik, Ways, 164): „Wer seinen Nächsten hasst, der gehört zu den Blutvergießern“. Es folgt dann noch das Zitat von Dtn 19,11. 31 Im Hintergrund dieser Antithese steht ein Verständnis von Ehebruch, wonach nur der Beischlaf eines Mannes mit der Ehefrau eines anderen Mannes als Ehebruch gilt. Der Mann bricht damit aber nicht seine eigene Ehe, sondern die Ehe des anderen Mannes. Wenn eine verheiratete Frau mit einem Mann schläft, der nicht ihr Ehemann war, so gilt ihr Vergehen nicht als Ehebruch, sondern als Unzucht. Adressaten des Ehebruchverbots im Dekalog und bei Jesus sind also ausschließlich Männer. 30
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wer beabsichtigt, mit einer verheirateten Frau zu schlafen, gegen dieses Gebot verstößt.32 Eine ähnliche Tendenz lassen auch die anderen beiden Äußerungen Jesu zur jüdischen Halacha erkennen, die zwar ebenfalls unter den Antithesen der Bergpredigt überliefert sind, ihre antithetische Gestalt wahrscheinlich aber erst durch Matthäus bekommen haben. Das Verbot der Ehescheidung (Mt 5,32; Lk 16,18; Mk 10, 11–12), das auch Paulus gekannt hat (1Kor 7,10–11), wendet sich nicht gegen ein Gebot der Tora, sondern gegen eine gängige soziale Praxis. Die älteste Fassung ist wohl in Mt 5,32a.c–e erhalten: Jeder, der eine Frau fortschickt, bewirkt, dass sie Ehebruch begeht; und wer eine Fortgeschickte heiratet, begeht Ehebruch.
Jesu Wort geht davon aus, dass eine einmal geschlossene Ehe unauflöslich ist und bestehen bleibt, auch wenn die Menschen sie beenden. Die theologische Basis, die Jesus zu diesem Verbot veranlasst hat, ist vielleicht in Mk 10,6–9 erkennbar, wo er sich auf die Schöpfungsordnung beruft: „Was Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht trennen“ (V. 9). Wie in den weisheitlichen ethischen Weisungen, die im vorangegangenen Abschnitt besprochen wurden, würde er damit auch hier Gottes Tun zum exklusiven Kriterium für die existentielle Orientierung der Menschen machen. Dasselbe könnte man auch vom Schwurverbot (Mt 5, 33–37) sagen, bei dem aber offen bleiben muss, ob es von Jesus stammt. Es ist auch in Jak 5,12 überliefert, ohne dass es dort mit Jesus in Verbindung gebracht Der Weisung Jesu kommt der Kommentar zu Lev 18,3 in LevR 23,12 sehr nahe: „Nicht nur, wer das Verbrechen mit seinem Körper begeht, ist ein Ehebrecher. Wenn er Ehebruch mit seinen Augen begeht, gilt er ebenfalls als Ehebrecher“. 32
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2. Wie geht Jesus mit der Tora um?
wird. Als älteste Fassung kann wahrscheinlich eine Kombination aus Mt 5,34.37 und Jak 5,12 gelten: Ihr sollt nicht schwören – weder beim Himmel noch bei der Erde noch bei Jerusalem. Euer Ja sei ein Ja, euer Nein ein Nein.
Das Schwurverbot fordert, mit einer Gewohnheit Schluss zu machen, die auch von vielen anderen Stimmen in der jüdischen Umwelt Jesu kritisiert wurde.33 Eine mögliche theologische Begründung kann es nur als Vermutung geben. Denkbar ist z. B., dass Jesus sich gegen eine Indienstnahme Gottes für menschliche Belange wendet. Er würde sich damit erneut nicht gegen die Tora wenden, sondern genau das Gegenteil tun, nämlich die im Dekalog erhobene Forderung in Erinnerung zu rufen, den Namen Gottes nicht zu missbrauchen (Ex 20,7; Dtn 5,11). 2.3 Intensiv diskutiert wird Jesu Umgang mit dem Sabbatgebot, dem vierten Gebot des Dekalogs (Ex 20,8–11; Dtn 5,12–15). Diese Problematik unterscheidet sich von den bisher besprochenen halachischen Fragen dadurch, dass sie kein Bestandteil der ethischen Weisung Jesu ist. Immer dann, wenn die Frage der Sabbatobservanz zum Thema wird, geht es nicht darum, was die Menschen tun oder lassen sollen, sondern um das, was Jesus und seine Jünger tun. Bei Jesus ist das immer sein Heilen: In Mk 3,1–6 heilt er am Sabbat eine verkrüppelte Das Schwurverbot liest sich wie eine Verschärfung der in Sir 23,9 ausgesprochenen Mahnung: „An einen Eid gewöhne nicht deinen Mund, und den Namen des Heiligen zu nennen, sei dir nicht geläufig“; s. auch Philo v. Alexandrien, Decal. 84: „Am besten, heilsamsten und vernünftigsten ist der Verzicht aufs Schwören“ (s. auch Spec. Leg. 2,224); Josephus, Bell. 2,135 über die Essener: „Das Schwören lehnen sie ab; sie halten es für schlimmer als den Meineid“. Für die rabbinische Eidkritik vgl. Billerbeck, Kommentar I, 328–330. 33
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Hand, in Lk 13,10–17 eine verkrüppelte Frau und in Lk 14,1–6 einen Wassersüchtigen.34 In Mk 2,23–28 geht es darum, dass die Jünger am Sabbat beim Gang durch ein Kornfeld Ähren von den Halmen abreißen. Alle vier Episoden haben zudem miteinander gemeinsam, dass Kritiker auftreten, die Jesus bzw. seinen Jüngern einen Verstoß gegen das Sabbatgebot vorwerfen, wogegen Jesus sich dann verteidigt. Nach Mk 1,21–31 finden auch der Exorzismus in der Synagoge von Kapernaum sowie die Heilung der Schwiegermutter des Petrus an einem Sabbat statt. Hier treten aber keine Kritiker auf. Was für die beiden ersten Antithesen der Bergpredigt galt35, wird auch hier erkennbar: Alle Episoden, in denen erzählt wird, dass Jesus am Sabbat heilt, reflektieren die Existenz von unterschiedlichen Auffassungen darüber, was am Sabbat erlaubt ist und was nicht. Darüber hinaus dürften alle Sabbatheilungen Jesu zufällige Gelegenheitsheilungen gewesen sein. Er hat sie vorgenommen, weil ihm am Sabbat Kranke begegnet sind und nicht weil er provokativ demonstrieren wollte, dass das Sabbatgebot nicht mehr verbindlich ist oder er das Recht hat, sich über es hinwegzusetzen. Von einer „Sabbatkritik“36 Jesu kann darum keine Rede sein. Daraus kann man den Schluss ziehen, dass das Sabbatgebot ganz offensichtlich erst durch seine Kritiker zum Gegenstand einer Kontroverse gemacht wurde. Erst sie waren es, die Jesu Heilungen am Sabbat vom Sabbatgebot her kritisiert haben. Weil keines der Worte, die Jesus in den Sabbat-Episoden in den Mund gelegt wurden, mit Sicherheit auf ihn zurückgeführt werden Denselben Plot gibt es auch im Johannesevangelium: Jesus heilt am Sabbat (5,1–9; 9,14), er wird dafür von seinen Gegnern kritisiert (5,16; 9,16), und er verteidigt sich (7,21–24). 35 S. o. S. 210–212. 36 Gnilka, Jesus von Nazaret, 221. 34
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2. Wie geht Jesus mit der Tora um?
kann37, ist sehr schwer zu sagen, was er tatsächlich auf die Kritik an seinen Sabbatheilungen geantwortet hat. Aber auch so können wir mit einiger Zuversicht sagen, dass Jesus seine Heilungen nicht als einen Bruch des Sabbatgebots gedeutet hat. Er hat vielmehr lediglich für sich und seine Jünger eine eher weite Auslegung dieses Gebots in Anspruch genommen, als ihm seine Kritiker zubilligen wollten. Die Kritiker Jesu haben seine Sabbatheilungen ganz offensichtlich als ein „Werk“ (eine m elākā́h) beurteilt, das vom Sabbatgebot untersagt wurde (Ex 20,10; Dtn 5,14), während Jesus ganz offensichtlich nicht dieser Meinung war. Diesen Dissens können wir auf eine breitere Basis stellen, wenn wir ihn vom Gesamtzusammenhang des Wirkens Jesu aus in den Blick nehmen. Was Jesus für seine Heilungen und Exorzismen insgesamt in Anspruch genommen hat, dass sie nämlich das Heil der universalen Königsherrschaft Gottes unter den Menschen Ereignis werden lassen38, gilt selbstverständlich auch und vielleicht sogar gerade für seine Heilungen und Exorzismen am Sabbat. Es wäre dann gewissermaßen das „Werk Gottes“39, das Jesus vollbringt, wenn er am Sabbat Kranke heilt und Dämonen austreibt, und nicht ein vom Sabbatgebot untersagtes menschliches Werk, wie seine Kritiker an Das gilt gerade auch für Mk 2,27 („Der Sabbat ist um des Menschen willen entstanden und nicht der Mensch um des Sabbats willen“). Gegen eine Herkunft von Jesus spricht die anthropologische, über Israel hinausgehende Reichweite des Wortes, die es charakteristisch von einem rabbinischen Wort unterscheidet, das ihm immer wieder an die Seite gestellt wird. „Der Sabbat ist ein euch (d. h. Israel) Übergebenes (masōrā́h), und nicht ihr (d. h. Israel) seid dem Sabbat Übergebene (masōrī́n)“ (Mekilta zu Ex 31,13–14). Demgegenüber dürfte Mk 2,27 erst entstanden sein, als das Christentum dabei war, die Grenzen des Judentums zu überschreiten. 38 S. o. S. 141–148. 39 Dietzfelbinger, Sinn, 297. 37
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nehmen. Im Hintergrund der unterschiedlichen Einschätzungen der Sabbatheilungen Jesu stünde dann ein sehr viel weiter reichender Dissens in Bezug auf die Beurteilung des Wirkens Jesu überhaupt. 2.4 Wenn wir die Texte zu Jesu Umgang mit der Tora nebeneinanderstellen, ergibt sich kein kohärentes Bild. Dafür ist vor allem auch ihre Zahl zu gering. Den Feststellungen, dass die Tora „kein vordringlicher Gegenstand der Predigt Jesu“ war40 oder „dass die Auslegung des Gesetzes nicht im Mittelpunkt der Verkündigung Jesu gestanden hat“41, kann man darum nicht widersprechen. Darüber hinaus erlaubt auch keiner der einschlägigen Texte die Annahme, Jesus habe ein Gebot der Tora für aufgehoben erklärt oder bewusst übertreten. Wenn es Kontroversen mit Bezug auf die Tora gab, dann handelte es sich um Auseinandersetzungen darüber, wie ein bestimmtes Toragebot halachisch umzusetzen ist und ob ein bestimmtes Verhalten gegen ein Gebot der Tora verstößt oder nicht. An keiner Stelle ist zudem erkennbar geworden, dass Jesus mit einer von ihm vertretenen Position über den Rahmen dessen, was als halachische Akkommodation der schriftlichen Tora innerhalb des Judentums möglich war, hinausgegangen ist. Die mitunter vertretene Auffassung, Jesus hätte die sog. „kultischen“ oder „rituellen“ Gebote der Tora entschärft, die sog. „ethischen“ oder „sozialen“ Gebote hingegen verschärft42, kann die Eigenart des Umgangs Jesu mit der Tora erst recht nicht erklären, denn sie verwendet ein anachronistisches Modell: Die Unterscheidung zwischen „kultischen“ bzw. „rituellen“ und „ethischen“ K. Müller, Beobachtungen 134. Broer, Jesus, 252. 42 So vor allem Theißen/Merz, Jesus, 321–332; s. auch Luz, Gesetz, 63f; Becker, Jesus von Nazaret, 387. 40 41
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2. Wie geht Jesus mit der Tora um?
bzw. „sozialen“ Geboten innerhalb der Tora ist eine christliche Erfindung, die aus der antijüdischen Apologetik der Alten Kirche stammt.43 Für Jesus war die Tora demgegenüber genauso wie für jeden seiner Zeitgenossen eine unteilbare Einheit. Hinzu kommt noch, dass sich die einschlägigen Texte nicht immer sauber einer der beiden Seiten zuordnen lassen. Das gilt z. B. für das Schwurverbot (Mt 5,34.37; Jak 5,12)44, bei dem unmöglich zu entscheiden ist, ob es sich um eine „rituelle“ oder um eine „ethische“ Norm handelt. Alles, was man sagen kann, ist darum: Jesus tut mit der Tora eben das, was auch alle Juden tun, denen sie nicht egal ist: Er nimmt eine halachische Aktualisierung der schriftlichen Tora vor, entweder durch sein eigenes Tun wie im Fall der Sabbatheilungen oder indem er sagt, was seiner Meinung nach zu tun oder zu lassen ist, um dem im Gesetz geoffenbarten Willen Gottes in der aktuellen historischen Situation zu entsprechen. Für Jesus eigentümlich ist dabei freilich, dass auch schon die Feststellung der Situation, die die Aktualisierung der Tora inhaltlich konturiert, Bestandteil seiner Verkündigung und damit Produkt einer geschichtstheologischen Deutung ist. Es handelt sich um die Behauptung, dass die Königsherrschaft Gottes überall dort bereits in der Welt der Menschen präsent ist, wo Jesus auftritt, und dass ihre Durchsetzung in der gesamten Schöpfung, die mit dem Kommen Gottes selbst einhergeht, unmittelbar bevorsteht. Dadurch sieht Jesus das Gesetz aber nicht überboten oder gar außer Kraft gesetzt, sondern er teilt mit, wie es unter den gegebenen Umständen zu verstehen ist und was es verlangt.
Zur Entstehung dieser Unterscheidung vgl. Wolter, Theologie, 339–356. 44 S. o. S. 212 f. 43
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XI. Die Verteilung von Heil und Unheil im Reich Gottes Zu Jesu Ankündigung der Gottesherrschaft gehörte auch eine Erwartung, welche die Verkündigung Johannes’ des Täufers genauso kennzeichnete wie die meisten, wenn nicht alle eschatologischen Vorstellungen des zeitgenössischen Judentums: dass Gott bei seinem Kommen sowohl Heil als auch Unheil über die Menschen bringen wird. Denen, die in Übereinstimmung mit seinem Willen gelebt haben, wird er Heil und Rettung zuweisen, während denjenigen, die sich seiner Heilsordnung widersetzt haben, Unheil und Vernichtung zuteil wird. Genauso wie Johannes der Täufer rechnete Jesus nicht nur damit, dass das Eingreifen Gottes unmittelbar bevorsteht, sondern er kündigte auch an, dass die Grenze zwischen Heil und Unheil mitten durch Israel hindurchgehen wird. Innerhalb der eschatologischen Vorstellungen des antiken Judentums lassen sich zwei Formen dieser Zuweisung von Heil und Unheil unterscheiden: In einer ganzen Reihe von Texten ist die Erwartung belegt, dass Gott die Welt mit einem Vernichtungsgericht überziehen wird, in dem seine und seines Volkes Widersacher untergehen werden. Gottes Volk bzw. alle, die sich in ihrem Leben dem Willen Gottes unterworfen haben, bleiben von diesem Gericht verschont. Wir sind seiner Beschreibung bereits in den oben zitierten Texten Sach 14,3–21 und AssMos 10,1–10 begegnet:1 Wie ein Herrscher, der auszieht, um ein anderes Land zu erobern und die dort regierenden Mächte zu ver-
S. o. S. 102 f; s. auch SibOr 3,51–61.556–561; AssMos 12,3–13.
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XI. Die Verteilung von Heil und Unheil im Reich Gottes
nichten oder seiner Herrschaft zu unterwerfen, kommt Gott mit seinem himmlischen Engelheer aus dem Himmel gewissermaßen „mit Feuer und Schwert“ auf die Erde herab und vernichtet alles, was seinem Willen entgegensteht. Eine andere Gestalt nimmt Gottes Eingreifen an, wenn es als Verfahren erwartet wird, das vor dem Thron eines Richters stattfindet.2 Gekennzeichnet ist diese Erwartung dadurch, dass das Ergebnis dieses Verfahrens ebenso wie beim Vernichtungsgericht immer schon vorher feststeht. Wenn es beginnt, hat es keinen offenen Ausgang mehr. Sein Zweck ist vielmehr ausschließlich die Zuweisung von Heil und Unheil. Häufig wird erwartet, dass nur die Sünder vor ihm erscheinen müssen, damit sie ihre Verurteilung entgegennehmen.3 Wenn auch die Gerechten vor dem Thron des Richters auftreten, dann tun sie dies ebenfalls immer alle zusammen und ausschließlich zu dem Zweck, dass sie das Heil zugesprochen bekommen.4 Wer zu den Sündern gehört und wer zu den Gerechten, wird nicht erst in diesem Verfahren ermittelt, sondern steht schon vorher fest. Bei Johannes dem Täufer ist nur der erste Gerichtstyp belegt. Die Rede vom „kommenden Zorn“ (Lk 3,7 und Mt 3,7) sowie der Rückgriff auf die Feuer-Metapher (Lk 3,9.16.17 und Mt 3,10.11.12) lassen erkennen, dass bei Johannes die Ankündigung eines Vernichtungs gerichts im Vordergrund stand. Demgegenüber finden sich in der Jesusüberlieferung beide Gestalten: Lk 13,1–5 und 17,26–30.34–35 scheinen die Erwartung eines Vernichtungsgerichts voraus Ein solches Verfahren schildert z. B. äthHen 62; vgl. aber auch äthHen 47,3; 90,20–27; Dan 7,9–10; Apk 20,11–13. 3 Das ist z. B. in äthHen 90,20–27 der Fall. 4 Ein solches Szenario wird z. B. in Mt 25,31–46 entworfen. 2
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XI. Die Verteilung von Heil und Unheil im Reich Gottes
zusetzen, während in anderen Texten ein Gerichtsverfahren vor dem Thron des Richters beschrieben wird.5 Ein interessantes Detail aus Jesu Vorstellung von der Art und Weise des kommenden Rettungs- und Vernichtungsgeschehens wird in Lk 17,34–35 und Mt 24,40–41 erkennbar: Lk 17,34–35: (34) Ich sage euch, in dieser Nacht werden zwei (Männer) auf einem Lager sein; der eine wird weggenommen werden und der andere dagelassen werden. (35) Zwei (Frauen) werden gemeinsam mahlen, die eine wird weggenommen werden, die andere aber dagelassen werden. Mt 24,40–41: (40) Dann werden zwei (Männer) auf dem Feld sein; einer wird weggenommen und einer dagelassen. (41) Zwei (Frauen) werden an der Mühle mahlen; eine wird weggenommen und eine dagelassen.
Hier kündigt Jesus an, was an dem Tag geschieht, an dem das Vernichtungsgericht über die Erde hereinbricht. Es ist wahrscheinlich, dass „wegnehmen“ in den beiden Versen für „entrücken“ steht. Jesus beschreibt hier die Unterscheidung zwischen dem Heils- und dem Unheilsgeschick der Menschen im ersten der beiden oben genannten Gerichtstypen: Demnach können selbst zwei Menschen, die einander so nahe sind wie zwei Männer, die gerade auf ein und demselben Bett liegen bzw. zusammen auf dem Feld arbeiten, oder wie zwei Frauen, die gerade ein und dieselbe Mühle bedienen, ein unterschiedliches Ergehen beim Kommen des Vernichtungsgerichts zugewiesen bekommen: die einen Heil, und zwar dadurch, dass sie „weggenommen“ und so vor dem Beginn der Vernichtung in Sicherheit gebracht werden, während die anderen „dagelassen“ und mit in den Untergang gerissen werden. Vgl. dafür Lk 11,31–32 par. Mt 12,41–42; Lk 12,8–9 par. Mt 10, 32–33; Mt 25,31–46.
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XI. Die Verteilung von Heil und Unheil im Reich Gottes
1. Die Seligpreisungen Jesus ist mit dem Anspruch aufgetreten, dass durch sein Wirken das Heil der Gottesherrschaft bereits in der Gegenwart unter den Menschen erfahrbar wird. Dabei waren es zunächst die Kranken und die Besessenen sowie alle anderen Menschen, die genauso wie jene innerhalb der zeitgenössischen Mehrheitsgesellschaft religiös und sozial stigmatisiert waren, denen die Gottesherrschaft durch Jesus die Umkehrung ihres Leidens und ihrer Not in Heil schenkt. Diese Deutung, die Jesus seinen Heilungen und Exorzismen sowie seiner Hinwendung zu den religiös und sozial Stigmatisierten beilegt, findet ihr korrespondierendes Seitenstück innerhalb der Wortüberlieferung in den sog. Seligpreisungen. Sie sind bei Matthäus und Lukas in zwei unterschiedlichen Fassungen überliefert. Die matthäische Fassung der Seligpreisungen (Mt 5,3–10) ist zwar bekannter als die lukanische (Lk 6,20b–21), doch steht diese – das hat die intensive Diskussion der letzten Jahrzehnte ergeben – der Ursprungsfassung näher als jene.6 Mit sehr großer Wahrscheinlichkeit geht der folgende Wortlaut auf Jesus zurück:7
EvThom 54 kombiniert Mt 5,3 und Lk 6,20b: „Selig sind die Armen, denn euch gehört das Himmelreich“; EvThom 69,2 kann als eine entfernte Parallele zu Lk 6,21a gelten, die aber sicher sekundär ist: „Selig die Hungernden, damit der Leib dessen gesättigt wird, der Verlangen hat“. 7 Es kann sein, dass die Begründungssätze der zweiten und der dritten Seligpreisung ursprünglich nicht die dritte Person hatten wie bei Matthäus, sondern wie bei Lukas die zweite Person, also: „… denn ihr werdet gesättigt werden“ und „… denn ihr werdet lachen“. Welche Fassung ursprünglich ist, kann man nicht sagen. Auf jeden Fall sekundär ist aber das „jetzt“ in den Vordersätzen der zweiten und der dritten Seligpreisung bei Lukas. 6
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1. Die Seligpreisungen Selig die Armen, denn ihnen gehört (wörtlich: „ihrer ist“) das Reich Gottes. Selig die Hungernden, denn sie werden gesättigt werden. Selig die Weinenden, denn sie werden lachen.8 Möglicherweise gehen die Seligpreisung der Weinenden bei Lukas und die zweite Seligpreisung bei Matthäus („Selig die Trauernden, denn sie werden getröstet werden“; Mt 5,4) auf ein und dieselbe aramäische Seligpreisung im Munde Jesu zurück.9
Bei Jesus waren die Seligpreisungen Heilszusagen für Menschen, die sich in objektiven Notlagen und Mangelsituationen befinden („Arme“, „Hungernde“ und „Weinende“), und nicht für Menschen, die sich durch bestimmte Tugenden und Verhaltensweisen auszeichnen, wie bei Matthäus. Bei ihm sind die Seligpreisungen keine unbedingten Heilszusagen mehr, sondern sie sind zu indirekten Mahnworten geworden, die die Heilszusagen von einem bestimmten Verhalten abhängig machen. Wichtig ist noch, dass die drei Seligpreisungen nicht in dem Sinne nebeneinander stehen, dass sie sich auf drei unterschiedliche Gruppen beziehen. Die erste Seligpreisung fungiert vielmehr als Überschrift In Lk 6,22 folgt noch eine vierte Seligpreisung: „Selig seid ihr, wenn euch die Menschen hassen und wenn sie euch ausgrenzen und verunglimpfen und euren Namen als etwas Schlechtes verbreiten wegen des Menschensohnes.“ Sie reflektiert den christlich-jüdischen Trennungsprozess und ist darum erst nach Ostern entstanden. 9 Auf die vier lukanischen Seligpreisungen folgt in Lk 6,24–26 noch eine Reihe von vier Wehe-Rufen: „Doch wehe euch, den Reichen, denn ihr habt euren Trost (bereits) empfangen. Wehe euch, die jetzt Vollgefressenen, denn ihr werdet hungern. Wehe, die jetzt Lachenden, denn ihr werdet trauern und weinen. Wehe, wenn alle Menschen gut von euch reden; genauso haben nämlich ihre Väter die falschen Propheten behandelt.“ Sie sind den vier lukanischen Seligpreisungen so offenkundig als antithetisches Gegenüber nachgebildet, dass sie nicht auf Jesus zurückgeführt werden können. 8
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XI. Die Verteilung von Heil und Unheil im Reich Gottes
und wird durch die anderen beiden Seligpreisungen exemplarisch konkretisiert. Die „Armen“ – das sind die, die sich aus welchen Gründen auch immer, seien es ökonomische, soziale oder leibliche, in einer Lage befinden, die sie „hungern“ und „weinen“ lässt, und das sind – nach Martin Luthers Übersetzung von Mt 5,4 – „die da Leid tragen“. Wenn Jesus ihnen zusagt, dass das Reich Gottes gerade ihnen Heil schenken wird, weil Gott ihre Not und ihr Leiden beenden wird, so tut er genau das, was er nach Lk 7,22 und Mt 11,5 im Anschluss an Jes 61,1 als eines der charakteristischen Merkmale seines Wirkens genannt hatte10: Er „frohbotschaftet“ den Armen (s. auch Lk 4,18). Das theologische Profil der drei Seligpreisungen gewinnt noch an Deutlichkeit, wenn wir ihren Inhalt mit den Seligpreisungen vergleichen, die sich im Alten Testament und in außerbiblischen Texten des frühen Judentums finden. Hier ist die Gattung der Seligpreisung in der Weisheit beheimatet, wo sie eine in Geltung stehende Ordnung oder Gesetzmäßigkeit beschreibt. Die matthäische Fassung steht in der Tradition von Seligpreisungen, die den Zusammenhang von Tun und Ergehen darstellen. Sie preisen im Vordersatz eine ethische Tugend oder ein Verhalten und liefern im Nachsatz die Begründung dafür, indem sie auf die heilvollen Folgen des Tuns aufmerksam machen. Diese Seligpreisungen wollen darum in erster Linie ermahnen. Drei Beispiele: Ps 41,2: Selig, wer sich des Schwachen annimmt. Am Tag des Unheils wird JHWH ihn retten. Ps 128,1–2: (1) Selig ein jeder, der JHWH fürchtet, der auf seinen Wegen wandelt, (2) denn von deiner Hände Arbeit wirst du dich ernähren. PsSal 4,23: Selig, die den Herrn in ihrer Unschuld fürchten; der Herr wird sie retten vor betrügerischen Menschen und Sündern.
10
S. o. S. 147 f.
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1. Die Seligpreisungen
Demgegenüber ist offensichtlich, dass die Seligpreisungen Jesu nicht ermahnen wollen, denn sie beschreiben eher den Zusammenhang von Sein und Ergehen. Dieser Typ ist in der jüdischen Literatur nicht so weit verbreitet wie der andere, aber er ist ihr nicht fremd: Sir 26,1: Selig der Mann einer guten Frau, denn die Zahl seiner Tage ist doppelt so groß. PsSal 10,1: Selig der Mann, dessen der Herr mit Tadel gedacht hat und der abgeschirmt wurde vom bösen Weg mit der Rute, um gereinigt zu werden von der Sünde, damit sie sich nicht vermehrt (s. auch Hiob 5,17). äthHen 58,2: Selig ihr Gerechten und Auserwählten, denn herrlich wird euer Erbteil sein.
Mit seiner Seligpreisung der Armen, d. h. der Menschen, die sich in einer ausweglosen Notlage befinden, steht Jesus in einer Tradition, die es schon im Alten Testament gibt. Hier sind die Armen nicht nur diejenigen, denen in ihrem Leiden nur noch die Hilfe Gottes bleibt, sondern auch diejenigen, die der heilvollen Zuwendung Gottes gewiss sein dürfen, denn dass Gott sich gerade der Armen annimmt, deren einzige Hoffnung er ist, ist ein fester Bestandteil des alttestamentlichen Gottesbildes: Ps 113,7–8: (Gott,) der aus dem Staub emporhebt den Geringen, aus dem Schmutz den Armen erhöht, um ihn sitzen zu lassen bei Edlen. Jes 25,8: … und JHWH, der Herr, wird die Tränen abwischen von jedem Gesicht. Jes 29,19: … die Elenden werden Freude haben in JHWH, und die Armen unter den Menschen werden jubeln über den Heiligen Israels. PsSal 5,11b: Des Armen und Geringen Hoffnung – wer ist es, wenn nicht du, Herr? (s. auch Ps 9,19; Hiob 5,15–16).
Innerhalb der Verkündigung Jesu werden die Armen geradezu idealtypisch zu denjenigen Menschen, denen die Gottesherrschaft nichts als Heil bringt, denn eben
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XI. Die Verteilung von Heil und Unheil im Reich Gottes
sie sind es, deren Leben in und an der bestehenden Ordnung missraten und gescheitert ist. Sie können ihre Existenz nicht aus eigener Kraft sichern und behaupten. Sie haben keine andere Möglichkeit, als sich Heil und Rettung einzig und allein durch das Eingreifen Gottes schenken zu lassen.11 Dass gerade sie von der irdischen Machtergreifung Gottes eine Umkehrung ihres Geschicks von Unheil in Heil erhoffen dürfen, entspricht dem, was Jesus auch sonst über die Gottesherrschaft sagt. Sie schreibt nicht einfach die bestehende Existenzordnung fort, sondern kehrt sie um. Darum bringt sie denen Heil, die sich ihre Heilsorientierung nicht von der bestehenden Ordnung vorgeben lassen, sondern alles, was ihr Leben sichert und gelingen lässt, einzig und allein von Gottes Liebe, Güte und Barmherzigkeit erwarten, die in Jesu Auftreten bereits unter den Menschen Wirklichkeit geworden ist. Jesu Seligpreisung der Armen berührt sich damit nicht nur mit der Deutung, die er seinen Heilungen und Exorzismen gegeben hat, sondern auch mit seiner Umkehrforderung, wie sie vor allem in den Gleichnissen sichtbar geworden ist.12 Obwohl Jesu Botschaft von der Gottesherrschaft nicht von einem sozio-ökonomischen Programm geleitet ist, kann man ihr soziale und ökonomische Implikationen nicht absprechen. Sie ergeben sich aus dem, was er von Gott erwartet. Denn wenn Gott, die einzige Hoffnung der Armen, seine universale Herrschaft aufrichtet, können sie gewiss sein, dass er dabei ihrem Hungern und ihrem Weinen ein Ende setzen wird.
S. dazu o. S. 206 f. S. dazu o. S. 187–192.
11 12
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2. Woran orientiert sich die Verteilung von Heil und Unheil?
2. Woran orientiert sich die Verteilung von Heil und Unheil? In Lk 7,22 und Mt 11,5 beantwortet Jesus die Anfrage Johannes’ des Täufers, ob er der von ihm Erwartete sei, mit einer Charakterisierung seines Wirkens13, die er mit einer Seligpreisung abschließt: Lk 7,23 und Mt 11,6: Und selig, wer an mir keinen Anstoß nimmt.
Diese Seligpreisung gehört zu demselben Typ wie die meisten Seligpreisungen in Mt 5,3–10.14 Jesus beschreibt den Zusammenhang von Tun und Ergehen und fordert seine Hörer auf, an ihm keinen Anstoß zu nehmen. Inhaltlich bezieht sich diese Aufforderung nicht lediglich auf das unmittelbar zuvor Gesagte, sondern auf die Gesamtheit von Jesu Auftreten. Ins Positive gewendet heißt „an mir keinen Anstoß nehmen“: – Jesu Anspruch akzeptieren, dass er mit seinen Heilungen und Exorzismen Gottes Werk tut und das Heil der Gottesherrschaft bringt15, – der Überzeugung sein, dass Jesus in seinen Gleichnissen tatsächlich von Gott spricht und dass Gott so ist, wie er dort dargestellt wird16, – akzeptieren, dass Jesus mit seiner ethischen Weisung tatsächlich Gottes Willen ausrichtet17, sowie – Jesu Aufforderung zur Umkehr Folge leisten, d. h. sich von allem Bestehenden zu trennen und seine gesamte Existenz nur noch auf die im Kommen begriffene Gottesherrschaft ausrichten18. 15 16 17 18 13 14
S. o. S. 146–148. S. o. S. 222. S. dazu o. S. 146–148. S. dazu o. S. 192 f. S. dazu o. S. 197–213. S. dazu o. S. 186–192.
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XI. Die Verteilung von Heil und Unheil im Reich Gottes
Gleichzeitig ist mit dieser Seligpreisung aber auch die in der Überschrift formulierte Frage beantwortet, denn die zitierte Seligpreisung impliziert einen Wehe-Ruf gegen diejenigen, die an Jesus „Anstoß nehmen“ und all das eben zusammenfassend Gesagte nicht tun. Explizit gemacht wird das Gegenüber dieser beiden Seiten in einem Wort, das die beiden Möglichkeiten der Reaktion auf Jesu Anspruch in den Zusammenhang von Tun und Ergehen überführt. Es ist in drei unterschiedlichen Fassungen überliefert, deren Wortwahl sehr stark von der nachösterlichen Situation beeinflusst ist19: Mk 8,38: Wer sich meiner und meiner Worte schämt in dieser ehebrecherischen und sündigen Generation – auch der Menschensohn wird sich dessen schämen, wenn er kommt in der Herrlichkeit seines Vaters mit den heiligen Engeln. Lk 12,8–9: (8) Ich sage euch aber: Jeder, der sich zu mir bekennt vor den Menschen – auch der Menschensohn wird sich zu ihm bekennen vor den Engeln Gottes. (9) Wer mich aber verleugnet vor den Menschen, wird auch verleugnet werden vor den Engeln Gottes. Mt 10,32–33: (32) Jeder, nun, der sich zu mir bekennt vor den Menschen – auch ich werde mich zu ihm bekennen vor meinem Vater in den Himmeln. (33) Jeder aber, der mich verleugnet vor den Menschen – auch ich werde ihn verleugnen vor meinem Vater in den Himmeln.
Die Überlieferung dieser Ankündigung sowohl im Spruchevangelium als auch bei Markus ist ein starkes Argument dafür, dass ihr sachlicher Kern auf Jesus zurückgeht. Jesus erklärt hier, wie es im Jüngsten Gericht zugeht und an welchen Kriterien sich die Verteilung von Heil und Unheil orientiert. Das Gegenüber von „bekennen“ und „verleugnen“ in der Fassung des Spruchevangeliums bildet erst das Gegenüber von Akzeptanz Das gilt sicher für das Begriffspaar „bekennen“/„verleugnen“ sowie für die antonomastische Bezeichnung Jesu als Menschensohn (s. dazu u. S. 256–265). 19
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2. Woran orientiert sich die Verteilung von Heil und Unheil?
und Ablehnung des Anspruchs Jesu ab und dann das Gegenüber der Zuweisung von Heil und Unheil. Wie Jesus in Lk 7,23 und Mt 11,6 nur die Heilsseite thematisiert, so spricht er in Mk 8,38 nur von der Unheilsseite. Dabei ist „an mir keinen Anstoß nehmen“ (Lk 7,23 und Mt 11,6) gleichbedeutend mit „sich zu mir bekennen“ (Lk 12,8 und Mt 10,32) und das Gegenteil von „sich meiner und meiner Worte schämen“ (Mk 8,38). Unter Rückgriff auf eine andere Metaphorik, inhalt lich aber mit identischer Ausrichtung, stellt Jesus denselben Zusammenhang auch im Gleichnis von der Einladung zum Festmahl her (Lk 14,16–24 und Mt 22,1–10).20 Die Einladung steht hier für die Aufforderung, mit Jesus den in ihm und seinem Wirken erfahrbaren Anbruch der eschatologischen Heilszeit zu feiern. Wer diese Einladung ausschlägt, weil er Jesu Anspruch nicht anerkennt, wird mit dem Ausschluss vom eschatologischen Festmahl bestraft, das im Reich Gottes mit all denen gefeiert wird, die Jesu Einladung angenommen haben. Dieser Ausschluss wird in Lk 13,23–29 metaphorisch in Szene gesetzt. Mit noch einmal einer anderen Metaphorik beschreibt Jesus dasselbe Gegenüber auch in dem Gleichnis von den beiden Häusern: Lk 6,47–49 und Mt 7,24–27 in der mutmaßlichen Fassung des Spruch evangeliums: (47) Jeder, der meine Worte hört und sie tut – (48) er gleicht einem Menschen, der sein Haus auf einem Felsen gebaut hat. Und der Regen ging hernieder, und die Sturzbäche kamen und stürzten auf jenes Haus, und es stürzte nicht ein, denn sein Fundament war auf den Felsen gelegt. (49) Wer aber meine Worte hört hat und sie nicht tut, der gleicht einem Menschen, der ein Haus auf Sand gebaut hat. Und der Regen ging hernieder, und die Sturzbäche kamen und prallten gegen jenes Haus, und sofort stürzte es ein, und sein Einsturz war gewaltig.
Vgl. zu diesem Text o. S. 159.178.229.
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XI. Die Verteilung von Heil und Unheil im Reich Gottes
Vielleicht kann man auch die in Mk 9,43–47 überlieferte Spruchreihe, die möglicherweise ein selbständiges Seitenstück in Mt 5,29–30 hat, in diesen Zusammenhang einordnen: Mk 9,43–47: (43) Wenn deine Hand dir Anstoß gibt, hau’ sie ab. Es ist besser, wenn du als Verstümmelter ins Leben eingehst, als zwei Hände zu haben und in die Hölle zu kommen, in das unauslöschliche Feuer. (45) Und wenn dein Fuß dir Anstoß gibt, hau’ ihn ab. Es ist besser, wenn du als Lahmer ins Leben eingehst, als zwei Füße zu haben und in die Hölle geworfen zu werden. (47) Und wenn dein Auge dir Anstoß gibt, reiß’ es aus. Es ist besser, wenn du als Einäugiger ins Reich Gottes reinkommst, als zwei Augen zu haben und in die Hölle geworfen zu werden.21
Jesus fordert mit diesen Worten nicht zur Selbstverstümmelung auf, sondern er verlangt in besonders drastischer Weise, dass man sich ohne Rücksicht auf Verluste von allem trennen soll, was der Teilhabe am Heil der Gottesherrschaft entgegensteht – auch wenn es eigene Körperteile sind. In allen Fällen steht das Urteil, das über die Zuweisung von Heil und Unheil entscheidet, schon vorher fest. Das ist bei Jesus nicht anders als bei Johannes dem Täufer. Die Gewissheit, dass Gottes Gericht, in dem die Menschen mit ewiger Gültigkeit Heil und Unheil zugewiesen bekommen, unmittelbar bevorsteht, verleiht der Umkehrforderung Jesu eine besondere Dringlichkeit. In diesem Sinne charakterisiert er die Situation, in die sein Wirken die Menschen versetzt, in Lk 12,54–59 als „diesen Augenblick“ (V. 56b) der Entscheidung. Aus V. 58–59 geht hervor, dass Jesus die Begegnung mit ihm als die allerletzte Möglichkeit charakterisiert, sein Leben auf
21
Die Verse 44 und 46 sind textgeschichtlich sekundär.
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2. Woran orientiert sich die Verteilung von Heil und Unheil?
das unmittelbar bevorstehende Kommen der Gottesherrschaft hin neu auszurichten und dadurch dem drohenden Strafgericht zu entgehen.22 In den bisher besprochenen Jesusworten ging es immer darum, dass Jesus mit dem Gericht droht, um dazu aufzurufen, sich von allem Bestehenden zu trennen und seine Verkündigung und den mit ihr verknüpften Anspruch zu akzeptieren. Sie finden ihr komplementäres Gegenstück in Aussagen, mit denen Jesus auf die Zurückweisung seiner Botschaft reagiert und die Menschen nicht mehr zur Entscheidung für seinen Anspruch auffordert, sondern auf die Entscheidung gegen ihn zurückblickt. Er interpretiert sie als Verweigerung der geforderten Umkehr und stellt fest, dass das Gericht, das mit dem Kommen der Gottesherrschaft einhergeht, nun nicht mehr lediglich bedingt wie in Lk 12,58–59 und Mt 5,25–26; Lk 13,1–5, sondern definitiv und unausweichlich Unheil über die Menschen bringen wird, die – mit Lk 7,23 und Mt 11,6 gesagt – an ihm „Anstoß genommen haben“. Der Seligpreisung dort stehen nun in der Tat Wehe-Worte gegenüber, die das Unheilsgeschick derer feststellen, die Jesu Botschaft zurückgewiesen haben: Lk 10,13–15 und Mt 11,21–22 lautet in der mutmaßlichen Fassung des Spruchevangeliums: (13) Wehe dir, Chorazin; wehe dir, Bethsaida: Denn wären in Tyrus und Sidon die Machttaten geschehen, die bei euch geschehen sind, wären sie schon längst in Sack und Asche umgekehrt. (14) Doch Tyrus und Sidon wird es im Gericht erträglicher ergehen als euch. (15) Und du, Kapernaum, wirst du etwa bis zum Himmel erhoben werden? In die Unterwelt wirst du hinabstürzen!
Konsequenterweise wird die Abweisung Jesu in Lk 10,16c als Vergehen gegen Gott gedeutet:
Zu diesem Gleichnis s. o. S. 179 f.
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XI. Die Verteilung von Heil und Unheil im Reich Gottes Wer mich abweist, weist den ab, der mich gesandt hat.23
An anderer Stelle lässt Jesus vor den Augen seiner Zuhörer eine regelrechte Gerichtsszene entstehen: Lk 11,31–32 und Mt 12,41–42 ebenfalls in der Fassung des Spruchevangeliums: (31) Die Königin des Südens wird sich erheben im Gericht mit dieser Generation, und sie wird sie verurteilen, denn sie kam von den Enden der Erde, um die Weisheit Salomos zu hören.24 Und siehe, hier ist mehr als Salomo. (32) Die Menschen aus Ninive werden aufstehen im Gericht mit dieser Generation, und sie werden sie verurteilen, denn sie sind auf die Ankündigung Jonas hin umgekehrt.25 Und siehe, hier ist mehr als Jona.
Der Königin des Südens und den Niniviten wird hier nicht die Rolle von Richtern, sondern von Zeugen zugeschrieben. Sie bewirken die Verurteilung der Zeitgenossen Jesu („diese Generation“), weil ihr Beispiel deutlich macht, was diese schuldhaft nicht getan haben. Man kann davon ausgehen, dass beide Jesusworte nicht von den Menschen überliefert wurden, denen Jesus Unheil ankündigt, weil sie seine Botschaft zurückgewiesen haben. Als ursprüngliche Hörer und Tradenten kommen vielmehr nur die Anhänger Jesu in Frage. Sie werden beide Worte als Trostworte gehört haben, die ihre eigene Entscheidung für Jesus dadurch bestätigen, dass sie denen Unheil ankündigen, die im Unterschied zu ihnen die Botschaft Jesu nicht akzeptiert haben. Aus diesem Grunde handelt es sich nicht um Worte an diejenigen, denen Jesus Unheil ankündigt, sondern um Worte über sie. Diese Konstellation findet ihren Ausdruck auch in einem Ausschnitt aus der Zu diesem Vers s. auch u. S. 249. Es handelt sich um eine Anspielung auf den in 1Kön 10,1–13 und 2Chr 9,1–12 erzählten Besuch der Königin von Saba bei Salomo. 25 Vgl. Jona 3,5–9: Hier wird erzählt, dass alle Bewohner Ninives auf Grund der Unheilsankündigung Jonas umkehren, fasten und sich Bußgewänder anziehen, um die drohende Vernichtung abzuwenden. 23 24
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2. Woran orientiert sich die Verteilung von Heil und Unheil?
Rede über das Kommen des Menschensohnes, deren Adressaten ebenfalls die Jünger sind. Die lukanische Fassung lautet: Lk 17,26–3026: (26) Und wie es in den Tagen Noahs war, so wird es auch in den Tagen des Menschensohnes sein: (27) Sie aßen, tranken, „heirateten“ und wurden „geheiratet“27 – bis zu dem Tag, an dem Noah in die Arche stieg und die Flut kam und alle vernichtete. (28) So ähnlich wie es in den Tagen Lots geschah: Sie aßen, tranken, kauften, verkauften, pflanzten, bauten. (29) An dem Tag aber, an dem Lot aus Sodom wegging, da regnete es Feuer und Schwefel vom Himmel und vernichtete alle. (30) Ebenso wird es an dem Tag sein, an dem der Menschensohn erscheint.
Jesus stellt hier eine Analogie her zwischen der Gegenwart auf der einen Seite sowie den Zeiten Noahs und Lots auf der anderen. Vor allem zwei Aspekte dürften dabei miteinander vergleichbar gewesen sein: zum einen die Tatsache, dass in beiden Fällen die Rettung einiger weniger mit der Vernichtung aller anderen einhergeht, und zum anderen die auffällige Beschreibung der in der Zeit Noas lebenden Menschen und der Bewohner Sodoms in V. 27a.28b. Jesus beschreibt nicht die Sündhaftigkeit der damaligen Menschen, sondern genau das, was die Jünger in ihrer eigenen Umwelt sehen – dass die meisten Menschen nicht auf Jesus achten, sondern mit ihrem Leben weitermachen wie jeden Tag. Sie lassen sich durch das Auftreten Jesu nicht von ihren alltäglichen Verrichtungen ablenken. Die Entsprechung zu dem in Lk 12,19; 14,18–20 geschilderten Verhalten28 ist nicht zu übersehen. Jesus will die Jünger In der Parallele Mt 24,37–39 fehlt das Lot-Beispiel, das Lukas in V. 28–29 hat. 27 „Heiraten“ und „geheiratet werden“ bezeichnet hier nicht das Abschließen von Ehen, sondern sind Euphemismen für den sexuellen Verkehr von Männern und Frauen. 28 S. dazu o. S. 188 f.190. 26
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XI. Die Verteilung von Heil und Unheil im Reich Gottes
gegen die von dieser Situation ausgehenden Zweifel an ihrer eigenen Entscheidung für ihn, mit der sie ihr bisheriges Leben aufgegeben haben, immunisieren. Darum kündigt er an, dass es den Menschen, die sich von seiner Verkündigung bei ihren alltäglichen Verrichtungen nicht stören lassen, genauso ergehen wird wie der Sintflutgeneration und den Bewohnern Sodoms. Auch diese Unheilsankündigung will darum die Jünger der Richtigkeit ihrer Entscheidung für Jesus vergewissern. Hinzu kommt aber noch ein Weiteres: Wenn man Jesu Anspruch, dass allein die Reaktion auf sein Auftreten über die eschatologische Zuweisung von Heil oder Unheil entscheidet, theologisch zu Ende denkt, ist die Gemeinsamkeit, die ihn zur einen Seite hin mit Johannes dem Täufer und auf der anderen Seite mit Paulus verbindet, unschwer zu erkennen: Wenn Gott nur diejenigen am eschatologischen Heil teilhaben lässt, die von Johannes getauft wurden oder die Jesu Selbstauslegung akzeptiert haben oder die dem von Paulus verkündigten Evangelium von Jesus Christus Glauben geschenkt haben, wird der Unterschied zwischen Juden und Nichtjuden theologisch bedeutungslos. Es sollte aber erst Paulus sein, der diese Schlussfolgerung explizit machen wird (vgl. z. B. Röm 1,16–17; 3,22–23.27–30; 10,12–13). Und es sollte auch erst Paulus sein, der aus ihr die Konsequenz ziehen wird, das Heil Gottes auch unter nichtjüdischen Menschen zu verkündigen. So weit sind weder Johannes noch Jesus gegangen. Beide haben ihre Wirksamkeit auf Israel beschränkt.
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XII. Die Nachfolge der Jünger Jesu In den neutestamentlichen Evangelien ist häufig davon die Rede, dass Menschen Jesus „nachfolgen“1. Wir müssen aber unterscheiden, denn hier werden mit ein und demselben Wort zwei ganz unterschiedliche Vorgänge bezeichnet. Auf der einen Seite heißt es oft, dass „eine große Volksmenge“ Jesus „nachfolgt“.2 „Nachfolgen“ bedeutet hier nicht mehr als ein vorübergehendes „Hinterhergehen“. Wenn Jesus irgendwo hinkommt, laufen ihm die Leute nach, und wenn er wieder gegangen ist, ist es auch mit ihrer Nachfolge vorbei. Daneben gibt es Menschen, deren Nachfolge von Petrus in Mk 10,28 charakterisiert wird: „Siehe, wir haben alles verlassen und sind dir nachgefolgt“. Die Rede ist hier von Männern und Frauen, deren „Nachfolge“ ganz offensichtlich zeitlich und räumlich nicht befristet und begrenzt, sondern von Dauer war. Sie haben Jesu Lebensweise geteilt und sind ihm auf seinen Wegen gefolgt, erst innerhalb Galiläas und schließlich auch bis nach Jerusalem. Unter denjenigen, die mit Jesu Botschaft sympathisierten oder sie gar für sich akzeptierten, ist darum zu unterscheiden, denn sie konnten daraus offensichtlich ganz unterschiedliche Konsequenzen ziehen: Auf der einen Seite haben wir Menschen, die als Anhänger und Sympathisanten Jesu in ihren alltagsweltlichen Lebenszusammenhängen verblieben, und auf der anderen Seite gibt es die „Jünger Jesu“, die im Sinne des gerade Ein Substantiv, das dem deutschen Wort „Nachfolge“ entspricht, fehlt im griechischen Text der Evangelien. 2 Mk 3,7; 5,24; 10,1; Mk 11,9; Lk 7,9 und Mt 8,10; Lk 9,11 und Mt 14,13; Mt 8,1; 20,29; Joh 6,2. 1
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XII. Die Nachfolge der Jünger Jesu
zitierten Petruswortes aus Mk 10,28 ihre Familien, Berufe und Häuser verließen und mit Jesus mitzogen. Es ist die zuletzt genannte Möglichkeit, um die es in diesem Kapitel gehen soll. „Jünger sein“ und „nachfolgen“ bezeichnen dabei ein und denselben Sachverhalt. Das geht aus einem Jesuswort hervor, das sich mit Mk 10,28 in ein und demselben Punkt trifft: „Keiner von euch, der nicht alles aufgibt, was ihm gehört, kann mein Jünger sein“ (Lk 14,33). Die Aufforderung „Folge mir nach!“ (Mk 1,17; 2,14; 10,21; Lk 9,59) heißt darum so viel wie „Lass alles liegen und stehen und komm mit mir mit!“ (s. auch Apg 12,8).
1. Die Nachfolge 1.1 Das Thema Nachfolge und Jüngerschaft kommt in den Jesusgeschichten der neutestamentlichen Evangelien auf dreierlei Weise vor: Zum einen haben wir Episoden, die vom Eintritt oder von der Berufung in die Nachfolge Jesu erzählen.3 Hierzu gehören auch solche Szenen, in denen es dann nicht zur Nachfolge kommt – entweder weil Jesus den Nachfolgewilligen zurückweist (Mk 5,18–19) oder weil der zur Nachfolge Aufgeforderte dem Ruf Jesu nicht Folge leistet (Mk 10,17–22). Zum anderen finden sich summarische Mitteilungen, aus denen hervorgeht, dass es Männer und Frauen gibt, die Jesus begleiten und „nachfolgen“.4 Und schließlich gibt es Worte Jesu über die Bedingungen und Anforderungen,
Mk 1,16–20; 2,14; 5,18–19; 10,17–22.46–52; Lk 9,57–58.59–60 und Mt 8,19–20.21–22; Lk 9,61–62; Joh 1,35–42.43.45. 4 Mk 6,1; 10,28.32; 15,40–41; Lk 8,1–3; 9,49; Joh 6,66; s. auch Mk 9,38. 3
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1. Die Nachfolge
die alle zu erfüllen haben, die als Jünger in seine Nachfolge eintreten wollen.5 Der Befund ist hier so ähnlich wie bei Jesu Heilungen und Exorzismen (Kap. VII) und wie bei seinen Tischgemeinschaften mit Zöllnern und Sündern (Kap. VIII): Das Thema Nachfolge und Jüngerschaft spielt sowohl in der Wortüberlieferung als auch in der Erzählüberlieferung der Jesusgeschichte eine Rolle. Es ist sowohl in Einzelepisoden präsent als auch in summarischen, nicht situationsbezogenen Texten. Außerdem finden sich die einschlägigen Texte mit Ausnahme des matthäischen Sonderguts in allen synoptischen Überlieferungsbereichen, von denen angenommen wird, dass sie sich nicht gegenseitig beeinflusst haben: im Markusevangelium, im Spruchevangelium und im lukanischen Sondergut. Selbst wenn die eine oder andere Szene sich nicht genauso abgespielt hat, wie sie erzählt wird, und selbst wenn das eine oder andere Wort Jesus erst nach Ostern in den Mund gelegt wurde, gibt es gute Gründe für die Annahme, dass wir hier ebenfalls ein Phänomen vor uns haben, das für das Auftreten Jesu insgesamt charakteristisch war: Jesus wanderte nicht allein von Ort zu Ort, sondern er wurde dauerhaft von einer Gruppe von Anhängern begleitet, die nicht nur seine Überzeugungen, sondern auch seine Lebensweise teilten. Die Größe dieser Gruppe ist unbekannt. Man wird jedoch keinen Fehler machen, wenn man sie für überschaubar hält und wenn man annimmt, dass es in ihr zuging wie in jeder anderen Gruppe: Es gab einen Kern, und es gab einen Rand. Zum Kern dürften jene Jünger gehört haben, die in der Jesusüberlieferung am häufigsten erwähnt werden: Simon (gen. Kephas/Petrus) sowie die Zebedäussöhne Johannes und Jakobus, die zusammen mit Simons Bruder Andreas nach Mk 1,16–20 Mk 8,34; Lk 14,26–27 und Mt 10,37–38; Joh 12,26.
5
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XII. Die Nachfolge der Jünger Jesu
als erste berufen wurden. Darüber hinaus können wir auch davon ausgehen, dass die Größe und Zusammensetzung dieser Gruppe nicht immer gleich geblieben ist. Es ist vielmehr mit einer gewissen Fluktuation zu rechnen; es gab Jünger, die die Gruppe nach einiger Zeit wieder verließen6, und es gab Jünger, die nicht von Anfang an dabei waren, sondern erst später hinzukamen. 1.2 Bemerkenswert ist auch, dass zum Kreis der Jünger, die Jesus nachfolgten, auch Frauen gehörten. An zwei Stellen gibt es hierzu historisch verwertbare Informationen: Mk 15,40–41 (bei Jesu Kreuzigung): Es gab es auch Frauen, die von ferne zuschauten. Unter denen waren Maria Magdalena und Maria, die Mutter des kleinen Jakobus und des Joses, und Salome, (41) die ihm nachgefolgt waren, als er in Galiläa war, und ihn unterstützt hatten, und viele andere, die mit ihm nach Jerusalem heraufgekommen waren.7 Lk 8,1–3: (1) Und es geschah danach, dass er (sc. Jesus) Stadt für Stadt und Dorf für Dorf durchwanderte …, und die Zwölf (waren) bei ihm (2) und einige Frauen, die von bösen Geistern und von Krankheiten geheilt worden waren – Maria, genannt Magdalena, aus der sieben Dämonen ausgefahren waren, (3) und Johanna, die Frau des Chuza, eines Verwaltungsbeamten des Herodes, und Susanna und viele andere (Frauen), die sie aus ihren Geldmitteln unterstützten.
Alle drei Frauen, die in Mk 15,40 erwähnt werden, kehren am Ostersonntag zum Grab zurück und finden in ihm Jesu Leichnam nicht (Mk 16,1). Maria Magdalena ist die einzige Frau, die in allen Texten vorkommt. Mehr ist nicht von ihr bekannt. Ihre Identifikation mit Joh 6,66 spricht sogar davon, dass sich eine größere Zahl von Jüngern auf einmal von Jesu abgewandt hat. Hier wird aber wahrscheinlich ein Ereignis aus der Zeit der Abfassung des Evangeliums in die Zeit Jesu zurückprojiziert. 7 In Joh 19,25 stehen vier Frauen am Kreuz: Jesu Mutter, deren Schwester, Maria, die Frau des Klopas, und Maria Magdalena. 6
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1. Die Nachfolge
der „Sünderin“ von Lk 7,36–50, mit den in Mk 14,3–9 und Lk 10,38–42 erwähnten Frauen oder gar mit der Ehebrecherin von Joh 8,3–11 ist ganz und gar haltlos.8 Was Markus mit „unterstützen“ (griech. diakonéō) gemeint hat, kann man nicht sagen. Lukas, der den markinischen Text kannte, spricht davon, dass „viele andere Frauen“ die Jesus-Gruppe „aus ihren Geldmitteln“ unterstützten, und meint damit so etwas wie eine materielle Hilfeleistung durch finanzielle Zuwendungen. Hierauf waren Jesus und seine Jünger aus den im nächsten Abschnitt zu nennenden Gründen ständig angewiesen. Dass die Frauen lediglich „allgemeine Fürsorge für das leibliche Wohl“ geleistet haben9, geht aus dem Text ebensowenig hervor, wie dass sie sich von ihrem „ganzen Besitz“ getrennt hätten, um „in Armut und Bedürfnislosigkeit zu leben“10. Wahrscheinlich hat die Jesus-Gruppe vor allem von solchen Frauen Unterstützung erfahren, die wie Johanna, die Frau eines für Herodes Antipas arbeitenden Beamten (Lk 8,2), zwar mit der Verkündigung Jesu sympathisierten, aber ihn nicht dauerhaft begleiten wollten, sondern lieber bei ihren Familien blieben.11 1.3 Dem zuletzt Gesagten entspricht der Inhalt der bereits erwähnten Episoden von der Berufung oder dem Eintritt in die Nachfolge. Aus ihnen geht hervor, dass Jesus zu keinem Zeitpunkt mit einem allgemeinen Ruf in die Nachfolge in der Öffentlichkeit aufgetreten ist. Von seiner Seite aus hat es niemals einen generellen, an alle Menschen gerichteten Aufruf gegeben, in Zu Maria Magdalena s. auch o. S. 64. Hengel, Maria Magdalena, 248 f. 10 Melzer-Keller, Jesus, 201.202. 11 Warum Lukas in Lk 24,10 Salome (Mk 15,40) durch die Johanna von Lk 8,3 ersetzt hat, bleibt sein Geheimnis. Vielleicht meint er in den beiden Texten aber auch gar nicht ein und dieselbe Johanna. 8 9
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XII. Die Nachfolge der Jünger Jesu
seine Nachfolge einzutreten. Es gilt vielmehr das Umgekehrte: Wenn Jesus zum Eintritt in seine Nachfolge auffordert, dann wendet er sich immer nur an bestimmte Einzelpersonen. Er hat nicht jeden in die Nachfolge gerufen. Das unterscheidet Jesu Ruf in die Nachfolge von den zeitgenössischen eschatologischen „Nachfolge“Bewegungen, die von charismatischen Propheten angeführt wurden.12 Eine allgemeine ethische Forderung ist Jesu Nachfolgeruf niemals gewesen. Es gibt in den Evangelien drei verschiedene Typen von Episoden, in denen von der Berufung oder vom Eintritt in die Nachfolge erzählt wird: Beim ersten Typ geht die Initiative von Jesus aus, der einzelne Menschen anspricht und zur Nachfolge aufruft: Mk 2,14: Und im Vorbeigehen sah er Levi, den Sohn des Alphäus, am Zoll sitzen und sagt zu ihm: „Folge mir nach!“ Und der stand auf und folgte ihm nach. Lk 9,59–60 und Mt 8,21–22 in der mutmaßlichen Fassung des Spruchevangeliums: (59) Er (sc. Jesus) sagte zu einem anderen: „Folge mir nach!“ Der aber sagte: „Gestatte mir, dass ich erst noch hingehe, um meinen Vater zu begraben“. (60) Er sagte ihm aber: „Folge mir nach und lass die Toten ihre Toten begraben“.13
Beim zweiten Typ geht die Initiative von dem Menschen aus, der Jesus nachfolgen möchte: Lk 9,57–58 und Mt 8,19–20 in der mutmaßlichen Fassung des Spruchevangeliums: (57) Und es sagte einer zu ihm: „Ich will dir nachfolgen, wo immer du hingehst“. (58) Und Jesus sagte zu ihm: „Die Füchse haben Höhlen, und die Vögel des Himmels haben Nester, der Menschensohn aber hat nichts, wo er sein Haupt hinlegen kann“.14
Vgl. Apg 5,37; 21,38; Josephus, Ant. 20,188. Andere Beispiele für diesen Typus finden sich in Mk 1,16–20; 2,14; 10,17–22; Joh 1,43. 14 Andere Beispiele für diesen Typus finden sich in Mk 5,18–19; 10,46–52. 12 13
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2. Das Ethos des Jüngerkreises Lk 9,61–62: (61) Es sagte aber auch ein anderer: „Ich will dir nachfolgen, Herr. Erlaube mir aber erst noch, dass ich von denen in meinem Haus Abschied nehme.“ (62) Jesus aber sagte zu ihm: „Niemand, der die Hand an den Pflug gelegt hat und nach hinten schaut, ist für die Gottesherrschaft geeignet“.
Den dritten Typ gibt es nur in Joh 1,35–42. Hier gewinnt Jesus seine Jünger durch die Vermittlung von bereits nachfolgenden Jüngern: Andreas führt Jesus seinen Bruder Simon zu, dem Jesus sofort den Beinamen „Kephas“ („Stein“) gibt (V. 40–42), und Philippus macht dasselbe mit Nathanael (V. 44–45). Ein festgelegtes Aufnahmeritual gab es ganz offensichtlich nicht. Der Kreis der Jünger war außerdem prinzipiell nach außen hin offen. Jeder, den Jesus rief und der bereit war, die Bedingungen und Konsequenzen der Nachfolge auf sich zu nehmen, konnte sein Jünger werden. Aus Mk 5,18–19 geht aber auch hervor, dass Jesus anscheinend nicht jeden Nachfolgewilligen akzeptiert hat.
2. Das Ethos des Jüngerkreises 2.1 Grundvoraussetzung jeder Nachfolge war die Bereitschaft zur vollständigen Trennung vom bisherigen Leben. Bereits die zu Beginn dieses Kapitels zitierten Texte Mk 10,28 und Lk 14,33 haben deutlich gemacht, dass jeder, der Jesu Jünger werden wollte, „alles verlassen“ und „sich von allem trennen“ musste. Jeder Eintritt in die Nachfolge Jesu war darum nichts anderes als eine radikale existentielle Umkehr. In Mk 1,18.20 heißt es auch von den vier erstberufenen Jüngern, dass sie die Ausübung ihres Berufs aufgeben, als Jesus sie auffordert, in seine Nachfolge einzutreten (s. auch Lk 5,11). Lukas erzählt dasselbe auch von Levi: „Und er ließ alles zurück, stand auf und folgte ihm nach“ (Lk 5,28).
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XII. Die Nachfolge der Jünger Jesu
In anderen Texten werden Ausschnitte aus diesem „Alles-Verlassen“ und „Sich-von-allem-Trennen“ in den Vordergrund gestellt. In Mk 10,21–22 wird erzählt, dass Jesus einen jungen Mann auffordert, seinen gesamten Besitz zu verkaufen, den Erlös den Armen zu schenken und dann in seine Nachfolge einzutreten – was dieser aber „empört“ von sich weist. Aus der in Lk 9,59–60 und Mt 8,21–22 erzählten Episode15 geht hervor, dass Jesus seinen Ruf in die Nachfolge sogar für wichtiger hält als eines der bedeutsamsten sozialen Gebote. Mit der „Erlaubnis“, erst noch seinen Vater begraben zu dürfen, um die der in die Nachfolge Gerufene bittet, will er eine Verpflichtung erfüllen, die ihm das Gebot der Elternehrung auferlegt. Jesus lehnt seine Bitte ab, und darin kommt zum Ausdruck, dass mit der Nachfolge als Jünger Jesu eine Bindung einhergeht, die alle anderen Bindungen außer Kraft setzt. In dieselbe Kerbe schlägt auch Lk 9,61–6216: Hier will einer sich noch schnell von seinen Familienangehörigen verabschieden, bevor er sie verlässt und mit Jesus mitgeht.17 Jesus antwortet mit einem weisheitlichen Bildwort, das genauso argumentiert wie die Bildworte zur Unvereinbarkeit von alt und neu in Mk 2,21–22 und Lk 5,3918: Sich von seiner Familie verabschieden zu wollen, wenn man dabei ist, in die Nachfolge Jesu einzutreten, ist genauso dumm wie beim Pflügen nach hin Übersetzung o. S. 240. Übersetzung o. S. 241. 17 Diese Episode erinnert an 1Kön 19,20, wo Elisa sich noch erst von seinen Eltern verabschieden will, bevor er mit Elia mitgeht, der ihn zum Propheten berufen hat. Im Unterschied zu Jesus gewährt Elia ihm seine Bitte. 18 S. auch Lk 16,13 und Mt 6,24; Lk 8,16; 11,33. 15 16
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2. Das Ethos des Jüngerkreises
ten zu schauen, und das ist wiederum genauso dumm wie z. B. neuen Wein in alte Schläuche zu füllen usw. Die Nachfolge Jesu beginnt nicht erst, nachdem man sich von seiner Familie verabschiedet hat, sondern zu ihr gehört schon, dass man die Seinen ohne Abschied verlässt. Diese Episode erhält ihre Bedeutung vor allem dadurch, dass der Abschied eine soziale Institution ist, mit der Scheidende und Zurückbleibende sich gegenseitig versichern, dass sie auch über ihre Trennung hinweg miteinander verbunden bleiben. Vor diesem Hintergrund macht gerade das Verbot des Abschiednehmens den Exklusivitätsanspruch deutlich, den die Nachfolge Jesu erhebt: Die Bindung an Jesus tritt nicht in vorgegebene soziale Strukturen ein oder zu ihnen ergänzend hinzu, sondern verdrängt sie und tritt an ihre Stelle. Ins Grundsätzliche ausgeweitet wird diese Konstellation in einem Wort, das aus dem Spruchevangelium stammt. Es wurde von Matthäus und Lukas an unterschiedlichen Stellen jeweils stark verändert. Ursprünglich hatte das Wort ungefähr die folgende Gestalt: Lk 14,26 und Mt 10,37: Wer Vater oder Mutter nicht hasst, kann nicht mein Jünger sein, und wer Sohn oder Tochter nicht hasst, kann nicht mein Jünger sein.19 Das mit „hassen“ übersetzte griechische Wort miséō hat hier eine andere Bedeutung als das deutsche Verb. Es bezeichnet nicht den affektiven „Hass“, sondern es basiert auf dem hebräischen Verb śānáʼ, das bewusste Entscheidungen bezeichnet, die so etwas wie „verwerfen“, „ablehnen“ oder „zurückweisen“ bedeuten. In einer Situation
Matthäus hat das Wort entschärft und an die nachösterliche Situation angepasst, als die Menschen, die sich im Glauben Jesus anschlossen, ihre Familien nicht mehr verlassen haben: „Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, ist meiner nicht wert, und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, ist meiner nicht wert“ (Mt 10,37). Parallelen zu diesem Wort gibt es auch in EvThom 55.101.
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XII. Die Nachfolge der Jünger Jesu der Auswahl zwischen zwei Personen oder Dingen steht śānáʼ, das in der Septuaginta meistens mit miséō („hassen“) übersetzt wird, für die negative Seite der Entscheidung. Das gilt z. B. für die Ablehnung Leas durch Jakob (Gen 29,31.33; s. auch Dtn 21,15–17; Ri 15,2) oder für Gottes Zurückweisung Esaus (Mal 1,2–3; s. auch Lk 16,13 und Mt 6,24).
Jesus baut mit diesem Wort eine dualistische Entschei dungssituation zwischen sozialen Bindungen auf: Selbst die engste soziale Bindung, die es innerhalb seiner zeitgenössischen Gesellschaft gab, die Bindung an die eigene Familie, wird außer Kraft gesetzt, wenn es darum geht, in seine Nachfolge einzutreten und sich ihm anzuschließen. Für Jesus selbst wird diese Trennung von den Angehörigen der leiblichen Familie in Mk 3,31–35 auf eindrucksvolle Weise in Szene gesetzt: Als er gesagt bekommt, dass seine Mutter und seine Brüder vor der Tür stehen und ihn suchen, reagiert er mit einer rhetorischen Frage, die er sofort selbst beantwortet: Mk 3,33–35: (33) „Wer sind meine Mutter und meine Brüder?“ (34) Und er blickte auf die, die um ihn herum saßen, und sagt: „Siehe, meine Mutter und meine Brüder; (35) denn wer den Willen Gottes tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter“.20
Das Auftreten Jesu hat nicht nur zur Folge, dass neue Bindungen und Loyalitäten entstehen, sondern es bringt auch mit sich, dass dadurch auch existentiell elementare und bewährte soziale Bindungen zerstört werden. Diese Erfahrung spiegelt sich in einem Wort, das auf Grund seiner gewalttätigen Metaphorik nicht leicht zu ertragen ist, aber gerade darum auf Jesus selbst zurückgehen dürfte. In der Fassung des Spruchevangeliums hat es wahrscheinlich so gelautet:
Dieses Wort ist auch in EvThom 99 aufgenommen.
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2. Das Ethos des Jüngerkreises Lk 12,51.53 und Mt 10,34–35: Meint ihr, dass ich gekommen bin, Frieden über die Erde zu bringen? Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert. Denn ich bin gekommen, um zu entzweien, den Sohn mit dem Vater und die Tochter mit ihrer Mutter und die Schwiegertochter mit ihrer Schwiegermutter.21
In diesem Wort spiegelt sich auch das kompromisslose Gegenüber von Heil und Unheil, wie es im vo rangegangenen Kapitel dargestellt wurde. Es gibt kein Sowohl-als auch, sondern nur ein Entweder-oder, und das allein ausschlaggebende Entscheidungskriterium ist, wie man zu Jesus und seinem Anspruch steht. Er und seine Verkündigung sind das „Schwert“, das mitten durch die Familien hindurchgeht und sie zertrennt. 2.2 Dieser Trennung von der elementaren sozialen Einbindung in die leibliche Familie entsprach zur anderen Seite hin der Eintritt in eine neue Gemeinschaft, die die Existenz der Jünger in exklusiver Weise bestimmte: die Bindung an Jesus von Nazaret. Diese Bindung implizierte eine unmittelbare Teilhabe an Jesu Lebensweise und an seiner Sendung: 2.2.1 Teilhabe an Jesu Lebensweise bedeutete, dass man zusammen mit ihm ein Leben führte, das nicht nur durch Familienlosigkeit gekennzeichnet war, sondern auch durch Berufs- und Besitzlosigkeit. Auch einen festen Wohnsitz gab es nicht, so dass Jesus einen, der ihm nachfolgen will, warnen muss: Lk 9,58 und Mt 8,20: Die Füchse haben Höhlen, und die Vögel des Himmels haben Nester, der Menschensohn aber hat nichts, wo er sein Haupt hinlegen kann.22
Die Parallele in EvThom 55 setzt die lukanische Fassung dieses Wortes voraus. 22 Eine Variante dieses Wortes findet sich in EvThom 86. 21
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XII. Die Nachfolge der Jünger Jesu
Jesus erwartete von den Jüngern, die ihm nachfolgten, dass sie mit ihm zusammen ein Leben der sozialen Entwurzelung führen. Damit stellt sich natürlich sofort die Frage, wie ein solches Leben existentiell so gesichert werden kann, dass es überhaupt realisierbar ist. Auch Jesus und seine Jünger mussten essen und trinken und brauchten was zum Anziehen. Dass im Jüngerkreis solche Sorgen durchaus präsent waren, belegt ein längerer Text, aus dem auch hervorgeht, wie Jesus mit ihnen umgegangen ist. In der Fassung des Spruchevangeliums könnte er folgendermaßen gelautet haben: Lk 12,22–31 und Mt 6,25–33: (22) Sorgt euch nicht um das Leben, (indem ihr fragt,) was ihr essen sollt, und auch nicht um den Leib, (indem ihr fragt,) was ihr anziehen sollt. (23) Denn das Leben ist mehr als die Nahrung und der Leib (mehr) als die Kleidung. (24) Seht euch die Raben an: Sie säen nicht, und sie ernten nicht; sie haben weder Vorratskammer noch Lagerhaus, denn Gott ernährt sie. Um wieviel übertrefft ihr die Vögel! (25) Wer von euch, der sich Sorgen macht, kann seiner Lebenszeit (auch nur) eine Elle hinzufügen? (26) Und was sorgt ihr euch um Kleidung? (27) Seht euch die Lilien an, wie sie wachsen: Sie plagen sich nicht, und sie spinnen nicht. Ich aber sage euch: Nicht einmal Salomo mit all seiner Pracht war gekleidet wie eine von ihnen. (28) Wenn aber Gott das Gras, das heute auf der Wiese steht und morgen in den Ofen geworfen wird, so bekleidet, um wieviel mehr euch, ihr Kleingläubigen! (29) Und ihr, trachtet nicht nach dem, was ihr essen und trinken sollt, und beunruhigt euch nicht, (30) denn nach all dem trachten auch die Völker der Welt. Euer Vater aber weiß, dass ihr all diese Dinge braucht. (31) Trachtet vielmehr nach seinem Reich, dann wird euch das hinzugegeben werden.23
Der Inhalt dieser Mahnung macht es extrem unwahrscheinlich, dass sie für Menschen bestimmt war, die ihre alltagsweltlichen Lebenszusammenhänge nicht verlassen und eine Familie zu ernähren oder zu versorgen Der Text hat auch Spuren im Thomasevangelium hinterlassen; vgl. Pap. Oxyrhynchus IV, 655,1,1–17; EvThom 36. 23
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2. Das Ethos des Jüngerkreises
hatten. Diese Worte ergeben vielmehr nur dann einen plausiblen Sinn, wenn man sie auf die Lebensweise der Jünger bezieht, die Jesus nachfolgten und darum für ihren Lebensunterhalt nicht selbst sorgen konnten. Sie werden von Jesus aufgefordert, ihre materielle Existenzsicherung allein in Gottes Hand zu legen und darauf zu vertrauen, dass Gott, da er ja auch für Tiere und Pflanzen sorgt, erst recht auch sie mit dem ausstatten wird, worauf sie existentiell angewiesen sind. Ihre Konkretisierung findet diese Aufforderung in der Brotbitte des Vaterunsers. Hier heißt Jesus seine Jünger Gott darum bitten, er möge ihnen „heute“ das „Brot für morgen“ geben (Mt 6,11 und Lk 11,3). Konkret richtet sich die Bitte darauf, dass Jesus und seine Jünger jeden Tag genug zu essen bekommen, damit sie am nächsten Tag nicht hungern müssen.24 Ganz offensichtlich sind die Jünger mit diesem Rat ganz gut durchgekommen. Das war möglich, weil Jesus und die Jünger in den Ortschaften, in die sie ihr Weg führte, immer wieder Menschen fanden, die sie dadurch unterstützten, dass sie sie in ihre Häuser aufnahmen und ihnen zu essen gaben. Das geht auch aus den Texten hervor, die im nächsten Abschnitt zu besprechen sind. 2.2.2 Darüber hinaus bedeutete Nachfolge aber auch Teilhabe an Jesu Sendung. In vier Texten der synoptischen Evangelien wird erzählt, dass Jesus seine Jünger losschickt, damit sie ohne sein Beisein dasselbe tun wie er: dass sie die Nähe der Gottesherrschaft ansagen und 24 Diese Interpretation des griechischen Wortes epioúsios, das Martin Luther mit „täglich“ übersetzt hat, macht der Kommentar des Kirchenvaters Hieronymus (347–420) möglich, der zu Mt 6,11 schreibt: „Im Evangelium, das ‚nach den Hebräern‘ heißt, habe ich … ‚maar‘ gefunden, das ‚morgen‘ (crastinum) heißt, so dass der Sinn ist: ‚Unser morgiges Brot‘, d. h. das zukünftige, ‚gib uns heute‘“ (Comm. in Matth. I,9 [CChr.SL 77, S. 37, 780f]; s. auch Wolter, LkEv, 407f).
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XII. Die Nachfolge der Jünger Jesu
dass sie Kranke heilen sowie Dämonen austreiben.25 Die Rede, die Jesus bei dieser Gelegenheit hält, haben Lukas und Matthäus sowohl in Mk 6,7–11 als auch im Spruchevangelium vorgefunden. Daraus kann man auf ein hohes Alter schließen, und es spricht aus diesem Grunde nichts dagegen, dass sie in ihrem Kern auf Jesus selbst zurückgeht, Auch der Anlass dürfte historisch zuverlässig überliefert sein. Exemplarisch zitiert sei die Fassung, die Matthäus ihr in Mt 10,7–15 gegeben hat: (7) Wenn ihr aber hingeht, verkündigt und sprecht: Das Himmelreich ist nahe gekommen. (8) Heilt Kranke, weckt Tote auf, reinigt Aussätzige, treibt Dämonen aus. Umsonst habt ihr empfangen, umsonst gebt. (9) Verschafft euch nicht Gold noch Silber noch Kupfer in eure Gürtel, (10) keinen Proviantsack auf den Weg, noch zwei Untergewänder, noch Sandalen, noch einen Stock. Denn der Arbeiter ist seiner Nahrung wert. (11) Wenn ihr aber in eine Stadt oder in ein Dorf kommt, findet heraus, wer darin würdig ist; und dort bleibt, bis ihr weggeht. (12) Wenn ihr aber in ein Haus eintretet, grüßt es. (13) Und wenn das Haus würdig ist, so komme euer Friede über es; wenn es aber nicht würdig ist, kehre euer Friede zu euch zurück. (14) Und wer euch nicht aufnimmt noch eure Worte hört – geht hinaus aus jenem Haus oder jener Stadt und schüttelt den Staub von euren Füßen. (15) Amen, ich sage euch: Dem Land von Sodom und Gomorra wird es erträglicher ergehen am Tag des Gerichts als jener Stadt.
V. 11–14 wirft noch einmal Licht auf das im vorangegangenen Abschnitt zuletzt Gesagte. Aus diesen Versen geht hervor, dass die Versorgung der mittellosen Wandermissionare in der Tat so erfolgte, wie es dort beschrieben wurde: Wenn sie in einen Ort kamen und ihre Botschaft verkündigten, hofften sie darauf, von Menschen, die ihrer Botschaft zugetan waren, aufgenommen und versorgt zu werden. Man kann es auch so sagen wie Paulus, der in 1Kor 9,14 auf diese Rede Jesu verweist: Die Verkündiger der Gottesherrschaft hoffen, Mk 6,7–11; Lk 9,1–6; 10,1–12; Mt 10,5–15.
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2. Das Ethos des Jüngerkreises
von der Verkündigung der Gottesherrschaft zu leben. Aus diesem Teil der Rede geht zudem hervor, dass für Jesus die Annahme der Botschaft eben dadurch zum Ausdruck gebracht wird, dass deren Verkündiger in die Häuser aufgenommen und versorgt werden. Und wenn andere den Boten kein Obdach und nichts zu essen geben, so kann man daran erkennen, dass sie in Wirklichkeit deren Botschaft zurückweisen. Dadurch ziehen sie natürlich genau die Unheilsfolge auf sich (V. 14–15), die Thema des vorangegangenen Kapitels war.26 Dass Jesus das Wirken der von ihm ausgesandten Jünger zu einem Bestandteil seines eigenen Wirkens gemacht hat, geht aus einem anderen Wort hervor: Lk 10,16 und Mt 10,40: Wer euch hört, hört mich, und wer euch abweist, weist mich ab. Wer aber mich abweist, weist den ab, der mich gesandt hat.
Jesus schreibt dem Wirken der Jünger damit dieselbe Qualität zu, die er für sein eigenes Auftreten beansprucht. Sie repräsentieren Jesus, der Gott repräsentiert. Über Jesus sind darum auch die von ihm ausgesandten Boten mit Gott verbunden und treten als dessen Repräsentanten auf. Ein solches Botenverständnis findet sich vor allem im Johannesevangelium (z. B. in Joh 5,23; 12,44–45), aber auch in der rabbinischen Literatur27.
S. o. S. 231–234. Vgl. mBerak 5,5: „Der Beauftragte eines Menschen wird wie dieser selbst angesehen“. 26 27
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XII. Die Nachfolge der Jünger Jesu
3. Die Einsetzung der Zwölf 3.1 Nach Mk 3,14 und Lk 6,13 wählte Jesus aus dem Kreis seiner Jünger zwölf aus und machte sie zu „den Zwölf“, wie sie im Neuen Testament immer wieder genannt werden.28 Später ist der Zwölferkreis mit dem Kreis der Apostel gleichgesetzt worden (vgl. bereits Mk 3,14). Hierbei handelt es sich jedoch um eine sekundäre Konstruktion mit dem Ziel, das Ende der Existenz des Zwölferkreises unsichtbar zu machen. Demgegenüber geht aus 1Kor 15,5.7 hervor, dass es sich ursprünglich um zwei verschiedene Gruppen gehandelt hat. Versuche, die Gründung des Zwölferkreises durch Jesus für eine nachösterliche Fiktion zu halten, sind daran gescheitert, dass ihm auch Judas Iskariot angehörte, der Jesus an seine Gegner auslieferte. Wäre dieser Kreis erst nach Ostern entstanden und dann ins Leben Jesu zurückprojiziert worden, könnte man die Zugehörigkeit des Judas zu ihm nicht erklären. Die Besonderheit des Zwölferkreises wird auch daran erkennbar, dass seine Mitglieder namentlich bekannt sind. Es gibt vier Listen, die im Wesentlichen miteinander übereinstimmen (Mk 3,16–19; Mt 10,2–4; Lk 6,14–16; Apg 1,13).29 Vgl. Mt 26,14.20.47; Mk 4,10; 6,7; 9,35; 10,32; 11,11; Lk 8,1; 9,1.12; 18,31; Joh 6,67.70.71; 20,24; Apg 6,2; 1Kor 15,5. 29 Es gibt lediglich einen Unterschied mit Diskussionsbedarf: Statt „Thaddäus“ bei Markus und Matthäus hat Lukas in seinen beiden Listen „Judas, Sohn des Jakobus“. Eine schlüssige Erklärung für diese Differenz gibt es nicht. Vielleicht ist es schon vor Ostern zu einem Wechsel im Zwölferkreis gekommen. Vielleicht handelt es sich aber auch um ein und dieselbe Person. Nach Ostern wurde der Platz, den bis dahin Judas Iskariot innehatte, durch Matthias neu besetzt (Apg 1, 15–26). Als dann Anfang der 40er Jahre der Zebedäussohn Jakobus den Märtyrertod starb (Apg 12,2), wurde seine ‚Stelle‘ nicht wiederbesetzt. 28
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3. Die Einsetzung der Zwölf
3.2 Die Bildung des Zwölferkreises lässt sich als eine symbolische Handlung Jesu verstehen, in der sowohl Kontinuität als auch Diskontinuität zum Ausdruck kommt. Die Kontinuität wird vor allem durch die Zwölfzahl der Jünger und ihrer theologischen Semantik hergestellt. Sie symbolisiert die Gesamtheit des aus zwölf Stämmen bestehenden Volkes Israel, und in ihr kommt zum Ausdruck, dass die Verkündigung Jesu die Sammlung ganz Israels zum Ziel hat. Dieses Element findet seine Entsprechung in der Israelzentrik des traditionellen eschatologischen Konzepts der Königsherrschaft Gottes, das im Mittelpunkt der Verkündigung Jesu stand.30 Die Zwölf repräsentieren das endzeitliche Gottesvolk, dessen Zusammenführung Bestandteil der eschatologischen Hoffnung Israels war.31 Jesus knüpft an die Erwartung an, dass Gott eine endzeitliche Wiederherstellung seines Volkes herbeiführen wird, und mit der Bildung des Zwölferkreises beginnt er damit, Gottes Verheißung Wirklichkeit werden zu lassen. Auch in dieser Hinsicht entspricht die Bildung des Zwölferkreises darum der Deutung, die Jesus seinem Wirken auch an anderer Stelle gegeben hat.32 Damit ist aber auch schon die Diskontinuität in den Blick getreten, die die Einsetzung des Zwölferkreises vom überkommenen Zwölfstämme-Konzept trennt. Wenn man genau hinschaut, sind beide Größen lediglich durch die Zwölfzahl und den Israelbezug miteinander verbunden. Schon die Auswahl gerade dieser zwölf Jünger orientiert sich nicht an der Stammeseinteilung Israels. Dementsprechend zielt die Einsetzung der Zwölf auch nicht auf die Wiederherstellung des alten Zwölf S. o. S. 100–104. Vgl. z. B. Jes 11,12; Ez 11,17; 20,41; PsSal 11; Sir 36,11; 48,10. 32 S. o. S. 146–148. 30 31
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XII. Die Nachfolge der Jünger Jesu
stämmeverbandes ab. Sie ruft vielmehr ein neues Gottesvolk ins Leben, dessen Kern oder Keimzelle die Zwölf von Jesus bestimmten Jünger sind.33 Durch die Einsetzung der Zwölf wird Israel als eschatologisches Heilsvolk neu gegründet. Jesus weist den Zwölf eine Rolle zu, die sie in ihrer Gesamtheit zu einem eschatologischen Antitypus der zwölf ursprünglichen Stammväter Israels macht. Dadurch grenzt er sie und das neue Israel von den Vätern der zwölf Stämme und dem von ihnen ausgehenden Israel als Zwölfstämmevolk ab, denn die von Jesus eingesetzten Zwölf inaugurieren nicht mehr zwölf verschiedene Stämme. Was aber vor allen Dingen die Diskontinuität markiert, ist der Anspruch, der sich in der Bildung des Zwölferkreises manifestiert: dass Jesus sich herausnimmt, die Zwölf auszuwählen und in ihre Funktion einzusetzen. Jesus macht sich auf diese Weise zum Gründer des eschatologisch von Grund auf erneuerten Gottesvolkes Israel.
Das in Lk 22,30 und Mt 19,28 überlieferte Wort, wonach Jesus den Zwölf verspricht, sie würden in seinem Reich an seinem Tisch essen und trinken sowie die zwölf Stämme Israels richten, ist erst nach Ostern entstanden, als Jesus zunehmend Attribute zugeschrieben wurden, die ursprünglich für Gott reserviert waren. In Lk 22,30 und Mt 19,28 erfolgt dies dadurch, dass nicht mehr, wie es noch Jesus selbst getan hat, von Gottes Reich gesprochen wird, sondern von „meinem Reich“ bzw. vom „Reich des Menschensohnes“. 33
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XIII. „Wer ist der?“ (Mk 4,41; Lk 7,49 u. ö.)
1. Fragen und Antworten Zu den Gemeinsamkeiten, die die neutestamentlichen Evangelien miteinander verbinden, gehört auch etwas sehr Elementares. In allen vier Jesusgeschichten fragen die Menschen, die Jesus begegnen oder von ihm hören, immer wieder, wer Jesus ist. Im Spruchevangelium ist es Johannes der Täufer: „Bist du es, der kommen soll, oder sollen wir auf einen anderen warten?“ (Lk 7,19f und Mt 11,3). – Im Markusevangelium sind es die Jünger, die sich fragen, nachdem Jesus einen Sturm auf dem See Genezareth gestillt hat: „Wer ist denn der?“ (4,41). Als Jesus in seine Heimatstadt Nazaret kommt und in der dortigen Synagoge lehrt, fragen sich viele Zuhörer: „Woher hat der das? Und was ist das für eine Weisheit, die ihm gegeben ist, und solche Machttaten, die durch seine Hände geschehen?“ (6,2). Später, in Jerusalem, fragt ihn der Hohepriester direkt: „Bist du der Gesalbte, der Sohn des Hochgelobten?“ (14,61). Ebenso Pilatus: „Bist du der König der Juden?“ (15,2). Auch Jesus selbst wirft diese Frage auf: „Für wen halten die Leute mich?“ (8,27). – Im Lukasevangelium sind es darüber hinaus die Schriftgelehrten und Pharisäer (5,21), die mit Jesus zu Tisch Sitzenden (7,49) und Herodes Antipas (9,9), die ein und dieselbe Frage stellen: „Wer ist der?“ In dem Verhör vor dem Hohen Rat wird Jesus erst aufgefordert: „Wenn du der Gesalbte bist, sag es uns“, und dann, nach seiner Antwort, die einen Verweis auf Dan 7,13 enthält, fragt man ihn: „Bist du denn der Sohn Gottes?“ (Lk 22,67.70). – Im Matthäusevangelium fragt sich ganz
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XIII. „Wer ist der?“ (Mk 4,41; Lk 7,49 u. ö.)
Jerusalem, als Jesus in die Stadt einzieht: „Wer ist der?“ (Mt 21,10). – Auch dem Johannesevangelium ist diese Frage nicht fremd: Hier fragen „die Juden“ Jesus direkt: „Wer bist du?“ (8,25). Wenig später bedrängen sie ihn: „Wie lange lässt du uns noch im Ungewissen: Wenn du der Gesalbte bist, sag es uns frei heraus“ (10,24). Die Antworten, mit denen die Verfasser der Evangelien die Erzählfiguren um Jesus herum auf diese Fragen reagieren lassen, sind ausgesprochen vielfältig: Im Markusevangelium bilden diese Antworten sogar so etwas wie die „Leitfrage“.1 Die Reihe beginnt mit einem Wort, das Gott vom Himmel her spricht: „Du bist mein geliebter Sohn!“ (Mk 1,11). In 9,7 wird es nahezu gleichlautend wiederholt. Auch die Dämonen wissen Bescheid: „Ich weiß, wer du bist“, sagt einer, nämlich „der Heilige Gottes“ (1,24). Andere rufen, wenn sie Jesus sehen: „Du bist Gottes Sohn!“ (3,11). Demgegenüber wissen die Menschen in Nazaret, die Jesus von klein auf kennen, lediglich, dass er „der Zimmermann“ ist, „Marias Sohn und der Bruder von Jakobus, Joses, Judas und Simon“ (6,3). Herodes Antipas hält ihn für den von den Toten auferstandenen Täufer Johannes (6,16). Dieser Meinung sind auch andere Leute, während wieder andere Jesus für den wiedergekommenen Elia halten2 oder auch einfach nur für einen Propheten (8,27–28). Petrus identifiziert ihn demgegenüber als Gesalbten (8,29), während ein römischer Centurio unmittelbar nach Jesu Tod feststellt: „Dieser Mensch ist wirklich ein Sohn Gottes gewesen“ (15,39). Der markinische Jesus selbst antwortet auf die oben zitierte Frage des Hohepriesters, ob er „der Gesalbte“ sei, „der P. Müller, „Wer ist dieser?“, 21. Nach Mal 3,23–24 sollte der Prophet Elia wiederkommen, um Israel vor dem Tag des Gerichts zur Umkehr zu führen (s. auch Sir 48,10; Lk 1,17). 1 2
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1. Fragen und Antworten
Sohn des Hochgelobten“ (14,61), kurz und bündig: „Ich bin’s“ (V. 62). – Aus dem Lukasevangelium erfahren wir noch, dass die Dämonen auch wussten, dass Jesus der „Gesalbte“ ist (4,41). – Im Matthäusevangelium wird erzählt, dass die Jünger, nachdem Jesus über das Wasser gegangen ist und Petrus vor dem Ertrinken gerettet hat, im Boot vor Jesus niederfallen und bekennen: „Du bist wirklich Gottes Sohn“ (14,33). Dem entspricht, wie das Petrusbekenntnis von Mk 8,29 (s. o.) von Matthäus erweitert wird: „Du bist der Gesalbte, der Sohn des lebendigen Gottes“ (16,16). – Im Johannesevangelium bekommt Jesus von Nathanael bescheinigt: „Rabbi, du bist der Sohn Gottes, du bist König Israels“ (1,49). Nikodemus nennt ihn einen „Lehrer, der von Gott gekommen ist“ (3,2). Das Bekenntnis, das Petrus stellvertretend für alle Jünger spricht, lautet hier: „Wir haben den Glauben und die Erkenntnis gewonnen, dass du der Heilige Gottes bist“ (6,69). Demgegenüber wollen „die Juden“ Jesus steinigen, weil sie seinen Anspruch für eine „Gotteslästerung“ halten: „Obwohl du ein Mensch bist, machst du dich selbst zu Gott“ (10,33). Alle Antworten sind Bestandteil der Bilder, die die Verfasser der Evangelien vom Auftreten Jesu zeichnen. Die Rollen, die sie Jesus jeweils zuschreiben lassen, sind darum aus nachösterlicher Perspektive entworfen und setzen den Glauben voraus, dass Gott Jesus von den Toten auferweckt und damit auch seine Verkündigung ins Recht gesetzt hat. Die Bezeichnungen und Charakterisierungen Jesu, die die Evangelisten den anderen Erzählfiguren in den Mund legen, sollen darum nicht lediglich Jesus selbst charakterisieren, sondern recht eigentlich die Menschen, die Jesus begegnen. Sie wollen den Lesern der Evangelien nicht sagen, wer Jesus ist, sondern sie stellen dar, wofür die Menschen Jesus gehalten haben. Sie wollen darum zunächst nur auf der literarischen Ebene der jeweiligen Jesusgeschichte
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XIII. „Wer ist der?“ (Mk 4,41; Lk 7,49 u. ö.)
interpretiert werden. Damit ist natürlich nicht gesagt, dass alle Antworten, weil sie lediglich als literarische Konstruktionen existieren, ohne historische Grundlage und samt und sonders frei erfunden sind. In ihnen kann sich durchaus historisch zuverlässige Erinnerung erhalten haben. Darüber hinaus stellt sich natürlich auch noch die Frage, ob es im theologischen Grundwissen des frühen Judentums eine Kategorie gab, die Jesus selbst auf sich bezogen hat, um mit ihr seinem Selbstverständnis Ausdruck zu verleihen. Von Bedeutung sind in diesem Zusammenhang vor allem die Bezeichnungen Jesu als „Menschensohn“ und als „Gesalbter“ (d. h. als „Messias“ bzw. als „Christus“). Sie sollen im Folgenden besprochen werden. Die auch sonst in den Jesuserzählungen häufig anzutreffende Bezeichnung „Sohn Gottes“ ist erst nach Ostern auf Jesus übertragen worden.3 Aus diesem Grunde kann sie hier außerhalb der Betrachtung bleiben.
2. „Menschensohn“ 2.1 Die Worte Jesu über den Menschensohn gehören zu den größten Rätseln, die die neutestamentlichen Evangelien ihren Interpreten aufgeben. Wir begegnen dieser Bezeichnung in allen Bereichen der Jesusüberlieferung: – im Spruchevangelium Q: Lk 9,58 und Mt 8,20; Lk 7,34 und Mt 11,19; Lk 12,10 und Mt 12,32; Lk 12,40 und Mt 24,44; Lk 17,24.26.30 und Mt 24,27.37.39; – im Markusevangelium: Mk 2,10.28; 8,31.38; 9,9.12.31; 10,33.45; 13,26; 14,21(2×).41.62; Der Nachweis dafür ist in vielen exegetischen Untersuchungen geführt worden; vgl. exemplarisch U. B. Müller, „Sohn Gottes“. 3
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2. „Menschensohn“ – im Sondergut oder in der Redaktion des Lukasevangeliums: Lk 6,22; 11,30; 12,8; 17,22; 18,8; 19,10; 21,36; 22,48; 24,7; – im Sondergut oder in der Redaktion des Matthäusevangeliums: Mt 10,23; 12,40; 13,37.41; 16,13.28; 19,28; 24,27; 25,31; 26,2; – im Johannesevangelium: Joh 1,51; 3,13.14; 5,27; 6,27.53.62; 8,28; 9,35; 12,23.34; 13,31. Von diesen Texten hat kein einziger eine synoptische Parallele.
Charakteristisch für die Bezeichnung „Menschensohn“ in den neutestamentlichen Evangelien ist die doppelte Determinierung im Griechischen: ho hyiós tou anthrṓpou (wörtlich: „der Sohn des Menschen“).4 Sie ist ohne Parallele in irgendeinem anderen griechischen Text innerhalb oder außerhalb des Neuen Testaments, der diese Bezeichnung nicht aus der Lektüre der Evangelien gekannt hätte.5 Jesus hat wahrscheinlich auf Aramäisch bar (ʼæ)nascháʼ gesagt6, und in der merkwürdigen griechischen Übersetzung spiegelt sich noch der Sachverhalt, dass er damit nicht vom Menschen allgemein, sondern nur von sich selbst gesprochen hat. Bemerkenswert ist darüber hinaus, dass die Bezeichnung „Menschensohn“ in allen vier Evangelien ausschließlich im Munde Jesu begegnet. Keine andere Erzählfigur spricht vom Menschensohn oder bezeichnet Jesus als Menschensohn. Dementsprechend lautet auch keine einzige der vielen, im vorangegangenen Abschnitt zusammengestellten Antworten auf die Frage, wer Je Ohne die beiden bestimmten Artikel findet sich der Ausdruck nur in Joh 5,27: „Er (sc. der Vater) hat ihm (sc. dem Sohn) Vollmacht gegeben, Gericht zu halten, weil er Sohn eines Menschen (griech. hyiós anthrṓpou) ist“. Die Bedeutung ist hier aber dieselbe wie in den anderen Texten, denn auch in diesem Text ist niemand anderer als Jesus gemeint. 5 Im Neuen Testament begegnet sie nur noch in Apg 7,56, wo Lukas den sterbenden Stephanus sagen lässt: „Ich sehe die Himmel offen und den Sohn des Menschen zur Rechten Gottes stehen“. 6 Vgl. dazu z. B. C. Colpe, ThWNT VIII, 406–408. 4
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XIII. „Wer ist der?“ (Mk 4,41; Lk 7,49 u. ö.)
sus ist: „Du bist der Menschensohn“. Auch im Erzähltext der Evangelien wird er niemals so genannt. Man kann die meisten Menschensohn-Worte einer der folgenden drei Gruppen zuweisen: In der einen Gruppe bezieht sich das Menschensohn-Wort auf Jesu gegenwärtiges Wirken und Auftreten.7 In einer zweiten Gruppe spricht Jesus vom Leiden, Sterben und von der Auferstehung des Menschensohnes.8 In einer dritten Gruppe ist vom zukünftigen Kommen des Menschensohnes sowie von seinem Herrschen und Richten die Rede.9 In jedem Menschensohn-Wort bezieht Jesus diesen Ausdruck immer auf sich selbst. Er hätte darum in allen Fällen auch „ich“ sagen können, wenn es ihm einfach nur darum gegangen wäre, von seiner eigenen Person zu reden.10 Wenn er stattdessen die 3. Person wählt und sich „Menschensohn“ nennt, stellt sich die Frage nach der inhaltlichen Bedeutung dieser Selbstbezeichnung. Was will Jesus zum Ausdruck bringen, wenn er sich „Menschensohn“ nennt? 2.2 Ausgangspunkt für die Beantwortung dieser Frage kann ein Ergebnis der neueren Menschensohn-Forschung sein, das sich inzwischen als allgemeiner Kon Z. B. Mk 2,10.28; 10,45; Lk 7,34 und Mt 11,19; Lk 9,58 und Mt 8,20; Lk 12,10 und Mt 12,32; Lk 11,30; 19,10; Joh 5,27; 9,35. 8 Z. B. Mk 8,31; 9,9.12.31; 10,33; Mt 12,40; Joh 3,14. 9 Z. B. Mk 8,38; 13,26; Lk 12,40 und Mt 24,44; Lk 17,24.30 und Mt 24,27.39; Lk 17,22; 18,8; 21,36; Mt 10,23; 13,41; 16,28. 10 Das geht auch aus den Parallelen zu Mt 16,13 hervor, wo Jesus statt „Menschensohn“ jeweils „ich“ sagt (Mk 8,27 und Lk 9,18). Dasselbe haben wir in Mt 10,32 im Unterschied zu Lk 12,8. Trotzdem muss man an dieser Stelle sorgfältig unterscheiden: Auch wenn der Begriff „Menschensohn“ das Ich eines Redenden bezeichnen kann, bedeutet das noch lange nicht, dass „Menschensohn“ auch „ich“ bedeutet. Man muss präzise zwischen dem Begriffsumfang (der bezeichneten Person) und dem Begriffsinhalt (dem gedanklichen Gehalt) des Begriffs „Menschensohn“ unterscheiden (s. auch o. S. 125 Anm. 1). 7
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2. „Menschensohn“
sens etabliert hat. Es besagt, dass es im nachexilischen Judentum zu keinem Zeitpunkt und nirgendwo die Erwartung einer eschatologischen Richter- und Rettergestalt gegeben hat, die „Menschensohn“ genannt wurde. Im frühen Judentum gab es die Erwartung eines „Gesalbten“, nicht aber die Erwartung einer Heilsgestalt mit dem Titel „Menschensohn“.11 „Menschensohn“ kann darum auch keine titulare Bezeichnung gewesen sein, die Jesus übernommen hätte, um sich mit dieser Gestalt zu identifizieren und sein Wirken in das Licht einer auf sie sich richtenden eschatologischen Erwartung zu stellen. Wichtiger ist vielmehr der Gebrauch der Menschensohn-Bezeichnung als Gattungsbegriff, der schon im Alten Testament weit verbreitet war. Hier wird oft „Sohn eines/des Menschen“ gesagt, wenn „Mensch“ gemeint ist. Vier Beispiele können diesen Sprachgebrauch illustrieren: Num 23,19: Nicht ein Mensch ist Gott, dass er lüge, noch Sohn eines Menschen, dass er bereue. Dan 7,13: Mit den Wolken des Himmels kam einer wie ein Sohn eines Menschen. Sir 17,30: Nicht unsterblich ist der Sohn eines Menschen. In 1QGenApocr 21,13 lautet die Verheißung von Gen 13,16: Ich werde deine Nachkommenschaft zahlreich machen wie den Staub der Erde, den kein Sohn eines Menschen zählen kann.
Im Buch Prediger Salomo (Kohelet) ist in diesem Sinne häufig von den „Söhnen des Menschen“ die Rede, wenn von den Menschen gesprochen wird, wie z. B. in
Kreplin, Selbstverständnis, 102 nennt den „apokalyptischen Menschensohn-Titel“, dessen Existenz viele Jahrzehnte lang als selbstverständlich galt, „ein exegetisches Phantom, entsprungen dem religionsgeschichtlichen Forschungseifer“.
11
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XIII. „Wer ist der?“ (Mk 4,41; Lk 7,49 u. ö.) Pred 1,13: „Ein übles Geschäft hat Gott den Söhnen des Menschen gegeben, sich darin abzumühen“. Pred 3,19: Das Geschick der Söhne des Menschen und das Geschick des Viehs ist dasselbe. Pred 9,3: Das Herz der Söhne des Menschen ist voll Bosheit.12
Der Sprachgebrauch im Buch Ezechiel ist von Bedeutung, weil die Bezeichnung „Menschensohn“ hier erstmals als Antonomasie („Umschreibung des Namens“) gebraucht wird:13 Der Prophet wird direkt angeredet, aber nicht mit seinem Eigennamen, sondern mit einer ihn kennzeichnenden Eigenschaft: Ez 2,1: Und er sprach zu mir: „Sohn eines Menschen, stelle dich auf deine Füße, denn ich will mit dir reden“; Ez 3,4: Und er sprach zu mir: „Sohn eines Menschen, geh hin zum Haus Israel und rede mit meinen Worten zu ihnen“. Ez 5,1: Du, Sohn eines Menschen, nimm dir ein scharfes Schwert.14
Es ist immer Gott, der spricht. Er nennt Ezechiel „Sohn eines Menschen“, um den Unterschied zwischen sich als Gott und dem Propheten als einem Menschen zur Geltung zu bringen.
S. auch Pred 2,3.8; 3,10.18.21 u. ö. Eine Antonomasie liegt z. B. dann vor, wenn wir nicht „Gott“ sagen, sondern „der Allmächtige“, oder nicht „Jesus“, sondern „der Mann aus Nazaret“, oder nicht „Maria“, sondern „die Mutter Jesu“, oder nicht „Amerika“, sondern „die neue Welt“. Auch Gattungsbezeichnungen können als Antonomasien für Individuen fungieren (z. B. in Joh 2,4, wo Jesus Maria als „Frau“ anredet; s. auch Joh 19,26; 20,13.15). Hierzu gehört auch die Bezeichnung „Sohn eines Menschen“. 14 S. auch Ez 2,3.6.8; 3,1.3.10.17.25 u. ö. Die koptische Elia-Apoka lypse beginnt mit den Worten: „Des Herrn Wort erging an mich folgendermaßen: ‚Sohn eines Menschen, sag diesem Volk‘“ (ApkEliae 19,1–3). 12 13
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2. „Menschensohn“
In allen zitierten Texten ist „Sohn“ ein Begriff, der Zugehörigkeit zum Ausdruck bringen will. Das auf diese Weise bezeichnete Individuum wird mit dem Ausdruck „Sohn eines/des Menschen“ als der Gattung „Mensch“ zugehörig gekennzeichnet bzw. als ein individuelles Exemplar der Gattung „Mensch“ identifiziert. Dasselbe gilt auch für eine Reihe von anderen Texten, in denen andere himmlische Wesen mit Menschen reden: Dan 8,17 (der Erzengel Gabriel sagt zum Propheten): Merk auf, Sohn eines Menschen. äthHen 60,10: Und er (sc. der Engel) sprach zu mir: „Du, Sohn eines Menschen, willst wissen, was verborgen ist?“. TestSal 5,3: Du bist Sohn eines Menschen, und ich (bin Sohn) eines Engels, auch wenn ich durch die Tochter eines Menschen geboren wurde.15
Es würde darum der Intention aller bisher zitierten Texte eher entsprechen, wenn wir die hebräischen und griechischen Ausdrücke nicht mit „Sohn eines/des Menschen“ oder gar mit „Menschensohn“ übersetzen würden, sondern allgemeiner mit „Menschenkind“.16
Vgl. auch Gen 6,2.4 mit dem Gegenüber von „Söhne Gottes“ (gemeint sind die Engel) und „Töchter (wörtlich: ‚Söhninnen‘) des Menschen“. 16 Das legen auch all die Texte nahe, in denen „Mensch“ und „Sohn eines/des Menschen“ parallel stehen: Num 23,19; Hiob 25,6; Ps 8,5; 144,3; Jes 51,12; Jdt 8,16; TestJos 2,5. Auch der Ausdruck „die Söhne des Menschen“ (Gen 11,5; Ps 11,4; 12,2.9 u. ö.; s. auch Mk 3,28; Eph 3,5) bedeutet nichts anderes als „die Menschen“. Auch für Ps 80,18 ist diese Interpretation einschlägig: „Deine Hand sei über dem Mann zu deiner Rechten, über dem Sohn eines Menschen, den du für dich stark gemacht hast“. Gemeint ist der König, der hier einerseits als Mensch von Gott abgegrenzt wird, andererseits aber von den anderen Menschen als dadurch unterschieden gekennzeichnet wird, dass Gott ihn „stark gemacht“ hat. 15
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XIII. „Wer ist der?“ (Mk 4,41; Lk 7,49 u. ö.)
2.3 Alle Texte belegen, was bereits festgestellt wurde: Die Bezeichnung „Menschensohn“ wurde in der alttestamentlich-jüdischen Tradition nicht titular gebraucht, um mit ihr eine bestimmte eschatologische Figur zu identifizieren. Zu einem Hoheitstitel ist die Bezeichnung vielmehr erst im frühen Christentum geworden, und zwar durch die Beziehung auf Jesus.17 Hier entstand auch der doppelt determinierte Ausdruck „der Sohn des Menschen“.18 Er postuliert, dass es nur einen einzigen Menschen gibt, dem die Hoheitsbezeichnung „Menschensohn“ zukommt, nämlich Jesus. Die nachösterliche Übertragung der MenschensohnBezeichnung auf Jesus als Hoheitstitel kann man freilich nicht allein als unmittelbare Weiterentwicklung des alttestamentlich-jüdischen Sprachgebrauchs erklären. Sie setzt vielmehr voraus, dass auch schon Jesus sich „Menschensohn“ genannt haben muss, denn nur unter dieser Voraussetzung konnte sie entstehen. Es fragt sich nur, in welcher Weise Jesus von sich als „Menschensohn“ gesprochen hat. Wenn man sich an den oben beschriebenen Gruppen von Menschensohn-Worten orientiert19, sind zwei Redeweisen unwahrscheinlich: dass er von sich im Sinne der zweiten Gruppe als leidender, sterbender und auferstehender Menschensohn gesprochen hat und dass er im Sinne der dritten Gruppe seine künftige Rückkehr vom Himmel auf die Erde und seine Herrschaft als Menschensohn angekündigt hat. Die einen Aussagen sind ihm vielmehr im Wissen um seinen Tod und seine Auferstehung in den Mund gelegt worden. Die anderen reflektieren die frühchristliche Er M. Müller, Ausdruck, 258 hat dieses Ergebnis mit einer schönen Formulierung versehen: Es ist so, „dass nicht der Ausdruck ‚Menschensohn‘ uns erzählt, wer Jesus ist, sondern dass Jesus uns erzählt, wer der ‚Menschensohn‘ ist“. 18 Zu ihm s. o. S. 257. 19 S. o. S. 258. 17
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2. „Menschensohn“
wartung einer Wiederkehr des mit der Auferstehung in den Himmel erhöhten Herrn. Nur die Worte der ersten Gruppe, mit denen Jesus sich selbst und mit Bezug auf sein gegenwärtiges Wirken und Auftreten „Menschensohn“ nennt, können darum auf ihn zurückgeführt werden. Die authentische Redeweise Jesu würde sich demnach vor allem in Texten spiegeln wie Mk 2,10 („der Menschensohn hat Vollmacht, Sünden zu vergeben auf der Erde“); 10,45 („der Menschensohn ist nicht gekommen, um bedient zu werden, sondern um zu dienen“); Lk 7,34 und Mt 11,19 („der Menschensohn ist gekommen; er isst und trinkt“); Lk 9,58 und Mt 8,20 („die Füchse haben Höhlen, und die Vögel des Himmels haben Nester; der Menschensohn aber hat nichts, wo er sein Haupt hinlegen kann“) sowie Lk 19,10 („der Menschensohn ist gekommen, um das Verlorene zu suchen und zu retten“).20 2.4 Wenn Jesus von sich als dem „Sohn eines/des Menschen“ spricht, bedient auch er sich der rhetori schen Figur der Antonomasie.21 Das ist auch der Grund dafür, dass er von sich in der 3. Person spricht. Er charakterisiert sich, indem er aus dem Inventar der ihn kennzeichnenden Eigenschaften diejenige herausgreift, auf die es ihm aktuell ankommt: dass er – um es gespreizt zu sagen – ein individuelles Exemplar der Gattung „Mensch“ ist. Wenn er „Menschensohn“ sagt, meint er darum eigentlich: „ich als ein Menschenkind“. Die Intention, die sich mit dieser Redeweise verbindet, können wir verstehen, wenn wir von zwei Texten ausgehen, Lk 9,58 und Mt 8,20 auf der einen Seite sowie Mk 2,10 auf der anderen:
20 21
Für weitere Texte s. o. S. 258 Anm. 7. Zu ihr s. o. S. 260 mit Anm. 13.
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XIII. „Wer ist der?“ (Mk 4,41; Lk 7,49 u. ö.)
Das in Lk 9,58 und Mt 8,20 überlieferte Jesuswort: „Die Füchse haben Höhlen und die Vögel des Himmels haben Nester, der Menschensohn aber hat nichts, wo er sein Haupt hinlegen kann“, hat dieselbe Ausrichtung wie Dan 7,13 nach Dan 7,2–12. Hier wie dort geht es um eine Abgrenzung von Tieren. Ihnen gegenüber wird die Überlegenheit der jeweils als „Menschensohn“ bezeichneten Person zum Ausdruck gebracht: Obwohl Jesus ein Mensch(enkind) ist, geht es ihm schlechter als den Tieren, denn die sind nicht wie er obdachlos.22 Auch in Mk 2,10 nimmt Jesus eine Abgrenzung vor. Sie geht aber in die entgegengesetzte Richtung, hat gerade als solche aber zahlreiche Parallelen im alttesta mentlich-jüdischen Sprachgebrauch. Hier wie dort hat Jesu Selbstbezeichnung als „Menschensohn“ die Aufgabe, die Abgrenzung von Gott zu markieren. Die einschlägigen Texte wurden in Abschn. 2.2 genannt.23 Der Ausdruck will in diesem Fall die mit ihm bezeichneten Individuen als Menschen in ihrer kategorialen Verschiedenheit von Gott kennzeichnen. Jesus sagt damit in Mk 2,10 sinngemäß: „Obwohl ich nur ein Mensch(enkind) bin, habe ich die Vollmacht, das zu tun, was eigentlich nur Gott zusteht, nämlich anderen Menschen ihre Sünden zu vergeben“. Dieselbe Abgrenzung gibt es auch in Dan 5,21, wo es von Nebukadnezar heißt: „Von den Söhnen des Menschen wurde er fortgetrieben, und sein Herz wurde dem der Tiere gleich, und seine Wohnung war bei den Wildeseln“; s. auch Pred 3,19 o. S. 260; GenR 79,6: „Kein Vogel wird ohne den Willen des Himmels gefangen, um wieviel weniger das Leben des Sohnes eines Menschen“. 23 S. o. S. 258–261; vgl. hier vor allem Num 23,19; Ps 8,5; Jdt 8,16; äthHen 60,10; 1QH 10,24f und die Texte aus dem Ezechiel-Buch; s. auch noch das Gotteswort in Jes 51,12: „Ich, ich bin es, der euch tröstet. Wer bist du, dass du dich vor dem Menschen fürchtest, der dahinstirbt, und vor dem Sohn eines Menschen, der wie Gras dahingegeben wird.“ 22
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2. „Menschensohn“
Es ist nicht schwer, die anderen Worte, in denen Jesus sich „Menschensohn“ im Sinne von „ich als Menschenkind“ nennt, zwischen diesen beiden Texten einzuordnen. Sie sind eher in der Nähe von Mk 2,10 anzusiedeln als von Lk 9,58 und Mt 8,20. Jesus will sich mit ihnen nicht von den Tieren abgrenzen, sondern sie sind im Blick auf Gott formuliert. Er macht mit dieser Selbstbezeichnung darauf aufmerksam, dass auch er ein Menschenkind ist und im Rahmen des Gegenübers von „Gott“ und „Mensch“ auf die Seite der Menschen gehört. Warum er dies für erforderlich hielt, lässt sich vor dem Hintergrund des in den vorangegangenen Kapiteln Gesagten leicht verstehen: Weil Jesus mit dem Anspruch auftritt, Repräsentant Gottes zu sein, der Gottes Werk tut und das Heil der Königsherrschaft Gottes unter den Menschen Wirklichkeit werden lässt, baut er mit dieser Selbstbezeichnung einem Missverständnis vor: Er ist nicht ein auf die Erde herabgekommenes himmlisches Wesen, sondern ein Mensch wie jeder andere. Wenn Jesus sich „Menschensohn“ nennt, will er darum nicht seine Besonderheit gegenüber den anderen Menschen zum Ausdruck bringen, sondern genau das Gegenteil ist der Fall: Er will deutlich machen, dass es zwischen ihm und allen anderen Menschen, an die er sich mit seiner Botschaft wendet, keinen Unterschied gibt. Er ist genauso ein Menschenkind wie sie.
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XIII. „Wer ist der?“ (Mk 4,41; Lk 7,49 u. ö.)
3. „Gesalbter“ („Messias“, „Christus“) 3.1 Der Ausdruck „Jesus Christus“ ist kein Name, sondern eine Appositionsverbindung. Sie bedeutet „Jesus, der Gesalbte“24 und unterscheidet sich in mehrfacher Hinsicht von der Menschensohn-Bezeichnung. Sie begegnet in den Evangelien niemals im Munde Jesu, sondern es sind immer nur andere, die ihn so nennen. Darüber hinaus ist diese Bezeichnung nicht nur in den Evangelien, sondern auch in anderen neutestamentlichen Texten weit verbreitet. Sie ist hier sogar die häufigste Bezeichnung Jesu. Auffälligerweise findet sie sich aber in keinem der Texte, die von der aktuellen synoptischen Forschung dem Spruchevangelium zugewiesen werden. In der griechisch sprechenden Urchristenheit wurde „Christus“ sehr früh nicht mehr nur als Ergänzung zum Namen verwendet, sondern fungierte als Eigenname.25 Außer bei Jesus ist diese Bezeichnung sonst nirgendwo als Beiname einer Person belegt. „Christus“ ist das latinisierte Äquivalent des griechischen Verbaladjektivs christós, das von chríō („einschmieren, salben“) abgeleitet ist. Im Hebräischen entspricht ihm das von dem gleichbedeutenden Verb māscháḥ abgeleitete Wort māschī́aḥ (oder m eschī́aḥ), bei dem es sich ebenfalls um ein Verbaladjektiv handelt. In beiden Fällen haben die Adjektive passivische Bedeutung. Die deutsche Übersetzung kann nur Entsprechungen sind z. B. „Simon Petrus“ („Simon, der Fels“) oder „Judas Makkabaeus“ („Judas, der Hammer“). 25 Von ihm leitet sich auch die Bezeichnung der Christen als „Christen“ her. Nach Apg 11,26 wurden sie erstmals in Antiochien „Chris tianer“ (christianoí) genannt (s. auch Apg 26,28). Hierbei handelt es sich um einen Latinismus, der die Christen als Anhänger einer Person namens „Christus“ kennzeichnet. Die Formulierung, die den Christen in dieser Stadt von außen beigelegt worden sein dürfte, ist eine Entsprechung zu z. B. „Caesariani“ (Anhänger Caesars), „Pompeiani“ (Anhänger des Pompeius). Das lateinische -ianus ist ein Zugehörigkeitssuffix. 24
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3. „Gesalbter“ („Messias“, „Christus“) durch ein Partizip erfolgen: „gesalbt“ bzw., bei einem Gebrauch als substantivierte Apposition (griech. ho christós): „der Gesalbte“. Das deutsche Wort „Messias“ ist von griech. messías abgeleitet, einer Gräzisierung des hebräischen Adjektivs. In der gesamten griechischen und lateinischen Literatur der Antike begegnet es erstmals in zwei Texten aus dem Johannesevangelium und danach erst wieder und nur bei altkirchlichen Autoren. Joh 1,41: Nachdem Andreas zu Simon gesagt hat: „Wir haben den messías gefunden“, erklärt der Autor des Evangeliums: „Das heißt übersetzt: ‚Gesalbter‘ (christós)“. In Joh 4,25 sagt die Samaritanerin zu Jesus: „Ich weiß, dass der messías kommt, der ‚Gesalbter‘ (christós) genannt wird“.
3.2 Die semantischen Wurzeln dieser Bezeichnung liegen im Alten Testament. Hier sind es vor allem der König sowie die Priester, die mit der Salbung als durch Gott autorisiert und bevollmächtigt ausgewiesen werden. Samuel übergießt Saul mit Öl, küsst ihn und erklärt: „So hat JHWH dich zum Fürsten über sein Erbteil gesalbt“ (1Sam 10,1). Dementsprechend gilt der König als „Gesalbter Gottes“.26 Auch von einer priesterlichen Salbung wird berichtet27, so dass der Priester, der auf diese Weise in sein Amt eingesetzt wurde, „der Priester, der gesalbt ist (griech.: christós)“ genannt werden kann.28 Ein metaphorischer Sprachgebrauch liegt in Jes 45,1 vor. Hier wird der Perserkönig Kyros als Gottes Gesalbter bezeichnet, um auf diese Weise deutlich zu machen, dass er ein von Gott initiiertes Werk tut und in Gottes Auftrag handelt. Auch Jes 61,1 redet von der Salbung metaphorisch: „Der Geist des Herrn JHWH ist auf mir; 1Sam 2,10.35; 12,3; Ps 2,2; 18,51; 20,7; Klgl 4,20 u. ö. – Im hebräischen Text steht in allen Fällen m eschī́aḥ, das die Septuaginta immer mit christós übersetzt. 27 Ex 28,41; 30,30; 40,13 u. ö. 28 Lev 4,5.16; 6,15. 2Makk 1,10 spricht vom „Geschlecht der gesalbten Priester“. 26
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XIII. „Wer ist der?“ (Mk 4,41; Lk 7,49 u. ö.)
denn JHWH hat mich gesalbt“. Mit diesen Worten erklärt der Prophet seinen Anspruch, dass die Botschaft, die er ausrichtet, von Gott kommt, weil Gott ihn legitimiert und bevollmächtigt hat. Ebenso sind so etwas wie Propheten gemeint, wenn CD 2,12 von „Gesalbten seines heiligen Geistes“ spricht.29 In Lk 4,18 bezieht der lukanische Jesus die Worte von Jes 61,1 auf sich (s. auch Apg 10,38). In frühjüdischer Zeit bildet sich die Erwartung aus, dass ein „Gesalbter“ – und das heißt: ein von Gott Bevollmächtigter – kommen wird, um Israel in Gottes Auftrag Heil zu bringen. Die meisten Texte schildern diesen „Gesalbten“ als eine Herrschergestalt wie z. B. PsSal 17,32: Er ist ein gerechter, von Gott gelehrter König über sie; und in seinen Tagen ist kein Unrecht unter ihnen, denn alle sind sie heilig, und ihr König ist der Gesalbte des Herrn (christós kyríou). 4Q252 Fragm. 1, 5,3–4: … bis dass ankommt der Gesalbte der Gerechtigkeit, der Spross Davids, denn ihm und seiner Nachkommenschaft ist der Bund des Königtums seines Volkes auf ewige Generationen gegeben. Dan 9,25: Von der Zeit an, als das Wort erging, dass Jerusalem wiederaufgebaut wird, bis ein Gesalbter, ein Fürst, kommt, sind es sieben Wochen. syrBar 39,7: … dann wird die Herrschaft meines Gesalbten in Erscheinung treten.
In 4Q252 Fragm. 1, 5,3–4 verbindet sich diese Erwartung mit der sog. Nathan-Weissagung von 2Sam 7,12–14 (s. auch Jes 9,5–6; 11,1–10). Diese Verknüpfung gibt es auch in anderen Texten. Der alttestamentliche Text wurde dabei als Verheißung gedeutet, mit der Gott David die ewige Dauer seiner Dynastie zusichert. Darum S. auch 1QM 11,7–8: „Durch deine Gesalbten, die Seher der Bestimmungen, hast du uns verkündet die Zeiten der Kriege deiner Hände“. Die Rede ist hier von den Propheten.
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3. „Gesalbter“ („Messias“, „Christus“)
wurde aus ihm die Hoffnung abgeleitet, dass er Israel einen Herrscher aus Davids Geschlecht schenken würde, der sein Volk aus der Unterdrückung durch fremde Völker befreien und über es als idealer König herrschen würde.30 Trotz alledem darf die frühjüdische Hoffnung auf das Kommen eines „Gesalbten“, der Israel Heil bringen wird, aber nicht auf die Erwartung eines königlichen Herrschers reduziert werden. In den Qumrantexten ist von zwei Gesalbten die Rede, den „Gesalbten Aarons und Israels“ (1QS 9,11), d. h. von einem priesterlichen und von einem politischen Gesalbten.31 Der priester liche Gesalbte wird immer vor dem politischen Gesalbten genannt; ihm wird also der Vorrang zugeschrieben (s. auch 1Q28a 2,17–21). Das dominierende semantische Merkmal, das die Eigenart des „Gesalbten“ kennzeichnet, ist darum nicht eine bestimmte Tätigkeit oder eine bestimmte Aufgabe, sondern es ist in seiner Beziehung zu Gott anzusiedeln. Es besteht in seiner Beauftragung durch Gott. Darin konnte durchaus die Einsetzung zum königlichen Herrscher über Israel eingeschlossen sein, sie musste es aber nicht. Vor allen Dingen definierte sie nicht die Eigenart seines Gesalbt-Seins. „Gesalbter“ (vulgo „Messias“) war vielmehr „eine Art Oberbegriff“32 für von Gott auto risierte Menschen, deren Aufgabe ganz allgemein darin bestand, Israel in Gottes Auftrag Rettung und Heil zu bringen. Auf welche Weise sie das taten, sagt die Be PsSal 17,21 nennt ihn darum auch „Davidsohn“; s. auch Sir 51,12h; 4Q161 Fragm. 8 und 9, 18; 4Q174 3,11–13; 4Q285 Fragm. 5,3.4. In der 14. Benediktion des 18-Bitten-Gebets heißt es: „Erbarme dich, JHWH, unser Gott, … über Israel … und über Jerusalem …, über den Zion …, über dein Heiligtum … und über das Königtum des Hauses Davids, des Gesalbten deiner Gerechtigkeit“. 31 S. auch CD 12,23–13,1; 14,19; 19,10–11; 20,1. 32 Konradt, Vollmachtsanspruch, 160. 30
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XIII. „Wer ist der?“ (Mk 4,41; Lk 7,49 u. ö.)
zeichnung nicht. „Gesalbt sein“ ist darum metaphorische Umschreibung für „durch Gott beauftragt und bevollmächtigt sein“. Denn niemand anderer als Gott selbst war es, den man sich als autorisierendes Subjekt der „Salbung“ des „Gesalbten“ vorstellte. Wenn wir im Deutschen einfach nur von einem „Messias“ sprechen, wird dieses wichtige semantische Merkmal verdeckt, während es sowohl im hebräischen māschī́aḥ als auch im griechischen christós unüberhörbar mitklingt. 3.3 In diesem Rahmen wird gut verständlich, worin die Übertragung der Bezeichnung „Gesalbter“ auf Jesus ihren Grund hat und was sie zum Ausdruck bringen will. Auch warum Jesus diese Bezeichnung immer nur von Seiten anderer Menschen zugeschrieben wird, findet vor diesem Hintergrund eine plausible Erklärung. Wenn die Menschen Jesus „Gesalbter“ nennen und ihn damit als von Gott bevollmächtigt und autorisiert charakterisieren, so bringen sie damit sein Auftreten theologisch auf den Begriff. Jesu Anspruch, als Repräsentant Gottes aufzutreten, der Gottes Werk tut und Gottes Heil unter den Menschen Wirklichkeit werden lässt, wird mit Hilfe eines unter seinen Zeitgenossen bekannten und ihnen vertrauten Rollenkonzepts gedeutet. Dadurch verschaffen sie sich die Möglichkeit, das Auftreten Jesu in ihr kulturelles Grundwissen einzuordnen und sich auf diese Weise ein Bild von ihm zu machen. Es handelt sich also um nichts anderes als um den Versuch, Jesus und sein Auftreten zu verstehen. Demgegenüber hat Jesus selbst seine Selbstauslegung ganz offensichtlich zu keinem Zeitpunkt in vergleichbarer Weise begrifflich fixiert. Es ist aber auch kein Text überliefert, aus dem hervorginge, dass er dieser Rollenzuschreibung widersprochen hätte. Dass sie nach Ostern zur bevorzugten Weise wurde, von Jesus zu reden (Paulus schreibt häufiger „Christus“ als „Jesus“), hat
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3. „Gesalbter“ („Messias“, „Christus“)
seinen Grund im Glauben an die Auferstehung Jesu. Im Zentrum dieses Glaubens stand die Gewissheit, dass Gott Jesus von Nazaret und seine Verkündigung nachträglich ins Recht gesetzt und damit auch die Annahme all derer bestätigt hat, die Jesus für Gottes „Gesalbten“ gehalten hatten, der seine Botschaft in der Vollmacht und im Auftrag Gottes ausgerichtet hat. Die Verankerung der Gesalbten-Bezeichnung Jesu in der eschatologischen Erwartung des frühen Judentums weist aber auch noch in eine andere Richtung. Weil das virtuelle Spektrum dieser Erwartung auch das Bild eines königlichen Herrschers einschloss, der Israel aus der Unterdrückung durch fremde Völker befreien wird, ist es nur ein kurzer Weg, der von dieser Bezeichnung aus zur Hinrichtung Jesu als „König der Juden“ durch die römische Besatzungsmacht führt (Mk 15,26).
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XIV. Jesu Wirken und Ergehen in Jerusalem
1. Zur Einführung 1.1 Dass Jesus seine Verkündigung nicht auf Galiläa beschränkt hat, sondern in Begleitung seiner Jünger nach Jerusalem gezogen ist, wo er dann den Tod fand, gehört ebenfalls zu denjenigen Elementen seines Wirkens, die historisch nicht in Zweifel gezogen werden können. Es ist auch wahrscheinlich, dass Jesus nach dem Beginn seines öffentlichen Auftretens nur ein einziges Mal in Jerusalem gewesen ist, wie es die synoptischen Evangelien berichten, und nicht mehrfach, wie es im Johannesevangelium steht. Für einen mehrmaligen Jerusalembesuch war die Zeit seines öffentlichen Wirkens wohl zu kurz.1 1.2 Wenn wir nach dem Grund für Jesu Zug nach Jerusalem fragen, bietet es sich an, ihn im Zusammenhang seiner Reich-Gottes-Verkündigung zu suchen.2 Jesus ist nicht nur mit dem Anspruch aufgetreten, dass das Heil der Gottesherrschaft dort, wo er auftritt, bereits in der Gegenwart erfahrbar ist. Er hat darüber hinaus auch erwartet, dass Gott noch selbst kommen wird, um seine bereits im Himmel bestehende Herrschaft auch auf der Erde durchzusetzen. Wir können zudem davon ausge S. dazu o. S. 40. – Diese Annahme schließt natürlich nicht aus, dass Jesus vor dem Beginn seines öffentlichen Auftretens in Jerusalem war. Vielleicht hat er sogar dort von Johannes dem Täufer gehört und ihn dann von Jerusalem aus aufgesucht. 2 Zum Folgenden s. o. S. 104 f. 1
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XIV. Jesu Wirken und Ergehen in Jerusalem
hen, dass Jesus mit der eschatologischen Hoffnung des frühen Judentums auch gewusst hat, dass diese Endtheophanie nirgendwo anders stattfinden wird als im Tempel von Zion-Jerusalem, den Gott sich als seine irdische Residenz erwählt hat.3 Vor diesem Hintergrund ist es darum sehr wahrscheinlich, dass Jesus von dieser Erwartung nach Jerusalem geführt wurde. Er hat mit seinem Zug nach Jerusalem darum nicht so etwas wie „die letzte Entscheidung“ im Sinne eines finalen Showdown zwischen sich und seinen Gegnern gesucht4 – als ob sie vertagt würde, wenn er in Galiläa bliebe, oder als ob es überhaupt etwas ergebnisoffen zu „entscheiden“ gäbe. Dass die Entscheidung vielmehr längst gefallen war, weiß Jesus, seitdem er den Satan aus dem Himmel stürzen sah (Lk 10,18).5 Und dass er der Meinung war, er selbst könne das Kommen Gottes durch seinen Zug nach Jerusalem herbeiführen oder auch nur beschleunigen, wird man nicht ernsthaft behaupten können. Gott kommt nicht, weil Jesus nach Jerusalem zieht, sondern er kommt auf jeden Fall. Und weil Jesus erwartet, dass Gott in Jerusalem vom Himmel auf die Erde herabkommt, zieht auch er dorthin.6 Es gibt auch keinen Text, der mit einiger Wahrscheinlichkeit auf Jesus zurückgeführt werden kann, aus dem hervorginge, dass er für sich selbst eine besondere Rolle beim Kommen Gottes oder im Reich Gottes beansprucht hätte. 1.3 Von Jesu Einzug nach Jerusalem wird sowohl in den synoptischen Evangelien als auch im Johannesevange Vgl. dazu die einschlägigen Texte o. S. 105. So z. B. Bornkamm, Jesus, 142f; Gräßer, Naherwartung, 95. 5 S. dazu o. S. 108–112. 6 Das spricht auch gegen die bisweilen vertretene These, Jesus sei nach Jerusalem gezogen, „einzig um dort zu sterben“ (Schweitzer, Geschichte, 444 f; s. auch Luz, Exegetische Aufsätze, 140–148). 3 4
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1. Zur Einführung
lium berichtet.7 Der Hauptunterschied zwischen der markinischen und der johanneischen Fassung besteht darin, wie die Jerusalemer Bevölkerung an diesem Geschehen Anteil nimmt: Nach Joh 12,12–13 zieht „die große Menge“ der Festpilger, die zum Passafest nach Jerusalem gekommen waren, Jesus entgegen und geleitet ihn wie einen Herrscher in die Stadt. Dabei schwenken sie Palmzweige und rufen: Joh 12,13: Hosanna! Gepriesen sei der Kommende im Namen des Herrn8, der König Israels!
Demgegenüber ist es in Mk 11,8–10 die Gruppe der Pilger selbst, die psalmodierend zusammen mit Jesus in die Stadt einzieht. Ihr Ruf ist nur zum Teil derselbe wie bei Johannes: Mk 11,9–10: (9) Hosanna! Gepriesen sei der Kommende im Namen des Herrn! (10) Gepriesen sei die kommende Herrschaft unseres Vaters David! Hosanna in der Höhe!
Von Seiten der Jerusalemer Bevölkerung und der anderen, bereits in der Stadt befindlichen Festpilger bleibt Jesu Einzug bei Markus gänzlich unbeachtet. Er endet auch merkwürdig antiklimaktisch (Mk 11,11): Jesus geht in den Tempel, schaut sich dort um und zieht sich am Abend mit den Zwölf wieder nach Bethanien zurück, das auf der Jerusalem abgewandten Seite des Ölbergs liegt. Die markinische Darstellung vermittelt den Eindruck, dass Jesu und seiner Jünger Einzug nach Jerusalem kein großes Aufsehen erregt hat und irgendwie ins Leere ging. Mk 11,1–10 sowie dann Lk 19,29–40 und Mt 21,1–11; Joh 12, 12–15. 8 Bis hierher stammt der Ausruf aus Ps 118,25–26. Der hebräische Ausruf hōsch(ī)ʽā náʼ bedeutet ursprünglich „hilf doch!“. Das Verb hat dieselbe Wurzel wie J ehōschúʽa, der hebräische Name Jesu (s. o. S. 53). 7
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XIV. Jesu Wirken und Ergehen in Jerusalem
Von den beiden Einzugsgeschichten ist es wohl die des Markusevangeliums, die dem historischen Ablauf am nächsten kommt – freilich unter Abzug mindestens von V. 10, wo Jesus als Messiaskönig begrüßt wird, der als Herrscher nach Jerusalem kommt, um die davi dische Dynastie wieder zu etablieren.9 Jesus hat seinen Einzug nach Jerusalem sicher nicht mit der Erwartung verbunden, dass er selbst es ist, der Jerusalem nun von der römischen Fremdherrschaft befreien und die Stadt wieder in ihren alten Status einsetzen wird. Die Erwartung, die sich mit seinem Einzug verband, bestand vielmehr darin, dass Gott selbst in Kürze kommen und mit der Herrschaft über die gesamte Schöpfung auch die Herrschaft über sein Volk übernehmen wird. Auch dass Jesus auf ein Eselsfohlen gesetzt wird, um in die Stadt einzureiten, dürfte der Erzählung erst nachträglich aus Sach 9,9 zugewachsen sein. Dieses Detail will Jesus mit solchen Attributen ausstatten, die ihn als Messiaskönig kennzeichnen. 1.4 Das Markusevangelium gliedert Jesu Wirken und Geschick in Jerusalem in zwei Zeiträume von jeweils drei Tagen, die nicht miteinander verbunden sind: Zunächst erzählt Markus, dass Jesus an jedem der drei ersten Tage in den Tempel geht und ihn wieder verlässt (Tag 1: Mk 11,11; Tag 2: 11,12.19; Tag 3: 11,20 und 13,1). Als er am dritten Tag letztmals aus dem Heiligtum herausgeht, kündigt er dessen Zerstörung an (13,2). In 13,3–37 folgt dann noch eine Rede, die Jesus auf dem Ölberg hält; ihre Hörer sind dieselben vier Jünger, die er in Mk 1,16–20 als erste in seine Nachfolge berufen hat. In Mk 14,1 beginnt eine neue Tagezählung, die nicht an die vorangegangene anknüpft, sondern vom bevorstehenden Passa- und Mazzotfest aus zurückrechnet. S. dazu auch o. S. 268.
9
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2. „Tempelaktion“ und „Tempelwort“
Wir haben hier also einen erzählerischen Neueinsatz. Die Reihe der Ereignisse, die hier beginnt, umfasst ebenfalls einen Zeitraum von drei Tagen und endet mit Jesu Tod und Begräbnis: Mk 14,1–11 (13. Nisan) und 14, 12–72 (14. Nisan) und 15,1–47 (15. Nisan). In jedem dieser beiden dreitägigen Zeiträume, die zweifellos erst von Markus geschaffen wurden, gibt es ein Ereignis, das hier zu besprechen ist: zum einen Jesu sog. „Tempelaktion“ und sein „Tempelwort“ (Abschn. 2) sowie zum anderen Jesu letztes Mahl mit seinen Jüngern (Abschn. 3).
2. „Tempelaktion“ und „Tempelwort“ In Mk 11,15b–16 (s. auch Joh 2,14–16) wird von einer Aktion Jesu erzählt, die aus drei Teilen bestand: Jesus vertrieb die Verkäufer und Käufer aus der Tempelanlage (Mk 11,15b), er stieß die Tische der Geldwechsler sowie die Stände der Taubenhändler um (Mk 11,15c), und er ließ nicht zu, dass jemand ein „Gerät“ durch das Tempelareal trug (Mk 11,16). Die ersten beiden Teile dieser Beschreibung gehören zusammen. Demgegenüber hat der dritte Teil, der bei Johannes fehlt, ganz offensichtlich eine davon zu unterscheidende Handlung im Blick. Sie wird von Markus mit den ersten beiden Teilen zu einer einzigen Aktion zusammengezogen.10 In Mk 11,17 ist ein Kommentarwort angeschlossen: „Steht nicht geschrieben ‚Mein Haus soll ein Haus des Gebets heißen für alle Völker‘? Ihr aber habt es zu einer Räuberhöhle gemacht.“ Es ist aus Jes 56,7 und Jer 7,11 zusammengesetzt und legitimiert die nachöster liche Situation des opferlosen Gottesdienstes unter Einschluss der Heiden und ist Jesus erst nachträglich in den Mund gelegt worden. In Joh 2,16 sagt Jesus stattdessen: „Macht nicht das Haus meines Vaters zu einem Kaufhaus!“ 10
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XIV. Jesu Wirken und Ergehen in Jerusalem
Mit den ersten beiden Teilen von Jesu Tempelaktion war wohl auch das sog. „Tempelwort“ verbunden, das den Abbruch und den Wiederaufbau des Tempels innerhalb von drei Tagen ankündigt (Mk 14,58 und Joh 2,19).11 Das Wort ist bei Markus und bei Johannes in zwei unterschiedlichen Fassungen überliefert: Mk 14,58: Ich werde diesen von Händen gemachten Tempel zerstören und innerhalb von drei Tagen einen anderen, nicht von Händen gemachten errichten. Joh 2,19: Brecht diesen Tempel ab, und in drei Tagen richte ich ihn auf.
Dass Jesus mit diesem Wort von einer realen Zerstörung und einem realen Wiederaufbau der baulichen Tempelanlage in Jerusalem sprechen wollte, ist mehr als unwahrscheinlich. Er spricht nicht von einer Zerstörung, die von derselben Art wäre wie diejenige, die die Römer im Jahr 70 n. Chr. vorgenommen haben. Wenn Jesus „dieser Tempel“ sagt, so meint er damit in metonymischer Weise vielmehr den in ihm durchgeführten Kultbetrieb, den er in kürzester Frist durch eine andere Gestalt des Kultes ersetzen will. Dieser Ankündigung entsprechen die beiden ersten Teile der in Mk 11,15b–16 geschilderten Tempelaktion. Sie spielte sich im äußeren Vorhof ab, aller Wahrscheinlichkeit nach im Eingangsbereich, d. h. in oder vor der sog. „königlichen Säulenhalle“, die das Tempelgelände nach Süden hin ab-
Das in Mk 13,2 überlieferte Tempelwort Jesu („Siehst du diese großen Gebäude? Kein Stein wird hier auf dem anderen gelassen, der nicht zerstört wird“) hat einen seiner Jünger als Adressaten und bezieht sich auf die bereits erfolgte oder unmittelbar bevorstehende Zerstörung des Tempels im Jahre 70 n. Chr. Es ist darum nicht jesuanisch. Zudem unterscheidet es sich so eklatant von Mk 14,58 und Joh 2,19, dass ein gemeinsamer Ursprung der beiden Worte nicht angenommen werden kann. 11
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2. „Tempelaktion“ und „Tempelwort“
schloss.12 Dies war ganz offensichtlich der Ort, an dem die Tauben, die Opfertiere der kleinen Leute (Lev 5,7; 14,22), zum Kauf angeboten wurden.13 Ebenso konnten hier die umlaufenden Münzen in tyrische Schekel getauscht werden, die als einzige Währung am Tempel zugelassen waren. Mit ihnen wurde die Tempelsteuer entrichtet (vgl. Mt 17,24), und nur mit ihnen konnten wohl auch die Opfertiere gekauft und Spenden geleistet werden. Die Taubenverkäufer und Geldwechsler versahen darum Aufgaben, die für die Durchführung des Opferkultes im Tempel unerlässlich waren. Dementsprechend will Jesus nicht kultfremde Auswüchse und Missstände beseitigen, sondern er stellte nicht weniger als die Institution des Kultbetriebs im Jerusalemer Tempel selbst in Frage. Die Aktion Jesu bekommt eine profilierte theologische Bedeutung, wenn wir sie in den Kontext seiner Verkündigung der Königsherrschaft Gottes stellen und sie dabei mit jenem Aspekt verknüpfen, der auch dafür verantwortlich war, dass er mit seinen Jüngern überhaupt nach Jerusalem gezogen ist: die Erwartung, dass die Durchsetzung von Gottes universaler königlicher Herrschaft damit einhergehen wird, dass Gott selbst im Tempel von Zion-Jerusalem erscheinen und von ihm aus seine ewige Herrschaft über die gesamte Schöpfung ausüben wird. Dementsprechend will Jesus mit seiner Aktion und ihrer Deutung durch das Tempelwort ankündigen, dass der bisherige Kultbetrieb am Jerusalemer Heiligtum mit seiner Funktion des distanzüberwindenden Brückenschlags zwischen dem transzendenten Gott und seinem Volk an sein Ende gekommen ist, weil
Vgl. Karte 3 u. S. 315. Die größeren Opfertiere, also Rinder, Ziegen und Schafe, wurden anderswo in der Stadt verkauft. 12 13
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XIV. Jesu Wirken und Ergehen in Jerusalem
der Tempel als Ort der unmittelbaren Anwesenheit Gottes demnächst eine ganz neue Funktion erhalten wird. Dass zwischen Jesu Tempelaktion und seiner Verkün digung vom Anbruch der Königsherrschaft Gottes ein Zusammenhang besteht, geht auch aus dem Schluss des Sacharja-Buches hervor, der die Zustände beschreibt, die in Jerusalem und Juda herrschen, nachdem Gott seine universale Königsherrschaft etabliert hat.14 Der Text endet mit einer Ankündigung, die eine Brücke zu Jesu Tempelaktion schlägt: Sach 14,20–21: (20) An jenem Tag wird auf den Schellen der Pferde stehen: „Heilig für JHWH“. Und die Töpfe im Haus JHWHs werden wie die Opferschalen vor dem Altar sein; (21) und jeder Topf in Jerusalem und in Juda wird für JHWH Zebaot heilig sein; und alle Opfernden werden kommen und von ihnen nehmen und darin kochen. An jenem Tag wird es keinen Händler mehr geben im Hause JHWH Zebaots.
Dieser Text erwartet von der Königsherrschaft Gottes, dass mit ihr Gottes Heiligkeit in seinem Volk unmittelbare Präsenz gewinnt und es darum zur Aufrechterhaltung und Wiederherstellung der Heiligkeit des Gottesvolkes keines Opferkultes mehr bedarf. Gottes Heiligkeit wird sein ganzes Volk durchdringen. Vom letzten Satz des zitierten Textes her kann man Jesu Tempelaktion darum so verstehen, dass er mit ihr ein Stück der Realität von Gottes Herrschaft antizipieren wollte, um so den Tempel auf das Kommen Gottes vorzubereiten. In denselben Zusammenhang lässt sich auch der dritte Teil von Jesu Tempelaktion einordnen, von dem nur in Mk 11,16 berichtet wird: Jesus wollte verhindern, dass jemand ein „Gerät“ durch die Tempelanlage trug. Dieser Teil von Jesu Tempelaktion lässt sich nicht mit der Örtlichkeit der beiden ersten Teile in Verbindung bringen, 14
Vgl. dazu auch o. S. 102 f.
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3. Das letzte Mahl
sondern muss sich anderswo auf dem Tempelgelände abgespielt haben. Aller Wahrscheinlichkeit nach hat er mit der Lage und der Größe des Tempelareals zu tun, das eine Grundfläche von ungefähr 140.000 m2 umfasste.15 Statt zeit- und kraftraubend außen herum zu gehen, wenn man größere Gerätschaften, Gefäße oder Werkzeuge von einer Seite zur anderen transportieren wollte, war es bequemer, eine Abkürzung zu nehmen und die zu transportierenden Gegenstände quer über das Tempelgelände zu tragen. Wenn man eine solche Praxis aus einer religiösen Perspektive beurteilt, kann sie natürlich auch als missbräuchliche Indienstnahme eines heiligen Ortes für profane Zwecke gelten. Natürlich konnte Jesus diese Praxis nicht flächendeckend unterbinden; es reicht aber schon, das er dies punktuell und exemplarisch versucht hat. In jedem Fall ist es aber möglich, auch diesen Teil von Jesu Tempelaktion von seiner eschatologischen Erwartung her zu erklären: Im Blick auf das bevorstehende Kommen Gottes hat Jesus mit diesem Teil seiner Tempelaktion das Ziel verfolgt, der Profanierung des Tempels im Blick darauf ein Ende zu machen, dass eben hier Gottes Heiligkeit demnächst in Israel unmittelbare Präsenz gewinnen wird.
3. Das letzte Mahl Sowohl in den synoptischen Evangelien als auch im Johannesevangelium wird erzählt, dass Jesus am Vorabend seines Todes zusammen mit dem Zwölferkreis (so jedenfalls Mk 14,17) eine gemeinsame Mahlzeit gefeiert Die Länge der Umfassungsmauern betrug im Osten 470 m, im Süden 280 m, im Westen 488 m und im Norden 315 m (nach Ådna, Tempel, 3 f). Das entspricht der Fläche von ca. 20 Fußballfeldern. 15
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XIV. Jesu Wirken und Ergehen in Jerusalem
hat.16 Aller Wahrscheinlichkeit nach hat es sich dabei um ein Passamahl gehandelt, wie es der Darstellung der Synoptiker im Unterschied zu derjenigen des Johannes evangeliums entspricht.17 Darüber hinaus unterscheiden sich die drei synoptischen Evangelien auch dadurch vom Johannesevangelium, dass Jesus nur in ihnen Deuteworte über Brot und Kelch spricht.18 Alle vier Erzählungen haben miteinander gemeinsam, dass sie Jesus die Rolle des Gastgebers zuschreiben: Er bricht das Brot und spricht den Segen über Brot und Wein. Jeweils danach verteilt er beides unter die Mahlteilnehmer. Bei der Wiedergabe der Worte Jesu unterscheiden sich die vier Fassungen freilich sehr stark voneinander; nicht zwei von ihnen stimmen vollständig miteinander überein. Eine gewisse Zusammengehörigkeit kann man lediglich für die paulinische und die lukanische Fassung auf der einen Seite sowie für die markinische und die matthäische Fassung auf der anderen Seite feststellen.19 Die intensive Erforschung der Überlieferungsgeschichte der sog. „Deuteworte“ in den letzten Jahrzehnten hat zu dem Ergebnis geführt, dass sie ihren Ursprung nicht in der historischen Situation des letzten Mahles selbst haben. Sie sind vielmehr erst nach Ostern entstanden und Jesus nachträglich in den Mund gelegt worden, um auf diese Weise die urchristliche Mahl praxis in der Situation seines Abschieds zu verankern und mit seinem Tod zu verknüpfen. Ein ebenso großer Konsens besteht aber auch darin, dass eines der im Zusammenhang mit dem letzten Mahl gesprochenen Worte tatsächlich auf Jesus zurückgeht Vgl. Mk 14,12–25; Mt 26,17–30; Lk 22,7–23; Joh 13,1–30. Zur Begründung s. o. S. 61 f. 18 Mk 14,22.24; Mt 26,26.28; Lk 22,19.20. Eine vierte Fassung gibt es auch noch in 1Kor 11,24.25. 19 Vgl. dazu die Übersicht u. S. 316. 16 17
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3. Das letzte Mahl
und von ihm in der Situation des letzten Mahles gesprochen wurde. Mk 14,25: Amen, ich sage euch: Niemals mehr werde ich vom Gewächs des Weinstocks trinken bis zu jenem Tag, wenn ich es aufs Neue trinken werde im Reich Gottes.
Mit der Rede vom Reich Gottes kehrt in diesem Wort nicht nur ein zentrales Motiv der Verkündigung Jesu wieder, sondern auch der Ausdruck „Frucht des Weinstocks“ statt „Wein“ passt sehr genau in die erzählte Situation. Es handelt sich um diejenige Formulierung, die bei jüdischen Mahlzeiten im Segenswort über dem Wein benutzt wurde.20 Der Form nach handelt es sich bei dieser Ankündigung um ein befristetes Enthaltsamkeitsgelübde, das inhaltlich nichts anderes besagt, als dass Jesus ankündigt, seinen nächsten Wein erst wieder im Reich Gottes trinken zu wollen. „Im Reich Gottes“ bedeutet dabei: „nachdem Gott seine Herrschaft über die gesamte Schöpfung etabliert hat“. Damit geht aus Mk 14,25 hervor, dass Jesus auch zu diesem Zeitpunkt noch erwartet hat, dass Gott demnächst kommen und seine universale Herrschaft auch auf Erden aufrichten wird. Alles andere muss offen bleiben. Weder lässt sich auf Grund dieses Wortes mit Sicherheit sagen, dass Jesus mitgetrunken hat und nun zu verstehen gibt, bis zum Kommen der Gottesherrschaft sei dies sein letzter Schluck Wein gewesen, noch dass er nicht mitgetrunken hat und sein Verhalten mit einer Erklärung versieht. Auch dass Jesus mit diesem Wort seinen Tod ankündigt und von den Jüngern Abschied nimmt, geht Vgl. mBerak 6,1: „Welchen Segensspruch spricht man über Früchte? … über den Wein sagt man: ‚… der die Frucht des Weinstocks erschuf‘“; in der Passa-Liturgie lautet das Segenswort: „Gepriesen seist Du, Ewiger, unser Gott, Herr der Welt, der die Frucht des Weinstocks erschuf“; ebenso Dtn 22,9; Jes 32,12; 65,21; Ps. Philo, Lib. Ant. 42,3. 20
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XIV. Jesu Wirken und Ergehen in Jerusalem
aus ihm nicht hervor. Ebenso wenig gibt es in der Überlieferung von Jesu letztem Mahl mit den Jüngern einen Text, der sich Jesus selbst zuweisen ließe und aus dem hervorginge, dass er bei dieser Gelegenheit seine Jünger angewiesen hätte, nach seinem Tode und in Erinnerung an ihn regelmäßig eine gemeinsame Mahlzeit zu feiern. Die gemeinsamen Mahlzeiten, die bereits in der Urgemeinde gefeiert wurden (Apg 2,42.46) und die dann auch in den paulinischen Gemeinden zum Bestandteil einer jeden gottesdienstlichen Versammlung geworden sind, haben ihre Wurzel darum nicht im letzten Mahl Jesu, sondern mit ihnen werden die Festmahle des irdischen Jesus fortgeführt, mit denen Jesus die durch ihn gegebene Anwesenheit von Gottes eschatologischem Heil unter den Menschen gefeiert hat.21
4. Verhaftung, Prozess und Tod Noch an demselben Abend wird Jesus festgenommen, und bereits am nächsten Tag, nach der Darstellung aller vier Evangelien ein Freitag, wird er hingerichtet. Den Ablauf und den Zusammenhang der Ereignisse zwischen der Verhaftung und dem Tod Jesu können wir am besten verstehen, wenn wir am Ende beginnen und von dort aus zurückgehen. 4.1 Jesu Kreuzigung als römische Strafe 4.1.1 Jesus von Nazaret wurde von Pontius Pilatus, der in den Jahren 26–36 römischer Statthalter von Judäa war, zum Tod am Kreuz verurteilt, und es waren dann römische Soldaten, die dieses Urteil vollstreckt S. dazu o. S. 156–160.
21
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4. Verhaftung, Prozess und Tod
haben. Auch hierbei handelt es sich um ein Ereignis im Leben Jesu von Nazaret, das als historisch gesichert gelten kann. Von ihm berichten nicht nur die Evangelien, sondern auch Josephus (Ant. 18,64) und Tacitus (Annalen 15,44,3)22. Die vier kanonischen Evangelien geben ihren Berichten vom Zustandekommen des Todesurteils freilich eine Einfärbung, die historisch ganz unwahrscheinlich ist. Ihren Darstellungen zufolge findet Pilatus an Jesu Tun nichts, was mit dem Tode bestraft werden müsste.23 Es seien vielmehr die Jerusalemer Juden gewesen, die für den Tod Jesu verantwortlich waren. Pilatus sei von ihnen unter Druck gesetzt und genötigt worden, gegen seine eigene Überzeugung Jesus hinrichten zu lassen.24 Darüber hinaus scheinen Lk 23,25b–34 und Joh 19, 16–18 sogar den Eindruck erwecken zu wollen, dass das Todesurteil von den an seinem Zustandekommen beteiligten Juden selbst vollstreckt wurde. Neben dieser Einfärbung enthalten die Darstellungen der Evangelien aber auch eine ausreichende Zahl von historisch belastbaren Informationen, die uns zumindest in Grundzügen Einblick in die Umstände und Ereignisse vermitteln, die mit der Verurteilung und Hinrichtung Jesu einhergingen. 4.1.2 Für die Gewissheit, dass Verurteilung und Hinrichtung Jesu Resultate eines Verfahrens waren, die von einer römischen Wahrnehmung Jesu bestimmt waren, lassen sich gleich mehrere Indizien anführen: An erster Stelle zu nennen ist die Tatsache, dass Jesus gekreuzigt wurde. Dieser Sachverhalt belegt die römische S. o. S. 45.49. Mk 15,10.14a; Mt 27,18.23; Lk 23,4.14–16.20.22; Joh 18,38; 19,4.6.12. 24 Mk 15,6–15; Mt 27,15–26; Lk 23,1–5.13–25; Joh 18,28–19,16. 22 23
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XIV. Jesu Wirken und Ergehen in Jerusalem
Verantwortlichkeit für die Hinrichtung Jesu, denn die Kreuzigung ist in der frühen Kaiserzeit nur als römische Hinrichtungsmethode nachgewiesen. In den von Rom beherrschten Provinzen wurde sie bevorzugt gegen Menschen eingesetzt, die von den Römern für Anführer und Sympathisanten von Aufstandsbewegungen gehalten wurden. In diesem Sinne gehören alle Kreuzigungen, die in der Zeit der römischen Herrschaft in Judäa bis zum Ausbruch des Jüdischen Krieges (63 v. Chr. – 66 n. Chr.) literarisch bezeugt sind25, in den Kontext der Unterdrückung von Bewegungen, die von der römischen Besatzungsmacht als Bedrohung ihrer Herrschaft angesehen wurden. Auch die in Mk 15,15 und Mt 27,26 erwähnte Geißelung ist als römische Begleitstrafe, die der Vollstreckung von Todesurteilen vorausging, häufig belegt. Wäre Jesus nach jüdischem Recht zum Tode verurteilt und hingerichtet worden, hätte man ihn nicht gekreuzigt, sondern gesteinigt.26 Ein weiteres Indiz dafür, dass Jesus durch die römische Besatzungsmacht zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde, ist der sog. titulus crucis, d. h. die Tafel, die Pilatus nach Mk 15,26 und Joh 19,19 am Kreuz anbringen ließ und die die Aufschrift enthielt, dass Jesus als „König der Juden“ hingerichtet wird. In Erzählungen von römischen Hinrichtungen wird die Praxis, den Grund der Hinrichtung auf einer Tafel öffentlich zu machen, nur sehr selten erwähnt.27 Sie war darum lediglich möglich, ganz offensichtlich aber nicht bei jeder Hinrichtung üblich. Gerade dieser Sachverhalt spricht aber dafür, dass die Erwähnung des titulus in den Evan Vgl. u. a. H.-W. Kuhn, TRE 19 (1990) 714–715. Dies berichtet der oben zitierte Text aus dem babylonischen Talmud (bSanh 43a); s. o. S. 48. 27 Bei Sueton, Leben der Caesaren, Caligula 32,2 und Domitian 10,1; Cassius Dio, Römische Geschichte 54,3,7; Eusebius, Kirchengeschichte 5,1,44. 25 26
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4. Verhaftung, Prozess und Tod
gelien nicht als Bestandteil einer gängigen Praxis zur Kreuzigung Jesu hinzugedichtet wurde, sondern auf zuverlässiger Erinnerung an einen individuellen historischen Vorgang basiert. Zu ihm gehörte auch der in den synoptischen Evangelien und bei Johannes übereinstimmend überlieferte Wortlaut des titulus. Die Bezeichnung Jesu als „König der Juden“ ist weder aus aktueller jüdischer noch aus späterer christlicher Sicht erklärbar, sondern kann einzig und allein die römische Außenperspektive wiedergeben. Sie formuliert einen dezidiert politischen Straftatbestand, denn „‚König‘ durfte sich bei Todesstrafe nur derjenige nennen, der vom Princeps höchstpersönlich die Erlaubnis zur Führung dieses Titels erhalten hatte“28. Diese Bezeichnung will aber nicht nur den Grund für die Verurteilung angeben. Sie will vielmehr auch den am Kreuz hängenden Jesus und vor allem die Juden verhöhnen, indem sie jedem, der die Aufschrift liest, vor Augen führt: „Seht, einen solchen König haben die Juden!“. Darüber hinaus ist die römische Verantwortlichkeit für Jesu Hinrichtung auch darum wahrscheinlich, weil das Recht, Todesurteile zu vollstrecken, in der Provinz Judäa (und wohl auch in anderen Provinzen) ausschließlich dem jeweiligen römischen Statthalter vorbehalten war. Sie war im Jahre 6 n. Chr., als Judäa in eine römische Provinz umgewandelt wurde, dem eingesetzten Statthalter von Kaiser Augustus ad personam verliehen worden, und es gibt gute Gründe für die Annahme, dass dieses Mandat bei jedem Statthalterwechsel explizit erneuert wurde. Wenn die Hohepriester in Joh 18,31 Pilatus’ Vorschlag, Jesus nach der Tora zu verurteilen, mit der Auskunft beantworten: „Uns ist es nicht erlaubt, jemanden zu töten“, so kann man davon
28
Paulus, Prozess, 27.
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ausgehen, dass mit diesen Worten die geltende Rechtslage zutreffend wiedergegeben wird.29 4.1.3 Zusammenfassend kann man sagen, dass wir in Jesu Hinrichtung durch die römische Besatzungsmacht eine Maßnahme zur Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung in einer als unruhig geltenden Provinz sehen können. Mit der Verurteilung Jesu zum Tod am Kreuz handelte Pilatus in Wahrnehmung seines Auftrags als römischer Statthalter in Judäa, jeder Gefährdung der pax Romana in seinem Zuständigkeitsbereich kompromisslos entgegenzutreten. Die Hinrichtung Jesu am Kreuz macht es wahrscheinlich, dass Jesus in römischen Augen als Anführer einer jüdischen Aufstandsbewegung galt, der sich zum Ziel gesetzt hatte, die römische Herrschaft in Judäa zu beseitigen und selbst die Macht zu übernehmen. Damit waren nach römischem Recht die Straftatbestände der seditio („Aufruhr“) oder der perduellio („Landfriedensbruch“, „Hochverrat“) gegeben, die – zumal wenn sie einem Provinzialen, der kein römischer Bürger war, nachgewiesen werden konnten – als crimen laesae maiestatis populi Romani („Verbrechen der Verletzung der Hoheit des römischen Volkes“) mit dem Tod zu bestrafen waren. Mit der Kreuzigung Jesu handelte Pilatus darum in Ausübung seiner statthalterlichen coercitio, d. h. seiner ihm übertragenen Befugnis, alle Maßnahmen treffen zu dürfen und zu müssen, die zur Sicherung der römischen Herrschaft in den Provinzen erforderlich waren. Die Steinigung des Stephanus (Apg 7,54–60) widerspricht dem nicht, denn sie war ein Akt von Lynchjustiz und nicht die Vollstreckung einer Todesstrafe nach einem Strafverfahren. Auch die Tafel im Jerusalemer Tempel, die jeden Nichtjuden mit dem Tod bedroht, der den Vorhof der Israeliten betritt, beansprucht ein Lynchrecht, das offenbar von den Römern toleriert wurde (deutsche Übersetzung: Schröter/Zangenberg, Texte, 469). 29
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4. Verhaftung, Prozess und Tod
Aus der Art und Weise sowie den Begleitumständen der Hinrichtung Jesu lässt sich aber auch die Schlussfolgerung ziehen, dass ihr eine Untersuchung vorausgegangen ist, mit der Pilatus sich ein Bild von Jesus und dessen Vergehen verschafft hat und die ihn zu der Entscheidung führte, Jesus kreuzigen zu lassen. 4.2 Der römische Prozess Pilatus hat die Untersuchung in Anwesenheit Jesu vorgenommen, der ihm in Fesseln (Mk 15,1; Mt 27,2) vorgeführt wurde. Sie muss aus drei Elementen bestanden haben: einer Anklage, einer Befragung und einer Entscheidung. Die Entscheidung (das Urteil) war Thema des vorangegangenen Abschnitts. Hier soll es darum nur um die beiden anderen Elemente gehen. Für Pilatus war das Verfahren gegen Jesus ein Verfahren „gegen einen Provinzbewohner ohne römisches Bürgerrecht. Für solche Verfahren gab es selbstverständlich keine kodifizierte Strafprozessordnung oder ein Strafgesetzbuch.“30 4.2.1 Wenn Jesus gekreuzigt wurde, weil Pilatus in ihm den Anführer einer Aufstandsbewegung sah, der sich zum Herrscher („König“) machen wollte, ist damit zu rechnen, dass dieser Straftatbestand auch in der Befragung, der Jesus von Pilatus unterzogen wurde, eine Rolle gespielt hat. Und in der Tat wird Jesus in den Berichten aller vier Evangelien von Pilatus gefragt, ob er „der König der Juden“ sei.31 Die in allen Evangelien erzählte Antwort Jesu – sie lautet überall gleich: sy légeis („du sagst [es]“ oder „[das] sagst du“) – ist freilich uneindeutig. Außerdem hat Jesus dem in lateinischer Sprache fragenden Pilatus sicher nicht auf Griechisch Knothe, Prozess, 78. Mk 15,2; Mt 27,11; Lk 23,3; Joh 18,33.
30 31
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geantwortet. Wir wissen darum nicht, was Jesus zum Präfekten gesagt hat. Historisch ganz unwahrscheinlich ist darüber hinaus, wie die Evangelien Pilatus auf Jesu bestätigende Antwort reagieren lassen (er findet daran nichts Schlimmes und will Jesus freilassen), denn aus dem titulus crucis geht mit aller Deutlichkeit hervor, dass gerade dieser Vorwurf der Grund für Jesu Hinrichtung war.32 In den Schilderungen der Pilatus-Szene bei Johannes und Lukas wird der Vorwurf, Jesus halte sich für einen „König“, den Anklägern in den Mund gelegt; Lk 23,2 verbindet ihn sogar mit dem Vorwurf des Aufruhrs (der seditio): „Wir halten den hier für einen, der unser Volk aufhetzt“ (s. auch Joh 19,12). Demgegenüber wird die Anklage in Mk 15,3 und Mt 27,12 inhaltlich nicht konkretisiert. Was sich aber gut in eine Befragung einfügt, an deren Ende der Angeklagte zum Tode verurteilt wird, ist die Mitteilung, dass Jesus sich gegen die Anschuldigungen nicht verteidigt, sondern schweigt.33 Anders als im heutigen Strafprozessrecht galt im römischen Recht der Kaiserzeit der Grundsatz: silentium videtur confessio („Schweigen sieht wie ein Geständnis aus“; Seneca d. Ä., Controversiae 10,2,6). Wenn ein Angeklagter auf die gegen ihn erhobene Beschuldigung mit Schweigen reagierte, so galt dies „als die gleichsam passive Form“ eines Geständnisses34, die auf jeden Fall einen Schuldspruch rechtfertigte. Ein Sonderproblem stellt die Barabbas-Episode dar. Die in Mk 15,6; Mt 27,15; Lk 23,17; Joh 18,39 erwähnte „Passa-Amnestie“ ist sonst nirgends bezeugt. Trotzdem wird die Episode nicht einfach frei erfunden sein. Vielleicht hält sie die Erinnerung daran fest, dass ein S. o. S. 286 f. Mk 15,3–5; Mt 27,12–14; Joh 19,9; s. auch Lk 23,9. 34 Paulus, Prozess, 32; vgl. auch Röm 3,19; Mt 22,12. 32 33
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4. Verhaftung, Prozess und Tod anderer Angeklagter, der ebenfalls Jesus hieß, zufällig bei derselben Verhandlung freigelassen wurde, bei der Jesus aus Nazaret zum Tode verurteilt wurde.35
4.2.2 Obwohl die neutestamentlichen Evangelien über das Verhör Jesu vor Pilatus im Einzelnen ganz unterschiedlich berichten, stimmen sie doch in einem wesentlichen Punkt miteinander überein: Sie alle stellen es als ein Strafverfahren dar, das nach der sog. „Akkusationsform“ ablief, weil es durch die Anklage eines Dritten in Gang gesetzt wurde. Dadurch unterschied es sich vom sog. „Inquisitions- oder Offizialverfahren“, bei dem ein Vertreter des Magistrats ex officio die Rolle des Anklägers übernahm.36 Die neutestamentlichen Berichte stimmen aber nicht nur in dieser formalen Frage überein, sondern auch darin, dass es die führenden Vertreter der jüdischen Selbstverwaltung in Jerusalem waren, die gegen Jesus vor Pilatus Anklage erhoben haben. In Mk 15,3 waren das die Hohepriester, in Mt 27,12 die Hohepriester und die Ältesten, in Lk 23,1–2 der gesamte Hohe Rat und in Joh 18,35 das Volk und die Hohepriester. Sie brachten dabei in allen Fällen Jesus als ihren Gefangenen mit und überstellten ihn Pilatus. Dass es sich hierbei in der Tat um ein historisch wahrscheinliches Szenario handelt, legt auch die Bemerkung im sog. „Testimonium Flavianum“ nahe (Jose35 Barabbas, von aramäisch Bar- ʼAbba („Sohn des Abba“), hieß sehr wahrscheinlich ebenfalls J ehōschú ʽa (also „Jesus“). Das legen einige Handschriften nahe, die in Mt 27,16.17 diesen Namen bezeugen. Warum dieser Name in der Textüberlieferung unterdrückt wurde, geht aus Origenes’ Kommentar zu dieser Stelle hervor: „In vielen Abschriften ist nicht enthalten, dass Barabbas auch ‚Jesus‘ genannt wurde, und das ist wohl richtig, damit nicht der Name Jesu mit einem der Sünder zusammenkommt“ (GCS 38,255). 36 Zu dieser Unterscheidung vgl. Mommsen, Strafrecht, 346–351.
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XIV. Jesu Wirken und Ergehen in Jerusalem
phus, Ant. 18,63–64).37 Josephus schreibt in dem Teil, der mit einiger Sicherheit nicht christlich interpoliert ist, sondern auf ihn selbst zurückgeht, dass Pilatus Jesus „auf Grund der Anzeige der vornehmsten Männer bei uns zum (Tod am) Kreuz verurteilte“. Demnach ist Jesus zwar von Pontius Pilatus zum Tod am Kreuz verurteilt worden, doch hat dieser das Verfahren, an dessen Ende das Todesurteil stand, nicht aus eigenem Antrieb eröffnet, sondern erst auf Grund einer Anklage, die von den führenden Vertretern der jüdischen Selbstverwaltung in Jerusalem bei ihm gegen Jesus erhoben wurde. Der Verlauf der Untersuchung sowie das Todesurteil mit seinen Begleitumständen machen es wahrscheinlich, dass die Anklage ungefähr so lautete, wie sie in Lk 23,2 erzählt wird: Jesus wiegele das Volk auf und wolle sich zum Herrscher aufschwingen. Dass die Anklage einen politischen Inhalt hatte, der die römischen Herrschaftsinteressen tangierte, kann darum als sicher gelten, weil der römische Präfekt Jesus sicher nicht zum Tode verurteilt hätte, wenn dessen Ankläger einen Tatbestand gegen ihn vorgebracht hätten, der lediglich von innerjüdischer Bedeutung gewesen war. Wir müssen darum noch einen weiteren Schritt zurückgehen und danach fragen, was der Anklage, die gegen Jesus vor Pilatus erhoben wurde, vorausgegangen war. 4.3 Verhaftung und jüdisches Verhör 4.3.1 Nach der Darstellung der synoptischen Evangelien wurde Jesus von jüdischen Sicherheitskräften in Gethsemane, einem im Kidrontal östlich von Jerusalem gelegenen Olivenhain, festgenommen (Mk 14,43; s. auch Mt 26,47; Lk 22,52). Demgegenüber ist es in Zu diesem Text s. o. S. 46.
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4. Verhaftung, Prozess und Tod
Joh 18,3.12 eine römische „Kohorte“, die von einem „Chiliarchen“ (Militärtribun) angeführt wird, von der Jesus verhaftet wird; „Bedienstete der Hohepriester und Pharisäer“ sind nur als Statisten dabei. Eine Kohorte besteht ungefähr aus 500 Soldaten. Gegen die Historizität der johanneischen Erzählung spricht freilich, dass Jesus im Fall seiner Verhaftung durch römische Soldaten, die zudem nur von Pilatus hätten losgeschickt werden können, sofort in römische Haft verbracht und nicht erst noch den jüdischen Autoritäten vorgeführt worden wäre. Dazu passt aber nicht die Form des Prozesses vor Pilatus als Akkusationsverfahren, die er ja auch im Johannesevangelium hat. Auch die Episode von Jesu Verleugnung durch Petrus ist an die Voraussetzung gebunden, dass Jesus sich nicht in römischer, sondern in jüdischer Hand befindet. Es gibt aus diesem Grunde keinen Anlass, daran zu zweifeln, dass die Verhaftung Jesu eine innerjüdische Angelegenheit war und ohne römische Beteiligung ablief. 4.3.2 Die sich daran anschließenden Ereignisse werden in den Evangelien unterschiedlich erzählt. Markus und Matthäus schildern einen förmlichen Prozess vor dem Hohen Rat, der auch die Befragung von Zeugen einschließt und mit einem ausdrücklichen Todesurteil endet (Mk 15,63–64 und Mt 26,57–66). Bei Lukas wird Jesus zwar ebenfalls vor den Hohen Rat geführt, jedoch nicht in unmittelbarem Anschluss an seine Verhaftung, sondern erst am darauf folgenden Tag. Darüber hinaus erzählt Lukas diese Szene nicht als ein Gerichtsverfahren, sondern als eine Befragung oder Vernehmung (Lk 22,66–71). Bei ihm treten keine Zeugen auf, und es gibt am Ende auch kein Todesurteil. Bei Johannes findet die entsprechende Szene wie bei Markus und Matthäus unmittelbar nach Jesu Verhaftung statt (Joh 18,12–14.19–24). Umgekehrt hat sie wie
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XIV. Jesu Wirken und Ergehen in Jerusalem
bei Lukas den Charakter einer Befragung oder Vernehmung, d. h. es fehlen auch bei Johannes die Zeugen und das förmliche Todesurteil. Von allen drei synoptischen Berichten unterscheidet sich die johanneische Darstellung aber vor allem dadurch, dass Jesus sich nicht vor dem Hohen Rat verantworten muss, sondern lediglich vor Hannas, dem Schwiegervater und Vorvorgänger des amtierenden Hohepriesters Kaiaphas. Letzterem wird Jesus nach dem Ende der Befragung gefesselt übergeben (Joh 18,24). Welche dieser Darstellungen kommt der historischen Wirklichkeit am nächsten? Die intensive Erörterung dieser Frage in den vergangenen Jahrzehnten hat einen kritischen Konsens etabliert, der sich in wenigen Sätzen zusammenfassen lässt: Am weitesten von den historischen Ereignissen entfernt sind demnach die Darstellungen im Markus- und im Matthäusevangelium: Es gab weder einen regelrechten Prozess, der mit einem förmlichen Todesurteil endete, noch war der Hohe Rat als solcher an dem Verfahren gegen Jesus beteiligt. Demgegenüber ist wahrscheinlich, dass Jesus lediglich innerhalb einer kleineren Gruppe von maßgeblichen Entscheidungsträgern aus dem Kreis der Jerusalemer Tempelaristokratie, die auch seine Festnahme veranlasst hatte, zu seiner Person und seinem Programm befragt wurde. Es darf vermutet werden, dass sie zwar alle dem Hohen Rat angehörten, dieser jedoch nicht förmlich zusammentrat. Die Zusammenkunft wurde mit großer Wahrscheinlichkeit vom Hohepriester geleitet, hatte aber trotzdem eher informellen Charakter. Die Befragung Jesu diente dem Zweck, sich von ihm und seinem Programm ein authentisches Bild zu verschaffen, denn – das kann mit einiger Zuversicht als wahrscheinlich gelten – die Angehörigen der Jerusalemer Führungsschicht hatten bisher zwar von Jesus gehört (und ihn auf Grund des Gehör-
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4. Verhaftung, Prozess und Tod
ten auch festnehmen lassen), doch waren sie noch nicht direkt mit ihm zusammengetroffen. Über den tatsächlichen Verlauf des Verhörs, d. h. über das, was Jesus gefragt wurde und was er antwortete, wissen wir nichts, denn keiner seiner Jünger, der davon hätte berichten können, hat an ihm teilgenommen. Zum Schluss haben sich die Männer um den Hohepriester darauf verständigt, Jesus dem römischen Präfekten Pontius Pilatus zu überstellen und ihn eines Vergehens zu beschuldigen, das ein Todesurteil nach sich ziehen musste. Dieser Umgang mit Jesus von Nazaret lässt sich gut mit einem Fall vergleichen, der sich ca. 30 Jahre später abgespielt hat. Von ihm berichtet Flavius Josephus mit den folgenden Worten (Bell. 6,300–305): Ein gewisser Jesus, Sohn des Ananias, ein ungebildeter Mann vom Lande, kam zum Laubhüttenfest in das Heiligtum und begann unvermittelt zu rufen: „Eine Stimme vom Aufgang, eine Stimme vom Untergang, eine Stimme von den vier Winden, eine Stimme über Jerusalem und den Tempel, eine Stimme über Bräutigam und Braut, eine Stimme über das ganze Volk“. So ging er in allen Straßen umher und schrie Tag und Nacht. Einige angesehene Bürger, die sich über das Unglücksgeschrei ärgerten, nahmen ihn fest und misshandelten ihn mit vielen Schlägen. Er gab keinen Laut von sich …, sondern stieß beharrlich weiter dieselben Rufe aus wie zuvor. Da glaubten die Obersten, was ja auch zutraf, dass den Mann eine übermenschliche Macht treibe, und führten ihn vor den Prokurator, den die Römer damals eingesetzt hatten. Dort wurde er bis auf die Knochen durch Peitschenhiebe zerfleischt, aber er flehte nicht und weinte auch nicht, sondern mit dem jammervollsten Ton, den er seiner Stimme geben konnte, antwortete er auf jeden Schlag: „Wehe dir, Jerusalem!“ Als aber Albinus – das war der Prokurator – fragte, wer er sei, woher er komme und weshalb er ein solches Geschrei vollführe, antwortete er darauf nicht das Geringste, sondern fuhr fort, über die Stadt zu klagen, und ließ nicht ab, bis Albinus urteilte, dass er verrückt sei, und ihn laufen ließ.
Obwohl dieser Jesus anders als Jesus von Nazaret am Ende vom römischen Präfekten das Leben geschenkt
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bekommt, sind die Parallelen in der Handhabung der beiden Fälle durch die jüdischen und die römischen Instanzen nicht zu übersehen. Der unterschiedliche Ausgang hat seinen Grund sicher in dem besonderen Charakter des Programms, das Jesus von Nazaret im Unterschied zu Jesus, dem Sohn des Ananias, vertreten hat. Möglicherweise hat auch eine Rolle gespielt, dass Jesus von Nazaret eine Schar von Anhängern um sich versammeln konnte, während Jesus, der Sohn des Ananias, ganz offensichtlich ein Einzelgänger geblieben ist. 4.4 Beweggründe und Gründe In diesem Abschnitt sind zwei Fragen zu behandeln: Die erste richtet sich auf die Motive, die die jüdischen Autoritäten dazu veranlasst haben, gegen Jesus einzuschreiten. Wenn sie ihn vor Pilatus beschuldigt haben, das Volk aufzuwiegeln und sich zum Herrscher machen zu wollen, so bedeutet dies nicht, dass es sich hierbei auch um diejenigen Gründe gehandelt hat, die seine Ankläger zu dem Entschluss geführt haben, Jesus durch die Römer aus dem Verkehr ziehen zu lassen. Darüber hinaus bedeutet es aber auch nicht, dass mit dieser Anklage Ziel und Zweck von Jesu Auftreten zutreffend erfasst sind. Wir wollen darum erst fragen: Mit welcher Begründung haben sich die maßgeblichen jüdischen Entscheidungsträger in Jerusalem darauf verständigt, gegen Jesus vorzugehen (Abschn. 4.4.1)? Die zweite Frage nimmt dann die umgekehrte Perspektive ein: Was von Jesu Reden und/oder Tun hat die jüdischen Autoritäten veranlasst, ihn vor Pilatus anzuklagen (Abschn. 4.4.2)? 4.4.1 Auf die Frage nach den Gründen, die auf der Wahrnehmung des Auftretens Jesu durch die jüdischen Autoritäten basieren, gibt es drei mögliche Antworten, die sich idealtypisch voneinander unterscheiden lassen:
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4. Verhaftung, Prozess und Tod
Für das Vorgehen gegen Jesus seien innerjüdische, religiöse Gründe maßgeblich gewesen. Es sei festgestellt worden, dass Jesus sich eines Vergehens gegen das Recht der Tora schuldig gemacht hätte und darum sterben müsse. Als denkbare Straftatbestände werden häufig „Gotteslästerung“ oder „Verführung des Volkes“ oder „Zauberei“ oder „pseudoprophetische Vermessenheit“ genannt. Vor Pilatus sei diese innerjüdische Begründung dann hinter einer politischen Anklage versteckt worden, weil Jesu Gegner davon ausgegangen seien, dass der römische Präfekt Jesus sicher nicht auf Grund eines Vergehens gegen die Rechtsordnung der Tora zum Tode verurteilen würde. Auf der anderen Seite des Spektrums befindet sich eine Interpretation, die das Handeln der jüdischen Seite von jeglicher Bestimmtheit durch innerjüdische religiöse Motive fernhalten will. Die jüdischen Autoritäten seien gegen Jesus nicht auf Grund eines theologischen Konflikts vorgegangen, sondern sie hätten einzig und allein als „‚Statthalter‘ des Statthalters …, als verlängerter Arm der Römer agiert“ und eine „ordnungspolitische“ sowie „polizeiliche“ Aufgabe im „Zusammenspiel“ mit der römischen Besatzungsmacht wahrgenommen.38 Beide Extreme sind recht unwahrscheinlich. Gegen die erstgenannte Annahme spricht, dass die Verurteilung auf Grund eines religiösen Straftatbestandes ein förmliches Gerichtsverfahren vor dem Hohen Rat vorausgesetzt hätte. Das hat es aber nicht gegeben. Darüber hinaus ist es überaus unwahrscheinlich, dass die jüdischen Autoritäten die römische Provinzverwaltung dazu benutzt hätten, einen innerjüdischen theologischen Konflikt aus der Welt zu schaffen. – Der andere Vorschlag hat gegen sich, dass er die jüdische Selbstverwaltung in Jerusalem zu Bütteln der Herrschaft Roms 38
E. W. Stegemann, Wie im …?, 35.
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herabwürdigt, deren Handlungen sich lediglich an römischen Interessen orientierten und nicht in erster Linie jüdische Belange im Auge hatten sowie auf das Wohl der jüdischen Bevölkerung ausgerichtet waren. Es spricht darum am meisten für eine dritte Möglichkeit. Sie geht davon aus, dass die jüdischen Autoritäten mit ihrer Vorgehensweise ein gut verständliches jüdisches Eigeninteresse verfolgt haben. Im Hintergrund steht das Nebeneinander von „Reichsrecht“ und „Volksrecht“ in den östlichen Provinzen des Imperium Romanum. Auch und vielleicht sogar mehr als in anderen Provinzen war es in Judäa der einheimischen Bevölkerung gestattet, ihre Verhältnisse untereinander nach ihren eigenen Rechtsordnungen und durch die überkommenen lokalen Institutionen zu regeln. Das schloss auch das Recht der Religionsausübung ein, was in Jerusalem natürlich in erster Linie den kultischen Betrieb am Tempel betraf. Die Römer mischten sich nicht nur nicht in die inneren Angelegenheiten der jüdischen Religionsausübung ein, sondern sie nahmen auch Rücksicht auf jüdische Empfindlichkeiten. Hierzu gehörte z. B., dass der römische Präfekt seinen Amtssitz nicht in Jerusalem eingerichtet hatte, sondern in Caesarea am Meer. Andererseits war aber auch klar: Diese relative Freiheit war immer nur eine Freiheit unter Vorbehalt. Der römische Statthalter konnte sie sofort militärisch beenden lassen, wenn er den Eindruck hatte, dass diese Politik der relativen Freiheit und der Rücksichtnahme auf jüdische Empfindlichkeiten zur Folge hatte, dass Ruhe und Ordnung in seinem Verantwortungsbereich in Gefahr gerieten. Es liegt darum nahe, dass es die Sorge um den Verlust dieser relativen Freiheit für die jüdische Religionsausübung war, die das Vorgehen der jüdischen Autoritäten gegen Jesus veranlasste. Sie wollten auch nicht einfach nur ihre eigene Macht sichern, sondern man darf ihnen durchaus zubilligen, dass sie
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4. Verhaftung, Prozess und Tod
die Entscheidung gegen Jesus in Wahrnehmung ihrer Verantwortung für die jüdische Bevölkerung vor allem Jerusalems, aber auch ganz Judäas getroffen haben. Von dieser Erklärung nicht weit entfernt sind die Worte, mit denen Kaiaphas nach Joh 11,50 seinen Entschluss, Jesus aus dem Verkehr zu ziehen, begründet: „Es ist für euch nützlich, dass ein einzelner Mensch für das Volk stirbt und nicht die gesamte Nation zugrunde geht“. 4.4.2 Damit stehen wir vor der letzten Frage: Wodurch hat Jesus selber den jüdischen Autoritäten in Jerusalem Anlass für diese Einschätzung seines Auftretens gegeben? Zur Beantwortung dieser Frage verweisen die meisten Autoren auf die sog. „Tempelaktion“ (Mk 11,15–16) und das sog. „Tempelwort“ Jesu (Mk 14,58; Joh 2,19), die wir im zweiten Abschnitt dieses Kapitels besprochen haben39. Angesichts der Bedeutung des Tempels und seines Kultbetriebs für das Selbstverständnis Israels liegt diese Annahme in der Tat sehr nahe. Dies gilt vor allem darum, weil sich auf Grund von Sach 14,21 ein enger Zusammenhang zwischen der Tempelaktion Jesu und seiner Verkündigung der Königsherrschaft Gottes wahrscheinlich machen ließ.40 Dieser Zusammenhang gibt darum auch der Anklage, die die jüdischen Autoritäten gegen Jesus vor Pilatus erhoben, eine plausible Grundlage. Wenn sie gegen Jesus vorbrachten, er betreibe ein Projekt, das auf die Beseitigung der römischen Herrschaft ausgerichtet ist, und schreibe sich dabei auch selbst eine tragende Rolle zu, haben sie im Prinzip nichts Unzutreffendes behauptet – mit Ausnahme lediglich, dass Jesus nicht selbst die römische Herrschaft beseitigen wollte, sondern dies einzig und allein von Gottes Kommen erwartete. 39 40
S. o. S. 277–281. S. o. S. 101–103.
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Nimmt man diesen Hintergrund von Anklage und Verurteilung ernst, wird deutlich, dass eine Trennung von religiösen und politischen Aspekten des Wirkens Jesu unmöglich ist. Nicht umsonst bedient sich die Rede von der „Königsherrschaft Gottes“ einer Metapher, die der Sinnwelt des Politischen entnommen ist. Die Feststellung, dass die „Verurteilung und Hinrichtung Jesu wegen politischer Umtriebe einen eklatanten Justizskandal darstellt“41, ist darum sicher unsachgemäß. Auch sollte man – wenn es um die historische Beurteilung der Vorgänge geht, an deren Ende Jesus am Kreuz starb – nicht danach fragen, wer am Tod Jesu „schuld“ war. Von einer „Schuld“ kann auf dieser Interpretationsebene vor allem auch darum keine Rede sein, weil sowohl die jüdischen Autoritäten als auch Pilatus nichts anderes taten als das, was innerhalb ihres jeweiligen Verantwortungsbereichs ihre Aufgabe war: Die jüdischen Autoritäten wollten unbedingt verhindern, dass der jüdischen Bevölkerung in Jerusalem von der römischen Besatzungsmacht die ohnehin schon stark reglementierte Freiheit der Religionsausübung ganz genommen wurde, und Pilatus ging es darum, eine mögliche Störung der pax Romana in der Provinz Judäa zu unterbinden.
5. Hat Jesus seinen Tod theologisch gedeutet? 5.1 In den neutestamentlichen Evangelien gibt es nicht viele Texte, in denen Jesus über seinen Tod spricht. Die meisten von ihnen, wenn nicht alle, sind jedoch nachösterlichen Ursprungs. Sie wurden Jesus im Nachhinein in den Mund gelegt. Das gilt schon für die drei Wenz, Studium, 278.
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5. Hat Jesus seinen Tod theologisch gedeutet?
Ankündigungen, dass der Menschensohn „getötet“ und „nach drei Tagen auferstehen wird“ (Mk 8,31; 9,31; 10,33–34)42. Sie setzen Jesu Auferstehung voraus und stammen aller Wahrscheinlichkeit nach von Markus selbst. Er lässt sie noch in der galiläischen Zeit Jesu beginnen und deutet den Weg nach Jerusalem als einen Weg in den Tod und zur Auferstehung, der von Gott festgelegt wurde (darum steht in Mk 8,31 „muss“). – Denselben Akzent setzt auch ein Dialog aus dem lukanischen Reisebericht: Lk 13,31–33: (31) In derselben Stunde kamen einige Pharisäer und sagten zu ihm: „Geh fort und zieh weg von hier, denn Herodes will dich töten.“ (32) Und er sprach zu ihnen: „Geht und sagt diesem Fuchs: Siehe, ich treibe Dämonen aus und vollbringe Heilungen heute und morgen, und am dritten (Tag) werde ich vollendet. (33) Indessen muss ich heute und morgen und übermorgen unterwegs sein, denn es ist ausgeschlossen, dass ein Prophet außerhalb Jerusalems umkommt“.
„Herodes“ (V. 31) ist hier Herodes Antipas, Jesu Landesherr.43 Darum gehört die Szene ebenfalls nach Galiläa. Die Zeitangaben in Jesu Antwort (V. 32) besagen, dass er erst dann sterben wird, nachdem er seinen Auftrag erledigt hat. Außerdem umschreibt er mit dem Passiv „werde ich vollendet“ das Handeln Gottes und macht auf diese Weise deutlich, dass nicht Herodes Antipas
Matthäus und Lukas haben die drei Ankündigungen in Mt 16,21; 17,22–23; 20,18–19 sowie (z. T. stark bearbeitetet) in Lk 9,22.44; 18,33–34 aufgenommen. Meistens nennt man sie lediglich „Leidensankündigungen“. Das greift aber zu kurz, denn ihre Pointe besteht darin, dass sie über den Tod Jesu hinausblicken und auch die Auferstehung in den Blick nehmen. Erst sie gibt nach markinischem Verständnis definitiv Auskunft darüber, wer Jesus ist (vgl. auch Mk 9,9 als Abschluss der Verklärungsszene). 43 Zu ihm s. o. S. 67. 42
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XIV. Jesu Wirken und Ergehen in Jerusalem
(V. 31), sondern einzig und allein Gott darüber entscheidet, wann er sterben wird.44 5.2 Weder in den Ankündigungen des Leidens und der Auferstehung Jesu noch in Lk 13,31–33 wird Jesu Tod als sog. „Heilstod“ gedeutet, d. h. als ein Tod, den Jesus stellvertretend für andere Menschen auf sich nimmt. Diese Vorstellung ist in der Jesusüberlieferung nur in zwei Texten belegt, in Mk 10,45 und im Deutewort über den Kelch45 beim letzten Mahl Jesu (Mk 14,24; Lk 22,20): Das erste Wort steht im Kontext einer Jüngerbelehrung, in der Jesus die Jünger auffordert, seinem eigenen Beispiel zu folgen: Mk 10,43b–45: (43b) Wer unter euch groß sein will, soll euer Diener sein, (44) und wer unter euch der Erste sein will, soll von allen der Sklave sein. (45) Denn der Menschensohn ist nicht gekommen, um bedient zu werden, sondern um zu dienen und sein Leben zu geben als Lösegeld für viele.46
Diese Deutung des Todes Jesu hat eine enge Parallele in 1Tim 2,6, wo Jesus als „der sich selbst gab als Lösegeld für alle“ charakterisiert wird. Diese Entsprechung sowie die inhaltliche Spannung zwischen dem Thema des Kontextes und Mk 10,43b–45 sind starke Indizien V. 33 ist in nachösterlicher Zeit entstanden, denn in diesem Vers steckt das Wissen von Jesu Tod in Jerusalem. 45 Das Deutewort über dem Brot lautet in seiner ältesten Fassung, die aber durchaus nicht auf Jesus zurückgehen muss: „Das ist mein Leib“ (Mk 14,22 und Mt 26,26). Die Erweiterung „der für euch (gegeben wird)“ in 1Kor 11,24 und Lk 22,19 ist ein nachträglicher Zuwachs (zur Begründung s. u. Anm. 49). 46 Dass die Formulierung „sein Leben zu geben“ von Jesu Tod spricht und nicht lediglich seine gesamte Existenz als eine Existenz für andere Menschen charakterisieren will, wird dadurch sichergestellt, dass hier von einem Austausch (griech. antí) die Rede ist. 44
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5. Hat Jesus seinen Tod theologisch gedeutet?
dafür, dass der Schluss des zitierten Jesus-Wortes, also „und sein Leben zu geben als Lösegeld für viele“, den Tod Jesu bereits voraussetzt .47 Noch deutlicher ist der Befund im sog. Kelchwort, das Jesus bei seinem letzten Mahl mit den Jüngern gesprochen haben soll. Von den vier verschiedenen Fassungen, die im Neuen Testament überliefert sind48, gilt mit guten Gründen diejenige Formulierung als die älteste, in der wie in 1Kor 11,25 noch nicht die Rede davon ist, dass Jesu Blut „für euch / für viele vergossen wird“.49 Mit der Verknüpfung von „Blut“ und „Bund“ spielt die Formulierung auf Ex 24,8 an. Eine Deutung von Jesu Tod als Heilstod in dem oben angesprochenen Sinn kann man ihr nicht zuschreiben. Hinzu kommt noch – das hatten wir bereits an anderer Stelle gesehen –, dass dieses Wort zusammen mit den anderen Deuteworten, die Jesus über dem Brot und dem Kelch spricht, mit sehr großer Wahrscheinlichkeit erst in nachösterlicher Zeit entstanden ist.50 Das Gesamtergebnis ist eindeutig: Es gibt in der Jesusüberlieferung keinen belastbaren Beleg dafür, dass Jesus erwartet hätte, mit seinem Leiden und Sterben die Menschen von den Unheilsfolgen ihrer Sünden zu befreien. Diese Annahme wird auch dadurch bestätigt, dass das Wort von der Lebenshingabe als Lösegeld seine engsten Parallelen in der hellenistisch-jüdischen Tradition von der Lebenshingabe der Märtyrer hat, wie sie in 4Makk 6,29; 17,21 belegt ist. 48 Vgl. die Synopse u. S. 316. 49 Dieses Urteil basiert auf der Beobachtung, dass liturgische Texte im Laufe der Überlieferung dazu neigen, nicht kürzer, sondern länger zu werden. Lk 22,20 („dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blut, das für euch vergossen wird“) kombiniert die bei Paulus und bei Markus überlieferten Fassungen, während Mt 26,28 („das ist mein Blut des Bundes, das für viele vergossen wird zur Vergebung der Sünden“) einfach nur die markinische Fassung erweitert. 50 S. o. S. 282. 47
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XV. Ausblick 1. Nach Golgatha Nachdem Jesus gestorben war, blieb sein Leichnam ganz offensichtlich nicht am Kreuz hängen, wie es die Römer bei gekreuzigten Verbrechern aus Gründen der Abschreckung häufig praktizierten. Nach Mk 15,42–46 veranlasste vielmehr ein Angehöriger des Hohen Rates namens Josef, der aus Arimathäa (dem Rāmātájim von 1Sam 1,1; s. auch 1Makk 11,34) in Judäa gebürtig war, dass Jesu Leichnam vom Kreuz abgenommen und in einer nahegelegenen Grabanlage bestattet wurde. Wenn man von einigen Details absieht, kann der markinische Bericht als historisch plausibel gelten. Was Josef bewogen hat, für Jesu Beerdigung Sorge zu tragen, kann man nur schwer sagen. Dass er ein heimlicher Sympathisant von Jesu Verkündigung war, wie Mk 15,43 („er wartete auf das Reich Gottes“) andeutet, oder gar ein Jünger, zu dem ihn Mt 27,57 und Joh 19,38 machen, oder dass er den Beschluss des Hohen Rates missbilligt hat (so Lk 23,51), ist unwahrscheinlich. Möglicherweise handelte er aus Gründen jüdischer Pietät. Wenn man Dtn 21,23 als Hintergrund nimmt1, könnte man annehmen, dass Josef, weil er angesichts des bevorstehenden Passafestes eine Verunreinigung des Landes vermeiden Nach Dtn 21,22–23 soll ein Verbrecher, der hingerichtet und dann an einen Pfahl gehängt wurde, nicht über Nacht dort hängen bleiben, weil er das Land verunreinigt. Er soll vielmehr noch am selben Tag begraben werden. Aus Josephus, Bell. 4,317 geht hervor, dass diese Weisung in seiner Zeit so umgesetzt wurde, dass die Leichen von Gekreuzigten bereits vor Sonnenuntergang vom Kreuz abgenommen und begraben wurden. 1
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XV. Ausblick
wollte, bei Pilatus vorstellig wurde und diesen bat, Jesu Leichnam beerdigen zu dürfen. Das Handeln Josefs von Arimathäa wäre dann dadurch veranlasst gewesen, dass ihm der am Kreuz hängende Jesus auf Grund von Dtn 21,23 als ein „Fluch Gottes“ gelten musste. Darüber hinaus stand er mit dieser Einschätzung ganz bestimmt nicht alleine. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass es unter seinen jüdischen Zeitgenossen kaum jemanden gegeben haben dürfte, der die mit ihr verbundene Deutung des Todes Jesu nicht geteilt hätte. Dieses Urteil betrifft aber nicht nur die Art und Weise der Hinrichtung Jesu am Kreuz, sondern es greift auch auf den Anspruch über, mit dem Jesus zuvor aufgetreten ist. Es beinhaltet die Schlussfolgerung, dass Jesu Fluchtod am Kreuz unmissverständlich erkennen lässt, was Gott von ihm gehalten hat. Gott hat zugelassen, dass Jesu Gegner über ihn triumphieren, und er hat nicht eingegriffen, um Jesus vor einem schimpflichen und grausamen Verbrechertod zu bewahren. Für jeden seiner Zeitgenossen hatte Gott Jesus und seinen Anspruch damit ins Unrecht gesetzt. Der hermeneutische Rahmen, der ein solches Urteil möglich macht, wird vor allem in den sog. Klageliedern des Einzelnen unter den Psalmen erkennbar. In ihnen rufen die von ihren Feinden verfolgten Frommen Gott an und bitten ihn, ihre Gerechtigkeit dadurch zu erweisen, dass er sie aus der Bedrängnis rettet und vor dem Tod bewahrt.2 Auch in den Worten von TestAss 6,4: „Die Lebensausgänge der Menschen zeigen ihre Gerechtigkeit an“, findet diese hermeneutische Perspektive ihren Ausdruck. Jesu Tod und dessen nähere Umstände mussten damit einen Schatten auf sein Auftreten werfen, der über den mit
2
Als Beispiele können Ps 6; 7; 22; 35; 56; 69; 142; 143 dienen.
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2. Nach Ostern
ihm verbundenen Anspruch nur ein einziges Urteil zuließ: dass er von Gott zurückgewiesen worden war. Dass sogar Jesu Jünger dieser Deutung sich nicht entziehen konnten, wird daran erkennbar, dass sie Jesus bei seiner Verhaftung „alle verließen und flohen“ (Mk 14,50) und dass Petrus kurz darauf abstritt, Jesus zu kennen oder gar ein Mitglied der Jesus-Gruppe gewesen zu sein (Mk 14,66–72). Damit endet, was man über den historischen Jesus schreiben kann.
2. Nach Ostern Dass der historische Jesus danach als „Jesus Christus“3 eine Nachwirkung fand, die bis in die Gegenwart hineinreicht, verdankt sich wiederum theologischen Deutungsvorgängen, die sich ebenfalls historisch beschreiben lassen. Die Geschichte dieser Nachwirkung setzte schon sehr bald ein. Nicht lange nach Jesu Tod4 begannen Menschen zu behaupten, dass Gott ihn von den Toten auferweckt, in den Himmel erhöht und dort in eine Hoheitsstellung eingesetzt habe, die in den neutestamentlichen Texten als „Sohn Gottes“ und „Herr“ gekennzeichnet wird.5 Die Kategorien für diese Vorstellung bezog man wiederum aus dem Psalter, und zwar vor allem aus Ps 110,1: „Spruch JHWHs für meinen Herrn: ‚Setze dich zu meiner Rechten, bis ich deine Feinde gemacht habe zum Schemel deiner Zur Unterscheidung zwischen dem „historischen Jesus“ und „Jesus Christus“ s. o. S. 22–24. 4 Der genaue zeitliche Abstand ist unbekannt; zu rechnen ist eher mit Wochen oder Monaten als mit Tagen oder Jahren. 5 Röm 1,4; 4,24; 8,11; 10,9; 1Kor 6,14; 15,4; 2Kor 4,14; Gal 1,1; Eph 1,20; Phil 2,9; Kol 2,12; 1Thess 1,10; Hebr 12,2; 1Petr 1,21. 3
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XV. Ausblick
Füße‘“.6 Damit stellt sich wiederum eine historische Frage: Was hat die eben dargestellte Behauptung veranlasst? Aus der neutestamentlichen Überlieferung geht hervor, dass es visionäre Erlebnisse einer begrenzten Zahl von Menschen waren, die in diesen die Überzeugung hervorgerufen haben, dass Gott Jesus von den Toten auferweckt und in eine himmlische Hoheitsstellung eingesetzt hat. Obwohl die Zahl der Texte begrenzt ist, vermitteln sie ein deutlich konturiertes Bild: Lk 24,34: Der Herr ist wirklich auferweckt worden und dem Simon (sc. Petrus) erschienen. 1Kor 15,4–8: (4) … und dass er auferstanden ist am dritten Tage nach der Schrift (5) und dass er dem Kephas (sc. Petrus) erschienen ist, danach den Zwölfen. (6) Danach ist er über fünfhundert Brüdern auf einmal erschienen … (7) Danach ist er dem Jakobus erschienen, danach allen Aposteln. (8) Zuletzt von allen ist er auch mir (sc. Paulus) … erschienen. Apg 26,16 (Paulus vor Damaskus): Ich bin Jesus, den du verfolgst. Dazu bin ich dir erschienen, um dich zu erwählen zum Diener und zum Zeugen … 1Tim 3,16: Der offenbart wurde im Fleisch, wurde ins Recht gesetzt durch den Geist, erschien den Boten, wurde verkündigt unter den Völkern, wurde geglaubt in der Welt, wurde aufgenommen in Herrlichkeit.
Alle Texte sprechen von visionären Erfahrungen, die als subjektiv erlebnisecht gelten können. Wie sie aus einer Außenperspektive zu charakterisieren sind, muss offen bleiben. Diese Frage können wir vor allem darum unbeantwortet lassen, weil es allein auf die Schlussfolgerungen ankommt, die aus den Erfahrungen gezogen wurden, von denen die oben zitierten Texte sprechen.
Vgl. die Zitate und Anspielungen in Apg 2,34f; 1Kor 15,25; Hebr 1,13 sowie möglicherweise auch Mk 14,62; 16,19; Lk 22,69; Röm 8,34; Eph 1,20; Kol 3,1; Hebr 1,3; 8,1; 10,12; 12,2; 1Petr 3,22. 6
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2. Nach Ostern
Von entscheidender Bedeutung ist, dass Jesus in allen Visionen als ein vom Himmel her Erscheinender wahrgenommen wurde. Die Begegnung mit ihm wurde also nicht als Begegnung mit einer menschlichen Gestalt erlebt, die aus dem Tod wieder zu einem neuen irdischen Leben auferweckt worden war, wie Mt 28,9–10 und (davon abhängig) Joh 20,14–17 sowie Lk 24,13–31 erzählen. Diese Eigenart der visionären Erfahrungen hat ihre Spuren auch in den drei Erzählungen des paulinischen Damaskuserlebnisses hinterlassen, die sich in der Apostelgeschichte finden: Es heißt immer, dass Paulus „ein Licht vom Himmel“ sieht (Apg 9,3; 22,6; 26,13). Dasselbe geht auch aus Gal 1,15–16 hervor, wo Paulus davon spricht, dass Gott Gefallen daran fand, ihm seinen Sohn zu „offenbaren“ (apokalýpsai). Auch die Erscheinungserzählungen in Mt 28,16–20; Lk 24,13–31 und 24,36 setzen voraus, dass Jesus vom Himmel her kommt. Wichtig ist auch noch, dass es nicht die Auffindung des leeren Grabes war, die in Mk 16,1–8 auf den dritten Tag nach Jesu Tod datiert wird, von der der historische Impuls zur Verkündigung der Auferstehung und Erhöhung Jesu ausging. Diese Erzählung ist erst später entstanden, als es den Glauben an die Auferstehung und Erhöhung Jesu bereits gab.7 E. Bickermann hat schon vor fast 100 Jahren gezeigt, dass die vergebliche Suche nach einem Leichnam oder dessen unerklärliches Verschwinden ihre Erklärung in der gesamten Antike immer durch eine Entrückung finden. Aus 2Kön 2,17 geht hervor, dass es sich auch in alttestamentlicher Zeit schon so verhalten hat. In TestHiob 39,12 unterbindet Hiob die Suche nach den Leichen seiner Kinder mit den Worten: „Müht euch nicht vergeblich ab; ihr werdet meine Kinder nicht finden, denn sie sind aufgenommen worden in den Himmel von ihrem Schöpfer, dem König“. Daraus hat Bickermann die These abgeleitet, dass erst Markus es war, der „diesen üblichen Beweis der Entrückung“ auf die Auferstehung übertragen hat (Das leere Grab, 286). 7
309
XV. Ausblick
Für die Frage nach dem historischen Anstoß, der dem Auftreten Jesu von Nazaret eine bis in die Gegenwart reichende Nachwirkung zuwachsen ließ, bleiben wir also auf die Deutung der individuellen visionären Erfahrungen verwiesen, die Petrus wahrscheinlich als erstem und dann auch anderen widerfahren sind. Zwei Schritte lassen sich unterscheiden: Als erster Schritt kann die bereits erwähnte Schlussfolgerung gelten, dass Gott Jesus von den Toten auferweckt und erhöht hat, denn wer vom Himmel her erscheint, kann sich nicht mehr bei den Toten befinden. Hieran schließt sich dann als zweiter Schritt der Rückschluss an, dass Gott mit seinem Auferweckungshandeln Jesus und dessen Verkündigung gegen den Augenschein des Kreuzes, an dem Jesus als Verbrecher hingerichtet worden war, legitimiert und ins Recht gesetzt hat. Diese Deutung der Visionen postuliert, dass Jesus mit jedem Wort, das er über sich selbst und Gott gesagt hat, von Gott Recht bekommen hat. Eben dies formuliert 1Tim 3,16 auch explizit, wo das Auferstehungs- und Erhöhungshandeln Gottes an Jesus mit den Worten: „Er wurde ins Recht gesetzt durch den Geist“, umschrieben wird.8 Wenn wir diesen Text neben die im vorangegangenen Abschnitt zitierte Feststellung aus TestAss 6,49 stellen, tritt sein theologisches Profil noch deutlicher hervor, geht es doch hier wie dort um die Gerechtigkeit, die in den Lebensausgängen der Menschen erkennbar wird. Gemeint ist nichts anderes als das Urteil, das Gott über ein menschliches Leben spricht. Im Falle Jesu wird diese Deutung der visionären Erfahrungen damit zur alles entscheidenden Perspektive auf sein irdisches Wirken. Sein „Lebensausgang“ im In Röm 1,4 wird vom Geist dasselbe mit Bezug auf die Auferstehung Jesu und seine Einsetzung zum Sohn Gottes gesagt. 9 S. o. S. 306. 8
310
2. Nach Ostern
Sinne von TestAss 6,4 ist damit nicht der Tod am Kreuz, sondern dass Gott ihn von den Toten auferweckt und dadurch seine Verkündigung ins Recht gesetzt hat. Im Lichte der im ersten Kapitel entfalteten Typologie der Jesusbilder wird Jesus dadurch zum einzigen Menschen, dessen Selbstbild mit dem Bild, das Gott von ihm hat, übereinstimmt. „Jesu Selbstauslegung“ und der „wirkliche Jesus“ wären dann miteinander identisch. Bei diesem Postulat handelt es sich freilich um ein Urteil, das nur der christliche Glaube aussprechen kann, weil es nur als Bestandteil von dessen „Jesus-Christus“Bild denkbar ist. Man muss sich nicht anstrengen, um aus dem Vorstehenden die theologische Notwendigkeit der historischen Rückfrage nach der Verkündigung und der Selbstauslegung Jesu von Nazaret erschließen zu können. Es ist ja nicht ein beliebig austauschbarer Mensch, von dem der christliche Glaube sagt, dass Gott ihn ins Recht gesetzt hat, sondern das eine und bestimmte „Menschenkind“ Jesus von Nazaret10. Die geschichtswissenschaftliche Rückfrage nach der Selbstauslegung Jesu von Nazaret ist darum nicht nur von einem historischen Interesse geleitet, sondern es sind gerade auch theologische Gründe, die sie verlangen. Ihr kann man sich darum nicht mit der Ausrede entziehen, sie könne Jesus doch sowieso nicht so darstellen, wie er „wirklich“ war, sondern immer nur hypothetische Konstrukte oder „Bilder“ vom „historischen Jesus“ produzieren.11 Das Gegenteil ist der Fall: Nicht nur obwohl, sondern gerade weil es sich so verhält, bleibt es der christlichen Theologie aufgegeben, immer wieder neu und mit konsequenter Anwendung der historisch-kritischen
10 11
Zu diesem Aspekt der Selbstauslegung Jesu s. o. S. 256–265. S. dazu o. S. 21–23.33 f.
311
XV. Ausblick
Methoden nach der Selbstauslegung Jesu von Nazaret zu fragen. Sie versieht diese Aufgabe in dem Bewusstsein, dass sie mit ihr niemals zu Ende kommen wird und dass der „wirkliche Jesus“ ihren Rückfragen kategorial entzogen bleibt.
312
Anhang
Karte 1: Die Aufteilung der von Herodes d. Gr. beherrschten Gebiete unter seine Söhne im Jahre 4 v. Chr. (mit leichten Korrekturen übernommen aus: Neues Bibel-Lexikon II, Zürich 1995, Sp. 122)
313
Anhang
Karte 2: Orte Jesu in Galiläa
314
Anhang
Karte 3: Der Tempel in Jerusalem zur Zeit Jesu (nach Busink, Tempel II, 1179) 1: Burg Antonia, 2: Tempelgebäude, 3: Brandopferaltar, 4: Vorhof der Priester, 5: Vorhof der Männer, 6: Vorhof der Frauen, 7: Vorhof der Israeliten, 8: Vorhof der Heiden, 9: Halle Salomos, 10: Königliche Säulenhalle
315
316
Dieser Kelch (ist) der neue Bund in meinem Blut, das für euch vergossen wird.
Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blut.
Das tut, so oft ihr trinkt, zu meinem Gedächtnis.
indem er sagte:
19 Und er nahm ein Brot, dankte und brach und gab ihnen, wobei er sagte: Das ist mein Leib, der für euch gegeben wird. Das tut zu meinem Gedächtnis. 20 Und den Kelch ebenso nach dem Essen,
und dankte und gab ihnen,
dankte und gab ihnen, und alle tranken daraus. 24 Und er sprach zu ihnen:
das vergossen wird für viele.
Das ist mein Blut des Bundes,
27 Und er nahm den Kelch
23 Und er nahm den Kelch,
das für viele vergossen wird zur Vergebung der Sünden.
indem er sagte: Trinkt alle daraus, 28 denn das ist mein Blut des Bundes,
nahm Jesus ein Brot und segnete und brach und gab den Jüngern und sprach: Das ist mein Leib
Mt 26,26–28 26 Als sie aber aßen,
nahm er ein Brot, segnete und brach und gab ihnen und sprach: Das ist mein Leib
Die Überlieferung vom letzten Mahl Jesu Lk 22,19–20 Mk 14,22–25 22 Und als sie aßen,
indem er sagte:
und sprach: Das ist mein Leib, der für euch. Das tut zu meinem Gedächtnis. 25 Ebenso auch den Kelch nach dem Essen,
1Kor 11,23–25 Der Herr Jesus, in der Nacht, da er ausgeliefert wurde, 23 nahm ein Brot 24 und dankte und brach
Anhang
Bibliographische Abkürzungen ACA I/1–2
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323
Bibelstellenregister (Auswahl) 1. Altes Testament Genesis 6,2.4 261 11,5 261 29,31.33 244 Exodus 8,15 145 20,7 213 20,10 215 23,4–5 203 24,8 303 Leviticus 15,19–22 81 19,18 202, 203, 210 19,34 203 Numeri 19,16–19 81 23,19 259, 261, 264 Deuteronomium 5,11 213 5,14 215 6,5 210 10,19 203 21,15–17 244 21,22–23 305 21,23 306 23,11–12 81 31,14 114 Richter 6,13 128 15,2 244
324
1. Samuel 10,1 267 13,19 60 2. Samuel 5,4 59 5,11 60 7,12–14 268 19,6–7 203 1. Könige 17,17–24 133 17,23 133 19,20 242 2. Könige 1,2–3 141 2,11 80 2,17 309 4,42–44 135 5,14 77 12,12 60 1. Chronik 14,1 60 16,9.12 128 22,15 60 28,5 99 2. Chronik 13,8 99 Nehemia 9,17 128
Bibelstellenregister (Auswahl) Hiob 9,8 135 17,8 128 18,20 128 25,6 261
Prediger 1,13 260 3,19 260, 264 5,18–19 188 9,3 260
Psalmen 7,6 202 8,5 261, 264 9,2 128 11,4 261 12,2.9 261 13,3 202 18,18.41 202 25,7LXX 128 25,19 202 29,1–2.9–11 101 31,16 202 38,4 150 38,20 202 39,6LXX 128 41,2 224 41,6 202 49,11–13 188 80,18 261 96,5 142 96,9–10 101 99,1–3 106 102,9 202 103,13 177 103,19 101 107,23–32 135 110,1 307 113,7–8 225 128,1–2 224 143,3 202 144,3 261 146,6–10 150
Jesaja 6,5 101 7,14 54 8,23 72 9,5–6 268 11,1–10 268 24,23 105 25,6 156 25,8 225 26,19 147 29,18–19 147 29,19 225 30,27 79 33,17–24 105 33,22–24 150 33,24 150 35,5–6 147 40,3 80 44,12 60 44,13 60 45,1 267 51,12 261, 264 52,7–8 105 61,1 147, 224, 267, 268
Sprüche 25,21 203
Ezechiel 2,1 260 3,4 260 5,1 260 17,23 183 21,36 79 31,6 183 43,2–7 105
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Bibelstellenregister (Auswahl) Daniel 2,44 102 4,18(21) 183 4,24Theod 116 5,21 264 7,9–10 220 7,13 253, 259, 264 8,17 261 9,25 268 Joel 1,14 156 2,12.15 156 Obadja 15–21 102 Jona 3,5–9
Micha 4,7 105 5,1 58 Sacharja 8,3 105 9,9 276 14,3–21 102, 122, 219 14,5 104 14,16–19 105 14,20–21 280 14,21 115, 299 Maleachi 1,2–3 244 3,19 79 3,23–24 80
156, 232
2. Neues Testament Matthäusevangelium 1,2–16 56 1,21 53 1,22–23 54 2,1 58 2,6 58 3,2 90 3,8 82 3,14 84 4,15 72 5,3–10 222, 227 5,7 197 5,21–22 210 5,27–28 211 5,29–30 230 5,32 212 5,33–37 212
326
5,34.37 213, 217 5,38–45 201 5,39 200 5,43–45 202 5,45 205 5,46 163 6,9–13 39 6,10 98, 99, 113 6,12 173 6,14–15 198 6,19–20 199 6,19 200 7,1–2 199 7,13–14 192 9,32 138 10,2–4 250 10,7–15 248
Bibelstellenregister (Auswahl) 10,32–33 228 10,37 243 11,21 70 12,22–24 142 12,22 139 12,25–26 143 12,28 145 12,29 146 12,31–32 151 13,43 99 13,44 179, 187, 191 13,45–46 179, 187, 191 13,55 60 14,3 67 18,3 192 18,10–14 171 18,12–14 39 18,17 163 18,23–34 174, 192, 197, 198 18,26 180 18,27 176, 186 18,30 188 20,1–15 160, 206 20,9 178 20,15 186 21,15 128 25,1–13 159 26,57–66 293 27,12 290, 291 27,15 290 27,24 81 27,26 286 27,57 305 28,9–10 309 28,16–20 309 28,18–20 25 28,19 89 Markusevangelium 1,1 25 1,2 80
1,4 81, 82 1,5 90 1,6 91 1,8 80 1,10–11 108 1,12–13 112 1,16–20 87, 237, 240 1,18.20 241 1,21–31 214 1,23–24 137 1,34 136 1,45 140 2,5 166 2,10–11 150 2,10 166, 263, 264 2,14 240 2,16 155 2,17 155, 165, 186 2,18 154, 156, 158 2,19 158 2,21–22 186, 190, 242 2,23–28 214 2,27 215 3,1–6 213 3,11 137 3,14 250 3,16–19 250 3,22–27 116, 131, 142 3,22 131, 140, 142 3,23–26 143 3,27 145 3,28–30 151 3,31–35 244 3,31–33 167 4,3–8 180, 184 4,26–29 180, 183 4,30–32 180, 4,35–41 135 5,6–7 137 5,18–19 236, 240, 241 5,21–24.35–43 132, 135 5,25–34 137
327
Bibelstellenregister (Auswahl) 6,1–6 70 6,3 54, 60 6,7–11 248 6,17–29 75 6,17 67 6,30–44 135 6,45–52 135 7,3–4 208 7,4 77 7,5 209 7,15 209 7,33–34 139 7,37 149 8,1–9 136 8,19–20 136 8,23 139 8,31 301 8,38 228 9,31 301 9,43–47 230 10,6–9 212 10,11–12 212 10,15 192 10,17–22 236, 240 10,17 199, 200 10,21–22 242 10,25 200 10,28–29 72 10,28 235, 241 10,33–34 301 10,43–45 302 10,45 263 10,46–52 240 11,9–10 53, 275 11,11 275 11,15–16 115, 277, 299 11,25 198 11,30–31 98 12,1–9 170 12,30–31 210 12,35–37 55 13,2 278
328
14,3–9 239 14,17 281 14,25 115, 283 14,43 292 14,58 278, 299 15,3 290, 291 15,6 290 15,15 286 15,26 286 15,40–41 238 15,42–46 305 15,43 305 15,63–64 293 16,1–8 309 Lukasevangelium 1,26–27 57 1,36 78 3,8 82 3,10–14 82 3,13 161 3,23–38 56 3,23 59 4,18 268 4,25–27 133 4,39 138 5,11 241 5,26 129 5,28 241 5,39 242 6,13 250 6,14–16 250 6,20b–21 222 6,24–26 223 6,27–29 201 6,30 199 6,32 163 6,35 199, 205 6,36 192, 197, 198 7,11–17 133 7,15 133 7,36–50 239
Bibelstellenregister (Auswahl) 7,36–38 155 7,48 166 8,1–3 238 8,2 239 8,3 72 9,1–6 248 9,61–62 241, 242 9,62 189 10,1–12 248 10,8 209 10,13 70 10,16 231 10,18 109, 112, 145, 274 10,38–42 190, 239 11,2–4 39 11,4 173 11,9–10 207 11,14–15 142 11,14 139 11,17b–18b 143 11,21–22 145 12,8–9 228 12,10 151 12,16–20 188 12,17 181, 188 12,19 233 12,20 172 12,33 199, 200 12,54–59 230 12,58–59 88, 179, 187 13,1–5 88, 180, 220 13,10–17 214 13,11.12 139 13,23–29 229 13,24 192 13,28–29 159 13,31–33 301 13,32 131 14,1–6 137, 214 14,16–24 173 14,18–20 233
14,24 193 14,33 236, 241 15,1–7 171 15,1–2 155 15,1 163 15,3–7 39 15,4–32 164 15,4–7.8–10 165 15,11–32 176, 159 15,18.21 98 15,25–28 187 16,1–7 179, 188, 191 16,2 187 16,3 181, 188 16,18 212 17,14 140 17,20–21 117 17,26–30 190, 220, 233 17,34–35 220 18,9–14 162 18,14 172 19,1–10 154 19,7 162 19,9–10 159 19,10 159, 263 22,66–71 293 23,1–2 291 23,2 290, 292 23,17 290 23,25–34 285 23,51 305 24,13–31 309 24,34 308 24,36 309 Spruchevangelium (Q) (Kapitel und Verse nach Lukas) 3,7–9.16–17 79 3,7 220 3,9.16–17 220 3,16–17 80 4,1–13 112
329
Bibelstellenregister (Auswahl) 6,20b–21 222 6,29 204 6,35 202 6,37 198 6,41–42 199 6,47–49 229 7,19 86 7,22–23 147, 151 7,22 131, 224 7,23 122, 167, 227, 229, 231 7,26 81 7,28 92, 108 7,33–34 91 7,33 153 7,34 153, 156, 263 9,57–58 240 9,58 245, 263, 264, 265 9,59–60 240, 242 10,13–15 231 10,16 249 10,23–24 121 10,27 210 11,2 113 11,3 247 11,4 198 11,14–23 116, 131, 142, 151 11,15 131, 140 11,19 144 11,20 116, 145, 146 11,31–32 232 12,8–9 229 12,22–31 246 12,51–53 245 13,18–19 180, 182 13,20–21 180, 182 13,28–29 157 14,16–24 159, 178, 229 14,16–17 187 14,18–20 188, 190
330
14,26 243 16,13 199 16,16 108, 117 17,34–35 221 Johannes 1,6–8 75 1,14 130 1,19–34 75 1,29 62 1,35–51 86 1,35–42 241 1,41 267 1,43 240 2,14–16 115 2,16 277 2,19 278, 299 3,22.26 89 3,27 98 4,1 89 4,25 267 5,23 249 5,27 257 6,66 238 7,42 55 9,2 150 9,6 139 10,33 151 10,40 78 11,1–45 132, 135 11,50 299 12,12–13 275 12,13 53 12,44–45 249 18,3.12 293 18,12–14 293 18,19–24 293 18,31 287 18,35 291 18,39 290 19,16–18 285 19,19 286
Bibelstellenregister (Auswahl) 19,25 238 19,36 61 19,38 305 20,14–17 309 20,21–23 25 Apostelgeschichte 1,13 87 5,37 240 7,54–60 288 7,56 257 9,3 309 10,38 268 11,26 266 19,1–7 86 19,4 75 20,35 45 21,38 240 22,6 309 26,13 309 26,16 308 26,28 266 Römerbrief 1,3 36, 55 1,4 310 1,16–17 234 3,22–23 234 3,27–30 234 10,12–13 234 12,14 37 12,19 205 13,12 114 1. Korintherbrief 7,10–11 36 9,14 36 11,23–25 36
12,13 82 13,2 37 15,4–8 308 15,5.7 250 Galaterbrief 1,15–16 309 3,27–28 82 Epheserbrief 3,5 261 1. Thessalonicherbrief 2,16 116 4,15 36 5,2.4 37 5,13 37 1. Timotheusbrief 2,6 302 3,16 308, 310 Hebräerbrief 9,10 77 Jakobusbrief 5,12
212, 213, 217
Johannesoffenbarung 3,12 111 3,20 157 12,7–10 110, 149 12,10 95 17,6 128 19,9 157 20,11–13 220 21,2 111
331