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German Pages 128 Year 2023
Ausgabe 11
Sophia Naomi Eisenring, Grace Oberholzer, Sara Schmiedl (Hrsg.)
i Ausgabe 11
es geht sich schon aus
„üblicherweise werden Nachrufe in Printmedien veröffentlicht“ – das bin ich, denkt sich JENNY; ein Epilog ist offensichtlich kein Nekrolog, sagt das www, ich wär dumm, würd ich meinen, einen eigenen, nicht selbst schon bald einmal zu verfassen beginnen; ein Ruf statt ein Wort, das Danach an den Anfang stellen – und hoffentlich gibts Echo; das erste Jahrzehnt ist abgezählt, servus, 11. Ausgabe; broke wie nie
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SARA SCHMIEDL
Seite 14–21
NACHRUF AUF LITERATURMAGAZIN SINA AHLERS
Seite 22–29
Milch und Schuld
(AT) Monolog
VANESSA FRANKE
Seite 30–33
DREAM REELS ANNA DRAXL
Seite 34–41
SKIZZEN ÜBER DIE ANATOMIE VON FUSSNOTEN LEON ERIK RAFAEL BUCHNER
wachen
Seite 42–45
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INHALTSVERZEICHNIS
MICHÈLE YVES PAUTY
Seite 46–49
ein Gespräch über Privileg das ist
ein Text über mich
PHILLIP MEINERT
Seite 50–55
Heimatnotiz
DILÂ KIRMIZITOPRAK
Seite 56–59
GROUND OF CURIOSITIES a fragmented story out of the ground:
MURI DARIDA
Seite 60–65
Leonardo im Cabrio
GRACE OBERHOLZER
Seite 70–79
GROSSMUTTERhype
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LEON LOCHER
Seite 82–87
Hansel and Gretel Introductory Text Kultschutz Zeit mauern FABIENNE IMLINGER
Seite 88–93
Gehen
ANA TCHEISHVILI
Seite 94–101
WHICH MONTH IS THE CRUELEST MONTH?
INHALTSVERZEICHNIS
THERESA SERAPHIN
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Seite 102–105
Schneeflocke
EMILY GRUNERT
Seite 106–109
Mangelnde Informationen KATHARINA FEIST-MERHAUT
Seite 110–113
SKIZZEN EINES LETZTEN BILDES JOHANN VOIGT
Seite 114–117
DÜ DÜ DÜ DÜ DÜ DÜ SOPHIA NAOMI EISENRING
Vorwort
Seite 122–125
vom Ende.
NACHRUF AUF LITERATURMAGAZIN 2013–
SARA SCHMIEDL
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Lasst uns JENNY nachrufen, solange JENNY es noch hört:
NACHRUF
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JENNY
JENNY
JENNY
JENNY
JENNY JENNY JENNY JENNY
JENNY
JENNY
JENNY JENNY JENNY
ist noch nicht weg.
SARA SCHMIEDL
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Aber: Wer würde JENNYs Nachruf sonst drucken, wenn nicht JENNY selbst?
NACHRUF AUF LITERATURMAGAZIN 2013–
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„Wir waren nicht dabei, als JENNY vor 11 Jahren zum ersten Mal erschien, aber stellen uns gerne vor, dass JENNY gleich eine Supernova am Himmel der Literaturmagazine wurde. Ganz eilig ist sie explodiert, jenniffa, ich bin jetzt da. Und dann war da noch was mit der käsegefüllten Wurst und dem 16er-Blech aber genau weiß das keine*r mehr, und so ganz ernst hat das auch keine*r je gemeint, Flaschenpost in gelber Dose rollt die Erinnerung hinunter, lustig, dass es da keinen Organisationsordner mehr gibt!!! “
1 Erwartungen halten sich seit 11 Jahren hartnäckig auf der ReleaseGästeliste, zuletzt kamen sie allerdings bereits mit Gehhilfe.
Der Name ist geblieben, stieg langsam heraus aus dem Cover (Prägung gone) und in den Literaturbetrieb hinein, und wir könnten die erste, zweite, dritte, fünfte, zehnte Redaktion fragen, was sie glauben, dass JENNY im Leben erreichen möchte.1 Doch JENNY wird immer anders sein, wird nie nach einem Konzept entstehen, lebt durch jene, die Texte senden. Jede*r kann JENNY sein, das stand noch in der Flaschenpost, ganz so stimmt das halt nicht, denn JENNY wählt aus. War von Anfang an sehr wählerisch, versteht sich der Sprachkunst verpflichtet. Nicht dem Institut, auch wenn JENNY davon immer noch nicht weggezogen ist, sondern dem Umgang mit Sprache. It needs to be art or JENNY won’t be satisfied, matt glänzende Seiten hin oder her. JENNY war stets ein wenig eitel (Nacktkatzen und Blütenregen), aber die Auszeichnungen als schönstes Buch Österreich hängen zumindest nicht an der blauen Wand. JENNY war immer am Glitzern, nicht nur am Büchertisch. JENNY hat viel durchlebt, manche Partys gefeiert. Viele Genres durchquert, um am Ende festzustellen: Alles passt nach Wien. JENNY 11 steht an der Bim-Station (Börse) und liest den eigenen Nachruf (leise). „JENNY hat sich als Konvolut, Masse, Menge, Mischung bewiesen; als Auswahl, Aneinanderreihung, Heftung. JENNY ist ein poetisches Magazin geworden, eine Sammlung literarischer Stimmen der letzten 11 Jahre, ein Echo. Immer wieder hat JENNY gleich etwas gemacht aber nie ist JENNY gleich geblieben: Redaktionen haben gewechselt, Autor*innen, Grafiker*innen. JENNY hat sich immer wieder neu gekleidet. Geblieben ist stets nur der Kern, der Kern aus 128 Seiten, im Kern stand immer viel Text und manche Aphorismen.“
2 JENNY 11 ist jetzt da, ist immer noch da und immer noch aus Wien. Alles wie gehabt, keine Sorge, keinen Grund, in den 71er zu steigen.
Und ein Nachruf.2
Sara Schmiedl *1999, schreibt seit 2020 auch am Institut für Sprachkunst an der Universität für angewandte Kunst Wien. Schreibt Prosa oder Drama, manchmal auch dazwischen. Meistens über Verlust im Sein und in der Sprache. Außerdem kuratiert sie die LITERATURPASSAGE im MuseumsQuartier Wien und gibt seit 2022 JENNY heraus.
SINA AHLERS
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Milch und Schuld (AT) Monolog Zartie Das Kind austragen ist gar nicht nur ein Geschäft, wie nichts nur ein Geschäft ist. Wenn eine sagt: Ich geh nur ins Geschäft. Die geht nicht nur ins Geschäft. Freilich hängt ihr was dran. Ich sag nicht gleich, dass ihr das Herz dran hängt. Aber doch mindestens der halbe Körper. Da vorn der Schaffner zum Beispiel, tut sein Geschäft ab der Hüfte aufwärts. Und bei denen, wo das Geschäft der ganze Körper verrichtet, die haben keine Wahl gehabt wie andere in einem Alter, wo nach der Schule die Wahl hatten. Die gleich überlegen: Wo tu ich mich gleich auseinander? Hab ichs im Kopf oder in die Beine? Nehm ichs auf die Schulter oder schnall ichs mir unter die Füße? Und zu die, wo die Wahl hatten, fließt die Währung ins Haus, ohne Zweifel. Es gibt eben eine Selbstverständlichkeit bei die halben Arbeitskräfte, dass die Währung mitten durchs Jugendzimmer fließt, die müssen nur einen Schritt rein tun, und wenns den nicht tun, gibts halt ein Schubsi vom Papá oder von der Mamá,
so ein Gesellschaftsvertrag ist das. Jetzt wirds hier geschwind laut. Der Zug verlässt den Sackbahnhof. Dem Lärm kannst nur zuhören, es versteht dich eh keiner. Ein Geschäft ist halt nicht nur ein Geschäft. Es hängt immer was dran, mein ich. Bei mir, ich könnt nicht sagen, dass ich mich je für was entschieden hätt. Nein, ich kann mich gar nicht an eine einzige Entscheidung erinnern. Es war wie schon für mich entschieden. Ein genereller Vorentscheid, dass es nicht ausreicht, die Hälfte, sondern, dass ich den ganzen Körper rein tun muss in den Markt. Warum und wieso weiß ich gar nicht so recht. Es war rein ein Gefühl, so ein Gefühl: Jetzt musst alles geben, oben, unten, alles, sonst bist ruiniert und nicht mal halb ein Mensch, sondern bald gar keiner mehr. So hab ich mit die Kinderkriegen angefangen. Das geht vom ganzen Körper aus. Also, das passt zu mir. Und dann: Als Erstes spür ichs im Zahnfleisch, wenns eingetroffen ist, wenn das geklappt hat mit die Zellen.
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Noch bevor der Unterbauch bockelt, da blutet mir mit einem Mal das Zahnfleisch beim Putzen und wie ich mich mit blutige Zähne anlächel, so ein falsches Lächeln, das in den Spiegel rein steigt, da weiß ich, dass Zeit ist, und hol die Ausstattung, den Eimer nebens Bett und die leichte Tücher für über die angespannte Haut, hol mir die größeren Schuh unds Öl, das harte Brot gegen die Übelkeit, dass was zum Lutschen da ist, die Kompression für die sieben Liter Wasser in die Beine, sortier mir ein paar Bilderbücher raus, weiter reichts mit der Konzentration nicht. Höllisch, wer was anders sagt! Das ist ganz höllisch fürs Geschäft, wenn nur eine sagt: Bei mir gings bis zum Schluss mit hundertzwanzig Prozent, hab ich mich konzentrieren können auf noch ein Zweitgeschäft außer dem Kinderkriegen. Das ist, wie wenn einer sagt: Bei mir kriegt ihrs Brot für ein Viertel vom Preis. Das versaut den Markt. Wenn die eine bis zum Schluss arbeitet und die andere in der zweiten Woche abtritt. Höllisch, wer was anderes sagt als: Ich schau in die Bilderbücher und dann gehen gleich die Augen zu. Jetzt ist der Zug schon eine Weile außer Sichtweite. Also gehts los, die Arbeit nimmt Fahrt auf, ich tu mir Gesundes in den Körper rein, nur Gesundes, nicht, dass ich am End Schuld bin um ein Abgang oder wenn das Herz nicht schlägt, wies solloder was alles noch – mir gelüstets ja schon täglich, alle paar Stund, nach einer Zigarette. Auch nicht für so einen übergeordneten Zweck kann ichs abstellen, die Sucht, halt dass ich gern im Freien steh und mich zum Teil kaputt mach. Wer weiß, was ich mein? Halt dass es schon taugen kann, eine ganz bestimmte Länge lang,
sich von innen zu beschädigen, in vollem Bewusstsein. Das hat schon was. Der Tod steht für kurz mitten unter die Menschen. Drum gehen die in einen Kreis beim Qualmen. Das ist meist eine ganz alltägliche Beschwörung vom Tod. Jetzt bin ich wieder in die Mystik eingebrochen wie ins Eis. Und außerdem bin ich halt in einer saudummen Lage, dass ein Paragraph mich reitet. Heut Morgen geh ich zur Ärztin und die schaut unbeteiligt rein in mein Bauch, wies ihre Art ist. So unbeteiligt würd ich ja auch gern schauen können. Aber an so einem Kind, da hängt was dran. Auch wenns das Kind für wen anders ist. An jedem Geschäft hängt was dran. Was hängt für die Ärztin dran?, frag ich mich kurz, wie sie unbeteiligt in mein Bauch lugt, der ein Monitor ist. Auf eine ganz eigentümliche Art ist das – ja was? Nit intim, aber persönlich, vielleicht so wie unpersönlich persönlich, wie dir eine in die Eingeweide schaut und sagt: Ah, Frau soundso, ihre Blase ist aber voll. Möchten sie geschwind noch auf die Toilette? Für den Moment weiß die Frau Doktor mehr als eine selber und das ist schon so ein Eingriff in die Privatsache. Jedenfalls beobachte ich immer ihr Gesicht, wies gestimmt ist, ob alles stimmt halt mit dem Kind. Und wie alles stimmt, ist ihr Gesicht recht freundlich schief, aber heut Morgen hat sich alles in eine Symmetrie sortiert, das war vielleicht unheimlich, so eine absolute Symmetrie, dies gar nicht gibt bei die menschliche Wesen. Uff, sag ich zu der, ich wills gar nicht wissen, was sie da sortiert.
SINA AHLERS
Nur ists halt ihr Geschäft und am Geschäft hängt was dran. Und aus die ärztliche Pflicht sagt sies mit grader Stimme, sagt jedes Wort einzeln, wie isoliert, das für mich kaum ein Satz ergibt, erst im Nachhinein, wo ich die Wörter selber nochmal laut sag und nochmal und nochmal, bis irgendein Cortex – das Wort hab ich mir aufgeschnappt – bis irgendein Cortex wieder funktioniert: Ihr Kind hat eine ganz bestimmte Behinderung, mit ders schon leben kann, aber auf ihre Hilfe angewiesen ist. Haben Sie ein stabiles Umfeld, das sie unterstützen kann? Wenn ich jetzt sag: Nein. Sagts sicher nur: Ohweh. Die weiß doch nichts von meinem Geschäft. Die weiß nichts von meinem Umfeld. Bei meinem Geschäft, da hilft mir keiner. Jede hat ihr eigenes Geschäft. Die Frau Doktor weiß also auch nichts von der Klausel, dass wenn was schief lauft mit die Zellen, dass die Eltern in spe das Kind fallen lassen können. Wenns nicht ausschaut, wies bestellt ist, zum Beispiel. Fehlt nur noch, dass was über die Seele im Vertrag steht, denk ich mir. Wer doch solche Geschäfte macht, macht doch auch eins mit der Seele. Da lassen sie die Seele einfach unverklausuliert oder wie? Bei uns daheim hat die Irma immer, das ist die Oma, da hat die Irma immer gesagt: Der Körper ist die sichtbare Seele. Tja, sag ich zur Frau Doktor, da hat die Seele mal eine eigenwillige Form, was! Und lach schallend, die fallt gleich vom Stuhl. Aber ihr tuts nicht weh, mir tuts weh, wenn ein ganzes Gehalt für eine versprochene Seele draufgeht. Da lach ich ein teures Lachen, dass mir das Blut in die Zahnlücken läuft, so schwanger bin ich schon und arm dran. Ob ichs wegmachen will?
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Ich kanns doch nicht sagen. Das kann ich beim besten Willen nicht sagen. Wie kann eine Frau das entscheiden, die eine Gebärmutter und ein Geschäft hat, an dem ihr was dran hängt? Welche Windung muss so jemand nehmen, um zu einer Entscheidung zu kommen? Und da ists wieder, das Gefühl. Das, wovon ich am Anfang gesprochen hab. Das Gefühl, meine Angelegenheiten sind schon ohne mich angelegt. Und dass ich nichts mehr dazu entscheiden kann. Ich sag ihr: Ich behalts bis zum Schluss und ziehs groß, sag ich der. Dass es gleich selbst entscheiden kann, obs in den Seerosenteich geht oder eine Freude am Leben hat. Ich helfs bis dahin. Ich wills bis dahin helfen. Die Entscheidung ist schon vorgetroffen, bevor ich hier am Fernbahnhof gesessen bin, wie jetzt, und laut drüber nachdenk, mich besprech mit die Tauben, die gelernt haben, auf die Abwehrsysteme zu sitzen. Da muss eine Entwicklung gewesen sein im letzten Jahr, wo ich anders beschäftigt war. Wie mir das erst jetzt auffällt, dass die Tauben sich drüber wegsetzen. Die eine, die ich im Blick hab, springt ganz leicht mit ihre krumme Füße übers herausragende Metall. Hach, toll! Applaus! Jetzt fliegt die ganze Schar auf. Abers kommt wieder. Zu meinen Füßen liegt ein altes Brötchen, ein ganz normales, so ein Schrippenbrötchen mit zwei bis drei Scheiben Lachs drauf, irgendwie hab ich mich wie zufällig hierher gesetzt, wo ich einen Hunger hatte, nachdem ich das symmetrischen Gesicht von der Frau Doktor verdauen muss, nur dass der Lachs verboten ist für mich in der schweren Lage, in meinen Umständen.
MILCH UND SCHULD
Der Lachs glänzt seinen fettigen Glanz. Derjenige hat nur einmal abgebissen, dann muss es zwischen die Beine gefallen sein und der Zug nach sonst wo war am Abfahren, schnell, schnell. Vielleicht beiß ich auch nur einmal ab und dann schnell, schnell. Aber mit einem Biss kanns für das Kind schon vorbei sein. Es fängt sich was ein und du mussts gebären, obwohls nicht atmen kann. Wie das eingerichtet ist, denk ich manchmal, wie ein Herz von Anfang an im Körperchen schlägt, wos nicht mal ein Körper ist, nur ein Zellhaufen, der bebt, nit lebt, nur bebt, aber atmen, das kanns erst ab über die Hälfte der Zeit, so ist es halt, ohne atmen kommst nicht in die Welt hinein. Vor Wochen klingelts bei mir an der Tür, mach ich auf und denk: Die kenn ich doch. Aber woher? Ich bitt sie rein, ihre Stimme hart, seine ganz weich, sitzen beim Tee, so eine aufrechte Situation. Sie könnten keine Kinder kriegen, als Paar. Kanns schon, sag ich, es gibt ja Kinder auf der Welt genug. Aber das eigene Blut. Das eigene Blut. Das eigene Blut. Das eigene Blut, sagts. Und dass uns wer ähnlich sieht. Die gehören zu die, die ein Leben lang rätseln wollen, wems aus dem Gesicht geschnitten ist. Das ist eine Gewalt, nicht? Wie der Mensch in eine Ähnlichkeit einsortiert wird. So ist es, mit die Verwandtschaft, schau, das hat er von dir, und, ach, bin ich stolz, dass sie in dein Fußstapf reingefallen ist. Jedenfalls kenn ich die und jetzt fallts mir auch ein woher, das ist der Oberste und seine Frau.
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Er spricht viel vom Wünschen, er wünscht sich so gern ein Kind für die vielen Zimmer, die da leer stehn und verfalln. Drei Synagogen hätten sie für das Einfamilienhaus abreißen lassen, ein Dutzend Kirchen, ein Kloster ausgehebelt und um hundert Meter verschoben, so viel sei ihnen die Familie wert, nun wills nicht kommen, kanns nicht klappen, wo sie die dreitausend Zimmer haben. Ich sag: Man kann sich ja vorbereiten, aber das meiste ist entschieden, bevor Sie einen Gedanken haben. Und die Frau hasst mich schon jetzt für meine Funktion, die sie an sich vermisst, die gebärende Funktion, wo die meisten zur Frau macht. Die will ihre Gebärmutter testen, auf die Probe stellen für den Beweis, dass die eine gescheite Frau ist, die nicht einsam sein muss mit die fünfzig Jahre, weil sie sonst nichts haben darf als ein Kind, das sie ausmalt, und Sticker auf die draufklebt, Pferde und Blumen und Autos. Davon weiß die nichts, dass paar viele von den Stickern nimmer abgehen, da kannst kratzen und pulen, wie du willst. Wenn ich höflich fragen darf, was sie mit gleich dreitausend Zimmer wollten? Dreitausend Kinder, sagt die Frauenstimme. Sie hätten groß denken wollen. Und ich frag mich gleich, wer da denkt. Dreitausend Kinder? Obs nicht eigentlich darum ginge beim Kinderkriegen, ein ganzes Volk in die Welt zu setzen, dass alle Menschen Schwestern und Brüder, sich liebten und zankten, aber am Abend am selben Tisch äßen? Was für ein schöner Gedanke, sag ich, und dass sie diese Verantwortung auf sich nehmen. Ja, nicht wahr? Es macht ja sonst keine, sagt sie.
SINA AHLERS
Alle kriegen ein oder zwei Kinder, die sich zanken und das wars. Ich trau mich gar nicht, beim Tee einen kleineren Gedanken zu äußern, wo so eine Frau nach den Sternen greift. Ich hätt gleich sagen wollen, dass es im Land schon ein paar Menschen gäb, die mit ihnen beim Abendbrot sitzen wollten und ein Zimmer beziehen, das sonst verfällt. Aber das Geschäft für mich wär weg gewesen, garantiert. Mit kleine Gedanken gibt sich so ein Sonnenpaar nicht zufrieden. Mutter und Vater eines ganzen Volks. Jetzt sind die Tauben wieder da, ziehen ihre Kreise enger ums Fischbrötchen und ich lass sie. Ob ich nicht diejenige welche sein wollte, die für sie beide ein Volk gebärt, ich müsse mich um nichts mehr sorgen, ein Lebensgehalt sozusagen. Uff, wer kann so ein Angebot abschlagen? Hab ich mich nicht dafür gesund ernährt und viel bewegt? Also geht es los, nimmt die Arbeit Fahrt auf, es will auch gleich klappen, die Übelkeit kommt, ich lutsch am harten Brot, lieg im Bett in schwangerer Einsamkeit, keine ist so einsam wie eine, in der ein Mensch heranwächst, keine. Die Welt geht weiter, aber du hältst nicht mehr Schritt, siehst dem Alltag hinterher und gerätst da in was rein, ein Wattenmeer, wo die Zeit anders tickt, die geht mit den Bewegungen der Ozeane, und die Ozeane gehen mit der Gravitation des Mondes und der Sonne. Wenn du ein Kind erwartest, bewegst dich nicht mehr in der Zeit. Wenn du ein Kind erwartest, bewegst dich in Gezeiten. Das Wasser kommt, das Wasser geht. Und du stehst mal auf freigelegtem Grund, mal gehst unter. Das Beste ist im Priel stehen und die Krebse zusehen. Wie du keine Kraft mehr hast zum Einkaufen,
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stehst schon im Watt und lässt dich versorgen von die Gezeitenkräfte. Das kommt alle sechs Stunden zweiundzwanzig im Durchschnitt, dass das Meer dich versorgt. Wenn jemand also sagt: Das Kind hat ja die Mutter. Tjaja. Und wenn jemand dann fragt: Aber wen hat die Mutter? Dann weiß ich schon, was ich sag: Das Meer. Das oberste Paar will mich bei ihnen wohnen lassen, ich könnt wählen zwischen die abertausend Zimmer. Aber ich sag: Für so ein Unterfangen muss ich direkt ans Wasser. Dass wenn die Übelkeit kommt, ich mir an der salzigen Haut lecken kann, dass wenn ich schwerer werd, die Flut mich trägt. Von die Gezeiten-Kram sag ich erst mal nichts, das klingt mal esoterisch, wenn dus nicht selbst erlebt hast. Na gut, sagen sie, dann wohnst am Meer, hier die Schlüssel. Und es ist ihnen vielleicht sogar recht, dass ich mein Geschäft aus der Ferne verrichtet. Die Frau hör ich fast aufatmen, dass sie die Mutterrolle für sich ganz und gar behaupten kann. Ob sie weiß, was das heißt? Ich weiß es ja auch nicht. Nie hab ich ein Kind für mich selbst kriegt. Aber eins weiß ich eben, dass eine Mutter das Einsamste ist, das ich kenne. Wo die Männer sich gleich nach der frohen Botschaft wegwenden, und zu anderen Dingen hin. Für mich käme so ein Hinterhalt nicht in Frage, hätt ich die Wahl. Und dann soll man im Anschluss noch so einiges, noch in Würde altern, wo die Würde schon längst dahin ist, nach so einer großen Gemeinschaftslüge, wo nur einer was tragt.
MILCH UND SCHULD
Da kannst als Mutter gar nichts mehr mit erhobenem Kopf tun, ob wo lang spazieren oder weiße Haare kriegen. Kannst dir sorglos was unter die Haut spritzen, das kannst du. Außer, da wär eine Sache: Die Freundschaften pflegen zu die anderen Mütter, die in etwa gleich ohne Würde sind. Daraus ergibt sich dann was. So eine Hoffnung, dass sich der Hinterhalt dann und wann in Luft auflöst, auch wenns nicht ganz weg ist. Die Freundschaft zwischen die Mütter ist wie eine Sauerstoffglocke unter Wasser. Wenn du die wegnimmst, bist tot, könnt man meinen. Aber so ein Fehler, will ich die Mütter sagen. Musst lernen unter Wasser zu atmen. Lernen unter Wasser zu sprechen, auch deutlich, Mädchen, deutlicher. Das ist schon schwer, ich weiß. Aber wie soll dich, Mutter, sonst jemand verstehen? Nicht mal hören tun dich die, wenn ihr so leis unter euch, immer nur unter euch, immer dieselbe Luft. Und wenn dich rausbewegst aus dem engen Kreis, die Glocke mal runternimmst? Da reicht nicht normal sprechen. Deutlich musst ihr sprechen. Bist nur so ein Geblubber in deren ihren Ohren. Ob ich noch eine Würde hab, kann ich gar nicht sagen. Wo ich hier hochschwanger am Bahnhof sitz, ein Geschäft am Laufen, ein Ganzkörpergeschäft. So bin ich nicht mal erlaubt, wie ich hier sitz. Das Kinderkriegen darfst schon und auch den Körper verleihen, darfst, aber ein Geld nehmen für den Gebärdienst, das darfst nicht. Weil warum? Weil das was Scheinheiliges ist mit dem Kinderkriegen.
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Ein Geschäft ist eben nicht nur ein Geschäft. Das stoßt immer wieder an Grenzen und du musst entscheiden, bleibst unbefleckte Empfängnis oder wirst kriminell. Jetzt sitzen die beide gar nicht weit von hier. Ich hab sie oben schon erkannt. Das sind die Herrschaften hinter der Glasfront. Oben im Firnis. So hoch können die Tauben gar nicht fliegen zum Firnis. Nein, so sagt man nicht. Ich weiß nicht, wie man sagt. Firnis ist falsch. Es fällt mir später ein. Ha! Was das für ein Krach wär, denk ich grade, wenn das Glas geschlossen herausbräche aus dem Firnis. Und wie der Wind da oben reinpfeifen tät. An die Frisuren rütteln und das Zeitungssortiment durcheinanderbrächt. Lustig, nicht? Nicht, dass ichs mir in letzter Konsequenz wünschen würd, das fällt ja alles auf uns runter, die hier unten, jeder kleinste Splitter. Von da oben kann man über den gesamten Bahnhof sehen, hat gewissermaßen den Überblick, welcher Zug kommt, welcher geht. Fast eine Aussicht ist das, zum Beneiden. Den Zutritt zur oberen Ebene, da kann nicht ein jeder rein. Du musst dich bestimmt ausweisen können mit einem Status. Ich weiß nicht, was genau dich ausgezeichnet, um als letzter Mensch die Züge in den Sonnenuntergang fahren zu sehen. Wüsst nicht, was vorzeigen. Hier, was hab ich in der Tasche? Da, so ein ausgelaufenes Bonbon mit Heilwolle dran. Was peinlich.
SINA AHLERS
Das letzte Kind wo ich gekriegt hab, hat mir den Busen aufgebissen mit dem nackten Kiefer. Die bestellten Kinder geb ich mindestens das Kolostrum mit und füll was ab in Eiswürfeltüten und eingefroren. Das will ja doch keiner hören, weils nicht der Geschichte dient. Und: An der Muttermilch, hängt zu viel Ungesagtes dran. Dreißig Wochen am Meer, hab meinen runden Körper in die Landschaft eingepflegt, mich an den Gedanken gewöhnt zu gebären, eins nach dem anderen. Dass so eine große Frau an dich glaubt, dir mal was zutraut. Das kann sie auch, dacht ich, das kann sie auch. Mein Geschäft tu ich gewissenhaft, bin fleißig und unnachgiebig. Bis auf ein paar Geweberisse an die Hüften. Und jetzt soll schon alles vorbei sein? Nur weil sich so eine Ausnahme aufgetan hat? Soll die Abweichung gleich meine Schuld sein? Was diese Mutter sich denkt! Dass sie nur Mutter von einer regulären Seele ist? Dass sie nicht alle vorstellbaren und unvorstellbaren Konsequenzen zu tragen hat, wenn sie was so Großes in Auftrag gibt? Wie ist das mit ein Palast zum Vergleich? Gibst denn ein Palast in Auftrag und wenn die Marmortreppen sich nicht gescheit winden, nicht die geplante Drehung ins Obergeschoss machen, stellst den Scheiß raus an die Straße? Baust gar keine Brücke über die Fuge? Da bin ich mir ja schön selbst auf den Leim gegangen, den Vater nicht zu beschimpfen. Aber es macht besonders Freude über die Mutter herzufallen. Die kennt sich aus mit der Schuld. Nicht schlafen können, sich wälzen,
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irgendwo schlummert immer noch ein Fehler, den sie gern aufnimmt in ihr Fehler-Repertoire. Was will ich ihr sagen? Was kann ich ihr sagen, dass es sie schön zerreißt? [sie fängt an zu weinen]
Das tut mir so leid. Es ist ganz bösartig von mir.
[sie weint einen ganzen Druck raus]
So, reicht auch. Das ist das Schöne an Bahnhöfen. Es wundert sich keiner über Tränen. Es ist ganz regulär zu weinen, wo die Züge ankommen und wo die Züge abfahren.
MILCH UND SCHULD
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Sina Ahlers *1990, lebt und arbeitet. Sie hat den regulären Weg über eine Schreib-Uni genommen. Die Geburt ihres Kindes hat wehgetan. Es tut weh, dass es Wichtigeres gibt als das eigene pimpelige Leben. Sie ist Teil des feministischen Kollektivs UTE RUSS. Ihre Texte entstehen nie dann, wenn sie sollen, sondern wenn sie müssen. Aktuell wird sie vom Deutschen Literaturfonds gefördert. Im September feierte ihr Stück „Sie sagen Täubchen, ich sag Taube“ in der Regie von Fanny Brunner am Jungen Landestheater Detmold Premiere.
VANESSA FRANKE
Vanessa Franke *1993 in Stuttgart. Studierte Literatur, Kunst und Medien in Konstanz, Wien und Mainz. Die letzten drei Jahre lebte sie in Paris und arbeitete dort als Sprachlehrerin und Lektorin. Sie schreibt zurzeit ihre Promotion zwischen Paris und Weimar, außerdem wissenschaftliche Aufsätze, Buchkritiken und Poesie auf Englisch, Französisch und Deutsch.
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DREAM REELS -1
I’ve been thinking of a house Inside my belly While I listened to a story On a tape recorder In a constant dawn This house was so silent I knew Burning would be its way to cry
-1 Ich habe an ein Haus gedacht In meinem Bauch Während ich einer Geschichte Auf einem Kassettenrekorder lauschte In einer ständigen Dämmerung War das Haus so still dass ich wusste Brennen wäre seine Art zu weinen
Oh where to begin And where to end And what to repeat Never think backwards
Oh wo soll man beginnen Und wo wieder enden Was wiederholen Niemals rückwärts denken
0
0 Ich wünschte wir wären uns vor langer Zeit begegnet In einem Sandkasten am Meeresgrund
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1 Mein Abschied von dir War die letzte Konsequenz einer Schwangerschaft Die Geburt monatelang Lag ich in den Wehen stumm Ohne dass du es merktest
A sour taste on my tongue From the constant belching The child fermented inside me Feeling my skin from within Until I dragged it out with both hands Gasping for air naked I laid it at your feet When you saw how similar You were frightened I wiped the afterbirth from my fingers And left From afar I heard the first cry
Ein saurer Geschmack auf der Zunge Vom ständigen Aufstoßen Das Kind gärte in mir Tastete mich von innen ab Bis ich es mit beiden Händen herauszerrte Nach Luft schnappend nackt legte ich es dir zu Füßen Als du sahst wie ähnlich es dir war erschrakst du Ich wischte mir die Nachgeburt von den Fingern Und ging Aus der Ferne vernahm ich den ersten Schrei
I wish we had met a long time ago In a sandbox under the sea
My farewell Was the last consequence of pregnancy The birth lasted months I lay in labor silent Without that you noticed
VANESSA FRANKE
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A face so blue Or is it the eyes One light, one dark, So wide A house fits in And a tree
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2 Ein Gesicht so blau Oder sind es die Augen Eins hell, eins dunkel So weit Ein Haus passt hinein Und ein Baum
So open You could reach in And down there the fear drifts Down there the guilt sinks
So offen Man könnte hineingreifen Und dort unten treibt die Angst Dort unten sinkt die Schuld
An ocean without a ground You can hear it rushing While I lie awake Scrolling through dreams
Ein Ozean ohne Grund Auch im Schlaf rauscht es darin Während ich wachliege Scrolle ich durch Träume
Many times You wanted to hide in a dark corner of your sleep
Viele Male wolltest du dich In einer dunklen Ecke deines Schlafes verstecken
Face of glass I can see the thoughts swimming While you wake up from the inside out
Gesicht aus Glas Die Gedanken darin schwimmen hören Während du von innen nach außen aufwachst
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3 Lass mich ins Wasser springen Lass die Stromschnellen entlang meiner Haut schlagen Lass mich aus dem Wasser springen Und wieder Hinein
Dive, swim, twist, and turn Up the river against all forces Until I reach the place where I was born And where I’ll die An infinite orange light before my eyes Tempting flickering As I die die die to be born again
Tauchen schwimmen drehen und wenden Den Fluss hinauf gegen alle Kräfte Bis ich den Ort meiner Geburt erreiche Und den Ort meines Todes Ein unendliches Licht vor meinen Augen orange Verlockendes Flackern Als ich sterbe sterbe sterbe, um wiedergeboren zu werden
Make me jump into the water Let the rapids beat my skin Make me jump out of the water And again In
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A season in space News circulating like moons Lives flicker out of reach In the black void of a number I walk and walk the silence between words How much of time is waiting How much of waiting is loss When touch is an idea of last year How much of a feeling is pure I want to wash my feelings instead of
4 Eine Jahreszeit im All Nachrichten zirkulieren wie Monde Leben flimmern außer Reichweite In der schwarzen Leere einer Zahl Ich gehe und gehe die Stille zwischen den Worten Wie viel der Zeit ist Warten Wie viel des Wartens ist Verlust Wenn die Idee von Berührung letztjährig ist Wie viel von einem Gefühl ist rein
DREAM REELS
My hands I want winter to come as sharp and clean as a knife To cut off all that no longer serves us
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The waiting woman: Waiting at train stations. Waiting at doors. Waiting for a message. Waiting for an answer. Waiting for a call. Waiting for a call back. Waiting for him to come. Waiting for him to orgasm. Waiting for him to come back. Waiting for decisions. Waiting for apologies. Waiting for him to undress her. Waiting for the end of a cigarette. Waiting for him to wake up. Waiting for him to laugh. Waiting until the past blurs. Waiting to stop waiting
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When we were sipping hibiscus juice Out of plastic cups On top of the hill Eyes down on the city The sweet city My heart almost sank A girl stroked her hair like a cat on a lap And when your head lowered Direction screen – A sudden rush of pink An instant of nothing left
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Love hits you like an elephant They say But one, blind, might mistake it for a snake Another one for a wall Or a huge dream Paralysed, they argue, Under seven tons of life
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Ich möchte meine Gefühle waschen statt Meine Hände Ich möchte dass der Winter kommt scharf und sauber wie ein Messer Um alles abzutrennen, was uns nicht mehr dient 5 Die wartende Frau: Am Bahnhof. An der Tür. Auf Nachrichten. Auf Antworten. Auf einen Anruf. Auf einen Rückruf. Bis er kommt. Bis er zum Orgasmus kommt. Bis er zurückkommt. Auf Entscheidungen. Auf Entschuldigungen. Bis er sie auszieht. Auf das Ende der Zigarette. Bis er aufwacht. Auf sein Lachen. Bis Gewesenes verschwimmt. Bis das Warten endet 6 Als wir Hibiskussaft tranken Aus Plastikbechern Auf dem Hügel oben Die Augen auf die Stadt gerichtet, die süße Stadt Da sank mein Herz beinahe Ein Mädchen streichelte ihr Haar wie eine Katze auf dem Schoß Und als dein Kopf sich senkte In Richtung Bildschirm – Ein plötzlicher Rausch von Rosa Einen Augenblick blieb nichts 7 Love hits you like an elephant Sagt man Doch einer mag ihn blind für eine Schlange halten Ein anderer für eine Mauer Oder einen riesigen Traum Gelähmtes Zanken Unter sieben Tonnen Leben
ANNA DRAXL
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SKIZZEN ÜBER DIE ANATOMIE VON FUSSNOTEN Ich sitze am Sofa und lese Stefan-Manuel Eggenwebers Text „Operationen“1, erschienen 2019 in der Literaturzeitschrift Edit. Das dicke Heft auf den Knien, die linken vier Finger in die Seite geklemmt, sucht der Daumen im Anhang die passende Endnote. Die rechte Hand hält das Smartphone für die schnelle Recherche, der Stift klemmt zwischen den Zähnen. Sobald die rechte Hand wieder frei ist, wird sie ihn greifen, die Spucke an der Hose abwischen und Anmerkungen notieren. Ich stecke wie ein klemmender Ast in dieser Leseposition. Es ist ungewöhnlich warm draußen. Ich schlüpfe in meine grüne Windjacke und gehe nach unten. Die Tür zum gemeinschaftlichen Abstellraum quietscht seit Monaten. Ich schließe mein Rad auf, wickle das Schloss um die Lenkstange und hebe es auf die Straße. Ein paar Wolken hängen am Himmel. Wenig Verkehr. Links, rechts, geradeaus? „Operationen“ hält für die Leser:innen viele Möglichkeiten zum Abbiegen bereit. Der Text verhandelt seine eigene Form. Als Auszug aus einem Roman angekündigt, enthält er Fußnoten in wissenschaftlichem Gestus, Dialoge, die mittels Usernames an Chatverläufe erinnern, und schließlich Endnoten, die Erzählungen über die Erzählung schichten und zugleich als Glossar2 funktionieren. Ein Glossar, das zwischen den in der unbestimmten Zukunft liegenden Jahren -njb und der Gegenwart, dem Jetzt des Lesens, übersetzt. Was vermittelt die Form in ständigem Spiel mit dem Inhalt? 1 2
Stefan-Manuel Eggenweber: Operationen. In: Edit, Nr. 78/79, Herbst 2019, S. 212–225. Glossar, vom Altgriechischen glóssa, lateinisch glossa Sprache, Zunge. Ein Glossar ist eine Form der Anmerkung, meistens in Listenform am Ende eines Textes, die sich der Übersetzung und Erklärung von Worten annimmt.
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Der Inhalt kurz zusammengefasst: René alias WonderCrip-Woman, Saadet alias FIST of SCIENCE und Sarah alias trisonomieFUcKu2!#%&1!! verkleiden sich in einer als -njb bezeichneten Zukunft als junge cis-männliche HipHopper, um zu operieren: In ihrer Boombox befinden sich medizinische Utensilien und Hightech-Prothesen. Ihr „Patient“ ist Franz, der in einer Beziehung mit Anatol lebt. Der allwissende Bill aus dem Lieblingspodcast ist womöglich der Erzähler des Endnoten-Glossars.
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Ein Wurm, der sich durch die zwei Oberflächen desselben Raums frisst, hat ein Wurmloch geschaffen.
Wie werden die Leser:innen in der textlich-räumlichen Gestaltung auf Lesekonventionen zurückgeworfen? Stefan-Manuel Eggenweber nützt Verweissysteme, die an Erwartungshaltungen geknüpft sind, für provokative Operationen an der Sprache selbst. Ich trete in die Pedale, strecke den Arm aus, rolle in die Mitte der Straße, blicke über die Schulter nach hinten und nehme die Kurve hügelaufwärts. Gewöhnlich wird der untere Rand eines weißen Blatt Papiers (oder einer Fläche am Bildschirm, die ein weißes Blatt Papier simuliert) für die Fußnote eingeplant und möglicherweise durch eine dünne Linie die Abtrennung vom Haupttext noch visuell betont. Die Reifen für die Fahrt in die akademische Welt. Fußnoten sind da, um Quellen und Ideen nachvollziehbar zu machen. Sie zeichnen nach, woher ich weiß, was ich weiß. Sie bilden einen Chor, ein Rauschen aus Stimmen. Endnoten sind Fußnoten am Ende eines Texts. Beide Noten lassen sich unter dem Begriff Annotation bündeln. Während sie ihren zugewiesenen Ort schon im Namen tragen und dadurch ihr Spezifikum, ist die Annotation, von lat. annotatio, laut dem „dude“3 eine Anmerkung, ein Vermerk, eine generelle Bezeichnung für Hinzugefügtes.4 Ich trete in die Pedale und komme ins Schwitzen. Ich ziehe den Reißverschluss auf, die Jackenteile flattern unter meinen Armen. Verweiszeichen stellen Verbindungen über die räumliche Distanz sicher (*2→). Die Leser:innen vertrauen und nehmen an, dass immer die richtigen Stellen miteinander verbunden sind. Führen die Zeichen in eine Sackgasse, werden sie womöglich zu „fuss notes“5, wie sie die Übersetzerin Uljana Wolf nennt, und stiften Verwirrung. Ein Verweis ist auf den ersten Blick ein wohlgesinntes Angebot. Kippt das Wort „verweisen“ aber in der Bedeutung, wird es zur forschen Aufforderung, woanders hinzugehen. Jemanden eines Ortes zu verweisen heißt auch, dass wohl etwas im Argen liegt und der weitere Aufenthalt nicht länger erwünscht ist. Die freiwillige Entscheidung, die nächste Abzweigung zu nehmen, scheint mit dem englischen link eher gewährleistet zu sein. Der Link, ein agiles Gelenk?
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Bei der nächsten Ampel fahre ich geradeaus. In der Ausstellung Hungry for Time in der Akademie der bildenden Künste Wien haben die Kurator:innen vom Raqs Media Collective die Flügel von Hieronymus Boschs Weltgerichtstriptychon (ca. 1504) fast geschlossen und nur einen kleinen Wurm zu Füßen der Figur am Außenflügel beleuchtet.6 Auf den Wurm, eine Nebensächlichkeit im Bild, ist eine Videokamera gerichtet, die den Ausschnitt filmt und live auf einen Bildschirm vor dem Triptychon überträgt. Die Kurator:innen verweisen im Begleittext auf Sigmund Freuds Suche nach der Sexualität von Aalen. Wie im Gästebuch der Ausstellung nachzulesen ist und Mitarbeiter:innen berichten, zeigten sich viele Besucher:innen sehr verärgert darüber, denn Boschs Triptychon ist das Herzstück der
Im Glossar von Stefan-Manuel Eggenwebers Operationen weist der allwissende Bill darauf hin, dass dude „der verzweifelte Versuch einer zeitgemäßen Neubenennung des guten alten Dudens“ sei. Eggenweber: Operationen, S. 225. 4 Dude: Annotation. 5 Uljana Wolf: Barbar Blechs Ursprech. Homophone Übersetzung und Nursery Rhymes. In: Etymologischer Gossip. Essays und Reden. Berlin: kookbooks, 2022, S. 194. 6 Hungry for Time. Einladung zu epistemischem Ungehorsam mit Raqs Media Collective, in den Kunstsammlungen der Akademie der bildenden Künste Wien. Ausstellung von 9.10.2021 bis 27.2.2022. 3
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Die Griffelglosse ist der Geist unter den Glossen. Mit einem Schreibgriffel werden Zeichen in das Pergament geprägt, die im Tageslicht beinahe unsichtbar sind. Das Prinzip ähnelt jenem der Keilschrift
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Zoe Darsee: „inmitten von Fußflusenverkehr“
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9 „4317 Einfädel-, Ausfädel- und Verflechtungsmanöver“ 10 Jacques Derrida schreibt: „What is an oral footnote? One could say figuratively that this is an ‚oral footnote‘, an example of an ‚oral footnote‘, if one believed that there could be such a thing, in the strict sense, as a purely ‚oral footnote‘. I do not believe that there is such a thing.“
https doppelpunkt slash slash www punkt duden punkt de slash rechtschreibung slash fusznote. Der dude hat die sz-Schreibung von Friederike Mayröcker schon übernommen.
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Kunstsammlung. Für viele ist es der ausschlaggebende Grund, in die Ausstellung zu kommen. Indem die Kurator:innen den Hauptteil verdeckten, wurde der Wurm, sozusagen eine Fußnote im eigentlichen Bild, ins Zentrum gerückt. Das Abzweigen ist Entscheidung und Abschweifen aus Langeweile gleichermaßen. Ich reise durch Boschs Wurmloch ins Mittealter. Die mediävistische Forschung unterscheidet grob zusammengefasst zwischen folgenden Arten von Anmerkungen in mittelalterlichen Schriftstücken: Glossen (Interlinearglosse, Marginalglosse, Kontextglosse, Griffelglosse7), Marginalien, Scholien und Kommentaren. Die Fachbegriffe deuten an, wo sich die Anmerkung befindet: zwischen, neben oder rund um die Zeilen des Haupttextes. Die Glosse, eine kurze Begriffserklärung oder Übersetzung eines Wortes, ist offensichtlich verwandt mit dem bereits erwähnten Glossar. Das Mittelalter ist deshalb eine interessante Station in der Geschichte der Anmerkungen, weil die Anordnungen von Schrift und Zeichnung auf einem Stück Schreibmaterial (hauptsächlich Pergament) viel über Schreib-, Lese- und Übersetzungspraktiken erzählen. Der Fahrtwind bläst mir Baustellenstaub in die Augen.8 In der Zeitspanne vom 5. bis zum 15. Jahrhundert findet das Schreiben vor allem im religiösen Kontext (z. B. Kloster) statt. Es ist ein kollektiver Prozess: Mehrere Schreiber:innen und Illustrator:innen arbeiten an einem Text, gleichzeitig oder nacheinander, die Autor:innen bleiben meistens anonym. Der Text wächst organisch mit, geht von Übersetzung zu Übersetzung, von Abschrift zu Abschrift und nimmt Fehler, Flecken, Auslassungen, Kritzeleien und Unleserlichkeiten in sich auf. Der Raum für Additionsprozesse wird in der Produktion schon mitgedacht: Zwischen den Zeilen und um die Textspalten herum wird Platz eingeplant und freigelassen. Es ist dabei durchaus möglich, dass die späteren Anmerkungen mit dem Haupttext überhaupt nichts zu tun haben, zum Beispiel wenn sich ein ganzer Haufen von a-Buchstaben als Schreibübung mit neuem Werkzeug entpuppt, oder eigenständige Geschichten an den Rändern entlangwachsen. Anmerkungen stellen eine Tradition von Diskussion, Übersetzung und Kritik in den (Blatt-)Raum. Es können Jahrhunderte vergehen, zwischen dem Schreiben und dem Lesen und dem Fußnotieren, und man findet bereits eine Sammlung von Anmerkungskapseln vor.
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Ich nehme die Hände von der Lenkstange, balanciere, schnäuze mich in den Ärmel und werden von zwei Rennradfahrern überholt. Die Organisation von Text und Schreiben ist eine Organisation von Wissen und ordnet Inhalte (räumlichen) Positionen zu. Wer in autoritären heiligen Schriften keine Erwähnung findet, rankt sich in der nächsten Abschrift in delikaten Posen aus der Ecke und feuert aus dem Hintern Pfeile auf aufwendig gestaltete Großbuchstaben. Ein subversives Gespräch mit der Blattmitte. Manchmal hätte ich gerne Anmerkungen, wo keine sind. In einer Ökonomie des Lesens ist linearer Fließtext effizient. Es erfordert Konzentration, mehrere Textteile, über die Seite verteilte Satzfragmente miteinander in
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Der Bestand der Griffelglossen in heimischen Gewässern ist bis heute stabil. Zoe Darsee: Doppelonkel oder was tun wegen der Ehefrau. In: Edit, Nr. 86, Sommer 2022, S. 58. Aus dem Englischen übersetzt von Lara Rüter.
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16 „The not-straight line is drawn from a point where two lines cross if the first line is drawn from the midpoint of the topside to a point halfway between the midpoint of the right side and the lower right corner, the second line is drawn from the start of the straight line to the upper right corner, to a point halfway between the midpoint of the bottom side and the lower left corner.“
„Die Letter besitzt einen Kopf, ein Gesicht, Fleisch und einen Fuß, Matrizen haben Augen, Setzlinien Ohren und am vorderen Ende der alten Setzschiffe befanden sich deren Zungen.“
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Beziehung zu setzen, sie im Ganzen neu und immer wieder abzuwägen.9 Vorausgesetzt, man blendet sie nicht einfach aus. (Computer oder Oktopoden mit ihren dezentralen Hirnen könnten wahrscheinlich leichter mehrere Textstellen gleichzeitig verarbeiten.) Eggenwebers „Operationen“ habe ich mehrmals gelesen. Die Anstrengung, die anfangs da war und mit der ich versuchte, alles, was am Blatt lag, zu fassen, wich allmählich einem Wahrnehmen von Details, Spots. Kurze, aufleuchtende Schnipsel, gesammelt. An der nächsten Kreuzung schneidet mich ein silberner Geländewagen. Ich klopfe auf die Motorhaube, der Fahrer lässt das Fenster herunter und schreit. Würde ein Text vorgelesen, könnte man die Fußnoten heraushören und sie als solche identifizieren und wenn ja, warum?10 Das laute Lesen von Fußnoten ist ungewohnt. Ich stelle mir vor, wie eine wissenschaftliche Tagung zur lyrischen Lesung wird.11 Die Sonne spiegelt sich in den Windschutzscheiben der vorbeifahrenden Autos. Im Jahr 1987 prägte der Literaturwissenschafter Gérard Genette mit seinem Buch Paratexte den gleichnamigen Begriff. Paratexte sind Elemente, die den Haupttext ergänzen und begleiten, beispielsweise Titel, Vorwort, Dank oder Kommentar. Seine Analyse beruht allerdings fast ausnahmslos auf Romanen französischer Schriftsteller der Moderne, die er als Prototyp und Maßstab für (männliches) literarisches Schaffen heranzieht.12 Er schreckt auch nicht davor zurück, Anmerkungen als Krankheit des Texts zu bezeichnen. Er schreibt: „Mit der Anmerkung stoßen wir zweifellos auf eine respektive viele (nicht-)vorhandene Grenzen, die das hochgradig transitorische Feld des Paratextes umgeben. Diese strategische Bewandtnis entschädigt vielleicht für das zwangsläufig Enttäuschende an einer ‚Gattung‘, deren Auftritte definitionsgemäß punktuell sind, aufgesplittert, gleichsam verrieselnd, um nicht zu sagen staubig; oft sind sie so eng auf das eine oder andere Detail des Textes bezogen, daß ihnen eigentlich keine selbstständige Bedeutung zukommt: daher ein gewisses Unbehagen bei ihrer Behandlung.“13 Sie sind tatsächlich oft unsäglich klein und lang, die Fußnoten. Wie Papillarkörper, nur mit der Pinzette zu greifen. Also warum sie nicht gleich in den Text integrieren? Genette wieder: „Zumindest vom Standpunkt einer klassizistisch angehauchten Diskursästhetik bestehen die evidenten Einbußen darin, daß eine in den Text
Monika Rinck: Begriffsstudio. Online unter: https://begriffsstudio.de. Jacques Derrida: This Is Not an Oral Footnote. In: Stephen A. Barney (Hg.): Annotation and Its Texts. New York, Oxford: Oxford University Press, 1991, S. 193. 11 Dude: Fußnote. 12 Der „Roman schlechthin, der Roman eines Mannes“. Gérard Genette: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2001, S. 14. Ein mehrmals von Genette im Buch zitierter Schriftsteller ist der rechtsextreme Renaud Camus. Er gilt als Vordenker des faschistischen Rassemblement National (S. 55f., 275, 306, 320, 351). Auch wenn einige seiner bedenklichsten Schriften erst nach den Paratexten erschienen sind, ist aufgrund medialer Aufzeichnungen und Äußerungen anzunehmen, dass dessen weit rechts gerichtete Geisteshaltung schon bis zu einem gewissen Grad bestanden hat. Genette weist bei seiner literarischen Analyse nicht kritisch auf den ideologischen Hintergrund des Autors hin. 13 Ebd., S. 304, und zur „Pathologie der Anmerkung“ siehe S. 312 und 326.
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Jacques Derrida: „An infinitely ‚unannotatable‘ text provokes infinite annotation. In this way the order says, ‚Read me, be satisfied with reading me, I am here in front of you‘; yet it also says, ‚If you want to read me, you must write, you must do something other than reading.‘ Read me and don’t read me.“
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integrierte Abschweifung darin eine unansehnliche oder gar Verwirrung stiftende Beule bilden könnte.“14 Die Beule als unansehnliche Ausstülpung und Verkörperung der Nicht-Linearität des Erzählens. Die Fußnote, die im Layout aus dem Fließtext ausgelagerte Anmerkung, sorgt jedoch für flüssiges Lesen. Sie bewahrt den Lesefluss. So viel Flüssigkeit, kann das gutgehen? Um schmerzhafte Druckstellen zu verhindern, sollten die Beulen geöffnet werden. Das Skalpell bitte. Operiert wird in Stefan-Manuel Eggenwebers Text auf mehreren Ebenen. Konkret am Körper, am Textkörper, an der Sprache. Es ist ein regelrechter Rechtschreib-Splatter, ein queerer Sprach-Cyborg-Horror für den Duden und dudes: „WonderCripWoman: seine unterarme haben jetzt saugnäpfe plus hat blitzneue lunge mit mega kapazität. kann ganz unsilbrig acht tage unter wasser überleben, dammt! also mach dir keine köpfe, gibt härtere schicksale. mach lieber nen gucker nach container für alte lunge.“15 Eggenweber seziert die Sprache: Artikel, Pronomen werden entfernt. Wörter hinzugefügt, erfunden, abgekürzt, verändert oder neu definiert. Buchstaben spritzen in alle Richtungen. Die Schnitte und Brüche an der Form, am Textkörper und seiner Anatomie, der typografischen Ausrichtung im Blattraum reichen vom Schreiben zum Lesen herüber und wieder zurück. Kategorien und Eindeutigkeit werden verabschiedet. Welche Linien zögen die Augen wohl über die Fläche, würde man ihre zuckenden Bewegungen aufzeichnen?16 Ich bremse, steige ab. Ein Umweg, aber was soll’s. Durch Schriftsetzer:innen in der Druckerfachsprache etabliert, festigt sich der Begriff der Fußnote im deutschsprachigen Raum in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, auch wenn das Konzept ab dem 17. Jahrhundert Anwendung findet.17 Der Fuß ist schlicht das untere Ende des Texts oder des Schriftstücks. Die anthropomorphisierte Druckersprache (Kopfzeile, Haarlinie, Fußnote, Fußzeile) spiegelt sich bis heute in Typografie, Schreib- und Officeprogrammen und der HTML Hypertext Markup Language (, , ) wider. Im Englischen ist footnote sowohl Verb als auch Substantiv. Es ist möglich zu sagen: I am a footnote. I am footnoting. Ich bin eine Fußnote. Ich vermerke in den Fußnoten. Ich fußnotiere. Ich notiere mit dem Fuß? Ich bin so in Gedanken versunken, dass ich über eine Unebenheit am Boden stolpere. Wege, die Muscheln und Schwämme in Stein gefressen haben, ähneln den Nachrichten, die ein Borkenkäfer in Baumrinde fräst. Deciphering an animal script. In meinen Haaren haben sich herumfliegende Pflanzensamen verfangen.
Ebd., S. 312. Eggenweber: Operationen, 2019, S. 218. 16 Abschrift eines Ausschnitts von Sol LeWitt: Working Drawing for Wall Drawing, 1974, ink on paper (LeWitt Collection, Chester, Connecticut USA). Gefunden in: FUKT Magazine for Contemporary Drawing. #17 The Words Issue: Written Drawings. Berlin, 2018. 17 Vgl.: Evelyn Eckstein: Fußnoten: Anmerkungen zu Poesie und Wissenschaft. Münster: LIT Verlag, 2001, S. 23. Kurt Dröge: Die Fachsprache des Buchdrucks im 19. Jahrhundert. Lemgo: F. L. Wagener, 1978, S. 51. 14 15
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M. NourbeSe Philip schreibt: „only in not-telling can the story be told; only in the space where it’s not told – literally in the margins of the text, a sort of negative space, a space not so much of non-meaning as anti-meaning.“
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Das metaphorische Bild der Beule evoziert einen flachen Schreibuntergrund, auf der Text geradlinig angeordnet wird. Damit werden Annahmen einer bestimmten Schriftlichkeit vermittelt. Funktioniert das Konzept von Anmerkungen auch mit einem Schreiben, das sich nicht nur auf papierenem, flachem Material manifestiert? Eine Anmerkung braucht etwas, auf das sie sich bezieht. Einen anderen Text. Ohne ihn wäre sie selbst Haupttext und keine Anmerkung. Das bedeutet, dass Fußnoten nicht ohne einen sogenannten Haupttext funktionieren, den sie ergänzen oder übertragen.18 Eine Tafel zeigt mir an, dass ich mich am Stadtrand befinde. Die Äste eines Baumes hängen tief über den Weg. Verführt vom Duft, bleibe ich stehen, und ich breche ein paar dünne Zweige ab. Ich denke an die Figuren, die in den Marginalien der mittelalterlichen Codices hocken und Schabernack treiben. Wer wird zitiert, was befindet sich am Rand oder außerhalb einer Erzählung? Der Rand festigt den Kern, der ohne diesen keiner ist. Was oder wer zentral ist und zur Sprache kommt, ist verhandelbar und gekoppelt an Diskurse und Machtverhältnisse. Die beiden Geograf:innen Neil Smith und Cindi Katz schreiben:
„The notion of margins and borderlands is (...) interesting, especially with the implication of permanent location at the edge, but of course it leaves a core identity intact, a forceful locus of power uninterpolated.“19 Wenn Genette Anmerkungen als „punktuell, aufgesplittert, gleichsam verrieselnd“ beschreibt, dann zeigt das den geringen Handlungsspielraum und die Passivität, die er ihnen zuspricht. Im Umkehrschluss wird der Fließtext zur konzentrierten, stabilen Mitte der Information. Andererseits ist die Beschreibung auch ungewollt schön; etwas glitzert am Boden und fängt kurz den Blick. Ein Körnchen, das im Socken kratzt, ein kurzes Aufleuchten eines Gedankens, der im nächsten Moment schon wieder verfliegt. Im Grunde entziehen sich die drei Adjektive punktuell, aufgesplittert und verrieselnd einer Dichotomie von Zentrum und Peripherie. Die Zweige piksen mich durch den Rucksackstoff in den Rücken. Fußnoten haben Wirkung, weil sich durch sie die Reproduktion von bestimmtem Wissen manifestiert. Wessen Wissen findet Gehör? Welche Belege begründen die Argumentation? Der eigene schreibende Ausgangsort bildet kein Zentrum, um den sich alles andere dreht, sondern reiht sich in ein bereits bestehendes Gewebe aus Stimmen und Perspektiven ein. Die Theoretikerin Katherine McKittrick forscht ausgehend von den Black Studies zu Fußnoten und Praktiken des Aufeinander-Verweisens. Sie schreibt, dass innerhalb
18 Derrida: This Is Not an Oral Footnote, 1991, S. 202f. Derridas Text ist der letzte Beitrag in einem Sammelband über (hauptsächlich: mittelalterliche) Annotationen. In dem Exemplar, das ich aus der Universitätsbibliothek entlehnt habe, sind Spuren vorheriger Leser:innen zu erkennen. Ich brauche ein Vergrößerungsglas zum Hindurchmanövrieren: Schnipsel, Brösel, abgezwickte Ecken, Unterstreichungen, erschlagene Mücken, Korrekturen, Zeichnungen, Übersetzungen, Flecken, Löcher, Sternchen. Jedes Bläschen transportiert Informationen über das Lesen, oder eben: Nicht-Lesen, und tritt so in jedem Fall in eine Art von Beziehung mit dem Text. 19 Neil Smith und Cindi Katz: Grounding Metaphor. Towards a spatialized politics. In: Michael Keith, Steve Pile (Hg.): Place and the Politics of Identity. New York: Routledge, 1993, S. 76. Monika Rinck: Begriffsstudio.
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„4618 ein glossiges Amberfinish“
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hyper hyper
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eines von Rassismus und Fremdbestimmung geprägten wissenschaftlichen Betriebs die Referenzen, Belege, Materialien, Archive die von ungleicher Machtverteilung geprägte Geografie desselben widerspiegeln würden: „The reference notes are like map legends and cartographic keys that further explain how we read the plot, the cartogram, the borders, the diagrammatic data.“20 Ein paar Vögel ziehen über den Himmel. Ich lege das Rad neben mir ab. Die hintere Speiche dreht sich noch. Die Fußnote als Überträgerin von Texten, Quellen, Archivdokumenten, Materialien, Erzählungen, die auf bestimmte Orte (oder Nicht-Orte) verweisen. Aber wo liegt die Deutungshoheit für die sogenannten Haupttexte? Die beiden Schriftsteller:innen Saidiya Hartman und M. NourbeSe Philip suchen in ihrem Schreiben nach Möglichkeiten der Erzählens, nach Wegen, mit dem kolonialen (Archiv-)Material und der darin gespeicherten Gewalt umzugehen.21 Sie fragen danach, was überhaupt erzählt werden kann, will, soll; wie erzählt werden kann und wann eine (Wieder-)Erzählung scheitern muss. Philip arbeitet in ihrem Lyrikband ZONG! ausschließlich mit dem Wortmaterial einer Gerichtsverhandlung von 1783 zum gleichnamigen Sklavenschiff. Sie legt ein Glossar an und nimmt die Wörter bis in kleinste Einheiten (Buchstaben) auseinander, um sie, ihrer ursprünglichen Bedeutung entrückt, wieder neu anzuordnen. Am unteren Seitenrand einiger Gedichte befindet sich eine dünne Linie, darunter Namen. Fußnoten können ein Weg sein, um Möglichkeiten des Erzählens zu erweitern. Sie können partielle, fragmentarische, gebrochene, chorische Erzählweisen stützen. Eine Position ist ein Standort, der sich in Relation befindet, einen Sinn für Perspektive gegenüber anderen Orten beinhaltet und daher mehr ist als nur ein einzelner Punkt. Diese Idee heftet die Fußnote nicht so sehr in ihrem oppositionellen und unbeweglichen Verhältnis zum Zentrum fest, sondern betont ihre vernetzende und referenzielle Eigenschaft. Der Rand. Ich schwenke die Trinkflasche, nehme einen Schluck und beobachte die Schlieren. Sie ziehen sich vom fettigen Mundabdruck die Rundung hinab. Die Fußnote ist ein Stauraum von Bedeutung. Sie ist Werkzeug des wissenschaftlichen Schreibens und trägt als Transporteurin von Informationen wesentlich zu Epistemologie(n) bei. Die Zitate und Quellen, die sie beherbergt, sind kleine Bausteine, die für verlässliches, abgesichertes Wissen stehen und (akademische) Gemeinschaften generieren, die sich stützen, indem sie aufeinander verweisen. Versucht man nicht, möglichst viele „allies in one place“22 zu versammeln, um an Glaubwürdigkeit zu gewinnen? „nachdem ich über netze das wichtigste lernte, dass sie nämlich sich weiten.“23
Katherine McKittrick: Dear Science and Other Stories. Durham: Duke University Press, 2021, S. 33. Saidiya Hartman: Venus in Two Acts. Cassandra Press, 2021; M. NourbeSe Philip: ZONG! As told to the author by Setaey Adamu Boateng. Toronto: Mercury Press, 2008, S. 201. 22 Bruno Latour: Visualisation and Cognition: Drawing Things Together. In: Knowledge and Society. Studies in the Sociology of Culture Past and Present (6) 1986, S. 23. Monika Rinck: Begriffsstudio. 23 Monika Rinck: Ebd., Aus dem ergänzenden Kommentar zum Begriff „1899 das rumhelfen der stammgäste“.
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Von hier oben sehe ich über die Dächer. Wolken hängen am Himmel. Ich stehe auf, schmeiße den abgenagten Apfel ins Gebüsch, halte kurz die Luft an und setze mich wieder aufs Rad. Der Fahrtwind zieht in den Ohren. Ich beuge mich über die Lenkstange. Es riecht nach frisch gemähten Wiesen. Ich bin schnell. Um mich herum verschwimmen die Häuserfassaden. Ich biege in die Einfahrt ein, bremse zu aprubt, rutsche und schlage mir am Schotter die Knie auf. Es brennt. Kleine Steinchen haben sich unter die Haut gegraben. Ich wische mir den Rotz in die Hose und bleibe im Kies liegen. Der Deckel der Fahrradklingel ist abgesprungen und liegt jetzt vor der Tür zur alten Waschküche. Zwischen den Steinchen wachsen Gräser und Unkraut. Von unten sehen sie aus wie große Blumen im Kleinen.
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Es ist ungewöhnlich warm draußen. Ich ziehe den Pullover aus und setze mich zum Tisch. Mein Schreibprogramm gibt ein enges Layout vor. Es ist schwierig, davon abzuweichen. Die Anordnung von Textbausteinen, die anatomische Aufgliederung des Dokuments in Kopf- und Fußzeilen sind durch Voreinstellungen automatisiert. Das Einfügen von Endnoten innerhalb von Fußnoten ist nicht möglich. Schriftgröße und somit Leserlichkeit von Fuß- und Endnoten sind hierarchisch geordnet, das heißt, Fußnoten innerhalb von Fußnoten müssten demnach noch kleiner sein, Zehnoten oder Nanonoten, die irgendwann zu Pulver und aus dem Spektrum der Sichtbarkeit verschwinden (verrieseln) würden. Ich entscheide mich dafür, Fließtext und Anmerkungen dieses Texts in der selben Schriftgröße zu setzen. Allerdings brauche ich ein spezielles Designprogramm, um in zwei Spalten unabhängig voneinander zu schreiben. Hier fehlen die rot unterwellten Linien der in das Schreibprogramm integrierten Funktion „Rechtschreibprüfung“. Keine winzigen Blutgefäße und Gerinnsel, die den Text durchziehen und sagen: Hallo, kenne ich nicht. Mein Bildschirm ist klein, und es stapeln sich Fenster und Tabs. Was bedeutet ein Nachdenken über Fußnoten für den eigenen Umgang mit Fußnoten? Vielleicht kann man über bestimmte Aspekte nur nachdenken, wenn man dem Lesefluss die eine lenkende Bahn abgräbt. Gibt es überhaupt so etwas wie einen geschlossenen Text, oder ist er immer nach allen Seiten hin offen, mit Angeboten zum Abschweifen, die vielleicht auch nirgendwohin führen, einfach versanden? Ich erinnere mich, wie du mir einmal mit dem Filzstift Smileys auf meine Zehen gemalt hast. Du hast gesagt, sie sehen aus wie kleine Reifenmännchen.
Anna Draxl *1992, aufgewachsen in Klagenfurt/Celovec. Studium der Germanistik an den Universitäten Graz und Wien und am Institut für Sprachkunst an der Universität für angewandte Kunst Wien. Abschlussarbeit zur Anatomie von Fußnoten im Master für Kunstund Kulturwissenschaften ebenda. Lebt und arbeitet in Wien.
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wachen Fenstersimsschaukeln. Gebrauchte Autos im Vorbeet. Sonnen krachen in Wacholderbüsche, dampfend.
Fenster, suiziddicht. Dämmwolle. SUVs und ein gebrauchtes Auto in der Parkbucht.
Der Morgen: Hallo. Die Katze: Ne, jetzt nicht. Mein Bein schmerzt. Ich, ein Ich, ein Subjekt, das sich selbst im Schlaf denied: Es hat an der Tür geklopft. Der Kater: Ich klopfe nicht. Ich kratze. Der Morgen: Herein. Ich, ein Ich, ein Subjekt, das sich selbst im Schlaf nicht ausruhen kann, schält sich aus der Decke.
Ich, ein Ich, ein Subjekt, das sich selbst im Schlaf fürchtet: Ich möchte umdrehen. Der Kater: Das ist eine Tierklinik. Der Morgen. Das war eine Tierklinik vor dem Krieg. Arzthelferinnen im Chor: Guten Morgen. Der Morgen: Guten Morgen.
Wacholderbüsche bei den Wurzeln packen.
AUSREIßEN, DRAUFSPUCKEN, HINLEGEN, SCHLAFENGEHEN. Der Kater: SCHNURRR. Der Morgen: Du bist immerhin auf der Warteliste. Ich, ein Ich, ein Subjekt, das sich selbst im Schlaf nicht mehr wälzen kann: Schnurrr. So kommentierst du die aktuelle Situation?! Der Morgen: Bald wirst du therapiert. Der Kater: AUSREIßEN, DRAUFSPUCKEN, HINLEGEN, SCHLAFENGEHEN. Ich, ein Ich, ein Subjekt, das sich selbst den Schlaf nicht gönnt: Als würde das so ablaufen. Der Kater: Mein Bein schmerzt. Der Morgen: Ein Auto hat ihn erwischt. Ich, ein Ich, ein Subjekt, das sich selbst im Schlaf verlässt: Kliniken lassen mich klamm fühlen. Der Kater: Es liegt in deiner Hand. Der Morgen: AUSREIßEN, DRAUFSPUCKEN, HINLEGEN, SCHLAFENGEHEN. Ich, ein Ich, ein Subjekt, das sich selbst im Schlaf leugnet: THE QUEEN (KING) REIGNS, BUT DOES NOT RULE.
Arzthelferinnen im Chor: Was können wir für Sie tun? Wir, ich, sie, er, du sind da für Sie. Der Morgen: Guten Morgen. Wir suchen eine Fachkraft. Arzthelferinnen im Chor: Wir sind vom Fach. Wir, ich, sie, er, du. Setzten Sie sich. Wir sind das Fach. Der Kater: Habt ihr Tee? Ich, ein Ich, ein Subjekt, dass sich selbst im Schlaf sucht: Ich war hier schon einmal. Der Morgen setzt sich. Die Arzthelferinnen im Chor: Ihr Bein zuckt, zuckt. Sollen wir Hilfe holen? Der Kater: Pfefferminztee, das ist ja fast wie bei Oma zu Hause. Der Morgen: Wir stehen im Halteverbot. Wo ist die Fachkraft. Das muss jetzt schnell gehen. Die Arzthelferinnen: Eine leichte Tablette gegen den Schmerz? Der Kater: Gerne einen Pfefferminztee, wie bei Oma zu Hause. Ich, ein Ich, ein Subjekt, das sich selbst im Schlaf sieht: Mir geht es besser, danke. Haben sie noch mehr Tabletten auf Rezept? Fenster, geöffnet. Gebrauchte Autos im Vorbeet. Anwohnerinnen schneiden an Hecken.
Ich, ein Ich, ein Subjekt, das sich selbst im Schlaf nicht mehr schlafen sieht: Frau Nachbarin, lassen Sie sich einen Rat geben. Der Kater: Mit gesunden Beinen die Hecke an der Wurzel reißen. Vor dem Krieg. Der Morgen: Nach Sonnenaufgang. AUSREIßEN, DRAUFSPUCKEN, HINLEGEN, SCHLAFENGEHEN.
LEON ERIK RAFAEL BUCHNER
Die Nachbarin: Wie geht es Ihrem Haustier? Ich, ein Ich, ein Subjekt, das sich selbst in kollektiven Träumen wiedererkennt: Die weißen Räume, Gitter vor den Fenstern, der Geruch nach Desinfektionsmittel und Exkrementen. Ich fürchte es floh. Haben Sie etwas bemerkt? Die Nachbarin: Wann war das? Der Morgen: Eben erst, morgens. Der Kater: Vor Sonnenaufgang. Die Nachbarin: Meine Hündin wurde eingeschläfert. Der Morgen: AUSREIßEN, DRAUFSPUCKEN, HINLEGEN, SCHLAFENGEHEN. Ich, ein Ich, ein Subjekt, das sich selbst im Schlaf für Tierleben aufopfert: Weiß der Tierschutz Bescheid? Die Nachbarin: Der Tierschutz schützt nicht mehr. Der Morgen: Ausnahmezustand, ausnahmsweise. Der Kater: Eben erst, morgens. Die Arzthelferinnen im Chor: Wir sind das Fach. Wir pflegen Hecken, Hunde, Menschen nicht nur in der Freizeit. Ich, ein Ich, ein Subjekt, das sich selbst im Schlaf betäubt: Was meint ihr, Wacholder? Die Nachbarin: AUSREIßEN, DRAUFSPUCKEN, HINLEGEN, SCHLAFENGEHEN. Der Kater: BALDRIAN. Der Morgen: Oder Tabletten. Die Nachbarin: Einen schönen Abend noch, ich fahre jetzt in die Klinik meine Wunden lecken. Der Kater: Die ihrer Hündin meint sie, oder? Ich, ein Ich, ein Subjekt, das sich selbst im Schlaf vergisst zu erinnern: Die Klinik ist kein Ort zum Verweilen. Die Arzthelferinnen: Wir, ich, sie, er, du, gestalten den Ort. Wir schmieden eiserne Balustraden. Wir sind vom Fach. Wenn du willst. Die Nachbarin: Ihr Grab soll aus einem Hauptelement und geschwungenen Nebenelementen bestehen. Der Morgen: Vergiss den Pfefferminztee nicht. Die Arzthelferinnen im Chor: Komm herein. Sei unser Gast. Die Nachbarin: Wahrscheinlich schlafen Sie zu dieser Uhrzeit noch, aber Sie sind herzlich eingeladen zu der Beerdigung meiner Hündin. Ich, ein Ich, ein Subjekt, das sich selbst im Schlaf nicht an den Tag gewöhnt: Dann werde ich halt mal früher aufstehen. Das lässt sich sicher einrichten, Frau Nachbarin. Die Nachbarin: Freut mich. Dann wünsche ich Ihnen eine angenehme Nachtruhe, Frau Nachbarin. Der Kater: Gute Nacht. Der Morgen: In der Nacht.
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Fenster, gekippt. Verbrauchte Stadtluft. Autos schlafen. Büsche buschen.
Der Kater: Sie wäre bei ihrer eigenen Beerdigung wach. Der Morgen: Sei leise, sie will schlafen. Der Kater: Mein Bein schmerzt. Die Nachbarin steht am Fenster, spannt durch die Vorhänge. Der Kater: Die Nachbarin hat Interesse. Ich, ein Ich, ein Subjekt, das sich selbst im Schlaf wiederholt: AUSREIßEN, DRAUFSPUCKEN, HINLEGEN, SCHLAFENGEHEN. Der Morgen: Sie träumt mit offenen Augen. Der Kater: Lange Flure, geschlossene Räume. Der Morgen: Sie schläft nicht. Der Kater: Die, die immer wacht. Die Arzthelferinnen im Chor: THE DREAM (KING) REIGNS BUT DOES NOT RULE. Die Nachbarin: THE QUEEN IS DEAD. Ich, ein Ich, ein Subjekt, das sich selbst im Schlaf nicht traut, aufzustehen: Morgen wache ich vor Sonnenaufgang auf und stelle mich meinen Problemen. Dann Beerdigung. Dann Klinik. Dann Hecke schneiden. Wie alle.
WACHEN
Leon Erik Rafael Buchner *1999, lebt in München und studiert Kunstpädagogik an der Akademie der Bildenden Künste München. Neben seiner Schreibpraxis partizipierte Leon an Ausstellungen in München und Marseille. Er war Teil einer Gruppenausstellung im Kunstpavillon München, nahm an der von Daniel Man kuratierten Ausstellung „FOR FREE“ in der Galerie Andreas Binder teil und zeigte seine Arbeiten im Salon du Salon in Marseille. Seit 2021 schreibt Leon an dem Romanprojekt „Sand“. „Fenstersimsschaukeln“ entstand 2022 und verwebt Autobiografisches mit Schicksalen Leon nahestehender Personen. „Fenstersimsschaukeln“ wird als Grundlage für eine Performance-Serie gelesen und soll im Jahr 2023 realisiert werden.
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MICHÈLE YVES PAUTY
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Michèle Yves Pauty arbeitet als visuelle Künstler*in und Autor*in und absolviert derzeit den Master für Literarisches Schreiben am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Pautys fotografische Arbeiten wurden u. a. bei FOTO Wien, Vienna Design Week, Parallel, PhotoIreland und Eyes On gezeigt, die schriftstellerischen wurden in diversen Magazinen und Anthologien veröffentlicht. Für das Roman-Manuskript „Familienkörper“ hat Pauty das Hilde-ZachLiteraturförderstipendium der Stadt Innsbruck und das Projektstipendium für Literatur der Stadt Wien erhalten. Pauty lebt in Wien und Leipzig und ist Teil des Kollektivs sy:rup.
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ein Gespräch über Privileg das ist ein Text über mich
du legst dich in den Lichtfleck am Boden, den Kopf auf der Matratze, und das Handy in deinen Händen wirft Schatten auf dein Gesicht. Die Arme sind zu kurz für den gewünschten Ausschnitt. Ich erinnere mich an das Bild vom Vortag, harte Schatten an den falschen Stellen, hat es die restliche Ästhetik in deinem Feed unterbrochen. Ein Halbkörperporträt, dein Blick in die Kamera, dein Oberkörper frei. Ich biete dir meine Hilfe an, mache das Foto im Sonnenwurf von dir. Der Oberkörper wieder frei, und wieder ist es wichtig, dass er am Bild sichtbar ist. Du rekelst dich unter dem Handy, einen Arm unter den Kopf geschlagen, bringst dich in Pose, die Brust hervorgestreckt. Ich mache mehrere Bilder und gebe dir das Handy zurück. In der halben Stunde bevor du gehst, beginne ich das Gespräch. Einem Unwohlgefühl folgend, ohne vorher nachzudenken, aufzuschlüsseln. Ein Gespräch über die Dokumentation wachsender Brüste auf Instagram, über Privileg, über Zensur. Eigentlich ist es auch kein Gespräch. Ich spreche, du hörst zu. Dass andere vor dir schon das misogyne System aufgezeigt haben. Warum du dein Privileg ausnützt. Die Nippel-Zensur auf Instagram, TikTok, Facebook, sie besteht. Du willst einen Punkt machen und schützt dabei nicht, was sich in mir eingeschrieben hat zu schützen. Unsere Gesellschaft teilt und in dieser Teilung ist mein Körper nicht frei. Er ist unfrei. Ein ganzer Planet und die Hälfte der Spezies Mensch darauf hat einen anderen Wert. Die KI wiederholt dieselben Muster, auch sie kann nur so gut sein, wie die Menschen, die sie füttern. Aber nichts ist gut. In den acht Jahren unserer Beziehung habe ich die Differenz zwischen uns nie stärker empfunden, wie in diesen Moment, in dem du deinen Oberkörper der Kamera entgegenstreckst. Du zeigst deine Brüste ohne den Impuls zu bedecken. Die Annäherung, die unsere Körper in den letzten Monaten erfahren, meine Hormone sind jetzt auch deine Hormone, fühlt sich in diesem Augenblick so an, als wird mir etwas genommen. Als könntest du wechseln und einfach haben, was du begehrst. Weicher
MICHÈLE YVES PAUTY
Körper, Brüste, weniger Körperhaar, alles ohne die Jahrzehnte Microdosing von sexuellen Übergriffen, verbalem Belittleing, Blut, jedes Monat Blut, die Kosten von Menstruations- und Verhütungsprodukten, die Schwierigkeit, wenn wieder eine Toilette ohne Waschbecken und der blutige Cup in der Hand, der Versuch, mit der anderen die Hose überzuziehen, den Körper bedecken, um nicht nackt am Waschbecken zu stehen. Du ersparst dir die Blicke erwachsener Männer, die dein Aufwachsen begleiten. Den Blick auf dein T-Shirt, ob schon genug vorhanden ist für einen Kommentar. Ich bin zwölf Jahre alt und auf einem Spielplatz, gerade einmal ein A-Körbchen, und ein mir unbekannter Mann kommt zu mir: „Es wird Zeit für einen BH.“ Aber ich habe doch Pirat auf dem Schiff gespielt, eben noch war ich auf See, bereit, die Männer mit den weißen Perücken zu überfallen. Dieser Mann fällt mir immer wieder ein. Wann hört ihr auf, Körper zu beurteilen, zu kommentieren, was nicht euer ist. Der Kommentar beginnt und endet bei eurem eigenen Körper, will ich euch hineinprügeln. Jeden Blick, der meine Freiheit einschränkt, will ich aus euch herausschlagen. „Woher kommt diese Wut?“, fragt ihr euch. Ich bin noch nicht vierzehn und er über vierzig, an der Bushaltestelle fragt er mich, „hast du schon und bist du nicht interessiert“. Der siebzigjährige Mann, der mein Handgelenk festhält, „ich zahl’ es dir, wenn du mitkommst“. Der Betrunkene, der seine Hände auf meine Brüste legt, „schön weich“. Die vielen kleinen Übergriffe gesammelt auf ein Leben, nicht erwähnt das tägliche Kommentieren, Nachpfeifen, Beschimpfen, wenn nicht freudig reagiert wird, ich weiß, meine Wut gilt einem System, an dem alle partizipieren. Aber in diesem ersten Moment weiß ich nicht, wohin mit dir und deinen Brüsten, die in den letzten Monaten wachsen konnten ohne diese vielen Blicke, hungrig, gierig, ohne fremde Hände auf ihnen. Ich habe dieser Person ins Gesicht geschlagen und alle Menschen haben gelacht, einige haben gegrölt, haben es gut gefunden, dass ich mich wehre, aber warum muss ich überhaupt? Scham im Körper, habe ich die Tränen damals heruntergeschluckt. Alle haben es gesehen, haben zugesehen, niemand hat ihm gesagt, dass sein Verhalten Gewalt ist. Erzähle ich Männern von meinen Erfahrungen, reagieren sie empört, aber nie ändert sich etwas. Freundinnen von mir, viel jünger als ich, neunzehn, einundzwanzig, vierundzwanzig, erzählen mir von täglichem Catcalling. Auf jedem Weg, unabhängig von der Uhrzeit. Als wäre es schlimmer geworden seit meinem Aufwachsen. Dein Bild vom Vortag ist noch immer auf deinem Feed, Hashtag wannisteinebrusteinebrust. ich will uns alle in Freiheit sehen, jede*r soll sich selbst sein können, unverhüllte, unzensierte Brust auf Insta als Mindestmaß für gesellschaftliche Gleichberechtigung. Ich sehe mir dein Bild an, blicke auf deine unverhüllte, unzensierte Brust auf Insta und kann nicht das gleiche Bild posten. Es wäre in Sekunden gelöscht, meine Reichweite beschnitten, bei Wiederholung mein Profil gesperrt. Es ist schwer, dir zu gönnen, was die Gesellschaft mir verwehrt. Ich kann nichts ungeschehen, unerlebt machen. Auch du kannst es nicht. Diskriminierung trifft uns alle, du bist, warst, wirst nicht frei davon sein. Unsere Brüste unterscheiden sich nicht. Beide weich, nur die Erfahrungen sind andere. Zensur von außen wächst über die Jahre zu Selbstzensur. „Wir sind gewohnt uns zu schützen.“ Und im Gespräch mit dir werde ich plötzlich Teil eines Wir, von dem ich mich längst losgesagt habe. Und du bist plötzlich nicht Teil von dem Wir, weil du nicht auf den Gedanken kommst zu schützen, was du dir so sehr ersehnst. Als ich das Foto von dir gemacht habe, hast du stolz deine Brust gezeigt.
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EIN GESPRÄCH ÜBER PRIVILEG – DAS IST EIN TEXT ÜBER MICH
Ich will dieses System aus mir schreiben, mich von den gesellschaftlichen Einteilungen lösen, aber ständig fallen mir alle in den Rücken, „da ist schon ein Unterschied“, „Männer und Frauen sind einfach anders“ und ich weiß nie, meinen sie biologisch oder gesellschaftlich und überhaupt, kann Identität nicht ohne diese Schubladen sein? Wie viele Körper müssen noch durch diese Erfahrungen, ich könnte kotzen, wenn ich die Headline einer deutschen Zeitung lese „Junge Frauen deprimiert“, weiter im Text „Psychologen stehen vor einem Rätsel“. Es heißt, es geht uns gut. Besser als früher. Altersvorsorge, Gesundheitsvorsorge, Wohlstand, es geht uns nicht schlecht. Aber immer noch werten wir, reihen Hautfarben, Körper, Herkünfte. Es ist nicht gut. Nichts hat sich geändert an den Blicken, den Berührungen, den täglichen Übergriffen. In Österreich will eine Partei „Drag-Queen-Shows für Kinder verbieten“, Amerika titelt „Pedophilia is the next step from transgenderism“, verbietet das Wort „gay“ und medizinische Betreuung für trans Personen. Alles zusammen ist fucking patriarchy. „it feels like we should all be doubled over unable to move.“ Ama Codjoe ich will kein Außen, das sich zwischen uns schiebt. Unterschiede macht, wo keine sind, sein müssen und die niemand braucht im Körper, in der Sprache. Am nächsten Tag löschst du das Bild von dir. Morgen posten wir ein Bild zusammen, tauschen unsere Brustwarzen, bleiben sichtbar.
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PHILLIP MEINERT
Heimatnotiz I Jetzt ist es zu spät für Melonen, es gibt Kürbis. Ich stehe in der Küche und schneide mir in den Finger. Nur eine dünne Linie Blut, die an der Klinge kleben bleibt. Sie reicht höchstens zwei oder drei Generationen zurück, nichts, was einen Stammbaum füllen könnte. Einen Ast vielleicht, vielleicht auch nur einen Zweig; ein Schnitzer in der Rinde, der in der Küche Kürbis und sich in den Finger schneidet. Ich schwitze, obwohl es draußen kalt ist und die Heizung auf Frostschutz, der Drehknauf verrostet, die Fenster und Türen undicht. Auf Frostschutz. Ich habe keinen Frostschutz. Nicht im Schädel, nicht hinter dem Brustkorb, nicht in den Knochen, unter den Fingernägeln, hinter den Augen, unter der Zunge. Habe ich nicht. Ich habe keine Geschichten zu erzählen, nur die Kopfhörer in den Ohren, eine White Noise Machine, um mich auf meine Gedanken zu konzentrieren, beziehungsweise meine Gedanken auf mich. Endlich nachdenken können, in Ruhe, ohne Ablenkung: deshalb koche ich. Kürbis und nicht Melonen. Kürbis und nicht einen Schweinebraten. Kürbis und keinen Rehbraten. Kein Braten, der jemandem vor das Auto gesprungen ist, auf einer langsamen Landstraße, die wie ein Faden durchs Nadelöhr in mein Dorf gefädelt ist. Dort koche ich.
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II Hier stehen die Sterne noch rhythmisch am Himmel oder in Reih und Glied, je nachdem. Alles hat seine Ordnung. Nachts hör ich manchmal die Wildschweine quietschen und im Gebüsch die Autobahn. Ich bin nur zu Besuch. Auf Durchreise. Alles hat seine Ordnung, auch Rilkes Engel. Sie sind drapiert, durchfliegen jede Nacht meine Lektüre. Ich selbst bin nicht gläubig. Und ich glaube, auch Rilkes Engel glauben an nichts außer an die Worte, die er ihnen in den verschlossenen Mund legt. Sie sprechen ja nicht, werden nur von der Seite schief angeblickt und besungen. Vielleicht auch beschimpft. Ich möchte nicht abgelenkt werden, während ich die Elegien lese. Während ich Kürbis koche. Während ich schlafe. Ich möchte nur Schafe zählen, keine Engel. Hier kriecht mir kein Scheinwerfer durchs Zimmer, nur ab und zu das Licht einer Taschenlampe, das den Garten meiner Eltern abtastet. Die Pferde im Stall wiehern. Sie wiehern, als hätten sie auch zu viel Rilke gelesen und zu viel Kürbis gegessen. Nur ein paar Tage noch. Sie stampfen mit den Hufen auf: ich kann es nachts scharren hören. Hier kann man nachts nicht entkommen, der Weidezaun steht unter Strom. Und wohin würde man auch fliehen? Es gibt Dörfer. Und eine Tankstelle kurz vor der Autobahnauffahrt, von Schallschutzmauern umringt. Es gibt dort nachts Zigaretten zu kaufen, zu rauchen, im Licht der Straßenlaternen, den Geruch von Benzin in der Nase, Jazz hörend, wie man ihn als Rilkeleser, Rilkeausnahmeleser, Rilkenotleser hören tut, nachts, und furchtbar melancholisch. Manchmal ein LKW, der um die Kurve taumelt, angesoffen, auf Speed. Der Kühlergrill blank poliert. Soll heißen: der Staub ist noch frisch. Manchmal ein Nebel, der sich anschleicht, mir auf die Schulter klopft, und wenn ich mich umdrehe, wieder verschwindet.
PHILLIP MEINERT
III Ich koche also Kürbis. Ich habe den Kürbis geschnitten, in Würfel, und habe den Würfeln eine Haube Butter aufgesetzt, Salz und Pfeffer, und bei 200° in den Ofen. 32° unter dem Zündpunkt des Papiers, auf das ich beiläufig Gedichte schreibe. Tagsüber gibt es nicht viel zu machen und meistens stehe ich gar nicht erst auf. Es lohnt sich nicht für die paar Stunden Sonne. Es lohnt sich sowieso nicht auf dem Dorf, im Haus meiner Eltern, in meinem Zimmer, das schon lange nicht mehr mein Zimmer ist. Ein Skelett vielleicht. Ein Überbleibsel. Ein Fleck. Schmutzfleck. Schandfleck. Fettfleck. Etc. Es lohnt sich einfach nicht unter diesen geordneten Sternen, bei solch geringer Lichtverschmutzung: es lohnt sich nicht mal, nachts aus dem Haus zu gehen. Einfach in meinem fleckigen Zimmer sitzen und die fleckige Tapete anglotzen. Eine Zigarette rauchen und dann noch eine. Eine Seite Rilke lesen und dann zur Tankstelle fahren, wenn die Zigaretten leer sind und der Rilke leer ist, eine Packung Zigaretten kaufen. Weiterrauchen. Weiter die Tapete anglotzen. Die fleckige Tapete. Die in Flocken von der Wand blätternde Tapete. Den von der Wand blätternden Rilke. Und es kommen und kommen keine Engel. Der Kürbis schmeckt nach Kürbis.
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HEIMATNOTIZ
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IV Es wird kalt unter meiner Zunge. Oder kalt auf meiner Zunge, wenn ich aus der Luft eine Schneeflocke fange oder einen Satz, ein paar Wörter, die durch die Luft fliegen, zufällig. Ich bastle mir daraus Geheimnisse, die es nicht gibt – oder die es gibt, ich aber nicht kenne. Ich bastle mir aus den Schneeflocken einen Winter. Und ich bastle mir ein Weihnachtsfest. Und ich bastle mir einen Vorwand oder eine Gelegenheit, um hierher zu fahren. Vielleicht auch nur eine Notwendigkeit. Etwas, das erledigt werden muss. Eine Pflicht. Und ich hab natürlich nur meinen Rilke mitgenommen. Und meinen Kopf. Und meine Knochen. Und meine Fingernägel, meine Augen, meine Haut. Unterhose, Kleidung, Ladekabel. Es ist kalt und ich schwitze. Zwei Halbmonde unter meinen Achseln, selbst bei Frost. Und vor dem Fenster die Pferde, mit Pferdedecken auf den Pferderücken. Die frieren nicht. Kein Schüttelfrost. Nur diese ungeduldigen Hufe. Wenn es hier Geheimnisse gibt, dann kenne ich sie nicht. Ich bin nur zu Besuch da. Auf Durchfahrt. Ich koche Kürbis und mir wird kalt, im Nacken, es läuft mir den Rücken hinunter. Es läuft mir kalt den Rücken hinunter und ich schaue nicht hin, drehe mich nicht um und nichts kann verschwinden. Alles bleibt so, wie es sein sollte. Die Tankstelle, der Garten, mein Zimmer, die Küche, die Pflicht. Alles hat seinen Ort, wo es hingehört. Nur ich gehöre hier nicht hin. Aber die Tapete gehört hier hin. Der Kürbis. Meine Eltern. Die Geheimnisse. Manchmal, nachts, höre ich im Wald die Rehe tuscheln, als ob sie freiwillig in Richtung der Scheinwerfer laufen würden. Wir wurden hier davor gewarnt. Schilder wurden aufgestellt. Alles hat seine Ordnung hier. Auch die Engel, die an der Tankstelle auf mich warten, an der Autobahnauffahrt, auf meinem Fluchtweg. Auf meinem Rückweg. Nur noch ein paar Tage. Ich weiß von nichts. Ich habe nichts gehört. Nur nachts, manchmal.
PHILLIP MEINERT
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Phillip Meinert *1998 in Hof. Studiert am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Zuletzt veröffentlicht in BELLA triste, posse mag und The Open Sewers Collective. Mitglied der Apropos Lesebühne.
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GROUND OF CURIOSITIES a fragmented story out of the ground:
: ground(eng) yer(tr) or boden, erde(deu); a geological thickness, a material, a layer of the earth. a surface to stand on. a container, a protector of hi.stories, an archeological depth of soil. a geological layer of the earth. grounding.one.self common.ground ground.scape
each chapter was written after cellar visits chapter12: the ground and what we want There are certain hi.stories° that keep biting my head. I am a space that is filled with certain things. During my lifetime; manchmal those things were human and sometimes water or wine. Bazen the people who spent time here were happy and sometimes in anger and fear. People have fought under the city and on the surface of the city, then they even fought in the skies which I never saw with my own eyes^.
^ göz(tr) eye, pocket, cupboard(eng) or auge, gefach(deu); most eyed species has it in pairs. It works together with the brain and creates an image in the perception. Through the eyes we get our sensual and spatial information and can see three-dimensionally. The types of eyes can vary from one species to another, ranging from human eyes to snake eyes, the information that the brain can gather differs massively. while the human eye sees colors and depth, a snake’s eye can detect heat and have nocturnal vision. dört.gözle bekledik(tr): we waited with four eyes (with excitement)(eng) göz.ucu augen.winkel eye.sight göz.önünde.bulundurmak eyeing somebody
There were mines, coal mines and salt mines. Water mines and wine mines. People have worked below the ground with candle lights and scavenged for materials. In this city, the ground has changed during the hi.stories°. For the entities above the ground the landscape has changed over time. I haven’t seen it with my own eyes^. I have been witnessing their effects on the crusts of my body. I see it through the things that I get filled with. Once it was wars below the ground and people hiding from war above, then I became a material to use above, then a space of illegal activity where people stored their guns and drugs; then people became drunk on wine and filled with lust, they were searching unnamed phantasies; people died and other people have found home in here. Ungraspable but I will try to explain. Der Grund, wieso
ich überhaupt über Geschichte° rede, ist, dass ich in letzter Zeit viel über Zeit nachdenke. Ich denke über die Dinge nach,
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bazen(tr) sometimes (eng) or manchmal(deu) a word indicating that some.thing, some.body, some. event might occur, show up, take place on some dates, times, moods or might not. The word indicates uncertainty, therefore might be used either at the beginning of a sentence or after (ama) which gives it the negative connotation that it sometimes needs. off.and.on at.times from.time.to.time some.of.the.times time.to.time on.occasion ab.und.zu bis.weilen zu.zeiten
die hier sind, die hier passiert sind. Ich behaupte, dass ich bald sterben werde. All das bringt einen alten #Keller zum Reden. Achtzehnhundertvierzig, 1840, in the first district in Vienna:
a magical, fantastical underground space opened up. The New Elysium – Das Neue Elysium+. The old one has been destroyed so a new one was established by Mr. Daum. A destination for hidden pleasures. The historians and urban explorers of the time wrote about the place as a place of wonders. Room after room, continent after continent: one hops into a railed carrier pulled by a horse and cruises from the Amazon forests to the Australian outback and ends their hour-long trip in the familiar setting of the Alps. Some employees chant the Jodl and beer is poured in massive amounts. People in ecstasy and the troubles of daily life have shortly disappeared. PUF
Der Grund öffnet sich und eine Welt voller Fantasie zeigt sich unwiderstehlich. Die Palmen rundherum, die wild fliegenden Papageien, die ausgestopften Elefanten, der Sultan in seinem Harem. Alles Absurde, das eigentlich niemals im Grund landen würde, ist aber hier gelandet. ° hi.stories(eng) Der Grund entwickelt sich zu tarihi öyküler(tr) or historische einem Wesen, einem lebendigeschichten(deu); in this project, stories are gen Gefäß, das Sachen beinstripped from the (hi) to deliberately create a halten kann, die nicht einmal new way of thinking about the past. Instead of wahrnehmbar sind. Meine widening the space between the past and the Gedanken verformen sich. Ich future, the stories occur in any time and in any kann nicht schlafen und denke space under.the.ground but still be fueled by the an das Elysium. Düsünüyorum. (hi), in respect of reflecting and appreciating Düsünebildigim icin de ölüme the past knowledge(s). the understanding of o denli yakin hissediyorum. the past as some.thing that happened or ended Mr. Daum Elysium u kurdugunda a long time ago needs to be redefined since the Elysium bunun hakkinda ne stories might have ongoing trembling effects düsündü? Insanlara zevk vermek, on the present and the presents yet to come. zevkin mekani olmak Elysium spekulative.geschichten un istegi miydi? Icine giren story.telling insanlar, orada calisanlar, mekani dolduran palmiyeler ve duvarlarin kalinligi… Mekan hisleri olan, sorulara cevabi olan bir varlik ise, insanlarla nasil iletisim kurabilir?
~ yeralti(tr) under.the.ground(eng) or unter. der.erde(deu); a realm on earth, consisting out of layers: sediments, soil, bodies, trash, animals, plants. a solid body, a place where things are stored and preserved. the thickness of the ground and the under.the.ground has been used by the people since they came to exist. the ground provided and the under.the.ground preserved. dead bodies or fresh produce. the sub.conscious the sub.text the hidden
Yer alti Viyana’da beni kendine çeken tek yaratik olabilir. Senelerce yasadigim sehirde huzurda ve tatmin duygusuyla doldugum mekan. Her ziyaretimde yeralti~ mekanlarinin Viyana’da, kendimi sessiz bir kabin icindeymisim gibi hissediyorum. When I enter under.the.ground I feel like entering a silent vessel-. Yukarıda yürüyen insanlar sadece boğuk bir ses, gerçeklikten uzaktayim ve kendi zamanimdayim. Kendi zaman akisimdayim. I enter my own flow of time under.the.ground. Ister gelecek ister gecmis hakkinda düşünebilirim. Düşünebildiğim için belkide ölüme o denli yakinim.Yeralti~ benim evim olabilir mi? Can under.the.ground~ become my home? Biraz dolanayim, kendi zamanimda, kendi aklimla. Dışarıdayken düşünemediğim seyleri burada aklimdan cikarayim, yere koyayim ve birde onlara yukarıdan bakayim. Hep kendi zamanimda.
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DILÂ KIRMIZITOPRAK
clandestine literature(eng); yeralti edebiyati(tr) self-published works of authors under strict censorship(s). the language in this genre can be radical and provocative. sexuality, drug use, swear words are extensively used. some referenced authors: marquis de sade, fyodor dostoyevski, franz kafka, attila ilhan, kanat güner.
I’ll walk around, all in my own flow of time. Der Grund, warum ich
40 no.body(eng) kimse yada hic.beden(tr) or niemand, kein. körper(deu); mostly used to indicate a person who is unknown or isn’t defined, is unnamed. another use of the word is negatively connotated. a nobody can be a person that is an outcast or a person who doesn’t feel understood by their peers or their own family. if someone calls somebody else a nobody this means that the person using the word deliberately lowers the other person’s value and therefore creates a hierarchy between the two individuals. kimse geldigimi görmedi(tr): nobody saw me arriving(eng) no.body: meaning no physical body is to be seen nor perceived, an absence of a.body.
chapter 2: how can I believe I got here
- vessel(eng) kap yada damar yada gemi(tr) or gefäß or schiff(deu); a vessel can contain specific substances in it. a vessel can be different in sizes depending on the substance that it wants to be filled with. scale of vessels also depend on the carrying purposes, since most vessels are used in transportation of the specific substance in it. vessels are mostly obsolete until they get filled.
mich für neue Gedanken so geöffnet habe, ist, weil ich in letzter Zeit ein Gefühl dafür bekommen habe, mich zu öffnen. Meine Türen, mein Dach, das Stiegenhaus/, damit alle kurz vorbeikommen können. Für neue Dinge, die kommen; für die Zukunft investiere ich. Als Gefäß will ich mich ändern und will ich mich adaptieren. Ich will Freunde und damit hoffe ich auch, Freude zu bekommen. Nicht nur die vergessenen Dinge fressen, sondern auch frischen und unbekannten Gefühlen begegnen.
Welcome; the sunlight has left the strange, gated, milky window. I have been waiting for your breath all the time that has passed since I last saw you. I have changed ever since, and I got filled with many things. How has it been? Where have you been?
Ben nereye gittigimi, nereden geldigimi, neden burada oldugumu bilmeksizin, yeraltini dinliyorum. Sesi yükselmis, saclari uzamis, nefes alis verisi derinlesmis. The sunlight has left, but I arrived. There is no concern, I have lost my ways, but that is not of importance. I gathered things, and I am ready to loosen up, lay down. Where is my nook? It has been a long time since I haven’t slept and eaten. I suck on the walls a bit and nibble on the door knobs. I can’t believe that I’m alone here and I am enjoying the delicacies. I fall asleep with a full belly. I am in the deepest core and the hairs grow as I fall deeper into my sleep. I am covered and no.body 40 can find me. Derin, derin nefes alip uykumda
konusuyorum. Ben buraya nasil geldim, burasi disinda baska nereler var? Burada kalsam, tanidigim yeraltiyla, ölüme en yakin anda en güvende.
As the city grows, the underground grows with it. The city needs, the ground provides; the city has too much, so the ground stores. It has been for generations that the ground kept what we wanted to store or hide. Water, wine, beer; bread, grains, meat; coal, salt, / stair.case(eng) mold. Human bodies, human pleasures, human merdiven yada merdiven(kutusu)(tr) or stiege feces, and guns. Every time something enters or stiegen (schachtel)(deu); a space designated the ground, the ground grows. Ayni Kafka gibi, for a purpose and use which is to move the bende kendi yapimi buldum. Benimkini body in the vertical direction – up and down. ben kazmadim,benimki Kafkaninki gibi contrary to an elevator, the stair.case requires a büyümüyor. Benimki zaten var,baskalari body that can move on its own. if a body arrives tarafindan kazilmis, benim jenerasyonumdan to a stair.case and is incapable to move using önce baskalari tarafindan kullanilmis ve the stairs; the project provides a different simdi gri sehrin altinda yari bos uzaniyor. translation for the moving to occur. the stair. Benimki Kafkaninki gibi büyümüyor ama sekil case can deform and provide alternative esneyip bükülüyor. Zaman gibi, mekanda opportunities for the user to move without degisiyor ve bir kalip halini aliyor. moving their body. Sanki Türkiye’deymiş, sicak taslarin
üzerine yatmisim.
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Tanidik ve evcil- rahat ve yumuşak. Geceyi sicak yeraltında geçiriyorum. Düşünüyorum; Poe karga hakkinda yazarken, karga nasil hissediyor düşündü mü ? Düşündükçe bulunduğum yer alti seviyesinden daha da derinlere düşüyorum. Düşündükçe düşüyorum. -6m den -80m ye... Duvardaki saclarin uzunluğundan ne kadar derine düştüğümü görüyorum. The ground became an empty abandoned vessel; ein Gefäß. I hope to be filled and I hope to adapt to the objects and feelings that will be stored. My belly gets full, my skin stretches, and I can grow. I am a bit like the burrow; organic. The myths say that people come here to dissociate, to mingle in the darkness in the search of the things that they think they need. Like the zone, things come here to never leave again, they are ready to be shared. The ground becomes a public realm of stored entities. Confinement and preservation are key for these communities and they share everything. Everybody has the same memories. Karsima cikan
duvarla konuşuyorum, burada olduğumdan mutlu, -80m de uzun tüyleriyle beni sıcak tutuyor. Sicaklik neden bu kadar önemli ? Büyüyen bir bedenin yemege ve sicakliga ihtiyaci var. Yer bize sicaklik sagliyor, hareket ve hatıralarımizla biz de yeri isitiyoruz.
Dilâ Kırmızıtoprak *1994, I am a person that writes to free their mind and mostly to let things go. My writings are highly influenced by my mood and intuitiveness, as well as driven by the three languages that I speak in my daily life. Since living in Vienna, I have been inspired by the history and the eeriness of the city; visiting the underground in Vienna turned out to be one of my favorite activities. Having studied art and architecture, I tend to dwell in this medium to create architectural fictive spaces as well as using text to bring me closer to an architectural, spatial site. During the process of writing, I tend to get inspiration from visited spaces and through Turkish literature. I tend to pick up a poetry book of Attila Ilhan or read a novel of Livaneli and go ahead writing stories for the underground. The work that I am sending in is one part of a bigger work.
MURI DARIDA
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Leonardo im Cabrio Kurz vor meiner Einschulung hielten zwei Männer meine Oberschenkel auseinander und pressten mir einen Tintenfisch durch das Geschlecht. Der arme Tintenfisch, er weigerte sich und ich mich auch. Wir sperrten uns reflexhaft und ohne jeden Erfolg. So viel zu unseren Gemeinsamkeiten. Jaja, das geht gar nicht, höre ich jemanden sagen. Tintenfische leben nämlich im Wasser. Ja, du Schlaubär. Der menschliche Organismus besteht zu siebzig bis achtzig Prozent aus Wasser. Der Wasseranteil im Meer liegt bei sechsundneunzigeinhalb. Auf die paar Prozent kommt es dem Tintenfisch nicht an. Also, zurück zur Wahrheit: Der Tintenfisch hatte zehn, manchmal hundert, an anderen Tagen tausend Tentakel. Nach dem verstörenden Ereignis hielt ich meine Beine für die nächsten Jahre so gut es ging geschlossen und nur selten wiederholte sich das Szenario mit den Oberschenkeln. So erschreckend wie das erste Mal war es nie wieder, denn der Tintenfisch verhielt sich territorial und bewaffnete sich mit Säbeln und Pistolen, damit kein weiteres Land- oder Meerestier in meinen Körper einmarschieren konnte. Tintenfische sind radikale Einzelgänger und ich glaube, deshalb konnten wir uns von Anfang an nicht leiden. In den ersten Jahren, ungefähr bis zum Gymnasium, bewohnte der Tintenfisch meine Lunge. Einen Tentakel verstaute er in meinen Bronchien und zog ihn ab und an hinaus, damit ich nicht endgültig erstickte. Die meiste Zeit verbrachte ich blaulila angelaufen im Bett. Bronchospasmus nannten es die um mich herum, ich selbst hatte kein Wort für den Tintenfisch in meiner Brust. Genauso wenig hatte ich Freunde, das passte dem Tintenfisch gut in den Kram. „Du bist so anders“, sagten die Kinder in der Grundschule und ich wusste nicht, warum. Der Tintenfisch schon, sein Gehirn zieht sich als Netzwerk von Neuronen durch den ganzen Körper bis in jede einzelne Armspitze. Er wusste alles und das verzieh ich ihm nie. Einige Jahre später wurde es dem Tintenfisch in der Lunge zu zugig und er verzog sich in den Bauch. Egal, was ich aß, es schmeckte ihm nie und er rührte mit seinen zehn, hundert, manchmal tausend Tentakeln wütend durch meinen Magen, bis ich alles, alles erbrach. Selbstverständlich habe ich versucht, einfach gar nichts mehr zu essen, um ihn auszuhungern, aber das hielt ich stets nur für wenige Wochen durch. In dieser Zeit wurden wir zu erbitterten Feinden und wenn ich Blut kotzte, fand ich darin blaue Schlieren.
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Dem Tintenfisch gefiel es nicht in meinem Bauch. Stetig war er auf der Hut, duckte sich in die seltsamsten Winkel und Gruben, ruderte hektisch mit den Tentakeln, japste nach Wasser. Er wollte Salz, also trank ich literweise Salzwasser, aber das machte alles nur noch schlimmer. Damals suchte ich zuletzt medizinisches Personal auf, reichte Stuhlproben ein und verzichtete auf Weizen, Meeresfrüchte und Laktose. Nichts half. Der Tintenfisch hatte ununterbrochen Angst, ausgeschissen zu werden. Also hängte er sich an mein Herz. Fest entschlossen schlang er zwei seiner Arme um den rotbraunen Klumpen in meiner Brust und wechselte nur alle paar Tage den Griff, damit sich die Saugnäpfe an dem pausenlosen Pochen nicht wund wetzten. Die restlichen acht, achtundneunzig oder neunhundertachtundneunzig Arme ließ er lässig baumeln, kraulte mal am Bauchfell oder fummelte in den Zwischenräumen der Rippen herum. Tintenfische sind feinfühlige Tiere, sie haben selbst drei Herzen. Sie können Marmeladengläser öffnen und blitzschnell ihre Farbe ändern. Während meine Muskeln nichts taten, außer sich im Nacken zu verspannen, bis ich den Kopf nicht mehr drehen konnte, kontrollierten die des Tintenfisches seine Farbzellen. So tarnte er sich als Herz mit Armen oder zeigte wie seine Artgenossen außerhalb meines Körpers an, dass er angriffslustig, wütend oder aufgeregt war. Er war mir anatomisch überlegen. Und er war meistens angriffslustig, wütend oder aufgeregt. Fühlen sich männliche Tintenfische unterlegen, können sie eine gefleckte Färbung annehmen und sich als Weibchen tarnen. So ging es mir mein Leben lang, aber mein Tintenfisch war ein Tyrann. Er tarnte sich nur schlampig, weil mir ohnehin niemand geglaubt hätte. Tintenfische leben nämlich im Wasser. Mangels Marmeladengläsern in meiner Brust schraubte er Tag und Nacht die Herzkammern ineinander, auseinander, übereinander, aufeinander. Die Tage, an denen sich mein Körper anfühlte wie das Bett eines vertrockneten Ozeans, drückten mich tiefer in meine Matratze und gerne wäre ich gesunken bis zum Grund wie Jack von der Titanic. Er rettete seine zehn, hundert oder tausend Tentakeln vor dem Nichts in mir und klammerte sich mit allen gleichzeitig um mein Herz. Das Gewicht seines sackförmigen Körpers zog die zusammengeballte Armherzigkeit – so nannten wir den Organsalat Jahre später – nach oben. Tintenfische sind feinfühlige Tiere, aber meiner hatte kein Erbarmen. Ich habe ihn aufs Blut gehasst. An einem Tag im Juli begannen wir die Schlacht. Ich sage bewusst nicht Krieg, denn wir versuchten schlicht, uns zu schlachten. Der Auslöser tut nichts zur Sache. Der Tag im Juli war der einzige, an dem der Tintenfisch seine Tentakel durch meine Gurgel nach oben bis in den Schädel bohrte. Da habe ich ihn zum ersten Mal zumindest zum Teil mit eigenen Augen gesehen. Ganz kurz. Ich stand vor dem Spiegel und jaulte wie ein kastrierter Dämon. Aus meinen Augen, Ohren und Mund hingen zuckende Saugarme. Sie fuchtelten um meinen Kopf, saugten sich an die Augäpfel, zuzelten an der Gurgel und stocherten in meinen Ohren, ich würgte, brüllte, spuckte und versuchte die Greifer mit beiden Händen zu packen. Ich erreichte irgendwie die Küche und den Messerblock. Ohne etwas zu sehen, erwischte ich seine gekräuselten Armenden nicht und rammte mir deshalb wie besessen mehrere Klingen simultan in die Brust: Brotmesser, Gemüsemesser, Fleischgabel, ich hackte röchelnd auf meinen Brustkorb ein. Selbstverständlich hatte ich nicht vor, mein Herz zu treffen, sondern den gottverdammten Tinten-
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fisch davon abzuschlagen und ihn zu zerkleinern. Ich nannte ihn einen verkackten Kopffüßler und ich erinnere mich, wie er sich krankgelacht hat und mich eine jämmerliche Transwurst nannte. (Ja, zusammengeschrieben.) Verletzt habe ich ihn nur oberflächlich, denn ich hatte nicht genug Kraft, meine Brustwand aufzuknacken. Ich weiß nicht, wie, aber wir haben beide überlebt. Das bedeutet, dass bis heute vier Herzen in meiner Brust schlagen und nur eins davon gehört mir selbst. Vielleicht ist so etwas noch nie vorgekommen. Der letzte gemeinsame Vorfahr unserer beider Spezies war vermutlich ein wurmartiger Glibber, der vor 600 oder 700 Millionen Jahren lebte. Aber wir bilden uns nichts darauf ein, wir zu sein. Beziehungsweise sind wir überzeugt, dass es sicherlich noch wesentlich mehr von uns gibt, nur die meisten reden nicht über ihr abgefucktes Arrangement. Wir haben nicht abschließend geklärt, warum er überhaupt jemals in mich gefahren ist und dann aus sich und mir heraus. Genauso wenig haben wir die Frage gelöst, warum er ausgerechnet in dieser einen Nacht, als wir andere Sorgen hatten, „Transwurst“ zu mir sagen musste. Mittlerweile weiß ich, dass er zumindest mit dem ersten Teil des Wortes richtig lag und der Tintenfisch sieht ein, dass er auf die Schreibweise achten soll, also trans klein und Wurst groß. Nur am Rande, trans ist ein Adjektiv und wir kommunizieren ausschließlich schriftlich. Denn er besteht darauf, seine Tinte zu verwursten. Außerdem können Tintenfische nichts hören. Als wir nach der Schlacht langsam wieder miteinander sprachen, habe ich ihn gefragt, ob ich krank sei. Er bat mich, in der internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme nachzusehen. Trans zu sein galt als Krankheit, aber das war weder, wonach ich suchte, noch worunter ich litt. Tintenfische im Körper galten nie als Gesundheitsproblem, und tun es bis heute nicht. Mein Tintenfisch wies mich leicht gereizt darauf hin, dass es in unserem Fall zwei Organismen zu beachten gäbe. Er hielt einen Vortrag darüber, dass seiner mit dem Gehirn in den Armen die Binarität von Körper und Kopf nicht erfülle und somit vom hiesigen Gesundheitssystem weitestgehend ausgeschlossen sei. Wir entdeckten also eine weitere Gemeinsamkeit, wenn auch eine etwas holprige. Außerdem fahren wir beide gerne Cabrio und lieben Céline Dion. Mehr braucht es nicht, um einen Körper zu teilen, und mittlerweile kommen wir weitestgehend miteinander aus. Ich schwor ihm, ihn niemals operativ entfernen zu lassen, und er versprach im Gegenzug, sich einwandfrei zu tarnen, falls es doch einmal unerwartet zu Röntgenaufnahmen kommen sollte. Auf Erklärungen hatten wir beide nach all den Jahren keinen Bock mehr. Seit ich Hormone nehme, bewegen wir uns zunehmend synchron unter meiner Haut. Das heißt, dass unsere Herzen nicht mehr gegeneinander anhämmern wie verfeindete Metronome, sondern sich bemühen, in einem relativ runden Rhythmus zu schlagen. Er schlüpft mit seinen Armen immer häufiger in meine, als wären sie Ärmel. In all den Jahren zuvor hätte ich mir niemals ausmalen können, wie tröstlich es sein kann, wenn seine Arme in den meinen sind. Wenn er gut drauf ist, schiebt der Tintenfisch ein paar seiner Greifer in meine Beine und meine Schritte gehen dann ein wenig fester. Ich esse wieder Fisch, weil es ihn glücklich macht und sein Heimweh lindert. Wir sind kein Vorzeigepaar, aber wir cruisen alle paar Jahre mit offenem Dach an der Costa de Valencia
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entlang und blasten „The Power of Love“, fressen Paella, streiten uns, vertragen uns und wollen noch ein paar Jahre zusammenleben, um dann auf jeden Fall gemeinsam zu sterben. Ich weiß nicht, warum, aber wir waren uns noch nie so einig wie bei der Frage, wie wir sterben wollen. Also, wenn es an der Zeit ist: Bitte bringt uns in ein Zimmer, hängt die Wände mit Papier aus, lasst uns ein wenig Zeit, um uns zu koordinieren. Am besten wartet ihr draußen. Wir halten dann vier Minuten lang die Luft an, bis wir platzen und dann kullern und gurgeln und gluckern all die Tonnen an Tinte und Wörtern aus unseren zwei Köpfen, vier Herzen und zwölf oder hundertundzwei oder tausendundzwei Armen und wenn alles, alles vollgeschrieben ist, dann dürft ihr alles zerreißen, aber wir haben nur einen Wunsch:
Unsere Geschichte muss ins Meer. Der Wasseranteil im menschlichen Körper verringert sich mit dem Alter. Mein Tintenfisch sehnt sich mit den Jahren doch nach sechsundneunzigeinhalb Prozent Wasser, der Farbe Blau und viel Salz und ich glaube, ich tue das auch.
Muri Darida lebt und arbeitet in Berlin. Journalistische Publikationen für u. a. ZEIT ONLINE, ze.tt, jetzt.de, ARD Kontraste, Literarisches für mosaik, Texte GYM, Parabolis Virtualis 2, transcodiert, auftakt Festival und Schreiben gegen die Norm(en). Muri Daridas Kurzgeschichte „Der Landkartenarm“ war für den Wortmeldungen-Förderpreis 2022 nominiert.
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1 Ocean Vuong, «On Earth We’re Briefly Gorgeous», Random House 2019.
5 Ella Eßlinger & Clara Richard, «Nachglühen», 1. Ausgabe 2022.
Kim de l’Horizon, «Blutbuch», Dumont 2022.
6 Johanna Sophia Heusser, «Heidi» 2023.
3 Sára Köhnlein, «Reste von Gestern», forthcoming 2023.
7 Val Minnig & Grgor Weder, «Metamerie» 1.–29. Juni 2023, AUTO St. Gallen.
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4 Julia Wolf, «Alte Mädchen», Frankfurter Verlagsanstalt 2022.
Laure Prouvost, «Ohmmm age Oma je ohomma mama», 11. Mai – 1. Oktober 2023, Kunsthalle Wien.
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Matija Ferlin, Goran Ferčec, Luigi Dallapiccola, Cantando Admont & PHACE: «CANTI DI PRIGIONIA: Gesänge aus der Gefangenschaft», 24.–26. Mai 2023, Wiener Festwochen.
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Grace Oberholzer, «Grossmuttertext», Literaturhaus Wien, Jänner 2022.
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Mittlerweile gibt’s ein bissl einen Grossmutterhype, endlich könnten wir sagen. Verschiedene Stimmen in Literatur, Theater und Kunst scheinen in ihren Bann gezogen ein neues Lieblingsthema wie das Lieben vielleicht. Darin wird die «Grossmutter» oder auch «meine Grossmutter» unterschiedlich abgearbeitet. In «On Earth We’re Briefly Gorgeous»1 von Ocean Vuong als Randnotiz und eher versöhnlich, einige Jahre später in Kim de l’Horizons «Blutbuch»2 nicht mehr so rund. Beide etwas hexenartig, unheimlich in der kindlichen Erinnerung. Schlechte Gerüche rudimentäres Essen, Anforderungen aus einer anderen Zeit, welcher die Hauptfigur nicht gerecht werden kann oder will. In Sára Köhnleins «Reste von Gestern»3 Grossmütter als Gattung, die schweigt, kocht und eine Vergangenheit hat, die als Landschaft gelesen wird. Erst als unbändige Schaar, dann als Tyrannin aus der Nachwelt in Julia Wolfs «Alte Mädchen»4 – mit Gelüsten, Eitelkeiten und Rollen, die ihnen erlauben, den Plot zu bestimmen. Verschmolzen mit ihrem Haus als architektonisch festgebaute Vergangenheit bei Ella Eßlinger und Clara Richards Magazin Nachglühen5, in dem junge Architekt*innen die Häuser ihrer Grossmütter portraitieren. Anderswo: Auf einer abgelegenen griechischen Insel in Johanna Heussers filmischem Portrait einer Grossmutter, die sich so eine Ausflucht vor patriarchalen Strukturen schafft.6 Als gemütlicher Nebenschauplatz, vielleicht Kulisse in Val Minnigs Ausstellung Metamerie.7 300 Quadratmeter füllende Erinnerungsinstanz, Kitt, Kleber und Teppich feministischer Geschichtsumschreibung in Laure Prouvosts Ausstellung Ohmmm age Oma je ohomma mama.8 Als einzige nichtakademische Referenz unter einer Überhäufung intellektuellerSackgassen in Matija Ferlin und Goran Ferčecs Musiktheater Canti di Prigionia. 9 Grosselterliches Lieben als Orakel zeitgenössischer Beziehungen in meiner ersten Lesung. 10 Grosis Gemüsebeet, so unendlich romantisch. Wir dachten uns, let’s see what it’s all about und haben eine Grossmutter gefragt, was sie denn von ihrer neuen Prominenz und unseren Texten hält.
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Als Erstes: Überraschung. Meine Güte sie hat’s tatsächlich gelesen. Unklar, wie viele Seiten, aber ungefähr ein Dreiviertelpack Kopierpapier. Drei Stapel: «Habe ich gelesen und vieles gut gefunden. R» «habe ich gelesen ! ! ! !» Nicht gelesen: eine Schnur um das Paket, wie ein Geschenk oder Altpapier. Überrascht auch, weil ihr Literaturgeschmack womöglich weniger konservativ ist als meiner. Sie mochte teilweise experimentelle Gedichte über Waschgänge, die mir nichts sagen, oder Aufzählungen von Körperbehaarungen und Flüssigkeiten, die ich ihr zwar zugemutet habe, doch nicht davon ausgegangen wäre, dass sie Gefallen daran finden würde. Texte über familiäre Gewalt, Manipulation und Neonazis. Texte über die Nachkriegsarmut (von der sie seither versucht, sich loszusprechen, eine Erinnerung, die immer etwas realer bleibt, als sie sein sollte, und mit ihrer gelebten Wirklichkeit konkurriert, in sie einschneidet und ihr andere Formen gibt). Romantische Texte mit hotten Sexszenen fand sie nicht so cool, das überrascht mich auch, da ihre Lieblingsautorin seit Jahren unangefochten Nora Roberts ist und ich ihren Erfolg eigentlich darin begründet sehe. Ein Gedicht, das wir sehr schön fanden und unbedingt publizieren wollten (was wir auch taten), fand sie nicht gut. Wenns geklappt hätte mit dem Timing und dem Arbeitsaufwand, wäre es vielleicht nicht publiziert worden, vielleicht hätten wir sie aber auch noch davon überzeugt.
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In einem schattigen Gastgarten warten wir auf Coupe Romanov mit Merengue.
Grace: Viele junge Menschen, die in meinem Alter sind, machen Kunstwerke oder schreiben etwas, machen Theaterstücke – und ganz, ganz oft kommen seit ein paar Jahren Grossmütter vor. Wusstest du das? Rosmarie: Ja, was? Ja? Ist das jetzt einfach jetzt so ein Thema? (etwas perplex, lacht dann lauthals) Ja, weisst, weil die einfach noch bissl Sachen erzählen können, die heute nicht mehr sind – oder?
Aber es sind immer nur die Grossmütter. Ja, Grossmütter schwätzen vielleicht einfach e bissl mehr als Grossväter! Die erzählen. Die Männer sagen ja nichts. Und Grossmütter hatten die Kinder und mussten den Haushalt machen und haben vielleicht noch nebenbei gehackelt. Und das ist vielleicht interessanter als das Leben der Grossväter, die einfach ihren Beruf hatten und nebenbei nichts mehr gross gemacht haben. Einfach nicht so vielseitig, oder – wie die Grossmutter vielleicht?
Ja, stimmt. Und, was denkst du, würden Trudi und Clara und Birgit sagen, wenn sie wüssten, dass sie die Hauptfiguren von Romanen, Theaterstücken und Ausstellungen wären? (lacht)
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Was hast du von den Texten gehalten, die ich dir zum Lesen gegeben habe? Manche davon kommen jetzt in unser Heft, aber nur 15. Deshalb müssen wir aussortieren und wir wollten, dass du uns hilfst. Es war schon viel. Aber es hat auch Spass gemacht! Bei manchen dachte ich ja, das ist doch was, vielleicht wär das was. Und anderi fand ich einfach bissi blöd. Aber als ich angefangen habe, war ich voller Eifer. Es ist wieder mal etwas anderes einfach.
Ich war so überrascht von deiner Auswahl, da sind Texte drunter, die ich sehr experimentell finde. Äh, weisch, ich ha gwüsst dasi muen andersch denke als i susch denke. Sonst muss ich das Zeug ja nicht lesen, oder? Ja einfach d Fantasie sind eifach ganz andersch.
Ach ja, wie denn? Offener! Weisst, ich musste nie mehr mit meinen Enkeln Hausaufgaben machen, weil sie so weit weg waren, und darum ist diese Zeit eine ganz andere Zeit als jene, in der ich zur Schule gegangen bin. Manchmal gefiel mir einfach die Sprache. Es war so gut geschrieben, diese Beschreibungen so dass man einer Szene richtig folgen konnte und natürlich auch, wenn es lustig war. Der Humor ist mir schon wichtig. Mängmal isch es auch echli en chabis, aber glich und so gfallts eim uf irgendene art.
Aber diesen einen Text zum Beispiel, in dem es um Gewalt geht und Rechtsextremismus, den mochtest du auch und der ist gemein, überhaupt nicht lustig. Ja. Den mag ich, wie sie beide so feststecken und nicht nachgeben, die Mutter so intolerant, der Sohn aber auch. So Menschen gabs schon immer. Er ist eben auch auf seiner Sache oben.
Ein trauriger Text. Und hier dieser Text mit den ganzen englischen Wörtern drin? Ich mochte ihn ja auch. Aber du sprichst doch nicht so viel Englisch. Hier «Duckface» zum Beispiel, was denkst du das das heisst? Ja «face» das isch doch eifach e Miene, oder? Also, so viel Fantasie hab ich dann schon noch. Heute ist ja viel geschrieben mit englischen Wörtern drin, und ich mache ja meine Kreuzworträtsel und habe mein Dixionaire Englisch und das Französische. Und ein paar Worte kommen oft vor, die merke ich mir dann. Hattest du Freude daran, dass mir der Text gefallen hat?
Ja natürlich, auch weil ich dachte, dass er so modern ist mit den ganzen DJund Social-Media-Geschichten, ich hätte nicht gedacht, dass dir das was sagt. Da geht’s ja sogar noch um Drogen! Wahrscheinlich ist es gut geschrieben. Und die Beschreibungen*, immer wieder etwas Neues. Und WALMART, da musste ich lachen, das gab es bei uns in Sigmaringen auch. [*hier liest sie «Dornen» statt «Drohnen»]
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Hier geht’s um Schleusen, das habe ich überhaupt nicht verstanden und du fandest ihn gut. Wieso? Ja, das ist natürlich etwas Besonderes. Wir waren mal mit einem Schiff von Trier nach Würzburg gefahren und da gabs überall so Schleusen, das war etwas ganz Interessantes! Wie man da so gewartet hat, bis man wieder durchfahren konnte.
Und dich hat das dann daran erinnert? Ja, doch schon e bissl ... – Und dann find ichs doch gleich gut! (lacht) Vielleicht schon etwas, vielleicht wars so und ich mag ihn deshalb.
Mir geht’s manchmal auch so, es ist halt schwierig, etwas neutraler eine Auswahl zu treffen. Aber darum sind wir ja zu dritt. Und diese Gedichte? Ich war überrascht, wie viele Gedichte dir gefallen haben. Da waren auch welche darunter, mit denen ich überhaupt nichts anfangen konnte. Ja das stimmt, ich habe wirklich viele Gedichte ausgelesen. Ich musste natürlich auch immer Gedichte lernen in der Schule. Und darum weiss ich auch noch so Sprüche von früher und auch Lieder. Ach jetzt kommts mir nicht mehr in den Sinn. Kaiser Othmann [kurzer Unterbruch, sie trägt ein Gedicht vor] das ist eben die Geschichte vom Kaiser Othmann. Dem ist der Bart in den Fisch gewachsen. Als er durch die Alpen nach Italien ging, gabs kein Essen mehr, das Gedicht ist noch viel länger, aber dieser Teil ist mir geblieben, ich weiss nicht, wieso. Viel Steine gabs / und wenig Brot. Wir mussten viel Geschichte lernen und meine Mutter hatte immer Achtung vor diesem, und für uns war er auch wichtig, vielleicht hatte sie es auch von der Geschichte. In der Schule auch, da haben wir alles durchgenommen, was er so gemacht hat, und ihn in den Himmel hochgelupft. Wir haben auch immer gesungen, mit meinen Geschwistern und dann mit Turi [ihrem verstorbenen Mann] und den Kindern. All diese Lieder. Vor ein paar Wochen habe ich den einen Turner getroffen aus der Turngruppe, der hat gefragt, ob ich ihm nicht dieses Lied singen könnte, welches Turi an meinem Geburtstag gesungen hat, er findet die Worte nicht mehr und würde sich so freuen, es zu hören. Ich wusste, dass ichs kann, also sass ich vor ein paar Tagen da auf dem Balkon mit meiner Tochter und wir haben gesungen und aufgeschrieben, Wort für Wort haben wir mitgeschrieben, bis wir es hatten.Sie hat die schönere Stimme als ich, man hört sie auch auf der Aufnahme. Du, hätte uns jemand gesehen, wie wir zwei singen auf diesem Balkon! (lacht)
Eigentlich bist du der Lyrik wohl näher als ich. Ihr hattet eine Kultur, wir haben das nicht mehr und tun uns eher schwer damit. Die Musik hat uns immer begleitet, und vermutlich mag ich darum noch heute so gerne Gedichte.
Grace Oberholzer *1994, aus Zürich, studiert in Wien Sprachkunst und heterodoxe Ökonomie. Neben ihrem eigenen Schreiben, das oft zwischen Lyrik und Prosa angesiedelt ist und nicht lineare Erzählstrukturen auslotet, arbeitet sie interdisziplinär mit verschiedenen Medien und Menschen. Sie ist Mitherausgeberin des JENNY MAGAZIN und seit Oktober 2022 Kuratorin der LITERATURPASSAGE im Museumsquartier Wien. Für das Romanprojekt «Loin si Proche» erhielt sie 2023 das Startstipendium des Landes Österreich.
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Leon Locher *1998 in Berlin, aufgewachsen in Bern. Seit 2021 studiert er Sprachkunst an der Universität für angewandte Kunst Wien. Er arbeitet in Text, Theater und Performance, wobei sein Arbeitsschwerpunkt meistens auf der Intersektion zwischen Text und Körper beziehungsweise Text und Raum liegt. Arbeiten von und mit ihm waren u. a. am Theaterfestival HIN & WEG, am Rundgang der Akademie der bildenden Künste Wien und in der Galerie KUB in Leipzig zu sehen.
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Hansel and Gretel Introductory Text knusper knusper knäuschen wer knabbert an mein’ (insert endearing term for „house“) (or any body part) (insert same phrase in any language) (insert same phrase in any language) (insert same phrase in any language) (insert same phrase in any language) (insert any phrase in same language) (insert same phrase in any language) ...
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Kultschutz die Wiege von uns ist zweigeteilt wie das Schwert über der Kirche die Sätze der Alten wandern weite Strecken wirbeln in der Muschel dass Naturzustand die einzige Katze ist in meiner Hütte Goldadern auf den Flaggen der Freiheit des Stigmas das Teil wird des Zuges die Pufferzonen meditieren solange sie gewogen werden als Goldstaub von uns allen die Brücke der Hochkluft der Hochkultur die Kerzen haben vergessen unter den Fingern zu brennen
die Stiere haben gewusst in der Röhre des Unterlebens zu schreien dass Wirbel die Mauern sind der Regierung schreibt die Polizei die Gesichter der Tiere in die Strafakten schreibt sie die Route des Zuges auf die Bäuche der Ziegen das ist der Weg der Weißen träumt das Korps es hängen Schwertkreuze über ihrer Wiege
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Zeit mauern Wir gehen an die Zeitmauer sprechen uns aus triefen nass noch von den Wellen, dahin Wir geben uns nur eine Übersicht Wir klopfen den Steinen den Sand ab teilen uns den Fugen mit und ahnen schwach dass nicht wir hier gebaut haben, unsere Beine zerfallen zu Tragen den Steinen den Sand ab Korn um Korn dann Stein um Stein, Unsere Wirbel sind weg, das Mark, bis ein Wächter die Sanduhr dreht Nicht wir also trugen hier an und an hoben hier an und hoch der Sand tropft aus dem Rohr uns in die Hände in die Knochen mischt sich mit dem Säulenstaub Man nehme Schakale und spanne uns an Wir krallen uns fest in dem Sand um uns fliegen weg darüber hinweg die Hunde sind blind Der Telefondraht surrt schon eine Hitze flimmert vom Hörer zur Dose wir klopfen der Wüste den Sand ab auf der Suche nach Gold in den alten Gewölben das wir vielleicht dort vergessen haben
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Gehen Und dann und also dann und also dann losgegangen eines Tages im Mai und für lange Zeit nicht mehr aufgehört mit dem Gehen auf Berge vor allem davon gab es genug eine ganze Stadt voller Berge ich sage nur Provinz ich sage oh du mein Österreich. Losgegangen in der Frühe grau die Stunde und ringsherum blau die Berge ragen aus der Stadt dann Wald dann Geröll mitten der Weg tausendmal der Weg und der Anstieg himmelhoch. Himmelhoch über mir Berge der Körper schwer Mühsal der Füße in Schuhen wie Dampfwalzen darunter der Weg immerzu der Weg bis endlich Ruhe bis endlich das Kreuz ich sage nur Österreich ich sage Gipfel sinnloser Triumph Pause. Felsiger Nacken und unten die Stadt von Bergen umzingelt ahnungslose Dächer darauf schnaufend mein Blick und der Körper erinnerungsstumpf. Randvoll mit Vergessen auf unzähligen Wegen immerzu Gehen und keine Erinnerung anders als allein. Allein vor Erinnerung im Mai oder im Sommer Hitze überall und in der Nacht gerate ich mir aus der Haut. Der Körper wund sträubt sich vorm Schlaf Nacht für Nacht scheuert es schrubbt es schrappt es vor Erinnerung kratze ich mich der Finsternis entlang bis zum Morgen bis endlich Ruh’ aber gut ist dann nicht noch lange nichts im Mai nicht im Sommer und auch nicht danach. Mai Frühjahr Winter Herbst September. Abzählreim der Erinnerung. Im Herbst geschah ein goldener Septembertag. Danach ist ein Wundscheuern an Wörtern sind Tage und Nächte eine einzige Kopfzerklüftung. Ins Danach ragt eine Vergangenheit ungeahnten Ausmaßes hinein und um nicht aus der Haut zu gehen kratze
ich mich zusammen ein Häufchen Gehen ziehe los in den Taschen ein Bündel Sätze. I Les conseilleurs ne sont pas les payeurs. Drei Menschen wohnten einmal in einem Haus und eines Tages war weg: der Vater und eines Tages war weg: das Kind und übrig blieb meine Mutter, fristlos entlassen aus dem einst gemeinsam ersonnenen Glück. Einem kleinen Glück, einem zwei plus eins Menschen Glück eingepasst in ein Haus nahe den Bergen, ich sage nur oh du mein Österreich. Ich stelle mir vor: Eben noch gibt es ein Haus und ein Leben, das Kind und den Ehemann, halbseiden zwar, aber immerhin, und eines Tages kommt unverblümt die Rechnung für laufende Kosten: Kind Ehemann Einfamilienhaus Jahre. Für sich genommen ein Frauenleben. Notdürftiges Glück, ein Haufen Schuldscheine da, wo einst Träume lagen, und bestimmt lebten alle anderen auch so. Wer nicht betroffen ist, hat gut reden, aber was heißt schon nicht betroffen? Es war einmal eine Einfamilie: Vater-Mutter-Kind wunderbar untergebracht im Einfamilienhaus und hinten raus ein Garten geklatscht. Nur das Kind will nicht in seinem Bett schlafen nachts kommt es angekrochen in die Elternbehausung und siehe da: mein rechter rechter Platz ist frei. Manchmal fehlt der Dritte im Bunde und das Kind: die Tochter: ich stecke mich mit meiner Mutter unter eine Decke. Nacht für Nacht schleiche ich schmiege mich an die Kuhlen ihres Körpers bin ich hauchdünn für der Mutter fahriges Warten und Sehnsüchte die nichts zu stillen vermag: das Kind nicht das Haus nicht und der Ehemann schon gar nicht. Ratgeber zahlen nicht, und so blieb ihr am Ende nichts anderes übrig als ein heillos ungedecktes Leben.
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Randvoll mit Schweigen liegt es zwischen den Bergen: Fünf-Zimmer-Küche-Bad und hinten raus die Lügen. So wie die Mutter ein Frauenleben hat der Vater ein Männerleben und was macht es da schon wenn das Kind nachts nicht schlafen kann, zwei plus eins Lügen ist drei, ist eine Familie. Les conseilleurs ne sont pas les payeurs, sprach geschieden die Mutter als sie eines Tages zurückkam in das Haus, das jetzt ihr Ex-Haus war. Und wie sie den Mantel aufhängt und zu niemand im Besonderen sagt. Einen Satz, der mir die Fragen aus dem Gesicht wischt. Wir haben uns zu Tisch gesetzt. Das Haus in Kartons verpackt. Hinten raus der Garten. Mutter und Tochter, in trautem Schweigen um eine Abwesenheit gescharrt, und vielleicht lebten ja alle anderen auch so.
Wer nicht betroffen ist, hat gut reden, und darum schweigt es sich besser. II Frigide. Frigide ist ein Vaterwort, ein Wort aus den Fünfzigerjahren, das sie erst einmal nachschlagen muss, die Tochter. Aber so ist es nun mal, wer fragt, kriegt Antworten, und wen kümmert es schon, ob es die sind, die man hören will. Wer sich die Fragen nicht verkneifen kann, wer sie entwischen lässt wie einen Furz, laut und unpassend, jetzt und in alle Ewigkeit unpassend, wer also den Vater fragt sollte sich besser wappnen für Wörter, die ins Fleisch schneiden bis zum Knochen. Wer sich nicht angezogen hat Kettenhemd und Rüstung muss eben sehen wie zurechtkommen mit diesem Wort. Versuchs mal mit: Wörterbuch. Versuchs mal mit: Psychotherapie. Versuchs mal mit: Nymphomanie. Böse gemeint hat er es nicht, der Vater, so ein Fünfzigerjahre-Wort macht noch keinen Bösewicht. Man muss ihn sich nur einmal anschauen wie er da sitzt, ganz halbseiden und oben das Büschel Haare, dazu noch die Hände, fein und zart sind die Vaterhände, ein Schelm wer Bösewicht denkt. Der Vater hat sein Männerleben wie die Mutter ihr Frauenleben, ich sage nur: Hallodri, ich sage: MonacoFranze Bussi baba Spatzl. Ein Männerleben ist ein Leben mit fünf Tage die Woche Arbeit und dazwischen Küss-die-Hand-schöne-Frau-Ihre-Augen-sind-so-blau tirili tirilo tirila. Oft ist er unterwegs und manchmal
nicht da, so genau wollte das niemand wissen, die Ehefrau nicht und das Kind schon gar nicht.
Hauptsache es karrt Geld heran, das Familienoberhaupt, Berge von Geld, damit kauft es sich monatlich frei. Und lässt das Kind zurück – und lässt das Kind zurück – das Kind lässt er in den Fängen der Mutter zurück bis es ihr gehört, ganz und gar. Es steckt mit ihr unter einer Decke, im Ehebett oben im ersten Stock, in der Früh, wenn er heimkommt, an seiner Stelle das Kind: die Tochter: also ich. Frigide wie eine Eislandschaft erstreckt sich das Ehebett, rings um die Mutter eine einzige Geschlechtswüste und der Vater flüchtet in andere Gefilde. Anstatt in den aufgewühlten Falten der Nacht zu lesen begibt er sich lieber in Sicherheit, sucht mit einem Wort Zuflucht im Ungefähren. Er hätte es wissen können, aber so genau wollte das niemand wissen. Nur das Kind wird zur Zeugin ihrer Verluste die bald schon ins Unwiederbringliche gehen. Das Kind: also die Tochter: ich sehe Nacht für Nacht Berge von Schuld sich auftürmen und ihr Schweigen wird darüber zu Gold. Gestillt mit der Abwesenheit eines Verlangens: die Tochter, aber wer wollte das wissen. Frigide, sprach eines Tages ganz unverblümt der Vater, als er genug hatte von der Ehefrau, der Eiswüste oben im ersten Stock und hinten raus fault der Garten. Er kann so manche Rechnung präsentieren, jahrelang doppelte Buchführung und jetzt machen wir Kassensturz. In doppelter Buchführung kennt mein Vater sich aus, er hat nämlich von allem zwei: zwei Zahnbürsten, zwei Betten, zwei Frauen, macht zusammen ein ganzes Doppelleben. Frigide, sagt der Vater, und wie er da sitzt und seine zarten Hände würgt, stopft es mir die Fragen zurück ins Gesicht. Ich stelle mir vor: So wie ich eine Sehschwäche für Kartons, hatten meine Eltern eine Schwäche für die Lügen, die sie einander auftischten. III Parle moi de toi. Ich stelle mir vor: Ohrenbetäubende Leere da wo vorher das Haus war und Tage gefüllt mit Frauenleben. Leicht zerrinnt es zwischen den Fingern, sogar das Haus verkaufen sie ihr eines Tages unter dem Hintern weg und mitnehmen durfte sie nur die Erinnerungen. Für neue Träume war es zu spät, neue Träume, das ist etwas für Kinder und Leiter von Volkshochschulkursen, nicht aber für eine ausrangierte Ehefrau und Mutter. Das war nichts für meine Mutter.
FABIENNE IMLINGER
Auch das Kind ist längst aufgebrochen, prall gefüllt mit neuen Träumen liegt das Tochterleben in der Stadt voller Berge und jeder Tag fühlt sich an: leicht und die Mutter: ein Klotz, eine Verpflichtung. Die Verpflichtung sitzt jeden Tag am Telefon und wartet. Sie wartet jetzt auf das Kind, ausgebrochen ist es und groß, groß genug um in einem eigenen Bett zu schlafen, in einer eigenen Stadt. Jeden Tag am Telefon dieser eine Satz. Parle moi de toi, sprach die Mutter, und bei mir nur mehr Härte da wo eben noch Fragen waren. Ich erzählte von der Stadt hinter den sieben Bergen, ließ Nichtigkeiten emporsteigen wie Luftballons.
Erzähl mir von dir, weil Tage jetzt eine langwierige Angelegenheit sind, die es zwischen Aufstehen und Zubettgehen zu überbrücken gilt. Also erzählte ich. Fuhr zu ihr in die winzige Wohnung, die sie als Ersatz bekommen hatte für das Haus, in dem früher eine Familie wohnte. In dieser Wohnung, in der ich zu Besuch war, aber nicht zu Hause, standen Berge von Kartons. Jahrelang standen dort nur Kartons, und wenn da nicht alle Glocken läuten, dann weiß ich auch nicht. Die winzige Wohnung, die Kartons, mittendrin die Mutter. Die Mutter hinter einem Kordon aus Karton, als ob sie sich einmauern wollte, oder im Gegenteil, ganz im Gegenteil: die Kartontürme, die mir schon von Weitem entgegenragten, sind eine Weigerung. Ein Frauenleben am Ende auserzählt und fein säuberlich eingepackt das erkaltete Herz der Mutter. Von Kopf bis Fuß eingehüllt in Schweigen sitzt sie am Küchentisch und ich reiße mir an ihr keine Frage mehr aus. Ich setze mich zu ihr, das Schweigen eine Nabelschnur, die locker zwischen uns baumelt. Parle moi de toi, sprach die Mutter und scharrte Kartons um sich wie die Vorboten eines Unheils.
IV Es gibt da eine andere Wohnung. Es war einmal eine andere Wohnung, in der lebte eine andere Frau und unten am Klingelschild der Name des Vaters. Ich stelle mir vor: Aus dem Einfamilienhaus ragt ein Lügengewächs, zärtlich legt es sich über die Einfamilie Vater-Mutter-Kind wunderbar zusammengehalten von
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gemeinsam ersponnenen Lügen. Nur der Vater hat noch ein zweites Leben in petto, dafür hat er sich freigekauft. Er dividiert sich aus dem zwei plus eins Menschenglück einfach heraus, und der Rest ist Schweigen. Wer zahlt, ist nicht betroffen, aber was heißt schon nicht betroffen? Ich stelle mir vor: Eines Tages wächst es ihm über den Kopf, das Männerleben und das Frauenleben, FünfZimmer-Küche-Bad und hinten raus die Lügen, die schon an den Wolken kratzen. Es gibt da eine andere Wohnung, sprach der Vater, sagte es aber nicht, sondern sprach’s durch einen Brief. Vorne der Name der Mutter und hinten rum eine falsche Adresse. Ein unverblümter Brief kam eines Tages ins Einfamilienhaus geflattert und brachte alles zum Einsturz: zwei plus eins Leben und noch eins ist vier, so genau wollte das niemand zählen. Es gibt da eine andere Wohnung, sprach der Vater als er eines Tages genug hatte von der Abwesenheit eines Verlangens, das ihm nicht galt. Sie hätte es wissen wollen müssen die Mutter – gewusst hat sie es schon, aber wollen hätte sie müssen. Doch bei meiner Mutter wieder mal Fehlanzeige, ich sage nur: frigide. Tausendundeine Nacht nicht fühlen nicht sehen nicht hören und fragen sowieso nicht. Es gibt da eine andere Wohnung, sprach der Vater und zog der Mutter das Haus unter den Füßen weg. Ratgeber zahlen nicht, sprach die Mutter, aber MonacoMänner schon, der Vater schon. Das alles kam ihn teuer zu stehen: Ehefrau Kind Einfamilienhaus und hinten raus noch eine andere Wohnung. Diese Wohnung, in der ich nie zu Besuch war, trug den Namen des Vaters. Von Weitem schon sieht man ihn in Metall gestanzt neben der Klingel stehen, in schwarzen Lettern auf Messing, in schwarzen Lettern auf Briefen, alles amtlich beglaubigt, bestätigt und in Reihen von Ordnern feierlich versammelt. Briefe von Ämtern, Briefe von Banken, Briefe von Versicherungen: hier wohnt der Name des Vaters und daneben die unbekannte Adresse. Ich stelle mir vor: Fein säuberlich aufgereiht in den Regalen einer anderen Wohnung die Lügen und irgendwo dazwischen eine andere Frau.
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V Viel gibt es da nicht mehr zu identifizieren. Ich stelle mir immerzu vor den Tag wie ein Scheuern das ins Fleisch geht bis zum Knochen.
Danach heißt mit Sätzen leben lernen die Flecken machen im Kopf.
Der Körper erinnerungswund gehe ich immerzu diesen Tag.
Danach heißt Fragen herunterschlucken die hochkommen wie Erbrochenes.
Ich stelle mir vor
Fragen soll man nämlich nicht warum ein Sarg so groß wie ein Mensch.
einsam die Frau die sich im September auf den Weg macht ein winziger Punkt inmitten des goldenen Herbstes nicht
Ich stelle mir immerzu vor rote Flecken im Fichtenholzsarg der eingeschlagen ist in weiß schimmernden Stoff. Ich habe ihn ausgesucht den Sarg und den Stoff und auch das Kopfkissen das alles haben sie hineingelegt aber ich frage mich was noch.
mehr als ein Punkt im Herbstlaub so stelle ich sie mir vor ein letzter Weg auf einen Berg der fortan heißen soll: ihr Berg. Ich stelle mir immerzu vor wie ein Scheuern ins Fleisch bis zum Knochen gehe ich der Körper erinnerungswund gehe ich immerzu diesen Tag. Ich stelle mir vor: die Frau die sich im September auf den Weg mag ein winziger Punkt inmitten des goldenen Herbstes nicht mehr als ein Punkt im Herbstlaub so stelle ich sie mir vor ein letzter Weg auf einen Berg der fortan heißen soll: ihr Berg. Das Gehen so süß und schwer vom Geheimnis die Beine nur der Kopf ragt empor. Der Kopf jetzt ein einziges Wollen das lange schon am Ende angelangt ist nur der Körper fehlt noch keucht hinterher schwerfälliger Koloss und unnütz geworden liegt er bald schon zerschmettert am Fuße des Berges. Tausend rote Tupfen im Septemberwald und eine Übriggebliebene: das Kind eine Angehörige: ich die Tochter der ein Polizist Sätze in den Schoß legen kann wie: Viel gibt es da nicht mehr zu identifizieren.
Nichtsahnend von dem Weg und dem Sprung und der Nacht das Kind lebte noch einen ganzen Tag lang unbeschwert in der Stadt voller Berge. Keinen blassen Schimmer, dass ich längst schon eine Angehörige war, jemand bei der es unversehens an der Tür klopft und draußen steht die Polizei. Die Polizei und der Bestatter und das Telefon tausend Mal das Telefon weinend und nicht und Fragen und Sätze und Fragen und der Sarg auf dem Friedhof immerzu dieser scheinheilige Sarg darauf die Blumen (weiß) darin ein Kopfkissen (weiß) eine Verkleidung (weiß) und in Einzelteilen die Mutter (rot) begraben Ruhe-in-Frieden-Aus-Ende-Amen.
St. Tropez, 1963. Drei Menschen bewohnten einmal ein Haus und eines Tages war weg: Vater-Mutter-Kind und übrig blieben nur Erinnerungen an die Notdürftigkeit einer Familie. Die paar Sätze und ein Haufen Kartons, da wo einst Träume hausten, aber was heißt schon nicht betroffen. Ich stelle mir vor: Auch meine Mutter hatte einmal etwas gewollt, einen anderen Mann vielleicht oder ein anderes Leben. Irgendwann einmal war meine Mutter eine junge Frau mit einem Namen, Colette zum Beispiel. Man sieht sie auf einem Ruderboot sitzen, die nackten Beine Richtung Kamera gestreckt, mit leichtem Blick lehnt sie den Oberkörper zurück. Ein Blick wie gemacht für ein anderes Leben. Nichts ahnt sie von dem Haus und dem Kind und dem Monaco-Mann, den verwelkten Jahren, dem Septemberwald.
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Ich stelle mir vor: All das ungelebte Leben. Tage wie Sand am Meer, die vergeblich einer Zukunft harren, die niemals stattfand. Je regrette le tout, sprach die Mutter, als sie eines
flüchtigen Tages Zeilen in einen Briefkasten warf. Vorne drauf der Name der Tochter und innendrin ein Satz, der Melodien macht im Kopf.
Fabienne Imlinger ist Literaturwissenschafterin und Autorin. Zusammen mit Martina Kübler betreibt sie den Podcast „Ich lese was, was du auch liest“. Sie forschte und lehrte an der LMU München im Bereich der Gender und Postcolonial Studies. Für ihr Romanprojekt „Alles über meine Eltern“ erhielt Fabienne Imlinger das Literaturstipendium der Landeshauptstadt München 2021.
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*** Einmal ein paar Genozide und ein paar Diktaturen her küsste meine Großmutter die Türklinke ihrer Großmutter aus Freude, im Winter. Ihre Lippen froren an der Türklinke fest jemand riss sie an der Schulter zurück Hautfetzen blieben an der Türklinke kleben, wie alte Tapetenreste nach dem Umzug und ihre Lippen bluteten. Sie erzählte es mir, um mich zu trösten als sie mir Pflaster vom entzündeten Mückenstich am Knie abriss und ich weinte. Ich bin in eine heiße Stadt gezogen, ich küsse immer fremde Türklinken.
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WHICH MONTH IS THE CRUELEST MONTH?
*** 92 Tbilissi ein überfüllter Zug mit einem leeren Wagen kommt an, ich steige ein, Es war nicht leer, alle lagen auf dem Boden wegen einer Schießerei. 22 Berlin ein überfüllter Zug mit einem leeren Wagen kommt an, ich steige ein, Es war nicht leer, ein wohnungsloser Mann ist auf dem Sitz eingeschlafen.
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WHICH MONTH IS THE CRUELEST MONTH? Ich komme durcheinander mit Jahrestagen von Genoziden und Kriegsanfängen, wie mit Geburtstagen, wenn man zu viele Freunde hat und Hochzeitstagen nach ein paar Ehen. Ich frage welcher Monat ist der grausamste und höre: „zu lange her, zu weit weg“
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*** Du stehst in der Tür im Bademantel mit abgeschnittenem Gürtel, im Flur riecht es nach nassem Hund, es bleibt an deinem Lächeln kleben. Dein Lächeln ist eine Großstadt Dvarniaschka1 mit dem pinken Plastekreis am linken Ohr und den hängenden Brüsten noch aus der Zeit vor der Sterilisation. Du sagst, ich habe Borsch aus dreizehn Zutaten, nur rote Beete gab es nicht oder ich habe sie vergessen. Mein Schweigen übertönt das Löffelklirren, die Deckenlampe spiegelt sich im Fenster, sie ahmt den Mond nach. Ist es noch Borsch ohne rote Beete – frage ich, du verbrennst dir die Zunge, zuckst zusammen und schreist auf. 1 Russisches Wort für einen Straßenmischling
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DARIA REACTED TO YOUR STORY Du fährst jetzt ihr Rad, wie verrückt, meins wird am Markt auseinandergeklaut bis nur das Schloss bleibt, wie der Schwanz einer toten Ratte, die immer tiefer in den Asphalt hineinwächst; Hab noch im Herbst den Schlüssel verloren. Wie geht es dir, bei euch noch Krieg, lange nichts mehr gelesen, bei uns friedlich, aber immer schlimmer, du, ich verliebe mich wieder grade.
ANA TCHEISHVILI
Ana Tcheishvili (Ari Umi) *1993 in Tiflis, Georgien, studierte Psychologie und Liberal Arts in Tiflis, Berlin und Leipzig. Zwischen 2013 und 2020 hat sie an der feministisch-literarischen Perfomancereihe Salon Tbilisi-Berlin als Autorin teilgenommen. Aktuell studiert sie literarisches Schreiben am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Sie schreibt Lyrik und Prosa in georgischer, deutscher und englischer Sprache und nimmt an Lesungen in Leipzig, Berlin und Tiflis teil.
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THERESA SERAPHIN
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Theresa Seraphin ist freie Autorin und Dramaturgin. 2016 gründete sie zusammen mit Raphaela Bardutzky das NETZWERK MÜNCHNER THEATERTEXTER*INNEN (NMT), in dessen künstlerischem Leitungsteam sie bis heute ist. Als Autorin hat Theresa Seraphin einen Schwerpunkt auf kollektiven Arbeitsprozessen und offenen Projektentwicklungen. Wiederkehrende Themen ihrer Arbeit sind Feminismus, Trauma sowie Queerness und linker Aktivismus. Letzte Produktionen sind u. a. die Sci-Fi-Installation „PLANET 09“ (2022, ARGEkultur Salzburg), ERIK*A (2023, Schauburg München) und UNISONO (2023, MAKEMAKE produktionen, WUK, Wien). Aktuell arbeitet sie zudem an ihrem ersten Gedichband.
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Schneeflocke Die ersten drei Texte eines entstehenden Zyklus. Die Texte behandeln u. a. sexualisierte Gewalt.
I Mit 10 war ich überzeugt, auserwählt zu sein. Ich stand jeden Sonntag nach der Kirche vor dem Spiegel und suchte das Kreuz, das mir der Pfarrer auf die Stirn gezeichnet hatte.
Wie eins der Ungeborenen, die uns Frau C. in Religion austeilte. Kleine Jesuskinder auf die wir aufpassen sollten und die dann aus den Mülleimern im Schulhof nach uns schrien.
Mit 11 gingen wir in die Stadt. Dort wollte uns ein Mann seine Katze zeigen und also gingen wir nach Hause und sahen uns stattdessen unsere Muschis an. Die waren grau und zart wie die Ohrläppchen alter Frauen.
Wange an Wange, Wimper an Wimper, standen F. und ich an der Kreuzung zwischen unsern Häusern wie die Frau hinter der Gardine und bewegten uns nicht.
Mit 11 trugen wir Tangas, weil man die beim Sex anlassen kann, wusste T.s Schwester. Die wusste alles, bis sie verloren ging, nachts, und nicht nach Hause kam, sondern getragen werden musste.
Der Schmetterlingskuss ist das Aneinanderreiben zweier Zungen durch zwei Wangen. Das hatte ich mit P. schon in der Grundschule geübt. Der malte mir ein Herz in die Hand und wollte drei Kinder von mir.
Wie Kim, die ’97 begraben werden musste – weil sie erstickt wurde hinterm Deich, entzifferte ich Wort für Wort in der Zeitung und klebte ihr Bild schwarz-weiß ins Familienalbum.
Oma sagte Nein: Du brauchst nur zwei Dinge: Eine Waffe und einen Stein. Zur Waffe taugt alles, dein Schlüssel ein Schlagring. Als Stein taugt nur ein Stein.
Jede Nacht betete ich für Kim und Ramona, Melanie und Karola und gab an den Strandtagen acht, dass nicht Dutroux mit seinem Lieferwagen um die Ecke bog und mich mitnahm. Mit 12 war mein Körper kräftig genug um E., der mich liebte, in die Eier zu treten, dass er sich krümmte wie ein Embryo. Vorher und nachher nannte er mich eine „F.“.
Mit 14 zeigte uns die wilde Gina zu schlucken statt zu kotzen. Bei jedem Stoß schlucken. Sagte sie und verschlang ein Schwert. Mit 15 lag ich in J.s dunklem Zimmer und fuhr mit meinen Fingern ihre Haut entlang. Die Haut, die hier ganz rau wird und dort weich, und die einmal um den Körper führt. Es war ein ganz normaler Tag als ich meinen Körper suchte, nach Haaren absuchte, die ich entfernen könnte. Es war mit 15, 16, 17,
THERESA SERAPHIN
als ich I. liebte und die Zigarette danach. So sehr, dass ich hoffte, dass die Zeit uns auseinanderbringen würde. Was sie tat, an einem ganz normalen Tag An einem ganz normalen Tag machte das Licht in der Waschküche Cellulite. Körperkrater. Aprikosenrinde um einen jungen Hintern, der sich ficken lassen würde, um dann gefickt worden zu sein. Wie von der Gewalt schreiben, ohne, dass die Sprache reißt? Wie ein Wort in die Wunde legen? Wie aus der Wunde einen Satz formen? Und das Feld voller Blumen das Feld voller Blumen. Und A.s runden Hintern A.s runden Hintern. Und erzählen von allem für jede.
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II Hey heißt die Hand die du hieltst ist heiß. Heiß wie das Lied das du spielst, das ich spie, von Ewigkeit und Schicksal. Ich lade alles auf. Lade deine Sehnsucht, deine Vergangenheit, die ausgelassene Jugend bin ich. Du hast die größten Hände der Stadt. Lange Finger mit kreisrunden Monden und Teller, dass ich mich kringel darauf. Ich kringel mich. Kringel mich für dich, bring dich zum Sprechen und du mir was? Du mir das . Was nur zwischen dir und mir auf dem Sofa liegt. In der Ritze, in der Klitze, ins Loch fällt im Parkett, schon ist es weg. Ich sag dir, der Staub steht über dem Teppich und du machst das Licht aus. Geheimnisse trägt man wie Kreuze um den Hals. Geheimnisse schillern im Licht. Geheimnisse machen einen Auftritt. Sie treten auf, sie vertreten sich nicht. Geheimnisse teilen sich nicht. Ich teile sie mit, sie teilen sich nicht. Es bleibt was es ist. Mein Geheimnis ist Mist. Wird nicht schöner, wenn man es teilt. Wird nicht besser, wenn man es bricht. Über die Straße trage ich dich. Über den Schulhof, in die Pause, Heim geh ich damit. Ich sag’s aber pssst psst psst ich sag’s aber psst psst psst psst sage ich pssst Hinter vorgehaltener Hand, psst ist noch eine Hand, ist noch eine Hand ist noch eine Hand. Ist der Mund. Er stummt.
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SCHNEEFLOCKE
Wandel deine Angst in Scham. Wandel deinen Schmerz in Gischt. du hast ein liebliches gesicht ich teile es nicht du hast ein liebliches gesicht ich teile es nicht du hast ein liebliches gesicht ich teile es nicht
III Sonntags verbarrikadieren wir sein Zimmer. Schränke, Stühle und Kuscheltiere stapeln sich in dem alten Flur, der längst wusste was passieren würde. Mittags kommt er rausgekrochen, neben seiner Freundin mit Vanilleparfum, die dumm ist und von mir nichts weiß. Im Gegensatz zu dem Spion von gegenüber der, wenn ich aus seinem Fenster schaue, mir winkt als kennten wir uns schon. Und auch der Vogel ist verdächtig, wenn er, nur weil ich seine Hand berühr, das gleiche C wie unser Wasserkocher pfeift. Es wissen eigentlich alle, der Rasensprenger in der Mittagshitze, die schnellen Schatten und auch E.s Lachen, längst Bescheid. Es weiß die Freundin, die es gegen eine Barbie bei mir tauscht. Es weiß der alte Baum, weil wir in seinen Ästen uns umarmen. Ich wusste es und er wusste es auch: Abends gehen die Eltern ins Theater. Das Essen angebrannt. Die Tickets sind gekauft. Ich sage, nehmt mich mit! Ich mach euch eine Szene! Ich sag, ich sage alles und ihr haltet es aus! Die Fliege gerichtet, der Kuss auf die Stirn. klack klack klack klack Unterm Bett ist kein Mann, ab ins Bett kleiner Mann. zack zack zack zack Meinen Kuscheltieren will ich eine gute Mutter sein. Ich sage: Jetzt schlaf ich ein. Unter den Decken flimmert das Licht. Er sagt: Wie ich dich brauch. Ich: Werd erwachsen, ich bin es auch.
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Mangelnde Informationen Ich kenne mein Alter, mein Geschlecht und das behauptete Gewicht, das ich angeben soll, falls sie mich danach fragen. Einen Namen haben sie mir diesmal nicht gegeben. Ich habe keine Allergien, keinen Bluthochdruck, meine Werte sind trotz allem unauffällig. Ich bin hier, weil ich mich schon lange nicht mehr gut gefühlt habe. Solange schon, dass ich nicht einmal mehr besorgt bin. Statistisch gesehen, bin ich zu jung, um die Zukunft so pessimistisch zu betrachten. Das hat man mir zumindest oft gesagt. Bis hierhin ist es einfach, bis hierhin decken sich unsere Geschichten. Manchmal habe ich Angst, dass der ganze gute Kram schon passiert ist, aber dann frage ich mich, wann das gewesen sein soll. Eine kleine Abweichung vom Rollenskript, die niemandem aufzufallen scheint. Nicht einmal der Projektkoordinatorin, die mit mir die Rollenschulung gemacht hat und etwas abseits steht. Ich stelle mir vor, dass sie auf einen Buzzer drücken würde, ein durchdringendes Signal, wenn ich Bauchspeicheldrüse sagen und den Studentinnen damit die Lösung vorwegnehmen würde. Wo und seit wann haben Sie die Beschwerden? Haben sich die Beschwerden über die Zeit verändert? Heimlich habe ich mich immer für etwas Besonderes gehalten, jemanden, dem mehr zusteht als anderen. Vielleicht haben ihre aufmerksam gestellten Fragen deshalb so eine befriedende Wirkung auf mich. Als es um meinen Medikamentengebrauch geht, schüttele ich den Kopf, gebe kein Geräusch von mir. Laut Anleitung bin ich der wortkarge Typ. Es hat eine Weile gedauert, bis ich verstanden habe, dass sie meine ausweichenden Antworten jedes Mal mit einem Lächeln quittieren, um ein paar Minuten später doch wieder darauf zurückzukommen. Sobald ich die angelernte Methodik durchschaut hatte, ließ sich das ganze eher wie ein Stück mit klarer Dramaturgie begreifen. Seit der Theater-AG in der Oberstufe hat man mich nicht mehr in einer Hauptrolle besetzt. An der Schauspielschule immer nur die Hysterische, die Laute, Unkontrollierte. Es gibt so viele Rollen für Frauen, die ins Wasser gehen. Die satanische Rituale durchführen, um verheiratete Männer für sich zu gewinnen. Frauen, die von ihren Söhnen, Gatten, Brüdern, Cousins getötet werden. In meinem Gesicht meinten die Dozenten etwas Manisches zu sehen, das sich nicht für love interest Figuren eignet. In Wahrheit war ihnen mein Kiefer zu breit. Es fühlt sich an, als würde ich als Simulationspatientin zum ersten Mal einen echten Menschen spielen. Es gefällt mir, dass all diese Frauen mich so genau beobachten müssen. Die ungeteilte Aufmerksamkeit des Publikums, wann hat man die schon. Untereinander haben sie kaum Blickkontakt. Angeblich experimentieren besonders Medizinstudentinnen in den ersten Semestern mit Botox und intravenösem Mikrodosing, aber die Gesichter um
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mich wirken eher vorzeitig gealtert und unangenehm real. Ihre angetrockneten Lippen zeugen von zu kurzen Pausen und anhaltender Dehydration. Gibt es überhaupt Menschen, die wirklich zwei Liter Wasser am Tag trinken? Erst vorhin hat die mit dem ausgedörrtesten Gesicht meine Hand gedrückt, als wolle sie mich trösten. Dabei hat sie ihre Stirn gut sichtbar in Falten gelegt. Sie hat diese mütterliche Geste perfekt einstudiert. Einen kurzen Moment habe ich gedacht, wie schön es wäre, von ihr gemeint zu sein, aber direkt zurück in meine Rolle gefunden. Anfang der Woche haben wir zusammen noch eine Zigarette geraucht, das hat geholfen. Von uns beiden bin ich der Profi. Ich sage Krämpfe und Magenschmerzen und Appetitlosigkeit. Ich bin hier, damit sie mir sagen kann, dass ich sterben werde. Ich glaube, das versteht sie noch nicht, aber ich kann ihr auch nur die abgesprochenen Brocken hinwerfen. Senkrecht, 5 Buchstaben, ein Tier, das sich seitlich fortbewegt. Nein, es gibt keine chronischen Krankheiten in meiner Familie, zumindest keine, von denen ich weiß. Aber meine beiden Eltern haben gearbeitet, bis sie gestorben sind, und auf eine Art ist dieses Pflichtbewusstsein sicherlich auch krankhaft. Niemand hat ihre Lebensversicherungen eingestrichen. Eine Verschwendung. Ich frage mich, wie viele solcher Todesfälle ein Staat einkalkuliert, um das System aufrechtzuerhalten. Führt das zu weit? Ich denke nicht, dass ich mehr schwitze als andere, aber wer soll diese Frage mit Sicherheit beantworten können? Meine letzte Periode hatte ich vor 17 Tagen. Zurück zum Text, das steht auf meinem Spickzettel. Ich neige zu Schmierblutungen, aber das werde ich nicht erzählen. Es ist wichtig, Informationen wegzulassen. Auch einzelne Falschinformationen sind erlaubt. Das hat die Personalleiterin des Krankenhauses damals im Vorgespräch gesagt. Kleidungsstücke werden mir nicht gestellt, deshalb trage ich meine eigene Jogginghose, meine eigene durchgescheuerte Unterwäsche, mein eigenes Thermo-Longsleeve. Für uns Simulationspatientinnen gibt es kein Krankenhausessen und keine Infusionsständer. Man darf uns abtasten und abhören. Blut dürfen sie uns nicht entnehmen. Die Simulationsklinik war früher eine Schwesternstation. Der Fernseher in der Ecke rechts oben ist trotzdem eine Requisite, von der das Steckerkabel nutzlos herunterhängt, in der Fernbedienung fehlen die Batterien. Nicht mal die Heizung ist intakt. Wer auf die Details achtet, erkennt die Fehler sofort. Ich kenne es nicht anders. Am Theater sind ein Stuhl und ein Tisch meist schon ein Wohnzimmer. Als Kind habe ich Matrix geliebt, als Erwachsene suche ich noch immer nach diesem einen Glitch, der das ganze Spektakel um mich herum entlarvt. Waren Sie schon einmal im Krankenhaus? Ich war schon ein Darmverschluss, eine Entzündung der Speiseröhre, eine Thrombose im Magen. Ich bin von Natur aus ein blasser, magerer Typ. Vermutlich eigne ich mich deshalb besonders für die Rollen, die vorsehen, dass ich mich wimmernd krümme. Grundsätzlich ist es nicht gestattet, als Simulationspatientin Krankheitsbilder darzustellen, zu denen es eine persönliche Verbindung gibt. Das hat nichts mit Schutz zu tun. Ein zu breites Vorwissen, verfälscht die Darstellung. Wer kümmert sich um Sie, wenn es Ihnen schlecht geht? Nein. Ich werde nicht über Männer sprechen, auch wenn auf meinem Zettel von einem Ehemann die Rede ist. Wenn ich über Männer sprechen würde, würde ich schnell über Adrian sprechen und meine Rolle aus den Augen verlieren. Adrian, der es lächerlich fand, dass ich diesen Job überhaupt angenommen habe, weil Simulationspatientin sein nicht besser ist als Statistin am Theater Heilbronn. Während ich hier liege, probt er auf der Hauptbühne eines staatlichen Theaters Richard III., schwitzt und schreit und spuckt, als wäre er derjenige, der verlassen wurde und dort eine Wohnung finden muss, wo es keine Wohnungen gibt. Adrian, der auch weiterhin sagen kann, dass er es ja
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gemeinsam mit mir schaffen wollte, aber das Schicksal da manchmal einfach nicht mitspielt. Es ist eine Lüge, dass es am Ende von Beziehungen keine Gewinner*innen und Verlierer*innen gibt. Er kann weiterhin von meinem großen Potenzial sprechen, ich nur von diesem Körper, in den man sich verbeißen konnte, wenn keine Bewegung mehr Sinn ergab. Ich behaupte, diejenige zu sein, die ihn blockiert und unsere Chatverläufe gelöscht hat, und er widerspricht nicht. Wir schweigen darüber, dass ich diejenige bin, die Fotos seiner Eltern und seines Bruders likt, damit sie ihn hin und wieder auf mich ansprechen. Ich habe mit 23 Jahren angefangen zu rauchen, aufgehört und mit jedem Liebeskummer wieder angefangen. Beantworten Sie die Fragen Ihres Gesprächspartners bitte grundsätzlich klar und wahrheitsgemäß. Adrian und ich waren nach dem Uniabschluss im Impro-Kurs, aber die Termine haben sich schnell mit seinen richtigen Jobs überschnitten. Vorabendserien auf Rügen, Fernsehfilme in Babelsberg. Wenn er keine Zeit hatte, fand ich meinen Auftritt immer stärker. Ich stand plötzlich mittig im Raum, den Kopf Richtung Deckenfenster. Im Impro-Kurs habe ich gelernt zu widersprechen. Wenn ich ihm davon erzählte, fand er das süß und nett und ambitioniert. Er sagte, na immerhin. Auf meinem Spickzettel steht, dass mein Mann Türke ist. Und ich frage mich, warum das wichtig ist. Erwartet man von mir, dass ich es selbst erwähne, eine Art Geständnis, oder hätten sie gerne ein Kopftuch gesehen, gebrochenes Deutsch gehört? Viel lieber würde ich darüber sprechen, wie schwierig es ist, als Selbstständige, als Schauspielerin, die niemand auf Bühnen sehen will, genügend Geld für die Krankenversicherung zusammenzubekommen. Wenn ich morgen vom Auto angefahren werde, kann ich nur hoffen, dass da nichts mehr zu machen ist. Dieser Job zahlt gerade einmal Mindestlohn. Zuletzt habe ich in einem Studentenfilm Take für Take kalte Erbsensuppe in meinen Schoß erbrochen, während das Kameraobjektiv sich fest gegen mein Gesicht drückte. Ich schlafe auf der Couch einer Frau, die ich Freundin nenne, damit sie mich bleiben lässt. Dabei ist es nicht einmal eine Schlafcouch und unbequemer als dieses Krankenhausbett. Ich habe eine tiefe Abneigung gegen Berührungen im Gesicht, aber ich kann nicht verhindern, dass die Frauen mir nacheinander die eiskalten Handrücken gegen die Stirn pressen, als würden sie Fieber messen. Die Heizung geht noch immer nicht, dabei steht sie auf 4. Das Ganze ist nichts anderes als in kleinen weißen Plastikkitteln im Kindergarten Krankenschwester spielen. Spritzen, Skalpelle, Zangen aus weichem Plastik. Keine von ihnen hat eine Ahnung, was mir fehlt. Sie vergleichen Notizen, sie schauen ratlos, sie fassen mich an. Pantomimisches Haare aus dem Gesicht streichen. Wenn sie mir schon nicht helfen können, wollen sie wenigstens für mich da sein. In der Medizin geht es um Empathie, das haben sie gelernt. All die Hände, die mir entgegengestreckt werden, während ich liege wie aufgebahrt. Es ist eine hilflose Position. Eine, die eine Schauspielerin vielleicht in etwas Erhabenes verwandeln könnte. Ich spüre, wie sich mein Hintern platt drückt, darüber ein schweißnasser Rücken. An der Schauspielschule haben sie mir gesagt, ich hätte eine schlechte Haltung. Auf dem Handy hat Adrian mir einmal Fotos von Witwenbuckeln gezeigt. Ich spreize die Beine. Ich lasse meine Arme zur Seite fallen. Sie berühren das Bettgestell. Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt. Sie haben die Lösung nicht gefunden, sterben werde ich trotzdem.
MANGELNDE INFORMATIONEN
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Emily Grunert *1992 in Mainz, studierte Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus in Hildesheim und Angewandte Literaturwissenschaft in Berlin. Heute lebt sie in Rostock, wo sie von 2018 bis 2020 als Programmleiterin des Literaturhauses tätig war. Sie war unter anderem Landeskind-Stipendiatin im Künstlerhaus Edenkoben, Finalistin beim Literaturpreis poet | bewegt und WerkstattStipendiatin der Jürgen-Ponto-Stiftung. 2016 wurde sie beim Retzhof-Preis für junge Literatur der Literaturwerkstatt Graz ausgezeichnet. 2019 erhielt sie den Literaturförderpreis der Stadt Mainz. 2022 war sie Literaturstipendiatin des Landes Mecklenburg-Vorpommern.
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SKIZZEN EINES LETZTEN BILDES Zu finden auf Seite zwölf: Hélène Cixous: Aus Montaignes Koffer, im Gespräch mit Peter Engelmann, Passagen Gespräche 7.
Bei meinen anderen Großeltern war es schwierig, passende Fotografien für ihre Parten zu finden. Bei ihr will ich vorbereitet sein. Ich habe sie schon oft fotografiert, das letzte Bild ist noch nicht dabei. Vor einigen Wochen habe ich ein beeindruckendes Portrait von Hélène Cixous mit geschlossenen Augen gesehen. Ich packe meine Kamera und das Buch mit der Aufnahme ein. Oma sitzt auf ihrem Stuhl beim Esstisch. Ich zeige ihr die Fotografie. Die sieht beinahe aus wie eine Tote. Sie trifft es auf den Punkt, meine Faszination rührt daher, dass es aussieht wie eine Totenfotografie. Die Unsicherheit, ob die Portraitierte schläft oder gestorben ist, zieht mich an. Schon oft hatte ich den Impuls, sie liegend im Bett zu fotografieren. Oder wie jemand, der sehr in einem Gedanken ist. Das ist wirklich etwas, das ist gut. Ich frage, ob ich sie fotografieren darf. Nicht heute, ich hab mich gerade eingecremt und schwitz so. Sie streicht, verteilt die Creme und den Schweiß mit den Händen von unter den Augen bis zum Hals. Mein Lieblingsbild von ihr ist ein Dreiviertelkörperportrait im Schrebergarten. Das Foto schneidet die Knie, die Unterschenkel, die Füße ab. Ihre Oberschenkel stehen fest auf dem unteren Bildrand. Im Hintergrund, hinter dem Körper, ist die Hauswand des Gartenhauses und ein Fenster mit zugezogenen Vorhängen zu sehen. Die Bildmitte läuft durch die Körpermitte, teilt die Oberschenkel, die schwer im Badeanzug hängenden Brüste, läuft die Falten am Hals hinauf, dann die Nase, die tiefe Kerbe zwischen den Augenbrauen, den Schwung der Haarsträhne und schließlich den Vorhang, hinter ihrem Kopf, entlang aus dem Bild. Im Vordergrund, in der linken unteren Bildecke ist ein rundes Stück Buchsbaum zu sehen. In der rechten Ecke ragen vier langstielige Blumen mit rosafarbenen Blütenblättern ins Bild. Ihre Hand auf der linken Bildseite hält eine Krücke. Die linke Hand ist zu einer Zeigegeste geformt, doch der Arm hängt am Körper hinab und der gestreckte Zeigefinger deutet in
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Richtung Boden. In meiner Erinnerung ist ihre Haut faltenfrei. Doch das Foto zeigt mir ein faltiges Gesicht, zeigt mir die Tränensäcke unter ihren Augen. Sie schaut direkt in die Kamera. Die Augen starren mich, die Fotografin, die Betrachterin an, ihr Blick hat etwas Herausforderndes.
Beate Lakotta, Walter Schels: Noch mal leben vor dem Tod, Wenn Menschen sterben. München 2012. S. 9f.
Zurück am Schreibtisch nehme ich einen Fotoband, mit Portraits von Sterbenden im Hospiz, aus dem Bücherregal. Die Fotografien, sie zeigen Menschen kurz vor und nach ihrem Tod, sind mir sehr vertraut, doch die Texte habe ich bisher noch nicht gelesen. Ich beginne mit dem Vorwort, das die Beweggründe für dieses Projekt schildert: „das eigene Dasein von seinem Ende aus zu betrachten“, „die eigene Lebensfreude mit Todesbewusstsein verbinden – oder sich zumindest darin üben“. In den darauffolgenden Gesprächen mit Sterbenden tauchen manche Motive immer wieder auf: Mit wie viel Gepäck die Menschen ins Hospiz kommen, die Frage, was brauchen wir zum Sterben? Die Wichtigkeit, sich ans Bett zu setzen, die Hand zu nehmen, der Liegenden zu erzählen, sie in den Schlaf zu sprechen. Zufallende Augen. Fragen, die sie vor dem Fotografieren mit ›ja‹ beantworten sollte: — Hast du gut geschlafen? — Ist heute kein Entwässerungstag? — Hast du dich noch nicht eingecremt? Wir würden an einer vertrauten Position beginnen. Sie sitzt am Esstisch und ich gegenüber. Ich schaue durch die Kamera, sehe ihr Gesicht, ein Stück Oberkörper, die Hände liegen vor ihr auf dem Tisch. Das ist der Bildausschnitt. Sie trägt eine blaue Fleecejacke, die Haare sind mit einem Reifen aus dem Gesicht geschoben. Sie hat ihre Lider mit blauem Schatten bemalt, die Lippen sind zusammengepresst. Sie schaut direkt in die Kamera. Ich löse aus. Positionswechsel. Sie sitzt im Fernsehsessel, ich auf dem dazugehörenden Fußhocker, ungefähr eine Beinlänge entfernt. Sie trägt eine weiße Bluse, eine goldene Kette, die Haare sind offen, sie hat sie ein wenig toupiert. Mir gefällt der Kontrast des schwarzen Leders vom Sessel und der weißen Haare. Ich gehe nah ran, nur das Gesicht, die Haare und das Leder. Darüber habe ich schon oft nachgedacht: Wir sind im Schlafzimmer. Sie liegt auf dem Rücken im Bett, trägt ihr blaues Nachthemd, die Augen sind geschlossen. Ich stehe auf dem Bettrahmen, versuche die Perspektive des Kronleuchters, hole die Leiter aus der Abstellkammer – viel zu dramatisch. Sie sitzt auf der Bettkante, ich vor ihr auf dem Boden, das Gesicht, der Oberkörper, die Decke, der Kronleuchter, sie schaut auf mich herab. Sie beginnt zu lachen. Ich drücke ab. Jetzt sie: ein Selbstportrait. Sie platziert sich und mich.
1 Ich schicke Oma das Foto auf WhatsApp, frage ob ich es verwenden darf. Oma schreibt: Da hatte ich um 15 kg mehr Ich: stört dich das? Oma: NEIN Ich: das heißt ich darf es veröffentlichen? Oma: JA
Falls wir noch Lust haben: — die Vorhänge der Terrassentüre wären ein schöner Hintergrund — die Hollywoodschaukel im Schrebergarten — Musik, sie verändert ihr Gesicht Anforderungen an ein letztes Bild: — gut zum Anstarren soll es sein — muss es friedlich sein? — zumindest sollte es nicht erschrecken Anforderung an ihr letztes Bild: — es muss dieses Foto1 übertreffen:
SKIZZEN EINES LETZTEN BILDES
Katharina Feist-Merhaut *1990 in Wien, studierte nach ihrem Abschluss an der Graphischen Wien (Abteilung Fotografie) am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. 2019 war sie Mitherausgeberin der Tippgemeinschaft. Seit 2021 studiert sie am Institut für Sprachkunst an der Universität für angewandte Kunst Wien. Der hier veröffentlichte Text ist ein Ausschnitt aus einem größeren Projekt, an dem sie gerade schreibt.
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JOHANN VOIGT
Johann Voigt *1994 in Dresden, studiert Sprachkunst an der Universität für angewandte Kunst Wien. Er arbeitet mit Text und Sound und beschäftigt sich in seiner Arbeit mit Autorität und Dissoziation. 2022 entstand während seiner Residency im Dock 20 Lustenau die Soundinstallation „Outlet_2“.
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DÜ DÜ DÜ DÜ DÜ DÜ Ich belausche meine Freund*innen. Ich starre meine Freund*innen minutenlang an, bis sie nervös werden. Ich starre sie an und ihre Gesichter färben sich rot und mein Gesicht färbt sich rot, weil ich damit konfrontiert werde, dass gute Kommunikation so nicht funktioniert. Ich frage mich, wie gute Kommunikation funktioniert. Ich beneide die gut Kommunizierenden. Ich habe Scham vor meiner Art der Kommunikation. Ich verlasse zwei Wochen lang meine Wohnung nicht.
Ich frage meine Mutter aus. Ich frage meine Großeltern aus. Ich frage alles aus allen heraus. Ich kratze und schabe und schlecke die letzten Reste aus allen Menschen in meiner Umgebung heraus und sammle sie in Einweggläsern.
JOHANN VOIGT
Ich gehe kilometerweit durch die Stadt. Ich gehe abwechselnd links und rechts. Ich fahre Zug. Ich fahre E-Bike. Ich fahre mit dem E-Bike in der Nacht durch den Wald in Vorarlberg und singe ein Lied Ich singe ein Lied, weil ich Angst habe. Ich beobachte mich selbst dabei und trete schneller in die Pedale des E-Bikes, aber es gibt einen Widerstand. Ich singe und trete und merke, dass der Akku des E-Bikes leer ist und mein Singen wird zu einem Schrei. Ich fahre 3800 Kilometer mit dem Auto. Ich beobachte den Zöllner im Fußraum des Autos. Ich sage dem Zöllner, dass ich ein highly recommended artist aus Deutschland bin und der Zöllner will nur seine Zöllner-Ruhe haben und hält die Packung mit meinen Lactase-Tabletten ganz fest in der Hand. Ich erkläre dem Zöllner, dass die LactaseTabletten in seiner Hand meine Lactase-Tabletten sind und keine Drogen und ich nun weiterfahren möchte. Ich bin müde. Ich habe Blähungen. Ich beobachte den Zöllner dabei, wie er von einem Mann auf einem Fahrrad Bier entgegennimmt, und fahre weiter. Ich klettere über Zäune. Ich schneide mit einem kleinen Bolzenschneider Löcher in Zäune und krieche durch diese Löcher hindurch. Ich breche in Gebäude ein. Ich vervielfältige Schlüssel für geheime Räume und verkaufe sie an Jack aus Newcastle. Ich erfreue mich am Dialekt von Jack aus Newcastle und er realisiert das und mein Gesicht wird wieder rot wegen der Kommunikation, die einfach nicht funktionieren will.
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Ich starre Wände an. Ich starre auf Displays. Ich starre auf Bücher. Ich stehle Bücher. Ich lese jedes Buch neurotisch bis zum letzten Wort. Ich verkaufe die gelesenen gestohlenen Bücher. Ich verkaufe die gelesenen gestohlenen Wörter. Ich suche weiter nach eigenen Worten. Ich gehe mit dem durch den Verkauf der Bücher verdienten Geld ins Kino und ins Theater und auf Konzerte. Ich konsumiere Kultur. Ich konsumiere maßlos viel Kultur und renne durch all die Orte, an denen Kultur passiert, hindurch und ballere mir die ganze Kultur dabei ins Hirn rein und mein Kopf brennt und brummt und ich renne und renne und renne und ich habe keine Kraft mehr. Ich habe keine Kraft mehr dafür, meine Freund*innen anzustarren. Ich habe keine Kraft mehr zum Löcher in Zäune schneiden. Ich starre auf den Boden und zupfe nervös an meine Jacke. Ich rufe meinen Anwalt an. Ich rufe eine Journalistin von der Vogue an. Ich rufe die Polizeidirektion Kirchberg am Wagram an. Ich rufe einen Tontechniker an. Ich rufe die Kuratorin an. Ich rufe die unbekannte Nummer aus Simbabwe zurück. Ich lese im Internet Warnhinweise zu Scams per Telefon.
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DÜDÜDÜ
Ich schließe ein kostenpflichtiges Abo für das E-Paper einer Berliner Tageszeitung ab. Ich lese kritische Texte über die als E-Paper abonnierte Tageszeitung in anderen Tageszeitungen, für die ich kein Abo abgeschlossen habe. Ich checke meinen Kontostand. Ich rufe beim Finanzamt an. Ich denke über funktionierende Scams nach. Ich werde panisch.
Ich suche weiter. Ich fühle mich einsam. Ich rufe aus Verzweiflung mein zweites Handy an.
Ich rufe einen Freund an und erkläre ihm meine Ideen. Ich spreche mit meinem Freund über den gewerbsmäßigen Diebstahl von GoreTexJacke in Malmö. Ich spreche mit meinem Freund über den Diebstahl von Leadlenser P7R-LEDTaschenlampen aus den Fahrerkabinen der U6-Garnituren in Wien. Ich spreche mit meinem Freund über Gewinnmargen beim Ketamin-Verkauf in Österreich. Ich beginne zu weinen. Ich zittere vor Stress. Ich mache mich über mich lustig. Ich mache mich über meine Probleme lustig und lache und weine und zittere. Ich schlafe 14 Stunden. Ich wache auf. Ich schwitze. Ich sammle meinen Schweiß in Reagenzgläsern und denke mir Geschichten über die Schweißperlen aus. Ich bin 24/7 auf der Suche nach Stoff.
Alles beginnt von vorn.
Eine Freundin erzählt mir, dass sie und ihr kleiner süßer Hund während des Kaufs von Stoff von Zivilpolizisten zuerst fotografiert und einige Wochen später von ihnen mit diesen Fotos konfrontiert wurde, und denke über die Verwertbarkeit ihrer Geschichte als Stoff für einen Text nach, der unter Umständen als Literatur gelten könnte, aber verwerfe den Gedanken, weil mir das banal vorkommt.
Der Klingelton klingelt niedlich. Ich schreibe einen Text über den niedlichen, kleinen, süßen Klingelton: Dü Dü Dü Dü Dü Dü.
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SOPHIA NAOMI EISENRING
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Vorwort Ende.
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vom das Ende vorwegnehmen. ausatmen und es ist zu riechen: das Modern, das Gilben. von den Rändern her, vielleicht, sie neigt sich der Auflösung, um dann schmucklos zu sagen: die Konten sind leer, alle Papiere verkauft, Punkt, ich bin am Ende, Punkt, Punkt, Punkt. wir können jetzt noch Danke sagen. danke, dass wir miteinander da waren. es war manchmal schön. Dank, den Grossmütter, dass sie unsere Mütter geboren haben, unseren Kindern, dass sie es wagten, uns zu ihren Eltern zu machen und uns altern und enden, das Sprechen verlernen, die Spannung schwinden sehen. und sie schrieben, wir schreiben, sie schrieben, sie werden schreiben, weiter von vielen Enden her. vielleicht. wie über uns dieses Ende schwebt, immerzu, haben wir uns nie nach dem Sinn gefragt, weiterzumachen. das hat sich einfach so ergeben. und jeder Anfang wird, indem sich ergibt, was uns immer so sicher war, so sicher. wir betten unsere endenden Existenzen auf zitternden Gegenden, die bald schon nicht mehr sind, versandet, geschwemmt, unsere Anfänge und Durststrecken und Blüten, gestrichen in Pastell, in Hochglanz, shimmer shimmer shimmer fadengeheftet immer noch die JENNY, wir trinken schon länger als wir das dürfen, sie mit ihr, zish zish Korken aus Flaschenhals, ein Geschoss, ups Vogel im Flug vom Himmel geknallt, aber wir: müssen hydriert bleiben, bubble bubblen und wir babbeln am Anfang und am Ende ohne Semantik, so jetzt aber alle: es fehlen uns die Zähne zum Beissen am Anfang und am Ende, so jetzt aber alle: schlagt ihre erste Seite auf, nehmt einen Happen, happy verdauen.
danke euch, die ihr an JENNY gestrickt und gehäkelt habt, gepflügt und kompostiert, wir gehen ab sofort weiter auf den Schluss zu und mit jedem Atemzug, den ihr in die Lektüre investiert, ist einer weniger vom Ende her übrig. danke euch, die ihr nicht daran mitgewirkt habt, ihr geht mit uns mit auf das Ende hin zu. JENNY ist zehn Jahre um den Block gegangen, nachdem sie damals kurz Zitronen holen wollte, es furcht eine nachdenkliche Falte, oder ist es Zorn oder ein ganzes Jahrzehnt, ihre Stirn, einst glatt wie Vanillesosse. zisch, Sodazitrone, heiss heiss heiss ist es ihr, uns, gelöscht der Durst, der Hunger noch nicht. lest lest lest, geht über den Punkt hinaus, eure Gegenwart, an deren Deutung wir weiterhin einen winzigen Anteil Hoheit verlangen. und nun lest lest lest über den Punkt hinaus, dem Ende entgegen.
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Sophia Naomi Eisenring. *1996, schreibt dazwischen, um vieles herum und viel zu selten etwas fertig, mag Spielen mit Sprache lieber als Gesellschaftsspiele und gibt an dieser Stelle zum dritten Mal mit Pause die JENNY mit heraus.
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