Jahrbuch der Hambach-Gesellschaft 27 3515130721, 9783515130721

Das Jahrbuch der Hambach-Gesellschaft 2020 umfasst wieder eine größere Anzahl von Abhandlungen zur politischen Bildung u

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German Pages 308 [310] Year 2021

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Aufsätze
(Klaus Kremb) „In mir hat Hegel den unsterblichen Funken der Freiheit entzündet“. Johann Georg August Wirths Nürnberger Gymnasialzeit (1814–1816) und das politische Denken Georg Wilhelm Friedrich Hegels
(Karlheinz Lipp) Der Theatermacher Johann Nepomuk Nestroy im Vormärz und in der Revolution von 1848/49
(Dieter Hein) Vormärz an Rhein und Main. Bürgerlicher Aufbruch zwischen Region und Nation
(Andreas Pauschenwein)
Die Wahlen zur Frankfurter Nationalversammlung in Niederösterreich 1848
(Lucia Seiss) Die Frankfurter Paulskirche und das städtische Bürgertum. Darstellung der Einflussnahme der bürgerlichen Selbstverwaltung auf den Bau der neuen protestantischen Hauptkirche
(Lothar Höbelt)
Wahlreform und Kulturkampf in Österreich. Der übersehene Erdrutsch von 1870
(Gerhard Nestler)
Die Spaltung des politischen Katholizismus in der Pfalz 1918–1924
(Tobias Hirschmüller) Mediale Präsenz des „Führers“ in der Region. Das Beispiel des Hitler-Kultes in Neustadt an der Weinstraße
(Gert Krell)
Zwischen Holocausttrauma und Siedlungskolonialismus.
Achille Mbembes Kritik an Israels Politik gegenüber den Palästinensern
Forum
(Markus Raasch)
Das Projekt „Neustadt an der Weinstraße und der Nationalsozialismus“
Verzeichnis der Verfasserinnen und Verfasser
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Jahrbuch der Hambach-Gesellschaft 27
 3515130721, 9783515130721

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Jahrbuch der Hambach-Gesellschaft Band 27 • 2020 Franz Steiner Verlag

Im Auftrag der Hambach-Gesellschaft her ausgegeben von Wilhelm Kreutz Markus Raasch Karsten Ruppert

Jahrbuch der Hambach-Gesellschaft Im Auftrag der Hambach-Gesellschaft herausgegeben von Wilhelm Kreutz, Markus Raasch und Karsten Ruppert Redaktion: Karsten Ruppert https://elibrary.steiner-verlag.de/yearbook/JB-HG

Jahrbuch der Hambach-Gesellschaft Band 27 (2020)

Franz Steiner Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2021 Layout und Herstellung durch den Verlag Druck: Beltz Grafische Betriebe, Bad Langensalza Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-13072-1 (Print) ISBN 978-3-515-13078-3 (E-Book)

Inhalt Vorwort

7 Aufsätze

Klaus Kremb „In mir hat Hegel den unsterblichen Funken der Freiheit entzündet“ Johann Georg August Wirths Nürnberger Gymnasialzeit (1814–1816) und das politische Denken Georg Wilhelm Friedrich Hegels

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Karlheinz Lipp Der Theatermacher Johann Nepomuk Nestroy im Vormärz und in der Revolution von 1848/49

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Dieter Hein Vormärz an Rhein und Main Bürgerlicher Aufbruch zwischen Region und Nation

79

Andreas Pauschenwein Die Wahlen zur Frankfurter Nationalversammlung in Niederösterreich 1848

97

Lucia Seiss Die Frankfurter Paulskirche und das städtische Bürgertum Darstellung der Einflussnahme der bürgerlichen Selbstverwaltung auf den Bau der neuen protestantischen Hauptkirche

129

Lothar Höbelt Wahlreform und Kulturkampf in Österreich Der übersehene Erdrutsch von 1870

163

Gerhard Nestler Die Spaltung des politischen Katholizismus in der Pfalz 1918–1924

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Inhalt

Tobias Hirschmüller Mediale Präsenz des „Führers“ in der Region Das Beispiel des Hitler-Kultes in Neustadt an der Weinstraße

227

Gert Krell Zwischen Holocausttrauma und Siedlungskolonialismus Achille Mbembes Kritik an Israels Politik gegenüber den Palästinensern

257

Forum Markus Raasch Das Projekt „Neustadt an der Weinstraße und der Nationalsozialismus“

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Verzeichnis der Verfasserinnen und Verfasser

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Vorwort So stark wie selten ist das Jahrbuch der Hambach-Gesellschaft dieses Mal auf den Zeitraum fokussiert, der in seinem Titel zum Ausdruck kommt Befasst sich doch die Hälfte der zehn Beiträge mit dem Vormärz und der Revolution von 1848/49 Den Anfang macht Klaus Kremb, der im Zuge seiner Studien zum politischen Denken auf ein wenig bekanntes Faktum im Leben des Mitorganisators des Hambacher Festes, Johann Georg August Wirth, gestoßen ist Dieser hat die letzten Jahre seiner Schulzeit an der königlichen Studienanstalt des Gymnasiums zu Nürnberg verbracht, an dem er 1816 das Abitur ablegte Rektor war in dieser Zeit der Philosoph Georg Friedrich Wilhelm Hegel, dessen Einfluss auf sein Denken Wirth in seinen 1844 erschienenen Denkwürdigkeiten betont Welcher Art diese Prägung gewesen sein könnte, arbeitet Klaus Kremb heraus, indem er Hegels Schriften im Hinblick auf Politik und Staat vor, während und nach seiner Nürnberger Zeit untersucht Nicht zuletzt auch ein Beitrag der Hambach-Gesellschaft zum Hegel-Jahr 2020 Mit einer anderen prägenden Persönlichkeit des Vormärz beschäftigt sich der zweite Beitrag Obwohl er weder Journalist wie J G A Wirth noch ein politischer Denker wie Hegel war, wirkte der Theaterdichter Johann Nepomuk Nestroy (1801–1862) durchaus politisch Der bis heute bekannteste Vertreter des Wiener Volkstheaters nahm sich in seinen Possen mit Gesang humorvoll und satirisch dem Leben der kleinen Leute an Durch die Erfahrung der Wiener Revolution, eine der gewalttätigsten im damaligen Europa, und deren militärischen Niederschlagung werden seine Stücke erkennbar politischer Da im folgenden österreichischen Neoabsolutismus seine Schaffensmöglichkeiten eingeschränkt wurden, zog er sich zeittypisch zurück auf die weniger exponierte Position eines Theaterdirektors Diesen Weg zeichnet Karlheinz Lipp nach Dieter Hein, Emeritus für Neuere Geschichte an der Goethe-Universität Frankfurt am Main, zählt zu den besten Kennern des deutschen Vormärz und der Revolution von 1848/49 Er untersucht in seinem Beitrag den bürgerlichen Aufbruch in diesem Zeitraum im Rhein-Main-Gebiet Auf der Grundlage des erweiterten Bürgerrechts in den erneuerten Gemeindeverfassungen habe das wirtschaftlich erfolgreiche Bürgertum die verkrusteten Oligarchien aufbrechen und einen erkennbar größeren Einfluss auf die Kommunalpolitik gewinnen können Die Dynamisierung sei dadurch fortgeschritten, dass sich die Bürger mit Hilfe der von ihnen beherrschten Vereine zahlreicher öffentlicher Aufgaben angenommen hätten Da diese Bewegung nur unzulänglich

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Vorwort

in den Kommunen und Bundesstaaten integriert worden sei, mündete nach Ansicht des Verfassers der bürgerliche Aufbruch konsequenterweise in der Revolution von 1848/49 Auf der Grundlage seiner 2017 an der Universität Wien angenommenen, doch bis jetzt nicht veröffentlichten Dissertation behandelt Andreas Pauschenwein die Vorbereitung und Durchführung der Wahlen im Erzherzogtum Österreich unter der Enns zur Frankfurter Nationalversammlung Unter rechtlichen, organisatorischen und politischen Aspekten werden aber nur die Abstimmungen auf dem Lande und in den kleineren Städten untersucht, der Sonderfall der Haupt- und Residenzstadt Wien bleibt ausgeklammert Diese ersten Parlamentswahlen, die in Österreich überhaupt jemals stattgefunden haben, hätten wegen mangelnder Erfahrung zahlreiche Probleme mit sich gebracht und vereinzelt sei es auch zu Betrugsversuchen und Missbräuchen gekommen Dennoch kann der Verfasser überzeugend darlegen, dass angesichts der zahlreichen Schwierigkeiten und der kurzen Vorbereitungszeit eine beeindruckende Leistung erbracht wurde Die Ur- und Abgeordnetenwahlen wurden weitgehend korrekt durchgeführt Wie kein anderer Ort ist das Gebäude, in das die Abgeordneten dann in Frankfurt einzogen, zum Symbol für die demokratische Tradition in Deutschland geworden Damit kontrastiert, dass die architektonische, sakrale und stadtpolitische Bedeutung der Paulskirche so gut wie nicht bekannt ist Umso erfreulicher ist es, dass jetzt die Kunstund Architekturhistorikerin Lucia Seiß die Geschichte dieses als Parlamentsgebäude dienenden Sakralbaus vom Anfang der Planungen 1782 über die Einweihung 1833 bis zur Zerstörung im Jahre 1945 aufgearbeitet hat Ein Schwerpunkt liegt auf dem Einfluss des Frankfurter Bürgertums, das Bauherr der Kirche war Die in seinen Reihen herrschenden gegensätzlichen Interessen haben zusammen mit den komplexen Strukturen der städtischen Selbstverwaltung den Bau erkennbar beeinflusst Die Studie von Andreas Pauschenwein ist eine interessante Folie, vor der sich die Untersuchung von Lothar Höbelt über das österreichische Reichstagswahlrecht in der Mitte des 19 Jahrhunderts entfaltet Einer der besten Kenner der Geschichte des Kaisertums Österreich in diesem Zeitraum analysiert dabei den Wandel des Liberalismus und den Beginn des Kulturkampfs Dabei ergeben sich aufschlussreiche Einsichten über die zeitgleiche Entwicklung in Preußen bzw im Reich Während dort das Wahlrecht im Laufe der Zeit die Städte immer mehr zugunsten des Landes benachteiligte, hatte das altösterreichische Kurienwahlrecht fast die umgekehrte Wirkung Daher drangen Linkliberale in Österreich, die auf dem Land einen starken Rückhalt hatten, auf die Ausweitung des Wahlrechts Kurz bevor sie ihre Gesinnungsgenossen für diese Idee gewinnen konnten, war im Mai 1868 das Verhältnis zwischen Kirche und Staat auf dem Gebiet des Eherechts wie des Schulwesens neu geregelt worden Der Papst verurteilte die Gesetze, der österreichische Episkopat verfasste scharfe Hirtenbriefe dagegen und die kirchentreue Bevölkerung organisierte sich politisch Wie Höbelt mit Blick vor allem auf die deutschsprachigen Teile der Monarchie zeigen kann, kam es

Vorwort

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daher bei den Wahlen im Sommer 1870 zu einem erdrutschartigen Sieg des Politischen Katholizismus, vor allem auf dem Lande Damit waren die weitere Demokratisierung und Egalisierung des Wahlrechts für den gesamten Liberalismus nicht mehr erstrebenswert Mit der Gründung der Weimarer Republik trennten sich die Anhänger in Bayern von der Deutschen Zentrumspartei, da ihnen diese zu „marxistisch“ und zu „zentralistisch“ erschien Diese Spaltung hatte nirgends so tiefe Auswirkungen wie in der bayerischen Pfalz Formal bestand dort eine selbstständige Organisation der Bayerischen Volkspartei, in deren Reihen aber deren Anhänger mit denen des Zentrums heftige Macht- und Flügelkämpfe ausfochten Diese Auseinandersetzungen, häufig konzentriert um den Reichstagsabgeordneten des Zentrums, Hermann Hofmann aus Ludwigshafen, zeichnet Gerhard Nestler auf der Grundlage jahrelanger Forschungen zum Thema eingehend nach Nach dem Anschluss der Pfälzer Parteiorganisation an die rechtsrheinische BVP 1921 hätten die Zentrumssympathisanten im Frühjahr 1924 eine eigenständige Organisation gegründet Damit sei die Spaltung des Politischen Katholizismus in der Pfalz bis zum Untergang der Weimarer Republik besiegelt gewesen Tobias Hirschmüller hat sich schon öfters mit der politischen Instrumentalisierung historischer Erinnerung und von Personen in Medien befasst Für das Hambach-Jahrbuch untersucht er das Bild, das nationalsozialistische Organe, vor allem die parteiamtliche Tageszeitung NSZ-Rheinfront, vom Führer und Reichskanzler Adolf Hitler in Neustadt an der Haardt vermittelt haben Eine Studie, die im Zusammenhang mit dem Projekt entstanden ist, das in der Rubrik „Forum“ eigens vorgestellt wird Zunächst sei Hitler als der Mann aus dem Volk und für das Volk präsentiert worden, dem im Übergang zum „Führer-Kult“ immer mehr außerordentliche Fähigkeiten und Leistungen für Deutschland zugeschrieben wurden Mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges wurde er zum Garanten des Sieges stilisiert Hirschmüller arbeitet heraus, dass sich mit der abzeichnenden Niederlage das Verhältnis von Führer und Volk in dem Sinne umkehrte, dass nun das Volk aufgefordert worden sei, durch Opfer dem „Führer“ seinen Dank abzustatten Immer wieder geht der Blick auch darauf, wie lokale Parteigrößen, besonders Gauleiter Josef Bürckel, von dem Mythos profitieren wollten und in welchem Umfang das damalige Selbstverständnis der Pfalz als Grenzregion „Westmark“ mobilisiert wurde Joseph-Achille Mbembe ist ein führender Kopf in der Debatte über den Kolonialismus und seine Folgen, die derzeit Politik- wie Geschichtswissenschaft als auch die interessierte Öffentlichkeit bewegt Der kamerunische Gelehrte hat in diesem Zusammenhang Parallelen zwischen dem Kolonialismus der europäischen Mächte und der Gründung des Staates Israels nach dem Zweiten Weltkrieg gezogen und diesem zugleich imperialistisches Verhalten gegenüber den Palästinensern vorgeworfen Da er darüber hinaus mit der internationalen antiisraelischen BDS- Bewegung in Verbindung gebracht wurde, wurde er mit dem Vorwurf des Antisemitismus konfrontiert Gert Krell, emeritierter Professor für Internationale Beziehungen an der Goethe-Uni-

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Vorwort

versität Frankfurt, setzt sich sowohl mit Mbembes postkolonialistischer Kritik an den westlichen Demokratien als auch mit seiner harschen Einstellung zu Israels Vorgehen gegen die Palästinenser auseinander Er wirft ihm überzogene Positionen vor, gesteht ihm aber zu, dass er zwar israelfeindlich, doch nicht antisemitisch argumentiert Krell nimmt die Anregung des Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung, Mbembe den Eröffnungsvortrag für die Ruhrfestspiele nicht halten zu lassen, und die Verurteilung der BDS-Bewegung durch den Deutschen Bundestag 2019 zum Anlass für einige Empfehlungen an die Bundesregierung, die sicherlich kontrovers aufgenommen werden Vor einigen Jahren hat die Stadt Neustadt an der Weinstraße eine Initiative des Arbeitsbereichs Zeitgeschichte der Johannes Gutenberg-Universität Mainz zur Erforschung ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit aufgegriffen Der Leiter des Projektes „Volksgemeinschaft in der Gauhauptstadt Neustadt an der Weinstraße und der Nationalsozialismus“ war Privatdozent Dr Markus Raasch Er stellt in dem solchen Themen vorbehaltenen „Forum“ das Unternehmen als historiographisch innovativ vor, da es traditionelle Herangehensweisen mit den Anforderungen des 21 Jahrhunderts in Einklang bringe Multidimensional angelegt umfasse es ein Handbuch, eine Präsenzausstellung mit Homepage, ein Onlinelexikon, eine digitalisierte Sammlung der Erinnerungen von Zeitzeugen wie ein digitales und multimediales Schulbuch Der Aufsatz stellt die Ergebnisse nicht nur vor, sondern erläutert auch den Ansatz einer Sozialgeschichte des Alltags und das Besondere des Untersuchungsgegenstandes „Neustadt an der Weinstraße“ Die Herausgeber des Jahrbuchs freuen sich, den Mitgliedern der Hambach-Gesellschaft und allen Interessierten Beiträge von jeweils ausgewiesenen Kennern des Themas vorlegen zu können Bleibt nur zu hoffen, dass diese und das Jahrbuch die verdiente Resonanz finden Mechtersheim im März 2021

Karsten Ruppert

Aufsätze

„In mir hat Hegel den unsterblichen Funken der Freiheit entzündet“ Johann Georg August Wirths Nürnberger Gymnasialzeit (1814–1816) und das politische Denken Georg Wilhelm Friedrich Hegels Klaus Kremb „Der Geist und Zweck unserer Anstalt ist die Vorbereitung zum gelehrten Studium – eine Vorbereitung, welche auf den Grund der Griechen und Römer erbaut ist “1 In solcher Zielrichtung umriss der neue Leiter der „Königlichen Studienanstalt zu Nürnberg“ zum Schuljahresschluss 1809 das Programm der drei Abteilungen seiner Schule, des Gymnasiums, Progymnasiums und der „Primärschul“-Zweige Das ließ aber nicht unbedingt einen im heutigen Sinn größeren Schulstandort erwarten Vielmehr besuchten 1816 gerade 145 Schüler die „Anstalt“ Im Gymnasium, dem der heutigen Sekundarstufe II entsprechenden Schulzweig, betrug die Zahl 49, darunter der 1798 in „Hof im Mainkreise“ als Poststallmeister-Sohn geborene Johann Georg August Wirth,2 der spätere „Hambach“-Protagonist, der in seinen 1841 erschienenen „Denkwürdigkeiten“ hervorhob, sein Nürnberger Schulleiter sei es gewesen, der in ihm „den unsterblichen Funken der Freiheit entzündet“3 habe Nürnberg war daher in Wirths Gymnasialzeit die für sein späteres politisches Denken grundlegende Station, nachdem er zuvor die Gymnasien von Hof, Bayreuth und Plauen besucht hatte Die Gründe für den mehrfachen Schulwechsel sind vielfältig:

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Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Rede zum Schuljahresabschluß am 29 September 1809; in: Nürnberger und Heidelberger Schriften 1808–1817 (=  Hegel, Werke 4); Frankfurt a M 82019, S  314 Jahresbericht von der Königlichen Studienanstalt des Gymnasiums zu Nürnberg 1815; Nürnberg 1815, Verzeichnis der Schüler, Gymnasium, Mittelklasse, S  27  – Jahresbericht […] 1816, Verzeichnis der Schüler, Gymnasium, Oberklasse, S  27 Wirth, Johann Georg August: Denkwürdigkeiten aus meinem Leben; Emmishofen 1844, S  26

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Klaus Kremb

das Gymnasium in Hof wurde 1811 aufgehoben, in Bayreuth war die Unterrichtsversorgung höchst prekär und in Plauen, so Wirth, „mochte ich nicht ausharren“ 4 Nun also Nürnberg: In Bezug auf die sehr überschaubare Schülerzahl war das dortige Gymnasium unter den Verhältnissen des frühen 19 Jahrhunderts – in der Stadt lebten etwa 25 000 Einwohner  – keineswegs außergewöhnlich Eine ganz ähnliche Größenordnung wies auch die zweite auf die Universität vorbereitende örtliche Schule auf, die „Realstudienanstalt“, in deren Zentrum nicht die alten Sprachen standen, sondern die „Realien“: v a Mathematik, Physik sowie Französisch und Italienisch 5 Eine kurzzeitig bestehende „Höhere Töchterschule“ hatte allerdings keine Zukunft 1812 eröffnet, schloss sie bereits wieder zwei Jahre später 6 Der Leiter der „Kgl Studienanstalt“ sah darin freilich keineswegs einen Verlust In einem Brief vom 10 April 1814 merkte er dazu an: „Ein Machwerk […], eine hiesige höhere Töchterschule, ist dieser Tage zusammengestürzt und das auf sie […] unberechtigt und ungehörig […] verwendete Geld ungefähr wie zum Fenster hinausgeworfen “7 Das heißt aber keineswegs, dass der Rektor der Studienanstalt die höhere Mädchenbildung völlig gering schätzte Die Kritik richtete sich vielmehr gegen den Initiator der Töchterschule, der ein Anhänger des Philanthropismus war, also eines „auf Kosten von Vernunft und Wissen Gefühl und Erbauung“ betonenden Bildungsdenkens, wie es Cajetan Weiller vertrat, der Direktor des Katholischen Wilhelmsgymnasiums in München 8 Die „Kgl Studienanstalt“ stand dagegen für das genaue Gegenmodell, den Neuhumanismus 9 Der Unterricht umfasste in der Mittel- und Oberklasse je 9 Std Latein, 6 Std Griechisch, 1 Std Deutsche Literatur und Stilübungen, 2 Std Geschichte, 4 Std Mathematik und Physik, 3 Std Philosophische Enzyklopädie, 1 Std Religionslehre, dazu wahlweise französischer, hebräischer und Zeichen-Unterricht 10 Für Weiller war

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Hüls, Elisabeth: Johann Georg August Wirth 1798–1848 (= Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien 139); Düsseldorf 2004, S  36–40  – Wirth, Denkwürdigkeiten (wie Anm  3), S  18 Liedtke, Max: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Schulrat in Nürnberg 1813–1816; Nürnberg 2009, S  11  – Vgl auch: Allgemeines Normativ der Einrichtung der öffentlichen Unterrichts-Anstalten in dem Königreiche [Bayern]; in: Lurz, Georg (Hrsg ): Mittelschulgeschichtliche Dokumente Alt-Bayerns, einschließlich Regensburg (= Monumenta Germaniae Paedagigica 42); Berlin 1908, S  565, 574 f u 582 f Liedtke, Hegel (wie Anm  5), S  47 (dort: Anm  41) Brief Hegels an Niethammer, Ostern 1814 (10 April); in: Hoffmeister, Johannes (Hrsg ): Briefe an und von Hegel, Bd  2, 1813–1822; Hamburg 1953 (NDr Bad Harzburg 1991), S  22 Vieweg, Klaus: Hegel, Der Philosoph der Freiheit; München 2019, S  330  – Art Weiller, Cajetan; in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd  41, NDr Berlin 1971, S  494 Hansmann, Otto: Humanismus und Philanthropismus Zum Streit der Logiken von Bildungswelten um die Wende vom 18 zum 19 Jahrhundert; in: Mitteilungsblatt des Förderkreises Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung, 1973, H  21, S  11–27 Jahresbericht (wie Anm  2), 1815, Allgemeine Verfassung der Studienanstalt, Gymnasium, Mittelklasse; 1816, Allgemeine Verfassung […], Oberklasse, S  5–7

„In mir hat Hegel den unsterblichen Funken der Freiheit entzündet“

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das ein Programm „auf einer schwindelnden Höhe – ob auf einer äußeren Bergspitze der Vernunft oder in der Gondel der Luftschifferei in Einbildungskraft – [auf jeden Fall aber] weit weg von der Sprache der Welt“ 11 Doch eben diese Bergspitzen und Gondeln geistiger Höhenflüge galten im Sinne des Neuhumanismus als „Logik des Gymnasiums“ Der Weg dahin sollte die Beschäftigung mit den alten Sprachen sein Denn: „cur recte dicendi studio animi iudicium acuratur“, durch (alt-)sprachliche Studien wird die Urteilskraft geschärft 12 1809 galt es deshalb in Nürnberg, für den scheidenden Gymnasialdirektor Leonhard Schenk einen geeigneten Nachfolger zu berufen Er fand sich in Georg Wilhelm Friedrich Hegel 1770 in Stuttgart geboren, hatte er im Tübinger Stift zusammen mit Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling und Friedrich Hölderlin sein theologisches Studium absolviert,13 um dann nach dem Examen als Hauslehrer in Bern und Frankfurt a M tätig zu werden 1801 war er dann auf eine Privatdozentur und seit 1805 außerplanmäßige Professur nach Jena in die damalige „Hauptstadt der deutschen Philosophie“ gewechselt Hier lehrten „innerhalb weniger Jahre neben Schiller Fichte, August Wilhelm und Friedrich von Schlegel, Fries, Krause, Schad und Schelling“ 14 Eine ähnliche Konzentration klangvoller Namen hatte keine andere deutsche Universität aufzuweisen Noch gehörte Hegel allerdings nicht zu dieser ersten Reihe Dass er 1806 Jena verließ, war eine Folge ganz persönlicher Umstände Dazu kamen die politischen Verhältnisse im Zeitalter Napoleons Hatte doch gerade die preußischsächsische Armee bei Jena und Auerstädt eine vernichtende Niederlage erlitten Das „zerstörte, intellektuell verödete und von den französischen Truppen nicht nur besetzte, sondern rücksichtslos geplünderte Jena“15 bot dem sich zudem in finanziellen Nöten befindlichen Hegel keine Zukunft mehr Zudem blieb ihm eine weitere universitäre Laufbahn verwehrt Hoffnungen auf Berufungen u a nach Landshut und Heidelberg zerschlugen sich So suchte er zunächst einen Weg außerhalb des Akademischen Er fand sich in der Redaktion der „Bamberger Zeitung“ Vermittelt hatte diese Stellung Friedrich Immanuel Niethammer Beide kannten sich vom Tübinger Stift her und außerdem als Kollegen der Jenaer Universität, an der Niethammer seit 1793 Philosophie und Theologie gelehrt hatte, dann aber wie Schlegel nach Würzburg wechselte und inzwischen als Zentralschulrat und Oberkirchenrat in München amtierte 11 12 13 14 15

Vieweg, Hegel (wie Anm  8), S  217 Melanchton, Philipp: Encomion eloquentiae (1523); in: Philipp Melanchton Glaube und Bildung, Texte zum christlichen Humanismus; Stuttgart 1997, S  156 f Zur theologisch-philosophischen Atmosphäre im Tübinger Stift vgl : Vieweg, Hegel (wie Anm  8), S  57–100  – Kaube, Jürgen: Hegels Welt; Berlin 2020, S  40–80  – Safranski, Rüdiger: Hölderlin Komm! ins Offene, Freund; München 2019, S  43–58 Wiedmann, Franz: Georg Wilhelm Friedrich Hegel; Reinbek 122010, S  28  – Vgl auch: Neumann: Peter Jena 1800, Die Republik der freien Geister; München 22018 Kaube, Hegels Welt (wie Anm  13), S  182

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Klaus Kremb

Dass die Redaktionstätigkeit für Hegel allerdings auf Dauer keineswegs befriedigend sein würde, stand von Anfang an außer Zweifel Schon im Jahr darauf wechselte er deshalb das Metier Wieder wurde Niethammer, der 1808 einen inzwischen anerkannten Reformplan für das bayerische Schulwesen auf den Weg gebracht hatte,16 zum Wegbereiter Grundlage des Gymnasialunterrichts sollte das Studium der alten Sprachen und Literatur sein und als Leiter möglichst ein Philosoph berufen werden, dem auch der Unterricht in Philosophie und Religionslehre obliegen sollte 17 Die Chance auf seine solche Stelle bot sich Hegel in der „Kgl Studienanstalt“ Nürnberg Am 15 November 1808 erfolgte seine Ernennung „zum Rektor des Gymnasiums dahier und zum Professor für die philosophischen Vorbereitungswissenschaften“ 18 In Wirths beiden Nürnberger Schuljahren war Hegel für ihn dann nicht nur der „achtungsvolle“ Direktor,19 sondern zugleich auch Lehrer in der Philosophischen Enzyklopädie und Religionslehre Welche gedanklichen Positionen und Konzepte hat Hegel deshalb seinerzeit vor seinen Schülern ausgebreitet? Schüler-Mitschriften sind zwar überliefert,20 nicht jedoch aus Wirths Klasse Eine wesentliche Quelle bieten aber Hegels bis 1814/16 publizierte Schriften Der allerdings bereits bis dahin höchst umfangreiche Fundus legt eine Eingrenzung nahe Sie erfolgt v a : 1 im Blick auf die „Schuljahresberichte“ der Studienanstalt, 2 in Bezug auf die von Hegel entwickelten Nürnberger Gymnasial-Lehrpläne, außerdem 3  hinsichtlich wesentlicher Hegel-Schriften zur Philosophie und Religion sowie speziell zur Politik Dabei mag aber weniger der Breite von Hegels Denken das Interesse gelten, sondern vielmehr schwerpunktmäßig dem von Wirth hervorgehobenen „Funken der Freiheit“ 1. Jahresberichte der Königlichen Studienanstalt Nürnberg Im 1819 erschienenen „Neuen Taschenbuch für Nürnberg“ ist die „Studienanstalt“ näher beschrieben: Die Gymnasialanstalt hat ihr Lokale auf dem Dielinghof neben der Egidienkirche Das alte Gebäude brannte im Jahr 1696 mit der Kirche ab; der Bau des jezigen wurde 1699 vollendet Im Erdgeschoß sind die Lehrzimmer, im oberen Stockwerk ist die Wohnung des Rektors

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Lurz, Dokumente (wie Anm  5), S  561–584 Hojer, Ernst: Die Bildungslehre F I Niethammers Ein Beitrag zur Geschichte des Neuhumanismus (= Forschungen zur Pädagogik und Geistesgeschichte 2); Frankfurt a M /Berlin/Bonn 1995 Wiedmann, Hegel (wie Anm  14), S  38 Wirth, Denkwürdigkeiten (wie Anm  3), S  25 Vgl Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Schülerhefte; in: Nürnberger Gymnasialkurse und Gymnasialreden, 1805–1816 (= Hegel, Gesammelte Werke 19); Hamburg 2006, S  523–817

„In mir hat Hegel den unsterblichen Funken der Freiheit entzündet“

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Diese Lehranstalt ward schon im Jahr 1526 errichtet Philipp Melanchton, dem der Magistrat die Einrichtung derselben übertragen hatte, […] sorgte dafür, ihr die besten Lehrer zu verschaffen […] Ihre gegenwärtige Einrichtung erhielt diese Lehranstalt 1808 […] An dem Gymnasium sind der Rektor und drey Professoren als Lehrer angestellt In den übrigen Klassen sind Klassenlehrer […] Die Anstalt besitzt eine eigene Bibliothek, einen physikalischen Apparat, ein Münzkabinett und eine Mineraliensammlung […] Die öffentliche Prüfung der Schüler wird jährlich im Monat August vorgenommen Diejenigen, welche sich durch Fleiß und Fortschritte in ihren Kenntnissen ausgezeichnet haben, erhalten Preise Die Vertheilung derselben geschieht auf dem Saal des Rathhauses öffentlich unter dazu angeordneter Feyerlichkeiten Der Jahresbericht, der jedesmals, nach geendigten Prüfungen, im Druck erscheint, enthält eine Rechenschaft über den jährlichen Bestand der ganzen Anstalt 21

Diese Jahresberichte der Königlichen Studienanstalt Nürnberg sind Musterbeispiele für das im 19 Jahrhundert gepflegte literarische Format der „Schulprogramme“ als Versinnbildlichung der „kognitiven Macht des Gymnasiums“ 22 Aufgelistet werden für die einzelnen Schulzweige, Klassen und Fächer die hauptsächlichen Unterrichtsinhalte, Verzeichnisse der Schüler, Schuljahreschroniken und Angaben statistischer Art In den Nürnberger Berichten ist Johann Georg August Wirth 1815 in der Mittelklasse und 1816 in der Oberklasse des Gymnasiums geführt Umfasste seine Mittelklasse neun, so die folgende Oberklasse elf Schüler 23 Leistungsmäßig rangierte er dabei auf Rang 5 bzw 6 Das wöchentliche Unterrichtspensum war beachtlich In der Oberklasse sind ausgewiesen: Lateinische Sprache: Horazens sämtliche Briefe und dessen Satyren in Auswahl, Ciceros Reden gegen Milo und für das Minilische Gesetz, 24 seiner Briefe und Tacitus Geschichte, 3 Buch Wöchentlich eine größere zu Hause ausgearbeitete, in Allem 42, dann zwei extemporirte Compositionen, in Allem 78  – Griechische Sprache: Sophocles Antigone und Oedipus der König Vier Bücher von Xenophons Anabasis und sechs Reden des Demosthenes Oeftere Übungen in Uebersetzen aus dem Deutschen ins Griechische  – Deutsche Literatur: Klopstoks, Göthes, Schillers und anderer Klassiker Werke Oeftere Versuche im Deklariren, auch größere schriftliche Ausarbeitungen  – Geschichte: Drei letzte Jahr-

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Neues Taschenbuch von Nürnberg; Nürnberg 1819, S  150–153 Kirschbaum, Markus: Litteratura Gymnasii Schulprogramme deutscher höherer Lehranstalten des 19 Jahrhunderts als Ausweis von Wissenschaftsstandort, Berufsstatus und gesellschaftlicher Prävention (= Schriften des Landesbibliothekszentrums Rheinland-Pfalz 2); Koblenz 2007, S  52 Jahresberichte 1815 und 1816 (wie Anm  2), jeweils im Verzeichnis der Schüler; Gymnasium, jeweils S  27

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Klaus Kremb

hunderte  – Mathematik und Physik: Ebene Trigonometrie, einige Sätze der sphärischen Trigonometrie, Anfangsgründe der höheren Mathematik, bes Theorie der Kegelschnitte Vortrag der Physik nach dem Lehrbuch von Kries 24

Ähnlich gestaltete sich das Pensum der Mittelklasse Zu seinen Lehrern äußerte sich Wirth in seinen „Denkwürdigkeiten“: Gediegene Philologen lehrten die beiden alten Sprachen mit Liebe und machten ihre Zuhörer nicht bloß mit dem Bau derselben, sondern auch mit dem Geist der klassischen Schriftsteller bekannt […] Sämmtliche philosophische Vorträge hatte sich der Rektor vorbehalten 25

Dabei behandelte Hegel in der Mittelklasse „die Logik und die Grundbegriffe der drei Theile derselben, der Lehre vom Seyn, der Lehre vom Wesen und der Lehre vom Begriff “ In der Oberklasse folgte dann die „Uebersicht über das Ganze der Wissenschaften“ Ebenso lag die Religionslehre in der Hand des Rektors, in der Oberklasse „nach dem athanasischen Glaubensbekenntnis“ 26 Hegel folgte dabei ganz „seinem eigenen Systeme“,27 sah er seine Nürnberger Schultätigkeit doch in Bezug auf seine zurückliegende, aber auch für die zukünftig wieder angestrebte Universitätslehre Wirth empfand das als sehr wohl anregend: Die Eigenthümlichkeit der Lehrmethode weckte den jugendlichen Geist Zuvörderst zog Hegel die Naturwissenschaften, Geschichte, Kunst und die Literatur der Alten häufig in seine Entwicklungen, um an ihnen gleichungsweise philosophische Theses zu erklären: dann bildete er nur kurze Sätze und ließ den Sinn derselben die Zuhörer selbst im Wechselgespräch frei erörtern Jeder konnte das Wort verlangen und eine Meinung gegen andere geltend zu machen suchen, der Rektor selbst trat nur hin und wieder belehrend dazwischen, um die Erörterung zu leiten Auf solche Weise wurden den Schülern vielfältige Kenntnisse mitgetheilt, der Trieb zum Eindringen in das eigentlich Wissenschaftliche angeregt und insbesondere der Scharfsinn gebildet 28

Es war aber nicht nur Hegels didaktisch-methodische Prägung, die Wirths Erinnerung an Hegel bestimmte: Was noch wohlthätiger wirkte und die Anstalt im hohen Grad auszeichnete, das war die Art, wie Hegel die Schüler behandelte Von der unteren Gymnasialklasse an, wo man noch vier Jahresstufen bis zur Universität hatte, redete er jeden Schüler mit „Herr“ an und be-

24 25 26 27 28

Jahresbericht 1816 (wie Anm  2), Allgemeine Verfassung der Studienanstalt, S  3 f Wirth, Denkwürdigkeiten (wie Anm  3), S  24 Jahresberichte 1815 und 1816 (wie Anm  2), jeweils im Abschnitt Allgemeine Verfassung der Studienanstalt, Gymnasium, S  4 Wirth, Denkwürdigkeiten (wie Anm  3), S  24 A a O , S  24 f

„In mir hat Hegel den unsterblichen Funken der Freiheit entzündet“

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maß hiernach auch seinen Tadel oder seine Zurechtweisungen Ein solches achtungsvolles Benehmen eines Mannes, dessen Ruf täglich stieg, gegen junge Leute, erweckte in diesen ein ungemein hebendes Selbstgefühl, dem nothwendig das Verlangen entsprechen mußte, durch anständiges Betragen einer so hohen Auszeichnung sich würdig zu machen Wie groß war deshalb die Verwunderung, welche die erste Unterrichtsstunde im Gymnasium zu Nürnberg bei mir hervorbrachte – das urbane Benehmen eines gefeierten Lehrers, die ehrerbietige Aufmerksamkeit der Schüler, der letzteren Bestreben nach feinerer Sitte, der akademische Anstand des Ganzen! Das Beispiel von Hegel wurde allmälig auch von den übrigen Professoren befolgt und so schien die Anstalt schon eine hohe Schule zu sein Jetzt lernte ich die Einflüsse der Freiheit auf Geist und Hertz begabter Jünglinge zum ersten Mal kennen Ach wie ganz anders wirkt freier Erziehung als ein sklavisches Zucht-Regiment!29

Wirths Nürnberger Erinnerungen reichern damit das Formale der „Jahresberichte der Königlichen Studienanstalt“ durch die Authentizität des Zeitzeugen an, der 1814–16 die Mittel- und Oberklasse des Gymnasiums durchlaufen und mit dem „Absolutorium zur Beziehung der Universität“30 abgeschlossen hat Die Schulakten vermerken über ihn: Joh Gr August Wirth Lebhafter Fassungskraft, richtige Urtheilskraft und ein unverkennbarer Sinn für die Studien vereinigen sich bei ihm mit vorzüglichem Fleiß Er hat in der Philosophie und Mathematik vorzügliche, in Sprachen sehr gute Fortschritte gemacht Sein lateinischer Styl hat sich sehr gebessert und ist von eigentlichen grammatikalischen Fehlern frei, seine deutschen Ausarbeitungen zeugen von lobenswürdigem Nachdenken Im Memorieren hat er das erforderliche geleistet und deklamirt nicht ohne Sinn und Gefühl Sein Betragen war ordentlich und anständig 31

Dabei wird jedoch übergangen, dass Wirth am 20 Januar 1815 zusammen mit zwei Mitschülern wegen der aktiven Beteiligung an zwei Duellierungen mit vier Tagen Karzer bestraft worden war 32 Auch im Schuljahresbericht findet sich dazu nichts Wohl aber vermerkt der Jahresbericht 1818 eine besondere Auszeichnung Wirths „Als Drittbester seiner Abteilung wurde er am Ende des Schuljahres für seine guten Leistungen in Französisch mit einem Preis ausgezeichnet “33 Er erhielt das Buch ‚Histoire de Révolutions de Suede‘, dessen Untertitel die historisch-politische Konstellation präzisiert: ‚au Sujet de la religion et du Gouvernement‘ Eine konkrete Wegweisung des Rektors für seinen Schüler war damit 1816 aber wohl weniger verbunden

29 30 31 32 33

A a O , S  25 f Jahresbericht 1816 (wie Anm  2), Abschnitt Statistische Uebersicht; o S Bayer Staatsarchiv Nürnberg, Rep 170/I, KdL Abgabe 1900, Nr  4655, fol 149 Zitiert in: Hüls, Wirth (wie Anm  4), S  53, Anm  153 Hüls, Wirth (wie Anm  4), S  50 A a O , S  52

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2. Hegels Nürnberger Philosophie- und Religions-Lehrpläne Der Philosophie-Lehrplan, den Hegel 1810/11 für die gymnasiale Mittelklasse konzipierte, hatte die Logik zum Inhalt, basierend auf der Definition: „Die Wissenschaft der Logik hat das Denken und den Umfang seiner Bestimmungen zum Gegenstande “34 Und weiter: „Das Denken ist überhaupt das Auffassen und Zusammenfassen der Mannigfaltungen in der Einheit“ und „Abstraktion insofern die Intelligenz von konkreten Anschauungen ausgeht, eine von den mannigfaltigen Bestimmungen wegläßt und eine andere hervorhebt“ 35 Hegel formuliert damit Grundlagen der Kognitionswissenschaft „Der Gedanken sind dreierlei: 1 die Kategorien, 2 die Reflexionsbestimmungen, 3 die Begriffe “36 Das Ziel allen Denkens sieht er dabei in den abschließenden §§ 131 und 132 seines Logik-Lehrplanes in der Trias der Wahrheit, des Guten und der Wissenschaft 37 In der Philosophischen Enzyklopädie für die Oberklasse (1808 ff ) baut Hegel sein Gedankensystem dann weiter aus Nun werden auch Verstand und Vernunft näher thematisiert: Der Verstand ist das denkende Bestimmen überhaupt […] Er unterscheidet das Wesentliche vom Unwesentlichen und erkennt die Notwendigkeit und Gesetze der Dinge […] Die räsonierende Vernunft sucht die Gründe der Dinge auf 38

Ein zentrales Handlungsfeld dafür benennt er mit dem Recht, der Moralität und dem Staat Das Recht ist das Verhältnis der Menschen, insofern sie abstrakte Personen sind Diejenige Handlung ist widerrechtlich, durch welche der Mensch nicht als Person respektiert wird oder welche in der Sphäre seiner Freiheit einen Eingriff macht Dies Verhältnis ist also seiner Grundbestimmung nach negativer Natur und fordert nicht, dem anderen eigentlich etwas Positives zu erweisen, sondern nur, ihn als Person zu fassen […] Die Sphäre meiner Freiheit erhält meine Persönlichkeit 39

Freiheit ist damit untrennbar mit Wertschätzung als „sozialem Grundgut“40 verknüpft, weshalb es der Moralität bedarf, der Einsicht in das Gute, Böse und Schlechte

34 35 36 37 38 39 40

Hegel, Georg Friedrich Wilhelm: Logik für die Mittelklasse (1810/11); in: Nürnberger und Heidelberger Schriften (wie Anm  1), § 1 (S  162) A a O , §§ 2 u 3 (S  163) A a O , § 6 (S  164) A a O , § 131 f (S  202 f ) Hegel, Georg Friedrich Wilhelm: Philosophische Enzyklopädie für die Oberklasse (1808 ff ); in: Nürnberger und Heidelberger Schriften (wie Anm  1), §§ 164 u 171 (S  54 u 56) A a O , § 3, S  182 u 186 (S  59 f ) Nussbaum, Martha C : Die Grenzen der Gerechtigkeit Behinderung, Nationalität und Spezieszugehörigkeit; Berlin 2010, S  14

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Das Gute ist der Inhalt der Pflichten, nämlich der Grundbestimmungen, welche die notwendigen Verhältnisse enthalten oder das Vernünftige in demselben Das Böse ist, was mit Willen auf die Zerstörung eines solchen Verhältnisses geht Das Schlechte ist, wenn, obgleich nicht mit direktem Vorsatz, aber mit Wissen, aus Schwächen gegen einen Trieb der Sinnlichkeit oder eine Neigung des Herzens Pflichten verletzt werden 41

Recht und Moralität sind dann konstituierend für den Staat: Die natürliche Gesellschaft der Familie erweitert sich zur allgemeinen Staatsgesellschaft, welche ebensosehr eine durch die Natur gegründete als durch freien Willen eingegangene Verbindung ist und sosehr auf dem Recht als auf der Moralität beruht 42

Als „freien Willen“ versteht Hegel dabei „die Einheit des theoretischen und praktischen Geistes“ 43 Gemäß dem Begriffssystem der „Philosophischen Enzyklopädie für die Oberklasse“ sind damit das Gefühl, die Vorstellung (Erinnerung, Einbildungskraft, Gedächtnis) und das Denken in Einklang mit Recht, Moralität und Staat gesetzt 44 Das heißt dann für den Staat: Er ist um so vollkommener, je mehr das Allgemeine der Vernunft entspricht und je mehr die Individuen mit dem Geist des Ganzen eins sind Die wesentliche Gesinnung der Bürger gegen den Staat und dessen Regierung ist weder der blinde Gehorsam gegen die Befehle, noch daß zu den Einrichtungen und Maßregeln im Staat jeder eine individuelle Einwilligung zu geben hätte, sondern Vertrauen und einsichtsvoller Gehorsam gegen denselben 45

Mit dieser Gehorsamsmaxime steht Hegel nicht allein So hat etwa Carl Gottlieb Svarez, der Schöpfer des 1794 in Kraft getretenen „Preußischen Landrechts“, in einem seiner „Vorträge über Recht und Staat“ herausgestellt: „Dem Gehorsam gegen den Staat kann kein Einwohner desselben, er sei von noch so hohem Rang, sich entziehen [… Auch] der Fürst […] ist seinen Gesetzen ebenso sehr unterworfen als der niedrigste Landbewohner und Tagelöhner “46 Das damit verbundene Staatsmodell ist bei Svarez wie bei Hegel die politische Organisationsstruktur wie sie Locke (1689) und Montesquieu (1748) im langen 18 Jahrhundert des politischen Denkens entwickelt hatten:47

41 42 43 44 45 46 47

Hegel, Enzyklopädie für die Oberklasse (wie Anm  38), § 190 (S  61) A a O , § 194 (S  62) Art Wille; in: Glockner, Hermann: Hegel-Lexikon, Bd  2; Stuttgart 1957, S  2701 Hegel, Enzyklopädie für die Oberklasse (wie Anm  38), §§ 129–202 (S  42–65) A a O , § 196 (S  63) Svarez, Carl Gottlieb: Vorträge über Recht und Staat, hrsg von Hermann Conrad / Gerd Kleinheyer; Köln/Opladen 1960, S  246 Locke, John: Über die Regierung (The Second Treatise of Government), hrsg von Peter Cornelius Mayer-Tasch; Stuttgart 2003  – Montesquieu: Vom Geist der Gesetze (L’Esprit des Lois), hrsg von Kurt Weigand; Stuttgart 2006

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Der Staat enthält verschiedene Gewalten, welche die Momente seiner Organisation ausmachen Die gesetzgebende, richterliche und exekutive Gewalt überhaupt sind die abstrakten Momente derselben  – Die realen Gewalten sind die das Ganze konstituierende, die gerichtliche, die militärische und politische Gewalt […] – Der oberste betätigende Mittelpunkt aller ist die Regierung 48

Das notwendige Regelwerk dafür stellt die Verfassung dar Auch hier steht Hegel in der Tradition der Aufklärung Die Verfassung setzt die Trennung und Beziehung der verschiedenen Staatsgewalten zueinander und den Wirkungskreis einer jeden fest, vornehmlich die Rechte der Individuen im Verhältnis zu dem Staat und den Anteil der Mitwirkung derselben, den sie nicht bloß in der Wahl der Regierung, sondern auch, insofern sie Bürger überhaupt sind, haben sollen 49

Hegel führt seine Schüler also sehr differenziert in das aufgeklärt-liberale politische Gedankenkonzept ein Das Philosophische und das Religiöse sind dabei – wie im hegelschen Werk insgesamt – eng verknüpft So heißt es z B in der Rechts-, Pflichten- und Religionslehre für die Unterklasse (1810 ff ): Die Gesinnung des Gehorsams gegen die Befehle der Regierung, die Anhänglichkeit an die Person des Fürsten und an die Verfassung und das Gefühl der Nationalehre sind die Tugenden des Bürgers jedes ordnungsmäßigen Staates 50

Im Philosophieunterricht der Oberklasse greift Hegel diese Gehorsamsmaxime dann wieder auf,51 er arbeitet also dezidiert spiralcurricular In analoger Didaktik verfährt er auch im Bereich der Religionslehre Sie ist in der Unterklasse nicht eigens vertreten An ihrer Stelle weist der Nürnberger Lehrplan „Rechtslehre“ aus, erteilt von „Rektor Hegel“ 52 Den inhaltlichen Rahmen dieses mit vier Wochenstunden ausgewiesenen Faches legt die hegelsche Rechts-, Pflichten- und Religionslehre für die Unterklasse fest 53 Der Gegenstand dieser Lehre ist der menschliche Wille, und zwar nach dem Verhältnis des besonderen Willens zum allgemeinen Willen Als Wille verhält der Geist sich praktisch Das praktische Verhalten, wodurch er in seine Unbestimmtheit eine Bestimmung

48 49 50 51 52 53

Hegel, Enzyklopädie für die Oberklasse (wie Anm  38), § 197 (S  63) A a O , § 199 (S  64) Hegel, Georg Friedrich Wilhelm: Rechts-, Pflichten- und Religionslehre für die Unterklasse (1810 ff ); in: Nürnberger und Heidelberger Schriften (wie Anm  1), § 57 (S  266) S o (Anm  45) Jahresbericht 1816 (wie Anm  2), Abschnitt Allgemeine Verfassung der Studienanstalt, Unterklasse, S  9 Hegel, Rechts-, Pflichten- und Religionslehre (wie Anm  50), §§ 1–80, S  204–274

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oder an die Stelle in ihm ohne sein Zutun vorhandener Bestimmungen andere aus sich selbst setzt, ist von seinem theoretischen Verhalten zu unterscheiden 54

Wille setzt dabei Bewusstsein voraus „Das Bewußtsein überhaupt ist die Beziehung des Ich auf einen Gegenstand, es sei ein innerer oder äußerer “55 Diese Beziehung ist vordringlich eine rechtliche Das Recht besteht darin, daß jeder Einzelne von dem anderen als ein freies Wesen respektiert und behandelt werde, denn nur insofern hat der freie Wille sich selbst im Anderen zum Gegenstand und Inhalt […] Diejenige Handlung, welche die Freiheit eines anderen beschränkt oder ihn nicht als freien Willen anerkennt und gelten läßt, ist widerrechtlich 56

Auf diese Grundlage setzt Hegel dann sein Rechtskonzept, das analog den englischen Kontraktualismus-Entwürfen der Zeit der politischen Krisen und Umbrüche des 17 Jahrhunderts (v a Thomas Hobbes und John Locke) auf Freiheit, Besitz und Eigentum aufgebaut ist Den nötigen Garantierahmen dafür stellt der Staat dar Auch damit argumentiert Hegel wie die englischen Vertragstheorien Und wie bei Hobbes und Locke hat der Staat die Funktion, den „Naturzustand“ zu überwinden: Der Naturzustand ist der Stand der Rohheit, Gewalt und Ungerechtigkeit Die Menschen müssen aus einem solchen in die Staatsgesellschaft treten, weil nur in ihr das rechtliche Verhältnis Wirklichkeit hat 57

Dies ist freilich in ganz unterschiedlichen staatlichen Organisationsmodellen möglich Aristoteles hat ihre Systematik vorgegeben: in der Herrschaft von ‚Einem, Einigen bzw Aller‘ 58 Diese Herrschaftsformen sind bei Hegel zugleich die Hauptstufen der Weltgeschichte „Sie richten sich nach dem Status der Freiheit aus: Freiheit des partikularen Einzelnen (‚Einer‘), zweitens der Freiheit von Besonderen (‚Einige‘), drittens allgemeine Freiheit (‚Alle‘) “59 Weltgeschichte ist, wenn diese Herrschaftsformen progressiv aufeinander folgen, „Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit“ und ihrer Ausgestaltung in der Pflichterfüllung, an erster Stelle der Rechtschaffenheit und Wahrhaftigkeit 60 Die

54 55 56 57 58 59 60

A a O , Einleitung, § 1 (S  204) A a O , § 2 (S  204) A a O , Rechtslehre, § 2 u 6 (S  232 f ) A a O , § 25 (S  247) A a O , § 28 (S  249)  – Vgl auch Aristoteles: Politik; Ditzingen 2007, Viertes Buch, 1290a–1295a (S  205–233) Vieweg, Hegel (wie Anm  8), S  604 Vgl Ottmann, Henning: Geschichte des politischen Denkens Die Neuzeit, Das Zeitalter der Revolution; Stuttgart 2008, S  246  – Hegel, Rechtslehre (wie Anm  56), §§ 60 u 61 (S  267)

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Nähe zu Platons „Kardinaltugenden“ Gerechtigkeit und Besonnenheit61 ist offensichtlich Besonderen Wert legt Hegel zudem auf die „Pflicht der allgemeinen Menschenliebe“ und die „Höflichkeit“ 62 An diese Pflichtenlehre schließt sich dann nahtlos die „Religionslehre“ an Sie entfaltet das „ moralische Gesetz“: Das moralische Gesetz in uns ist das ewige Vernunftgesetz, das wir unwiderstehlich achten müssen und durch das wir uns unaufhörlich gebunden fühlen Wir sehen aber ebenso unmittelbar die Unangemessenheit unserer Individualität zu demselben ein, erkennen es als Höheres als wir, als ein von uns unabhängiges, selbständiges absolutes Wesen Dies absolute Wesen ist gegenwärtig in unserem reinen Bewußtsein und offenbart sich uns darin Das Wissen von ihm ist, als durch es in uns vermittelt, für uns unmittelbar und kann insofern Glauben genannt werden Die Religion selbst besteht in der Beschäftigung des Gefühls und Gedankens mit dem absoluten Wesen und in der Vergegenwärtigung seiner Vorstellung 63

Hegel schließt seine „Rechts-, Pflichten- und Religionslehre für die Unterklasse“ mit einer Funktionsbestimmung des Gottesdienstes: Der Gottesdienst ist die bestimmte Beschäftigung des Gedankens und der Empfindung mit Gott, wodurch das Individuum seine Einigkeit mit demselben zu bewirken und sich das Bewußtsein und die Versicherung dieser Einigkeit zu geben strebt, welche Übereinstimmung seines Willens mit dem göttlichen Willen es durch die Gesinnung und Handlungsweise seines wirklichen Lebens beweisen soll 64

Ob jedoch die im Schnitt 16-jährigen der Unterklasse – und in der Mittel- sowie Oberklasse auch Wirth – diesen Gedankenkaskaden folgen konnten? Den Schülern dürften die Köpfe „geraucht“ haben 65 Doch – so Hegel 1812: Der Jugend muß zuerst das Sehen und Hören vergehen, sie muß von konkreten Vorstellungen abgezogen […] werden, auf diesem Boden sehen, Bestimmungen festhalten und unterscheiden lernen Abstrakt lernt man denken durch abstraktes Denken 66

61 62 63 64 65 66

Platon: Der Staat; Ditzingen 2010, 427e (S  216) Hegel, Pflichtenlehre (wie Anm  50), §§ 67 u 69 (S  270 f ) Hegel, Religionslehre (wie Anm  50), §§ 71, 72 u 74 (S  272 f ) A a O , § 80 (S  274) Kaube, Hegels Welt (wie Anm  13), S  224 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Über den Vortrag der Philosophie auf Gymnasien; in: Nürnberger Schriften (wie Anm  1), S  413

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3. Vor-nürnbergische Hegel-Schriften zur Philosophie, Religion und Politik Wie sehr Hegels Nürnberger Lehrpläne didaktische Konkretionen seiner gedanklichen Abstraktionsmaxime und bis dahin vorliegenden Schriften sind, zeigt ein kurzer Überblick über seine vor-nürnbergischen Publikationen Das betrifft seine „Frühen Schriften“, die „Jenaer Schriften“ und die „Phänomenologie des Geistes“ Einige wenige Hinweise mögen genügen Entsprechend der wissenschaftlichen Prägung im Tübinger Stift67 stehen in Hegels Frühen Schriften theologische Themen im Vordergrund Dabei ist bereits in den frühen 1790er Jahren sehr deutlich, dass er über das Amtskirchliche hinausdenkt So fragt er in einem Aufsatz aus dieser Zeit: Wie mus VolksReligion beschaffen seyn? […] I Ihre Lehren müssen auf der allgemeinen Vernunft begründet seyn II Phanthasie, Herz und Sinnlichkeit müssen dabei nicht leer ausgehen III Sie muß so beschaffen seyn, daß sich alle Bedürfnisse des Lebens – die öffentlichen StaatsHandlungen daran anschließen 68

In den dann Jenaer Schriften der Jahre 1808 bis 1817 erweitert Hegel sein Themenspektrum So etwa untersucht er die Kantische, Jakobische und Fichtesche Philosophie, die drei die Diskussion beherrschenden Konzepte dieser Jahre, unter dem Aspekt Glauben und Wissen Darin ist dann auch die Rede vom „Weltgeist“: Die große Form des Weltgeistes […] ist das Princip des Nordens, religiös angesehen, des Protestantismus, die Subjectivität, in welcher Schönheit und Wahrheit, in Gefühlen und Gesinnungen, in Liebe und Verstand sich darstellt; die Religion baut im Herzen des Individuums ihre Tempel und Altäre, und Seufzer und Gebete suchen den Gott, dessen Anschauung es sich versagt, weil die Gefahr des Verstandes vorhanden ist, welcher das Angeschaute als Ding, den Hayn als Hölzer erkennen würde 69

Vordringlich arbeitet Hegel in Jena jedoch an der Phänomenologie des Geistes, deren erster Teil 1807 erscheint Ein wesentliches Augenmerk gilt dabei dem „Selbstbewusstsein“ 70 These und Antithese führen dabei zur Synthese Denken hat in diesem Sinn

67 68 69 70

Wie Anm  13 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Religion ist eine der wichtigsten Angelegenheiten; in: Frühe Schriften I (= Hegel, Gesammelte Werke 1); Hamburg 2014, S  103 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Glauben und Wissen oder die Reflexionsphilosophie der Subjectivität in der Vollständigkeit ihrer Formen, als Kantsche, Jacobische und Fichtesche Philosophie; in: Hegel, Jenaer Kritische Schriften (= Hegel, Hauptwerke 1); Hamburg 22018, S  316 f Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes (=  Hegel, Hauptwerke in sechs Bänden, 2); Hamburg 2018, S  109–131

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zugleich drei gedankliche Bestimmungen: „ein Bewahren, ein Bestätigen, ein Hochheben“ 71 Als Beispiel führt Hegel in einem Lehrstück unter dem Titel „Die absolute Freyheit und der Schrecken“72 eine Diagnose der Französischen Revolution vor: Wie das Reich der wirklichen Welt in das Reich des Glaubens und der Einsicht übergeht, so geht die absolute Freyheit aus ihrer sich selbst zerstörenden Wirklichkeit in ein anderes Land des selbstbewußten Geistes über 73

Im Europa Hegels hat diese „selbst zerstörende Wirklichkeit“ im Ende des „Alten Reiches“ Gestalt angenommen Der nunmehr „selbstbewußte Geist“ ist in Napoleon personifiziert, seit zwei Jahren Kaiser der Franzosen In diesem Kontext kann auch das zweite Lehrstück in der „Phänomenologie“ gesehen werden Darin geht es um „Herrschaft und Knechtschaft – Selbstständigkeit und Unselbständigkeit des Selbstbewusstseins“ 74 Hegel greift darin auf die sophistische Anthropologie zurück, die den Menschen in eine Rechts- und Nutzengemeinschaft stellt Damit verbindet Hegel jedoch zugleich Konkurrenz und Selbstbehauptung Das aber führt zu „Herrschaft und Knechtschaft“ mit der Ursache und Folge der Divergenz des „Selbstbewußtseins“ Aber: Der Knecht kann sich befreien Sein „zurückgedrängtes Selbstbewußtsein“ ermöglicht durch das „formirende Thun“ (die Arbeit) eine Umkehrung „Das arbeitende Bewußtsein kommt hierdurch zur Anschauung des selbstständigen Seyns “75 Der Schlüssel liegt in der Bildung Der „sich entfremdete Geist“ wird damit „hochgehoben“ Denn: „Der Geist dieser Welt ist das von einem Selbstbewußtsein durchdrungene geistige Wesen “76 Die Tätigkeit Hegels bei der „Bamberger Zeitung“, fordert jedoch primär eine andere Weltsicht, eine Konzentration auf die Tagesinformation, aber auch deren Einordnung in die großen Linien Entsprechend weit gestreut sind die Themen In einem Brief vom 29 August 1807 zählt sie Hegel auf: Alles wartet hier der […] Organisation, daß das Land in Präfekturen eingeteilt werde […] Von sonstiger großer Reichsständeversammlung wird gesprochen Die Hauptentscheidung wird wohl von Paris kommen  – Schon die Menge der kleinen Fürsten, die im nördlichen Deutschland geblieben sind, macht ein festeres Band notwendig Die deutschen Staatsrechtslehrer unterlassen nicht, eine Menge Schriften über den Begriff der Sou-

71 72 73 74 75 76

Höffe, Otfried: Geschichte des politischen Denkens; München 2016, S  327 Hegel, Phänomenologie (wie Anm  70), S  316–323 A a O , S  323 A a O , S  109–116 A a O , S  115 A a O , S  267  – Vgl dazu: Butler, Judith: Warum jetzt Hegel lesen?; in: Zeitschrift für Ideengeschichte 14 (2020), H  2, S  48

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veränität und den Sinn der Bundesakte zu schreiben Der große Staatsrechtslehrer sitzt in Paris  – Aus den Ländern des Königreichs Westfalen sind Deputierte aller Stände nach Paris beschieden worden, in Berg bestehen die Landstände; bei Aufhebung derselben in Württemberg hat Napoleon im Grimme zum württembergischen Minister gesagt: ich habe Ihren Herrn zu einem Souverän, nicht zu einem Despoten gemacht! – Die deutschen Fürsten haben den Begriff eines freien Monarchen noch nicht gefaßt, noch seine Realisierung versucht – Napoleon wird dies alles zu organisieren haben  – Manches wird da noch anders werden, als man es sich einbildete 77

Hegel ist also ein durch und durch politischer Redakteur „Im Zentrum […] steht das Plädoyer für einen modernen Staat und dessen freiheitliche Verfassung “78 Dieser Thematik waren in seiner Hauslehrer- und Jenaer Zeit zudem auch schon mehrere frühere Arbeiten gewidmet, von denen allerdings nur zwei publiziert wurden, die zweite zudem nur teilweise Hegels erste politische Schrift erscheint 1798: eine Übersetzung der von dem Girondisten Jean-Jacques Cart verfassten Vertraulichen Briefe über das vormalige Staatsrechtliche Verhältnis des Wadtlandes (Pays de Vaud) zur Stadt Bern, Eine völlige Aufdeckung der ehemaligen Oligarchie des Standes Bern 79 Das von Cart behandelte Thema war „Revolutionär“ im Geist der Zeit 80 Ein aristokratisch-oligarchisches System passte nicht zum Geist einer liberal-republikanischen Ordnung, die nach der Eingliederung des Wadtlandes in den französischen Territorialbereich (1798) von Cart präferiert wurde Indem Hegel sich diesem Übersetzungsprojekt widmete, zeigt eine ausgeprägte gedankliche Nähe 1793–97 Hauslehrer in Bern und inzwischen in gleicher Tätigkeit in Frankfurt a M , entwirft er in seiner Cart-Übersetzung und Kommentierung „die Idee eines modernen Republikanismus, einer demokratisch-republikanischen Verfasstheit, worin das Ideal der antiken Demokratie sich mit den Grundzügen einer modernen Gesellschaft und der individuellen Rechte der Menschen verknüpfen muss Er stellt das grundsätzliche Prinzip auf, dass freie Menschen ausschließlich Gesetzen folgen sollen, die sie sich selbst gegeben haben “81

77 78 79

80 81

Brief Hegels an Niethammer (29 August 1807); in: Hoffmeister, Johannes (Hrsg ): Briefe an und von Hegel, Bd  1, 1785–1812; Hamburg 1952 (NDr Bad Harzburg 1991), S  185 Vieweg, Hegel (wie Anm  8), S  313 Cart, Jean Jacques: Vertrauliche Briefe über das vormalige Staatsrechtliche Verhältnis des Wadtlandes (Pays de Vaud) zur Stadt Bern Eine völlige Aufdeckung der ehemaligen Oligarchie des Standes Bern; Frankfurt a M 1798 (Original: Lettres de Jean-Jaques Cart […]; Paris 1793 ) – Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vertrauliche Briefe über das vormalige staatsrechtliche Verhältniß des Waadtlandes (Pays de Vaudt) zur Stadt Bern; in: Frühe Schriften (= Hegel, Gesammelte Werke 2); Hamburg 2014, S  396–581 Soboul, Albert: Die Große Französische Revolution; Köln 1973 (zuerst Paris 1962), S  442–476 [O Verf ] Der Philosoph der Freiheit Klaus Viewegs Hegel-Biographie; in: Information Philosophie 3/2020, S  40

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Cart bewegt sich dabei im literarischen Stil des späten 18 Jahrhunderts in der Form einer Briefsammlung In seiner „Vorerinnerung“ stellt Hegel dazu fest: Die Briefe […] haben den Advocat Cart aus Lausanne zum Verfasser, der seitdem in Philadelphia gestorben ist, bei ihrer Erscheinung im Drukke wurden sie gleich von der Regierung in Bern bei einer schweren Geldstrafe verboten; sie enthalten nämlich im Allgemeinen eine auf Urkunden gegründete Darstellung der politischen Rechte der Wardt, – eine auf Vergleichung des Zustandes der Wardt, wie er in alten Rechten gemäß hätte beschaffen seyn sollen, mit demjenigen, in welchen sie von den Bernern versezt wurden 82

Im gleichen Jahr 1798 nimmt Hegel zur Diskussion um die württembergischen Landstände Stellung Im Herbst 1796 waren diese zum ersten Mal nach 1770 wieder einberufen worden, denn „für Kriegsentschädigungen an Frankreich mussten neue Steuern erhoben werden“ 83 Das löste zugleich Forderungen nach einer „Umwandlung der Landstände in eine parlamentarische Volksvertretung“ aus 84 In den „Frühen Schriften“ innerhalb von Hegels „Gesammelten Werken“ werden dazu vier Fragmente vorgelegt 85 Deren erstes steht unter dem Titel Daß die Magistrate von den Bürgern gewählt werden müssen So klar sich Hegel hier unter solcher Überschrift zu positionieren scheint, so eingeschränkt argumentiert er jedoch Denn ob es in einem Lande, das seit Jahrhunderten eine Erbmonarchie hat, räthlich sei, einem unaufgeklärten, an blinden Gehorsam gewöhnten und von dem Eindruck des Augenblicks abhängigen Haufen plötzlich die Wahl seiner Vertreter zu überlassen,86

dafür kann er sich nicht aussprechen Allerdings gibt er zu bedenken: Wie blind sind diejenigen, die glauben mögen, daß Einrichtungen, Verfassungen, Geseze, die mit den Sitten, den Bedürfnissen, der Meinung der Menschen nicht mehr zusammenstimmen, aus denen der Geist entflohen ist, länger bestehen, daß Formen, an denen Verstand und Empfindung kein Interesse mehr nimmt, mächtig genug seyen, länger das Band eines Volkes auszumachen 87

Sehr viel weitreichender als in Württemberg war dieses Problem freilich 1799/1800/1802 der Fall im Blick auf das seiner Auflösung entgegengehende „Alte Reich“ Zur Vielzahl

82 83 84 85 86 87

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Frühe Schriften 2 (= Hegel, Gesammelte Werke 2); Hamburg 2014, S  398 Habermas, Jürgen: Nachwort; in: Blumenberg, Hans / Jürgen Habermas / Dieter Heinrich / Jacob Taubes (Hrsg ): G W F Hegel, Politische Schriften; Frankfurt a M 1966, S  346 Ebenda Hegel, Frühe Schriften 2 (wie Anm  82), S  100–109 A a O , Drittes Fragment, S  108 A a O , Erstes Fragment, S  104

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der diese Agonie begleitenden Publikationen88 hat auch Hegel drei Texte beigesteuert Sie blieben allerdings erst Ende des 19 Jahrhunderts unveröffentlicht: Eine Einleitung zur Verfassungsschrift (1799/1800), Erster Entwurf zur Verfassungsschrift (1799), Die Verfassung Deutschlands (1802) 89 Ausgangspunkt ist die Diagnose: „Deutschland ist kein Staat mehr [… Und:] Was nicht mehr begriffen werden kann, ist nicht mehr “90 Weder kann sich Deutschland gegen Angriffe von außen verteidigen, noch gegen innere Opposition durchsetzen Denn „eine Menschenmenge kann sich nur einen Staat nennen, wenn sie zur gemeinschaftlichen Verteidigung der Gesamtheit ihres Eigentums verbunden ist “91 Die Lösung liegt für Hegel darin, „daß die Länder das Geld, das sie unmittelbar den Fürsten bewilligen und nur mittelbar dem Kaiser und Reich, itzt unmittelbar an Kaiser und Reich abgeben “92 Einheit verknüpft sich jedoch mit Freiheit, denn „daß eine feste Regierung notwendig zur Freiheit [ist], hat sich tief eingegraben, ebenso tief aber, daß zu Gesetzen und zu den wichtigsten Angelegenheiten eines Staates das Volk mitwirken muß “93 Einheit und Freiheit also, ein Fingerzeig ist gegeben Hegel hat ihn jedoch nicht weiter verfochten Vier Jahre später – 1806 – besiegelte Napoleon mit seiner Rheinbund-Initiative dann das Ende des „Alten Reiches“ Erst 1815 war dann perspektivisch Neues möglich Denn die Neuordnung Deutschlands im Deutschen Bund sah in der „Bundesakte“ vor: „In allen Bundesstaaten wird eine Landständische Verfassung stattfinden “94 Eine Grundlage dafür bot im Königreich Bayern die Konstitution von 1808 und die sie begleitenden „Organischen Edikte“ als Zusammenfassung der unter Staatsminister Montgelas erfolgten Reformen Danach wurden zwar „bürgerliche Freiheiten“ (Sicherheit der Person, Gewissensfreiheit, doch eingeschränkte Pressefreiheit) garantiert, „politische Freiheiten“ (echte Mitgestaltung des Staates) blieben aber versagt 95 In der „Bamberger Zeitung“, für die Hegel in dieser Zeit arbeitet, ist von Euphorie über diese Konstitution allerdings wenig zu spüren Auch in seinen Briefen sind die Themen andere: „Ich sehne mich um so mehr, von meiner Zeitungs-Galeere wegzukommen“,96 schreibt er am 15 September 1808 aus Bamberg an Niethammer 88 89 90 91 92 93 94 95 96

Whaley, Joachim: Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation 1648–1806, Bd  2; Darmstadt 2018 (zuerst Oxford 2012), S  707 f Blumenberg u a , Hegel, Politische Schriften (wie Anm  83), S  16–139 A a O , Die Verfassung Deutschlands, S  23 A a O , S  31 A a O , S  137 A a O , S  131 Deutsche Bundesakte vom 8 Juni 1815, Art 13; in: Huber, Ernst Rudolf: Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd  1; Stuttgart 31979, Nr  29, S  78 Glaser, Hubert (Hrsg ): Krone und Verfassung König Max I Joseph und der neue Staat (= Wittelsbach und Bayern 3/2); München 1980, S  154 u 223 Brief Hegels an Niethammer (15 September 1808); in: Hoffmeister, Briefe 1 (wie Anm  77), S  240

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Zwei Monate später, am 14 Dezember, kann Hegel an Niethammer vermelden: „Vorgestern hat der Unterricht in unserem Gymnasium [in Nürnberg] angefangen “97 4. Nürnberger Hegel-Schriften zur Philosophie In Nürnberg entsteht dann auch der Großteil einer der hegelschen Hauptschriften, das zweite Buch des ersten Bandes und der gesamte zweite Band der Wissenschaft der Logik 98 Hegel setzt damit „über“ seine Nürnberger Logik-Lehrpläne99 einen „geradezu titanisch[en …] Entwurf eines umfassenden Kategoriensystems, wie sie später nur noch in etwa von E v Hartmann und von N Hartmann versucht wurde“ 100 So ist auch nur allzu verständlich, dass sich Hegel im Oktober 1810 in einem Brief an Isaac Sinclair, den er von Jena her kannte, beklagt: Ich bin am hies[igen] Gymnasium Professor der philos[ophischen] Vorbereitungswissensch[aften] und Rektor, habe außer der Hoffnung, mit der Zeit auf eine Universität zu kommen, darin, was mir persönlich das Vorzüglichste ist, eine fixierte Karriere und sonst wenigstens größtenteils eine Amtsbeschäftigung, die mit meinem Studium verbunden ist 101

Denn, so bereits in einem Brief Hegels vom 4 Oktober 1809 an Niethammer: Ich habe das Verdrießliche der Verbindung eines Geschäfts und eines gelehrten Amts nun erst recht erfahren; ist man bloßer Geschäftsmann, gut – so läßt man die Gelehrsamkeit linker Hand liegen und kommt [so …] zu einem Genusse; aber wenn Lehrergeschäft zugleich mit jenem Amt verbunden ist, so läßt keines das andere in Ruhe; man hat den Kontrast immer vor Augen, der sich zwischen jenem und den unseligen Formalitäten erzeugt 102

Dennoch kommt Hegel mit seinem „Logik“-Projekt voran Am 5 Februar 1812 meldet er an Niethammer: An meiner Logik sind 9 Bogen gedruckt Vor Ostern sollen vielleicht noch 20 mehr gedruckt werden Was kann ich vorläufig davon sagen, als daß die 25–30 Bogen nur der erste

97 98

Brief Hegels an Niethammer (14 Dezember 1808); in: a a O , S  269 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Wissenschaft der subjectiven Logik oder die Lehre vom Begriff (= Hegel, Hauptwerke 6); Hamburg 2018 99 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Logik für die Unterklasse, 1810/11; in: Nürnberger und Heidelberger Schriften (wie Anm  1), S  124–138; Logik für die Mittelklasse (wie Anm  34) 100 Kern, Walter: Wissenschaft der Logik; in: Urbich, Jan (Hrsg ): Philosophie 19 Jahrhundert (=  Kindler kompakt); Stuttgart 2016, S   63   – Hartmann, Eduard von: Kategorienlehre; Leipzig 2 1923 (zuerst Leipzig 1896)   – Hartmann, Nikolai: Der Aufbau der realen Welt Grundriß einer Kategorienlehre; Meisenheim 21949 (zuerst Berlin 1940) 101 Brief-Entwurf Hegels an Sinclair (Mitte Oktober 1810); in: Hoffmeister, Briefe 1 (wie Anm  77), S  331 102 Brief Hegels an Niethammer (4 Oktober 1809); a a O , S  296

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Teil sind, daß sie von der gewöhnlichen Logik noch nichts enthalten, daß sie die metaphysische oder ontologische Logik sind: erstes Buch vom Sein, zweites vom Wissen […] Ich stecke bis über Ostern darin Es ist keine Kleinigkeit, im ersten Semester seiner Verheuratung ein Buch des abstrusesten Inhalts von 30 Bogen zu schreiben […] Zur gehörigen Form hätte ich noch ein Jahr gebraucht, aber ich brauche Geld, um zu leben 103

Denn übermäßig dotiert ist seine Nürnberger Stelle keineswegs Zudem hatte er ein halbes Jahr vorher geheiratet, Hegel der 41-jährige die 20-jährige Nürnbergerin Marie von Tucher Seine „Logik“, verstanden als „das Denken oder bestimmter das begreiffende Denken“,104 entsteht also in einem biographisch vielschichtigen Umfeld Das Ergebnis – so Otfried Henning – kann als „eine einzigartige Logik der Freiheit“ angesehen werden 105 Denn: „Es ist die Aufgabe vor allem der ‚objektiven Logik‘, Kritik aller Herrschaftsmetaphysik zu sein, und es ist das Ziel der ‚subjektiven Logik‘, ein Reich der Freiheit jenseits aller Herrschaftsmetaphysik zu eröffnen “106 Objektive Logik hat dabei das „Sein“ und das „Wesen“ zum Gegenstand, subjektive Logik den „Begriff “ Hegels Logik ist somit „als Dialektik von Freiheit und Herrschaft“ konstituiert 107 Den Kontext hat Hegel in seiner Encyclopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse bestimmt: Logik „ist die Wissenschaft der reinen Idee, das ist der Idee im abstrakten Elemente des Denkens “108 5. Nach-nürnbergische Hegel-Schriften zur Philosophie, Religion und Politik 1816 bot sich Hegel dann endlich die Gelegenheit einer neuen Hochschultätigkeit Er erhält einen Ruf auf den philosophischen Lehrstuhl der Universität Heidelberg Parallel geht auch Wirth Neuem entgegen „Im Herbst 1816 folgte Hegel dem Ruf nach Heidelberg, […] zu gleicher Zeit bezog ich [Wirth] die Universität [Erlangen] “109

103 Brief Hegels an Niethammer (5 Februar 1812); a a O , S  393 104 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Wissenschaft der Logik (= Hegel, Hauptwerke 3); Hamburg, S  27 105 Ottmann, Henning: Logik und Freiheit Historische und systematische Bemerkungen zu Hegels Nürnberger Logik; in: Beyer, Wilhelm Raimund (Hrsg ): Die Logik des Wissens und das Problem der Erziehung Nürnberger Hegel-Tage 1981; Hamburg 1982, S  165 106 A a O , S  167 107 Ottmann, Henning: Hegels Logik als Dialektik von Freiheit und Herrschaft; in: Hegel-Jahrbuch 1979, S  315–324 108 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Encyclopädie der Wissenschaften im Grundrisse (=  Hegel, Hauptwerke 6); Hamburg 2018, § 1 (S  39) 109 Wirth, Denkwürdigkeiten (wie Anm  3), S  29

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Für Hegel hatte damit seine Nürnberger Schulleitertätigkeit – seit 1813 zusätzlich verbunden mit dem Amt des Schulrates und damit der Aufsicht über alle Schulen der Stadt110 – ein Ende In einem Brief am 11 August 1816 an Niethammer notierte er dazu: „So sehe ich also […] der Erlösung aus dem Schul-, Studien- und Organisationskatzenjammer entgegen “111 Heidelberg wurde für Hegel dann auch nach „der ungeliebten Tätigkeit in Bamberg und den enorm arbeitsreichen Nürnberger Jahren“112 zu einem ersehnten Neuanfang Am 19 April 1817 schreibt er deshalb an seinen Verleger Frommann: „Was meine Veränderung der Lage betrifft, so ist sie mir fortdauernd in jeder Rücksicht vergnüglich Das Lehramt auf einer Universität ist das gewesen, was ich je länger ich in Nürnberg war, desto mehr wieder wünschte “113 In Heidelberg widmet er sich aber nicht nur seiner philosophischen Lehre, sondern „greift [auch] aktiv in politische Debatten ein In der Zeit der Heiligen Allianz [des russischen und österreichischen Kaisers sowie des preußischen Königs] mit ihren Attacken auf Freiheit und Reformen wächst seine öffentliche Wirksamkeit [… So schaltet] er sich als politischer Publizist in den Württemberger Verfassungsstreit ein “114 Verkündet wurde diese Verfassung am 25 September 1819 Sie galt bis 1918 und war „ein Produkt des Epochenwandels um 1800, dem Ancien Regime noch verhaftet und dem modernen Staat schon zugewandt, durch die politischen Umbrüche der Französischen Revolution veranlaßt und durch die geistigen Umbrüche von der Aufklärung zur Romantik geprägt“ 115 Der Weg zu dieser Konstitution war allerdings nicht einfach und geradlinig 116 Vier Jahre zog sich ein Verfassungsstreit hin: Sollte eher der Monarch oder das Parlament dominieren? Den Ausgangspunkt bildeten die Verfassungsentwürfe des Königs und der Landstände Hegel kritisiert beide, denn alle zwei repräsentierten eine

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111 112 113 114 115

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Dazu im Einzelnen: Liedtke, Max: Georg Wilhelm Friedrich Hegel Schulrat in Nürnberg 1813– 1816; Nürnberg 2009  – Breyer, Wilhelm Raimund / Karlheinz Goldmann: Georg Wilhelm Friedrich Hegel in Nürnberg 1808–1816 (= Beiträge zur Geschichte und Kultur der Stadt Nürnberg 13); Nürnberg 1966  – Hussel, Kurt: Hegel als Rektor und Lehrer in Nürnberg; in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 48 (1958), S  306–313  – Glaser, Hermann: Georg Wilhelm Friedrich Hegel Weltgeist in Franken (= Auf den Spuren der Dichter und Denker in Franken 7); Gunzenhausen 2008  – Stadtbibliothek Nürnberg (Hrsg ): Hegel in Nürnberg (= Ausstellungskatalog 51); Nürnberg 1966  – Dies (Hrsg ): Hegel in Franken (= Ausstellungskatalog 92); Nürnberg 1981 Brief Hegels an Niethammer (11 August 1816); in: Hoffmeister, Briefe 2 (wie Anm  7), S  111 Kaube, Hegels Welt (wie Anm  13), S  266 Brief Hegels an Frommann (19 April 1817); in: Hoffmeister, Briefe 2 (wie Anm  7), S  154 Vieweg, Hegel (wie Anm  8), S  426 Graweit, Rolf: Der württembergische Verfassungsstreit 1815–1819; in: Jamme, Christoph  / Otto Pöggeler (Hrsg ): „O Fürstin der Heimath! Glückliches Stutgard“ Politik, Kultur und Gesellschaft im deutschen Südwesten um 1800 (= Deutscher Idealismus Philosophie und Wirkungsgeschichte in Quellen und Darstellungen 15); Stuttgart 1988, S  126 Huber, Ernst Rudolf: Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd  1, Reform und Restauration 1789 bis 1830; Stuttgart 1957, S  331–334  – Huber, Dokumente (wie Anm  94), S  187–218

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überlebte feudale Rechts- und Verfassungssicht, selbst die Landstände Sie, so Hegels Urteil, „scheinen die letzten fünfundzwanzig Jahre, die reichsten, welche die Weltgeschichte wohl gehabt hat, und die für uns lehrreichsten […] verschlafen zu haben “117 Hätten sie nämlich das französische Geschehen aufgenommen, würden sie selbst das alte, ständische Recht überwunden und zur Maxime erhoben haben, „was und daß etwas vernünftiges Recht sei“ 118 Die notwendige Richtung ist deshalb für Hegel offensichtlich: Er „denkt an eine Kammer, in der Adlige wie Bürger“ gemeinsam über das Gesetzgebungsrecht verfügen 119 Denn es kann wohl kein größeres weltliches Schauspiel auf Erden geben, als daß ein Monarch der Staatsgewalt, die zunächst ganz in seinen Händen ist, eine weitere und zwar die Grundlage hinzufügt, daß er sein Volk zu einem wesentlich einwirkenden Bestandteil in sie aufnimmt 120

Hegels Heidelberger Jahre endeten aber bereits nach vier Semestern Denn ab Anfang Oktober 1818 ist er in Berlin und lehrt die folgenden 22 Semester an der dortigen Humboldt-Universität Am 22 Oktober hält er seine Antrittsvorlesung: Nun, nachdem […] die deutsche Nation ihre Nationalität, den Grund alles lebendigen Lebens gerettet hat, so ist dann die Zeit eingetreten, daß in dem Staate neben dem Regiment der wirklichen Welt auch das freie Reich der Gedanken selbständig emporblühte […] Und es ist insbesondere dieser Staat [Preußen], der mich nun in sich aufgenommen hat, welcher durch das geistige Übergewicht sich zu seinem Gewicht der Wirklichkeit und im Politischen Emporgehoben [hat] 121

War der „herrliche Sonnenaufgang“122 im Frankreich der Revolution also verblasst und hatte nun in Preußen seinen Platz? Sehr schnell setzten jedoch Rückschläge ein, besonders gravierend am 20 September 1819 mit dem vom Plenum des Bundestages in Frankfurt a M angenommenen Universitäts- und Pressegesetz: Ein „Bevollmächtiger“ soll in jeder Universität „den Geist, in welchem die akademischen Lehrer bei ihren öffentlichen und Privatvorträgen ver117

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Verhandlungen in der Versammlung der Landstände des Königreichs Württemberg im Jahre 1815 und 1816; in: Blumenberg u a , Hegel, Politische Schriften (wie Anm  83), S  185 118 Ebenda 119 Kaube, Hegel (wie Anm  13), S  274 120 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Verhandlungen in der Versammlung der Landstände des Königreichs Württemberg im Jahre 1815 und 1816; in: Nürnberger und Heidelberger Schriften (wie Anm  1), S  468 121 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Rede zum Antritt des philosophischen Lehramtes an der Universität Berlin; in: Vorlesungsmanuskripte 2, 1816–1831 (= Hegels Gesammelte Werke 18); Hamburg 1996, S  399–404 122 Zitiert in: Althaus, Horst: Hegel und die heroischen Jahre der Philosophen; München/Wien 1992, S  395

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fahren, sorgfältig beobachten“123 und „Schriften, die in der Form täglicher Blätter oder heftweise erscheinen, dergleichen solche, die nicht über 20 Bogen [= bis zu 320 Seiten] im Druck stark sind, in keinem deutschen Bundesstaate ohne Vorwissen und vorgängige Genehmhaltung der Landesbehörden zum Druck befördert werden “124 Bereits vier Wochen später folgen darauf in Preußen die entsprechenden „Ausführungs-Verordnungen“ 125 Hegel, der zu diesem Zeitpunkt gerade sein Grundlinien der Philosophie des Rechts zum Druck vorbereitet, „bittet seinen Verleger […] um Verschiebung der Publikation und beginnt eine Überarbeitung, damit ‚die Zähne der Censur‘ nirgends was zu haften finden sollen“ 126 Sind es deshalb diese Umstände, die den „Grundlinien“ 1821 einen sehr zwiespältigen Duktus gegeben haben? So bezeichnet er etwa Jakob Friedrich Fries, seine ehemaligen Jenaer Kollegen und Vorgänger in Heidelberg, der wegen seiner Teilnahme am Wartburg-Fest (1817) vom Universitätsdienst suspendiert worden war, als „Heerführer aller Seichtigkeit, die sich Philosophiren nennt, [… in der] Brey des Herzens, der Freundschaft und der Begeisterung zusammenfließen“ 127 An anderer Stelle nimmt er dagegen überdeutliche Stellung gegen „Herrn v Hallers Restauration der Staatswissenschaft“,128 plädiert „Hr v Haller [doch vor allem dafür, dass] die Gerichtsbarkeit […] nicht eine Pflicht des Staats, sondern eine Wohlthat sei […] eine bloße Sache einer beliebigen Gefälligkeit und Gnade“ 129 Das aber ist Hegels Position nicht Sie vereinbart sich aber sehr wohl mit einer „Vorliebe für den preußischen […] Beamtenstaat [und], läßt sich durchaus einleuchtend als Frucht seiner zeitgeschichtlichen Erfahrung verstehen“ 130 Die eigene Erfahrungswelt ist aber nur das eine Dazu kommt das Spannungsfeld der preußischen Verfassungspolitik in den Jahren 1810–21 Sie wird bestimmt durch zwei gegensätzliche Positionen: auf der einen Seite der Idee einer „Constitution“, personifiziert im von 1810–22 amtierenden preußischen Staatskanzler Karl August von Harden-

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Bundes-Universitätsgesetz vom 20 September 1819, § 1; in: Huber, Dokumente (wie Anm   94), S  101 124 Bundes-Preßgesetz vom 20 September 1819, § 1; in: a a O , S  102 125 Preußische Universitäts-Verordnung vom 18 Oktober 1819; in: a a O , S   99–102   – Preußische Zensur-Verordnung vom 18 Oktober 1819; in: a a O , S  95–98 126 Vieweg, Hegel (wie Anm  8), S  455 127 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Grundlinien der Philosophie des Rechts (= Hegel, Hauptwerke 5); Hamburg 2018, Vorrede (S  9 f ) 128 A a O , § 258 (S   203)   – Bezug: Haller, Karl Ludwig von: Restauration der Staatswissenschaft, 6 Bde ; Winterthur 1816–25 (NDr Aalen 1964)  – Zu Haller: Beyme, Klaus von: Konservativismus; Wiesbaden 2013, S  54–57 129 A a O , Fußn 1 (S  205) und § 219 (S  182) 130 Fetscher, Iring: Hegel Größe und Grenzen; Stuttgart u a 1971, S  69

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berg131 und auf der anderen Seite durch Vorbehalte dagegen, wie sie zum Beispiel 1810 Innenminister Friedrich Ferdinand Alexander von Dohna-Schlobitten äußerte: Eine Konstitution, so der Minister, werde „durchaus nichts von dem Guten hervorbringen, was man sich von Nationalrepräsentanten zu versprechen pflegt, wohl aber den größten Theil der Nachtheile herbeiführen, welche unfehlbar daraus unter den gegebenen Umständen entstehen müssen“ 132 Die „Umstände“ von 1810 sind jedoch völlig andere gewesen als jetzt 1821 Damals hatte Preußen unter dem Druck des Tilsiter Friedens (1807) mit Frankreich gestanden, durch den die Hälfte seines Territoriums verloren gegangen war Jetzt ist Preußen eine europäische Großmacht – und Hardenberg immer noch Staatskanzler Allerdings: Zwar „konnte er noch in der ‚Verordnung wegen der künftigen Behandlung des Staatsschuldenwesens‘ vom 17 Januar 1820 die königliche Zusage einer Verfassung erneuern, indem es darin hieß, bei künftigen Staatsanleihen werde der König die ‚Migrantie der Stände‘ einholen, wobei unter ‚Ständen‘ die landständische Auffassung der Metternich’schen Seite verstanden wurde“ 133 Die Idee einer „Nationalrepräsentation“ des preußischen Königreichs war jedoch nicht mehr aktuell Die Restauration Klemens Graf von Metternichs bestimmt bis 1848 die politische Agenda Entsprechend konzentriert auch Hegel den Blick auf die monarchische Staatsspitze: „Die Persönlichkeit des Staates ist nur eine Person, der Monarch, wirklich  – Persönlichkeit drückt den Begriff als solchen aus, die Person enthält zugleich die Wirklichkeit desselben “134 Im „Organismus des Staats“135 kommt deshalb der „fürstlichen Gewalt“136 eine dreifache Rolle zu: die Allgemeinheit der Verfassung und der Gesetze, die Beziehung des Besondern auf das Allgemeine und das Moment der letzten Entscheidung als der Selbstbestimmung, in welche alles Übrige zurückgeht und wovon es den Anfang der Wirklichkeit nimmt 137

Das „Allgemeinheit der Gesetze“ ist in Preußen erfüllt, nicht aber das Moment einer formellen Verfassung, denn Verfassung im hegelschen Sinn heißt nicht unbedingt eine Konstitution „Die Lösung erblickte er im Rechtsstaat, also in der gesetzlichen Bestim-

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Vgl die Verfassungsversprechen im Finanzedikt vom 27 Oktober 1810 und der Verordnung über die zu bildende Repräsentation des Volkes vom 22 Mai 1815; in: Huber, Dokumente (wie Anm  94), S  42 f u 56 f  – Huber, Verfassungsgeschichte (wie Anm  94), S  307–309 Brief Friedrich Ferdinand Alexander Graf Dohna-Schlobittens am 22 August 1810 an Karl August von Hardenberg; abgedr in: Stern, Alfred: Abhandlungen und Aktenstücke zur Geschichte der preußischen Reformzeit 1807–1815; Leipzig 1885, S  163 Gall, Lothar: Hardenberg Reformer und Staatsmann; München 2016, S  254 Hegel, Grundlinien (wie Anm  127), § 279 (S  233) A a O , § 269 (S  212) A a O , § 275 (S  230) Ebenda

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mung der Pflichten des Staates und der Pflichten der Bürger, der Anerkennung der Macht des Gerechten und der sittlichen, statt der zufälligen Naturgewalt “138 Damit ist der Rahmen bestimmt, zu dessen Ausfüllung bedarf es dann aber einer „nothwendigen Teilung der Gewalten“ 139 Dies ist jedoch mit einem hohen Risiko verbunden, insofern sich die Gewalten verselbstständigen können: „Mit der Selbstständigkeit der Gewalten, z B der […] executiven und der gesetzgebenden Gewalt, ist […] die Zertrümmerung des Staats unmittelbar gesetzt, [wenn] die eine Gewalt die andere unter sich bringt “140 Existenziell bleibt deshalb „die Einheit, [die] das Wesentliche, das Bestehen des Staates“141 garantiert Das gesetzgebende Organ – in Gestalt der Stände – hat damit „eine Garantie des öffentlichen Wohls und der vernünftigen Freyheit zu seyn“142 und soll sich als vermittelndes Organ […] zwischen der Regierung […] einerseits und dem in die besonderen Sphären und Individuen aufgelösten Volk [verstehen Das] fordert an sie [die Stände] so sehr den Sinn und die Gesinnung des Staats und der Regierung, als der Interessen der besonderen Kreise [Gruppeninteressen] und der Einzelnen Zugleich hat diese Stellung die Bedeutung einer mit der organisirten Regierungsgewalt gemeinschaftlichen Vermittlung, daß weder die fürstliche Gewalt als Extrem isolirt und dadurch als bloße Herrschergewalt und Willkühr erscheine, noch daß die besonderen Interessen der Gemeinden, Corporationen und der Individuen sich isoliren oder noch mehr, daß die Einzelnen nicht zur Darstellung einer Menge und eines Hauffens, zu einem somit unorganischen Meynen und Wollen und zur bloßen massenhaften Gewalt gegen den organischen Staat kommen 143

Gewaltenteilung hat damit im „Staatsorganismus“ ihren Bezugspunkt Der ist aber nicht als Typus, sondern als jeweilige Individualität zu verstehen, konkretisiert in der „Wirklichkeit der concreten Freyheit“ 144 Freiheitswahrnehmung setzt aber auch Grenzen und bedarf ebenso ihrer grundsätzlichen Sicherung: Die Freyheit der öffentlichen Mitteilung [… Presse und mündliche Rede …], die Befriedigung jenes prickelnden Triebes, seine Meynung zu sagen und gesagt zu haben, hat ihre doppelte Sicherung in den ihre Ausschweifungen theils verhindernden, theils bestrafenden polizeylichen und Rechtsgesetzen und Anordnungen, die indirekte Sicherung aber

138

Vgl Fenske, Hans u a : Geschichte der politischen Ideen Von Homer bis zur Gegenwart; Frankfurt a M 1987, S  401 139 Hegel, Grundlinien (wie Anm  127), § 272 (S  224) 140 A a O , S  205 141 Ebenda 142 A a O , § 301 (S  250) 143 A a O , § 302 (S  250 f ) 144 A a O , § 260 (S  208)

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[…] in der Vernünftigkeit der Verfassung, der Festigung der Regierung, dann auch in der Oeffentlichkeit der Stände-Versammlungen 145

Hegel summiert damit 1821 das in der politischen Reformära im Königreich Preußen seit 1800 Erreichte, aber auch Unerfüllte Das Gewicht liegt dabei auf dem Unerfüllten Denn: „Die Öffentlichkeit war heterogen und im Übrigen meist konservativer als die Reformer “146 So wurde keine Konstitution erreicht, sondern allenfalls eine Repräsentation und die auch nur mit den „Privincialständen“ auf der politisch-räumlichen Mesoebene Wenn dabei aber trotzdem von „Verfassung“ gesprochen wurde, so im Sinn von Zustand bzw Gegebenheit des Politischen Doch auch in den süddeutschen Verfassungsstaaten – und nicht nur in Württemberg – war die „innere Staatsgründung“147 fragmentarisch geblieben: „An die Stelle des absolutistisch-dynastischen Staates trat hier nun auch ganz formelle der bürokratischmonarchische Obrigkeitsstaat [In ihm blieb] der Monarch der Herr des staatlichen Handelns, der Exekutive und der Initiative; er war nicht Verfassungsorgan wie andere, sondern allen überlegen, er war der Schöpfer der Verfassung nicht ihr Geschöpf “148 Dabei darf aber nicht außer Acht bleiben, dass zu den Verfassungen Bayerns, Badens und Württembergs149 „ein Katalog von Grundrechten [gehörte], die Freiheit der Person, des Gewissens, der Meinung, der Berufswahl, das Eigentum und die Gleichheit vor dem Gesetz: im Prinzip wurde dem Einzelnen eine staatsfreie Sphäre zugestanden und im Ansatz steckte in den Grundrechten die Tendenz, die ältere Privilegiengesellschaft in eine Gesellschaft rechtsgleicher Staatsbürger umzuwandeln Freilich mehr als ein Ansatz war das zunächst nicht “150 Allerdings ist das auch keineswegs nur wenig gewesen – als „Kompromiss zwischen alter Ordnung und neuen Prinzipien, zwischen Krone und Regierung einerseits, Landes- und Volksvertretung andererseits, zwischen Adel und bürgerlicher Gesellschaft“ 151 Jetzt aber – 1821 – galt es für Hegel, bei alldem gerade auch persönlich Existenzielles zu bedenken: Hat er sich dabei jedoch durch die Vorsicht vor der Zensur leiten lassen?

145 A a O , § 319 (S  260) 146 Nolte, Paul: Staatsbildung als Gesellschaftsreform Politische Reformen in Preußen und den süddeutschen Staaten 1800–1820 (= Historische Studien 2); Frankfurt a M /New York 1990, S  196 147 Jüngling, Hans-Jürgen: Innere Staatsgründung Rheinbündische Reformmaßnahmen und staatliche Reorganisation in Württemberg; in: Württembergisches Landesmuseum Stuttgart (Hrsg ): Baden und Württemberg im Zeitalter Napoleons, Bd  1 1 (Katalog); Stuttgart 1987, S  304 148 Nipperdey, Thomas: Deutsche Geschichte 1800–1866 Bürgerwelt und starker Staat; München 1983, S  346 149 Verfassungsurkunde für das Königreich Bayern vom 26 Mai 1818, §§ 1–14; in: Huber, Dokumente (wie Anm   94), S   146–148   – Verfassungsurkunde für das Großherzogtum Baden vom 22 August 1818, §§ 7–19; in: a a O , S  157 f  – Verfassungsurkunde für das Königreich Württemberg vom 25  September 1818, §§ 19–42; in: a a O , S  173–175 150 Huber, Verfassungsgeschichte (wie Anm  116), S  347 151 Ebenda

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Legitimierte er damit aber auch ganz bewusst die Karlsbader Beschlüsse? Oder sah er in diesen Maßnahmen eher ein höchst riskantes politisches Destruktionspotenzial? Es ist die Freyheit der Leere, welche zur wirklichen Gestalt und zur Leidenschaft erhoben, […] im Politischen wie im Religiösen [zum] Fanatismus der Zertrümmerung aller bestehenden gesellschaftlichen Ordnung und [zur] Hinwegräumung der einer Ordnung verdächtigen Individuen […] wird Nur, indem er etwas zerstört, hat dieser negative Wille das Gefühl seines Daseyns 152

Das kann aber zugleich die Sorge Hegels um seine unter „Demagogenverdacht“ stehenden Studenten Gustav Asverus, Friedrich Förster, Leopold von Henning und Karl Rosenkranz153 gewesen sein Dazu berichtet Karl Rosenkranz, der 1844 eine erste Biographie Hegels verfasste, Kommilitonen hätten ihn, dessen Gefängniszelle in der Stadtvogtei zur Spree hinaus lag, mehrmals nachts mit einem Boot besucht, wobei durch die Gitterstäbe hindurch aus Vorsicht Latein gesprochen worden sei und bei einer dieser Fahrten Hegel dabei gewesen wäre 154 Die Ambivalenz könnte also größer kaum sein, zumal auch im Blick auf Hegels weltgeschichtliche Perspektive Dessen Leitmuster wird bestimmt von Fortschritt „im Bewusstsein des Geistes von seiner Freiheit“ 155 Dieser Fortschritt, so Hegel in seinen von 1822/23 bis 1830/31 gehaltenen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, hat sich im Verlauf der Weltgeschichte in vier Etappen konkretisiert Ausgangspunkt war die vom Despotismus bestimmte „Orientalische Welt“, in der die Freiheit allein in der des Despoten bestand Es folgte die „Griechische Welt“, insofern sie sich in der Freiheit der Bürger (exklusive der Sklaven) als antike Demokratie organisierte Daran schloss die aristokratische „Römische Welt“ mit der Freiheit der Patrizier an Schließlich entfaltete sich in der „Germanischen Welt“ der moderne Staat auf der Grundlage des christlichen Menschenbildes, in dem die Freiheit als Mensch im Zentrum steht Weltgeschichtlicher Fortschritt156 hat damit sein Ziel erreicht Nun wird „der Staat zum Bilde und zur Wirklichkeit der Vernunft entfaltet“ 157 Fortschritt hat jedoch für Hegel Grenzen Denn: Nicht zufrieden, daß vernünftige Rechte, Freiheit der Person und des Eigentums gelten, […] setzt der Liberalismus allem diesem das Prinzip der Atome, der Einzelwillen entgegen: alles soll durch ihre ausdrückliche Macht und ausdrückliche Einwilligung geschehen Mit diesem Formellen der Freiheit, mit dieser Abstraktion lassen sie nichts Festes von Or-

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Hegel, Grundlinien (wie Anm  127), § 5 (S  33 f ) Rosenkranz, Karl: Georg Wilhelm Friedrich Hegel’s Leben; Berlin 1844 Kaube, Hegel (wie Anm  13), S  312 f Huber, Verfassungsgeschichte (wie Anm  94), S  32 Dazu prägnant: Ruppert, Karsten: Die Idee des Fortschritts in der Neuen Geschichte (=  Eichstätter Antrittsvorlesungen 1); Wolnzach 2000, S  10 f Hegel, Grundlinien (wie Anm  127), S  281

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ganisation aufkommen Den besonderen Verfügungen der Regierung stellt sich sogleich die Freiheit entgegen, denn sie sind besonderer Wille, also Willkür Der Wille der Vielen stürzt das Ministerium und die bisherige Opposition tritt nunmehr ein; aber diese, sofern sie jetzt Regierung ist, hat wieder die Vielen gegen sich So geht die Bewegung der Unruhe fort Diese Kollision, dieser Knoten, dieses Problem ist es, an dem die Geschichte steht und den sie in künftigen Zeiten zu lösen hat 158

Der europäischen Welt der Restauration bot dies eine willkommene Legitimationsfunktion im Blick auf das „Erreichte“ Liberale Kritiker machten dagegen das noch „Unerreichte“ zum Thema Für sie kam von Hegel keine Unterstützung Zu offensichtlich waren seine Bedenken Im 20 Jahrhundert haben sich dagegen rechte und linke Denkextreme auf ihn berufen Karl Popper hebt deshalb auch die „Ähnlichkeiten zwischen dem Marxismus der Hegelschen Linken und ihrem faschistischen Gegenstück“ hervor 159 Für beide Denkrichtungen rekurriert er auf „die Idee der weltgeschichtlichen Persönlichkeit“ und mit ihr auf „das Arsenal des ewigen Aufstands gegen die Freiheit“ 160 Popper hat diesen das 20 Jahrhundert entscheidend prägenden „Aufstand“ existenziell erlebt und erlitten In Hegel sah er dafür einen „falschen Propheten“, weil er „unerbittlich auf der absolut moralischen Autorität des Staates besteht“ 161 Wirth hatte dagegen in den 1820er und 30er Jahren ein anderes Autoritätsverständnis gewonnen Rückblickend stellt er deshalb in seiner „Denkwürdigkeiten“ (1844) fest, dass er sich bereits in seiner Studienzeit „gegen die Hegel’sche Richtung [gewandt hatte], in dessen Folge ich sie gänzlich ablegte“ 162 Und mehr noch: „Meine Überzeugung gebietet mir jetzt oft, dem Systeme und den nachmaligen Grundsätzen meines alten Lehrers mit Nachdruck zu widersprechen “163 Denn hatte der Nürnberger Lehrer und Rektor in seinem Schüler zwar „den unsterblichen Funken der Freiheit“ entzündet – „dafür stammle ich noch seiner Asche meinen tiefgefühlten Dank“164 –, so sah Wirth in den im hegelschen Denken gesetzten Schranken immer stärker zukunftshemmende Strukturmängel bzw -defizite in Bezug auf die staatlichen Ordnungsprinzipien Grundrechte, Volkssouveränität und Gewaltenteilung 158

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (= Werke 12); Frankfurt a M 1986, S  534 f 159 Ottmann, Henning: Die Neuzeit Das Zeitalter der Revolutionen (= Geschichte des politischen Denkens 3/2); Stuttgart 2008, S  270  – Kaltenbrunner, Gerd Klaus (Hrsg ): Hegel und die Folgen; Freiburg 1970  – Kiesewetter, Hubert: Von Hegel zu Hitler; Hamburg 21995  – Löwith, Karl (Hrsg ): Die Hegelsche Linke; Stuttgart 1962 160 Popper, Karl R : Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd  2 Falsche Propheten Hegel, Marx und die Folgen (= Karl R Popper, Gesammelte Werke 6); Tübingen 82003, S  86 161 A a O , S  40 162 Wirth, Denkwürdigkeiten (wie Anm  3), S  31 163 A a O , S  26 164 Ebenda

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Solch erweitertem politischen Denken hat sich Hegel bis zu seinem Tod nicht geöffnet Das belegt seine letzte Veröffentlichung Über die englische Reformbill von 1831 Hegel erörtert darin eine der wesentlichen Etappen auf dem im 19 Jahrhundert langen Weg der Ausweitung des englischen Unterhaus-Wahlrechts: Die dem englischen Parlamente gegenwärtig vorliegende Reformbill beabsichtigt, in die Verteilung des Anteils, welchen die verschiedenen Klassen und Fraktionen des Volks an der Erwählung der Parlamentsmitglieder haben, Gerechtigkeit und Billigkeit dadurch zu bringen, daß an die Stelle der gegenwärtigen bizarrsten, unförmlichsten Unregelmäßigkeiten und Ungleichheit, die darin herrscht, eine größere Symmetrie gesetzt werde Es sind Zahlen, Lokalitäten, Privatinteressen, welche anders gestellt werden sollen […] Von dieser Seite verdient die vorliegende Bill besondere Aufmerksamkeit 165

Ging es doch darum, „die Mittelschichten […] zufrieden zu stellen und dauerhaft zu binden, womit sie als Stützen der bestehenden Ordnung fungieren konnten“ 166 Hegels Sympathie dafür ist offensichtlich Dem steht jedoch entgegen: Sollte die Bill mehr noch durch ihr Prinzip als durch ihre Disposition, den dem bisherigen System entgegengesetzten Grundsätzen den Weg in das Parlament […] eröffnen, so daß sie mit größerer Bedeutung als die bisherigen Radikalreformer gewinnen konnten, daselbst auftreten könnten, so würde der Kampf um so gefährlicher zu werden drohen, als zwischen den Interessen der positiven Privilegien keine mittlere höhere Macht, sie zurückzuhalten und zu vergleichen, stünde, weil das monarchische Element hier ohne die Macht ist, durch welche ihm andere Staaten den Übergang aus der früheren, nur auf positivem Rechte gegründeten Gesetzgebung in eine auf die Grundsätze der reellen Freiheit basierte, und zwar einen von Erschütterung, Gewalttätigkeit und Raub rein gehaltenen Übergang verdanken konnten Die andere Macht würde das Volk sein, und eine Opposition, die auf einen dem Bestand des Parlaments bisher fremden Grund gebaut, sich im Parlamente der gegenüberliegenden Partei nicht gewachsen fühlte, würde verleitet werden können, im Volke ihre Stärke zu suchen und anstatt einer Reform eine Revolution herbeizuführen 167

Das aber war für Hegel ein allzu hoher Preis Wirths Zielrichtung ging dagegen sehr viel weiter Er wurde in Rheinbayern einer der unmittelbarsten, tatkräftigsten und wirkmächtigsten Protagonisten liberal verstandener politischer Freiheit unter Inkaufnahme auch persönlicher Risiken: als Journalist der „Deutschen Tribüne“ (1831/32) wie Akteur des Hambacher Festes (1832) 168

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Hegel, Georg, Wilhelm Friedrich: Über die englische Reformbill; in: Blumenberg u a , Hegel, Politische Schriften (wie Anm  83), S  277 166 Schröder, Hans-Christoph: Englische Geschichte; München 32002, S  56 f 167 Hegel, Reformbill (wie Anm  165), S  320 f 168 Zu diesem Aspekt vgl den Anschlussbeitrag im folgenden Hambach-Jahrbuch

Der Theatermacher Johann Nepomuk Nestroy im Vormärz und in der Revolution von 1848/49 Karlheinz Lipp Einleitung Die Epoche des Vormärz stellt eine Zeit der gesellschaftlichen Umwälzungen dar 1 Literatur und Theater kommentieren auf ihre spezifische Art diese Entwicklungen 2 Anhand ausgewählter Theaterstücke des Autors und Schauspielers Johann Nepomuk Nestroy (1801–1862) soll dies aufgezeigt werden 3 Nestroys Schaffen umfasst in fast 40 Jahren 83 Theaterwerke, nur ein Viertel davon entstand nach dem Revolutionsjahr 1848, und reflektiert auf der Bühne grundlegende Veränderungen des Vormärz: Aufbruch des liberalen Bürgertums, Weiterentwicklung der Industriellen Revolution, Entstehung des Industrieproletariats, Niedergang des alten Handwerks, Überwindung der feudalen Ordnung und Produktionsverhältnisse sowie Herausbildung des Kapitalismus

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Norbert Otto Eke (Hrsg ), Vormärz-Handbuch, Bielefeld 2020; Wilhelm Bleek, Vormärz Deutschlands Aufbruch in die Moderne, München 2019; Helmut Bock (Hrsg ), Unzeit des Biedermeier Historische Miniaturen zum Deutschen Vormärz 1830 bis 1848, Köln 1986 Der deutsche Vormärz Texte und Dokumente, hrsg von Jost Hermand Stuttgart 1997; Vormärz Erläuterungen zur deutschen Literatur, Leipzig 10 Auflage 1977; Horst Denkler: Revolution und Restauration Politische Tendenzen im deutschen Drama zwischen Wiener Kongreß und Märzrevolution, München 1973 Friedrich Sengle, Biedermeierzeit Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1815–1848, Band 3, Stuttgart 1980, 191–264

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Zeittafel4 1801 7 Dezember: Johann Nepomuk Eduard Ambrosius Nestroy wird als zweites Kind des Juristen Dr Johann Nestroy und seiner Frau Magdalena (geb Konstantin, früher Tod 1814) in Wien geboren 1810–1816 Besuch des Akademischen Gymnasiums und des Schottengymnasiums 1815 Wiener Kongress 1817–1820 Graf Sedlnitzky wird Präsident der Wiener Polizei- und Zensurbehörde Nestroy beginnt sein Studium (drei Philosophieklassen) und tritt 1818 als Sänger in Händels „Timotheus“ auf 1820 studiert er zwei Semester Jura und beginnt mit humoristischen Musik- und Sprechrollen auf Liebhaberbühnen 1819 Karlsbader Beschlüsse 1822 Zwei-Jahres-Vertrag am k k Hoftheater nebst dem Kärntnertor, Wiens Opernhaus, nach seinem Debüt als Sarastro in Mozarts „Zauberflöte“ 1823 7 September: Hochzeit mit Wilhelmine von Nespiesny (1824: Sohn Gustav), Vertrag mit dem Deutschen Theater Amsterdam, 18 Oktober: Debüt als Kaspar in Webers „Freischütz“ 1825 Seuche in Amsterdam, 13 August: letzter Auftritt, Vertrag mit dem Theater Brünn 1826 Erste Probleme mit der Zensur und der Polizei – viele Begegnungen dieser Art werden folgen

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W Edgar Yates, „Bin Dichter nur der Posse“: Johann Nepomuk Nestroy Versuch einer Biographie Wien 2012; Otto Basil, Johann Nestroy in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek, 8 Auflage 2001; Jürgen Hein, Johann Nestroy, Stuttgart 1990; Otto Rommel, Johann Nestroy Ein Beitrag zur Geschichte der Wiener Volkskomik, Wien 1930; Walter Schübler, Nestroy Eine Biographie in 30 Szenen, Salzburg, Wien, Frankfurt am Main 2001; Renate Wagner, Der Störenfried Johann Nestroy – ein Theaterleben, Wien 2012; Dies : Nestroy zum Nachschlagen Sein Leben – Sein Werk – Seine Zeit, Graz, Wien, Köln 2001

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30 April: Der Polizeipräsident Karl Muth annulliert Nestroys Brünner Kontrakt, Verträge mit den Theatern in Graz und Preßburg Die Künstlervereinigung „Ludlamshöhle“ (Mitglied u a : Franz Grillparzer) wird als angeblich „staatsgefährdend“ aufgelöst 1827 Wilhelmine trennt sich von ihrem Ehemann wegen eines Liebesverhältnisses mit dem Grafen Batthyany Der Sohn bleibt beim Vater 13 Dezember: Nestroys erste Lokalposse „Der Zettelträger Papp“ wird aufgeführt 15 Dezember: Nestroy spielt erstmals eine seiner berühmtesten Rollen, den Invaliden Sansquartier in „Zwölf Mädchen in Uniform“ von Louis Angely 1828 Nestroy lernt in Graz seine Lebensgefährtin Marie Weiler kennen Aus dieser Beziehung gehen der Sohn Carl und die Tochter Maria Cäcilia hervor 1830 Julirevolution in Paris Letztes Auftreten Nestroys an einem Opernhaus 1831 Vertrag als Komiker und Bühnendichter mit dem führenden Theaterunternehmer Carl Carl (eigentlich: Carl Andreas Bernbrunn) am Theater an der Wien Erster gemeinsamer Auftritt des großen, hageren Nestroy mit dem kleinen, korpulenten Wenzel Scholz, beide bilden bis zum Tode von Scholz (1857) ein kongeniales Bühnenpaar 1833 11 April: Uraufführung von Nestroys großem Erfolg „Der böse Geist Lumpazivagabundus“ Als Knierim spielt Nestroy bis kurz vor seinem Tode die Rolle seines Lebens 1834 5 März: Tod des Vaters in ärmlichen Verhältnissen Abwendung Nestroys vom Zauberstück und Hinwendung zu satirischen Volksstücken Die Wiener Ministerialkonferenzen verschärfen die Reaktion: Pressezensur, politische Verfolgungen 1835 2 März: Tod des Kaisers Franz I Nachfolger wird sein Sohn, der regierungsunfähige Ferdinand I , dem eine Geheime Staatskonferenz an die Seite gestellt wird In seiner Regierungszeit (bis 1848) kommt es verstärkt zu Stimmen, welche liberale Reformen fordern, jedoch abgelehnt werden

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1836 Nestroy muss eine fünftägige Gefängnisstrafe verbüßen wegen „ehrenrührigen Extemporierens“ gegenüber seinem Kritiker Franz Wiest 1840 15 Dezember: „Der Talismann“ wird vom Publikum und der Kritik ausgezeichnet aufgenommen 1841 7 September: Wilhelmine von Nespiesny muss die Alleinschuld der Zerrüttung der Ehe auf sich nehmen, die gerichtliche Scheidung erfolgt am 15 Februar 1845 1842, 1844 und 1846 Große Erfolge mit „Einen Jux will er sich machen“, „Der Zerrissene“ sowie „Der Unbedeutende“ 1844: Militärische Niederschlagung des Weberaufstands in Schlesien und des Arbeiteraufstands in Prag 1845 Eine Petition von Schriftstellern (u a Franz Grillparzer, nicht jedoch Nestroy) fordert zur Reform (nicht Abschaffung) der Zensur auf – und wird abgelehnt Die Lebensmittelpreise verdoppeln sich, die Arbeitslosigkeit steigt und Betriebe gehen pleite 1847 Nestroy bittet seinen langjährigen und loyalen Freund Ernst Stainhauser um Geld für Liebschaften und Spielschulden, die in den folgenden Jahren anhalten werden 10  Oktober: Engpässe bei Lebensmitteln, Preiserhöhungen und Entlassungen führen zu Unruhen in Wien 10 Dezember: Eröffnung des neuen Carl-Theaters mit dem erfolgreichen Einakter „Die schlimmen Buben in der Schule“ 1848 13 März: Beginn der Revolution in Wien 14 März: Abschaffung der Zensur 6 April: Der Orden der Ligorianer wird aus Wien vertrieben 21 Mai: Nestroys Äußerungen in „Die lieben Anverwandten“ über das Frankfurter Parlament der Paulskirche stoßen beim Publikum auf schroffe Ablehnung Die geforderte Entschuldigung auf der Bühne bleibt aus 1 Juli: Nestroys „Freiheit in Krähwinkel“ wird positiv aufgenommen 1  November: Kapitulation Wiens, es kommt zu Massenverhaftungen und öffentlichen Hinrichtungen 9 November: Erschießung Robert Blums in Wien-Brigittenau 11 November: Wiedereinführung der Zensur 2 Dezember: der erst 18jährige Franz Joseph wird Kaiser (bis 1916)

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1849 In seinen Stücken dieses Jahres reflektiert Nestroy die militärisch niedergeschlagene Revolution 1850/51 Nestroys Stücke dieser Jahre bleiben erfolglos 1852 Achtungserfolg mit „Kampl“ 1854 15 Mai: Tod von Carl 1 November: Nestroy leitet das Carl-Theater als Pächter und Direktor 1856 Monatelanges Zerwürfnis zwischen Nestroy und Weiler mit anschließender Versöhnung 9 Dezember: Nestroy überträgt Weiler die Leitung des Carl-Theaters 1858 Erneutes Zerwürfnis zwischen Nestroy und Weiler mit anschließender Versöhnung 1859 Der wohlhabende Nestroy kauft ein Stadthaus in Graz und eine Villa in Ischl 1860 Auftritt als Jupiter in Jacques Offenbachs Operette „Orpheus in der Unterwelt“ 30  Oktober: Abschied vom Publikum des Carl-Theaters Übersiedlung nach Graz 1862 Die letzten Stücke Nestroys „Frühere Verhältnisse“ und „Häuptling Abendwind“ erscheinen Letzte Auftritte in Wien und Graz 25 Mai: Tod Nestroys Der Leichnam wird in Wien auf dem Währinger Friedhof beigesetzt 1881 erfolgt die Exhumierung und Beisetzung in einem Ehrengrab der Stadt Wien auf dem Zentralfriedhof (Gruppe 32 A, Nummer 6) Weiler (Tod: 1864) wird im Ehrengrab von Nestroy beigesetzt, allerdings ohne Namensnennung auf dem Grabstein Dies erfolgt erst 2004 Zahlreiche Plätze und Straßen in Österreich sind nach Nestroy benannt Im Jahre 1973 gründet sich die Internationale Nestroy-Gesellschaft Der NESTROY-Preis würdigt seit 2000 hervorragende Leistungen auf den Bühnen Österreichs und wird alle zwei Jahre vergeben

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Nestroy und das Wiener Volkstheater im Vormärz: Zensur, Kommerz und Satire5 Geprägt wurde das Alt-Wiener Volkstheater durch Autoren (keine Autorinnen) wie Josef Alois Gleich, Karl Meisl und Adolf Bäuerle Ihre Stücke, die in unserer Gegenwart nicht mehr gespielt werden, dienten dazu, das Publikum zum Lachen zu bringen – weniger zum kritischen Denken über die scheinbar heile Welt der Habsburger Mit seinem Stück „Lumpazivagabundus“ (1833) entfernte sich Nestroy von dieser Welt der Märchen, Feen und Fantasien des Alt-Wiener Volkstheaters Nestroy schrieb und spielte auf der Bühne humoristische, groteske Satiren, die Gegebenheiten seiner Zeit deutlich kritisierten und den Polizeistaat Metternichs hinterfragten Ab den 1820er Jahren entwickelte sich zunehmend ein Konsumdenken Stücke, die einen Erfolg versprachen, wurden für den schnelllebigen Theatermarkt produziert Autoren agierten als Lohnschreiber Durch den kapitalistischen Theatermanager Carl Carl beschleunigte sich diese Tendenz Carl (eigentlich: Carl Andreas Bernbrunn) entstammte einer Bankiersfamilie und entwickelte sich ab 1827 zum monopolistischen Großunternehmer der Wiener Unterhaltungsindustrie, berüchtigt für seine ausbeuterischen Verträge mit den Mitgliedern des Ensembles mit zumeist geringen Gagen und erheblichen Gewinnen für sich selbst Der Millionär Carl brachte lokale Wiener Stücke und Varietés auf die Bühne, mitunter mit einem monströsen Aufwand – Hauptsache die Kasse klingelte Theaterstücke, die keinen Erfolg zeigten, wurden unverzüglich vom Spielplan abgesetzt Dies galt auch für Werke Nestroys, der insgesamt 23 Jahre mit Carl zusammenarbeitete Noch viele Jahre nach seinem Tod galt Nestroy als ein vermeintlicher Lustspielautor, der Stücke mit geringem Tiefgang publizierte Einen Durchbruch in der Rezeption Nestroys gelang dem Satiriker Karl Kraus, der den Satiriker Nestroy würdigte – Anlass bot Nestroys 50 Todestag im Jahre 1912 6 Berühmtheit erlangte Nestroy als Autor und Schauspieler durch seinen ausgeprägten Sinn für den Sprachwitz Als Sprachjongleur schuf er: Variationen über ein Wort, humorvolle Namen, Anspielungen auf Klassiker der Literaturgeschichte, lustige Parodien und Satiren sowie bizarre

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Jürgen Hein, Das Wiener Volkstheater Raimund und Nestroy, Darmstadt 31997; Erich Joachim May, Wiener Volkskomödie und Vormärz, Berlin 1975; Viennese Popular Theatre A Symposium Das Wiener Volkstheater Ein Symposium, hrsg von W Edgar Yates und John R P McKenzie, Exeter 1985 Nestroy  – Weder Lorbeerbaum noch Bettelstab, hrsg vom Österreichischen Theatermuseum Wien 2000; Die Welt steht auf kein Fall mehr lang Johann Nestroy zum 200 Geburtstag Katalog zur 277 Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien, Wien 2001; Jürgen Hein / Claudia Meyer: Theaterg’schichten Ein Führer durch Nestroys Stücke, Wien 2001; Theater und Gesellschaft im Wien des 19 Jahrhunderts, hrsg von W Edgar Yates und Ulrike Tanzer, Wien 2006; Volker Klotz, Bürgerliches Lachtheater Komödie-Posse-Schwank-Operette, 4 Auflage, Heidelberg 2007 Karl Kraus, Nestroy und die Nachwelt, Frankfurt am Main 1975

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Klänge des Wienerischen 7 Seinen Kritiker Moritz Gottlieb Saphir bezeichnete Nestroy in einem Offenen Brief vom 18 Februar 1849 als „Vomkunstrichterstuhlherabdieleutevernichtenwoller “ Die Arbeit Nestroys wurde beeinträchtigt durch die Zensurstelle der Monarchie Die rigide Zensur der Habsburger in der ersten Hälfte des 19 Jahrhunderts zeigte sich bereits in der Einleitung der „Vorschrift für die Leitung des Censurwesens“ vom 14  September 1810 Kein Lichtstrahl, er komme woher er wolle, soll in Hinkunft unbeachtet und unerkannt in der Monarchie bleiben, oder seiner möglichen nützlichen Wirksamkeit entzogen werden; aber mit vorsichtiger Hand sollen auch Herz und Kopf der Unmündigen vor den verderblichen Ausgeburten einer scheußlichen Phantasie und vor dem giftigen Hauche selbstsüchtiger Verführer und vor den gefährlichen Hirngespinsten verschrobener Köpfe gesichert werden 8

Es gilt nicht nur die Zensur zu beachten sondern ebenfalls die Selbstzensur, die Nestroy übte So ist sein Stück „Der alte Mann mit der jungen Frau“ (1849) vom Autor selbst nicht auf die Bühne gebracht worden weil er – nicht zu Unrecht – Probleme mit der Zensur befürchtete Für seine Theaterstücke bediente sich Nestroy überwiegend bei Autoren aus Frankreich und Großbritannien Nestroy übersetzte, bearbeitete und übertrug diese Vorlagen ins Wienerische und ergänzte sie um seine unverwechselbare satirische Art 9 Verschiedene Formen von Literatur, auch Theaterstücke, können dazu dienen, historische Erkenntnisse konkret zu veranschaulichen und dürfen daher als Quelle benutzt werden Dies gilt auch für einige Werke Nestroys, die einen Einblick in die Sozial- und Alltagsgeschichte Österreich-Ungarns im Vormärz bieten 10

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Herbert Hunger, Das Denken am Leitseil der Sprache Johann Nestroys geniale wie auch banale Verfremdungen durch Neologism, Wien 1999; Jürgen Hein, Spiel und Satire in der Komödie Johann Nestroys, Bad Homburg 1970; Siegfried Brill, Die Komödie der Sprache Untersuchungen zum Werke Johann Nestroys, Nürnberg 1967 Zitiert nach Julius Marx, Die österreichische Zensur im Vormärz, München 1959, 73 Susan Doering, Der wienerische Europäer Johann Nestroy und die Vorlagen seiner Stücke, München 1992 Alois Eder, Literarische Sozialkritik im Vormärz Nestroys Werk als Quelle der Sozialgeschichte, in: Beiträge zur historischen Sozialkunde, 3, 1973, 48–53

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Vorrevolutionäre Possen: Nestroys Theaterstücke „Der Zerrissene“ (1844), „Der Unbedeutende“ (1846), „Der Schützling“ (1847) sowie „Die schlimmen Buben in der Schule“ (1847) Bereits in dem Zeitraum vor dem Revolutionsjahr 1848 publizierte Nestroy Stücke, die eine soziale Kritik an dem Gesellschaftssystem der Donaumonarchie ausübten und damit indirekt auf eine Revolution hinarbeiteten 11 Vier von ihnen sollen vorgestellt werden Der Zerrissene (1844) Im Mittelpunkt dieser Posse mit Gesang in drei Akten steht der reiche Herr von Lips, der das Kapital für sich arbeiten lässt Geprägt ist der Lebensstil des wohlhabenden Nichtstuers durch Feste sowie Trinkgelage mit seinen vermeintlichen Freunden, die ihn umschwärmen Inzwischen haben sich bei ihm Langeweile, Melancholie, Misanthropie, Selbstmordgedanken und ein tief sitzender Weltschmerz eingestellt Sein Kapital entfremdet ihn zusehends zur Welt und den Menschen Nach seinem Auftrittslied sagt Lips (1  Akt, 5  Szene): Armuth is ohne Zweifel das Schrecklichste Mir könnt’ einer Zehn Millionen herlegen, und sagen, ich soll arm seyn dafür, ich nähmet’s nicht Und was schaut andererseits beym Reichthum heraus? Auch wieder ein ödes abg’schmacktes Leb’n Langeweile heißt die enorme, horrible Göttin, die gerade die Reichen zu ihrem Priesterthum verdammt Palais heißt ihr Tempel, Salon ihr Opferaltar, das laute Gamezen [= Gähnen] und das unterdrückte Gähnen ganzer Gesellschaften ist der Choral und die stille Andacht, mit der man sie verehrt   – […] meine Gelder liegen sicher, meine Häuser sind assecuriert [= versichert], meine Realitäten [= Grundstücke] sind nicht zum Stehlen – ich bin der Einzige in meiner Famili, folglich kann mir kein theurer Angehöriger sterben, ausser sich selber, und um mich werd ich mir auch die Haar’ nicht ausreissen, wenn ich einmahl weg bin – für mich is also keine Hoffnung auf Aufrieglung [= Anregung] auf Impuls Jetzt hab’ ich Tafel g’habt, wenn ich nur wüßt’, wie ich bis zur nächsten Tafel die Zeit verbring’ Mit Liebesabentheuern?  – mit Spiel – ? das Spielen is nix für einen Reichen, wem’s Verlieren nicht mehr weh’ thut, dem macht’s G’winnen auch ka Freud’  – Liebesabentheuer  – ? Da muß ich lachen Für einen Reichen existieren keine Abentheuer S’ Geld räumt zu leicht die Hindernisse auf die Seiten 12 11 12

Susanne Ghirardini-Kurzweil, Das Theater in den politischen Strömungen der Revolution von 1848, Diss München 1961 [Masch ] Johann Nestroy, Historisch-kritische Ausgabe, Stücke 21, Hinüber – Herüber; Der Zerrissene, hrsg von Jürgen Hein, Wien, München 1985, 34 f Die Rechtschreibung folgt stets dem Original Nestroys Regieanweisungen bleiben bei allen Zitaten unberücksichtigt

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Die völlige Übersättigung des Kapitalisten ist nicht nur ein individuelles Problem, sondern wird von Nestroy auf die Existenz des neu entstandenen Industriebürgertums bezogen In einer ganz anderen Welt leben der Schlosser Gluthammer und Kathi, das Patenkind des Herrn von Lips Gluthammer schildert, dass seine Geliebte verschwunden ist Er hat sich verschuldet, da er ihr den Beruf der Hutmacherin finanziell ermöglichen wollte Auch bei Kathi, eine schlecht bezahlte Weißnäherin, geht es um Geld, da sie ihrem Paten 100 Gulden zurückzahlen will, die dieser ihrer Mutter geborgt hatte Um seinem öden Dasein einen besonderen Kick zu verschaffen, beschließt der Millionär, die nächste Frau zu heiraten, die ihm begegnet – und es erscheint die äußerst berechnende Madame Schleyer Eine Anspielung Nestroys auf das Kapital als Grundlage von Eheschließungen Und Lips schläft in dem Zeitpunkt, da Schleyer ihm ihre Entscheidung bekanntgeben will – welch eine Ironie auf den Heiratsmarkt Gluthammer erkennt ihn Madame Schleyer seine Geliebte Es kommt zu einem Handgemenge zwischen ihm und Lips Beide stürzen in einen Bach und vermuten, sie hätten den jeweils anderen getötet Jedoch überleben beide, was sie zunächst nicht wissen, und flüchten auf das Gut des Pächters Krautkopf Kathi, die ihren Paten erkennt und liebt, verkleidet diesen in einen Knecht Der reiche Mann lernt nun, nicht ohne Komik, die bäuerliche Arbeits- und Lebenswelt kennen – und ist völlig ungeeignet für das Landleben Krautkopf, Kathis Vetter, zeigt sich als Pächter überfordert Dies steigert sich noch als inzwischen auch Gluthammer auf das Gut, das Lips gehört, flüchtet Die Begegnung der beiden angeblich Ertrunkenen konzipiert Nestroy voller Witz Ein Justitiar möchte das Testament des angeblich verstorbenen Lips verlesen – und der Zerrissene hört sich an, was die drei Freunde Übles über ihn denken Es gelingt dem Millionär seinen letzten Willen zu ändern: die falschen Freunde gehen leer aus, und ausgerechnet Kathi, die wenig vom Geld hält, wird Alleinerbin Die Männer bemühen sich umgehend um Kathi, die sich allerdings für ihren Paten entscheidet Gluthammer bekommt eine Entschädigung, um wieder in seinem Beruf zu arbeiten Lips bekundet gegenüber dem Justitiar, dass er sich nun in die stille Verborgenheit zurückziehen möchte Der reiche Mann verändert sich durch das arme Mädchen vom Lande – ein idyllisches oder ein ironisches Happy-End? Die Uraufführung dieses Stückes fand im Theater an der Wien am 9 April 1844 statt und erzielte ein großen Erfolg Nestroy spielte den Herrn von Lips Zu Lebzeiten des Autors wurde das Stück 106mal aufgeführt und erfreut sich auch in unserer Gegenwart eines positiven Zuspruchs

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Der Unbedeutende (1846)13 In einem Konflikt um die Ehre stehen sich in Nestroys Posse mit Gesang in drei Aufzügen der bürgerliche Aufsteiger Puffmann, einflussreicher Sekretär des Barons von Massengold und der Zimmermann Peter Span gegenüber Gegen eine hohe Summe verhalf Puffmann, der einen Geburtsschein fälschte dem Mündel Massengolds, Hermine, zur Flucht Um sich hinsichtlich des Zeitpunktes abzusichern, sorgt Puffmann, der, so Massengold, immer die Wahrheit sagt, durch ein Gerücht dafür, dass er die fragliche Nacht angeblich bei der völlig unbescholtenen Klara Span zugebracht habe Die Gerüchteküche brodelt, ein feiner Herr sei bei der Klara gewesen – und durch dieses erlogene Liebesabenteuer wird die junge Frau gesellschaftlich isoliert Klaras Bruder, Peter, lässt diesen Angriff auf die Familienehre nicht auf sich sitzen Es gelingt ihm schließlich durch geschickte Aktionen den Verleumder aufzuspüren, zu stellen und ihn zu demaskieren Puffmann, der seine Stellung bei Massengold nicht verlieren möchte, versucht mehrfach seine Alibis und entsprechende Zeugenaussagen zu kaufen Peter Span, der Handwerker, zeigt sich gegenüber dem Sekretär unbeugsam und drängt auf eine öffentliche Rehabilitierung seiner Schwester Eindrücklich zeigt dies ein Dialog zwischen Span und Puffmann hinsichtlich des 7 September, des Tages der vermeintlichen Liebesgeschichte (3  Akt, 23  Szene) Spans Äußerungen gleichen einer revolutionären Drohung PUFFMANN Freund, Er wird doch nicht – PETER Gerade jetzt mit doppelter Unerbittlichkeit auf die Erklärung dringen! Sieben is die Zahl des Bösen, mit Ihrem Leibnumero [= Lieblingszahl] geh’ ich Ihnen zu Leib Unsere abgeschnittene Ehre kann Ihnen Ihr ganzes Ansehen kosten Sie sollen womöglich Ihre Ehrenstelle verlieren, weil sie bei Ihnen, wie bei manchem Anderen, nur die Stelle der Ehre vertritt PUFFMANN Nehm Er Raison an, Er wird’s bereuen! PETER Drohen Sie nicht, Sie Hochgestellter, der gerechte Zorn hat Flügel, die einem hoch über jeden Beleidiger erheben Wart nur, Bedeutender, du sollst die Bedeutendheit des Unbedeutenden empfinden 14

Auch wenn die Herstellung der Familienehre im Vordergrund der Posse steht, so fehlen Angaben auf soziale Probleme nicht Im Oktober 1845, also nur wenige Monate

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Jürgen Hein, Possen- und Volksstück-Dramaturgie im Vormärz-Volkstheater Zu Johann Nestroys ‚Zu ebener Erde und erster Stock‘ und ‚Der Unbedeutende‘, in: Der Deutschunterricht, 31, 1979, 122–137; Wolfgang Frühwald, Die Ehre der Geringen Ein Versuch zur Sozialgeschichte literarischer Texte im 19 Jahrhundert, in: Geschichte und Gesellschaft, 9, 1983, 69–86 Johann Nestroy, Historisch-kritische Ausgabe, Stücke 23/II Der Unbedeutende, hrsg von Jürgen Hein, Wien 1995, 72

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vor der Uraufführung, wird in vielen Polizeiberichten auf die prekäre Situation des Proletariats in den Wiener Vororten hingewiesen Peters Couplet veranschaulicht dies in den Strophen drei, fünf und acht (3  Akt, 16  Szene) anhand der Themen: Arbeitslosigkeit, Hunger, Wohnungsprobleme und Lebensmittelpreise 3 Eine Stelle is offen Nach zwanz’gjährigen Hoffen; D’Praktikanten [= Bewerber], die rennen, Wenn s’ vor Hunger noch können; Die schon z’ schwach auf ’n Füßen, Es schriftlich thun müssen So auch d’schwarzen Fracklosen, Besitzer lichter Hosen; Kurz Alle thun s’ bitten Mit Schrift und Visitten Solche Fälle, na ja, warn schon tausendmal da Doch, daß Einer saget: ‚Ich soll avanciren [= befördert werden], Da muß i depreziren [= verzichten]; ’s solln noch Jahre verfließen, Muß mich erst recht einschießen; Und dann wär’s auch billi, Ein z’wähln mit Famili; Sie werden vor mir und hinten Verdienstvollre finden; Unter uns prakticirt manch gar würdiger Greis ’ A Praktikant, der so redt, das wär ganz etwas Neus […] 5 Z’Georgi, z’ Michäli [= Der Georgstag am 23 April und der Michaelstag am 19 September waren die Termine der Mietzahlung ] Wann der Zins [= Miete] is kaum fälli Kummt er glei mitn Wachter, Wann d’Parteien wanen [= weinen], lacht er; Und thät’s d’Partei wagen, Beim Zins zahln zu sagen: Repratur wär sehr nöthig, Das nimmt er ungnädig; So a Begehrn wird verweigert, Zur Straf d’Partei gsteigert [= Miete erhöht] Solche Hausherrn, na ja, warn schon tausendmal da

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Doch, daß der Hausherr saget: ‚Sie thun viel spendirn, Habn Alls lassn reparirn; Die prächtign Tapetten, D’ neuen Öfen, die netten; Parketten von Ahorn, Aus an Zimmer sein zwa worn; Meiner Seel, es wär schändli, Wär i da nit erkenntli; Hundert Gulden von Zins laß i Ihnen nach zum Beweis ’ A Hausherr, der so redt, wär ganz etwas Neus […] 8 s’thut oft Mißjahre geben Fürs Korn und für d’ Reben; Kein Getreid fechst [= erntet] der Bauer, Die Weinbeer bleibn sauer Ka Zuspeis [= Beilagen zum Essen] kann wachsen, ’s Wetter macht solche Faxen, Daß sogar, wer sollt’s denken, Sich d’Erdäpfel kränken Natürlich heißt’s dann: heuer Wird’s unsinnig theuer – Solche Fälle, na ja, warn schon tausendmal da ’s gibt aber auch Jahre, wo Alles g’rath’t prächti, ’s Korn dick und hochmächti; ’s gedeiht Kelch [= Kohl] und Weizen, Die Obstbäume thun s’preizen [= stützen]; Antivi und Zeller [= Endivie und Sellerie], Zu klein werden Keller; Stoff zu zahllosen Affen [= Räuschen] Thut im Mostquantum schlafen; Daß in so ein Segen-Gottes-Jahr d’Lebensmittel-Preis Dann wolfeil’r auch wurden, wär ganz etwas Neus 15

Dieses Theaterstück war ein großer Publikumserfolg – so wurde Nestroy bei der Uraufführung am 2 Mai 1846 im Theater an der Wien 35mal vor den Vorhang gerufen Von 1846 bis 1857 wurde diese Posse über 90mal aufgeführt, in der Zeit der Reaktion nach 1848 allerdings nur noch 13mal

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Nestroy, Der Unbedeutende (wie Anm 14), 61–64

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Der Schützling (1847)16 Der Vormärz brachte eine „Doppelte Revolution“ (Eric Hobsbawm) mit sich, eine politische und eine technologisch-industrielle Auch Nestroy nahm diese Entwicklungen in seiner Posse auf Ein wichtiges Leitmotiv stellen Fortschritt und Technik dar – mit den daraus resultierenden Folgen Der Bier-, Wein- und Schnapskonsum bedeutete für Teile der Bevölkerung ein erhebliches Problem Dies zeigt sich im Gespräch des alkoholisierten, armen Buchbinders Pappinger mit dem Doktor Schwarz (2  Akt, 6  Szene, vgl ferner 4  Akt, 15  Szene) Sensationell muss es anmuten, dass Nestroy das Innere eines Gusseisenwerkes auf die Bühne bringt (3  Akt, 1 –6  Szene) Vor diesem Bühnenbild reflektieren die handelnden Personen über Aspekte der Industrialisierung Die Dampfkraft begründete und beschleunigte die Industrielle Revolution – und verdrängte das alte Handwerk Hier kam es zu Konflikten zwischen Altem und Neuen Denken Dies zeigt der Dialog zwischen Gottlieb Herb und dem Werkmeister Last über das alte Gusswerk (3  Akt, 2  Szene) GOTTLIEB Wird niedergerissen unabänderlich, die neue Dampfmaschin’ kommt auf den Platz LAST Zu was diese Änderungen! Das Guß- und Hammerwerck wird schon über hundert Jahr’ betrieben – GOTTLIEB Eben weil hir Alles schon über Hundert Jahr’ alt is, muß es anders, muß es neu werden LAST Ich werd’ das mein Lebtag’ nicht einseh’n – GOTTLIEB Wenn Ihr selbst gesteht, daß es Euch an Einseh’n mangelt, dann darf ’s Euch nicht wundern, wenn Ihr blind gehorchen müßt Wenn nur der Kutscher klar sieht, dann wird auch mit blinden Pferden das Ziel erreicht 17

Dass die Dampfkraft nicht unproblematisch ist, zeigt ein Hinweis auf einen „gesprungenen Dampfkessel“ (3  Akt, 13  Szene) Die Gewöhnung an die neue Fabrikdisziplin gelang nicht immer (3  Akt, 1  Szene) und die Schlägereien an der Kirchweihe stellten ein männliches Freizeitvergnügen dar (3  Akt, 4  Szene) Nestroy deutet die Konzen16

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Wolfgang Häusler, „Überhaupt hat der Fortschritt das an sich, daß er viel größer ausschaut, als er wirklich ist “ Stichworte für den Historiker aus Johann N Nestroys vorrevolutionärer Posse „Der Schützling“ (1847), in: Römische Historische Mitteilungen, 31, 1989, 419–451 Ders : Von der Massenarmut zur Arbeiterbewegung Demokratie und soziale Frage in der Wiener Revolution von 1848 Wien, München 1979; John R P McKenzie, Zur Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte von Nestroys vorrevolutionären Possen „Zwei ewige Juden und Keiner“ und „Der Schützling“, in: Nestroyana, 18, 1998, 40–49 Johann Nestroy, Historisch-kritische Ausgabe, Stücke 24/II, Der Schützling, hrsg von John R P  McKenzie, Wien 2000, 64 f

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tration von Wirtschaft und Banken an – und die Arbeiter fragen sich bange, was dies für sie bedeuteten könnte (3  Akt, 1  Szene) Konflikte deuteten sich auch im Aufeinandertreffen einer behäbigen, staatlichen Bürokratie und dem dynamischen Unternehmer an (1  Akt, 5  Szene) – von Nestroy satirisch dargestellt Bevor Gottlieb sein Lied über den Fortschritt singt, gibt er eine wegweisende, skeptische Einschätzung: „Ueberhaupt hat der Fortschritt das an sich, daß er viel größer ausschaut, als er wirklich ist “ Einen Höhepunkt in „Der Schützling“ bedeutet Gottliebs Couplet (4  Akt, 10  Szene) über den Fortschritt, das sechs lange Strophen umfasst Nestroy listet einige technische Erfindungen seiner Zeit auf, um diese kritisch zu hinterfragen – und damit auch den Fortschrittsgedanken zu problematisieren In der ersten Strophe kommt der Eisenbahn als wichtiges Merkmal der Industriellen Revolution zunächst eine positive Bedeutung zu, wobei auf die verschiedenen Abteile (1 Klasse: verglaste Fenster, 2 Klasse: Ledervorhänge, 3 Klasse: Holzbänke und ohne Dach) in der Eisenbahn hingewiesen wird Anschließend werden einige negative Aspekte (Unfälle, Liebesaffären, Verbrecherjagd) angedeutet Wie schön is jetzt’s Reisen Auf Schinen von Eisen, Die Menschheit in Massen Abtheilt auf 3 Klassen Thut d’Bahn dahin brausen, Die Tunel durchsausen; Wie die train’s dahin rasen! Die Conducteur blasen, Die Locomotive Hab’n auch ihre Pfiffe S’ Is wirklich famos, Wie der Fortschritt so groß! Hingeg’n wenn ein Unglück geschieht allenfalls, Was beym Landkutscher Quetschung war, kostet da den Hals Wer mit drey Amour’n z’frieden war in d’Vorstadt von Wien, Will jetzt extra ein Verhältniß noch haben in Brünn, Sonst haben s’ Ein’n in Simm[e]ring erwischt, gieng er durch, Jetzt kriegn s’ erst die Spitzbub’n weit hinter Preßburg Drum der Fortschritt hat beym Licht betrach’t, die Welt nicht viel glücklicher g’macht 18

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Nestroy, Der Schützling (wie Anm 17), 91 f

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In der zweiten Strophe wird der Einsatz von Äther (ab 1846) bei Operationen thematisiert Auch wenn die Schmerzen während eines chirurgischen Eingriffes durch die Narkose deutlich reduziert worden sind, so bleiben für Nestroy die Fragen nach dem Seelenheil dadurch ungelöst In der dritten Strophe verweist der Autor auf eine weitere technische Neuerung, die Fotografie Nestroy ließ sich oft privat und in Theaterrollen fotografieren So sind ab 1842 viele dieser bildlichen Quellen erhalten Anders als bei Gemälden, die eine gewisse Entstehungszeit voraussetzen, handelt es sich bei den Fotos um schnell entwickelte Produkte Diese Geschwindigkeit erkennt Nestroy schon – er sieht jedoch im Vergleich in der Malerei die wahre Kunst Der nächste technische Fortschritt ist die Telegraphie, welche die rasante Überwindung von Raum und Zeit bedeutet Nestroy wendet kritisch ein, dass bestimmte Nachrichten (sein Beispiel: Ehebruch) nicht unbedingt schnell übermittelt werden sollten In der letzten Strophe reflektiert Nestroy sehr kritisch die neueren Entwicklungen im Bereich des Tötens und der Waffentechnologie Das Zündnadelgewehr wurde 1841 konstruiert, 1846 folgte die Schießbaumwolle sowie 1847 das Nitroglyzerin In der Vorzeit da schossen die Helden die großen Mit Pfeil’n aus dem Köcher In die Leiber sich Löcher, Auf Distanz einer Meile Trafen die Pfitschipfeile Und daß von den Pfeilen Leichte Wund’n auch nicht heilen Hat der Brauch sich eingeschlichen, Daß Gift hab’n drauf g’strichen Solch Geschoß seyn wir froh, Is jetzt längst roccoco Drauf hat in freyen Stunden Das Pulver erfunden Ein deutscher ein böser, Was eig’ntlich d’Chineser Viel früher erfanden Das macht uns stark zu Schanden Soll’n wir nichts voraus haben An erfind’rischen Gaben?! Da wurden wir tolle, Und erfanden Schießwolle S’ Is wirklich famos, Wie der Fortschritt so groß

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Doch, wenn auf der Welt schon geschossen werd’n muß, Was gewinnt denn der Mensch bey ein baumwoll’nen Schuß? Wird der Tod durch a Kugel vielleicht minder hart, Wenn bey der Ladung mit Baumwoll verfahrt? Wird’s Grab minder kalt dadurch dadurch als s’ gewesen is, Wenn i a Schlafhaub’n in’n Stutzen lad’ und mich erschieß’? Drum der Fortschritt hat, beym Licht betracht’t, Die Welt nicht viel glücklicher g’macht 19

Im Frühjahr 1847 kam es zu einer Hungersnot, proletarische Menschen stürmten Metzgereien und Bäckereien Am 1 Juni wurden die Preise für Fleisch und Brot deutlich erhöht  – und dies führte zu einer Zuspitzung der politischen Situation Nach erneuten Preiserhöhungen und Entlassungen stürmten am 10 Oktober Hungernde und Arbeitslose in Wien erneut Bäckereien und Häuser von Fabrikanten Der Winter 1847/48 brachte eine weitere Verschlimmerung der ökonomischen Lage Die Soziale Frage wird auch von Nestroy gesehen So ist in der Bemerkung Pappingers „ißt kranke Erdäpfel, wenn er z’wenig Geld auf gesunde Ernährung hat“ (1  Akt, 11  Szene) ein Hinweis auf die Missernten im Europa der 1840er Jahre zu sehen Der Tischlergeselle Martin berichtet von der Putzwäscherin Nanny, dass sie „immer schon in aller Früh in die Arbeit geht, und um Achte auf ’n Abend hol’ ich s’ ab, und führ s’erst nach Haus “ (1  Akt, 1  Szene) Arbeitszeiten von 14 bis 16 Stunden gehörten für viele Menschen zum Alltag Selbst die Reduzierung der Kinderarbeit blockierten Unternehmer erfolgreich Ein Jahr bevor Karl Marx und Friedrich Engels das „Kommunistische Manifest“ (1848) veröffentlichten, spricht Gottlieb (1  Akt, 4  Szene): Ich hab’ ja alle Zweige der Industrie studiert, ich hab’ neue Mittel der Fabrikation und des Handels ersonnen, ich hab’ die Möglichkeiten aufgefunden, […] den Arbeitern Müh’ zu ersparen, ohne ihren Lohn zu vermindern, ich werd’ zeigen, daß der Maschinen-Freund, nicht immer Feind, – daß er auch Wohltäter der arbeitenden Classe seyn kann – das is doch gewiß ein schöner Beruf bey dem Ruhm und Anseh’n unausbleiblich sind

Im Jahre 1844 fielen die Proteste der schlesischen Weber auf eine große Resonanz In Prag sorgte im gleichen Jahr das Militär für die Niederschlagung des Aufstandes von Maschinenstürmern  – Nestroy weilte in jenem Jahr in der Metropole Böhmens Es war klar, dass die Zensur Aufstände niemals als Thema eines Theaterstückes zulassen würde Eine Folge der prekären Lage von Teilen der Bevölkerung bestand darin, dass Frauen zunehmend als Prostituierte arbeiteten, um ihren besonders niedrigen Lohn zu-

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Nestroy, Der Schützling (wie Anm 17), 95 f

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mindest teilweise zu erhöhen Solch ein Aspekt fehlt natürlich ebenso in den Komödien des Vormärz Nestroys „Der Schützling“ gehörte 1847 zu den Kassenerfolgen des Leopoldstädter und dann des Carl-Theaters In den Jahren 1848, 1853, 1854 und 1861 folgten weitere Vorstellungen Die schlimmen Buben in der Schule (1847)20 Nach mehrmonatiger Bauzeit eröffnete das Leopoldstädter Theater unter dem neuen Namen Carl-Theater seine Pforten Aus diesem Anlass wurde am 10 Dezember 1847 Nestroys „Die schlimmen Buben in der Schule“ uraufgeführt Dieses Theaterstück ist bis in unsere Gegenwart ein großer Publikumserfolg geblieben Die Burleske mit Gesang in einem Akt kritisiert auf höchst vergnügliche Art die Korruption und Protektion in der Schule des Vormärz In einer Form von Vor- und Selbstzensur verlegt Nestroy die Handlung in eine private Schlossschule, gleichwohl ist das öffentliche Schulsystem mit seiner Kritik gemeint Da die Schule stets ein Spiegelbild der Gesellschaft ist, möchte Nestroy über das Bildungssystem hinaus auch die Gesellschaft der Biedermeier-Ära treffsicher bloßstellen Daher versteht sich dieser Einakter nicht als eine simple schulische Lausbubengeschichte Bereits von der ersten Szene an ist das Schicksal der Schlossschule vorgezeichnet – sie wird aufgelöst Der Schulmeister Wampl besitzt geringe Kenntnisse, verdient wenig und befürchtet den Verlust seiner Stelle Im Mittelpunkt des Stückes steht der Schüler Willibald Schnabel – eine Paraderolle für Nestroy, die er noch in seinem Todesjahr 1862 mit dann 61 Jahren gespielt hat Dieser kluge Schüler stammt aus ärmlichen Verhältnissen und demaskiert ein Schul- und Gesellschaftssystem, das die dummen Privilegierten protegiert Das Musterbeispiel dafür ist der Schüler Stanislaus, der Sohn des Gutsverwalters Herr von Wichtig Willibald erhält für seine kritische Sichtweise prompt die schlechteste Note („dritte Klass’“) Wampl prüft den Schüler, doch Willibald ist äußerst redegewandt in seinen Antworten, die jedoch nicht den Sätzen des Lehrbuches entsprechen, an die sich Wampl klammert Ergebnis: Willibald besteht die Prüfung nicht Bereits in seinem Auftrittslied (4  Szene) zeigt Willibald seinen Blick auf die Schule, in der die Jugendlichen nichts für das Leben lernen: „Die Welt is die wahre Schule “ Ich wär’ schon ein Knab, Recht brav, ab’r i hab Für’s erste kein Fließ Weil ich so schon All’s weiß

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Jürgen Hein, Schule in der Komödie, Komödie als Schule Zur didaktischen Dimension von Johann Nestroys „Die schlimmen Buben in der Schule“, in: Wirkendes Wort, 40, 1990, 192–197

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Allein die Professer Die wiss’n alles besser Ka Antwort is recht, In’s Zeugniß schreiben s’ ‚schlecht’ Dann merk ich nicht auf Ich spiel oder i rauff, Oder i friß etwas süß’s Oder i wetz’ mit die Füß! Auch schi[e]ß ich so gern Mit d’ Boxherndlkern [= Johannisbrot] Drum in d’ Sitten i waß Krieg ich auch 3te Klass’ In der Schule i dank, die Hände auf der Bank den Vortrag anhörn ohne schläfrig zu wer’n, Das Buch aufgeschlag’n Zu schwetzen nicht wag’n Wie a eiserner Aff [= Dummkopf] Sonst kriegt man a Straff Dieser schreckliche Druck Halt’t in Wachsthum uns z’ruck Und von d’ Bub’n thun s’ begehrn Große Männer solln s’ wer’n Und wenn m’r auch All’s kann Stelln s’ eim erst nirgends an Ja das muß eim antreib’n ein Esel zu bleib’n 21

Besten Anschauungsunterricht für die Korruption und Protektion in Schule und Gesellschaft des Vormärz bietet der Dialog zwischen Wampl und seiner Tochter Nettchen (8  Szene) WAMPL An der Macht der Verhältnisse is eben nichts Schönes Der Stanislaus muß ein Prämium [= Belohnung] kriegen NETTCHEN Nun, so giebt man dem dummen Buben eins WAMPL Das ist eben die Schwierigkeit Er ist ein dummer Bub und ich bin ein gerechter Mann, da schaut kein Prämium heraus

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Johann Nestroy, Historisch-Kritische Ausgabe, Stücke 25/I, Die schlimmen Buben in der Schule, hrsg von Friedrich Walla, Wien 2000, S  10 f

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NETTCHEN Vielleicht eifert es ihn für die Zukunft an WAMPL Das ist wahr, so geht’s, als der faulste Bub in der ganzen Schul, hat er die meiste Aneiferung nöthig NETTCHEN Man könnte ihm in dieser Beziehung, mehr als Ein Prämium geben WAMPL Du hast es abermahls getroffen Prämium für Geographie, extra für Geschichte, extra für Sprachlehre, separat für Rechenkunst, ganz apparte für die Naturlehre, und insbesondere für die gute Aufführung NETTCHEN Und die kriegt alle – ? WAMPL Alle der Stanislaus NETTCHEN Und was kriegn denn die anderen? WAMPL Die kriegen gar nix! NETTCHEN Damit werden sie nicht zufrieden seyn WAMPL Dann krieg’n sie Schläg’ NETTCHEN Da werden sie erst recht weinen WAMPL Sollen sich trösten, alles geht vorüber, in Hundert Jahren sind ganz andre Bub’n auf der Welt NETTCHEN Aber die Gerechtigkeit WAMPL Ja freylich, die verflixte Gerechtigkeit – hm – hm NETTCHEN In der Sprachlehr ist der kleine Grob der Beste WAMPL Und sein Vater, der Inspector, lad’t mich alle Sonntag ein, der Bub muß ein Prämium kriegen NETTCHEN In der Geografi verdient’s der Försterische Anton WAMPL Durch die Protection seines Vaters verlauft sich manch herrschaftlicher Haas in meine Kuchel [= Küche] – ’s thut’s nicht ohne Prämium NETTCHEN Des Kellermeisters Blasius und des Gärtners Peter sind im Rechnen und in der Naturgeschichte ausgezeichnet WAMPL Den ein’n sein Vater versorgt mich mit Wein den andern seiner mit Erdäpfel, da kann ich doch den Söhnen ’s Prämium nicht entziehen 22

Stanislaus bekommt schließlich sechs Bücher, die anderen Schüler jeweils ein Buch – und Willibald geht leer aus In seinem Lied (20   Szene) rechnet Willibald mit dem überholten Schulsystem ab Er beschreibt in fünf Strophen in welchen Fächern die Schule völlig zurück sei: Sprachlehre, Geographie, Rechnen, Botanik und Schreibkunst Ein großes Problem für Wampl sowie seinen Hilfslehrer und Schüler Franz Rottmann kündigt sich drohend an Baron von Wolkenfeld, der Gutsbesitzer, möchte persönlich das Examen durchführen Für Wampl bedeutet dies ein Albtraum, da die Buben einfach zu dumm sind Rottmann kommt jedoch eine rettende Idee Die Rei-

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Nestroy, Buben (wie Anm 21), 18

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henfolge der Fragen und der antwortenden Schüler (ohne Willibald) wird festgelegt In den Mützen der Schüler werden die richtigen Antworten platziert, die sie dann nur abzulesen brauchen Die kleine Generalprobe funktioniert prima Willibald erfährt von diesem Plan und möchte sich für die nicht bestandene Prüfung rächen Es gelingt ihm, seine Mitschüler davon zu überzeugen, die Zettel in den Mützen zu vertauschen Der Baron stellt die Fragen und die Schüler lesen brav die Antworten, die jedoch nicht dazu passen, ab Wampl, Rottmann und Herr von Wichtig reagieren entsetzt Nestroys Clou: der greise Baron ist stocktaub und versteht die Antworten der Buben überhaupt nicht Vielleicht ist die Figur des Barons eine Anspielung auf Kaiser Ferdinand I ? Alle Schüler – Schülerinnen gibt es in dem Einakter nicht – bekommen eine Belobigung, nur der intelligente Willibald nicht Die Schulmedaille ist nach Wampls Willen für Stanislaus bestimmt Wolkenfeld verleiht sie indes an Christoph Ries, den Jüngsten in der Klasse Dieser tauscht seine Auszeichnung gegen ein Gebäck mit Willibald, der sich selbst die Medaille anheftet Wolkenfeld verkündet die Auflösung der Schule, Wampl wird mit vollem Gehalt und einer Zulage in den Ruhestand versetzt, Rottmann wird Lehrer an der städtischen Schule und heiratet Nettchen Revolution: Nestroys Theaterstück „Freiheit in Krähwinkel“ (1848)23 Die Revolution von 1848 entfaltete sich in Teilen Europas und erreichte die Donaumonarchie Am 14 März 1848 flüchtete Metternich nach London Noch am gleichen Tag wurde die Zensur aufgehoben und der Präsident der Polizei-Hofstelle, Josef Graf Sedlnitzky, trat einen Tag später von seinem Amt zurück Am 30 April rückten Nestroy und Scholz verkleidet als Nationalgardisten aus – es war ein Reklametrick des Direktors Carl, zugleich Bezirkschef der Leopoldstädter Nationalgarde, für seine Bühne Als sich Carl mit dem Wucherer Schloißnigg solidarisierte und die besitzbürgerliche Nationalgarde am 12 Mai gegen unzufriedene, kleine Leute mobilisierte, hatte dies schon am nächsten Tag Folgen Eine Katzenmusik störte

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Allgemein: Der deutsche Michel Revolutionskomödien der Achtundvierziger, hrsg von Horst Denkler, Stuttgart 1971 Speziell zu dieser Komödie Nestroys: Wolfgang Häusler, Freiheit in Krähwinkel? Biedermeier, Revolution und Reaktion in satirischer Beleuchtung, in: Österreich in Geschichte und Literatur, 31, 1987, 69–111; Barbara Rett, Johann Nestroy und die bürgerliche Revolution, Diss Innsbruck 1978 [masch ]; Günter Berghaus, J N Nestroys Revolutionspossen im Rahmen des Gesamtwerkes Ein Beitrag zur Bestimmung von Nestroys Weltanschauung auf dem Hintergrund der österreichischen Sozialgeschichte des Vormärz, Diss FU Berlin 1977 [masch ]; Gerhard Schmieder, Revolutionäre Entwicklung und ‚idealistische‘ Satire: Studien zu Johann Nestroys 48er Posse „Freiheit in Krähwinkel“, Diss Erlangen-Nürnberg 1981 [masch ] Zur Revolution: 1848 – Revolution in Österreich, hrsg von Ernst Bruckmüller und Wolfgang Häusler, Wien 1999; Emil Niederhauser, 1848 Sturm im Habsburgerreich, Budapest 1990

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die Vorstellung im Carltheater und die Wütenden gaben sich erst nach dem Rücktritt Carls als Bezirkschef zufrieden Nestroy selbst bekam den Zorn des Publikums am 21 Mai zu spüren In dem Theaterstück „Die Anverwandten“ sprach er (4  Akt, 4  Szene) kritische Worte zur Frankfurter Nationalversammlung: „Gar mancher is als Wähler nach Frankfurt ’nein g’rennt, Der auß’r d’Frankfurterwürstchen von Frankfurt nix kennt “ Das tobende Publikum forderte vom Autor eine Entschuldigung, die Nestroy nicht gab – er blieb in seiner Garderobe In seinem Revolutionsstück „Freiheit in Krähwinkel“, uraufgeführt am 1 Juli 1848, regt sich auch in Krähwinkel die Revolution gegen das absolutistische System, verkörpert vom Bürgermeister, dem loyalen Ratsdiener Klaus und Rummelpuff, dem Kommandanten der Stadtsoldaten Die staatliche Überwachung der kritischen Teile der Bevölkerung findet sich bei Nestroy in einem Gespräch zwischen Klaus und dem Nachtwächter Unverhohlen droht der Ratsdiener seinem Gesprächspartner mit einem Berufsverbot (1  Akt, 3  Szene) KLAUS  Sonderbar, daß wir von Amt so wenig Sympathie haben unter’n Volck NACHTWACHTER Is Ihnen nicht leid, daß [S’] jetzt nix rapportieren können bey Seiner Herrlichkeit? KLAUS  Herr Nachtwachter frozzeln Sie mich nicht, Sie sind selbst Beamter NACHTWACHTER Ich thu’ meine Schuldigkeit, deßtwegen bin ich aber doch ein freysinniger Mensch KLAUS  Als solcher sind sie uns bereits denunciert Wir wissen daß sie auswärtige Blätter lesen, sogar österreichische NACHTWACHTER Na und was is’s weiter? KLAUS  Diese Blätter waren einst so unschuldig, wie g’wasserte Milich, und jetzt untersteh’n sie sich den Absolutismus zu verhianzen [= verspotten] NACHTWACHTER Unser Bürgermeister kriegt gwiß über jeden Artikel die Krämpf ’ KLAUS  Sie haben noch einen Fehler, den wir recht gut wissen NACHTWACHTER Und der wär? KLAUS  Sie denken bey der Nacht über das nach, was sie beym Tag gelesen haben; das liebt die Krähwinkler Regirung nicht NACHTWACHTER Natürlich, das Denken is viel größeren Regirungen verhaßt KLAUS  Mit einem Wort, ich kann Ihnen sagen, Sie sind sehr schwarz angeschrieben bey uns […] KLAUS  Kurz und gut, ich sag’ Ihnen, beachten Sie meine bureaukratischen Winke, wenn Sie anders die Fortdauer ihrer Existenz nicht in frage gestellt wissen wollen

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NACHTWACHTER Kümmer sich der Herr Amtsdiener um die seinige, die Freyheit hat noch kein einzigen Nachtwachter, wohl aber a Paar Tausend Spitzeln brodlos g’macht 24

Bewusst verknüpft Nestroy die Kontrolle von Querdenkern durch Spitzel mit der Zensur von Büchern, Zeitungen und Theaterstücken Die neue sowie erst- und letztmals gewonnene Freiheit der Presse und der Theater nutzte Nestroy sofort geschickt aus So kommt es zu einem Aufeinandertreffen des Bürgermeisters mit dem revolutionären Journalisten Eberhard Ultra, von Nestroy selbst auf der Bühne gespielt Der Bürgermeister bietet ausgerechnet Ultra die Stelle eines Zensors an Ultra kontert entrüstet mit seiner Abrechnung der Zensur (1  Akt, 14  Szene): BÜRGERMEISTER Sind Sie denn wahnsinnig? Ich glaub’ Sie wissen gar nicht was ein Censor ist ULTRA Das weiß ich nur zu gut Ein Censor ist ein Menschgewordener Bleysteften oder ein Bleistiftgewordener Mensch; ein Fleischgewordener Strich über die Erzeugnisse des Geistes, ein Krokodil was an den Ufern des Ideenstromes lagert, und den darin schwimmenden Dichtern die Köpf ’ abbeißt BÜRGERMEISTER Welche Sprache!? Das ist unerhört in Krähwinkel! ULTRA Ich glaub’s weils um Hundert Jahr z’ruck seyds, und diese Sprach’ is noch keine Vier Monath alt In dieser neuen Sprach sag ich Ihnen jetzt auch was die Censur is Die Censur is die jüngere von zwey schändlichen Schwestern, die ältere heißt Inquisition; – die Censur is das lebendige Geständniß der Großen, daß sie nur verdummte Sclaven treten, aber keine freyen Völker regieren können; – Die Censur is etwas, was tief unter dem Hencker steht, denn derselbe Aufklärungsstrahl, der vor 60 Jahren dem Henker zur Ehrlichkeit verholfen, hat der Censur in neuester Zeit das Brandmahl der Verachtung aufgedrückt 25

Die aufmüpfigen Gedanken bleiben für Ultra nicht folgenlos – der Bürgermeister verfügt, dass der Revolutionär binnen zwei Stunden die Stadt zu verlassen habe und ein entsprechender Laufpass auszustellen sei Bei der Ausstellung dieses Passes zeigt Nestroy im Gespräch zwischen Ultra und dem Beamten Siegmund Sigl (1  Akt, 15  Szene) seine für ihn typische, satirische Art ULTRA Tragen sie nur das Nöthige g’schwind ein in ihr Buch SIEGMUND Nahme – ULTRA [Eberhard] Ultra SIEGMUND Geburtsort – ULTRA Deutscher Bund SIEGMUND Alt –

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Johann Nestroy, Historisch-Kritische Ausgabe, Stücke 26/I, Freiheit in Krähwinkel, hrsg von John R P McKenzie, Wien 1995, 11 Nestroy, Freiheit in Krähwinkel (wie Anm 24), 26 f

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ULTRA Vierthalb Monath SIEGMUND Was – ? ULTRA Keine Stund älter; so alt is die Freyheit, und das frühere rechn’ ich für Nix SIEGMUND Augen – ULTRA Dunkel aber hellsehend SIEGMUND Nase – ULTRA Freyheitschnuppernd SIEGMUND Mund – ULTRA Wie ein Schwerdt SIEGMUND Statur – ULTRA Mittlere Barrikaden-Höhe SIEGMUND Besondere Kennzeichen – ULTRA Unruhiger Kopf SIEGMUND Character – ULTRA Polizeywidrig 26

Bereits zuvor (1  Akt, 7  Szene) reflektiert Eberhard Ultra in seinem Auftrittslied das „Zopfensystem“, die absolutistische Herrschaft der alten Zöpfe und ihre Praktiken (Überwachungen und Verhaftungen durch die Polizei) in der Biedermeierzeit, um dann einen Blick auf die revolutionäre Entwicklung des Jahres 1848, beginnend in Paris, zu werfen 1 Unumschränckt haben s’regiert, Kein Mensch hat sich g’rührt, Denn hätt’s einer gewagt, Und a freyes Wort g’sagt, Den hätt’ d’Festung belohnt, Das war man schon g’wohnt Ausspioniert haben s’All’s glei, Für das war d’Polizey, Der G’scheidte is verstummt, Kurz ’s war Alles verdummt Diese Zeit war bequem Für das Zopfensystem 2 Auf einmahl geht’s los In Paris ganz curios,

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Nestroy, Freiheit in Krähwinkel (wie Anm 24), 29

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Dort sind s’ fuchtig wor’n Und hab’n in ihr’n Zorn, Weil s’ d’Knechtschaft nich lieb’n, den Louis Philipp vertrieb’n [= Flucht des Königs aus Paris am 24 Februar 1848] Das Beyspiel war bös’ So was macht a Getös’, Und völlig über Nacht Is Deutschland erwacht Das war sehr unang’nehm Für das Zopfensystem 3 Da fieng z’dencken an Der gedrückte Unterthan, ‚Zum Teuxel [= Teufel] hinein, Muß i denn a Sclav seyn? Der Herrsch’r is z’war Herr, Ab’r i bin Mensch, wie er; Und kostet’s den Hals, Rechenschaft soll für All’s Gefordert jetzt wer’n, Von die großmächt’gen Herrn ‘ – Da warn s’ sehr in der Klemm’ Mit’n Zopfensystem 4 [Abgedruckt wird hier die Textvariante 1] Das wär’ wieder verflog’n, ’s Wetter hätt’ sich verzog’n, Wenn nicht Etwas g’scheh’n wär’, Was Großartig’s, auf Ehr’ Auf einen Wink, wie von Ob’n, Hat sich Östreich erhob’n! Dieser merkwürd’ge Schlag Hat g’steckt in ein Tag Den Tyrannen ihr Ziel, Verrathen ihr Spiel – Jetzt warn s’ gänzlich Groß-Slemm [= Ohne Stich im Whistspiel] Mit ’n Zopfensystem 27

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Nestroy, Freiheit in Krähwinkel (wie Anm 24), 15–17

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Nach diesem Couplet folgt – oft typisch für Nestroys Stücke – ein längerer Monolog der Hauptperson Ultra macht sich ironisierend Gedanken über zwei Begriffe: Recht und Freiheit Im letzten Teil der Rede ist bei Ultra auch eine gewisse Skepsis und Distanz zur Revolution erkennbar: Angst von Teilen der Bevölkerung vor der gewonnenen Freiheit und den Errungenschaften der Revolution – und der daraus resultierende Wunsch zur Rückkehr in alte Verhältnisse Was für eine Menge Rechte haben [wir] g’habt, diese Rechte der Geburt, die Rechte und Vorrechte des Standes, dann das höchste unter allen Rechten, das Bergrecht [= Recht eines Grundherren, einen jährlichen Dienst zum Weinbau zu fordern], dann das niedrigste unter allen Rechten, das Recht, daß man selbst bei erwiesener Zahlungsunfähigkeit und Armuth Einen einsperren lassen kann Wir haben ferner das Recht g’habt, nach erlangter Bewilligung Diplome von gelehrten Gesellschaften anzunehmen Sogar mit hoher Genehmigung das Recht, ausländische Courtoisie-Orden [= heraldische Ehrenzeichen] zu tragen Und trotz all’ diesen unschätzbaren Rechten, haben wir doch kein Recht g’habt, weil wir Sklaven waren Was haben wir ferner alles für Freiheiten g’habt Ueberall auf ’n Land und in den Städten zu gewissen Zeiten Marktfreiheit Auch in der Residenz war Freiheit, in die Redoutensäle [= Ballsäle in der Wiener Hofburg] nämlich, die Maskenfreiheit, noch mehr Freiheit in die Kaffeehäuser, wenn sich ein Nichtverzehrender ang’lehnt und die Piramidler [= Billardspieler] genirt hat, hat der Marqueur [= Punktezähler beim Billardspiel] laut und öffentlich g’schrien: Billardfreiheit Wir haben sogar Gedankenfreiheit g’habt, insofern wir die Gedanken bei uns behalten haben Es war nämlich für die Gedanken eine Art Hundsverordnung Man hat s’ haben dürfen, aber am Schnürl [= An der Leine] führen, wie man s’ loslassen hat, haben s’ einem s’ erschlagen Mit einem Wort, wir haben eine Menge Freiheiten gehabt, aber von Freiheit keine Spur Na, das ist anders geworden, und wird auch in Krähwinkel anders werden Wahrscheinlich werden dann von die Krähwinkler Viele so engherzig sein und nach Zersprengung ihrer Ketten, ohne gerade Reaktionär’ zu sein, dennoch kleinmüthig zum raunzen anfangen: O mein Gott, früher is es halt doch besser gewesen, – und schon das ganze Leben jetzt – und diese Sachen alle – aber das macht nichts, man hat ja selbst in Wien ähnliche Resonnement’s gehört 28

Die Zensur der Presse und die Revolution sind auch Themen (1  Akt, 8  Szene) zwischen Pfiffspitz, dem Redakteur der Krähwinkler Zeitung und seinem Mitarbeiter Ultra Der Redakteur zeigt einen Packen weißes Druckpapier – und Nestroy zeigt sich als Jongleur der Sprache

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Nestroy, Freiheit in Krähwinkel (wie Anm 24), 18 f

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ULTRA Das verdammte weiße Papir Dieser Druck in Rücksicht des Drucks is was Drückendes PFIFFSPITZ  Alle Ihre Aufsätze hat man mir gestrichen ULTRA Also hat mich meine Hoffnung nicht getäuscht, ich hab was Gutes geliefert PFIFFSPITZ  Aber das weiße Papir, liebster Mitarbeiter ULTRA Lassen Sie das drucken was sie selbst aufgesetzt, das wird gewiß im Geiste der Behörde seyn; das heißt, ’s wird gar kein haben […] PFIFFSPITZ  Revolution in Krähwinkel, dahin kommt es wohl nie ULTRA Wer sagt Ihnen das? Alle Revolutionselemente, alles Menschheitempörende, was sie wo anders in Großem haben, das haben wir Krähwinkler in Kleinen Wir haben ein absolutes Tyrannerl, unseren Bürgermeister, wir haben ein unverantwortliches Ministeriumerl, ein Bureaukratieerl, ein Censurerl, Stadtschulderln weit über unsere Kräfterl, also müssen wir auch ein Revolutionerl und durch’s Revolutionerl ein Constitutionerl und ein Freyheiterl krieg’n 29

Die Revolution in Krähwinkel zeigt sich alsbald in einer konkreten Handlung (1  Akt, 9  Szene) KLAUS  Aufruhr! Aufruhr! Krawal! PFIFFSPITZ und ULTRA Was is denn g’scheh’n? KLAUS  Sie haben mir den Haslinger zerbrochen, und ‚Fort Spitzel‘ haben s’gesagt – ‚Fort Spitzel‘ das waren die frevelhaften Worte PFIFFSPITZ  Ist es möglich – ? KLAUS  Am Haslinger haben sie sich vergriffen – ! ULTRA Haslinger-Verachtung! Erster Morgenstrahl der Freyheitssonne!30

Mit dem Haslinger ist die Haselstaudenrute gemeint, die als Abzeichen der Ordnungskräfte diente, ein Symbol der Prügelstrafe war und nach der Märzrevolution abgeschafft wurde Eine Aktionsform des Widerstandes gegen die alte Obrigkeit stellte die Katzenmusik dar Revolutionäre Kräfte veranstalteten mit einem großen Lärm Protestveranstaltungen – gerade in der ersten Hälfte des 19 Jahrhundert und im Jahre 1848 Dies nimmt Nestroy sehr anschaulich auf, so etwa im 1  Akt, 20  Szene BÜRGERMEISTER Das Entsetzlichste ist geschehen, der Krähwinkler-Jüngstetag bricht an, alle verstorbenen Bürgermeister drehen sich in die Gräber herum – man hat mir eine Katzenmusik gemacht, man macht sie mir noch – hörst du? KLAUS  Gräßlich – ! Mit was machen s’ denn das?

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Nestroy, Freiheit in Krähwinkel (wie Anm 24), 20 f Nestroy, Freiheit in Krähwinkel (wie Anm 24), 21

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BÜRGERMEISTER Da ist das ganze Orchester der Hölle losgelassen; was Krähwinkel je an Concerten gehört, verschwindet in ein Nichts dagegen, das kreischt, und tobt, und trommelt und schnarrt, pfeifft, braust, rasselt und klirrt – es macht den Kopf zur geladenen Bombe, die am Ende platzen muß 31

Der Bürgermeister flüchtet vor der Katzenmusik und übernachtet bei dem Ratsdiener Klaus Zur Ruhe kommt er jedoch nicht – den politischen Repräsentanten verfolgen belastende Träume In einem Traum liest ein Redner im Hof des Wiener Landhauses am 13 März die revolutionäre Petition der Studierenden vor In einem weiteren Traum wird der Moment der Sturmpetition auf dem Josephsplatz vom 15 Mai auf die Bühne gebracht Der Bürgermeister und der Ratsdiener Klaus zeigen sich entsetzt (1  Akt, 24  Szene) KLAUS  An wie viel Ecken brennt’s? BÜRGERMEISTER Nirgends, als in meinem Kopf   – aber ich halt es nicht aus  – die Träume werden immer schrecklicher – beängstigender – KLAUS  Doch nicht wieder von Freyheit? BÜRGERMEISTER Von was sonst Es wird immer ärger Ich schlafe von heut an gar nicht mehr KLAUS  Wär’ nicht übel Nein, nein, mir fällt ein Mittel ein Um diese Freyheits-Visionen los zu werd’n, leg’n sich Euer Herrlichkeit was Schwarzgelb’s [= Die Farben der Habsburger Monarchie] untern Kopf, da kommen gleich andere Traumbilder BÜRGERMEISTER Ja wo nehm’ ich jetzt was Schwarzgelbes her? KLAUS  Da haben Euer Herrlichkeit die Wienerzeitung [= Das offizielle Organ der Regierung] 32

Die erste Katzenmusik wurde in Wien am 5 April 1848 veranstaltet und galt dem Erzbischof Vinzenz Eduard Milde sowie den Liguorianern Kommandant Rummelpuff lässt den Aufstand in Krähwinkel niederschlagen – der Chor der Verwundeten (2  Akt, 13  Szene) gibt ein beredtes Zeichen Die Krähwinklerinnen zeigen sich besorgt um ihre Männer Der Bürgermeister sieht nun die Ruhe in seine Stadt zurückgekehrt Doch nun erscheint der Abgesandte der europäischen Freiheits- und Gleichheitskommission, es ist Ultra, und verkündet die Rede- und Pressefreiheit, die Gleichberechtigung der Stände sowie freie Wahlen Der Bürgermeister fällt daraufhin in Ohnmacht – die Bevölkerung jubelt Im dritten und letzten Akt zeigen sich die politisch-gesellschaftlichen Unterschiede auch in einem Dialog zwischen Reakzerl, Edler von Zopfen – ein Beispiel mehr für Nestroys Lust an Sprachschöpfungen – und Ultra (3  Akt, 2  Szene)

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Nestroy, Freiheit in Krähwinkel (wie Anm 24), 35 Nestroy, Freiheit in Krähwinkel (wie Anm 24), 38

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REAKZERL Sie wagen es in Krähwinkel zu erscheinen? Sie, den der Bürgermeister ausgewiesen? ULTRA Ja, das war noch vor der Freyheit, da haben die Bürgermeister noch die Leut’ ausgewiesen; jetzt dancket mancher Bürgermeister Gott, wenn er sich selbst ordentlich ausweisen könnt’ REAKZERL Herr, halten Sie Ihre Zunge in Zaum ULTRA Das hab ich in frühern Zeiten nicht immer gethan, jetzt is schon gar keine Idee REAKZERL Frau v Frankenfrey, ich begreiffe wirklich nicht, wie Sie in Ihrem Hause, welches sogar der Herr Bürgermeister beehrt, einem Menschen Zutritt gestatten – ULTRA ’s Is wahr, der Bürgermeister und ein Mensch kommen ins selbe Haus; is halt a g’mischte Gesellschaft 33

Ein feste Säule zur Stabilisierung der Macht der Habsburger stellte der bei großen Teilen der Bevölkerung verhasste Priesterorden der Liguorianer (oder Redemptoristen) dar Die Vertreibung bedeutet einen weiteren Erfolg der Revolution Die Bevölkerung steht Spalier von der Klosterpforte zu einem Wagen, und sämtliche Ordensbrüder steigen ein (3  Akt, 12  Szene) CHOR Wir sehen mit Freuden Die schwarzen Herrn scheiden, O herrliche Zeiten! Vorbei ist der Druck ’s Is memento mori Für d’Brüder Ligori, O, bitt’rer Zigori [= Zichorie] Kommts nimmermehr z’ruck!34

Am 6 April 1848 wurden die Liguorianer aus Wien vertrieben, die Büßerinnen, das weibliche Pendant, einen Tag später Bereits in Ultras Rolle als Abgesandter der Freiheits- und Gleichheitskommission zeigte Nestroy seinen europäischen Blick auf die Revolution von 1848 Im zweiten Couplet (3  Akt, 22  Szene) unternimmt Ultra in fünf Strophen einen Streifzug durch folgende Teile Europas: das Königreich beider Sizilien (Süditalien und Sizilien), Großbritannien, Russland, Frankreich und Österreich Im ersten Teil jeder Strophe wird ein positives, freundliches Bild von jedem Land gezeichnet Aber: die Weltgeschichte erhebt jeweils Einspruch

33 34

Nestroy, Freiheit in Krähwinkel (wie Anm 24), 55 Nestroy, Freiheit in Krähwinkel (wie Anm 24) 64

Der Theatermacher Johann Nepomuk Nestroy

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Nach Protesten in Neapel und Palermo am 12 Januar 1848 – der erste Aufstand im Revolutionsjahr – machte König Ferdinand II am 29 Januar zunächst Zugeständnisse an die Aufständischen in Form einer liberalen Verfassung, konnte aber bald den Absolutismus wieder einführen Was das Vereinigte Königreich angeht, so verweist Ultra auf die Souveränität des Parlaments in einer konstitutionellen Monarchie Probleme sieht er hingegen in der hohen Verschuldung und in der Armut Erwähnt wird der irische Politiker Daniel O’Connell, der die Loslösung Irlands von Großbritannien forderte und daher 1843 die revolutionäre Bewegung Jung-Irland gründete Ein Aufstand in Tipperary scheiterte 1848 Schließlich wird auf den Hunger (The Great Famine) hingewiesen, der in Irland zu vielen Toten und zu einer Auswanderung in die USA führte In der nächsten Strophe wendet sich Ultra nach Russland, dem Inbegriff der Despotie und politischen Rückständigkeit Die Unterdrückung des polnischen Aufstandes von 1830 durch den Zaren Nikolaus I markierte die imperialistische Außenpolitik und Ultra befürchtet eine Ausweitung nach Westen Anschließend nimmt Ultra Frankreich in den Blick Nach dem Sturz von Louis Philippe am 24 Februar 1848 wurde die Zweite Republik gegründet Eine republikanischsozialistische Regierung kam an die Macht, Ultra fürchtet indes eine Sehnsucht nach einem neuen König Zum Schluss betrachtet Nestroys Revolutionär Österreich  – und schildert einen erfreulichen Eindruck Trotz der Hofkamarilla, die sich in Ischl (Salzkammergut) formiert, um die Konterrevolution zu organisieren, sowie trotz gewisser Differenzen (Vielleicht ist dies ein Hinweis auf die Probleme eines Vielvölkerstaates?) wird das Land glänzen Die Barrikadenkämpfe baut Nestroy in sein Stück ein Die Frauen um die Witwe von Frankenfrey verkleiden sich als Studenten und treten hinter die Barrikaden (3  Akt, 24  Szene) Vielleicht will Nestroy damit den wichtigen Anteil von Frauen bei der Revolution in Wien würdigen 35 BÜRGERMEISTER Kühnheit ohne Gleichen! Man errichtet Barrikaden – !? KLAUS  Das ist noch nicht dagewesen! BÜRGERMEISTER Und in Fünf Stunden erfrecht man sich sich fertig zu seyn!? KLAUS  Der Magistrat hätt’ Vier Monath d’ran gebaut FRAU v FRANKENFREY Was soll’s? Wir sind bereit zum Kampf auf Tod und Leben! BÜRGERMEISTER Himmel – Studenten! KLAUS  Studenten – !

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Gabriella Hauch, Frau Biedermeier auf den Barrikaden Frauenleben in der Wiener Revolution 1848, Wien 1990

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FRAU v FRANKENFREY Seht ihr die Todtenköpfe auf unsern Calabresern? [= Hüte der Revolutionäre] sie sind euch ein warnendes Bield; so werden in Kurzem eure holen Schädel ausschau’n, wenn’s euch zum Kampf mit uns gelüstet BÜRGERMEISTER Studenten – Klaus, hir ist nichts mehr zu thu’n Sprengt alsogleich zurück zu Rummelpuff, ich lass’ ihm sagen, ’s ist nichts mit der Reaction Und du widerspänstiges Krähwinkel, such’ dir einen anderen Bürgermeister, ich geh nach London 36

In London am Eaton Square lebte Metternich nach seiner Flucht Dort trafen sich mehrere gestürzte Politiker des Absolutismus Auch in dieser Posse arbeitet Nestroy eine wichtige Liebesgeschichte ein Frau von Frankenfrey wird von zwei Männern umworben – vom Bürgermeister und von Ultra, der sie schließlich heiratet Bevor der letzte Vorhang fällt, spielt das Orchester den Brünner NationalgardeMarsch op 58 von Johann Strauß (Sohn) Mit diesem Marsch unterstützte er die Nationalgardisten Wiens und war eine der revolutionären Kompositionen dieses Musikers: Freiheits-Lieder (ursprünglicher Titel: Barrikaden-Lieder) op 52, Revolutionsmarsch op 54 und Studenten-Marsch op 56 Öfters spielten Strauß (Sohn) und sein Orchester auch die Marseillaise – zum Entsetzen der Hofburg 37 Nestroys Stück avancierte – auch finanziell – zum Theatererfolg im Revolutionsjahr 1848, insgesamt gab es ab dem 1 Juli 36 Vorstellungen Von Anfang August bis Mitte September gastierte Nestroy (hauptsächlich mit seinem Revolutionsstück – er stand 27mal als Ultra auf der Bühne) in Graz, Ofen und Pest, Brünn, Prag sowie Linz Diese Tournee war bereits vor dem Erfolg in Wien vertraglich fixiert worden Während auf der Bühne die Revolution in Krähwinkel siegte, formierte sich die Gegenrevolution im Vielvölkerstaat Am 17 Juni befahl Feldmarschall Windischgrätz (ihm wird das Wort zugeschrieben, wonach der Mensch erst beim Baron anfange) die Bombardierung Prags Die Truppen der Habsburger schlugen den Aufstand in der böhmischen Metropole nieder und lösten den Slawenkongress auf Am 25 Juli besiegte die kaiserliche Armee unter Feldmarschall Radetzky die italienischen Separatisten bei Custozza Johann Strauß (Vater) komponierte für diesen Militär den bekannten Marsch In Wien selbst gründeten sich Ende Juni der Arbeiter- und Arbeiterbildungsverein Karl Marx hielt in diesen Vereinen vom 28 August bis zum 7 September Vorträge Am 6  Oktober kam es in der Hauptstadt zur Verbrüderung von Arbeitern und Soldaten Der Kriegsminister Latour wurde erschlagen und an einer Laterne aufgehängt Die Linke in der Frankfurter Nationalversammlung besuchte am 17 Oktober Wien

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Nestroy, Freiheit in Krähwinkel (wie Anm 24), 76 Karlheinz Lipp, Die Wiener Komponistenfamilie Strauss und die Revolution von 1848, in: Pfälzisches Pfarrerblatt, 107, 2017, 53–57

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Nach der letzten Aufführung von „Freiheit in Krähwinkel“ am 4 Oktober schloss der Direktor seine Bühne bis zum 9 November Die Gegenrevolution erreichte inzwischen die Donaumetropole Die Truppen von Windischgrätz und Jellačić vereinigten sich und begannen am 28  Oktober mit dem Hauptangriff Schon zwei Tage später ordnete Windischgrätz die Bombardierung der Hauptstadt an, die am 1 November kapitulierte Ca 2000 Menschen starben, viele Revolutionäre wurden im jetzt proklamierten Belagerungszustand inhaftiert oder hingerichtet Mit dem Sieg der Gegenrevolution kam auch die Zensur am 11 November zurück und daher wurde Nestroys Revolutionsstück umgehend verboten Im Olmütz übernahm am 2 Dezember der erst 18jährige Franz Joseph den Thron Nestroy selbst wurde von den Machthabern nicht belangt Zu den „Szenen aus dem belagerten Wien“ des Karikaturisten Anton Zampis schrieb Nestroy die Texte Diese Äußerungen sowie die wenig erhaltenen Briefe Nestroys aus dem Jahr 1848 zeigen seine positive Einstellung zu dieser Revolution 38 Für mehrere Jahrzehnte verschwand Nestroys Revolutionsstück vom Spielplan Eine NS-Inszenierung vom Mai 1938 missbrauchte Nestroy Im Beisein der Nationalsozialisten Göring, Bürckel und Seyss-Inquart machte die nationalsozialistische Aufführung aus „Eine Freiheit vereint uns“ (Nestroy) nun „Ein Führer vereint uns “39 Vom Umgang mit der militärisch niedergeschlagenen Revolution: Nestroys Theaterstücke des Jahres 1849: „Lady und Schneider“, „Höllenangst“ sowie „Der alte Mann mit der jungen Frau“. Lady und Schneider (1849)40 Nestroys erstes Stück (Uraufführung am 6 Februar 1849) nach der Revolution beinhaltet eine bitterböse Bilanz Der Autor attackiert die Unklarheiten und politische Konfusion der Revolution Im Mittelpunkt steht der Schneider Hyginus Heugeig’n – ein Demagoge, Phrasendrescher und Stammtischpolitiker, der unbedingt eine politische Karriere einschlagen möchte Politische Grundsätze kennt er nicht, Hauptsache er steht an der „Spitze“ (1   Akt, 10   Szene) Selbst persönliche Gefühle kann der Möchtegern-Politiker nur 38 39 40

Erich Witzmann, Herr Biedermeier auf der Barrikade Wiener Karikaturen aus dem Revolutionsjahr 1848, Wien 1986; Johann Nestroys Gesammelte Briefe (1831–1862) Nestroy und seine Bühne im Jahre 1848, hrsg von Fritz Brukner, Wien 1938 Hans-Eberhard Goldschmidt, Revolution in Krähwinkel – 1938, in: Nestroyana, 2, 1980, 50–57 Johann Nestroy, Historisch-Kritische Ausgabe, Stücke 26/II, Lady und Schneider, hrsg von John R P McKenzie, Wien 1998; Federica Rocchi, Die Theatralisierung des politischen Verhaltens Zwei Politiker ‚von Beruf ‘ im Vergleich: Hyginus Heugeign und Eberhard Ultra, in: Nestroyana, 36, 2016, 147–158

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in einer politischen Sprache ausdrücken Kritisch geht Nestroy mit den vielen „Umsattlern“ um, die nach der Revolution eine andere Position beziehen: „Ja, beim Umschwung der Zeit, lernt man’s kennen die Leut “ (1  Akt, 8  Szene) In eine ähnliche Richtung geht das weitere Couplet „Da hört es auf ein Vergnügen zu sein“ Hier sieht Nestroy jene Frauen kritisch, die sich auf den Barrikaden mit den Studenten solidarisierten sowie sich als Amazonen gebärdeten  – und nun die Militärs, die für die Niederschlagung der Revolution verantwortlich sind, anhimmeln Ein nächster Punkt betrifft den Aspekt der Gleichheit Die Gleichheit vor dem Gesetz bedeute kein soziale – hier gehe die Schere zwischen Armen und Reichen weiter auseinander Der sozialkritische, bürgerliche Nestroy geht auf Distanz zu linken Ideen: „Ah, wenn die Freyheit Communismus wird, nein, da hört es auf ein Vergnügen zu seyn “ (2  Akt, 17  Szene) Der Schneider merkt schließlich, dass er nicht für höhere politische Ziele vorgesehen ist – und verspricht, sich zukünftig nur noch um sein Handwerk zu kümmern Höllenangst (1849) Uraufgeführt wurde diese Posse mit Gesang in drei Akten am 17 November 1849 im Carl-Theater, danach folgten nur noch vier Aufführungen Das Publikum und die Kritik konnten nicht begeistert und überzeugt werden – und dabei bietet Nestroy auch hier Hinweise und Anspielungen auf die Zeit nach der niedergeschlagenen Revolution Der intrigante Freiherr von Stromberg möchte auf das Erbe seiner Nichte Adele zugreifen, indem er sie zum Eintritt in ein Kloster nötigen will Unter äußerst zwiespältigen Beschuldigungen brachte Stromberg zwei Jahre zuvor den Herrn von Reichthal ins Gefängnis, der jedoch dank des Gefangenenwärters Wendelin Pfrim die Flucht ergreifen konnte Nach seiner erfolgten Rückkehr möchte Reichthal den Oberrichter Thurming um Unterstützung bitten Der Jurist hat Adele heimlich geheiratet Nach einem Rendezvous mit Adele muss Thurming flüchten Wendelin hilft dem Oberrichter, den er fälschlicherweise für den Teufel hält, sie tauschen gegenseitig ihre Kleider und schließen einen Pakt, der einige kuriose Szenen nach sich zieht Wendelin reflektiert über Glaube und Aberglaube, Gott und die Welt des Teufels Der alte und der junge Pfrim versuchen den angeblichen Teufel zu bekämpfen – im letzten Akt, welch eine Idee Nestroys, sogar mit einer Pilgerreise nach Rom Nach diversen Verwicklungen wird Reichthals Unschuld erwiesen, Stromberg erhält seine gerechte Strafe, das junge Paar (Thurming und Adele) kann sich nun offen zur Ehe bekennen Wendelin sieht seinen Irrtum ein und heiratet Rosalie, Adeles Kammerzofe Die großen sozialen Unterschiede im Vormärz kommen im Dialog zwischen Wendelin und seinem Vater zum Ausdruck (1  Akt, 9  Szene)

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WENDELIN Die Vorsehung hat mit die Reichen, mit die Glücklichen zuviel zu thu’n, für die Armen bleibt ihr ka Zeit Nur anschau’n den da drüben [= Stromberg], der der Frau Mutter ihr’ kleine Pension g’stohlen hat, wie dem Alles geht nach Wunsch, während wir Hunger leiden – PFRIM Und ich meinen Durst kaum zur Hälfte stillen kann WENDELIN Und so geht’s durch die Banck Ich frag’, warum trägt der Goldstickerey auf ’n Frack, während er Eisenschmiederei um die Pantalon [= lange, weite Hosen] verdient? Warum sitzt der reiche Wucherer in der Equipagi [= elegante Kutsche], während seine Opfer hinter der Scheibtruhen [= Schubkarren] geh’n? Warum kleid’t die reiche Hundsmutter ihre Lieblinge in Atlaswattirte Schabrackeln [= reich verzierte Satteldecke aus kostbarem Stoff], während die arme Menschenmutter für ihre Kinder nix anz’legen hat? Warum kriegt der brave Mann Hörndl [= jemandem Hörner aufsetzen], während sich um den Lüftigen [= Leichtsinnigen] ’s treue Weib zu Tod kränckt z’Haus?41

In seiner Lebensgeschichte ergänzt Wendelin (2  Akt, 11  Szene) treffend: „Ich bin ein Proletariatsbeflissener, der den ganzen practischen Curs vom Pauperismus durchgemacht hat “ Zu seinem Alltag in der nachrevolutionären Zeit bemerkt Wendelin (1  Akt, 7  Szene): So verfolgt mich mein Schicksal, daß ich nur in der Nacht ausgeh’, den ganzen Tag versteck’ ich mich z’Haus, nicht vor’n Schicksal, das find’t ein zu jeder Stund Aber der weltliche Arm soll mich nicht ergreiffen, von ihm Versorgung anzunehmen, da schau ich doch noch lieber, daß ich mir manchmal bey Nacht a Paar Groschen verdien’ Beym Tag schlaf ’ ich nacher, daß mir der Hunger vergeht, so leb ich recht billig […] Ich hätt’ soll’n gar nie in die Wirklichkeit kommen; so lang ich noch ein Traum meines Vaters, eine Idee meiner Mutter war, da kann ich recht eine charmante Idee gewesen seyn, aber so viele herrliche Ideen haben das, wie s’ ins Leben treten, wachsen sie sich miserabel aus 42

Zu dieser Realität gehört auch, dass Strombergs Aufpasser an jeder Straßenecke präsent sind (1 Akt, 10 Szene) – eine Anspielung auf Überwachungspraktiken Zu dieser politisch-gesellschaftlichen Wirklichkeit zählen ferner die Hausdurchsuchung bei Thurming (2   Akt, 20   Szene und 2   Akt, 23   Szene), das Erkennen von Wendelin auf einem Steckbrief, der Vorwurf der Fluchthilfe sowie die Bezeichnung als Hochverräter (3  Akt, 4  Szene) Wendelin wird verhaftet und in Ketten gelegt (2  Akt, 23  Szene) 41 42

Johann Nestroy, Historisch-Kritische Ausgabe, Stücke 27/II, Höllenangst, hrsg von Jürgen Hein, Wien 1996, 20 Nestroy, Höllenangst (wie Anm 41), 16

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Berechtigte Zweifel kommen Wendelin hinsichtlich von Personen, die nach 1848 ihre Meinung verändert haben („Umsattler“), so in der vierten Strophe seines Couplets (1  Akt, 14  Szene) Aus der einstigen revolutionären Freiheit wird nun diffamierend eine „Freiheitspest“ Die Zöpfe als Zeichen des Absolutismus sind zurückgekehrt, ebenso die Zensur Einer schreyt: ‚Freyheitspest! I wollt du hättest schon den Rest! A Verfassung; freye Press’, Zu was braucht das Volck dös? Volksbewaffnung zu was? ’s Volk hat g’lebt ohne Alls das Wenn ich könntet, so stürz ich ’s Ganze Jahr Achtundvierzig Leicht nur Athem ich schöpf ’ Seh ich Zöpf ’ an die Köpf ’, Und Censur, die den Geist Mit der Wurzel ausreißt ’ Vorig’s Jahr hat derselbe G’rad so g’schrien geg’n ’s Schwarzgelbe [= Die Farben der Habsburger], ’n Calabreser [= Hut der Revolution] geschwungen, ’s Deutsche Vaterland g’sungen, Und war rein Terrorismus Geg’n den Absolutismus – Is’s dem Ernst, daß’r jetzt gar so gut g’sinnt sich thut zeig’n? Ja, da müß’n eim bescheidene Zweifel aufsteig’n 43

In den Strophen drei und fünf singt Wendelin dem Theaterpublikum weitere Zweifel vor, welche die Entwicklung in europäischen Ländern betreffen, so z B die Auswanderung in die USA Der Durchbruch auf der Theaterbühne erfolgte für Nestroys „Höllenangst“ erst 1962 im Theater in der Josefstadt mit dem damals 81jährigen Hans Moser als Pfriem und Hans Putz als Wendelin Bis in unsere Gegenwart erfreut sich diese Posse einer großen Beliebtheit

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Nestroy, Höllenangst (wie Anm 41), 44

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Der alte Mann mit der jungen Frau (Vollständige Erstaufführung 1948)44 Diese Posse in drei Akten entstand 1849, wurde jedoch zu Nestroys Lebenszeit nicht aufgeführt Vermutlich hatte der Autor die berechtigte Angst, dass die Zensur zu sehr in die Inszenierung eingreifen könnte – und praktizierte eine Selbstzensur Erst im Jahre 1890 kam eine zerstückelte Fassung auf die Bühne Die eigentliche Uraufführung des vollständigen, originalen Textes fand am 14 Mai 1948 im Theater in der Josefstadt statt Zwei Handlungsstränge bestimmen dieses Werk, in dem sich der liberal-demokratische Nestroy zur Revolution bekennt Die Beziehung des 60jährigen, wohlhabenden Fabrikbesitzers Kern zu seiner 20jährigen, untreuen Frau Regine, sowie das Verhältnis des verurteilten politischen Gefangenen Anton zu seiner Frau Therese Kern hilft dem Revolutionär Anton, indem er ihn versteckt Schließlich verlassen Anton, seine Frau und ihr Kind Österreich-Ungarn, um ins australische Port Adelaide zu emigrieren Hier bezieht Nestroy ein wichtiges Phänomen von 1848/49 mit ein, nämlich die Flucht vieler Menschen aufgrund der niedergeschlagenen Revolution Auch Kern siedelt auf den fünften Kontinent über – und überlässt es seiner Frau, ob sie nachkommt Die Verfolgung von Revolutionären im Nachmärz lässt sich gut an einem Gespräch zwischen Kern und den Bauern Holler und Peter erkennen (1  Akt, 6  Szene) KERN Kommts ihr von der Jagd? HOLLER Wie man’s nimmt, wir haben jetzt schon a Paar Mahl a kleine Hetzjagd g’habt KERN Auf was dann? HOLLER Auf a Bisserl Menschen KERN Was – !? HOLLER Wir sind so ein klein’s Fürstenthumerl, und habe so eine große Verbrecherzahl – lauter politische, natürlich KERN Na, ja, mit and’re Verbrechen giebt sich jetzt gar kein Mensch ab Sie müssen aber doch zu wenig politisch seyn, sonst würden nicht so viel’ g’fangt HOLLER Die vorige Woche haben s’ Sechse auf d’Festung transportiert, und waren nur Vier Wachter und Zwey Landreiter dabey; da fangen die G’fangenen an rappelköpfisch [= aufbrausend, widerspenstig] zu werd’n, und werffen die Wachter in Graben KERN Mein Gott, jeder Mensch thut, was er kann HOLLER Die Reiter haben s’ vom Pferd g’rissen, und mit die eigenen Pistolen zusammenbrennt KERN Mein Gott, in der Noth fragt man nicht, wem die Pistolen g’hört HOLLER Fünf von die G’fangenen waren frey, nur der Sechste hat sich nimmer g’rührt

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Urs Helmensdorfer, Himmelangst Nachtrag zu „Der alte Mann mit der jungen Frau“ (Stücke 27/I) und „Höllenangst“ (Stücke 27/II), in: Nestroyana, 19, 1999, 27–27

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KERN Das is eigentlich der freyeste, denn die Andern erwischen s’ vielleicht noch Na, und was war’s denn jetzt? HOLLER Zwey hab’ ich lauffen g’seh’n über d’Wiesen gegen Wald zu KERN Ich vergönn’s Jedem, wenn er auskommt PETER Die Leut’ riskier’n aber ’s Leben KERN Is auch wieder nicht z’viel für die Freyheit HOLLER Ein Reiter hat ihnen nachg’schossen KERN Das kann man ihm auch nicht übel nehmen, ’s ist sein Brod, das muß er thu’n HOLLER Er hat ihn aber g’fehlt KERN Für das is er ein Mensch, fehlen is menschlich 45

Über die politisch Verfolgten dreht sich auch die Unterhaltung zwischen Kern, Holler und Frau Frankner, der Mutter des Aufrührers Anton (1  Akt, 7  Szene) FRAU FRANKNER Euer Gnaden wissen also Alles? Und auch auf wie lang KERN Das is das Schreckliche Einem jungen Festungs-Arrestanten, der zu Haus ein geliebtes Weiberl hat, dem dürften s’ billig Neunzig Prozent nachlassen von der Straf ’ FRAU FRANCKNER Zehn Jahr’ – ! HOLLER Alles, was recht is, aber gegen die politischen Verbrechen is man doch gar zu streng KERN Das kommt wieder drauf an, wie man’s nimmt Ein seidener Schupftücheldieb kommt auf Drey Monath ins Zuchthaus, nacher scheint er frey zu seyn, bleibt aber Zeitlebens an den Schandpfahl der Verachtung geschmiedet Dem politischen Verbrecher giebt man für einen kurzen Freyheitsrausch Zehn, Fünfzehn Festungsjahre, aber an der Ehre verliert er deßtwegen nicht eine Viertelstund’; die Achtung, die man Jedem zollt, der seine Meinung vertritt, der sein Leben an sein Glaubensbekenntniß setzt, die muß ihm ewig bleiben, und das is für den schwersten Kerker eine unendliche Erleichterung […] KERN Und eine Hoffnung bleibt ja immer noch Vom Thron herab erschallen gar mächtige Zaubersprüche; einer, der in die tiefsten Kerker dringt und den Gefangenen die Ketten löst, heißt Amnestie FRAU FRANKNER An diese Hoffnung klammert sich auch mein’ arme Schwiegertochter an 46

Eine Bilanz der Revolution ziehen Anton und Kern (1  Akt, 15  Szene) ANTON Herr von Kern, Sie sind so unendlich gut, wollen Sie mir’s auf ’s Wort glauben, daß Sie Ihre Güte an keinen Unwürdigen, an keinen eigentlichen Verbrecher verschwenden?

45 46

Johann Nestroy, Historisch-kritische Ausgabe, Stücke 27/I, Der alte Mann mit der jungen Frau, hrsg von Urs Helmensdorfer, Wien 1997, 13 f Nestroy, Der alte Mann (wie Anm 45), 15

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KERN Aber Herr Frankner, glauben Sie denn, daß ich die Sache nicht ohnedem vom richtigen Gesichtspunct aus betracht’? Was Sie gethan haben, das haben Hunderttausende, das hat, – sey’s durch That, oder Wort, oder Gesinnung, – fast Jeder gethan Wer kann bey der jetzigen Krisis in Europa sagen, ‚ich war nicht dabei ’ – ? Die Revolution war in der Luft Jeder hat sie eingeathmet, und folglich, was er ausg’haucht hat, war wieder Revolution Da muß sich Keiner schön machen woll’n Aufgefallen ist Ein oder der Andere mehr, da heißt’s halt dann, wie Schiller sagt – ‚den nehm ich heraus aus eu’rer Mitte, doch theilhaft seyd ihr Alle seiner Schuld’ [= Wilhelm Tell, 3  Akt, 3  Szene, von Nestroy leicht verändert] D’rum schencken wir denen, die’s getroffen, die mitleidsvollste Theilnahme, und dancken wir Gott, daß sie uns g’rad zufällig nicht herausgenommen haben ANTON Ach, wenn ich Ihre Einsicht, Ihre Besonnenheit gehabt hätt’, Sie edler Mann – ! KERN Sagen Sie – ‚alter Mann‘ – ‚ sonst nix Denn wär’ ich statt meine Sechszig Jahr in Ihrem Alter g’wesen, ich wär’ auch vielleicht mit einer rothen Federn umg’rennt […] ANTON Auf Zehn Jahr soll ich in Kerker, – Herr von Kern, ich glaub nicht daß ich zu viel sag’ mir is zu viel gescheh’n KERN Das is auch wieder wie man’s nimmt; verdammen Sie deßtwegen Ihre Richter nicht Nach Revolutionen kann’s kein ganz richtiges Straf-Ausmaß geben Dem Gesetz zufolge, verdienen so viele Hunderttausende den Tod – natürlich das geht nicht; also wird halt Einer auf lebenslänglich erschossen, der Andere auf Fünfzehn Jahr eing’sperrt, der auf Sechs Wochen, noch ein Anderer kriegt a Medaille – und im Grund haben’s Alle das Nehmliche gethan 47

Nestroy nach der Revolution 1850–186248 Ungefähr Dreiviertel aller seiner Stücke konzipierte Nestroy vor 1848 Seine Werke des Jahres 1850 erwiesen sich sämtlich als totale Flops Einzig das Stück „Kampl“ (1852) konnte einen Theatererfolg verbuchen Der Aufstieg der Operette verdrängte zunehmend die Posse Am 16 Oktober 1858 wurde erstmals in Wien ein Werk Jacques Offenbachs aufgeführt – und fand großen Zuspruch Als neuer Direktor des Carl-Theaters fokussierte sich Nestroy jetzt auf die Schauspielerei Die Revolution von 1848 besaß auch eine nationale Dimension Bevölkerungen in einigen Nationen sahen sich in der Donaumonarchie wie in einem Gefängnis In der Verfassung vom 4 März 1849 erklärte die Regierung in Wien Österreich-Ungarn zur unteilbaren Monarchie, der Absolutismus war restauriert und stabilisiert Den Erhalt

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Nestroy, Der alte Mann (wie Anm 45), 23 f Rett, Nestroy (wie Anm 23), 213–236

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des Vielvölkerstaates stellte Nestroy bereits 1848 nicht infrage  – und diese Position änderte er nie Als Patriot erschienen ihm die Freiheitsbestrebungen anderer Völker (besonders in Italien, Ungarn und Polen) suspekt Nestroys letztes Stück feierte am 1 Februar 1862 Premiere, ein Werk, das erst nach 1945 für die Bühne entdeckt wurde Mit seiner Satire „Häuptling Abendwind“49 setzt er sich treffsicher mit politischen Schlagwörtern (Freiheit, Zivilisation) auseinander und demaskiert die diplomatischen Höflichkeitsfloskeln, die Heuchelei internationaler Konferenzen sowie den europäischen Kolonialismus – in einem Zeitalter des aggressiven Nationalismus und Größenwahns, das schließlich mit dem Ersten Weltkrieg eskalierte Der menschenscheue, skeptische Autor und Schauspieler starb in Graz am 25 Mai 1862 im Alter von 61 Jahren

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Helmut Mojem, Unedle Zivilisierte Zur Zielrichtung der Satire in Nestroys „Häuptling Abendwind“, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft, 40, 1996, 276–296; Alessandra Schininà: „Bey uns stirbt man im Ernst …“ Schwarzer Humor und Entlarvung der alltäglichen Brutalität in Johann Nestroys „Häuptling Abendwind“, in: Nestroyana, 33, 2013, 177–185

Vormärz an Rhein und Main Bürgerlicher Aufbruch zwischen Region und Nation Dieter Hein Als in den letzten Februartagen 1848 die ersten Nachrichten über die nach 1789 und 1830 nun schon dritte französische Revolution in die am Rhein gelegenen deutschen Städte gelangten, wirkten sie auch im Rhein-Main-Gebiet vielerorts als politische Initialzündung 1 Bereits am 27 Februar ging in Hanau aus einer Wirtshausversammlung, eben noch verschämt als „Abendunterhaltung“ deklariert, ein Umzug durch die Stadt unter schwarz-rot-goldenen Fahnen hervor, dem in den nächsten Tagen viele nun ganz offen politisch agierende Volksversammlungen folgten Am 1 März reiste dann eine dreiköpfige Abordnung mit einer am Tag zuvor beschlossenen Petition in die Hauptstadt Kassel ab, deren Kernpunkte jedoch erst nach zähem Ringen am 11 März von Kurfürst Friedrich Wilhelm I bewilligt wurden 2 In Darmstadt ergriffen die Liberalen mit Heinrich von Gagern an der Spitze ebenfalls umgehend, am 28 Februar, in der Zweiten Kammer die Initiative und beantragten die Schaffung einer provisorischen Zentralgewalt und einer Volksrepräsentation Ein umfangreicherer Katalog von Märzforderungen wurde am 2 März von einer Bürgerversammlung beschlossen, der von der großherzoglichen Regierung zunächst teilweise und dann am 6 März – begleitet von der Berufung eines Märzministeriums – vollständig zugesagt wurde 3

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Allgemein zur Märzrevolution im Rhein-Main-Gebiet: Wettengel, Michael: Die Revolution von 1848/49 im Rhein-Main-Raum Politische Vereine und Revolutionsalltag im Großherzogtum Hessen, Herzogtum Nassau und in der Freien Stadt Frankfurt Wiesbaden 1989, bes S  50 ff , sowie die Beiträge in: Böhme, Klaus / Heidenreich, Bernd (Hrsg ): „Einigkeit und Recht und Freiheit“ Die Revolution von 1848/49 im Bundesland Hessen Opladen/Wiesbaden 1999 Tapp, Alfred: Hanau im Vormärz und in der Revolution von 1848/49 Ein Beitrag zur Geschichte des Kurfürstentums Hessen Hanau 1976, S  255 ff Fleck, Peter: Die 1848/49er Ereignisse und ihre Vorgeschichte in Hessen-Darmstadt In: Böhme/ Heidenreich (Hrsg ), Einigkeit (wie Anm  1), S  199–220, bes S  6 ff ; Lange, Thomas (Bearb ), „Besorgt man einen Aufstand der Bürger?“ Die Revolution von 1848/49 in Darmstadt und im Odenwald Dokumente 1847–1849 Darmstadt 1998

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Auch in der nassauischen Hauptstadt Wiesbaden war schon am 29 Februar eine außergewöhnliche Unruhe zu bemerken Die oppositionellen Liberalen trafen sich unter Führung von August Hergenhahn erstmals am Abend des 1 März und beriefen für den nächsten Tag eine große Versammlung ein: Etwa 4000 Menschen berieten und billigten hier neun „Forderungen der Nassauer“, die sich in den Kernpunkten an die bereits am 27 Februar in Mannheim aufgestellte „Urform“ der Märzforderungen anlehnten Am 4 März folgte eine machtvolle, auf 30 000 Teilnehmer geschätzte Demonstration, bei der der Ausbruch revolutionärer Gewalt nur dadurch abgewendet werden konnte, dass der zuvor abwesende Herzog Adolph in letzter Minute in der Residenz eintraf und die Bewilligung aller Forderungen zusagte 4 Recht weit hinten in der Reihe des Aufbegehrens stand hingegen im März 1848 die größte Stadt im Rhein-Main-Gebiet, Frankfurt, wo erst am Abend des 3 März eine Versammlung mit 2000 Teilnehmern in der städtischen Reitbahn zusammenkam und einen Forderungskatalog an den Senat der Stadt billigte Als die Petition am nächsten Tag an den Senat übergeben werden sollte, versammelte sich eine große, hochgradig erregte Menschenmenge auf dem Römerberg Nur mit äußerster Mühe konnte eine gewaltsame Eruption vermieden werden Erst infolge der nahezu vollständigen Bewilligung der Märzforderungen durch den Senat in den nächsten Tagen entspannte sich die Situation 5 Insgesamt jedoch vollzog sich in der Märzrevolution ein relativ gleichgerichteter politischer Aufbruch der Region an Rhein und Main: in der Schnelligkeit, mit der die liberale Opposition auf die französischen Impulse reagierte, in den Protest- und Aktionsformen, auch in den nahezu deckungsgleichen Forderungen, die die Opposition in den Mittelpunkt ihres Aufbegehrens stellte, und nicht zuletzt in der weitgehenden Gewaltlosigkeit, mit der die Obrigkeit zum Einlenken bewegt werden konnte Das mag auf den ersten Blick überraschen, war doch das Rhein-Main-Gebiet auch nach den Neuordnungen der napoleonischen Epoche nach wie vor territorial stark zersplittert und gehörte zu fünf verschiedenen Staaten Vor allem in seinem Herzstück Frankfurt trafen die Staatsgrenzen, nämlich die des Herzogtums Nassau, des Großherzogtums

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Struck, Wolf-Heino: Wiesbaden im Biedermeier Wiesbaden 1981, S  16 ff ; Weichel, Thomas: Die Bürger von Wiesbaden Von der Landstadt zur „Weltkurstadt“ (1780–1914) München 1997, S  199 ff Rittweger, Franz: Frankfurt am Main im Jahre 1848 Ein Beitrag zur Städtegeschichte Frankfurt am Main 1898, bes S  5 ff ; Valentin, Veit: Frankfurt am Main und die Revolution von 1848/49 Stuttgart/Berlin 1908, S  131 ff ; Weber, Matthias: Die Revolution im Stadtstaat: die Freie Stadt Frankfurt am Main 1848–1850 In: Archiv für Frankfurts Geschichte und Kunst 64, 1998, S   247–265, bes S  252 ff Zuletzt zusammenfassend: Roth, Ralf: Die Herausbildung einer modernen bürgerlichen Gesellschaft Frankfurt in der Zeit von der Französischen Revolution bis zum Ende der Freien Stadt 1789–1866 Ostfildern 2012, S  357 ff

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Hessen-Darmstadt, des Kurfürstentums Hessen-Kassel, der Freien Stadt Frankfurt am Main und der Landgrafschaft Hessen-Homburg, aufeinander 6 Doch auch unterschiedliche Landeszugehörigkeit, abweichende Verfassungsordnungen und besonders eine höchst differierende Verfassungspraxis hatten eben nicht verhindert, dass sich überall an Rhein und Main ein hohes Protestpotential anstaute, dass die bürgerlich-liberale Oppositionsbewegung schlagkräftige organisatorische Strukturen aufbaute, dass sie die neuen Instrumente, die den öffentlichen Raum konstituierten, virtuos zu nutzen verstand, dass sie die Fähigkeit entwickelte, eine große Volksmenge binnen kürzester Zeit zu mobilisieren und zugleich zu kontrollieren, schließlich dass sie sich auf breite Unterstützung in der Bevölkerung und nicht zuletzt auch in den städtischen Führungsschichten verlassen konnte – und das ja im Übrigen nicht nur hier, sondern in ähnlicher Intensität ebenso in einem großen Teilgebiet des Deutschen Bundes, das von der Rheinprovinz im Westen bis in die süddeutschen Staaten reichte und auch weit in die Mitte Deutschlands ausstrahlte Dieser tiefgreifende Wandel, der sich in den vorangehenden Jahrzehnten vollzogen hatte, trat nun im März 1848 schlagartig und in aller Deutlichkeit zu Tage Darauf zielt ja auch in erster Linie der Begriff „Vormärz“, so wie er heute durchweg als Epochensignum verwendet wird7: Er betont den vorrevolutionären Charakter der Epoche; die große politische Unruhe, die dynamische gesellschaftliche Bewegung und der starke ökonomische Wandel treten in den Vordergrund Damit hat sich die historische Forschung weit weg bewegt von jener kurz nach der Revolution 1848/49 formulierten Deutung der Zeitgenossen, die wie Rankes berühmtes Diktum von den „halkyonischen Tagen“ zwar das Revolutionäre des gesamten Zeitalters sah, speziell aber die Zeit von 1815 bis 1848 als eine Phase der relativen Ruhe zwischen den Stürmen charakterisierte 8 In diese Richtung zielte auch die nahezu gleichzeitig aufkommende Bezeichnung „Biedermeier“ – ursprünglich für die Literatur und im weiteren Sinne für die Kultur dieser Epoche geprägt, später aber vorwiegend abwertend auf das Bürgertum der Zeit und sein angeblich fehlendes politisches Engagement bezogen 9 Zumindest Teile dieser Sicht haben sich noch – vereinzelt bis in jüngste Veröffentlichungen 6

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Kurze Überblicke über die Geschichte dieser Territorien in der ersten Hälfte des 19  Jahrhunderts bei: Kroll, Frank-Lothar: Geschichte Hessens München 2006, S  43 ff , u Speitkamp, Winfried: Hessen im 19  Jahrhundert In: Heidenreich, Bernd / Böhme, Klaus (Hrsg ): Hessen Land und Politik Stuttgart 2003, S  66–92 Vgl als Bilanz des Forschungsstandes zuletzt: Eke, Norbert Otto (Hrsg ): Vormärz-Handbuch Bielefeld 2020 Vgl bes Faber, Karl-Georg: Deutsche Geschichte im 19 Jahrhundert Restauration und Revolution Von 1815 bis 1851 Wiesbaden 1979, S  127 f Dazu ebd u Eke, Norbert: Vormärz – Prolegomenon einer Epochendarstellung In: ders (Hrsg ), Vormärz-Handbuch (wie Anm  7), S  9–18, hier S  13 f Zur kritischen Auseinandersetzung mit dem Biedermeier-Begriff vgl v a Berding, Helmut: Biedermeier und Revolution In: Bohnen, Klaus / Jørgensen, Sven-Aage / Schmöe, Friedrich (Hrsg ): Kultur und Gesellschaft in Deutschland von der Reformation bis zur Gegenwart Eine Vortragsreihe Kopenhagen/München 1981, S   83–97

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hinein – in der Weise gehalten, dass die Zeit zwischen dem Wiener Kongress und der Julirevolution 1830 als Restaurationsepoche überschrieben und der Begriff Vormärz auf die nachfolgende Zeit beschränkt wird 10 Wolfgang Hardtwig war dann 1985 der erste, der den Vormärz-Begriff auf die Gesamtepoche zwischen 1815 und 1848 ausdehnte11, und vieles spricht heute dafür, ihm darin zu folgen Denn seither hat eine breite, nicht zuletzt auch auf der regionalen und lokalen Ebene ansetzende Forschung zahlreiche Argumente dafür zu Tage gefördert, die Elemente der Dynamik und des Wandels, des Konflikts und des Vorrevolutionären zu betonen 12 In Fortführung dieses Deutungsansatzes soll im Folgenden der Akzent auf dem bürgerlichen Aufbruch liegen Drei zentrale Facetten dieses Aufbruchs sollen dabei im Mittelpunkt stehen: die kommunale Politik, das Vereinswesen und die wirtschaftliche Modernisierung Zunächst also zur politischen Entwicklung auf der kommunalen Ebene: Nach dem oft radikalen Zugriff des Staates auf die Gemeinden in der napoleonischen Epoche, kam es in allen hessischen Staaten nach 1815 – nicht zuletzt wegen massiver Klagen über die bürokratische „Vielregiererei und Organisationswut“13 und aufgrund heftigen kommunalen Widerstandes gegen die erste Welle der Verwaltungsreformen14  – zu einer erneuten Umgestaltung der Gemeindeverfassungen: in Nassau 181615 und im Großherzogtum 182116, in Kurhessen allerdings erst 183417 Allgemein zeigten die neuen Ordnungen die Tendenz, die Gemeinden zwar auf der einen Seite nicht mehr aus der Herrschaft des allgemeinen, des staatlichen Gesetzes zu entlassen, aber auf der ande-

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Die Modernität der Biedermeier-Kultur betont plastisch: Ottomeyer, Hans / Schröder, Klaus Albrecht / Winters, Laurie (Hrsg ): Biedermeier Die Erfindung der Einfachheit Ostfildern 2006 Geisthövel, Alexa: Restauration und Vormärz 1815–1847 Paderborn/München/Wien/Zürich 2008 Hardtwig, Wolfgang: Vormärz Der monarchische Staat und das Bürgertum München 1985, S  7 f Den fundiertesten Überblick über den neueren Erkenntnisstand gibt Hahn, Hans-Werner / Berding, Helmut: Reformen, Restauration und Revolution 1806–1848/49 (Gebhardt, Handbuch der deutschen Geschichte, 10 , völlig neu bearb Aufl , Bd  14) Stuttgart 2010 Vgl jetzt ergänzend die Beiträge in Eke (Hrsg ), Vormärz (wie Anm 7) Schulz, Andreas: Herrschaft durch Verwaltung Die Rheinbundreformen in Hessen-Darmstadt unter Napoleon (1803–1815) Stuttgart 1991, S  129 Vgl ebd , S  127, über „wilde“, staatlich nicht genehmigte Provinziallandtage und Gemeindetage zwischen 1818 und 1823 Vgl Treichel, Eckhardt: Der Primat der Bürokratie Bürokratischer Staat und bürokratische Elite im Herzogtum Nassau 1806–1866 Stuttgart 1991, S   156 ff , Croon, Helmuth: Gemeindeordnungen in Südwestdeutschland In: Naunin, Helmut (Hrsg ): Städteordnungen des 19 Jahrhunderts Beiträge zur Kommunalgeschichte Mittel- und Westeuropas Köln/Wien 1984, S   233–271, hier S  236 ff , u Weichel, Bürger (wie Anm  4), S  101 ff Dazu Croon, Gemeindeordnungen (wie Anm  15), S  239 ff , u Schulz, Herrschaft (wie Anm  13), S  122 ff Vgl Grothe, Ewald: Schritt in die Moderne oder „Schelmenstreich“? Kommunale Selbstverwaltung kontra staatliche Kontrolle in der kurhessischen Städte- und Gemeindeordnung von 1834 In: Fuldaer Geschichtsblätter 86, 2010, S  113–138

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ren Seite ihren Handlungsspielraum wieder maßvoll zu erweitern und neue Mitsprachemöglichkeiten für deren Bürger zu schaffen 18 Insbesondere wurde den Gemeinden das Recht der Bürgeraufnahme zurückgegeben, zugleich jedoch die Vergabe des Bürgerrechts an klare gesetzlich festgelegte Kriterien, vor allem Besitz und Gewerbe, gebunden und die kommunale Entscheidung dem Rekurs an die staatlichen Behörden unterworfen Damit sollte einer ausschließlich sozialkonservativen, fremdenfeindlichen Bürgerrechtspolitik ein Riegel vorgeschoben werden Die bisher minderberechtigten Beisassen wurden  – jedenfalls in Nassau  – den Vollbürgern gleichgestellt, so dass, abgesehen von dem Sonderstatus der Beamten und des Militärs, nur noch die Juden rechtlich diskriminiert waren Im Ergebnis wurde so eine sozial breiter gefasste, aber verstaatlichte bürgerliche Rechtsgemeinschaft geschaffen 19 Diesem Kreis der vollberechtigten Bürger wurde nun ein wenn auch begrenzter Einfluss auf die Regelung der kommunalen Angelegenheiten zugestanden, indem wenigstens eines der Gemeindeorgane von ihnen gewählt werden durfte Hingegen musste der Bürgermeister in seiner Doppelfunktion als Vorsteher der Gemeinde und zugleich unterste Staatsinstanz von den Behörden bestätigt werden oder wurde gar von ihnen aus dem Kreis der Bürger ernannt Da zudem die gewählte Gemeindevertretung meist nur über kontrollierende, teilweise sogar nur beratende Befugnisse verfügte, blieben die kommunalen Reformgesetze deutlich hinter den Partizipationswünschen der Bürger zurück Doch trugen die Reformen, indem sie die oft willkürliche und korrupte Herrschaft verkrusteter Ratsoligarchien aufbrachen und wirtschaftlich erfolgreichen Bürgern den Weg in die Gemeindegremien ebneten, wesentlich zu der schrittweisen Dynamisierung der kommunalen Politik bei 20 Auch die Verfassungsentwicklung in Frankfurt, das eigentlich als Stadtstaat einen Sonderfall bildete, ordnet sich, nicht in jeder Hinsicht, aber in einigen wichtigen Aspekten, durchaus in diese Zeittendenzen ein Äußerlich eine weitgehende Wiederherstellung der Verhältnisse in der reichsstädtischen Zeit, brachte die ConstitutionsErgänzungsakte von 181621 doch bedeutende Veränderungen: Die Kompetenzen der Bürgerkollegien zur Kontrolle von Haushalt und Verwaltung wurden gestärkt In der Legislative wurde mit der teilweise von den Bürgern zu wählenden Gesetzgebenden

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Vgl Treichel, Eckhardt: Restaurationssystem und Verwaltungsmodernisierung Verwaltungs-, Beamten- und Kommunalreformen in Süddeutschland in der ersten Hälfte des 19 Jahrhunderts In: Ullmann, Hans-Peter  / Zimmermann, Clemens (Hrsg ): Restaurationssystem und Reformpolitik Süddeutschland und Preußen im Vergleich München 1996, S  65–84, hier S  78 ff Vgl Sobania, Michael: Rechtliche Konstituierungsfaktoren des Bürgertums In: Gall, Lothar (Hrsg ): Stadt und Bürgertum im Übergang von der traditionalen zur modernen Gesellschaft München 1993, S  131–150 Vgl Mettele, Gisela: Verwalten und Regieren oder Selbstverwaltung und Selbstregieren In: Gall (Hrsg ), Übergang (wie Anm  19), S  343–365 Hierzu bes Roth, Herausbildung (wie Anm  5), S  244 ff

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Versammlung ein neues Gremium geschaffen, das zwar noch keine Repräsentativvertretung im modernen Sinne war, aber in der politischen Praxis eine Entwicklung in diese Richtung eröffnete Und im Senat, der seine Stellung als Machtzentrum behaupten konnte, nahm, indem alle patrizischen Vorrechte auf einen Sitz im Senat gestrichen wurden, auf längere Sicht das Gewicht der Kaufleute und der ihnen oft familiär verbundenen Juristen mehr und mehr zu Insgesamt erweist sich die ConstitutionsErgänzungsakte, die von den Frankfurter Bürgern durch Abstimmung angenommen und am 18 Oktober 1816 mit einem förmlichen Eid auf dem Römerberg beschworen wurde, als ein pragmatischer Kompromiss, der durch eine höchst eigentümliche Mischung aus traditional-ständischen und modernen repräsentativ-konstitutionellen Elementen gekennzeichnet war Mindestens ebenso wichtig wie die Veränderungen in der sozialen Zusammensetzung der städtischen Gremien war, dass sich der Kreis der mit der Stadtpolitik befassten Bürger ganz erheblich erweiterte: Insgesamt waren in Frankfurt nun 230 politische Mandate zu vergeben, was etwa 5 % der Bürgerschaft entsprach Berücksichtigt man, dass zwar einzelne Positionen auf Lebenszeit vergeben wurden, die meisten Mandate jedoch in kurzen Abständen erneut zur Wahl anstanden, so waren, wie Ralf Roth geschätzt hat, auf längere Sicht sogar rund 10 % der Bürger haupt- oder ehrenamtlich mit den städtischen Angelegenheiten befasst 22 Dabei sind freilich noch nicht all jene berücksichtigt, die in städtischen Kommissionen, in der Armenverwaltung, in Kirchen- und Stiftungsgremien oder in den Vorständen der freien Assoziationen engagiert waren, obwohl auch sie einen großen Teil der Leistungen des Gemeinwesens mitverwalteten und mitverantworteten Politik war also in Frankfurt unter der neuen Stadtverfassung wieder eine gemeinbürgerliche Erfahrung geworden, die für das Selbstverständnis der Bürger eine fundamentale Rolle spielte Vergleichbar hohe Partizipationsquoten konnten unter den Gemeindeordnungen der hessischen Flächenstaaten nicht erreicht werden; dazu war die Zahl der zu vergebenden Mandate zu gering, die Wahlen und Mandatswechsel zu selten 23 Dennoch kam es auch hier  – immer wieder angeregt durch einzelne Konflikte zwischen den Gemeinden und dem Staat – zu einer langfristig zunehmenden politischen Mobilisierung und zu einem engen Schulterschluss der Bürger mit ihren kommunalpolitischen Repräsentanten Oft wusste sich die Staatsmacht dann – wie in Wiesbaden 1833 – nicht anders zu helfen, als den allzu sehr vom Vertrauen seiner Mitbürger getragenen Stadtschultheißen, obwohl ursprünglich von ihr selbst ernannt, aus dem Amt zu entfernen und durch einen regierungskonformeren Mann zu ersetzen 24 Wohl am deutlichsten

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Roth, Ralf: Liberalismus in Frankfurt am Main 1814–1914 Probleme seiner Strukturgeschichte In: Gall, Lothar / Langewiesche, Dieter (Hrsg ): Liberalismus und Region Zur Geschichte des deutschen Liberalismus im 19 Jahrhundert München 1995, S  41–85, hier S  47 f Vgl Weichel, Bürger (wie Anm  4), S  161 Ebd , S  150 f

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lässt sich diese Konstellation, dass sich die Bürgerschaft praktisch geschlossen hinter Bürgermeister und Magistrat stellte und umgekehrt diese nahezu alle politischen Aktivitäten der Bürger zu decken versuchten, in Hanau beobachten, dessen Bürger einen ausgesprochen radikalen Oppositionskurs steuerten Politischen Zündstoff boten hier vor allem die in Kurhessen nicht endenden Verfassungskonflikte und die zollpolitischen Auseinandersetzungen, fühlte sich die Stadt doch aufgrund ihrer exponierten Lage an der Südgrenze Kurhessens durch den zollpolitischen Kurs der Kasseler Regierung massiv in ihrer wirtschaftlichen Entwicklung bedroht und beschädigt 25 Der politische Aufbruch im kommunalen Rahmen war eng verknüpft, ja oft geradezu netzartig verwoben mit den neuen Formen der gesellschaftlichen Organisierung, die der bürgerliche Aufbruch hervorbrachte Schon die Zeitgenossen sahen im Vereinswesen eine der wichtigsten neuen Errungenschaften, ja, ein förmliches Epochenmerkmal: „Unsere Zeit ist die Zeit der Association!“, hieß es in diesem Sinne geradezu apodiktisch 1845 in der Frankfurter Gemeinnützigen Chronik 26 Nach Vorläufern und Anfängen, die in Form von Aufklärungsgesellschaften, Freimaurerlogen und Lesevereinen oft weit ins 18 Jahrhundert zurückreichten, hatte sich um 1800 in allen größeren und mittleren Städten unter Namen wie „Casino“, „Harmonie“ oder „Museum“ ein neuer Typus von Vereinen gebildet In ihnen war die jeweilige Elite einer Stadt weitgehend vollständig vertreten, d h diese Vereine erfüllten mit ihrem Angebot der Zeitungs- und Buchlektüre, des anspruchsvollen Gesprächs unter Gebildeten und des zwanglosen geselligen Beisammenseins eine wichtige Funktion darin, eine nach- und überständische Öffentlichkeit zu konstituieren und in neuen demokratischen Formen zu organisieren, ja teilweise bereits in gewissem Maße politisch handlungsfähig zu machen Über diese Anfänge ist das Vereinswesen dann in den Vormärzjahrzehnten in großen Schritten hinausgegangen Drei Haupttendenzen kennzeichneten die Entwicklung 27 Zum ersten weiteten sich die Aufgabenfelder, auf denen Vereine tätig wurden, mehr und mehr aus Kunst- und Künstlerförderung, Musik und Theater, Geschichtspflege und Gewerbeförderung, Armenunterstützung und Bildung, Männergesang und Turnen, aber auch der Philhellenismus der 1820er und die Polenbegeisterung der frühen 1830er Jahre wurden auf diese Weise organisiert Selbst in den ersten Aktiengesellschaften sahen die Zeitgenossen nur eine Variante des immer gleichen Prinzips der Assoziation, des gleichberechtigten Zusammenschlusses freier Individuen Die rasch voranschreitende Entwicklung und die beachtlichen Leistungen, die von den Vereinen auf den verschiedenen Feldern schon bald erbracht wurden, stärkten wiederum das

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Tapp, Hanau im Vormärz (wie Anm  2), bes S  106 ff u 135 ff Zit nach: Roth, Ralf: Stadt und Bürgertum in Frankfurt am Main Ein besonderer Weg von der ständischen zur modernen Bürgergesellschaft 1760–1914 München 1996, S  323 f Vgl Hein, Dieter: Soziale Konstituierungsfaktoren des Bürgertums In: Gall (Hrsg ), Übergang (wie Anm  19), S  151–183

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bürgerliche Selbstbewusstsein und nährten die Vorstellung, dass auf diesem Wege letztlich fast alle Aufgaben und Probleme aus der Gesellschaft selbst heraus, ohne staatliche Regelung und Bevormundung bewältigt werden könnten Als eine „Universalformel zur Konfliktlösung“ hat Wolfgang Hardtwig dieses vormärzliche Verständnis des Vereins treffend beschrieben 28 Zum zweiten dehnte sich das Vereinswesen in regionaler Hinsicht aus Es diffundierte die vormärzliche Gesellschaft von den großen Städten aus hin zu den kleineren Kommunen Dabei blieben zwar die hinsichtlich Bildung und materieller Ausstattung anspruchsvolleren Assoziationsformen wie die Kunstvereine den Metropolen vorbehalten, andere aber, wie Lese-, Bildungs-, Wohltätigkeits- oder auch Gesang-, ja sogar Polenvereine29, drangen bis in Landgemeinden vor Zum dritten nahm im Laufe des Vormärz die soziale Integrationskraft des Vereinswesens zu Waren zunächst nur die Spitzen der städtischen Gesellschaft, also Kaufleute, Bankiers, Bildungsbürger sowie je nach Stadttyp auch höhere Beamte, Offiziere und einzelne Adelige, einbezogen gewesen, so erweiterte sich in den 1830er und 1840er Jahren das soziale Spektrum, teilweise durch eine offenere Haltung der bestehenden Vereine, mehr noch aber durch neue Vereine, die wie die Gewerbe- oder Gesangvereine von vornherein breiter konzipiert waren, hin zum mittleren bis kleinen Bürgertum Für Frankfurt ist berechnet worden, dass bereits in den 1830er Jahren zwischen 2500 und 3000 Personen und damit etwa die Hälfte der Bürgerschaft in den Vereinen organisiert waren 30 Parallel hierzu wurden auch die bisher noch diskriminierten Minderheiten zugelassen, vor allem die Juden Diese Öffnung verlief alles andere als konfliktfrei, wie allein schon die Tatsache erhellt, dass in Frankfurt erst Mitte der 1830er Jahre Mitglieder der Familie Rothschild in den vornehmsten Verein der Stadt, die 1802 gegründete Casinogesellschaft, aufgenommen wurden 31 Zudem blieb bis in die 1848er Revolution die Grenze gegenüber den unterbürgerlichen Schichten, auch wenn beispielsweise in den Turnvereinen diese Scheidelinie vereinzelt gestreift wurde, scharf gezogen In Parenthese sei gesagt: Die in der Literatur oft betonte Ausgrenzung des weiblichen Geschlechts aus den Vereinen32 galt nur für bestimmte Arten und Aktivitäten von As-

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Hardtwig, Wolfgang: Strukturmerkmale und Entwicklungstendenzen des Vereinswesens in Deutschland 1789–1848 In: Dann, Otto (Hrsg ): Vereinswesen und bürgerliche Gesellschaft in Deutschland München 1984, S  11–50, hier S  49 Vgl Wettengel, Revolution (wie Anm  1), S  32 Roth, Ralf: Das Vereinswesen in Frankfurt am Main als Beispiel einer nichtstaatlichen Bildungsstruktur In: Archiv für Frankfurts Geschichte und Kunst 64, 1998, S  143–210, hier S  165 Roth, Stadt und Bürgertum (wie Anm  26), S  340 So etwa Hoffmann, Stefan-Ludwig: Geselligkeit und Demokratie Vereine und zivile Gesellschaft im transnationalen Vergleich 1750–1914 Göttingen 2003, S  45

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soziationen; besonders in allen kulturell, sozial und bildungspolitisch tätigen Vereinen war die Mitwirkung und oft auch Mitgliedschaft von Frauen hoch erwünscht 33 Berücksichtigt man jedoch, dass schon mit dem ständeübergreifenden Ansatz der Assoziationen und der in der napoleonischen Epoche erreichten Gleichberechtigung der drei christlichen Konfessionen zuvor als unüberwindbar erscheinende Gräben zugeschüttet worden waren, so wird verständlicher, warum die Zeitgenossen vornehmlich auf die Integrationsleistung schauten und daraus – ebenso wie aus der prognostizierten Zunahme selbständiger Existenzen – die Erwartung ableiteten, dass sich das Bürgertum zum allgemeinen Stand entwickeln und die Gesamtgesellschaft sich auf einem mittleren bürgerlichen Niveau stabilisieren werde 34 Gleichzeitig wurde die Entfaltung des Vereinswesens von den Zeitgenossen eben nicht oder kaum als ein Prozess der Ausdifferenzierung und Pluralisierung der modernen Gesellschaft gesehen, schon gar nicht als deren Desintegration und Auseinanderfallen Das lag zum einen daran, dass es – anders als nach der Jahrhundertmitte – praktisch noch keine Vereinskonkurrenz gab, die auf politischen, konfessionellen oder sozialen Unterschieden beruhte Und zum anderen wurde ein enger Zusammenhalt zwischen den auf den verschiedenen Gebieten tätigen Vereinen über Mehrfachmitgliedschaften der stadtbürgerlichen Führungsschicht gestiftet Ihre prominenten, in Politik und Öffentlichkeit aktiven Sprecher waren nicht nur in allen wichtigen Vereinen vertreten und übten damit eine weitgehende Kontrolle über diese Form von Öffentlichkeit aus, sondern sie stellten über ihre Mandate in den kommunalen Gremien und in den Landtagen auch den Konnex zur liberalen Bewegung und zur Opposition gegen den monarchischen Obrigkeitsstaat her Für Frankfurt hat Ralf Roth dies auch quantitativ eindrucksvoll belegen können: So waren z B von den 230 Unterzeichnern, die 1832 für eine Petition zur Pressefreiheit eintraten, 130 Mitglieder von Vereinen, darunter 48 sogar als Vereinsgründer Und von den 48 Personen, die 1840 gegenüber den Behörden als Oppositionelle denunziert wurden, waren nicht weniger als 38 in unterschiedlichen Assoziationen engagiert 35 Die personellen Verknüpfungen waren auch die wichtigste Gewähr dafür, dass die formal unpolitischen Vereine trotz der repressiven Bedingungen des Vormärz eine zentrale politische Mobilisierungsfunktion übernehmen konnten Sie ist mit dem häufig verwendeten Begriff der Kryptopolitisierung eigentlich nur unzureichend und ungenau umschrieben Denn die meisten Vereine betrieben, genau besehen, keine verdeckte Form von Politik Vielmehr wirkten sie gerade dadurch politisch, dass das abstrakte systemsprengende Prinzip einer Selbstorganisation der Gesellschaft in den

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Vgl für Frankfurt Roth, Vereinswesen (wie Anm  31), S  173 ff So die klassische These von Gall, Lothar: Liberalismus und „bürgerliche Gesellschaft“ Zu Charakter und Entwicklung der liberalen Bewegung in Deutschland In: Historische Zeitschrift 220, 1973, S  324–356 Roth, Liberalismus in Frankfurt (wie Anm  22), 65

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Assoziationen konkret erfahrbar und beständig eingeübt wurde Und indem sich Repräsentanten und Anhänger der liberalen Opposition hier immer wieder persönlich begegneten, wurde indirekt nahezu jede Vereinsaktivität im oppositionellen Sinne politisch aufgeladen und verstanden Beide geschilderten Mobilisierungen – der kommunalpolitische Aufbruch wie der Aufschwung des Vereinswesens – hingen wiederum auf das Engste mit der wirtschaftlichen Dynamisierung zusammen, die die Vormärzepoche prägte Noch vor gut drei Jahrzehnten gehörte es zu den Standardthesen der einschlägigen Epochendarstellungen36, die  – verglichen mit Westeuropa und der Schweiz  – wirtschaftliche Rückständigkeit Deutschlands zu betonen und damit zugleich das Bild eines ökonomisch schwachen vormärzlichen Bürgertums zu verbinden Dieses Bild war und ist jedoch nur richtig, wenn man wirtschaftliche Modernisierung einseitig als Industrialisierung begreift, also in erster Linie Dampfmaschinen zählt und nach Großbetrieben mit vielköpfiger Belegschaft sucht Mittlerweile haben jedoch zahlreiche Untersuchungen zu einzelnen Städten und Regionen, zu Gewerbezweigen und Unternehmen, schließlich auch familien- und kollektivbiographische Studien deutlich gemacht, dass die wirtschaftliche Dynamisierung und durchgreifende Modernisierung der ersten Hälfte des 19  Jahrhunderts ein vielgestaltiger, in einzelnen Städten und Regionen höchst differenziert ablaufender Prozess war Seine Impulse bezog er eben nicht nur aus Innovationen in der gewerblichen und auch agrarischen Produktion, sondern mindestens ebenso sehr aus den in Bewegung geratenen und teilweise rasch wechselnden wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen und einer dramatischen Verbesserung der Kommunikations- und Verkehrsverhältnisse 37 Dieser Wandel konnte im Einzelfall, bei einigen Städten, die bisherigen Nahrungsgrundlagen dauerhaft zerstören oder – wie im Falle von Mainz mit dem Übergang zur freien Rheinschifffahrt und dem Verlust der Stapelrechte38 – zumindest zeitweise gefährden Aber insgesamt zählte gerade das Rhein-Main-Gebiet allein schon aufgrund seiner zentralen Lage zu den Gewinnern dieser Veränderungen Das beste Beispiel bietet natürlich Frankfurt39, das trotz einer seit Jahrzehnten zurückgehenden Bedeutung des Messegeschäfts, trotz massiver Handels- und Gewerbekonkurrenz der jeweils von ihren Landesherren geförderten Nachbarstädte Offenbach, Hanau, Mainz, Bockenheim und Höchst und trotz einer rückläufigen Entwicklung des für Frankfurt so wichtigen europäischen Fernhandels im Vormärz eine ausgesproche36 37 38 39

Vgl z B Koch, Rainer: Deutsche Geschichte 1815–1848 Restauration oder Vormärz? Stuttgart/ Berlin/Köln/Mainz 1985, S  186 ff Vgl zusammenfassend Hahn/Berding, Reformen (wie Anm  12), S  205 ff Vgl Strauch, Dieter: Die Entwicklung des Rheinschifffahrtsrechts zwischen 1815 und 1868 In: Looz-Corswarem, Clemens von  / Mölich, Georg (Hrsg ): Der Rhein als Verkehrsweg Politik, Recht und Wirtschaft seit dem 18 Jahrhundert Essen 2007, S  61–92 Hierzu Roth, Herausbildung (wie Anm  5), S  271 ff

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ne Prosperitätsphase durchlief Den Aufschwung verdankte die Stadt zum einen dem boomenden Banksektor: Als weltgrößter Börsenplatz für Staatsanleihen, als wichtigstes Finanzzentrum des Guldenraums und aufgrund einer breiten Palette weiterer Geldgeschäfte bot die Stadt einer rasch wachsenden Zahl von Bankhäusern glänzende Aussichten Zum anderen konnten die großen Frankfurter Handelshäuser, indem sie rasch und flexibel die Verluste im Importhandel durch Ausbau des innerdeutschen Handels ausglichen und sich statt im traditionellen Speditionshandel stärker im kapitalintensiven Großhandel engagierten, ihre Position nicht nur behaupten, sondern noch ausbauen Zwei große Hürden waren auf diesem Erfolgsweg zu überwinden: die bedrohlichen Veränderungen in den Verkehrsnetzen und die Gefahren, die von der Zollpolitik Preußens und der Frankfurter Nachbarstaaten ausgingen Gegen den Chausseebau der Nachbarstaaten und vor allem gegen die Rheinschifffahrt, an deren Aufschwung die Stadt aufgrund des nur bedingt schiffbaren Mains zunächst nicht recht teilhaben konnte, setzten die Frankfurter sehr früh, mit aller Entschiedenheit und mit hohen Investitionen auf die Eisenbahn als das Transportmittel der Zukunft 40 Immerhin war die 1839/40 eröffnete Taunusbahn von Frankfurt nach Wiesbaden die erste Eisenbahn im hessischen Raum und zudem noch rein privat finanziert Und in der Frage des Zollvereins, dem man anfangs als Stadt des Freihandels nicht beitreten wollte, hat man – nicht zuletzt aufgrund massiver Verluste in Handel und Gewerbe – schon nach kurzer Zeit einen radikalen Kurswechsel vollzogen und sich dann im Handelsgeschäft ganz auf die neuen Gegebenheiten eines nationalen Marktes umgestellt 41 Aber auch in anderen Städten an Rhein und Main waren solche Aufschwünge zu beobachten Viele Kaufleute und Gewerbetreibende profitierten besonders von Sonderkonjunkturen, die sich aus der Nähe zum Handelszentrum Frankfurt wie zugleich aus den Grenzziehungen ergaben Offenbach etwa konnte zeitweise erfolgreich eine Konkurrenzmesse zum großen Nachbarn etablieren 42 Auch andernorts ergaben sich massive Konflikte und Anpassungsprobleme aus den fundamentalen zollpolitischen Veränderungen: Im Falle Kurhessens resultierten sie aus der besonderen Lage Hanaus, dessen Freihandelswünsche kaum mit den Interessen der übrigen Landesteile zu vereinbaren waren 43 Und in Nassau sperrten sich Landesherr und Regierung entgegen dem Drängen der Wirtschaft für eine gewisse Zeit gegen den Beitritt zum Zollverein 44 Der kommunalen Politik eröffnete sich in diesem Zusammenhang ein vollkommen neues Aufgabenfeld In engem Zusammenwirken waren das städtische Wirtschafts40 41 42 43 44

Brake, Ludwig: Die ersten Eisenbahnen in Hessen Eisenbahnpolitik und Eisenbahnbau in Frankfurt, Hessen-Darmstadt, Kurhessen und Nassau bis 1866 Wiesbaden 1991; Roth, Stadt und Bürgertum (wie Anm  26), S  301 ff Hahn, Hans-Werner: Wirtschaftliche Integration im 19 Jahrhundert Die hessischen Staaten und der Deutsche Zollverein Göttingen 1982, S  138 ff Ebd , S  139 ff , u Roth, Herausbildung (wie Anm  5), S  292 ff Hahn, Integration (wie Anm  41), S  97 ff , u Tapp, Hanau (wie Anm  2), S  106 ff Hahn, Integration (wie Anm  41), S  127 ff

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bürgertum, die Handelskammern und die Gemeindeorgane, die gerade in dieser Epoche personell in einem zuvor und danach nicht erreichten Maße verflochten waren, darum bemüht, die Entwicklungschancen der eigenen Stadt durch die Einbeziehung in übergeordnete staatliche Projekte wie auch durch selbständige Initiativen zu verbessern 45 Jedenfalls waren die 1830er und frühen 1840er Jahre auch in ökonomischer Hinsicht durch ein wachsendes Selbstbewusstsein des städtischen Bürgertums geprägt, durch die Überzeugung, in den Städten seien – wie es im Rotteck-Welckerschen Staatslexikon hieß – „die höheren Bestrebungen, Gewerbe, Handel, die Civilisation überhaupt“ angesiedelt 46 Waren die Zielvorstellungen dieses zunehmend selbstbewusster auftretenden städtischen Bürgertums, das sich – wie geschildert – von einer fundamentalen politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Dynamik getragen sah, noch in das politische System der vormärzlichen Einzelstaaten integrierbar? Dieser Frage soll im nun folgenden letzten Teil nachgegangen werden Dabei gilt es zunächst festzuhalten, dass die fundamentalen Spannungen zwischen Herrschern und Beherrschten in den hessischen Staaten bereits ein Erbe der Rheinbundzeit waren Sie resultierten aus der radikalen Art und Weise, in der Monarchen und Bürokratie vor allem mit dem Ziel der Integration der verschiedenen Landesteile, die zu den neuen Staaten zusammengeschlossen wurden, die vorhandenen Verwaltungsstrukturen durch strikt rational konstruierte Administrationen ersetzt und dabei auch alle gewachsenen Mitbestimmungsformen der Bevölkerung beseitigt hatten 47 Die daraus folgenden Defizite und Gefahren sind rückblickend auch von den verantwortlichen Ministern und Beamten durchaus gesehen worden Als Ergänzung zur Politik rein administrativer Integration und dann auch als Konsequenz aus ihrem offenkundigen Scheitern haben bekanntermaßen vor allem Nassau und  – hier zugleich unter dem Druck einer förmlichen Verfassungsbewegung – das Großherzogtum Hessen versucht, einen „Nationalgeist“ über ein sorgfältig begrenztes Angebot politischer Partizipation zu wecken, durch die 1814 und 1820 in Kraft tretenden Verfassungen, durch die Parlamente, die sie schufen, und durch die bereits angesprochene Reform der Gemeindeordnungen 48 Die neuen Partizipationsmöglichkeiten fanden 45 46 47 48

Vgl Schambach, Karin: Städtische Interessenvertretungen und staatliche Wirtschaftspolitik In: Gall (Hrsg ), Übergang (wie Anm 19), S  367–389 Welcker, Karl Theodor: Art ‚Städte, städtische Verfassung‘ In: Rotteck/Welcker, Staatslexikon 15, 1843, S  104–117, hier S  105 So für Hessen-Darmstadt Schulz, Herrschaft (wie Anm  13), S  262 f Vgl allgemein Treichel, Restaurationssystem (wie Anm  18), S  75 ff Zu Nassau: Schüler, Winfried: Die nassauische Verfassung vom 1 /2 September 1814 Schrittmacher der konstitutionellen Bewegung in Deutschland In: Heidenreich, Bernd / Böhme, Klaus (Hrsg ): Hessen Verfassung und Politik Stuttgart/Berlin/Köln 1997, S  59–85 Zu Hessen-Darmstadt: Fleck, Peter: Die Verfassung des Großherzogtums Hessen, 1820–1918 In: ebd , S  86–107, bes S  90 ff , u Zimmermann, Erich: Für Freiheit und Recht! Der Kampf der Darmstädter Demokraten im Vormärz (1815–1848) Darmstadt 1987, S  17 ff

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zunächst in der Bevölkerung, gerade auch in den Städten, eine überwiegend positive Resonanz 49 Sie brachten Stadt und Staat, Bürgertum und Monarchie wieder näher zusammen Vorübergehend schien die Chance zu bestehen, die Einzelstaaten durch moralische Eroberungen bei ihren Bürgern so sehr zu festigen, dass eine auf Gesamtdeutschland bezogene nationale Idee an Gewicht verloren hätte – wobei einschränkend hinzuzufügen ist, dass der Gedanke einer partikularen, also auf den Einzelstaat bezogenen Nationsbildung in den hessischen Staaten in realistischer Einschätzung der Lage nie so ernsthaft erwogen worden ist wie etwa in Bayern oder in Preußen 50 Diese Entwicklung brach um 1820 ab: in Kurhessen51 schon zuvor mit dem Scheitern der Verfassungsgebung, der 1821 eine „rigide Restauration“ folgte, in Nassau52 spätestens 1821 mit der Entlassung des Reformministers Ibell; einzig im Großherzogtum53 blieb die Regierung im Grundsatz offen für partielle Reformen und kooperationsbereit Ein ähnlicher Ablauf lässt sich bei der zweiten Reformphase beobachten, die 1830 durch die französische Julirevolution angestoßen wurde Ihr verdankte bekanntlich das Kurfürstentum seine auf dem Papier höchst liberale, ja in manchen Punkten radikale Verfassung, der allerdings die nachfolgende politische Praxis nie gerecht wurde54; Thomas Nipperdey hat Kurhessen sogar das Land des „permanenten Verfassungskonflikts“ genannt 55 Auch in Nassau und in Hessen-Darmstadt unter dem leitenden Staatsminister Carl du Thil kam es unter dem Eindruck des teilweise radikalen politischen Aufbegehrens, namentlich des Hambacher Festes und des Frankfurter Wachensturms, 1833/34 zu einer reaktionären Wende 56

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Vgl z B für Wiesbaden Weichel, Bürger (wie Anm  4), S  132 ff Allgemein dazu: Sellin, Volker: Nationalbewußtsein und Partikularismus in Deutschland im 19 Jahrhundert In: Assmann, Jan / Hölscher, Tonio (Hrsg ): Kultur und Gedächtnis Frankfurt am Main 1988, S  241–264 Für Bayern vgl v a Blessing, Werner K : Staatsintegration als soziale Integration Zur Entstehung einer bayerischen Gesellschaft im frühen 19 Jahrhundert, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 41, 1978, 633–700; Hanisch, Manfred: Für Fürst und Vaterland Legitimitätsstiftung in Bayern zwischen Revolution 1848 und deutscher Einheit München 1991, S   16 ff ; Willoweit, Dietmar: Auf dem Wag zur bayerischen Nation Chancen und Grenzen des bayerischen Königtums im 19 Jahrhundert In: Schmid, Alois (Hrsg ): 1806 – Bayern wird Königreich Vorgeschichte, Inszenierung, europäischer Rahmen Regensburg 2006, S  210–228 Vgl Speitkamp, Winfried: Restauration als Transformation Untersuchungen zur kurhessischen Verfassungsgeschichte 1813–1830 Darmstadt/Marburg 1986 Vgl Treichel, Primat der Bürokratie (wie Anm  15), S  241 ff Vgl Zimmermann, Freiheit und Recht (wie Anm  48), S  63 ff Ausführlich hierzu: Grothe, Ewald: Verfassungsgebung und Verfassungskonflikt Das Kurfürstentum Hessen in der ersten Ära Hassenpflug 1830–1837 Berlin 1996 Nipperdey, Thomas: Deutsche Geschichte 1806–1866 Bürgerwelt und starker Staat München 1983, S  375 Vgl Büttner, Siegfried: Die Anfänge des Parlamentarismus in Hessen-Darmstadt und das Du Thilsche System Darmstadt 1969; Hahn, Hans-Werner: Zwischen Rheinbund und Revolution von 1848/49 Der Staatskonservatismus des hessen-darmstädtischen Ministers du Thil, in: Grothe, Ewald (Hrsg ): Konservative deutsche Politiker im 19 Jahrhundert Wirken – Wirkung – Wahrnehmung Marburg 2010, S  35–51

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Zwar spielte sowohl um 1820 als auch nach 1830 der nicht zuletzt von den Großmächten Österreich und Preußen zu verantwortende äußere Druck des Deutschen Bundes im Zeichen des monarchischen Prinzips und einer verschärften „Demagogenverfolgung“ eine maßgebliche Rolle bei dem jeweiligen Übergang von einer Kooperationszu einer Konfrontationspolitik 57 Aber mindestens ebenso wichtig als Ursache für den ausbleibenden Erfolg des vorherigen Werbens waren die immanenten Schwächen der einzelstaatlichen Strategie, Integration und politische Stabilität durch Partizipationsangebote zu erreichen Zum einen verhinderten dies die eng gezogenen Grenzen der offerierten Mitsprache Der Konfliktfall war nicht vorgesehen, Sanktionen für Verfassungsverstöße oder Regelungen etwa für die Ablehnung des staatlichen Budgets nicht vorhanden Nie sollte die Partizipation so weit gehen dürfen, wie es bereits im Vorfeld der Verfassungsgebung geheißen hatte, „die Staatsverwaltung in ihren notwendigen Handlungen nach den Bedürfnissen der Zeit zu hemmen“ 58 Zum anderen standen dem staatlichen Integrationserfolg gerade die von den Parlamenten und Gemeindevertretungen ausgehenden politischen Impulse entgegen Indem sie trotz ihrer begrenzten Befugnisse zu Kristallisationspunkten der öffentlichen Meinungsbildung wurden, vielfältige gesellschaftliche Organisationsansätze begünstigten und durch die unzähligen kleinen und großen Konflikte eine breite politische Mobilisierung förderten, auch die Kontaktaufnahme und Zusammenarbeit der gewählten Repräsentanten in den Einzelstaaten und darüber hinaus anregten, weckten sie weiterreichende Partizipationsansprüche, ohne dass diese in dem bis zur Revolution nicht mehr erweiterten gesetzlichen Rahmen befriedigt werden konnten Ja, die Fülle der Konflikte und das wachsende Mitsprachebegehren verstärkte wiederum das Bestreben der Monarchen und Regierungen, die in den Verfassungen und in den Gemeindeordnungen gewährten Rechte in der politischen Praxis extrem restriktiv zu handhaben oder gar auszuhöhlen Mehr und mehr prallten die politischen Standpunkte von Regierung und Opposition diametral und unversöhnlich aufeinander Entsprechend negativ fiel auf Seiten der bürgerlich-liberalen Bewegung spätestens um 1840 das Urteil über die Reform- und Entwicklungsfähigkeit der monarchischbürokratischen Regime in den Einzelstaaten und deren Form von Konstitutionalismus aus Man sei in den Einzelstaaten an die „Grenze einer liberalen Wirksamkeit“ gestoßen, schrieb etwa der württembergische Liberale Ludwig Uhland im Dezember 1840 an Karl Theodor Welcker 59 Die Konsequenzen, die in den Kreisen der Opposition aus diesem Befund gezogen wurden, gingen in zwei unterschiedliche Richtungen:

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Vgl den fundierten Überblick bei: Müller, Jürgen: Der Deutsche Bund 1815–1866 München 2006 So in einem der ersten bayerischen Verfassungsentwürfe, zit nach: Fehrenbach, Elisabeth: Verfassungsstaat und Nationsbildung 1815–1871 München 1992, S  3 Uhland, Ludwig: Briefwechsel T  3: 1834–1850 Stuttgart/Berlin 1914, S  169 f Vgl auch Langewiesche, Dieter: Der deutsche Frühliberalismus und Uhland In: Bausinger, Hermann (Hrsg ): Ludwig Uhland, Dichter – Politiker – Gelehrter Tübingen 1988, S  135–148

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Als erste Möglichkeit bot sich der Weg der politischen Radikalisierung an, der letztlich auf einen Sturz der monarchischen Ordnung hinauslief Gerade die Städte des Rhein-Main-Gebietes wiesen eine Fülle von radikalen politischen Kräften und Aktionen auf, die teilweise bis in die Anfangsphase des Vormärz zurückreichten, einen ersten Kulminationspunkt nach der französischen Julirevolution – nicht zuletzt im Frankfurter Wachensturm – erreicht hatten und sich nun in den 1840er Jahren kontinuierlich verstärkten Vor allem in Frankfurt sammelte sich in den kommunalen Gremien, in der prosperierenden Vereinslandschaft und in zahlreichen Geheimgesellschaften eine vielköpfige Radikalopposition, die ein breites bürgerliches Spektrum repräsentierte und personell vielfach mit der übrigen Bürgerschaft verflochten war 60 Von hier aus führten zahlreiche Verbindungen zu radikalen Kreisen in anderen Teilen des Rhein-MainGebietes, besonders nach Offenbach, Hanau und nach Rheinhessen mit Mainz an der Spitze 61 Den Radikalen wurde nicht nur von Seiten der Überwachungsbehörden und deren Unterstützern der Wille zum Umsturz der bestehenden Ordnung unterstellt62, sondern sie bekannten sich auch selbst – mehr und mehr sogar öffentlich – zu einem revolutionären Vorgehen 63 Als zweite Option konnte die nationale Karte gezogen werden Auch im RheinMain-Gebiet lässt sich, wie in vielen vormärzlichen deutschen Staaten, beobachten, dass sich angesichts des Scheiterns liberaler Reformpolitik in den Einzelstaaten die Erwartungen der Opposition seit den 1830er Jahren und besonders intensiv dann nach 1840 auf die Nation, auf einen als liberal-konstitutionellen Idealstaat gedachten deutschen Nationalstaat, richteten Dieter Langewiesche hat in diesem Zusammenhang einmal davon gesprochen, dass es zu einer regelrechten „Symbiose von ‚Reform‘ und ‚Nation‘“ gekommen sei64, während für die Einzelstaaten nur noch die Etiketten des Stillstands, der Restauration und der Reaktion übrigblieben Mehr noch: Angesichts der geschilderten vor allem lokalen Verankerung bürgerlichen Aufbruchs kam es sowohl organisatorisch als auch in den politischen Zielsetzungen zu einem regelrechten Bündnis zwischen Stadt und Nation gegen den monarchisch-bürokratischen Obrigkeitsstaat 60 61 62

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Roth, Herausbildung (wie Anm  5), S  336 ff u 344 ff Vgl Wettengel, Revolution (wie Anm  1), S  35 ff ; ferner: Tapp, Hanau (wie Anm  2), S  225 ff , u Schütz, Friedrich: Der Vormärz in Mainz und Rheinhessen In: Gerlich, Alois (Hrsg ): Hambach 1832 Anstöße und Folgen Wiesbaden 1984, S  77–99 So hieß es in einer Anzeige an den Bundestag, in der 1840 fast 50 Frankfurter Bürger wegen ihrer radikal-oppositionellen Haltung denunziert wurden: „Bei ihnen kann also keine Rede von Jugendschwärmerei seyn, ihre politischen Meinungen sind fest begründet und bei den meisten ultraliberaler Natur: sie wollen den Umsturz “ Zit nach: Roth, Herausbildung (wie Anm  5), S  345 Vgl z B die bei Düding, Dieter: Organisierter gesellschaftlicher Nationalismus in Deutschland (1808–1847) Bedeutung und Funktion der Turner- und Sängervereine für die deutsche Nationalbewegung München 1984, S  290 ff , zitierten Reden von Turnfesten des Jahres 1847 Langewiesche, Dieter: Europa zwischen Restauration und Revolution 1815–1849 München/Wien 1985, S  4

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Zwei parallel verlaufende Entwicklungen lassen sich auf dem Wege zu dieser Verbindung verfolgen Begonnen hatte diese bereits mit dem ersten, gerade auch von städtischen Geselligkeitsvereinen getragenen Nationalfest, das am 18 und 19   Oktober 1814 vielerorts zur Erinnerung an die Völkerschlacht von Leipzig gefeiert wurde 65 Fortgesetzt wurde die Organisierung der nationalen Bewegung in Form lokaler Assoziationen dann mit der Griechen- und Polenbegeisterung der 1820er und frühen 1830er Jahre 66 Ihren Höhepunkt fand die Entwicklung in dem engmaschigen Netz der Männergesang- und Turnvereine67, das sich in den 1840er Jahren über weite Teile des Deutschen Bundes zog Neben die älteren Formen, etwa die Burschenschaften und die nationsweiten Kontakte der bildungsbürgerlichen Elite, und sie zumindest quantitativ weit übertreffend, trat damit eine Organisationsstruktur, die nicht nur den sozialen Einzugsbereich der nationalen Bewegung weit in das mittlere und kleine Bürgertum ausdehnte, sondern die auch nationale und städtische politische Mobilisierung auf das engste miteinander verknüpfte Seinen sinnfälligsten Ausdruck und zugleich seine größte Breitenwirkung fand diese Verbindung dann seit den 1830er Jahren in einer veränderten städtischen Denkmalskultur und in den teilweise direkt damit verbundenen nationalen Festen 68 Denn im Zuge der neuen Praxis, Denkmäler gewissermaßen aus der Natur, aus Parks, Grünanlagen und privaten Gärten, in die Stadt zu holen und an herausgehobenen Punkten im städtischen Raum zu platzieren, wurden bevorzugt jene Personen geehrt, die sich als Heroen einer national gedachten Kultur verstehen ließen oder die – besser noch – die Herkunft aus der eigenen Stadt mit nationaler Bedeutung verbanden, die also, wie es 1844 bei der Einweihung des Goethe-Standbildes in Frankfurt hieß69, die Stadt als „Mutter großer Söhne“ erscheinen ließen Oft wurden zudem die öffentlichen Festveranstaltungen zu Ehren dieser nationalen Heroen, beispielsweise am 24 Juni 1840 zu Ehren Gutenbergs, zeitgleich in vielen deutschen Städten, darunter Mainz und Frank65

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Vgl Düding, Dieter: Das deutsche Nationalfest von 1814: Matrix der deutschen Nationalfeste im 19 Jahrhundert In: ders  / Friedemann, Peter / Münch, Paul (Hrsg ), Öffentliche Festkultur Politische Feste in Deutschland von der Aufklärung bis zum Ersten Weltkrieg Reinbek 1988, S  67–88 Für Frankfurt vgl Roth, Herausbildung (wie Anm  5), S  227 f Hierzu Hauser, Christoph: Anfänge bürgerlicher Organisation Philhellenismus und Frühliberalismus in Südwestdeutschland Göttingen 1990; vgl allgemein: Düding, Dieter: Die deutsche Nationalbewegung des 19 Jahrhunderts als Vereinsbewegung Anmerkungen zu ihrer Struktur und Phänomenologie zwischen Befreiungskriegszeitalter und Reichsgründung In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 42, 1991, S  601–624 Vgl Düding, Organisierter Nationalismus (wie Anm  63), u Langewiesche, Dieter: Die schwäbische Sängerbewegung in der Gesellschaft des 19  Jahrhunderts – ein Beitrag zur kulturellen Nationsbildung In: ders : Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa München 2000, S  132–169 u 255–259 Dazu Müller, Jürgen: Die Stadt, die Bürger und das Denkmal im 19 Jahrhundert In: Hein, Dieter / Schulz, Andreas (Hrsg ): Bürgerkultur im 19 Jahrhundert Bildung, Kunst und Lebenswelt München 1996, S  269–288 u 357–361 Zit nach: ebd , S  281

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furt, gefeiert, also als ein großes nationales, aber eben lokal inszeniertes Fest Und in ähnlicher Weise griffen lokale Aktivitäten und nationale Zielsetzungen in den großen gesamtdeutschen Turn- und Sängerfesten oder auch Wissenschaftskongressen ineinander, die jeweils von den örtlichen Vereinen oder Komitees organisiert wurden, so etwa das deutsche Sängerfest im Juli 1838 in Frankfurt oder auch die „Versammlung deutscher Philologen, Schulmänner und Orientalisten“ 1845 in Darmstadt und die Germanistenversammlung des Jahres 1846 wiederum in Frankfurt 70 Stadt und Nation fielen dabei im politischen Erleben der Beteiligten und ihren konkreten Aktivitäten zusammen Die neuen organisatorischen Strukturen der Nationalbewegung und die soziale Ausweitung ihres Anhängerkreises beförderten zugleich die engere ideenpolitische Verbindung von Stadt und Nation Die nationale Idee wurde in den 1830er und 1840er Jahren immer stärker mit politischen und sozialen Ordnungsvorstellungen aufgeladen, die von einem gemeindlich-genossenschaftlichen Modell politischer Partizipation abgeleitet waren Die vormärzlichen Erfahrungen kommunaler Mitsprache, gesellschaftlicher Selbstorganisation und wirtschaftlichen Fortschritts und das aus ihnen abgeleitete bürgerliche Selbstbewusstsein stärkten also die in der liberalen Bewegung ohnehin angelegte Tendenz, die Gemeinde zum Modell einer liberalen Umgestaltung des Staates und einer umfassenden Umsetzung des Selbstverwaltungsprinzips zu erheben Und angesichts der Blockade auf der einzelstaatlichen Ebene lag die Erwartung nahe, die politischen Ordnungsprinzipien, die den Städten eigen waren, in erster Linie in einem neu zu schaffenden Nationalstaat umsetzen zu können, ja, die Nation zur einzigen politischen Option zu stilisieren, in der sich die bürgerlich-liberalen Ideale verwirklichen ließen Der badische Liberale Friedrich Daniel Bassermann sprach beispielsweise in der Begründung seiner berühmten Motion auf Schaffung einer Volksvertretung beim Deutschen Bund im Februar 1848 von „einer Reichsgemeinde“, die sich nach dem Vorbild der USA künftig über den Einzelstaaten erheben solle 71 In der Tat hat dann die Mehrheit der Frankfurter Nationalversammlung in der von ihr 1848/49 ausgearbeiteten Reichsverfassung ein von unten, von der Gesellschaft her konzipiertes Modell eines durch und durch partizipatorisch konzipierten Staates umgesetzt, ein „Self-Government der Nation“ 72

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Für Frankfurt vgl Steen, Jürgen: Vormärzliche Gutenbergfeste (1837 und 1840) In: Düding/Friedemann/Münch (Hrsg ): Öffentliche Festkultur (wie Anm  62), S  147–165; Steen, Jürgen: Frankfurter Nationalfeste des 19 Jahrhunderts In: Archiv für Frankfurts Geschichte und Kunst 64, 1998, 267–292; Roth, Herausbildung (wie Anm  5), S  333 ff Zit nach: Fenske, Hans (Hg ), Vormärz und Revolution 1840–1849 Darmstadt 1976, S  253–259, hier 256 So die Formulierung von Hansemann, David: Das Preußische und Deutsche Verfassungswerk Mit Rücksicht auf mein politisches Wirken Berlin 1850, S  289 Dazu ausführlich: Hein, Dieter: „Self-Government der Nation“ Exekutive und Legislative in der deutschen Reichsverfassung von

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Beide Wege, der der Radikalopposition in den Einzelstaaten und der der nationalen Mobilisierung gegen die Einzelstaaten, waren in der politischen Praxis der 1840er Jahre keineswegs scharf differenziert, sondern wiesen vielfältige, nicht zuletzt personelle Überschneidungen auf Das entsprach den spezifischen Bedingungen, unter denen die Opposition gegen den monarchisch-bürokratischen Obrigkeitsstaat im Vormärz agieren musste Der repressive Druck schweißte die oppositionellen Kräfte zusammen und half auch, die mehr und mehr aufscheinenden programmatischen und politischstrategischen Unterschiede zu überbrücken 73 Was radikale Revolutionäre und liberale Reformer bis zuletzt, bis zum Ausbruch der Märzrevolution, noch verband, war eben die unerbittliche, kompromisslose Gegnerschaft der monarchischen Regierungen Denn ungeachtet der Bekenntnisse zu einer evolutionär-reformerischen Entwicklung von liberaler Seite waren auch deren nationale Zielsetzungen angesichts der Politik des Deutschen Bundes, der Einheit nur in der Repression kannte, sich aber über drei Jahrzehnte als unfähig gezeigt hatte, andere nennenswerte Fortschritte auf dem Weg der Nationsbildung zu erzielen74, systemsprengend und revolutionär Insofern erweist sich die Revolution von 1848/49 in der Tat als eine konsequente Fortführung und als logisches Ergebnis des bürgerlichen Aufbruchs in den drei Jahrzehnten zuvor und rechtfertigt es, die Epoche als Vormärz, als schrittweise Vorbereitung der Revolution, zu betrachten – einer Revolution, die angesichts der repressiven Politik der vormärzlichen Staaten kaum vermeidbar war Dass es zu ihrem Ausbruch noch einer verschärften ökonomischen und sozialen Krise sowie eines Anstoßes von außen bedurfte, ändert an dieser Einschätzung der vormärzlichen Entwicklung nichts

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1849, in: Dippel, Horst (Hrsg ), Executive and Legislative Powers in the Constitutions of 1848–49 Berlin 1999, S  163–184 Auch die vielfach in der älteren Literatur als Beleg für die Spaltung der Opposition angeführten Versammlungen in Offenburg und Heppenheim im September und Oktober 1847 markierten weit mehr die unterschiedlichen strategischen Schwerpunkte, die Radikale und Liberale setzten, als das Ende ihrer Zusammenarbeit Dazu ausführlich: Hein, Dieter: Vom Gemeinde- zum Elitenliberalismus Die Heppenheimer Versammlung von 1847 und die bürgerlich-liberale Bewegung in Deutschland, in: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung 10, 1998, 9–31, u  – zeitgleich entstanden – Hoede, Roland: Die Heppenheimer Versammlung vom 10 Oktober 1847 Frankfurt am Main 1997 Zu diesem Befund kommt letztlich auch die breit angelegte Untersuchung der Beiträge des Deutschen Bundes zur nationalen Integration bei: Müller, Jürgen (Hrsg ): Deutscher Bund und innere Nationsbildung im Vormärz (1815–1848) Göttingen 2018; vgl hier v a das Fazit von Fahrmeir, Andreas: Innere Nationsbildung im 19  Jahrhundert Der Deutsche Bund im internationalen Vergleich In: ebd , S  207–224, hier S  207

Die Wahlen zur Frankfurter Nationalversammlung in Niederösterreich 1848 Andreas Pauschenwein Einleitung Im Frühjahr 1848 wurden in sämtlichen Mitgliedsstaaten des Deutschen Bundes Abgeordnete für die konstituierende Nationalversammlung in Frankfurt am Main („Paulskirchenparlament“) gewählt, auch in dem innerhalb des Bundes gelegenen Teil des Kaisertums Österreich Für das noch kurz zuvor (bis zur Revolution vom 13 /15 März) absolutistisch regierte Österreich waren solche Parlamentswahlen etwas völlig Neues, ein „bisher nie gekannter Vorgang“,1 für den „alles Rüstzeug […] erst aus dem Rohesten“ geschaffen werden musste 2 Der vorliegende Aufsatz versucht, die rechtliche, organisatorische und politische Vorbereitung sowie die Durchführung der österreichischen Frankfurter Wahlen am Beispiel eines der habsburgischen Erbländer, des Erzherzogtums Österreich unter der Enns (Niederösterreich) unter vorrangiger Verwendung von Originalquellen möglichst genau darzustellen 3 Es werden nur die Wahlen im ländlichen und kleinstädtischen Niederösterreich beschrieben; die Haupt- und Residenzstadt Wien, gleichzeitig Hauptstadt Niederöster-

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Abend-Beilage Allgemeine Oesterreichische Zeitung Nr  122 (NF Nr  32), 2 5 1848, S  2 Wiener Abendzeitung Nr  17, 14 4 1848, S  70 Der Aufsatz beruht auf einigen Abschnitten der 2017 an der Universität Wien approbierten, noch unveröffentlichten Dissertation des Verfassers: „Österreichs erste Parlamentswahl Die Wahlen zur deutschen Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche im Frühjahr 1848“

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reichs,4 mit ihrer administrativen Sonderstellung und speziellen gesellschaftlich-wirtschaftlichen Struktur5 muss hier außer Betracht bleiben 1. Vorbedingungen: Bundeswahlgesetz, „Bauernwahlrecht“, bürgerlicher Druck und die Wahleinleitung durch den Innenminister Die revolutionären Umwälzungen in den Staaten des Deutschen Bundes im März 1848 ermöglichten es den bisherigen bürgerlichen Oppositionsgruppen, die nationale Einigung Deutschlands im Wege eines konstituierenden Parlaments in Angriff zu nehmen 6 Das Frankfurter Vorparlament als revolutionäres Gremium und die Bundesversammlung, der Gesandtenkongress des Bundes, schufen gemeinsam das Bundeswahlgesetz vom 30 März/7 April 1848 mit wesentlich folgendem Inhalt: – Zusammentritt der Nationalversammlung am 1 Mai (später auf 18 Mai verschoben) – Ein Abgeordneter auf je 50 000 Einwohner, jedoch berechnet nach der bevölkerungsmäßig nicht mehr aktuellen Bundesmatrikel, was 649 Mandate ergab – Keine Wahlrechtsbeschränkung durch Zensus, Kurien etc – Aktives und passives Wahlrecht für die volljährigen (männlichen) Bürger aller deutschen Staaten, sofern sie „selbständig“ waren 7 Die Wahlrechtsbedingung der „Selbständigkeit“ entsprach den  – nur von radikalen Demokraten abgelehnten  – Vorstellungen der bürgerlichen Liberalen Einer ihrer maßgeblichen Vertreter, der Freiburger Staatsrechtslehrer Carl Theodor Welcker, Vorparlamentsmitglied und badischer Bundesgesandter, verwies diesbezüglich im Vorparlament auf das (bereits gelockerte) badische Wahlgesetz von 1818, welches das Wahlrecht an die „Ansässigkeit als Bürger“ (d h Eigentum an Grund und Boden) oder die Bekleidung eines öffentlichen Amtes knüpfte und daher „blose Hintersassen, Gewerbsgehülfen, Gesinde, Bediente u s w “ ausschloss 8 4 5 6 7 8

Ein eigenes, von Niederösterreich getrenntes Land (Bundesland) wurde Wien erst in der Republik ab 1 1 1922, vgl Wilhelm Brauneder, Österreichische Verfassungsgeschichte, 9 Aufl Wien 2003, S  225 Wiener Almanach Jg 1841, hg von Carl Rohr, S  263–268; Karl August Schimmer, Vollständige Beschreibung von Wien, Wien 1848, S  116 f ; Felix Czeike, Historisches Lexikon Wien, Bd  5, Wien 1997, S  560 f ; Ernst Bruckmüller, Sozialgeschichte Österreichs, Wien/München 1985, S  306 Vgl dazu: Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd  2: Der Kampf um Einheit und Freiheit 1830 bis 1850, Stuttgart 1960, S  502–505, 509–511, 589–594; Lothar Höbelt, 1848 Österreich und die deutsche Revolution, Wien 1998, S  94–115 Huber 2, S  595–608; Abend-Beilage zur Wiener Zeitung Nr  12, 12 4 1848, S  48; Abend-Beilage zur Wiener Zeitung Nr  14, 14 4 1848, S  56 Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd  1: Reform und Restauration 1789 bis 1830, Stuttgart 1957, S  344 f ; Johanna Philippson, Über den Ursprung und die Einfüh-

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Die Detailregelungen zum Bundeswahlgesetz blieben den 39 Einzelstaaten überlassen und so entstanden oft erheblich voneinander abweichende Frankfurter Wahlgesetze und -verordnungen,9 z B die sächsische „Verordnung, die Wahl deutscher Nationalvertreter für das zwischen den Regierungen und dem Volke zu Stande zu bringende Verfassungswerk betreffend“ vom 10 April,10 die „Verordnung über die Wahl der Preußischen Abgeordneten zur Deutschen Nationalversammlung“ vom 11 April11 oder das „Gesetz, die Wahl der bayerischen Abgeordneten zur Volksvertretung bei dem deutschen Bunde betreffend“ vom 15 April 1848 12 Österreich war als Bundesmitglied aufgerufen, die deutsche Nationalversammlungswahl in seinen bundeszugehörigen Territorien abzuhalten, also in Niederösterreich, Oberösterreich, Salzburg, Tirol, Vorarlberg, der Steiermark, Kärnten, der Krain und dem Küstenland (ohne dessen ehemals venezianische Teile) sowie in Böhmen, Mähren, Österreichisch-Schlesien und einem (historisch mit Böhmen und Schlesien verknüpften) Gebiet im westlichen Galizien 13 Dieser „deutsche Bundesteil“ der Habsburgermonarchie hatte (1846) rund 12,3 Millionen Einwohner,14 die Hälfte davon deutschsprachig (gerundet 50,2 Prozent Deutsche, 33,1 Prozent Tschechen, 8,8 Prozent Slowenen, 4 Prozent Italiener, 3 Prozent Polen, 1 Prozent Sonstige) 15 Der Anteil der Agrarbevölkerung an der Gesamtpopulation betrug durchschnittlich 71,7 Prozent (länderweise stark differierend, z B in Böhmen nur 58,4 Prozent, in der Krain aber 90,9 Prozent),16 und immer noch war das Landvolk

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rung des allgemeinen gleichen Wahlrechtes in Deutschland mit besonderer Berücksichtigung der Wahlen zum Frankfurter Parlament im Großherzogtum Baden, Abhandlungen zur mittleren und neueren Geschichte 52, Berlin 1913, S  7–46; Vorberathende Versammlung für ein deutsches Parlament, Extra-Beilage zur Frankfurter Oberpostamts-Zeitung Nr  6, 6 4 1848, S  26; GroßherzoglichBadisches Staats- und Regierungs-Blatt 1818/Nr  27 (insbes §§ 34–85, Zit § 43); Großherzoglich Badisches Regierungs-Blatt 1848/Nr  16 Huber 2, S  607 f Gesetz- und Verordnungsblatt für das Königreich Sachsen 1848/Nr  23 Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preußischen Staaten 1848/Nr  2948 Gesetz-Blatt für das Königreich Bayern 1848/Nr  1 Corpus Juris Publici Germanici Academicum, hg von Adolph Michaelis, Tübingen 1825, S  456 (Deutsche Bundesakte Art I ), 524 f („Kaiserl Oesterreichische Erklärung über die zum deutschen Bunde gehörenden Provinzen und Theile der Oesterreichischen Monarchie, vom 6 April 1818“); Johann Springer, Statistik des österreichischen Kaiserstaates, 2 Bde , Wien 1840, hier Bd  1, S  14; Joseph Hain, Handbuch der Statistik des österreichischen Kaiserstaates, 2 Bde , Wien 1852/53, hier Bd   1, S   106; Heinrich Berghaus, Allgemeine Länder- und Völkerkunde, Bd   4, Stuttgart 1839, S  894–897, 922 f Zeitschrift des Vereins für deutsche Statistik, hg von [Friedrich Wilhelm von] Reden, 1 Jg , Berlin 1847, S  1057 (Zählung 1846: 12,277 261 Einwohner) Vgl dazu: Hain 1, S   136, 204–207, 210–212, 311; Österreichisches Staatsarchiv, Abt Allgemeines Verwaltungsarchiv, Ministerium des Innern, Präsidiale [künftig: AVA, MdI, Präs], Kt 981: Z  1622/1848; Österreichische Nationalbibliothek, Flugblättersammlung 1848: F 20578 („Notificazione“, Triest 15 5 1848) Bruckmüller S  290 (Zahlen von 1850)

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größtenteils in die zwar erheblich reformierten, aber dennoch leise an das Mittelalter erinnernden Grundherrschaften eingebunden, deren Aufhebung erst Anfang September 1848 erfolgte 17 Allerdings erfüllten die eigenständig wirtschaftenden bäuerlichen Untereigentümer durchaus das Selbständigkeitskriterium des Frankfurter Bundeswahlgesetzes18 und würden daher wohl die Mehrheit der Wahlberechtigten ausmachen, ohne jedoch auf die Themenstellung dieser Wahl vorbereitet zu sein: Das politische Interesse der Bauern galt der anstehenden Grundentlastungsfrage, sie wollten die Abschaffung der Untertänigkeit, das Ende des grundherrlichen Obereigentums und die Aufhebung der bäuerlichen Lasten (Robot, Zehent usw ), während nationalpolitische Fragen und die Problematik einer deutschen verfassunggebenden Versammlung für sie kaum Bedeutung hatten 19 Die Frankfurter Wahl berührte vor allem das gehobene bzw gebildete Bürgertum: Tschechische, slowenische und sonstige nichtdeutsche Aktivisten agitierten meist dagegen, während die deutschösterreichischen Bürgerlichen mehrheitlich für die Teilnahme Österreichs am Frankfurter Reformvorhaben und die rasche Durchführung der Nationalversammlungswahl eintraten 20 Die seit 20 März 1848 amtierende, von Männern des alten Regimes dominierte „konstitutionelle“ österreichische Regierung21 zögerte mit der Einleitung der Wahlen, in denen sie eine Gefährdung der Gesamtmonarchie sah, geriet aber unter den Druck der von immer stärkerem „schwarz-rot-goldenem“ Enthusiasmus erfassten deutschsprachigen bürgerlichen Öffentlichkeit (Zeitungsartikel, Versammlungen, Petitionen

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Brauneder S   38–41, 99, 103; Springer 1, S   300–304 Mit Patent vom 7 9 1848 wurden die Grundherrschaften aufgehoben, vgl Brauneder S  125 Die wirtschaftliche Selbständigkeit der bäuerlichen Grundholden war seit dem Hochmittelalter gegeben Vgl dazu: Brauneder S  38–41; Helmuth Feigl, Die niederösterreichische Grundherrschaft vom ausgehenden Mittelalter bis zu den theresianisch-josephinischen Reformen, Forschungen zur Landeskunde von Niederösterreich 16, 2 Aufl St Pölten 1998, insbes S  15 f Walter Löhnert, Die unmittelbaren Auswirkungen der Revolution 1848 in Niederösterreich, phil Diss Wien 1949, S  62; Emil Niederhauser, 1848 – Sturm im Habsburgerreich, Wien 1990, S   49; Friedrich Prinz, Geschichte Böhmens 1848–1948, Taschenbuchausgabe, Frankfurt am Main/Berlin 1991, S  52 f ; Bruckmüller S  349–351, 358; Roman Sandgruber, Die Landwirtschaft In: Das Zeitalter Kaiser Franz Josephs, Katalog des NÖ Landesmuseums NF 147, hg vom Amt der NÖ Landesregierung – Kulturabteilung, Bd  1, Wien 1984, S  130–137, hier S  131 f ; Alfred Ableitinger, Die Revolution 1848/49 In: Ebd S  247–260, hier S  247 f Niederhauser S   49–51, 78–82; Bruckmüller S   352 f ; Karl Obermann, Die Wahlen zur Frankfurter Nationalversammlung im Frühjahr 1848 Die Wahlvorgänge in den Staaten des Deutschen Bundes im Spiegel zeitgenössischer Quellen, (Ost-) Berlin 1987, S  24, 26, 28–30; Oesterreichs Vertretung bei dem Deutschen Bundestage In: Abend-Beilage zur Wiener Zeitung Nr  9, 9 4 1848, S  33 f Joseph Alexander von Helfert, Geschichte der österreichischen Revolution im Zusammenhange mit der mitteleuropäischen Bewegung der Jahre 1848–1849, 2 Bde , Freiburg im Breisgau 1907/09, hier Bd  1, S  311 f

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usw );22 so drohten z B Magistrat und Bürger der niederösterreichischen Städte Krems und Stein, die Wahlen einfach illegal zu organisieren …23 Am 14 April schließlich akzeptierte die Regierung, auch um Österreichs Einfluss in der deutschen Politik (vor allem gegenüber Preußen) zu wahren, Wahlen nach den Frankfurter Vorgaben, und auf Antrag des Ministerrates ordnete Kaiser Ferdinand I die Beschickung der konstituierenden deutschen Nationalversammlung aus seinen „zum Deutschen Bunde gehörigen Provinzen“ unter diesen Bedingungen an 24 Die eigentliche Einleitung der ersten „allgemeinen Volkswahlen“ Österreichs25 verfügte Innenminister Franz Freiherr von Pillersdorf durch Weisungen an seine nachgeordneten Behörden vom 15 und 16 April 1848 Er traf darin in überwiegender Anlehnung an das preußische und bayerische Frankfurter Wahlrecht verschiedene zum Teil unvollständige Regelungen betreffend Wahlbezirkseinteilung, Wahlkommissionen, indirekten Wahlmodus (über Wahlmänner),26 Stellvertreter, Abstimmungsform („vom Wähler unterzeichnete Wahlzettel“), Mehrheitserfordernisse und die Bildung von Siebenerausschüssen der Wähler bzw Wahlmänner, und legte weiters die Abgeordnetenzahlen anhand der Bundesmatrikel fest (z B für Böhmen 68, für Niederösterreich 24, für das Küstenland 5 usw ); insgesamt standen Österreich 190 Mandate in der deutschen Nationalversammlung zu 27 Es folgten noch ergänzende Weisungen Pillersdorfs: Am 21 April definierte er die Wahlrechtsbedingung der Selbständigkeit dahingehend, „[…] daß aus öffentlichen oder Gemeinde-Mitteln unterstützte, so wie im Dienstverhältniße stehende Personen nicht darunter verstanden werden können“ und verwies bezüglich der erforderlichen Volljährigkeit der Wähler auf die Taufprotokolle der Pfarren (Volljährigkeit gemäß dem Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch mit Vollendung des 24 Lebensjahres); außerdem erklärte er Minderheitswahlen für zulässig 28 Und am 22 April verlangte

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Zu den Einzelheiten dieses politischen Wechselspiels zwischen Regierung und bürgerlicher Öffentlichkeit: Andreas Pauschenwein, Österreichs erste Parlamentswahl Die Wahlen zur deutschen Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche im Frühjahr 1848, phil Diss Wien 2017, S  39–53, 60–75 AVA, MdI, Präs, Kt 981: Z  789/1848; Abend-Beilage zur Wiener Zeitung Nr  17, 17 4 1848, S  67 Die Protokolle des Österreichischen Ministerrates 1848–1867, Abt 1: Die Ministerien des Revolutionsjahres 1848, hg von Thomas Kletečka, Wien 1996, S  13; Wiener Zeitung Nr  110, 19 4 1848, S  523 Die Wahl der Oesterreichischen Abgeordneten zur Deutschen National-Versammlung in Frankfurt In: Wiener Zeitung Nr  111, 20 4 1848, S  529 f Das indirekte Wahlrecht galt im Großteil der deutschen Staaten, vgl Huber 2, S  608 Österreichisches Staatsarchiv, Abt Haus-, Hof- und Staatsarchiv [künftig: HHStA], Staatskanzlei, Diplomatische Korrespondenz, Deutsche Akten, neue Reihe, Kt 80: Alt Fasz 108, fol 199–200 (= Abschrift der Weisung des Innenministers vom 15 4 1848, Z  785/1848); AVA, MdI, Präs, Kt 981: Z  806/1848 AVA, MdI, Präs, Kt 981: Z  1006/1848, Schreiben Pillersdorfs vom 21 4 1848 Vgl dazu auch: Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch für die gesammten Deutschen Erbländer der Oesterreichischen Monarchie, I Theil, Wien 1811, S  8 (§ 21)

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er – wegen der Verschiebung der Parlamentseröffnung auf 18 Mai und des dadurch verringerten Zeitdrucks – mindestens 5 bis 6 Tage Abstand zwischen Ur- und Abgeordnetenwahlen 29 Die genaue Wahlrechtsgestaltung überließ der Innenminister, dabei das preußische Wahlrecht als Muster empfehlend, den Mittel- und Unterbehörden,30 die noch die Struktur des früheren absolutistischen Systems aufwiesen: Landesstellen, sogenannte Gubernien oder Regierungen mit einem Gouverneur oder Präsidenten als Vorsteher in den Provinzen (die oft mehrere Länder umfassten, z B Kärnten-Krain, Tirol-Vorarlberg), darunter die von einem Kreishauptmann geleiteten Kreisämter, und auf der nächsten Ebene die lokalen Verwaltungs- und Gerichtsbehörden, die zum kleinen Teil landesfürstlich, größtenteils aber patrimonial organisiert waren, d h von Grundherrschaften oder privilegierten Kommunen getragen wurden (zu letzteren gehörten etwa die landesfürstlichen Städte, für deren Magistrate begrenzte Wahlrechte bestanden); unterhalb der Lokalbehörden schließlich die Gemeinden mit zum Teil gewählten Organen (Ortsrichter, Ortsgeschworene etc ) 31 Weisungsgemäß begannen nun zunächst die Landesstellen mit der Ausarbeitung eigener Wahlordnungen, so auch die in Wien etablierte Regierung der Provinz Niederösterreich 2. Niederösterreich und seine Frankfurter Wahlordnung vom 18. April 1848 Die Provinz Niederösterreich, deckungsgleich mit dem Erzherzogtum Österreich unter der Enns, dem Kernland der österreichischen Monarchie, hatte (1846) 1,494 399 Einwohner, wovon rund 430 000 auf die Residenzstadt Wien entfielen Was die nationale Zusammensetzung betraf, waren von diesen rund 1,5 Millionen – wenn man „Wien als deutsch“ betrachtete – 98,5 Prozent Deutsche und 1,5 Prozent Tschechen, Slowaken, Kroaten usw 32 Unter Berücksichtigung Wiens gehörten 53 Prozent der Ge-

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Steiermärkisches Landesarchiv, Gubernium, Präsidialakten, Kt 249: Z   1291/1848; Steiermärkisches Amtsblatt zur Gratzer Zeitung Nr  67, 27 4 1848, S  371 Siehe Anm  27 Springer 2, S   20–23, 27–32, 108; Ernst Mayrhofer’s Handbuch für den politischen Verwaltungsdienst in den im Reichsrathe vertretenen Königreichen und Ländern, hg von Anton Pace, Bd  2, 5 Aufl Wien 1896, S  423–426; Franz Xaver Haimerl, Die Lehre von den Civilgerichtsstellen in den deutschen und italienischen Ländern des österreichischen Kaiserstaates, Teil  1, Wien 1834, S  124–132 Dieses Verwaltungssystem wurde ab 1849 reformiert bzw abgeschafft, vgl Brauneder S  126–131 Hain 1, S  214, 310; Zit ebd S  214

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samtbevölkerung dem Agrarsektor an, rechnete man Wien aber weg, so lag dieser Anteil bei über 75 Prozent 33 Niederösterreich war administrativ in vier Kreise gegliedert, die der seit dem Mittelalter üblichen Einteilung des Landes nach seinen „Grenzgebirgen“ (Wienerwald und Manhartsberg) in vier Viertel entsprachen: die Kreise ober und unter dem Wienerwald sowie ober und unter dem Manhartsberg Innerhalb der Kreise waren die Lokalbehörden, also die Magistrate und vor allem die grundherrlichen Dominien, in jeweils unterschiedlichen Bezirken als Grund-, Dorf- oder Ortsobrigkeiten bzw als Steuerbezirks-, Landgerichts- oder Konskriptionsobrigkeiten (letztere für Militärrekrutierung und auch andere Verwaltungsgeschäfte zuständig) usw tätig Die Hauptstadt Wien (Innere Stadt und 34 Vorstädte) gehörte zu keinem Kreis, sondern unterstand direkt der Landesstelle und bildete außerdem einen speziellen Polizeirayon mit 12 Polizeibezirken 34 Die Frankfurter Wahlordnung für Niederösterreich erging als Erlass des Regierungspräsidenten Johann Talatzko Freiherrn von Gestieticz vom 18 April 1848 an die vier Kreishauptleute und den Wiener Magistrat35 und zeigte nachstehenden Inhalt (veröffentlicht im amtlichen Teil der „Wiener Zeitung“ vom 19 April): – Wiedergabe der Bestimmungen des Bundeswahlgesetzes – Abgeordnetenzahl entsprechend der Bundesmatrikel: Auf Niederösterreich mit rund 1,5 Millionen Einwohnern entfielen 24 Abgeordnete, wodurch faktisch ein Abgeordneter auf rund 70 000 Seelen kam – Verteilung der 24 Abgeordneten bzw der entsprechenden Hauptwahlbezirke: Residenzstadt Wien sieben, Kreis unter dem Wienerwald fünf, Kreis ober dem Wienerwald vier, Kreis unter dem Manhartsberg vier und Kreis ober dem Manhartsberg ebenfalls vier Vertreter – Indirekter Modus: „Haben die Wahlen in der dafür derzeit in der Provinz üblichen Art zu geschehen, daher mittelbare Wahlen vorgeschrieben werden, welchem Wahlmodus gemäß, die Urwähler die Wahlmänner, diese aber die Abge-

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Bruckmüller S   290 (Zahlen von 1850); Thomas Stockinger, Dörfer und Deputierte Die Wahlen zu den konstituierenden Parlamenten von 1848 in Niederösterreich und im Pariser Umland (Seine-et-Oise), Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung Ergänzungsband 57, Wien/München 2012, S  105 Springer 2, S  27–29; Johann Ludwig Ehrenreich von Barth-Barthenheim, Das Ganze der österreichischen politischen Administration, mit vorzüglicher Rücksicht auf das Erzherzogthum Oesterreich unter der Enns, Bd  1: Die politischen Rechtsverhältnisse der österreichischen Staatsbewohner, mit vorzüglicher Rücksicht auf das Erzherzogthum Oesterreich unter der Enns, Wien 1838, S  42–44; Schimmer S  116 f Niederösterreichisches Landesarchiv [künftig: NÖLA], Niederösterreichische Regierung ab 1782, Allgemeine Reihe, Präsidial-Indizes und -Protokolle, Präsidialindex 1848 (HS 5/058), Buchstaben „F V“ [künftig: NÖReg, Präsidialindex], S  23 (Z  989/1848) (Die entsprechenden Präsidialakten wurden leider aus dem Archiv ausgeschieden, doch bietet der Index eine relativ umfangreiche Beschlagwortung )

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ordneten und ihre Stellvertreter zu wählen haben werden “ – Der Begriff „derzeit übliche Art“ konnte sich nur auf die Magistratswahlen (indirekt über einen Wahlausschuss) beziehen, denn die Ortsrichter und -geschworenen wurden durch direkte Wahlen bestellt;36 ganz korrekt war die niederösterreichische Begründung für den indirekten Modus also nicht (und eigentlich gar nicht notwendig, da der Innenminister die indirekte Wahl ohnehin vorgeschrieben hatte) „Die Urwähler bilden sich aus der männlichen Bevölkerung, und zu Urwählern sind jene berufen und berechtiget, welche die Volljährigkeit erreicht, und den Besitz der staatsbürgerlichen Rechte nicht verwirkt, oder an deren Ausübung nicht gesetzlich gehindert sind Jene, bei welchen diese Hindernisse eintreten, sind weder wahlfähig noch wählbar “ Keine Erwähnung der Selbständigkeit (außer im Zitat der Bundeswahlvorschriften), keine Begriffsdefinition Einteilung der Ur wahlbezirke an die Unterbehörden delegiert: „Die Urwahlbezirke arrondieren sich am zweckmäßigsten nach Pfarren oder Gemeinden, nach 2000 bis 2500 Seelen und sie wählen auf je 500 Seelen einen Wahlmann, so daß auf einen Wahlbezirk von 70,000 Seelen 140 Wahlmänner entfallen “ Ebensolche Delegierung der Gliederung der Hauptwahlbezirke: „Die Arrondierung der Wahlbezirke hat in den Kreisen nach Sitzen der Decanate oder landesfürstlichen Städte und Märkte, in der Residenzstadt aber mit Beachtung der Polizei-Bezirks-Eintheilung jedoch in der Art zu geschehen, daß der Complex der innern Stadt jedenfalls Einen Wahlbezirk zu bilden haben wird “ (Die Wahlbezirkseinteilung durch die Unterbehörden entsprach den Vorgaben des Innenministers ) Urwahlbehörden: Ein herrschaftlicher oder magistratischer Oberbeamter als Wahlleiter, der Pfarrer und die Gemeindevorstände (zusammen: „Wahlkommission“), dazu ein Siebenerausschuss der Urwähler Urwahltermin: 26 April 1848 Durchführung der Urwahl: „Die Urwähler versammeln sich […] in dem bestimmten Pfarr- oder Gemeindebezirke zur Wahl der Wahlmänner, sie geben ab ihre Stimmen durch selbst geschriebene Stimmzettel und sie folgen bei der Abstimmung nur ihrer Ueberzeugung; daher weder die öffentliche Verwaltung, noch die den Wahlact leitende Commission auf die Stimmung der Wählenden und Leitung derselben irgend einen Einfluß nehmen darf “ (Begriff „selbst geschriebene Stimmzettel“ aus dem preußischen Wahlrecht ) Passives Urwahlrecht war an aktives Stimmrecht im jeweiligen Urwahlbezirk gebunden Absolute Stimmenmehrheit notwendig; bei Nichterreichen neuerliche Wahl „unter jenen, welche die größere Zahl der Stimmen hatten“ Stimmenauszählung durch

Springer 2, S  108; Barth-Barthenheim 1, S  810, 994, 1001, 1065 f ; Feigl S  242–245

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Wahlkommission und Siebenerausschuss, „Herausstellen“ der gewählten Wahlmänner, Protokollierung, Einsendung der Protokolle an den Sitz des Hauptwahlbezirkes Endgültige Entscheidung des Siebenerausschusses über Unstimmigkeiten Wahlbehörden für die Abgeordnetenwahl: „Die Versammlung der Wahlmänner in dem Hauptorte jedes Wahlbezirkes leitet in den Kreisen theils der Kreishauptmann, theils Kreis-Commissäre, hier in Wien leitet diese Wahl ein Magistratsrath mit Beiziehung zweier Bürger-Ausschüsse der Pfarre und der Grundgerichte des Hauptwahlbezirkes “ Ein Ausschuss der Wahlmänner wurde – anders als in den Ministerweisungen – nicht ausdrücklich genannt Termin der Abgeordnetenwahl: 28 April 1848 Durchführung der Abgeordnetenwahl: „[…] ganz nach jenem Wahlmodus, der oben für die Urwahlen vorgezeichnet wurde “ Versammlung der 140 Wahlmänner jedes Hauptwahlbezirkes zur Wahl je eines Abgeordneten und eines Stellvertreters, freie Abstimmung durch selbst geschriebene Stimmzettel, Erfordernis der absoluten Mehrheit bzw neuerliche Wahl unter den Bestplazierten Stimmenauszählung, Protokollaufnahme, übliche Bekanntgabe des Ergebnisses (an Ort und Stelle, im Kreisort, in der Provinzhauptstadt) Mitteilung an die Gewählten (im Wege der Kreishauptleute bzw des Magistrats), dass sie sich rasch nach Frankfurt begeben sollten (Eröffnung der Nationalversammlung mit möglichst vielen Österreichern) und dort nur nach ihrer eigenen unabhängigen Überzeugung zu stimmen hätten, „[…] daher sie weder an Aufträge noch an Instructionen ihrer Committenten gebunden seien “ (Letztere Bestimmung beruhte fast wörtlich auf dem preußischen Wahlrecht )

Den Schluss des niederösterreichischen Wahlerlasses bildete eine Aufforderung an alle, die die österreichischen Interessen in Frankfurt „würdig und gründlich“ vertreten zu können glaubten und die öffentliche Meinung hinter sich wüssten, sich als Kandidaten zu bewerben; die nötigen Schritte sollten sie beim Wiener Magistrat bzw den Kreishauptleuten und dann direkt in den Wahlbezirken setzen 37 3. Die Präzisierung des Wahlrechtes durch die Kreisämter Die Provinzwahlordnung vom 18 April 1848 hatte insbesondere die gesamte Wahlbezirkseinteilung den vier Kreisämtern und dem Wiener Magistrat überlassen, weshalb diese Behörden ab dem 19 April wahlanordnende Erlässe mit erheblichen selbst konzipierten Ergänzungen für die vier Kreise sowie für die Residenz Wien samt Vor-

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Wiener Zeitung Nr  110, 19 4 1848, S  523

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städten verfassten (Die Wiener Wahlen sind, wie eingangs erwähnt, nicht Gegenstand dieses Aufsatzes) Als Beispiel für die Wahlrechtspräzisierung in Niederösterreich wird hier der Kreis unter dem Wienerwald näher betrachtet Das Kreisamt unter dem Wienerwald (Amtssitz in Wien, Vorstadt Wieden) unter Kreishauptmann Carl Edlem von Seydel38 richtete am 19 April ein Zirkular an seine nachgeordneten Lokalbehörden, das grundsätzlich die Bestimmungen der Provinzwahlordnung wiedergab und dann für die Wahl der auf den ca 300 000 Einwohner zählenden Kreis unter dem Wienerwald entfallenden fünf Abgeordneten (und Stellvertreter) zusätzlich verfügte: – Zu Hauptorten der fünf Abgeordneten-Wahlbezirke wurden Klosterneuburg , Baden, Wiener Neustadt, Neunkirchen und Bruck an der Leitha bestimmt – Jeder dieser Hauptwahlbezirke setzte sich aus Urwahlbezirken zusammen, die sich nach dem „Versammlungsort der Urwähler“ definierten (z B waren im Abgeordneten-Wahlbezirk Klosterneuburg solche Versammlungsorte Klosterneuburg Magistrat, Klosterneuburg Herrschaft, Nußdorf, Döbling, Grinzing, Währing, Hernals, Dornbach, Ottakring usw ); jedem dieser Orte waren Gruppen von Gemeinden bzw Ortschaften zugewiesen, die jeweilige Zahl der Wahlmänner festgelegt, und eine wahlleitende Ortsobrigkeit bestimmt – Leitung der Wahlmänner-Versammlungen durch das Kreisamt mit Beiziehung der Pfarrer, und in Städten (auch außerhalb Wiens, entgegen der Provinzwahlordnung) der „Bürgerausschüsse“ – Einsendung der Urwahlakten an die Ortsobrigkeit am Abgeordneten-Wahlort bis 27 April nachmittags – Versammlung der Wahlmänner am 28 April um 6 Uhr früh – „Das Kreisamt erwartet, daß bei den Wahlen Ruhe und Ordnung bestehen werde, daß keine Aufreizung der Menge Statt finden, daß zu diesem Ende die NationalGarde da, wo sie schon besteht aufgeboten werde, von deren guten Geiste das Kreisamt im vorhinein überzeugt ist, […]“39 Ebenfalls am 19 April erließ das Kreisamt ober dem Wienerwald (St Pölten) ein entsprechendes Zirkular, das für den ca 250 000 Einwohner zählenden Kreis die Hauptwahlbezirke Amstetten, Melk, St Pölten und Tulln festlegte; als Urwahlbezirke wurden die Konskriptionsbezirke verwendet So bestand etwa der Hauptwahlbezirk St Pölten aus den Konskriptionsbezirken des Magistrats St Pölten, der Staatsherr-

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Hof- und Staats-Handbuch des österreichischen Kaiserthumes 1848 [künftig: HStHB], 2 Teile, hier Teil 1, S  375 NÖLA, Sammlungen und Nachlässe, Kreisamtszirkulare gebunden: Kreisamt V U W W Nr  45

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schaft St Pölten, der fürstlich Auerspergischen Herrschaft St Pölten und weiterer 16 Herrschaften der Umgebung 40 Das Kreisamt unter dem Manhartsberg (Korneuburg) teilte seinen Zuständigkeitsbereich in die Hauptwahlbezirke Korneuburg , Großenzersdorf, Retz und Feldsberg 41 ein und nahm als Urwahlbezirke offenbar die Pfarren;42 das Kreisamt ober dem Manhartsberg (Krems) schließlich bildete die Hauptwahlbezirke Krems, Horn, Zwettl und Waidhofen an der Thaya, und auch in diesem Kreis wurden mutmaßlich die Pfarren als Urwahlbezirke benutzt 43 Die Weisung des Innenministers vom 21 April (Selbständigkeit usw ) gab die niederösterreichische Regierung noch am selben Tag an die Kreisämter weiter,44 die dann ihrerseits an die Lokalbehörden schrieben; so erging z B ein entsprechendes Dekret des Korneuburger Kreisamtes am 22 April an alle ihm unterstehenden Bürgermeister und Oberbeamten 45 Aufgrund der Ministerweisung vom 22 April (Terminänderung) beauftragte die Landesstelle am 23 April die Kreisämter, die Abgeordnetenwahlen – sofern das noch ohne Bedenken möglich wäre – auf den 3 Mai zu verschieben 46 Das Kreisamt unter dem Manhartsberg ersuchte daraufhin, beim Wahltermin 28 April bleiben zu dürfen, was die Landesstelle am 26 April genehmigte, und in den Kreisen ober dem Manhartsberg und ober dem Wienerwald verfuhr man anscheinend genauso; der Wahltermin 3 Mai galt daher offensichtlich nur in den Hauptwahlbezirken des Kreises unter dem Wienerwald (auf jeden Fall für Wiener Neustadt) 47 Der in der niederösterreichschen Wahlordnung vom 18 April festgelegte Urwahltermin 26 April blieb grundsätzlich aufrecht, nur im Urwahlbezirk Wiener Neustadt kam es zu einer Vorverlegung auf den 24 April 48

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Heribert May, Das Jahr 1848 in St Pölten, phil Diss Wien 1949, S  55–57 Feldsberg musste 1919 an die Tschechoslowakei abgetreten werden (tschechisch „Valtice“), vgl Erich Zöllner, Geschichte Österreichs Von den Anfängen bis zur Gegenwart, 8 Aufl Wien/ München 1990, S  493 NÖLA, Sammlungen und Nachlässe, Kreisamtszirkulare gebunden: Kreisamt VUMB Nr   29; NÖLA, NÖReg, Präsidialindex, S  24 (Z  1119, 1150 u 1151/1848) NÖLA, NÖReg, Präsidialindex, S  24 (Z  1135/1848); Stockinger S  465 (die Reichstagswahl betreffend, doch erfolgte die Einteilung der Urwahlbezirke bei der Nationalversammlungswahl mutmaßlich auf der gleichen Basis) NÖLA, NÖReg, Präsidialindex, S  23 (Z  1056/1848) NÖLA, Kreisamt VUMB Kt 131: Z  81/Pr/1848 NÖLA, NÖReg, Präsidialindex, S  23 (Z  1055/1848); Löhnert S  62 NÖLA, NÖReg, Präsidialindex, S  23 (Z  1083/1848), S  24 (Z  1119, 1134, 1135, 1150 u 1151/1848), S  25 (Z  1206/1848); Karl Flanner, Die Revolution von 1848 in Wiener Neustadt, Materialien zur Arbeiterbewegung 8, Wien 1978, S  134 Flanner S  133

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4. Die nichtstaatliche Wahlvorbereitung und der „Wahlkampf “ Ergänzend zur Schaffung des Frankfurter Wahlrechtes durch die Behörden erfolgte die nichtstaatliche Wahlvorbereitung durch die schmalen Gesellschaftsschichten des Besitz- und Bildungsbürgertums Ihnen ging es um Aufklärung der Urwähler, Kandidatensuche und -präsentation und Erarbeitung von Programmen als Richtlinien für künftige Abgeordnete, und dazu bildeten sie zahlreiche Wahlkomitees Führend war das von mehreren bürgerlichen Vereinigungen und Gremien beschickte Zentral-Wahlkomitee in Wien, eine zwecks geschlossener Vertretung Österreichs in Frankfurt gebildete Gesamtplattform aller politischen Richtungen, die sämtliche Landesstellen und Kreisämter sowie die Magistrate größerer Städte schriftlich kontaktierte und, bei Mangel örtlicher Abgeordneten-Kandidaten, österreichweit Kandidaten empfahl 49 Die bürgerlichen Gruppen und Komitees sowie die vielen vorhandenen Zeitungen führten dann auch den Frankfurter „Wahlkampf “,50 in dem Männer der verschiedenen politischen Richtungen, aber keine organisierten Parteien auftraten (die Wahlen des Jahres 1848 waren noch reine Persönlichkeitswahlen) Die Auseinandersetzung drehte sich vor allem um Österreichs Stellung zu der in Frankfurt zu gestaltenden staatlichen Einigung Deutschlands, somit um die Frage „Bundesstaat oder Staatenbund“ Die Regierung befürwortete klar den Staatenbund, und die geschickte Propaganda der Staatenbund-Anhänger („Drohende Unterordnung Wiens unter Frankfurt“, „Ende der Großmacht Österreich“, „Absinken Wiens zur Grenzstadt“ etc ) bewirkte bald in der Öffentlichkeit einen Stimmungsumschwung von „Schwarz-Rot-Gold“ zur Staatenbund-Lösung Die politischen Lager (konservative Rechte, liberale Mitte, demokratische Linke) gewannen im Frankfurter „Wahlkampf “ schärfere Konturen, wobei sich nur noch die Linke und ein kleinerer Teil der Liberalen zum Bundesstaat bekannten 51

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Zur nichtstaatlichen Wahlvorbereitung siehe im Detail: Pauschenwein S   187–220 Zur Aufgabenstellung des Zentral-Wahlkomitees: Abend-Beilage Allgemeine Oesterreichische Zeitung Nr  122 (NF Nr  32), 2 5 1848, S  2; Viktor Franz Freiherr von Andrian-werburg, „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“ Tagebücher 1839–1858, Bd  2: Tagebücher 1848–1853, hg von Franz Adlgasser, Veröffentlichungen der Kommission für neuere Geschichte Österreichs 98/II, Wien/Köln/Weimar 2011, S  73, 75; AVA, MdI, Präs, Kt 981: Z  1006/1848, Schreiben des Komitees an die Kreisamtspräsidien Der Begriff wird hier nur in Anführungszeichen verwendet, da man darunter typischerweise die Auseinandersetzung organisierter politischer Parteien versteht, die 1848 noch nicht existierten Vgl Stockinger S  480–482 Zum Gesamtkomplex des österreichischen Paulskirchen-„Wahlkampfes“: Pauschenwein S  197– 290; Beispiele für Staatenbund-Propaganda: Abend-Beilage zur Wiener Zeitung Nr  19, 19 4 1848, S  73 f ; Gotthard von Buschmann, Aufruf an alle wahren Oesterreicher in der Frankfurter Sache In: Wiener Zeitung Nr  111, 20 4 1848, S  530; Ich stimme für einen Deutschen Staatenbund! In: Abend-Beilage zur Wiener Zeitung Nr  21, 21 4 1848, S  82 f

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Der Schwerpunkt der bürgerlichen Wahlvorbereitung und -agitation lag natürlich in der Residenzstadt, doch auch „draußen“ in den Provinzen und nicht zuletzt in Niederösterreich gab es vor der Frankfurter Wahl politische Aktivitäten und Auseinandersetzungen In Krems an der Donau und der Schwesterstadt Stein hatten, wie bereits erwähnt, Magistrat und Bürger im Vorfeld der Wahlanordnung mit illegalen Wahlen (im ganzen Kreis ober dem Manhartsberg) gedroht, und infolge dieser Ankündigung kamen am 19 und 20 April zahlreiche Landleute des Kreises bzw Viertels in die Stadt Hier stellten sich ihnen, scheinbar aufgrund einer bereits fertigen Kandidatenliste, fünf Herren als Nationalversammlungsbewerber für das Viertel ober dem Manhartsberg vor (man war zunächst anhand der aktuellen Bevölkerungszahl von fünf Abgeordneten dieses Kreises ausgegangen): der Rechtsanwalt Dr Ferdinand Dinstl, der Rechtsanwaltskonzipient Dr Anton Riehl, der Schriftsteller Dr Eduard Melly, der Rechtsanwalt Dr Ignaz Kaiser und ein Dr Schneider, alle aus dem Viertel ober dem Manhartsberg stammend52 (Dinstl, Melly und Kaiser gehörten dem Juridisch-politischen Leseverein in Wien an und wurden auch in die Empfehlungslisten des Wiener Zentral-Wahlkomitees aufgenommen) 53 Die Kandidaten waren überwiegend als linksliberal einzustufen,54 und die ihnen wohlgesonnene Wiener Zeitung „Die Constitution“ schrieb am 25 April, dass der Eindruck, den ihre Reden bzw Namen auf die Zuhörer gemacht hätten, einen Wahlerfolg aller fünf erwarten ließ 55 Allerdings trat in Krems auch ein wohl liberal-konservativer Nationalversammlungskandidat auf, nämlich der aus Mähren gebürtige Kreiskommissär Wilhelm Beinhauer, Beamter beim Kremser Kreisamt – was die demokratische „Constitution“ scharf ablehnte und gleichzeitig vor die Wahlfreiheit beeinträchtigenden Intrigen und Einmischungen der Amtsleute warnte („Wir dürfen nach Frankfurt keine Beamten schicken“) 56 Im gebildeten Kremser Bürgertum fand offenbar ein lebhafter Frankfurter „Wahlkampf “ statt, bei dem es, wie in Wien, um Staatenbund und Bundesstaat ging; politische Programme und Kundgebungen der Kandidaten wurden in Form von Flugblättern verbreitet 57 Kandidat Dr Ignaz Kaiser konstatierte in einem sogenannten Sendschreiben: 52 53 54 55 56 57

Die Constitution Nr   29, 25 4 1848, S   455; Heinrich Best  / Wilhelm Weege, Biographisches Handbuch der Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung 1848/49, Taschenbuchausgabe, Düsseldorf 1998, S  125, 198, 235, 280; vgl auch Stockinger S  411 Best/Weege S  495 f ; Wiener Zeitung Nr  117, 27 4 1848, S  559 Best/Weege S  198, 235, 280 Die Constitution Nr  29, 25 4 1848, S  455 Zdenko Sponner, Krems im Jahre 1848, Krems 1938, S  29; Best/Weege S  94; HStHB 1, S  377; Die Constitution Nr  29, 25 4 1848, S  455; Zit ebd Sponner S  27 f

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In den Mauern unserer patriotischen Stadt Krems hat sich ein großer, gewaltiger Kampf erhoben über die Stellung unseres Vaterlandes zu der Nationalversammlung in Frankfurt und zu Deutschland überhaupt 58

Die linksliberalen Bewerber waren gewiss eher für den Bundesstaat,59 doch erklärte Dr Kaiser in seinem Sendschreiben, ebenso wie der Gegenkandidat Wilhelm Beinhauer in einem Wahlaufruf, dass der (an sich positive) Anschluss an Deutschland die Selbständigkeit und Einheit des „mächtigen“ Staates Österreich nicht beeinträchtigen dürfe 60 Anders als in Krems kümmerte man sich in St Pölten offensichtlich nicht um Frankfurter Kandidaten für andere Wahlbezirke des zugehörigen Kreises ober dem Wienerwald, und scheinbar gab es auch im Hauptwahlbezirk St Pölten selbst kein so reichhaltiges Angebot an einheimischen Bewerbern Die Bürger und Behörden der Stadt waren daher geneigt, sich an das Wiener Zentral-Wahlkomitee zu halten, dessen Rundschreiben auch das Kreisamt in St Pölten und den Magistrat der Stadt erreicht hatten Wohl auf entsprechende Negativmeldungen dürfte dann das Zentral-Wahlkomitee zwei Wiener, Professor Stephan Endlicher und den Rechtsanwalt Dr Franz Gutherz, als geeignete Kandidaten empfohlen haben 61 In der Frankfurter Wahlsache trat in St Pölten besonders der aus dem bayerischen Schwaben stammende Rechtsanwalt Dr August Prinzinger hervor, der aber vorerst nicht selbst nach einer Abgeordnetenstelle strebte, sondern sich für Professor Endlicher stark machte 62 Ein Beitrag zur Wahlbewegung im Sinne des Bundesstaates kam schließlich aus dem Städtchen Retz (Viertel unter dem Manhartsberg), und zwar von dem Dominikanerpater Ignaz Lamatsch, Kanzleidirektor des dortigen Dominikanerklosters 63 Lamatsch veröffentlichte ein Flugblatt mit dem Titel „Ein Geistlicher aus Österreich an die Wahlmänner für Frankfurt am Main und für Wien“ (datiert 22 April 1848), in dem er nicht nur u a die Abschaffung der bäuerlichen Lasten und eine volkstümliche Amtsführung der Priester im Sinne Josephs II forderte, sondern auch bemerkenswerte Vorschläge für einen Österreich einbeziehenden deutschen Bundesstaat machte: – Österreich wie die übrigen deutschen Staaten sollten gewisse für einen starken Bund nötige Gesetzgebungsrechte (z B bezüglich Heerwesen, Zollwesen, Währung, Post, 58 59 60 61 62 63

Ebd S  28 f Zu den politischen Lagern im Paulskirchen-„Wahlkampf “: Pauschenwein S  237–242 Sponner S  29 May S  57 f ; Traisenblatt Nr  1, 13 5 1848, S  3 f ; Traisenblatt Nr  6, 17 6 1848, S  44 Best/Weege S   266; Traisenblatt Nr   1, 13 5 1848, S   3 f ; Allgemeine Oesterreichische Zeitung Nr  123 (NF Nr  33), 3 5 1848, S  616 Zum Dominikanerkloster in Retz vgl Handbuch der historischen Stätten – Österreich, Bd  1: Donauländer und Burgenland, hg von Karl Lechner, Kröners Taschenausgabe 278, Stuttgart 1970 (Ndr 1985), S  499

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Eisenbahn) an diesen abtreten und die übrigen behalten: „So ist es im freiesten Staate der Erde, in Nordamerika […] “ Militärisch wäre Deutschland in zwei Sektionen aufzuteilen, eine nördliche unter der Leitung des Königs von Preußen (Bezeichnung: „deutscher König“) mit dem Sitz des Kriegsrates in Bremen, und eine südliche unter der Leitung des Kaisers von Österreich (Bezeichnung: „deutscher Kaiser“), Kriegsrat in Frankfurt am Main; zusätzlich sollte es einen nördlichen Admiralitätsrat in Hamburg und einen südlichen in Triest geben Der Bundestag hätte jährlich abwechselnd in Frankfurt am Main (Vorsitz: „deutscher Kaiser“) und Bremen (Vorsitz: „deutscher König“) zu tagen; als Ausweichquartiere in Notfällen wären zusätzliche Bundespaläste in Bamberg, Regensburg, Prag, Dresden und Frankfurt an der Oder zu errichten Zur Frage, ob den Abgeordneten Diäten zustünden, meinte Pater Lamatsch: „Ja, aber kleine und vom Staate zu bezahlen “64 5. Die niederösterreichischen Urwahlen: Angebliche Umtriebe und örtliche Wahlrevolten

Die Urwahlen zur Bestellung der Wahlmänner wurden in Niederösterreich (ohne Wien) durchwegs, ausgenommen nur Wiener Neustadt, am 26 April 1848 abgehalten und stießen, wie anderswo, wegen der Neuheit der Materie und der Unkenntnis vieler Urwähler über den Zweck der Wahl auf gewisse Schwierigkeiten Auch in Niederösterreich bestand die Mehrheit der Wahlberechtigten aus Bauern, die mit der diesem Wahlvorgang zugrunde liegenden nationalen bzw staatsrechtlichen Thematik wenig anfangen konnten und vorrangig die Grundentlastungsfrage gelöst wissen wollten 65 Zur Wahlbeteiligung lässt sich nichts Allgemeines sagen, sie scheint sehr unterschiedlich gewesen zu sein; im Markt Sieghartskirchen bei Tulln etwa erschienen 208 Urwähler, was offenbar ein relativ hoher Wert war (bei der Landtagswahl bald darauf erschienen nur 84), in Niederkreuzstetten (Viertel unter dem Manhartsberg) kamen hingegen nur „sehr wenige Leute“ 66 In Wiener Neustadt (rund 12 800 Einwohner),67 wo offenkundig bereits am 24  April gewählt wurde, beteiligten sich 269 Urwähler; mit Stimmzetteln, auf die sie vorschriftsmäßig Vor- und Zunamen schrieben, wählten sie im Rathaus insgesamt 24 Wahlmänner, 64

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Österreichisches Staatsarchiv, Abt Kriegsarchiv, Flugschriften- und Plakatsammlung, Kt 5: 22 4 1848, Nr  10 („Ein Geistlicher aus Österreich an die Wahlmänner für Frankfurt am Main und für Wien; Ignaz Lamatsch, seit zwanzig Jahren Priester des Prediger-Ordens und Kanzlei-Direktor des Retzer Conventes“, 22 4 1848) Allgemeine Oesterreichische Zeitung Nr  127 (NF Nr  37), 7 5 1848, S  632; In Bauernsachen In: Der Freimüthige Nr  43, 21 5 1848, S  178; Stockinger S  411; siehe im übrigen Anm  19 Löhnert S  62 f Hain 1, S  311 (Zahl von 1851: 12 862 Einwohner)

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nämlich sieben Handels- und Gewerbetreibende, sieben Magistrats- und Staatsbeamte, drei Rechtsanwälte, zwei Magistratsräte, zwei Industrielle, zwei Priester und einen Arzt Der seit 30 Jahren amtierende Bürgermeister Felix Mießl Edler von Treuenstadt erhielt bei dieser Gelegenheit nur 27 Stimmen, während die erfolgreichen Wahlmänner-Kandidaten 140 bis 194 Stimmen bekamen Der im alten System bloß ernannte Bürgermeister bestand also die „erste demokratische Prüfung“ nicht – er reichte dann am 14 Mai sein Pensionierungsgesuch ein 68 Im Markt Sieghartskirchen, wo man anlässlich der Urwahl über die Begriffe „selbständig“ und „deutscher Staatsbürger“ wie auch über die Schlagworte Bundesstaat und Staatenbund lebhaft debattierte (wohl wegen des größeren Bürgeranteils in der Marktsiedlung), wurden der Pfarrer, der Postmeister und ein Müllermeister zu Wahlmännern bestellt; in Jedenspeigen (Viertel unter dem Manhartsberg) hingegen ertönte die Forderung, nur Bauern die Wahlmannfunktion anzuvertrauen, und wirklich wurden in Jedenspeigen und Umgebung ausschließlich Landwirte als Wahlmänner gewählt 69 Zu den niederösterreichischen Urwahlen existieren relativ viele Berichte über Unregelmäßigkeiten und Wahlumtriebe, die aber mit Vorsicht zu genießen sind: Sie erschienen nämlich fast nur in Zeitungen wie der „Constitution“ und dem „Freimüthigen“, die der demokratischen Linken zugehörten und eventuell auf diese Art den für sie enttäuschenden, weil politisch zu gemäßigten Wahlausgang erklären wollten; manche dieser Fälle wurden daher wohl übertrieben dargestellt, bei einigen gab es Entgegnungen, manche hingegen lösten sogar amtliche Untersuchungen aus 70 So schrieb etwa ein anonymer Urwähler in der „Constitution“ vom 1 Mai von angeblichen Umtrieben während der Urwahlen in Brunn am Gebirge, Enzersdorf und Gießhübel (Viertel unter dem Wienerwald): Bei der Zusammenkunft der Urwähler dieser drei Orte in der Bahnhofsrestauration in Brunn am Gebirge habe der Ziegelofenbesitzer Pankraz Grohe, der nach der Stelle eines Wahlmannes strebte, der Wahlkommission eine Abstimmungsliste seiner 120 Ziegelschlager geschickt, „[…] auf der die Namen derselben, meistentheils von einer Hand unterschrieben waren Da aber auch dieses Manöver nicht hinreichte, ihm die absolute Stimmenmehrheit zu verschaffen, so bewog er jene Männer, welche die meisten Stimmen der Urwähler hatten, die zu ihren Gunsten lautende Abstimmung an ihn und an mehrere Andere abzutreten “ Der Autor meinte, dass so fünf Wahlmänner des Brunner Urwahlbezirkes unrechtmäßig ernannt worden seien und forderte vom Kreisamt eine diesbezügliche Wahlwiederholung 71 Am 4 Mai berichtete die „Constitution“, dass auf Einschreiten des Kreisamtes am 1 Mai eine neue Wahl vorgenommen worden sei, bei der die Wahl-

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Flanner S  133 f Löhnert S  62–64 Löhnert S  63; Stockinger S  413 Wahlumtriebe In: Die Constitution Nr  34, 1 5 1848, S  531

Die Wahlen zur Frankfurter Nationalversammlung in Niederösterreich 1848

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männer, die sich beim ersten Mal Stimmen hatten abtreten lassen, kein Vertrauen mehr bekommen hätten 72 Am 11 Mai aber erschien in der „Constitution“ folgende Erklärung der Brunner Wahlkommission und mehrerer Urwähler („Im Namen Vieler“) zu den Ereignissen des 26 April: Der wahlleitende Oberbeamte Franz Huber habe zunächst den Urwählern in einem „ernsten Vorworte“ die Wichtigkeit der Wahl erläutert und sie aufgefordert, ihre freie Wahl „auf alle drei Orte beliebig auszudehnen“; anschließend hätten die Urwähler ihre Stimmzettel persönlich dem Siebenerausschuss übergeben, und die mehrfach kontrollierte Protokollierung sei bis nachmittags fortgesetzt worden Dann sei Herr Moser, der Geschäftsleiter des Ziegelofenbesitzers Grohe, erschienen und habe zwei Listen überreicht, in denen „[…] Familienväter der Arbeitsleute von den Gewerken des Herrn Grohe und Dienstleute verzeichnet waren “ Der Oberbeamte und der Siebenerausschuss hätten entschieden, diese Stimmen nicht zuzulassen, was auch von dem nun dazugekommenen Herrn Grohe akzeptiert worden sei, da er auch ohne diese Stimmen in allen drei Orten eine absolute Mehrheit erzielt habe Bei der Stimmenauszählung am späten Abend hätten fünf Gewählte keine absolute Mehrheit gehabt, worauf einige Wähler geglaubt hätten, ihnen ihre Stimmen übertragen zu können; der Wahlleiter entschied sich aber für eine wiederholte Wahl, die auch vorgenommen wurde Das Wahlgeschehen sei von dem anonymen Artikelschreiber also eindeutig entstellt worden, er gehöre somit „unter jene lichtscheuen Scribenten der jüngsten Zeit […] Wir fordern ihn auf, sich zu nennen, und zu rechtfertigen “73 Über die Urwahlen in Hütteldorf (Viertel unter dem Wienerwald), die offenbar gemeinsam mit Mauerbach und anderen Gemeinden abgehalten wurden, äußerte sich der Mauerbacher Arzt Dr Chractina in der „Constitution“ vom 1 Mai sehr negativ: Volljährigkeit und Selbständigkeit seien nicht überprüft worden, „[…] Jeder konnte seine Stimme abgeben, und Niemand wußte, ob er einen oder zehn Namen auf seinen Wahlzettel schreiben soll “ Im Bemühen um mehr Klarheit habe er der Versammlung die Bedeutung der Wahl und die „Nothwendigkeit eines innigen Anschlusses an Deutschland“ erklärt, worauf der Ausschuss gebildet und mit der Wahl begonnen worden sei Als erste sollten die Männer aus der Gemeinde Mauerbach wählen, doch der Mauerbacher Verwalter Koneczny habe dies mit der Begründung abgelehnt, es seien noch nicht alle Mauerbacher da Nachdem man also die anderen Gemeinden vorgezogen habe und dann wieder auf Mauerbach gekommen sei, habe der Verwalter erklärt, die Mauerbacher seien schon fort, und dabei 75 von ihnen stammende Wahlzettel präsentiert, die alle gleich gelautet hätten (mit Konecznys Namen obenan) Verwalter Koneczny habe – so Dr Chractina – durch die Zulassung einer solchen kumulativen

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Die Constitution Nr  37, 4 5 1848, S  589 Ankündigungsblatt Beilage zur Constitution Nr  43, 11 5 1848, S  12

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Abstimmung ohne Anwesenheit der Stimmenden die Wahlregelungen verletzt und „[…] seine politische Unfähigkeit für immer an den Tag gelegt “74 Zur Darstellung des Arztes erschienen in der „Constitution“ drei Entgegnungen: Am 2 Mai (veröffentlicht am 9 Mai) schrieb ein Penzinger Urwähler namens Viktor Habakuk, dass Dr Chractina in „leidenschaftlicher Aufregung“ selbst die „gröbsten Unbesonnenheiten“ begangen habe und seine „Consorten“ einen eigenmächtigen Eingriff auf bereits geschriebene Wahlzettel getätigt hätten;75 am 10 Mai erklärte ein Hütteldorfer Urwähler, dass Dr Chractina aus dem Verfasser „nur zu gut bekannten Gründen“ eine Gehässigkeit gegen den Verwalter hege und deswegen über ihn infame Unwahrheiten bezüglich des Wahlaktes verbreitet habe; und am 12 Mai wies Verwalter Koneczny persönlich alle Behauptungen Dr Chractinas als „unverschämten Lügen“ und „Verleumdungen“ zurück 76 Der Mauerbacher Arzt blieb aber (in der „Constitution“ vom 16 Mai) bei seiner Ansicht, daß am 26 April unrechtmäßigerweise Stimmzettel nicht anwesender Urwähler als gültig angenommen worden seien 77 Am 26 April fanden auch in dem aus 11 Gemeinden bestehenden Pfarrbezirk Hausleiten (Viertel unter dem Manhartsberg) die Frankfurter Urwahlen statt, Wahlleiter war der Oberbeamte der Herrschaft Stetten, Franz Seravicus Koblischek Dazu veröffentlichte ein gewisser Vincenz Voelkl, ehemaliger Oberbeamter derselben Herrschaft, in der „Constitution“ vom 10 Mai einen umfangreichen Artikel, der mit dem Wahlleiter hart ins Gericht ging Demnach hätte Koblischek die Bildung des Siebenerausschusses der Urwähler nicht zugelassen und der versammelten Menge, „wovon nicht der dritte Theil den Zweck der Wahl kannte […]“, nur mitgeteilt, dass diese Wahlen ganz unwichtig wären, da die Deputierten in Frankfurt „über Roboth und Zehent nichts zu sprechen“ hätten (in dieser Kompetenzfrage lag Herr Koblischek, im Gegensatz zur Ansicht des Herrn Voelkl, eigentlich richtig) Dann habe Verwalter Koblischek verlangt, dass „jeder Ortsrichter sogleich für die ganze Gemeinde wählen solle, daß die Wahl durch einzelne Stimmzettel so langwierig wäre, daß er bis Nachmittag zu thun hätte “ Vincenz Voelkl fragte in seinem Artikel „Herrn Franz Seravicus Koblischek, k k Polizei-OberCommissairs Sohn aus Wien“, ob er die Regelung bezüglich der Einzelstimmabgabe nicht verstanden, ob er nicht eingesehen habe, […] daß gar nichts daran liegt, ob er seinen heiligen Amtsleib bis Nachmittag anstrengt, – daß die versammelten Wähler nicht wegen ihm, sondern er wegen den Wählern da sein mußte? […] Antwort hierauf, Herr Franz Seravicus Koblischek!

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Dr Chractina, Die Urwahlen in Hütteldorf am 26 April 1848 In: Die Constitution Nr   34, 1 5 1848, S  531 f Beilage zur Constitution Nr  41, 9 5 1848, S  6 Ankündigungsblatt Beilage zur Constitution Nr  44, 12 5 1848, S  14 Ankündigungsblatt Beilage zur Constitution Nr  47, 16 5 1848, S  24 f

Die Wahlen zur Frankfurter Nationalversammlung in Niederösterreich 1848

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Er, Voelkl, habe den Beamten dann darauf hingewiesen, dass die Wahl durch einzelne Stimmzettel keineswegs so zeitraubend und die von ihm angeordnete kumulative Wahl durch die Ortsrichter unstatthaft und gesetzwidrig sei, was nicht folgenlos blieb: Die schreklichen Worte waren gesprochen,  – ich erwartete zitternd mit Ergebung die Donnerworte des ländlichen Jupiters! Herr Redakteur, wenn ich die Fähigkeit besäße, ich würde das Gesicht dieses ergrimmten Amtmannes mahlen, und fürwahr, es müßte ein Prachtstück werden: das Truthahn ähnlich geröthete Gesicht, als Zeichen der höchsten Wuth, in der Mite die todtbleiche Nase als Simbol der Verlegenheit und Ingnoranz, und im Gefühl der Ohnmacht, die sich selbst ermuthigend unsichere und doch patzige Amtmannsstimme, mit der er mir zudonnerte: Sie werden mir nichts vorschreiben! – Sie haben nichts zu reden! – Sie haben kein Wahlrecht! – Nur die Unterthanen haben zu wählen! […]78

Voelkl habe dann Koblischek für nicht berechtigt erklärt, ihn von der Wahl auszuschließen, worauf der Verwalter „in seiner durch Umgang mit den Jüngern des heil Liguorius79 erworbenen gemeinen Schlauheit“ die Menge zu Hilfe gerufen habe („Leute schützt mich gegen diesen Herrn!“), die aber ruhig geblieben sei: „[…] das Feuerwerk brannte nicht ab, wohl aber brannte das superkluge Amtmännchen mit seiner erbärmlichen Fineß ab und blamierte so seinen Lehrmeister und Patron Liguorius “ Allerdings habe sich nun herausgestellt, dass viele Gemeinden tatsächlich nur einzelne Vertreter geschickt hätten, um die schon im Voraus geschriebenen Stimmzettel abzugeben Koblischek habe diese zunächst entgegen genommen, aber, als er darauf mehrfach ihm unliebsame Namen entdeckte, die gesamte Wahl annulliert und zehn Gemeinden nochmals wählen lassen, und zwar durch die Anwesenden, sodass nun z B der Ortsrichter von Zissersdorf rund 300 Stimmen oder fünf Männer aus Pettendorf 480 Stimmen abgegeben hätten Der elften und größten Gemeinde, Hausleiten, habe er allerdings keine neue Wahl erlaubt, sondern den Ortsrichter „in echt jesuitischer Weise“ gezwungen, das Protokoll über die von den anderen Gemeinden bereits gewählten Wahlmänner zu unterschreiben; die von ihm, Koblischek, genannten sechs Männer würden zur Deputiertenwahl nach Korneuburg gehen, „[…] ob die Gemeinde Hausleiten (welche bei weitem die größte Volkszahl darunter hat) einverstanden sei oder nicht “80 Im Fall des Oberbeamten Franz S   Koblischek blieb es nicht bei Zeitungskritik Mehrere Bewohner von Hausleiten, darunter gewiss Vincenz Voelkl, beschwerten sich 78 79

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Für die eigenwillige Schreibung mancher Wörter in diesem Zitat gilt: sic! Die Liguorianer (Redemptoristenorden, gegründet von Alfons von Liguori) waren als angebliche „Verbündete des Jesuitismus“ 1848 ein Angriffsziel der Wiener Revolutionäre Vgl Heinrich Reschauer / Moritz Smets, Das Jahr 1848 Geschichte der Wiener Revolution, 2 Bde , Wien 1872, hier Bd  2, S  62–70 Vincenz Voelkl, Neuester Wahlmodus, zugleich Beitrag zur Geschichte der Landamtirung In: Beilage zur Constitution Nr  42, 10 5 1848, S  9 f

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sogleich direkt beim Innenminister, der am 28 April die Landesstelle befasste, welche am 4 Mai das Kreisamt Korneuburg beauftragte, eine Untersuchung durchzuführen, den Beamten vorläufig vom Dienst zu suspendieren und im Bestätigungsfall auf seine Entfernung von der politischen Verwaltung zu dringen 81 Das Kreisamt berichtete am 16 Mai, dass die Anschuldigungen zwar übertrieben gewesen wären, dass Koblischek aber tatsächlich die Wahlen allein und ohne einen Siebenerausschuss geleitet, dem Vincenz Völkl unzulässigerweise das Wahlrecht verweigert und unter Verstoß gegen die Wahlordnung die kollektive Stimmabgabe ganzer Gemeinden erlaubt habe; wegen dieser Unregelmäßigkeiten erhielt der Oberbeamte auf Anordnung der niederösterreichischen Regierung einen nachdrücklichen Verweis 82 Aus der Buckligen Welt, einem Landstrich im Süden des Viertels unter dem Wienerwald, wurde von besonders drastischen Urwahlvorfällen berichtet Die „Constitution“ schilderte am 6 Mai unter Berufung auf Augenzeugen eine angebliche Wahlrevolte der Bauern in Kirchberg am Wechsel: Demnach hätte der als Wahlleiter fungierende erzbischöfliche Verwalter Walzel, ein gefürchteter und die Bauern stets unbarmherzig behandelnder Mann, zu den Urwählern gesagt: „Ihr Leute […], ihr könnt zwar nur Wahlmänner frei wählen; da ihr jedoch zu dumm seid, und der Zehnte von euch nicht des Lesens und Schreibens kundig; so braucht ihr gar keine Wahlzettel abzugeben Ich werde euch schon meine Leute vorschlagen, die ihr durch Aufhebung der Hände annehmen könnet “ Der Vorschlag sei auch  – jedoch unter Lärm und Widerspruch – gebilligt worden, doch beim Stimmen- bzw Händezählen hätten es der Verwalter und drei mitwirkende Geistliche nicht ehrlich gemeint, und als unter fortwährend steigender Aufregung der Verwalter sich selbst zum Wahlmanne vorschlug und mit seinem Vorhaben gewaltsam durchdringen wollte, – er mochte schon im Stillen auf eine Deputirtenstelle in Frankfurt gerechnet haben, – da machte sich der langverhaltene Groll der Bauern auf eine unliebsame Weise Luft, der zum wüthenden Sturme sich entfesselte, als der Kirchberger Kaplan einen nahestehenden Bauer – der sich ebenso berechtigt fühlte beim Tisch zu sitzen, wie der hochwürdige Herr, – einen Schlag ins Gesicht gab Die Usurpatoren geben, nach erhaltener Züchtigung, das Fersengeld, Stühle und Tische wurden von den erbosten Bauern in den Bach geworfen, und noch allerlei Unfug getrieben 83

Die „Constitution“ brachte in ihrer Ausgabe vom 6 Mai auch noch einen angeblichen Fall von Wahlfälschung in Schönau in der Buckligen Welt, der von zwei „Ehrenmännern“ bezeugt wurde:

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NÖLA, NÖReg, Präsidialindex, S  24 f (Z  1151/1848) NÖLA, NÖReg, Präsidialindex, S  27 (Z  1436/1848); Stockinger S  413 f Die Constitution Nr  39, 6 5 1848, S  604 f (Zitate S  605)

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Als die Urwähler sich versammelt, suchte man solche Leute zur Wahlüberwachung aus, die weder lesen noch schreiben konnten Unaufgefordert übernahm der Pfarrer die Wahlzettel, stellte sich abseits, wo er, von Niemand kontrolliert, dieselben verlesen und alle Wähler, die ihm nicht zusagten, auslassen konnte, um dafür Andere nach seinem Geschmacke anzusagen Dies trieb er so arg, daß es allgemein auffiel, wie ein paar beliebte Männer, die überzeugt waren, mindestens 40 Stimmen für sich zu haben, kaum einigemal genannt wurden 84

6. Die Abgeordnetenwahlen in Feldsberg, Großenzersdorf, Krems und Tulln (Ritter von Schmerling, der „Abgeordnete von Thule“) Die Wahlen der (bei Weglassung Wiens) 17 niederösterreichischen Frankfurter Abgeordneten fanden in drei Kreisen am 28 April und nur im Kreis unter dem Wienerwald am 3 Mai statt Für den Hauptwahlbezirk Feldsberg (Kreis unter dem Manhartsberg) wurde in der gleichnamigen Stadt unter festlichen Rahmenbedingungen gewählt, nachdem bereits am Vorabend einzelne Wahlmänner aus den entfernteren Ortschaften angekommen waren Anlässlich des Wahlaktes formierte man eine 50 Mann starke Garde aus dem Bürger- und Beamtenstand, und vor dem Amtsgebäude, dem Rathaus und mehreren anderen Gebäuden wehten deutsche Fahnen Die Feierlichkeit begann um acht Uhr früh mit einem „solennen Hochamte“, an dem die mittlerweile eingetroffenen Wahlmänner teilnahmen Von der Kirche bewegte sich der Zug, vorbei an der gemeinsam mit der Finanzwachmannschaft aufgestellten Bürgergarde, zur Wahllokalität im herrschaftlichen Amtshause Hier erläuterte der mit der Wahlleitung betraute „k k Kriegs-Commissär“ von Bergenstom den 140 Wahlmännern Zweck und Bedeutung dieses Tages und nannte dann die Kandidaten, die das Wiener Zentral-Wahlkomitee als besonders berücksichtigenswert empfohlen hatte – dabei wurde der Name Dr  Adolf Wiesner „mit allgemeiner Acclamation“ aufgenommen Einziger persönlich anwesender Kandidat war Dr Carl Braun junior aus Zistersdorf, der eine kurze Rede an die Wahlmänner hielt, aber scheinbar wegen seiner Jugend keinen Anklang fand Nun erfolgte nach dem vorgeschriebenen Modus die Abstimmung und um 14 Uhr gab man das Ergebnis bekannt: Dr Wiesner war mit 131 Stimmen zum Abgeordneten und Carl Eduard Bauernschmid mit 121 Stimmen zum Ersatzmann gewählt worden Die vor dem Amtshaus versammelte Volksmenge jubelte, ließ Kaiser Ferdinand mehrmals hochleben und sang die Volkshymne und „Was ist des Deutschen Vaterland“ Abends wurde die Stadt und besonders das Schloss glänzend beleuchtet, Nationalgarde und Finanzwache zogen samt einer Musikkapelle durch die hell erleuchteten Straßen von

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Die Constitution Nr  39, 6 5 1848, S  605

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Feldsberg und man veranlasste die bereits aufgebrochenen Wahlmänner einiger Ortschaften vor der Stadt zur Umkehr, „[…] um dem Festende dieses unvergesslichen Tages auf eine recht brüderliche Weise anzuwohnen “85 Der gebürtige Prager Dr Adolf Wiesner, Österreichs einziger Vertreter in der Heidelberger Versammlung, im Vorparlament und anfangs auch im Fünfzigerausschuss, war ein Mann der demokratischen Linken und folglich Bundesstaat-Befürworter; in der Frankfurter Nationalversammlung ging er zuerst zur Fraktion „Deutscher Hof “, dann zum „Donnersberg“ (äußerste Linke, für die konsequente Fortführung der Revolution) 86 Im südlich anschließenden Hauptwahlbezirk Großenzersdorf (Kreis unter dem Manhartsberg) kandidierten ein Graf Lichnowsky, ein Regierungsrat Grabmeyer, der Rechtsanwalt Dr Franz Richter aus Wien und der Wirtschaftsbesitzer Johann Jopp aus Obersiebenbrunn, wobei letzterer demokratisch gesinnt war Laut Artikeln im „Freimüthigen“ versuchten deshalb konservative Kreise des Marchfeldes, die Wahl Jopps zu verhindern; besonders engagierte sich ein Prälat, der angeblich an die Bauern der Gegend (vorrangig sicher an bäuerliche Wahlmänner) Rundschreiben aussandte, in denen der Kandidat Dr Richter empfohlen wurde – wenn auch Dr Richter später im „Freimüthigen“ erklärte, den Prälaten überhaupt nicht zu kennen 87 Die Abstimmungen der Wahlmänner am 28 April im Städtchen Großenzersdorf dauerten von acht Uhr früh bis drei Uhr nachmittags und die Entscheidung fiel erst im dritten Wahlgang zwischen Johann Jopp und Dr Richter Mit 99 von 140 Stimmen wurde Jopp zum Abgeordneten gewählt, der unterlegene Dr Richter dann allerdings per Akklamation zum Ersatzmann bestellt 88 „Erhebend war der Sieg gesunden Volkssinnes über die Wahlumtriebe verschmitzter Parteien“, schrieb dazu der Jusstudent Groeber aus Schloßhof, ein Anhänger des Johann Jopp; und weiter: „Man lachte und gönnte der Klosterpartei in Gottesnamen den Triumph, ihren Advokaten R**** als Stellvertreter durchgesetzt zu haben “89 Die liberal-konservative „Constitutionelle Donau-Zeitung“ kommentierte dieses Wahlergebnis irrtümlich mit großer Freude: Bei der ersten Wahl, von der man erfahren habe, sei ein Wirtschaftsbesitzer gewählt worden, der den „Doktrinären in Frankfurt“

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Abend-Beilage zur Wiener Zeitung Nr  36, 7 5 1848, S  142 Hermann Niebour, Die Abgeordneten Niederösterreichs bei der deutschen Nationalversammlung in Frankfurt am Main In: Jahrbuch für Landeskunde von Niederösterreich NF 12, 1913/14, S  122–146, hier S  142 f ; Best/Weege S  358 f Constitutionelle Donau-Zeitung Nr  28, 29 4 1848, S  227; Der Freimüthige Nr  32, 7 5 1848, S  131; Dr Richter, Berichtigung In: Der Freimüthige Nr  39, 16 5 1848, S  162; G Groeber, Entgegnung In: Der Freimüthige Nr  45, 24 5 1848, S  186; zu Dr Franz Richter vgl auch HStHB 1, S  671 Constitutionelle Donau-Zeitung Nr  28, 29 4 1848, S  227 Der Freimüthige Nr  32, 7 5 1848, S  131 (und Zitate); G Groeber, Entgegnung In: Der Freimüthige Nr  45, 24 5 1848, S  186; Dr Richter, Berichtigung In: Der Freimüthige Nr  39, 16 5 1848, S  162 (hieraus ergibt sich, daß Groeber der Verfasser des Artikels vom 7 5 war)

Die Wahlen zur Frankfurter Nationalversammlung in Niederösterreich 1848

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schon zeigen werde, dass österreichische Interessen wichtiger seien als gesamtdeutsche 90 In Wirklichkeit verfocht der Demokrat Johann Jopp wohl genau den gegenteiligen Standpunkt, nämlich die Bundesstaat-Variante, denn er trat in der deutschen Nationalversammlung, so wie Adolf Wiesner, der äußersten Linken („Donnersberg“Fraktion) bei 91 Beruflich bzw standesmäßig läßt sich Jopp schwer einordnen, er wurde als Gutsbesitzer92 wie auch als Wirtschaftsbesitzer93 bezeichnet und sein Gefolgsmann Groeber schrieb, er sei „ein Bauer, politisch durchgebildet“ 94 Im Hauptwahlbezirk Krems (Kreis ober dem Manhartsberg) zeitigten die Abgeordnetenwahlen ein anderes politisches Resultat 118 großteils bäuerliche Wahlmänner, die von vielen Herrschaftsbeamten begleitet wurden (!), traten am 28 April in Krems an der Donau im Rathaus zusammen Der Bürgermeister, ein Dechant und drei Wahlmänner bildeten die Wahlkommission, die eigentliche Leitung dürfte aber der Kreishauptmann gehabt haben (Siebenerausschuss gab es scheinbar keinen, er war in der niederösterreichischen Wahlordnung auch nicht ausdrücklich vorgeschrieben) Zunächst hielten die Wahlbewerber Ansprachen an die Wahlmänner; die führenden Kandidaten waren der Kremser Rechtsanwalt Dr Ferdinand Dinstl und der Kreiskommissär Wilhelm Beinhauer Im ersten Wahlgang erhielt Dr Dinstl 40 Stimmen, Beinhauer bekam 53 Die notwendig gewordene zweite Abstimmung wurde durch Aufstellung in zwei Kolonnen (!) durchgeführt, und nun setzte sich Beinhauer durch (die Berichte nennen keine Stimmenzahl); Ersatzmann wurde mit 76 Stimmen der Kreisarzt Dr Franz Drinkwelder 95 Laut einem von einem Herrn Sachs verfassten Artikel in der „Allgemeinen Theaterzeitung“ (23 Mai) war es aber bei der Kremser Wahl nicht so ganz mit rechten Dingen zugegangen: Anlässlich des zweiten Wahlganges habe der Kreishauptmann regelwidrig angeordnet, dass die für Beinhauer Stimmenden im Ratssaal auf die rechte Seite und die für Dinstl Stimmenden auf die linke Seite treten sollten Die herrschaftlichen Beamten, „diese treuen Wächter der einfältigen Bauernunschuld“, hätten nun den vor dem Ratssaal wartenden bäuerlichen Wahlmännern befohlen, gleich bei ihrem Eintritt in den Saal auf die rechte Seite zu treten, und zwar mit den Worten: „Da stellt Euch auf “ Die Bauern, „die das Wort des Verwalters stets für Gottes Wort zu halten pflegten […]“, hätten sich tatsächlich – aus Unkenntnis oder aus Furcht – auf diese Seite gestellt, wozu noch einige ursprünglich für Dinstl eingestellte Bürger „aus gewohnter Gleichgiltigkeit und Gemächlichkeit“ gekommen seien Nach dieser Positionierung sei dann aber bloß die „Partei des Dinstl“ abgezählt worden, und weil sie die erforder90 91 92 93 94 95

Constitutionelle Donau-Zeitung Nr  28, 29 4 1848, S  227 Niebour S  132; Best/Weege S  193 Ebd Constitutionelle Donau-Zeitung Nr  28, 29 4 1848, S  227 Der Freimüthige Nr  32, 7 5 1848, S  131 Constitutionelle Donau-Zeitung Nr  29, 30 4 1848, S  231; Sachs, Wahlumtriebe im V O M B In: Allgemeine Theaterzeitung Nr  123, 23 5 1848, S  496; Sponner S  29 f

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lichen 60 Stimmen nicht erreicht habe, sei ohne Prüfung, ob wirklich alle Wahlmänner anwesend wären, für Beinhauer entschieden worden 96 Der in Neutitschein in Mähren geborene, politisch rechts der Mitte angesiedelte Wilhelm Beinhauer war absolvierter Jurist und Kreiskommissär am Kremser Kreisamt, wurde aber scheinbar kurz nach der Abgeordnetenwahl zum Regierungssekretär befördert 97 Sein Mandat in Krems nahm er gar nicht an, sondern optierte für Waidhofen an der Thaya, wo man ihm ebenfalls das Vertrauen geschenkt hatte, weshalb sein Ersatzmann Dr Drinkwelder den Wahlbezirk Krems in Frankfurt vertrat 98 Der aus Gaschurn in Vorarlberg stammende Dr Franz Drinkwelder war als Augenarzt und Kreisarzt in Krems tätig, in der deutschen Nationalversammlung schloss er sich der Fraktion „Casino“ (rechtes Zentrum) an 99 Der Hauptwahlbezirk Tulln (Kreis ober dem Wienerwald) entschied sich für einen Abgeordneten, der zu einem der wichtigsten österreichischen Politiker in Frankfurt werden sollte Am 28 April überlegten die in Tulln an der Donau versammelten Wahlmänner zunächst, ob sie einen Tullner Holzhändler oder den Marktrichter von Mautern favorisieren sollten, ließen sich aber dann durch eine Rede über die Bedeutung der Wahl und die von einem Deputierten zu erbringenden Eigenschaften aufklären und griffen nun offensichtlich auf die Vorschlagslisten des Wiener Zentral-Wahlkomitees zurück 100 So wählten sie – ganz ohne sein Zutun – den österreichischen Vertreter im Siebzehnerausschuss der Bundesversammlung, Appellationsrat Anton Ritter von Schmerling, zum Abgeordneten und den Rechtsanwalt Dr Ignaz Wildner Edlen von Maithstein zu seinem Ersatzmann 101 Schmerling dürfte über diese Wahl mehr Dankbarkeit empfunden haben als über seine Abordnung zur Bundesversammlung durch die Regierung; er schrieb am 8 Mai aus Frankfurt nach Wien: Ich bekenne, daß ich mich mehr über meine Wahl in Tuln freue als über eine solche in Wien Es ist mir heimlicher, mit Bürgern einer Landstadt und wackeren Bauern zu thun zu haben, als mit den Herren in Wien, und ich wäre glücklich, mir auch für den österreichischen Reichsrath diesen Bezirk sichern zu können Ich habe auch, da ich meine Wahlurkunde schon erhielt, sogleich ein herzliches und populär gehaltenes Dankschreiben nach Tuln gesendet 102

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Sachs, Wahlumtriebe im V O M B In: Allgemeine Theaterzeitung Nr  123, 23 5 1848, S  496 Best/Weege S  94 Sponner S  30 Niebour S  145; Best/Weege S  128 Löhnert S  64 Alfred von Arneth, Anton Ritter von Schmerling Episoden aus seinem Leben 1835 1848–1849, Prag 1895, S  118; NÖLA, NÖReg, Präsidialindex, S  24 (Z  1134/1848) Arneth S  118

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Anton Ritter von Schmerling gehörte in der Paulskirche der rechtsliberalen „Casino“Fraktion an, doch ging seine Frankfurter Rolle über die eines einfachen Abgeordneten weit hinaus: Ab Mitte Mai 1848 war er Bundespräsidialgesandter und von Juli bis Dezember Reichsinnenminister, von September bis Dezember auch Reichsministerpräsident und Reichsaußenminister (in späterer Zeit dann österreichischer Justizminister, Staatsminister und Ministerpräsident) 103 In den ersten Wochen der Nationalversammlung wirkte es auf ihn erheiternd, dass er als „Abgeordneter von Thule“ aufgerufen wurde104 (die Stadt Tulln, immerhin römischen Ursprungs und etwa auch im Nibelungenlied erwähnt, war manchen Herren in Frankfurt offenbar kein Begriff)

Der im Wahlbezirk Großenzersdorf zum Abgeordneten gewählte Wirtschaftsbesitzer Johann Jopp (Demokrat, „Donnersberg“) bestätigt am 11 5 1848 den Erhalt seiner von der niederösterreichischen Regierung ausgestellten Legitimationsurkunde (Niederösterreichisches Landesarchiv)

103 Niebour S  139 f ; Best/Weege S  298 104 Arneth S  119

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7. Die Abgeordnetenwahlen in St. Pölten, Horn, Wiener Neustadt und den übrigen zehn Hauptwahlbezirken Die 140 Wahlmänner des Hauptwahlbezirkes St Pölten (Kreis ober dem Wienerwald) kamen am 28 April um neun Uhr vormittags im Redoutensaal in der Kreisstadt St Pölten zusammen, wobei 11 Wahlmänner die Stadt vertraten Wahlleiter Kreishauptmann Anton Weinberger hielt die übliche belehrende Eröffnungsrede, wies darauf hin, dass Österreich „[…] heute die erste freie, selbstständige Versammlung durch seine gewählten Vertreter“ begehe, betonte das konstitutionell-monarchische Prinzip, verwarf „die hirnverrückten republikanischen Ideen“ und sprach sich für die österreichische Führungsrolle in Deutschland  – bei grundsätzlicher Erhaltung der Selbständigkeit Österreichs – aus Zwei Kandidaten legten dann ihre politischen Auffassungen dar: Dr Werner, Professor für Kirchengeschichte und Kirchenrecht am örtlichen Priesterseminar, dessen gelehrte Ausführungen keine Begeisterung auslösten, und der noch junge Professor Biehl, der einen Achtungserfolg erzielte Stürmischen Jubel bewirkte hingegen die „mit großer deutscher Currentschrift in die Herzen der Zuhörer geschriebene“ Rede des Rechtsanwalts Dr August Prinzinger, doch erklärte der aus Ottobeuren im bayerischen Schwaben gebürtige Jurist, eine Sendung nach Frankfurt nicht annehmen zu können 105 Daraufhin entschieden sich die Wahlmänner für zwei Wiener, die ihnen vermutlich (auch) vom dortigen Zentral-Wahlkomitee nahegelegt worden waren: Professor Stephan Endlicher wurde – besonders von den Wahlmännern „aus dem Gebirge“ – zum Abgeordneten und der Rechtsanwalt Dr Franz Gutherz zu seinem Ersatzmann gewählt Die Wahl des den meisten Wahlmännern völlig unbekannten Professors Endlicher führte auch zu Kritik; so schrieb der St Pöltener Bürger Andreas Bruckmayer (allerdings erst am 17 Juni) im „Traisenblatt“: Meine lieben Herrn Wahlmänner aus dem Gebirge! […] was hat Euch denn bewogen, einem Mann Euer Vertrauen zu schenken, den ihr nicht einmal gekannt habet? Nicht wahr, einige große Herren aus Wien, und einige reiche Herren aus Eurer Gegend 106

Tatsächlich war Endlicher auch von einigen (wohl städtischen) Wahlmännern, die den Professor von der Studienzeit her kannten, ihren Kollegen empfohlen worden und angeblich hätten vor der Abstimmung einige bäuerliche Wahlmänner auf die Frage, wen sie wählen wollten, geantwortet: „Wir wissen es nicht, aber jemand hat uns hier den Namen Endlicher aufgeschrieben “107

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Deputirten-Wahl In: Traisenblatt Nr  1, 13 5 1848, S  3 f (und Zitate); May S  58; zu Dr Prinzinger vgl Best/Weege S  266 106 May S  59; Deputirten-Wahl In: Traisenblatt Nr  1, 13 5 1848, S  3 f ; Andreas Bruckmayer, Wahlmänner! In: Traisenblatt Nr  6, 17 6 1848, S  44 f ; Zitate ebd S  44 107 May S  59; Löhnert S  63; Zit ebd

Die Wahlen zur Frankfurter Nationalversammlung in Niederösterreich 1848

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Der in Pressburg geborene Botaniker und Sinologe Stephan Endlicher, Mitglied des Frankfurter Fünfzigerausschusses,108 nahm die Wahl allerdings gar nicht an und so ging für ihn der scheinbar linksliberale Hof- und Gerichtsadvokat Dr Franz Gutherz nach Frankfurt; er trat in der Nationalversammlung keiner Fraktion bei und stimmte mit dem linken Zentrum 109 Im Hauptwahlbezirk Horn (Kreis ober dem Manhartsberg) bewarben sich der Privatgelehrte und Schriftsteller Dr Eduard Melly und der Jurist Dr Wodikh Angeblich hatten die beiden sich geeinigt, die Schlagworte Bundesstaat und Staatenbund nicht zu berühren und hielten sich anfangs daran Dann aber trat mit Zustimmung des wahlleitenden Kreiskommissärs ein zusätzlicher Redner auf, der die „Bundesstaatler“ beschuldigte, dem österreichischen Kaiser die Krone nehmen und „uns sammt Deutschland zu einer Republik machen zu wollen “ Dr Wodikh bestritt diese Behauptungen, bekannte sich aber als Anhänger des innigen Anschlusses Österreichs an Deutschland Dr Melly, ein noch vor wenigen Tagen von der demokratisch-bundesstaatlichen „Constitution“ gelobter Mann,110 verlas nun eine schon vorher abgefasste Rede, in der er die Erhaltung der österreichischen Monarchie und den deutschen Staatenbund befürwortete – worauf ihn die Wahlmänner in der Stadt Horn zum Abgeordneten wählten (Ersatzmann wurde der schon aus Krems bekannte Beamte Wilhelm Beinhauer) 111 Der demokratischen Zeitung „Opposition für Volk und Recht“, die sein Auftreten in Horn kritisierte, entgegnete Melly, dass es keine Absprache zwischen ihm und Dr Wodikh gegeben habe, dass die Entschiedenheit seiner Gesinnung nicht erst seit 13  März bekannt sei und dass er seine Ansprache aufgeschrieben habe, damit die Wähler sein Verhalten in Frankfurt an seinen Aussagen am Wahltag messen könnten 112 Dass letztere aber doch eher wahltaktisch motiviert gewesen waren, bewies der gebürtige Kremser Dr Melly in der Nationalversammlung durch seinen Eintritt in die gemäßigt-demokratische Fraktion „Westendhall“ („Linke im Frack“) 113 Im Hauptwahlbezirk Wiener Neustadt (Kreis unter dem Wienerwald) war die Abgeordnetenwahl für den 3 Mai 1848 anberaumt 114 Bürgerliche Gruppen dieses Gebietes favorisierten offenbar den Freiherrn Viktor von Andrian-Werburg, führenden Oppositionellen des Vormärz, vorübergehendes Mitglied des Fünfzigerausschusses

108 Constant von Wurzbach, Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich, Bd   4, Wien 1858, S  44–46; Abend-Beilage zur Wiener Zeitung Nr  4, 4 4 1848, S  13; Wiener Zeitung Nr  109, 18 4 1848, S  518 f 109 May S  59; Niebour S  131; Best/Weege S  166 110 Die Constitution Nr  29, 25 4 1848, S  455 111 Die Wahlen auf dem Lande In: Opposition für Volk und Recht Nr  15, 3 5 1848, S  59 f ; Zitate ebd S  60; NÖLA, NÖReg, Präsidialindex, S  24 (Z  1135/1848) 112 Opposition für Volk und Recht Nr  21, 10 5 1848, S  75 f 113 Niebour S  134; Best/Weege S  235 114 Flanner S  134

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und nunmehrigen Leiter des Wiener Zentral-Wahlkomitees Am 29 April erschien ein Herr Dr Habel bei Andrian-Werburg und ersuchte ihn, sich den Wahlmännern in Wiener Neustadt persönlich vorzustellen; Andrian lehnte dies ab, gab Dr Habel aber einen Brief „mit einer Art Glaubensbekenntniß“ mit 115 Am 3 Mai fand in Wiener Neustadt zuerst eine Vorbesprechung eines Teils der Wahlmänner im Gasthaus „Zum Hirschen“ statt, an der auch der Redakteur der konservativen Dialekt-Schrift „Der constitutionelle Hans-Jörgel“, Johann Baptist Weis,116 der in Speising zum Wahlmann gewählt worden war, teilnahm Ein Redner empfahl Viktor von Andrian-Werburg, der leider wegen Verhinderung nicht habe kommen können, als besonders würdigen Vertreter, doch Herr Weis hielt es für unpassend, in einer Versammlung, in der „sehr viele Bauern aus’n Gebirg“ saßen, einen Baron als Volksvertreter vorzuschlagen, „[…] der für das Volk meines Wissens no gar nix gethan hat “ Weis hielt nun seinerseits eine Rede, die den konservativen Standpunkt (Staatenbund, Erhaltung der Selbständigkeit Österreichs usw ) wiedergab und bedauerte, dass Andrian-Werburg nicht selbst erschienen sei, um seine politischen Vorstellungen darzulegen; mit dem brieflichen Glaubensbekenntnis war Weis nicht zufrieden, es klang ihm zu allgemein Er musste aber einsehen, dass die Wahl Andrians durch ein eigenes Komitee bereits gründlich vorbereitet worden war, dass „Alles nur in den Händen von Einigen g’legn is, die durch ihre Suada d’ Leut damisch g’macht habn “ Laut Weis habe nun „[…] Einer vom Andern auf ein’n langen Tisch die Wahlzettel abg’schriebn, oder es hat Einer die Zettel glei für Mehrere g’schriebn “ (Weis selbst verzichtete auf sein Wahlrecht )117 Die eigentliche Wahl fand dann offensichtlich im Ratssaal des Wiener Neustädter Rathauses statt, wo sich alle 140 Wahlmänner des Hauptwahlbezirkes versammelten und ihre Stimmzettel (ob nun vorbereitet oder nicht) abgaben Viktor von AndrianWerburg wurde mit 128 Stimmen zum Abgeordneten gewählt, als seinen Ersatzmann bestellte man den Freiherrn Franz Sommaruga junior Letzteres erstaunte den Redakteur Weis besonders, denn der Name Sommaruga sei „[…] bei der ganzen Verhandlung, so lang i da war, gar nit vorkummen […] “ Er habe dann einen Bauern gefragt, wem dieser seine Stimme gegeben hätte – „No, sagt er mir, dem Andern da und dem Sommarain “118 Andrian-Werburg, der auch in Wien-Landstraße zum Abgeordneten gewählt wurde, nahm das Mandat in Wiener Neustadt an, […] weil es die erste Wahl war, welche mir bekannt wurde, und weil man mir quasi mein Ehrenwort abnöthigte, sie anzunehmen, da es auf dem Lande äußerst schwer sey, die Wäh115 116 117 118

Andrian-Werburg 2, S  73, 76 (und Zit ); Best/Weege S  82 Joseph Alexander von Helfert, Die Wiener Journalistik im Jahre 1848, Wien 1877, S  152 f Der constitutionelle Hans-Jörgel, Jg 1848, Heft 12, S  4–12 Flanner S  134; Andrian-Werburg 2, S  78; Der constitutionelle Hans-Jörgel, Jg 1848, Heft 12, S  12 f (und Zitate)

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ler nochmals zusammenzutrommeln Auch ist mir eine so eminente Majorität wirklich sehr schmeichelhaft, besonders da ich hiefür gar keine Schritte gethan habe und kaum einen oder zwey meiner Wähler persönlich kannte 119

Viktor von Andrian-Werburg, der nun im Gegensatz zu früher der „gut österreichischen“ Gesinnung zuneigte,120 trat in der deutschen Nationalversammlung der „Casino“-Fraktion (rechtes Zentrum) bei, er war zeitweise zweiter Vizepräsident der Versammlung und außerordentlicher Gesandter der provisorischen Zentralgewalt in London 121 Die Wahlergebnisse in den verbleibenden zehn niederösterreichischen Hauptwahlbezirken werden – mangels detaillierter Berichte – im Folgenden summarisch aufgelistet: Hauptwahlbezirk Korneuburg (Kreis unter dem Manhartsberg): Abgeordneter Kreiskommissär Carl Fügerl (in der Paulskirche fraktionslos, stimmte mit der Rechten); Ersatzmann Kaufmann Engelbert Schulz 122 Hauptwahlbezirk Retz (Kreis unter dem Manhartsberg): Abgeordneter Rechtsanwalt Dr Ignaz Kaiser (linkes Zentrum, „Augsburger Hof “); Ersatzmann Dr Seiller, vermutlich ebenfalls Anwalt 123 Hauptwahlbezirk Zwettl (Kreis ober dem Manhartsberg): Abgeordneter Rechtsanwaltskonzipient Dr Anton Riehl (gemäßigte Linke, „Westendhall“); Ersatzmann Dr Franz Drinkwelder (auch Ersatzmann in Krems) 124 Hauptwahlbezirk Waidhofen an der Thaya (Kreis ober dem Manhartsberg): Abgeordneter Kreiskommissär Wilhelm Beinhauer, der auch in Krems gewählt wurde, aber für Waidhofen optierte (fraktionlos, stimmte mit dem rechten Zentrum); Ersatzmann Kreiskommissär Josef Heinemann 125 Hauptwahlbezirk Amstetten (Kreis ober dem Wienerwald): Abgeordneter Michael Gründlinger, Oberbeamter in Wolfpassing (rechtes Zentrum, „Casino“); Ersatzmann Michael Wendler, Syndikus in Aschbach 126

119 Andrian-Werburg 2, S  78 f 120 Friederike Glanner, Viktor von Andrian-Werburg Ein Lebensbild, phil Diss Wien 1961, S  116 f ; Andrian-Werburg 2, S  72 f 121 Niebour S  125; Best/Weege S  82 122 NÖLA, NÖReg, Präsidialindex, S  24 (Z  1119/1848); Der Humorist Nr  108, 5 5 1848, S  442; Best/ Weege S  148 123 NÖLA, Reg Präsidialindex, S  24 (Z  1151/1848); Best/Weege S  198; HStHB 1, S  671 (Dr Johann Caspar Seiller, falls es sich hier um den Retzer Ersatzmann handelt) 124 NÖLA, Reg Präsidialindex, S  24 (Z  1135/1848); Best/Weege S  128, 280 125 NÖLA, Reg Präsidialindex, S  24 (Z  1135/1848); Best/Weege S  94; HHStA, Staatskanzlei, Diplomatische Korrespondenz, Deutsche Akten, neue Reihe, Kt 81: Alt Fasz 109, fol 38–53 (Verzeichnis der gewählten Deputierten und Stellvertreter), Wahlergebnisse Niederösterreich 126 NÖLA, Reg Präsidialindex, S   24 (Z   1134/1848); Best/Weege S   163; Der Humorist Nr   108, 5 5 1848, S  442

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Hauptwahlbezirk Melk (Kreis ober dem Wienerwald): Abgeordneter Johann Ranzoni, Oberbeamter bei der Stiftsverwaltung Melk (fraktionslos, Stimmverhalten unbekannt); Ersatzmann Michael Gründlinger (der Amstettener Abgeordnete) 127 Hauptwahlbezirk Klosterneuburg (Kreis unter dem Wienerwald): Abgeordneter Dr Franz Schuselka, Schriftsteller und Mitglied des Fünfzigerausschusses; seine Wahl wurde in Frankfurt, von wo er bereits abreisen wollte, „mit wahrem Vergnügen“ aufgenommen (Schuselka gehörte zur äußersten Linken, Fraktion „Donnersberg“); Ersatzmann Carl Eduard Bauernschmid, bis zur Märzrevolution Provinzialbücherzensor in Wien 128 Hauptwahlbezirk Baden (Kreis unter dem Wienerwald): Abgeordneter Joseph Freiherr von Doblhoff (rechtes Zentrum, „Casino“); Ersatzmann Dr Joseph Bauer, Rechtsdozent an der Wiener Universität 129 Hauptwahlbezirk Neunkirchen (Kreis unter dem Wienerwald): Abgeordneter Ferdinand Staudenheim Ritter von Mühlhof, Gutsbesitzer bei Neunkirchen (fraktionslos, stimmte mit dem rechten Zentrum); Ersatzmann Dr Rudolf Brestel, Mathematikprofessor an der Wiener Universität 130 Hauptwahlbezirk Bruck an der Leitha (Kreis unter dem Wienerwald): Abgeordneter Johann Muck, Landgerichtsverwalter in Schwadorf (fraktionslos, stimmte überwiegend mit dem rechten Zentrum); Ersatzmann Major Valentin Streffleur 131 Angesichts der häufigen, auch die Ersatzmänner betreffenden Doppelwahlen und der Ablehnung der Wahl durch manche Ersatzmänner (z B Dr Seiller in Retz) wies die niederösterreichische Regierung die Kreisämter mehrfach an, diesbezüglich neue Wahlen einzuleiten 132

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NÖLA, Reg Präsidialindex, S  24 (Z  1134/1848); Best/Weege S  269 NÖLA, Reg Präsidialindex, S   25 (Z   1206/1848); Abend-Beilage zur Wiener Zeitung Nr   39, 10 5 1848, S  156 (und Zitat); Best/Weege S  90 f , 312 f NÖLA, Reg Präsidialindex, S  25 (Z  1206/1848); Best/Weege S  90, 126 NÖLA, Reg Präsidialindex, S  25 (Z  1206/1848); Best/Weege S  326; zu Dr Brestel vgl Österreichisches Biographisches Lexikon 1815–1950, hg von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Bd  1, Wien 1957, S  113 NÖLA, Reg Präsidialindex, S  25 (Z  1206/1848); Best/Weege S  244 f , 330 NÖLA, Reg Präsidialindex, S  24 (Z  1150/1848), S  26 (Z  1221 u 1330/1848)

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Der bedeutendste unter den in Niederösterreich gewählten Abgeordneten: Anton Ritter von Schmerling (Wahlbezirk Tulln; rechtsliberal, „Casino“), in Frankfurt u a Reichsinnenminister und Reichsministerpräsident (Lithographie von Josef Kriehuber, 1849)

Schlussbemerkung Die hier skizzierten niederösterreichischen Wahlen für das Paulskirchenparlament sind nur ein kleiner Ausschnitt aus dem vielfältigen und abwechslungsreichen Frankfurter Wahlgeschehen im gesamten deutschen Bundesgebiet der österreichischen Monarchie Diese erstmalige Wahl parlamentarischer Abgeordneter war mit erheblichen Problemen verbunden: Pannen und Fehler mangels politischer und wahltechnischer Erfahrung, vereinzelte Missbräuche und Betrugsversuche, ungenügender Zugang der breiten Urwählerschichten zum Wahlthema, die Dominanz der Grundentlastungsfrage und der Widerstand tschechischer, slowenischer und anderer nationaler Aktivisten samt teilweisem Wahlboykott in den böhmischen Ländern, der Krain, der Untersteiermark usw

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Dennoch konnten – außerhalb der Boykottgebiete – die Wahlen erstaunlich kurzfristig und offenbar zum größten Teil korrekt durchgeführt werden, was der Arbeit der Behörden, dem Engagement des deutschösterreichischen Bürgertums und dem letztlich doch meist kooperativen Verhalten der „einfachen“ Wähler zu verdanken war Für Österreich, d h für seine zum Deutschen Bund gehörenden Erbländer, war die deutsche Nationalversammlungswahl im Frühjahr 1848 nichts weniger als der erste Schritt zur parlamentarischen Demokratie, der in Anbetracht der schwierigen Umstände durchaus erfolgreich bewältigt wurde

Die Frankfurter Paulskirche und das städtische Bürgertum Darstellung der Einflussnahme der bürgerlichen Selbstverwaltung auf den Bau der neuen protestantischen Hauptkirche* Lucia Seiss 1. Einführung Von 1789 bis 1833 wurde in Frankfurt am Main die Paulskirche gebaut Unter der Einflussnahme zahlreicher Baumeister, stilistischer Konflikte, protestantischer Sakralbautheorie und teils jahrelanger Bauunterbrechungen ließ das Frankfurter Bürgertum einen mutmaßlichen „Symbolbau des bürgerlichen Selbstbewusstseins“ entstehen, dessen sakrale und stadtpolitische Bedeutung heutzutage nahezu völlig unter seiner Nutzung als Ort der Nationalversammlung 1848 verstummt ist Dieser Beitrag soll daher die bislang nur wenig beachtete Architekturgeschichte der Frankfurter Paulskirche vom Planungsbeginn bis zu ihrer Zerstörung im Jahr 1945 betrachten Ein Fokus liegt dabei auf dem Einfluss des Frankfurter Bürgertums, im Rahmen der städtischen Selbstverwaltung, als Bauherren der Kirche Die zentrale Frage wird sein, wie sich die bürgerliche Bauherrenschaft im Bauprozess und in der Bauform der Paulskirche äußert Dargelegt werden die teils gegensätzlichen Interessen und Positionen der einzelnen Bauparteien und die daraus resultierenden Folgen Denn im Gegensatz zur teils vermittelten Sichtweise der Literatur, haben nicht nur das geringe finanzielle Ver*

Der Text dieses Beitrages basiert auf der Masterarbeit von Lucia Seiß zum Thema: „Alle Einzelformen klassizistisch nüchtern und hart“  – Zum Bau der Frankfurter Paulskirche Analyse der Entwürfe und architekturhistorische Einordnung“, die am 27 09 2019 an der Goethe-Universität Frankfurt am Main eingereicht wurde Für beide Texte dienen die Entwurfszeichnungen und Baupläne der Paulskirche sowie frühe Quellen als Grundlage, da sämtliche Bauakten 1945 verbrannten Die Zeichnungen sind zum Teil im Historischen Museum Frankfurt/Main erhalten, zum Teil bei Carlo Jelkmann (wie Anm  14) abgebildet Mein Dank gilt daher dem Historischen Museum für die freundliche Bereitstellung der Pläne zur Einsicht

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mögen der Stadt und die zwischenzeitliche französische Besatzung der Stadt für die lange und komplexe Bauzeit gesorgt, sondern zum großen Teil auch die Eigenheiten der Bauherren, hervorgerufen durch das komplexe städtische Selbstverwaltungsprinzip Frankfurts, die den Paulskirchenbau entscheidend geprägt haben Dass damit die Paulskirche aber nicht einfach mit anderen Bürgerkirchen wie der Dresdner Frauenkirche gleichgesetzt werden kann, wird ihm folgenden Text aufgezeigt 2. Voraussetzungen für den Paulskirchenbau Die Geschichte der Paulskirche beginnt bereits im 13  Jahrhundert mit ihrem gotischen Vorgängerbau, der sogenannten „Barfüßerkirche“ Diese befand sich als Klosterkirche des Franziskanerordens, im Volksmund als „Barfüßer“ bezeichnet, bereits an derselben Stelle in der Frankfurter Altstadt, an der sich bis heute der Ovalbau der Paulskirche erhebt 1 Bereits vor der rechtlichen Einführung der Reformation in Frankfurt2 im Jahr 1536 wurde die Klosterkirche nach einem Besuch Martin Luthers 1521 und den ersten evangelischen Messen ab 1522, nach 1525 auf Veranlassung des Rates für Predigten genutzt 3 Begünstigt wurde dies wohl auch davon, dass sich die Franziskaner dem lutherischen Glauben gegenüber offen zeigten, dem sie sich 1529 auch offiziell zuwandten 4 Das Kloster wurde damit säkularisiert und in ein Gemeindezentrum umgewandelt, dem das humanistische Gymnasium und die städtische Bibliothek angeschlossen wurden 5 Die auf Druck der Frankfurter Bevölkerung zunehmenden evangelischen Festivitäten und Predigten der Stadt wurden zunächst in verschiedenen Kirchen abgehalten, während die katholische Messe auf Verlangen der Bürger 1533 gänzlich suspendiert wurde 6

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Zur Geschichte der Barfüßerkirche siehe Rexroth, Karl Heinrich: „Zur Baugeschichte der Barfüßerkirche in Frankfurt am Main“, in: Roman Fischer (Hg ), Von der Barfüßerkirche zur Paulskirche Beiträge zur Frankfurter Stadt- und Kirchengeschichte, Frankfurt am Main 2000, S  299–309; Wolff, Carl / Jung, Rudolf: Die Baudenkmäler in Frankfurt am Main, 3 Bde , Bd  1: Kirchliche Bauten, Frankfurt am Main 1896, S  274 Siehe zur Einführung der Reformation: Hock, Sabine: Reformation in der Reichsstadt Wie Frankfurt am Main evangelisch wurde Eine Chronik der Jahre 1517 bis 1555, Frankfurt am Main 2001, URL: https://sabinehock de/downloads/reformation pdf [22 10 2020] und zur Rolle der Barfüßerkirche dabei: Dienst, Karl: Die Barfüßerkirche als Frankfurter Hauptkirche, in: Roman Fischer (Hg ), Von der Barfüßerkirche zur Paulskirche Beiträge zur Frankfurter Stadt- und Kirchengeschichte, Frankfurt am Main 2000, S  123–186 Vgl Telschow, Jürgen: Geschichte der evangelischen Kirche in Frankfurt am Main Von der Reformation bis zum Ende der Frankfurter Unabhängigkeit (1866), Hanau 2017, S  46 Vgl Hils-Brockhoff, Evelyn: „Die Paulskirche – Geschichte und Beschreibung des Bauwerks“, in: Roman Fischer (Hg ), Von der Barfüßerkirche zur Paulskirche Beiträge zur Frankfurter Stadt- und Kirchengeschichte, Frankfurt am Main 2000, S  311–334, S  311 Vgl Hock: Reformation (wie Anm  2), S  5 Vgl Dienst: Barfüßerkirche (wie Anm  2), S  125

Die Frankfurter Paulskirche und das städtische Bürgertum

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Der lutherische Gottesdienst wurde anfangs in der Bartholomäuskirche durchgeführt, die aber nach den verlorenen Schmalkaldischen Kriegen an die Katholiken zurückgegeben werden musste und so die Barfüßerkirche 1548 zur evangelischen Hauptkirche werden ließ 7 Dies war der Frankfurter Besonderheit geschuldet, dass es in der Stadt nur eine Hauptkirche und nicht, wie anderorts üblich, mehrere kleine Pfarrkirchen gab 8 Damit entwickelten sich die Kirche und das Klosterareal zum kulturellen Zentrum Frankfurts,9 sowie darüber hinaus zum zentralen Treff- und Versammlungspunkt des Frankfurter Patriziats 10 Auf dieser Verbindung zur städtischen Führungselite aufbauend, wurden im Barfüßerkloster mit dem Beginn des 13 Jahrhundert die Kaiserwahlen, bis 1405 die Sitzungen der Stadtregierung und ab 1562 die Kaiserkrönungen abgehalten Christian Welzbacher sieht darin den engen Austausch zwischen Kloster und Stadt bereits ab dem Spätmittelalter, der sich in der nachfolgenden Paulskirche bis zu ihrer Zerstörung 1944 fortsetzte 11 Baustatische Überbeanspruchung der Barfüßerkirche durch die ständig steigende Besucherzahl der Predigten hatte im 18 Jahrhundert zu schweren Bauschäden geführt Nachdem sich 1782 Risse im Bauwerk zeigten, mehrten sich die Rufe nach einem Neubau der Kirche 12 Mit der Schließung der Kirche im Februar 1782 begannen der städtische Rat und die bürgerlichen Kollektive, beides Organe der städtischen Selbstverwaltung Frankfurts, mit Diskussionen über den Abriss des Baus 13 Während sich der Rat für einen repräsentativen Kirchenneubau aussprach, forderten die Bürgerkollektive eine rein kostensparende Ausbesserung der bestehenden Kirche 14 Dass der Abriss der Barfüßerkirche und der Bau der neuen Kirche nicht in der Verantwortung des Erzbistums Mainz, zu der sie kirchlich gesehen gehörte,15 sondern in städtischer Verantwortung lag, ist auf die Frankfurter Gegebenheit zurückzuführen, dass die evangelische Kirche bis zur Dotation und der damit beginnenden Loslösung von Stadt und Kirche am 2 Februar 1830, die Staatskirche der Stadt Frankfurt war 16 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16

Vgl ebd , S  128 Vgl ebd , S  140 Vgl Veidt, Karl: „Paulskirche im Wandel der Zeit“, in: Werner Becher (Hg ), Das Kreuz auf der Paulskirche Quellen zur Kirchengeschichte der Paulskirche (1833–1953), Frankfurt am Main 1999, S  33–64, S  33 Vgl Welzbacher, Christian: „Planungs- und Baugeschichte 1786 bis 1833“, in: Walter Lachner / Christian Welzbacher, Paulskirche, Berlin 2015, S  10–25, S  12 Vgl ebd , S  11 Zum Wachstum der protestantischen Gemeinde in Frankfurt siehe: Roth, Ralf: Stadt und Bürgertum in Frankfurt am Main Ein besonderer Weg von der ständischen zur modernen Bürgergesellschaft 1760–1914, München 1996, S  94 Vgl Institut für Stadtgeschichte Frankfurt, Einundfünfzigerkolleg: Akten (H 03 04), Nr  3300 Vgl Jelkmann, Carlo H : Die Sct Paulskirche in Frankfurt a M Ein Beitrag zur Entwicklung der deutsch-protestantischen Kirchen-Baukunst und ein Zeitbild aus der Geschichte Frankfurts um 1780–1850, Frankfurt am Main 1913, S  3, 7 f Vgl Telschow: Geschichte (wie Anm  3), S  14, 17 Vgl Dienst: Barfüßerkirche (wie Anm  2), S  254

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Historisch seit dem Mittelalter aus einer engen Verbindung von Kirche und Stadt gewachsen,17 wurde mit der Einführung der Reformation der Rat auch rechtlich als Oberhaupt der evangelischen Kirche bestätigt 18 Das bedeutete, dass diese sowohl organisatorisch als auch eigentumsrechtlich unter städtischer Hand stand 19 Der Rat als oberste städtische Verwaltungsinstanz erlangte damit die kirchliche Entscheidungsgewalt, stellte alle Mitarbeiter und besaß sämtliche Eigentümer der Kirche, hatte jedoch im Gegenzug für ihren Unterhalt zu sorgen 20 Die politische Struktur der Stadt Frankfurt beruhte auf der städtischen Selbstverwaltung verschiedenster Gremien, deren komplizierte Strukturen sich über Jahrhunderte aus zunächst einem Rat und zwei Bürgermeistern geformt hatten Die kaiserliche Macht blieb formal als oberste Gewalt bestehen, wurde jedoch zunehmend in seinem Einfluss zurückgedrängt 21 Die Regierungsmacht der reichsunmittelbaren Stadt Frankfurt unterlag seit dem 13 Jahrhundert dem Rat der Stadt als Selbstverwaltungsinstanz der Bürgerschaft Im 18 Jahrhundert setzte sich der Rat aus zwei Bürgermeistern, dem Stadtschultheiß, den Schöffen, den Senatoren und den Ratsherren zusammen und bestimmte über sämtliche innere und äußere Angelegenheiten der Stadt 22 Dass der Rat keinesfalls als Vertreter des Stadtbürgertums verstanden werden dürfen, hat Ralf Roth in seiner Dissertation herausgearbeitet Er sieht bereits schon im späten Mittelalter eine zunehmende Abkoppelung dieses von der Frankfurter Bürgerschaft, da die Ämter beständig fast vollständig innerhalb bestimmter weniger Familien weitergegeben wurden Mehrere Aufstände gegen diese Tendenzen zwischen dem 16 und 18 Jahrhundert waren Ergebnis dessen, womit versucht wurde die Mitspracherechte der Bürger wieder zu vergrößern Im 18 Jahrhundert wirkte man dieser starken Vorherrschaft mittels der Bildung verschiedener bürgerlicher kontrollierender Gremien wie den bürgerlichen Kollektiven entgegen Dem Rat standen damit nach 1716 vier Bürgerausschüsse gegenüber: die ständigen „Neuner“, das „Einundfünzigerkolleg“ und „Achtundzwanzigerkolleg“ sowie das jährliche Kollegium der „Dreier“, die der Kontrolle des Rates in Finanz- und Wahlangelegenheiten dienten 23 Ihre nicht zu unterschätzende Rolle als Kontroll- und Gegenschreiberorgan und die dadurch hervorgerufenen Konflikte zwischen den einzelnen bürgerlichen Ämtern der Selbstver-

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Dies war ein laut Telschow typisches Merkmal deutscher Reichs- und Freier Städte wie es auch Frankfurt war Siehe dazu: Telschow: Geschichte (wie Anm  3), S  25 f Vgl ebd , S  46 f Vgl ebd , S  47, 408–410 Vgl Telschow: Geschichte (wie Anm  3), S  408–410, 413; Roth: Stadt (wie Anm  12), S  104 Vgl Roth: Stadt (wie Anm  12), S  102 Ebd Vgl ebd , S  105 f Zum Anteil der Elite und sozialen Zusammensetzung der städtischen Instanzen siehe ebd , S  676

Die Frankfurter Paulskirche und das städtische Bürgertum

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waltung prägte auch und besonders das städtische Bauwesen 24 Die Ausmaße dessen lassen deutlich an der Baugeschichte der Paulskirche ablesen So führte der Konflikt zwischen jenen städtischen Organen bereits vor dem Abriss der Barfüßerkirche zu einer verzögerten Konsensfindung zum Umgang mit dem Bau, die erst nach vier Jahren, 1786, einen Abriss der Barfüßerkirche erlaubte 25 Zu Beginn des folgenden Jahres waren die Abbrucharbeiten beendet und der Bauplatz beräumt 26 Bereits die Barfüßerkirche steht daher, wie Karl Dienst resümiert, für ein „komplexes Geschehen zwischen Stadt-, Reichs- und Kirchengeschichte […], das auch heute noch im Blick auf Stadt und Kirche Aufmerksamkeit und Beachtung verdient“ 27 Es zeichnet sich ab, dass die Barfüßerkirche zum einen den religiösen Wandel Frankfurts vom Katholizismus zum Protestantismus markiert und sich zum anderen ein besonderes, über Jahrhunderte gewachsenes Traditionsbewusstsein zwischen der lutherischen Hauptkirche und den Bürgern der Stadt entwickelt hatte, welches auch beim Neubau des Nachfolgebaus, der späteren Paulskirche, prägend wurde 28 3. Bau- und Nutzungsgeschichte der Paulskirche bis 1945 Rechtliche Bauherren der Paulskirche waren, wie erwähnt, neben dem Frankfurter Stadtrat, die bürgerlichen Kollegien Sie bestimmten als Kontrollorgan der städtischen Instanzen und Finanzen mit dem Rat zusammen ab 1782 über den Neubau der lutherischen Hauptkirche 29 Zusätzlich wurde das städtische Bauamt, in dessen Auftrag der ihm unterstellte Stadtbaumeister handelte, als Leitinstanz des gesamten städtischen Bauwesens tätig 30 Da die bürgerlichen Kollegien, im Gegensatz zu Bauamt und Rat, am Anfang des Bauprozesses noch den Erhalt der mittelalterlichen Franziskanerkirche durchzuset24

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Unter der städtischen Selbstverwaltung entfalteten sich das Bauwesen und die Architektur anders als an fürstlichen Höfen Als ausgesprochene Frankfurter Eigenheit kann dieses System nicht gesehen werden, auch in Städten wie Dresden und Hamburg prägten das bürgerlich verwaltete Bauwesen die Stadt Der wesentliche Unterschied besteht jedoch darin, dass in Frankfurt allein die bürgerliche Verwaltung als Bauherr auch von Sakralbauten auftrat und weder der Kirche wie in Hamburg oder dem König wie in Dresden ein wesentliches Mitsprachrecht oder Bauaufsicht zuteil kam Vgl Dechent, Hermann: Kirchengeschichte von Frankfurt am Main seit der Reformation, 2 Bde , Bd  2, Leipzig 1921, S  246 Vgl Rexroth: Zur Baugeschichte (wie Anm  1), S  309 Dienst: Barfüßerkirche (wie Anm  2), S  186 Vgl ebd Vgl Stricker, Wilhelm: Die Baugeschichte der Paulskirche (Barfüsserkirche) zu Frankfurt am Main 1782–1813, Frankfurt am Main 1870, in: Archiv für Frankfurter Geschichte und Kunst, Neujahrsblätter 1859–1870, S  7 Vgl Hils, Evelyn: Johann Friedrich Christian Hess: Stadtbaumeister des Klassizismus in Frankfurt am Main von 1816–1845, Frankfurt am Main 1988, S  38

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zen versuchten, konnte erst im Jahr 1786, nach ihrer Zustimmung, der Abriss der seit vier Jahren geschlossenen Barfüßerkirche durchgeführt werden, dem sich im Folgejahr die vorbereitende Planung für einen Neubau der Kirche anschloss 31 Die größte Problematik war dabei nicht nur die beengte städtebauliche Lage des Grundstückes inmitten der Frankfurter Altstadt, die eine Vergrößerung des Platzes schwierig machte (Abb 1), sondern auch die beschränkte finanzielle Situation der Stadt, die von Seiten der bürgerlichen Kollegien vermehrt scharfe Kritik an der Höhe der zu erwartenden Kosten hervorrief 32 Der von dem für den Neubau zuständigen Stadtbaumeister Andreas Liebhardt eingereichte Bauentwurf mit ovaler Grundrissform, einem Turm an der Südseite, zwei ihm gegenüberliegenden Treppentürmen und Kuppel wurde nicht angenommen Zu groß waren vor allem die Bedenken des Rats gegenüber seiner eher spätbarocken Formensprache 33 Im Gegensatz zum städtischen Rat sprach sich die Frankfurter Bürgervertretung deutlich für die Verwendung eines ovalen Baukörpers für den Neubau nach dem Entwurf von Liebhardt aus, erfüllte ein solcher aus ihrer Sicht doch die angestrebte liturgische Nutzung am idealsten innerhalb des geringen Platzangebotes der engen Frankfurter Altstadt 34 Von Bedeutung für die angestrebte Erbauung eines protestantischen Idealbaus war hierbei die Anwendung eines Zentralbaus Dieser Typus ergab sich aus der protestantischen Liturgie, bei der sich die Gemeinde gemeinsam um den Prediger versammelt 35 Dieses Prinzip hatte sich seit dem 16 und 17 Jahrhundert zunehmend konkretisiert, was sich zunächst zumeist theoretisch und spätestens im 18 Jahrhundert vollständig auch in den Kirchenbauten – teils durch Umbauten, teils formvollendeter in zentralistischen Neubauten  – widerspiegelt 36 Demnach wurde seine Umsetzung auch bei der Planung der neuen evangelischen Hauptkirche in Frankfurt gewünscht Die später hierbei realisierte Grundrissform des Ovals, die nicht nur im Innenraum, sondern auch in den Außenmauern des Baus sichtbar ist, fand in der lutherisch-protestantischen Kirchenbautradition jedoch kaum Anwendung und wurde Gegenstand andauernder Meinungsverschiedenheiten zwischen Rat, Bauamt und bürgerlichen Kollegien Obwohl Liebhardt als Stadtbaumeister eigentlich für den Bau zuständig gewesen war,37 zog man eine Reihe weiterer auswärtiger Baumeister und Gutachter heran, die jedoch keine Lösung brachten, sondern aufgrund der Varietät an gebotenen Lösungsansätzen zu noch stärkeren Differenzen zwischen den Bauherren führten Hauptsäch31 32 33 34 35 36 37

Vgl Veidt: Paulskirche (wie Anm  9), S  39 Vgl Jelkmann: Sct Paulskirche (wie Anm  14), S  3, 7–11, 29, 80 Vgl Hils: Hess (wie Anm  30), S  91 Vgl Welzbacher: Baugeschichte (wie Anm  10), S  17 Vgl May, Walter: „Raumstruktur und Bauform der Dresdner Frauenkirche“ in: Dresdner Geschichtsverein (Hg ), Dresdner Hefte, H 4: Die Dresdner Frauenkirche Geschichte  – Zerstörung – Rekonstruktion, Dresden 1992, S  17–24, hier S  19 Vgl Großmann, Dieter: Protestantischer Kirchenbau, Marburg 1996, S  7 f Vgl Hils: Hess (wie Anm  30), S  42

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Abb. 1 Lageplan zur Paulskirche mit dem Grundrissentwurf von Andreas Liebhardt von 1786 Entnommen aus: Jelkmann, Carlo H : Die Sct Paulskirche in Frankfurt a M Ein Beitrag zur Entwicklung der deutsch-protestantischen Kirchen-Baukunst und ein Zeitbild aus der Geschichte Frankfurts um 1780–1850, Frankfurt am Main 1913, S  23

lich war dieser Umstand weiterhin dem geringen finanziellen Rahmen, stilistischen Vorstellungen und der fehlenden Einigung auf eine geeignete Grundrissform des Kirchenbaus geschuldet Die Entwürfe zeigen eine Bandbreite an Lösungsansätzen, wie die des Mannheimer Hofarchitekten Nicolas de Pigage Dieser hatte als Gegenentwurf zu Liebhardts barockem Oval eine frühklassizistische Rotunde mit vier Ecktürmchen eingereicht, konnte jedoch mit diesem Vorschlag auch keine einigende Mehrheit hervorrufen 38 Weitere Baumeister versuchten sich in ihren Entwürfen an direkten Zitaten

38

Vgl ebd , S  94

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antiker, barocker und klassizistischer Kirchenbauten wie Gianlorenzo Berninis S  Andrea al Quirinale, der Dresdner Frauenkirche, Londons St Pauls Cathedral und weiteren bedeutenden protestantischen und katholischen Kirchenbauten 39 Nach jahrelangen Streitigkeiten über den auszuführenden Entwurf ohne Bautätigkeiten wurden 1789 die zur Diskussion stehenden Baurisse zur Begutachtung an die Berliner Bauakademie geschickt Diese sprach sich, obwohl keiner der Entwürfe als ideal beurteilt wurde, für einen veränderten Entwurf des inzwischen verstorbenen Liebhardts auf Grundlage seines Ovalbaus aus 40 Der Entwurf wurde nach stilistischen Anpassungen durch den 1785 neu eingesetzten Stadtbaumeister Georg Hess schlussendlich von allen beteiligten Bauparteien angenommen 41 Hess entwarf auf Grundlage Liebhardts eine Ovalkirche, die sich in der Fassaden- und Turmgestaltung durch eine äußerst zurückgenommene, nahezu schmucklose und flächige klassizistische Formensprache auszeichnet Dem Bau angeschlossen sind ein großer, quadratischer Turm, zwei ihm gegenüberliegende Treppentürme sowie ein kegelförmiges Dach Im Inneren übernahm Hess Liebhardts Gliederung mit zwei Emporen, einem typischen Motiv des protestantischen Kirchenbaus 42 Die nun klassizistische Umgestaltung des Entwurfs Liebhardts konnte 1789 unter Hess ersten baulichen Maßnahmen zugrunde gelegt werden 43 Da bereits 1791 der Sockel des Kirchenbaus fertiggestellt werden konnte, rechneten die Bauparteien mit der Beendigung aller Bauarbeiten im Sommer 1793 44 Ausgelöst durch die Französische Revolution 1789, die folgenden politischen Unruhen in ganz Europa und anschließenden kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen deutschen Gebieten und Frankreich, von denen auch die Stadt Frankfurt durch Besetzung betroffen war, kam es jedoch bald zu Verzögerungen der Arbeiten Im Oktober 1792 wurde die Stadt unter französische Vorherrschaft gesetzt und verlor damit ihren reichsunabhängigen Status Brandschatzungen, Geldknappheit als auch Kontributionszahlungen an Frankreich folgten und erzwangen den fast vollständigen Stillstand der Bauarbeiten 45 Die finanziellen Mittel, die beim Bau der Kirche von je her zu Schwierigkeiten der Ausführung geführt hatten, wurden fast gänzlich abgezogen Trotz dessen versuchte man auch mit den vorhandenen finanziellen Möglichkeiten eine Fortführung des Baus Bis 1796 konnten der Rohbau des Baukörpers, das Turmuntergeschoss und die Errichtung des Daches fertiggestellt werden Nach erneutem erzwungenen Baustill39 40 41 42 43 44 45

Vgl Stricker: Baugeschichte (wie Anm  29), S  9 Vgl Frankfurt a M Stadtverwaltung (Hg ): 1848 1948: Jahrhundertfeier d ersten deutschen Nationalversammlung in d Paulskirche zu Frankfurt am Main, Frankfurt am Main 1948, S  112 Vgl Jelkmann: Sct Paulskirche (wie Anm  14), S  70 Vgl Kuke, Hans-Joachim: Die Frauenkirche in Dresden „Ein Sankt Peter der wahren evangelischen Religion“, Worms 1996, S  81 Vgl Hils: Hess (wie Anm  30), S  95 Vgl Jelkmann: Sct Paulskirche (wie Anm  14), S  76 Vgl ebd

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stand ab 1801 gelang bis 1810 lediglich die Errichtung einiger, wenn auch unzureichender Witterungs-Schutzmaßnahmen für den Kirchenbau 46 Durch den offenen Turm und die unzureichenden Fenster trat im Laufe dieser Jahre Feuchtigkeit ein und verursachte erhebliche Schäden im Kircheninneren Um neue Gelder für den Weiterbau aufbringen zu können wurde der Kirchenrohbau als Lagerhalle vermietet, was jedoch zu weiteren Schädigungen an der unvollendeten Kirche führte und die Fertigstellung des Baus zwischenzeitlich gänzlich in Frage stellte 47 Ein Bedenken, das nicht nur in der Stadtregierung, sondern auch in der Gemeinde vorherrschte, wie ein Gutachten des Stadtrates Steitz aus dem Jahr 1813 zeigt: „Die Beendigung des Kirchenbaues ist nicht notwendig, weil die lutherische Gemeinde sich seit 32 Jahren auch ohne dieselbe beholfen hat; sie ist nicht notwendig, weil Leerheit der Kirchen zum Geist der Zeit gehört“ 48 Erst nach der Befreiung der Stadt Frankfurt, dem Wiedererlangen ihrer Souveränität und ihrer Wiedergründung als „Freie Stadt“ im Jahr 1816,49 konnte die weiterführende Bauplanung der Kirche wieder vollständig aufgenommen werden 50 Unter Johann Friedrich Hess, dem Sohn des in der Zwischenzeit verstorbenen Stadtbaumeisters, wurde 1816 eine neue Bauphase der fast zur Ruine gewordenen Kirche eingeleitet, die jedoch aufgrund der weiterhin nur beschränkt zur Verfügung stehenden städtischen Gelder allein theoretische Überlegungen zuließ 51 In dieser Lage schlug Hess den Bauherren vor, die Kirche, statt in ihrer vorherigen Form, mit einer steinernen Kuppel nach Vorbild des römischen Pantheons mit Deckenkassettierung und Oberlicht und halbhohem Turm zu vollenden (Abb 2) 52 Obwohl sowohl das Bauamt als auch der Senat dem Vorschlag positiv gegenüberstanden, legten die städtischen Kollegien aufgrund der bereits investierten Baugelder und vergangenen Bauzeit ihr Veto ein und erzwangen damit die Weiterführung der ursprünglichen Bauidee 53 Ferner konnte auch die vorgeschlagene Umgestaltung des Turms nicht zur Anwendung gebracht werden Sie hatte weitere Entwürfe zur Neugestaltung dessen hervorgebracht, unter anderem zum Einschub eines Uhrengeschosses, was dem Turm eine deutlichere Erhabenheit gegenüber dem Dach des Kirchensaals verliehen hätte

46 47 48 49 50 51

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Vgl ebd , S  76–78 Vgl Stricker: Baugeschichte (wie Anm  29), S  24–27 Veidt: Paulskirche (wie Anm  9), S  41 Vgl Roth: Stadt (wie Anm  12), S  20 Vgl Jelkmann: Sct Paulskirche (wie Anm  14), S  78 Im „Kirchlicher Anzeiger für die evangelisch-lutherischen Gemeinden des Consistorialbezirks Frankfurt am Main“, Nr  22–24, 1883, schrieb Pfarrer Dr Dechent dazu: „Die Verglasung der hohen Fenster war fast ganz den Wurfübungen der Jugend zum Opfer gefallen Der oben offene Turm zeigte öde Fensterhöhlen, aus denen Sträucher hervorwuchsen […]“, zitiert nach Stricker: Baugeschichte (wie Anm  29), S  29 Vgl Jelkmann: Sct Paulskirche (wie Anm  14), S  80 Vgl ebd

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Abb. 2 Johann Friedrich Hess: Entwurf für die Paulskirche, Schnitt, 1822 Entnommen aus: Jelkmann, Carlo H : Die Sct Paulskirche in Frankfurt a M Ein Beitrag zur Entwicklung der deutsch-protestantischen Kirchen-Baukunst und ein Zeitbild aus der Geschichte Frankfurts um 1780–1850, Frankfurt am Main 1913, S  81

(Abb  3) 54 Gegen die geplante niedrigere Ausführung des Turms reagierte jedoch das Frankfurter Bürgertum zugunsten einer repräsentativeren, erhöhten Gestaltung mit Glockengeschoss, deren Finanzierung durch die Zugabe privater Gelder mehrerer Bürgerfamilien der Stadt gewährleistet wurde 55 Erst 1829 konnte die restliche finanzielle Unterstützung zur Beendigung des Kirchenbaus durch die Stadt bereitgestellt werden 56 Zur finalen Ausführung des Innenraums gab Hess den entscheidenden Impuls, als er statt der zuvor angedachten zwei Emporen nur eine erbauen ließ, um, neben der Einsparung von Kosten, eine höhere Belichtung des Kirchensaals zu erreichen Die Empore ruhte, ebenfalls auf einen Impuls Hess’ zurückführend, umlaufend auf zwanzig ionischen Säulen und bot damit Platz für etwa 1700 Personen 57

54 55 56 57

Vgl ebd S  82–85 Vgl Stricker: Baugeschichte (wie Anm  29), S  32 Vgl IfSG, Protokolle der gesetzgebenden Versammlung 1819/20, 15 12 1819, Nr  6 Vgl Hils-Brockhoff, Evelyn / Hock, Sabine: Die Paulskirche Symbol demokratischer Freiheit und nationaler Einheit, Frankfurt am Main 1998, S  10

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Abb. 3 Johann Friedrich Hess: Entwurf für die Paulskirche, Ansicht, 1826 Entnommen aus: Jelkmann, Carlo H : Die Sct Paulskirche in Frankfurt a M Ein Beitrag zur Entwicklung der deutsch-protestantischen Kirchen-Baukunst und ein Zeitbild aus der Geschichte Frankfurts um 1780–1850, Frankfurt am Main 1913, S  82

Nach der Fertigstellung im März 1832 konnte der Bau nach einer nahezu 50-jährigen Bauzeit am 9 Juni 1833 auf den Namen „Paulskirche“58 getauft, geweiht und an die lutherische Kirchengemeinde zur Nutzung als Hauptkirche übergeben werden 59

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59

Bis dahin wurde die Kirche weiterhin als Neubau der Barfüßerkirche bezeichnet Der Senat schlug jedoch im März 1832 die Umbenennung der Kirche in „Paulus-„ oder „Johanneskirche“ vor Am 22 /23 Mai beschloss das Konsortium die Benennung „St Paulskirche“ „zur Erinnerung an einen der eifrigsten und verdienstvollsten Verbreiter des Evangeliums“, vgl Zentralarchiv der Evangelischen Kirchen in Hessen und Nassau, Best 23/282 Vgl ebd

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Bereits kurz nach der Eröffnung stellte man jedoch Mängel in der Nutzbarkeit der Kirche fest Risse im Bauwerk zeigten sich, die ovale Form der Kirche sorgte für eine schlechte Akustik im Inneren60 und die ständige Auskühlung des Baus machten Nachbesserungen nötig Bereits 1834 verlangte der Pfarrer nach einem Schalldeckel, dessen 1841 durchgeführter Einbau ohne Erfolg blieb: „[Der Widerhall der Kirche ist ein Übel] welcher dieselbe zu ihrer Bestimmung, Hauptkirche der lutherischen Gemeinde zu sein fast untauglich mache“, zeigte der Gemeindevorstand am 7 Oktober 1846 an 61 Ein Heizapparat und eine zweite Schalldecke aus Holz und Leinwand zwischen Empore und Dachgeschoss wurden 1848 zur Nutzung der Kirche als Versammlungsort der Nationalversammlung verbaut, nahmen jedoch damit der Pauskirche ihre ursprüngliche Helligkeit und klare Gliederung des Innenraums 62 Mit der Tagung des deutschen Parlaments in der Paulskirche wurde dieser die Nutzung als lutherische Hauptkirche entzogen 63 Nachdem am 30 05 1849 die letzte Sitzung der Nationalversammlung in der Kirche stattgefunden hatte und diese in Stuttgart weitergeführt wurde, konnte ab 24 Oktober 1852 die Kirche wieder ihrer eigentlichen Nutzung als Kirchengebäude zurückgeführt werden 64 Bis zum Ersten Weltkrieg fanden jedoch weiterhin auch weltliche Festivitäten in der Kirche statt 65 Wie bereits die Barfüßerkirche reüssierte die Paulskirche als zentraler Versammlungsort der politischen Elite Gedächtnisfeiern zu Ehren der Mitglieder der Paulskirchenversammlung oder zur Befreiung der Stadt von Napoleon wurden im Inneren der Kirche abgehalten Walter Lachner sieht die Paulskirche daher bereits vor dem Zweiten Weltkrieg als nationalen Gedenkort Gedenktafeln und Denkmäler an der Paulskirche wie das 1903 auf dem Paulsplatz errichtete Einheitsdenkmal zeugen davon 66 Renovierungsarbeiten wie die Gestaltung der „Engelsdecke“ von Maler Karl Graetz sowie die Aufstellung von vier Evangelistenstatuen aus den Jahren 1892/93 wurden zusammen mit dem gesamten Inneren der Kirche jedoch Opfer des Kriegsge-

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In ovalen Räumen kommt es zu unkontrollierten Schallreflektionen, welche u a die Sprachverständigkeit empfindlich stören Veidt: Paulskirche (wie Anm  9), S  50; vgl EKHN, Bestand 23/282 Vgl EKHN, Bestand 23/283 Vgl ebd Für die Umnutzung wurde lediglich der Altar verdeckt und über die Orgel ein Gemälde der Germania gehängt Die Kanzel wurde zur Redetribüne umfunktioniert Vgl dazu Dechent, Hermann: „Ich sah sie noch, die alte Zeit“ Beiträge zur Frankfurter Kirchengeschichte, bearbeitet von Jürgen Telschow, Frankfurt am Main, 1985, S  212 f Vgl EKHN, Bestand 23/284 Vgl Struckmeier, Georg: „Die Paulskirche in der Gegenwart“, in: Werner Becher (Hg ), Das Kreuz auf der Paulskirche Quellen zur Kirchengeschichte der Paulskirche (1833–1953), Frankfurt am Main 1999, S  65–74, S  71 Vgl Lachner, Walter: „Politische Vergangenheit und Gegenwart“, in: ders  / Christian Welzbacher (Hg ), Paulskirche Frankfurter Architektur und Geschichte, Berlin 2015, S  27–57, hier S  51, 54 f

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schehens 67 Am 18 März 1944, nur wenige Tage nach der durch den Zweiten Weltkrieg verursachten Einstellung des Gottesdienstes, brannte die Paulskirche durch Brandbomben bis auf ihre Grundmauern nieder 4. Die Position der städtischen Instanzen Ein in der Literatur immer wieder genannter Vergleichsbau für die Paulskirche ist die protestantische Dresdner Frauenkirche von George Bähr (1726–1743) Dabei kommt hierbei weniger die Form der Kirchen zutragen (auch wenn Liebhardt 1786 einen Grundriss einreichte, der dem der Frauenkirche deutlich nachempfunden war) als vielmehr ihre, den Bau begleitenden historischen Umstände So sind sowohl die Frauenkirche als auch die Paulskirche sogenannte „Bürgerkirchen“, die nicht nur als Stadtkirche für ein bürgerliches Publikum geschaffen, sondern auch von städtischen Bürgerinstanzen erbaut worden waren Konträr zu Dresden, wo sich der Rat der Stadt als alleiniger Bauherr sah, aber unter der Entscheidungsmacht des Königs stand,68 wurde der Bau der Paulskirche unter der Leitung des Rates und der bürgerlichen Kollektive, die in der Verwaltungsstruktur Frankfurts als Kontrollinstanz des Rates fungierten,69 geleitet Ihnen zur Seite stand das städtische Bauamt, das den Bauprozess maßgeblich mitbestimmte Anders als in der Literatur gelegentlich zu lesen, muss jedoch betont werden, dass das evangelisch-lutherische Konsortium den Bau vorrangig unterstützend begleitete, Bauherren waren die bürgerlichen Kollegien und der Rat Zurückführen lässt sich die Situation auf die gesetzliche Regelung der Stadt als Oberhaupt der evangelischen Kirche in Frankfurt 70 Einen Eindruck zum Selbstverständnis dieser Bauherrenschaft bieten u a die Inschriften der Glocken, die man zur Fertigstellung der Paulskirche 1830 goss und mit den Namen der am Bau Beteiligten versah Die Namen der jeweiligen Mitglieder der Baukommission, bestehend aus Bauamt, Rat, Bürgerliche Kollegien, Baumeister, Konsistorialräte und des evangelisch-lutherischen Konsortiums sind neben den Namen und Wappen der damaligen Bürgermeister als Vertreter des Stadtrates in der größten Glocke, genannt „Christusglocke“, von 1830 aufgezählt worden Es waren vom Bauamt: „Herr Schöff B Pensa“, vom Rat: „Herr Senator I G Sarasin, Herr E L Bloss“, von den bürgerlichen Kollegien: „Herr S  de Bary-Iordis“, von den Baumeistern „Herr I F C  Hess, Stadtbaumeister, Herr Architect P I Hoffmann / Wasser-Wege & Brü-

67 68 69 70

Siehe dafür Veidt: Paulskirche (wie Anm  9), S  60 Vgl Magirius, Heinrich: Die Dresdner Frauenkirche von George Bähr, Berlin 2005, S  194 Vgl Roth: Stadt (wie Anm  12), S  115 Zur Struktur der bürgerlichen Kollegien bis 1806 siehe ebd , S   115–121 Die beiden bürgerlichen Kollektive wurden 1816 als „Ständige Bürgerrepräsentation“ zusammengelegt weitergeführt Vgl ebd , S  232 Siehe dafür Telschow: Geschichte (wie Anm  3), S  408–410, 413

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ckenbau-Inspector“ und vom lutherischen Konsortium „Herr Dr I P Hoch, Director Herr Senator Dr I C Berends“ 71 Die Stellung der Namen ist insofern interessant, da ihre scheinbare Ordnung innerhalb des Bauprozesses wiedergegeben wird, bspw der Baumeister als eigentlicher Entwurfsverfasser jedoch relativ weit unten genannt wird Damit können die Inschriften als Zeugnisse des selbstbewussten bürgerlichen Herrschaftsverständnisses der selbstverwalteten Stadt gedacht werden Diesem Wunsch der bürgerlichen Darstellung untergeordnet, standen jedoch zwischen allen Instanzen teils gegensätzliche Interessen, hauptsächlich zur formalen Gestaltung Sie spiegeln sich nicht nur in der langen Planungs- und Bauzeit, sondern auch in der Beeinflussung der eingereichten Entwürfe wider Zur Verortung dieser Einflüsse bedarf es der genauen Präzisierung der jeweiligen Haltung, Beweggründe und Architekturauffassung des Rats, der bürgerlichen Deputierten, des Bauamtes, des Kaisers und weiteren Vertretern der städtischen Selbstverwaltung 4 1 Zur Position der bürgerlichen Kollegien Bereits die Entscheidung über den Abriss der alten Barfüßerkirche illustriert den von Konflikten geprägten Planungs- und Bauprozess Auch wenn die Baufälligkeit des Vorgängerbaus bereits 1782 beim Rat der Stadt Frankfurt angezeigt und durch verschiedene Bausachverständige wie den Darmstädter Architekten Friedrich Schuhknecht bestätigt worden war, konnte der geplante Abriss erst vier Jahre später erfolgen Zur Realisierung des Vorhabens bedurfte es der Genehmigung der bürgerlichen Kollegien,72 die jedoch auf einer, ihrer Meinung nach kostengünstigeren Sanierung statt einem Neubau beharrten Erst ein Brief des Rates im Mai 1785 an die Kollegien in dem dieser nochmals mit Nachdruck betonte: „Die Herstellung einer Hauptkirche sei notwendig und unersetzlich“, sowie sicherlich auch der vom Stadtbaumeister Andreas Liebhardt eingereichte ovale Entwurf, der von Seiten der Kollegien überaus positiv angenommen worden war, erreichten zumindest die Übereinkunft zum Abriss des alten Baus, denen die bürgerlichen Kollegien am 21 August 1786 zustimmten 73 Bestehend aus dem „Kolleg der Neuner“ und dem „Kolleg der 51er“ agierten sie als Kontrollorgan der städtischen Finanzen 74 Ihr Beharren auf der kostengünstigeren Lö71

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Bund, Konrad: „Geschichte der Glocken der Barfüßer- und der Paulskirche zu Frankfurt am Main“, in: Roman Fischer (Hg ): Von der Barfüßerkirche zur Paulskirche Beiträge zur Frankfurter Stadtund Kirchengeschichte, Frankfurt am Main 2000, S  423–500, S  446 Zur Geschichte der Glocken der Paulskirche siehe ebd Vgl Roth: Stadt (wie Anm  12), S  21 f Vgl Jelkmann: Sct Paulskirche (wie Anm  14), S  8, 11, 15 „Kolleg der Neuner“: Bürgervertretung aus neun Bürgern zur Prüfung der städtischen Rechnungen Seit 1613 im Gesetz der Stadt verankert, aber immer wieder von der Obrigkeit außer Kraft

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sung einer umfassenden Sanierung der Barfüßerkirche führte bereits zu diesem Zeitpunkt zu einer jahrelangen nur beschränkten Handlungsfähigkeit der beiden Parteien, zog sich aber auch darüber hinaus als beständiges Charakteristikum durch den Bauprozess 75 Sicherlich auf diesem Konflikt aufbauend, beschloss man am 4 September 1786 für den Neubau die Bildung einer besonderen Baukommission, die aus wenigen bürgerlichen Vertretern des Bauamtes und der bürgerlichen Kollegien bestand und die Bürgervertretungsinstanz darstellte 76 Der Schritt blieb jedoch nahezu wirkungslos, eine bessere Konsensfindung erfolgte auch in den Jahren danach nicht Im Laufe des Bauund Planungsprozesses drängten die Bürgerlichen immer wieder, sachgemäß ihrer Funktion, auf Einsparungen, die z T auch auf die Formgebung einwirkten So ist einem Bericht der Bürgerlichen vom 28 Juni 1789 die Frage zu entnehmen, ob nicht der eigentlich bereits bestätigte Bauentwurf auf der Grundlage Liebhardts mitsamt aller gefertigter Baurissen nicht doch verkleinert werden könne, um Kosten zu sparen Dies hätte jedoch eine Verringerung der Sitzplätze um 400 und damit eine kleinere Anzahl der Plätze hinsichtlich des Vorgängerbaus bedeutet 77 Wie auch diese Anfrage wurde der Großteil der kostensparenden Maßnahmen der Kollegien vom Senat abgelehnt, was jedoch immer wieder zur Auslösung neuer bauverzögernder Diskussionen und Untersuchungen führte Stilistisch zeigten sie sich bei der Suche nach einem geeigneten Entwurf für den Neubau eher im Altbewährten verhaftet Während sie Entwürfen mit einer deutlich klassizistischen Form eher ablehnend begegneten, sprachen sie sich sowohl für die ovalen Risse Liebhardts als auch für die 1786 eingereichten Grundrisse einer kreuzförmigen Kirche des Baumeisters Johann Jakob Lautemann nach dem Vorbild der Saarbrücker Ludwigskirche78 aus Beide Projekte waren der Formensprache nach noch deutlich dem Barock zugewandt Dabei ist jedoch zu bemerken, dass sie dabei nicht offen auf diesen Stil drängten, sondern ihr Verhalten wohl eher als ein Setzen auf sti-

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gesetzt worden So auch von 1810–1816, ab 1818 wieder wirksam, da durch großherzogliche Organisation außer Kraft gesetzt und im Zuge der Änderung zur Freien Stadt wieder eingesetzt „51erKollektiv“: ebenfalls als Finanzkontrollorgan eingesetzt Bestand aus 45–51 Bürgern und führte „Gegenbücher“, also Kontrollbücher parallel zu den städtischen Finanzbeamten Ebenfalls 1810 aufgelöst, aber bereits 1813 wiederhergestellt Vgl dazu: Jung, Rudolf: Das historische Archiv der Stadt Frankfurt, Frankfurt am Main 1896, S  43 Vgl Jelkmann: Sct Paulskirche (wie Anm  14), S  3 Vgl IfSG, Einundfünfzigerkolleg: Akten (H 03 04), Nr  3461 Siehe dafür Stricker: Baugeschichte (wie Anm  29), S  22 Lautemann reichte 1786 zwei Grundrisse ein, musste aber kurz danach einen weiteren, nachgebesserten Entwurf nachreichen, der ebenfalls abgelehnt wurde Siehe zu diesem Entwurf: Schubart, Robert H : „Johann Jacob Lautemanns Entwürfe zur Frankfurter Paulskirche“, in: Heydt, Horst (Hg ), Ludwigskirche 1982 Dokumente Erinnerungen, Studien, Saarbrücken 1982, S  103–112

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listisch Bekanntes gesehen werden kann79 und die sakrale Funktionalität der Kirche im Vordergrund stand Dies stützt die These Ludwig Schwabs zur Frankfurter Architektursprache am Ende des 18 Jahrhunderts: „Für die breite Öffentlichkeit Frankfurts war eine klassizistische bürgerliche Architektur bis dahin schlicht noch nicht vorstellbar“80 Auch ihr beständiges Drängen auf das Hinzuziehen immer neuer, angesehener außerstädtischer Baugutachter, das mit dem von ihnen geforderte Versenden der Risse an die Berliner Bauakademie ihren Höhepunkt fand,81 kann als auf Sicherheit bedachtes Denken der bürgerlichen Kollegien in Bezug auf den Neubau gesehen werden Dass möglicherweise ein mitunter fehlendes architektonisches Sachverständnis vorlag und für diese Haltung mitverantwortlich gewesen sein könnte, zeigen mehrere Vorschläge der Bürgerlichen, die sich bei der Prüfung durch die anderen Bau-Parteien als nicht praktikabel, in der Ausführung zu teuer oder unästhetisch herausstellten 82 Ihre eigentlichen Bauziele sind in einem Bauamtsprotokoll vom 3 April 1789 formuliert: [So] 1) solle man die Kirche auf allen Seiten umfahren können; 2) selbige genugsames Licht haben; 3) in solcher man den Prediger aller Orten sehen und hören können; 4) dieselbe mindestens so viele Personen fassen als die abgebrochene; 5) mit hinreichend zahlreichen Eingängen für den Fall eines Unglücks versehen seyn […] 83

Im Vordergrund stand für die Deputierten vorrangig die liturgische Eignung der Kirche Als daran anknüpfend kann C Welzbachers These gesehen werden, der die Paulskirche, aufbauend auf Liebhardts Entwürfen, „in die Tradition der Erneuerungsbewegung protestantischer Sakralarchitektur“ setzt Er stellt die These auf, dass die Paulskirche als „Musterbau des reformierten Glaubens“ erbaut werden sollte, mit dem das Frankfurter Bürgertum „ein Haus der Repräsentation nicht allein im politischen, sondern eben auch im religiösen Sinne anstrebte“ 84

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Als Beispiel können die Entwürfe Lautemanns herangezogen werden, die von den Bürgerlichen unterstützt wurden, obwohl die Gestaltung eher auf eine bereits „veraltete“ Formensprache setzte und Elemente wie einen abgetrennten Chorraum aufweisen, die nicht mehr der gängigen protestantischen Baupraxis der Zeit entsprachen Schwab, Ludwig: „Frankreich in Frankfurt Architekturimporteure um 1800 in Frankfurt am Main“, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte, H 3, 2009, S  389–408, S  389 Dabei ist anzumerken, dass es den Bürgerlichen egal war, an welche Bauakademie die Pläne gesandt wurden, solange es eine „angesehene“ war S  Jelkmann: Sct Paulskirche (wie Anm  14), S  61 So empfahlen sie bspw für den ovalen Vorschlag Liebhardts den Vorschlag die Treppenhäuser in den Bau der Kirche zu verlegen statt sie in den Anbauten unterzubringen Sie mussten jedoch bald darauf erkennen, dass diese Maßnahme weder gestalterisch noch finanziell sinnvoll war Siehe ebd , S  15 IfSG, Einundfünfzigerkolleg: Akten (H 03 04), Nr  3737 Vgl Welzbacher: Baugeschichte (wie Anm  10), S  17

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Obwohl an den jahrelangen Diskussionen durch Uneinsichtigkeit und ständige wechselnde Positionen mitverantwortlich, erklärten die bürgerlichen Kollegien der Baukommission am 9 März 1789, dass sie von der „Keine Hoffnung übrig lassende Behandlungsart so muthlos und ermüdet worden dass sie es nun für das Gerathenste ansähen die Hand ganz von dem Werk abzuziehen Dieselben wollten dem Rath die Vollendung des Hauptkirchenbaues mit allen daraus fliessenden Folgen, sie mögen nun mit der Zeit die gerechte Bewunderung oder den gerechten Tadel des Publikums nach sich ziehen anheimgeben“ 85

Damit traten die bürgerlichen Deputierten zunehmend aus dem Bauprozess zurück, die Entscheidungsgewalt lag in den nachfolgenden Jahren vermehrt bei Bauamt und Senat Nur noch gelegentlich, etwa bei der Entscheidung über den auszuführenden Turmentwurf oder die Umgestaltung des Daches zugunsten einer kassettierten Kuppel, bei der die Kollegien eine dadurch hervorrufende erneute Kosten- und Bauzeitmaximierung ablehnten, sind ihre Entscheidungen in den Quellen vermehrt Bis zur Fertigstellung des Baus hatten das Bauamt und der Stadtrat fortan freiere Hand bei der Gestaltung und konnten ihre geplante Gestaltung der Kirche in einer klassizistischen Formgebung stärker vorantreiben 4 2 Zur Position des Rates Der Rat der Stadt war Teil der städtischen Selbstverwaltung und stellt dessen oberste Instanz dar 86 Er bestand bis 1806 und wurde 1816, mit der Neugründung Frankfurts, als Senat weitergeführt 87 Obwohl er eigentlich über alle inneren und äußeren Stadtangelegenheiten bestimmte, erforderten jegliche Entscheidungen die Zustimmung der bürgerlichen Kollegien, was laut R Roth zu fortwährenden Konflikten zwischen beiden Parteien führte 88 Als oberster Kirchenherr war der Rat für alle kirchlichen Angelegenheiten der lutherischen Gemeinde zuständig 89 Dass der Rat mit dem Bau der Paulskirche als neue lutherische Hauptkirche möglicherweise darüber hinaus auch eigene, persönliche Interessen verfolgte, kann der Tatsache entnommen werden, dass

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Vgl Stricker: Baugeschichte (wie Anm  29), S  19 Der Rat bestand aus dem Schöffenrat, dem Stadtschultheiß, den zwei Bürgermeistern, den Senatoren und den Rathsherren zusammen und zählte insgesamt 43 Mitglieder Siehe dazu: ebd , S  7, Anm  5 Rat und Senat unterscheiden sich vorrangig im Wegfall vom Stadtschultheiß als kaiserlicher Stellvertreter ab 1816 S  dafür Roth: Stadt (wie Anm  12), S  230 Vgl ebd , S  29,103 Zur Struktur und Aufgaben des Rates siehe ebenda, S  102–114 Vgl Telschow: Geschichte (wie Anm  3), S  408–410

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ausschließlich Angehörige des evangelisch-lutherischen Glaubens berechtigt waren Mitglieder des Rates zu sein 90 Bereits von Anfang an zeigte sich der Wille des Rates zugunsten einer monumentalen, innovativen Baugestalt Vor dem Hintergrund der Beweggründe eines repräsentativen Charakters sprach er sich nicht nur deutlich für einen Neubau statt Sanierung der baufälligen Barfüßerkirche, sondern auch zugunsten einer stilistischen Modernisierung aus, die wohl in der Paulskirche ihren Anfang für die gesamte Stadt nehmen sollte Zum Ende des 18 Jahrhunderts hatte sich vielerorts im Deutschen Reich der klassizistische Baustil bereits durchgesetzt und zahlreiche solcher Bauten auch in bürgerlichen Milieus entstehen lassen In Frankfurt jedoch fehlten entscheidende Vertreter zur Realisierung der Architektur, was ein dementsprechendes Verharren auf den typischen Fachwerkbauten mit barocken Details bedeutete, so Ludwig Schwab 91 Dementsprechend groß schien der Wille des Rates und Bauamtes die in Paris ausgebildeten Klassizisten Georg und Johann Friedrich Hess sowie Nicolas de Pigage für den Bau der Paulskirche und andere städtische Bauten gewinnen zu können Redlich bemühte sich der Rat um de Pigage, den man auch für eine weitere Zusammenarbeit anderer Frankfurter Bauprojekte gewinnen wollte und „man es nicht mit ihm verderben wollte“92 Die Wertschätzung drückt sich auch darin aus, dass man, neben den Stadtbaumeistern, allein ihm gestattete seine Pläne nochmals nach ihren Anmerkungen umzugestalten, während die anderen abgelehnten Entwurfsverfasser keine Gelegenheit dazu erhalten hatten 93 Bezeichnend für den Willen des Rates zugunsten eines deutlich klassizistischen Entwurfes sind die immer wieder von ihm ausgehenden Impulse, die Bauidee Liebhardts auch nach der erfolgten Entscheidung zur Ausführung zu verwerfen So stellten sie 1788 Georg Hess nach dem Tod Liebhardts frei, den bereits beschlossenen ovalen Entwurf nach Liebhardt zu verlassen und seine ursprünglich vorgeschlagene Rotunde wiederaufzunehmen Auch im Jahr 1820 zeigten sich die Senatsherren dem Vorschlag Johann Friedrich Hess’ zur erneuten völligen Umgestaltung des Baus nach dem Vorbild des römischen Pantheons deutlich zugewandt (Abb 2),94 was sicherlich eine erneute Bauverzögerung und Kostenmaximierung verursacht hätte Dabei war das gesamte Bauunternehmen bereits von Anfang an ein finanzielles und organisatorisches Wagnis für Frankfurt Bereits seit Beginn der Planungen hatte die beschränkte Liquidität der Stadt zu Einschränkungen des Bauprozesses geführt und die Stadt im 18 und 19 Jahrhundert unter der wiederkehrenden Besatzung

90 91 92 93 94

Vgl Roth: Stadt (wie Anm  12), S  106 Mit der Neugründung des Senats 1816 fiel diese Beschränkung weg S  ebd , S  230 Vgl Schwab: Frankreich (wie Anm  80), S  389 f Jelkmann: Sct Paulskirche (wie Anm  14), S  37 Siehe dafür: ebd Vgl ebd , S  80

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durch Frankreich gelitten 95 Zudem konnte Frankfurt auf keinerlei Bauerfahrung zur Umsetzung der ungewöhnlichen ovalen Bauform, dem queren Kirchenraum und der Größenordnung zurückgreifen, auch Kirchen in Zentralbauform existierten vor dem Bau der Paulskirche in Frankfurt nicht Daraus resultierend bestand im gesamten Zuge des Planungs- und Bauprozesses eine über das rechtliche Maß hinausführende überaus enge Zusammenarbeit mit dem städtischen Bauamt Diese stand den bürgerlichen Deputierten beständig als fraktionsähnlicher Zusammenschluss geradezu oppositionell gegenüber 4 3 Zur Einflussnahme des Bauamtes Die prägendste gestalterische Einflussnahme geschah durch das Wirken des Bauamtes Wie auch von Seiten des Rates her stand die stilistische Modernisierung und Errichtung eines monumentaleren Baus im Sinne eines Zeichens für den Protestantismus der Stadt im Vordergrund Am 15 April 1784 gab Hieronymus Max von Glauburg, oberster Vertreter des Bauamtes, zu bedenken, dass Einheimische und Fremde, deren jährlich so viele aus den entferntesten Gegenden anher kommen, Niemand kann sich eine andere Vorstellung machen, als das dereinst ein solcher Tempel unter uns sichtbar werden wird, der unseren Ruf, unserem Ansehen in der Fremde, unserem Geschmack, unserer Liebe zur Religion auch in der That entsprechen werde

Bedeutsam war dabei auch die Schaffung eines Prestigebaus, dessen protestantische Wirkung nicht nur im Inneren, sondern vor allem am Außenbau durch die Architektur zur Geltung kommt: „Gemalte Seitenwände und Lettner, vergüldete Engel mit ausgesperrten Flügeln und Palmen in den Händen thun ihm keine Genüge“96, so von Glauburg weiter Das Bauamt setzte sich aus neben dem ihm unterstellten Stadtbaumeister, drei Senatsvertretern, einem Bürgerdeputierten, dem Wasser-, Weg- und Brückeninspektor sowie dem Bauschreiber zusammen Es oblag ihm, neben der Bauaufsicht, auch die Bauorganisation zur Errichtung der neuen Kirche Da die Stadtbaumeister dem Bauamt unterstanden, beauftragte und genehmigte dieses die Entwürfe und reichte sie anschließend an die Bauherren als genehmigende Instanzen weiter 97 Möglicherweise die gesamte städtebauliche stilistische Umformung Frankfurts im Blick,98 ist die Wahl der beauftragten Entwurfsverfasser und Besetzung der Stadt-

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Vgl Roth: Stadt (wie Anm  12), S  14 f Vgl Stricker: Baugeschichte (wie Anm  29), S  8 Vgl Hils: Hess (wie Anm  30), S  38, 42 Diese wird sich 1809 im Baustatut von Georg Hess manifestieren S  dafür Schwab: Frankreich (wie Anm  80), S  391, 408

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baumeister mit Georg und Johann Friedrich Hess sowie de Pigage als Vertreter einer französischklassizistischen Architektursprache bezeichnend Sie waren dem Bauamt durch persönliche Kontakte oder Anschauung ihrer Bauten bekannt In diesem Kontext zeigte sich das Bauamt während des Entwurfsprozesses besonders den eingereichten Entwürfen mit einer klassizistischen, besonders monumentalen Formensprache zugeneigt Das von Georg Hess 1785 vorgeschlagene Perystil verdeutlicht dies exemplarisch Er plante es der Längsseite des Liebhardt’schen Ovals hinzuzufügen, was das Bauamt aufgrund seiner „Wohlgestaltung“ befürwortete 99 Daneben fand die Umgestaltung des ausgeführten Daches zu der 1820 von Johann Friedrich Hess konzipierten Kuppel mit Oberlicht ebenfalls ihren Zuspruch 100 Mehrmals griff das Bauamt auch gestalterisch in die Entwürfe ein und verlieh ihnen die entscheidenden künstlerischen Impulse Zu bemerken ist dabei, dass es ihm dabei des Öfteren gelang eine Mittlerrolle zwischen den bürgerlichen Deputierten und dem Rat einzunehmen und gar eine Synthese der verschiedenen Positionen herzustellen So ist unter anderem die finale Grundrissform auf das Vermitteln des Amtes zurückzuführen Das Bauamt veranlasste das längliche Oval nach dem Entwurf Liebhardts stärker zu runden und die Anbauten nicht mehr axial, sondern den Turm mit den Treppenhäusern in einer Dreiecksform anzuordnen 101 Der Bau erfuhr damit nicht nur eine stärkere städtebauliche Wirkung, er wurde zudem, unter Zunahme einer eigenständigeren Gestalt, dem abgelehnten, klassizistischen Rundbau nach de Pigage angenähert Eine Synthese des ursprünglichen Ovals, von seinen Gegnern als veraltetes Zeichen des Barocks angesehen und der klassizistischeren Rotunde konnte so erreicht werden Die mitunter verstärkt zugunsten des Klassizismus wirkende Einflussnahme stieß jedoch während des Bauprozesses mehrmals auf Kritik So sah sich der Schöffenrath am 27 Mai 1787 gezwungen das Bauamt abzumahnen, nach dem es eigenständig und unrechtmäßig einem Antrag de Pigages zugestimmt hatte, obwohl bereits der Beschluss der Liebhart’schen Pläne vom Senat vorgelegen hatte 102 Auch von Seiten der bürgerlichen Kollegien wurde der Vorwurf einer Parteilichkeit gegenüber de Pigage laut Nachdem sich das Bauamt für den Entwurf de Pigages ausgesprochen hatte, kritisierten die Deputierten, dass das Bauamt den barocken Entwurf Lautemanns aufgrund seiner vier Pfeiler im Innenraum abgelehnt, jedoch den Plan de Pigages trotz seiner dort verbauten 16 Säulen befürwortetet hatte 103 Es kristallisierte sich dabei ein Verhalten heraus, das den Willen des stilistischen Wandels von der Seite des Bauamtes verdeutlicht und damit die ständigen Konflikte zwischen Rat und den Kollegien befeuerte

99 100 101 102 103

Vgl Jelkmann: Sct Paulskirche (wie Anm  14), S  24 Vgl ebd , S  80 Vgl ebd , S  35 Siehe dafür Stricker: Baugeschichte (wie Anm  29), S  12, Anm  2 Vgl Jelkmann: Sct Paulskirche (wie Anm  14), S  29

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4 4 Die Rolle weiterer städtischer Instanzen Dieses Verhalten einzudämmen, erforderte die Anteilnahme des Syndikus Dr Johann Christian Borcke (1735–98), Referent des Schöffenrats104, der als Gutachter aller städtischen Aufgaben mehrmals in den Entscheidungsprozess eingriff Dabei sollte verhindert werden, dass bereits verworfene Risse erneut Zusprache erhielten So ist die Beibehaltung der ovalen Form ab 1788 als Konsequenz eines entschiedenen Eingreifens Borckes zu sehen Er hatte, nachdem der Entwurf Liebhardts bereits einstimmig bewilligt und die Fundamentarbeiten begonnen worden waren, gegen ein erneutes Aufgreifen einer Rotunde mittels vergleichendem Bericht der Entwürfe Einspruch erhoben Dazu verfügte er, dass die ovale Form Liebhardts beizubehalten sei, da „die ovale Kirchenform unter die vollkommenste zu rechnen sei“105 Zu einer Vier-TurmLösung von Hess bemerkt er: Geht man auf den Hess’schen Vorschlag ein, den Turm fallen zu lassen und das Geläute in einen der vier Treppentürme zu verlegen, so muss man diese notwendigerweise alle vier erhöhen und statt eines Turms erhält man vier gleiche um die Kirche, also im Grunde eine türkische Moschee 106

Borcke war es auch, der verhinderte, dass Hess im September 1789 die von der Bauakademie gelobten Entwürfe Liebhardts zu stark nach seinen eigenen Vorschlägen umänderte und die Formgestaltung wieder mehr der Bauidee Liebhardts zurückführte 107 Wie noch gezeigt wird, illustrierten seine Einsprüche wohl keine stilistischen Vorstellungen, seine Entscheidungen stützten sich vielmehr auf Grundlagen einer bürgerlichen Repräsentation Im Vordergrund Borckes Rolle am Bauprozess stand dabei weniger eine impulsgebende Natur als vielmehr eine schiedsgerichtliche zur Beschleunigung des Planungsprozesses und Eindämmung der stetigen Baukostenzunahme Die Finanzierung des Baus unterlag dem städtischen Kastenamt, die Überwachung der Gelder erfolgte bis 1810 und wieder ab 1818 durch die bürgerlichen Kollegien 108 Bereits mit den Überlegungen zum Abriss der Barfüßerkirche kamen Fragen nach der Finanzierbarkeit des Projektes auf, die besonders von Seiten der bürgerlichen Kollegien immer wieder zur Ablehnung von Entwürfen wie einem 1786 eingereichten

104 Der Schöffenrat stellte einen Teil des Stadtrates Als erfahrenste Mitglieder war ihre Aufgabe die Begutachtung aller Stadtangelegenheiten Siehe dazu: Stricker: Baugeschichte (wie Anm  29), S  7, Anm  5 105 Jelkmann: Sct Paulskirche (wie Anm  14), S  51 106 Ebd , S  50 107 Vgl ebd , S  71–73 108 1810 wurden die Kollegien aufgelöst und erst nach der Wiedergründung Frankfurts als freie Stadt wieder eingesetzt Vgl dazu: Jung: Archiv (wie Anm  74), S  43

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Longitudinalbaus von Friedrich Schuhknechts109 führten Bei den Entwürfen spielte darüber hinaus dementsprechend die Anzahl der Kirchenplätze eine entscheidende Rolle Die Platzangabe stellte neben den zu erwartenden Baukosten ein wichtiges Auswahlkriterium dar, da im gesamten protestantischen Kirchenbau die Vermietung oder der Verkauf der Sitzplätze eine bedeutende Quelle zur Bestreitung der Baukosten und des anschließenden Unterhalts darstellte 110 Zur nötigen Bereitstellung der Baugelder kann den Quellen bis zum Jahr 1792 eine stetige wenn auch widerwillige Bereitstellung der nötigen Gelder aus der Staatskasse entnommen werden Hinzu kam die Unterstützung durch die ständigen Beiträge der evangelisch-lutherischen Gemeinde 111 Mit den durch die 1789 und der französischen Revolution ausgelösten kriegerischen Auseinandersetzungen, die auch zu einer Besatzung Frankfurts führten, wurden die nötigen finanziellen Mittel, die zur Weiterführung des Baus nötig gewesen wären, nahezu gänzlich abgezogen 112 Auch wenn die Besatzung der Stadt 1802 beendet wurde, nahmen Reparationszahlungen an Frankreich die Finanzen der Stadt in Beschlag So entschied sich das Kastenamt im Jahr 1809, als der Wunsch zur Fertigstellung des Baus lauter wurde, zu weiteren Maßnahmen, um die nötigen Gelder zur Vollendung der Kirche bereitstellen zu können: Die Orgel und das Baumaterial aus dem Abriss der Barfüßerkirche wurden verkauft 113 Zudem wurde die unvollendete Paulskirche während der Besatzungszeit der Stadt Frankfurt vermietet: an eine Madame Blanchard im Jahr 1810, die einen Ballon in der Paulskirche aufgestellt hatte und dort täglich Luftfahrten anbot; als Lager für die Kolonialwaren sowie 1811–12 als Fouragemagazin Weitere Einnahmen ergaben sich durch die Staatskasse, während der Besatzung aus dem Budget für „Bedürfnisstand“, Zinsen sowie Privatspenden unter anderem vom Vermächtnis eines Wolfgang Kern für den Weiterbau der Kirche 114

109 Johann Friedrich Schuhknecht, Architekt und fürstlicher Baumeister aus Darmstadt, reichte 1786 zwei Entwürfe für einen rechteckigen Kirchenbau ein Der erste Entwurf basierte hauptsächlich auf der Formensprache des englischen Residenzbaus, war aber sowohl in den Maßen als auch den angesetzten Baukosten deutlich überdimensioniert Ein nachgereichter, deutlich reduzierterer Entwurf, ähnlich der Alten Garnisonkirche in Berlin, wurde aus jedoch ebenfalls aus finanziellen Gründen abgelehnt 110 Vgl Raschzok, Klaus: Lutherischer Kirchenbau und Kirchenraum im Zeitalter des Absolutismus Dargestellt am Beispiel des Markgraftums Brandenburg-Ansbach 16721791, Frankfurt am Main 1988, S  109 111 Vgl Jelkmann: Sct Paulskirche (wie Anm  14), S  3–70 112 Vgl ebd , S  76–82 113 Geplant war ursprünglich auch die Nikolaikirche abzureißen, ihren Bauplatz zu verkaufen und beides zu nutzen, um den Bau der Paulskirche zu finanzieren Dies geschah jedoch nicht S  dazu Wolff/Jung: Baudenkmäler (wie Anm  1), S  43 114 Vgl Stricker: Baugeschichte (wie Anm  29), S  25–28

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Nach der Befreiung Frankfurts und Wiedergründung als Freie Stadt verbesserte sich die finanzielle Lage jedoch kaum Die 1814 angesetzten 116 073 Gulden115, die für die Beendung des Baus nötig waren, überstiegen die Mittel der Kassen Man erhob daher zusätzlich von den Eigentümern der Sitze der Kirche weitere Gelder und vermietete den Bau noch bis 1824 weiter 116 Erst im Jahr 1829 konnte die Stadt eine größere Summe genehmigen, die zur erneuten Aufnahme der Bauarbeiten nötig waren Die folgenden Jahre waren jedoch weiter von Sparmaßnahmen geprägt, die erheblich in die Gestaltungsmöglichkeiten des Baus eingriffen Besondere Ausschmückungen des Innenraums wie die angedachte Deckenbemalung, Vergoldungen von Baudetails und die geplante Ausführung der Stiegentreppen in Stein konnten nicht erfolgen Auch der Turm konnte erst in seiner finalen Form mit vier Geschossen realisiert werden, als ein erheblicher Protest der Frankfurter Bewohner gegen die geplante niedrigere Ausführung erfolgte und weitere Gelder durch einzelne wohlhabende Familien bereitstellt wurden 117 Nach Beendigung des Baus hatten die Baukosten eine Gesamthöhe von mehr als 500 000 Gulden erreicht 118 Sie waren zum größten Teil aus den eigenen Mitteln der Stadt bestritten worden 4 5 Zur Position der Kirche Während des Bauprozesses wenig in Erscheinung getreten ist das evangelisch-lutherische Konsortium, das höchstwahrscheinlich ohne Befugnisse im Prozess involviert war 119 In den Quellen vermerkt ist lediglich, dass sie vermehrt ihre Sorge über die ständigen Bauverzögerungen äußern 120 Dass man dieser Sorge und Ärgernis über die lange Bauzeit zum großen Teil auch den Konflikten der Bauherren zuschrieb, ist der Einweihungspredigt durch Pfarrer Kirchner zu entnehmen So äußerte er sich am 9 Juni 1833:

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Bis zum Jahr 1797 hatte der Bau laut eines Berichtes des Finanzamtes bereits 307 528 Gulden gekostet Nach Beendigung des Baus betrug der Gesamtbetrag mehr als 500 000 Gulden Vgl ebd , S  26 116 Vgl Jelkmann: Sct Paulskirche (wie Anm  14), S  76–83 117 Vgl ebd , S  80–86 118 Vgl Stricker: Baugeschichte (wie Anm   29), S   26 Zum Vergleich sei die Summe der Dresdner Frauenkirche herangezogen: ca 300 000 Gulden Siehe dazu Kuke: Frauenkirche (wie Anm  42), S  56 119 Gestellt wurden sein Direktor und die Hälfte der neun Mitglieder vom Rat, dem obersten Kirchenherr Vgl Roth: Stadt (wie Anm  12), S  104 120 So wies 1823 der Kirchenvorstand darauf hin, dass bereits 1821 die Gelder zur Vollendung der Kirche bereitstanden, aber der Weiterbau der Kirche noch immer nicht begonnen hatte 1825 fragte das Konsortium erneut bei der Stadt zur Wiederaufnahme der Bauarbeiten an Siehe dazu: Veidt, Karl: „Paulskirche im Wandel der Zeit“, in: ders   / Struckmeier, Georg (Hg ), Hundert Jahre St  Paulskirche Jubiläumsschrift zum 9 Juni 1933, Frankfurt am Main 1933, S  7–51, S  21

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„Auf diesem Weg lag so manches, was erst abzuräumen war Da treten gleich Anfangs die streitenden Ansichten der Einzelnen, später die Zeitereignisse dem Fortschreiten des Werkes störend entgegen“121 In der Predigt auch überliefert, ist das in der lutherischen Gemeinde herrschende Verständnis des Kirchenbaus als grundsätzlich profanem: „Jeder Ort aber wo Psalme gesungen, Gebete gesprochen, Religionsbräuche verrichtet werden, [ist] nur eine Vorhalle“122, der nur durch die Gotteserfahrung bei der Predigt das Sakrale erhält Demnach standen im Vordergrund der Bemühungen der Kirche die liturgische Funktionalität des Kirchenraums und eine damit verbundene eigenständige Repräsentation des lutherischen Glaubens, aber nicht die Gestalt des Baus Dies zeigt sich auch in der Entscheidung für die Gestaltung des Innenraums Hatte sich das Bauamt den stärker klassizistischen Abänderungsentwürfen Johann Friedrich Hess zum Hinzufügen eines Oberlichtes offen gezeigt, ist es das Konsortium, das diesbezüglich Bedenken äußerte und eine derartige Ausführung aus Sorge um mögliche funktionale Einschränkungen verhinderte Man hatte befürchtet, dass das Oberlicht bei Regen die Predigt stören könnte Stattdessen bat das Konsortium um das Hinzufügen zweier Fenster neben der Orgel zur höheren Belichtung des Innenraums, die auch verbaut worden sind 123 Die bedeutsamste Einflussnahme war der am 8 Mai 1932 beim Gemeindevorstand eingereichte „Vorschlag zur feierlichen Einweihung der neuen Hauptkirche in Frankfurt“ Er behandelte neben den vorzunehmenden Festivitäten die Anregung zur Namensänderung der neuen Kirche Vorher als „Hauptkirche“ bezeichnet, schlug das Konsortium die Gabe eines für eine lutherische Kirche passenderen Namens vor: „Auch wäre es, da der bisherige Namen der Kirche für unsere Zeit unpassend ist, – indem die Barfüßermönche ja selbst aus der katholischen Kirche wenigstens in Deutschland verschwunden sind – zweckmäßig, der neuen Kirche, statt der abgeschmackten Benennung Barfüßerkirche, einen anderen Namen (etwa Paulus- oder Johannes-Kirche) beizulegen“124 Auf Vorschlag des Konsortiums wählte man den Namen „Pauls-Kirche“: „nach dem Namen des Apostels, der um die Verbreitung des Christenthums unter den Völkern ausser der jüdischen Nation sich die grössten Verdienste erworben hat“ 125 Der Namensvorschlag „Pauluskirche“ wurde am 2 November 1832 im Gemeindevorstand angenommen, an den Senat weitergereicht und dort am 23 Mai 1833 genehmigt 126

Kirchner, Anton: „Predigt bei der Einweihung der Paulskirche am 9 Juni 1833“, in: Gebet und Predigt bei der Gedächtnisfeier der am 9 Juni 1833 eingeweihten St Paulskirche in Frankfurt am Main, Frankfurt am Main 1833, S  15 122 Ebd , S  24 123 Vgl Jelkmann: Sct Paulskirche (wie Anm  14), S  80 Leider existieren keine Akten des Konsortiums zur Bauzeit mehr, so dass die Einflussnahme nur aus den Entwürfen herausgelesen werden kann 124 EDKH, Bestand 23/282 125 Ebd Zudem existierte in Frankfurt-Bornheim bereits die Johannes-Kirche 126 Vgl ebd 121

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4 6 Die Einflussnahme des Kaisers Es bleibt die Frage nach einer kaiserlichen Einflussnahme auf die Paulskirche Zwar unterstand die Stadt Frankfurt einem Selbstverwaltungsprinzip, die kaiserliche Macht blieb jedoch bis 1806 als oberste Gewaltenpartei erhalten 127 So wurde diverse Male im Planungsprozess gedroht „diese Bausache noch an Kaiserl Majestät“ zu bringen, welcher diesbezüglich als letzte Instanz eine endgültige Entscheidung erzwingen hätte sollen Ob der Kaiser wirklich über den Bau informiert wurde, ist ungewiss, aber unwahrscheinlich, da sich in den Akten oder der Literatur keinerlei Hinweis finden lässt Auch der Wille zur Realisierung einer Kuppel für die Paulskirche, wie sie bei einer solchen Bezugnahme auf die kaiserliche Regierung wie in anderen europäischen Städten üblich gewesen wäre, – man vergleiche dazu die Wiener Karlskirche oder den Berliner Dom als Bezugnahme auf die Aachener Pfalzkirche – ist während der Bauzeit nicht erkennbar Zwar finden sich inmitten der eingereichten Entwürfe für den Neubau auch Kuppelkirchen, allen voran der Rundbau de Pigages mit einer klassischen Tambourkuppel, der vom Senat und Bauamt eine Zeitlang gegenüber dem Entwurf Liebhardts mit dem steilen Mansarddach bevorzugt wurde, im Vordergrund schien dabei aber weniger der Gesamteindruck des Gebäudes mit seiner klassizistischen Formensprache als sein Typus als „Kuppelbau“ zu stehen Verdeutlicht wird dies dadurch, dass nach der Ablehnung des Entwurfes de Pigages von Bauamt und Senat der Vorschlag kommt, den Unterbau de Pigages einfach mit dem Dachaufbau nach Liebhardts Entwurf zu kombinieren, was einen Wegfall der Kuppel bedeutet hätte 128 Auch der Stadtsyndikus Borcke in seiner Funktion als Gutachter rät zum Verzicht auf eine Kuppel: „Sie sind unnütze, unbequem und gefährlich“129 und eine Hinwendung zum Dach Dieses Zitat stammt aus „Grundsätze der bürgerlichen Baukunst“ und auch andere Aussagen Borckes lassen sich auf Schriften für ein „bürgerliches“ Bauen zurückführen 130 Gedacht werden kann dies als Bezwecken einer städtischen, bürgernahen Repräsentation durch die Paulskirche Eine höfische Repräsentation würde damit bewusst in den Hintergrund gerückt Ähnlichkeiten zwischen eingereichten Entwürfen wie der Liebhardts von 1788 zu kaisernahen Kirchenbauten wie der Peterskirche in Wien, bei der ebenfalls ein ovaler Kuppelbau mit schräg gestellten Türmen gekoppelt wurde, lassen sich finden Es offen127 128 129 130

Vgl Stricker: Baugeschichte (wie Anm  29), S  19 Vgl Jelkmann: Sct Paulskirche (wie Anm  14), S  35 f Ebd , S  50 Milizia, Francesco: Principj di architettura civile, Venedig 1785, S  349 Hier zitiert nach der deutschen Ausgabe: Milizia, Francesco: Grundsätze der bürgerlichen Baukunst: in drey Theilen, bearbeitet von Christian Ludwig Stieglitz, 3 Bd , Band 2, Leipzig 1824, S  314 Weitere eingeflossene Theorien waren bspw Stieglitz, Christian Ludwig: Encyklopädie der bürgerlichen Baukunst: in welcher alle Fächer dieser Kunst nach alphabetischer Ordnung abgehandelt sind: ein Handbuch für Staatswirthe, Baumeister und Landwirthe, Leipzig 1992

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bart aber bei einem genaueren Blick, dass sich die Bauidee zu Liebhardts Entwurf vorrangig aus der Planungsgeschichte und auf der Basis der Weiterentwicklung anderer Entwürfe geformt hat Spezifische „kaiserlich-höfische“ Züge der Bausprache konnte in der Planungs- und Baugeschichte nicht gefunden werden Sie hätten in einem zu starken Kontrast des Selbstverständnisses der bürgerlichen Selbstverwaltungspolitik gestanden, die, so R Roth, über Jahrhunderte hinweg die kaiserliche Macht auf die Stadt Frankfurt auf ein Minimum reduziert hatte 131 5. Die bürgerliche Repräsentanz in der Form der Paulskirche Die Formentwicklung der Paulskirche hat sich aus der Vielzahl der eingereichten Entwürfe zusammengesetzt Sie lassen zahlreiche Inspirationen aus den eigenen Werken und Erfahrungen der jeweiligen Entwurfsverfasser und der zeitgenössischen europäischen Baukunst erkennen Gleich ist allen einwirkenden Vorbildern, dass durch die Baumeister eine Umformung dieser auf die lutherische Funktionalität der zu errichtenden Paulskirche vorgenommen wurde, die z T erhebliche Einwirkungen auf die daran angepasste Baustruktur bedeuteten Vergleichbares lässt sich aus den Sitzungsprotokollen von Bauamt, bürgerlichen Kollegien und Rat der Stadt Frankfurt, die während des Planungsprozesses besonders bei der Beurteilung der früheren Entwürfe entstanden sind, herauslesen Neben einer stilistischen oder gesamtästhetischen Gestaltung war auch die Zweckmäßigkeit der Kirche im Sinne des evangelisch-lutherischen Gottesdienstes bei der Beurteilung eines Entwurfes maßgeblich Sie sollte die Paulskirche als Repräsentativbau reüssieren lassen, so der Wunsch des Bauamtes zum Neubau der lutherischen Hauptkirche: „Wir haben keine einzige protestantische Kirche in unserer Stadt, die dasjenige wirklich vorstellt, was ein Kenner solcher Gebäude fordert, was seinem Auge ein Vergnügen, seinem Herzen eine stille Ehrfurcht und Andacht schaffe könnte“132 Zur Umsetzung einer solchen deutlichen protestantischen Bauweise bedienten sich die Baumeister bedeutender bautheoretischen Schriften zum protestantischen Kirchenbau Besonders Leonhard Christoph Sturms systematischen Schriften als der wohl bedeutendste Theoretiker auf dem Gebiet der Gestaltung des protestantischen Kirchenbaus,133 tauchen während des frühen Planungs- und Bauprozesses der Pauls131 132 133

Vgl Roth: Stadt (wie Anm  12), S  102 Bericht von Hieronymus Max von Glauburg, 15 April 1784, zitiert nach Stricker: Baugeschichte (wie Anm  29), S  8 Der Baumeister und Theologe Leonhard Christoph Sturm (1669–1719), dessen Veröffentlichungen „Vollständige Anweisungen, alle Arten von Kirchen wohl anzugeben“ (1718) und „Architectonisches Bedencken von Protestantischer Kleinen Kirchen Figur und Einrichtung“ (1712) im deutschen Raum weit verbreitet waren, konnte bis ins 19 Jahrhundert ihre Einflussnahme auf die Architekturtheorie geltend machen Im Vordergrund stand bei Sturm, wie auch bei vielen anderen

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kirche, insbesondere in den Entwürfen Liebhardts, vermehrt auf und demonstrieren so ihre Bedeutung Im späteren Entwurfsverlauf treten jedoch Sturms zeichnerisch umgesetzte Bauideale und seine Erörterungen als Vorbild zunehmend in den Hintergrund Weder bei Nicolas de Pigage noch bei Johann Friedrich Hess stellen sie scheinbar ein direktes Vorbild dar, sondern weichen den stilistischen Architekturvorstellungen des Klassizismus Hatte Sturm noch gefordert, dass sich eine protestantische Kirche neben einer guten Sicht und Akustik auch durch eine sparsame Gestaltung auszeichnet, da „auch die Art der Religion selbst mehr ein Reinigkeit als Pracht“134 sei, verschwand unter den städtischen Instanzen im 19 Jahrhundert zunehmend der Wunsch einer nach den Anweisungen Sturms gebauten Kirche hin zu einer reicheren und klassizistischen Monumentalität 135 Beim Bau der Paulskirche wurden darauf aufbauend die protestantischen Traktate zusätzlich auch von Handbüchern eines bürgerlichen Bauens des späteren 18 Jahrhunderts begleitet 136 Diese Schriften stellten sich, wie auch die Schriften des protestantischen Kirchenbaus, zumeist gegen die überschwängliche Gestaltung des Barocks Damit sprachen sie sich gegen den zeitgenössischen katholischen Kirchenbau und ein opulentes höfisches Bauen aus Stattdessen propagierten sie eine reduzierte, funktionale Kirchenbauarchitektur, wie sie in der Renaissance und auf Grundlage Vitruvs begründet wurde 137 Bei Francesco Milizias Anregungen zum Kirchenbau, die er in „Principj di architettura civile“ (1785) schildert, stand die Reformation des Kirchenbaus durch „gute Baukunst“ im Fokus,138 ihr Vorbild stellt der antike Tempel dar Für den Innenraum for-

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Schriften zum protestantischen Kirchenbau, das kostengünstige und zweckorientierte Bauen zur Unterbringung einer größtmöglichen Personenzahl beim Gottesdienst Sturm, Leonhard C : Vollständige Anweisung, alle Arten von Kirchen wohl anzugeben, Augsburg 1718, S  27 Die zunehmende Monumentalisierung ist jedoch kein auf den Bau der Paulskirche begrenztes Ereignis, sondern ist in einen internationalen Kontext zu sehen So sieht M Vogt eine solche zunehmende Tendenz auch in Holland, England und Skandinavien auftreten, die sich von Frankreich ausgehend, ab dem 18 Jahrhundert verbreitet Diese Tendenz kann, auf eine zunehmende säkulare Einwirkung auf die sakrale Gestaltung gesehen werden, mit der machtpolitische Verhältnisse der Bauherren repräsentiert werden sollten und in Kirchen wie der Dresdner Frauenkirche ihren Höhepunkt fanden S  Vogt, Monika: Die Ansiedlung der französischen Glaubensflüchtlinge in Hessen nach 1685 Ein Beitrag zur Problematik der sogenannten Hugenottenarchitektur, Darmstadt/ Marburg 1990, S  65 Es treten in Erscheinung: Stieglitz: Encyklopädie (wie Anm  130); Milizia: Principj (wie Anm  130) Vgl Schütte, Ulrich: „Die Lehre von den Gebäudetypen“, in: ders / Hartwig Neumann (Hg ), Architekt und Ingenieur Baumeister in Krieg und Frieden, Ausst -Kat Wolfenbüttel, Herzog-AugustBibliothek, Wolfenbüttel 1984, S  182 Vgl Escher, Konrad: Barock und Klassizismus Studien zur Geschichte der Architektur Roms, Leipzig 1910, S  50

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derte er: „Man trete ein, und von jedem Punkt aus überblickt man das Ganze; […]“139 Die geforderte schnelle Erfassbarkeit des Kirchensaals überträgt Milizia auch auf den Außenbau, der bei ihm, wie zuvor im Barock noch üblich, keine aufwendigen Kuppeln, keine Schaufassaden und keine Gestaltung, die sich erst im Stadtbild ergibt, kennt 140 Von diesen Kernsätzen ist die Entscheidung gegen eine Kuppel zum Bau der neuen protestantischen Hauptkirche des Syndikus Borcke als eine Entscheidungsinstanz des Paulskirchenbaus bestimmt Er schreibt diesbezüglich, sich einem direkten Zitats Milizias bedienend: „Kuppeln sind kostbar, unnütz, unbequem und gefährlich […] Liebhardt’s Kuppel ist ferner zwecklos, da man sie von der Strasse überhaupt nicht sehen kann“ 141 Diese Prinzipien zeigen sich am prominentesten in den Entwürfen von Hess Senior So weisen die Entwürfe von Georg Hess deutliche Zitate von Profanbauten der französischen Revolutionsarchitektur und italienischen Renaissance wie Claude-Nicolas Ledoux Bauten der königlichen Saline in Arc-et-Senans oder Palladios Villa Rotonda auf, während sakrale Gestaltungselemente stark in den Hintergrund treten (Abb 4) Gelegentlich lässt Hess zudem Einflüsse italienischer Palazzobauten der Renaissance einfließen, hauptsächlich in der proportionalen Gestaltung des Gesamtbildes 142 Dass es sich, wie bereits Evelyn Hils bemerkte, bei der Hinwendung zum Klassizismus, der zum einen auf der französischen Revolutionsarchitektur und zum anderen auf der italienischen Palazzoarchitektur der Renaissance basiert, im Besonderen um ein Zeugnis einer künstlerischen und politischen Selbstdarstellung der Bürgerschaft handeln kann, wird deutlich, wenn man bedenkt, dass nicht nur weltliche statt Sakralbauten als formale Vorbildbauten zitiert werden, sondern darüber hinaus Bauepochen aufgegriffen, bei der ein erstarktes Bürgertum sein Selbstbewusstsein in der von ihnen realisierten Architektur symbolisch dargestellt hatte 143 Was beim Bau der Paulskirche und in Frankfurt zu dieser Zeit allgemein also besonders zu tragen kam, war der GeMilizia: Principj (wie Anm  130), S  412 ff Memorie I, S  CV S , zitiert nach Escher: Barock (wie Anm  138), S  50 140 Vgl Escher: Barock (wie Anm  138), S  50 141 Zitiert nach Jelkmann: Sct Paulskirche (wie Anm  14), S  50 Milizia schreibt dazu: „Ueberhaupt läßt sich fragen, wozu sind die Kuppeln nöthig Ich weiß nicht, ob man triftige Gründe dafür anführen kann Sie steigen in die Luft, und unsrer Eitelkeit wird durch ein solches Kunststück geschmeichelt; aber unser Genie verliert dabey, weil es bey einer mechanischen Nachahmung bleibt Von weitem machen sie großes Ansehen, in der Nähe stimmen sie selten gut mit der Fassade überein und inwendig stellen sie nichts vor; ja was noch schlimmer ist, man muß sich bald den Hals verdrehen um die daran verschwendeten Malereyen zu betrachten Sie sind unnütze, unbequem und gefährlich Siehe Milizia: Principj (wie Anm  130) Zitiert nach Milizia, Francesco: Grundsätze der bürgerlichen Baukunst: in drey Theilen, bearbeitet von Christian Ludwig Stieglitz, 3 Bd , Band 2, Leipzig 1824, S  324 142 Siehe dafür bspw den ersten Entwurf Hess’ für die Paulskirche von 1785 in Form eines kreisrunden Zentralbaus mit vier axialen Risaliten oder den um 1788 eingereichten Entwurf, den Hess nach den Empfehlungen der Berliner Bauakademie anfertigte 143 Vgl Hils: Hess (wie Anm  30), S  56

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Abb. 4 Georg Hess: Georg Hess: Entwurf für die Paulskirche, Grundriss, um 1786 Entnommen aus: Jelkmann, Carlo H : Die Sct Paulskirche in Frankfurt a M Ein Beitrag zur Entwicklung der deutsch-protestantischen Kirchen-Baukunst und ein Zeitbild aus der Geschichte Frankfurts um 1780–1850, Frankfurt am Main 1913, S  32

danke, „die Ideale des Bürgertums in architektonische Formen zu verwandeln“144, so Hils weiter 145 Sie zeigen sich stärker noch in den Entwürfen der Stadtbaumeister Hess Senior und Hess Junior denn im fertigen Bau, der zu stark von äußeren Einflüssen verändert wurde, aber auch bei diesem in der Adaption bürgerlicher Elemente und der formalen Verbindung der umgebenden Stadtbebauung, die etwa zeitgleich mit der Vollendung der Paulskirche in Frankfurt entstand146 und zahlreiche neue klassizisti144 Ebd 145 Vgl ebd , S  56, 59 f 146 Die Neugestaltungen wurden gestützt von dem 1809 durch Georg Hess verfassten und von Fürstprimas Karl von Dalberg erlassenen Baustatut, in dem zum ersten Mal auch auf die ästhetische Gestaltung der Frankfurter Bauten eingewirkt wurde Mit dem Vorgehen gegen die noch mittelalterlich geformte Fachwerk-Bauweise vieler Altstadtbauten hin zu einer Bausprache klar formulierter Steinbauten mit einheitlichem, stark zurückhaltendem Dekor wurde der Weg Frankfurts zum Klassizismus durch das Bauamt und Georg Hess bereitet S  dafür Schwab: Frankreich (wie Anm   80), S   391; Vogt, Günther: Frankfurter Bürgerhäuser des 19 Jahrhunderts, Frankfurt 1970, S  34 Auch andere Architekten wie Nicolas de Pigage, Nicolas Alexandre Salins de Montfort, die hauptsächlich an der Académie Royale de l’Achitecture oder der École Polytechnique in Paris ausgebildet wurden, sorgten für einen wachsenden Einfluss des Klassizismus in Frankfurt um 1800 bis zur Mitte des 19 Jahrhunderts Siehe dazu Schwab: Frankreich (wie Anm  80)

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sche Prachtbauten und Straßenzüge entstehen ließ,147 laut C Welzbacher mit der Absicht, Frankfurt als Bürgerstadt aufzuwerten 148 Vorrangige Bauaufgaben waren daher öffentliche Bauten, Kultur- und Bildungsgebäude, mit derer dem Selbstverständnis des Bürgertums nach dem Ende der französischen Besatzungen und Wiedererlangung der Souveränität ab 1813 Ausdruck verliehen werden sollte, so Hils 149 Hils hat ebenfalls darauf hingewiesen, dass die klassizistischen Bauten Frankfurts keineswegs mit den reicher ausgestatteten Prachtbauten Berlins, Münchens oder Potsdams der Zeit verglichen werden können, da diese zumeist von Fürstenhäusern finanziert wurden, während „die klassizistischen Gebäude in Frankfurt unter schweren finanziellen Anstrengungen eines Bürgertums entstanden, das damit sein Selbstbewusstsein nach außen dokumentieren wollte“ 150 Es zeigt sich damit eben auch, dass für die Paulskirche eine Betrachtung der ganzheitlichen Architektursprache Frankfurts heranzuziehen ist Diese, mit dem von Georg Hess 1809 formulierten Baustatut bereitet, weist eine Ästhetik auf, die sich zunächst in den Hess’schen Entwürfen und dem vollendeten Bau der Paulskirche wiederfinden lässt, aber auch auf andere Bauwerke übertragen wurde 6. Fazit Bei einer resümierenden Betrachtung des Planungs- und Bauprozesses der Paulskirche ergibt sich eine komplexe Genese Sie lässt diese als eine eigenständige innerhalb des evangelisch-lutherischen Kirchenbaus reüssieren Es zeigte sich, wie sehr der Bau von den üblichen Anforderungen und Problemstellungen des protestantischen Kirchenbaus bestimmt war, sich aber im Rahmen dessen zu einem eigenständigen Ergebnis formte, da eine auf die begrenzten finanziellen und räumlichen Verhältnisse der Stadt abgestimmte Behandlung mit nur wenig Spielraum prägend war Der noch im 18 Jahrhundert vorgebende sakrale Zweckgedanke im Sinne des protestantischen Glaubens kam zum Planungsbeginn besonders stark zum Ausdruck, verschwand aber während des Prozesses mit dem Beginn des 19 Jahrhunderts zugunsten einer säkularen, geradezu bürgerlichen Repräsentation So kam nicht nur eine Darstellung des Glaubens, sondern auch eine städtisch-bürgerliche zum Tragen, da die Stadt Frankfurt 147 Besonders hervorzuheben seien dabei das unter Georg Hess erbaute neue Stadtviertel Fischerfeld (1792–1825) und die von Johann Friedrich Hess errichteten Bauten des Stadtgerichtes (1828) und des Pfarrhauses (1835), sowie die neue Börse (1840–43) nach den Plänen Friedrich August Stülers im Umfeld der Paulskirche Ihre ebenfalls zurückhaltenden Fassadengestaltungen mit Quaderung des Mauerwerks oder Putzfugung nahmen optisch eine deutliche Allianz mit der Paulskirche ein und vereinen dabei sichtbar Assoziationen zu italienischen Palazzobauten 148 Vgl Welzbacher: Baugeschichte (wie Anm  10), S  25 149 Vgl Hils: Hess (wie Anm  30), S  43 150 Ebd , S  51

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als Financier, rechtliches und organisatorisches Oberhaupt und Bauherr in Erscheinung getreten war Das „Bürgerliche“ in der Architektur äußerte sich in, neben dem für Kirchenbauten der Zeit typischen Einfluss kirchenbautheoretischer Schriften, in einer zusätzlichen Bezugnahme auf bürgerliche Schriften, die den Bau mitformten und baulichen Elementen einer als typisch bürgerlich angesehenen Architektur Sie treten jedoch, dies zeigt die Betrachtung der einzelnen Entwürfe, deutlicher im Planungsprozess als im fertigen Bau auf Das lässt sich auch darauf zurückführen, dass zwar die Rolle der städtischen Instanzen maßgeblich und künstlerisch impulsgebend war, ihre Ansprüche an den Bau jedoch teilweise konträr ausgebildet waren So konnte keine ihrer jeweiligen Forderungen im Ganzen ausgeführt werden und einzelne Entwürfe mussten aufgrund finanzieller Bedenken ganz abgelehnt werden Es lässt sich also festhalten, dass der Bau- und Planungsprozess durch seine Voraussetzungen der unterschiedlichen Bauherren und der unter ihnen vorherrschenden Konflikte und Meinungsäußerungen komplexe und zeitverzögernde Strukturen angenommen hat 151 Mehrmals sahen sich daher andere Instanzen wie der Schöffenrath gezwungen, in das Geschehen einzugreifen und diesem Verhalten entgegen zu steuern Gleichartige Vorfälle können auch bei anderen Frankfurter Bauten der Zeit gefunden werden, auch wenn zu bemerken ist, dass nur beim Bau der Paulskirche derartige Dimensionen daraus zustande kamen So ist auch die Instandsetzung der St Peterskirche in den Jahren 1769–71,152 und der Bau des Schauspielhauses (1767–1782)153 von zahlreichen Streitigkeiten und Umschwüngen zwischen Bauamt, bürgerlichen Kollegien und Rat geprägt, die immer wieder die Planungen und Ausführungen der Gebäude hinauszögerten Wie bereits erwähnt sind diese Auseinandersetzungen keineswegs als isolierte Vorfälle des städtischen Bauwesens, sondern im Kontext der städtischen Selbstverwaltung zu sehen Da der Rat innerhalb des komplexen Geflechts städtischer Entscheidungsinstanzen nicht den alleinigen Bürgerrepräsentanten darstellte, sondern sich seine Entscheidungsbefugnis mit den bürgerlichen Kollegien teilen musste, wurden beständig viele seiner Entscheidungen von den bürgerlichen Kollegien in Teilen oder im Ganzen verworfen oder kritisch betrachtet 154 Erschwert wurde der Planungsprozess der Paulskirche auch dadurch, dass beständig neue außerstädtische Baugutachter heranzogen

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Siehe dazu bspw die Frage nach dem Bauplatz Am 13 Mai 1785 gaben die Bürgerlichen bekannt, dass sie sich gegen einen neuen Bauplatz für die Kirche aussprachen In einem Protokoll vom 9  März 1791 ist dann jedoch zu lesen, dass sie sich von Anfang der Bauarbeiten an für einen neuen Bauplatz ausgesprochen hatten Siehe Stricker: Baugeschichte (wie Anm  29), S  23 Siehe dafür die geschilderten Bauprozesse in Wolff/Jung: Baudenkmäler (wie Anm  1), S  156–158 Vgl ebd , S  343 Vgl Roth: Stadt (wie Anm  12), S  29, 105 f Selbst Gerichtsprozesse zwischen den Kontrollorganen und dem Rat waren laut Roth keine Seltenheit Zielführend und daher bedeutender war jedoch die Verringerung der Kritik an der Verfassung der Stadt, die durch das Einsetzen dieser Kontrollinstanzen verfolgt wurde S  ebd , S  120

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wurden, die nicht nur zur Legitimierung der jeweiligen Entwürfe dienen sollten, sondern auch stilprägend einwirkten Besonders der Rat und das Bauamt trieben im Zuge dessen die stilistische Hinwendung der Paulskirche vom Barock zum Klassizismus mit Nachdruck voran Das dies in Frankfurt erst mit der Hinwendung zum 19 Jahrhundert und damit gegenüber anderen europäischen Gebieten relativ spät geschah, ist nicht allein dem Fehlen einer impulsgebenden Hofkultur geschuldet, wie es L Schwab beschreibt,155 sondern kann darüber hinaus ebenfalls als typische Frankfurter Eigenheit gedacht werden Sie entspricht dem in der sozialhistorischen Forschung verbreiteten Bild der Frankfurter Bürgergesellschaft, die sich nur langsam jeglichen Modernisierungsprozessen öffnete,156 was wohl, deutlich am Paulskirchenbau ablesbar, auch auf die Komplexität der städtische Verwaltungsstruktur zurückgeführt werden kann Die Paulskirche stellt damit ein Beispiel dar, wie der Wille der bürgerlichen Auftragsgeber, hier eines lutherischen Bürgertums, zur Schaffung eines für die Religion repräsentativen, überregional anerkannten Baus einflussnehmend war Quellen/Literatur Bund, Konrad: „Geschichte der Glocken der Barfüßer- und der Paulskirche zu Frankfurt am Main“, in: Roman Fischer (Hg ): Von der Barfüßerkirche zur Paulskirche Beiträge zur Frankfurter Stadt- und Kirchengeschichte, Frankfurt am Main 2000, S  423–500 Dechent, Hermann: o T , in: Kirchlicher Anzeiger für die evangelisch-lutherischen Gemeinden des Consistorialbezirks Frankfurt am Main 22–24, 1883, Frankfurt am Main Dechent, Hermann: „Ich sah sie noch, die alte Zeit“ Beiträge zur Frankfurter Kirchengeschichte, bearb von Jürgen Telschow, Frankfurt am Main, 1985 Dechent, Hermann: Kirchengeschichte von Frankfurt am Main seit der Reformation, 2 Bde , Bd  2, Leipzig 1921 Dienst, Karl: „Die Barfüßerkirche als Frankfurter Hauptkirche“, in: Roman Fischer (Hg ), Von der Barfüßerkirche zur Paulskirche Beiträge zur Frankfurter Stadt- und Kirchengeschichte, Frankfurt am Main 2000, S  123–186 Duchhardt, Heinz: „Frankfurt am Main im 18 Jahrhundert“, in: Frankfurter Historische Kommission (Hg ): Frankfurt am Main Die Geschichte der Stadt, Sigmaringen 1991, S  261–302 Escher, Konrad: Barock und Klassizismus Studien zur Geschichte der Architektur Roms, Leipzig 1910 Fischer, Roman: „Das Barfüßerkloster im Mittelalter“, in: ders (Hg ): Von der Barfüßerkirche zur Paulskirche Beiträge zur Frankfurter Stadt- und Kirchengeschichte, Frankfurt am Main 2000, S  9–109

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Vgl Schwab: Frankreich (wie Anm  80), S  389 f Vgl dazu bspw Roth: Stadt (wie Anm  12), S  15; Duchhardt, Heinz: „Frankfurt am Main im 18 Jahrhundert“, in: Frankfurter Historische Kommission (Hg ): Frankfurt am Main Die Geschichte der Stadt, Sigmaringen 1991, S  261–302, hier S  284

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Frankfurt a M Stadtverwaltung (Hg ): 1848 1948: Jahrhundertfeier d ersten deutschen Nationalversammlung in d Paulskirche zu Frankfurt am Main, Frankfurt am Main 1948 Großmann, Dieter: Protestantischer Kirchenbau, Marburg 1996 Hils, Evelyn: Johann Friedrich Christian Hess: Stadtbaumeister des Klassizismus in Frankfurt am Main von 1816–1845, Frankfurt am Main 1988 Hils-Brockhoff, Evelyn / Hock, Sabine: Die Paulskirche Symbol demokratischer Freiheit und nationaler Einheit, Frankfurt am Main 1998 Hils-Brockhoff, Evelyn: „Die Paulskirche – Geschichte und Beschreibung des Bauwerks“, in: Roman Fischer (Hg ), Von der Barfüßerkirche zur Paulskirche Beiträge zur Frankfurter Stadt- und Kirchengeschichte, Frankfurt am Main 2000, S  311–334 Hock, Sabine: Reformation in der Reichsstadt Wie Frankfurt am Main evangelisch wurde Eine Chronik der Jahre 1517 bis 1555, Frankfurt am Main 2001, URL: https://www sabinehock de/down loads/reformation pdf [22 10 2019] Institut für Stadtgeschichte Frankfurt, Einundfünfzigerkolleg: Akten (H 03 04), Nr  3300 Institut für Stadtgeschichte Frankfurt, Einundfünfzigerkolleg: Akten (H 03 04), Nr  3461 Institut für Stadtgeschichte Frankfurt, Einundfünfzigerkolleg: Akten (H 03 04), Nr  3737 Institut für Stadtgeschichte Frankfurt, Protokolle der gesetzgebenden Versammlung, 15 12 1819, Nr  6 Jelkmann, Carlo H : Die Sct Paulskirche in Frankfurt a M Ein Beitrag zur Entwicklung der deutschprotestantischen Kirchen-Baukunst und ein Zeitbild aus der Geschichte Frankfurts um 1780–1850, Frankfurt am Main 1913 Jung, Rudolf: Das historische Archiv der Stadt Frankfurt, Frankfurt am Main 1896 Kirchner, Anton: „Predigt bei der Einweihung der Paulskirche am 9 Juni 1833“, in: Gebet und Predigt bei der Gedächtnisfeier der am 9 Juni 1833 eingeweihten St Paulskirche in Frankfurt am Main, Frankfurt am Main 1833 Kuke, Hans-Joachim: Die Frauenkirche in Dresden „Ein Sankt Peter der wahren evangelischen Religion“, Worms 1996 Lachner, Walter: „Politische Vergangenheit und Gegenwart“, in: ders   / Christian Welzbacher (Hg ), Paulskirche Frankfurter Architektur und Geschichte, Berlin 2015, S  27–57 Magirius, Heinrich: Die Dresdner Frauenkirche von George Bähr, Berlin 2005 May, Walter: „Raumstruktur und Bauform der Dresdner Frauenkirche“ in: Dresdner Geschichtsverein (Hg ), Dresdner Hefte, H 4: Die Dresdner Frauenkirche Geschichte – Zerstörung – Rekonstruktion, Dresden 1992, S  17–24 Milizia, Francesco: Grundsätze der bürgerlichen Baukunst: in drey Theilen, bearbeitet von Christian Ludwig Stieglitz, 3 Bd , Band 2, Leipzig 1824 Raschzok, Klaus: Lutherischer Kirchenbau und Kirchenraum im Zeitalter des Absolutismus Dargestellt am Beispiel des Markgraftums Brandenburg-Ansbach 16721791, Frankfurt am Main 1988 Rexroth, Karl Heinrich: „Zur Baugeschichte der Barfüßerkirche in Frankfurt am Main“, in: Roman Fischer (Hg ), Von der Barfüßerkirche zur Paulskirche Beiträge zur Frankfurter Stadt- und Kirchengeschichte, Frankfurt am Main 2000, S  299–309 Roth, Ralf: Stadt und Bürgertum in Frankfurt am Main Ein besonderer Weg von der ständischen zur modernen Bürgergesellschaft 1760–1914, München 1996 Schubart, Robert H : „Johann Jacob Lautemanns Entwürfe zur Frankfurter Paulskirche“, in: Horst Heydt (Hg ), Ludwigskirche 1982: Dokumente, Erinnerungen, Studien, Saarbrücken 1982, S  103–112

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Schütte, Ulrich: „Die Lehre von den Gebäudetypen“, in: ders  / Hartwig Neumann (Hg ), Architekt und Ingenieur Baumeister in Krieg und Frieden, Ausst -Kat Wolfenbüttel, Herzog-AugustBibliothek, Wolfenbüttel 1984 Schwab, Ludwig: „Frankreich in Frankfurt Architekturimporteure um 1800 in Frankfurt am Main“, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte, H 3, 2009, S  389–408 Stieglitz, Christian Ludwig: Encyklopädie der bürgerlichen Baukunst: in welcher alle Fächer dieser Kunst nach alphabetischer Ordnung abgehandelt sind: ein Handbuch für Staatswirthe, Baumeister und Landwirthe, Leipzig 1774 Stricker, Wilhelm: Die Baugeschichte der Paulskirche (Barfüsserkirche) zu Frankfurt am Main 1782– 1813, Frankfurt am Main 1870, in: Archiv für Frankfurter Geschichte und Kunst, Neujahrsblätter 1859–1870 Struckmeier, Georg: „Die Paulskirche in der Gegenwart“, in: Werner Becher (Hg ), Das Kreuz auf der Paulskirche Quellen zur Kirchengeschichte der Paulskirche (1833–1953), Frankfurt am Main 1999, S  65–74 Sturm, Leonhard Christoph: Vollständige Anweisung, alle Arten von Kirchen wohl anzugeben, Augsburg 1718 Telschow, Jürgen: Geschichte der evangelischen Kirche in Frankfurt am Main Von der Reformation bis zum Ende der Frankfurter Unabhängigkeit (1866), Hanau 2017 Veidt, Karl: „Paulskirche im Wandel der Zeit“, in: ders  / Struckmeier, Georg (Hg ), Hundert Jahre St Paulskirche Jubiläumsschrift zum 9 Juni 1933, Frankfurt am Main 1933, S  7–51 Veidt, Karl: „Paulskirche im Wandel der Zeit“, in: Werner Becher (Hg ), Das Kreuz auf der Paulskirche Quellen zur Kirchengeschichte der Paulskirche (1833–1953), Frankfurt am Main 1999, S  33– 64 Vogt, Günther: Frankfurter Bürgerhäuser des 19 Jahrhunderts, Frankfurt 1970 Vogt, Monika: Die Ansiedlung der französischen Glaubensflüchtlinge in Hessen nach 1685 Ein Beitrag zur Problematik der sogenannten Hugenottenarchitektur, Darmstadt/Marburg 1990 Welzbacher, Christian: „Planungs- und Baugeschichte 1786 bis 1833“, in: Walter Lachner / Christian Welzbacher, Paulskirche, Berlin 2015, S  10–25 Wolff, Carl / Jung, Rudolf: Die Baudenkmäler in Frankfurt am Main, 3 Bde , Bd  1: Kirchliche Bauten, Frankfurt am Main 1896 Zentralarchiv der Evangelischen Kirchen in Hessen und Nassau, Best 23/282 Zentralarchiv der Evangelischen Kirchen in Hessen und Nassau, Best 23/283 Zentralarchiv der Evangelischen Kirchen in Hessen und Nassau, Best 23/284

Wahlreform und Kulturkampf in Österreich Der übersehene Erdrutsch von 1870 Lothar Höbelt 1. Die österreichische Verfassung und die Tücken des Wahlrechts Das politische Spektrum der österreichischen Parlamente, und insbesondere ihres dominanten deutsch-österreichischen Teils, folgte 1848/49 und dann auch wiederum in den ersten Jahren ab 1861 einem herkömmlichen Links-Rechts-Schema, wie man es auch in Preußen oder Großbritannien finden konnte Ein erster Unterschied war vielleicht bloß in der Terminologie erkennbar: Es gab im deutschösterreichischen Kontext anfangs kaum eine nennenswerte Strömung, die sich offen als Konservative Partei bezeichnete Unter den österreichischen Tories wurde meist der böhmische Hochadel verstanden, der eine übernationale Position anstrebte (auch wenn er politisch lange Zeit ein Bündnis mit der tschechischen Nationalbewegung einging) Im wesentlichen handelte es sich bei dieser Links-Rechts-Skala um eine Polarisierung innerhalb der „Liberalen“ im weitesten Sinne, der sogenannten Verfassungspartei, zwischen Liberalen und Demokraten, im staatsrechtlichen Fragen von Großösterreichern und Großdeutschen (unter letzteren vielleicht auch einige klammheimliche Republikaner) Vielfach verbarg sich hinter diesen Polen eine simple Unterscheidung zwischen „Gouvernmentalen“ und oppositionellen Kräften, „Moderados“ und „Exaltados“, zwischen Gruppen, die im preußischen Kontext vielleicht als Freikonservative und Fortschrittspartei klassifiziert worden wären, mit vielen dazwischen angesiedelten „shades of grey“ Als Galionsfiguren zu nennen wären für die liberal-konservative Strömung des „Establishments“ der Reichsministerpräsident von 1848, Ritter Anton v Schmerling oder der Freiherr von Lasser, der Manager der Regierungspartei im Wiener Reichstag von 1848; für die radikalliberale Bewegungspartei ehemalige Abgeordnete der Paulskirchen-Fraktionen auf der Äußersten Linken, wie z B die beiden mährischen Anwälte Johann Nepomuk Berger und Karl Giskra Auch wenn das Personal der maßgeblichen Abgeordneten vielfach gleich geblieben war, das Personal an der „Basis“ hatte sich mit der Verfassung von 1861/67 geändert: Ein Oberhaus nach britischem (oder preußischem) Vorbild war geschaffen worden

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und das Wahlrecht zum Unterhaus hatte beträchtliche Einschränkungen erfahren: Zwar war das „allgemeine“ Wahlrecht auch 1848 ganz unterschiedlichen Auslegungen unterworfen worden, doch inzwischen hatte sich eine Form des Zensuswahlrechts durchgesetzt, die oft irreführenderweise mit einem fixen Zensus von zehn oder später fünf Gulden „Realsteuern“ assoziiert wird Denn ein einheitlicher, für alle Regionen des Reiches gültiger Zensus hätte in der Praxis unweigerlich dazu geführt, in den großen Städten überdurchschnittlich viele, in den ärmeren ländlichen Gebieten dafür fast gar keine Urwähler zuzulassen Eine solche Unausgewogenheit konnte im Sinne der Zielsetzung, der Verfassung eine tragfähige Basis zu verschaffen, jedoch keineswegs als optimal erscheinen Die Architekten der Verfassung entwarfen daher ein System, das sich an das bekannte preußische Dreiklassenwahlrecht anlehnte, wie es vielfach auch bei den Wahlen zu den österreichischen Gemeindevertretungen Anwendung fand In jeder Gemeinde sollten die Bürger nach der Höhe ihrer Steuerleistung gereiht und die Gesamtsumme gedrittelt werden Für die Landtage waren entweder die Bürger wahlberechtigt, welche – in den größeren Gemeinden – den ersten beiden Wahlkörpern angehörten, oder aber in kleineren Gemeinden, die ersten zwei Drittel aller Steuerzahler Die Summe der Steuer oder der Steuerzahler  – das klang sehr ähnlich, führte aber zu recht markanten Unterschieden 1 In den größeren Städten fiel die Hürde der ersten beiden Wahlkörper wegen der vielen „Millionäre“ allzu hoch aus In Wien etwa betrug ihr Anteil nur ca 1 % der Bevölkerung 2 Man führte deshalb einen einheitlichen Zensus von 10 Gulden ein, in Wien und Prag anfangs 20 fl , der jedem Bürger unabhängig von dieser Einteilung das Wahlrecht sicherte In den meisten Landgemeinden mit ihrer gleichmäßigeren Einkommensverteilung – und ohne die berüchtigten drei Wahlkörper! – genügte aber auch weiterhin eine Steuerleistung von 1 bis 2 fl , um in den Genuß des Wahlrechts zu kommen Die Faustregel lautete, selbstverständlich nicht der Taglöhner, Knecht oder „Keuschler“ (Kossäte), aber der Besitzer eines durchschnittlichen Bauernhofes sollte jedenfalls zum Kreis der politisch Berechtigten zählen Freilich, schon in benachbarten Gemeinden, die sehr wohl drei Wahlkörper zählten, aber trotzdem zu den Landbezirken gehörten, konnte die Schwelle für den zweiten Wahlkörper unverhältnismäßig hoch ausfallen In Kärnten schwankte das Erfordernis für die Teilnahme an der Landtagswahl in dieser Kurie deshalb z B zwischen 0,4 und 74 Gulden 3 Das Zensuswahlrecht der Monarchie war infolgedessen alles andere als „plutokratisch“ Zum Unterschied vom kommunalen Wahlrecht machte das Landtags-, später 1 2 3

Einige Stichproben für die frappanten Unterschiede benachbarter Gemeinden förderte die Untersuchung zutage, welche die konservative Regierung Hohenwart 1871 anstellen ließ; vgl Oberösterreichisches Landesarchiv, Statthalterei Karton 686, Präs ad 741 (25 5 1871) Annemarie Meixner, Der Wiener Gemeinderat in den Jahren 1864 bis 1868 (phil Diss Wien 1975) 46 Vasilij Melik, Wahlen im alten Österreich am Beispiel der Kronländer mit slowenischsprachiger Bevölkerung (Wien 1997) 134 f , 151

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Reichsratswahlrecht keinen Unterschied zwischen dem Millionär und dem Bauern, der es gerade noch in den Kreis der Berechtigten geschafft hatte Das Wahlrecht brach unvermittelt im unteren Mittelstand ab Es war darüber hinaus von einer kuriosen Paradoxie geprägt: In ländlichen Wahlkreisen war in der Regel ein höherer Prozentsatz wahlberechtigt, zwischen 4 und 8 % der Bevölkerung In Wien oder Prag – so geht aus der Statistik hervor, die Neumann-Spallart in den siebziger Jahren veröffentlichte  – betrug dieser Anteil selbst unter Berücksichtigung der inzwischen eingeführten 10 fl Klausel bloß 3 % Das östlichste Kronland Bukowina hingegen galt zwar als rückständige Provinz, als „Halb-Asien“ 4 Doch gerade hier betrug der Anteil der Wahlberechtigten an der Landbevölkerung über 10 %, in Galizien fast 10 % – was angesichts des Wahlalters von 24 Jahren bedeutete, fast die Hälfte der erwachsenen Männer 5 Dafür waren die „Landgemeindenbezirke“ in einer anderen Beziehung benachteiligt Die Landtage bestanden aus drei „Wahl-Kurien“, die jede ungefähr gleich viel Mandate zugeteilt erhielten: Die Landgemeindenbezirke; die „Städte, Märkte und Industrialorte“; und schließlich die Kurie des landtäflichen Großgrundbesitzes (Die vierte Kurie der Handelskammern mit ihren ganz wenigen Sitzen kann hier außer Betracht bleiben ) Der Zensus bei den Großgrundbesitzern betrug zwischen 100 und 200 Gulden, zahlbar allerdings ausdrücklich nur von „Dominikalgütern“, sprich: ehemaligem Herrschaftsbesitz: Großbauern wie die Kärntner „Sterzgrafen“ oder die oberösterreichischen „Vierkanthöfe“ blieben dadurch meist ausgeschlossen Die Steuerleistung dieser Kurie blieb bei bloß hundert bis fünfhundert Wählern pro Land natürlich weit hinter dem Steueraufkommen der beiden anderen Kurien zurück Diese Abweichung widersprach in flagranter Weise dem zugrundeliegenden Prinzip, das unausgesprochen Pate stand, nämlich Mitspracherechte mit ökonomischem Potenzial und gesellschaftlicher Stellung in Einklang zu bringen Dieses Privileg der Großgrundbesitzerkurie konnte freilich entschuldigt und erklärt werden als Abschlagszahlung für die „feudalen“ Herrschaftsbesitzer, die bis 1848 allein die ständischen Landtage beschickt hatten Weit schwieriger zu erklären oder zu rechtfertigen war schon die Tatsache, dass auch zwischen den beiden „bürgerlichen“ Kurien, Städten und Landbezirken, in der englischen Nomenklatur: „boroughs“ und „counties“, offenbar mit ganz verschiedenem Maß gemessen wurde Das Durchschnittseinkommen mochte in den Städten immer noch höher liegen Aber die Landgemeindenbezirke umfassten mehr als drei Viertel der Bevölkerung – und zahlten immer noch

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So lautete der einschlägige Titel des berühmtesten Autors des Landes, Karl-Emil Franzos Die Schlussfolgerung auf die Wahlen zog die ‚Linzer Tagespost‘ später einmal: „Dort in Halb-Asien werden bekanntermaßen die Wahlen, wenn nicht schon durch die Regierung allein, so doch mit starker Beihilfe der Regierung gemacht “ (19 12 1895) F X v Neumann-Spallart & G A Schimmer, Reichsraths-Wahlen vom Jahre 1879 in Oesterreich Auf Grund der amtlichen Daten statistisch-vergleichend dargestellt (Stuttgart 1880) 56–67

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weit mehr als doppelt soviel Realsteuern als die Städte 6 Während im Deutschen Reich von einer – im Laufe der Zeit immer auffälligeren – Benachteiligung der Städte zugunsten des konservativen Landes die Rede war, verhielt es sich in Österreich nahezu umgekehrt Zwar gerieten auch hier die rasch wachsenden Metropolen gegenüber den kleineren Märkten ins Hintertreffen, aber die große, unübersehbare Abweichung war: Die Landbezirke waren unterrepräsentiert, im Vergleich zu ihrer Bevölkerungszahl, aber auch – was im Rahmen des bestehenden Systems noch weit mehr als Ungerechtigkeit wahrgenommen werden musste – im Vergleich zu ihrer Steuerleistung Es kann nicht verwundern, dass Rufe nach einer Reform des Wahlrechts, nach einer Erweiterung des Wahlrechts und einer Umverteilung der Mandate, vor allem aber nach einer Zurückdrängung des Großgrundbesitzes, vor allem aus zwei Richtungen laut wurden: Von den Vertretern der Landgemeinden – und den Vertretern des großstädtischen Kleinbürgertums, das hier – und nur hier – Gefahr lief, von den Großbürgern marginalisiert und um sein Wahlrecht gebracht zu werden Die letztere Gruppe wurde ab den späten sechziger Jahren als Wiener „Vorstadt-Demokraten“ bekannt – und ging nach diversen Irrfahrten zwanzig Jahre später in Karl Luegers „Wurstkesselpartei“ als Konglomerat aller Gegner des liberalen Establishments auf 7 Die potenziell viel größere Gruppe der „Demokraten“ am Lande ist dagegen beinahe in Vergessenheit geraten In den sechziger Jahren war es aber gerade sie, die einer Ausweitung bzw einer gerechteren und systemkonformeren (!) Verteilung der Mitbestimmungsrechte das Wort redete Dazu kam eine politische Dynamik, die sich aus dem Kuriensystem ergab Das Unterhaus („Abgeordnetenhaus“) des Reichsrates hatte bis zur Wahlreform von 1873 die Form eines Ausschuss-Landtags Die Landtage wählten nach einem gewissen Schlüssel ihre Abgeordneten in den Reichsrat Dieser Schlüssel bezog sich auf die Zahl der Abgeordneten, die einer bestimmten Kurie entnommen werden mussten, zum Teil auch gewissen regionalen Gruppen von Mandataren – eine Bestimmung, die nicht zuletzt dazu gedacht war, zumindest eine Minimalvertretung nationaler Minderheiten zu gewährleisten Darüber hinaus erwiesen sich die Großgrundbesitzer in den böhmischen Ländern als das Zünglein an der Waage – nicht zwischen Städten und Landgemeinden, Industrie und Agrariern, sondern zwischen Deutschen und Tschechen Das Votum einiger weniger Großgrundbesitzer entschied über die Mehrheit im böh-

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Die entsprechende Statistik für Oberösterreich nennt für die Landgemeinden eine Steuersumme von 2 047 000 fl , für die Städte von 564 000 fl , für den Großgrundbesitz (der hier allerdings nur halb so viel Landtagsmitglieder stellte) 69 000 fl Oberösterreichisches Landesarchiv (OÖLA), Statthalterei Karton 686, ad 741 ex 1871 Annemarie Meixner, Der Wiener Gemeinderat in den Jahren 1864 bis 1868 (phil Diss Wien 1975) 21, 39 ff ; Pieter Judson, Exclusive Revolutionaries Liberal Politics, Social Experience and National Identity in the Austrian Empire, 1848–1914 (Ann Arbor 1996) 151 ff ; John Boyer, Political Radicalism in late imperial Vienna Origins of the Christian Social Movement 1848–1897 (Chicago 1981)

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mischen und im mährischen Landtag, diese beiden wiederum über die Mehrheit im Reichsrat 8 Der Einfluss der Adelsparteien auf den Verlauf des Nationalitäten- und Verfassungskonflikts war zweifellos der wichtigste Beitrag dieser Kurie zur Geschichte Altösterreichs Doch wie stand es um das Verhältnis der Kurien in den rein deutschen oder doch deutsch dominierten Ländern der Donau- und Alpenregionen auf dem Territorium der späteren Republik Österreich, insbesondere den drei großen Kronländern Österreich ob und unter der Enns bzw Steiermark, die zusammen immerhin fast so viele Abgeordnete stellten wie das Königreich Böhmen Die Parteienkonstellationen allein liefern hier auf den ersten Blick noch keine Anhaltspunkte: Die überwältigende Mehrheit aller drei Kurien bestand 1861 wie 1867 aus „Deutschliberalen“, sprich: Anhängern der Verfassungspartei, die notwendigerweise ein weites Spektrum umfasste Doch im Zweifelsfall – so hat es den Anschein – fanden sich die konservativen Liberalen der „ersten“ und „zweiten“ Gesellschaft der Monarchie gegen die „Demokraten“ der Landbezirke Der linke Flügel der Partei lief gerade in Niederösterreich Gefahr, bei der Selektion von „Reichsräten“ ausgesiebt zu werden Die Landbezirke waren am besten Wege, zur „schweigenden Mehrheit“ zu werden 2. Das „Bürgerministerium“ 1867–1870 Bei den ersten Wahlen des Jahres 1861 waren diese Unterschiede vielfach noch wenig ausgeprägt Es fiel schwer, die Kandidaten bestimmten Strömungen zuzuordnen 1867 sah man in dieser Beziehung schon klarer: Allerdings wurden gerade 1867 die sozioökonomischen Aspekte von der staatsrechtlichen Problematik überlagert, sprich: von der Frage, ob und zu welchen Bedingungen der Reichsrat seine Zustimmung zum „Ausgleich“ mit Ungarn erteilen sollte Als Faustregel konnte dabei gelten: Die konservativen Strömungen der Verfassungspartei, mit ihren Verbindungen zur Bürokratie, zum Teil auch zur schutzzöllnerischen Industrie, taten sich mit dem Placet zur Teilung der Monarchie schwer; der linke Flügel hingegen, die sogenannten „Autonomisten“, sahen in den freiheitsliebenden Ungarn mitunter sogar Vorbilder und waren prinzipiell zu einem Kompromiss bereit Der Ruf „Freiheit wie in Ungarn!“9 ließ sich in die Hoffnung ummünzen: „Eine Reichshälfte wird die Verfassungsmäßigkeit der anderen

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Lothar Höbelt, The Great Landowners Curia and the Reichsrat during the Formative Years of Austrian Constitutionalism 1867–1873 In: Parliaments, Estates & Representation 5 (1985) 175–183; ders , „Verfassungstreue“ und „Feudale“: Die beiden österreichischen Adelsparteien (1861–1918) In: Etudes Danubiennes 7 (1991) 103–114 Walter Rogge, Oesterreich von Vilagos bis zur Gegenwart, vol 3: Der Kampf mit dem Föderalismus (Wien 1873) 15; vgl auch Jonathan Kwan, Austro-German Liberals and the Coming of the 1867 Compromise: „Politics again in Flux“ In: Austrian History Yearbook 44 (2013) 62–87

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garantieren “10 Diese Konstellation ließ die Linke mit ihren oppositionellen Instinkten für kurze Zeit zur bevorzugten Partnerin der Regierung werden, zu Partnern vor allem des aus Sachsen „importierten“ Reichskanzlers Beust, der sich als „Ausländer“ mit souveräner Unvoreingenommenheit nach potenziellen Verbündeten umsah Das Resultat war die Bildung des „Bürgerministeriums“ im Dezember 1867, das zum ersten und einzigen Mal auch tatsächlich die führenden Köpfe der Liberalen „an der Regierung“ sah 11 Die Jahre von 1867 bis 1869 bildeten zweifellos den Höhepunkt der Liberalen in Österreich Doch gerade während dieser „Hochzeit“ zerfielen und vereinigten sich die Fraktionen innerhalb der „Verfassungspartei“ nahezu im Halbjahrestakt Jeder Sessionsabschnitt des Reichsrats war von neuen Konstellationen geprägt Im Frühjahr 1867 und dann wieder im November 1868 fand man sich in einem gemeinsamen Klub, dem kein langes Leben beschieden war Binnen weniger Monate spaltete sich beide Male eine „Linke“ bzw „Äußerste Linke“ von der liberalen Sammelpartei ab Der harte Kern dieser „Äußersten Linken“ rekrutierte sich aus den Oberösterreichern, Steirern und Niederösterreichern  – in absteigender Reihenfolge: In Oberösterreich umfasste die Äußerste Linke 1869 nahezu alle Abgeordnete, mit vielen interessanten Männern der zweiten Reihe, doch keinem Leitwolf Der Bürgermeister von Linz, Karl Wiser, selbst von der Statthalterei als „Vorkämpfer der deutschen Autonomisten in Verfassungsfragen“ gewürdigt, hatte sich aus der Reichspolitik zurückgezogen; sein Schwiegersohn, der Sekretär der Handelskammer, Ignaz v Figuly, konnte diese Rolle nicht ganz ausfüllen; Wisers Welser Kollege Franz Groß erregte immerhin Aufmerksamkeit, als er im Reichsrat den Antrag auf Aufhebung des Notverordnungsparagraphen einbrachte 12 Die Steiermark galt als die eigentliche Heimat der Autonomisten, vielleicht zu Unrecht: Sie verdankte diesen Ruf in erster Linie ihren zwei Galionsfiguren Karl Rechbauer und Moriz v Kaiserfeld Doch die steirische Delegation im Reichsrat bot kein einheitliches Bild: Das Gebirgsland mit seinen Montanbetrieben verfügte über zu viele Sonderinteressen Es mag bezeichnend für die Grazer Atmosphäre sein, dass immerhin der Erbe des größten adeligen Vermögens im Lande, der junge Graf Ignaz Attems, eindeutig zur Äußersten Linken zählte, sich über „das Arsenal der Phrasen“ der gemäßigten „Tagespost“ und ihren „angestammten Preußenhaß“ lustig machte, 1870 den

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Franz Böck, Die niederösterreichischen Abgeordneten im Parlament von 1861 bis 1879 (phil Diss Wien 1948) 96 (13 Nov 1867) Friedrich Schütz, Werden und Wirken des Bürgerministeriums (Leipzig 1909); Samuel Sandler, Das Bürgerministerium 1868–1870 (phil Diss Wien 1930) konnte noch die unverkohlten Ministerratsprotokolle einsehen; Lothar Höbelt, Das Bürgerministerium In: Etudes Danubiennes 14 (1998) 1–11; Jonathan Kwan, Liberalism in the Habsburg Monarchy (Basingstoke 2013) 57 ff Oberösterreichisches Landesarchiv (OÖLA), Statthalterei Karton 685, Präs 984/1398, Verzeichnis der Landtagsabgeordneten; Konstitutionelle Vorstadt-Zeitung, 23 u 26 6 1867; vgl auch das biographische Lexikon von Harry Slapnicka, Oberösterreich Die politische Führungsschicht 1861–1918 (Linz 1983), mit einer Liste der Abgeordneten 230 ff

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italienischen Einmarsch in Rom begrüßte – und den Bruch Kaiserfelds mit den nationalen Bestrebungen der Linken bedauerte 13 Denn Kaiserfeld – als Vorreiter des Ausgleichs mit Ungarn – zog sich nach 1867 auf die Position des ‚Elder Statesman‘ zurück, der sich von seinem früheren Nimbus weit entfernte Nur Rechbauer blieb seinem Ruf als Wortführer der radikalliberalen Strömung treu, war aber bei vielen Abstimmungen unter seinen engeren Landsleuten ziemlich isoliert Niederösterreich glänzte durch viele wortgewaltige Sprecher, die jedoch – zumindest im Rahmen der Abgeordnetenriege – bloß eine Minderheit vertraten Die Wiener Vorstadt-Demokraten machten sich erst 1870 das erste Mal im Landtag bemerkbar Von den hauptstädtischen Talenten kokettierte der eine oder andere zuweilen mit den fortgeschritteneren Fraktionen auf der Linken, wich Bindungen jedoch aus Im Herbst 1867 hatte Johann Nepomuk Berger – inzwischen als Anwalt nach Wien übersiedelt – eine Fraktion der Linken ins Leben gerufen, um die Autonomisten mit diversen gemäßigteren Elementen zu einer regierungsfähigen Fraktion zu vereinigen Mit Berger als Minister ohne Portefeuille verfügten die Radikalliberalen anfangs über eine Brücke zum „Bürgerministerium“, das 1868/69 die Geschäfte führte Mit der Sezession der „Äußersten Linken“ Anfang 1869 ging diese Verbindung wiederum verloren Auffällig war von Anfang an, dass aus den böhmischen Ländern nur vereinzelte, exotische Exemplare ihren Weg zur Äußersten Linken fanden, peripher selbst geographisch, wie Franz Roser, aus dem böhmischen Braunau14, das geographisch schon zu Schlesien gehörte, oder Johann Fux, der Stadtsekretär im südmährischen Znaim, nur ein paar Kilometer von der „österreichischen“ Grenze entfernt 15 Als entscheidend für den schließlich doch verhältnismäßig reibungslosen Verlauf des „Ausgleichs“, der über die Köpfe vieler Paladine des Reiches hinweg beschlossen wurde, erwies sich die Achse zwischen Beust und Berger Die „Österreicher“ (die noch lange nicht so hießen16) wollten für ihre Zustimmung freilich ein Maximum an Konzessionen eintauschen, an „Freiheitsrechten“ auf Kosten des Obrigkeitsstaates Vor allem hatte man dabei zwei Institutionen als Steine des Anstoßes ins Visier genommen, die Armee – und die Kirche Bei der Armee freilich bissen die Liberalen auf Granit:

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Steiermärkisches Landesarchiv, Familienarchiv Attems Karton 39, Nr   251, Briefe Ignaz’ an Edmund Attems, 12 10 1869, 23 2 1870, 24 9 1870 Ignaz übernahm nach dem Tode seines Vaters das Fideikommiß, sein jüngerer Bruder Edmund war später lange Jahre Landeshauptmann der Steiermark; vgl auch Ferdinand v Krones, Moriz von Kaiserfeld Sein Leben und sein Wirken (Leipzig 1888) Hindenburg soll die Stadt an der schlesischen Grenze, die er als junger Leutnant im Krieg von 1866 kennengelernt hatte, mit Hitlers Geburtsort an der bayerischen Grenze verwechselt und daher vom „böhmischen Gefreiten“ gesprochen haben Vgl Sigmund Hahn, Reichsraths-Almanach für die Session 1867 (Prag 1867), hier: 140 Die „im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder“, oft auch „Cisleithanien“ genannt, erhielten erst 1915 offiziell den Namen Österreich Bis dahin war offengeblieben, ob das Kaisertum Österreich nicht doch auch noch Ungarn umfasste …

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Hier fuhr vielmehr der Kaiser seinen „Gründergewinn“ aus der Schaffung der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie ein Gerade der Bereich der Staatsverwaltung, der ihm ein besonderes Anliegen war: Heer und Außenpolitik, wurden nämlich der finanziellen Kontrolle des Reichsrates entzogen und den „Delegationen“ überstellt, die ein Zwitterdasein führten Die Österreicher sahen in den Delegationen den Embryo eines Reichsparlaments, Ungarn nur einen Ausschuss der beiden Parlament, des ungarischen („transleithanischen“) und des „cisleithanischen“ Die Zusammensetzung dieser Delegationen, die zu einem Drittel aus Mitgliedern des vom Kaiser ernannten Oberhauses bestanden, machte oppositionelle Mehrheiten sehr unwahrscheinlich Der Reichsrat entschied zwar weiterhin über Fragen der Wehrpflicht: Doch die Liberalen sahen sich gezwungen, im November 1868 als integrierenden Bestandteil ihres Paktes mit der Krone contre coeur ein Wehrgesetz zu verabschieden, das allen Anträgen der Fortschrittlichen auf Abrüstung und Milizsystem eine Absage erteilte Es hieß, Justizminister Herbst habe lange geschwankt, ob er der Vorlage zustimmen könne, der Finanzminister Brestel sogar geweint, als die Regierungsvorlage die Mehrheit erhielt 17 Waren den Liberalen schon entscheidende Einbrüche in das Korsett des Obrigkeitsstaates verwehrt, so blieb ihnen als „Beschäftigungstherapie“ und Ersatzbefriedigung der „Kulturkampf “, insbesondere der Kampf gegen das Konkordat Das Thema war auf beiden Flügeln der Verfassungspartei populär – bei den Fortschrittlichen, aber auch bei vielen am konservativen Flügel, die hinter den Agitationen des politischen Katholizismus eine Auflehnung gegen die Staatsautorität witterten 18 Auch auf diesem Gebiet waren ihrem Ehrgeiz durch das Vetorecht des Kaisers gewisse Grenzen gesetzt Das Ergebnis der sogenannten Maigesetze des Jahres 1868 lässt sich knapp zusammenfassen: Auf dem Gebiet des Eherechts blieben die herrschenden Bestimmungen im Wesentlichen bestehen; in Schulfragen setzten sich die Liberalen hingegen weitgehend durch Als Kernstück galt das Reichsvolksschulgesetz von 1868/69, das die kirchliche Schulaufsicht beendete (den Geistlichen aber weiterhin einen Sitz im Ortsschulrat garantierte) 19

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Heinrich Pollak, Dreißig Jahre aus dem Leben eines Journalisten Erinnerungen und Aufzeichnungen, Bd  2 (Wien 1895) 88, 93 Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang ein historischer Exkurs des Handelsministers Plener: „Schon seit Karl V , Rudolfs und Ferdinands mit eingerechnet, war das Blicken über die Berge Österreichs Unglück […] Hätte sich das Haus Habsburg an die Spitze der Reformation und Deutschlands gestellt, es gäbe jetzt keine Hohenzollern, es hätte keinen 30-jährigen Krieg und keine Schlacht am Weißen Berg gegeben […] Die Entfremdung und der Haß der Czechen auf Österreich datiert aus religiösen Gründen “ (HHStA, Nl Plener 6, Ignaz an Ernst, 29 6 1869) Karl Vocelka, Verfassung oder Konkordat? Der publizistische und politische Kampf der österreichischen Liberalen um die Religionsgesetze des Jahres 1868 (Wien 1978); P Judson, Exclusive Revolutionaries (Anm  7) 133; J Kwan, Liberalism (Anm  11) 68 f

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Die Reaktionen des Episkopats auf diese erste Phase des Kulturkampfes in Österreich fielen uneinheitlich aus: Die Erzbischöfe von Prag und Wien, Prinz Friedrich Schwarzenberg und Kardinal Othmar Rauscher (vor 1848 für kurze Zeit Erzieher Franz Josephs), protestierten pflichtschuldigst, aber gaben sich resigniert Kämpferisch reagierten dagegen die meisten der Bischöfe in den Alpenländern, Vincenz Gasser im ehemals reichsunmittelbaren Bistum Brixen, Franz Joseph Rudigier in Linz, Joseph Feßler in St Pölten und ab 1868 auch Johann Baptist Zwerger in der Diözese Graz-Seckau Bei allen von ihnen handelte es sich übrigens um gebürtige Tiroler bzw Vorarlberger Der politische Katholizismus rollte – wie schon die Gegenreformation – Österreich von Westen her auf Rudigier provozierte im September 1868 einen Eklat mit einem scharf formulierten Hirtenbrief gegen die Maigesetze, die vom Papst verdammt worden seien Die Staatsanwaltschaft leitete daraufhin eine Voruntersuchung gegen den Bischof ein; Innenminister Giskra rang dem Kaiser das Zugeständnis ab, nicht in den Lauf der Justiz einzugreifen Herbst als Justizminister musste dem Ministerrat berichten, Rudigier stehe auf dem Standpunkt, dass es ihm nicht erlaubt sei, sich vor ein weltliches Gericht laden zu lassen Er beklagte, dass die „Renitenz des Klerus jetzt eine ganz andere Gestalt annimmt als früher “20 Der Eifer der Justiz entwickelte sich für die Liberalen zu einer Peinlichkeit Rudigier wurde zwangsweise vorgeführt und am 12 Juni 1869 schließlich wegen Störung der öffentlichen Ruhe von einem Schwurgericht zu vierzehn Tagen Arrest verurteilt – und vom Kaiser umgehend begnadigt (der sich allerdings die Frage erlaubte, ob Rudigier nicht vielleicht doch eigensinnig gehandelt habe) 21 Der nächste öffentlichkeitswirksame Eklat ging von einem Verfechter des konservativen Flügels der Liberalen aus, dem Baron Carl Tinti, Anführer des verfassungstreuen Großgrundbesitzes in Niederösterreich und Besitzer des Renaissanceschlosses Schallaburg Er warf am 26 Jänner 1870 im Reichsrat dem Tiroler Pater Joseph Greuter vor: „Sie sind kein Deutscher, Sie und Ihresgleichen sind es nicht; Sie sind auch kein Österreicher, denn Ihre Heimat ist Rom, Ihr Vaterland ist die Kirche, Ihr Kaiser ist der Papst!“ Der (Vize-)Präsident des Hauses weigerte sich, Tinti deshalb einen Ordnungsruf zu erteilen Das halbe Dutzend Tiroler Konservativer zog daraus den Schluss: „Wir

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Allgemeines Verwaltungsarchiv (AVA), Ministerratspräsidium (MRP) 34, Ministerrat 26 5 1869 Das Protokoll zählt zum Bestand der beim „Justizpalastbrand“ von 1927 in Mitleidenschaft gezogenen sogenannten „Brandakten“, die demnächst ediert werden sollen Gerhart Marckhgott, Der Kampf für das Konkordat und gegen die Maigesetze In: Rudolf Zinnhobler (Hg ), Bischof Franz Joseph Rudigier und seine Zeit (Linz 1987) 119–131, hier: 125 ff ; Harry Slapnicka, Bischof und Kaiser In Ebd 138–144; hier: 143; Harry Slapnicka, Christlichsoziale in Oberösterreich (Linz 1984) 30, 67 ff Der spätere deutschfreiheitliche Abgeordnete Adam MüllerGuttenbrunn hat die Ereignisse zum Hintergrund eines Romanes gemacht „Es war einmal ein Bischof “ (Leipzig 1912), der eine erstaunliche ausgewogene Haltung einnimmt

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finden keinen Schutz in diesem Haus“22 – und erblickte in diesem Affront einen willkommenen Anlass, sich dem Reichsratsboykott der Tschechen anzuschließen 23 Selbst ein enger Gesinnungsgenosse Tintis wie Pratobevera kommentierte in seinem Tagebuch: Das Ergebnis käme einem „Pyrrhussieg“ gleich, Tinti sei zu weit gegangen 24 Der Zeitpunkt für den Tiroler Exodus war gut gewählt, denn innerhalb des Bürgerministeriums begannen sich Auflösungserscheinungen bemerkbar zu machen Die beiden Grafen Taaffe und Potocki, unterstützt von Berger, plädierten für ein Entgegenkommen gegenüber den Föderalisten; die Mehrheit sprach sich dagegen aus Das Kleeblatt der Ausgleichsbefürworter schied aus, der Prager Zentralist Arthur v Hasner übernahm die Leitung des Kabinetts Innenminister Giskra plädierte im Sinne einer Radikalkur für die Einführung von Direktwahlen, unter Umgehung der Landtage Sein Kollege Plener kommentierte, diese Wahlreform sei zwar „eine Notwendigkeit, um den gänzlichen Zerfall des Reichsrates zu hindern […] Der Reichsrat ist auf die Dauer unmöglich, wenn er aus der Dependenz von den Landtagen nicht erlöst wird “ Er fügte jedoch sogleich hinzu: Die Zwei-Drittel-Mehrheit für diese Verfassungsnovelle sei zweifelhaft; die Gesetzesentwürfe noch gar nicht ausgearbeitet „Wenn daher die Liberalen sich jetzt für die direkten Wahlen erklären, so geschieht es contre coeur aus falscher Scham und Furcht vor den dafür plaidierenden Journalen “ Giskra hatte er im Verdacht, den Vorschlag bloß lanciert zu haben, als „beste Gelegenheit, mit einer Art Gloire“ aus dem Amt zu scheiden Der Rücktritt Giskras könne sich für das Kabinett als Glück erweisen – oder als Anfang vom Ende Die Probe aufs Exempel blieb nicht lange aus: Zehn Tage nach Giskras Rücktritt sagten auch die Polen, Slowenen und Rumänen dem Reichsrat Lebewohl: Von 203 Abgeordneten bildeten jetzt bloß noch 129 ein Rumpfparlament 25 Als Reaktion erbat sich das Ministerium Anfang April 1870 die Genehmigung zur Auflösung und Neuwahl zumindest des galizischen Landtags, die ihm vom Kaiser verweigert wurde Daraufhin demissionierte auch der Rumpf des „Bürgerministeriums“ 26 Der Kaiser ernannte den 22

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Die Angelegenheit lässt sich am besten im Bericht der (konservativen) ‚Neuen Tiroler Stimmen‘ vom 29 1 1870 verfolgen Der Vizepräsident rechtfertigte seine Entscheidung: „Die Stellung des Mannes im Privatleben und im politischen Leben ist sehr verschieden “ Die Tiroler waren bei der Rede Tintis übrigens nicht anwesend und erhoben ihren Einspruch erst nachträglich auf Grund des Protokolls Gustav Kolmer, Parlament und Verfassung in Österreich, Bd  2 (Wien 1903) 27–32; Lothar Höbelt, Parteien und Fraktionen im cisleithanischen Reichsrat In: Peter Urbanitsch & Helmut Rumpler (Hgg ), Geschichte der Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd   VII:(Wien 2000) 895–1006; hier: 912 HHStA, Nachlaß Adolf v Pratobevera 13, Tagebuch 30 1 1870 Die 74 politisch motivierten Absenzen setzten sich aus 17 Tschechen, 34 Polen aus Galizien, 7 Slowenen, 6 Deuschtirolern, 6 Italienern aus dem Küstenland und 4 Rumänen aus der Bukowina zusammen Im Reichsrat waren neben den Deutschen (und kosmopolitischen Großgrundbesitzern) nur mehr 5 Dalmatiner, 4 Ukrainer und 3 Welschtiroler vertreten, dazu je ein slowenischer und rumänischer Dissident Gustav Bahr, Leopold v Hasner (phil Diss Wien 1947) 53–6

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Grafen Alfred Potocki zum Ministerpräsidenten eines „Ausgleichsministeriums“, das eine Verständigung mit den Föderalisten zuwege bringen sollte, aber auf dem Boden der Verfassung und womöglich mit Unterstützung der Liberalen, bloß anderer, geschmeidigerer Liberaler als seine ehemaligen Kollegen Die Koryphäen der Liberalen, insbesondere das rivalisierende Duo Herbst und Giskra, zogen sich schmollend zurück Potocki versuchte sie auf beiden Flügeln zu umgehen: Einerseits wollte er Konservative vom rechten Flügel für sein Ministerium gewinnen, wie z B den mährischen Baron Victor Widmann-Sedlnitzky (der wegen früherer Eskapaden während seiner Offizierslaufbahn in Misskredit geriet) Neben dem Wiener Bürgermeister Cajetan Felder wurde auch Plener selbst gefragt, der entschied: „Mein Eintritt nützt dem Kabinett nichts und richtet mich zugrunde “27 Andererseits war bei der Komplettierung des Ministeriums aber auch an Vertreter der Autonomisten gedacht, die im Prinzip ja den Anliegen der Föderalisten aufgeschlossener gegenüberstanden als die starren Zentralisten Genannt wurde in diesem Zusammenhang in erster Linie Rechbauer,28 der zwar ablehnte (was er später angeblich bereute), aber dennoch einen Entwurf ausarbeitete, der – ganz im Sinne der Pläne des Ministeriums – zumindest für Galizien weitgehende Sonderrechte vorsah 29 Mit Carl Stremayr und Adolph v Tschabuschnigg traten außerdem zwei Politiker in das Ministerium Potocki ein, die zwar einen gewissen autonomistischen Stallgeruch aufwiesen, aber deutlich konservativere Tendenzen aufwiesen 30 3. Die „Parteikonferenz“ vom Mai 1870: Ein „nicht beabsichtigter Sieg der Demokratie“? Der Reichsrat war am 8 April vertagt worden Am 21 Mai wurden die Landtage – bis auf den böhmischen – dann sehr wohl aufgelöst und Neuwahlen ausgeschrieben Der Kaiser gewährte Potocki, was er Hasner und dem Rumpf des Bürgerministeriums nicht mehr hatte bewilligen wollen Das Ministerium wollte sich eines Mandates versichern, bloß wofür? Einen Ausgleich mit den Föderalisten – bloß zu welchen Bedingungen? 27 28

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HHStA, Nl Plener 6, Ignaz an Ernst 16 & 19 6 1870; Felix Czeike (Hg ), Cajetan Felder Erinnerungen eines Wiener Bürgermeisters (Wien 1964) 183–186 Vgl H Pollak, Dreißig Jahre (Anm  17) 177; Edith Marko-Stöckl, Die Entwicklung der politischen Landschaft in der Steiermark am Fallbeispiel der Liberalen der sechziger und frühen siebziger Jahre des 19 Jahrhunderts In: Zeitschrift des historischen Vereines für Steiermark 84 (1993) 171–191; hier: 188 f Hier wird der Zwiespalt zwischen den Föderalisten deutlich: Die Tschechen waren gegen die Extratouren der Polen Ihr Anführer F L Rieger warnte, bei einer Sonderstellung Galiziens als einem polnischen Piemont, werde Russland marschieren (Tagebuch Alexander v Helfert 2 7 1870) S  Frankfurter (Hg ), Erinnerungen Adolfs von Tschabuschnigg In: Archivalien zur neueren Geschichte Österreichs 2 (1932) 55–128; hier: 60–72; Carl v Stremayr, Erinnerungen aus meinem Leben (Wien 1899)

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Außenminister Beust – der als letzter dieser Spezies noch den Titel „Reichskanzler“ tragen durfte – nahm eine zwiespältige Position ein: Er stimmte in der Krise des Bürgerministeriums als Abgeordneter zwar mit der Majorität, vertrat inhaltlich aber das Programm Bergers und der Minorität Ihm wurde von vielen Liberalen in erster Linie die Schuld am Umschwung beigemessen Das vom ihm verkündete Programm klang gut, war aber zu allgemein, um die Befürchtungen seiner Kritiker zu zerstreuen Sein Ziel sei es, „das parlamentarische Regierungssystem zur Realität zu erheben“ 31 Just für den Tag nach der Ausschreibung der Neuwahlen war nach längeren Vorbereitungen in Wien eine „deutsche Parteikonferenz“ anberaumt Auch sie sollte ein Programm verabschieden – an prominente Redner waren deshalb Referate vergeben worden Die Organisation hatte der „Deutsche Verein“ in Wien unter Josef Kopp übernommen, der am linken Flügel der Liberalen angesiedelt war, oder wie es bald hieß: bei den „Jungen“, zum Unterschied von den „Altliberalen“ vom Schlage Pleners oder Felders Bereits die Wahl der Referenten ließ die Stoßrichtung erkennen: Rechbauer übernahm gleich zwei Referate; daneben schienen weitere Anhänger der Äußersten Linken auf wie Weichs und Pickert, oder Sympathisanten wie Sturm Die „Bürgerminister“ glänzten – bis auf Giskra – durch Abwesenheit Als Feigenblatt – oder als Brücke zu den konservativeren Strömungen innerhalb der Verfassungspartei – dienten zwei „Elder Statesmen“, Kaiserfeld und Graf Anton Auersperg, bekannt unter seinem Pseudonym als Schriftsteller: Anastasius Grün (der wegen Erkrankung dann in letzter Minute absagte) 32 Schließlich war das Herzstück der Partei, die starken Bataillone der Deutschböhmen, die im Reichsrat mehr als ein Drittel ihrer Mandate stellten, durch Franz Schmeykal vertreten, den Obmann des Prager Deutschen Casinos Die Referate der konservativen Aushängeschilder waren Themen gewidmet, die vor diesem Forum wenig kontrovers waren: Der Solidarität der Deutschen in Österreich (Auersperg), dem Festhalten am Dualismus (Kaiserfeld) und dem Beharren auf dem verfassungsmäßigen Wege (Schmeykal) Die drängenden Fragen waren den Autonomisten übertragen worden: Sturm das Konkordat, Weichs die Verminderung der Militärlasten, vor allem aber Rechbauer die beiden Zankäpfel, die intern umstritten waren: Die Antwort auf die galizische Resolution der Polen und die Reform der Reichsvertretung Kaiserfeld war vor kurzem zitiert worden, mit der Verabschiedung des ungarischen Ausgleichs hätten sich die Autonomisten überlebt;33 Rechbauer sah ihre Aufgabe noch nicht als erfüllt an, er nahm die Bezeichnung weiterhin ernst, musste allerdings erkennen, dass er damit nahezu allein auf weiter Flur stand Über die Sonderstellung 31

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Friedrich Ferdinand Graf von Beust, Aus drei Viertel-Jahrhunderten Erinnerungen und Aufzeichnungen, Bd  2: 1886–1885 (Stuttgart 1887) 143, 329 f , Heinrich Lutz, Österreich-Ungarn und die Gründung des Deutschen Reiches Europäisch Entscheidungen 1867–1871 (Frankfurt/M 1979) 133 f ; J Kwan, Liberalism (Anm  11) 74 Vgl Dietmar Scharmitzer, Anastasius Grün (1806–1876) Leben und Werk (Wien 2010) Kaiserfeld polemisierte in Privatbriefen bald danach gegen „autonomistische Gebilde“, Demokraten und „Liberalismusbrüller“; vgl F Krones, Kaiserfeld (Anm  13) 316 f, 331

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Galiziens waren die Meinungen geteilt 34 Man entschied sich, die Frage zunächst offen zu lassen, im Sinne eines Tauschobjekts, bis sich die Polen wiederum zur Beschickung des Reichsrates bereit erklärten 35 Eine generelle Erweiterung der Länderautonomie hingegen, wie Rechbauer sie als Beitrag zum Ausgleich in den Raum stellte, wurde bei über hundert Teilnehmern nur von drei oder vier Stimmen unterstützt 36 Die eigentliche Kampfabstimmung spielte sich jedoch um die Frage der Wahlreform ab Rechbauers Programm war bekannt Er hatte es als Reaktion auf eine Anfrage Giskras bereits im Herbst 1869 im steirischen Landtag vorgestellt 37 Er wollte nicht bloß Direktwahlen für den Reichsrat einführen, sondern viel weitergehend auch das „Gruppensystem“ der Wahlkurien abschaffen und einheitlich einen Abgeordneten auf je 50 000 Einwohner wählen lassen Das Herrenhaus sollte zu einer Länderkammer umfunktioniert werden Damit wäre die „Grafenbank“ gleich in beiden Häusern auf den Aussterbeetat gesetzt worden Die Reform des Herrenhauses wurde am Parteitag bewusst auf die lange Bank geschoben Umso heftiger entbrannte der Streit um die Beseitigung des „Gruppensystems“ Die Deutschböhmen – und zwar sowohl Schmeykal als auch Pickert, der Vertrauensmann des linken Flügels – erklärten „mit Rücksicht auf die nationalen Verhältnisse in ihrer Heimat der Beibehaltung des Großgrundbesitzes nicht entraten zu können“ 38 Zwei niederösterreicherische Abgeordnete, Ignaz Kaiser und Georg Granitsch, beschworen daraufhin die Deutschböhmen, im Interesse der Einigkeit das Opfer zu bringen, „nicht auf dieser schwankenden Stütze des Großgrundbesitzes zu beharren und lieber auf das Princip der Freiheit zu bauen“ Das Wiener Sprachrohr der Äußersten Linken, die ‚Morgen-Post‘, interpretierte diesen Appell so: Die Alpenländer hätten 34

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Als Gegner jeglicher Sonderstellung Galiziens erwies sich erwartungsgemäß Bürgermeister Seeliger von Biala, der deutschen Enklave in Galizien; vgl auch Lothar Höbelt, Das Verhältnis von polnischen und deutschen Liberalen im Rahmen der Habsburgermonarchie in der zweiten Hälfte des 19 Jahrhunderts In: Hans-Georg Fleck and Ryszard Kolodziejczyk (Hgg ), Liberale Traditionen in Polen (Warschau 1994) 159–178 Interessanterweise urteilte auch Ignaz Attems: „Die Sonderstellung, welche die Deutschtiroler ansprechen, kann ihnen noch weit weniger zugestanden werden als den Tschechen und Polen, für welche wenigstens ihre nationalen Eigentümlichkeiten sprechen …“ (Steiermärkisches Landesarchiv, Familienarchiv Attems 39, Nr  251, Brief vom 31 1 1870) Diese Motivierung durch Friedländer findet sich interessanterweise nicht im Bericht seiner eigenen Zeitung, der ‚Neuen Freien Presse‘, sondern im Bericht der Innsbrucker Nachrichten vom 25 5 1870 Die Wiener Vorstadt-Demokraten wurden später gern als Verbündete der Tschechen „angeschwärzt“ Doch zumindest die „Vorstadt-Zeitung“ hatte keinerlei Sympathien für föderalistische Experimente: „Das gute alte Recht der Czechen ist viel zu alt, um gut zu sein“ (1 7 1870) Die Föderalisten seien weniger gefährlich, „weil keine Regierung, sei sie so reaktionär wie sie sein wollte, mit ihnen paktieren kann “ (2 71870) F Krones, Kaiserfeld (Anm  13) 307 f , 314 Die deutschen „Sprachinsulaner“ in Mähren, wie z B Weeber aus Olmütz, wollten zumindest die Trennung in Stadt- und Landbezirke aufrechterhalten wissen; auch in dem Punkt widersprach ihm der Brauereibesitzer Schaup aus Zipf, „nur bei der Vereinigung von Stadt und Land seien in Oberösterreich liberale Wahlen möglich“

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aus nationaler Solidarität ihre autonomistischen Grundsätze verleugnet, als sie an der zentralistischen Verfassung festhielten Die Deutschböhmen sollten sich jetzt dafür revanchieren und in den „Freiheitsfragen“ den anderen Ländern anschließen Und tatsächlich: Bei der Abstimmung erzielte der Antrag auf Aufhebung des Gruppensystems eine Zwei-Drittel-Mehrheit – zumindest auf der Parteikonferenz Nun kamen von den knapp über hundert Teilnehmern fast genau die Hälfte aus den böhmischen Ländern Es muss sich also ein Teil von ihnen Rechbauer angeschlossen haben, z B Giskra, der als ehemaliger Brünner Bürgermeister nach Wien übersiedelt war oder der Rumburger Delegierte Aschenbrenner, der sich ebenso wie die Tiroler bereit erklärte, im Interesse der Einigung die Interessen seines Landes zurückzustellen Nach der Abstimmung erhob sich dann auch Schmeykal und erklärte im Namen seiner Landsleute, dass sie „sich der Majorität fügen, den eben gefassten Beschluss zu dem ihrigen machen und für ihn zu wirken entschlossen sind “ Die ‚Neue Freie Presse‘ – ihr Herausgeber Max Friedländer war selbst einer der Teilnehmer – kommentierte: „Da erhob sich ein Jubel, welchen zu schildern in der Tat unmöglich ist “ Die ‚Morgen-Post‘ hingegen notierte weit präziser und skeptischer, Schmeykal habe seine Erklärung abgegeben „unter der Verwahrung gegen die Verantwortlichkeit für die allfälligen üblen Folgen dieses Beschlusses“ 39 Die „Konstitutionelle Vorstadt-Zeitung“ als Sprachrohr der Radikalen – ihr Eigentümer Eduard Hügel kandidierte selbst für die „Vorstadt-Demokraten“ – hatte die Versammlung von Anfang an mit Skepsis beobachtet Aus ihrer Kritik sprach nicht zuletzt die Rivalität zur „Neuen Freien Presse“ 40 Den Ausdruck „Vertrauens-Männer“ für die Teilnehmer der Konferenz setzte die „Vorstadt-Zeitung“ unter Anführungszeichen, denn der „Deutsche Verein“ sei doch bloß gegründet worden, „um einem hiesigen Blatt als Armee zu dienen“ Es sei ihr ein Rätsel, wie es gelungen sei, Rechbauer in die Mitte dieser Versammlung zu locken Doch mit der Resolution erklärte auch sie sich einverstanden als „einem unwillkürlichen und nicht beabsichtigten Sieg der Demokratie“ Die Distanz zu den Männern des abtretenden Bürger-Ministeriums unterstrich das Blatt, wenn es schrieb: „Wir haben keine Freude an dem Ministerium Potocki, deshalb ist uns aber ein Ministerium Hasner-Herbst-‚Neue Freie Presse‘ noch lange nicht

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Der ausführlichste Bericht über die Debatte findet sich in NFP 24 5 1870, S  2–4; vgl jedoch auch Morgen-Post 23 5 1870, S  4 und Presse 23 5 1870, S  3–4 (dort auch eine Aufschlüsselung der Herkunft der Teilnehmer) Die Presse vermerkte auch als einzige, dass Sturm den Antrag stellte, dem Ministerium Potocki das Mißtrauen auszusprechen, man auf Anraten Rechbauers aber davon Abstand nahm Die ‚Neue Freie Presse‘ hatte sich 1864 von der erzzentralistischen, liberal-konservativen „alten“ ‚Presse‘ abgespalten und links von ihr positioniert (mit Eduard Herbst als Leitstern) Links von ihr hatte sich 1867 dann wiederum das ‚Neue Wiener Tagblatt‘ als Sprachrohr von Bergers Linker etabliert, noch weiter links standen die „Morgen-Post“, die mit Rechbauers Äußerster Linker sympathisierte, und die „Konstitutionelle Vorstadt-Zeitung“, die den Bereich der „Vorstadt-Demokraten“ abdeckte

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lieber “ Notabene: Auch Rechbauer war zwar in das Kabinett Potocki nicht eingetreten, hatte sich aber erfolgreich gegen den Antrag Sturms ausgesprochen, dem Ministerium das Misstrauen auszusprechen 41 4. Juni 1870: Die Schubumkehr am Lande Mit der Auflösung der Landtage war der Startschuss für den Wahlkampf gegeben Die „Morgen-Post“ formulierte bereits am Tag danach siegesbewusst Bisher sei es darum gegangen, überhaupt eine Verfassung zu bekommen Als nächste Stufe gäbe es jetzt „keine andere Aufgabe […] als die Verfassung im freiheitlichen, demokratischen Geiste einer Revision zu unterziehen“ und den Reichsrat zu „einem Voll- und Volksparlament zu machen“ 42 Doch die Wahlen endeten für die Liberalen, gerade für ihren fortschrittlichen Flügel, mit einer bösen Überraschung Die Landgemeinden in Oberösterreich – und in Vorarlberg43 – wählten ausnahmslos, in der Steiermark mehrheitlich (elf von fünfzehn Sitze) „schwarz“ Unter den gewählten Abgeordneten befanden sich eine Menge der liberalen Feindbilder par excellence, „feudale Grafen“,44 Priester – und Bauern Für den Kenner mochten allenfalls immer noch gewisse Nuancen erkennbar sein So unterschied der zuständige Beamte in der Linzer Statthalterei unter der Riege der neugewählten Bauern fein säuberlich zwischen „ultraklerikal“, „Werkzeug der klerikalen Partei“ und „zwar religiös, aber nicht ultramontan“ 45 Auch in Niederösterreich waren Verluste zu verzeichnen, vor allem in den Bezirken im Westen, an der oberösterreichischen Grenze Der alte Paulskirchen-Abgeordnete Ignaz Kaiser verlor seinen Sitz im Waldviertel 46 Präzise Angaben über das Votum der „Urwähler“ lassen sich nicht erheben, doch es kann wohl kaum ein Zweifel bestehen: Der politische Katholizismus war aus seinem Tiroler Ghetto ausgebrochen Gerade in den rein deutschen Ländern hatte die Mehrzahl der Bevölkerung 41 42 43

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Konstitutionelle Vorstadt-Zeitung (KVZ) 24 5 1870 Morgen-Post 24 5 1870 In Vorarlberg ist auffällig, dass 1867 hier die Liberalen noch nahezu unangefochten dominierten; vgl Benedikt Bilgeri, Geschichte Vorarlbergs, Bd   IV (Wien 1982) 374; Karin Schneider (Hg ), „Einige Notizen aus meinem Leben“ Die Memoiren des Vorarlberger Landtags- und Reichsratsabgeordneten Martin Thurnher (1844–1922) (Regensburg 2005) 39 ff In der Steiermark ergaben sich hier besonders pikante Querverbindungen: Kaiserfeld wurde 1870 in seinem Wahlkreis von einem Freiherrn von Gudenus geschlagen, bei dessen Vater er Jahrzehnte zuvor als Amtmann und Verwalter seine Laufbahn begonnen hatte; Minister Stremayr wiederum hatte als alter „Achtundvierziger“ ebenfalls eine Gudenus geheiratet OÖLA, Statthalterei Karton 685, Präs 984/1398, Verzeichnis der Landtagsabgeordneten KVZ 22 6 1870 Die drei Wahlbezirke waren Waydhofen/Ybbs, Amstetten und Horn Der Znaimer Stadtsekretär Fux, einer der Wortführer des Kulturkampfes in den siebziger Jahren, unterlag in den angrenzenden Landgemeindenbezirk Südmährens mit einer Stimme – in diesem Fall war die Wählerschaft beider Parteien tatsächlich eine national gemischte; vgl den Bericht in Presse 26 6 1870, S  2/3

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der „deutschen Partei“, die allen anderen diesen Titel absprechen wollte, den Rücken gekehrt Auffällig an dieser Umwälzung war nicht allein ihr Ausmaß, sondern das Überraschungsmoment, das damit verbunden war Die steirischen Wahlen kommentierte der Korrespondent der „alten“ ‚Presse‘: „Sagen wir’s offen heraus: Wir haben gestern eine Niederlage erlitten, wie sie kein Verfassungsfreund gefürchtet hatte, wie sie nicht einmal ‚die Schwarzen‘ in ihren kühnsten Träumen erwartet haben mochten […] Daß die Landbevölkerung so gründlich bearbeitet und verhetzt sei, wusste Niemand, nicht einmal die Intelligenz der inmitten der Landgemeinden gelegenen Märkte Umso größer die Überraschung und Bestürzung, als im Laufe des gestrigen Tages Hiobspost auf Hiobspost kam “47 Auch die „Vorstadt-Zeitung“ schob zwar die Schuld an der Niederlage auf das zögernde Vorgehen der Liberalen gegen die klerikale „Reaktion“ („man kann nicht liberal sein und höfliche Grüße mit den Klerikalen tauschen“), hatte aber selbst noch vor kurzem frohgemut erklärt: „Als neuer Gegner tritt heuer auch die katholische Partei auf […] Von diesem Gegner ist bei uns nicht viel zu fürchten “48 Wieso konnte der Wahltag eine solche Überraschung bringen? Die „Urwahlen“ in den Gemeinden hatten ja schon in den Wochen zuvor stattgefunden Die Bezirkshauptleute hatten intern offenbar auch bereits entsprechend berichtet Wieso war den Liberalen die Gefahr nicht schon damals bewusst geworden? Ein mögliches Erklärungsmuster lautet: Vielleicht, weil die gleichen Wahlmänner gewählt worden waren wie beim letzten Mal – die nur diesmal für einen anderen Kandidaten votierten Ein Unterschied war zweifellos: Im April 1867 war der Grazer Bischof Graf Ottokar Attems gestorben, ein weitschichtiger Verwandter von Ignaz, der sein Amt in josephinischer Tradition verwaltete und jegliche politische Agitation zu bremsen trachtete Sein aus Tirol stammender Nachfolger Johann Baptist Zwerger kannte derlei Hemmungen nicht 49 Übrigens übernahmen mit Graf Heinrich Brandis und Baron Adalbert Buol-Bernburg zwei Tiroler auch die Führung der Katholisch-konservativen Volksvereine in Oberösterreich und in der Steiermark, die 1868 gegründet worden waren, als Reaktion auf die liberalen Maigesetze – unter Ausnützung des von den Liberalen reformierten Vereinsrechts In Oberösterreich sollen im ersten Monat bereits 10 000 Anmeldungen eingetroffen sein Die „Vorstadt-Zeitung“ rügte an den Liberalen übrigens, dass sie den örtlichen katholischen Casinos nichts entgegenzusetzen hätten, als einem „Netz von Volks-Vergnügungslokalen“ und „Geselligkeitsvereinen mit politischem Hintergrund“,

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Presse 26 6 1870, S  3; nachgedruckt in Linzer Volksblatt 27 6 1870, S  1 KVZ 29 5 u 18 6 1870 Edith Marko-Stöckl, Die Entwicklung des katholisch-konservativen Lagers in der Steiermark 1861–1874 In: Zeitschrift des historischen Vereines für Steiermark 87 (1996) 219–254; hier: 221, 233, 237 ff ; vgl auch Franz Frh v Oer, Fürstbischof Johannes Bapt Zwerger von Seckau in seinem Leben und Wirken (Graz 1897)

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das mehr Resonanz fand als herkömmliche Versammlungen 50 Notabene: Die Wahlen vom Juni 1870 fielen noch in die Wochen vor der – mit dem Unfehlbarkeitsdogma motivierten – Kündigung des Konkordats Ende Juli bzw der Einnahme Roms und dem Gefecht an der Porta Pia am 20 September Die Mobilisierung der erzürnten Katholiken wäre sonst vielleicht noch vehementer ausgefallen Auf die Zusammensetzung des Abgeordnetenhauses hatte der politische Erdrutsch in den Landgemeinden allerdings keine allzu schwerwiegenden Auswirkungen Der Verlust der Liberalen betrug auf Grund der Tücken der Wahlordnung per Saldo nur fünf von über hundert Mandaten: Gut, die Liberalen verloren die zwei Vorarlberger Sitze und mussten aus den oberösterreichischen Landgemeinden nolens volens vier „Klerikale“ für den Reichsrat nominieren Doch in der Steiermark kamen sie ohne jeglichen Verlust davon, weil sie zwar zwei Sitze in der Gruppe der mittel- und weststeirischen Landgemeindenbezirke verloren, wo nur mehr „Schwarze“ zur Auswahl standen, die Slowenen aber dafür den untersteirischen Bezirk Marburg Land eingebüßt hatten: Die deutschliberale Mehrheit konnte deshalb für die Untersteiermark zwei ihrer Gesinnungsgenossen nominieren In Niederösterreich gewann sie sogar ein Mandat – und zwar im Großgrundbesitz, der beim letzten Mahl fast nur Konservative in den Landtag entsandt hatte 51 Diesmal einigte man sich auf eine Kompromissliste, die zehn konservative und fünf liberale – oder doch zumindest indifferente – Kandidaten umfasste: Die Konservativen hatten damit ihren Ehrenstandpunkt und ihre Vertretung im Landtag gewahrt; die Liberalen aber konnten aus der Kurie des Großgrundbesitzes anstandslos fünf mehr oder weniger liberale, aber immerhin verfassungstreue Abgeordneten in den Reichsrat wählen 52 Auch in Oberösterreich erwarb sich ausgerechnet der Großgrundbesitz große Verdienste um die Sache der Verfassungstreuen: Die ‚Neue Freie Presse‘ hatte den obderennsischen Landtag nach den ersten Hiobsbotschaften schon völlig abgeschrieben Sobald die Landgemeinden komplett „schwarz“ votierten, lag die Entscheidung über die Mehrheit beim Großgrundbesitz, von dem „auch nichts mehr zu hoffen ist“ (denn schon beim letzten Mal waren hier mehr Konservative als Verfassungstreue gewählt 50 51

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KVZ 4 7 1870; H Slapnicka, Christlichsoziale (Anm  21) 31 f Bei den knappen Mehrheitsverhältnissen in Niederösterreich konnte es durchaus vorkommen, dass die zehn Stimmen der kaiserlichen Familie den Ausschlag gaben Im Jahre 1867 war noch offen abgestimmt (und in der ‚Presse‘ eine Wählerliste veröffentlicht worden), 1870 wurde hier als einem der wenigen Länder bereits geheim mit Stimmzettel gewählt – für den Historiker freilich ein Verlust Neue Freie Presse, 30 6 u 1 7 1870, S  3; zur Reichsratswahl 28 8 1870, S  5 Die fünf geduldeten Liberalen umfassten neben dem Grafen Kielmansegg (nicht zu verwechseln mit dem späteren Ministerpräsidenten!), den irenischen Abt Helferstorfer des Wiener Schottenklosters, einen Grafen Attems aus einer Seitenlinie der steirischen Familie, den Baron Gustav Suttner – der laut ‚Neue Freie Presse‘ „im letzten Moment ins jenseitige Lager desertiert“ sei – und Adolf Bäuerle Tinti scheiterte knapp in einer Stichwahl, hatte sich aber vorsorglich bereits in der Städtekurie wählen lassen

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worden) 53 Exponierte Liberale wie der Freiherr Friedrich von Weichs  – oder Fürst Camillo Starhemberg – hatten sich deshalb sicherheitshalber schon von einer Stadtgemeinde in den Landtag wählen lassen Nun war im oberösterreichischen Großgrundbesitz der Adel von zwei Gruppen von Wählern eingerahmt, die üblicherweise in dieser Kurie kein Stimmrecht besaßen: Einer Reihe von (meist liberalen) städtischen Hausbesitzern und einer Schar (konservativer) geistlicher Pfründeninhaber Das Wahlrecht beider Ausnahmeerscheinungen warf immer wieder diffizile rechtliche Fragen auf 54 Als ominöses Zeichen galt auch, dass der Kaiser – als Großgrundbesitzer ebenfalls stimmberechtigt – diesmal dem konservativen Grafen Julius Falkenhayn, dem späteren langjährigen Ackerbauminister der achtziger Jahre, seine Vollmacht anvertraut hatte 55 Dafür warf sich auf der anderen Seite der erste Ministerpräsident des „Bürgerministeriums“, Fürst „Carlos“ Auersperg höchstpersönlich in die Schlacht: Er machte seinen Freunden unmissverständlich klar, dass ihre einzige Erfolgschance darin bestünde, schwankende Wähler zu sich herüber zu ziehen, schlimmstenfalls dadurch, sie mit auf die Kandidatenliste zu nehmen, nicht bloß – wie beim letzten Mal – den Abt Augustin Reslhuber von Kremsmünster als ausgleichenden Landeshauptmannstellvertreter,56 sondern z B auch den Statthalter Grafen Karl Hohenwart, schon wenige Monate später als konservativer Ministerpräsident (ab Februar 1871) ein rotes Tuch für die Liberalen, damals noch ein weitgehend unbeschriebenes Blatt, oder den Baron Rudolf Handel, einen vortrefflichen Juristen, wie selbst die ‚Neue Freie Presse‘ zugab, „aber ein entschieden Clerikaler, um nicht zu sagen Betbruder“ 57 Auch Graf Friedrich Dürckheim, ein eigenwilliger Charakter und ehemaliger Flügeladjutant des Kaisers, der zwischen autonomistischen und föderalistischen Positionen oszillierte und sich 53

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Vgl Jutta Martinek, Materialien zur Wahlrechtsgeschichte der Großgrundbesitzerkurie in den österreichischen Landtagen seit 1861 (phil Diss Wien 1977) 127–131; H Slapnicka, Führungsschicht (Anm   12) 233 Gewählt wurden neben Reslhuber fünf „Feudale“ und vier „Liberale“ Die Wahl hatte noch unter der Ägide Belcredis stattgefunden Das Presse-Echo war äußerst gering Für 1870/71 weist die Wählerliste – bei 110 Wahlberechtigten – 26 Hausbesitzer und elf Pfarrhöfe aus Den Hausbesitzern wurde 1884 endgültig das Wahlrecht entzogen; die Zahl der wahlberechtigten Pfarrhöfe stieg bis 1896 auf 36; vgl Linzer Zeitung 15 8 1871, 15 9 1896; Konrad Meindl, Leben und Wirken des Bischofs Franz Josef Rudigier in Linz (Linz 1892) 287 ff ; J Martinek, Materialien (Anm  53) 131, 142, 150, 154 HHStA, Nl Plener 6, Ignaz an Ernst, 28 6 1870 Über Reslhuber hieß es in den Beurteilungen der Statthalterei, er „entziehe sich im Landtag in religiösen und Schulfragen der Abstimmung“, gehe aber „im übrigen mit der Regierung“ und sei von „loyaler und patriotischer Gesinnung“ Zum Landeshauptmann eigne er sich jedoch nicht, weil ihm „Geschäftskenntnis und Entschiedenheit“ fehlten; vgl OÖLA, Statthalterei Karton 685, Präs 984/1398, Verzeichnis der Landtagsabgeordneten Reslhuber war vor seiner Wahl zum Abt Direktor der Sternwarte gewesen und blieb von 1866 bis zu seinem Tod 1875 Präsident der Landwirtschaftsgesellschaft (Linzer Tagespost 17 12 1895, S  3) Diese Einschätzung wird von der Familienüberlieferung bestätigt Die bekannte Schriftstellerin Enrica v Handel-Mazzetti (1871–1955) war die Großnichte Siegmunds Ich danke Norbert von Handel für seine liebenswürdigen Informationen zur Familiengeschichte

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beim Zerfall des Bürger-Ministeriums auf die Seite Potockis und Taaffes gestellt hatte, wurde allen Bedenken zum Trotz wieder kandidiert 58 Diese Anbiederung an diverse unsichere Kantonisten erregte mancherorts sichtlich Unwillen, aber Auersperg nahm den verfassungstreuen Wählern ihr Ehrenwort ab, auf Extratouren zu verzichten und Abstimmungsdisziplin zu wahren Wie Friedrich der Große vor Leuthen erklärte er der Wählerversammlung: Es solle selbstverständlich auf niemanden eine Pression ausgeübt werden Charakterfestigkeit in der Politik verdiene volle Achtung, welcher Partei sie auch zugutekomme Aber jeden Ehrenmann, welcher nicht für seine Liste zu stimmen gedenke, fordere er auf, mit offenen Karten zu spielen und den Raum zu verlassen Der Bericht endete: „Allgemeines Schweigen folgte diesen Worten: Einer der ‚Unentschiedenen‘ blickte nach dem Anderen – und Alle blieben “59 Der Wahlkampf der Gegenpartei folgte demselben Muster Falkenhayn setzte als Lockvogel zum Entsetzen vieler seiner Gesinnungsgenossen ausgerechnet den Fürsten Camillo Starhemberg auf die Kandidatenliste, der sich eine Zeitlang den Ruf eines „roten Prinzen“ erwarb Graf Friedrich Revertera, der eigentliche Kopf der oberösterreichischen Konservativen, war entsetzt, weil er Camillo für den „missratensten der oberösterreichischen Cavaliere“ hielt Auch andere Kandidaten seien „als Halbliberale oder als Convertiten bekannt“ 60 Der Abt von Lambach soll aus dem konservativen Wahlkomitee ausgetreten sein, weil ihm der verwaschene Charakter der Liste nicht behagte Doch zumindest Starhemberg befreite die Konservativen von ihren Gewissensqualen: Er sei zwar überzeugt, sich mit Falkenhayn verständigen zu können, doch mit anderen nie und nimmer Er müsse sich daher in aller Öffentlichkeit distanzieren, wenn er weiterhin als konservativer Kandidat gehandelt würde 61 Die Taktik Auerspergs ging auf: Die verfassungstreue Liste ging mit 61 gegen 49  Stimmen durchs Ziel Falkenhayn hätte es mit 53 von 110 Stimmen beinahe geschafft, er geriet als einziger der konservativen Kandidaten wenigstens in eine Stichwahl Die konservative Presse kritisierte, mindestens sieben Stimmen seien bloß durch anfechtbare Entscheidungen der Wahlkommission zugelassen worden Von den zehn Gewählten zählten immerhin fünf zu den Verfassungstreuen „ohne wenn und aber“

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Drei von den liberalen Kandidaten des Jahres 1870, Dürckheim, Handel und Franz Seyrl, wurden im kommenden Jahr dann auf der konservativen Liste Falkenhayns gewählt! Vgl H Slapnicka, Führungsschichten (Anm  12) 197, 237 Neue Freie Presse 5 7 1870, S  4 HHStA, Schlossarchiv Walpersdorf VII: Korrespondenz Falkenhayn 19 Jahrhundert P-W, Brief Reverteras vom 17 6 1870 Ebd , Brief Starhembergs vom 17 6 1870 Starhemberg erweckte den Ingrimm der Gralshüter beider Seiten Auch die Neue Freie Presse (14 6 1870, S  3) mäkelte, er habe sich „bisher nur als kühner Rosselenker bemerkbar gemacht […] Über die politische Farbe dieses jungen Cavaliers herrscht vollständiges Dunkel “

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Um die Mehrheit im Landtag zu behalten, reichte dieses Ergebnis aus 62 Diese jüngsten oberösterreichischen Nachrichten waren noch gar nicht in Wien eingetroffen, als die ‚Neue Freie Presse‘ schon ihre Schlussfolgerungen präsentierte: Daß der Reichsrath nicht zum Tummelplatz einer ultramontan-feudal-föderalistischen Majorität wird, das hat Österreich den von den Confus-Radicalen so viel verlästerten böhmisch-mährischen ‚Centralisten‘ zu danken

Tatsächlich fasste der politische Katholizismus in den böhmischen Ländern erst sehr viel später Fuß, und mit sehr viel weniger Durchschlagskraft – und zwar sowohl bei den Tschechen als auch den Deutschen Dafür war es in Böhmen und Mähren natürlich erst recht der Kampf um ein paar Dutzend Stimmen im Großgrundbesitz, der alle Aufmerksamkeit auf sich zog Der Erdrutsch in den Alpenländern hatte unmittelbar viel weniger dramatische Auswirkungen und wurde von den staatsrechtlichen Debatten der Jahre 1870/71 zunächst noch überlagert Aber das Menetekel der Richtungswahlen des Sommers 1870 war sehr wohl registriert worden Es ist kein Zufall, daß gerade in den dem Reichsgedanken am treuesten anhängenden Ländern die clericale Partei nur unwesentliche Erfolge errungen, daß dagegen der Ultramontanismus in der Heimat der sogenannten Autonomisten sich großer Triumphe rühmen darf 63

Vor Tische las man’s anders Sechs Wochen vorher hatten die Zeitung und einer ihrer Herausgeber noch das Eingehen der „Centralisten“ auf die Anträge der „Confus-Radikalen“ mit Begeisterung begrüßt Jetzt hieß es über die Konferenz vom April nur mehr wegwerfend: „Ein Programm ist bindend für die Teilnehmer […]; darüber hinaus reicht seine Wirksamkeit nicht “64 5. Fazit: Das Dilemma der „Demokraten“ Der linke Flügel der Liberalen, die auf eine Ausweitung und Egalisierung des Wahlrechts bedachte „demokratische“ Strömung war von den unerwarteten Nebenwirkungen des Kulturkampfes doppelt getroffen worden Als deutsche Partei – und gerade für die Autonomisten war das nationale Element besonders bedeutsam – war die Egalisierung des Wahlrechts immer schon ein zweischneidiges Schwert Sobald tatsächlich ein Abgeordneter auf je 50 000 Einwohner entfiel, war eine deutsche Mehrheit im Reichs62 63 64

Interessanterweise findet sich das genaue Wahlergebnis nur im (konservativen) ‚Vaterland‘ vom 5 7 1870; die meisten liberalen Blätter schienen darin eine gewisse Peinlichkeit zu erblicken NFP 29 6 1870 NFP 7 7 1870

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rat unmöglich Seit den Wahlen des Sommers 1870 war klar geworden, dass dieselbe Schlussfolgerung auch für die Liberalen in den deutschen Kronländern zutraf Die Mehrheit stand ganz offensichtlich nicht auf ihrer Seite Das war keine Überraschung für die ‚Neue Freie Presse‘, die schon vor Beginn des Wahlkampfes geschrieben hatte: „An Kopfzahl überragt heute schon die feudal-clerical-nationale Coalition weit die liberal-österreichische Partei; auf unserer Seite steht die Macht des Rechtes und der Bildung “65 Aber es war eine bittere Pille für die „Demokraten“, wenn sie der ‚Neuen freien Presse‘ insgeheim recht geben mussten Die Deutschliberalen drohten zwischen (möglicherweise liberalen, aber sicher nicht deutschen) Slawen und (möglicherweise deutschen, aber sicher nicht liberalen) „Klerikalen“ zerrieben zu werden Erwehren konnten sie sich dieses Zangenangriffs nur mehr auf Grund der Besonderheiten des Kurienwahlrechts, der Großgrundbesitzer und des überdimensionierten Gewichts der (Klein-)Städte Das galt inzwischen nicht mehr bloß für Böhmen und Mähren, sondern auch für fast alle Alpenländer Die großzügige Erweiterung des Wahlrechts, wie sie noch kurz zuvor eifrig diskutiert worden war, verschwand damit nachhaltig von der Tagesordnung Der Tenor lautete: Es sei noch viel „Erziehungsarbeit“ nötig, bevor man sich auf dieses Experiment einlassen könne „Die Unwissenheit der ländlichen Massen zu vermindern ist nicht binnen Jahresfrist, sondern frühestens im Laufe zweier Menschenalter möglich “66 Die Liberalen setzten nach dem gescheiterten föderalistischen Experiment des Grafen Hohenwart 1873 endlich die Direktwahlen in den Reichsrat durch 67 Zwar waren jetzt wirklich alle „Zehn-Gulden-Männer“ wahlberechtigt Doch die Stellung des Großgrundbesitzes wurde dabei nur unmerklich reduziert; die Städtekurie sogar noch aufgewertet 68 Schließlich, weit schlimmer noch für die Betroffenen, die „Demokraten“ vom Lande fielen höchstpersönlich dem Ansturm des politischen Katholizismus zum Opfer: Die Hochburgen der überzeugten Autonomisten, die oberösterreichischen und steirischen Landgemeinden, wurden 1870 von der „schwarzen Flut“ erfasst 69 Die schweigende Mehrheit der Landgemeinden erfuhr eine Schubumkehr  – ihre Gravamina70

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NFP 12 6 1870 NFP 5 7 1870 Thomas Olechowski, Die Lassersche Wahlreform Der Kampf um die Einführung der Volkswahl des cisleithanischen Abgeordnetenhauses 1871–1873 In: Parliaments, Estates & Representation 22 (2002) 147–167; Lothar Höbelt, Devolution Aborted: Franz Joseph I and the Bohemian ‚Fundamental Articles‘ of 1871 In: Parliaments, Estates & Representation 32 (2012) 37–52 Die Städtekurie verfügte ab 1873 über 39 % der Sitze (vorher: 33 %), die Landgemeinden über 37 % (vorher 39 %), der Anteil des Großgrundbesitzes ging von 28 % auf 24 % zurück Unrecht hatte die KVZ allerdings mit ihrer Schlussfolgerung, dass „es eben der Liberalismus und nicht der Radicalismus ist, welcher die demütigende Niederlage erleidet“ (21 6 1870) Vgl als einen typischen Fall solcher Gravamina: Lothar Höbelt, Das Janusgesicht des liberalen Rechtsstaates Die Debatte über den „Legalisierungszwang“ 1870/71 In: Wilhelm Brauneder  & Milan Hlavacka (Hgg ), Bürgerliche Gesellschaft auf dem Papier: Konstruktion, Kodifikation und Realisation der Zivilgesellschaft in der Habsburgermonarchie (Berlin 2014) 65–82

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wurden in Zukunft von Adel und Kirche vertreten, von den „Konservativen“, die in erster Linie Katholisch-Konservative waren Das soziale Substrat blieb freilich das gleiche: Als Hans Kudlich, der gefeierte „Bauernbefreier“ von 1848, ein Vierteljahrhundert nach seiner großen Zeit die alte Heimat besuchte, war er entsetzt, dass viele seine damaligen Anhänger inzwischen für die „Reaktion“ kämpften: Ein Abgeordneter, der Bürgermeister von Laakirchen, Leopold Sonntag, personifizierte diesen Wandel Er hatte 1848 im Kremsierer Reichstag zu den Anhängern Kudlichs auf der Linken gehört 1870 zog er für die Konservativen in den Landtag ein 71 Dem russischen Anarchisten Bakunin wird das Zitat zugeschrieben: „Das allgemeine Wahlrecht ist die Gegenrevolution“72 Diese Beobachtung war in erster Linie auf Napoleon III gemünzt, der seine Herrschaft plebiszitär absegnen ließ Die französische Revolution von 1848 hatte sich nicht zuletzt an den restriktiven Bestimmungen des geltenden Wahlrechts entzündet 73 Napoleon hatte die Revolutionäre beim Wort genommen und in dieser Beziehung links überholt Bismarck  – mit dem Zollparlament – und Disraeli – mit seiner „Tory Democracy“ – nahmen sich an diesem Beispiel ein Vorbild 74 Die österreichischen Konservativen haben mit ähnlichen, allerdings weniger weitreichenden Konzepten 1870/71 zumindest geliebäugelt Doch die liberale Wahlreform von 1873 hielt am Privilegium von Besitz und Bildung fest  – und an der Benachteiligung der Landgemeinden Erst 1907 wurde das allgemeine und gleiche Männerwahlrecht eingeführt 75 Es machte die Parteien des politischen Katholizismus zur stärksten Kraft im Abgeordnetenhaus Auch die Wiener Vorstadt-Demokraten hatten sich im Zeichen Luegers inzwischen übrigens in dieses Lager begeben

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In der Statthalterei hieß es über Sonntag von oben herab, er sei „ein achtbarer Mann“, der freilich „weder durch Begabung noch Leistung seine Berufsgenossen überragt“; OÖLA, Statthalterei Karton 685, Präs 984/1398, Verzeichnis der Landtagsabgeordneten; vgl auch Hans Kudlich, Rückblicke und Erinnerungen, Bd  3 (Wien 1873) Klaus v Beyme, Politische Theorien in Russland 1789–1945 (Wiesbaden 2001) 141 Munro Price, The Perilous Crown: France Between Revolutions, 1814–1848 (London 2007) Maurice Cowling, 1867, Disraeli, Gladstone and Revolution: The Passing of the Second Reform Bill (Cambridge 1867) Das Frauenwahlrecht verschaffte den Christlichsozialen dann nach 1918 noch weiteren Auftrieb Bei den Nationalratswahlen 1920 erhielt die Partei 46 % der Frauen-, aber nur 37 % der Männerstimmen; vgl Lothar Höbelt, Die Erste Republik Österreich 1918–1938: Das Provisorium (Wien 2018) 79

Die Spaltung des politischen Katholizismus in der Pfalz 1918–1924 Gerhard Nestler 1. Zentrum oder Bayerische Volkspartei? Am 15 November 1918 veröffentlichten die pfälzischen Tageszeitungen den Aufruf einer Bayerischen Volkspartei (BVP), die einige Tage zuvor auf einer Konferenz der Christlichen Bauernvereine in Regensburg gegründet worden war 1 Die Führer der Partei, Georg Heim und Christian Schlittenbauer, hatten die von der Revolution im bürgerlichen Lager ausgelöste Unsicherheit dazu genutzt, die schon längere Zeit geplante Trennung von der Zentrumspartei in die Tat umzusetzen Hauptursachen für die Gründung der BVP waren die Zusammenarbeit des Zentrums mit den Linksliberalen und den Sozialdemokraten im Interfraktionellen Ausschuss während des Krieges und die Unitarisierungstendenzen in Teilen der Partei, die nach Meinung der BVPGründer die föderalistische Grundstruktur des Deutschen Reiches und damit die spezifischen Interessen Bayerns immer mehr in Frage stellten Am gleichen Tag noch sanktionierte der Neunerausschuss des bayerischen Zentrums gegen die Stimmen der Arbeitervertreter die Gründung der BVP und empfahl allen Parteimitgliedern, in die neugebildete Partei einzutreten, um eine Spaltung des politischen Katholizismus in

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Vgl Rheinisches Volksblatt v 15 11 1918 („Wir und die Revolution“); zur Gründung der BVP sei vor allem verwiesen auf Klaus Schönhoven, Die Bayerische Volkspartei 1924–1932, Düsseldorf 1972, 17–22; Günter Wirth / Manfred Weißbecker, Bayerische Volkspartei (BVP) 1918–1933, in: Dieter Fricke u a (Hrsg ), Die bürgerlichen Parteien in Deutschland, Bd   1, Leipzig 1968, 79–98; Richard Keßler, Heinrich Held als Parlamentarier, Berlin 1971, 321–340; Renate Höpfinger, Die Gründung der Bayerischen Volkspartei Anmerkungen zu Sebastian Schlittenbauer, in: Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte 63, 2000, 185–197; und Claudia Friemberger, Sebastian Schlittenberger und die Anfänge der BVP, St Ottilien 1998

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Bayern zu verhindern 2 Zehn Tage später, am 25 November, beschloss auch der Große Ausschuss der pfälzischen Zentrumspartei den Anschluss an die BVP 3 Die Zentrumspartei war 1870 entstanden und ging aus der katholischen Fraktion des preußischen Abgeordnetenhauses hervor Ihren Ursprung hatte sie in dem seit den späten 1820er Jahren immer deutlicher werdenden Antagonismus von katholischem Milieu und säkularisiertem Staat Zwar verstand sie sich nicht ausdrücklich als katholische Partei, wurde nach der Gründung des Kaiserreichs, das von Anfang an unter der Vorherrschaft des preußischen Protestantismus stand, aber schnell zum politischen Sammelbecken der katholischen Minorität im Land 4 In der Pfalz verzichteten die katholischen Honoratioren lange Zeit auf festere organisatorische Zusammenschlüsse und beschränkten sich in der Regel darauf, vor den Wahlen lokale Wahlkomitees zu bilden, die die Kandidaten nominierten, Wahlaufrufe in der Presse veröffentlichten und die ein oder andere öffentliche Versammlung organisierten, sich nach Abschluss der Wahlkämpfe aber wieder auflösten Zur Gründung einer Zentrumsorganisation kam es erst im Dezember 1881 Unmittelbarer Anlass waren die Stimmenverluste bei der einige Wochen zuvor durchgeführten Reichstagswahl, die zu einem nicht unerheblichen Teil auf die fehlende Parteiorganisation zurückgeführt wurden Der weitere organisatorische Ausbau der Partei verlief dann aber äußerst schleppend Ein für alle verbindliches Parteistatut wurde erst im September 1910 beschlossen Es sah die Organisation der Partei nach Landtagswahlkreisen und die Bildung eines Großen und eines Engeren Ausschusses als höchste Gremien neben dem Parteivorstand vor Bei den Wahlen zur Verfassungsgebenden Nationalversammlung am 19 Januar und zum bayerischen Landtag am 2 Februar 1919 trat das pfälzische Zentrum dann zum ersten Mal mit dem neuen Namen „Bayerische Volkspartei“ an Nach der Wahl schlossen sich die gewählten Kandidaten sowohl in der Nationalversammlung als auch im Landtag den Fraktionen der BVP an Hatte die pfälzische BVP im Wahlkampf noch große Geschlossenheit demonstriert und für ihr Programm einer „christlichen Demokratie“ geworben, so zeigte sich nach den Wahlen bald, dass ein tiefer Riss durch die Partei ging Ein Teil der Mitglieder und Wähler teilte die Kritik Heims und Schlittenbauers am Zentrum und hatte den Anschluss des pfälzischen Zentrums an die neue BVP ausdrücklich begrüßt Ihr prominentester Vertreter war der Kaiserslauterer Justizrat Wilhelm Wadlinger Ihnen gegenüber stand eine zentrumstreue Gruppe, die den 2 3 4

Vgl Schönhoven, Bayerische Volkspartei (wie Anm  1), 21–22, und Keßler, Heinrich Held (ebenfalls wie Anm  1), 333–337 Gerhard Nestler, Der politische Katholizismus der Pfalz zwischen Novemberrevolution und Nationalversammlung In: Mitteilungen des Historischen Vereins der Pfalz 99, 2001, 293–322, hier 303–307 Karl-Egon Lönne, Politischer Katholizismus im 19 und 20 Jahrhundert, Frankfurt 1986, 151–192; Rudolf Morsey, Der politische Katholizismus, in: Der soziale und politische Katholizismus Entwicklungslinien in Deutschland 1803–1963, hrsg v Anton Rauscher, München 1981, 110–164

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Anschluss nur widerwillig mitgemacht hatte, um die Einheit der Partei zu erhalten, sich aber nach wie vor als Teil des Reichszentrums fühlte Angeführt wurde sie von dem Reichstagsabgeordneten und 2 Parteivorsitzenden Hermann Hofmann aus Ludwigshafen5, den Führern der Christlichen Gewerkschaften und Vertretern der Katholischen Arbeitervereine 6 Die „Kölnische Volkszeitung“ hat die Situation in der Pfalz wenig später prägnant zusammenfasst: In der Pfalz sind innerhalb der Wählerschaft der Bayerischen Volkspartei zwei Richtungen vorhanden, die eine, welche vollständig und endgültig in der Bayerischen Volkspartei aufgehen möchte, und eine andere Richtung, welche die Wiedervereinigung mit dem Zentrum erstrebt 7

Die innerparteiliche Spaltung der pfälzischen BVP hatte seine Ursache in der großen sozialen und politischen Heterogenität, die den politischen Katholizismus auch in der Pfalz von Anfang an prägte Während sich der Zentrumsflügel offen zur Republik bekannte und dem monarchischen System der Zeit vor 1918 mittlerweile kritisch gegenüberstand, für einen gemäßigten föderalistischen Aufbau des Reiches plädierte, dabei aber den Vorrang des Reiches vor den Ländern akzeptierte, die Zusammenarbeit mit der SPD unterstützte, eine Kooperation mit der DNVP aus innen- und außenpolitischen Gründen dagegen lange Zeit grundsätzlich ablehnte, vertrat der BVP-Flügel in all diesen Fragen gänzlich unterschiedliche Ziele Seine Anhänger waren zum großen Teil nach wie vor monarchistisch gesinnt, vertraten einen extremen föderalistischen Standpunkt und forderten die Revision der Weimarer Reichsverfassung und die Wiederherstellung der bayerischen Reservatrechte, kritisierten die Zusammenarbeit mit der SPD scharf, definierten die BVP als „Rechtspartei“ und sahen daher in der DNVP und ihrem bayerischen Pendant, der Mittelpartei, schon bald einen natürlichen Bündnispartner Entsprechend unterschiedlich wurde auch die Bildung der sogenannten Weimarer Koalition aus SPD, Zentrum und der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei (DDP) gesehen 8

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Hermann Hofmann (1888–1941), Oberlehrer, 1912–1933 Mitglied des Stadtrates Ludwigshafen, 1919–1922 MdBayL, 1919 Mitglied der Nationalversammlung, 1919–1933 MdR; Ehrenvorsitzender der pfälzischen Zentrumspartei; vgl Neue Pfälzische Landeszeitung vom 8 9 1930 („Abg Hofmann 50 Jahre“) Vgl Der Rheinpfälzer v 18 9 1922 („Die einschlägige Parteigeschichte und deren Würdigung v Justizrat Dr Wadlinger“) und Pfälzer Volksbote v 15 10 1922 („Zentrumsgründung in der Pfalz“) Zit nach Pfälzer Volksbote v 18 10 1921 („Zentrum und Bayer Volkspartei in der Pfalz“) Vgl Gerhard Nestler, Bürgerliche Einheitsfront oder Weimarer Koalition? Die Bayerische Volkspartei der Pfalz und die Koalitionsfrage in den Jahren 1919–1920, in: Jahrbuch zur Geschichte von Stadt und Landkreis Kaiserslautern 34/35, 1996/97, 9–28

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2. Zwischen Zentrum und BVP Der erste Parteitag der pfälzischen BVP fand am 28 September 1919 in Neustadt statt Ein früherer Termin war nicht möglich, da die Franzosen, die Anfang Dezember 1918 die Pfalz besetzt hatten, nach den Wahlen zur Nationalversammlung und zum bayerischen Landtag alle politischen Versammlungen untersagt hatten und das Verbot erst im September wieder aufhoben Im Mittelpunkt des Parteitags stand neben der Wahl des Neustadter Sanitätsrates Dr Michael Bayersdörfer zum neuen Vorsitzenden die Verabschiedung einer neuen Satzung, die das Parteistatut von 1910, das nach der Gründung der BVP nicht mehr aktuell war, ablösen sollte Zwar wurde der Beschluss des Großen Ausschusses vom 25 November, der den Anschluss an die BVP vorsah, grundsätzlich bestätigt Die pfälzische BVP blieb aber organisatorisch selbstständig und entsandte keine Vertreter in den bayerischen Landesvorstand Im Titel der neuen Satzung wurde hinter dem Namen „Pfalzverband der Bayerischen Volkspartei“ in Klammern der Zusatz „Zentrum“ angefügt 9 Die Gründe für diese Entscheidungen sind nicht mehr genau nachvollziehbar Waren sie eine Konzession an den Zentrumsflügel, mit der man ihn in den eigenen Reihen halten und die Einheit der Partei wahren wollte?10 Oder hingen sie mit der besonderen Situation der besetzten Pfalz zusammen, die im Frühjahr und Sommer 1919 zeitweise fast völlig vom Rest des Reiches abgeschnitten war? Es überrascht jedenfalls nicht, dass sie von den beiden Flügeln der Partei unterschiedlich interpretiert wurden Während der Zentrumsflügel im Pfalzverband der BVP ein „selbständiges Parteigebilde“ sah11, das zwischen BVP und Zentrum stand, war für Wadlinger und seine Anhänger unumstritten, dass die pfälzische Organisation fester Bestandteil der rechtsrheinischen BVP war und sich ihre eigenständige Organisation lediglich aus der besonderen politischen Situation der besetzten Pfalz ergeben habe Eine unabhängige Organisation, so betonte er, bedeute nicht automatisch auch die Existenz einer eigenständigen Partei Den Zusatz „Zentrum“ habe man nur gewählt, um deutlich zu machen, dass man die alten Werte der Zentrumspartei vertrete, die diese in den letzten Jahren verraten habe 12 Noch unübersichtlicher wurde die Situation, als die BVP Anfang 1920 die in der Nationalversammlung ein Jahr zuvor abgeschlossene Fraktionsgemeinschaft mit dem

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Schönhoven, Bayerische Volkspartei (wie Anm  1), 92–93 Karsten Ruppert, Im Dienst am Staat von Weimar Das Zentrum als regierende Partei in der Weimarer Demokratie 1923–1930, Düsseldorf 1992, 307 Neue Pfälzische Landeszeitung v 20 8 1922 („Was ist Wahrheit? Eine Erwiderung auf Dr Wadlingers Antwort“); ein Sonderdruck befindet sich im LA SP, Best V 13 (Nachlass Eugen Jäger), Nr  237 Der Rheinpfälzer v 18 9 1922 („Die einschlägige Parteigeschichte und deren Würdigung v Justizrat Dr Wadlinger“)

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Zentrum aufkündigte13, der Pfalzverband dies auf seinem zweiten Parteitag am 13 Januar 1920 aber mit großer Mehrheit ablehnte und Dr Hans Haberer aus Landau, den Heltersberger Pfarrer Martin Walzer und Bayersdörfer als Delegierte für den Zentrumsparteitag nominierte, der vom 19 bis 22 Januar in Berlin tagte „Unter keinen Umständen wollen wir jetzt eine Abkehr vom Zentrum“, so fasste Pfarrer Johannes Rößler die Stimmung im Saal zusammen, Bayersdörfer betonte in seiner Rede noch einmal, dass der Pfalzverband der BVP seit der Annahme der neuen Satzung „eine eigene, selbständige Partei“ bilde und der Landtagsabgeordnete Joseph Siben aus Deidesheim sah im Pfalzverband „die Brücke, über die Reichszentrum und Bayerische Volkspartei wieder zusammen kommen können “14 In einer mit „stürmischen Beifall“15 angenommenen Resolution von Pfarrer Walzer hieß es: „Der Pfalzverband der bayerischen Volkspartei […] verbleibt beim Zentrum“ 16 „La fraction du Centre du Palatinat bavarois“, so meldete der französische Botschafter in Berlin in einem Telegramm an das Außenministerium in Paris am 16 Januar, „a décidé de ne pas se séparer du Centre“ 17 Schon zwei Tage vor dem Parteitag hatte der Neustadter Gymnasiallehrer Dr Adolf Baumann in einer großen Versammlung in seiner Heimatstadt deutlich gemacht, dass er es „bedauern würde, wenn die BVP die gemeinsame Arbeit mit dem Zentrum im Reiche lösen würde, denn auf dem Gebiete der Kulturpolitik könne das Zentrum nur dann Erfolge erzielen, wenn es treu und fest zusammenhalte “18 Ähnlich formulierte es auch Hermann Hofmann in einer Versammlung der Zentrumspartei Berlin-Südost Anfang März „Das christlich denkende Volk“, so sagte er, „habe das größte Interesse daran, in den jetzigen und kommenden schweren Zeiten unseres Volkes im Reichstag ein einiges, starkes Zentrum zu wissen […] Zwietracht bringt Ohnmacht, Eintracht macht stark “19 Auf dem Reichsparteitag der Zentrumspartei wurde Bayersdörfer als Beisitzer in den Vorstand und Walzer in den Ausschuss der Partei gewählt Beide nahmen die Wahl an Hofmann und der zweite pfälzische BVP-Abgeordnete der Nationalversammlung, 13 14 15 16

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Rudolf Morsey, Die deutsche Zentrumspartei 1917–1923, Düsseldorf 1966, 280–285; Schönhoven, Bayerische Volkspartei (wie Anm  1), 35–37 Pfälzer Volksbote v 16 1 1920 („Parteitag des Pfalzverbandes der Bayer Volkspartei (Zentrum)“); mit gleicher Überschrift auch im Rheinpfälzer und im Rheinischen Volksblatt v 16 1 1920 Neue Pfälzische Landeszeitung v 25 10 1922 („Noch einmal: Was ist Wahrheit?“) Kölnische Volkszeitung v 16 1 1920 („Zentrum und Bayerische Volkspartei“); Germania v 16 1 1920 („Berlin, den 15 Januar“) und 27 8 1922 („Die Bayerische Volkspartei in der Pfalz und das Zentrum“); Archives Nationales Paris (künftig ANP), AJ9, Nr  4281 (Paul Tirard an das Außenministerium, 21 1 1920) Archiv des französischen Außenministeriums in Paris (künftig AMAE), Allemagne 349 (Telegramm an das Außenministerium v 16 1 1920) Der Rheinpfälzer v 14 1 1920 („Aus der Partei Versammlung der BVP in Neustadt“); Adolf Baumann (1880–1959), Studium in Würzburg, Lehrer in Würzburg, Günzburg, Neustadt, Ludwigshafen und Landau; zeitweise 2 Vorsitzender der BVP-Pfalz und stellvertretender Landesvorsitzender der BVP; 1945/46 Mitbegründer der pfälzischen CDU Rheinisches Volksblatt v 9 3 1920 („Abg Hofmann (Ludwigshafen)“)

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Johann Sophian Richter aus Landau, waren bereits am 14 Januar, einen Tag nach dem Parteitag in Kaiserslautern, von der BVP-Fraktion in die Zentrumsfraktion übergetreten 20 Der Text der Kaiserslauterer Resolution ließ allerdings erneut viel Interpretationsspielraum und führte in den folgenden Monaten zu einer erbittert geführten Kontroverse zwischen den beiden Flügeln der Partei, die sich mehr und mehr auch zu einer persönlichen Fehde zwischen Wadlinger und Hofmann entwickelte Immer öfter wurde in der parteiinternen Diskussion in Anspielung auf die Wohnorte der beiden Kontrahenten daher von einer „Kaiserslauterer Richtung“ und einer „Ludwigshafener Richtung“ gesprochen 21 Wadlinger vertrat auch nach dem Parteitag in Kaiserslautern den Standpunkt, dass die Pfälzer Teil der rechtsrheinischen BVP sind Die Formulierung, „Der Pfalzverband der bayerischen Volkspartei […] verbleibt beim Zentrum“, bezog sich seiner Meinung nach lediglich auf die Bildung einer Arbeitsgemeinschaft zwischen der Zentrumsfraktion und den beiden pfälzischen Abgeordneten, die daher auch nicht berechtigt gewesen seien, der Zentrumsfraktion beizutreten 22 Hofmann und seine Anhänger gingen dagegen nun noch weiter als nach dem Neustadter Parteitag, auf dem die organisatorische Eigenständigkeit des Pfalzverbandes festgelegt worden war Hatten sie damals die pfälzische BVP noch als „selbständiges Parteigebilde“23 zwischen BVP und Zentrum gesehen, so war für sie die Kaiserslauterer Resolution nun der Beleg, dass der Pfalzverband nach wie vor Teil der Zentrumspartei war Am 13  Januar, schrieb Hofmann, habe die Partei ihr „Verbleiben beim Reichszentrum beschlossen“ und ihre „Zugehörigkeit zur Zentrumspartei“ auch dadurch dokumentiert, dass Bayersdörfer und Walzer in den Vorstand bzw den Ausschuss der Partei gewählt worden sind „Der Pfalzverband gehörte also damals – trotz seines Namens – nicht zur Bayerischen Volkspartei, sondern zum Zentrum,“ so sein Fazit Sein Eintritt in die Fraktion des Zentrums war deshalb seiner Meinung eine Selbstverständlichkeit 24

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Offizieller Bericht des 1 Reichsparteitags der deutschen Zentrumspartei Tagung zu Berlin vom 19 bis 22 Januar 1920, Berlin 1920; vgl auch Germania v 27 8 1922 („Die Bayerische Volkspartei in der Pfalz und das Zentrum“); Neue Pfälzische Landeszeitung v 20 8 1922 („Was ist Wahrheit? Eine Erwiderung auf Dr Wadlingers Antwort“) Neue Pfälzische Landeszeitung v 31 12 1926 („Wie der Zentrumsgedanken in Ludwigshafen eine Heimstätte fand“); Wadlinger sprach vom „Kaiserslauterer Eck“ und „Ludwigshafener Eck“, vgl Der Rheinpfälzer v 19 9 1922 („Nochmals meine Stellung zum Abg Hofmann-Ludwigshafen“) Der Rheinpfälzer v 19 9 1922 („Nochmals meine Stellung zum Abg Hofmann-Ludwigshafen“) Neue Pfälzische Landeszeitung v 20 8 1922 („Was ist Wahrheit? Eine Erwiderung auf Dr Wadlingers Antwort“); ein Sonderdruck befindet sich im Landesarchiv Speyer (künftig LA SP), V 13 (Nachlass Eugen Jäger), Nr  237 Neue Pfälzische Landeszeitung v 28 10 1922 („Noch einmal: Was ist Wahrheit?“) und 30 4 1924 („Hofmanns ‚Eigenmächtigkeiten‘“)

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3. Die gespaltene Partei Am 21 Mai 1920 beendete die Nationalversammlung ihre Arbeit Zwei Wochen später wurde der Reichstag gewählt Spitzenkandidat der pfälzischen BVP war, wie bei der Wahl zur Nationalversammlung, erneut Hermann Hofmann Ob der BVP-Flügel seine Kandidatur mitgetragen hat, lässt sich aufgrund fehlender Quellen nicht feststellen Weder er selbst noch Wadlinger gehen in ihren historischen Rückblicken darauf ein Als sich Hofmann nach seiner Wahl aber erneut der Zentrumsfraktion und nicht der der Bayerischen Volkspartei im neuen Reichstag anschloss, – „ohne irgendeinen Menschen zu fragen“, wie Wadlinger notierte – nahmen die Auseinandersetzungen zwischen den beiden Flügeln der Partei erneut an Schärfe zu Hofmann wies später immer wieder darauf hin, dass dieser Schritt durch den Parteitagsbeschluss vom 13 Januar, der seiner Meinung nach nach wie vor Gültigkeit besaß, gedeckt war Wadlinger dagegen argumentierte, dass dieser Beschluss lediglich für die Nationalversammlung, nicht aber für den neuen Reichstag gegolten habe Ihre unterschiedlichen Auffassungen hingen mit ihrer jeweiligen Interpretation des Kaiserslauterer Parteitagsbeschlusses zusammen Für Wadlinger erlaubte der Beschluss nur die Bildung einer Arbeitsgemeinschaft, die, so argumentierte er, jeweils nur für die Dauer einer Wahlperiode Gültigkeit habe Hofmann dagegen ging davon aus, dass die pfälzische BVP nach wie vor Teil des Zentrums war, er also nicht für die BVP, sondern für das Zentrum in den Reichstag gewählt worden war und sich daher ganz selbstverständlich der Zentrumsfraktion anschließen musste 25 Eine Lösung dieses Konflikts, der die Partei immer mehr spaltete, schien nicht in Sicht Eine überraschende Wende nahm die Angelegenheit, als der Parteivorstand der pfälzischen BVP am 5 Juli 1920 in Neustadt zu einer Sitzung zusammenkam und Hofmann, der nicht teilnahm, „dringend“ nahelegte, „alsbald den Anschluß an die Bayer[ische] Volkspartei-Fraktion im Reichstag zu vollziehen“ Nach Wadlingers Erinnerungen waren 18 Personen anwesend, darunter auch Vertreter der „Ludwigshafener Richtung“ und die zum Vorstand gehörigen Vertreter der christlichen Arbeiterbewegung Der Beschluss, so Wadlinger, sei einstimmig gefasst worden Seine Erinnerungen sind allerdings die einzige Quelle für diese Behauptung Sie überrascht umso mehr, als bei der Tagung des Diözesanverbandes der Katholischen Arbeiter- und Arbeiterinnenvereine der Pfalz einige Wochen später, am 12 September, eine Resolution verabschiedet wurde, in der die Führer der pfälzischen BVP aufgefordert wurden, „auf eine Einigung der Bayerischen Volkspartei mit dem Zentrum hinzuarbeiten “ „Die Arbeitervertreter wünschen nicht“, so hieß es weiter, „daß die Trennung der beiden Frak25

Neue Pfälzische Landeszeitung v 20 8 1922 („Was ist Wahrheit? Eine Erwiderung auf Dr Wadlingers Antwort“); Der Rheinpfälzer v 19 9 1922 („Nochmals meine Stellung zum Abg HofmannLudwigshafen“), dort das Zitat Wadlingers; Germania v 27 8 1922 („Die Bayerische Volkspartei in der Pfalz und das Zentrum“); Pfälzer Volksbote v 15 10 1922 („Zentrumsgründung in der Pfalz“)

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tionen ein Dauerzustand bleibt “ Die Resolution endete mit der Feststellung: „Der Reichstagsabgeordnete Hofmann-Ludwigshafen soll beim Reichszentrum bleiben “ In seinem Antwortschreiben an den Parteivorstand wies Hofmann einmal mehr auf den Parteitagsbeschluss vom 13 Januar hin und schlug vor, die Frage auf dem nächsten regulären Parteitag zu klären, was der Parteivorstand so akzeptierte Der Parteitag, so argumentierte Hofmann, sei die „allein zuständige Instanz“ 26 Am 21 September kam der Parteivorstand zu einer weiteren Sitzung zusammen Diesmal nahm Hofmann teil Hauptdiskussionspunkt war einmal mehr die organisatorische Unabhängigkeit der Partei von der rechtsrheinischen BVP Während die Vertreter des BVP-Flügels diese „Zwitterstellung“ des Pfalzverbandes erneut scharf kritisierten und einen vollständigen Anschluss an München forderten, setzten sich Hofmann und seine Anhänger „mit allen Kräften“ für die Beibehaltung des Status Quo ein Die Festlegung auf eine Partei, so argumentierten sie, würde zwangsläufig zur Spaltung führen, da dies – wie immer man sich entschiede – von einem Teil der Mitglieder und Wähler nicht mitgetragen würde Da keine der beiden Gruppen über eine entscheidende Mehrheit verfügte, blieb, wie Wadlinger enttäuscht notierte, „alles beim Alten“ Es wurde noch einmal betont, dass der Pfalzverband Teil der BVP ist, dass aber die organisatorische Selbständigkeit beibehalten werden soll – ein Ergebnis, mit dem beide Seiten zunächst leben mussten 27 Zu einem ähnlichen Ergebnis kam auch der Parteitag, der am 22 November in Neustadt tagte Im Mittelpunkt stand, wie von Hofmann vorgeschlagen, die Aussprache über die Frage „Bayerische Volkspartei oder Zentrum?“ Die Hauptreferate hatten Hofmann als Vertreter des Zentrumsflügels und Pfarrer Walzer, der mittlerweile zum BVPFlügel übergeschwenkt war, übernommen Walzer kritisierte in seiner Rede die Zentrumspartei scharf und warf ihr vor, vom „föderalistischen Grundsatz“ abgewichen zu sein und damit ihre alten Überzeugungen geopfert zu haben Hofmann dagegen verteidigte die Zentrumspartei vehement gegen den Vorwurf, in ihrer Mehrheit unitaristisch zu sein Er bezeichnete sie als „stärksten Hort christlicher Kultur“ und wies darauf hin, dass der „Zentrumsgedanke“ in der Pfalz tief verwurzelt sei und der Pfalzverband, sollte er sich vollständig der rechtsrheinischen BVP anschließen, zahlreiche Wähler verlieren würde

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Pfälzer Volksbote v 7 7 1920 („Aus der Partei“); Neue Pfälzische Landeszeitung v 20 8 1922 („Was ist Wahrheit? Eine Erwiderung auf Dr Wadlingers Antwort“); Der Rheinpfälzer v 19 9 1922 („Nochmals meine Stellung zum Abg Hofmann-Ludwigshafen“), dort der Hinweis auf die Einstimmigkeit; Badischer Beobachter v 5 9 1922 („Parteientwicklung in der bayerischen Pfalz“); AMAE, Allemagne 316 (Telegramm v 8 7 1920); ANP, AJ9, Nr  5271 (De Metz an den Haut Commissaire de la Republique Francaise in Koblenz, 10 7 1920); Rheinisches Volksblatt v 15 9 1920 („Diözesantagung der katholischen Arbeiter- und Arbeiterinnenvereine der Pfalz“) Der Rheinpfälzer v 23 9 1922 („Nochmals meine Stellungnahme zum Abg Hofmann-Ludwigshafen“)

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In der anschließenden Diskussion prallten die altbekannten Meinungen erneut unversöhnlich aufeinander Während Wadlinger und einige andere noch einmal für den sofortigen völligen Anschluss an München plädierten, sprachen sich die Anhänger Hofmanns dafür aus, die Selbständigkeit des Pfalzverbandes beizubehalten „Lassen wir es bei dem bisherigen Zustand“, so der Appell des Speyerer Domdekans Jakob Hildenbrand am Ende der Aussprache28 Die Mehrzahl der Parteitagsteilnehmer folgte ihm und votierte dafür, die bisherige Organisation und Satzung beizubehalten und Hofmann zu gestatten, „beim Reichszentrum zu verbleiben“ 29 Sie befürchteten offensichtlich, dass sich ein Anschluss an München zum innerparteilichen Sprengstoff entwickeln und die Einheit der Partei gefährden könnte Auch die Bildung einer bürgerlichen Mitte-Rechts-Koalition aus Zentrum, DVP und DDP unter dem Zentrumskanzler Konstantin Fehrenbach nach den Juni-Wahlen30 mag bei vielen Delegierten des Parteitages, die grundsätzlich eher zum BVP-Lager tendierten, aber nicht ganz so unnachgiebig waren wie Wadlinger und mittlerweile auch Walzer, die Kritik an der Politik des Zentrums etwas abgemildert haben 4. Anschluss an die BVP Nach dem Neustadter Parteitag verschärfte die „Kaiserslauterer Richtung“ und die ihr nahestehenden Tageszeitungen, insbesondere der „Pfälzer Volksbote“ aus Kaiserslautern, ihren publizistischen Kampf gegen das Zentrum weiter Das war nicht weiter verwunderlich, hatte man doch gehofft, in Neustadt die Auseinandersetzung mit dem Zentrumsflügel der Partei endgültig für sich zu entscheiden Die Attacken auf das Zentrum sollten nun noch einmal deutlich machen, dass die Partei längst „den Geist Windhorsts“ aufgegeben habe und nur die BVP noch die alten Zentrumsgrundsätze vertrete Es waren die gleichen zwei Punkte, die in den zahlreichen Zeitungsartikeln immer wieder thematisiert wurden: Der „Kurs nach links“ in der Zusammenarbeit mit der SPD nach der Revolution und die angebliche Abkehr vom Föderalismus und dem christlichen Subsidiaritätsprinzip Statt „das christliche Volk zur Offensive gegen den Sozialismus zu führen“, heißt es an einer Stelle, habe man „im Ernst“ an die Möglichkeit eines Wiederaufbaus des Deutschen Reiches „im Bunde mit der Revolutionspartei“ geglaubt Mit Worten sei man föderalistisch, in der Tat unitaristisch und der Weimarer

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Jakob Hildenbrand, 1860–1933; Pfarrer, Domkapitular; Mitglied der BVP; 1920–1928 MdBayL, Mitglied des Kreistags der Pfalz Rheinisches Volksblatt v 25 11 1920 („Der Parteitag in Neustadt“); Pfälzer Volksbote v 25 11 1920 („Parteitag des Pfalzverbandes der Bayerischen Volkspartei (Zentrum)“); Der Rheinpfälzer v 25 11 1920 („Parteitag des Pfalzverbandes der Bayerischen Volkspartei (Zentrum)“) Morsey, Zentrumspartei (wie Anm  13), 329–334

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Verfassung, die den Einheitsstaat befördere, „auf Leben und Tod“ ergeben Im Grunde habe das Zentrum mit der Partei Windthorsts nur noch den Namen gemeinsam 31 Die Kampagne zeigte Wirkung Als die Regierung Fehrenbach im Mai 1921 zurücktrat, weil sie die Zahlungsbedingungen der Alliierten, das sogenannte „Londoner Ultimatum“, nicht akzeptieren wollte, und anschließend erneut eine Regierung der Weimarer Koalition aus Zentrum, SPD und DDP unter Führung des in BVP-Kreisen verhassten linken Zentrumspolitikers Joseph Wirth gebildet wurde32, war im Pfalzverband der BVP ein deutlicher Meinungsumschwung zu spüren Der „Pfälzer Volksbote“ sprach in einem Bericht davon, dass die „Linksentwicklung des Wirth’schen Reichszentrums, inzwischen noch manchem die Augen geöffnet hat “33 Wenig später fasste der in München erscheinende „Bayerische Kurier“ die Situation in der Pfalz treffend zusammen: Der Pfalzverband [der BVP] stand parteiorganisatorisch gewissermaßen in der Mitte zwischen Bayerischer Volkspartei und Reichszentrum; und aus dieser ungeklärten Mittelstellung erwuchs von selbst das Streben zweier entgegengesetzter Richtungen, durch definitiven Anschluß an eine der beiden großen Parteien den Parteiangehörigen eine richtige parteipolitische Heimat zu geben Der Kampf der beiden Richtungen führte zu lebhaften Auseinandersetzungen; auf der einen Seite hatte das Reichszentrum in seiner jetzigen Gestalt und programmatischen Haltung gerade in der Pfalz besonders eifrige Verteidiger und Freunde; auf der anderen Seite aber nahm die Zahl derer immer mehr zu, die sich von der nachrevolutionären Verfassungspolitik des Zentrums abwandten und darum den formellen Anschluß an die Bayerische Volkspartei suchten 34

Am 4 Juli 1921 beschloss der Hauptausschuss der Partei, der in Neustadt zusammengekommen war, Verhandlungen über einen endgültigen Anschluss an München in die Wege zu leiten In einer zweiten Sitzung am 29 Juli ging man sogar noch einen Schritt weiter und entschied sich, dem kommenden Parteitag im Oktober den Anschluss offiziell zu empfehlen Hofmann enthielt sich der Stimme, nachdem man ihm zugesichert hatte, dass er bis zum Ende der Legislaturperiode in der Fraktion des Zentrums bleiben könne In einer weiteren Sitzung am 19 September, die der Vorbereitung des Parteitages diente, wurde dieser Beschluss mit Dreiviertelmehrheit noch einmal bekräftigt 35 Der Herxheimer Prälat Keßler wies dabei ausdrücklich darauf hin, dass die 31 32 33 34 35

Pfälzer Volksbote v 25 10 1920 („Kritik am Zentrum“); dort das Zitat von der „Revolutionspartei; v 26 10 1920 („Kritik am Zentrum“), dort das Zitat vom „Wort und der Tat“; v 5 3 1921 („Vom parteipolitischen Gegensatz“); v 17 10 1921 („Zentrum und Bayerische Volkspartei“) Morsey, Zentrumspartei (wie Anm  13), 379–386 Pfälzer Volksbote v 14 7 1922 („Zum Neustadter Parteitag der Bayer Volkspartei“) Bayerischer Kurier v 26 10 1921 („Klärung in der Pfalz“) Pfälzer Volksbote v 18 10 1921 („Zentrum und Bayer Volkspartei in der Pfalz“); v 22 10 1921 („Wirth oder Windthorst?“); v 23 9 1922 („Nochmals meine Stellung zum Abg Hofmann-Ludwigshafen“); Bayerischer Kurier v 26 10 1921 („Klärung in der Pfalz“)

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Parteimitglieder in seinem Bezirk Landau-Land „das Zentrum und seine Linkspolitik entschieden“ ablehnten Als Referenten für den Parteitag wurden Hofmann als Vertreter des Zentrumsflügels und Hildenbrand als Vertreter des BVP-Flügels benannt Einige Ausschussmitglieder, darunter Wadlinger und Prälat Keßler, hatten Georg Heim als Redner vorgeschlagen, waren damit aber auf starken Widerstand bei Hofmann und dem Vorsitzenden der Christlichen Gewerkschaften, Jakob Gable, gestoßen 36 Eineinhalbwochen vor dem Parteitag, am 12 Oktober, trafen sich die Sekretäre der Christlichen Gewerkschaften und der Katholischen Arbeitervereine der Pfalz, soweit sie der BVP angehörten, um über ihre Haltung zur Empfehlung des Hauptausschusses der Partei zu beraten Sie berichteten einhellig, dass sich die „übergroße“ Mehrheit der in ihren Verbänden und Vereinen organisierten Arbeiter zum Zentrum bekenne Sie wüssten aber auch, dass der Versuch, den Pfalzverband der BVP an die Zentrumspartei anzuschließen zur Spaltung führen würde, da der BVP-Flügel der Partei eine solche Entscheidung nicht mittragen würde Die meisten von ihnen wären daher bereit, dem bestehenden Zustand zuzustimmen, allerdings dürfe der „Trennungsstrich“ zum Zentrum nicht noch „schärfer“ gezogen werden In einer am Ende der Konferenz verabschiedeten Entschließung hieß es, dass die anwesenden Vertreter der christlichen Arbeiterbewegung der Pfalz mit der organisatorischen Verbindung der pfälzischen mit der rechtsrheinischen BVP unter der Bedingung einverstanden sind, dass „das Verhältnis, wie es zwischen der Pfalz und dem Reichszentrum besteht, auch weiter beibehalten wird “37 Der Parteitag, den der „Pfälzer Volksbote“ in einem Vorbericht unter das Motto „Wirth oder Windthorst“ stellte, fand am 23 Oktober in Kaiserslautern statt Er verlief nach dem gleichen Muster wie die beiden Parteitage und die Ausschusssitzungen zuvor: Scharfe Attacken auf die Politik der Zentrumspartei einerseits, Rechtfertigungsversuche andererseits 38 Einziger Programmpunkt war die Empfehlung des Hauptausschusses vom 29 Juli: „Anschluß an die BVP unter der Voraussetzung, daß der 36 37

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LA SP, V 13, Nr  237 (Handschriftliche Aufzeichnungen von Eugen Jäger) Augsburger Postzeitung v 13 10 1921 („Zentrum und Bayerische Volkspartei in der Pfalz“); Kölnische Volkszeitung v 17 10 1921 und Rheinisches Volksblatt v 18 10 1921; Pfälzer Volksbote v 18 10 1921, jeweils mit dem gleichen Titel; Der Rheinpfälzer v 27 10 1921 („Zum Parteitag in Kaiserslautern“) Zum Verlauf: Pfälzer Volksbote v 24 10 1921 („Parteitag des Pfalzverbandes der Bayerischen Volkspartei“); Der Rheinpfälzer v 24 10 1921 („Parteitag in Kaiserslautern“); Pfälzische Post v 24 10 1921 („Spaltung der pfälzischen Zentrumspartei?“) und 25 10 1921 („Der Bruch im pfälzischen Zentrum“); Kölnische Volkszeitung v 25 10 1921 („Der Pfalz-Parteitag der Bayerischen Volkspartei“); Bayerischer Kurier v 26 10 1921 („Klärung in der Pfalz“); LA SP, V 13, Nr  237; ANP, AJ9, Nr  5090 (Compte-Rendu v 25 10 1921, Schreiben de Metz an Paul Tirard v 28 10 1921 und Schreiben Paul Tirard an das Außenministerium in Paris v 3 11 1921); Bayerisches Hauptstaatsarchiv (künftig BayHStA), MA 108 380 (Vormerkung des Bayerischen Vertreters beim Reichskommissar für die besetzten rheinischen Gebiete v 21 11 1921); rückblickend: Pfälzer Volksbote v 14 8 1922 („Meine Stellung zum Abgeordneten Hofmann-Ludwigshafen v Justizrat Dr Wadlinger“) und 24 9 1922 („Die Gegenerklärung des Abg Hofmann“); Neue Pfälzische Landeszeitung v 20 8 1922 („Was ist

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Abg[eordnete] Hofmann während der jetzigen Session des Reichstages Mitglied des Zentrums bleibt “ Als erster sprach Hildenbrand Die Pfalz gehöre politisch zu Bayern, so argumentierte er, ihre Interessen würden von der bayerischen Regierung vertreten, die pfälzische BVP müsse sich daher vollkommen an München anschließen Die Ursache für die Gründung der BVP und die nun ein Jahr zurückliegende Aufkündigung der Fraktionsgemeinschaft mit dem Zentrum im Reichstag sei die unterschiedliche Stellung der beiden Parteien zum Föderalismus Die einzelnen Länder, insbesondere Bayern, verlangten die Wahrung ihrer Hoheitsrechte Solange das Zentrum diese Forderung nicht unterstütze, komme eine Zusammenarbeit nicht infrage In seinem Koreferat wies Hofmann den Vorwurf, das Zentrum vertrete nicht länger föderalistische und christliche Grundsätze, scharf zurück Es gebe in der Partei in der Tat unitarische Bestrebungen, die Mehrheit teile diese aber nicht Das Zentrum habe „gute Arbeit“ geleistet und es wäre undankbar, wenn die „letzte Brücke“ abgebrochen würde, die die Pfälzer Katholiken mit dem Zentrum verbinde Hofmann räumte ein, dass manche Aussage von Reichskanzler Wirth nicht sehr klug gewesen sei, verteidigte aber grundsätzlich dessen Politik Die BVP, so sein Hauptargument, verfüge im Reichstag nur über 20 Abgeordnete und sei daher ohne die Unterstützung des Zentrums ohne großen Einfluss 39 „Mit Feuereifer“, so Wadlinger später, habe er für die Beibehaltung des alten Zustandes geworben 40 In der sich an die beiden Referate anschließenden Debatte, an der 16 Delegierte teilnahmen, prallten die unterschiedlichen Meinungen erneut unversöhnlich aufeinander Rößler, Wadlinger, Walzer und Keßler plädierten wie Hildenbrand für den vollkommenen Anschluss der Pfälzer an die rechtsrheinische BVP, Gable, sein Gewerkschaftskollege Jakob Dörler aus Pirmasens, der Studienassessor Werner, der Ludwigshafener Postverwalter August Bruch und einige andere für die Beibehaltung des Status Quo Während Rößler das Zentrum als „Gefahr für die katholische Religion“ bezeichnete41, berichtete Gable, dass am Morgen vor Beginn des Parteitags eine Versammlung christlicher Arbeiter beschlossen habe: „Wir pfälzischen Arbeiter bleiben beim Zentrum“ Ein Vorschlag des Bezirks Ludwigshafen, einem Anschluss des Pfalzverbandes an die rechtsrheinische BVP nur dann zuzustimmen, wenn sich Zentrum und BVP im Reichstag wieder zu einer Fraktionsgemeinschaft zusammenschließen würden, fand, wie zu erwarten war, keine Zustimmung Da die Erneuerung der Fraktionsgemeinschaft auf absehbare Zeit kaum realistisch war, hätte die Annahme dieses Vorschlags

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Wahrheit?“); Der Rheinpfälzer v 9 10 1922 („Nochmals meine Stellung zum Abg Hofmann-Ludwigshafen“) Die Zitate Hofmanns aus den Aufzeichnungen von Eugen Jaeger: LA SP, V 13, Nr  237 Pfälzer Volksbote v 24 9 1922 („Die Gegenerklärung des Abg Hofmann“) Pfälzische Post v 24 10 1921 („Spaltung der pfälzischen Zentrumspartei?“); Pfälzische Rundschau v 25 10 1921 („Parteitag der bayerischen Volkspartei in Kaiserslautern“)

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die vom Zentrumsflügel gewünschte Zementierung des Status Quo bedeutet, was der BVP-Flügel natürlich nicht akzeptieren konnte Der „Rheinpfälzer“ sprach in seiner Berichterstattung am Tag darauf von „äußerst lebhaften Diskussionen“, die „Kölnische Volkszeitung“ von „ungemein erregten Auseinandersetzungen“, die „Pfälzische Post“ von einem „stürmischen Verlauf “ und ein französischer Sureté-Mitarbeiter von einer „discussion trés vive“ 42 Der Parteitag endete schließlich mit einem Eklat Bei der Abstimmung über die Empfehlung des Hauptausschusses votierten 75 Delegierte für den vollständigen Anschluss an München und 35 dagegen 43 Als Bayersdörfer das Ergebnis bekannt gab, verließen Hofmann und seine Anhänger demonstrativ den Saal Berichtet wurde darüber nur in der sozialdemokratischen „Pfälzischen Post“ und in einigen liberalen Blättern In den katholischen Tageszeitungen war darüber kein Wort zu lesen 44 5. Innerparteiliche Opposition Mit dem Beschluss von Kaiserslautern fand die Sonderstellung des Pfalzverbandes ihr Ende Von nun an waren die Pfälzer auch organisatorisch fester Bestandteil der BVP und bildeten einen der acht Kreisverbände der Partei An der Parteibasis in der Pfalz rief die Entscheidung vom 23 Oktober allerdings nicht nur Zustimmung hervor Während sie beispielsweise in der Jahreshauptversammlung der BVP Landau-Stadt als „beste Lösung“ begrüßt wurde, führte sie in der Ortsgruppe Oggersheim, in der die Zentrumsanhänger deutlich in der Mehrheit waren, zu einer „sehr lebhaften“ Debatte 45 Vor allem unter den katholischen Arbeitern rumorte es Bereits wenige Tage nach dem Parteitag wurde eine Erklärung veröffentlicht, in der sich die Mehrzahl der pfälzischen Arbeitervertreter offen zum Zentrum bekannte Der Vorwurf der BVP, dass das Zentrum seinen christlichen Grundsätzen untreu geworden sei, wiesen sie – wie schon Hofmann auf dem Parteitag – ausdrücklich zurück Solange die deutschen Bischöfe im Zentrum die Vertretung der katholischen Interessen sähen, habe niemand das Recht, so argumentierten sie, den christlichen Charakter des Zentrums anzuzweifeln Die überwiegende Mehrheit der katholischen Arbeiter in der Pfalz stehe nach wie vor auf dem Standpunkt, den Pfarrer Johannes Rößler auf dem Parteitag am 13  Januar 1920 vertreten hatte: „Unter keinen Umständen wollen wir jetzt eine Abkehr vom 42 43 44 45

Der Rheinpfälzer v 24 10 1921 („Parteitag in Kaiserslautern“); Kölnische Volkszeitung v 25 10 1921 („Der Pfalz-Parteitag der Bayerischen Volkspartei“); Pfälzische Post v 25 10 1921 („Der Bruch im pfälzischen Zentrum“); ANP, AJ9, Nr  5090 (De Metz an Paul Tirard, 28 10 1921) Schönhoven, Bayerische Volkspartei (wie Anm  1), 92–93 Pfälzische Post v 25 10 1921 („Der Bruch im pfälzischen Zentrum“); die darauf hinweist, dass die „Zentrumspresse“ dies „schamhaft“ verschwiegen habe Der Rheinpfälzer v 4 4 1922 („Pfalzverband der BVP Die BVP Bezirk Landau-Stadt“); Neue Pfälzische Landeszeitung v 8 2 1922 („Aus der Pfalz: Oggersheim“)

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Zentrum“ Die Erklärung schloss mit einer Aufforderung an die Abgeordneten der BVP, „mit allen Kräften“ darauf hinzuarbeiten, die alte Arbeitsgemeinschaft zwischen Zentrum und Volkspartei wiederherzustellen 46 Die Erklärung der Arbeitervertreter machte deutlich, dass auch der Parteitag von Kaiserslautern das seit 1918 bestehende Grundproblem des politischen Katholizismus der Pfalz, die Spaltung in einen BVP- und einen Zentrumsflügel, nicht lösen konnte Zwar war nun die organisatorische Einheit mit der rechtsrheinischen BVP hergestellt, die Zentrumsanhänger aber waren nach wie vor Teil der Partei Sie hätten sich zwar dem Beschluss von Kaiserslautern gebeugt, schrieb die „Neue Pfälzische Landeszeitung“ 1924 rückblickend, „innerlich“ aber seien sie dem Zentrumsgedanken treu geblieben 47 Und sie waren zahlenmäßig stärker, als es das Abstimmungsergebnis am 23  Oktober vermuten lässt, da sie – die gerade zitierte Erklärung der Arbeitervertreter deutet es an  – vor allem unter den katholischen Arbeitern der Industriezentren Ludwigshafen, Frankenthal, Kaiserslautern und Pirmasens zahlreiche Anhänger besaßen, diese aber in den Parteigremien und daher auch auf den Parteitagen stets stark unterrepräsentiert waren Über die Situation in Ludwigshafen heißt es beispielsweise in einem Schreiben an Bischof Sebastian: „Es war schwere Arbeit in den letzten Jahren, die Mitglieder unter der Flagge ‚Bayer[ische] Volkspartei‘ beisammen zu halten “ Möglich sei dies nur gewesen, weil man versprochen habe, alles dafür zu tun, dass sich Zentrum und BVP wieder „zu gemeinsamer Arbeit“ finden 48 Hofman hat es später ähnlich beschrieben: Die Politik der Bayerischen Volkspartei fand nicht den ungeteilten Beifall der Ludwigshafener Wähler, welche immer mehr der Reichszentrumspartei zustrebten, deren sozialer, fortschrittlicher, republikanischer Kurs den Wählern unserer Industriestadt mehr zusagte 49

Nach dem Parteitag versuchten die Zentrumsanhänger um Hofmann ihre Stellung in der Partei auszubauen „Herr Hofmann hatte einen Plan, den er still und beharrlich verfolgte“, schrieb die „Pfälzische Post“ am 15 August 1922 rückblickend „Er wollte die Zentrumsrichtung stärken und ihr einen immer größeren Einfluß verschaffen “50 Ein erster wichtiger Schritt war die Gründung einer eigenen Zeitung, da die vier anderen katholischen Blätter, die in der Pfalz erschienen – der „Rheinpfälzer“ (Landau), der „Pfälzer Volksbote“ (Kaiserslautern), das „Rheinische Volksblatt“ und die „Pfälzer

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Der Rheinpfälzer v 27 10 1921 („Zum Parteitag in Kaiserslautern“) Neue Pfälzische Landeszeitung v 11 4 1924 („Vor der Scheidung“) Bistumsarchiv Speyer (künftig ABSp), BA-XV-4 (Seubert an Sebastian, 11 9 1922) Neue Pfälzische Landeszeitung v 31 12 1926 („Wie der Zentrumsgedanken in Ludwigshafen eine Heimstätte fand“) Pfälzische Post v 15 8 1922 („Der Krach in der Bayer Volkspartei der Pfalz“)

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Zeitung“ (beide Speyer) – allesamt der BVP nahestanden und ihre Politik vorbehaltlos unterstützten Der Plan, eine eigene Zentrumszeitung für die Pfalz herauszugeben, bestand schon längere Zeit In einem Schreiben des Ludwigshafener Pfarrers Sefrin an Bischof Sebastian ist von „vielen langen Bestrebungen“ die Rede 51 Hofmann hatte bereits im Dezember 1920 in Ludwigshafen mit einigen politischen Freunden die „Pfalzdruckerei und Verlag GmbH “ gegründet Im Vertrag, der von 121 Gründergesellschaftern unterzeichnet wurde, hieß es: „Die zu begründende politische Zeitung ist im Sinne der Zentrumsgrundsätze zu leiten “52 Wegen der hohen Kosten, der großen Konkurrenz auf dem Pressemarkt in Ludwigshafen und der relativ geringen Zahl an Katholiken im Hinterland der Stadt wurde das Projekt aber zunächst zurückgestellt und erst Mitte 1921 wieder aufgegriffen Am 14 Juli informierte Hofmann gemeinsam mit Sefrin und Justizrat Ludwig Butscher Bischof Sebastian in einem vertraulichen Gespräch über die geplante Gründung Nach dem Parteitag in Kaiserslautern wurden die Gründungsvorbereitungen dann „mit Volldampf “, wie die „Pfälzische Post“ schrieb53, vorangetrieben Eine Probenummer des neuen Blattes – es trug den Titel „Neue Pfälzische Landeszeitung“ – wurde am 24 Dezember verteilt Ab dem 1 Januar erschien die Zeitung, für die in der Vorderpfalz massiv geworben wurde,54 dann regelmäßig Sie hatte allein in Ludwigshafen in kürzester Zeit 2000 Abonnenten 55 Die Leitung der Redaktion übernahm Pfarrer Johannes Fink 56 „Nun war endlich im Kampf für unsere Weltanschauung und politische Meinung auch die Artillerie aufgefahren“, notierte Hofmann 57 Woher Hofmann und seine Freunde das Kapital für die Gründung nahmen, ist nicht bekannt Das Angebot des Ludwigshafener Bezirksdelegierten der französischen Besatzungsbehörden, die Gründung der „Neuen Pfälzischen Landeszeitung“ mit franzö-

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ABSp, BA-XV-4 (Sefrin an Sebastian, 9 12 1921); vgl auch Neue Pfälzische Landeszeitung v 24 12 1921 („Unsere Zeitung“) Zit nach Stephan Pieroth, Parteien und Presse in Rheinland-Pfalz 1945–1971 Ein Beitrag zur Mediengeschichte unter besonderer Berücksichtigung der Mainzer SPD-Zeitung „Die Freiheit“, Mainz 1994, 69 Pfälzische Post v 17 12 1921 („Ein katholisches Zentralorgan für die Pfalz“) ABSp, BA-XV-75 (Verlag des Rheinpfälzers an Neue Pfälzische Landeszeitung, 24 12 1921); Neue Pfälzische Landeszeitung v 4 2 1922 („Aus der Pfalz: Roxheim“), wo es heißt: „Die vom Arbeiterverein veranstaltete Hausagitation zwecks Werbung der Neuen Pfälzischen Landeszeitung hatte einen guten Erfolg Über 50 neue Abonnenten …“ Neue Pfälzische Landeszeitung v 31 12 1926 („Wie der Zentrumsgedanken in Ludwigshafen eine Heimstätte fand“) Ebd ; BayHStA, MA 108 397 (undatierte Aktennotiz); ANP, AJ9, Nr  3224 (Paul Tirard an Außenministerium in Paris, 19 11 1921); Bayerischer Kurier v 2 4 1922 („Zentrumsströmungen in der Pfalz“); vgl auch Stefan Mörz, Vom Westboten zur Rheinpfalz Die Geschichte der Presse im Raum Ludwigshafen Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Ludwigshafen am Rhein 1994, 85–86; Pieroth, Parteien, (wie Anm  52), S  69–70 Neue Pfälzische Landeszeitung v 31 12 1926 („Wie der Zentrumsgedanken in Ludwigshafen eine Heimstätte fand“)

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sischen Geldmitteln zu fördern, hatte man strikt abgelehnt 58 Die sozialdemokratische „Pfälzische Post“ vermutete, dass wohl Mittel aus Berlin geflossen sind 59 Der „Bayerische Kurier“ wurde deutlicher: „Aus der Pfalz […] stammen die Mittel nicht! Doch pfeifen es die Spatzen von den Dächern, daß nordisches Geld in großem Ausmaße für das Ludwigshafener Unternehmen zur Verfügung gestellt wurde “60 Auch Wadlinger machte später ähnliche Andeutungen Hofmann, so schrieb er, „schaffte das Geld zu großen Teilen bei, aber nicht aus seiner Tasche, wie er es hinstellen möchte, sondern anderswoher “61 Hofmann dagegen sprach später einmal von der großen „Opferwilligkeit in unseren Ludwigshafener Parteikreisen “62 Einige Wochen nach dem Erscheinen der „Neuen Pfälzischen Landeszeitung“ stellte sich die Mehrzahl der pfälzischen Gewerkschafts- und Arbeitersekretäre, die der BVP angehörten, noch einmal demonstrativ hinter den Zentrumsflügel der Partei Nach einer Besprechung am 22 März mit dem Landtagsabgeordneten Linus Funke, dem Leiter des bayerischen Sekretariats des Gesamtverbands Christlicher Gewerkschaften Deutschlands, an der auch Hermann Hofmann teilnahm, gründeten sie eine „Arbeiterund Angestelltengruppe der Bayerischen Volkspartei der Pfalz“ – ein auf den ersten Blick nicht besonders spektakulärer Vorgang Den Vorsitz übernahm Jakob Gable, zu seinem Stellvertreter wurde Jakob Dörler gewählt, beide einflussreiche Mitglieder des Zentrumsflügels der Partei Die am Ende der Besprechung angenommene Entschließung zeigt aber die ganze Brisanz dieser Gründung In ihr wurde neben dem Einsatz für die „Wünsche und Forderungen der Arbeiter und Angestellten auf staatswirtschaftsund sozialpolitischem Gebiet“ auch ausdrücklich die Wiedervereinigung der BVP mit dem Zentrum als Ziel festgelegt 63 Als Funke ein paar Tage später, am 27 März, in einer Versammlung der BVP-Ludwigshafen ebenfalls für eine engere Arbeitsgemeinschaft von Zentrum und BVP plädierte, erhielt er, so der Bericht, stürmischen Beifall 64 Neben der „Neuen Pfälzischen Landeszeitung“ besaß der Zentrumsflügel in der Arbeiter- und Angestelltengruppe also von nun an ein weiteres Forum, das es ihm ermöglichte, seine politischen Ziele innerhalb der Partei mit noch größerem Nachdruck zu verfolgen Zwar wurde die Gruppe vom Parteivorstand nicht offiziell anerkannt65, 58 59 60 61 62 63 64 65

BayHStA, MA 107 741 (Vormerkung des bayerischen Vertreters beim Reichskommissar für die besetzten rheinischen Gebiete v 21 11 1921) Pfälzische Post v 17 12 1921 („Ein katholisches Zentralorgan für die Pfalz“) und 15 8 1922 („Der Krach in der Bayer Volkspartei der Pfalz“) Bayerischer Kurier v 2 4 1922 („Zentrumsströmungen in der Pfalz“) Pfälzer Volksbote v 26 4 1924 („Zur Erinnerung“) Neue Pfälzische Landeszeitung v 31 12 1926 („Wie der Zentrumsgedanken in Ludwigshafen eine Heimstätte fand“) Der Rheinpfälzer v 28 3 1922 („Gründung einer Arbeiter- und Angestelltengruppe der Bayer Volkspartei“) Neue Pfälzische Landeszeitung v 28 3 1922 („Die Parteiversammlung im Gesellschaftshaus“) Hinweis im Rheinpfälzer v 10 10 1922 („Nochmals meine Stellung zum Abgeordneten HofmannLudwigshafen“)

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verhindern konnte er ihre Arbeit aber nicht Dies wurde deutlich, als Gable im Juni den bekannten Zentrumspolitiker Joseph Joos zu einer Vortragsreihe in die Pfalz einlud 66 Beim Parteitag am 16 Juli 1922 stellte sich Hermann Hofmann, seit einigen Jahren 2 Vorsitzender der Partei, zur Wiederwahl Gewählt wurden die beiden Vorsitzenden und der Vorstand vom Kreisausschuss, der zuvor vom Parteitag gewählt wurde Wie zu erwarten war, löste Hofmanns Kandidatur, eine heftige Debatte aus, die sich über zwei Stunden hinzog Dass er seit dem Zentrumsparteitag vom Januar auch dem Ausschuss des Reichszentrums angehörte67, machte die Situation natürlich noch komplizierter Vor allem Wadlinger und Prälat Keßler versuchten seine Wahl zu verhindern und damit den Zentrumsflügel endgültig aus dem Parteivorstand zu verdrängen Während Wadlinger eine Wahl Hofmanns grundsätzlich ablehnte, forderte Keßler von ihm eine Erklärung, wie er zu den geplanten Republikschutzgesetzen stehe Nach der Ermordung Rathenaus hatte die Regierung Wirth dem Reichstag einen Gesetzentwurf vorgelegt, der das Verbot rechts- und linksextremer Organisationen ermöglichte Da er Eingriffe in die Justiz- und Polizeirechte der Länder vorsah, hatte ihn Bayern abgelehnt 68 Als Hofmann, erklärte, dass er für die Gesetze stimmen werde, lehnte auch Keßler seine Wiederwahl ab Zur Überraschung aller wurde Hofmann bei der anschließenden geheimen Abstimmung aber trotzdem mit einer relativ deutlichen Mehrheit von 27 zu 18 Stimmen wiedergewählt Das Ergebnis zeigt deutlich, dass die Zentrumsanhänger in der Partei nach wie vor eine ernstzunehmende politische Kraft waren Hofmann war allerdings der einzige Vertreter des Zentrumsflügels im Vorstand Alle anderen – Bayersdörfer, der 1 Vorsitzende, Wünstel (Hatzenbühl), der 3 Vorsitzende, Hildenbrand und Klara Barth (Ludwigshafen)69, die beiden Schriftführer, Buser (Ludwigshafen), der Rechner, Jean Echter (Speyer), der Kassierer und die beiden Beisitzer, Dr  Wolff (Kaiserslautern) und Walzer – gehörten alle dem BVP-Flügel an 70 Trotz seiner Wiederwahl ging der Kampf des BVP-Flügels gegen Hofmann weiter Die kritischen Stimmen nahmen wieder zu, als er – wie angekündigt – mit der Zentrumsfraktion im Reichstag für die Annahme der Republikschutzgesetze stimmte Am 31 Juli 1922 tagte in Mannheim daraufhin der erweitere Vorstand der pfälzischen 66 67 68 69 70

Rheinisches Volksblatt v 28 6 1922 („Reichstagsabgeordneter Joos“) Morsey, Zentrumspartei (wie Anm  13), 436 Franz Menges, Vom Freistaat zur Reichsprovinz (1918–1933), in: Geschichte des modernen Bayern Königreich und Freistaat, hrsg v Manfred Treml, München 20063, 161–286, hier 211; Karl Schwend, Bayern zwischen Monarchie und Diktatur, München 1954, 187–192 Klara Barth (1880-?), Lehrerin, MBayL, Vorsitzende des katholischen Lehrerinnenvereins der Pfalz Rheinisches Volksblatt v 17 7 1922 („Kreisversammlung des Pfalzverbandes der Bayer Volkspartei“); Neue Pfälzische Landeszeitung v 11 8 1922 („Die ‚Mannheimer Beschlüsse‘ und die Stellung des Abg Hofmann“); Pfälzer Volksbote v 26 9 1922 („Die Gegenerklärung des Abg Hofmann“), 14 8 1922 („Meine Stellung zum Abgeordneten Hofmann-Ludwigshafen von Justizrat Dr Wadlinger“) und 10 10 1922 („Nochmals meine Stellung zum Abg Hofmann-Ludwigshafen“)

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BVP – es waren allerdings – Zufall? – nur Vertreter des BVP-Flügels anwesend – und stellte sich in einer Resolution geschlossen hinter die bayerische Regierung, die die Gesetze strikt abgelehnt hatte Hofmann wurde während der Diskussion wegen seiner Haltung immer wieder scharf kritisiert und verließ die Sitzung vor der Abstimmung über die Resolution In einem Kommentar, den sowohl der „Pfälzer Volksbote“ als auch der „Rheinpfälzer“ am 4 August veröffentlichten, wurde ihm daraufhin „offener Kampf “ angesagt 71 Die Ortsgruppen in Ludwigshafen, Frankenthal und einigen anderen Städten sprachen ihm dagegen ausdrücklich das Vertrauen aus 72 Fanden die Auseinandersetzungen zwischen Zentrums- und BVP-Anhängern bislang weitgehend innerhalb der Partei statt und waren in den Presseartikeln über die Parteitage und Ausschusssitzungen nur zu erahnen, so wurden sie nun in aller Öffentlichkeit ausgetragen Darstellungen der zurückliegenden Ereignisse wurden mit Gegendarstellungen beantwortet, denen wiederum Gegendarstellungen zu den Gegendarstellungen folgten 73 Die Pressefehde zog sich von August bis Oktober hin und wurde vor allem zwischen der „Neuen Pfälzischen Landeszeitung“ auf der einen und dem „Pfälzer Volksboten“ und dem „Rheinpfälzer“ auf der anderen Seite geführt Ende September und Anfang Oktober tauchten erste Meldungen über eine mögliche Trennung Hofmanns und seiner Anhänger von der BVP und die Wiedergründung der Zentrumspartei in der Pfalz auf 74 Als Hofmann darüber hinaus in mehreren Artikeln mit der „Scheidung der Geister“ drohte, sollte es über kurz oder lang nicht zu einer Wiedervereinigung von Zentrum und BVP kommen75, wurden rasch mahnende Stimmen laut „Katholiken bleibt einig!“, schrieb der „Pilger“ „Einigkeit ist euch in diesen schweren Zeiten besonders notwendig “76 Selbst Bischof Sebastian meldete sich zu 71 72 73

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Der Rheinpfälzer und Pfälzer Volksbote v 4 8 1922 (jeweils: „Wichtige Beschlüsse“); Neue Pfälzische Landeszeitung v 11 8 1922 („Die ‚Mannheimer Beschlüsse‘ und die Stellung des Abg Hofmann“); Pfälzer Volksbote v 14 9 1922 („Nochmals meine Stellung zum Abg Hofmann“) Neue Pfälzische Landeszeitung v 16 9 1922 („Die politische Versammlung“) Pfälzer Volksbote v 14 8 1922 („Meine Stellung zum Abgeordneten Hofmann-Ludwigshafen v Justizrat Dr Wadlinger“); Neue Pfälzische Landeszeitung v 20 8 1922 („Was ist Wahrheit? Eine Erwiderung auf Dr Wadlingers Antwort“); Der Rheinpfälzer v 18 9 1922 („Die einschlägige Parteigeschichte und deren Würdigung v Justizrat Dr Wadlinger“), 19 9 1922 („Nochmals meine Stellung zum Abg Hofmann-Ludwigshafen“) und 23 9 1922 („Nochmals meine Stellungnahme zum Abg Hofmann-Ludwigshafen“); Pfälzer Volksbote 24 9 1922 („Die Gegenerklärung des Abg Hofmann“) und 26 9 1922 („Die Gegenerklärung des Abg Hofmann“); Neue Pfälzische Landeszeitung v 28 10 1922 („Noch einmal: Was ist Wahrheit?“) Bayerischer Kurier v 29 9 1922 („Spaltung der Bayer Volkspartei in der Pfalz?“); Rheinisches Volksblatt v 7 10 1922 („Bayerische Volkspartei und Zentrum“); Augsburger Postzeitung v 11 10 1922 („Zentrumsgründung in der Pfalz“); Pfälzische Post v 11 10 1922 („Bayer Volkspartei und Zentrum Spaltung in der Pfalz?“) Neue Pfälzische Landeszeitung v 20 8 1922 („Was ist Wahrheit?“) und 10 10 1022 („Bayerische Volkspartei und Zentrum“); Germania v 27 8 1922 („Die Bayerische Volkspartei in der Pfalz und das Zentrum“); Pfälzer Volksbote v 24 9 1922 („Die Gegenerklärung des Abg Hofmann“); Pfälzische Post v 11 10 1922 („Bayer Volkspartei und Zentrum Spaltung in der Pfalz?“) Der Pilger v 27 8 1922

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Wort und rief die Pfälzer Katholiken in einer Rede über „katholische Grundsatztreue“ zur „Eintracht“ auf Dass damit auch die Gegensätze in der BVP gemeint waren, liegt auf der Hand 77 6. Vor der Spaltung Die französische Besatzungs- und Rheinlandpolitik, die bis 1924 die Errichtung eines neutralen linksrheinischen Pufferstaates zwischen Deutschland und Frankreich zum Ziel hatte, der Ruhrkampf, der passive Widerstand und die separatistischen Unruhen im Winter 1923/24 – Ereignisse, die das parteipolitische Leben in der Pfalz fast völlig zum Erliegen brachten –, ließen die innerparteilichen Konflikte in der pfälzischen BVP vorübergehend in den Hintergrund treten Nach außen hin kämpfte die Partei relativ geschlossen gegen die französischen Bestrebungen und den Separatismus, im Inneren aber schwelten die alten Konflikte weiter, auch wenn die Bildung der Regierung Marx im Dezember 1923 wieder zu einer Annäherung von Zentrum und BVP im Reich führte Zwar gehörte die BVP der Regierungskoalition nicht offiziell an, unterstützte sie aber und gestattete ihrem Reichstagsabgeordneten Emminger ihr als Justizminister beizutreten Am 4 Mai wurde der Reichstag neu gewählt Als der Wahltermin Anfang des Jahres bekanntgegeben wurde, stellte sich in der pfälzischen BVP natürlich sofort die Frage, wie man mit einer erneuten Kandidatur Hofmanns, die allgemein erwartet wurde, umgehen würde Hofmann hatte sich in der zurückliegenden Legislaturperiode als kompetenter Vertreter der besetzten Gebiete und engagierter Streiter für ein Reichsschulgesetz profiliert Selbst der „Bayerische Kurier“, der Hofmann seit Jahren stark kritisiert hatte, musste eingestehen, dass er sich in der Zentrumsfraktion als „tüchtige Arbeitskraft“ und „hochgeschätztes Mitglied“ erwiesen hatte 78 Die Berliner Zentrumsführung sprach sich daher schon früh für seine erneute Nominierung aus 79 Ein erstes vertrauliches Gespräch zwischen Fehrenbach, mittlerweile Vorsitzender der Zentrumsfraktion im Reichstag, und seinem Kollegen von der BVP, Domkapitular Johann Leicht, fand Anfang März statt Es gibt Hinweise, dass Leicht, der zu den Gemäßigten in der BVP zählte, eine Kandidatur von Hofmann nicht kategorisch ablehnte 80 Daraufhin schlug ihm Fehrenbach am 12 März in einen Brief ein Wahlabkommen vor Sollte, so der wichtigste Punkt des Abkommens, die BVP die Kandidatur Hofmanns in 77 78 79 80

Rheinisches Volksblatt v 7 10 1922 („Bayerische Volkspartei und Zentrum“) Bayerischer Kurier v 10 4 1924 („Zentrum u Bayer Volkspartei“) Neue Pfälzische Landeszeitung v 11 4 1924 („Vor der Scheidung“) Neue Pfälzische Landeszeitung v 19 3 1924 („Um die Kandidatur Hofmann Ludwigshafen“); Katholische Arbeiterzeitung v 23 3 1924; Kölnische Volkszeitung v 3 4 1924 („Das Zentrum und die Bayerische Volkspartei“); BayHStA, MA 108 276 (Aktennotiz der Haupthilfsstelle der Pfalz, 20 3 1924)

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der Pfalz unterstützen, würde das Zentrum auf die Nominierung von Kandidaten im rechtsrheinischen Bayern, über die man in Berlin nachgedacht hatte, verzichten 81 Am 20 März beschäftigte sich auch der erweitere Ausschuss der pfälzischen BVP auf einer Sitzung in Mannheim mit der Frage Die Mehrheit der Anwesenden stimmte – wie angesichts der Zusammensetzung des Vorstandes und des Ausschusses nicht anders zu erwarten war – gegen eine erneute Kandidatur Hofmanns, nachdem dieser, unterstützt von Gable und einigen wenigen anderen, darauf bestanden hatte, nach einer möglichen Wahl in den Reichstag wieder der Zentrumsfraktion beizutreten 82 Leicht teilte daraufhin dem Vorsitzenden des Zentrums, Wilhelm Marx, schriftlich mit, dass die BVP eine Kandidatur Hofmanns nicht unterstützen könne und in der Pfalz einen eigenen Kandidaten aufstellen werde Das Schreiben scheint Marx allerdings nie erreicht zu haben 83 Da in Berlin folglich der Eindruck entstehen musste, die BVP antworte nicht auf Fehrenbachs Schreiben, beschloss der Parteivorstand am Morgen des 2  April kurzerhand, bei den bevorstehenden Wahlen sowohl in der Pfalz als auch in den Wahlkreisen im rechtsrheinischen Bayern eigene Kandidaten aufzustellen 84 Der Mannheimer Beschluss war eine offene Kampfansage an das Zentrum und den Zentrumsflügel im Pfalzverband der BVP – und wurde von diesen auch so verstanden „Der Kampf “, schrieb die „Germania“, sei nicht mehr zu vermeiden, er sei zur „unweigerlichen Notwendigkeit“ geworden 85 Das Zentrum habe „alle Ursache, seine eigenen berechtigten Interessen in der Pfalz mit aller Entschiedenheit zu wahren“, ergänzte die „Kölnische Volkszeitung“ 86 Der immer offensichtlicher werdende Rechtsruck der BVP und ihre extrem föderalistische Politik, die dem „Reichsgedanken“ schade und das Reich zu einer „Dienstmagd Bayerns“ mache87, hatte die ideologische Entfrem-

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Bayerische Volkspartei und Zentrum, hrsg v Generalsekretariat der Bayerischen Volkspartei, München 1924, 7–8 ; Kölnische Volkszeitung v 3 4 1924 („Das Zentrum und die Bayerische Volkspartei“); Germania v 3 4 1924 („Wir müssen nach Bayern“) Kölnische Volkszeitung v 3 4 1924 („Das Zentrum und die Bayerische Volkspartei“); BayHStA, Abt II Geheimes Staatsarchiv, NL Heinrich Held, P 9 (Manuskript: Die Spaltung der Pfälzer Katholiken vom Jahre 1924, 4); ANP, AJ9, Nr  5278 (Aktennotiz v 7 4 1924) Kölnische Volkszeitung v 19 3 1924 („Um die Kandidatur des Reichstagsabgeordneten Hofmann (Ludwigshafen)“) und 3 4 1924 („Das Zentrum und die Bayerische Volkspartei“); Bayerischer Kurier v 10 4 1924 („Zentrum u Bayer Volkspartei“); Germania v 3 4 1924 („Wir müssen nach Bayern“); Hugo Stehkämper (Bearb ),Der Nachlass des Reichskanzlers Wilhelm Marx, Bd  III, Köln 1968, 223 (Marx an Fehrenbach, 9 4 1924); Bayerische Volkspartei und Zentrum (wie Anm  81), 7–10; Bundesarchiv (künftig BA), R 43 I, Nr  2235 (Vertretung der Reichsregierung in München an Reichskanzlei, 10 4 1924; vgl auch Schönhoven, Bayerische Volkspartei (wie Anm  1), 93–94 Germania v 2 4 1924 („Zentrum und Bayerische Volkspartei“); ANP, AJ9, Nr  5278 (Aktennotiz v 2 4 1924: „Le Centre et le Parti Populaire Bavarois“); Bayerische Volkspartei und Zentrum (wie Anm  81); S  10 Germania („Wir müssen nach Bayern“) Ebd , v 3 4 1924 („Das Zentrum und die Bayerische Volkspartei“) Germania v 3 4 1924 („Wir müssen nach Bayern“)

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dung zwischen den beiden Flügeln im Pfalzverband der BVP so groß werden lassen, dass eine weitere Zusammenarbeit unmöglich erschien Hatten die Zentrumsanhänger bislang noch gehofft, innerhalb der Partei für ihre Ziele wirken und so für eine Wiederannäherung von Zentrum und BVP arbeiten zu können, so schien der Bruch, mit dem man in den zurückliegenden Jahren bereits mehrmals geliebäugelt hatte, nun ausausweichlich Auf Einladung Gables trafen sich mehrere von ihnen – Namen und Zahl sind nicht überliefert – am 30 März in Mannheim, um über das weitere Vorgehen zu beraten In der am Schluss des Treffens einstimmig verabschiedeten und einige Tage später in der Presse veröffentlichten Resolution heißt es: Die heute hier Versammelten sind bereit, die Konsequenzen zu ziehen, nämlich aus der Bayerischen Volkspartei auszutreten, sich als Zentrumspartei zu konstituieren und für die kommenden Reichstags- und Landtagswahlen eigene Kandidaten aufzustellen 88

Einige Tage später berichtete die Haupthilfstelle für die Pfalz dem Außenministerium über die neueste Entwicklung: „Die Trennung zwischen BVP und Reichszentrum, welche schon längere Zeit latent war, ist nun akut geworden Ihre besonderen Förderer sollen die christlichen Gewerkschaften […] sein “89 Eine endgültige Entscheidung war mit der Mannheimer Absichtserklärung aber noch nicht gefallen Am 7 April bat Walzer im Namen der katholischen Geistlichen von Ludwigshafen Hofmann in einen Brief eindringlich, doch auf eine erneute Kandidatur zu verzichten „Aus kirchlich-religiösen Gründen müssten wir eine politische Spaltung der Pfälzer Katholiken lebhaft bedauern “90 Drei Tage später, am 10 April, fand dann in Neustadt eine weitere Sitzung des Parteiausschusses statt91, an der auch noch einmal mehrere Zentrumsanhänger teilnahmen, unter anderem Gable, der Arbeitersekretär Kraus aus Oggersheim und Dr Albert Fink, der am 26 März die Chefredaktion der „Neuen Pfälzischen Landeszeitung“ von seinem Bruder Johannes übernommen hatte Hofmann scheint nicht teilgenommen zu haben In drei längeren Mitschriften der Sitzung, die von französischen Besatzungsoffizieren angefertigt wurden, wird er nicht ein einziges Mal als Redner erwähnt 92 Die Parteiführung hatte sich inzwischen auf Michael Bayersdörfer als Spitzenkandidaten für die bevorstehende Reichstagswahl geeinigt Der Ausschuss war einberufen worden, um ihn offiziell zu nominieren Da sich im Vorfeld der Sitzung aber in einzel88 89 90 91 92

Kölnische Volkszeitung v 6 4 1924 („Die Zentrumspartei in der Pfalz“); Germania v 7 4 1924 („Das Zentrum in der Pfalz“); Der Rheinpfälzer v 14 4 1924 („Eine Feststellung“) Archiv des Außenministeriums (künftig AAA), Abt II: Besetzte Gebiete (Bericht der Haupthilfstelle der Pfalz: „Zur Lage in der Pfalz“, 8 4 1924) ABSp, BA-XV-75 (Walzer an Hofmann, 7 4 1924) Der Rheinpfälzer v 11 4 1924 („Kreisausschuß der BVP“); BA, R 43 I, Nr   2235 (Vertretung der Reichsregierung, München an Reichskanzlei, 11 4 1924) ANP, AJ9, Nr  5278 (Zwei Compte Rendus v 11 4 1924); und Nr  5291 (Compte Rendu v 12 4 1924)

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nen Parteibezirken Widerstand gegen seine Kandidatur geregt hatte, versuchten die Zentrumsanhänger in Neustadt noch einmal, Hofmann als Spitzenkandidaten durchzusetzen Sie schlugen vor, den Status Quo beizubehalten, also Hofmann an erster Stelle für den Reichstag zu nominieren und ihm zu gestatten, sich dort der Zentrumsfraktion anzuschließen, die gewählten Landtagsabgeordneten wie in der Vergangenheit aber in die Fraktion der BVP zu delegieren 93 Dies führte erneut zu hitzigen Diskussionen Der „Rheinpfälzer“ sprach am Tag darauf in seinem Bericht über die Sitzung von einer „lebhaften Aussprache […], die des Öfteren zu grundsätzlichen Auseinandersetzungen“ geführt habe 94 Dies scheint aber eine etwas verharmlosende Darstellung zu sein, da in den französischen Protokollen mehrere Male davon die Rede ist, dass Bayersdörfer, der die Versammlung leitete, die Gemüter beruhigen musste („calmer les esprits“) Vor allem Gable wurde wegen der Mannheimer Tagung vom 30 März und der dort verabschiedeten Resolution zur Zielscheibe zahlreicher Attacken Dr Wolf, der Chefredakteur des „Pfälzer Volksboten“, fragte ihn, ob der Inhalt der Mannheimer Resolution, wie er in der Presse veröffentlicht worden war, korrekt sei und ob er zu ihm stehe Als Gable dies bejahte, forderten Wolf, Prälat Keßler, Ludwig Butscher und einige andere seinen sofortigen Ausschluss aus der Sitzung, da er ihrer Meinung nach durch diese Aussage seine Mitgliedschaft in der Bayerischen Volkspartei aufgegeben habe und damit kein Recht mehr besitze, an der Besprechung teilzunehmen Bayersdörfer lehnte dies zwar ab, Gable und Kraus verließen aber trotzdem den Saal Bei der Abstimmung über die Spitzenkandidatur erhielt Bayersdörfer 38 Stimmen, Hofmann elf, der Deidesheimer Bürgermeister Dr Arnold Siben und der Neustadter Lehrer Dr Adolf Baumann, die sich ebenfalls zur Wahl gestellt hatten, jeweils eine Stimme Für Hofmann hatten die Delegierten der Bezirke Frankenthal, Ludwigshafen, Speyer, Bergzabern, Germersheim, Winnweiler, Pirmasens und Zweibrücken gestimmt 95 „So wird es denn auch in der Pfalz in Bälde zu einer reinlichen Scheidung der Geister kommen“, kommentierte die „Neue Pfälzische Landeszeitung“ am nächsten Tag 96 Zwei Tage nach der Neustadter Ausschusssitzung machten Zentrum und BVP einen letzten Versuch, die verfahrene Situation in der Pfalz doch noch zu regeln Marx hatte am 11 April dem Vorsitzenden der BVP, Karl Friedrich Speck, in einem Brief ein Treffen in kleinem Kreis vorgeschlagen, um die Angelegenheit noch einmal in aller Ruhe zu besprechen Speck stimmte zu, und man traf sich am 12 April im Frankfurter Hotel „Rose“ Von der BVP nahmen außer Speck noch Heinrich Held, der Vorsitzende der Landtagsfraktion, und Prälat Leicht, der Vorsitzende der Reichstagsfraktion, teil, 93 94 95 96

Neue Pfälzische Landeszeitung v 11 4 1924 („Vor der Scheidung“) Der Rheinpfälzer v 11 4 1924 („Kreisausschuß der BVP“) Wie Anm  92 Neue Pfälzische Landeszeitung v 11 4 1924 („Vor der Scheidung“)

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vom Zentrum Reichskanzler Marx, der Fraktionsvorsitzende Fehrenbach, Hermann Hofmann und die beiden Abgeordneten Herold und Forch Die Zentrumsvertreter waren zwar grundsätzlich bereit, auf die am 2 April beschlossene Aufstellung eigener Kandidaten in allen bayerischen Wahlkreisen wieder zu verzichten Da sie als Gegenleistung von der BVP aber die Nominierung Hofmanns als Kandidat des Zentrums ohne Gegenkandidaten aus der BVP forderten, gerieten die Gespräche sehr schnell in eine Sackgasse 97 Marx schrieb ein paar Tage später an Fürst Löwenstein: „Etwas anderes konnten wir nicht tun, da Hofmann mit zu den tüchtigsten Mitgliedern der Fraktion gehört und sich namentlich um die besetzten Gebiete […] ganz außerordentliche Verdienste erworben hat “98 Die „Kölnische Volkszeitung“ sprach von einer „Ehrensache“ 99 7. Die Wiedergründung der pfälzischen Zentrumspartei Nach dem Scheitern der Frankfurter Gespräche war die Spaltung der BVP und die Wiedergründung einer Zentrumspartei in der Pfalz nicht mehr zu verhindern 100 „La scission au sein du Bayerische Volkspartei est en cours“, hieß es in einem Rapport der Sureté 101 In Ludwigshafen hatte sich inzwischen ein provisorischer Zentrumsausschuss gebildet Er wird am 12 April zum ersten Mal in der Presse erwähnt102, muss aber schon viel länger bestanden und die geplante Gründung des Zentrums vorbereitet haben, da der Gründungsparteitag bereits am 13 April stattfand Dem Ausschuss gehörten 23 Personen an Mit einer Ausnahme, dem Landwirt Andreas Bügel aus Maxdorf, kamen alle aus Ludwigshafen, unter anderem Johannes Fink, Dr Albert Fink, Gable, Hofmann und der Gewerkschaftssekretär Adolf Schwarz 103 Von der Reichsleitung wurden die Pläne der Pfälzer anfangs keineswegs mit Begeisterung aufgenommen, da man befürchtete, sie könnten das ohnehin nicht besonders gute Verhältnis zur BVP noch weiter belasten Hofmann, Gable und Albert Fink wurden daher beauftragt, nach Berlin zu fahren, um die Parteiführung von der Not97

Kölnische Volkszeitung v 12 4 1924 („Zentrum und Bayerische Volkspartei“); Augsburger Postzeitung v 16 4 1924 („Zentrumskandidaten in Bayern“); Der Rheinpfälzer v 17 4 1924 („Von der Leitung der Bayerischen Volkspartei“); ANP, AJ9, Nr  5291 (Aktennotiz v 18 4 1924) und Nr  4244 (Note à la Haute Commission Interallié v 26 4 1924); Bayerische Volkspartei und Zentrum (wie Anm  81), 14–15 98 Stehkämper, Nachlass (wie Anm  83); 226–227 (Marx an Fürst Löwenstein, 25 4 1924), vgl auch ebd , 225–226 (Stegerwald an Lerchenfeld, 22 4 1924; Marx an Dr Brom, 25 4 1924) 99 Kölnische Volkszeitung v 14 5 1924 („Ein kritisches Nachwort zu den Reichstagswahlen“) 100 Kölnische Volkszeitung v 11 4 1924 („Aus der Pfalz“) 101 ANP, AJ9, Nr  5278 (Rapport der Sureté Ludwigshafen v 11 4 1924) 102 Kölnische Volkszeitung v 12 4 1924 („In der Pfalz“) 103 Aufgeführt werden die Namen auf der Einladung zur Gründungsversammlung, Exemplar im Archiv für Christlich-Demokratische Politik (künftig ACDP), I-100–51

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wendigkeit einer Parteigründung in der Pfalz zu überzeugen „Es galt Marx und Stegerwald zu gewinnen“, hat Gable später einmal gesagt 104 Leider existiert kein Protokoll der Gespräche Es ist daher nicht mehr nachzuvollziehen, was im Detail besprochen wurde und was Marx und Stegerwald dazu bewegte, ihre Zustimmung zur Gründung eines pfälzischen Landesverbandes zu geben Auch der Zeitpunkt der Reise ist nicht bekannt Sie wird aber wohl spätestens Anfang April stattgefunden haben, sonst hätte die Gründungsversammlung aus organisatorischen Gründen nicht bereits am 13 April stattfinden können Wie einige der vorausgehenden Sitzungen, fand auch die Gründung der pfälzischen Zentrumspartei nicht in der Pfalz und damit im besetzten Gebiet, sondern in Mannheim statt, weil man dort ohne Aufsicht durch die französischen Besatzungsbehörden tagen konnte Anwesend waren 250 Delegierte aus allen Teilen der Pfalz Von der Reichsleitung der Partei nahm Generalsekretär Heinrich Vockel teil Das Hauptreferat hatte Hermann Hofmann übernommen Er warf der BVP vor, sich nach 1920 in eine völlig neue Partei verwandelt und sich immer mehr der „unheilvollen“ Politik der Deutschnationalen angenähert zu haben Sie habe daher mitzuverantworten, dass München zu einem Zentrum rechtsradikaler Bestrebungen geworden sei Die Trennung sei daher unerlässlich Nach seiner Rede wurde die Gründung der Zentrumspartei der Pfalz einstimmig beschlossen und der Deidesheimer Bürgermeister Dr Arnold Siben zum 1 , Pfarrer Johannes Fink zum 2 und der Ludwigshafener Postoberinspektor Bruch zum 3 Vorsitzenden gewählt In den Ausschuss wurden der Herxheimer Pfarrer Neuberger, Dörler, Bügel und Dr Fink berufen Als Spitzenkandidat für die Reichstagswahl wurde erwartungsgemäß Hermann Hofmann aufgestellt Auf der Liste folgten ihm der Kaufmann Weinmann aus Zweibrücken, Bügel, Dörler, Frau Buser aus Ludwigshafen und der Weingutsbesitzer Jakob Ziegler aus Weiher Die Nominierung der Landtagskandidaten wurde einer Kommission übertragen 105 In den Wochen nach der Gründung begann das Zentrum mit dem Ausbau seiner Parteiorganisation Die Pfalz wurde in Bezirke eingeteilt und für jeden Bezirk vom Parteivorstand Vertrauensmänner ernannt „Das Zentrum marschiert“, kommentierte die „Neue Pfälzische Landeszeitung“106, und in einem Bericht der Sureté ist von einer

104 Ebd , I-100–2 (Stenographische Mitschrift der Generalversammlung der Zentrumspartei in Neustadt, 7 2 1933), I-100–51 (undatiertes handschriftliches Manuskript von Jakob Gable: „Der Auftakt zur Gründung der Zentrumspartei 1924“) 105 Germania v 14 4 1924 („Die Pfalz für das Zentrum“); Kölnische Volkszeitung v 14 4 1924 („Die Zentrumspartei der Pfalz“); Augsburger Postzeitung v 16 4 1924 („Die Gründung der Zentrumspartei in der Pfalz“); ACDP, I-100–51 (Gedruckte Einladung); ANP, AJ9, Nr  5278 (Compte Rendu v 14 4 1924 und Rapport Journalier v 14 4 1924); BA, R 43 I, Nr  2235 und 2657 (Vertretung der Reichsregierung in München an Reichskanzlei, 16 4 1924), alle vier Berichte mit teilweise falsch geschriebenen Namen der Vorstandsmitglieder und Kandidaten; vgl auch Ruppert, Dienst (wie Anm  10), 307–308 106 Neue Pfälzische Landeszeitung v 22 4 1924 („Das Zentrum marschiert“)

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„très grande activité dans la region“ die Rede Bis Ende April wurden Ortsgruppen in Bad Dürkheim, Bergzabern, Edenkoben, Frankenthal, Grünstadt, Ingenheim, Kaiserslautern, Kapsweyer, Lambrecht, Landau, Lingenfeld, Ludwigshafen, Mörlheim, Neustadt, Niederkirchen, Pirmasens, Roxheim, Rülzheim, Venningen und eine gemeinschaftliche Ortsgruppe für Dirmstein, Gerolsheim, Laumersheim und Großkarlbach gegründet In Edenkoben wurde die bestehende Ortsgruppe der BVP einfach umbenannt und so in eine Ortsgruppe des Zentrums mit gleicher Vorstandschaft wie zuvor umgewandelt107, in Ludwigshafen traten mit Ausnahme von Ludwig Butscher alle Mitglieder der BVP-Stadtratsfraktion aus der Fraktion aus und konstituierten sich als Zentrumsfraktion neu 108 Als die Vertrauensmänner am 20 April zu einer ersten Konferenz zusammenkamen, konnten sie Erfreuliches berichten Der Aufbau der Organisation mache große Fortschritte und stoße lediglich in drei Bezirken, die namentlich nicht genannt werden, auf Schwierigkeiten, hieß es 109 In der BVP wurde die Gründung der Zentrumspartei natürlich scharf kritisiert Man warf Hofmann und seinen Freunden vor, die Einheit des politischen Katholizismus in der Pfalz mutwillig zerstört und geschwächt zu haben Grund sei einzig und allein sein persönlicher Ehrgeiz gewesen Die Frankfurter Verhandlungen seien nicht an Sachfragen, sondern ausschließlich an einer „reinen Personenfrage“ gescheitert 110 „Es wird Karwoche werden für den Katholizismus der Pfalz und das alles wegen einer Person“ 111 Der Vorwurf des persönlichen Ehrgeizes war in der Tat nicht ganz unbegründet Hofmann dachte natürlich auch an seine politische Karriere, die ihn aus seinem Ludwigshafener Schulalltag in den Reichstag und damit in die große Politik geführt hatte Es wäre aber verkürzt, würde man die Wiedergründung der Zentrumspartei in der Pfalz einzig und allein auf diesen Aspekt zurückführen, zumal Hofmann auf der Reichsliste des Zentrums abgesichert und sein Wiedereinzug in den Reichstag damit nicht in Frage stand Es ist vielmehr zu vermuten, dass es auch ohne die Causa Hofmann über kurz oder lang zu einer Spaltung der BVP gekommen wäre Zu groß waren mittlerweile die politischen Differenzen zwischen den beiden Parteiflügeln geworden „Letztlich“, so schreibt Ulrich von Hehl in seiner Biographie über Wilhelm Marx,

107 Neue Pfälzische Landeszeitung v 24 4 bis 3 5 1924; Frankenthaler Zeitung v 30 4 1924; Dürkheimer Tagblatt v 3 5 1924; Edenkobener Zeitung v 24 4 1924; Pfälzer Volksbote v 3 5 1924; ANP, AJ9, Nr  5289 (Compte Rendu v 20 , 24 und 26 4 1924) 108 Germania v 16 4 1924 („Das Zentrum in der Pfalz“); Der Rheinpfälzer v 16 4 1924 („Die Landtagskandidaten des neuen pfälzischen Zentrums“); ANP, AJ9, Nr  5291 (Compte Rendu v 18 4 1924) 109 Neue Pfälzische Landeszeitung v 22 4 1924 („Das Zentrum marschiert“) 110 Der Rheinpfälzer v 16 4 1924 („Vernunft!“), 17 4 1924 („Von der Leitung der Bayerischen Volkspartei“), 19 4 1924 („Folgen der politischen Spaltung der pfälzischen Katholiken“) und 23 4 1924 („Die Sonderkandidaten!“); Augsburger Postzeitung v 16 4 1924 („Zentrumskandidaten in Bayern“); BA, R 43 I, Nr  2235 (Vertretung der Reichsregierung in München an Reichskanzlei, 16 4 1924) 111 Der Rheinpfälzer v 14 4 1924 („Die Spaltung“)

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stand also weit mehr und weit Grundsätzlicheres zur Diskussion, als es der aktuelle Anlass erkennen ließ: Meinungsgegensätze in zentralen verfassungspolitischen Fragen, die seit 1918/19 schwelten, niemals endgültig ausgetragen worden waren und nun ihre irrationale Sprengkraft entfalteten 112

Bedenken an der Gründung der Zentrumspartei hatte auch Bischof Sebastian geäußert Er befürchtete, dass die zu erwartende Auseinandersetzung zwischen Zentrum und BVP bis in die einzelnen Kirchengemeinden und die katholischen Vereine reichen und nicht nur persönliche Wunden schlagen, sondern auch die seelsorgerische Arbeit der Kirche erschweren würde 113 „Die katholischen Vereine“, schrieb Walzer einige Wochen später in einem Brief, „sind in ihrer politischen Stellungnahme nicht mehr einig Ihre Stoßkraft ist gemindert, die Gefahr einer Zerreißung der Organisationen ständig vorhanden “114 Einen ersten Vorgeschmack auf die Auseinandersetzungen zwischen Zentrum und BVP bot der erbitterte Machtkampf um die „Neue Pfälzische Landeszeitung“ Bereits am 8 April hieß es in einer Aktennotiz der Haupthilfsstelle für die Pfalz, dass das Blatt, das „bisher ganz im Fahrwasser Hofmanns steuerte“, einen „anderen Kurs“ erhalten solle, da die Mehrheit des Aufsichtsrates „volksparteilich“ eingestellt sei 115 Am 12 April, einen Tag vor der Gründung der Zentrumspartei, teilte Justizrat Butscher, der Vorsitzende des Aufsichtsrates, Chefredakteur Albert Fink mit, dass der Aufsichtsrat am Vortag einstimmig seine fristlose Kündigung beschlossen habe, da er auf der Einladung zur Gründung der Zentrumspartei als Redner und Mitglied des vorläufigen Ausschusses aufgeführt sei An der Sitzung des Aufsichtsrates hatten allerdings lediglich drei der ursprünglich sieben Mitglieder teilgenommen Zwei Sitze waren vakant, Hofmann war an der Teilnahme verhindert, und ein weiteres Mitglied, Sebastian Seubert, hatte die Sitzung nach ihrer Eröffnung unter Protest verlassen, weil Butscher Hofmanns Bitte, sie um einen Tag zu verschieben, damit er teilnehmen könne, ignoriert hatte 116 In einer Stellungnahme, veröffentlicht am 15 April, räumte Butscher zwar ein, dass der Gesellschaftervertrag vorschreibe, die Zeitung „im Sinne der Zentrumsgrundsätze“ zu führen, betonte aber, dass damit „das Zentrum aus der Zeit eines Windthorsts“ und nicht das „nachrevolutionäre Zentrum […] mit seiner liebevollen Hingabe an

112 113 114 115 116

Ulrich von Hehl, Wilhelm Marx 1863–1946 Eine politische Biographie, Mainz 1987, 279–280 BA, R 43 I, Nr   1841 (Vertretung der Reichsregierung in München an Reichskanzlei, 4 4 1924); Erzbischöfliches Archiv München, Nachlass Faulhaber (künftig EAM), Nr  4370: Korrespondenz Faulhaber-Sebastian (Sebastian an Faulhaber, 4 5 1924) ABSp, BA-XV-75 (Walzer an Nuntius, 15 7 1924) AAA, Abt II: Besetze Gebiete / Geheimorganisationen im besetzten Gebiet (Haupthilfsstelle für die Pfalz, Publizistische Abteilung: Aktennotiz v 8 4 1924: Zur Lage in der Pfalz) Neue Pfälzische Landeszeitung v 16 4 1924 („Der Redaktionskonflikt“)

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die Sozialdemokratie“ gemeint gewesen sei – eine Behauptung, die völlig aus der Luft gegriffen war 117 Hofmann, Albert Fink und Seubert organisierten deshalb am Abend des gleichen Tages eine öffentliche Protestversammlung im katholischen Gesellenheim, die so zahlreich besucht war, dass viele sogar auf dem Gang vor dem Saal standen In einer einstimmig gefassten Entschließung wurde das Vorgehen Butschers „auf das Schärfste“ verurteilt und die Rücknahme der Entlassung Finks gefordert, da ihre Begründung „jeglicher Grundlage“ entbehre Eine anschließend stattfindende inoffizielle Versammlung der anwesenden Gesellschafter beschloss, Fink wieder als Chefredakteur einzusetzen Als Butscher am nächsten Morgen das Gebäude der „Neuen Pfälzischen Landeszeitung“ betreten wollte, wurde er von einer größeren Anzahl von Personen unter Führung Hofmanns daran gehindert 118 Zwar wiesen die zuständigen Behörden, bei denen Butscher Beschwerde einlegte, Hofmann an, ihm den Zutritt zur Redaktion zu gewähren Da sich aber die Redaktionsmitglieder, Setzer und Drucker mit Fink solidarisierten und die Arbeit niederlegten, musste er schließlich einsehen, dass sein Versuch, die „Landeszeitung“ zum BVP-Blatt umzufunktionieren, erfolglos bleiben musste Auch der Versuch, Gesellschaftern, die dem Zentrum nahestanden, ihre Anteile abzukaufen, um so eine BVP-Mehrheit in der Gesellschafterversammlung zu erreichen, scheiterte 119 Diese trat am 17 April erneut zusammen Anwesend waren 71 Personen, die 319 der insgesamt 400 Gesellschafterstimmen vertraten Sie setzten Fink nun auch offiziell wieder in sein Amt ein und wählten einen neuen Aufsichtsrat, der ausschließlich aus Zentrumsanhängern bestand und Hofmann zum seinem Vorsitzenden ernannte 120 Es kam zwar in den folgenden Monaten noch zu einem gerichtlichen Nachspiel, an seinem Ende aber wurden die Absetzung Butschers und die Wahl des neuen Aufsichtsrat für rechtens erklärt 121

117 118

Ebd , Ausgabe v 15 4 1924 („Zur Steuer der Wahrheit“) Ebd , Ausgabe v 16 4 1924 („Der Redaktionskonflikt“); Der Rheinpfälzer v 17 4 1924 („Zur Steuer der Wahrheit“); AAA, Abt II, Besetzte Gebiete / Reichstagswahlen 1924 im besetzten Gebiet (Aktennotiz der Haupthilfsstelle für die Pfalz v 16 4 1924: „Zur Lage in der Pfalz“); ANP, AJ9 (Aktennotiz der Sureté v 18 4 1924) 119 AAA Abt II Besetzte Gebiete  / Reichstagswahlen 1924 im besetzten Gebiet (Aktennotiz der Haupthilfsstelle für die Pfalz v 22 4 1924: „Zur Lage in der Pfalz“); ABSp, BA-XV-75 (Seubert an Bischof Sebastian, 22 4 1924) 120 Neue Pfälzische Landeszeitung v 19 4 1924 („In eigener Sache“); Der Rheinpfälzer v 19 4 1924 („Karwochen für den Katholizismus in der Pfalz“); Kölnische Volkszeitung v 19 4 1924 („Das Zentrum in der Pfalz“); Germania v 19 4 1924 („Die ‚Neue Pfälzische Landeszeitung‘ bleibt Zentrumsblatt“); Vorwärts v 19 4 1924 („Der Zentrumskrieg“) 121 Neue Pfälzische Landeszeitung v 21 5 1924 („In eigener Sache“)

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8. Die Reichstagwahl vom 4. Mai 1924 Der gleich nach der Gründung der Zentrumspartei einsetzende Wahlkampf wurde in der Tat zu einem „erbarmungslosen Bruderkrieg“, wie der „Rheinpfälzer“ notierte 122 Der Ton der Presseartikel wurde immer aggressiver, Flugblätter wurden vor den Gottesdiensten verteilt, Wahlplakate der jeweils anderen Partei überklebt, Wahlversammlungen boykottiert 123 „Der Wahlkampf zwischen der Bayerischen Volkspartei und dem Zentrum in der Pfalz“, hieß es in einem Schreiben der Haupthilfstelle für die Pfalz in Heidelberg an den Staatskommissar der Pfalz vom 25 April, nimmt Formen an, die geeignet sind, über die streitenden Parteien hinaus die allgemein deutschen Interessen der Pfalz zu gefährden Nach dem hier vorliegenden Material führt besonders der ‚Rheinpfälzer‘ den Kampf in gehässiger Weise Noch schlimmer allerdings soll der ‚Volksbote‘ sein 124

Auch wenn beide Parteien in allen Schichten und Gruppen der katholischen Bevölkerung Anhänger hatten, so sind Unterschiede doch deutlich zu erkennen Hinter der BVP standen der Bischof125, der in einem Rundschreiben die Dekane aufforderte, „in vertraulicher und kluger Weise“ für die Volkspartei einzutreten, das Diözesanblatt „Der Pilger“126, die überwiegende Mehrheit der Geistlichen  – in mehreren Quellen ist von 90 Prozent die Rede127 –, die zum Teil von der Kanzel für die BVP warben128, der Priesterverein129 und der Christliche Bauernverein 130 Das Zentrum wurde von den

122

Der Rheinpfälzer v 19 4 1924 („Folgen der politischen Spaltung der pfälzischen Katholiken“); vgl auch Neue Pfälzische Landeszeitung v 26 4 1924 („Zur Abwehr und Aufklärung“) 123 Rheinisches Volksblatt v 29 4 1924 („Versammlung der BVP Ludwigshafen a Rh “); ABSp, BAXV-75 (Sebastian Seubert an Bischof Sebastian, 5 5 1924) und Personalakte Johannes Fink (Pfarrer der St Martinskirche Kaiserslautern an Bischof Sebastian, 5 5 1924) 124 BayHStA, MA 108 076 (Haupthilfstelle für die Pfalz an Staatskommissar für die Pfalz, 25 4 1924) 125 ABSp, BA-XV-75 (Rundschreiben von Bischof Sebastian an die Dekane, 24 4 1924); EAM, Nachlass Faulhaber, Nr  4370: Korrespondenz Faulhaber-Sebastian (Sebastian an Faulhaber, 4 5 1924) 126 Der Pilger v 4 5 1924;Der Rheinpfälzer v 1 5 1924 („Einheit“) 127 Pfälzer Volksbote v 3 5 1924 („Zur Wahl“) und 4 5 1924 („Bitte an die katholische Wählerschaft“); Der Rheinpfälzer v 14 5 1924 („Priesterstand und Politik“) und 29 11 1924 („Wo steht der Pfälzer Katholizismus?“); Zweibrücker Zeitung v 1 5 1924, die davon berichtet, dass die Geistlichkeit Zentrumsversammlungen gemieden habe; EAM, Nachlass Faulhaber, Nr  4370: Korrespondenz Faulhaber-Sebastian (Sebastian an Faulhaber, 4 5 1924); Stadtarchiv Mönchengladbach, 15/2/160 (Landessekretärskonferenz des Volksvereins für das Katholische Deutschland zu MGladbach, 16 /17 9 1924); ABSp, BA-XV-75 (Walzer an Nuntius, 15 7 1924); BayHStA, Abt II Geheimes Staatsarchiv, NL Heinrich Held, P 9 (Manuskript: Die Spaltung der Pfälzer Katholiken vom Jahre 1924, 4); ANP, AJ9, Nr  5289 (Capitaine Delalande an General de Metz, 20 6 1924) 128 Neue Pfälzische Landeszeitung v 26 4 1924 („Mißgriffe und Entgleisungen“); ABSp, Personalakte Johannes Fink (Schreiben an Bischof Sebastian v 9 5 1924); ANP, AJ9, Nr  5289 (Compte Rendu v 27 5 1924); ACDP, I-100–62 (Gustav Wolff an Wilhelm Marx, 1 7 1924) 129 ANP, AJ9, Nr  5291 (undatierte Aktennotiz) 130 Der Rheinpfälzische Bauer v 18 4 1924 („Die Landtagswahlen in Bayern“)

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Christlichen Gewerkschaften und den meisten Katholischen Arbeiter- und Gesellenvereinen unterstützt 131 Die heiße Phase des Wahlkampfs begann am 21 April mit einer Kundgebung der Zentrumspartei im Städtischen Gesellschaftshaus in Ludwigshafen, bei der Siben, Hofmann und Johannes Fink vor 2000 Besuchern sprachen, und einer Versammlung der BVP im großen Saal des neuen Brauhauses in Schifferstadt, bei der Bayersdörfer referierte In Ludwigshafen war auch Altreichskanzler Fehrenbach angekündigt, dem aber an der Mannheimer Rheinbrücke von den Franzosen die Weiterreise verweigert wurde 132 Vor allem das Zentrum war in den verbleibenden zwei Wochen bis zur Wahl äußerst aktiv 133 Die Agitation der Partei sei „über alle Maßen“, schrieb Sebastian an Faulhaber „Die Herrn müssen reichliche Gelder haben “134 Walzer behauptete in einer Ausschusssitzung der BVP nach der Wahl sogar, das Zentrum habe aus Berlin 50 000 Mark zur Finanzierung des Wahlkampfes erhalten, Bayersdörfer sprach in der gleichen Sitzung von „großen Geldsummen“ („fortes sommes d’argent“)135 und im „Rheinpfälzer“ war von „viele(n) Zehntausende(n) von Goldmark“ zu lesen, die helfen sollten, Hofmann das Reichstagsmandat in der Pfalz zu sichern 136 Höhepunkt der Agitation war am Wahlsonntag die Werbefahrt zweier von Trommlern und Trompetern begleiteten Lastwagen mit Wahlparolen der Zentrumspartei und einem symbolischen „Zentrumsturm“ auf der Ladefläche, die von Ludwigshafen über Speyer, Germersheim, Landau, Pirmasens nach Zweibrücken, bzw in die Nordpfalz fuhren,137 Der Turm war eine Anspielung auf das häufig gebrauchte Bild vom Zentrum als festen, unerschütterlichen Turm im Kampf mit seinen Gegnern Den „Rheinpfälzer“ erinnerten die Fahrten allerdings eher an „wilde amerikanische Formen“ der politischen Agitation 138 Die Wahlkampfthemen bei den zahlreichen Versammlungen und Kundgebungen waren die gleichen wie bei den innerparteilichen Diskussionen in den Jahren zuvor Gemeinsam waren Zentrum und BVP die Forderungen nach dem „christlichen Staat“, der Freiheit der Religion, dem Erhalt der Konfessionsschule, dem Ausgleich der wirt-

131 132 133 134 135 136 137 138

So Walzer und Bernzott auf dem Parteitag der BVP am 21 5 1924: ANP, AJ9, Nr  5291 („Compte Rendu v 22 5 1924“); ABSp, Bo ÄA, 816: Gesellenvereine (Pfarrer Stadtmüller an Bischof Sebastian, 11 8 1924) Neue Pfälzische Landeszeitung v 19 4 1924 („Anzeige: Zentrumspartei der Pfalz“) und 22 4 1924 („Das Zentrum marschiert“); Der Rheinpfälzer und der Pfälzer Volksbote v 24 4 1924 (jeweils: „Dr Bayersdörfer vor den Wählern“) ANP, AJ9, Nr  5291 (Compte Rendu v 30 4 1924) EAM, Nachlass Faulhaber, Nr  4370: Korrespondenz Faulhaber-Sebastian (Sebastian an Faulhaber, 4 5 1924) So im Parteiausschuss am 21 4 1924: ANP, AJ9, Nr  5291 (Compte Rendu v 22 5 1924) Der Rheinpfälzer v 27 5 1924 („Neuzentrum und Bayern“) Zweibrücker Zeitung v 5 5 1924 („Der Zentrumsturm“) Der Rheinpfälzer v 27 5 1924 („Neuzentrum und Bayern“)

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schaftlichen Interessen und der „Überwindung des Klassenkampfes “139 In zahlreichen anderen Frage aber bestanden gravierende Unterschiede Die BVP forderte einen starken Föderalismus, die „Wiedergewinnung der im Rausch der Revolutionszeit Bayern entrissenen staatlichen Hoheitsrechte“, eine Revision der „nur scheinföderalistischen“ Weimarer Verfassung und die Aufhebung der Republikschutzgesetze Dem Zentrum warf man vor, zu eng mit der SPD zusammenzuarbeiten, für den Einheitsstaat einzustehen, das „föderalistische Erbe“ der Partei wie einen „wertlosen Fetzen Papier beiseite geworfen“ und die „Entrechtung Bayerns“ geduldet zu haben 140 „Bleibt aber Bayern ein starker Staat mit eigenen Hoheitsrechten, wie es seit 1870 vertragsmäßig festgelegt war, dann sind auch wir Pfälzer Katholiken und unsere Rechte wohl geborgen“, so Prälat Keßler in einer Rede in Königsbach 141 Das Zentrum stellte dagegen „Reichsrecht über Landesrecht“ und „die Verteidigung der Interessen Deutschlands“ über die „Pflege der Eigenart der deutschen Stämme“, trat für die Weimarer Republik und die Weimarer Reichsverfassung ein und verteidigte ihre Zusammenarbeit mit der SPD 142 Als Johannes Fink das „Zusammengehen mit der Arbeiterschaft“ in einer Katholikenversammlung in Frankenthal als „Ruhm für eine christliche Partei“ bezeichnete, erntete er, so der Pressebericht, „lebhaftes ‚Sehr gut!‘“ 143 Der BVP warf man vor, „überspannte partikularistische Forderungen“ aufzustellen, unter dem Einfluss „deutschnationaler Elemente“ zu stehen und sich in „nationalistisches Fahrwasser“ verirrt zu haben 144 Der Ausgang der Wahlen bot kaum Überraschungen Die BVP erhielt 17,6 Prozent der gültigen Stimmen und belegte damit hinter der VSPD, die 23,3 Prozent erreichte, den zweiten Platz Das Zentrum kam auf 10,6 Prozent und wurde damit fünftstärkste Partei Für die BVP stimmten 64 624 Wählerinnen und Wähler, für das Zentrum

139 Der Rheinpfälzer v 24 4 1924 („Dr Bayersdörfer vor den Wählern“) 140 Der Rheinpfälzer v 16 4 1924 („Vernunft“), 24 4 1924 („Dr Bayersdörfer vor den Wählern“ und „Zu den Wahlen“), 28 4 1924 („Warum die Bayerische Volkspartei sich vom Zentrum trennte! v Eugen Jaeger“), dort das Zitat vom „Fetzen Papier“; 29 4 1924 („Versammlung in Edesheim“); Pfälzer Volksbote v 15 4 1924 („Zur Wahlbewegung“), 16 4 1924 („Zentrum gegen BVP“) und 18 4 1924 („Vor den Wahlen: der Bruderzwist in der Pfalz“); Bayerischer Kurier v 5 11 1924 („Bayer Volkspartei und Zentrum“), dort die Formulierung „scheinföderalistisch“, 2 5 1924 („Die Bayer Volkspartei Neustadt a H “) und 26 5 1924 („Neuzentrum und Bayern“), dort das Zitat vom „Rausch“ 141 Abgedruckt sowohl im Rheinpfälzer als auch im Pfälzer Volksboten v 25 und 29 4 1924 („Rede des H H Prälaten Keßler in Königsbach über seine Stellung zum neuen Zentrum“), Zitat in der Ausgabe v 29 4 142 Frankenthaler Zeitung v 23 4 1924 („Die Zentrumspartei der Pfalz“) und 25 4 1924 (Zentrum und Bayerische Volkspartei“), dort das Zitat vom „Reichsrecht“; ACDP, I-100–51 (Flugblatt „Katholiken der Pfalz – gebt acht!“), dort das Zitat von der „Eigenart der Stämme“; ANP, AJ9, Nr  5289 (Compte Rendu v 29 4 1924) 143 Frankenthaler Zeitung v 25 4 1924 („Zentrum und Bayerische Volkspartei“) 144 Neue Pfälzische Landeszeitung v 26 5 1924 („Zur Abwehr und Aufklärung v Dr A Fink“); vgl auch Neue Pfälzische Landeszeitung v 16 4 1924 („Der Bruderzwist“); ACDP, I-100–51 („Illustrierte pfälzische Wahlzeitung“); ANP, AJ9, Nr  5291 (Aktennotiz der Sureté v 18 4 1924)

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39 063 145 Zählt man das Ergebnis beider Parteien zusammen, so kommt man auf 103 687 Stimmen Vier Jahre zuvor waren es 93 405 gewesen Der Zuwachs erklärt sich wohl vor allem durch die höhere Zahl an abgegebenen gültigen Stimmen (1920: 359 452, 1924: 367 791) Trotzdem scheint keine der beiden Parteien so recht glücklich über das Wahlergebnis gewesen zu sein Die BVP hatte im Verhältnis zu 1920 immerhin 28 781 Stimmen verloren und das Zentrum nach dem intensiven und aufwändigen Wahlkampf vielleicht insgeheim mit einem noch besseren Ergebnis gerechnet In einer ersten Stellungnahme schrieb die „Neue Pfälzische Landeszeitung“, man könne „durchaus zufrieden“ sein 146 Ähnlich äußerte sich auch der Parteivorsitzende Dr Arnold Siben auf dem Parteitag am 11 Mai in Neustadt Er wies allerdings auch darauf hin, dass die Partei ja erst knapp drei Wochen vor der Wahl gegründet wurde, die Organisationsstrukturen also noch relativ schwach waren und die Pfarrer massiv Wahlkampf für die BVP gemacht hatten 147 Einige Wochen später beschwerte sich Altreichskanzler Fehrenbach offiziell bei Bischof Sebastian über die pfälzischen Geistlichen, die „in einem bisher noch niemals beobachteten Maße in den Wahlkampf eingegriffen und unter Ausnutzung kirchlicher Einwirkungsmöglichkeiten offen gegen die Zentrumspartei Stellung genommen“ hätten Vielfach sei die Kanzel „im Sinne einer stark aggressiven Wahlpropaganda für die Bayerische Volkspartei“ genutzt worden Als Beispiele führte er Fälle in Deidesheim, Hettenleidelheim, Ludwigshafen-St Dreifaltigkeit, Neuleinigen, Vinningen, Waldsee, Wattenheim, Weidenthal und Winnweiler an 148 Das Schreiben enthält den handschriftlichen Vermerk „Beantwortet 5 Aug 24“ Leider ist dieses Antwortschreiben nicht überliefert In der BVP war man mit dem Ergebnis der Wahlen nur deshalb einigermaßen zufrieden, weil Bayersdörfer in den Reichstag gewählt worden war Zwar zitierte ihn das „Rheinische Volksblatt“ am 22 Mai mit der Aussage, der Ausgang der Wahlen sei „höchst befriedigend“ In den „Mitteilungen für die Vertrauensleute der BVP“ heißt es wenig später aber, er habe das Ergebnis als „recht befriedigend“ bezeichnet Da die „Mitteilungen“ nur für den internen Gebrauch bestimmt waren und im Gegensatz zur Parteipresse nichts beschönigen mussten, ist ihnen wohl mehr Glauben zu schenken 149 Von einem „guten“ oder gar „sehr guten“ Wahlergebnis sprachen weder BVP noch Zentrum

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Der Rheinpfälzer v 14 5 1924 („Das amtliche Ergebnis der Reichstagswahl in der Pfalz“); Wolfgang Hartwich, Die Ergebnisse der Reichstags- und Bundestagswahlen von 1890–1969, in: Pfalzatlas, Textband II, hrsg v Willi Alter, Speyer 1971, 661–688, hier 680 Neue Pfälzische Landeszeitung v 6 5 1924 („Nach der Wahl“) ANP, AJ9, Nr  5289 (Compte Rendu v 12 5 1924) ABSp, BA-XV-75 (Fehrenbach an Bischof Sebastian, 25 6 1924) Der Rheinpfälzer v 8 5 1924 („Nach der Wahlschlacht“); Rheinisches Volksblatt v 22 5 1924 („Der Pfalzverband der BVP“); Mitteilungen für die Vertrauenslaute der BVP 1924, Nr  2 („Stellungnah-

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Überdurchschnittlich schnitten Zentrum und BVP überall dort ab, wo die Anzahl der Katholiken relativ hoch war, also in der südlichen Vorderpfalz, in der Südwestpfalz und auf der Sickinger Höhe Ihre besonderen Hochburgen hatte die BVP in den eher ländlich geprägten Bezirksämtern Germersheim (44,1 %), Speyer (42,1 %), Landstuhl (39,7 %) und Landau (32,0 %), aber auch im stark von der Schuhindustrie bestimmten Bezirksamt Pirmasens (42,3 %) Das Zentrum erzielte seine besten Ergebnisse alle in der Vorderpfalz: in Ludwigshafen-Stadt (19,1 %) und in den Bezirksämtern Ludwigshafen (19,1 %), Bad Dürkheim (18,1 %), Frankenthal (15,7 %) und Speyer (14,8 %), in denen es zahlreiche katholische Arbeiter und relativ gut organisierte Christliche Gewerkschaften gab Bayersdörfer hatte bereits auf einer Versammlung der BVP in Neustadt am 5 April festgestellt, dass sich zahlreiche katholische Arbeiter von der BVP abgewendet hätten und zur Zentrumspartei übergelaufen seien: „Une grande partie des ouvriers sont passés du parti populiste au centre Le parti populiste perdra par ce fait un grand nombre d’adhérents“, zitierte ihn ein französischer Beobachter 150 Das Beispiel des Bezirksamtes Pirmasens zeigt allerdings, dass die Sozialstruktur der katholischen Bevölkerung zwar wichtig, aber keineswegs das allein entscheidende Kriterium war Wichtiger scheint der Einfluss der Parteizeitungen gewesen zu sein Die Hochburgen des Zentrums lagen alle im Hauptverbreitungsgebiet der „Neuen Pfälzischen Landeszeitung“, die der BVP in Regionen, in denen der „Pfälzer Volksbote“, der „Rheinpfälzer“ und das „Rheinische Volksblatt“ dominierten So sah es auch Dr  Arnold Siben In seiner Wahlanalyse auf dem Parteitag am 11 Mai beklagte er, dass der Wahlkampf in der Westpfalz äußerst schwierig gewesen sei, da dort eine dem Zentrum nahestehende einflussreiche Zeitung gefehlt habe 151 Nach der Reichstagwahl baute die Zentrumspartei ihre Organisation weiter aus Neue Ortsgruppen wurden gegründet152, die im April entstandenen provisorischen Parteibezirke an die staatlichen Amtsgerichtsbezirke angeglichen und eine kommunalpolitische Vereinigung, ein Frauenbeirat und Jugendorganisationen, die sogenannten „Windthorstbünde“, ins Leben gerufen 153 Außerdem wurde mit dem Juristen Dr  Ver-

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me des Pfalzverbandes der Bayerischen Volkspartei zu der Frage Bayerische Volkspartei und Zentrum“) ANP, AJ9, Nr  5278 (Compte Rendu v 8 4 1924) Ebd , Nr  5289 (Compte Rendu v 12 5 1924) Unter anderem in Bobenheim am Berg, Beindersheim, Carlsberg, Dirmstein, Elmstein, Enkenbach, Eppstein, Germersheim, Gönnheim, Heßheim, Hettenleidelheim, Hochspeyer, Lambsheim, Limburgerhof, Otterbach, Ramsen, Rodalben, Waldfischbach, vgl Neue Pfälzische Landeszeitung v 3 6 –2 12 1924; zum Bezirk Landau: ACDP, I-100–138 (Übersicht über die Zentrumspartei, Bezirksverband Landau-Edenkoben v Juni 1924) Neue Pfälzische Landeszeitung v 12 5 1924 („Ein pfälzischer Zentrumstag“); Der Rheinpfälzer v 12 5 1924 („Neu-Zentrum“); ANP, AJ9, Nr  5289 (Compte Rendus v 12 5 1924 und 14 5 1924); vgl auch Gerhard Nestler, Windthorstbund und Jungbayern-Ring Zur Geschichte der Jugendorganisation von Zentrum und BVP in der Pfalz, in: Kaiserslauterer Jahrbuch für pfälzische Geschichte und Volkskunde 6/7, 2006/2007, 173–194

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koyen aus Simmern, einem Neffen von Reichskanzler Marx, ein hauptamtlicher Parteisekretär angestellt, der am 20 Mai seinen Dienst aufnahm 154 Geplant war zudem eine Nebenausgabe der „Neuen Pfälzischen Landeszeitung“ mit Sitz in Pirmasens, die die von Siben in seiner Wahlanalyse so vehement beklagte fehlende publizistische Unterstützung in der Westpfalz beheben sollte (aber nie zustande kam) 155 „Von Ludwigshafen werden nach wie vor erbitterte Anstrengungen gemacht, den hiesigen Boden zu erobern“, schrieb Eugen Jaeger am 6 September in einem Brief an Heinrich Held 156 Allerdings scheinen die Bemühungen um die weitere organisatorische Konsolidierung der Partei nach kurzer Zeit ins Stocken geraten zu sein, insbesondere dort, wo die BVP stark war 157 Grund war wohl die schlechte Zahlungsmoral der Parteimitglieder, die zu gravierenden finanziellen Engpässen führte In einem Ende Juni verschickten Rundschreiben an die Vertrauensleute der Bezirke warnte Verkoyen davor, dass die ganze Organisation gefährdet sei, wenn nicht „endlich Geld eingeht“ „Geld, Geld und nochmals Geld“, laute daher die Parole Offensichtlich aber hatte sein Aufruf wenig Erfolg, denn am 6 August beklagte er sich bei Siben, dass „bisher noch keine 500 Mark“ an die Zentralkasse abgeführt worden seien 158 Das Verhältnis zwischen Zentrum und BVP blieb weiter angespannt Der französische Besatzungsoffizier, der die Vorstandssitzung der Zentrumspartei am 21 Juni in Neustadt überwachte, sprach von einem „guerre ouverte“ 159 Eine Woche später beschwerte sich Verkoyen in einem Schreiben an Bischof Sebastian über einen Artikel des „Pfälzer Volksboten“, der „an Gehässigkeit das zulässige Maß unbedingt überschreitet“ Vor allem das Verhalten der Geistlichen bot erneut wiederholt Anlass zu Klagen So forderte der Pfarrer in Hambach am 29 Juni seine Gemeindemitglieder von der Kanzel auf, eine Zentrumsversammlung mit dem Generalsekretär des Rheinischen Bauernvereins Kerp zu boykottieren, und in Dirmstein, Eppstein, Lambrecht, Mussbach, Roxheim und Studernheim warnten die Pfarrer eindringlich vor der Lektüre der „Neuen Pfälzischen Landeszeitung“ und empfahlen stattdessen die der BVP nahestehende „Pfälzer Zeitung“ aus Speyer 160

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Neue Pfälzische Landeszeitung v 20 5 1924 Verkoyen wurde bereits im Frühjahr 1925 wegen „Unzuverlässigkeit“ und „seinem nicht gerade sehr einwandfreien Lebenswandel“ wieder entlassen Er soll sogar Parteiinterna gegen Bezahlung an „die Zentrumsgegner in der Pfalz verraten haben“, LA SP, R 12, Nr  292 (Notizen Dr Englram, 27 4 1925) 155 ANP, AJ9, Nr  5289 (Compte Rendu v 12 5 1924) 156 BayHStA, Abt II Geheimes Staatsarchiv, NL Held, Nr  46 157 Neue Pfälzische Landeszeitung v 12 7 1924 („Speyer“); zu Landau: ACDP, I-100–51 (Ortsgruppe Landau an Verkoyen, 5 9 1924) 158 ACDP, I-100–51 (Flugblatt: „An sämtliche Vertrauensleute der Zentrumspartei der Pfalz“), Abschrift im ABSp, BA-XV-75; ACDP, I-586–023, NL Siben (Verkoyen an Siben, 6 8 1924) 159 ANP, AJ9, Nr  4282 (Compte Rendu v 22 6 1924) 160 ABSp, BA-XV-75 (Verkoyen an Bischof Sebastian, 28 6 1924, dort das Zitat; ders an dens , 1 7 1924; und Dr Fink an Bischof Sebastian, 1 7 1924)

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9. Annäherungsversuche Am 21 Mai 1924 tagte in Neustadt der Kreisausschuss der pfälzischen BVP Die Sitzung endete mit einer weiteren offenen Kriegserklärung an die Zentrumspartei In einer einstimmig angenommenen Resolution wurde die Parteileitung in München aufgefordert, „alsbald“ für die Grundsätze der BVP im „übrigen Deutschland“ zu werben und „im Hinblick auf den Kampf, den das Zentrum gegen uns in Bayern und in der Pfalz begonnen hat und täglich verschärft“ die nötigen Schritte zu unternehmen, „alle wirklich föderalistisch gesinnten Kreise“ zu einem „organischen Ganzen“ zu sammeln 161 Eine Reaktion aus München ist nicht überliefert Allerdings wurden in der Reichsführung des Zentrums immer mehr Zweifel laut, ob der Konfrontationskurs gegenüber der BVP der richtige Weg war – nicht zuletzt, weil man das Kabinett Marx in einen Bürgerblock unter Einschluss der Bayern erweitern wollte Stegerwald verhandelte daher seit dem Frühsommer auf Wunsch von Marx mit Vertretern der BVP über einen „modus vivendi“ 162 Ein erstes Treffen fand Ende Mai in Nürnberg statt Die pfälzischen Landesverbände waren nicht beteiligt, aber – zumindest gilt dies für die Zentrumspartei – vorher informiert worden Was in Nürnberg im Einzelnen besprochen wurde, ist nicht überliefert Als Siben am 2 Juni in einer Vorstandssitzung ein Schreiben der Berliner Reichsleitung mit den Ergebnissen der Nürnberger Besprechungen verlas, war die Empörung aber groß Leider hat der Protokollant nur die Reaktionen der Anwesenden, nicht aber den genauen Inhalt des Schreibens notiert „Ohne jeglichen Widerspruch“ beschloss man, die Vorschläge abzulehnen Sie bedeuteten, so Albert Fink, nichts anderes als die „Erdrosselung“ und die „völlige Lahmlegung“ des Zentrums in Bayern und in der Pfalz und führten zum „Ruin der Parteiorganisation und der Parteipresse“ Sie stünden zudem „in schärfsten Widerspruch“ zu den Zusicherungen, die Stegerwald und v Guérard Vertretern des pfälzischen Zentrums bei Gesprächen in Fulda und Ludwigshafen zuvor gemacht hatten Siben wurde daher gebeten, nach Berlin zu fahren und dem Parteivorstand die Haltung der Pfälzer persönlich zu erläutern 163 Am 21 Juni trafen sich Vertreter der beiden Parteien erneut  – diesmal im Haus von Domkapitular Leicht in Bamberg Auf Seiten der Zentrumspartei nahmen Marx, Reichspostminister Hoefle und Stegerwald teil Die BVP war neben Leicht durch Held, Wohlgemuth und Dr Schlittenbauer sowie die beiden Pfälzer Bayersdörfer und Walzer vertreten Später hieß es, die Zentrumsführung habe darauf verzichtet, Vertre-

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Der Rheinpfälzer v 22 5 1924 („Kreisausschuß der BVP“); BayHStA, MA 107 650 (Parteipolitische Nachrichten aus der Pfalz, 26 5 1924); ANP, AJ9, Nr  5291 (Compte Rendu v 22 5 1924) Ruppert, Dienst (wie Anm  10), 308 ACDP, I-100–136 (Protokollbuch der Zentrumspartei der Pfalz: Vorstandssitzung im Gesellenheim Ludwigshafen, 2 6 1924)

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ter aus der Pfalz einzuladen, weil man davon ausging, dass auch von der BVP nur die Parteispitze teilnehmen werde 164 Auch von den Bamberger Verhandlungen gibt es kein offizielles Protokoll Walzer führt in einem Schreiben vier Punkte auf Erstens: Die Wiederaufnahme der Arbeitsgemeinschaft zwischen BVP und Zentrum bleibe ein erstrebenswertes Ziel, das aber erst verwirklicht werden könne, wenn die Voraussetzungen dazu gegeben seien Zweitens: Bis dahin verpflichteten sich beide Fraktionen im Reichstag zu wichtigen Gesetzesentwürfen eine einheitliche Stellung einzunehmen Drittens: Zu wichtigen Fragen sollten gemeinsame Richtlinien ausgearbeitet werden Und viertens: Das Zentrum löst seine Organisationen im rechtsrheinischen Bayern und in der Pfalz auf Die BVP verzichtet dafür im Gegenzug darauf, sich auf das ganze Reich auszudehnen 165 Die hektischen Reaktionen in der pfälzischen Zentrumspartei deuten darauf hin, dass diese Punkte wohl tatsächlich so beschlossen worden waren Die Furcht, die Reichsleitung könnte für ein Abkommen mit der BVP die Partei in der Pfalz opfern, war groß Verkoyen telefonierte zwei Tage nach den Bamberger Verhandlungen mit Marx und teilte ihm mit, dass man im pfälzischen Zentrum absolut gegen die Vereinbarung sei In einem französischen Protokoll wird er mit dem Worten zitiert: „Il tenait à faire savoir ques son parti était absolument opposé à l’union avec le Bayerische Volkspartei “ Am gleichen Abend noch reisten Hofmann und der Ludwigshafener Stadtamtmann und Landtagsabgeordnete Paul Dissinger nach Berlin, um persönlich mit Marx zu sprechen 166 Eine Woche später schrieb auch Gustav Wolff, der Vorsitzende der Landauer Zentrumspartei, in scharfen Worten an Marx Von einer baldigen Einigung zwischen Zentrum und Bayer[ische] Volkspartei zugunsten dieser wollen wir absolut nichts wissen Selbst wenn in Berlin und München eine solche beschlossen und befohlen werden sollte […], dann tun wir Pfälzer Zentrumsleute einfach nicht mit,167

warnte er Der Widerstand der Pfälzer scheint erfolgreich gewesen zu sein Am 4 Juli kam es zu einer weiteren Unterredung zwischen Hofmann und Marx, der dafür, so Verkoyen in einem Schreiben an Wolff, sogar eine Kabinettssitzung für eine halbe Stunde unterbrach Marx habe Hofmann dabei ausdrücklich versichert: „Die Pfalz bleibt beim Zentrum“ Das sei in einer Reichsparteivorstandssitzung ausdrücklich so beschlossen 164 Kölnische Volkszeitung v 26 6 1924 („Besprechung zwischen Zentrum und Bayerischer Volkspartei“) und 30 6 1924 („Zentrum und Bayerische Volksparte“); Pfälzer Volksbote v 27 6 1924 („Aus der Partei“); Germania v 30 6 1924, Abendausgabe („Zentrum und Bayerische Volkspartei“) 165 ABSp, BA-XV-75 (Walzer an Nuntius, 13 7 1924); vgl auch ebd (Walzer an Bischof Sebastian, 7 7 1924) und Der Rheinpfälzer v 19 9 1924 („Ablenkungsmanöver“) 166 ANP, AJ9, Nr  5289 (Capitaine Delalande an General De Metz, 25 6 1924) 167 ACDP, I-100–62 (Wolff an Marx, 1 7 1924)

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worden 168 Daraufhin verschickte Verkoyen ein Rundschreiben an die Bezirksvorsitzenden und Vertrauensleute in der Pfalz Darin informierte er sie, dass die Organisation des Zentrums im rechtsrheinischen Bayern in der Tat aufgelöst werden wird, dass sie aber in der Pfalz auf jeden Fall bestehen bleibt169 – eine Feststellung, die einige Wochen später in einem Brief vom Reichsgeneralsekretär des Zentrums, Dr Heinrich Vockel, an Verkoyen erneut bekräftigt wurde 170 Wie verfahren die Lage in der Pfalz war, zeigt eine Resolution des Parteivorstandes der pfälzischen Zentrumspartei vom 11 Juli Dort heißt es, eine Einigung mit der BVP sei nur möglich, wenn diese zum Zentrum zurückkehre „Die große Einheitspartei der deutschen Katholiken kann nur die Zentrumspartei sein “171 Da die von Marx gewünschte Aufnahme der DNVP in die Regierung scheiterte, wurde der Reichstag im Oktober aufgelöst und Neuwahlen für den Dezember anberaumt Nach der letzten Sitzung des Reichtags am 20 Oktober bot Marx Leicht in einem vertraulichen Gespräch, an dem auch Höfle und Bayersdörfer teilnahmen, Gespräche über ein Wahlabkommen zwischen Zentrum und BVP an Er deutete dabei wohl auch an, dass man im Zentrum bereit sei, auf eigene Kandidaturen im rechtsrheinischen Bayern und in der Pfalz zu verzichten, wenn die BVP ihrerseits den im Raume stehenden Plan einer Ausweitung auf das ganze Reichsgebiet fallen ließe Hofmann werde einen sicheren Platz auf der Reichsliste des Zentrums erhalten 172 Dies wurde einige Tage später indirekt von der „Germania“ bestätigt, als sie in einem Artikel die Aussage von Marx als „vorläufige Meinungsäußerung“ bezeichnete, die „mit allem Vorbehalt“ gegeben worden sei Sowohl Marx als auch Höfle hätten keinen „festen Vorschlag“ machen wollen, da bei dem Gespräch weder Stegerwald noch Hofmann, „auf deren Mitwirkung“ man „großes Gewicht“ lege, anwesend waren 173 Es ist aber offensichtlich, dass Marx nicht zu Unrecht befürchtete, eine Ausweitung der BVP aufs ganze Reich könnte zur Abwanderung konservativer Zentrumsanhänger führen, die Teile der BVP-Kritik an der Politik des Zentrums teilten Er war – wie schon im Juni – scheinbar bereit, in der Pfalz den Forderungen der BVP nachzugeben Am 26 Oktober befasste sich der Landesausschuss der BVP mit dem Angebot von Marx und beschloss, es anzunehmen, bestand aber darauf, dass ein Wahlabkommen nur dann abgeschlossen werde, wenn das Zentrum – wie von Marx in Aussicht gestellt – auf eigene Kandidaten in Bayern und in der Pfalz sowohl bei den Reichstags- als auch bei den ebenfalls stattfindenden Kommunalwahlen verzichte 174 Bayersdörfer er168 169 170 171 172 173 174

Ebd (Verkoyen an Wolff, 5 7 1924) und I-100–51 (Verkoyen an Bauer, 9 9 1924) Ebd , I-100–51; Abschrift im ABSp, BA-XV-75 Neue Pfälzische Landeszeitung v 19 8 1924 („Kleine politische Umschau“) Ebd , Ausgabe v 12 7 1924 („Kundgebung des Vorstandes der pfälzischen Zentrumspartei“) Augsburger Postzeitung v 4 11 1924 („Zentrum und Bayerische Volkspartei“) Germania v 4 11 1924, Mittagsausgabe („Zentrum und Bayerische Vokspartei“) Augsburger Postzeitung v 4 11 1924 („Zentrum und Bayerische Volkspartei“); Rheinisches Volksblatt v 29 10 1924 („Zentrum und Bayerische Volkspartei“); Der Rheinpfälzer v 30 10 1924 („Zen-

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hielt vom Parteivorstand den Auftrag, nach Berlin zu fahren und die Zentrumsführung entsprechend zu informieren Dort teilte ihm Stegerwald allerdings mit, dass der Vorschlag von Marx in der Partei keine Mehrheit gefunden habe, man der BVP aber eine andere Regelung vorschlagen werde 175 Die Gespräche fanden am 8 Oktober in Berlin statt In ersten Meldungen wiesen die pfälzischen BVP-Blätter ausdrücklich darauf hin, dass es dabei nicht um ein „Wahlabkommen“ oder gar um eine „Verschmelzung“ der beiden Parteien, sondern lediglich um einen „Burgfrieden“ gehe Ganz offensichtlich bestand nicht nur in der pfälzischen Zentrumspartei, sondern auch in der BVP die Befürchtung, es könnten Entscheidungen getroffen werden, die den Status Quo in der Pfalz in Frage stellen könnten 176 Die BVP war in Berlin durch Leicht, Rothmeyer und Schwarzer sowie durch die drei Pfälzer Bayersdörfer, Walzer und Butscher, die Zentrumspartei durch Stegerwald, Fürst von Löwenstein, Herold, Hofmann und Siben vertreten 177 Zur Überraschung der BVP-Vertreter präsentierte Stegerwald gleich zu Beginn der Verhandlungen einen bereits ausformulierten und auch schon gedruckten Vertragsentwurf, der zwar den Verzicht des Zentrums auf eigene Kandidaten im rechtsrheinischen Bayern beinhaltete, für die Pfalz aber eine gemeinsame Liste beider Parteien vorsah, auf der an erster Stelle der Kandidat der BVP und an zweiter Stelle der Kandidat des Zentrums – also Hofmann – stehen sollte Für die Kommunalwahlen sollten „besondere“ Abmachungen getroffen werden, um einen gegenseitigen Wahlkampf zu vermeiden 178 Die BVP-Vertreter lehnten beide Punkte kategorisch ab Sie beharrten darauf, dass das Zentrum weder im rechtsrheinischen noch in der Pfalz eigene Kandidaten aufstelle und verwiesen immer wieder auf den – wie sie ihn nannten – „Vorschlag MarxHöfle“ vom 20 Oktober Als die Zentrumsdelegation dies ebenso strikt ablehnte, weil dies den „politischen Freunden“ in der Pfalz nicht „zugemutet“ werden könne, waren die Verhandlungen an einem „toten Punkt“ angelangt, wie Walzer und Butscher nach ihrer Rückkehr aus Berlin Gesandtschaftsrat Knoch in einem vertraulichen Gespräch am 29 Oktober in Mannheim mitteilten 179 Allerdings gab es auch in der pfälzischen Zentrumspartei Widerstand gegen den Berliner Vorschlag Man befürchtete, dass  –

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trum und Bayerische Volkspartei“); BA, R 43 I, Nr  2236 (Vertretung der Reichsregierung in München an Reichskanzlei, 29 10 1924) Einzige Quelle hierfür rückblickend: Pfälzer Volksbote v 22 12 1924 („Der Vorschlag Marx-Höfle“) Rheinisches Volksblatt v 29 10 1924 („Zentrum und Bayerische Volkspartei“), dort der Begriff „Verschmelzung“; Der Rheinpfälzer v 30 10 1924 („Zentrum und Bayerische Volkspartei“) Die Namen werden genannt in einem Protokoll der Sitzung des Kreisausschusses der pfälzischen BVP v 30 10 1924, LA SP, R 12, Nr  288 und BayHStA, MA 107 811; vgl auch LA SP, R 12, Nr  287 (Gesandtschaftsrat Knoch an Staatsministerium des Äußeren, 27 10 1924), wo die Teilnahme von Walzer und Butscher bestätigt wird Ein Exemplar des Entwurfs befindet sich im Nachlass Eugen Jaeger, LA SP, V 13, Nr  237; vgl auch Kölnische Volkszeitung v 3 11 1924 („Zentrum und Bayerische Volkspartei“) LA SP, R 12, Nr  287 und BayHStA, MA 107 811 (Schreiben Gesandtschaftsrat Knoch, 30 10 1924)

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würde er angenommen – bei der bevorstehenden Wahl nicht nur zahlreiche katholische Arbeiter, sondern auch viele republikanisch gesinnte Anhänger zur SPD überlaufen würden Diese, so hieß es, wären wohl kaum bereit, eine gemeinsame Liste mit einer Partei zu wählen, in der es nach wie vor starke monarchistische Tendenzen gab Stattdessen müsse man die eigene „liberté d’action“ bewahren, um einen Wahlkampf führen zu können, „comme nous le jugerons nécéssaire“, so die Aussage Hofmanns in der Vorstandssitzung der pfälzischen Zentrumspartei am 6 November in Neustadt, zitiert von einem französischen Besatzungsoffizier 180 Am 30 Oktober berichteten Walzer und Butscher vor dem Kreisausschuss der pfälzischen BVP über die Berliner Verhandlungen Die vom Zentrum dort vorgelegte Vereinbarung wurde einstimmig abgelehnt Für einen Burgfrieden bei den bevorstehenden Wahlen komme einzig und allein der Vorschlag von Marx und Höfle vom 20  Oktober in Frage Die Parteiführung wurde gebeten, auf dieser Grundlage weitere Verhandlungen zu führen 181 Daraufhin lehnte auch der Landesauschuss der BVP, der am 3 November in München zusammengekommen war, den Berliner Entwurf der Zentrumspartei als „undurchführbar“ ab und beharrte ebenfalls auf dem Vorschlag von Marx und Höfle vom 20 Oktober 182 10. Die Reichstagswahlen und die Kommunalwahlen vom Dezember Trotz des Scheiterns der Berliner Verhandlungen gelang es Zentrum und BVP doch noch, ein Wahlabkommen zu schließen Die Initiative ging erneut von Marx aus, der unter allen Umständen eine Ausdehnung der BVP aufs ganze Reich verhindern wollte Zwar lehnte die BVP-Führung sein Angebot zu einer erneuten persönlichen Aussprache ab, erklärte sich in einem Schreiben am 8 November aber bereit, sich bei den Reichstags- und Kommunalwahlen ausschließlich auf Bayern zu beschränken, wenn das Zentrum seinerseits auf die Nominierung von Kandidaten im rechtsrheinischen Bayern verzichte Die Pfalz wurde in dem Vorschlag ausdrücklich ausgeklammert, da die Berliner Verhandlungen erneut gezeigt hatten, dass eine Lösung der komplizierten

180 ANP, AJ9, Nr  5279 (Compte Rendu v 10 11 1924) 181 LA SP, R 12, Nr  288 und BayHStA, MA 107 811 (Protokoll der Sitzung des Kreisausschusses der pfälzischen BVP v 30 10 1924); vgl auch LA SP, V 13, Nr  237 (Handschriftliche Notiz von Eugen Jaeger v 30 10 1924) 182 Augsburger Postzeitung v 4 11 1924 („Zentrum und Bayerische Volkspartei“); Kölnische Volkszeitung v 3 11 1924 („Zentrum und Bayerische Volkspartei“); Germania v 3 11 1924, Abendausgabe („Zentrum und Bayerische Volkspartei“); Der Rheinpfälzer v 3 11 1924 („Zentrum und Bayerische Volkspartei Die Einigungsverhandlungen gescheitert“); Rheinisches Volksblatt v 3 11 1924 („Noch keine Einigung mit dem Zentrum“); BA, R 43 I, Nr  2236 (Vertreter der Reichsregierung in München an die Reichskanzlei, 4 11 1924); ANP, AJ9, Nr  5279 (Compte Rendu v 12 11 1924)

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Situation dort nicht in Sicht war Zentrum und BVP sollte folglich gestattet werden, in der Pfalz mit jeweils eigenen Listen anzutreten, sie sollten im Wahlkampf aber „jede Schärfe“ vermeiden 183 Der Reichsparteivorstand des Zentrums stimmte diesem Vorschlag am 13 November zu Am Tag darauf veröffentlichten die „Kölnische Volkszeitung“ und die „Germania“ den Text der Vereinbarung und riefen sowohl ihre „Parteifreunde“ als auch die BVP in der Pfalz dazu auf, sie zu „respektieren“ 184 Die Appell war allerdings vergebens Der Wahlkampf wurde erneut ein „combat sans merci“, wie General de Metz in einem Schreiben an Paul Tirard notierte 185 Er wurde geprägt von „Lügen, Verdrehungen und Verleumdungen“186, von Übertreibungen und den gleichen Themen, gegenseitigen Vorwürfen und Beschwerden187, die auch die Wahl im Mai bestimmt hatten Zu den radikalsten Scharfmachern zählten erneut der „Pfälzer Volksbote“ und der „Rheinpfälzer“, die keine Gelegenheit ausließen, das Zentrum und seine Politik zu attackieren 188 Dass die pfälzische Zentrumspartei den Wahlkampf mit einer „ausgesprochenen Linksorientierung“ führte, so Knoch in einem Schreiben an das Staatsministerium des Äußeren, und Ex-Reichskanzler Wirth, den exponiertesten Vertreter des linken Zentrumsflügels, zu drei großen Wahlversammlungen in die Pfalz einlud, wurde von BVP-Seite als bewusste Provokation verstanden und belastete das Verhältnis zwischen den beiden Parteien weiter 189

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Bayerischer Kurier v 5 11 1924 („Bayer Volkspartei und Zentrum“); Kölnische Volkszeitung v 12 11 1924 („Zentrum und Bayerische Volkspartei“); Der Rheinpfälzer v 17 11 1924 („Bayerische Volkspartei und Zentrum“); BA, R 43 I, Nr  2236 (Vertretung der Reichsregierung in München an Reichskanzlei, 15 11 1924) 184 Kölnische Volkszeitung v 14 11 1924 („Zentrum und Bayerische Volkspartei: Burgfrieden für die bevorstehenden Wahlen“); Germania v 14 11 1924, Mittagsausgabe („Abkommen zwischen Bayerischer Volkspartei und Zentrum“) 185 ANP, AJ9, Nr  5279 (De Metz an Tirard, 26 11 1924) 186 Rückblickend: Neue Pfälzische Landeszeitung v 29 12 1924 („Das Gegenteil von Verständigung“) 187 ABSp, BA-XV-75 (Zentrumspartei an Bischof Sebastian, 11 10 1924; und Pfarrer Hartz an Bischof Sebastian, 10 12 1924); ACDP, I-100–51 (undatierter Vermerk v Gustav Wolff) und I-100–136 (Protokollbuch der Zentrumspartei Landau: Ausschusssitzung v 30 10 1924); ANP, AJ9, Nr  5289 (Capitaine Delalande an General de Metz, 28 10 1924) 188 Der Rheinpfälzer v 6 11 1924 („Die Weimarer Verfassung“), 27 11 1924 („Ein Irrtum des Zentrums“), 29 11 1924 („Wo steht der Pfälzer Katholizismus?“), 6 12 1924 („Ein letztes Wort“); Rheinisches Volksblatt v 27 11 1924 („Was trennt uns vom Zentrum?“) und 1 12 1924 („Zentrumsreden in der Pfalz“); Pfälzer Volksbote v 2 12 1924 („Die Bayernfeinde“), 2 /3 12 1924 („Warum wählen wir nicht mehr Zentrum?“), 5 12 1924 („Zentrum oder BVP?“ und „Links?“); Neue Pfälzische Landeszeitung v 4 12 1924 („Gemeine Hetze“), 5 12 1924 („Wähler hab‘ acht!“) und 5 12 und 6 12 („Zur Wahlrede des Herrn Pfarrer Keßler“) sowie zahlreiche weitere Artikel in den katholischen Tageszeitungen 189 LA SP, R 12, Nr  287 (Knoch an Staatsministerium des Äußeren, 27 10 1924); vgl auch ANP, AJ9, Nr  5279 (Compte Rendu einer Vorstandssitzung der pfälzischen Zentrumspartei v 10 11 1924, in dem Hofmann mit den Worten zitiert wird: „Nous devons soutenir la politique de Wirth qui est la vrai politique démocrate et chrétienne“)

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Trotz der großen Differenzen und der vergifteten Atmosphäre zwischen BVP und Zentrum kam es bei den Kommunalwahlen, die am gleichen Tag stattfanden wie die Reichstagswahlen, in einer ganzen Reihe von pfälzischen Städten und Gemeinden zu gemeinsamen Listen der beiden Parteien, so u a in Oggersheim, Speyer, Kaiserslautern, Germersheim, Haßloch und Landau 190 Zwar hatte Verkoyen noch Anfang Juli in einem Rundschreiben an die Bezirksvorsitzenden betont, dass „eine etwaige Einheitsliste mit der Bayer[ischen] Volkspartei, so wie die Dinge heute liegen, nicht in Frage“ komme „Solange uns die Bayer[ische] Volkspartei in der bisherigen Art und Weise bekämpft, erscheint ein Zusammengehen mit ihr nicht möglich “191 Ganz offensichtlich aber überdeckten in manchen Orten lokale Interessen und Gemeinsamkeiten, die Differenzen, die Zentrum und BVP auf regionaler und nationaler Ebene trennten Anderswo bestimmten diese Differenzen aber auch die örtlichen Verhältnisse In Neustadt beispielsweise weigerte sich das Zentrum trotz der Vermittlung des Pfarrers eine gemeinsame Liste mit der BVP aufzustellen, weil man nicht mit einer Partei zusammenarbeiten wollte, die, so der Bericht des französischen Überwachungsoffiziers, gemeinsame Sache mit Nationalisten mache („ferait cause commune avec les nationalistes“) 192 Wie schwierig die Verhandlungen über eine gemeinsame Liste für die Kommunalwahlen mitunter waren, zeigt das Beispiel Landau Während die BVP geschlossen für eine solche Liste eintrat, weil sie für die „Gesamtinteressen der Katholiken“ in der Stadt von Vorteil wäre und „kommunalpolitische Fragen die für die Reichs- und Länderpolitik geltenden politischen Grundsätze“ nicht berührten, aber natürlich auch die Konkurrenz des Zentrums ausschalten würde, war die Zentrumspartei in dieser Frage gespalten Einige befürworteten ein gemeinsames Vorgehen, weil, so hieß es, „wir dadurch die volle Anerkennung bei den Katholiken Landaus erzielen“, andere lehnten es ab Man sei nicht dazu da, so ein Vorstandsmitglied, „Vertreter der BVP in den Stadtrat zu bringen “ Kritisiert wurde vor allem die von der BVP vorgeschlagene Verteilung der Listenplätze, von denen zwei Drittel an die BVP und ein Drittel an das Zentrum gehen sollten Erst als sich die BVP nach längeren Verhandlungen mit einer Parität von 1:1 auf den ersten sechs Listenplätzen einverstanden erklärte, stimmte auch die Zentrumspartei einer Zusammenarbeit zu 193

190 Neue Pfälzische Landeszeitung v 19 11 1924 („Aus der Pfalz: Oggersheim“), 6 12 1924 („Aus der Pfalz: Speyer“); Rheinisches Volksblatt v 27 und 28 11 1924; Germersheimer Tageblatt v 29 11 1924 („Wahlvorschläge für die Stadtratswahl“); Gemeindearchiv Haßloch, 1A2-XVIII-4/1 191 ACDP, I-100–51 (An sämtliche Vertrauensleute der Zentrumspartei der Pfalz); Abschrift im ABSp, BA-XV-75 192 ANP, AJ9, Nr  5291 (Capitaine Delalande an General de Metz, 23 9 1924) 193 ACDP, I-100–136 (Protokollbuch der Zentrumspartei Landau, Sitzungen vom 20 10 und 12 11 1924, Bericht v 27 11 1924 und Notiz ebenfalls v 27 11 1924); I-100–52 (Sitzung der Wahlausschüsse von BVP und Zentrum in Landau, 20 11 1924 und Notizen zur Mitgliederversammlung der Zentrums-

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Das Ergebnis der Reichstagswahlen brachte auf den ersten Blick nur wenig Veränderungen im Kräfteverhältnis von Bayerischer Volkspartei und Zentrum Die BVP erhielt 15,6 % (-2,0 %) der abgegebenen gültigen Stimmen, das Zentrum 11,6 % (+1,0 %) Betrachtet man allerdings die absoluten Zahlen, so werden doch gravierende Verschiebungen deutlich Obwohl die Zahl der abgegebenen gültigen Stimmen um mehr als 60 000 von 367 791 auf 430 507 gestiegen war, erhielt die BVP mit 66 974 nur 2350 Stimmen mehr als im Mai, konnte von der stark gestiegenen Wählerzahl also nur sehr geringfügig profitieren Das Zentrum dagegen erhielt 50 059 Stimmen und damit ein Plus von fast 11 000 Hochburgen und Diasporaregionen der beiden Parteien blieben die gleichen Allerdings musste die BVP in einigen Regionen, in denen sie im Mai besonders stark war, überdurchschnittliche Verluste hinnehmen, so in den Bezirksämtern Germersheim (-10,8 %), Pirmasens (-8,8 %), Landstuhl (-7,5 %), und Speyer (-6,0 %) Da in diesen Bezirksämtern gleichzeitig der Anteil der Zentrumsstimmen überdurchschnittlich gestiegen ist, kann man davon ausgehen, dass dort nicht wenige BVP-Wähler sich nun für das Zentrum entschieden haben 194 Dies hing ohne Zweifel mit der verbesserten Organisation der Partei, der stärkeren Verbreitung der „Neuen Pfälzischen Landeszeitung“ und – dies gilt insbesondere für das Bezirksamt Pirmasens195  – mit der starken Agitation der Christlichen Gewerkschaften zugunsten des Zentrums zusammen So beklagte sich beispielsweise Pfarrer Hartz aus Niedersimten in einem Schreiben an Bischof Sebastian darüber, dass Mitglieder des Christlichen Schuh- und Lederverbandes in den Orten des Bezirksamtes Flugblätter und Werbebroschüren für das Zentrum ausgetragen hätten Auch wenn die BVP nach wie vor die stärkere Kraft im politischen Katholizismus der Pfalz war, so hatte sich das Zentrum nur sieben Monate nach seiner Gründung doch zu einem wichtigen und bedeutenden Faktor in der pfälzischen Parteienlandschaft entwickelt Es macht zugleich deutlich, wie stark der Zentrumsgedanke auch schon vor der Spaltung der BVP im Mai 1924 in der Pfalz verankert war 196 11. Ausblick Das Verhältnis zwischen den beiden Parteien blieb auch nach der Wahl weiter äußerst angespannt und war nach wie vor von scharfen ideologischen Auseinandersetzungen und gegenseitigen Vorwürfen geprägt Ein Artikel des „Pfälzer Volksboten“ zeigt dies beispielhaft Die Zentrumspartei in der Pfalz, so hieß es da, lebe von der „Lüge, Hetze

partei Landau die Stadtratswahlen am 7 Dezember betr , o D ); Der Rheinpfälzer v 21 11 1924 („Die Einigung vollzogen“) 194 Hartwich, Reichstagswahlen (wie Anm  145), 680 195 ABSp, BA-XV-75 (Pfarrer Hartz an Bischof Sebastian, 10 12 1924) 196 Zit nach Neue Pfälzische Landeszeitung v 29 12 1924 („Das Gegenteil der Verständigung“)

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und Zwietracht“ Ihre Existenz habe mit „Lüge und Hinterhältigkeit“ begonnen und werde „bis heute“ von „Fälschung und Lüge“ geprägt „Wir werden den Herrschaften nach wie vor die Pharisäerlarve vom Gesicht reißen, damit die von ihnen irregeführten Massen sehen, welchen Führern sie bisher gefolgt sind “ Ihren Höhepunkt erreichten diese Auseinandersetzungen bei den Reichspräsidentenwahlen von 1925, in denen die unterschiedlichen programmatischen Vorstellungen der beiden Parteien noch einmal in aller Deutlichkeit zum Ausdruck kamen, und bei der Pressekampagne gegen Hermann Hofmann im Herbst 1926, dem vorgeworfen wurde, 1919 unter dem Eindruck der revolutionären Ereignisse in München und Berlin für die Abtrennung der Pfalz vom Reich und die Gründung einer neutralen pfälzischen Republik eingetreten zu sein 197 Zu einer Annäherung kam es erst durch das so genannten „Regensburger Abkommen“ zwischen Reichszentrum und der Münchener Führung der BVP vom November 1927 Die Wiedervereinigung der beiden Parteien, die vor allem von den jüngeren Parteimitgliedern immer vehementer gefordert wurde, blieb allerdings bis 1933 Wunschtraum Zwar befürworteten beide grundsätzlich eine Vereinigung, allerdings zeigte sich immer wieder, dass sich ihre Vorstellungen nach wie vor grundlegend unterschieden und kaum miteinander in Einklang zu bringen waren 198

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Gerhard Nestler, Der „Fall Hofmann“ Ein Beitrag zum Verhältnis von Zentrum und Bayerischer Volkspartei in der Pfalz in der Weimarer Republik, in: Kaiserslauterer Jahrbuch für pfälzische Geschichte und Volkskunde 16, 2016, 371–394 Ders , Das Regensburger Abkommen von 1927 und der politische Katholizismus in der Pfalz, in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 69, 2017, 333–365

Mediale Präsenz des „Führers“ in der Region Das Beispiel des Hitler-Kultes in Neustadt an der Weinstraße Tobias Hirschmüller 1. Einleitung Nüchternheit hatte er planmäßig durch Massenrausch ersetzt; man kann sagen, daß er sechs Jahre sich selbst den Deutschen wie eine Droge verabreicht hatte – die er ihnen dann allerdings im Krieg plötzlich entzog 1

Diese Bilanz zog der Kolumnist Sebastian Haffner in seinem populären Buch „Anmerkungen zu Hitler“ im letzten Kapitel, welches die Überschrift „Verrat“ trug Haffner bezog sich auf den Rückzug des Diktators aus der Öffentlichkeit nach dem Beginn des Krieges, als öffentliche Auftritte oder auch nur Rundfunkansprachen Hitlers sukzessive seltener wurden Die Pfalz zählte jedoch zu jenen Regionen des Deutschen Reiches, die bereits nach seiner Ernennung zum Reichskanzler am 30 Januar 1933 von Hitler weniger aufgesucht wurden Im Zuge der Wahlkämpfe während der Zeit der Weimarer Republik hatte er jene Provinz immerhin sieben Mal bereist 2 Eine dieser Veranstaltungen führte ihn am 29 Juli 1932 nach Neustadt an der Hardt, wo er vor dem Hintergrund der in zwei Tagen bevorstehenden Reichstagswahl eine Rede hielt Bei diesem Anlass befasste sich Hitler zentral mit der infolge der Konferenz von Lausanne virulenten Reparationsfrage 3 Einen regionalen Bezug besaß die Rede nicht, mit nahe-

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Sebastian Haffner, Anmerkungen zu Hitler 20 Aufl Frankfurt am Main 1999 184–185 Pirmin Spieß, Kleine Geschichte der Stadt Neustadt an der Weinstraße (Regionalgeschichte – fundiert und kompakt) Karlsruhe 2009, 142 Adolf Hitler, Rede auf NSDAP-Versammlung in Neustadt an der Haardt, 29 07 1932, in: Klaus A Lankheit (Hrsg ), Hitler Reden, Schriften, Anordnungen Februar 1925 bis Januar 1933 Bd  V: Von der Reichspräsidentenwahl bis zur Machtergreifung April 1932 – Januar 1933, Teil 1: April 1932 – September 1932 München 1996, 281 Zur Konferenz von Lausanne vom 16 Juni bis zum 9 Juli 1932: Philipp Heyde, Das Ende der Reparationen Deutschland, Frankreich und der Youngplan 1929–1932 (Sammlung Schöningh zur Geschichte und Gegenwart) Paderborn 1998, 401–453

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zu identischem Inhalt trug er sie in dieser Zeit auch auf NSDAP-Versammlungen in Reutlingen, Radolfzell und Freiburg im Breisgau vor 4 Nach 1933 besuchte Hitler die Pfalz noch am 25 März 1936 in Ludwigshafen im Rahmen seiner Auftritte für die vier Tage später stattfindende Reichstagswahl5 sowie am 16 Mai 1939 die Südpfalz im Raum Bergzabern zu einer Inspektion der Bauarbeiten am „Westwall“ 6 Eine physische Präsenz des Diktators bestand somit in Neustadt an der Weinstraße während der gesamten Zeit des „Dritten Reiches“ nicht mehr Die Untersuchung des Hitler-Kultes kann also nur durch die Auswertung der medialen Propaganda in der Region erfolgen 7 Unter anderem hat Bernhard Fulda zurecht Adolf Hitler als „Medienphänomen“ beschrieben, da er durch die Inszenierung in Presse, Rundfunk und Kino eine Omnipräsenz besaß 8 Kurt Düwell hat schon 1983 „Analysen der nationalsozialistischen Propaganda in einzelnen Orten und Regionen“ als „ein wichtiges Thema“ bezeichnet 9 In diesem Sinne wird in diesem Beitrag die spezifisch regionale Propaganda in der von Gauleiter Josef Bürckel verantworteten NS-Gauzeitung „Nationalsozialistische Zeitung Rheinfront“ (Ausgabe Neustadt an der Weinstraße), kurz „NSZ-Rheinfront“, und deren Nachfolgeorgan „NSZ-Westmark“ in Augenschein genommen, wobei aus arbeitspragmatischen Gründen ein Fokus auf den Geburtstagen des „Führers“ liegt Zwar kann auch die Untersuchung einer einzigen Veranstaltung in der Region ertragreich sein, wie Werner Freitag anhand seines Aufsatzes über den „Tag von Potsdam“ und dessen Feier in der Provinz Sachsen und in Anhalt verdeutlicht 10 Doch zeigt beispielsweise der Aufsatz von Gunda Gaus, Maik Hattenhorst und Marcel Plöger über die nationalsozialistischen „Heldengedenktage“ in Detmold im Zeitraum von 1933 bis 1945 den Wert von Studien, die einen längerfristigen Entwicklungsprozess der 4 5 6

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Adolf Hitler, Reden auf NSDAP-Versammlung in Reutlingen, Radolfzell und Freiburg im Breisgau, 29 07 1932, in: Lankheit, Hitler (wie Anm  3), 1996, 281–288 Klaus J Becker  / Bernhard Kukatzki, Ludwigshafen in der Weimarer Republik und im Dritten Reich Erfurt 2015, 38 Hans Hess, Westwallbau, Räumung und Wiederbesiedlung in der Pfalz  – am Beispiel des ehemaligen Landkreises Bergzabern, in: Hans Berkessel / Hans-Georg Meyer (Hrsg ), Die Zeit des Nationalsozialismus in Rheinland-Pfalz, Bd  3: „Unser Ziel – die Ewigkeit Deutschlands“ Mainz 2001, 17–32, hier 35–36 Als Beispiel für die Ergiebigkeit der Untersuchung von Hitler-Besuchen: Othmar Plöckinger, Reden um die Macht? Wirkung und Strategie der Reden Adolf Hitlers im Wahlkampf zu den Reichstagswahlen am 6 November 1932 (Passagen Diskursforschung), Wien 1999; Holm Kirsten, „Weimar im Banne des Führers “ Die Besuche Adolf Hitlers 1925–1940, Köln 2001 Bernhard Fulda, Adolf Hitler als Medienphänomen, in Klaus Arnold (Hrsg ), Von der Politisierung der Medien zur Medialisierung des Politischen? Zum Verhältnis von Medien, Öffentlichkeiten und Politik im 20 Jahrhundert Leipzig 2010, 141–160 Kurt Düwell, Die regionale Geschichte des NS-Staates zwischen Mikro- und Makroanalyse Forschungsaufgaben zur „Praxis im kleinen Bereich“, in: Jahrbuch für Westdeutsche Landesgeschichte 9, 1983, 287–344, hier 296 Werner Freitag, Der „Tag von Potsdam“ und seine Feier in der Provinz Sachsen und in Anhalt, in: Sachsen und Anhalt Jahrbuch der Historischen Kommission für Sachsen-Anhalt 21, 1998, 267–285

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Festriten umfassen 11 Daher soll für Neustadt an der Weinstraße die Entwicklung der Berichterstattungen der „NSZ“ von der Machtfestigung bis in die Schlussphase des Krieges untersucht werden 12 Im weiteren Verlauf werden zunächst die Quellengrundlage sowie ein Forschungsüberblick geliefert und der theoretische Zugriff auf das Thema erläutert Im Anschluss wird der Wandel der jährlichen Kommunikation von Hitler in der nationalsozialistischen Gaupresse dargelegt, wobei auch ein Abgleich mit den staatlichen Presseanweisungen sowie der Umsetzung in anderen Regionen des Reiches erfolgen wird 13 Denn wie unter anderem Andreas Wirsching richtig festhielt: „Erst im Vergleich der verschiedenen regional- und lokalspezifischen ‚Kartographien‘ kann letztlich ihre Relevanz für Aufstieg und Herrschaft des Nationalsozialismus bewertet werden “14 2. Quellengrundlage Die „NSZ“ besitzt unter den nationalsozialistischen Periodika insofern eine besondere Stellung, als sie im Vergleich zur Zentralisierung der übrigen Medien noch einen relativen Handlungsspielraum besaß Dies ermöglicht umso mehr die Herausstellung potenzieller lokaler Eigenheiten des Hitler-Kultes Wie unter anderen Stephan Pieroth darlegte, war die für diesen Aufsatz untersuchte „NSZ“ „eindeutig das Sprachrohr des Gauleiters“, da hier dessen Auftritte und Reden inner- und außerhalb des Gaus aus-

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Gunda Gaus / Maik Hattenhorst / Marcel Plöger, „Der Wille der Toten ist, daß Deutschland lebe “ „Heldengedenktage“, NSDAP und Militär in Detmold 1933–1945, in: Werner Freitag (Hrsg ), Das Dritte Reich im Fest Führermythos, Feierlaune und Verweigerung in Westfalen 1933–1945 (Ausstellungskataloge des Westfälischen Museumsamtes) Bielefeld 1997, 251–258 Neustadt an der Weinstraße wurde am 21 März 1945 von US-Truppen besetzt und zählte daher nicht mehr zu den von der deutschen Wehrmacht an Hitlers letztem Geburtstag noch gehaltenen Gebieten, in denen die NS-Presse noch erschien Jan Thiersch, Die Entwicklung der deutschen Weinwirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg Staatliche Maßnahmen zu Organisation und Wiederaufbau der Weinwirtschaft (Driesen Rechtswissenschaft) Taunusstein 2008, 127 Auch wenn diese oft sehr allgemein gehalten waren, etwa: „Der Geburtstag des Führers soll natürlich in den Morgenausgaben des Mittwoch im Mittelpunkt stehen Besondere Anweisungen über Ausgestaltung der Zeitungen usw ergehen nicht “ Presseanweisung vom 19 04 1938, in: Hans Bohrmann (Hrsg ), NS-Presseanweisungen der Vorkriegszeit Edition und Dokumentation, Bd   6/I: 1938 Quellentexte Januar bis April München u a 1999, 392; auch: „Die Erscheinungsweise der Zeitungen am Geburtstag des Führers ist nunmehr in das Ermessen der Verleger gestellt “ Presseanweisung vom 18 04 1939, in: Bohrmann, NS-Presseanweisungen 7/I (wie Anm  13), 2001, 374 Andreas Wirsching, Nationalsozialismus in der Region Tendenzen der Forschung und methodische Probleme, in: Horst Möller / Andreas Wirsching / Walter Ziegler (Hrsg ), Nationalsozialismus in der Region Beiträge zur regionalen und lokalen Forschung und zum internationalen Vergleich (Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Sondernummer) München 1996, 25–46, hier 46

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führlich dargestellt und gepriesen wurden 15 Von einem „Presseimperium des Gauleiters“ schrieb daher Lothar Meinzer in seiner Arbeit über „Stationen und Strukturen der nationalsozialistischen Machtergreifung“ in Ludwigshafen am Rhein 16 Denn im Gegensatz zu anderen Gauleitern konnte sich Bürckel, und mit ihm nur noch Erich Koch in Ostpreußen, der Zentralisierung des nationalsozialistischen Pressewesens per Sondergenehmigung Hitlers entziehen, indem er sein Blatt in eine Stiftung einbrachte, über deren Gewinne er verfügte 17 Die „NSZ“ sollte, wie Pieroth weiter beschreibt, dazu „beitragen, Herrschaft zu stabilisieren, indem sie ausführlich die ‚Leistungen‘ des Regimes“ hervorhob, und war gleichzeitig relativ offen in der Kommunikation von Gewalt gegen Personen, die nicht den Vorstellungen des Regimes entsprachen oder diesem gar Widerstand leisteten 18 Bezüglich des Aufbaus der „NSZ“ lassen sich drei Komplexe feststellen: Einmal handelte es sich um die von Redaktionsmitgliedern der „NSZ“ verfassten Leitartikel, deren Autoren schwerpunktmäßig Bürckels vertrauter Redakteur Max Steigner,19 Hauptschriftleiter Franz Emil Rasche, der nach Peter Hüttenberger bedeutenden Einfluss auf den Gauleiter besaß,20 sowie die Schriftleiter Josef Hünerfauth,21 Josef Hütt oder Edgar Schröder (oft auch Schroeder geschrieben) waren 22 Der zweite Komplex sind die Beiträge von überregionalen für das Pressewesen arbeitenden Regimefunktionären in der „NSZ“, wie unter anderem Reichspressechef Otto Dietrich,23 Hans Hinkel, Ministerialbeamter in verschiedenen Funktionen im Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda sowie SS-Gruppenführer,24 oder Johannes von Leers, einer der „ein15

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Stephan Pieroth, Josef Bürckel und die pfälzische Presse, in: Pia Nordblom / Walter Rummel / Barbara Schuttpelz (Hrsg ), Josef Bürckel Nationalsozialistische Herrschaft und Gefolgschaft in der Pfalz (Beiträge zur pfälzischen Geschichte 30) Kaiserslautern 2019, 113–122, hier 118 Zu den Zeitungen auch: Lothar Wettstein, Josef Bürckel Gauleiter Reichsstatthalter Krisenmanager Adolf Hitlers Norderstedt 2009, 74–79 Lothar Meinzer, Stationen und Strukturen der nationalsozialistischen Machtergreifung Ludwigshafen am Rhein und die Pfalz in den ersten Jahren des Dritten Reiches (Veröffentlichungen des Stadtarchivs Ludwigshafen am Rhein 9) Ludwigshafen am Rhein 1983, 67–83 Meinzer, Ludwigshafen, 1983 (wie Anm  16), 72 Pieroth, Bürckel (wie Anm  15), 2019, 119 Wettstein, Bürckel (wie Anm  15), 2009, 555; Andreas Merl, Tagespresse im Saargebiet 1918–1945, in: Clemens Zimmermann  / Rainer Hudemann  / Michael Kudera (Hrsg ), Medienlandschaft Saar, Bd  1: Medien zwischen Demokratisierung und Kontrolle (1945–1955) München 2010, 37– 60, hier 55 Joseph Wulf, Presse und Funk im Dritten Reich Eine Dokumentation (Kunst und Kultur im Dritten Reich 5) Gütersloh 1964, 54; Peter Hüttenberger, Die Gauleiter Studie zum Wandel des Machtgefüges in der NSDAP (Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 19) Stuttgart 1969, 57 u 143 Die politischen Seitensprünge des Herrn Hünerfauth, in: Union in Deutschland Informationsdienst der Christlich-Demokratischen und Christlich-Sozialen Union Deutschlands, 12 07 1950 Carl Schneider, Handbuch der deutschen Tagespresse 6 Aufl Berlin 1937, 38–39 Stefan Krings, Hitlers Pressechef Otto Dietrich (1897–1952) Eine Biographie Göttingen 2010 Friedrich Geiger, „Einer unter Hunderttausend“: Hans Hinkel und die NS-Kulturbürokratie, in: Matthias Herrmann / Hanns-Werner Heister (Hrsg ), Dresden und die avancierte Musik im

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flussreichsten Publizisten und Propagandisten“ während des „Dritten Reiches“ 25 Die Beiträge von Otto Dietrich waren hierbei wortgleich mit den Texten, die im zentralen NS-Parteiorgan „Völkischer Beobachter“ erschienen, und besaßen keine lokalen Bezüge 26 Den dritten und letzten Komplex bilden die im Lokalteil enthaltenen Berichte über die Festveranstaltungen vor Ort in Neustadt an der Weinstraße Neben der rituellen Praxis sind hier zumindest in Exzerpten die Reden der lokalen Partei-, Staats- und Wehrmachtsfunktionäre wiedergegeben Ein Abgleich der Zeitungsinhalte erfolgt mit den zentralen Anweisungen zur Gestaltung der Feiern, welche in den „NS-Presseanweisungen der Vorkriegszeit“27 ediert sind, sowie mit den unter dem Titel „Unser Jahr“ vom Reichskulturamt in der Reichspropagandaleitung herausgegebenen Richtlinien während der Jahre 1942 bis 1944 zur Gestaltung von „Feiern im nationalsozialistischen Jahreslauf “ 3. Forschungsüberblick und theoretischer Zugriff Neben dem generellen „Führerkult“28 besitzen Untersuchungen der zentralen Feiern zu den Geburtstagsfeiern von Hitler in der Historiografie bereits seit der Nachkriegs-

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20 Jahrhundert, Teil II: 1933–1966 (Musik in Dresden 5) Laaber 2002, 47–61; Peter Patzelt, Ein Bürokrat des Verbrechens Hans Hinkel und die „Entjudung“ der deutschen Kultur, in: Markus Behmer (Hrsg ), Deutsche Publizistik im Exil 1933 bis 1945: Personen, Positionen, Perspektiven Festschrift für Ursula E Koch (Kommunikationsgeschichte 11) Münster 2000, 307–317 Marco Sennholz, Johann von Leers Ein Propagandist des Nationalsozialismus (Biographische Studien zum 20 Jahrhundert 3) Berlin 2013, 359; auch: Ernst Klee, Das Personenlexikon zum Dritten Reich Wer war was vor und nach 1945 (Fischer 16048 Geschichte: Die Zeit des Nationalsozialismus) 4 Aufl Frankfurt am Main 2013, 2013, 361 Beispielsweise: Otto Dietrich, Der Kämpfer und Staatsmann, in: NSZ-Rheinfront, 20 04 1933 Ist identisch mit: Otto Dietrich, Der Kämpfer und Staatsmann, in: Völkischer Beobachter Norddeutsche Ausgabe, 20 04 1933 Oder: Otto Dietrich, Das Führertum Adolf Hitlers, in: NSZ-Westmark, 20 04 1942 Erschien tags zuvor im „Völkischen Beobachter“ unter dem Titel: Otto Dietrich, Zum 30 April Der Führer, in: Völkischer Beobachter Norddeutsche Ausgabe, 19 04 1942 Bohrmann, NS-Presseanweisungen (wie Anm  13), 7 Bd , 1984–2001 Ian Kershaw, Der Hitler-Mythos Volksmeinung und Propaganda im Dritten Reich (Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 41) Stuttgart 1980; Werner Freitag, Der Führermythos im Fest Festfeuerwerk, NS-Liturgie, Dissens und „100 % KdF-Stimmung“, in: Freitag, Fest (wie Anm  11), 1997, 11–77; Ludolf Herbst, Der Fall Hitler – Inszenierungskunst und Charismapolitik, in: Wilfried Nippel (Hrsg ), Virtuosen der Macht Herrschaft und Charisma von Perikles bis Mao München 2000, 171–191; Hans-Ulrich Thamer, Führermythos und Führerkult, in: Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg ), Bilder und Macht im 20 Jahrhundert Begleitbuch zur Ausstellung im Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bonn, 28 Mai bis 17 Oktober 2004, und im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig, 26 November 2004 bis 28 März 2005 Bielefeld 2004, 42–53; Ludolf Herbst, Hitlers Charisma Die Erfindung eines deutschen Messias Frankfurt am Main 2010; Nicola Hille, Der Führerkult im Bild Die Darstellung von Hitler, Stalin und Mussolini in der politischen Sichtagitation der 1920er bis 1940er Jahre, in: Benno Ennker (Hrsg ), Der Führer im Europa des 20 Jahrhunderts (Tagungen zur Ostmitteleuropa-Forschung 27) Marburg 2010, 27–49, 29–33

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zeit eine Tradition Dabei lag und liegt ein Schwerpunkt auf dem 50 Geburtstag im Jahr 1939, was die Analyse des NS-Filmberichtes von Fritz Terveen,29 Peter Buchers Bericht über die „Quellenvielfalt im Bundesarchiv“ zu der Veranstaltung,30 Roland Kopps Aufsatz über die Kommandeurs-Reden31 sowie zahlreiche weitere Arbeiten belegen 32 Eine Ausnahme ist Wenke Nitz mit seiner Analyse der von Hitler zu seinen Geburtstagen zwischen 1933 und 1944 in mehreren NS-Zeitungen abgebildeten Fotografien 33 Eine der bisher umfänglichsten Arbeiten ist die Monographie des Journalisten Armin Fuhrer, der neben den zentralen Feiern in Berlin auch die Provinz sowie die Auslandsdeutschen kursorisch berücksichtigte 34 Eine Herausarbeitung spezifischer lokaler Prägungen der Festkultur im Vergleich zum zentralen Festmodus erfolgte nicht In Fallstudien zur Regionalgeschichte des Nationalsozialismus ist die Berücksichtigung der Festkultur anlässlich des „Führergeburtstages“ häufig anzutreffen Doch konzentriert sich die Thematisierung oft auf die bloße Erwähnung, dass am 20 April alljährlich gefeiert wurde,35 oder es liegen Schwerpunkte auf der Schilderung des ers29

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Fritz Terveen, Der Filmbericht über Hitlers 50 Geburtstag, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 7, 1959, 1, 75–84; Joachim Immisch / Fritz Terveen, Die Wochenschau von Hitlers 50 Geburtstag Erläuterungen und Material für ihre Auswertung (Arbeitsblätter zur Filmauswertung) Hannover 1961 Peter Bucher, Hitlers 50 Geburtstag Zur Quellenvielfalt im Bundesarchiv, in: Heinz Boberach / Hans Booms (Hrsg ), Aus der Arbeit des Bundesarchivs Beiträge zum Archivwesen, zur Quellenkunde und Zeitgeschichte (Schriften des Bundesarchivs 25), Boppard am Rhein 1977, 423–446 Roland Kopp, Die Wehrmacht feiert Kommandeurs-Reden zu Hitlers 50 Geburtstag am 20 April 1939, in: Militärgeschichtliche Zeitschrift 62, 2003, 471–534 Hans Joachim Gramm, Der braune Kult Das Dritte Reich und seine Ersatzreligion Ein Beitrag zur politischen Bildung Hamburg 1962, 156; Kurt Pätzold, Hitlers fünfzigster Geburtstag am 20 April 1939, in: Dietrich Eichholtz (Hrsg ), Der Weg in den Krieg Studien zur Geschichte der Vorkriegsjahre (1935/36 bis 1939) Köln 1989, 309–343; Hans Günter Hockerts, Mythos, Kult und Feste München im nationalsozialistischen „Feierjahr“, in: Richard Bauer (Hrsg ), München – „Hauptstadt der Bewegung“ Bayerns Metropole und der Nationalsozialismus Wolfratshausen 2002, 331–341, 333; Wolfgang Kratzer, Feiern und Feste der Nationalsozialisten Aneignungen und Umgestaltung christlicher Kalender, Riten und Symbole Dissertation Ludwig-Maximilians-Universität München 1998, 223–226; Hans-Ulrich Thamer, Verführung und Gewalt Deutschland 1933–1945 (Siedler Deutsche Geschichte) München 1998, 420; Thomas Grimm, Adolf Hitler – Führerkult im Nationalsozialismus, in: Thomas Kunze / Thomas Vogel (Hrsg ), Oh Du, geliebter Führer Personenkult im 20 und 21 Jahrhundert Berlin 2013, 15–33; Hans Günter Hockerts, Führermythos und Führerkult, in: Horst Möller / Volker Dahm / Hartmut Mehringer (Hrsg ), Die tödliche Utopie Bilder, Texte, Dokumente, Daten zum Dritten Reich (Veröffentlichungen des Instituts für Zeitgeschichte) 7 Aufl München 2016, S  189–198 Ausgewertet wurden „Berliner Illustrierte Zeitung“ (Berlin), „Illustrierter Beobachter“ (München) und „Münchner Illustrierte Presse“ (München) Wenke Nitz, Führer und Duce Politische Machtinszenierungen im nationalsozialistischen Deutschland und im faschistischen Italien (Italien in der Moderne 20) Köln u a 2013, 248–254 Armin Fuhrer, „Führergeburtstag“ Die perfide Propaganda des NS-Regimes mit dem 20 April Berlin 2014, 58–61 Hans Berkessel, „Ein Volk, ein Reich, ein Führer?“ – Inszenierung der Volksgemeinschaft und Alltagsleben unterm Hakenkreuz 1934–1939, in: Hans Berkessel / Hans-Georg Meyer (Hrsg ), Die Zeit des Nationalsozialismus in Rheinland-Pfalz, Bd   1: „Eine nationalsozialistische Revolution

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ten Festaktes im „Dritten Reich“ 193336 beziehungsweise, in Analogie zu den Studien auf nationaler Ebene, wegen der aufwändigen Gestaltung auf dem 50 Geburtstag im Jahr 1939 37 Die Darstellung beschränkt sich dabei zum einen auf die Wiedergabe des zeremoniellen Ablaufes oder den Abdruck von Passagen aus Reden, die von lokalen Funktionären der NSDAP gehalten wurden Zum anderen wird nur eine Momentaufnahme und keine Entwicklung von propagandistischen Botschaften im Laufe der Jahre herausgearbeitet 38 Auch nur kursorisch wurden zumindest die Vorkriegsgeburtstagsfeiern bei Michael Schepua am Beispiel von Ludwigshafen und Ulrich Müller an Buchloe aufgezeigt 39 Letztlich fehlt aber auch hier wie in den meisten Fällen die Herausstellung von loka-

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ist eine gründliche Angelegenheit“ Mainz 2000, 138–153, hier 143; Markus Bauer, Machtergreifung und Gleichschaltung in Siegburg Der Lokalteil der nationalsozialistischen Zeitung „Westdeutscher Beobachter“ von 1932 bis 1939 (Veröffentlichung des Geschichts- und Altertumsvereins für Siegburg und den Rhein-Sieg-Kreis 29) Siegburg 2009, 139–141; Hockerts, Feierjahr (wie Anm  32), 2002, 333 Carsten Pollnick, Die Entwicklung des Nationalsozialismus und Antisemitismus in Aschaffenburg 1919–1933 (Veröffentlichungen des Geschichts- und Kunstvereins Aschaffenburg 23) Aschaffenburg 1984, 155–156; Landesinstitut Schleswig-Holstein für Praxis und Theorie der Schule (Hrsg ), Quellen zur Geschichte Schleswig-Holsteins, Bd  3: Von 1920 bis zur staatlichen Neuordnung nach dem Zweiten Weltkrieg (IPTS-Beiträge für Unterricht und Lehrerbildung 16) 2 Aufl Kiel 1986, 101; Elmar Gasten, Aachen in der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft 1933–1944 (Europäische Hochschulschriften 3, 541), Frankfurt am Main u a 1993, 117; Heinz Grosche, Geschichte der Stadt Bad Homburg vor der Höhe Bd  4: Drei schwere Jahrzehnte 1918–1948 Frankfurt am Main 1993, 270; Peter Miesbeck, Bürgertum und Nationalsozialismus in Rosenheim Studien zur politischen Tradition (Quellen und Darstellungen zur Geschichte der Stadt und des Landkreises Rosenheim 13) Rosenheim 1994, 345–349; Kai Uwe Becker / Norbert Grust, Die Feiern zum 9 November in den Ortsgruppen der NSDAP in Ostwestfalen 1933–1943, in: Freitag, Fest (wie Anm  11), 1997, 239–244; Gisela Hirschberg-Köhler, Das Festjahr 1933 in Minden, in: Freitag, Fest (wie Anm  11), 1997, 93–97, hier 93–94; Dieter Zoremba, „Freut Euch des Lebens “ Festkultur in Blomberg in der Mitte der 30er Jahre, in: Freitag, Fest (wie Anm  11), 1997, 143–150, hier 144; Rudi Kübler, Ulm 1933 Die Anfänge der nationalsozialistischen Diktatur (Kleine Reihe des Stadtarchivs Ulm 7) Ulm 2009, 81–83; Laura Hanel [Gebauer], Amberg und der Nationalsozialismus (Beiträge zur Geschichte und Kultur der Stadt Amberg 9) Amberg 2019, 142–143 Pollnick, Aschaffenburg (wie Anm  36), 1984, 233–235; Grosche, Bad Homburg (wie Anm   36), 1993, 344–345; Klaus/Kukatzki, Ludwigshafen (wie Anm  5), 2015, 38; Stephanie Neuhofer, Fortsetzung Klosterneuburg 1938, in: Wolfgang Bäck / Stephanie Neuhofer / Barbara Weiss (Hrsg ), Zäsuren 1918 und 1938 Stadtgeschichte im Kontext (Klosterneuburg Sonderband 9) Klosterneuburg 2018, 32–63, hier 40–43 Diese Forschungsbilanz trifft auch auf andere Veranstaltungen im nationalsozialistischen Feierjahr zu Gleiches gilt für Untersuchungen zur Durchdringung der bestehenden Festkultur in ländlichen und bürgerlichen Teilen der Gesellschaft Beispielsweise untersuchte Thorsten Schrumpf-Heidemann die Erntedankfeste in Hagen nur für die Jahre 1933 und 1935 Thorsten Schrumpf-Heidemann, Erst „begeistertes Bekenntnis zum Führer“, dann „Erstarrung in würdiger Form“ Die Erntedankfeste in Hagen 1933–1935, in: Freitag, Fest (wie Anm  11 ), 1997, 127–134 Michael Schepua, Nationalsozialismus in der pfälzischen Provinz Herrschaftspraxis und Alltagsleben in den Gemeinden des heutigen Landkreises Ludwigshafen 1933–1945 (Mannheimer historische Forschungen 20) Mannheim 2000; Ulrich Müller, Buchloe zwischen den Weltkriegen Von der Weimarer Republik ins Dritte Reich (Buchloer historische Hefte 6) Buchloe 2016

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len Eigenheiten Annika Sommersberg wählte zwar für ihre Dissertation über Euskirchen im „Dritten Reich“ den zunächst vielversprechenden Titel „Der Hitler-Mythos im Westdeutschen Beobachter“, doch konzentrierte sie sich auf die Kommunikation der Zeitgeschehnisse von 1933 bis 1939 in der NS-Lokalpresse 40 Bisher konnten am ehesten Reinhard Haiplik in seinem Buch über „Pfaffenhofen unterm Hakenkreuz“41 sowie noch mehr Anna Elisabeth Rosmus in ihrer Arbeit zu Niederbayern42 einen lokalbezogenen prozessualen Charakter der Feiern liefern Um nicht Gefahr zu laufen, die Artikel mit den entsprechenden Zuschreibungen zu den Jahrestagen in der Presse bloß nachzuerzählen, ist ein Analysemodell erforderlich, das über die Erfassung der medial suggerierten Eigenschaften hinausgeht und die Nachzeichnung des prozessualen Charakters der entsprechenden Kommunikation ermöglicht Ein solches Modell lässt sich aus einer Theorie des Mythos nach Jan Assmann und Hans Blumenberg herleiten Mythisierte Geschichte wie auch die Mythisierung lebender Persönlichkeiten wird nach Jan Assmann transformiert, um Werte für die Gegenwart ableiten und bestimmen zu können 43 Hierbei wird die Existenz eines „kollektiven Gedächtnisses“ einer Gesellschaft unterstellt Dieses ergibt sich nach Maurice Halbwachs aus dem kollektiven Rahmen der Erinnerung 44 Hans Blumenberg differenzierte diese These, indem er die Dynamik der Wechselwirkung zwischen Gesellschaft und Mythos beschrieb: „Mythen sind Geschichten von hochgradiger Beständigkeit ihres narrativen Kerns und ebenso ausgeprägter marginaler Variationsfähigkeit “ Blumenberg definierte weiter, dass eine Veränderung des Kerns oder eine Erstarrung der Peripherie einen Mythos zerstöre 45 Im Folgenden sollen daher die Aspekte der medialen Darstellung von Hitler herausgearbeitet und auf ihre inhaltlichen Kontinuitäten und Diskontinuitäten von der „Machtergreifung“ bis zur Eroberung von Neustadt an der Weinstraße durch die Truppen der westlichen Alliierten untersucht erwerben

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Annika Sommersberg, Der Hitler-Mythos im Westdeutschen Beobachter Euskirchen im Dritten Reich Tönning 2005 Reinhard Haiplik, Pfaffenhofen unterm Hakenkreuz Stadt und Landkreis zur Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft 2 Aufl Pfaffenhofen 2005, 70–154 Anna Elisabeth Rosmus, Hitlers Nibelungen Niederbayern im Aufbruch zu Krieg und Untergang Grafenau 2015 Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen 7 Aufl München 2013, 76 Zum Begriff: Maurice Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis Ungekürzte Ausgabe (Fischer-Taschenbücher 7359: Wissenschaft) Frankfurt am Main 1991 Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, 3 Aufl Frankfurt am Main 1984, 40–67

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4. Der Hitlerkult in seinen regionalspezifischen Ausprägungen Feiertage wurden durch das Regime als Mittel zur politischen Indoktrination genutzt 46 Während bestehende Festtage aus dem christlichen Jahreskreis mit der nationalsozialistischen Ikonographie und damit Ideologie durchdrungen werden sollten,47 versuchte das Regime bisherige staatliche Gedenktage wie den „Volkstrauertag“ als „Heldengedenktag“ neu zu interpretieren 48 Darüber hinaus war an bestimmten Kalendertagen eine Beflaggung vorgeschrieben, hierzu zählten neben traditionellen Festen wie Erntedank und historischen Daten wie der Reichsgründung auch die Erinnerung an Stichtage aus der Geschichte der „Bewegung “49 Bei der zuletzt genannten Gruppe handelte es sich neben dem Gedenken an den gescheiterten Putschversuch von 1923 im Bürgerbräukeller und jenem an die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler 1933 auch um den Geburtstag des „Führers“ Doch während der 9 November ab 1939 gesetzlicher Feiertag wurde, wurde dies der 30 Januar nie und der 20 April nur einmal anlässlich des 50 Geburtstages des Diktators 50 Während die beiden ersten Gedenktage auch im Kontext der Verklärung von „Bewegung“ und Partei standen, war der „Führergeburtstag“ gänzlich ein Ausdruck des Personenkultes um Hitler Der „Führerkult“ fungierte als politisches und soziales „Bindemittel“ und sollte „Gefolgschaft“ sowie „rassisch“ die „Einheit“ des Reiches symbolisieren 51 Erwin Barth bilanzierte über die Formierung des „Führer-Mythos“, dass dieser bis zum Ende der Machtfestigung des Regimes eine „Stabilisierung“ erfahren habe 52 Hingegen legte Fritz Schellack dar, dass für den 20 April in den Jahren 1933 bis 1934 noch Reichspräsident Paul von Hindenburg einer zu ausgeprägten Inszenierung im 46

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Heidi Fogel, Nationalsozialismus in der Dreieich Aufstieg und Herrschaft der NSDAP im heterogen strukturierten Lebens- und Erfahrungsraum des südlichen Frankfurter Umlandes (Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte 85) Darmstadt 1991, 168–171; auch: Gerd Krieger, „Immer auf vollen Touren laufen“ Instrumente und Mechanismen der NS-Propaganda, in: Michael Cramer-Fürtig (Hrsg ), „Machtergreifung“ in Augsburg Anfänge der NS-Diktatur 1933– 1937 (Beiträge zur Geschichte der Stadt Augsburg 4) Augsburg 2008, 130–149; Peter Longerich, Joseph Goebbels Biographie, München 2010, S  277–279 Beispielsweise: Felix Rengstorf, Die Westfalenfahrt der „Alten Garde“ 1939 Führermythos, Heimat und Wirtschaft, in: in: Freitag, Fest (wie Anm  11), 1997, 175–184 Gaus/Hattenhorst/Plöger, Detmold (wie Anm  11), 1997 Reichsgründungstag (18 Januar), „Tag der nationalen Erhebung“ (30 Januar), „Heldengedenktag“ Februar/März, Führergeburtstag (20 April), Nationaler Feiertag des Deutschen Volkes (1 Mai), Erntedanktag (September/Oktober), „Gedenktag für die Bewegung“ (9 November) Fritz Schellack, Nationalfeiertage in Deutschland von 1871 bis 1945 (Europäische Hochschulschriften, Reihe III, Geschichte und ihre Hilfswissenschaften 415) Frankfurt am Main u a 1990, 316–320; Jörg Koch, Dass Du nicht vergessest der Geschichte Staatliche Gedenk- und Feiertage in Deutschland von 1871 bis heute Darmstadt 2019, 101–192 Norbert Hopster / Alex Moll, Träume und Trümmer Der Nationalsozialismus von 1933 bis 1945 Bielefeld 1989, 171 Erwin Barth, Joseph Goebbels und die Formierung des Führer-Mythos 1917 bis 1934 (Erlanger Studien 119) Erlangen u a 1999, 228–231

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Weg stand und kein offizielles Feierprogramm vorlag 53 Ab 1936 sei der Tag, so Klaus Vondung, „mit allem erdenklichen Prunk und Aufwand“ begangen worden 54 Zudem wurde der Geburtstag des „Führers“ zu einem Wendepunkt im Leben der Jugend stilisiert Am Vortag wurden daher die Zehnjährigen in das „Deutsche Jungvolk“ beziehungsweise in den „Jungmädelbund“ aufgenommen Ab 1938 fand hierfür die zentrale Reichsfeier in der Marienburg statt, einer im 13 Jahrhundert erbauten Ordensburg des Deutschen Ordens, die in der vom Reich seit dem Versailler Vertrag durch einen polnischen Korridor getrennten Provinz Ostpreußen lag 55 Die Veranstaltung wurde unter der Bezeichnung „Tag der Verpflichtung der Jugend“56 durchgeführt und per Rundfunksender zu den Feiern in den einzelnen Regionen übertragen Ebenfalls ab dem Jahr 1936 wurde die Vereidigung der politischen Leiter vom 24 Februar auf Hitlers Geburtstag verlegt Die zentrale Feier zu diesem Anlass fand jährlich am Königsplatz in München statt 57 Erst im Jahr 1939 habe der Ritus der Geburtstagsfeiern seine endgültige Form erhalten, so Fritz Schellack 58 In der Zeitschrift „Erzieher der Westmark“, dem Organ des Nationalsozialistischen Lehrerbundes für den Gau Saar-Pfalz, wurde im Heft vom März 1936 unter ein Porträt von Adolf Hitler als einleitender Spruch geschrieben: „Die Politik Adolf Hitlers bedeutet für das deutsche Volk Ehre, Freiheit, Arbeit und Brot und für Europa und die Welt den Frieden!“59 Die hier angesprochenen Aspekte – Gerechtigkeit, Wohlstand, Frieden – zählen zu den Kernaspekten des Hitler-Kultes Doch gilt es herauszuarbei53 54 55

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Schellack, Nationalfeiertage (wie Anm  50), 1990, 316–320 Klaus Vondung, Magie und Manipulation Ideologischer Kult und politische Religion des Nationalsozialismus Göttingen 1971, 78 Die Marienburg lag bis 1920 in der preußischen Provinz Westpreußen Nach der Abtretung des größten Teils der Provinz an Polen entschied sich der Bezirk Marienwerder, in dem die Marienburg lag, in einer Volksabstimmung für den Verbleib bei Deutschland und wurde in die nun nicht mehr mit einer Landbrücke mit dem Reich verbundene noch deutsche Provinz Ostpreußen eingegliedert Die Wahl dieses Ortes der Feier im Osten, an der Grenze zu Polen, war eine symbolische Vorwegnahme der nationalsozialistischen Pläne in Osteuropa Denn die Marienburg war der Sitz der Hochmeister des Deutschen Ordens gewesen, dessen Einfluss weit ins Baltikum reichte Udo Arnold, Der Deutsche Orden im deutschen Bewußtsein des 20 Jahrhunderts, in: Zenon Hubert Nowak, Vergangenheit und Gegenwart der Ritterorden Die Rezeption der Idee und die Wirklichkeit (Ordines militares 11) Thorn 2001, 39–53; Elisabeth Castellani Zahir, „Das Schloss bleibt stehen!“ Vom Ärgernis zum Nationaldenkmal 1772 bis 1922 Die Marienburg im Spiegel der europäischen Burgenrenaissance, in: Forschungen zu Burgen und Schlössern 6, 2001, 107–122; Fabian Link, Burgen und Burgenforschung im Nationalsozialismus, Wissenschaft und Weltanschauung 1933–1945 Köln 2014, 57; Hermann Pölking, Ostpreußen Biographie einer Provinz Augsburg 2017, 438–446 Michael Buddrus, Totale Erziehung für den totalen Krieg Hitlerjugend und nationalsozialistische Jugendpolitik Bd   1 (Texte und Materialien zur Zeitgeschichte 13,1) München 2003, 148, auch 278–279 u 292 Vondung, Magie (wie Anm  54), 1971, 78; Hockerts, Feierjahr (wie Anm  32), 2002, 333 Schellack, Nationalfeiertage (wie Anm  50), 1990, 317 Erzieher der Westmark Zeitschrift des Nationalsozialistischen Lehrerbundes, Gau Saar-Pfalz 2, 1936, 3a, o S

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ten, zu welchem Zeitpunkt sie unter welchen propagandistischen Nuancen kommuniziert wurden, um herauszufinden, ob der Kult um den Diktator, wie von Barth oder Schellack angenommen, ab einem gewissen Zeitpunkt inhaltlich und formal fixiert war oder doch einem bis an Hitlers Lebensende dauernden Wandel unterlag 4 1 Das Verhältnis von Volk und Führung Max Steigner titelte in der „NSZ“-Ausgabe vom 31 Januar 1933 anlässlich der Ernennung von Hitler zum Reichskanzler: „Deutschlands Führer ist Kanzler “60 Mit dieser Überschrift implizierte Steigner, dass Hitler schon vor seiner Kanzlerschaft die Position eines „Führers“ der Nation besessen habe Am 13 März 1933 wurde, durch einen von Hitler initiierten Erlass Hindenburgs, für Goebbels ein neues Ministerium, das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, geschaffen zur Kontrolle von Presse, Rundfunk, Theater und anderen Medien Dies bedeutete die staatliche Institutionalisierung der nationalsozialistischen Propaganda durch einen auf Joseph Goebbels zugeschnittenen Verwaltungsapparat Aufbau und Zielsetzung waren hier, anders als bei den bisherigen Ministerien, sachlich und personell auf die Belange der neuen Regierung ausgerichtet 61 In seiner neuen Funktion wollte Goebbels zum ersten Geburtstag Hitlers nach der Übertragung der Kanzlerschaft „menschlich-schlichte Züge zur Geltung bringen“, ihn als „Volkskanzler“ präsentieren, der ein „kinderfreundlicher“ und „einfacher Mann aus dem Volke“ sei 62 Die Bescheidenheit der Inszenierung war wohl auch der Rücksicht auf Hindenburg geschuldet, der in seiner Funktion als Reichspräsident noch im Weg stand 63 Das Schlagwort „Volkskanzler“64 dominierte daher auch die propagandistische Inszenierung in der Region Auch in der „NSZ“ wurde unter dem Titel „Ein Arbeitstag des Volkskanzlers“65 ein Artikel von Hitlers langjährigem Chefadjutanten Wilhelm Brückner abgedruckt 66 Hierin wurde der angeblich unermüdliche Arbeitseinsatz des neuen Regierungschefs für das Volk gepriesen Max Steigner nahm sich jedoch nicht zurück, dem „Führer“ eine Reihe von exklusiven 60 61 62 63 64 65 66

Max Steigner, Deutschlands Führer ist Kanzler, in: NSZ-Rheinfront, 31 01 1933 Karl Dietrich Bracher, Die nationalsozialistische Machtergreifung Bd  1: Stufen der Machergreifung (Ullstein TB 35056) Frankfurt am Main 1979, 205–206 Peter Reichel, Der schöne Schein des Dritten Reiches Faszination und Gewalt des Faschismus München u a 1991, 150 Christoph Raichle, Hitler als Symbolpolitiker, Stuttgart 2014, 99–106 Hirschberg-Köhler, Minden (wie Anm  36), 1997, 93–94; Zoremba, Blomberg (wie Anm  36), 1997, 144; Kübler, Ulm (wie Anm  36), 2009, 81–83; Rosmus, Niederbayern (wie Anm  42), 2015, 93–94 Wilhelm Brückner, Ein Arbeitstag des Volkskanzlers, in: NSZ-Rheinfront, 20 04 1933 Joachim Lilla / Martin Döring / Andreas Schulz, Statisten in Uniform Die Mitglieder des Reichstags 1933–1945 Ein biographisches Handbuch Unter Einbeziehung der völkischen und nationalsozialistischen Reichstagsabgeordneten ab Mai 1924 (Eine Veröffentlichung der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien) Düsseldorf 2004, 66–67

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Eigenschaften zu attestieren: „immer ein heldisches Vorbild“, „erkorener Herzog des deutschen Volkes“, „Gestalter und Bildner seines Volkes“ „Berufen durch den Feldmarschall des Weltkrieges und bestätigt durch die Millionenmassen“, habe er sich nach drei Monaten „höchsten staatsmännischen Ruhm“ erworben Für die Zukunft prognostizierte Steigner, dem Reichskanzler werde „es möglich sein, dem Vaterlande nach der inneren auch die äußere Freiheit wiederzugeben “ Kein „Byzantinertum“, sondern „Vertrauen“ würden kennzeichne das Verhältnis zwischen Führung und Volk, so Steigner weiter 67 Hitler habe nach kurzer Zeit „dem Reiche die Idealgestalt“ verliehen, „um die auch Bismarck vergeblich gekämpft hatte“ 68 Ebenfalls noch 1933 wurde mit Stolz verkündet, dass Hitlers Geburtstag im Volk mehr gefeiert werde, als früher die des Kaisers, von Bismarck oder von Hindenburg 69 Auch in Neustadt an der Weinstraße wurde durch die örtliche NSDAP 1933 dem „Wunsch des Führers entsprechend“ die „Feier in einfachem, schlichtem Rahmen gehalten “70 Kreisleiter Hieronymus Merkel71 erklärte in einer Rede, dass „gerade die Einfachheit der Aufmachung ihren Wert“ ausmache Da gemäß dem „Wunsch des Führers“ an diesem „Tage niemand hungern solle, seien alle Armen in ganz Neustadt mit Gaben aus der Hitlerspende bedacht worden “72 Otto Gauweiler, Jurist am Amtsgericht Neustadt,73 schilderte hierbei „in packenden Ausführungen“ das Leben des Führers, wobei in dem Artikel nicht erwähnt wurde, was dem Vortragenden hier zentral war 74 Spenden für „ärmere Volksgenossen“ als „Sozialismus der Tat“ sollten belegen, Neustadts Bevölkerung habe gezeigt, dass sie „nicht nur national denkt, sondern sozialistisch handelt“ 75 Auch in den Folgejahren wurde in „schlichter und erhebender Weise“76 Hitlers Geburtstag in Neustadt gefeiert und das Bild vom bescheidenen „Führer“, 67

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Max Steigner, Kanzler des Volkes, in: NSZ-Rheinfront, 20 04 1933 Mit „Byzantinismus“ ist eine abwertend konnotierte Unterwürfigkeit gemeint Martin Kohlrausch, Der Monarch im Skandal Die Logik der Massenmedien und die Transformation der wilhelminischen Monarchie (Elitenwandel in der Moderne 7) Berlin 2005, 181–182 Dass der Eindruck von „Byzantinismus zu vermeiden“ ist, wurde auch in den NS-Presseanweisungen vorgegeben Presseanweisung vom 17 04 1935, in: Bohrmann, NS-Presseanweisungen 3/I (wie Anm  13), 1987, 228 Max Steigner, Kanzler des Volkes, in: NSZ-Rheinfront, 20 04 1933 Hierzu: Tobias Hirschmüller, Geschichte gegen Demokratie – Bedeutung und Funktion von Friedrich dem Großen und Otto von Bismarck in den politischen Reden Hitlers zur Zeit der Weimarer Republik, in: Jahrbuch der Hambach-Gesellschaft 18 (2010), 189–216, 196 Der Eindruck in Newyork, in: NSZ-Rheinfront, 21 04 1933 Hitlers Geburtstags-Feier in Neustadt, in: NSZ-Rheinfront, 18 04 1933 Franz Maier, Biographisches Organisationshandbuch der NSDAP und ihrer Gliederungen im Gebiete des heutigen Landes Rheinland-Pfalz (Veröffentlichungen der Kommission des Landtages für die Geschichte des Landes Rheinland-Pfalz 28) Mainz 2007, 348–350 Aus Neustadt Neustadt feiert Hitlers Geburtstag, in: NSZ-Rheinfront, 22 04 1933 Stephan Lehnstaedt, Okkupation im Osten Besatzeralltag in Warschau und Minsk 1939–1944 (Studien zur Zeitgeschichte 82) München 2010, 64 Aus Neustadt Neustadt feiert Hitlers Geburtstag, in: NSZ-Rheinfront, 22 04 1933 Aus Neustadt Sozialismus der Tat!, in: NSZ-Rheinfront, 20 04 1933 Neustadt und die Vorderpfalz Der Geburtstag des Führers, in: NSZ-Rheinfront, 21 04 1934

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der um das Wohl des Volks besorgt sei, weitertradiert 77 So schrieb die „NSZ“, „Arbeit von früh bis spät“78 kennzeichne das Leben des „Führers“, im „engsten Kreis, beratend und sorgend, verbringt Adolf Hitler diese Tage“ 79 Für Ernst Leyser, SS-Brigadeführer, Vorsitzender der Zweiten Kammer des Obersten Parteigerichts der NSDAP und stellvertretender Gauleiter im Gau Rheinpfalz,80 war „Adolf Hitler der größte“ und zugleich „einfachste und bescheidenste aller Deutschen“ Dies begründete für ihn die Verbundenheit des Volkes zum „Führer“ 81 Die angebliche Unzertrennlichkeit des Diktators mit der Bevölkerung zu suggerieren, entwickelte sich zu einem wesentlichen Aspekt des Hitler-Kultes „Führer gleich Volk“,82 rechnete Josef Hünerfauth vor Als Beleg wurde in der „NSZ“ die Menge an übersendeten Glückwünschen und Geburtstagsgeschenken aus der Bevölkerung angeführt 83 Hans Hinkel erklärte zum Geburtstag 1934 hierzu: Ihm danken wir heute alle und alle! Arbeiter und Bauern, Handwerker und Künstler, Kaufmann und Beamter, Jung und Alt, Mann und Frau – sie alle reichen sich die Hände, sehen sich offen und freudig in die Augen und geben sich untereinander das Wort: Wir alle wollen dieses Führers würdig sein!84

Die Aufzählung diverser Bevölkerungsgruppen verdeutlicht, dass die Herstellung der sogenannten „Volksgemeinschaft“85 nach einem Jahr unter Hitler als erreicht galt

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81 82 83 84 85

Gunther Corinth, Führer des Volkes, in: Das Werk des Führers im Gau Saarpfalz Sonderbeilage der NSZ-Rheinfront, 20 04 1937 Hier arbeitet der Führer Ein Vormittag in der Reichskanzlei – Das Arbeitsprogramm unseres Führers, in: NSZ-Rheinfront, 20 04 1936 Erhard Hauck, Festtage der Arbeit am Aufbau, in: NSZ-Rheinfront, 20 04 1935 Dieter Wolfanger, Ernst Ludwig Leyser Stellvertretender Gauleiter der NSDAP in der Saarpfalz Eine biographische Skizze, in: Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte 14, 1988, 209–217; Nicholas John Williams, Modellkarriere Leyser: Bürokrat, Schreibtischtäter, Rad im Getriebe des NS-Systems, in: Zeitschrift für die Geschichte der Saargegend 63, 2015, 59–83 Ernst Leyser, Unser Schwur, in: NSZ-Rheinfront, 20 04 1939 Josef Hünerfauth, Er und sein Volk Die große Kameradschaft, in: NSZ-Rheinfront, 20 04 1939; ähnlich: Max Steigner, Unsre Gelöbnis, in: NSZ-Westmark, 20 04 1941 Der Geburtstag des Führers, in: NSZ-Rheinfront, 21 04 1934; Große Post in der Reichskanzlei Berge von Geschenken sprechen, in: NSZ-Rheinfront, 21 04 1937; Ein Volk gratuliert Die Reichshauptstadt am 20 April – Erlebnisse in der Reichskanzlei, in: NSZ-Rheinfront, 21 04 1940 Hans Hinkel, Groß und einfach, in: NSZ-Rheinfront, 20 04 1934 Nicholas John Williams, Grenzen der „Volksgemeinschaft“ Die Evakuierung 1939/40 in Deutschland und Frankreich, in: Zeitschrift für die Geschichte der Saargegend 60, 2012, 113–126; FrankLothar Kroll, „Volksgemeinschaft“ Zur Diskussion über einen umstrittenen Integrationsfaktor nationalsozialistischer Weltanschauung, in: Alexander Gallus / Thomas Schubert / Tom Thieme (Hrsg ), Deutsche Kontroversen Baden-Baden 2013, 99–112; Martina Steber  / Bernhard Gotto, „Volksgemeinschaft“ – ein analytischer Schlüssel zur Gesellschaftsgeschichte des NS-Regimes, in: Uwe Danker / Astrid Schwabe (Hrsg ), Die NS-Volksgemeinschaft Zeitgenössische Verheißung, analytisches Konzept und ein Schlüssel zum historischen Lernen? (Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 13) Göttingen 2017, 37–47; Detlef Schmiechen-Ackermann, „Volksgemeinschaft“!? Vom Streit um Begriffe und Konzepte zur Erweiterung der Forschungsperspektive, in: Detlef Schmie-

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Die Verbundenheit zwischen Volk und „Führer“ sollte in den Folgejahren schon im Kindes- und Jugendalter hergestellt werden Bei Franz Emil Rasche war zunächst noch von „Staatsjugend“ oder „Kanzlerjugend“ die Rede 86 Doch wurde der Jugend bald darüber hinaus suggeriert, eine „Teilhaberschaft an einem neu zu gestaltenden Schicksal der Nation“ zu bekommen, „Mitgestalterin des völkischen Gesamtschicksals“ zu werden87 und das Werk Hitlers einst fortzuführen 88 In geringerem Umfang war die Verbundenheit des „Führers“ mit den Frauen ein Thema Zwar wurde auch zu Hitlers Geburtstag das Werk der „Mütter der Westmark“89 berücksichtigt und deren „Grenzenlose Dankbarkeit“90 betont Obergauführerin Else Stork rief bei der Feier 1939 „die Zeiten in das Gedächtnis zurück, da die deutsche Frau abgelenkt war, die Kraft ihrer Persönlichkeit in den Dienst der Gemeinschaft zu stellen“ 91 Doch konzentriert sich dieser familiär-weibliche Beitrag auf die Nachwuchsproduktion Der „Sieg der Familie“ bedeute die „Ueberwindung des Volkstodes“, denn Kinderreichtum sei eine „Frage der Charakterhaltung“ 92 Sukzessive erfuhr die Person Hitler eine politisch-religiöse Aufladung, etwa wenn Edgar Schröder von der „Zauberkraft, die in den Worten Adolf Hitlers innewohnt“, schrieb, da diese „im Bewußtsein fortwirken“, ohne dass sie den Hörern noch „gegenwärtig sind “ Es sei der Glaube an die „deutsche Heilsbotschaft, die der Führer verkündete“, es habe sich erwiesen, was der Führer gesagt hatte 93 Das Schlagwort vom „Volkskanzler“ war durch die Zunahme des Personenkultes nach 1934 kaum mehr anzutreffen, stattdessen wurde er als „Führer“ zunächst als „Arbeiter und Soldat“ gleichermaßen beschrieben Dies war bei den reichsweit erscheinenden Artikeln von Otto Dietrich anzutreffen,94 wie auch in der „NSZ“ durch Georg Stahl,95 Gauinspekteur der Pfalz zunächst ab 1933 und nach mehreren Parteiämtern ab 1936 Gauamtsleiter der Deutschen Arbeitsfront 96 Nach Kriegsbeginn wurde auch dies ersetzt durch die Be-

86 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96

chen-Ackermann / Marlis Buchholz / Bianca Roitsch / Christiane Schröder (Hrsg ), Der Ort der „Volksgemeinschaft“ in der deutschen Gesellschaftsgeschichte Paderborn 2018, 9–25, Lu Seegers, Herrschaft als mediale Praxis Potenziale einer stärkeren Einbeziehung der Massenmedien zur Erforschung der NS-Gesellschaftsgeschichte, in: Schmiechen-Ackermann/Buchholz/Roitsch/ Schröder, Volksgemeinschaft (wie Anm  85), 2018, 327–338 Lorenz Bersch, Kanzler und Jugend, in: NSZ-Rheinfront, 20 04 1933 Alfred Storck, Die schönere Jugend, in: NSZ-Rheinfront, 20 04 1940 Gelöbnis der Jugend, in: NSZ-Westmark, 20 04 1941 Luise Rösinger, Wir grüßen Dich Führer, in: NSZ-Rheinfront, 20 04 1933 Dem Führer verpflichtet Die Aufnahme des Jungvolkes und der Jungmädelschaft in die HJ, in: NSZ-Rheinfront, 20 04 1940 In Liebe und Treue verschworen Ein Freudentag des Führers der Deutschen, in: NSZ-Westmark, 21 04 1939 Rudolf Bößer, Sieg der Familie Die Ueberwindung des Volkstodes, in: NSZ-Rheinfront, 20 04 1939 Edgar Schröder, Der Führer als Redner, in: NSZ-Rheinfront, 20 04 1939 Otto Dietrich, Soldat seines Volkes, in: NSZ-Rheinfront, 20 04 1938 Georg Stahl, Arbeitskamerad, in: NSZ-Rheinfront, 20 04 1939 Maier, Organisationshandbuch (wie Anm  71), 2007, 457–459

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hauptung, der „Führer“ sei Siegesgarant, da er „Feldherr“ und „Staatsmann in einer Person“ vereine 97 Somit sei Hitler nicht ein Bismarck oder ein Helmuth von Moltke der Ältere, sondern wie Friedrich der Große die „wunderbare Einheit“ von beiden 98 Der bisher stabile Mythoskern der Fürsorge des „Führers“ um sein Volk wurde im Krieg ins Gegenteil verkehrt und damit zerstört Zwar wurde zunächst noch an Hitlers Geburtstag die „Freude“ und „Lebensbejahung“ hervorgehoben, „weil unser Leben im Dritten Reich wieder einen Sinn bekommen hat“ 99 Doch schrieb Max Steigner 1942, das „deutsche Volk ist der fanatische Träger des Führerwillens“ 100 Somit stand nicht mehr die Volksnähe des Staatsoberhauptes im Zentrum, sondern das Volk fungierte alternativlos als ausführendes Organ der Entscheidungen des Führers Dies wurde durch die immer wiederkehrenden Forderungen nach Opferbereitschaft noch verschärft: Nichts ist für uns selbst, alles für das Reich[,] wird unser erneutes Bekenntnis am Geburtstag des Führers sein Denn in der Opferbereitschaft des Volkes liegt die Stärke der Nation Der Wall der unbeugsamen Herzen steht Darauf kann der Führer bauen Jedes noch so große Opfer wird er von uns fordern können, das wollen wir an diesem Tag gläubig bekennen 101

Nun müsse „prüfend Rückschau“ gehalten werden, „ob wir zu jeder Stunde in unserem ganzen Tun und Sein uns auch des Mannes würdig erwiesen haben“ 102 Nachdem zunächst Hitler alle seine Kraft in die Arbeit für das Volk gesteckt habe, sollte dieses nun umgekehrt alles in seiner Macht Stehende vollbringen, um dem „Führer“ gerecht zu werden Damit wird dieser Teil des Mythoskerns in ein Dogma verwandelt und zerstört Aufschlussreich sind auch die von Hitler in der „NSZ“ abgedruckten Bilder, da diese den Wandel der Kommunikation Hitlers visuell veranschaulichen 103 Noch im Jahr 1933 war er anlässlich seines Geburtstages mit einem Portrait in Anzug und Krawatte abgebildet 104 Ähnlich gekleidet war er auf einem Gemälde, welches ihn leicht gebückt gegenüber drei Kindern, zwei Mädchen und ein Junge, in Trachtenkleidung zeigt und die Unterzeile besaß: „Das Kanzler wird bei seinem Aufenthalt in Berchtesgaden von Bauernkindern mit Blumensträußen begrüßt “105 Ein Jahr später war eine aus der Sei97 98

Edgar Schröder, Sieger über Versailles, in: NSZ-Rheinfront, 20 04 1940 Martin Vogel, Führer/Staatsmann/Feldherr Adolf Hitler trägt das Schicksal Europas in seiner Hand Gedanken zum Geburtstag des Führers, in: NSZ-Westmark, 20 04 1944 99 Neustadt an der Weinstraße Lebensfreude, in: NSZ-Westmark, 22 04 1941 100 Max Steigner, Warum wir ihn lieben, in: NSZ-Westmark, 20 04 1942 101 Neustadt an der Weinstraße Opferbereite Herzen, in: NSZ-Westmark, 20 04 1943 102 Fritz Jaeger, Unser Glückwunsch, in: NSZ-Westmark, 20 04 1944 103 Über den „Führerkult im Bild“ unter anderem: Hille, Führerkult (wie Anm  28), 2010, 29–33 In einer Presseanweisung von 1936 hieß es, „möglichst gute Bilder vom Führer und den Leistungen der letzten Jahre zu veröffentlichen“ Presseanweisung vom 17 04 1936, in: Bohrmann, NS-Presseanweisungen 4/I (wie Anm  13), 1993, 410 104 NSZ-Rheinfront, 20 04 1933 105 NSZ-Rheinfront, 20 04 1933

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tenperspektive abgelichtete Büste aus Metall zu sehen 106 Im Jahr 1938 zeigte ihn die „NSZ“ mit einem großen Seitenporträtfoto in die Ferne blickend107 – was wohl auf die Zukunft gerichtet wirken soll – und anlässlich des 50 Geburtstages wurde er auf einer Abbildung bis zur Hüfte wiedergegeben, in die er seine geballte rechte Faust stützte, während der linke Arm auf einer Lehne abgelegt ist Der Kopf ist nicht mehr völlig von der Seite fotografiert, sondern im Viertelprofil entspricht der Blick dem vom Vorjahr 108 Im ersten Kriegsjahr ist der auffälligste Unterschied zunächst, dass die Partei- einer Felduniform gewichen ist und Hitler eine Schirmmütze trägt, während er bisher zum Geburtstag immer ohne Kopfbedeckung zu sehen war Zudem ist der Diktator von Generälen der Wehrmacht umgeben, unter anderem Heinz Guderian, der maßgeblich an der Entstehung und Einsatzkommandierung der deutschen Panzerwaffe beteiligt war 109 Neben diesen als Lagebesprechung inszenierten Abbildungen war der „Führer“ auch immer wieder im Gespräch mit einfachen Soldaten zu sehen 110 Dies sollte eine Verbundenheit von Hitler mit der kämpfenden Truppe suggerieren Während dieses Motiv zu den Geburtstagen grundsätzlich beibehalten wurde,111 waren Ablichtungen mit der Generalität ab 1942 seltener anzutreffen 112 Die Geburtstagsausgaben der Jahre 1943113 und 1944114 zeigten Hitler wiederum allein in Form eines Schulterportraits Vor allem letzteres erweckt bei Betrachtenden den Eindruck eines kummervollen bis hin zu einem traurigen Verantwortungsträger Somit hatte sich die Propaganda vom „Volkskanzler“ über den Staatsmann und Feldherrn vereinenden „Führer“ und schließlich alleinigen Hoffnungsträger auch hier widergespiegelt Zusammenfassend bedeute dies, es konnte keine fixe Narration zum Verhältnis von Volk und Führung etabliert werden Nachdem zunächst das Bild vom bescheidenen „Volkskanzler“ entworfen wurde, der sich um die Belange aller gesellschaftlichen Schichten kümmert, trat der Aspekt des Feldherrn, dem Gefolgschaft geleistet werden musste und der grenzenlose Opferbereitschaft einfordern konnte, in den Vordergrund Die Abfolge der Abbildungen von Adolf Hitler in der nationalsozialistischen Gaupresse von 1933 bis 1944:

106 107 108 109

110 111 112 113 114

NSZ-Rheinfront, 20 04 1934 NSZ-Rheinfront, 20 04 1938 Der 50 Geburtstag des Führers Erster Gratulant die Partei, in: NSZ-Rheinfront, 20 04 1939 NSZ-Rheinfront, 20 04 1940; ähnlich: Stefan Goch, Adolf Hitler  – Kultivierung des Führermythos, in: Heinz-Jürgen Priamus / Stefan Goch (Hrsg ), Macht der Propaganda oder Propaganda der Macht? Inszenierung nationalsozialistischer Politik im „Dritten Reich“ am Beispiel der Stadt Gelsenkirchen (Schriften des Instituts für Stadtgeschichte Gelsenkirchen, Beiträge 3) Essen 1992, S  42–47, hier 44–45 Der zweite Kriegsgeburtstag des Führers, in: NSZ-Westmark, 22 04 1941 Erich Kernmayr, Das Wunder beim Marsch in Europa Führers Geburtstag an den Fronten des Ostens, in: NSZ-Westmark, 20 04 1943 Zum 20 April, in: NSZ-Westmark, 20 04 1942 Das deutsche Volk grüßt seinen Führer, in: NSZ-Westmark, 20 04 1943 Führer – Staatsmann – Feldherr, in: NSZ-Westmark, 20 04 1944

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Abb. 1 NSZ-Rheinfront, 20 April 1933

Abb. 2 NSZ-Rheinfront, 20 April 1936

Abb. 3 NSZ-Rheinfront, 20 April 1938

Abb. 4 NSZ-Rheinfront, 20 April 1939

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Abb. 5 NSZ-Westmark, 20 April 1943

Abb. 6 NSZ-Westmark, 20 April 1944

4 2 Das Aufbauwerk des „Führers“ Ein „Mann aus dem Volk“ habe die Krise überwunden, war 1937 im „Erzieher der Westmark“115 zu lesen, und Josef Hünerfauth schwärmte: Unser deutsches Volk ist in einen Zaubergarten vielfältiger Fruchtbarkeit und eines üppigen Wachsens verwandelt Blühen und Werden in allen Feldern der Nation Neues bricht auf an jedem Tag, tritt in den Reichtum des schon geschaffenen und vermehr die Größe unseres Volkes 116

In diesem Abschnitt soll herausgearbeitet werden, welche Leistungen Hitler zugeschreiben wurden Hierzu ist an erster Stelle die Betonung einer wirtschaftlichen Prosperität zu nennen, infolge deren auch eine Verbesserung der sozialen Lage der Deutschen eingetreten sei Die Fürsorge Hitlers erschöpfe sich nicht in bürgerlichen „Almosen“, „in den Funktionen eines Wohltätigkeitsvereins, der nur die Auswirkungen von Notständen zu mildern sucht“, sondern verfolge „ihr Hauptziel in der Beseitigung dieser Not und setzt an ihre Stelle die bleibende Sorge für die Wohlfahrt dieses Volkes“ 117 Die „volks115 116 117

Kilian Knoll, Warum wir ihn feiern, in: Erzieher der Westmark 3, 1937, 4, 104–105 Josef Hünerfauth, Er und sein Volk Die große Kameradschaft, in: NSZ-Rheinfront, 20 04 1939 Die Sprache der Zahlen Der wirtschaftliche Aufschwung in der Saarpfalz  – Der Rückgang der Erwerbslosigkeit, in: Das Werk des Führers im Gau Saarpfalz Sonderbeilage der NSZ-Rheinfront,

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sozialistische Selbsthilfe“ ermögliche, dass der „Träger dieses großen Werkes“ das „Volk selbst“ sein könne 118 So galt Hitler als „Garant von Arbeit“119 sowie der „Harmonie von Arbeit und Freude“ 120 In Deutschland sei „nicht das Kapital, sondern der Mensch oberstes Gesetz der Wirtschaft“ 121 Einschränkend führte Edgar Schroeder an, dass „des Führers Fürsorge allen gilt, die sich zu Volk und Reich bekennen “122 Neben der Arbeitsbeschaffung galten die Überwindung der Wohnungsnot sowie das Entstehen neuer Bauernhöfe als Belege für den Wohlstand unter Hitler 123 Die Landwirtschaft werde nun nicht mehr „mit ausländischen Produkten überschwemmt“ 124 Nun sei der „Bauernstand nach einem Jahrtausend befreit und mit der Arbeitskraft in der Volksgemeinschaft vereint“ worden als „Blutsquell der Nation, Garant der Rasse“ und „Kämpfer für die Nahrungsfreiheit“ 125 So bilanzierte Hans Bonnet, ab 1935 Leiter des Amtes für Agrarpolitik des Gaues Saarpfalz 126 Als weiterer Aspekt wurde Hitler als „Schirmherr von Kunst und Kultur“ gefeiert 127 Kurt Kölsch, Gaukulturwart des Gaues Westmark,128 nannte den „Führer“ den „größten Künstler, Bauherrn und Gestalter aller Zeiten“ 129 Da der „Kanzler als große[r] Freund der Musik“ galt, wurden die jährlichen Geburtstagsfeiern in Neustadt mit Konzerten begleitet Mit der Ouvertüre der Meistersinger wurde nur einmal ein Werk von Richard Wagner130 gespielt, dafür aber Stücke von Carl Maria von Weber, Johannes

20 04 1937; ähnlich: Alfred Storck, Unser größter Reichtum Die Verbundenheit von Führer und Volk, in: NSZ-Rheinfront, 20 04 1939 118 Die Sprache der Zahlen Der wirtschaftliche Aufschwung in der Saarpfalz  – Der Rückgang der Erwerbslosigkeit, in: Das Werk des Führers im Gau Saarpfalz Sonderbeilage der NSZ-Rheinfront, 20 04 1937 119 Josef Hütt, Alle Hände schaffen Glück und Kraft der Nation aus der Arbeit der Volksgemeinschaft, in: NSZ-Rheinfront, 20 04 1939 120 Ebd 121 Wilhelm Bösing, Der neue Weg, in: NSZ-Rheinfront, 20 04 1939 122 Edgar Schroeder, Unser Führer Der neue Leitbegriff Deutschlands, in: NSZ-Rheinfront, 20 04 1938 123 Die Arbeit von vier Jahren Rund elftausend Kleinsiedlungen, Volkswohnungen und Eigenheime wurden im Gau Saarpfalz erbaut, in: Das Werk des Führers im Gau Saarpfalz Sonderbeilage der NSZ-Rheinfront, 20 04 1937 124 Alfred Storck, Vom Mitleid zur Ehrenpflicht Die NS-Volkswohlfahrt im Gau Saarpfalz und ihre sozialistische Erziehungsform, in: Das Werk des Führers im Gau Saarpfalz Sonderbeilage der NSZ-Rheinfront, 20 04 1937 125 Hans Bonnet, Bauerndank, in: NSZ-Rheinfront, 20 04 1939 126 Maier, Organisationshandbuch (wie Anm  71), 2007, 152–154 127 Geiger, Hinkel (wie Anm  24), 2002; Patzelt, Hinkel (wie Anm  24), 2010 128 Wolfgang Freund, Volk, Reich und Westgrenze Deutschtumswissenschaften und Politik in der Pfalz, im Saarland und im annektierten Lothringen 1925–1945 (Veröffentlichungen der Kommission für saarländische Landesgeschichte und Volksforschung 39) Saarbrücken 2006, 183–184 129 Kurt Kölsch, Künstler und Gestalter, in: NSZ-Rheinfront, 20 04 1939 130 Neustadt und die Vorderpfalz Der Geburtstag des Führers, in: NSZ-Rheinfront, 20 04 1934 Zur Verklärung von Wagner im Nationalsozialismus: Ludwig Hertel, Zum Wagnerkult im Nationalsozialismus Ein Beitrag zur Rezeptionsgeschichte Berlin 2015

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Brahms131 oder Robert Schumann132 aufgeführt, später durch das Landessymphonieorchester Westmark 133 Ein letzter zentraler Aspekt war die Wiederherstellung der deutschen Wehrkraft Dieser Punkt ging mit der Stilisierung zur Wirtschaftsförderung einher, denn durch den Bau von „Straßen, Brücken, Kanalisation“ und Eisenbahnen sei die „Wiederbelebung“ des Militärs auch erst ermöglicht worden Hiervon habe die Region insbesondere profitiert: Was manche saarpfälzische Stadt so viele Jahre hindurch gehofft hatte, ist nun in Erfüllung gegangen Weiß doch jeder, was eine Garnison für das wirtschaftliche Leben einer Stadt bedeutet; ganz abgesehen, daß die Notwendigkeiten militärischer Bauten für die Unterkunft zu schaffen, einen ganz neuen Impuls gegeben hat, der sich auch auf eine Reihe anderer Wirtschaftszweige übertragen hat 134

Ab 1936, als der Aufbau der Wehrmacht durch die Wiedereinführung der Wehrpflicht voranging, wurde der militärische Aspekt zu Hitlers Geburtstagen sukzessive bedeutsamer In Anwesenheit von „Parteigenossen und Volksgenossen“ wurde der „Große Zapfenstreich“ am Adolf-Hitler-Platz in Neustadt abgehalten 135 Jährlich druckte die „NSZ“ mehr Bilder zunächst von Soldaten und motorisierten Verbänden sowie später Kriegsschiffen und Flugzeugen ab Der Standortälteste in Neustadt betonte jedoch die Funktion der Wehrmacht als der „beste Garant des Friedens“ 136 Als dann der Krieg begonnen hatte, rückten alle anderen Aspekte in den Hintergrund 137 Früh wurde Opferbereitschaft und „Pflichterfüllung bis zum Letzten“ gefordert, wie von Max Steigner Romantisierend schrieb er über den Feldherrn Hitler:

131 132

133 134 135 136 137

Das Pfalzorchester in Neustadt Die Gedächtnisstunde zum Geburtstag des Führers, in: NSZRheinfront, 21 04 1934 Neustadt an der Weinstraße Der 20 April in Neustadt, in: NSZ-Westmark, 19 04 1941; zur Rezeption von Schumann im Nationalsozialismus: Helmut Loos, Schumann-Rezeption im „Dritten Reich“, in: Michaela G Grochulski / Oliver Kautny / Helmke Jan Keden (Hrsg ), Musik in Diktaturen des 20 Jahrhunderts Internationales Symposium an der Bergischen Universität Wuppertal vom 28 /29 2 2004 Tagungsband (Musik im Metrum der Macht 3) Mainz 2006, 57–70 Am Geburtstag des Führers Hervorragende deutsche Konzertsänger als Gäste in Neustadt, in: NSZ-Westmark, 18 04 1941; Das Gelöbnis am Geburtstag des Führers Eindrucksvolle Feierstunde der NSDAP im Saalbau in Neustadt, in: NSZ-Westmark, 21 04 1942 Alfred Storck, Vom Mitleid zur Ehrenpflicht Die NS-Volkswohlfahrt im Gau Saarpfalz und ihre sozialistische Erziehungsform, in: Das Werk des Führers im Gau Saarpfalz Sonderbeilage der NSZ-Rheinfront, 20 04 1937 Neustadt an der Weinstraße Der Treueschwur, in: NSZ-Rheinfront, 20 04 1936 Der Große Vorbeimarch in Neustadt, in: NSZ-Rheinfront, 21 04 1939 20 April Geburtstag des Führers, in: Unser Jahr Feiern im nationalsozialistischen Jahreslauf und Gedenktage 1942, S  11–12; 20 April Geburtstag des Führers, in: Unser Jahr Feiern im nationalsozialistischen Jahreslauf und Gedenktage 1943, S  15–16; 20 April Geburtstag des Führers, in: Unser Jahr Feiern im nationalsozialistischen Jahreslauf und Gedenktage 1944, S  21

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Wie die alten Heerkönige der Germanen zieht er mit seinen Soldaten in die Ostmark, nach Prag, nach Memel und Warschau, weilt er bei ihnen im Vorfeld am Westwall und in den Lazaretten Sie wissen sich einig mit ihm im Bereich ihres Opfers 138

Es war dies der einzige Germanenbezug zu den „Führergeburtstagen“ in der „NSZ“ Der Bürgermeister Karl Ludwig Schlee sprach 1941 zu Hitlers Geburtstag die Glückwünsche von Neustadt bei der Verleihung von sieben Luftschutzehrenzeichen an verdiente „Neustadter Volksgenossen“ aus Zudem wurden die militärischen Beförderungen ausgesprochen 139 Im selben Jahr wurde durch das NS-Fliegerkorps in Verbindung mit der Organisation „Kraft durch Freude“ ein Volksflugtag auf dem Flugplatz bei Neustadt veranstaltet 140 Gemäß der propagandistischen Zielsetzung nahm besonders die Jugend „die Gelegenheit wahr, Maschinen aus nächster Nähe zu besichtigen und zu bewundern“ 141 Auffällig war auch das Thema des Vortrages bei der zentralen Feier der Stadt Neustadt, ein „Bericht über das Heldentum deutscher Soldaten“ beim Untergang des schweren Kreuzers „Blücher“ 142 Das Schiff war 1940 durch norwegische Küstenbatterien während der Besetzung Skandinaviens versenkt worden und einer der ersten bedeutenden deutschen Verluste von Überwassereinheiten mit über 800 Toten Die Glorifizierung dieses Untergangs nimmt die Durchhaltebefehle in ausweglosen Situationen in den späteren Kriegsjahren gewissermaßen vorweg Ab 1943 fungierten die „Führergeburtstage“ dann nur mehr als Anlässe für Durchhalteparolen 143 Eine verhältnismäßig geringe Rolle nahmen bei diesen Gelegenheiten der Antisemitismus sowie der Rassismus ein Josef Hünerfauth schrieb 1937 vom erfolgreichen Kampf gegen die „jüdisch-marxistische Verheizung“ 144 Für Edgar Schröder waren Finanzkapital, Marxismus und Herrschaft des Judentums gebrochen 145 Den westlichen Politikern warf er 1940 vor, wegen eines Minderwertigkeitskomplexes Hitler nur durch „die jüdische Brille“ zu sehen Somit wurde den Juden eine Mitschuld am Krieg zugeschrieben Nachhaltig als Schmach in der Region blieb den Nationalsozialisten die Besetzung durch französische Kolonialsoldaten während der Weimarer Republik in Erinnerung Schröder beklagte hierzu: „Und Schwarze standen ja am Rhein Deutschland war eine Kolonie geworden Nicht nur die Engländer und Franzosen, sondern 138 139 140 141 142

Max Steigner, Soldat und Kämpfer, in: NSZ-Rheinfront, 20 04 1940 Neustadt an der Weinstraße Feierstunde, in: NSZ-Westmark, 21 04 1941 Neustadt an der Weinstraße Der 20 April in Neustadt, in: NSZ-Westmark, 19 04 1941 Neustadt an der Weinstraße Großbetrieb beim Volksflugtag, in: NSZ-Westmark, 21 04 1941 Gelöbnis der Treue Die Stadt Neustadt feierte den Geburtstag des Führers, in: NSZ-Westmark, 21 04 1941 143 Feierstunde am Geburtstag des Führers Aus seinem Beispiel wächst die Kraft zum Sieg Gewaltiges Treuebekenntnis des Gaues Westmark, in: NSZ-Westmark, 21 04 1944 144 Josef Hünerfauth, Sozialismus in Wille und Tat, in: Das Werk des Führers im Gau Saarpfalz Sonderbeilage der NSZ-Rheinfront, 20 04 1937 145 Edgar Schroeder, Unser Führer Der neue Leitbegriff Deutschlands, in: NSZ-Rheinfront, 20 04 1938

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nicht weniger die Polen und Tschechen gebärdeten sich als Herren “146 Nach dem Sieg über Frankreich stellte Max Steigner 1941 zufrieden fest: Denn jene Zeiten sind endgültig vorüber, wo die Minderwertigkeitsauslese fremder Völker uns die Männer aussuchte, die ihnen zur Niederhaltung des deutschen Freiheits- und Arbeitswillens genehm erschienen 147

Somit waren zwar zunächst die Voraussetzungen geschaffen, dass auf der Grundlage der Hitler zugeschrieben Leistungen ein Mythos entstehen hätte können Doch verloren diese Faktoren im Zuge der Kriegswende an Relevanz, was die Generierung eines intakten Kerns verhinderte Lediglich der militärische Aspekt blieb bestehen, dieser wurde aber von der Stilisierung Hitlers zum siegreichen Feldherrn zum Durchhaltedogma abgewertet 4 3 Der „Vormann eines neuen Europas“ Die Bedeutung der Person Adolf Hitlers nicht nur für die deutsche, sondern auch für die europäische Geschichte wurde in der „NSZ“ bereits seit 1933 immer wieder betont 148 Dabei lag die Herangehensweise zum einen darin, das Ansehen Deutschlands auf dem Kontinent beziehungsweise die Furcht der Gegner aus dem Ersten Weltkrieg vor Hitler und dem Reich dazustellen Ein Beispiel ist der Pariser Korrespondent Franz Albert Kramer,149 der über die Beunruhigung in Frankreich zu Hitlers Geburtstag 1939 schrieb, da dort die Inhalte von „Mein Kampf “ als „Jugendsünden“ betrachtet wurden, die „einer aufgeregten Kampfstimmung entsprungen“ und „in der Hauptsache zum Wählerfang bestimmt“ waren 150 Mit Verwunderung müsse aber in dem Nachbarland festgestellt werden, wieviel Hitler davon schon umgesetzt habe Hiervon unterscheid sich die Darstellung von Emil Franz Rasche, der zwar zunächst auch beklagte,

146 Edgar Schröder, Sieger über Versailles, in: NSZ-Rheinfront, 20 04 1940 147 Max Steigner, Unsre Gelöbnis, in: NSZ-Westmark, 20 04 1941 148 Michael Salewski, Europa Idee und Wirklichkeit in der nationalsozialistischen Weltanschauung und politischen Praxis, in: Otmar Franz (Hrsg ), Europas Mitte Göttingen 1987, 85–106; Birgit Kletzin, Europa aus Rasse und Raum Die nationalsozialistische Idee der Neuen Ordnung (Region – Nation – Europa 2) 2 Aufl Münster 2002; Tobias Hirschmüller, 18 gegen 30 Januar? Der Wandel der nationalsozialistischen Erinnerungskultur an Reichsgründung und „Machtergreifung“, in: Michael Bienert / Lars Lüdeke (Hrsg ), Preußen zwischen Demokratie und Diktatur Der Freistaat, das Ende der Weimarer Republik und die Errichtung der NS-Herrschaft (Zeitgeschichte im Fokus 5) Berlin 2016, 271–307, hier 295–296 149 Guido Müller, Der Kreis um Franz A Kramer und die Gründung des Rheinischen Merkur, in: Claus-Dieter Krohn / Axel Schildt (Hrsg ), Zwischen den Stühlen? Remigranten und Remigration in der deutschen Medienöffentlichkeit der Nachkriegszeit (Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte / Darstellungen 39) Hamburg 2002, 316–342 150 Franz Albert Kramer, Im Bilde Frankreichs, in: NSZ-Rheinfront, 20 04 1939

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die Deutschen seien vor Hitler „geistig überfremdet“ gewesen Dies bezog sich auf die liberalen Ideen, die seit der Französischen Revolution verbreitet wurden: Der Geist des Westens hatte Europa erobert, und die Völker bezogen ihre Lebensgesetze nicht mehr aus ihrer eignen Kraft, sondern hatten sich willig jenen humanitär getarnten Vorherrschaftstheorien unterworfen

Im Unterschied zu Kramer kommunizierte er aber Hitler nicht als furchteinflößende Person, sondern als einen Erneuerer des Kontinents auf rassistischer Grundlage: „Nur aus der Mitte Europas konnte die Erneuerung kommen, aus dem Volk, das noch tief das Mütterliche dieser Erde in sich trug, dessen Blut noch nicht verdorben war “ Die Weltanschauung des „Führers“ galt ihm nicht nur für Deutschland, sondern erschien auch an die anderen Europäer adressiert: „Er rief sein Volk auf Er rief die Völker dieses Erdteils damit zugleich auf “ Rasche nannte zwar keine konkreten Staaten, beziehungsweise er schloss hiervon keine Nation in Europa aus, doch präzisierte er: Seine Gesetze, die er prägte, waren einfach und fundamental: Mannestum, Zucht, Ordnung, Ehre und Freiheit Es waren die ewigen Gesetze der weißen Rasse, die nur in einer zuchtlosen Zeit verlorengegangen waren

Auf dieser Grundlage solle der Nationalsozialismus „das Vorbild für andere Völker werden“ und Hitler „der erste Vormann eines neuen Europas“ Der Führer sei „Schöpfer und Gestalter einer Idee, die aus den tiefsten Notwendigkeiten völkischen Lebens geboren worden war“ Dies Befähige Hitler zur Übernahme von Verantwortung: „Eine Verantwortung, die er als Deutscher und Europäer hat “151 Die Europäisierung des Nationalsozialismus war also nicht erst eine propagandistische Wende, um die Verbündeten nach der Kriegswende an Deutschlands Seite zu halten, sie richtete sich an die Deutschen und weißen Europäer als Ausgangsbotschaft für den bevorstehenden Expansionskrieg Welche Konsequenzen aus der beanspruchten „Verantwortung“ für Europa gezogen werden, hierauf wurde nicht näher eingegangen Der Londoner Korrespondent der „NSZ“ Wilhelm von Kreis152 war sich jedoch sicher, wenn Großbritannien einmal die Stärken des „Führers“ erkannt habe, würden ihm eines Tages dort Denkmäler errichtet werden 153 Walter Petwaidic, der für die NS-Presse in der Ostmark stark aktiv war und seine journalistische Tätigkeit nach 1945 fortsetzten konnte,154 nannte immer151 152 153 154

Emil Franz Rasche, Erneuer und Gestalter, in: NSZ-Rheinfront, 20 04 1939 Schneider, Tagespresse (wie Anm  22), 1937, 38–39 Wilhelm von Kreis, Der Führer und die Engländer, in: NSZ-Rheinfront, 20 04 1939 Nicolas Berg, Der Holocaust und die westdeutschen Historiker Erforschung und Erinnerung (Moderne Zeit 3) Göttingen 2003, 574; Axel Schildt, Immer mit der Zeit, Immer mit der Zeit: Der Weg der Wochenzeitung DIE ZEIT durch die Bonner Republik – eine Skizze, in: Christian Haase (Hrsg ), „DIE ZEIT“ und die Bonner Republik Eine meinungsbildende Wochenzeitung zwischen Wiederbewaffnung und Wiedervereinigung (Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte

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hin die wirtschaftliche Verbundenheit mit den Staaten Südosteuropas als eine der entscheidenden Leistungen Hitlers, denn so sei das „Genfer System“ zerschlagen und die Völker frei geworden 155 Damit wurde Deutschland am Vorabend des Zweiten Weltkrieges aufgrund angeblicher rassischer Homogenität als wirtschaftliche Führungsmacht gegen westliche Einflüsse konzipiert Diese Propaganda wurde in der Anfangszeit des Krieges zunächst beibehalten Etwa von Josef Hünerfauth, der den Neid „mißgünstiger Zaungäste“ gegen den „Reichtum an Leistungsvermögen und politischer Stärke“ des Reiches als Kriegsgrund ausmachte: Am Ende dieses Krieges wird das Reich als unantastbare Wirklichkeit die Grundlage einer besseren europäischen Gemeinschaft bestimmen, in deren Kreis der Mammonismus nicht mehr den Herrensitz innehat 156

Somit galt Hitler als Garant für einen wirtschaftlichen und politischen Zusammenschluss des Kontinents unter deutscher Führung Zudem wurden jährlich wohlwollende Pressestimmen des Auslandes zu den „Führergeburtstagen“ in der „NSZ“ abgedruckt157 und dabei „Europas Bewunderung für den Führer des Reiches“, für den „Einiger des Kontinents“ erwähnt 158 Auch Berichte von Feiern der Wehrmacht in den erst gerade besetzten skandinavischen Ländern wurden ab 1940 abgedruckt Die Veranstaltung bei der Universität in Oslo sei dabei auf zustimmende Resonanz in der Bevölkerung gestoßen: Der Platz vor der Universität war von dichten Massen der Bevölkerung umlagert, die von der erhebenden Feier sowie dem schneidigen Parademarsch der deutschen Wehrmacht sehr beeindruckt waren 159

Damit sollte das Auftreten Deutschlands als Schutzmacht unterstrichen werden Erich Knud Kernmayr, seit 1940 Leiter der Pressestelle des Gauleiters Josef Bürckel und ab 1941 Kriegsberichterstatter in einer Propagandakompanie der Waffen-SS,160 behaup43) Göttingen 2008, 9–27, hier 20; Fritz Hausjell, Journalisten für das Reich Der „Reichsverband der deutschen Presse“ in Österreich 1938–45 2 Aufl (Kommunikation – Zeit – Raum 4) 2 Aufl Münster 2010 Petwaidic verfasste zudem 1946 ein Buch, indem er die „autoritäre Anarchie“ und damit die institutionelle Unzulänglichkeit der NS-Herrschaft herauszustellen vorgab Walter Petwaidic, Die autoritäre Anarchie Streiflichter des deutschen Zusammenbruchs Hamburg 1946 155 Walter Petwaidic, Die Wirkung auf den Südosten, in: NSZ-Rheinfront, 20 04 1939 156 Josef Hünerfauth, Retter seines Volkes, in: NSZ-Westmark, 20 04 1940 157 Das Ausland zum 20 April Die Glückwünsche des italienischen Königs und des Duce, in: NSZWestmark, 22 04 1941 158 Europas Bewunderung für den Führer des Reiches, in: NSZ-Westmark, 21 04 1942 In Gelsenkirchen wird von Goch eine „großeuropäische Sendung“ erst für die Jahre 1941/1942 festgestellt Goch, Kultivierung (wie Anm  109), 1992, 44–47 159 Geburtstagsfeier in Oslo Vorbeimarsch vor dem Feind zum Geburtstag des Führers, in: NSZRheinfront, 21 04 1940 160 Karin Gradwohl-Schlacher, Der Grazer Journalist und Schriftsteller Erich Knud Kernmayr, in: Historisches Jahrbuch der Stadt Graz 20, 1989, 111–125

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tete drei Jahre später, als der Machtbereich der „Achsenmächte“ schon wieder am Schwinden war, dass die deutschen Soldaten in allen besetzten Gebieten mit „Heil Hitler!“ begrüßt und damit nicht als Fremdherrscher empfunden würden Selten wurde dargestellt, dass es in diesem Krieg darum gehen sollte, „dem deutschen Volk zu seinem natürlichen und göttlichen Recht auf Lebensraum“ zu verhelfen 161 Ziel war es somit, der Bevölkerung in der Region eine Zustimmung zur nationalsozialistischen Sicht in Europa zu suggerieren und zu verdeutlichen, dass Deutschland in einem internationalen und nicht nationalistischen Interesse kämpfe Die zunächst nur gegen den Westen gerichtete Europa-Propaganda wurde nach dem Beginn des Kriegs mit der Sowjetunion auch zur ideologischen Abgrenzung vom Osten des Kontinents verwendet Wiederum Rasche schrieb, dass der 1939 begonnene Krieg „ein europäischer Bürgerkrieg“ sei, „in dem die Staaten der alten Systeme sich gegen das neue Reich erhoben“ Dabei war für ihn ein entscheidender Punkt, dass es hier um den Kampf von Weltanschauungen ging: Der Bolschewismus und der Amerikanismus sind in ihrer Weise gleich In der Weltkrisis, die eine ungeheure Aufsplitterung der alten Gesellschaftsordnung gebracht hat, haben sich diese Mächte aus den untersten Instinkten gebildet Sie erheben nur den Anspruch der totalen Ausbeutung der Welt, wenn sie ihn auch mit dem verbliebenen Schein der puritanischen oder kommunistischen Welterlöseridee tarnen

Im Unterschied zur Anfangsphase des Krieges war der „Führer“ ab 1943 jedoch nicht mehr Vorbild für eine europäische Einigung, sondern für die „Entschlossenheit“, das Fortbestehen des Kontinents überhaupt zu sichern: Es ist die Größe Adolf Hitlers, daß er aus seinem Volk und heute auch aus Europa die Kräfte zu mobilisieren versteht, die die Existenz und Kultur dieses Kontinents gegen den Ansturm von Osten und Westen sichern werden 162

Damit wurde die sich abzeichnende Niederlage als existenzielle Bedrohung vorgestellt Diese Botschaft wurde bei den Feiern in der Region kommuniziert Auch in Neustadt an der Weinstraße rief ein Oberstudiendirektor der Schuljugend zu: Adolf Hitler ist heute nicht nur unser Führer, er ist der Führer Europas gegen eine Welt, die Deutschland und Europa vernichten will Aber der Führer wankt nicht In unerschütterlicher Siegeszuversicht steht er da, im Vertrauen auf sein Volk, auf uns, auf seine Jugend 163

161 162 163

Das Gelöbnis am Geburtstag des Führers Eindrucksvolle Feierstunde der NSDAP im Saalbau in Neustadt, in: NSZ-Westmark, 21 04 1942 Franz Emil Rasche, Größe und Verantwortung Zum Geburtstag des Führers, in: NSZ-Westmark, 20 04 1943 Gelöbnis unwandelbarer Treue Schulfeiern aus Anlaß von Führers Geburtstag, in: NSZ-Westmark, 21 04 1943

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Die Suggestion, dass der „Führer“ einen Kampf um das Schicksal Europas führe, behielt die Redaktion in den verbleibenden Jahren der NS-Herrschaft bei 164 Dies bedeutete, dass die Europäisierung Hitlers zwar über die gesamte Kriegszeit in der Propaganda präsent war Auch fällt auf, dass der nationalsozialistische Rassismus auf eine europäische Ebene gehoben wurde Doch konnte auch hier um die Person des „Führers“ kein festes Narrativ etabliert werden, da zunächst das Ziel einer Einigung des Kontinents kommuniziert wurde, später hingegen ein Überlebenskampf gegen den Feind im Osten 4 4 Die „Dankesschuld“ der Westmark In den vergangen drei Abschnitten wurde dargelegt, dass der Inhalt der nationalsozialistischen Propaganda auf der Reichsebene bei den Festveranstaltungen in der Region inhaltlich kohärent kommuniziert wurde In diesem letzten Abschnitt soll nun der Frage nachgegangen werden, welche Verbundenheit zwischen Hitler und der lokalen Ebene suggeriert wurde So wurde beispielsweise in Passau zu den „Führergeburtstagen“ die räumliche Nähe zu Hitlers österreichischer Herkunft betont und eine Straße nach dessen Mutter Klara benannt, wobei die Veranstalter gemäß dem Wunsch des „Führers“ von einer großen Kundgebung Abstand nahmen 165 Als ein entscheidendes Element, was den Gau mit dem Führer verband, galt die Person von Gauleiter Bürckel, dessen Lebensweg Parallelen mit jenem Hitlers sowie mit dem Schicksal der Region als Grenzgebiet im Westen aufweisen würde 166 Josef Hünerfauth schrieb über die exklusive Bedeutung von Bürckel und der Region für den Nationalsozialismus zu Hitlers Geburtstag 1937: Das Glück, einen tatkräftigen und dem Wesen unseres Volkseinschlags aufs stärkste verwandten Gauleiter zu besitzen, war dabei unser größter Vorteil unter seiner Leitung hatte der Gau schon vor der Machtübernahme ein geistiges Gepräge, das dem Wesen der Idee Adolf Hitlers in einer Reinheit entsprach, die vielleicht in Deutschland nichts Gleichwertiges hatte 167

Edgar Schröder stellte zum „Führergeburtstag“ 1938 dem Wert der Beziehung von Bürckel und Hitler als Kontrast das Verhältnis von Otto von Bismarck und Kaiser 164 Martin Vogel, Führer/Staatsmann/Feldherr Adolf Hitler trägt das Schicksal Europas in seiner Hand Gedanken zum Geburtstag des Führers, in: NSZ-Westmark, 20 04 1944 165 Rosmus, Niederbayern (wie Anm  42), 2015, 93–94 u 151–154 166 Tobias Hirschmüller: Der Volkssozialist im Trenchcoat? Gauleiter Josef Bürckel und sein angeblicher Mythos, in: Markus Raasch (Hrsg ): Volksgemeinschaft in der Gauhauptstadt Neustadt an der Weinstraße und der Nationalsozialismus Münster 2020, S  801–819 167 Josef Hünerfauth, Sozialismus in Wille und Tat, in: Das Werk des Führers im Gau Saarpfalz Sonderbeilage der NSZ-Rheinfront, 20 04 1937

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Wilhelm  II gegenüber Hierfür zitierte er aus einem Brief des „Reichsgründers“ an den Hohenzollern vom 15 Dezember 1890: „Mit meinem alleruntertänigsten Danke verbinde ich meine ehrfurchtsvollsten Glückwünsche zum bevorstehenden Jahreswechsel In tiefster Ehrfurcht ersterbe euch Eurer Majestät alleruntertänigster Diener v Bismarck “ Im Anschluss führte er eine Passage aus einem Brief von Bürckel an Hitler aus Wien vom 10 April 1938 an: „Du bist der deutscheste aller Oesterreicher! Sei Du nun ihr Schirmherr! Denn sie lieben Dich über alles, weil Du ihnen Dein großes Vaterland geschenkt hast!“ Aus diesem Vergleich bilanzierte Schröder: „Welch ein Unterschied zwischen Führer und Herrscher!“ Unter Hitler gäbe es weder „Untertanen“ noch „Fremdherrschaft“, sondern das Verhältnis von Führer und Gauleiter bestehe aus „gläubigem Vertrauen“ 168 Neben dem Gauleiter wurde auch das besondere Verhältnis des Gaus zum „Führer“ durch seine Grenzlage betont Zu Hitlers 50 Geburtstag schrieb Heinrich Foerster, ebenfalls ein Vertrauter Bürckels und daher Leiter des Gaupresseamtes Rheinpfalz,169 in der „NSZ“, in der Pfalz sei eine „Bresche“ geschlagen worden, die mit die Grundlage für den 30 Januar 1933 geschaffen habe 170 Redaktionsmitglied Georg Trump betonte in einem Artikel mit dem Titel „Gesichertes Grenzland“, dass neben der Beseitigung der Arbeitslosigkeit die „Befestigungsarbeiten an der Grenze“ die entscheidende Leistung Hitler seien 171 An anderer Stelle hieß es, die „Fehler einer langen Geschichte“ seien durch den Bau des „Westwalls“ beseitigt worden 172 Der „Kriegslärm und die Panikmache des Westens“ hätten „plötzlich nachgelassen“ und im ganzen Kreisgebiet würden „Feierstunden und Aufmärsche in allen Dörfern“ abgehalten 173 Nach Kriegsbeginn verlautete die „NSZ“ zum Geburtstag 1940, als Frankreich noch nicht besiegt und deutsche sowie französische Soldaten sich im sogenannten „Sitzkrieg“ gegenüberstanden, „Glückwünsche im Vorfeld des Westwalls“ an den „Führer“ 174 Demonstrativ sei der Feiertag an der Front begangen und die Flagge vor dem Feind gehisst worden:

168

Edgar Schroeder, Unser Führer Der neue Leitbegriff Deutschlands, in: NSZ-Rheinfront, 20 04 1938 169 Michael Schepua, „Sozialismus der Tat“ für das „Bollwerk im Westen“: Entwicklung und Besonderheiten des Nationalsozialismus in der Pfalz, in: Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte 25, 1999, 551–601, hier 565; Maier, Organisationshandbuch (wie Anm  71), 2007, 218–220 170 Heinrich Foerster, Erster Besuch, in: NSZ-Rheinfront, 20 04 1939 171 Georg Trump, Gesichertes Grenzland Das Gespenst des Elends gewichen, in: NSZ-Rheinfront, 20 04 1939 172 Walter Zahn, Auftrieb für alle Die Fehler einer langen Geschichte beseitigt, in: NSZ-Rheinfront, 20 04 1939 173 Stärkste Friedensmacht Politische Anmerkungen zu der Militärparade in Berlin, in: NSZ-Westmark, 22 04 1939 174 Gelöbnis der kämpfenden Jugend Von Schirach an den Führer, Glückwünsche im Vorfeld des Westwalls, in: NSZ-Rheinfront, 20 04 1940

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Die Franzosen schienen im ersten Augenblick an irgendeine Ueberraschung zu denken Sie dürften aber auch nicht schlecht gestaunt haben, als sie in der Eile eines plötzlichen Alarms, die deutschen Nationalhymen, das Deutschlandlied und das Horst-Wessel-Lied, über den Strom herüberklingen hörten, die die Soldaten nach dem Gruß an den Obersten Befehlshaber angestimmt hatten 175

Offen wurde angesprochen, dass nach dem Krieg die Friedensordnung von Versailles endgültig überwunden werden müsse, indem „Blutende Grenzen ringsum“ nicht mehr vorhanden sein dürften 176 Nach der Niederlage Frankreichs und noch vor dem Krieg mit der Sowjetunion schrieb Max Steigner zum Geburtstag 1941: Die Westmark reiht sich am heutigen Tag mit besonderer Dankbarkeit in die Reihen des 85-Millionen-Volkes ein, das für die gewaltigen Aufgaben des Führers in einem geschlossenen Treuebekenntnis den Segen der Vorsehung erbittet

Die „Dankesschuld, die der Gau Westmark dem Führer abzutragen“ habe, werde dadurch erbracht, dass dieser sich „in der Zukunft erst recht auf den Westgau verlassen“ könne 177 Im Jahr 1942 dankte Steigner Hitler, dem „Grenzer“, zudem dafür, „die unnatürliche Grenzziehung“ im Westen überwunden zu haben 178 Somit war das Narrativ der Region als Vorreiter des Nationalsozialismus sowie die Sicherung des Reiches nach Westen konstant gebelieben Der Ritus der Feierlichkeiten blieb bis 1944 intakt, als wiederum die „Straßen unserer Städte und Dörfer in reichem Schmuck“ präsentiert wurden 179 Vertreter der Partei besuchten zu diesem Anlass Verwundete im Neustadter Reservelazarett und im Schloss Haardt Kreisamtsleiter Otto Theilmann180 „erinnerte an die Zeit, da Adolf Hitler auch als Lazarettinsasse des ersten Weltkrieges in Pasewalk weilte, wo er beschloß, Politiker zu werden“ Der Dank der Partei an die Verwundeten sei die „erste Bürge des Staates“ zum Geburtstag des Führers 181

175

Hermann Opper, Feiertag der Front, Flaggenhissung vor dem Feind zum Geburtstag des Führers, in: NSZ-Rheinfront, 21 04 1940 176 Edgar Schröder, Sieger über Versailles, in: NSZ-Rheinfront, 20 04 1940 177 Max Steigner, Unsre Gelöbnis, in: NSZ-Westmark, 20 04 1941 178 Max Steigner, Warum wir ihn lieben, in: NSZ-Westmark, 20 04 1942 179 Feierstunde am Geburtstag des Führers Aus seinem Beispiel wächst die Kraft zum Sieg Gewaltiges Treuebekenntnis des Gaues Westmark, in: NSZ-Westmark, 21 04 1944 180 Maier, Organisationshandbuch (wie Anm  71), 2007, 468–469 181 Neustadt an der Weinstraße Betreuung zum Geburtstag des Führers, in: NSZ-Rheinfront, 21 04 1943

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5. Fazit Die Jahre von 1933 bis 1936 bedeuteten zunächst eine Konsolidierung des Hitlerkultes, der Faktoren eines Herrscherkultes aufwies Neben der paternalistischen Sorge für die Untertanen, der Wiederherstellung einer Art von Gerechtigkeit, wirtschaftlicher Prosperität, Bautätigkeit und militärischer Stärke war dies ab 1939 auch eine Europäisierung des Personenkultes um den Diktator Nachdem diese Faktoren durch ihre kontinuierliche Kommunikation in der „NSZ“ zunächst die Existenz eines intakten Mythoskerns annehmen ließen, änderte sich die Propaganda mit der Wende des Krieges Während die Verbundenheit zwischen „Führer“ und Volk zunächst eine charakterliche Eigenschaft des Ersteren war, mussten umgekehrt dann die Deutschen ihre Opferbereitschaft gegenüber Hitler unter Beweis stellen Die Stilisierung Hitlers zum Einiger des Kontinentes wurde umgewandelt in die Rolle des Verteidigers von Europa, dessen Existenz auf dem Spiel stehe In diesen beiden Fällen wurde der Kern durch die Veränderung der Narration zerstört Die übrigen sogenannten Leistungen des „Führers“ wurden in der letzten Kriegszeit kaum mehr erwähnt und büßten somit ihre Kernfunktion ein Lediglich der militärische Aspekt bleib präsent, doch galt Hitler nicht mehr als Bezwinger von Feinden, sondern nur als Hoffnungsträger, der die eigene Vernichtung abwenden könne Der einzig intakte Teil des Kerns war die politisch-geographische Selbstverortung der Region als Grenzgebiet und damit Vorposten im Kampf für die Ziele des Nationalsozialismus Dabei handelt es sich aber nicht um einen Beleg, dass zumindest ein Teil des Hitlerkultes intakt geblieben ist Stattdessen liegt hier wohl nur die Ausstrahlungskraft eines funktionierenden geographischen Raummythos vor Der Kult um Hitler konnte hingegen nicht über von tagespolitischen Einflüssen abhängende Dogmen hinausreichen, auch wenn der Festritus bis in die Spätphase des Krieges in der Region erhalten blieb

Zwischen Holocausttrauma und Siedlungskolonialismus Achille Mbembes Kritik an Israels Politik gegenüber den Palästinensern* Gert Krell 1. Israel und die zwei großen moralischen Narrative des 20. Jahrhunderts Der in Deutschland geborene israelische Soziologe Natan Sznaider hat kürzlich daran erinnert, dass sich in Israel zwei große moralische Narrative des 20 Jahrhunderts kreuzen In dem einen Narrativ stehe der Holocaust im Mittelpunkt mit allen historischen Konsequenzen für Juden, die in diesem Staat den Garanten ihrer Sicherheit sähen Hier diene die Gründung Israels in der Tat als Erlösung In dem anderen Narrativ spiele der Holocaust keine zentrale Rolle; hier stünden die Grausamkeiten des Westens gegen die übrige Welt im Vordergrund, seien Kolonialismus und Imperialismus die entscheidenden Markierungen In diesem Narrativ seien die Israelis weiße Siedler und Israel eine Siedlungsgesellschaft, die die in Palästina bereits wohnhafte Bevölkerung unterwerfe und als Handlangerin des Westens gesehen werde Im deutschen Erinnerungsraum werde die Auffassung, Israel sei ein Produkt des Kolonialismus, und würden sich daran anschließende Boykottaufrufe gegen das Land – und damit gegen Juden – besonders negativ konnotiert und riefen sofort Antisemitismusbeauftragte auf das erkenntnistheoretische Spielfeld Das habe auch der postkolonialistische Denker Achille Mbembe erfahren müssen, den die eine politische Ecke als Antisemiten, Israelhasser und Holocaustleugner bezeichne, während die andere ihn als einen legitimen

*

Eine frühere und deutlich kürzere Fassung ist unter dem Titel Achille Mbembes „Politik der Feindschaft“ und der Vorwurf des Antisemitismus erschienen in Wolfgang Benz (Hrsg ), Streitfall Antisemitismus: Anspruch auf Deutungsmacht und politische Interessen, Berlin 2020, S  299–320 Für Anregungen und Kritik danke ich Martin Altmeyer, Muriel Asseburg, Meron Mendel und Reiner Steinweg

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Kritiker des Kolonialismus und Israels sehe und sein Recht auf freie Meinungsäußerung verteidige 1 Fast immer bietet ein genauerer Blick auf den Gegenstand der Auseinandersetzung eine Möglichkeit, eine Polarisierung wie die von Sznaider beschriebene zu überprüfen oder ihr vielleicht sogar zu entkommen So halte ich auch nach dem Interview mit Felix Klein, dem Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung, in der ZEIT vom 20  Mai 20202 den Vorwurf, der afrikanische Historiker und Philosoph Achille Mbembe äußere sich antisemitisch, und die Mitte April 2020 ausgesprochene Empfehlung, er solle deshalb in Deutschland nicht als Redner in einer mit öffentlichen Geldern geförderten Veranstaltung auftreten dürfen, für diskussionsbedürftig Überhaupt erscheint mir die Fixierung auf Mbembes vermeintlichen Antisemitismus als wenig geeignet für eine Auseinandersetzung mit seinen Positionen Ich nehme zunächst Bezug auf Mbembes Buch Politik der Feindschaft, das ein Kapitel über Die Gesellschaft der Feindschaft enthält 3 Felix Klein beruft sich auf einen englischsprachigen Aufsatz mit dem gleichen Titel 2. Kolonialismus und Postkolonialismus in Politik der Feindschaft Politik der Feindschaft ist ein reichhaltiges und vielseitiges Buch: anregend oder im positiven Sinne verstörend, gelegentlich sogar poetisch, gleichwohl in manchen zentralen Aussagen auch fragwürdig oder problematisch Im Zentrum von Mbembes Fragestellungen und Analysen stehen die Sklaverei und der Kolonialismus 4 Für ihn liegt das strukturierende Merkmal der letzten Jahrhunderte in der Spaltung zwischen dem zivilisatorischen Anspruch des die Welt erobernden und teilweise besiedelnden Westens auf der einen und der ungehemmten Gewalt gegen die als unzivilisiert charakterisierten bzw stigmatisierten Völker auf der anderen Seite; einer Gewalt, die zugleich verleugnet und unsichtbar gemacht wurde und vielfach noch werde In der Tat: noch in den Jahrzehnten, in denen Johannes Brahms in seinem Requiem die schönen Wohnungen des Himmelsreichs musikalisch in Szene setzte oder Gustav Mahler in seiner vierten Sinfonie dessen Wonnen feierte, haben die Europäer und die USA in verschiedenen Regionen der Welt die reale Hölle verbreitet Der erste Völkermord des 20 Jahrhunderts war bekanntlich die weitgehende Vernichtung der Ovaherero und der Nama 1 2 3 4

Natan Sznaider, Antisemitismus zwischen Schwertern und Pflugscharen, in: Johannes Piepenbrink (Red ), Antisemitismus, Aus Politik und Zeitgeschichte, Jg 70, Heft 26–27 (22 Juni 2020), S  15–19, hier S  16 „Für eine Entschuldigung sehe ich keinen Anlass“: Ein Gespräch mit Felix Klein, dem deutschen Antisemitismusbeauftragten, über den Streit um den Historiker Achille Mbembe und die damit ausgelösten Probleme, Die ZEIT vom 20 Mai 2020, S  49–50 Achille Mmembe, Politik der Feindschaft, Berlin 2017 Ausführlicher dazu ders , Kritik der schwarzen Vernunft, 4 Aufl , Berlin 2020

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im Südwesten Afrikas durch deutsche Kolonialtruppen zwischen 1904 und 1908; ein Völkermord, den die Bundesrepublik bis heute nicht offiziell anerkennt Hier hat Mbembe „dem Westen“ viel zu sagen Gewiss muss man die reale historische Gewalt des Kolonialismus differenzieren  – nicht überall war der koloniale Staat so übermächtig wie z B in Algerien –, aber das ist ein Thema für die jeweiligen Fachstudien 5 Als besonders beeindruckend habe ich viele Abschnitte empfunden, in denen sich Mbembe auf Frantz Fanon beruft bzw ihn ausführlich referiert Da geht es keineswegs um vordergründige Anklage, sondern um Analyse: um politische, ökonomische, psychologische und psychoanalytische Aspekte des Verhältnisses zwischen Kolonisierern und Kolonisierten, einschließlich der triebhaften Externalisierungen der Kolonisierer, die die Kolonisierten auch noch dafür verantwortlich machen und ihnen damit die eigentliche Täterschaft zuschreiben; oder die Internalisierungen des Herrschaftsverhältnisses und die damit verbundenen inneren Zerstörungen, die der Kolonialismus bei den Kolonisierten anrichtet Als intellektuelle und künstlerische Reaktionsweisen auf die Schizophrenie des westlichen Humanismus und deren Langzeitwirkungen stellt Mbembe den Afrozentrismus vor, der einen eigenen Humanismus aus afrikanischen Wurzeln formuliert, und den Afrofuturismus, der über die Kategorie des Humanismus hinausgreift, weil der unauflösbar mit Natur- und Menschenaneignung verknüpft sei, und ein neues Menschenbild unter Einbeziehung des Kosmos entwickelt Sehr berührend der fast poetische Abschnitt Die Pflegebeziehung im Kapitel Fanons Apotheke, in dem beschrieben wird, welche Aufgaben sich für Ärzte und Pflegerinnen stellen, um vom Krieg schwer verwirrte und seelisch verwundete Menschen in das Leben zurückzuholen 6 Unter Berufung auf Frantz Fanon geht Mbembe ausführlich auf die Rolle der Gewalt als konstitutives Element der Befreiung und unverzichtbare Voraussetzung für die Neuschöpfung/Wiedergeburt der „Verdammten dieser Erde“ ein, denn bei Fanon werden die Kolonisierten erst im Akt antikolonialer Gewalt von Nicht-Menschen zu 5

6

Vgl dazu etwa Michael Pesek, Was weiß der Postkolonialismus vom Kolonialismus? Die historische Forschung hat sich von der Vorstellung verabschiedet, dass der koloniale Staat ein totalitäres Regime gewesen sei In den postkolonialen Studien kehren die Träume der Kolonialherren von absoluter Macht zurück, FAZ vom 6 Mai 2020, S  N 3 Mark Terkessidis spricht am Beispiel von Ostafrika von einer komplizierten Gesamtlage, die auch eine postkoloniale Sichtweise berücksichtigen müsse, ohne damit die Verantwortung des Kolonialismus zu leugnen: Wessen Erinnerung zählt? Koloniale Vergangenheit und Rassismus heute, 2 Aufl , Hamburg 2019, S  90 Differenzierte neuere Gesamtdarstellungen bieten u a Jürgen Osterhammel / Jan C Jansen, Kolonialismus: Geschichte, Formen, Folgen, 8 Aufl , München 2017 (trotz der Kürze äußerst reichhaltig), Thomas Piketty, Kapital und Ideologie, München 2020, Teil 2 (eingebettet in Theorie und Empirie der Entwicklung von gesellschaftlicher und internationaler Ungleichheit) oder Wolfgang Reinhard, Die Unterwerfung der Welt: Globalgeschichte der europäischen Expansion 1415–2015, München 2016 (auf breitester Grundlage) Als besonders eindringliche und berührende „Fallstudie“ auf breiter Quellengrundlage einschließlich zahlloser persönlicher Kontakte mit Einheimischen empfehle ich David Van Reybrouck, Kongo: Eine Geschichte, 4 Aufl , Berlin 2018 (zuerst 2010) Mbembe, Politik, S  162–168

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Menschen Die verheerenden Folgen dieser Programmatik, so der Einwand von Kritikern, ließen sich bis heute nicht nur im nachkolonialen Afrika, sondern auch im Nahen Osten beobachten 7 Achille Mbembe wirbt hier um Verständnis vor allem dadurch, dass er wie Fanon selbst die konkrete historische Situation und die damit verbundenen chronischen und umfassenden Gewalterfahrungen der afrikanischen Algerier erläutert Immerhin stellt auch Mbembe die Frage, ob jede Gewalt Schöpferin von etwas Neuem sei Was sei mit einer Gewalt, die keinerlei neue Fundamente schaffe?8 Aber eine kritische Reflexion der Hypostasierung des Volkes bei Fanon, dessen Spaltungen und nachhaltigen Beschädigungen durch den Kolonialismus der berühmte Autor in seinem Klassiker (Die Verdammten dieser Erde, Frankfurt 1966, zuerst 1961) selbst herausarbeitet, und der damit verbundenen Probleme für dessen emphatische Revolutionstheorie bietet Mbembe an dieser Stelle nicht Weniger gelungen, häufig überzogen und geradezu von Feindseligkeit gegenüber den Demokratien getragen sind dagegen weite Teile von Mbembes Zeitdiagnosen Bei ihm findet das paradoxe Verhältnis zwischen Zivilisation und Gewalt im Kolonialismus nicht nur eine Fortsetzung im Faschismus und Nationalsozialismus (dafür beruft er sich u a auf Hannah Arendt), sondern auch in den westlichen Demokratien Auch sie brauchten den Feind, ohne ihn seien sie nicht lebensfähig Da die eigentlich erforderliche Spaltung der Gesellschaft in Herren und Sklaven sich aufgelöst habe, seien die liberalen Demokratien unserer Zeit für ihr Überleben angewiesen auf die Spaltung in Gleiche und Nichtgleiche oder auch in Freunde bzw Verbündete und Feinde der Zivilisation Ohne Feinde hätten sie Schwierigkeiten, sich allein aufrecht zu halten Ob es solche Feinde tatsächlich gebe, falle dabei kaum ins Gewicht Man brauche sie nur zu erschaffen, zu demaskieren und ans Licht zu holen 9 Fast durchgängig attestiert er den Demokratien ein krankhaftes Verhältnis zu den „Anderen“, also etwa Arabern, die pauschal zu Terroristen gemacht würden und dann entsprechend gnadenlos bekämpft werden müssten: Wir leben in einer Zeit der paranoiden Dispositionen, der hysterischen Gewalt, der Verfahren zur Vernichtung all derer, die von der Demokratie zu Staatsfeinden erklärt werden (…) Der nicht zu unterdrückende Wunsch nach Feinden, der Wunsch nach Apartheid und die Ausrottungsphantasie bilden den Kampfplatz, also die entscheidende Probe zu Beginn dieses Jahrhunderts Als herausragende Träger der gegenwärtigen Verdummung zwingen sie die demokratischen Regime allenthalben, aus dem Mund zu stinken und in ihrem hartnäckigen Delirium wie Betrunkene zu leben (…) Keinen Feind zu haben  – oder keine Anschläge und andere blutige Übergriffe durch jene erlebt zu haben, die uns

7 8 9

Vgl etwa Martin Altmeyer, Das Unbehagen in der Moderne: Populismus aus Sicht einer relationalen Psychoanalyse, in: Psychosozial, Heft 42:1 (2019), S  84–98 Mbembe, Politik, S  121; ausführlicher ders , Kritik der schwarzen Vernunft, S  296–311 Mbembe, Politik, S  100

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und unsere Lebensweise hassen – heißt jener Hassbeziehung beraubt zu sein, die dazu berechtigt, allen erdenklichen, ansonsten verbotenen Wünschen freien Lauf zu lassen (… ) Und es heißt, frustriert zu werden in seinem Drang, sich selbst Angst zu machen; in seiner Fähigkeit, andere zu verteufeln; in der Lust und Befriedigung, die man empfindet, wenn der angebliche Feind von Spezialkräften abgeschlachtet wird oder, falls lebendig gefangen, endlosen Verhören und Folterungen unterzogen wird an einem der geheimen Orte, die unseren Planeten beschmutzen 10

Nicht nur, dass es für Mbembe keine Entkolonialisierung auf Seiten der sich für zivilisiert haltenden Gesellschaften in Form der heutigen Demokratien gibt; er dämonisiert und überblendet sie mit Bildern und Deutungsmustern, die man normalerweise für die Beschreibung totalitärer Gesellschaften verwenden würde Immer und nur ist die Rede von den liberalen Demokratien, die gleichsam für alle gewaltsamen Übel unserer Zeit verantwortlich seien, weil sie ihre Bedrohungen und die Gegengewalt selbst inszenierten Sie sind, so hat es Ijoma Mangold in der ZEIT zusammengefasst, Orte der Entrechtung und Vernichtung Der liberale Rechtsstaat hat in diesem Denken keinerlei Kredit 11 Natürlich gibt es Anlässe, immer wieder an der Rationalität und an der Menschlichkeit auch demokratischer Systeme oder Regierungen zu zweifeln Man erinnert sich an die dramatischen Fehldeutungen in der amerikanischen Politik gegenüber Saddam Hussein mit dem Irak-Krieg;12 oder an Guantanamo, an strukturelle Diskriminierung und Gewalt gegen Minderheiten, an Vorurteile und Feindbilder, manchmal mit tödlicher Konsequenz, gegenüber Einwanderern, keineswegs nur in den USA, wo man auch Kontinuitäten bis zurück in die Zeit der Sklaverei beobachten kann So schreibt Verena Lueken in der FAZ zu den Protesten der Black-Lives-Matter Bewegung, sie seien Ausdruck des ewig gleichen Themas, seit die ersten versklavten Menschen mit schwarzer Haut auf den Kontinent verschleppt wurden, den sie nie betreten wollten Das sei vierhundert Jahre her, und das Erbe werde ihren Körpern bis heute eingeschrieben Andreas Ross spricht in derselben Zeitung in einem Artikel, in dem er die erschütternde durchgängige Struktur des „systemischen Rassismus“ in den USA (Arbeits- und Lebenswelt, Schulsystem, Sozialstaatlichkeit, Gesundheitssystem und Krankenversicherung, Gerichtswesen/Gefängnisse/Polizei) anführt, vom „Würgegriff der Willkür, Unterdrückung und Ausbeutung von Millionen Afroamerikanern“, die den amerikanischen Traum als Albtraum erlebten 13 Alltäglichen und strukturellen 10 11 12 13

A a O , S  79, 92–93 Ijoma Mangold, Wie rassistisch ist der Westen?, Die ZEIT vom 29 April 2020, S  45 Vgl dazu Gert Krell / Peter Schlotter, Weltbilder und Weltordnung: Einführung in die Theorie der internationalen Beziehungen, Baden-Baden 2018, 5 Aufl , S  386–397 Verena Lueken, Amerikas ewiges Trauma: Die Vereinigten Staaten – ein gescheitertes soziales Experiment?, FAZ vom 2 Juni 2020, S  15; Andreas Ross, Systemischer Rassismus, FAZ vom 4 Juni 2020, S  1 und ders , Im Würgegriff: Polizei und Justiz verheißen für Millionen von Afroamerikanern nicht Ge-

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Rassismus gibt es freilich auch in Europa, ebenso wie die völlige Unkenntnis, Verleugnung, Verharmlosung oder gar Verherrlichung der jeweiligen kolonialistischen Vergangenheiten Der institutionelle Rassismus, der „Doppelgänger des Kolonialismus“, halte uns auch weiterhin in seinen Fängen, schreibt Mbembe in Kritik der schwarzen Vernunft, obwohl dieser – zugegeben – „nicht mehr ganz der unsrige“ sei 14 Also immerhin an dieser Stelle doch auch eine Konzession Gleichwohl übertreibt und pauschalisiert Achille Mbembe seine Kritik so weit, dass sie zu einem Zerrbild wird Er macht keinerlei Unterschied zwischen verschiedenen Demokratien und ihren jeweiligen Volksvertretern: Barack Obama ist dasselbe wie Donald Trump, Angela Merkel oder Emmanuel Macron dasselbe wie Silvio Berlusconi Nichtwestliche oder nichtdemokratische Staaten mit ihren Feindkonstruktionen und ihrer wechselseitigen Gewalt etwa in den sogenannten Entwicklungs- oder Schwellenländern kommen in Politik der Feindschaft überhaupt nicht vor Zwar bietet Mbembe eine knappe brillante Analyse der religiösen Motivation von islamischen Selbstmordattentätern oder eine kurze Typologisierung von Gewaltverhältnissen in afrikanischen Ländern, aber beides integriert er nicht 9/11 wird nicht einmal erwähnt, kein einziges Wort über den Islamischen Staat, der aktuell Mozambique terrorisiert, über die Vernichtungsphantasien gegenüber Israel bei Teilen der iranischen Führung, der Hamas oder der Hisbollah; oder über den Völkermord in Ruanda und den Haupttäter, den Massenmörder Félicien Kabuga, der sich der Strafverfolgung gut 15 Jahre mit der Hilfe afrikanischer und anderer Eliten erfolgreich entziehen konnte 15 Reale Konflikte, also z B Konkurrenz um unvereinbare Interessen, um Handelsvorteile, um Territorien oder Gefolgschaft, legitime Sicherheitsbedürfnisse gegenüber real existierenden, also ausgesprochenen und materiell unterstrichenen Bedrohungen, geostrategische Rivalitäten und sich mit all dem immer wieder verknüpfende explizite Feindbilder (also nicht bloß eingebildete Gegnerschaft), schwierige Verhandlungen über Problemregulierung, all das spielt keine Rolle in Mbembes Politik der Feindschaft Auch bei den Innenbeziehungen der Demokratien – wieder ist nur die Rede von „den liberalen Demokratien“, die ohnehin alle mehr oder weniger auf der Kippe stünden  – überzeichnet Mbembe Hier sieht er kontinuierlich zunehmende Repression einschließlich der Entwicklung zum totalen Überwachungsstaat:

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rechtigkeit, sondern Willkür, Unterdrückung und Ausbeutung Woran liegt das?, FAZ vom 6 Juli 2020, S  3 Mbembe, Kritik der schwarzen Vernunft, S  311 Vgl dazu Bernd Dörries / Nadia Pantel / Ronen Steinke, Nicht zu fassen: Félicien Kabuga soll den Völkermord in Ruanda organisiert haben Einer der meistgesuchten Männer der Welt, der sich trotzdem über Jahre verstecken konnte, mitten in Europa, SZ vom 19 Oktober 2020, S  3

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Fast überall ist die Rede von Aufhebung, Einschränkung, Rücknahme oder schlichter Abschaffung – der Verfassung, des Rechts, der Freiheiten, der Staatsbürgerschaft, aller möglichen Schutzvorschriften und Garantien, die bis vor kurzem noch als fraglos sicher galten 16

Wie fragwürdig auch diese Einschätzung ist, zeigen Daten zur Lage der Menschenund Bürgerrechte in der Welt etwa von Freedom House 17 Es stimmt, dass die Freiheitswerte in den letzten Jahren im Weltdurchschnitt zurückgehen, aber wirklich unfrei oder nur halb frei sind gerade nicht die westlichen Demokratien Und gewiss gibt es totale Überwachungsstaaten, aber das sind China, Nord-Korea, Saudi-Arabien, vielleicht Singapur; keine der westlichen Demokratien gehört dazu, auch wenn das einige Verschwörungstheoretiker im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie behaupten Ein letzter Punkt betrifft Mbembes scharfe Kritik an der Migrations- und Flüchtlingspolitik der westlichen Demokratien Hier wirken angeblich wieder dieselben schon beschriebenen Mechanismen: Feindkonstruktionen, Rassismus, Abschottung bis gewaltsame Verhinderung von Einwanderung Die Folie für diese Kritik bildet Mbembes Modell der wechselseitigen Anerkennung aller Menschen, das von der Einsicht in unser aller Verletzlichkeit und Endlichkeit ausgeht und das er der Geschichte und Aktualität von Gewalt und Rassismus entgegensetzt Er erwartet, dass sich alle der Zufälligkeit ihrer Nationalität, ihrer „Rasse“ oder ihres Geschlechts bewusst sind Dagegen lässt sich nichts sagen, im Gegenteil; die Welt wäre ein weit besserer Ort, wenn sich alle Menschen solche Einsichten zu Eigen machten Aber Mbembe zieht daraus eine radikale Konsequenz: die Abschaffung der Staatsbürgerschaft und das freie Residenzrecht für alle Menschen am Ort ihrer Wahl; die Erde gehöre schließlich allen Dieses Überspringen des Internationalen in eine Art staatenlose Weltgesellschaft ist nicht nur unrealistisch, sondern auch eine schlechte Utopie Staatlichkeit wird auf vielerlei Art und Weise missbraucht und pervertiert; aber ganz auf ihre zweifellos möglichen und real durchaus vorhandenen ordnenden, organisierenden und zivilisierenden Funktionen zu verzichten, würde die Gewalt in der Welt mit Sicherheit nur noch vergrößern 16 17

Mbembe, Politik, S  76 Freedom House, Freedom in the World 2020: A Leaderless Struggle for Democracy, www freedom house org/report/freedom-world/2020/leaderless-struggle-democracy Freedom House ist eine internationale Nichtregierungsorganisation, die seit den frühen siebziger Jahren alljährlich über den Stand der Menschen- und Bürgerrechte in der ganzen Welt berichtet Wem die Daten von Freedom House verdächtig erscheinen, der konsultiere die Datensammlung von Max Roser, der eine hohe Korrelation zwischen dem Niveau der Menschenrechte und dem Regime-Typ (von voll entwickelter Autokratie bis zu voll entwickelter Demokratie) findet (vgl www ourworldindata org, dort unter „Democracy“); oder die Political Terror Scale von 1 bis 5 der Purdue Universität, in der für 2018 fast alle großen westlichen Demokratien mit 1 bewertet werden: sie sind sichere Rechtsstaaten, die Bürger kommen nicht wegen ihrer Ansichten ins Gefängnis, Folter ist selten oder eine große Ausnahme, politische Morde sind extrem selten – Ausnahmen sind Frankreich, Spanien, Polen (2), die USA (2–3), Israel (3) und die Türkei (5) – www politicalterrorscale org

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Nicht Staatlichkeit per se, sondern defizitäre oder unkontrollierte, ungezähmte Staatlichkeit ist das Problem Gerade der heutige Sozial- und Wohlfahrtsstaat kann nicht generell darauf verzichten zu entscheiden, wer sich in ihm mit welchen Rechten ansiedeln darf Dass sich daraus Schwierigkeiten bei der Auswahl ergeben, ist unbestreitbar Dieses objektive, keineswegs bloß phantasierte oder über Feindbilder (obwohl es die auch gibt) künstlich hergestellte Dilemma pauschal den Staaten und hier wieder vor allem den westlichen Demokratien anzulasten, ist weder sachlich angemessen noch fair, zumal Mbembe das Thema Fluchtursachen weitgehend ausblendet bzw allein dem Kolonialismus anlastet Sicher kann man auch hier die Demokratien nicht einfach freisprechen, muss man ihre Mitverantwortung für eine Reihe von Problemen im Globalen Süden in Rechnung stellen und sie kritisch an ihren eigenen Maßstäben messen; aber ihnen alle schwerwiegenden hausgemachten Probleme in den Entwicklungs- oder Schwellenländern anzulasten, die zu Fluchtbewegungen führen, wäre nicht mehr als eine grandiose Projektion Erstaunlicherweise spielt bei fast allen, die Achille Mbembe in Schutz nehmen, aber auch bei vielen, die ihn kritisieren, die Dämonisierung der westlichen Demokratien kaum eine Rolle Hier noch einmal Mbembe im Originalton: Die Demokratien werden indessen immer schwächer, bis hin zum Systemwechsel Da sie nur noch Wahnvorstellungen und Zufälle zum Gegenstand haben, werden sie unvorhersehbar und paranoid, anarchische Mächte ohne Symbole, ohne Bedeutung und ohne Ziel 18

Gleichzeitig geht er nicht weit genug in seinen Globaldiagosen, weil er einen großen Teil der Welt links liegen lässt Ich sage das nicht, um Verantwortung zu delegieren nach dem Motto: seht nur, die anderen sind auch nicht besser oder sogar viel schlimmer Hinweise auf die Schwächen oder gar Verbrechen anderer Völker können die eigenen nicht relativieren; aber sie deuten darauf hin, dass es nicht nur kulturspezifische, sondern auch kulturübergreifende Ursachen für kollektive Gewalt gibt, die dann noch einmal auf einer allgemeineren Ebene, auch im Vergleich zwischen Demokratien, Autokratien und totalitären Regimen, zu diskutieren wären Nicht nur der „common sense“, auch die reichhaltige wissenschaftliche Literatur liefert viele Belege für die Unseriosität von Mbembes Totalkritik an den heutigen liberalen Demokratien – und nur an diesen 19

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Mbembe, Politik, S  227–228 Mbembes einseitige Maßstäbe in Politik der Feindschaft sind umso erstaunlicher, als er sich in On the Postcolony (Los Angeles – London 2001) und in Ausgang aus der langen Nacht (Berlin 2016) äußerst kritisch über die postkolonialen Staaten in Afrika geäußert hat, wie übrigens auch Frantz Fanon

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3. Antisemitismus in Politik der Feindschaft? Im Zentrum der Kontroverse über Achille Mbembe steht freilich gar nicht sein postkolonialistisches Weltbild, sondern sein vermeintlicher Antisemitismus Hier argumentiere ich zurückhaltender Wieder stütze ich mich zunächst auf Politik der Feindschaft Ich lasse mich dabei nicht auf die kontroverse Diskussion über den heute geläufigen weiten Antisemitismusbegriff ein, der die Infragestellung der Existenzberechtigung Israels als Beleg für Antisemitismus einbezieht, sondern bleibe bei der Unterscheidung zwischen (a) Antisemitismus als gruppenbezogene Feindseligkeit oder als Verleumdung von Juden bzw des Judentums, (b) der Leugnung oder Verharmlosung des Holocaust und (c) antiisraelischen Einstellungen Antiisraelische Einstellungen sind zwar oft antisemitisch unterlegt, aber nicht durchgängig; das gilt auch – allemal historisch – für den Antizionismus und damit für Vorbehalte gegenüber der Gründung eines jüdischen Staates in Palästina 20 Außerdem gibt es umgekehrt Freunde und Unterstützer Israels, die gleichzeitig Antisemiten sind Ich arbeite mit sechs verschiedenen Kategorien, die für sich genommen als Bewertungskriterien eindeutig, unterscheidbar und allgemein anerkannt sind: (1) antisemitische(s) Weltbild/Weltordnungsvorstellungen, (2) klassische antijüdische oder antisemitische Stereotype, (3) Negierung des Existenzrechts Israels, (4) Leugnung oder Verharmlosung des Holocaust, (5) Dämonisierung Israels, (6) Singularisierung Israels, das heißt, nur Israel/Israelis werden für ein Verhalten kritisiert, das man bei anderen Staaten oder Völkern auch findet (1) Mbembes Grundhaltung habe ich schon erwähnt: die Utopie einer Weltgesellschaft der allgemeinen wechselseitigen Anerkennung unabhängig von Nation, „Rasse“ oder Geschlecht, auch Religion natürlich Da passt Antisemitismus, also die Ausgrenzung oder Abwertung von Juden, nicht hinein (2) Finden sich klassische judenfeindliche oder antisemitische Stereotype bei Mbembe wie etwa: Juden seien il20

Zur Problematik der Erweiterung des Antisemitismus-Begriffs auf Varianten von Einstellungen zu Israel hat sich Kenneth S  Stern, der diese Erweiterung ursprünglich selbst auf den Weg gebracht hat, im Lichte seiner Erfahrungen damit sehr kritisch geäußert, weil sie dem politischen Missbrauch des Antisemitismus-Vorwurfs Tür und Tor öffne Ich empfehle dazu die Lektüre seiner Aussage vor dem Rechtsausschuss des US-Repräsentantenhauses vom 7 November 2017 anlässlich einer Anhörung zu Maßnahmen der Überprüfung von Antisemitismus an amerikanischen Colleges Dort heißt es z B : „Imagine a definition designed for Palestinians If ‚Denying the Jewish people their right to self-determination, and denying Israel the right to exist‘ is anti-Semitism, then shouldn’t ‚Denying the Palestinian people their right to self-determination, and denying Palestine the right to exist‘ be anti-Palestinianism? Would they then ask administrators to police and possibly punish campus events by pro-Israel groups who oppose the two-state solution, or claim the Palestinian people are a myth?“, https://docs house gov/meetings/JU/JU00/20171107/106610/ HHRG-115-JU00-Wstate-SternK-20171107 pdf, S  9; vgl auch ders , I drafted the definition of anti-Semitism Rightwing Jews are weaponizing it, The Guardian vom 13 Dezember 2019 (www theguardian com/commentisfree/2019/dec/13/antisemitism-executive-order-trump-chilling-effect) Hier sorgt jetzt die neue und präzisere „Jerusalem Declaration on Antisemitism“ vom 25 März 2021 für Abhilfe

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loyal, geldgierig, falsch, listig, zu einflussreich oder was es da immer an unsäglichen Vorurteilen gibt? Nein, keine Spur davon Jürgen Kaube, einer der Herausgeber und der Feuilletonchef der FAZ, will in einem Hinweis Mbembes auf die talionische Tradition im Alten Testament und deren Fehldeutung ein Indiz für Antisemitismus sehen 21 Diese Einschätzung teile ich nicht Es stimmt, dass Mbembe das talionische Prinzip (also: Auge um Auge, Zahn um Zahn), das übrigens älter ist als das Alte Testament, aber eine wichtige Rolle in der Entwicklung des klassischen jüdischen Rechtsdenkens spielt, rechtsgeschichtlich nicht korrekt wiedergibt Er benutzt „talionisch“ pauschal als Fachbegriff für Vergeltung oder wütende Rache, während er doch gerade auf die Einhegung gewaltsamer Beziehungen zielt: für ein Auge nur ein Auge, einen Zahn nur einen Zahn und nicht mehr Es stimmt auch, dass Mbembe den Begriff mit dem Hinweis auf seine Herkunft im Alten Testament in einem Abschnitt verwendet, in dem er Israel scharf kritisiert Aber zum einen benutzen viele Menschen, darunter auch Bildungsbürger, den Begriff so wie Mbembe, ohne dass man sie des Antisemitismus verdächtigen würde, und zum zweiten verwendet der ihn an anderer Stelle genauso für die westlichen Demokratien allgemein wie für Israel 22 Thomas Assheuer hat Achille Mbembe in der ZEIT insofern in Schutz nehmen wollen, als der während seiner Schulzeit bei den Dominikanern mit dieser christlichen und durchaus antijüdisch gemeinten Fehldeutung (der zornige rächende Gott der Juden im Gegensatz zum verzeihenden Gott der Christen) aufgewachsen sei 23 Aber das tut nichts zur Sache, wie deutlich geworden sein dürfte Gleichwohl wäre darauf hinzuweisen, dass es in beiden monotheistischen Religionen, der jüdischen wie der christlichen, sowohl einen zornigen, strafenden als auch einen liebenden und verzeihenden Gott gibt, von seiner Einspannung für handfeste irdische Interessen ganz abgesehen 24 (3) Bestreitet Mbembe das Existenzrecht Israels? Auch darauf habe ich bei aller Schärfe seiner Kritik an der israelischen Besatzung und Israels Verhältnis zu den Palästinensern in Politik der Feindschaft keinen Hinweis gefunden Ich komme auf diese Frage weiter unten im Zusammenhang mit Mbembes Sympathien für die BDS-Bewegung zurück (4) Leugnet Mbembe den Holocaust? Definitiv nicht, ganz im Gegenteil; auch für Mbembe ist der Holocaust eine der größten Menschheitskatastrophen Juden kommen in Politik der Feindschaft fast nur als Opfer, als ausgegrenzte, abgewertete und verfolgte Gruppe vor; da sieht er viele historische Parallelen zu den „Negern“ (Israel ist ein anderes Thema!) Besonderen Anstoß hat im Amt des Antisemitismusbeauf-

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Jürgen Kaube, Alles in einen Topf: Ist dem in Deutschland vielgeehrten Philosophen Achille Mbembe Antisemitismus vorzuwerfen?, FAZ vom 20 April 2020, S  9 Mbembe, Politik, S  92 (Israel) und S  114 (die liberalen Demokratien) Thomas Assheuer, Tragische Ironie Was hat Achille Mbembe von den Dominikanern gelernt?, Die ZEIT vom 14 Mai 2020, S  43 Vgl dazu Karen Armstrong, Im Namen Gottes: Religion und Gewalt, München 2016

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tragten erregt, dass Mbembe die Vernichtung der europäischen Juden in einen Zusammenhang mit dem Apartheidsregime in Südafrika bringt In der Tat heißt es im Text, beide seien „emblematische Manifestationen“ desselben rigiden Trennungsprinzips, ja Trennungswahns, der den Ausgangspunkt des Kolonialismus bilde Darin sieht Felix Klein eine unzulässige Verharmlosung des Holocaust; aber er übersieht dabei eine wichtige Einschränkung auch bei Mmembe, denn der betont nicht nur den anderen historischen Kontext, sondern auch die „ganz andere Größenordnung“ der Shoah 25 Es gibt gute Gründe, auf der besonderen Grausamkeit, Verwerflichkeit, ja Perversion oder Absurdität des Holocaust zu insistieren, gleichwohl muss die Wissenschaft nicht nur aus intellektuellen, sondern auch aus moralischen Gründen auf der Möglichkeit des Vergleichens bestehen, solange das nicht zur Verharmlosung führt Wären etwa auch Vergleiche zwischen dem Holocaust und dem Gulag von vornherein unzulässig? Dann dürfte man den Gulag z B nicht als „Auschwitz ohne Gaskammern“ bezeichnen 26 Statt das Risiko der Relativierung zu betonen, die ja keineswegs das Ergebnis von Vergleichen sein muss, sollte man bedenken, dass die Singularisierung des Holocaust auch dazu führen kann oder jedenfalls häufig von Betroffenen so wahr genommen wird, dass ihr kollektives historisches Leid weniger zählt oder gar keine Beachtung mehr findet; eine Gefahr, die gerade im Nahost-Konflikt gegeben ist Opferkonkurrenz ist eine schlechte Voraussetzung für gemeinsames Trauern zwischen Konfliktparteien über die Grenzen ihres Konflikts hinweg 27 (5) Dämonisiert Mbembe Israel? Hier sehe ich in der Tat Anlass für Kritik Als Belege für das „Trennungsprojekt“ Israels gegenüber den Palästinensern, dessen Kern die Vernichtungsangst bilde, führt Mbembe eine lange Liste von Abgrenzungen, Abwertungen, Einschränkungen, Beschädigungen und Zerstörungen (physisch, politisch, wirtschaftlich, rechtlich, kulturell) der palästinensischen Gebiete und palästinensischen Lebens an Die Faktizität vielseitiger Maßnahmen der Trennung, Kontrolle, Diskriminierung, Verdrängung und der Negierung palästinensischer Geschichte und Narrative lässt sich m E nicht ernsthaft bestreiten, zumal sich Mbembe hier auf israelische Literatur bezieht (Man könnte dazu auch qualifizierte palästinensische Titel verwenden oder Berichte von israelischen oder anderen Menschenrechtsgruppen 28)

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Mbembe, Politik, S   89 Kleins Fehldeutung hat Stephan Hebel herausgearbeitet (Wehret den Gleichsetzungen: Ist schon Antisemit, wer Israel mit dem südafrikanischen Apartheidregime vergleicht?, Frankfurter Rundschau vom 20 /21 März 2021, S  23–25, hier S  25) Vgl dazu das Interview von Sylvia Sasse mit Renate Lachmann, Nicht wissen dürfen: Was für Gemeinsamkeiten gibt es zwischen der Literatur über den GULag und der über den Holocaust?, FAZ vom 23 Mai 2020, S  18 Vgl zu diesem ganzen Thema jetzt Michael Rothberg, Multidirektionale Erinnerung: Holocaustgedenken im Zeitalter des Postkolonialismus, Berlin 2021 Vgl z B meine eigene schon etwas ältere Quellensammlung: Gert Krell, Dokumentation zur Menschenrechtslage in den von Israel besetzten Gebieten, Hofheim 2010 Die Dokumentation steht noch auf meiner Webseite: gert-krell de, dort unter „Papiere“

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Stein des Anstoßes ist dann auch hier wieder Mbembes Vergleich mit dem ApartheidRegime in Südafrika Für die besetzten Gebiete, nicht für das israelische Kernland, gibt es freilich auffällige Parallelen (z B ungleiche und ungleichwertige Verkehrswege, Wassernutzung und Rechtssysteme), so dass der Begriff teilweise wie selbstverständlich auch in der israelischen Fachliteratur verwendet wird; etwa in der Studie des Geographen Elisha Efrat, der die Infrastruktur in der West Bank schon seit langem als ein „uniquely Israeli system of separation and apartheid“ bezeichnet, „making permanent the separation of neighboring communities divided on ethnic grounds, in an area where most of the land has been taken away for the benefit of a dominant minority“29 Und im Sommer 2020 warnten viele ehemalige Spitzenpolitiker in Israel, wenn Netanjahus Nahostplan mit weiteren Annexionen palästinensischer Gebiete Realität würde, sei das „mit Apartheid vergleichbar“30 In jedem Fall aber wäre als eine weitere wichtige Differenz auf den Unterschied im Menschenbild zu verweisen Gewiss hat es auch im Zionismus die üblichen paternalistischen Haltungen gegenüber den „Eingeborenen“ und vielfach auch klassische europäische Arroganz gegenüber „den Arabern“ gegeben und gibt es auch in Israel – wie überall – Rassisten; aber eine gleichsam biologische Minderwertigkeit der Palästinenser war nie ein relevanter Teil der zionistischer Programmatik oder gar israelische Staatsdoktrin Achille Mbembe geht freilich noch zwei Schritte weiter Einmal betont er die erhebliche technische „Verbesserung“, z B durch Miniaturisierung, der modernen israelischen Kontrollgewalt im Vergleich zu den „primitiven Maßnahmen“ des südafrikanischen Apartheidregimes von 1948 bis Anfang 1980 Zum zweiten meint er, die Metapher der Apartheid reiche nicht aus, um das israelische Trennungsprojekt zu erfassen, denn es ruhe auf einem „recht einzigartigen metaphysischen und existenziellen Sockel“ Und weiter heißt es: „Die darunter liegenden apokalyptischen Ressourcen und Katastrophen sind weitaus komplexer und geschichtlich viel tiefer verwurzelt als alles, was den südafrikanischen Calvinismus möglich machte “31 Wie aus anderen Formulierungen von Mbembe hervorgeht, in denen er vom Zyklus Täter > Opfer > Täter spricht, in dem die Opfer irgendwann selbst zu Tätern werden, spielt er hier offenbar auf einen Zusammenhang zwischen der jüdischen Holocaust-Erfahrung und der vielfach sehr harten Haltung Israels im Nahost-Konflikt an 32 Die Literatur, die Mbembe

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Elisha Efrat, The West Bank and Gaza Strip: A Geography of Occupation and Disengagement, New York 2006, S  80–82 Alexandra Föderl-Schmid, Der dritte Anlauf: Israel wählt erneut und Benjamin Netanjahu wirbt mit Trumps Nahostplan, SZ vom 28 Februar 2020, S  9; ähnlich äußerten sich hochrangige europäische Politiker und ehemalige Minister, vgl den Abdruck der Stellungnahme bei jrbernstein de/blo1/2020/2/27/groe/sorge-ber-den-us-plan-den-israelisch-palstinensischen-konflikt-zu-lsen Siehe auch Shimon Stein  / Moshe Zimmermann, Israel will Teile der Palästinensergebiete annektieren: Deutschland muss endlich den Munde aufmachen, Der Tagesspiegel vom 8 Juni 2020 Mbembe, Politik, S  85 A a O , S  76 (der Teufelskreis des Hasses)

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dazu angibt, erschien Jürgen Kaube wieder verdächtig, weil BDS-nah, aber hier ließen sich zahlreiche Studien israelischer Psychologen oder Sozialwissenschaftler finden, die theoretisch wie empirisch Überblendungen der jüngeren israelischen Konflikt-Erfahrungen mit dem Holocaust belegen, in denen die Araber zu Nazis werden und Arafat zu Hitler Daraus ein „Tätervolk“ zu machen, wie es bei Mbembe anklingt, begründet dann aber doch einen möglichen Verdacht auf Antisemitismus; zumal er dabei die realen Bedrohungen Israels und die antisemitischen, teilweise sogar eliminatorischen Formulierungen in Dokumenten und Äußerungen von Führungspersonal im Iran oder im arabischen Meinungsspektrum ignoriert Schließlich darf man nicht vergessen, dass Amin al-Husseini, einer der maßgeblichen palästinensischen Politiker in der Mandatszeit und einer der Führer des palästinensischen Aufstands von 1936–39, ein wütender Antisemit war und sich nach dem Scheitern des Aufstands nach Berlin abgesetzt hat, sich von den Nazis aushalten ließ und über den Rundfunk antisemitische Hetzreden in die arabischen Länder verbreitet hat 33 Zum Thema der verhängnisvollen Prägung durch kollektive Traumata gibt es seriöse Literatur in Israel selbst34 und besonnene Reaktionen auch von anderen antikolonialen Denkern im „Süden“ Die tiefste Empathie auf der arabischen Seite für das israelische Holocaust-Syndrom zeigt Sari Nusseibeh, einer der großen palästinensischen Intellektuellen und ein Pazifist Er verbindet diese Empathie mit einer positiv gewendeten Resignation, denn er war zumindest zeitweise bereit, auf alle politischen Rechte der Palästinenser, die über kommunale Selbstverwaltung hinausgehen, zu verzichten, wenn ihnen dafür ihre übrigen bürgerlichen Menschenrechte gewährt würden 35 Anders, aber auf derselben Grundlage hatte vorher schon der Pakistani Eqbal Ahmad argumentiert, der mit Edward Said und Rashid Khalidi bekannt war und dem die PLO schon vor 1982 den Auftrag gegeben hatte, ihre Strategie zu bewerten 36 Ahmad war nicht prinzipiell gegen den bewaffneten Kampf für antikoloniale Befreiung, 33

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Mathias Küntzel, der sich mehrfach zu diesem Thema geäußert hat, sieht im arabischen Antisemitismus und in der Kollaboration mit Nazi-Deutschland den entscheidenden Grund für den Nahost-Konflikt, vgl jetzt Nazis und der Nahe Osten: Wie der islamische Antisemitismus entstand, Leipzig 2019 Ich teile diese Einschätzung nicht; siehe Gert Krell, History and Responsibility: Shadows from the Past in German-Israeli Relations, in: Alfred Wittstock (Hrsg ), Rapprochement, Change, Perception and Shaping the Future: 50 Years of German-Israeli and Israeli-German Diplomatic Relations, Berlin 2016, S  55–92, hier S  73–81 Vgl auch die kritische Besprechung zu Küntzel von René Wildangel, Eine Achse der anderen Art, www sueddeutsche de/politik/ns-geschichte-eine-achse-der-anderen-art-1 4909779, oder die Gesamtdarstellung von David Motadel, Islam and Nazi Germany’s War, Cambridge, Mass  – London 2014 (deutsch Für Prophet und Führer: Die islamische Welt und das Dritte Reich, Stuttgart 2017) Als Beispiele nenne ich hier Esther Benbassa, Suffering as Identity: The Jewish Paradigm, LondonNew York 2010, Idith Zertal, Israel’s Holocaust and the Politics of Nationhood, Cambridge-New York 2011, oder Avraham Burg, Hitler besiegen: Warum Israel sich endlich vom Holocaust lösen muss, Frankfurt/New York 2009 Sehr eindringlich jetzt Omri Boehm, Israel – Eine Utopie, Berlin 2020 Sari Nusseibeh, Ein Staat für Palästina? Plädoyer für eine Zivilgesellschaft in Nahost, München 2011 Das Folgende nach Rashid Khalidi, The 100 Years’ War On Palestine, London 2020, S  179–180

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kritisierte aber die PLO für ihre mangelnde Effektivität und ihre oft kontraproduktive Praxis Noch wichtiger aber war sein zentraler politischer Einwand: Er stellte ernsthaft in Frage, ob der bewaffnete Kampf im konkreten Fall, nämlich gegen Israel, der richtige Weg sei Angesichts der jüdischen Geschichte, insbesondere im 20 Jahrhundert, verstärke die Anwendung von Gewalt nur das vorgelagerte und alles überwältigende Gefühl in Israel, Opfer zu sein; zugleich einige sie die israelische Gesellschaft, verstärke sie die militantesten Tendenzen im Zionismus und fördere sie die Unterstützung für Israel von außen Die PLO war von dieser Analyse nicht begeistert, obwohl sie sich schon auf den Weg zur Abkehr vom bewaffneten Kampf begeben hatte Die weitere Geschichte des Konflikts hat Ahmad bestätigt: Die Palästinenser waren nie politisch so erfolgreich wie mit der ersten, fast gänzlich gewaltfreien Intifada Schade, dass Mbembe diese Interpretationen nicht aufgegriffen hat Stattdessen münden seine insgesamt eher kurzen Ausführungen zu Israels Trennungsprojekt gegenüber den Palästinensern in eine abschließende Zuspitzung, der zufolge die „fanatische Zerstörungsdynamik“ (sic) Israels darauf abziele, „das Leben der Palästinenser in einen Trümmerhaufen und einen zur Entsorgung bestimmten Berg aus Müll zu verwandeln“37 Hier lädt Mbembes Sprachgewalt geradezu dazu ein, auf Antisemitismus zu erkennen Da er ohnehin ständig von Vernichtungsphantasien (nicht nur in Israel, sondern im Westen überhaupt) redet, darf er sich nicht wundern, dass man bei dieser Formulierung einen Genozid-Vorwurf assoziiert Im Gegensatz zum deutschen oder türkischen Nationalismus war der Zionismus als jüdische Variante des Nationalismus jedoch nie genozidal Dass Israel enorme reale Trümmerhaufen (z B in Beirut 1982 oder im Gaza-Streifen 2014) und viele Tote zu verantworten hat, deren Zahl in den verschiedenen gewalttätigen Auseinandersetzungen im Nahen Osten oft deutlich über den eigenen Verlusten liegt,38 bleibt unbestritten, rechtfertigt aber nicht die Rede von der Vernichtungspolitik, die wieder an den Terror der Nazis erinnert Es gäbe auch andere Möglichkeiten, die Perspektive derjenigen einzunehmen, die einem Siedlungskolonialismus weichen mussten und von ihm in Ostjerusalem und in der West Bank immer noch be- und verdrängt werden 39 Israel gegenüber überschreitet Achille Mbembe also die Grenze zur Dämonisierung Freilich singularisiert er Israel nicht (Kriterium Nr  6); er kritisiert und dämonisiert ja alle anderen westlichen Demokratien auch Deshalb bleibe ich mit dem Vorwurf des Antisemitismus vorsichtig; Feindseligkeit gegenüber Israel lässt sich aber 37 38 39

Mbembe, Politik, S  86 Dazu mit vielen Beispielen und empirischen Details Khalidi, The 100 Years’ War Khalidi, der zeitweise an der amerikanischen Universität gelehrt hat, lebte 1982 in Beirut und hat die dramatischen Zerstörungen durch die israelische Luftwaffe und Armee vor Ort miterlebt Einschlägig dazu u a Idith Zertal / Akiva Erdal, Die Herren des Landes, Stuttgart 2007, oder David Shulman, Dark Hope: Working for Peace in Israel and Palestine, Chicago und London 2007; bedrückende Beispiele auch bei Nir Baram, Im Land der Verzweiflung: Ein Israeli reist in die besetzten Gebiete, München 2016

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nicht leugnen Außerdem gibt es von Mbembe Äußerungen, die Israel durchaus als einen besonderen Übeltäter herausstellen Man kann die Besatzung der West Bank und die Blockade von Gaza als einen großen Skandal bezeichnen, aber doch wohl nicht als die „stärkste dehumanisierende Tortur des Jahrhunderts, in dem wir leben, und die größte Feigheit des letzten halben Jahrhunderts“40 Da gäbe es eine Reihe von anderen Torturen zu nennen wie den schon erwähnten Völkermord in Ruanda, vor allem aber auch den sich daran anschließenden Großen Afrikanischen Krieg zwischen 1997–2002, den Krieg zwischen Iran und Irak 1980–88, den Krieg zwischen den USA plus Verbündeten gegen den Irak 2003–2011, den anhaltenden Bürgerkrieg in Syrien seit 2011 mit russischer und iranischer Beteiligung, den aktuellen Bürgerkrieg im Jemen mit iranischer und arabischer Beteiligung, die chinesischen Umerziehungslager für Uiguren oder den Terror des Islamischen Staates 4. Deuten Mbembes Sympathien für BDS auf Antisemitismus? Wie steht es mit Mbembes Sympathien für die BDS-Bewegung, der zweiten Quelle für den Vorwurf antisemitischer Einstellungen?41 Bei BDS – das Kürzel steht für Boykott, Desinvestitionen, Sanktionen – handelt es sich um eine 2005 aus der palästinensischen Zivilgesellschaft heraus gegründete Bewegung, die Israel unter Verzicht auf physische Gewalt unter Druck setzen will, damit es aufhört, die Rechte der Palästinenser zu verletzen Die drei zentralen Forderungen sind: (1) die Beendigung der seit 1967 fortdauernden Besatzung des Westjordanlandes und die Aufhebung der Blockade Gazas, (2) die Gleichstellung der arabisch-stämmigen Einwohner im israelischen Kernland, (3) die Anerkennung des Rechtes der palästinensischen Flüchtlinge auf Rückkehr in ihre ursprüngliche Heimat Um diesen Forderungen Nachdruck zu verleihen, propagiert die Bewegung Maßnahmen wie Boykott, den Abzug ausländischer Investitionen, und Sanktionen BDS wird von einer großen Mehrheit zivilgesellschaftlicher Organisationen und Parteien in den palästi40

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Das Zitat stammt aus einem Vorwort Mbembes zu dem Sammelband von John Soske / Sean Jacobs (Hrsg ), Apartheid Israel: The Politics of an Analogy, Chicago 2015; vgl auch Mangold, Wie rassistisch ist der Westen?, der Mbembes „Hass auf Israel“ in sein statisches Geschichtsbild integriert, in dem „die Sklaverei dasselbe ist wie Kolonialismus, der Kolonialismus dasselbe wie die Apartheid und die Apartheid nicht zu unterscheiden vom Neoliberalismus und der Demokratie “ Die rein faktischen Informationen zu BDS habe ich weitgehend in wörtlicher Anlehnung aus einer Stellungnahme von 16 Kolleginnen und Kollegen, allesamt ExpertInnen für den Nahost-Konflikt, zum BDS-Beschluss des Bundestages entnommen (www zeit de/politik/deutschland/2019–06/ israel-boykott-bds-antisemitismus-meinungsfreiheit-bundesregierung/komplettansicht) Vgl auch Muriel Asseburg, Die deutsche Kontroverse um die BDS-Bewegung, in: Benz, Streitfall Antisemitismus, S  284–298 Beide Quellen enthalten zahlreiche Belege Meine eigenen, sich daran anschließenden Ausführungen konzentrieren sich auf die unterstellten antisemitischen Konnotationen in den zentralen BDS-Forderungen

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nensischen Gebieten getragen und hat international einen breiten heterogenen Kreis von Unterstützern gewonnen Der Deutsche Bundestag hat am 17 Mai 2019 mehrheitlich einen Antrag der Großen Koalition, der Grünen und der FDP beschlossen mit der Zielsetzung: „der BDSBewegung entschlossen entgegentreten  – Antisemitismus bekämpfen“ Die Begründung für den Beschluss war, Argumentationen und Methoden der BDS-Bewegung seien Ausdruck von Hass auf Juden und damit antisemitisch Als Konsequenz beschloss das Parlament, BDS keine Räumlichkeiten unter Bundestagsverwaltung mehr zur Verfügung zu stellen, und forderte es die Regierung auf, keine BDS-Veranstaltungen zu unterstützen und keine Aktivitäten oder Projekte zu fördern, die zum Boykott Israels aufrufen oder mit der BDS-Bewegung aktiv sympathisieren Von den Ländern, Städten, Gemeinden und öffentlichen Einrichtungen erwartet das Gremium, dass sie sich dieser Haltung anschließen (Schon vor diesem Beschluss gab es keinerlei öffentliche Förderung oder Unterstützung für BDS ) Die Zustimmung zu diesem Antrag war keineswegs einhellig, vor allem Außenpolitiker der Regierungsfraktionen und der Grünen gaben ihre Unzufriedenheit zu Protokoll Außerdem kam Widerspruch von 16 renommierten deutschen Nahost-Experten, die sich gegen die pauschale Verurteilung der BDS-Bewegung wandten Auch jüdische und israelische Akademiker, darunter bekannte Holocaust-Forscher, lehnten den Vorwurf des Antisemitismus gegen BDS ab und betonten – unabhängig von ihrer jeweiligen persönlichen Haltung – das Recht jedes Einzelnen, BDS zu unterstützen Es gibt eine Reihe von Belegen dafür, dass sich unter den Anhängern der Bewegung, die keine Mitgliederlisten hat, auch Antisemiten befinden Der entsprechende Vorwurf wäre aber, so haben auch deutsche Gerichte wiederholt entschieden, immer im Einzelnen zu belegen; Sympathien für oder Kooperation mit BDS allein könnten das Etikett „antisemitisch“ nicht begründen 42 Sprecher von BDS haben sich wiederholt von antisemitischen Einstellungen distanziert Häufig wird argumentiert, die Anerkennung eines Rückkehrrechts für die palästinensischen Flüchtlinge komme einer Verneinung des Existenzrechts Israels gleich Das ist eine voreilige Schlussfolgerung Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die (quasi-)offizielle palästinensische Seite in allen großen Nahost-Friedensverhandlungen mit Israel auf der Anerkennung dieses Rechts bestanden hat; eine Anerkennung, die übrigens bis heute durch UN-Resolutionen gedeckt ist So haben selbst die USA im Einklang mit der UNO in der Frühzeit des Staates Israel intensiv, wenn auch ohne Erfolg über die Rücknahme palästinensischer Flüchtlinge verhandelt, die von Israel im ersten Nahost-Krieg 1948–49 ohne völkerrechtliche Rückendeckung vertrieben worden waren Die konkrete Umsetzung dieser Forderung wäre immer Gegenstand

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Vgl dazu Lothar Zechlin, Israelkritik gleich Antisemitismus?, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 65:2 (2020), S  103–111

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von Verhandlungen gewesen, wozu es bislang nur in allerersten und weitgehend ergebnislosen Ansätzen gekommen ist Mustafa Barghouti, der Vorsitzende der Partei Palästinensische Nationale Alternative, hat diese Differenzierung 2019 in einem Interview der taz bestätigt 43 Auch BDS postuliert keineswegs, dass die einzig mögliche Umsetzung des Rechts durch die tatsächliche Rückkehr aller Flüchtlinge nach Israel erfolgen müsse 44 Ganz abgesehen davon, dass einige Vertreter von BDS auch schon erklärt haben, das Ziel, die Besatzung und Kolonisierung zu beenden, beziehe sich lediglich auf die 1967 von Israel besetzten Gebiete, ist der Vorwurf aber auch deshalb problematisch, weil er andere Optionen für eine Lösung des Konflikts zwischen Israelis und Palästinensern als die Zweitstaatlichkeit oder die Fortsetzung der jetzigen halbkolonialen Konstellation gleichsetzt mit der von arabischen oder iranischen Extremisten auch heute noch immer wieder erhobenen Forderung nach Beseitigung der politischen oder gar der physischen Präsenz von Juden im ehemaligen Palästina überhaupt Unter BDS-Anhängern oder Sympathisanten ist offenbar das Konzept eines binationalen gemeinsamen Staates mit gleichen Menschen- und Bürgerrechten eine verbreitete Vision Man mag diese Perspektive für unrealistisch halten, weil sie einer zentralen Prämisse der zionistischen Staatsgründung zuwider liefe; antisemitisch ist sie aber sicher nicht So fragt Barghouti in dem schon erwähnten Interview zurück, welche Option denn den Palästinensern, die nach wie vor mehrheitlich für eine Zweistaatenlösung einträten, außer einer Einstaatlichkeit ohne Apartheid noch bleibe, wenn die Alternative die kommende Einstaatlichkeit mit Apartheid sei 45 Der Bundestagsbeschluss gegen BDS und andere deutsche Kritiker der BDS-Bewegung weisen außerdem darauf hin, der Boykott von israelischen Waren oder von Auftritten israelischer Wissenschaftler und Künstler sei auch deshalb ein Beleg für eine antisemitische Einstellung, weil er sich in eine Tradition mit der „Kauft nicht bei Juden“-Kampagne der Nazis stelle Dieser Vergleich ist nicht nur deshalb problematisch, weil es sich nicht um eine Kampagne, nicht bei Juden zu kaufen, sondern eine Kampagne gegen die Politik des Staates Israel gegenüber den Palästinensern handelt Er ist letztlich sogar demagogisch, weil er den hoch bewaffneten Staat Israel, der wiederholt gezeigt hat, dass er sich mit Entschiedenheit zu wehren weiß, mit einer im Verhältnis zur herrschenden Mehrheitsgesellschaft kleinen, unbewaffneten, völlig unschuldigen, politisch kaum noch handlungsfähigen, also alles in allem wehrlosen Gruppe von Juden in Deutschland gleichsetzt, die gegen die immer gewaltsamere Ausgrenzung 43 44 45

Palästinensischer Politiker über Nahost: „Ein-Staat-Lösung mit Apartheid“, taz vom 5 Juli 2019 Zu Regelungsmöglichkeiten vgl Muriel Asseburg / Jan Busse, Der Nahostkonflikt – Geschichte Positionen, Perspektiven, München 2018, Kap III Zu demokratischen Optionen jenseits einer Zweistaatlichkeit, die nicht mehr zu realisieren sei, vgl jetzt Boehm, Israel  – eine Utopie; vgl auch Alexandra Föderl-Schmid, Territorial nicht mehr teilbar: Omri Boehm und Reiner Bernstein nehmen Abschied von der Zwei-Staaten-Lösung und fordern Neues, SZ vom 6 Juli 2020, S  12

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durch eine diktatorische Gewaltherrschaft mit Massenanhang nicht den Hauch einer Chance hatte Ob die Verweigerung jeglicher politischer, wissenschaftlicher oder künstlerischer Kontakte mit Israelis politisch klug oder auf einer allgemein menschlichen Ebene überhaupt vertretbar ist, steht auf einem anderen Blatt Ich selbst halte eine umfassende Boykott-Strategie gegenüber Israel weder für moralisch zu rechtfertigen noch für politisch sinnvoll Ein Boykott gegenüber allen Israelis nimmt die gesamte Bevölkerung in Geiselhaft für die Politik eines Teils ihrer Führung; in einem emphatischen Sinne wäre er deshalb schon nicht mehr gewaltfrei Unklug ist er aus den Gründen, die ich schon unter Berufung auf Intellektuelle aus dem „Süden“ wie Nusseibeh oder Ahmad genannt habe Auch Assoziationen, die realpolitisch nicht berechtigt sind, haben emotionale und damit politische Auswirkungen Und Boykott gegenüber allen und jedem bedeutet Kontakt- und Gesprächsverweigerung sowie verhärtete Feindbilder und fördert die Fixierung auf den Konflikt auf beiden Seiten Dass sich die deutsche Politik vor dem Hintergrund der Shoah nicht für einen Boykott gegen Israel oder seine Vertreter aussprechen kann, ist ohnehin selbstverständlich Freilich hat sich auch Deutschland im Rahmen der EU und im Einklang mit Resolutionen des UN-Sicherheitsrates zur Differenzierung zwischen dem Umgang mit Israel einerseits und mit israelischen Einrichtungen in den besetzten Gebieten andererseits verpflichtet, was sich z B in der Herkunftskennzeichnung von Waren aus den besetzten Gebieten äußern könnte – von Kritikern gelegentlich als „Gelber Stern“ bezeichnet Gerade auf diese Unterscheidung aber verzichtet der Bundestagsbeschluss Damit kommt er der Politik der nationalistischen Parteien in Israel entgegen, die versuchen, die sogenannte Grüne Linie zwischen Israel und den besetzten Gebieten weiter aufzuweichen, und die schleichende Annexion des Westjordanlandes vorantreiben wollen Zugleich versucht das israelische Ministerium für strategische Angelegenheiten seit längerem, Kritik an israelischer Regierungspolitik pauschal als antisemitisch zu diskreditieren und Kritiker einzuschüchtern, und zwar sowohl in Israel selbst als auch im Ausland 46 Für die Kontroverse um Achille Mbembe ergibt sich daraus, dass seine Sympathien für BDS allein, egal ob er sie unter dem Druck der Anschuldigungen modifiziert hat oder nicht, kein Beleg für antisemitische Einstellungen sind Die müssten gesondert nachgewiesen werden, was ich ja ausführlich geprüft habe Dass Mbembe offenbar nicht nur Kontakte mit israelischen WissenschaftlerInnen ablehnt, sondern in einem Fall eine Universität in Südafrika sogar dazu aufgefordert hat, die israelische Psychologieprofessorin und Friedensaktivistin Shifra Sagy zusammen mit ihrem palästinensischen Projektpartner, die beide schon eingeladen waren, wieder auszuladen, ist dann aber doch mehr als ein grober Affront, der sich gegen eine Jüdin richtet, nur weil sie 46

Hier berufe ich mich wieder auf die Stellungnahme der 16 deutschen Nahost-ExpertInnen, aber auch auf Erfahrungen in meinem eigenen persönlichen Umfeld Vgl dazu auch den autobiographischen Erfahrungsbericht von Reiner Bernstein, Allen Anfeindungen zum Trotz, Berlin 2021

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Israelin ist Hier zeigt sich die Schattenseite von BDS mit dem offenbar gerade in Südafrika weit verbreiteten generellen Wissenschaftsboykott, der nicht mehr zwischen Israelis und der Besatzung oder ihrer Rechtfertigung differenziert Frau Sagy hat sich übrigens zur diesem Vorfall von 2018 später wie folgt geäußert: „Mbembe sollte nicht so behandelt werden, wie er uns behandelt hat “47 5. Noch einmal: Israel und die großen moralischen Narrative des 20. Jahrhunderts Ich habe noch auszuführen, warum ich mich gleichwohl bei den öffentlich vorgetragenen Einwänden und Maßnahmen gegen Achille Mbembe, bei der Generalkritik gegenüber BDS und beim Israelkritikern gegenüber oft zu schnell erhobenen Vorwurf des Antisemitismus unwohl fühle Zum einen sehe ich hier Anzeichen für eine Ersatzhandlung Während BDS in Deutschland nach Einschätzung des Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus eine zu vernachlässigende Größe ist, nehmen hierzulande antisemitische Straftaten von deutschstämmigen Rechtsradikalen deutlich zu Und in Meinungsumfragen konnte man schon über Jahrzehnte je nach Kontext bis zu 50 Prozent Zustimmung zu der Aussage bekommen, das was die Israelis mit den Palästinensern machten, sei auch nichts anderes als das, was die Nazis mit den Juden gemacht hätten Der erst kürzlich verstorbene und allseits, auch von mir, hoch geschätzte Norbert Blüm hatte im Januar 2009 in einer hart aber fair Sendung unter Berufung auf die Erfahrung mit dem Nationalsozialismus die israelischen Menschenrechtsverletzungen im damaligen Gaza-Krieg, den er einen Vernichtungskrieg nannte, heftig verurteilt Als ihn Talkmaster Frank Plasberg darauf hinwies, dass das ein unzulässiger Vergleich sei, hielt Blüm daran fest Die unterschwellige Botschaft war ziemlich eindeutig: Wir Deutschen hätten unsere Lektion aus dem Holocaust gelernt, es werde Zeit, dass Israel (die Juden?) das auch tut (tun) Ich kann mich nicht an Sanktionen gegen Norbert Blüm erinnern 48 Oder kann sich irgendjemand vorstellen, dass ein deutscher politischer Beamter Günter Grass 2012 wegen seines völlig missratenen politischen Gedichts zu der schweren Nahost-Krise um die iranische Nuklearrüstung öffentliche Räume verboten hätte, weil dieses Gedicht tatsächlich eine Reihe mehr oder weniger offener antisemitischer und antiisraelischer Klischees bediente? Gewiss

47 48

Siehe das Interview mit Frau Sagy, Die WELT vom 15 Mai 2020 (www welt de/politik/ausland/ article 207972035/Antisemitismus-Vorwuerfe-Professorin-Shifra-Sagy-ueber-den-Fall-Mbembe html) Ich habe selbst im April 2009 in der Jüdischen Zeitung, einer kleinen Monatszeitung, die nur kurze Zeit bestanden hat, darauf hingewiesen; vgl auch Krell, History and Responsibility, S  55

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wurde das Gedicht in der Qualitätspresse und von den Fachleuten kritisiert, aber es bekam auch viel Zustimmung in der Öffentlichkeit 49 Zum zweiten richte ich die Frage an alle Kritiker überzogener Kritik an Israel, was denn ihre ständigen sanfteren Empfehlungen, Ratschläge oder Mahnungen erreicht haben In über 50 Jahren ist es Israels Freunden und Verbündeten nicht gelungen, seinen Siedlungskolonialismus zu zügeln, wenn sie ihn nicht sogar offen unterstützt haben So wäre vielleicht doch auch das offizielle Bild vom Nahost-Konflikt zu überprüfen, um Deutschlands Beziehung zu Israel unter den im Lande selbst und in der Region erheblich veränderten Verhältnissen weiterhin auf eine gesicherte und dauerhafte Basis zu stellen 50 Israel ist ein weltweit weithin anerkannter Staat und hat als solcher wie alle anderen ein selbstverständliches Recht darauf, in Sicherheit zu leben Israel ist außerdem aus einem Zufluchtsort für diskriminierte oder verfolgte Juden und für Überlebende des Holocaust entstanden bzw dazu geworden Übrigens auch, was die arabische Seite gerne verdrängt, für eine große Zahl von Juden, die wegen des Nahost-Konflikts aus arabisch oder islamisch geprägten Ländern in Nordafrika oder im Orient ausgewandert sind oder entschädigungslos vertrieben wurden Und drittens ist Israel ein Staat, der aus einem Siedlungskolonialismus hervorgegangen ist und der bislang nicht erkennen lässt, ob und wann er sein Kolonisationsprojekt zum Abschluss bringen will Aus diesen drei Dimensionen ergeben sich widersprüchliche Anforderungen an Deutschland Seit der Rede von Kanzlerin Angela Merkel in der Knesset vom 18 März 2008 gilt die Sicherheit Israels als Teil der deutschen Staatsraison Ganz abgesehen von der Ausgestaltung dieser Maxime und möglichen Kontroversen darüber stellt sich dabei aber doch die Frage, welches Israel damit konkret gemeint ist, geographisch und politisch Nach allgemeinem Verständnis gilt die deutsche Staatsraison nur für das israelische Kernland in den Grenzen von vor 1967 Wie unterscheidet Deutschland dann zwischen der Unterstützung des Kernlandes und dessen Sicherheit und den inzwischen annektierten und den noch nicht annektierten, aber besetzten Gebieten, zum Beispiel bei der Kooperation mit Israel beim Import von Waffen und der Nutzung von Kampfformen, die in den besetzten Gebieten erprobt wurden? Wie bei den wirtschaftlichen oder kulturellen Beziehungen? Nicht einmal aus dem Holocaust ergeben sich widerspruchsfreie Konsequenzen für Deutschlands Haltung gegenüber Israel So hat der israelische Autor und Regisseur Etgar Keret einmal darauf hingewiesen, die Deutschen seien gerade wegen des Holocaust verpflichtet, die Welt in einen sicheren

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Zur Analyse und Kritik von Grass’ Gedicht vgl Gert Krell / Harald Müller, Noch ein Krieg im Nahen Osten? Zum misslungen Anstoß von Günter Grass zu einer überfälligen öffentlichen Debatte, HSFK Report 2/2012, Frankfurt am Main 2012 Zu den Herausforderungen für die deutsche Debatte, die sich aus veränderten Konstellationen ergeben, vgl Omri Boehm, Neue Freunde: Netanjahu, die AfD und der Antisemitismus – Warum es für liberale Deutsche so schwierig ist, über Israel zu reden, SZ vom 27 Mai 2020, S  9

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Platz für alle Menschen zu verwandeln, nicht nur für Israelis Es wäre sogar eine Art Missachtung der Holocaust-Toten, wenn er die Deutschen gegenüber Israel verstummen ließe Moral bedeute nicht, höflich zu sein, sondern zu sagen, wenn etwas falsch sei 51 Was aber folgt daraus für das deutsche Verhältnis zu den Palästinensern? Immerhin hat der bekannte, 2016 verstorbene deutsch-amerikanische Historiker Fritz Stern das unter Palästinensern weit verbreitete Empfinden, sie seien indirekt Folgeopfer des Holocaust geworden, durchaus ernst genommen In seinen Erinnerungen schreibt er: Der Holocaust hatte den zionistischen Anspruch auf einen jüdischen Staat, auf Israel, moralisch unausweichlich und zu einer physischen Notwendigkeit gemacht, aber die Palästinenser, die 1948 ihre Heimat verloren, waren ebenfalls seine indirekten, nicht genügend anerkannten Opfer Manche Israelis waren wegen der Erinnerung an den europäischen Massenmord unnachgiebig gegenüber der Außenwelt, besonders gegenüber den Arabern, und die Folgen für die Palästinenser nährten den Zorn der Araber  – doch das Los der palästinensischen Flüchtlinge ließ die arabischen Länder praktisch ungerührt Hass und Argwohn, die sich gegenseitig verstärkten, erfüllten Nordafrika und den Nahen Osten 52

Aus diesem Zitat ergeben sich Verbindungen zu Mbembes Thesen über die Überblendungen des Nahost-Konflikts durch den Holocaust, die so viel Anstoß erregt haben Wenn man sie bei Achille Mbembe nicht ohne Verdacht auf Antisemitismus lesen will, dann aber doch bei Fritz Stern Noch mehr Verbindungen zu Mbembes anstößigen Passagen finden sich freilich in der dritten Dimension im Verhältnis zwischen Deutschland und Israel, denn ganz im Sinne seiner Analysen wird auch im Falle Israels im Westen, vor allem in den USA, aber auch in Deutschland, der kolonialistische Aspekt gerne klein geredet oder ganz verleugnet 53 So war in der deutschen Kontroverse um Mbembes antisemitische Aussagen wieder zu lesen, Israel könne gar kein Kolonialstaat sein oder gewesen sein, weil es kein koloniales Mutterland gab 54 Das wussten aber die Zionisten auch und deshalb haben sie nicht nur ihre eigene Siedlungsbewegung gegründet, sondern sich  – aus verschiedenen Gründen sehr erfolgreich  – auch um etablierte Kolonialstaaten als Verbündete bemüht Dann heißt es gelegentlich, Israel sei kein Kolonisationsprojekt gewesen, weil es sich doch um eine Rückkehr in früher schon von Juden besiedeltes Land gehandelt habe Auch das ist ein fragwürdiges Argument, ganz abgesehen davon, ob sich über so große Zeiträume

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Frankfurter Rundschau vom 17 März 2008, S  16 Fritz Stern, Fünf Deutschland und ein Leben: Erinnerungen, 6 Aufl , München 2007, S  441 Vgl dazu auch den eindringlichen Kommentar von Omri Boehm, „Ganz einfach unerwähnt“: Wer Frieden in Israel will, darf über die Vertreibungen der Palästinenser nicht schweigen“, SZ vom 7 September 2020, S  9 Vgl den Kommentar zur Kontroverse um Achille Mbembe von Stephan Grigat in der taz vom 10  Mai 2020

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überhaupt eine ethnonationale Kontinuität begründen lässt 55 Eine Staatenordnung als Rechtsordnung würde an territorialen Ansprüchen aus zurückliegenden Epochen zerbrechen, vor allem dann, wenn diese Territorien seit längerem von anderen Gruppen besiedelt sind Als nach dem Ersten Zionistischen Kongress 1897 in Basel die Wiener Rabbis zwei Vertreter auf eine Art Fact-Finding Mission nach Palästina schickten, um Theodor Herzls Ideen zu sondieren, kabelten diese nach Wien zurück: „Die Braut ist wunderschön, aber sie ist mit einem anderen Mann verheiratet “56 Dass sich der Jischuw (die vorstaatliche jüdische Gemeinschaft in Palästina) schließlich gegen sein eigenes koloniales Quasi-Mutterland Großbritannien wandte und es zum Rückzug aus Palästina zwang, hat ihm bzw Israel zwar eine Zeitlang Sympathien bei der Sowjetunion und bei Ländern im „Süden“ eingebracht, die 1947 eine wichtige Rolle im Entscheidungsprozess der Vereinten Nationen für die Teilung gespielt haben Aber die britische Mandatspolitik, die sich erst durch den heraufziehenden Krieg mit Nazi-Deutschland gegen die jüdische Einwanderung stellte, um die Araber an ihrer Seite oder jedenfalls still zu halten, bleibt eine zentrale Voraussetzung dafür, dass aus dieser Einwanderung ein eigener Staat werden konnte 57 Man darf nicht vergessen, dass die brutale Niederschlagung des arabischen Aufstands durch Großbritannien die palästinensische Seite so stark geschwächt hat, dass sie am Ende trotz der späten und wenig effektiven Unterstützung durch arabische Armeen gegen die jüdische Nationalbewegung und dann Israel keine Chance mehr hatte Außerdem ist die Wendung von Siedlungskolonien gegen ihr altes Mutterland oder entsprechende Schutzmächte bei weitem kein historischer Einzelfall Es führt kein Weg daran vorbei: Sowohl der historische Rückblick als auch die Selbstwahrnehmung und die Praxis des Zionismus verweisen auf die inzwischen eigentlich überlebte Figur des Siedlungskolonialismus Ohne den Kolonialismus und Imperialismus der Großmächte und den von diesen Großmächten dominierten Völkerbund hätte es keine Grundlegung für einen jüdisch geprägten Staat im damaligen Palästina gegeben Ich muss es hier bei einigen wenigen, aber doch eindeutigen Belegen belassen So verweise ich für die amerikanische Unterstützung des zionistischen Programms auf einen Satz von Woodrow Wilson, dem (prozionistischen) Präsidenten der USA zur Zeit des Ersten Weltkrieges, der deutlich macht, mit welcher Selbstverständlichkeit Vertreter der sogenannten fortgeschrittenen Länder damals noch in den von Mbembe so eindringlich beschriebenen Kategorien von weißer Vorherrschaft über die weniger zivilisierten Völker dachten Anlässlich einer Zusammenkunft mit

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Vgl dazu Shlomo Sand, Die Erfindung des Jüdischen Volkes: Israels Gründungsmythos auf dem Prüfstand, Berlin 2010 Zitiert nach Avi Shlaim, The Iron Wall: Israel and the Arab World, London-New York 2000, S   3 (meine Übersetzung aus dem Englischen) Vgl dazu Rashid Khalidi, The Iron Cage: The Story of the Palestinian Struggle for Statehood, Boston, Mass 2006

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führenden amerikanischen Zionisten im Zusammenhang mit den Friedensverhandlungen, bei denen es auch um das Erbe des Osmanischen Reiches gehen würde, teilte Wilson am 2 März 1919 Stephen Wise mit: „Don’t worry, Dr Wise, Palestine is yours “58 (Stephen Wise, ein amerikanischer Rabbiner und führender Zionist, hat maßgeblich an der Formulierung der Balfour-Erklärung mitgewirkt; von 1918–1920 war er Vizepräsident der Zionist Organization of America ) Auf ähnliche Weise entlarvend ist ein Memorandum von Lord Balfour vom September 1919, das erst dreißig Jahre später veröffentlicht wurde – vom britischen Außenminister Arthur Balfour stammt die soeben genannte Erklärung von 1917, mit der Großbritannien den Zionisten zusicherte, den Aufbau einer „jüdischen Heimstätte“ und damit letzten Endes eines jüdischen Staates in Palästina nachhaltig zu unterstützen: The contradiction between the letter of the Covenant (der Völkerbundssatzung, GK) and the policy of the Allies is even more flagrant in the case of the „independent nation“ of Palestine than in that of the „independent nation“ of Syria For in Palestine we do not propose even to go through the form of consulting the wishes of the present inhabitants of the country The four great powers are committed to Zionism And Zionism, be it right or wrong, good or bad, is rooted in age-long traditions, in present needs, in future hopes, of far profounder import than the desires and prejudices of the 700,000 Arabs who now inhabit that ancient land In my opinion that is right 59

David Ben-Gurion sah 1919 den grundlegenden Konflikt zwischen den Zionisten und den Arabern völlig klar, aber definierte ihn als eine nationale Frage Jeder erkenne das Problem in den Beziehungen zwischen den Juden und den Arabern; aber nicht jeder erkenne, dass dieses Problem keine Lösung habe Es gebe keine Lösung Der Interessenkonflikt zwischen den Juden und den Arabern in Palästina könne nicht durch Scheinargumente gelöst werden Er kenne keinen Araber, der damit einverstanden wäre, dass Palästina den Juden gehöre Das sei eine nationale Frage Die Juden wollten das Land für sich, und die Araber wollten das Land für sich 60 Als einen klassischen Kolonialkonflikt, der die militärische Überlegenheit der jüdischen Siedler (für einen Staat im gesamten Cis- und Transjordanien übrigens) erfordere, hat dann Wladimir

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59 60

Mehr dazu bei Gert Krell, Die USA, Israel und der Nahost-Konflikt: Studie über demokratische Außenpolitik im 20 Jahrhundert, HSFK-Report 14/2004, Frankfurt am Main 2004 Das Zitat von Wilson habe ich von Lawrence Davidson, America’s Palestine: Popular and Official Perceptions from Balfour to Israeli Statehood, Gainesville-Tallahassee-Tampa 2001, S  21, übernommen Im Zionismus haben sich die USA schon damals positiv gespiegelt gesehen (die Palästinenser als eine Variante der „Indianer“); und zwar auch auf der religiösen Ebene (die Juden als Vorposten im „Heiligen Land“ gegen die Araber und den Islam) Die Fortsetzung dieser Spiegelungen findet man bei Teilen der evangelikalen Klientel der republikanischen Partei und auch bei Donald Trump Ich zitiere das Memo nach Khalidi, The 100 Years’ War, S  38 Ich stütze mich hier auf Tom Segev, Es war einmal ein Palästina: Juden und Araber vor der Staatsgründung Israels, München 2005, S  129

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(Ze’ev) Jabotinsky, der Präsident der Revisionisten, einer Art Vorläufer des Likud, die Beziehungen zwischen Juden und Arabern in Palästina in einem Beitrag mit dem Titel The Iron Wall interpretiert, der zuerst 1923 auf Russisch erschienen ist: It is utterly impossible to obtain the voluntary consent of the Palestine Arabs for converting ‚Palestine‘ from an Arab country into a country with a Jewish majority (…) I suggest that my readers consider all the precedents with which they are acquainted, and see whether there is one solitary instance of any colonization being carried on with the consent of the native population There is no such precedent The native populations (…) have always stubbornly resisted the colonists 61

Es ist erstaunlich, wie wenig Differenzen sich zwischen diesen Selbstbeschreibungen auf der jüdischen Seite und einer Gesamteinschätzung der Mandatszeit durch einen der bekanntesten palästinensischen Historiker ergeben: For the Palestinians to accept such an idea (of a national home in Palestine for what they saw as another people, GK) in some form would certainly have removed or at least weakened the ludicrous but widely believed accusations that they were motivated by no more than anti-Semitism in their opposition to Zionism, rather than just being a colonized people trying to defend their majority status and achieve independence in their own country (…) It is important to understand in his regard that Palestinians did not see Jewish immigrants to Palestine primarily as refuges from persecution, as they were seen by most of the rest of the world They saw them instead as arrogant European interlopers, who did not accept that the Palestinians were a people or had national rights in their own country, believed that Palestine instead belonged to them and were coldly determined to make that belief into a reality 62

Welche Konsequenzen für seine Außenpolitik gegenüber Israel und dem NahostKonflikt sollte Deutschland ziehen auf dem Hintergrund dieser komplizierten und widersprüchlichen Voraussetzungen? Eine einfache Antwort darauf wird es nicht geben, aber ich schlage vor, sich an einer Lageanalyse von Micha Brumlik zu orientieren Der Vergleich zwischen den im Zuge des Kolonialismus entstandenen europäischen Staatsgründungen an der – von Europa aus gesehen – Peripherie und dem zionistischen Kolonisationsprojekt, das sich auf das symbolische Herz dreier Weltreligionen und einer bereits bestehenden Großmacht, des Osmanischen Reiches, bezogen habe, 61

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Vladimir Jabotinsky, The Iron Wall, The Jewish Herald vom 4 November 1923 (www jewish-virtual library org/quot-the-iron-wall-quot) Zu Jabotinsky, der Intellektueller und Schriftsteller war, sich politisch an Mussolini, Salazar und Dollfuss orientierte und entschieden für den (europäischen) Kolonialismus eintrat, vgl Shlomo Avineri, Profile des Zionismus: Die geistigen Ursprünge des Staates Israel, Gütersloh 1998, S  187–213 Für Jabotinsky war es übrigens selbstverständlich, dass auch Opfer Täter sein oder werden können (ebd , S  191–192); das war Teil seiner politischen Erfahrungen in Osteuropa und seines „realistischen“ und machtorientierten Weltbilds Rashid Khalidi, The Iron Cage, S  120–121

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möge erklären, so schreibt er, warum – wiederum im Unterschied zu den Amerikas und Ozeanien – diese Staatsbildung nicht ohne Zustimmung der dort ansässigen Gesellschaften ein für allemal abgeschlossen werden könne Das gelte umso mehr, als Israel gegründet wurde, als das Zeitalter des Kolonialismus mit der indischen Unabhängigkeit schon auf sein Ende zuging 63 Akzeptiert man Brumliks Deutung als Grundlegung für eine dauerhafte Verregelung des Nahost-Konflikts, die ja im Sinne Israels wäre, dann müsste man auch der anderen Seite, deren Zustimmung man ja nicht einfach so voraussetzen kann, etwas anbieten Der erste und wichtigste Teil eines solchen Angebots könnte sein, wenigstens einen Endpunkt des israelischen Siedlungsprozesses und der damit verbundenen Ausübung ungerechter Herrschaft in Aussicht zu stellen mit der Perspektive eines bekräftigten wechselseitigen Gewaltverzichts und weiterer Verhandlungen über eine echte Zwei-Staaten-Lösung Und wenn diese Lösung nicht mehr möglich ist, dann wären – auch von Deutschland (und Europa) – andere demokratische Optionen ins Spiel zu bringen Die schon erwähnte Utopie Omri Boehms zielt auf eine Konföderation zweiter binationaler Staaten, für die er Anknüpfungspunkte im frühen Zionismus findet; nicht nur bei Brit-Schalom, einem Friedensbund deutschsprachiger jüdischer Intellektueller, sondern sogar bei Theodor Herzl und Wladimir Jabotinsky selbst, vor allem aber beim Begin-Plan von 1977, dem die Knesset sogar mehrheitlich zugestimmt hat In diesem Entwurf, allerdings für ein demokratisches Groß-Israel, hieß es immerhin in Punkt 15: Einwohnern Judäas, Samarias und des Gaza-Distrikts, die sich gemäß der ihnen gewährten Option für die israelische Staatsangehörigkeit entscheiden, wird in Übereinstimmung mit dem Wahlrecht die Ausübung des aktiven und passiven Wahlrechts für die Knesset zustehen

Außerdem wurde den arabischen Einwohnern zugestanden – und das war im Rahmen zionistischer Bodenpolitik wahrhaftig revolutionär –, in Israel Land zu erwerben und sich dort niederzulassen 64 Die jüngste diplomatische Annäherung mit weiteren arabischen Staaten scheint den nationalkonservativen Kräften in Israel Recht zu geben, die darauf setzen, mit der arabischen Welt Frieden zu schließen und dabei die palästinensische Frage auszuklammern Aber der neue Deal klärt nicht, wie Israelis und Palästinenser auf Dauer zusammenleben können 65 Ohne eine binationale Perspektive bliebe für einen Ausstieg aus 63 64 65

Micha Brumlik, Kritik des Zionismus, Hamburg 2007, S  146 und 148 Boehm, Israel – eine Utopie, hier S  205 ff , das Zitat auf S  207 Eine binationale Einstaatlichkeit gleichberechtigter Staatsbürger bringt schon Reinhard ins Spiel: Die Unterwerfung der Welt, S  1250–1251, am Ende des Unterkapitels über „Israel – die letzte Siedlerkolonie des Westens?“ Der israelische Autor Nir Baram meinte in einem Interview auf die Frage, welchen Zeitraum er für einen Prozess des Zusammenwachsens zwischen Israel und den Palästinensern ansetzen würde: „Das Problem besteht darin, dass die Israelis im Augenblick nicht mal das Problem sehen Noch

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der kolonialen Dimension des zionistischen Projekts nur die Beschränkung auf das Kernland Israel (evtl mit vereinbartem Gebietsaustausch) Für diese Sichtweise berufe ich mich abschließend auf Dan Diner, der eine der besten Analysen überhaupt zum Nahost-Konflikt geschrieben hat, die es ebenfalls ermöglichen würde, den Widerspruch zwischen konkurrierenden Anforderungen aufzulösen, die sich einerseits aus dem Holocaust, andererseits aus einer antikolonialistischen Haltung ergeben Diner kommt in seiner Analyse des Konflikttyps zu einem wenig beruhigenden Befund, was konventionelle Lösungsvorstellungen angehe Wir hätten es einmal mit einem nationalen Konflikt zu tun, gleichzeitig aber mit einem nationalen Konflikt kolonialen Charakters Seinen nationalen bzw territorialen Anteilen und der mit diesen Anteilen verbundenen symmetrischen Vorstellung vom Konflikt nach – Nation gegen Nation – ließe sich dieser durch eine Teilung des Landes lösen Seinen kolonialen Anteilen nach aber unterlaufe der Konflikt alle Vorstellungen von kompromissfähiger Territorialität Die tiefe Schuld des Westens als säkularer Christenheit gegenüber den Juden, nicht nur aber vor allem wegen des Holocaust, gehe dahin, dass ihnen so etwas wie eine nationale Heimstätte prinzipiell nicht versagt werden könne Dabei handele es sich weniger um ein universell einklagbares Recht als um ein Privileg, das aus einer besonderen, ja exzeptionellen Lage erwachsen sei Eine einseitige Inkorporation weiterer arabischer Gebiete über die Waffenstillstandslinien von 1949 hinaus würde von einer solchen, auf der jüdischen Erfahrung der Vernichtung beruhenden Rechtfertigung des Gemeinwesens nicht mehr gedeckt 66 Wenn aber eine Beschränkung israelischer Staatlichkeit auf die Grenzen von 1949 inzwischen nicht mehr möglich und eine demokratische Einstaatlichkeit oder eine Art binationale Konföderation als Alternative vorerst utopisch ist, dann bliebe es beim dynamischen Status quo der kolonialen Besatzung, die auch so benannt werden dürfte, ohne dass diese Benennung als antisemitisch zu charakterisieren wäre Dieser Status quo aber, so die bedrückende Schlussfolgerung des israelischen Journalisten und Romanautors Nir Baram aus seinen vielen Begegnungen entlang der Grünen Grenze, der Trennmauer oder in der West Bank aus den Jahren 2014/2015, bedeute eine konkrete Gefahr für alle diejenigen, die nicht in einem Apartheidstaat leben wollten Das Modell einer Trennung zwischen Juden und Palästinensern sei geographisch, demographisch, politisch und auch moralisch längst überholt Bei der Frage, welches politische Modell das der Trennung ersetzen könne, müsse man in einer mutigen und sachlichen Auseinandersetzung mit dem Krieg von 1948 und der palästinensischen Nakba begin-

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drängt es sie nicht zu einer Lösung “ („Meinetwegen Israel-Palästina“: Der israelische Autor Nir Baram und die palästinensische Menschenrechtlerin Nivine Sandouka reden in Jerusalem über Frieden im Nahen Osten nach dem Ende der Zweistaatenlösung, SZ vom 17 September 2020, S  11 ) Vgl Dan Diner, Der Sarkophag zeigt Risse: Über Israel, Palästina und die Frage eines „neuen Antisemitismus“, in: Christian Heilbronn / Doron Rabinovici / Natan Sznaider, Neuer Antisemitismus: Fortsetzung einer globalen Debatte, Berlin 2019, S, 459–488 Der Aufsatz ist zuerst 2004 erschienen

Zwischen Holocausttrauma und Siedlungskolonialismus

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nen – ich würde ergänzen, dass man auch 1917 nicht auslassen darf –, gefolgt von einer kritischen Beschäftigung mit der Besetzung von 1967 und schließlich mit einer Bestandsaufnahme der heute auf der Westbank bestehenden Realität 67 Wer diese heutige Realität unvoreingenommen zur Kenntnis nimmt, der wird nicht umhin kommen, offen artikulierten Widerspruch oder Protest der Betroffenen dagegen und das Sympathisieren mit dem Grundanliegen dieses Protests zu respektieren und ihn nicht von vornherein als antisemitisch einstufen, und zwar ganz unabhängig davon, ob alle konkreten Forderungen jeweils als angemessen oder ausgewogen gelten können Die Grenzen einer solchen Tolerierung blieben in Deutschland diejenigen, die für alle gelten, die sich hier politisch artikulieren: Gewaltfreiheit, keine Hetze gegen Israel und keine antisemitischen Parolen Die Politiker, die den Beschluss gegen die BDS-Bewegung und ihre Sympathisanten gefasst haben, und die Journalisten, Intellektuellen und Bürgerinnen und Bürger, die ihn für richtig halten, sollten einmal darüber nachdenken, welche Konsequenzen sie damit in Kauf nehmen Da werden Preisverleihungen zurückgezogen, angekündigte Konzerte wieder abgesagt, Einladungen zu Vorträgen zurückgenommen; werden nicht nur große Teile der palästinensischen Zivilgesellschaft übergangen, sondern auch viele Juden, die sich für Gerechtigkeit im Nahen Osten engagieren, wird israelisch-palästinensischen und anderen Diskussionsgruppen in Deutschland die Nutzung kommunaler Räume untersagt, was Auswirkungen auf die Vergabe gewerblicher Räume hat, und das alles nur auf der Grundlage einer erklärten Nähe, der Sympathie oder auch des bloßen Verdachts der Nähe zu einer sehr heterogenen Bewegung, die sich vorrangig gegen die Diskriminierung eines Volkes und die Besetzung und Annexion von Teilen des ihnen völkerrechtlich zugesprochenen Territoriums wendet Das schließt ja keineswegs aus, dass man sich bestimmten konkreten Positionen, Haltungen und Aktionen von BDS-Anhängern entgegenstellt Und schon gar nicht sollten offizielle Vertreter Deutschlands Experten, die sich mit Kolonialismus aus der Sicht der Betroffenen gut auskennen und die mit dem Holocaust historisch gar nichts zu tun haben, wegen vermeintlich antisemitischer, tatsächlich aber wenn auch zum Teil deutlich überzogener kolonialismuskritischer Aussagen über Israels Verhältnis zu den Palästinensern öffentlich anprangern; erst recht nicht angesichts einer Situation, in der Israel die Besatzung von Teilen des durch Siedlungen immer weiter kolonialisierten Westjordanlandes und die Blockade von Gaza sowie die damit verbundenen Menschenrechtsverletzungen auf Dauer stellt oder sogar intensi-

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Baram, Im Land der Verzweiflung, S  315 Barams reichhaltige und vielseitige „oral history“ des Konflikts mit Schwerpunkt auf 2014 eröffnet einige hoffnungsvolle Perspektiven, auch dort, wo man sie nicht unbedingt erwarten würde; sie stimmt aber alles in allem eher pessimistisch, dass es in absehbarer Zeit gelingen könnte, das Andauern der „Dämonenzeit“ im israelisch-palästinensischen Konflikt zu beenden

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viert 68 Was den von Mbembe veranlassten Boykott und die damit verbundene Ausladung einer bereits zu einer Konferenz eingeladenen israelischen Friedensaktivistin angeht, so hätten sich diejenigen Verantwortlichen, die ihn zum Eröffnungsvortrag für die Ruhrfestspiele eingeladen haben, rechtzeitig in Rück- und Absprache mit ihm Klarheit über diesen Sachverhalt verschaffen und gegebenenfalls eigene Konsequenzen ziehen müssen Statt sich in solche Angelegenheiten gleichsam von Staats wegen einzumischen, sollte Deutschland auf Bundesebene lieber zusehen, dass es bei berechtigten Anliegen von afrikanischen Intellektuellen wie der Aufarbeitung seiner eigenen kolonialen Vergangenheit (Entschädigungen für die Nachkommen der Ermordeten, Restitution von Raubgütern, eine angemessene Kultur der Erinnerung und Würdigung), bei der Beseitigung ungerechter Wirtschaftsbeziehungen und der Ausbeutung ausländischer Arbeiterinnen und Arbeiter im eigenen Land ebenso wie im Ausland und bei der Überwindung von institutionellem Rassismus und dessen Verleugnung vorankommt Zusammenfassung In Israel kreuzen sich zwei große moralische Narrative des 20 Jahrhunderts, die häufig zu entgegengesetzten Sichtweisen führen: der Holocaust und der Kolonialismus Der afrikanische postkolonialistische Denker Achille Mbembe bekam das zu spüren, als er wegen vermeintlich antisemitischer Aussagen in seinen Schriften als Gastredner zur Eröffnung der Ruhrfestspiele 2019 wieder ausgeladen wurde Ich setze mich hier sowohl mit Mbembes Kritik an den westlichen Demokratien als auch mit seiner harschen Einstellung zur israelischen Politik gegenüber den Palästinensern auseinander Ich komme zu dem Ergebnis, dass er auf beiden Gebieten überzieht, bleibe aber dabei, dass er sich zwar teilweise israelfeindlich, nicht aber antisemitisch äußert In der von ihm veranlassten Ausladung einer israelischen Psychologie-Professorin und Friedensaktivistin, die schon zu einer Konferenz in Südafrika eingeladen war, sehe ich den größeren Fehlgriff, auf den diejenigen, die ihn als Redner für die Ruhrfestspiele eingeladen haben, hätten eingehen müssen

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Vgl dazu auch den vorzüglichen Artikel von Ralf Michaels, Deutschstunde für alle Welt: Denkverbot im Namen der Erinnerungskultur Die Debatte um Achille Mbembe kommt nicht zur Sache – und zeigt dadurch, wie nötig die Kritik der kolonialen Denkungsart ist, FAZ vom 8 Juni 2020, S  11

Forum

Das Projekt „Neustadt an der Weinstraße und der Nationalsozialismus“ Markus Raasch Das vom Arbeitsbereich Zeitgeschichte (Prof Dr Michael Kißener) der Johannes Gutenberg-Universität Mainz verantwortete Projekt „Neustadt an der Weinstraße und der Nationalsozialismus“ ist außergewöhnlich Es erprobt ein innovatives historiografisches Modell, das traditionelle Herangehensweisen mit den Anforderungen des 21 Jahrhunderts in Einklang zu bringen versucht Deshalb ist es mehrdimensional angelegt Seit Dezember 2017 wurde mehr als zwei Jahre lang europaweit geforscht und dann zunächst in Anlehnung an die aktuelle Volksgemeinschaftsforschung ein wissenschaftliches Buch verfasst 1 Darauf aufbauend wurde eine Ausstellung konzipiert, die vom 12 Dezember 2020 bis 31 Januar 2021 in der Villa Böhm in Neustadt aufgebaut war2, und schließlich eine multimediale Homepage erstellt3 Letztere bietet eine einmalige Zusammenschau der digitalisierten Ausstellung sowie eines Lexikons, eines Zeitzeug*innenarchivs und eines Schulbuches zur Neustadter NS-Geschichte Im Folgenden möchte ich Anlage und Ausflüsse des Projektes kurz vorstellen 1. Der wissenschaftliche Zugriff Zweifelsohne wissen wir viel über den Nationalsozialismus Keine Epoche der deutschen Geschichte ist derart intensiv beforscht worden wie die NS-Zeit Veröffentlichungen über den Nationalsozialismus füllen längst Bibliotheken und dennoch: Es gibt immer noch „weiße Flecken“ Darüber, wie die totalitäre Diktatur im Alltag funktioniert, was sie mit den Menschen gemacht, wie sie vor Ort Leben verändert und

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Markus Raasch (Hrsg ), Volksgemeinschaft in der Gauhauptstadt Neustadt an der Weinstraße und der Nationalsozialismus Münster 2020 Dieser Beitrag wurde im November 2020 verfasst Zu diesem Zeitpunkt war wegen der Coronapandemie nicht vorhersehbar, ob die Ausstellung besucht werden kann https://neustadt-und-nationalsozialismus uni-mainz de/

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zerstört hat, wie der Nationalsozialismus und seine Vorstellungswelten das Denken und Handeln geprägt haben – zwischen 1933 und 1945 und über das „Dritte Reich“ hinaus – davon wissen wir immer noch wenig Über den lokalspezifischen Umgang mit und gegen die Anforderungen des totalen Staates, über den Zusammenhang von privatem (Un-)Glück und kollektiven Verbrechen, über Ausmaß, Formen und (Langzeit-)Wirkung von Zuspruch und Zurückweisung, Mittun und Verweigern, Zuwenden und Wegsehen sind wir bis heute lediglich begrenzt informiert Über bestimmte Regionen wissen wir in Bezug auf eine solche Sozialgeschichte des Alltags im Nationalsozialismus eigentlich gar nichts und tatsächlich gibt es auch immer noch Städte in Deutschland, in deren Geschichten die NS-Zeit bisher nicht oder allenfalls am Rande vorkommt 4 Hier setzt das Projekt an, wobei es davon ausgeht, dass Gesellschaft und Staat keine statischen Größen sind, sondern dass eine Annäherung an die Wirklichkeit des „Dritten Reiches“ lediglich durch ein Verstehen ihrer gegenseitigen Interaktion, durch Einsicht in die jeweiligen Wandlungs-, Adaptations- und Abstoßungsprozesse möglich ist Es geht darum zu fragen: Wie hat der Nationalsozialismus praktisch funktioniert? Welche Handlungsdynamiken, Rituale, Verhaltensmuster und -regeln, welche Formen und Auswirkungen von (Selbst-)Mobilisierung ergaben sich aus den Normen des NS-Staates? Welche sozialen Auf- und Abstiegsprozesse waren damit verbunden? Welche Strategien wählte das Regime, um sich Legitimität zu verschaffen? Wie durchschlagend waren die Bemühungen? Welche Entwicklungen sind dabei festzustellen – kurz- und langfristig? Für eine solche Untersuchung besitzt kein Terminus ein derart analytisches Potential wie der Begriff der Volksgemeinschaft Zweifelsohne reichen die Wurzeln die Volksgemeinschaftsidee in Deutschland bis in die Napoleonische Zeit zurück Ihr Aufstieg ist jedoch vor allem Produkt der Wende vom 19 zum 20 Jahrhundert und maßgeblich mit den komplexen Spanungslagen seiner Zeit verbunden, die gleichermaßen von Technisierung, Globalisierung, Medialisierung und Liberalisierung wie von Fortschrittsangst, Krisenstimmungen, Überforderungsgefühlen und Sehnsüchten nach gesellschaftlichem Zusammenhalt geprägt war 5 Die Volksgemeinschaft sollte Abhilfe schaffen und den Gegenentwurf zur Komplexität der modernen Gesellschaft liefern Sie stand für Vereinfachung, für die Hoffnung auf soziale Harmonie und zielte auf eine ethnisch gefasste Gemeinschaft, deren Interessen höher zu bewerten seien als jene des Individuums, eine Gemeinschaft, die derart geeint im „Überlebenskampf der Völker“ über bessere Chancen verfüge Sicherlich fand eine solche Vorstellung bei den Radikalnationalisten, also zum Beispiel im

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Dietmar von Reeken / Malte Thießen, Einleitung, in: Dies (Hrsg ), „Volksgemeinschaft“ als soziale Praxis Neue Forschungen zur NS-Gesellschaft vor Ort Paderborn 2013, 11–36, hier 14 Zur Geschichte des Begriffs zum Beispiel Peter Schyga, Über die Volksgemeinschaft der Deutschen Begriff und historische Wirklichkeit jenseits historiographischer Gegenwartsmoden BadenBaden 2015, 38–60

Das Projekt „Neustadt an der Weinstraße und der Nationalsozialismus“

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Alldeutschen Verband, besondere Verbreitung 6 Jedoch war die Idee der Volkgemeinschaft lange Zeit politisch uneindeutig Dies galt insbesondere nach 1914, als so viele in der teils realen, teils fiktiven Kriegsbegeisterung der Deutschen ein „Augusterlebnis“ erkannten, die Utopie des klassenlosen, von Sonderinteressen befreiten Gemeinwesens zumindest für kurze Zeit verwirklicht schien und der Gedanke der Volksgemeinschaft in der Folge zu einer, wenn nicht der prägenden, politischen Denkfigur aufstieg 7 Zumal auch im internationalen Kontext, etwa in den USA oder in Skandinavien, politische Konzepte der Vergemeinschaftung florierten,8 vermochte sich kaum jemand ihrer Strahlkraft zu entziehen Unternehmer sprachen genauso von der Volksgemeinschaft wie Bischöfe und selbst Vertreter der politischen Linken waren sich sicher, dass Sozialismus […] keineswegs das Ende, sondern die Vollendung der nationalen Gemeinschaft, nicht die Vernichtung der nationalen Volksgemeinschaft durch die Klasse, sondern die Vernichtung der Klasse durch die wahrhaft nationale Volksgemeinschaft

bedeute 9 Die Volksgemeinschaft war also spätestens in den 1920er Jahren allgegenwärtig und zugleich politisch höchst variabel – zwei Umstände, die es dem Nationalsozialismus erheblich erleichterten, unter ihrer Überschrift ein wirkungsmächtiges Programmangebot zu machen und zwar just zu dem Zeitpunkt, als sich die allgemeinen Krisen- und Entfremdungsgefühle gegenüber dem „modernen Staat“ angesichts der Weltwirtschaftskrise, der Regierungsunfähigkeit der demokratischen Parteien und der bürgerkriegsähnlichen Gewalt auf den Straßen gleichsam entgrenzten 10 Zweifelsohne kannte der Nationalsozialismus keine einheitliche, verbindliche Weltanschauung Bestimmte Ideologeme, die auf Hitlers Ausführungen in „Mein Kampf “ gründeten, galten aber als handlungsleitend 11 An erster Stelle stand die Unterscheidung von „wertvollem“ und „minderwertigem“ Leben Denn das herrschende Weltbild war sozial-biologisch, unterschied Menschen und Völker nach ihrer angeblich rassischen Herkunft und „Wertigkeit“ und leitete daraus einen unterschiedlichen Anspruch auf 6 7

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Z B Johannes Leicht, Biopolitik, Germanisierung und Kolonisation Alldeutsche Ordnungsutopien einer ethnisch homogenen „Volksgemeinschaft“, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 19, 2010, 151–177 Jörn Retterath, „Was ist das Volk?“ „Volk“ im Übergang vom Kaiserreich zur Weimarer Republik Volks- und Gemeinschaftskonzepte der politischen Mitte in Deutschland 1917–1924 Berlin u a 2016, 67–132; Michael Wildt, Die Ungleichheit des Volkes „Volksgemeinschaft“ in der politischen Kommunikation der Weimarer Republik, in: Frank Bajohr  / Ders (Hrsg ), Volksgemeinschaft Neue Forschungen zur Gesellschaft des Nationalsozialismus Frankfurt a M 2009, 24–40 Thomas Etzemüller, Total, aber nicht totalitär Die schwedische „Volksgemeinschaft“, in: Frank Bajohr / Michael Wildt, Volksgemeinschaft (wie Anm  7), 41–59 Hermann Heller, zitiert nach Wildt, Die Ungleichheit (wie Anm  7), 33 Prägnant dazu: Andreas Wirsching, Die Weimarer Republik Politik und Gesellschaft München 2008, 31–46 Für eine konzise Interpretation von „Mein Kampf “: Barbara Zehnpfennig, Hitlers Mein Kampf Eine Interpretation 3 Aufl München 2006; Dies , Adolf Hitler, Mein Kampf Weltanschauung und Programm: Studienkommentar 2 Aufl München 2011

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Lebensrecht ab Im Sinne Hitlers fasste der Nationalsozialismus den Krieg der „Rassen“ um Lebensraum, insbesondere des vermeintlichen Kulturträgers „Arier“ und des Kulturzerstörers „Jude“, als überzeitliches Kennzeichen des Daseins auf, und er glaubte, dass in seiner Gegenwart „die große, letzte Revolution“12, das heißt der Endkampf der „Rassen“ bevorstehe Daher sah es die NSDAP als wesentlichste Aufgabe an, einen Staat zu schaffen, der diesen Endkampf erfolgreich führt Jener Staat sollte alles „rassisch Minderwertige“ ausmerzen und eine „reinrassige“, erbbiologisch „gesunde Volksgemeinschaft“ hervorbringen In dieser waren wunschgemäß alle gesellschaftlichen Gegensätze aufgehoben, sie sollte nach Wettbewerb und Leistung funktionieren und die „Volksgenossen“ in umfänglicher Hinsicht sozial privilegieren Dazu gehörte, sie von der Exklusion alles „Gemeinschaftsfremden“, das heißt vom Kampf gegen politisch Andersdenkende, gegen „Homosexuelle“, „Asoziale“, „Behinderte“, „Zigeuner“ oder „Juden“, mithin den „Schädlinge[n] an der Volksgemeinschaft“13, profitieren zu lassen Denn der soziale Aufstieg der „Volksgenossen“ und die soziale Aussonderung der „Anderen“ wurden stets zusammen gedacht Diese Idee der Volksgemeinschaft bildete – so hat es der Urvater der deutschen Politikwissenschaft Ernst Fraenkel schon in den 1940er Jahren formuliert – „die höchste Stelle im nationalsozialistischen Wertesystem“ 14 Alle Versuche des NS-Regimes, die Loyalität der Bevölkerung zu gewinnen, gründeten in entscheidender Weise auf ihr Hier setzte die Volksgemeinschaftsforschung an 15 Sie ist der Überzeugung, dass sich das „Dritte Reich“ bedingt über die Absichten und Handlungen der NS-Füh12 13 14 15

Christian Hartmann u a (Hrsg ), Hitler, Mein Kampf Eine kritische Edition München/Berlin 2016, Buch 1, Kapitel 11, 346 Eberhard Jäckel / Axel Kuhn (Bearb ), Adolf Hitler Sämtliche Aufzeichnungen 1905–1924 Stuttgart 1980, 190 Ernst Fraenkel, zitiert nach Manfred Gailus  / Armin Nolzen, Einleitung Viele konkurrierende Gläubigkeiten  – aber eine „Volksgemeinschaft“?, in: Dies (Hrsg ), Zerstrittene „Volksgemeinschaft“ Glaube, Konfession und Religion im Nationalsozialismus Göttingen 2011, 7–33, hier 18 Obwohl immer wieder Kritik an der Volksgemeinschaftsforschung geäußert wird, prägt sie heute die historiografische Auseinandersetzung mit der NS-Zeit Kaum eine einschlägige Publikation kommt ohne Bezug zur Volksgemeinschaft aus Scharf ablehnend stehen diesem Forschungsparadigma zum Beispiel gegenüber: Rudolf Tschirbs, Das Phantom der Volksgemeinschaft Ein kritischer Literatur- und Quellenbericht Düsseldorf 2015; Schyga, Über die Volksgemeinschaft (wie Anm   5); Hans Mommsen, Der Mythos der Volksgemeinschaft Die Auflösung der bürgerlichen Nation, in: Ders (Hrsg ), Zur Geschichte Deutschlands im 20 Jahrhundert Demokratie, Diktatur, Widerstand München 2010, 162–174 Etwas konzilianter fällt die Kritik aus bei Ian Kershaw, „Volksgemeinschaft“ Potenzial und Grenzen eines neuen Forschungskonzepts, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 59, 2011, 1–17 Aus der Vielzahl an neueren Studien zur Volksgemeinschaft seien nur genannt: Michael Wildt, Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung Gewalt gegen Juden in der deutschen Provinz 1919 bis 1939 Hamburg 2007; Frank Bajohr / Michael Wildt, Volksgemeinschaft (wie Anm   7); Detlef Schmiechen-Ackermann (Hrsg ), „Volksgemeinschaft“ Mythos, wirkungsmächtige soziale Verheißung oder soziale Realität im „Dritten Reich“? Paderborn 2012; Martina Steber / Bernhard Gotto (Hrsg ), Visions of Community in Nazi Germany Social Engineering and Private Lives Oxford 2014; Reeken/Thießen, „Volksgemeinschaft“ (wie Anm   4); Uwe Danker  / Astrid Schwabe (Hrsg ), Die NS-Volksgemeinschaft Zeitgenössische Verheißung, analytisches

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rer – ob auf Reichs- oder Ortsebene – verstehen lässt Zugleich weiß sie um die Bedeutung institutioneller Eingriffe Ihr oberstes Interesse ist aber, hinter Programme, Reden, Organisationen, Gesetze oder Verordnungen zu schauen Sie möchte vor allem das alltägliche Leben mit diesen untersuchen, um Vorgänge wie „Machtergreifung“, „Gleichschaltung“, „Verfolgung“ oder „Widerstand“ besser verstehen und ein vertieftes Verständnis nationalsozialistischer Herrschaft zu erhalten Deshalb erhebt sie den Quellenbegriff Volksgemeinschaft zur Analysekategorie Sie geht mithin davon aus, dass Volksgemeinschaft 1 das zentrale Sinnstiftungsangebot des Nationalsozialismus umschreibt 2 kein gesellschaftliches Handlungsfeld – von der Erziehung über die Wirtschaft bis zu Kultur und Sport – unberührt ließ 3 als politischer Ordnungsbegriff und Zukunftsversprechen überaus vage war, in seinen zentralen Botschaften – das individuelle Glück hängt an der rassisch gedachten Gemeinschaft, alles was nicht zur rassisch gedachten Gemeinschaft passt, muss gewaltsam ausgesondert werden, die Gemeinschaft profitiert von der Aussonderung des „Gemeinschaftsfremden“ – jedoch sehr klar 4 Appellcharakter besaß: Volksgemeinschaft war nicht einfach da, sie musste im Alltag – im Berufsleben, im Verein, in der Schule, in der Nachbarschaft, in der Familie – „gemacht“, „gestaltet“, „erkämpft“ und „verteidigt“ werden Wer also verstehen möchte, was der Nationalsozialismus mit den Menschen machte, auf welche Weise, mit welchem Erfolg und mit welchen Auswirkungen er die Bevölkerung mobilisierte, welche sozialen Dynamiken er wann und mit welchen Folgen in Gang setzte bzw zum Erliegen brachte, findet in der sozialen Praxis der Volksgemeinschaft eine zentrale Anlaufstelle 2. Der Untersuchungsgegenstand Die Pfalz und namentlich Neustadt an der Weinstraße bilden für eine solche Sozialgeschichte des Alltags im Nationalsozialismus einen besonders interessanten Untersuchungsgegenstand Dies hängt zunächst mit der speziellen Topografie zusammen: Die Pfalz war seit 1816 eine Exklave des Königreichs Bayern und zugleich deutsche Grenzregion Zwischen Neustadt und München lagen mehr als 280 Kilometer, während

Konzept und ein Schlüssel zum historischen Lernen? Göttingen 2017; Michael Kißener / Andreas Roth, Notare in der nationalsozialistischen „Volksgemeinschaft“ Das westfälische Anwaltsnotariat 1933–1945 Baden-Baden 2017; Detlef Schmiechen-Ackermann (Hrsg ), Der Ort der „Volksgemeinschaft“ in der deutschen Gesellschaftsgeschichte Leiden u a 2018; Anette Blaschke, Zwischen „Dorfgemeinschaft“ und „Volksgemeinschaft“ Landbevölkerung und ländliche Lebenswelten im Nationalsozialismus Paderborn 2018

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Straßburg keine 90 Kilometer und die französische Grenze nicht einmal 40 Kilometer entfernt war Die Pfalz war der mit Abstand am dichtesten besiedelte Regierungsbezirk Bayerns, jedoch lebten in bestimmten Gegenden, etwa dem Pfälzer Wald oder der Westpfalz, verhältnismäßig wenige Menschen In Teilen konnte die Region als hochindustrialisiert gelten, weil vor allem das dichte Eisenbahnnetz und der Rhein als wichtigste Wasserstraße Europas überaus günstige Standortfaktoren boten Demgegenüber stand aber die agrarische Prägung weiter pfälzischer Gebiete, in denen insbesondere Forstwirtschaft und der für das Selbstverständnis der Region so wichtige Weinbau eine hervorgehobene Rolle spielten Neustadt bot gleichsam den regionalen Querschnitt, was schon die zentrale Lage des Landkreises indizierte Die Stadt besaß eine günstige Verkehrsanbindung und hatte am Beginn der 1930er Jahre knapp 22 000 Einwohner Sie war stark von Handel und Dienstleistungen geprägt, der Weinbau und noch stärker der Weinhandel besaßen eine beachtliche, indes keinesfalls eminente wirtschaftliche Bedeutung So waren über 40 Prozent der örtlichen Beschäftigten im produzierenden Gewerbe tätig und das Neustadter Stadtbild prägten neben großen Einkaufsstraßen und bürgerlichen Villenvierteln auch etliche Industrieflächen und Arbeitersiedlungen 16 Der sozialen Vielgestaltigkeit entsprach die konfessionelle Inhomogenität So zählte die Stadt Neustadt am 1  Januar 1934 13 739 Protestanten und 8 339 Katholiken 17 Der Anteil der jüdischen Bevölkerung lag sogar über dem Mittel der Pfalz, wo 1933 schätzungsweise 7 500 Juden in 65 Gemeinden lebten 18 Während im Jahre 1900 noch 397 Juden in Neustadt wohnhaft waren (2,2 Prozent), machte der Anteil der jüdischen Bevölkerung 1933 mit 266 Menschen immer noch eine Quote von 1,2 Prozent aus 19 Zu den topografischen Eigenarten kommt die historische Sonderstellung: Das Gebiet der heutigen Pfalz, zwischen 1796 und 1815 zu Frankreich gehörig, spielte in der deutschen Geschichte immer wieder eine spezielle Rolle So behielt es auch nach dem Anschluss an das Königreich Bayern seine sogenannten „französischen Institutionen“, also die grundsätzlich entschädigungslose Aufhebung von Feudalrechten, die Gewerbefreiheit, die unbegrenzte Niederlassungsfreiheit sowie den Code Civil, und konnte infolgedessen als „die modernste Region des Deutschen Bundes“ gelten 20 Die Politik im bayerischen „Rheinkreis“, der 1838 den historisierenden Namen „Pfalz“ erhielt, 16 17 18 19 20

Pirmin Spieß, Kleine Geschichte der Stadt Neustadt an der Weinstraße Leinfeld-Echterdingen 2009, 132–140 Schematismus des Bistums Speyer nach dem Stande vom 1 Januar 1934 Mit geschichtlichen Notizen aus den Jahren 1930–33 Speyer 1934, 242 Wilhelm Kreutz, Die Entwicklung der Berufs- und Sozialstruktur der pfälzischen Juden (1818– 1933), in: Alfred Hans Kuby (Hrsg ), Juden in der Provinz Beiträge zur Geschichte der Juden in der Pfalz zwischen Emanzipation und Vernichtung Neustadt a d W 1988, 9–32, hier 13 f Alemannia judaica Neustadt an der Weinstraße (Stadtkreis, Rheinland-Pfalz) Jüdische Geschichte/ Synagoge/Israelitisches Altersheim, http://www alemannia-judaica de/neustadt_synagoge htm Karsten Ruppert, Wittelsbach, Bayern und die Pfalz Grundlinien der Herrschaft eines Jahrhunderts, in: Ders (Hrsg ), Wittelsbach, Bayern und die Pfalz Das letzte Jahrhundert Berlin 2017, 11–32, hier 12

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dominierten bis Ende des 19  Jahrhunderts auf allen Ebenen, vom Landrat über die Gemeindevertretungen bis zu Wirtschaftsverbänden und Vereinen, liberale Kräfte – „in einer bemerkenswerten Kontinuität, wie sie in Deutschland sonst kaum noch zu finden ist“ 21 Es nimmt daher nicht wunder, dass die Pfalz eine Hochburg des europäischen Frühliberalismus darstellte und 32 Neustadter Bürger auf Initiative von Philipp Jakob Siebenpfeiffer im Mai 1832 zum sogenannten „Hambacher Fest“ einluden, was die Stadt an der Haardt zu einem zentralen Ort deutscher Demokratiegeschichte macht 22 Kaum weniger folgerichtig erscheint die außergewöhnliche Politisierung der Pfalz während der Revolution von 1848/49, als sich deren Bevölkerung bis zuletzt solidarisch gegenüber der Frankfurter Nationalversammlung zeigte, lange Zeit ruhig blieb, dann aber nach der frustrierenden Zurückweisung der Reichsverfassung den aussichtslosen, jedoch prägenden Aufstand einer Gruppe besonders Entschlossener erlebte 23 „Die pfälzische Sonderkultur“24 schien nach 1918 wieder auf, als die Region unter französischer Besatzung stand und Separationsgedanken florierten, dessen ungeachtet die SPD und vor allem die linksliberale DDP zunächst bei Wahlen überdurchschnittlichen Erfolg hatten, während dann sehr früh die NSDAP eine besondere Stärke entwickelte Dabei lagen ihre Ergebnisse in Neustadt ab 1928 noch einmal deutlich über dem pfälzischen Mittel Bei den Reichstagswahlen im Juli 1932 erzielte sie beispielsweise 51,1 Prozent und damit fast acht Prozentpunkte mehr als im Wahlkreis Pfalz und knapp 14 Prozentpunkte mehr als auf Reichsebene 25 Darüber hinaus gewinnt Neustadt eine besondere Bedeutung, weil es zwischen 1927 und 1940 Hauptstadt eines NSDAP-Gaues war Als regionale Herrschaftszentren wurden die Gauhauptstädte der NSDAP in ihrer symbolischen und politischen Bedeutung lediglich noch durch die sogenannten „Führerstädte“ übertroffen, also Berlin als Reichshauptstadt, München als „Hauptstadt der Bewegung“, Nürnberg als Ort der Reichsparteitage, Linz als „Jugendstadt des Führers“ und Hamburg wegen seiner großen wirtschaftlichen Bedeutung Unter den Gauhauptstädten befanden sich Metropolen wie Breslau oder Wien, Großstädte wie Köln oder Frankfurt am Main, Mittelstädte wie Bayreuth oder Weimar Die Hauptstädte mit der deutlich geringsten Einwohnerzahl waren nach 1933 das für den Gau Niederdonau (bis 1938: Niederösterreich) zu-

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Ruppert, Wittelsbach (wie Anm  20), 13 Aus der Vielzahl an Literatur seien nur genannt: Alois Gerlich (Hrsg ), Hambach 1832 Anstöße und Folgen Stuttgart 1984; Joachim Kermann u a (Hrsg ), Freiheit Einheit Europa Das Hambacher Fest von 1832 Ursachen, Ziele, Wirkungen Ludwigshafen 2006; Hedwig Brüchert, Hinauf, hinauf zum Schloss! Das Hambacher Fest 1832 Neustadt a d W 2008; Wilhelm Kreutz, Das Hambacher Fest Politischer und sozialer Protest im deutschen Südwesten Mainz 2007 Hans Fenske, Die Pfalz und die Revolution 1848/49 3 Bde Kaiserslautern 2000 Hans Fenske, Die pfälzische Sonderkultur in der politischen Entwicklung Bayerns bis zur Revolution von 1848/49, in: Ruppert, Wittelsbach (wie Anm  20), 33–46 Wolfgang Hartwich, Die Ergebnisse der Reichstags- und Bundestagswahlen von 1890 bis 1969, in: Willi Alter (Hrsg ), Pfalzatlas Textbd II Speyer 1971, 661–688

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ständige Krems (23 000 Einwohner) sowie das pfälzische Neustadt Erstaunlicherweise war Neustadt zudem nicht staatlicher Regierungssitz und nur die siebtgrößte Stadt der Region  – dabei waren Größe und/oder politische Bedeutung eigentlich obligatorische Kriterien für die Erhebung zur Gauhauptstadt Eine zusätzliche Besonderheit bestand darin, dass sich Neustadts administrativer Zuständigkeitsbereich im Laufe der Jahre deutlich erweiterte Zum Zeitpunkt der nationalsozialistischen Machtübernahme 1933 war er noch deckungsgleich mit dem bayerischen Regierungsbezirk und firmierte als Gau Rheinpfalz Nach der Saarabstimmung im Jahre 1935 kam es aber zur Bildung eines neuen Gaus, der die bisherige „Rheinpfalz“ sowie das wieder an das Deutsche Reich angeschlossene Saargebiet und damit nicht mehr knapp eine Million, sondern mehr als 1,8 Millionen Menschen umfasste Während dieser zunächst den Namen „Pfalz-Saar“ und zum Jahresbeginn 1936 „Saarpfalz“ erhielt, blieb die Gauleitung mit sämtlichen Dienststellen und Parteigliederungen in Neustadt ansässig Im Zuge des Frankreich-Feldzuges expandierte der Gau weiter Durch die Annexion des lothringischen Moseldepartements lebten in seinem Zuständigkeitsbereich fast 2,6 Millionen Menschen, sein Name wurde im Dezember 1940 in „Westmark“ verändert Neustadt wurde fortan zwar der Status als Gauhauptstadt formal aberkannt und musste erleben, dass zahlreiche Institutionen und Funktionsträger nach Saarbrücken abwanderten Allerdings verließen nicht alle Parteiinstanzen die Stadt und vor allem blieb Neustadt Dienst- und Wohnort des Gauleiters und damit weiterhin ein wichtiger Knotenpunkt regionaler NS-Herrschaft Zuletzt muss die Gegenwartsperspektive erwähnt werden Wer über Neustadt im Nationalsozialismus redet, landet für gewöhnlich schnell beim relativ rege beforschten Josef Bürckel26, der 1927 Volksschullehrer in Mußbach wurde und von 1926/2727 bis zu seinem Tod im September 1944 die Position des Gauleiters inne hatte Als Reichskommissar für die Rückgliederung des Saargebiets, Reichskommissar für die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich, Führer und Reichstatthalter des Reichsgaues Wien, Reichsstatthalter der Westmark sowie Chef der Zivilverwaltung in Lothringen gehörte er zu den einflussreichsten NS-Führern Er war ebenso „fanatischer Nationalsozialist“28 wie skrupelloser Machtpolitiker, operierte mit Nepotismus, Korruption und Erpressung, ging rigoros gegen regimekritische Personen vor Zugleich inszenierte er sich in der Pfalz geschickt als hemdsärmeliger und volksnaher 26 27 28

Zum Forschungsstand in Sachen Bürckel: Franz Maier, Der Forschungsstand zu Josef Bürckel, in: Pia Nordblom u a (Hrsg ), Josef Bürckel Nationalsozialistische Herrschaft und Gefolgschaft in der Pfalz Kaiserslautern 2019, 41–48 Er war zunächst zwischen März 1926 und März 1927 gewählter Gauleiter der „Rheinpfalz“ und agierte dann einige Monate als dessen Stellvertreter, bevor Adolf Hitler ihn im November 1927 wieder als Gauleiter einsetzte Gnadengesuch für Hilde Bürckel, 30 01 1952, zitiert nach Walter Rummel, Einleitung Josef Bürckel – Machtmensch, Überzeugungstäter und Demagoge, in: Nordblom u a , Josef Bürckel (wie Anm  26), 13–28, hier 18

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Politiker, der vermeintlich die regionalen Interessen innerhalb der Volksgemeinschaft vertrat Einige Bedeutung kam dabei auch der Eröffnung der „Deutschen Weinstraße“ im Oktober 1935 zu, also jener touristischen Straße, die 85 Kilometer durch das Weinbaugebiet der Pfalz führte, beginnend am Deutschen Weintor in Schweigen-Rechtenbach an der französischen Grenze und endend am Haus der Deutschen Weinstraße in Bockenheim am Rande Rheinhessens Dieser „Geniestreich der Propaganda“29, der lange vor 1933 bestehende Pläne im nationalsozialistischen Sinne adaptierte und praktisch umsetzte, führt vor Augen, was Volksgemeinschaft vor Ort bedeuten konnte: Auf der einen Seite stand der Profit durch die Ausschaltung der zahlreichen jüdischen Weinhändler und die Arisierung ihrer Unternehmen, auf der anderen Seite stimulierten die Nationalsozialisten nach den Jahren der französischen Besatzung und der Weltwirtschaftskrise kollektive Sehnsüchte: Endlich gab es etwas, das die Pfalz wieder aufwertete, das sie besonders machte, das ein neues Selbstbewusstsein begründen konnte Ob Bürckel die Alleinurheberschaft an der „Deutschen Weinstraße“ zuzuschreiben ist, ist dabei aus gesellschaftshistorischer Perspektive weit weniger relevant als der Umstand, dass das nationalsozialistische Propagandakonstrukt die Zeit des „Dritten Reiches“ überlebte und bis heute hochgehalten wird Es war wohl vor allem die „Weinstraße“, die den „Ordensmeister“ der Pfälzischen Weinbruderschaft 1992 in einer SWR-Fernsehsendung zu der geradezu exemplarischen Bemerkung über Josef Bürckel veranlasste: „Wer so viel für diese Region getan hat, kann kein schlechter Mensch gewesen sein “30 Und noch im Jahre 2020 ist auf den Internetseiten des SWR ein Bericht über die „Deutsche Weinstraße“ zu finden, der ohne nähere Erläuterung ihrer Entstehungszusammenhänge auskommt und die seinerzeitige Ausschaltung und Arisierung der jüdischen Weinhändler völlig ausblendet 31 So tritt der frappierende Gegenwartsbezug des Themas „Neustadt an der Weinstraße und der Nationalsozialismus“ zu Tage Die Stadt hieß immerhin bis 1936 Neustadt an der Haardt, ehe sie die NS-Obrigkeit gleichsam zur deutschen Weinmetropole erhob In ihrem Bemühen, regionale Volksgemeinschaft zu konkretisieren, gab sie der Gauhauptstadt den Namenszusatz „an der Weinstraße“ Sie schuf das Muster, nach dem dort das Pfälzische und seit 1949 das Deutsche Weinlesefest als eines der größten deutschen Volkfeste veranstaltet wird, sie begründeten 1937 das Ehrenamt der „Deutschen Weinkönigin“, die bis heute für gewöhnlich beim Deutschen Weinlesefest in Neustadt gewählt wird Neustadt an der Weinstraße ist folglich ein markantes Beispiel dafür, dass sowohl kulturelle als auch

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Günther List (Hrsg ), „Deutsche, lasst des Weines Strom sich ins ganz Reich ergießen!“ Die Pfälzer und ihre Weinstraße Ein Beitrag zur alternativen Landeskunde Heidelberg 1985, 111 Zitiert nach Rummel, Einleitung (wie Anm  28), 18 SWR, 19 Oktober 1935 Eine Weinstraße für die Pfalz, 30 06 2015, https://www swr de/geschichtedes-suedwestens/zeitstrahl/1935__weinstrasse-pfalz/-/id=15448514/did=15754800/nid=1544 8514/1ofh707/index html

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regionale Identität in Deutschland auch am Beginn des 21  Jahrhunderts noch stark mit der Zeit des Nationalsozialismus verbunden ist 3. Das Buch Unser Buch bildet für alle Projektteile den Referenzrahmen und adressiert mit seinen 40 Aufsätzen die Fachwissenschaft ebenso wie ein interessiertes Laienpublikum – nicht zuletzt die Bevölkerung in Neustadt und Umgebung Dabei formuliert es vier Fragenbereiche Im ersten Teil geht es um die Wege in die Volksgemeinschaft, also die Voraussetzungen für die Etablierung der NS-Diktatur Es wird geklärt, unter welchen Bedingungen, mit welcher strategischen Ausrichtung und mit welchen Mitteln der Nationalsozialismus an die Macht kam und diese festigte Dabei gilt das besondere Interesse der Frage, warum er in Neustadt so früh so verhältnismäßig stark agieren konnte Der Blick ist auf das 19  Jahrhundert und die Hambach-Tradition, die politische Kultur der 1920er Jahre, die Taktiken der örtlichen NSDAP, die Praktiken der SA und das Instrument der „Schutzhaft“, insbesondere im Zusammenhang mit dem (frühen) Konzentrationslager Neustadt, gerichtet Der zweite Teil beleuchtet den Alltag der Volksgemeinschaft und fragt vornehmlich für die Jahre 1933 bis 1939 danach, durch was sich nationalsozialistische Herrschaft vor Ort auszeichnete und wie die Menschen mit den Zumutungen der Diktatur in Friedenszeiten umgingen: Was wollte der Nationalsozialismus und welche alltäglichen Verhaltensmuster sind davon ausgehend in der Gauhauptstadt Neustadt feststellbar? Welche Formen situativer „Selbstermächtigung“32 ergaben sich mit welchen Konsequenzen? Das Augenmerk liegt zunächst auf unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen (Kinder und Jugendliche, Frauen, Arbeiterschaft, protestantische und katholische Bevölkerung, Lehrer, Auslandsdeutsche), dann auf wichtigen gesellschaftlichen Handlungsfeldern (Kommunalpolitik, Wirtschaft, Justiz, Sport, Kultur, Forschung und Lehre, Weinkultur) Der dritte Teil betrachtet die Volksgemeinschaft und den Alltag der Anderen und nimmt damit diejenigen ins Blickfeld, die nicht zur Volksgemeinschaft gehören durften und mit Gewalt aus ihr ausgeschlossen werden sollten: Wie „passierte“ Exklusion? Wer war an ihr in welcher Weise mit welchem Profit beteiligt? Welche Handlungsspielräume ergaben sich bei der Umsetzung der ideologischen Vorgaben? Welche agency konnten die „Anderen“ überhaupt entwickeln? In den Blickpunkt gerückt werden die sogenannten „Asozialen“ und „Berufsverbrecher“, „Homosexuelle“, Menschen mit angeblichen oder realen Einschränkungen sowie die jüdische Bevölkerung Der vierte Teil thematisiert ausdrücklich die Jahre 1939 bis 1945, weil sich die Erwartungen an die Volksgemeinschaft im Krieg wesentlich verschoben, diese fortan auf allen Ebenen zur aktiven

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Wildt, Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung (wie Anm  15)

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Wehrgemeinschaft avancierte und „die Integrationsangebote durch die Erfahrungen von Bombenkrieg, Rüstungsmobilisierung und massenhafter Migration brüchig und fragwürdig wurden“33: Wie hat der Kriegsalltag vor Ort funktioniert? Auf welche Weise und mit welchem Erfolg vollzog sich im Ausnahmezustand die (Selbst-)Mobilisierung der Gesellschaft? Welche Änderungen zeigten sich bei den Inklusions- und Exklusionsmechanismen? Gegenstand der Betrachtung sind die mediale Darstellung des Kriegsbeginns, der „Kriegseinsatz“ der Jugend, die kindliche Perspektive auf das Alltags- und Familienleben, die Strafrechtspraxis, die Situation der ausländischen Zwangsarbeiterschaft sowie das Kriegsende Im letzten Teil geht es schließlich um das Erbe der Volksgemeinschaft: Was ist lebensweltlich nach 1945 geblieben, wo und in welcher Form kommen im „Dritten Reich“ erlernte Denk- und Handlungsweisen wieder zum Tragen? Welche personellen Kontinuitäten sind mit welchen Auswirkungen feststellbar? Was kennzeichnete den lokalen Umgang mit der NS-Vergangenheit? Die Aufsätze behandeln die Entnazifizierungspraxis, die Herausforderungen der Stadtverwaltung im ersten Nachkriegsjahrzehnt, die „Besatzungskinder“, die Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen, die erinnerungskulturelle Zäsur der 1980er Jahre und den angeblichen Mythos um Josef Bürckel Das Buch kann auf diese Weise u a zentrale Herrschaftsmechanismen des Nationalsozialismus deutlich machen Es zeigt auf, dass die NS-Diktatur untrennbar mit Zwang, Repression und Verfolgung verbunden war, gleichzeitig aber auch auf weitreichenden Inklusionsangeboten basierte Diese wiederum sind von Exklusionsvorgängen nicht zu trennen So bot gerade die Inklusionspolitik ein wesentliches Instrument, die gewaltsame Aussonderung „gemeinschaftsfremder Elemente“, insbesondere von Menschen mit faktischer oder angeblicher Behinderung, zu bewerkstelligen Beispielsweise war die Vergabe von Ehestandsdarlehen, Familienhilfen oder Mutterkreuzen an eine amtsärztliche Untersuchung und eine politische Überprüfung gebunden Negativgutachten wurden gesammelt und bildeten für die Verhängung von Zwangssterilisationen oder die Ermordung im Rahmen der „Euthanasie“-Programme wichtige Grundlagen 34 Zudem ging es immer auch um Profit durch Aussonderung Die geschah im Kleinen, wenn die Neustadter HJ zum Beispiel in das zwangsenteignete Heim der verbotenen Sozialistischen Arbeiter-Jugend einzog35, dies geschah im Großen, weil sich die örtliche Wirtschaft, unter anderem Weinbau und Weinhandel, durch den Ausschluss vor allem jüdischer, aber auch politisch missliebiger Geschäftsleute die freiwerdenden Marktanteile sichern und zudem die Ressourcen der Verdrängten

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Reeken/Thießen, Volksgemeinschaft (wie Anm  4), 18 Zum Kontext: Markus Raasch, Die Mehrheit der Volksgemeinschaft Der NS-Staat und die Frauen, die Frauen und der NS-Staat, in: Raasch, Volksgemeinschaft (wie Anm  1), 217–242 Zum Kontext: Clara-Louise Noffke, Die Zukunft der Volksgemeinschaft Kinder und Jugendliche in Hitlerjugend (HJ) und Bund Deutscher Mädel (BDM), in: Raasch, Volksgemeinschaft (wie Anm  1), 191–216

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beanspruchen konnte36 Das Buch führt außerdem vor Augen, dass die Herrschaft des Nationalsozialismus in vielfacher Weise mit nonkonformem Verhalten – von Eltern, die ihren Kindern immer wieder Entschuldigungsschreiben für die Hitlerjugend schrieben, über verbotene Kontakte zwischen einheimischer Bevölkerung und ausländischer Zwangsarbeiterschaft bis hin zur kommunistischen Widerstandsgruppe – zu tun hatte Es wird allerdings auch klar, dass sie vom „Mittun“ der großen Mehrheit lebte Die allermeisten Menschen standen hinter dem Regime und es lässt sich von einer „partizipative[n] Diktatur“37 sprechen, in der viele „dem Führer entgegenarbeiteten“ – ob nun aus Angst, vorauseilendem Gehorsam, Kalkül oder Überzeugung, in jedem Fall willfährig Besonders relevant erscheint die Frage: Spielte es eine Rolle, dass Neustadt Gauhauptstadt war? Unser Buch stellt klar heraus, dass in politischer Hinsicht daran überhaupt kein Zweifel bestehen konnte Von Neustadt aus koordinierte die NSDAP ihren Weg zur Macht in der Region, von hier aus managte Josef Bürckel den „Abstimmungskampf “ in der Saarfrage, von hier aus trug er nach Gründung des Gaues „Saarpfalz“ Verantwortung für knapp 120 000 Parteimitglieder, hier war spätestens 1937 mit der Einrichtung einer Leitstelle der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) und einer eigenen Vertretung des Sicherheitsdienstes (SD) das Epizentrum des regionalen Verfolgungsund Repressionsapparats Mit Neustadt ist die „Bürckel-Wagner-Aktion“ und damit die regionale Koordination der Shoah verbunden und selbst nach 1940 kam der Stadt eine Sonderrolle zu, weil sie Dienst- und Wohnort des Gauleiters, Sitz verschiedener Gauorganisationen, etwa der Gaufrauenschaft, und damit informelles Machtzentrum blieb Wesentliche Entscheidungen hinsichtlich der brutalen Germanisierungspolitik in Lothringen wurden in Neustadt getroffen Hier stand der spätere französische Ministerpräsident Robert Schuman unter Hausarrest und noch 1944 kurz vor seinem Tod versuchte Bürckel von hier aus, die grundlegende Ausrichtung der FrankreichPolitik des NS-Regimes durch die Einquartierung des Kollaborateurs und Anführers des faschistischen „Parti Populaire Français“ (PPF) Jacques Doriot und seiner Anhänger zu beeinflussen 38 In gesellschaftshistorischer Hinsicht fällt die Antwort deutlich schwerer Eine eventuelle Spezifik ergibt sich kaum aus der äußeren Entwicklung Die Einwohnerzahl stieg zwischen 1925 und 1939 nur leicht von 20 726 auf 23 941, größere bauliche Veränderungen wurden nicht vorgenommen, hochtrabende Pläne wie in anderen Gauhauptstädten39 existierten nicht – mit Ausnahme des Weindorfes, das auf 36 37 38 39

Zum Kontext: Mario Aulenbacher, Arbeiten für die Volksgemeinschaft Neustadts Wirtschaft 1933 bis 1945, in: Raasch, Volksgemeinschaft (wie Anm  1), 351–366 Sönke Neitzel  / Harald Welzer, Soldaten Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben 3 Aufl Frankfurt a M 2011, 65 Zum Kontext: Matthias Gemählich, Von der „Rheinpfalz“ zur „Westmark“ Neustadt und die Expansion des Parteigaus nach Westen, in: Raasch, Volksgemeinschaft (wie Anm  1), 605–616 Z B Kerstin Thieler, „Volksgemeinschaft“ unter Vorbehalt Gesinnungskontrolle und politische Mobilisierung in der Herrschaftspraxis der NSDAP-Kreisleitung Göttingen Göttingen 2014, 164–

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Wunsch von Josef Bürckel auf dem Vogelsang oberhalb Neustadts am Mittelpunkt der Weinstraße als eine Art „Führerpfalz“ entstehen sollte40 Dies lag wesentlich daran, dass sein Status ein Dauerprovisorium umschrieb Dass Neustadt 1927 Sitz der NSDAPGauleitung wurde, war situationsbedingt und hatte im Wesentlichen innerparteiliche und pragmatische Gründe: Am Regierungssitz im katholisch geprägten Speyer tat sich die NSDAP bis 1933 relativ schwer, die Industriestadt Ludwigshafen prägten noch bis 1932 linke Mehrheiten Gauleiter Bürckel brauchte eine „Hauptstadt“, die der Inszenierung eines „ehrlichen“ pfälzischen Volkssozialismus entsprach, Kaiserslautern schien eine naheliegende Lösung, aber Bürckel war noch bis 1930 Lehrer an der Volkschule in Mußbach und auch sein Stellvertreter Ernst Ludwig Leyser lebte in der Nähe 41 Im benachbarten Lambrecht stellte die Druckerei Adolf Edel überdies die Parteizeitung der NSDAP mit dem Titel „Der Eisenhammer“ her und das Tuchmacherzentrum Lambrecht versorgte die Partei traditionell mit einschlägiger Kleidung und Devotionalien Diese personellen Konstellationen und die Pragmatik der kurzen Wege ließen Neustadt als naheliegende Zwischenlösung erscheinen Im Folgenden banden dann „Machtergreifung“ und „Saarkampf “ alle Kräfte und so blieb Neustadt aus pragmatischen Gründen Gauhauptstadt Als der Bürckel-Intimus Richard Imbt 1938 als Oberbürgermeister von Neustadt nach Kaiserslautern wechselte, schienen dann endlich die Voraussetzungen für eine Dauereinrichtung in der Westpfalz gegeben Im Zusammenhang mit der angestrebten Bildung eines „Reichsgaus“ blühten weitreichende Pläne für den Um- und Ausbau der Barbarossa- zur künftigen Gauhauptstadt Der Kriegsbeginn ließ diese freilich obsolet werden und Neustadt konnte seinen Status unverhofft bis 1940 wahren, ehe nach der faktischen Annexion des lothringischen Moseldepartements Saarbrücken aufgrund seiner zentralen Lage zur Hauptstadt des nunmehr „Westmark“ genannten Gaus erhoben wurde 42 Das gesellschaftliche Leben in Neustadt gestaltete sich zwischen 1933 und 1945 grundsätzlich nicht besonders Aufstieg, Alltag und Aussonderungsmechanismen der Volksgemeinschaft entsprechen phänomenologisch dem, was in den meisten deutschen Kommunen geschah Jedoch sollten die Nuancierungen beachtet werden Die Propaganda war hier besonders rege und besaß eine starke regionale Komponente

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169; Lars Laurenz, Die Pläne zur Neugestaltung der Gauhauptstadt Münster Erweiterte Fassung eines Vortrages vom 17 Juni 2017 im Rahmen des 92 Kunsthistorischen Studierendenkongresses in Münster, 15 –18 Juni 2017 Heidelberg 2020, http://archiv ub uni-heidelberg de/artdok/6802/; Christoph Braumann, Stadtplanung in Österreich von 1918 bis 1945 unter besonderer Berücksichtigung der Stadt Salzburg Wien 1986; Horst Matzerath, Köln in der Zeit des Nationalsozialismus 1933–1945 Köln 2009, 211–238 Wulf Werbelow, Liesenberg und Vogelsang Eine Heimatkunde-Geschichte von des Gauleiters Weinhof in Neustadt an der Weinstraße (unveröffentlichtes Manuskript) Zum Kontext: Franz Maier / Martin Hanisch, Ganz normale Männer? Ein Profil der Neustadter NSDAP, SA und SS, in: Raasch, Volksgemeinschaft (wie Anm  1), 331–350 Zum Kontext: Gemählich, Von der „Rheinpfalz“ (wie Anm  38)

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Sie rekurrierte immer wieder auf die Grenzlage der Pfalz, die „Schmach“ der französischen Besatzung und insbesondere die „gemeinschaftsfremde“ Haltung des Separatismus 43 Zugleich berücksichtigte die NSDAP bei ihren Inklusionsangeboten gezielt lokale Eigenarten, wobei die Linie vom Alkoholausschank bei größeren Parteiveranstaltungen über Auftritte des „Bellemer Heiner“ bis zur Popularisierung von „Deutscher Weinstraße“ und „Deutscher Weinkönigin“ führte 44 Der Nationalsozialismus vermochte in Neustadt nicht nur verhältnismäßig frühe und große Wahlerfolge zu feiern, er war auch in Stadt und Umgebung auffallend zügig und stark verankert Dafür sprechen neben der relativen Schwäche der organisierten Arbeiterbewegung zum Beispiel die schon vor 1933 hohe Zahl an Doppelmitgliedschaften in SA und NSDAP45 sowie von NSDAP-Angehörigen am Amtsgericht 46 Obschon die oberste Führungsriege der NSDAP nicht öffentlich in Neustadt auftrat, fällt nach der Machtübernahme die große Dichte an Veranstaltungen von NSDAP und NS-Organisationen auf Vor allem NS-Frauenschaft (die Gaufrauenschaft saß zwischen 1931 und 1945 durchgehend in Neustadt) und Hitlerjugend (in Neustadt war die Gebietsführung der Hitlerjugend und des BDM mit den entsprechenden Untergliederungen ansässig) zeigten sich in der Gauhauptstadt überaus aktiv 47 Regelmäßig waren namhafte NS-Redner in Neustadt zu Gast und genauso wie die Heranziehung einer Gestapostelle hatten auch exklusive Ereignisse wie der Auftritt der Jugendmannschaft von Lazio Rom48 mit der politischen Bedeutung Neustadts zu tun In wirtschaftlicher Hinsicht erhielt Neustadt zum Beispiel durch die Ansiedlung der nationalsozialistischen Gau-Tageszeitung „NSZ Rheinfront“ einige Impulse Neustadt besaß eine besondere Attraktivität für Sport- und Kulturveranstaltungen und auch der Bedeutungsgewinn des Pfälzischen Weinlesefestes ist schwer vom Status der Gauhauptstadt zu trennen Auffälligerweise 43

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Zum Kontext: Tobias Hirschmüller, Was wurde der Neustadter Bevölkerung über den Beginn des Zweiten Weltkrieges erzählt? Inszenierung und Erinnerung in der regionalen Propaganda, in: Raasch, Volksgemeinschaft (wie Anm   1), 593–604; Ders , Der Volkssozialist im Trenchcoat? Gauleiter Josef Bürckel und sein angeblicher Mythos, in: Raasch, Volksgemeinschaft (wie Anm  1), 801–820 Vgl allgemein Wolfgang Freund, Die Erfindung eines Grenzraumes Wissenschaft und Politik in Josef Bürckels nationalsozialistischem Gau Westmark, in: Historische Sozialkunde 35, 2005, 20–25 Zum Kontext: Michael Kißener, Die Verheißung der Volksgemeinschaft Politische Mittel und Ziele der NSDAP in Neustadt, in: Raasch, Volksgemeinschaft (wie Anm  1), 97–110; Maier/Hanisch, Ganz normale Männer? (wie Anm  41); Christof Krieger, Die Taufe des „Rassereinen“ Rebensaftes und die verlorene Unschuld der „Deutschen Weinkönigin“ Das Neustadter Weinlesefest als Kristallisationsort nationalsozialistischer Volksgemeinschaft, in: Raasch, Volksgemeinschaft (wie Anm  1), 449–474 Zum Kontext: Maier/Hanisch, Ganz normale Männer (wie Anm  41) Zum Kontext: Paul Warmbrunn, (Un-)Recht sprechen für die Volksgemeinschaft Die Neustadter Justiz im Nationalsozialismus, in: Raasch, Volksgemeinschaft (wie Anm  1), 367–390 Zum Kontext: Noffke, Die Zukunft der Volksgemeinschaft (wie Anm  35); Raasch, Die Mehrheit (wie Anm  34) Zum Kontext: Katharina Kaiser / Felix Maskow, Die Volksgemeinschaft bewegt sich Das Neustadter Sportwesen im Nationalsozialismus, in: Raasch, Volksgemeinschaft (wie Anm  1), 391–416

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war die Justizpressestelle des Oberlandesgerichtsbezirks nicht an dessen Sitz in Zweibrücken, sondern in der Gauhauptstadt ansässig, unter anderem, weil sich hier auch das Gaupresseamt der NSDAP, das Reichspropagandaamt Saarpfalz und das Bezirksgericht der Presse befanden 49 Als Sitz so vieler Ämter und Organisationen bot Neustadt auf verhältnismäßig kleinem Raum mannigfaltige Posten und Karrierechancen, wovon vor allem auch junge Menschen und in besonderer Weise Frauen profitierten Zugleich gab es sehr wenig unkontrollierten Raum, was etwa dazu führte, dass die Konfliktlinien zwischen NSRegime und Kirche in Neustadt auffallend scharf hervortraten Die kurzen Wege und übersichtlichen Netzwerke konnten freilich Verschiedenes bedingen: Sie konnten Verfolgung, aber auch Verständigung erleichtern oder erschweren In jedem Fall besaß die soziale Praxis der Exklusion lokale Spezifik Beispielsweise spielte bei allen sozialpolitischen Auslesemaßnahmen der Separatismusvorwurf eine besondere Rolle Die NS-Organisationen verrichteten eine verhältnismäßig intensive „rassenpolitische“ Schulungsarbeit und zugleich vollführten Behörden und Gerichte eine auffallend rigorose Segregationspolitik, die etwa eine außergewöhnlich konsequente Anwendung des Ehegesundheitsgesetzes und eine relativ hohe Zahl abgelehnter Mutterkreuzanträge mit sich brachte 50 Der Umstand, dass es Neustadt und Umgebung an einer nicht heteronormativen Subkultur und entsprechenden Anlaufstellen mangelte, ließ die Gestapo nur umso unnachgiebiger nach „Homosexuellen“ fahnden 51 Auch das Vorgehen gegen die jüdische Bevölkerung nahm sich besonders drastisch und gewaltsam aus Zumindest lässt sich eine entsprechende Linie von den frühen Boykottmaßnahmen gegen jüdische Geschäfte über brutale Misshandlungen durch die SA bis zu den Todesfällen in der „Reichspogromnacht“ ziehen Überdies nutzte die Gauleitung skrupellos die Konzentration von Parteistellen und Interessengruppen in Neustadt, um sich mit der Gründung einer eigenen Arisierungsgesellschaft an der gewaltsamen Aussonderung von Jüdinnen und Juden zu bereichern 52

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Zum Kontext: Warmbrunn, (Un-)Recht (wie Anm  46) Zum Kontext: Raasch, Die Mehrheit (wie Anm  34) Zum Kontext: Matthias Gemählich, „Nicht willens genug, seine unnatürliche Veranlagung zu bezähmen“ Die Verfolgung von Homosexuellen, in: Raasch, Volksgemeinschaft (wie Anm  1), 493– 506 Zum Kontext: Laura Leydecker, Die Volksgemeinschaft, die jüdische Gemeinschaft Verfolgung der Jüdinnen und Juden in der Gauhauptstadt Neustadt; in: Raasch, Volksgemeinschaft (wie Anm  1), 537–556; Walter Rummel, „Arisierung“ in der Gauhauptstadt Zur Rolle von Partei, Staat und Interessen bei Transaktionen jüdischen Besitzes 1933–1940, in: Raasch, Volksgemeinschaft (wie Anm  1), 557–592

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4. Unsere Masterhomepage Alle Erkenntnisse des Buches sind auf unserer Masterhomepage in innovativer Weise didaktisch aufbereitet Diese wurde mit Hilfe des mehrfach ausgezeichneten Eichstätter Instituts für digitales Lernen (IdL)53 erstellt und bietet zunächst eine virtuelle Version der Ausstellung, die vom 12 Dezember 2020 bis 31 Januar 2021 in der Villa Böhm aufgebaut war Besucher*innen bekommen in fünf Themenräumen Antworten auf die Leitfragen unseres Projektes (Was genau geschah zwischen 1933 und 1945 in Neustadt? Was machte der Nationalsozialismus mit den Menschen? Wie lebten die Menschen den Nationalsozialismus? Wie hingen persönliches (Un-)Glück und kollektive Verbrechen zusammen? Wie funktionierte die totalitäre Diktatur vor Ort? Was ist vom Nationalsozialismus nach 1945 geblieben?) Sie können sich mit den 22 Ausstellungspostern, den wichtigsten Informationstafeln sowie den zentralen Objekten und Audio(-visuellen)-Installationen auseinandersetzen Zudem besteht die Möglichkeit zum Mitmachen und Mitreden Auf unsere Masterhomepage findet sich des Weiteren ein Lexikon, das kurz und prägnant zentrale Begriffe, Ereignisse, Orte und Personen zum Thema „Neustadt und der Nationalsozialismus“ vorstellt 164 Artikel beleuchten Verfolgten-, Täter- und Historiker*innen-Biografien, einschlägige Räume, Institutionen und Vorgänge, unterschiedlichste soziale Felder und Gruppen Im Blickfeld stehen die NS-Zeit, deren Vorgeschichte und ihre Rolle in der lokalen Erinnerungskultur bis ins 21 Jahrhundert Jeder Artikel enthält ein knapp kommentiertes Quellen- und Literaturverzeichnis und zumeist auch eine Abbildung Ein drittes tragendes Element der Masterhomepage ist ein Zeitzeug*innenarchiv Es umfasst Ausschnitte aus Oral History-Interviews, die im Rahmen unseres Projektes in den Jahren 2018 und 2019 entstanden sind In ihnen berichten Neustadter*innen über ihre Erfahrungen während der NS-Diktatur Die meisten Zeitzeug*innen erlebten die NS-Zeit als „Kriegskinder“, d h als Minderjährige, die unmittelbar vor bzw erst nach der „Machtergreifung“ geboren wurden Insgesamt konnten mit neun Frauen und fünf Männern Interviews geführt werden, von denen zudem vier Personen in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre geboren und teilweise als junge Erwachsene zum Kriegsdienst eingezogen wurden Die Kontakte erfolgten durch mehrere Aufrufe in der Regionalzeitung „Die Rheinpfalz“ sowie mit Hilfe Dritter Die Gespräche wurden nach einem halbstandardisierten, sachthematisch und narrativ angelegten Interviewleitfaden von der Oral-History-Expertin Kathrin Kiefer54 geführt Das Zeitzeug*innenarchiv präsentiert neben pseudonymisierten Kurzprofilen der Befragten 80 Gesprächssequenzen mit maximal fünf Minuten Länge Dazu gibt es eine Schlagwortsuche zu verschiedensten Themen wie jüdische Bevölkerung / Jüdisches Leben, Menschen mit Behinderung, Josef Bürckel, Propagan-

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https://institut-fuer-digitales-lernen de/ https://www uni-koblenz-landau de/de/koblenz/fb2/geschi/mitarbeiter/kathrin-kiefer

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da/Feindbild, Schule, Familie, Kinderalltag, Luftangriff, Gestapo, Hitlerjugend, Kirche bzw Religiosität, Kriegseinsatz, Kriegsgefangene/Zwangsarbeiter*innen, Kriegsende, Kriegsauswirkungen, Besatzung, Schule sowie Umgang mit der NS-Zeit Im Zentrum unserer Masterhomepage steht ein multimediales Geschichtsschulbuch Konzipiert vom Arbeitsbereich Geschichtsdidaktik der Johannes GutenbergUniversität Mainz bietet es Schüler*innen und Lehrer*innen die Möglichkeit, anhand eines innovativen Lernmediums die konkrete Bedeutung des Nationalsozialismus für die Menschen vor Ort kennenzulernen Es richtet sich an alle Schulen, die einen außergewöhnlichen Weg zum Thema „Drittes Reich“ gehen wollen, und in besonderer Weise an diejenigen Jugendlichen, die sich mit den Mitteln des 21 Jahrhunderts intensiv mit der NS-Vergangenheit ihrer Region beschäftigen wollen Ausdrücklich sei dabei die Möglichkeit hervorgehoben, wichtiges Orientierungswissen zu erlangen Immerhin sind „Gemeinschaft“ und „Volk“ zwei Begriffe, die sich insbesondere für Jugendliche anbieten, um aus der Gegenwartserfahrung heraus Fragen an die Vergangenheit zu stellen Gemeinschaft betrifft die Kernfragen der menschlichen Gesellschaft und der anthropologischen Grundvoraussetzungen „Gemeinschaft“ stellt die Frage nach Zugehörigkeit, nach Ausgrenzung, Abgrenzung und nach innerer Differenzierung und Hierarchisierung Der Begriff „Volk“ ist in der Gegenwart wieder in aller Munde, vor allem rechte Gruppierungen stilisieren sich selbst zu „wahren“ Vertretern des Volkes Sie greifen damit auf eine nachdenklich machende Konzeption von volonté générale zu, die von einem durch Einheitlichkeit bestimmten Volkskörper ausgeht und damit Exklusion zur Grundlage der Selbstdefinition macht Insofern ist die vertiefte Beschäftigung mit der Geschichte der eigenen Region im Nationalsozialismus ein zentraler Beitrag zur historischen Orientierung 55

Unser didaktisches Angebot beinhaltet diverse Quellenarten, Informations- und Darstellungstexte, ferner Abbildungen, Grafiken, Animationen, Audios und Videos, wobei sorgfältig darauf geachtet wird, dass Dekonstruktion und nicht Überwältigung im Vordergrund steht Zudem enthält das Schulgeschichtsbuch auch Projektvorschläge, die auf entdeckendes Lernen und/oder Handlungsorientierung abzielen Beispiele sind die Vertonung eines Bio-Clips, die Erstellung eines Ausstellungsplakats, das Schreiben und Aufführen eines szenischen Spiels sowie ein Podcast zum Thema „Der Nationalsozialismus im kollektiven Gedächtnis Neustadts“ Auch die in Schulbüchern oft vernachlässigten Aspekte der Geschichts- und Erinnerungskultur spielen eine hervorgehobene Rolle Ausdrücklich wird im Ausblick „Das Erbe der Volksgemeinschaft“ der Umgang mit der NS-Vergangenheit über die Jahrzehnte zwischen 1945 und 2020 betrachtet Die Schüler*innen sollen verstehen können, wie sehr die Erinnerung an die

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Meike Hensel-Grobe, Vorwort für Lehrer*innen, in: Multimediales Geschichtsschulbuch, https:// neustadt-und-nationalsozialismus uni-mainz de/

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jeweilige Gegenwart sowie an die Gesellschaft und ihre Debatten gebunden ist Denn erst in diesem Kontext können sie begreifen, dass sich jede Zeit neu mit der Geschichte auseinandersetzen muss, um historische Orientierung zu gewinnen So versucht unser ungewöhnliches Projekt Tradition und Moderne zusammenzubringen und dabei möglichst viele Menschen mitzunehmen Wir wollen unterschiedlichen Bedürfnissen gerecht werden und zeigen: Bücher sind wichtig und zugleich kann Geschichtsschreibung noch mehr

Verzeichnis der Verfasserinnen und Verfasser Dieter Hein lehrte als Professor für Neuere Geschichte an der Goethe-Universität Frankfurt am Main; seit 2016 im Ruhestand Zahlreiche Veröffentlichungen zur deutschen Geschichte des 19  und 20 Jahrhunderts, besonders zur Geschichte des Bürgertums und zur Revolution 1848/49 Tobias Hirschmüller war seit 2011 zunächst Wissenschaftlicher Mitarbeiter im DFG-Projekt „Edition der Akten der Provisorischen Zentralgewalt von 1848/49“ sowie Stipendiat an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt und ist seither Mitarbeiter am dortigen Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte Das Thema seiner Promotion lautet: „Erzherzog Johann von Österreich als Reichsverweser der Provisorischen Zentralgewalt in der Revolution von 1848/1849“ An der Universität Eichstätt ist er seit 2010 zudem Lehrbeauftragter mit den Schwerpunkten Bayerische Landesgeschichte sowie deutsche Außenpolitik im 19 und 20 Jahrhundert Neben der Funktion und Wirkmächtigkeit der Provisorischen Zentralgewalt von 1848/1849 auf nationaler und internationaler Ebene zählen zu seinen Forschungsfeldern die Regionalgeschichte der Einigungskriege und des Ersten Weltkrieges, der Bismarckmythos vom Kaiserreich bis in die Gegenwart, die Ideengeschichte des Liberalismus am Beispiel von Theodor Heuss, die deutschsprachige jüdische Presse vom Ende des 19 Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg sowie weibliche Idolfiguren im transatlantischen Kulturraum Lothar Höbelt, geboren 1956, Studium bei Heinrich Lutz und Adam Wandruszka, Habilitation 1991, a o Univ -Prof für neuere Geschichte an der Universität Wien (seit 1997), mehrfach Lehraufträge an amerikanischen Universitäten und an der Theresianischen Militärakademie in Wiener Neustadt, Vizepräsident der ‚International Commission for the History of Representative and Parliamentary Institutions’; Spezialist für das franzisko-josephinische Zeitalter, einschlägige Publikationen u a : Kornblume und Kaiseradler Die deutschfreiheitlichen Parteien Altösterreichs 1882–1918 (1993), 1848 Österreich und die deutsche Revolution (1998), Ferdinand III : Friedenskaiser wider Willen (2008), Franz Joseph I Der Kaiser und sein Reich (2009), „Stehen oder Fallen?“ Österreichische Politik im Ersten Weltkrieg (2015)

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Verzeichnis der Verfasserinnen und Verfasser

Gert Krell, Jg 1945, 1964–71 Studium der Anglistik, Geschichte und Politik in Köln und Marburg, 1976 Promotion zum Dr phil in Politikwissenschaft, 1984 Habilitation für das Fach Internationale Beziehungen; 1971–77 und 1981–1995 wissenschaftlicher Mitarbeiter bzw Forschungsgruppenleiter bei der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) in Frankfurt am Main, 1981–1984 auch Research Associate und Assistant Director for Regional Security am International Institute for Strategic Studies (IISS) in London, 1995–2006 Professor für Internationale Beziehungen im Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt am Main; Publikationen zur internationalen Friedens- und Sicherheitsproblematik und zur Theorie der Internationalen Beziehungen Die Webseite www gert-krell de enthält ein Verzeichnis aller Veröffentlichungen Klaus Kremb, geboren 1950 in Kirchheimbolanden, hat an der Technischen Universität Darmstadt Geschichte, Geographie und Politikwissenschaft studiert und dort auch mit einer historisch-geographischen Arbeit promoviert Nach dem Referendariat in Mainz folgte der Schuldienst im Gymnasium Weierhof und 1993 der Wechsel als Oberstudiendirektor an das Wilhelm-Erb-Gymnasium Winnweiler Parallel war er bis 2018 Lehrbeauftragter im Fachgebiet Politikwissenschaft der Technischen Universität Kaiserslautern und 2004–13 Präsident der Pfälzischen Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften in Speyer Seit 2004 ist er Beiratsmitglied der „Zeitschrift für Weltgeschichte“ Als Mitherausgeber fungiert er u a für die physischgeographische Fachzeitschrift „Geoöko“, die „Studien zur Weltgeschichte“ und die „Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte“ Karlheinz Lipp studierte Geschichte und Evangelische Theologie an der JohannesGutenberg-Universität Mainz Er wurde mit der Arbeit „Religiöser Sozialismus und Pazifismus Der Friedenskampf des Bundes der religiösen Sozialisten Deutschlands in der Weimarer Republik“ an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main promoviert Er wirkte von 1985 bis 2020 als Studienrat im Schuldienst in Hessen und Berlin und ist Mitglied im Arbeitskreis Historische Friedensforschung Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören u a Historische Friedensforschung, Religiöser Sozialismus und die Geschichte der Pfalz Gerhard Nestler, geb 1952 in Pillnach, Kreis Regensburg; Studium der Anglistik, Politischen Wissenschaften und Zeitgeschichte an der Universität Mannheim; von 1988 bis 2020 Leiter des Stadtarchivs Frankenthal (Pfalz); zahlreiche Publikationen zur pfälzischen Regional- und Frankenthaler Stadtgeschichte des 19 und 20 Jahrhunderts; Schwerpunkt: Parteiengeschichte, insbesondere: Geschichte des politischen Katholizismus

Verzeichnis der Verfasserinnen und Verfasser

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Andreas Pauschenwein, geboren 1961 in Wien 1980 Matura, anschließend Militärdienst Studium der Rechtswissenschaften an der Universität Wien (Mag iur ), Gerichtspraxis, ab 1988 in einer Rechtsabteilung des österreichischen Wirtschaftsministeriums tätig Nebenbei Studium der Geschichte und mehrerer Zusatzfächer wie Germanistik, Volkskunde usw (Mag phil , Dr phil ) Seit einigen Jahren im niederösterreichischen Weinviertel, einem Teil des historischen Viertels unter dem Manhartsberg, beheimatet PD Dr Markus Raasch studierte Geschichte, Germanistik und Erziehungswissenschaft an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf Er habilitierte sich mit der Arbeit „Der Adel auf dem Feld der Politik Das Beispiel der Zentrumspartei in der Bismarckära (1871–1890)“ Er war wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt und der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz Zudem vertrat er die Lehrstühle von Prof Dr Michael Kißener (Arbeitsbereich Zeitgeschichte, Johannes-Gutenberg-Universität Mainz) und Prof Dr Joachim Scholtyseck (Geschichte der Neuzeit, Rheinische Friedrichs-Wilhelms-Universität Bonn) Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören u a Adel, (politischer) Katholizismus, Geschlechterverhältnisse, Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen sowie die Zeit des Nationalsozialismus Lucia Seiß M A   studierte bis 2019 Kunstgeschichte, Geschichte und Architekturwissenschaft in Dresden, Frankfurt am Main und Warschau In ihrer Abschlussarbeit thematisierte sie die Baugeschichte der Paulskirche und ihre Verortung innerhalb der Architekturgeschichte Während ihres Studiums war sie u a am Sonderforschungsbereich 804 „Transzendenz und Gemeinsinn“ an der TU Dresden, am Deutschen Forum für Kunstgeschichte Paris,  am Deutschen Architekturmuseum sowie am Jüdischen Museum in Frankfurt/Main tätig Seit 2020 arbeitet sie im Bereich der Provenienzforschung in Köln und Bonn

Aufsätze Klaus Kremb „In mir hat Hegel den unsterblichen Funken der Freiheit entzündet“: Johann Georg August Wirths Nürnberger Gymnasialzeit (1814–1816) und das politische Denken Georg Wilhelm Friedrich Hegels Karlheinz Lipp Der Theatermacher Johann Nepomuk Nestroy im Vormärz und in der Revolution von 1848/49 Dieter Hein Vormärz an Rhein und Main: Bürgerlicher Aufbruch zwischen Region und Nation Andreas Pauschenwein Die Wahlen zur Frankfurter Nationalversammlung in Niederösterreich 1848

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Lucia Seiss Die Frankfurter Paulskirche und das städtische Bürgertum: Darstellung der Einflussnahme der bürgerlichen Selbstverwaltung auf den Bau der neuen protestantischen Hauptkirche Lothar Höbelt Wahlreform und Kulturkampf in Österreich: Der übersehene Erdrutsch von 1870 Gerhard Nestler Die Spaltung des politischen Katholizismus in der Pfalz 1918–1924 Tobias Hirschmüller Mediale Präsenz des „Führers“ in der Region: Das Beispiel des Hitler-Kultes in Neustadt an der Weinstraße Gert Krell Zwischen Holocausttrauma und Siedlungskolonialismus: Achille Mbembes Kritik an Israels Politik gegenüber den Palästinensern Forum Markus Raasch Das Projekt „Neustadt an der Weinstraße und der Nationalsozialismus“

ISBN 978-3-515-13072-1

9 783515 130721