Islam – Meinungsfreiheit – Internet: Staatsrechtliche Aspekte der Religions-, Meinungs- und Medienfreiheit [1. Aufl.] 9783662594254, 9783662594261

Das Themenspektrum dieses Buches erscheint weit gespannt. Meinungsfreiheit bildet das Scharnier zwischen Islam und Inter

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German Pages IX, 170 [177] Year 2020

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Table of contents :
Front Matter ....Pages I-IX
Islam, Scharia, Islamismus – eine Begriffsskizze (Lothar Häberle)....Pages 1-13
Freiheit und ihre Grenzen für Muslime und Islamfeinde (Michael Sachs)....Pages 15-36
Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Fragen der Religions- und Glaubensfreiheit (Udo Steiner)....Pages 37-54
Toleranz in islambezogenen Konflikten um Religions- und Meinungsfreiheit (Lothar Häberle)....Pages 55-84
Europäische Presse- und Meinungsfreiheit im Zeitalter des Internets (Verena Hoene)....Pages 85-100
Neue Herausforderungen für die Meinungsfreiheit in Europa (Klaus F. Gärditz)....Pages 101-116
Internet-Konflikte zwischen Meinungsfreiheit und Recht auf persönliche Ehre (Lothar Häberle)....Pages 117-167
Back Matter ....Pages 169-170
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Islam – Meinungsfreiheit – Internet: Staatsrechtliche Aspekte der Religions-, Meinungs- und Medienfreiheit [1. Aufl.]
 9783662594254, 9783662594261

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Lothar Häberle Hrsg.

Islam – Meinungsfreiheit – Internet Staatsrechtliche Aspekte der Religions-, Meinungsund Medienfreiheit

Islam – Meinungsfreiheit – Internet

Lothar Häberle Hrsg.

Islam – Meinungsfreiheit – Internet Staatsrechtliche Aspekte der Religions-, Meinungs- und Medienfreiheit

Hrsg. Lothar Häberle Lindenthal-Institut Köln, Deutschland

ISBN 978-3-662-59425-4    ISBN 978-3-662-59426-1  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-662-59426-1 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany

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I . Zum Titel des Buches: Konflikte um Islam und Meinungsfreiheit, mit dem Internet als Konflikt-Verstärker Auf den ersten Blick mag die Kombination der drei den Buchtitel bestimmenden Begriffe „Islam  – Meinungsfreiheit  – Internet“ überraschen. Schnell dürfte klar werden, dass Meinungsfreiheit als Scharnier zwischen den anderen beiden Begriffen steht, weil sie mit beiden Schnittmengen bzw. gemeinsame Konfliktfelder hat. Zu Recht kann man aber fragen, ob es auch – positiv oder negativ – Gemeinsames gibt zwischen Islam und Internet. Die geistige, publizistische und politische Auseinandersetzung um den Islam in Deutschland und Europa findet zu guten Teilen im Internet statt. Dabei wirkt das Internet als Konflikt-Verstärker: Zum einen wird das Netz vielfach anonym genutzt. Das bewirkt mangelnde Zurechenbarkeit und leider auch Verantwortlichkeit für Duktus und Inhalt des eigenen Beitrags. Zum anderen bleibt der Andere, zumal der Kritisierte und oft auch Angegriffene, unsichtbar. Der attackierte Muslim bspw. sitzt nicht vor seinem Kontrahenten, sodass er auf das gesprochene oder geschriebene Wort reagieren könnte, sondern der Kritiker hat oft vielmehr die eigenen Gesinnungsfreunde vor Augen und erwartet deren Beifall. So wirkt das Internet enthemmend. Genauso wie von Islamgegnern oder gar -feinden wird das Internet auch von Islamisten genutzt zur Anwerbung von IS-Sympathisanten oder IS-Kämpfern, zur Vorbereitung von Anschlägen oder anderen Straftaten. Wenn beide Seiten das Internet für ihre Zwecke nutzen, mithin in unterschiedliche Richtungen „ziehen“, verdoppelt sich der Konflikt-Effekt. Das mit dem Internet verbundene Phänomen der Echokammer bzw. Filterblase spielt dabei eine erhebliche Rolle, worauf im Beitrag „Internet-Konflikte zwischen Meinungsfreiheit und Recht auf persönliche Ehre“ eingegangen wird. Im Untertitel ist von „staatsrechtlichen Aspekten“ die Rede. Darin sind europarechtliche Gesichtspunkte, auf die in einigen Beiträgen explizit Bezug genommen wird, eingeschlossen. Denn das europäische Unionsrecht genießt – in immer wieder V

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auszutarierenden Grenzen – insofern Vorrang vor deutschem Staatsrecht, als dieses unionsrechtskonform auszulegen ist. Zudem ist die Rechtsprechung des EGMR (Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte) bei der Interpretation deutscher Rechtsnormen zu berücksichtigen.1 Im Terminus „staatsrechtliche Aspekte“ ist all dies inkludiert.

II. Zu den Beiträgen des vorliegenden Buches Zu Beginn der einzelnen Buchbeiträge erscheint es angebracht, einen Blick zu werfen auf die drei Begriffe Islam, Scharia und Islamismus. So können sie als Grundlage für die folgenden Beiträge dienen. Eine ausführliche Erörterung kann hier nicht geleistet werden, sie wäre an dieser Stelle  – da inhaltliche Einführung zu einem Teilthema – auch nicht angezeigt. Nach der gerade erfolgten Ausführung des Islamismus wird im Beitrag von Michael Sachs die entgegengesetzte Extremposition („Islamfeinde“) betrachtet. Dass ein Islamkritiker Rechte hat, bedarf fast keiner Erwähnung – die Rechte eines „Islamfeindes“ hingegen verstehen sich nicht von selbst, bedürfen differenzierter Begründung. Deshalb hatte der Herausgeber diese Begrifflichkeit zu behandeln vorgeschlagen. Sachs beleuchtet ausführlich nicht nur die für den Islam in Deutschland entstandenen Probleme, sondern auch die durch ihn verursachten. Dabei erweist es sich als sinnvoll, die mit den drei Freiheiten (Religion, Meinung, Kunst) verbundenen Konflikte nacheinander abzuschichten, sie aber doch zusammen zu sehen. Es werden die Grenzen dieser drei Freiheiten ausführlich erörtert. Wo sind sie zu ziehen? Udo Steiner legt den Fokus seiner Darstellung der Religionsfreiheit auf die Rechtsprechung des BVerfG, dessen Erstem Senat er angehörte. Dabei wird deutlich, wie von 1951 bis heute sich der Streitgegenstand erheblich verschoben hat: Ging es in der Frühphase um die rechtliche Einordnung der großen christlichen Konfessionen in Deutschland, geht es heute überwiegend um den Islam. Zeichnete sich in früheren Phasen die Rechtsprechung als sehr religionsfreundlich aus – mit der „Aktion Rumpelkammer“ als Scheitelpunkt –, fällt die Bilanz bzgl. Religionsfreundlichkeit heute bestenfalls gemischt aus. Das betrifft dann im Ergebnis nicht nur den Islam, sondern auch die christlichen Konfessionen. Die Entscheidungen über das Kopftuch-Tragen von Lehrerinnen in der öffentlichen Schule sind auch in unterschiedliche Richtungen gegangen. Lässt sich absehen, wohin sich das BVerfG in Religionsfragen zukünftig bewegen wird?

 S. nur U.  Hufeld, Anwendung des europäischen Rechts in Grenzen des Verfassungsrechts, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. X, 32012, § 215 Rn. 8 ff., 11 ff.; C.  Hillgruber, Der Nationalstaat in überstaatlicher Verflechtung, in: ebd., Bd.  II, 32004, §  32 Rn. 93 ff. Zum Verhältnis von Entscheidungen des EGMR und deutschem Staatsrecht s. in diesem Band L. Häberle, Toleranz in islam-bezogenen Konflikten um Religions- und Meinungsfreiheit (Fn. 97 und Text vor dieser Fn.). 1

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Will man Toleranz-Diskurse ehrlich führen, ist der Toleranz-Begriff klar abzugrenzen von Indifferenz, aber auch von Anerkennung, denn sonst würde Toleranz in Anspruch genommen für etwas, das sie nicht ist. „Toleranz in Islambezogenen Konflikten um Religions- und Meinungsfreiheit“ leuchtet das Konfliktfeld von einer derartigen Toleranz-Perspektive aus. Streitgegenstände sind islamische Kopfbedeckungen (Kopftuch, Niqab), aber auch Blasphemie durch Karikatur und Satire. Lothar Häberle fügt ein Thema hinzu, das keinen Islam-Bezug aufweist: Warum wurden durch den Wunsiedel-Beschluss des BVerfG die Toleranz-Grenzen gegenüber dem Vertrauen auf die freie geistige Auseinandersetzung so stark verengt? In übergeordneter Perspektive sieht er Toleranz als eine Verfassungsvoraussetzung: Toleranz erhöht den Wirkungsgrad von Freiheitsrechten. Verena Hoene beschäftigt sich mit Presse- und Meinungsfreiheit im Zeitalter des Internets. Das Internet mäandert zwischen einem Füllhorn neuer Möglichkeiten und Anwendungen einerseits und ungeahnten Gefährdungen andererseits. Wegen seiner Internationalität sind nationale Regulierungen nur begrenzt wirksam, europäische Regelungen hingegen angezeigt. Dementsprechend erläutert die Rechtsanwältin sowohl die EU-Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste als auch die E-­Commerce-­ Richtlinie und deren Umsetzung in deutsches Recht. Entscheidungen zu Hassreden, Beleidigungen oder unwahren Bewertungen gibt es vielzählige. Lassen sich schon einige Grundsätze aufzeigen, die nach und nach durch die Rechtsprechung entwickelt wurden? Die ambivalente Rolle des Internets sowie Auseinandersetzungen um „den“ Islam stellen neue Herausforderungen für die Meinungsfreiheit in Europa dar. Grundrechte werden nicht im diskursiven Normal-, sondern gerade im Konfliktfall re­ levant, so Klaus F.  Gärditz. Das Internet hat oft die hässlichen Seiten und „Schmuddel-Ecken“ der Gesellschaft sichtbar gemacht. Es ist aber auch ein Katalysator zentrifugaler Kräfte in der politischen Kommunikation. Die Tendenz zur kommunikativen Abkapselung Gleichgesinnter macht es zudem nicht leichter Kompromisse zu finden. Nicht selten fungiert „der“ Islam als Chiffre für kulturell Fremdes, um hintergründige rassistische Stereotypen zu maskieren und gleichzeitig auf eine Gruppe projizieren zu können. Eskalierender Meinungskampf führt zur Versuchung, den Staat als Entscheider in den Meinungskampf eingreifen zu lassen – soll nicht gerade dagegen die Meinungsfreiheit schützen? Bevor zum Thema „Internet-Konflikte zwischen Meinungsfreiheit und Recht auf persönliche Ehre“ von Lothar Häberle verfassungsrechtliche Verortungen vorgenommen werden, gilt es, die wichtigsten Spezifika des Internets, an erster Stelle die Anonymität im Netz, zudem das Entstehen von Echokammern (Abkapselung Gleichgesinnter), das Vergessenwerden im Netz und das Erstellen von Persönlichkeitsprofilen zu analysieren. Die Natur der Konflikte – Private gegeneinander, nicht Staat gegen Private  – rückt die Schutzpflichten des Staates für die Freiheitsausübung der privaten Opfer und damit auch die „mittelbare Drittwirkung“ (Ausstrahlung der Grundrechte auf das Privatrecht) ins Zentrum der verfassungsrechtlichen Analyse. Aufgrund dieser Drittwirkung ist bei marktmächtigen allgemeinen Foren und Suchmaschinen (Google, YouTube etc.) vom Vorliegen eines Kontrahierungszwangs auszugehen. Da das Netzwerkdurchsetzungsgesetz von 2017 – wenngleich

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besser als sein Ruf – erhebliche Defizite aufweist, fragt sich: Wie könnte ein Policy-­ Mix zum Abbau von Internet-Konflikten zwischen Privaten aussehen? Müsste er neben rechtlichen auch nicht-rechtliche Ansatzpunkte umfassen? In dem breit angelegten Thema des Buches „Islam – Meinungsfreiheit – Internet“ sind in allen Beiträgen einige besonders markante Konfliktfelder  – mit der Meinungsfreiheit im Zentrum – thematisiert worden. Dabei macht es den Reiz eines Sammelbandes aus, wenn in unterschiedlichen Artikeln gleiche oder ähnliche Themen von unterschiedlicher Warte aus analysiert werden. Gerade in diesem Kontext ist es bedauerlich, dass der Artikel von Dieter Grimm „Grund und Grenzen der Meinungsfreiheit im globalen Kontext“ aus urheberrechtlichen Gründen doch nicht den Weg in den vorliegenden Sammelband finden konnte. Dabei hätte es sich um eine Übersetzung, Aktualisierung und Erweiterung seines Artikels „Freedom of Speech in a Globalized World“ (in: Hare/Weinstein [Hrsg.], Extreme Speech and Democracy, 2009) gehandelt. Dieser sei zur Lektüre empfohlen. Auch wenn er erheblich darüber hinaus geht, wurde der vorliegende Band erarbeitet auf Grundlage eines mehrteiligen Interdisziplinären Colloquiums2 des Lindenthal-­Instituts in Köln. Die Durchführung der Veranstaltung wie auch das Entstehen dieses Buches wurde durch private Förderer ermöglicht. Ihnen allen wissen sich das Lindenthal-Institut und der Herausgeber dankbar verpflichtet. Darüber hinaus sei Professor Dr. Dr.h.c.mult. Dieter Grimm, Berlin, vielmals gedankt für seine Mitwirkung am Colloquium und Sammelband, auch wenn sein Beitrag letztlich nicht erscheint. Großer Dank gebührt auch allen Mitautoren, die in diesem Sammelband publiziert haben, sowie dem Kölner Rechtsanwalt Georg Dietlein und stud.iur. Carl Lennartz, Freiburg i.  Br., für vielfältige technische Hilfe. Dem Springer-Verlag danke ich für die Aufnahme dieses Bandes in sein Programm, insbesondere Anke Seyfried für ihr gewissenhaftes und umsichtiges Lektorat. Köln, 02.02.2020

Der Herausgeber

 Der Interdisziplinarität dieses Bandes soll auch dadurch Rechnung getragen werden, dass nur Juristen geläufige Abkürzungen bei erstmaligem Erscheinen in einem Beitrag in Klammern ausgeschrieben werden. 2

Inhaltsverzeichnis

 Islam, Scharia, Islamismus – eine Begriffsskizze��������������������������������������������   1 Lothar Häberle  Freiheit und ihre Grenzen für Muslime und Islamfeinde������������������������������  15 Michael Sachs  Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Fragen der Die Religions- und Glaubensfreiheit ����������������������������������������������������������������������  37 Udo Steiner  Toleranz in islambezogenen Konflikten um Religions- und Meinungsfreiheit ����������������������������������������������������������������������������������������������������������������  55 Lothar Häberle Europäische Presse- und Meinungsfreiheit im Zeitalter des Internets��������  85 Verena Hoene Neue Herausforderungen für die Meinungsfreiheit in Europa �������������������� 101 Klaus F. Gärditz  Internet-Konflikte zwischen Meinungsfreiheit und Recht auf persönliche Ehre������������������������������������������������������������������������������������������������ 117 Lothar Häberle Stichwortverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169

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Islam, Scharia, Islamismus – eine Begriffsskizze Lothar Häberle

Inhaltsverzeichnis I. Islam  1. Das religiös-staatliche Profil Muhammads  2. Die Gewaltfrage  3. Islam: vielgestaltig  II. Scharia  1. Wesen und Reichweite der Scharia: mehr als nur islamisches Recht  2. Scharia in islamischen Ländern: im Verfassungs-, Straf- und Familienrecht  3. Scharia in nicht-islamischen Ländern? In Deutschland mit dem Grundgesetz unvereinbar  III. Islamismus  1. (Maximale) Umsetzung der Scharia  2. Islamistische Gruppen  3. Rechtfertigung von Gewalt  4. Reaktionsmöglichkeiten des Staates auf islamistische Gruppen  IV. Fazit 

                    

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Mit dieser Skizze sollen lediglich drei für das erste Teilthema des Buches – Islam – wichtige Begriffe kurz beleuchtet werden. Der Versuch, die einzelnen Aussagen unter verschiedenen Aspekten auszuleuchten, sie wissenschaftlich zu differenzieren, würde den knappen Rahmen eines solchen Buches überdehnen. Die wesentlichen Aussagen sollen, abgestützt in der Literatur, nur kurz dargelegt werden.

L. Häberle (*) Lindenthal-Institut, Köln, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Häberle (Hrsg.), Islam – Meinungsfreiheit – Internet, https://doi.org/10.1007/978-3-662-59426-1_1

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I. Islam 1. Das religiös-staatliche Profil Muhammads Muhammad (570–632) prägte diese Religion von Anfang an: Er sah sich als letzten der Propheten, erhielt göttliche Offenbarungen, diente als „Schreibrohr“ (Sure 96:4), durch das Gott allen Menschen seine Offenbarung, den Koran, hat zukommen lassen. Nach islamischem Verständnis ist Muhammad aber nur ein vorbildlicher Mensch und der letztgültige Mittler, nicht jedoch Urheber und Autor „der maßgeblichen Offenbarungen Gottes“. Diese wurden nötig, da nach islamischer Auffassung Juden und Christen die ursprünglichen Offenbarungen Gottes verfälscht hätten.1 Muhammad hat mithin bei den Muslimen eine andersartige Stellung inne als bei den Christen Jesus Christus (Sohn Gottes, der aber kein Evangelium selbst verfasst hat). Schon bei Muhammad gab es „keine Trennung zwischen staatlicher und religiöser Instanz“ in dem Sinne, dass „das ganze Leben mit Religion durchtränkt (ist)“: Es gibt im Grunde keine profanen Handlungen, denn „jedes Werk soll ‚im Namen Gottes‘ angefangen und in Verantwortung vor Gott ausgeführt werden“; der „Mensch steht unmittelbar vor Gott“.2 Der Islam habe „um den religiösen Kern einen Staat aufgebaut, der bei strenger Auslegung mit der religiösen Gemeinde und ihren Institutionen identisch ist“.3 Das wird nicht von allen Islamwissenschaftlern so gesehen. „Einen Dualismus von Staat und Kirche gibt es im Islam nicht. Auch wenn es heute in der islamischen Welt Theoretiker gibt, die Muhammads Absicht, einen Staat im modernen Sinne des Wortes zu gründen, in Frage stellen und einen Dualismus postulieren, wird man dem historischen Befund besser gerecht, wenn man die islamische Gemeinde von Medina als ein Gebilde versteht, in dem Religion und Staat zu einer unauflösbaren Einheit verschmolzen waren.“4 Neben der religiösen Seite zeigte sich bei Muhammad die des Staatsmanns und Heerführers. „Nicht die Entstehung einer neuen Religion ist das historisch bedeutsamste Ereignis des frühen 7. Jahrhunderts“ – allein im Vorderen Orient sind viele entstanden und wieder untergegangen –, das „Bedeutsame ist vielmehr, dass ein Staat entstand, wo zuvor keiner war“ und dass dieser weit über den arabischen Sprachraum hinaus „zu expandieren begann und damit imperiale Züge annahm“.5

 U. Spuler-Stegemann, Islam. Die 101 wichtigsten Fragen, 4. Aufl. 2017, 13 (Hervorh. durch LH).  A. Schimmel, Die Religion des Islam. Eine Einführung, 14. Aufl. 2018 (1990), 21. 3  H. Busse, Grundzüge der islamischen Theologie und der Geschichte des islamischen Raumes, in: W. Ende/U. Steinbach (Hrsg.), Der Islam in der Gegenwart, 5. Aufl. 2005, 21 (27). 4  Ebd., 21 (27). 5  H. Halm, Der Islam. Geschichte und Gegenwart, 10. Aufl. 2015, 21. 1 2

Islam, Scharia, Islamismus – eine Begriffsskizze

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2. Die Gewaltfrage Welche Rolle spielte dabei die Religion des Islam? „Erst die Expansion des Staates schaffte die Voraussetzungen für die Verbreitung der Religion, die ihm als Kitt diente.“6 Einerseits also verbreitete sich der Islam durch kriegerische Expansion, die innere Islamisierung hingegen war ein langwieriger Prozess: Christen und Juden (als Buchreligionen) wurde vertraglich Schutz (dhimma) des islamischen Staates gewährt – verbunden mit gewisser religiöser Freiheit –, wenn diese sich verpflichteten, Abgaben zu zahlen (aus denen der Unterhalt der muslimischen Kämpfer bestritten wurde).7 Das impliziert die Unterwerfung der Schutzbefohlenen … aus wirtschaftlichen Gründen.8 Andererseits  – und das macht den „Kitt-Charakter“ aus – schaffte es Muhammad durch den Islam, aus den verschiedenen arabischen Stämmen eine neuartige Form der Gemeinschaft, die umma, zu bilden, die nicht mehr durch „tribale Loyalität“, sondern durch das neue religiöse Bekenntnis charakterisiert ist: „Nicht mehr der Stammesgenosse ist dem Stammesgenossen verpflichtet, sondern der Muslim dem Muslim.“9 Das darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Einsatz von Gewalt von Anfang an unverzichtbar war, etwa gegen abfallende Beduinenstämme, und dass viele der ersten Kalifen (Nachfolger Muhammads) ermordet wurden.10 Religion und Staat, Glaube und Gewalt gehen nicht nur Hand in Hand, sondern sind beim Islam zusammengewoben, bilden eine Einheit  – man kann von Amalgamierung sprechen. (Natürlich darf das nicht zur Schlussfolgerung führen, jeder Muslim  – oder auch nur eine Mehrheit der Muslime – würde Gewalt anwenden oder wolle das tun.)11 Wenn es so steht, könnte einem der Gedanke kommen, dass sich viele oder gar alle Religionen nur unter Verwendung von Gewalt, mit kriegerischen Mitteln, durchsetzen. Schließlich habe das Christentum auch öfters von Gewalt profitiert oder sie sogar selbst angewendet. Auch wenn diese Aussage prima facie nicht falsch ist, geht sie doch am Kern der Sache vorbei. Zwar gab es auch im Christentum gewaltsame Phasen  – erinnert sei an die europäischen Konfessionskriege im 17. Jahrhundert mit dem 30-jährigen Krieg als traurigem Höhepunkt, an gewaltsame Bekehrungen in Mexiko und Südamerika, an die Kreuzzüge, an die „Bartholomäus-Nacht“ in Paris. Das waren schlimme Verirrungen im Namen des christlichen Glaubens, für die man sich weder auf das Evangelium noch auf die Urkirche noch auf das gesamte frühe (bis ins 4. Jahrhundert hinein selbst Verfolgung leidende) Christentum berufen kann. „Christliche Intoleranz und Gewaltanwendung in Reli Ebd., 21.  Ebd., 29 f.; s. auch L. Häberle, Religionsfreiheit und Toleranz. Herausforderungen durch Islam, Relativismus und Säkularismus, Der Staat 57 (2018), 35 (40 ff.). 8  M. Rhonheimer, Christentum und säkularer Staat. Geschichte – Gegenwart – Zukunft, 2012, 339. 9  Halm, Der Islam (o. Fn. 5), 21. 10  S. nur Schimmel, Die Religion (o. Fn. 2), 22 ff. 11  Auch wenn Staat und Religion zusammengewoben sind, ist daraus noch nicht zu schlussfolgern, dass es etwa zwischen Religion und Recht gar keine Unterschiede gebe. Hierzu differenziert M. Rohe, Das islamische Recht. Eine Einführung, 2013, 10 ff. 6 7

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gionssachen stehen unter Rechtfertigungszwang, denn sie befinden sich mit dem christlichen Gründungscharisma in offensichtlichem Widerspruch.“12 Die im christlichen Glauben angelegte prinzipielle Trennung von Religion und Politik13 findet sich – so viel lässt sich hier schon feststellen – im Islam so nicht. Gleichwohl lässt sich daraus nicht ableiten, dass Muslime generell ein Problem etwa mit demokratischen Prinzipien hätten. „90 Prozent der deutschen Muslime sehen die Demokratie als gute Regierungsform an.“ Das gilt sowohl für zugezogene als auch für in Deutschland geborene Muslime. „Damit unterscheiden sich die deutschen Muslime nicht von anderen Gruppen in der deutschen Bevölkerung.“14

3. Islam: vielgestaltig Die Religion des Islam ist so vielgestaltig, dass man nur eingeschränkt von „dem“ Islam sprechen kann. Das gilt zum einen geografisch: etwa zwischen der Türkei und Arabien, in Indonesien, in Afrika stellt sich der Islam jeweils anders dar.15 Zum anderen gibt es eine große Meinungsvielfalt16 bezogen auf alle möglichen mit dem Islam in Verbindung stehenden Fragen, da im Islam bekanntlich auch keine Kirchen, nicht einmal feste Religionsgemeinschaften existieren, bei denen jeder Muslim eine feste Mitgliedschaft hätte. „Islam“ bedeutet „Ergebenheit in den Willen Gottes“. Jemand, der sich in den Willen Gottes ergibt, ist ein „Muslim“ (vom Persischen her „Moslem“), mit dem weiblichen Pendant „Muslima“ oder eingedeutscht „Muslimin“. Da Muhammad nur ein Mensch war, wird die Bezeichnung „Mohammedaner“ nicht gerne verwendet.17 Als grundlegende Bedingung für jeden Muslim gilt bei muslimischen Gelehrten der Glaube an Allah, an seinen (letzten) Propheten Muhammad sowie daran, dass der Koran als Gottes Wort unbedingte Gültigkeit hat. In der islamischen Theologie wird auch immer wieder debattiert, inwieweit Muslime ihr ganzes Leben an der Scharia auszurichten haben, woran sich viele Muslime nicht halten. Islamische Fundamentalisten werfen deswegen solchen Muslimen Apostasie vor, die meisten Gelehrten hingegen bewerten dies deutlich milder.18  Rhonheimer, Christentum (o. Fn. 8), 338 f. (Hervorh. im Original ausgelassen).  Erinnert sei an die Steuerfrage, die Jesus beantwortet mit „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers, und Gott, was Gottes ist“ (Mt 22, 21 – mit entsprechenden Parallelstellen in anderen Evangelien). 14  G. Pickel, Weltanschauliche Vielfalt und Demokratie. Wie sich religiöse Pluralität auf die politische Kultur auswirkt, Religionsmonitor der BertelsmannStiftung, 2019, 41. 15  S. nur B. Ucar, Statement, in: L. Häberle/J. Hattler (Hrsg.), Islam – Säkularismus – Religionsrecht, 2012, 51 ff.; umfassend die verschiedenen Länderstudien in Ende/Steinbach (Hrsg.), Der Islam (o. Fn. 3), 229–619. 16  D.  Zacharias, Islamisches Recht und Rechtsverständnis, in: S.  Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, 43 (156 f.). U. Matyssek, Zum Problem der Trennung von Religion und Politik im Islam, in: ebd., 158 (163 f.). 17  Spuler-Stegemann, Islam (o. Fn. 1), 13. 18  R. Elger, Muslim, in: ders. (Hrsg.), Kleines Islam-Lexikon, 5. Aufl. 2008, 228 f. 12 13

Islam, Scharia, Islamismus – eine Begriffsskizze

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Die Muslime glauben an einen allmächtigen Gott, der Himmel und Erde erschaffen hat. Zudem müssen sie fromm sein (Sure 2:177), indem sie u. a. an den Jüngsten Tag, die Engel, den Koran und die Propheten glauben – zu denen auch Abraham, Mose, Elias und Jesus zählen sowie natürlich Muhammad als letzter der Propheten –, Bedürftigen aus Liebe zu Gott Geld zukommen lassen, Gebet verrichten, Abgaben entrichten und nach Mekka pilgern.19 Mose, Jesus und Muhammad werden jeder als „Gesandter Gottes“ bezeichnet, weil jeder von ihnen eine heilige Schrift empfing: die Thora, das Evangelium und den Koran. Alle drei heiligen Schriften gelten „als Kopien des im Himmel befindlichen Urbuchs (‚Mutter des Buches‘)“. Weil aber nach islamischer Vorstellung die Juden die Thora und Paulus das Evangelium verfälscht haben, erfreuen sich allein die Muslime der „einzig echten Kopie des Urbuchs in Gestalt des Korans“.20 In der islamischen Theologie gibt es die Auffassung einer islamischen Ur-Natur (arab. fitra): Jeder Mensch sei als Muslim geboren. Wenn nun jemand Christ, Jude oder Anhänger einer anderen Religion sei, pervertiere er seine ursprüngliche Natur. Aus solcher Perspektive lässt sich nachvollziehen, warum Nicht-Muslime mit Muslimen nicht gleich behandelt werden.21 Festzustellen ist hier die parallele Argumentationsweise bzgl. Koran und Ur-­ Natur, die die Überlegenheit des Islam gegenüber Christentum und Judentum aufzuzeigen versucht: Er allein habe das entscheidende Ur-Element (Ur-Buch bzw. Ur-Natur).

II. Scharia 1. Wesen und Reichweite der Scharia: mehr als nur islamisches Recht Wer sich nur etwas mit der Scharia beschäftigt, merkt schnell, dass es sich hier um ein umstrittenes Ens mit nicht immer klaren Konturen handelt. So findet sich etwa die Aussage, Scharia bedeute „im Koran nicht Recht, sondern Moralität“: „Das islamische Rechtssystem ist den historischen Fakten gemäß nicht im 7. Jahrhundert parallel zur islamischen Offenbarung, sondern erst im 8. Jahrhundert entstanden. Somit handelt es sich um eine postkoranische Konstruktion.“22 Dies ist eine ­Mindermeinung, deren Begründetheit bei dieser knappen Übersicht nicht weiter untersucht werden kann. Hier mag es genügen zu wissen, dass es sie gibt.

 Spuler-Stegemann, Islam (o. Fn. 1), 36 f.  Spuler-Stegemann, Islam (o. Fn. 1), 37. 21  L. Wick, Islam und Verfassungsstaat in der Perspektive einflussreicher islamischer Theologen, in: Häberle/Hattler (Hrsg.), Islam (o. Fn. 15), 41 (47 f.); ders., Islam und Verfassungsstaat. Theologische Versöhnung mit der politischen Moderne?, 2009, 128 f. 22  B. Tibi, Euro-Islam. Die Lösung eines Zivilisationskonfliktes, 2009, 123. 19 20

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Trotz dieser Einordnung mag manchen die Aussage überraschen: „Die Scharia ist kein Gesetzbuch“. Für den gläubigen Muslim ist sie die „allein maßgebliche Norm, die an jedem Ort und zu jeder Zeit gültig ist. Die Scharia ist das Instrument, Hilfestellungen zu geben, zu gewährleisten, dass der verunsicherte Gläubige sich religiös in allen Lebenssituationen richtig verhält, und öffnet ihm damit den Weg zum ewigen Heil.“23 So allgemein formuliert könnte dieser Text auch eine christliche Position abstecken. Was nun heißt das konkret? Die Scharia ist ein „System“, welches „das ganze Leben eines Muslim umspannt und bis ins kleinste Detail regelt, und weil sie zudem an jedem Ort der Welt gültig zu sein hat, ist sie aufgeteilt in die kultischen Pflichten gegenüber Gott, die ‚Fünf Säulen des Islam‘, und in die rechtlichen Bestimmungen wie moralischen Vorschriften, die ein gesittetes und gerechtes Verhalten der Gläubigen untereinander gewährleisten sollen.“ Aber mehr noch: „An der Scharia bemisst sich auch, ob und unter welchen Bedingungen der kämpferische Jihad durchgeführt werden muss oder welche völkerrechtlichen Verträge akzeptiert werden können. Die Menschenrechte werden unter das Verdikt der Scharia gestellt“.24 Mithin stellt die Scharia ein umfassendes System dar, das nicht nur das Leben des einzelnen Muslim, sondern auch das des Staates zu regeln verspricht, auch wenn sie nicht kodifiziert, also in Gesetzesform vorliegt, sondern besser als „Richter- und Gelehrtenrecht“ bezeichnet wird und zudem die „erforderlichen Methoden zur Anwendung auf neue Fälle und zur Fortentwicklung von Kultus und Recht“ enthält.25

2. Scharia in islamischen Ländern: im Verfassungs-, Strafund Familienrecht Dass ein so umfassendes System „zu keiner Zeit absolute Anwendung gefunden hat“,26 überrascht nicht. „Die Spannung zwischen idealtypischer Scharia und materieller Rechtswirklichkeit ist eines der Hauptprobleme islamischer Geschichte. Die Schwäche der Scharia bei der Bewältigung der Rechtswirklichkeit ist nicht zuletzt in der Erstarrung der Formen der Rechtsfindung im 9. Jahrhundert begründet, als die Sammlung der Rechtsquellen für abgeschlossen erklärt und ihrem Inhalt sakrosankter Charakter zugesprochen wurde.“27

 Spuler-Stegemann, Islam (o. Fn. 1), 92 f. (Hervorh. nicht übernommen).  Spuler-Stegemann, Islam (o. Fn. 1), 93 (Auslassung einiger arabischer Begriffe). 25  T. Seidensticker, Islamismus. Geschichte, Vordenker, Organisationen, 4. Aufl. 2016, 123. 26  B. Radtke, Der sunnitische Islam, in: Ende/Steinbach (Hrsg.), Der Islam (o. Fn. 3), 55 (66). Zur umfassenden Kategorisierung der Scharia in den Verfassungstexten muslimischer Länder D. zu Hohenlohe, Die Rolle der Scharia in den Verfassungsordnungen muslimischer Länder, 2019 (Text von 2009), 10 ff., zur Rolle der Scharia in der Verfassungswirklichkeit ebd., 31 ff. 27  Radtke, Der sunnitische Islam (o. Fn.  26), 55 (66). Die Schreibweise von Scharia  – im Zitat sharia – wurde vereinheitlicht. 23 24

Islam, Scharia, Islamismus – eine Begriffsskizze

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Einerseits erkennen die meisten Verfassungen islamischer Länder den Islam de jure oder de facto an als Staatsreligion (Privilegierung dieser Religion incl. Verbot des Abfalls vom islamischen Glauben; Staat als Sachwalter der Religion; keine Gleichberechtigung von Andersgläubigen bzgl. Eherecht, Vergabe öffentlicher Ämter etc.). Andererseits ist jedoch festzustellen: „Die von vielen Muslimen bemühte These von der Einheit von Staat und Religion im Islam (al-islam din wa-daula) war und ist keineswegs unumstritten und mündet daher auch nicht in eine einheitliche islamische Staatstheorie.“28 Apostasie, also der Abfall vom islamischen Glauben, soll – mehrheitlich – mit der Tötung des Apostaten bestraft werden.29 So wird Apostasie heute noch u. a. in Saudi-Arabien, Sudan, Iran, Pakistan und Afghanistan unter Strafe gestellt, in den übrigen muslimischen Ländern z. T. schon länger nicht mehr. Dort garantieren die Verfassungstexte mehrheitlich sogar Religionsfreiheit. Gleichwohl könne sich auch dort ein Apostat seines Lebens nicht sicher sein, weil „Zuwiderhandlungen gegen Gottes Gebote“ auch bestraft werden können von einem Richter gemäß „Schariarecht nach den Erfordernissen des öffentlichen Interesses“ als Ermessensfrage, auch gegen rechtsstaatliche Grundsätze. „Die Kapitalstrafe für Apostaten wird selbst von gemäßigten Reformisten im muslimischen Klerus nicht ausgeschlossen.“30 Das islamische Strafrecht – nicht jedoch das konkreter Staaten – umfasst einen weitreichenden Strafenkatalog: bspw. bei illegitimem Geschlechtsverkehr Steinigung von Mann oder Frau (nur in besonderen Konstellationen Reduzierung auf 100 Hiebe); fälschliche Bezichtigung der Unzucht 80 Hiebe; Genuss berauschender Getränke 40 oder 80 Hiebe; bei schwerem Diebstahl Abtrennung der rechten Hand, im Wiederholungsfall des linken Fußes.31 Wie kein anderer Bereich sind das Familien-, Personen- und Erbrecht von der Scharia geprägt, „ohne indes, was den Grad und den Inhalt dieser Prägung anbelangt, in der islamischen Welt homogen zu sein“.32 Das idealtypische Scharia-Recht hat unter den islamischen Staaten in ganz unterschiedlicher Weise Eingang gefunden in das materiale Recht.33 Andere Faktoren als die Scharia haben auch eine Rolle gespielt und dabei vielfach die Rigorosität des islamischen Strafrechts abgeschwächt.

 H.-G. Ebert, Tendenzen der Rechtsentwicklung, in: Ende/Steinbach (Hrsg.), Der Islam (o. Fn. 3), 199 (206). „Die These, der Islam sei din wa-daula, Religion und Staat, bildet daher keine Beschreibung der Wirklichkeit oder gar ein unabänderliches Gesetz“, so Matyssek, Zum Problem (o. Fn. 16), 158 (178). 29  Ebert, Tendenzen (o. Fn. 28), 199 (210). Zum Folgenden L. Wick, Islam (2009)(o. Fn. 21), 132 f. 30  L. Wick, Islam (2009)(o. Fn. 21), 133; zu gleichem Ergebnis kommt Schimmel, Die Religion (o. Fn. 2), 67. 31  Ebert, Tendenzen (o. Fn. 28), 199 (209). Vgl. auch Rohe, Das islamische Recht (o. Fn. 11), 77 ff. 32  Ebert, Tendenzen (o. Fn. 28), 199 (215 ff.). 33  Umfassender länderspezifischer Überblick in Ende/Steinbach (Hrsg.), Der Islam (o. Fn.  3), 229–559. 28

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3. Scharia in nicht-islamischen Ländern? In Deutschland mit dem Grundgesetz unvereinbar „Die Gesetze auch eines nicht-islamischen Landes sind zwar zu respektieren, aber nur, sofern sie nicht der Scharia widersprechen. Bilden die Muslime aber die Mehrheit, so ist es ihre Verpflichtung, die Scharia durchzusetzen.“34 Es ist schwer abzuschätzen, welche Verbreitung eine derartige – weitreichende – Position angesichts der großen Vielgestaltigkeit des Islam bei wichtigen islamischen Gelehrten oder auch in der Politik hat.35 Für die weiteren Überlegungen wird davon ausgegangen, dass sie zumindest eine gewisse Verbreitung hat,36 es sich mithin lohnt, die folgenden Überlegungen anzustellen. In Deutschland könnte ein Scharia-Vorbehalt,37 wenn er sich in rechtlich relevanten Handlungen niederschlägt, nicht akzeptiert werden. Denn sowohl eine Staatsreligion als auch die enge Einheit von Staat und Religion im Islam wären allein schon mit Art. 140 GG i. V. m. (in Verbindung mit) Art. 137 I WRV (Weimarer Reichsverfassung) („Es gibt keine Staatskirche“) unvereinbar.38 Gleiches gilt im Strafrecht: Statt Steinigung gilt Art.  102 GG („Die Todesstrafe ist abgeschafft“), auch körperliche Züchtigungen gibt es hier nicht. Niemand muss die deutschen Gesetze innerlich bejahen, er muss sie schon gar nicht in Äußerungen bejahen (sofern er nicht zu Straftaten aufruft). Bei widerrechtlichen Handlungen hingegen wäre die „rote Linie“ überschritten: Dann würden auch Muslime, wie jeder andere Bewohner dieses Staates auch, oder deren Gemeinschaften rechtlich für ihr Tun zur Verantwortung gezogen. Sich auf die Religionsfreiheit nach Art. 4 I, II GG oder das religionsgesellschaftliche Selbstbestimmungsrecht nach Art.  140 GG i.  V.  m. Art.  137 III WRV zu berufen, würde immer dann nicht greifen, wenn bei der Abwägung entweder diesen entgegenstehende Grundrechte Dritter oder mit Verfassungsrang ausgestattete Rechtsnormen gewichtiger wären. Die Letztverantwortung für das, was

 Spuler-Stegemann, Islam (o. Fn. 1), 93 (Hervorh. im Original). Diese Aussagen erfolgen ohne relativierende Einschränkungen. Das lässt stark darauf schließen, dass sie zumindest eine gewisse Verbreitung zu haben scheinen. Die Autorin selbst lehnt eine deutsche Einführung der Scharia „durch die Hintertür“ ab (ebd., 148 f.). 35  S. zu einer ähnlichen Frage die – ohne klares Ergebnis endenden – Erörterungen bei Matyssek, Zum Problem (o. Fn. 16), S. 158 (166 ff., 178). 36  „Während Muslime in der Diaspora nach Auffassung vieler klassischer Juristen entweder auf die Islamisierung der Gesellschaft hinarbeiten oder, wenn sie daran scheiterten, auswandern sollten, besteht somit nach anderer, heute häufig vertretener Auffassung die Möglichkeit, den Status als Angehörige einer Minderheit in einem nicht-islamischen Land zu akzeptieren. Auch scharia-treue Muslime ziehen einen islamischen Staat nur für Gesellschaften mit muslimischer Mehrheit in Betracht.“ (Ebd., S. 158 [184]). Damit wird deutlich, dass die Position eine gewisse Verbreitung hat, Muslime müssten immer auf die Durchsetzung der Scharia hinarbeiten und hätten sie bei eigener Mehrheit auch durchzusetzen. 37  Scharia-Vorbehalt bedeutet, dass sich im Konfliktfall die Scharia durchzusetzen hat. 38  Darüber hinaus könnten auch Art. 4 I, II GG sowie Art. 3 I, III und 33 III GG einschlägig sein. 34

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im Land geschieht, obliegt nicht einer islamischen Religionsgemeinschaft, sondern ausschließlich dem Staat bzw. dessen Gerichten.39 Vermutlich hatte er dies vor Augen, als der Zentralrat der Muslime in Deutschland 2002 formulierte: „Das islamische Recht verpflichtet Muslime in der Diaspora, sich grundsätzlich an die lokale Rechtsordnung zu halten.“ Was jedoch gilt, wenn die Situation der „Diaspora“ nicht mehr besteht?40 Dann müssten, um Gesetze oder gar das Grundgesetz zu ändern, die dann die Bevölkerungsmehrheit stellenden Muslime über eine Parlamentsmehrheit verfügen, entweder indem sie bestehende Bundestagsfraktionen von ihren Positionen überzeugen (wofür derzeit nichts spricht) oder indem sie eine bzw. mehrere neue Fraktionen ins Parlament entsenden. Soweit die muslimischen Positionen nicht verfassungskonform sind (wie gerade dargestellt), könnten sich die anderen Fraktionen mithilfe eines Parteiverbotsverfahrens gemäß Art. 21 GG (II Parteiverbot, III Stopp öffentlicher Finanzierung solcher Parteien), das beim Bundesverfassungsgericht ressortiert (Art. 21 IV GG), erfolgversprechend dagegen wehren.

III. Islamismus 1. (Maximale) Umsetzung der Scharia „Beim Islamismus handelt es sich um Bestrebungen zur Umgestaltung von Gesellschaft, Kultur, Staat oder Politik anhand von Werten und Normen, die als islamisch angesehen werden.“41 Mit „Bestrebungen“ sind verschiedenste Aktivitäten gemeint wie bspw. missionarische oder erzieherische Tätigkeiten, das unmittelbar politische Engagement in Parteien bis hin zu revolutionären Plänen und Handlungen unter Verwendung von Gewalt. Sie alle zielen auf Veränderung in den vier Bereichen Gesellschaft, Kultur, Staat bzw. Politik mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Die Breite dessen, was oben unter Scharia verstanden wurde, macht es naheliegend, dass unter islamischen „Werten und Normen“ nur einige unter diesen ausgewählt werden. Mit Islamismus – auch als „politischer Islam“ charakterisiert – wird damit eine „Herrschaftsideologie“ bezeichnet, die „sich zu ihrer Legitimierung auf die Frühzeit des Islam beruft“ (die Zeit Muhammads und der ersten vier Kalifen), „auf die alleinige Geltung von Koran und Überlieferung (arab. sunna) anstelle von menschengemachten Gesetzen sowie die Einheit von weltlicher Macht und religiöser 39  S. nur E.-W. Böckenförde, Der säkularisierte Staat, 2007, 38 ff.; s. auch H. M. Heinig, Statement, in: Häberle/Hattler (Hrsg.), Islam (o. Fn. 15), 114. 40  S. dazu A. Petersohn, Der Islam „ante portas“ – Sprengstoff für den Staat des Grundgesetzes? Die Islamische Charta des Zentralrats der Muslime in Deutschland, ZRP (Zeitschrift für Rechtspolitik) 2002, 521 ff.; s. auch L. Häberle, Zwischen Islam und Säkularismus – Religionsfreiheit und Religionsrecht vor konträren Herausforderungen, KuR (Kirche und Recht) 2010, 255 (256 f.). 41  Seidensticker, Islamismus (o. Fn. 25), 9 (Hervorh. nur im Original).

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Herrschaft“.42 Um eine vermeintlich ideale Gesellschaft auf Erden aufrichten zu können, besteht das Fernziel für die Gestaltung von Gesellschaft und Politik in der maximalen Umsetzung der Scharia. Auch wenn man sich wie etwa die islamistischen Muslimbrüder in Ägypten mit der Demokratie arrangiert, kann der Islamismus die Demokratie auf Dauer jedoch nicht wirklich anerkennen oder der Scharia vorordnen.43

2. Islamistische Gruppen Dem Islamismus zugeordnet werden der in Saudi-Arabien beheimatete Wahhabismus, außerdem der Salafismus unterschiedlicher Provenienz, die in Ägypten entstandene Muslimbruderschaft, die Hamas im Gazastreifen, die schiitische Hizbollah im Libanon, die 1988 während der sowjetischen Afghanistan-Besetzung entstandene al-Qaida des Saudis Usama Bin-Laden und nicht zuletzt der „Islamische Staat“ (IS) in Syrien und zeitweilig im Irak. Auch wenn ihr Tätigkeitsspektrum breit ist, hat es theoretisch oder praktisch immer mit Gewalt zu tun.44

3. Rechtfertigung von Gewalt Gerechtfertigt wird die Anwendung von Gewalt meist mit dem Jihad (auch wenn nicht selten die „tieferen Beweggründe profan“ sind: „Ansprüche auf Macht, Teilhabe an Ressourcen und Anerkennung“).45 Im Koran taucht das Wort Jihad (und verwandte Formen) fast drei Dutzend Mal auf, davon an 30 Stellen mit der eindeutigen Bedeutung von kriegerischem Kampf. „Spätestens seit Sayyid Qutb“, einem 1966 hingerichteten Ägypter, der als radikalster islamistischer Vordenker gilt, „bekennen sich radikale Islamisten freimütig zum offensiven Jihad als kollektiver Pflicht, die durch die Pflichtvergessenheit der Herrscher zu einer individuellen Pflicht werde“.46 Ob davon auch Muslime betroffen werden, könnte man sich fragen. „Mit dem Begriff des modernen Heidentums haben al-Maududi und Qutb den Weg für die ‚Exkommunizierung‘ von Herrschern und ganzen Gesellschaften bereitet, die sich

 C. Schirrmacher, Politischer Islam und Demokratie. Konfliktfelder, 2015, 18.  Ebd., 18 f. 44  Zu diesem Abschnitt s. Seidensticker, Islamismus (o. Fn. 25), 17 ff., 24 ff., 43 ff., 70 ff., 85 ff., 90  ff., 100  ff. S. auch G.  Steinberg/J.-P.  Hartung, Islamistische Gruppen und Bewegungen, in: Ende/Steinbach (Hrsg.), Der Islam (o. Fn. 3), 681. 45  Seidensticker, Islamismus (o. Fn.  25), 105. Ähnlich Matyssek, Zum Problem (o. Fn.  16), 158 (198). 46  Seidensticker, Islamismus (o. Fn. 25), 108, zu Sayyid Qutb ebd., 49–57. 42 43

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selbst als Muslime bzw. als muslimisch ansehen.“47 Abgesehen von den spektakulären und im kollektiven Gedächtnis sehr präsenten Attentaten etwa in den USA, Madrid, Paris, Berlin, die auf Nicht-Muslime zielten, waren vermutlich die meisten Opfer des Jihad in diesem Jahrtausend andere Sunniten und Schiiten.48

4. Reaktionsmöglichkeiten des Staates auf islamistische Gruppen Vorab: Der Staat ist in der öffentlichen Kommunikation gut beraten, nach terroristischen Anschlägen, die zurecht islamistischen Gruppen zuzurechnen sind, die im Staat lebenden Muslime nicht unter Generalverdacht zu stellen. Angesichts der Vielfalt islamischer Positionen sollte sich immer wieder die Erkenntnis durchsetzen, dass die übergroße Mehrheit der Muslime mit islamistischem Terrorismus nichts zu tun hat. Am friedlichen Charakter der allermeisten Muslime – besonders derjenigen, die in nicht-islamischen Staaten leben – besteht kein Zweifel. Daraus die Aussage herzuleiten, islamistischer Terrorismus habe mit dem Islam nichts zu tun, erscheint jedoch verfehlt. Wie oben dargestellt, hat schon seit der Religionsgründung zu Zeiten Muhammads eine Amalgamierung zwischen Islam und Gewalt stattgefunden, wie sie in vielen Religionen so nicht anzutreffen ist. Das erfordert Vorsicht seitens der staatlichen Behörden. Dazu zählt bei der Vorfeldarbeit vor allem der Verfassungsschutz. Seine Arbeit bewegt sich in einem engen Korridor: Einerseits soll er hinreichend erfolgreich operieren, andererseits dürfen die Grundrechte nicht unverhältnismäßig eingeschränkt werden. In diesem Kontext wird im Beitrag „Internet-Konflikte“ auf eine Entscheidung des BVerfG zur „Online-Durchsuchung“ kurz eingegangen. Sicherheit und Freiheit immer wieder gut auszubalancieren ist anspruchsvoll. Das alles ist allerdings nicht islamspezifisch, gilt aber natürlich auch für islamistische Gruppen. Des Weiteren sind die Sicherheitskräfte gefordert, islamistische – wie auch andere – Straftaten möglichst zu verhindern, sie notfalls zumindest zügig aufzuklären. Dem Internet kommt dabei eine zunehmend größere Rolle zu. Auch hier ist rechtsstaatlichen Prinzipien Genüge zu tun. Auch wenn Terrorbekämpfung ihrer Natur nach nicht islamspezifisch ist, kann und sollte die geistige Auseinandersetzung hingegen unterschiedliche Positionen spezifisch berücksichtigen, etwa islamische, islamistische und zum Vergleich die anderer Religionen. Letztlich gilt es, im Bereich von Bildung und Erziehung, also weit im Vorfeld eines Konfliktes, klare Positionen auszuflaggen: einerseits die Vielgestaltigkeit des Islam zu verdeutlichen, andererseits auch die im Vergleich zu christlichen Bekenntnissen engere Verbindung von Religion und Politik im Islam, das Gewalt-Problem, die Existenz des Islamismus. Es sollte ohne Polemik möglich  Ebd., 109 (arabische Begriffe ausgelassen).  Opfer islamistischer Gewalttaten wurden „auch und vorrangig Muslime“, darunter der ägyptische Staatspräsident Sadat. Ebd., 104. 47 48

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sein, die unterschiedlichen Positionen herauszuarbeiten und – wo möglich – Lösungen zur Konfliktbeseitigung aufzuzeigen.

IV. Fazit Auch wenn der Islam regional wie inhaltlich äußerst vielgestaltig ist, gibt es einige Merkmale, die allen Spielarten in irgendeiner Weise eigen sind und sie dadurch etwa von Christentum und Judentum unterscheiden. Dazu zählt die engere Verbindung von einerseits Religion und Politik (Staat) sowie andererseits Religion und Gewalt. Die im christlichen Glauben angelegte prinzipielle Trennung von Religion und Politik findet sich im Islam so nicht. Besonders wenig existiert eine derartige Trennung im Islamismus bzw. im politischen Islam, der mit Gewalt und Terror den Jihad durchzusetzen gewillt ist. Terrorbekämpfung ist ihrer Natur nach nicht islamspezifisch. Die geistige Auseinandersetzung im Bereich von Bildung und Erziehung hingegen kann und sollte unterschiedliche Positionen spezifisch berücksichtigen, etwa islamische, islamistische und zum Vergleich die anderer Religionen. Der Islamismus zielt auf die alleinige Geltung von Koran und Überlieferung (anstelle von menschengemachten Gesetzen) sowie auf die Einheit von weltlicher Macht und religiöser Herrschaft. Dabei besteht das Fernziel für die Gestaltung von Gesellschaft und Politik in der maximalen Umsetzung der Scharia. Die Scharia ist mehr als nur eine Rechtsordnung. Auch wenn sie nicht kodifiziert, also in Gesetzesform vorliegt, sondern besser als „Richter- und Gelehrtenrecht“ bezeichnet wird, stellt sie ein umfassendes System dar, das nicht nur das Leben des einzelnen Muslim, sondern auch das des Staates zu regeln verspricht. Dass es als so umfassendes System zu keiner Zeit absolute Anwendung gefunden hat, vielmehr unter den islamischen Staaten in ganz unterschiedlicher Weise in das materiale Recht eingegangen ist, überrascht nicht – andere Faktoren als die Scharia haben vielfach die Rigorosität des islamischen Strafrechts zum Teil erheblich abgeschwächt. Zwar wird die (radikale) Position vertreten – wie viel Unterstützung sie hat, ist nicht klar –, die Muslime wären auch in einem bisher nicht-islamischen Land verpflichtet, die Scharia zu verwirklichen, sobald sie die Bevölkerungsmehrheit bilden. Es ist aber nicht davon auszugehen, dass sich in Deutschland eine solche Position durchsetzen wird: zum einen aufgrund der großen Vielgestaltigkeit des Islam bei wichtigen islamischen Gelehrten oder auch Uneinigkeit bzgl. der Politik, zum anderen aufgrund der Unvereinbarkeit der Scharia, sobald sie sich in rechtlich relevanten Handlungen niederschlagen sollte, mit dem Grundgesetz. Solange die Rechtsordnung in Deutschland gültig und durchsetzungsfähig ist, obliegt die Letztverantwortung für das, was im Land geschieht, nicht islamischen Religionsgemeinschaften, sondern ausschließlich dem Staat bzw. dessen Gerichten. Grund zu besonderer Sorge vor einer „Islamisierung“ Deutschlands gibt es nicht, Grund zur Wachsamkeit davor schon.

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Dr. Lothar Häberle,  geb. 1954 in Frankfurt/Main, 1973 Abitur, Studium der Staatswissenschaften (bes. VWL) in Bonn und Köln, 1978 Diplom-Volkswirt und 1982 Promotion zum Dr.rer.pol. an der Univ. zu Köln, mehrjährige Tätigkeit in der Politikberatung, u. a. für einen Landesminister. Derzeit wissenschaftlicher Referent und stv. Direktor des Lindenthal-Instituts in Köln sowie Generalsekretär der Lindenthal-­Stiftung. Veröffentlichungen und Seminare zum Religionsrecht, zu Toleranz, Relativismus, zum Spannungsfeld von Sicherheit und Freiheit, zu Ehe und Familie, Migrations- und Flüchtlingspolitik, Internet-Regulierung.

Freiheit und ihre Grenzen für Muslime und Islamfeinde Zur Religions-, Meinungsäußerungs- und Kunstfreiheit unter dem Grundgesetz Michael Sachs

Inhaltsverzeichnis I. Problemfälle 1. Probleme mit der muslimischen Religion 2. Probleme mit gegen den Islam gerichteten Meinungsäußerungen 3. Probleme mit gegen den Islam gerichteter Kunst II. Grenzen grundrechtlicher Freiheiten – Grundlagen III. Die Grenzen der drei Freiheiten 1. Grenzen der Religionsfreiheit der Muslime a) Tatbestandliche Grenzen b) Einschränkungsmöglichkeiten 2. Grenzen der Freiheit zur Äußerung gegen den Islam gerichteter Meinungen a) Tatbestandliche Grenzen b) Einschränkungsmöglichkeiten 3. Grenzen gegen den Islam gerichteter Kunst a) Tatbestandliche Grenzen b) Einschränkungsmöglichkeiten IV. Schluss

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I. Problemfälle Einschlägige Fragen stellen sich vor allem bezogen auf Muslime und die Religionsfreiheit einerseits, „islamfeindliche“ Betätigungen der Meinungsäußerungs- und Kunstfreiheit anderer Menschen andererseits. Die letztgenannten Grundrechte stehen natürlich auch Muslimen zu, werfen aber insoweit keine besonderen Fragen Für die Sammlung einschlägigen Materials und weitere wertvolle Unterstützung danke ich meinem Wissenschaftlichen Mitarbeiter Dr. Christian Jasper. M. Sachs (*) Köln, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Häberle (Hrsg.), Islam – Meinungsfreiheit – Internet, https://doi.org/10.1007/978-3-662-59426-1_2

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auf. Zur Islamfeindlichkeit beziehe ich mich auf die Betätigung der genannten Grundrechte, nicht auf die handelnden Personen, auch nicht auf sonstige Aktivitäten von „Islamfeinden“.1 Gehen diese etwa in krimineller Weise gegen Muslime oder ihre Moscheen vor, gilt dafür nur die allgemeine Verhaltensfreiheit,2 die insoweit durch Strafgesetze problemlos eingeschränkt ist.3 Ein spezifischer Schutz islamfeindlicher Betätigungen durch die Religionsfreiheit sollte ausscheiden, weil „Islamfeindschaft“ als solche keine Religion ist.4 Einleitend möchte ich einige Fälle ansprechen, die in der Rechtsprechung oder sonst in der Diskussion um unser Thema eine Rolle spielen oder gespielt haben.

1. Probleme mit der muslimischen Religion Die Probleme mit der muslimischen Religion ergeben sich ungeachtet ganz unterschiedlicher, hier nicht aufzuklärender Ursachen im Einzelnen schon daraus, dass diese nicht seit ähnlich langer Zeit wie zumal das Christentum in Deutschland verwurzelt ist; daraus ergeben sich Friktionen, weil der Islam manches hier bislang unübliche Verhalten veranlasst und weil umgekehrt nicht alle hier traditionell bestehenden Vorschriften oder Gepflogenheiten allen Muslimen akzeptabel erscheinen. Selbst bei den hierzulande (immer) noch als fremd empfundenen Muslimen bereitet allerdings das forum internum religiöser Überzeugungen als solches wohl keine Probleme. Schwierigkeiten beginnen allerdings bereits, wenn Muslime ihre Religion nach außen bekennen: Schon das Gebet eines Schülers in der Schule5 ist als Ärgernis

 Mit diesem Begriff seien Personen bezeichnet, die dem Islam insgesamt oder doch, soweit er in Deutschland sichtbar wird, aus welchen Gründen auch immer feindselig gegenüberstehen. Die diskutierten Beispielsfälle können allerdings auch Fälle einschließen, in denen lediglich islamkritische Personen tätig geworden sind. Die Äußerung sich in diesem Rahmen haltender Positionen ist allerdings grundsätzlich problemlos vom Grundrechtsschutz gedeckt. 2  Dazu noch unten Fn. 70. 3  Die Berufung auf das hier ebenfalls nicht thematisierte Widerstandsrecht des Art. 20 Abs. 4 GG (Grundgesetz) scheidet auch dann aus, wenn sich die Aktivitäten gegen muslimische Aktivisten richten, die es unternehmen, die verfassungsmäßige Ordnung zu beseitigen, weil jedenfalls derzeit „andere Abhilfe“, nämlich durch Polizei und Verfassungsschutzbehörden, nicht unmöglich ist. 4  Immerhin ist „Religionsfeindschaft“ im Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zur Heidenspaß-Party gottloser Atheisten am Karfreitag als Weltanschauung eingestuft worden, wobei allerdings vornehm nicht von Feindschaft gesprochen wurde, sondern von der notwendigen „Abgrenzung von theistischen Anschauungen“ (NVwZ [Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht] 2017, 461 Rn. 97 ff., 104). Ob es eine speziell islamfeindliche Weltanschauung geben kann, ist hier nicht zu klären. 5  Vor nicht allzu langer Zeit hat das Bundesverfassungsgericht noch das von Amts wegen veranstaltete christliche Schulgebet gutgeheißen und Außenseiter darauf verwiesen, sich der Teilnahme zu enthalten, BVerfGE (Bundesverfassungsgerichtsentscheid) 52, 223 (234 ff.). 1

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empfunden worden und Gegenstand von Einschränkungen geworden.6 Dauerstreitpunkt ist die religiös motivierte Kleidung von muslimischen Frauen. Dabei ging und geht es zunächst in unterschiedlichen Varianten um das Kopftuch, getragen von Leh­ rerinnen in der Schule,7 von Erzieherinnen in städtischen Kindertagesstätten,8 von Krankenschwestern in öffentlichen9 oder kirchlich getragenen Krankenhäusern,10 von Arbeitnehmerinnen in privaten Betrieben,11 von Frauen im Gerichtssaal,12 von Schülerinnen in der Schule13 oder von Frauen an türkischen Hochschulen.14 Ablehnung erfährt auch die Voll-15 bzw. Gesichtsverschleierung;16 letztere ist jetzt etwa den Soldaten (unabhängig von ihrem Geschlecht) in dienstlichen ­Zusammenhängen

 Vgl. BVerwGE (Bundesverwaltungsgerichtsentscheid) 141, 223 Rn.  16  ff.; skeptisch etwa H. M. Heinig, Religionsfreiheit auf dem Prüfstand: Wie viel Religion verträgt die Schule?, KuR (Kirche und Recht) 2013, 8 (17 ff., 19: „gesellschaftspolitisch […] gespenstisch“). 7  Vgl. BVerfGE 108, 282 (297 ff.); 138, 296 Rn. 78 ff.; aus der Literatur etwa Heinig, KuR 2013, 8 ff.; C. Franzius, Vom Kopftuch I zum Kopftuch II, Der Staat 54 (2015), 435 ff.; vgl. auch EGMR (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte), NJW (Neue Juristische Wochenschrift) 2001, 2871 ff., wo das Verbot in der Schweiz gebilligt wurde; verneint wurde auch eine Verletzung der Gleichberechtigung der Geschlechter, da nicht „wegen“ des Geschlechts, sondern wg. der Neutralität im Unterricht unterschieden werde. Die Kleidung der Lehrer war zuvor schon bei den Baghwan-Anhängern problematisch gewesen, s. etwa BVerwG, NVwZ 1988, 937 f. 8  Vgl. BVerfG (Kammer), NJW 2017, 381, wo ein Verbot – wie für die Schule – nur bei Vorliegen einer konkreten Gefahr gebilligt wurde. 9  Vgl. EGMR, NZA-RR (Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht-Rechtsprechungs-Report) 2017, 62. 10  Vgl. LAG (Landesarbeitsgericht) Hamm, KirchE (Entscheidungen in Kirchensachen) 59, 124 ff. 11  Vgl. EuGH (Europäischer Gerichtshof) (Große Kammer), NJW 2017, 1087 und 1089. 12  Pauschaler Ausschluss von Besucherinnen durch Richter missbilligt von BVerfG (Kammer), NJW 2007, 56 f., wobei nicht ausgeschlossen wurde, dass bei gleichzeitigem Ausdruck von Missachtung auch ein religiös motiviertes Kopftuch als Ordnungsstörung behandelt werden könnte. 13  Vgl. A. Mick-Schwerdtfeger, Kollisionen im Rahmen der Religionsausübung, 2008, S. 91 ff. 14  EGMR, NVwZ 2006, 1389 (LS [Leitsatz] 5 f. m. N.), billigt das Verbot mit Blick auf den Verfassungsgrundsatz des Laizismus in der Türkei und die Tatsache, dass das islamische Kopftuchs ein starkes, sichtbares Zeichen sei, das mit der Botschaft der Toleranz, der Achtung des anderen und insbesondere der Gleichberechtigung der Geschlechter nur schwer vereinbar sei. 15  EGMR, NJW 2014, 2925 (LS 6–9), billigt das Verbot in Frankreich; vgl. dazu kritisch etwa C. Grabenwarter/K. Struth, Das französische Verbot der Vollverschleierung – Absolutes Verbot der Gesichtsverhüllung zur Wahrung der „Minimalanforderungen des Lebens in einer Gesellschaft“?, EuGRZ (Europäische Grundrechte-Zeitschrift) 2015, 1 ff. Das versammlungsrechtliche Vermummungsverbot im deutschen Recht (s. auf Bundesebene § 17a Abs. 2 Nr. 1 VersG) ist nicht einschlägig, solange die Verschleierung nicht „den Umständen nach darauf gerichtet ist, die Feststellung der Identität zu verhindern“. Vgl. zu diesbezüglichen Vermutungen und Ausnahmen aus Gründen des Art. 5 Abs. 3 GG M. Kniesel, in: A. Dietel u. a., Versammlungsgesetze, 17. Aufl. 2016, § 17a Rn.  16, 32  f.; kritisch C.  Dürig-Friedl, in: dies./ C.  Enders, Versammlungsrecht, 2016, §  17a Rn. 22. Im Übrigen gilt dieses Verbot nur für die in § 17a VersG (Versammlungsgesetz) genannten Veranstaltungen und den Weg dorthin. 16  Für Zulässigkeit eines Verbots gegenüber einer Schülerin einer Berufsoberschule BayVGH (Bayerischer Verwaltungsgerichtshof), NVwZ 2014, 1109 f., auf der Grundlage der allgemeinen gesetzlichen Pflicht der Schülerin, sich so zu verhalten, dass die Schule ihre Aufgabe erfüllen kann. 6

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durch Bundesgesetz grundsätzlich verboten worden.17 Verbote religiös begründeter Kleidung können auch speziell für Männer in Betracht kommen.18 Religiös bedingtes Verhalten kann auch auf substanziellere Schutzgüter übergreifen, so etwa beim Schächten von Tieren19 oder beim Beschneiden von Kindern.20 Zu erwähnen ist auch das Zerschneiden von Plakaten, durch die sich Muslime in ihren religiösen Gefühlen verletzt sehen.21 Der Extremfall sind radikale Muslime („Islamisten“), die aufgrund religiöser Motive „Ungläubige“ töten. Aber auch die Aufforderung, andere Muslime in Deutschland zu töten, die religiöse Gebote des Islams missachteten, ist als Ausübung der Religionsfreiheit bewertet, gleichwohl für (nach § 130 StGB) strafbar erachtet worden;22 hier trifft die Religionsfreiheit mit

 Das Gesetz zu bereichsspezifischen Regelungen der Gesichtsverhüllung und zur Änderung weiterer dienstrechtlicher Vorschriften vom 8. Juni 2017, BGBl. (Bundesgesetzblatt) I, S. 1570, hat in seinem Art. 3 Nr. 2 folgenden Satz nach § 17 Abs. 2 Satz 1 SoldG (Soldatengesetz) eingefügt: „Der Soldat darf innerhalb der dienstlichen Unterkünfte und Anlagen auch während der Freizeit sein Gesicht nicht verhüllen, es sei denn, dienstliche oder gesundheitliche Gründe erfordern dies“. 18  S. die missbilligende Entscheidung des EGMR, 23.02.2010, Nr. 41135/98 (Ahmet Arslan/Türkei), franz. in KirchE 55, 112 ff., zur Bestrafung wg. Nichtablegens einer religiösen Kopfbedeckung (einer wohl noch muslimischen Gruppierung) vor Gericht in Ankara, noch im Zeichen von Laizität in der Türkei. 19  Zum Schutz des Schächtens durch Art. 4 Abs. 1, 2 GG vgl. BVerfGE 104, 337 (345 ff.) (primär bezogen auf Art. 2 Abs. 1 GG); BVerwGE 127, 183 Rn. 8 ff.; restriktiv BayVGH, NVwZ-RR 2010, 262 f. Für Genehmigung einer Ausnahme vom feiertagsgesetzlichen Arbeitsverbot für das Schächten am ersten Tag eines muslimischen Opferfestes vgl. HessVGH (Hessischer Verwaltungsgerichtshof), NVwZ 2004, 890 (891 ff.); auch EGMR, 27.06.2000, Nr. 27417/95 (Cha‘are Shalom Ve Tsedek/Frankreich), Rn. 81, wo das Schächtverbot in Frankreich (mit Ausnahme für traditionelle Monopolisten) gebilligt wird, solange ultraorthodoxe Juden für sie unbedenkliches Fleisch in Belgien kaufen können; rechtsvergleichend K.  Pabel, Der Grundrechtsschutz für das Schächten, EuGRZ 2002, 220 ff. 20  Für männliche Kinder LG (Landgericht) Köln, NJW 2012, 2128 f.; dazu etwa krit. H. Munsonius, Quo vadis „Staatskirchenrecht“?, DÖV (Die öffentliche Verwaltung) 2013, 93 (98) m. w. N.; im Ergebnis zustimmend A. Manok, Die medizinisch nicht indizierte Beschneidung des männlichen Kindes, 2015, S. 46 ff. Sodann hat § 1631d BGB (n. F.) die elterliche Personensorge explizit auf die kunstgerechte Beschneidung erstreckt, in den ersten sechs Monaten auch durch Nicht-Arzt; für diverse Verfassungsverstöße dieser Regelung etwa ebd., S. 109 ff. Die Beschneidung weiblicher Kinder spielt bislang am ehesten als Grund für politisches Asyl eine Rolle, wenn sie im Heimatland droht; die Religionsfreiheit spielt dabei, soweit ersichtlich, bislang keine Rolle. 21  Vgl. offenlassend OLG (Oberlandesgericht) Hamm, Beschl. v. 26.02.2015 – III-5 RVs 7/15 –, juris, Rn. 34 f., weil das Plakat durch das angebotene Überkleben der anstößigen Stelle seinen verletzenden Charakter verloren hätte, so dass eine nicht strafbare Umsetzung der religiösen Überzeugung möglich war; nicht erörtert wird dort, ob nicht auch die Art der Umsetzung der religiösen Empfindungen unter Art. 4 Abs. 1, 2 GG fällt. 22  OLG Stuttgart, KirchE 57, 419 Rn. 27, mit wenig klaren Aussagen zu den Grundrechtsbegrenzungen; hier neben „verfassungsimmanente[n] Schranken“ der Hinweis „vgl. auch Art. 140 GG iVm (in Verbindung mit) Art. 136 Abs. 1 WRV (Weimarer Reichsverfassung)“, zuvor Rn. 14 f. am Ende, dass auf Art. 4 Abs. 1 GG als lex specialis zu Art. 5 Abs. 1 GG die zu letzterer Vorschrift entwickelten Rechtsprechungsgrundsätze zu den allgemeinen Gesetzen anzuwenden seien. 17

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der Freiheit der Meinungsäußerung zusammen.23 Für das Anbringen einer Parabolantenne zum Empfang bestimmter, aus religiösen Gründen gewünschter Sender soll Art. 4 Abs. 2 GG „jedenfalls nicht primär“ maßgeblich sein.24 Einschränkungen der Religionsfreiheit können sich auch durch für alle geltende Handlungspflichten ergeben, die mit religiösen Verboten für Muslime in Widerspruch stehen, namentlich durch Einzelaspekte der Schulpflicht (wie Teilnahme am [koedukativen] Sport- bzw. Schwimmunterricht,25 auch Klassenfahrten oder Sexualerziehung),26 durch einen bestattungsrechtlichen Sargzwang27 oder die Pflicht, die Gesichtskontrolle bei Vorlage von Lichtbildausweisen zu ermöglichen.28 In Betracht kommt auch die staatliche (Zwangs-) Konfrontation mit nicht-muslimischen Religionssymbolen29 (Kruzifix im Klassenraum30/im Gericht).31 Bei der kollektiven Religionsausübung gibt es vielfach Widerstände gegen den Bau von Moscheen, die allerdings bei Einhaltung der allgemeinen baurechtlichen Anforderungen32 angesichts des grundrechtsgeschützten Anliegens wohl keine tragfähige juristische Grundlage haben.33 Entsprechendes gilt für die Errichtung von

 Für ein Zusammentreffen auch mit Art. 8 GG ohne Erwähnung von Art. 4 und 5 GG OVG RhPf. (Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz), NVwZ 2011, 1280, mit allerlei Auflagen für Redner einer islamischen Kundgebung; für Orientierung an der günstigsten Auslegungsmöglichkeit von Aussagen bei einer islamischen Versammlung OVG Bln-Bbg (Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg), Beschl. v. 30.09.2008, – 1 N 86.06 –, juris. Nur diese dürfte für Äußerungen (auch) eines sich gekränkt fühlenden Moslems gegenüber islamkritischen Aussagen anderer gelten; für die Bezeichnung eines islamkritischen Kabarettisten als „Hassprediger“ ohne Erwähnung von Art. 4 GG LG Stuttgart, AfP (Archiv für Presserecht – Zeitschrift für Medien- und Kommunikationsrecht) 2015, 465 (468 f.). 24  BVerfG (Kammer), KirchE 58, 242 f. 25  BVerfG (Kammer), NVwZ 2017, 227; zuvor BVerwGE 147, 362 Rn. 10 ff.; s. noch u. Fn. 103. 26  Vgl. insgesamt S.  Krampen-Lietzke, Der Dispens vom Schulunterricht aus religiösen Gründen, 2013. 27  Dazu etwa H.  Stellhorn, Das Ende des Sargzwangs? Lockerungen des Bestattungsrechts aus Rücksicht auf muslimische Glaubensvorstellungen, DVBl (Deutsches Verwaltungsblatt) 2015, 1360 ff. 28  Auch dazu finden sich Regelungen in dem zu Fn. 18 genannten Gesetz. 29  Dazu umfassend S. Röhrig, Religiöse Symbole in staatlichen Einrichtungen als Grundrechtseingriffe, 2017, zur Religionsfreiheit insbes. S. 207 ff., 228 ff. 30  Jeweils nicht aufgrund von Rechtsbehelfen von Muslimen BVerfGE 93, 1 ff.; EGMR, NVwZ 2011, 737 ff. 31  Nicht aufgrund von Verfassungsbeschwerden von Muslimen BVerfGE 35, 366 (373 ff.). 32  Zum Abwehranspruch einer Gemeinde gegen die Baugenehmigung einer Moschee in einem besonderen Wohngebiet wegen nicht gesicherter Wohnnutzungsverträglichkeit OVG RhPf, NVwZ-RR 2017, 439 Rn.  11  ff.; zur Einbindung auch der Religionsfreiheit in die allgemeine Rechtsordnung u. Fn. 88. 33  Dazu allgemein D. Gaudernack, Muslimische Kultstätten im öffentlichen Baurecht, 2011; für die Zulässigkeit von Veränderungssperren mit dem Ziel, den bis dahin zulässigen Bau einer Moschee an einem bestimmten Ort durch eine veränderte Bauleitplanung zu verhindern, zuletzt BVerwG, Beschl. v. 08.09.2016, – 4 BN 22/16 –, juris. 23

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Minaretten,34 mit denen als weiterer Streitpunkt die Gebetsrufe des Muezzins verbunden sind,35 die an Auseinandersetzungen um das Glockengeläut christlicher Kirchen36 erinnern.37 Das Bundesverfassungsgericht hat für die Mun-Vereinigung als Religionsgemeinschaft angenommen, deren Religionsfreiheit umfasse auch das Recht, dass dem geistlichen Oberhaupt Mun die Einreise gestattet wird;38 einen entsprechenden Anspruch eines muslimischen Vereins auf Erteilung eines Visums für die Einreise eines Imams hat das OVG Berlin-Brandenburg aber abgelehnt.39 Auch Religionsgesellschaften unterliegen, wie andere religionsbezogene Vereinigungen, nach der Rechtsprechung dem Vereinigungsverbot des Art. 9 Abs. 2 GG,40 wenn ihre Zwecke oder ihre Tätigkeit den Strafgesetzen zuwiderlaufen oder sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder den Gedanken der Völkerverständigung richten. Seit der Streichung41 ihrer früheren Privilegierung42 können sie nach einer entsprechenden Verfügung der Verbotsbehörde gem. § 3 Abs. 1 Satz 1 VereinsG auch als verboten behandelt werden; dies ist etwa für den Kalifatstaat,43 für die Vereinigung DawaFFM44 und zuletzt für eine Vereinigung, die die Hisbollah unterstützt und sich mit ihr identifiziert hat,45 angenommen worden. Erwogen wer-

 Zur Abweisung einer Nachbarklage gegen die Errichtung eines Minaretts OVG RhPf, NVwZ 2001, 933 (934); vgl. zur Ablehnung einer Beschwerde gegen das verfassungsrechtliche Minarettverbot in der Schweiz mangels Beschwerdebefugnis EGMR, NVwZ 2012, 289 f.; zur Schweizer Problematik etwa M. Tanner u. a. (Hrsg.), Streit um das Minarett, 2009. 35  Vgl. D. Gaudernack (o. Fn. 33), S. 191 ff.; A. Mick-Schwerdtfeger (o. Fn. 13), S. 141 ff.; zu einem angeblich in Israel beschlossenen Gesetz gegen Lautsprecherlärm aus Gebetshäusern http:// orf.at//stories/2379114/. 36  Vgl. grundlegend BVerwGE 68, 62; BVerwG, NVwZ 1997, 390, wo liturgisches Geläut grds. gebilligt wird, weil Unterlassungsansprüche nur nach Maßgabe des BImSchG (Bundes-Immissionsschutzgesetz) bestünden; zuletzt etwa BayVGH, BayVBl 2013, 693; OVG SAnh, LKV (Landes- und Kommunalverwaltung) 2016, 378. 37  Nicht unproblematisch ist es, wenn insoweit (hier allerdings) weltliches Glockengeläut aufgrund der Herkömmlichkeit und allgemeinen Akzeptanz für eher zulässig gehalten wurde als der (allerdings von Gegnern des Islam als Demonstrationsmittel eingesetzte) Muezzinruf, BayVGH, Beschl. v. 17.10.2016, – 10 CS 16.1468 –, juris, Rn. 47; vgl. ähnlich schon BayVGH, BayVBl 2013, 693 Rn. 13, s. ferner ebda., Rn. 15, auch zum „Prioritätsprinzip“. 38  BVerfG (Kammer), DVBl 2007, 119. 39  ZStV (Zeitschrift für Stiftungs- und Vereinswesen) 2015, 55 (56), weil der Verein nur nebenbei religiöse Bekenntnisinteressen unterstütze und daher keine Religionsgemeinschaft sei. Das ist allerdings nicht Bedingung für eine Grundrechtsberechtigung juristischer Personen aus Art. 4 Abs. 1, 2 GG, vgl. die Nachw. bei M. Sachs, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, 8. Aufl. 2017, Art. 19 Rn. 73. 40  Für Anwendbarkeit des Art. 9 Abs. 2 GG auf religiöse Vereinigungen etwa BVerfGE 102, 370 (391); M. Sachs, in: K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/1, 2006, § 107 S. 1170 ff. (1363); allgemein zur Bedeutung des Art. 9 Abs. 2 GG ebda., S. 1337 ff. 41  Mit Gesetz v. 04.12.2001, BGBl. I 3319. 42  In § 2 Abs. 2 Nr. 3 VereinsG (Vereinsgesetz) a. F. 43  BVerwG, NVwZ 2003, 986 (987 f.); BVerfG (Kammer), NJW 2004, 47 ff. 44  BVerwG, NVwZ 2014, 1573 Rn. 30 ff. (bei Unterstellung eines religiösen Vereinscharakters). 45  BVerwGE 153, 211 Rn. 36 ff. (bei unterstellter Eigenschaft als Religionsgesellschaft). 34

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den auch Vereinigungsverbote gegen salafistische Gruppierungen.46 Auf einer niedrigeren Ebene gehört hierher auch die Beobachtung religionsbezogener Vereinigungen durch den Verfassungsschutz im Hinblick auf extremistische Aktivitäten.47 Gezielte staatliche Einmischungen in die inneren Angelegenheiten muslimischer Gruppierungen haben bislang in Deutschland wohl keine Rolle gespielt.48 Allerdings werden solche Gruppierungen zumeist mangels hinreichender Organisation nicht als Religionsgesellschaften oder -gemeinschaften eingestuft;49 damit können ihre Grundsätze nicht Grundlage für Religionsunterricht in öffentlichen Schulen sein.50 Die Hürde einer gewissen organisatorischen Verfestigung liegt nicht sehr hoch; um Grundsätze für den Religionsunterricht aufstellen zu können, muss eine religiöse Gruppierung insbesondere nicht als öffentlich-rechtliche Körperschaft nach Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 5 WRV anerkannt werden. Die dafür vom Bundesverfassungsgericht51 aufgestellten Anforderungen zieht das Bundesverwaltungsgericht allerdings für eine Beteiligung am Religionsunterricht entsprechend heran; damit ist es ausgeschlossen, dass in öffentlichen Schulen Religionsunterricht nach den Grundsätzen von Religionsgemeinschaften erteilt wird, gegen die der Staat zum Schutz der Grundrechte anderer einschreiten könnte. Namentlich soll dies gelten, wenn Religionsgemeinschaften die Schüler verleiten könnten, die Rechte anderer zu verletzen.52 Entscheidend ist nach dieser Rechtsprechung nicht der Inhalt von Glaubenssätzen als solcher, sondern welche Schlussfolgerungen daraus für das menschliche Verhalten gezogen werden sollen. Dies wäre im Einzelfall, etwa im Hinblick auf die Behandlung Andersgläubiger oder auch von Frauen,53 zu prüfen.

 S. etwa R.  Steinberg, Zum rechtlichen Umgang mit dem Salafismus in Deutschland, NVwZ 2016, 1745 (1748 ff.). 47  Für einen politisch salafistischen Moscheeverein OVG Sachsen, Beschl. v. 19.07.2016, – 5 B 55/16 –, juris. 48  Vgl. aber für Bulgarien EGMR, 26.10.2000, Nr. 30985/96 (Hasan und Chaush), Rn. 75 ff. 49  Vorsichtig öffnend BVerwGE 123, 49 (54 ff.); denkbar erscheint hier – auch im Hinblick auf Gleichbehandlungsaspekte, ggf. des Art. 14 EMRK (EGMR, NVwZ 2016, 1392, zur Verweigerung der sonst vorgesehenen Freistellung der Kultstätten von Stromkosten für Aleviten)  – eine Lockerung der Anforderungen in Parallele zur Behandlung des Vereinsrechts im Falle der Baha’i (BVerfGE 83, 341 ff.). 50  Zur Entwicklung etwa M. Thiel, in: Sachs (o. Fn. 39), Art. 7 Rn. 41 f. 51  BVerfGE 102, 370 (392 f.); zuletzt wieder BVerfGE 139, 321 Rn. 94 f. 52  BVerwGE 123, 49 (73 f.). 53  Vgl. in Bezug auf staatliche Pflichten aus Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG zurückhaltend M. Sachs, in: J. Oebbecke u. a. (Hrsg.), Die Stellung der Frau im islamischen Religionsunterricht, 2007, S. 35 (44 ff.). 46

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2. Probleme mit gegen den Islam gerichteten Meinungsäußerungen Islamfeindliche Meinungsäußerungen werfen kein vergleichbar weites Spektrum von Problemen auf. Sie können sich als Beschimpfung eines Religionsbekenntnisses, § 166 StGB, oder als Störung der Religionsausübung, § 167 StGB, darstellen, als Volksverhetzung gegenüber muslimischen Teilen der Bevölkerung, §  130 StGB,54 ggf. als Beleidigungsdelikte gegenüber Muslimen, §§ 185 ff. StGB. Auch abgesehen vom Strafrecht können islamfeindliche Äußerungen unzulässig sein, wenn sie betroffene Muslime oder muslimische Gruppen in ihrer Ehre oder sonstigen Persönlichkeitsrechten verletzen.55 Die Meinungsäußerungsfreiheit kann dabei mit der Ausübung anderer Grundrechte zusammentreffen. Dies betrifft bei islamfeindlichen Demonstrationen zumal Art. 8 GG, etwa wenn auf dem Marienplatz in München täglich im fünfminütigen Abstand über Lautsprecher ein „Muezzinruf“ erschallen und störend wirken sollte,56 oder bei einer KöGiDa-Nachfolgeversammlung unter dem Motto „Köln 2.0 – friedlich und gewaltfrei gegen islamischen Extremismus“.57 Art. 9 Abs. 2 oder auch Art. 21 GG sind mitbetroffen, wenn islamfeindliche Vereinigungen oder Parteien zumal aufgrund ihrer Meinungsäußerungen vom Verfassungsschutz beobachtet und in dessen Berichten erwähnt werden.58

3. Probleme mit gegen den Islam gerichteter Kunst Probleme mit der Kunstfreiheit ergeben sich am ehesten bei künstlerisch gestalteten Meinungsäußerungen, wie namentlich Mohammed-Karikaturen.59 Islamfeindliche Aktionskunst, die auf körperliche Schutzgüter übergreift, etwa die Verbrennung von  Verneinend etwa VG (Verwaltungsgericht) Meiningen, ThürVBl (Thüringer Verwaltungsblätter) 2013, 92. 55  S. im Hinblick auf kleinere religiöse Gruppen zurückhaltend gegenüber der Annahme von Grundrechtsverletzungen durch Ablehnung des begehrten zivilgerichtlichen Rechtsschutzes etwa BVerfG (Kammer), NVwZ 1995, 471 f.; im Verwaltungsrechtsweg bei Äußerungen einer großen Kirche BVerfG (Kammer), NVwZ 1994, 159 f. 56  BayVGH, Beschl. v. 17.10.2016 – 10 CS 16.1468 –, juris, Rn. 44 ff. 57  Gegen ein Verbot OVG NRW, Beschl. v. 21.10.2015, – 15 B 1201/15 –, juris; auch OVG NRW, NVwZ-RR 2017, 141  ff., zu Hooligan-Großdemonstration „Schicht im Schacht  – Gemeinsam gegen den Terror“ (ohne Erwähnung einer islamfeindlichen Ausrichtung). 58  Zur Verbreitung von Verfassungsschutzberichten über „verfassungsschutzrelevante Islamfeindlichkeit“ BVerwG, Buchholz 11 Art. 21 GG Nr. 29 Rn. 8 ff. (aktives Eintreten für Abschaffung der Religionsfreiheit der Muslime); zur Beobachtung durch den Verfassungsschutz BayVGH, Beschl. v. 30.01.2017 – 10 ZB 15.1085 –, juris, Rn. 7 ff., wonach das Eintreten gegen Religionsfreiheit für Muslime verfassungsfeindlich sei, weil dadurch die freiheitliche demokratische Grundordnung insoweit außer Geltung gesetzt werden solle. 59  Gebilligt wurde die Ablehnung einer einstweiligen Anordnung gegen das Zeigen solcher als Kunst eingestufter Karikaturen bei einer Versammlung, weil kein klarer Vorrang der Religionsfrei54

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Koranexemplaren als künstlerisches Happening oder die Verunstaltung einer Moschee, hat bislang wohl keine Rolle gespielt.

II. Grenzen grundrechtlicher Freiheiten – Grundlagen Freiheit ohne Grenzen gibt es in einer Gesellschaft60 grundsätzlich61 nicht. Das ist ein vorjuristischer Allgemeinplatz: Die nach außen wirkende Betätigung von Freiheit kann Interessen anderer oder der Allgemeinheit beeinträchtigen; zu deren Schutz können Einschränkungen der Freiheit unabweisbar nötig werden. Freiheit schlechthin bedeutet verfassungsrechtlich, tun und lassen zu können, was man will. Im Sinne dieser umfassenden Verhaltensfreiheit versteht das Bundesverfassungsgericht das Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit nach Art. 2 Abs. 1 GG;62 dies greift aber nur im Rahmen der „verfassungsmäßigen Ordnung“ durch, kann also „durch jede formell und materiell verfassungsmäßige ­Rechtsnorm … heit der Muslime vor u. a. der Kunstfreiheit der Veranstalter zu erkennen sei. OVG Berlin-Brandenburg, NJW 2012, 3116 f., und S. Muckel, Entscheidungsbesprechung, JA (Juristische Arbeitsblätter) 2013, 157 f., sprechen von „Grundrechtskollisionen“. Ob Muslime aus Art. 4 Abs. 2 GG einen Anspruch auf eine versammlungsrechtliche Auflage haben könnten, ist wegen der mangelnden Stringenz einer darauf gestützten staatlichen Schutzpflicht fraglich; §  166 StGB begründet keine subjektiven Rechte, § 15 Abs. 1 VersG nur im Rahmen des durch grundrechtliche Schutzpflichten etwa Gebotenen. 60  Anderes mag für den Einzelnen auf der einsamen Insel gelten. 61  Anderes gilt für Freiheitsbetätigungen, die rein innerlich bleiben nach dem Motto: „Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten …“. Schon BVerfGE 6, 32 (41) hat angenommen, dass „ein letzter unantastbarer Bereich menschlicher Freiheit besteht, der der Einwirkung der gesamten öffentlichen Gewalt entzogen ist“, sieht diesen  – von Sonderfällen abgesehen  – „aber verlassen, wenn Handlungen des Menschen in den Bereich eines anderen einwirken“ (BVerfGE 6, 389 [433]). 62  Vgl. BVerfGE 6, 32 (36), wonach „nur sprachliche Gründe“ dazu geführt haben, diese „ursprüngliche Fassung“ durch die feierlichere Formulierung von der Persönlichkeitsentfaltung zu ersetzen. Diese soll allerdings für den Grundrechtsträger nur gelten, „soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.“ Zu Anfang hat das Gericht wohl noch angenommen, bestimmte Aktivitäten von vornherein aus dem Grundrechtsschutz ausnehmen zu können; so formulierte es im Mai 1957 zu § 175 StGB: „Gleichgeschlechtliche Betätigung verstößt eindeutig gegen das Sittengesetz.“ Doch wurde dem Sittengesetz auch dort schon nur zugestanden, „formal eine selbständige Schranke“ der Persönlichkeitsentfaltung zu bilden, während es doch erst durch Gesetz zum Teil der verfassungsmäßigen Ordnung erhoben werden musste, um das Grundrecht einschränken zu können, vgl. BVerfGE 6, 389 (434) (Hervorhebung nicht im Original). Dies sieht der heutige Gesetzgeber 60 Jahre später auch rückwirkend anders, vgl. den Entwurf der Bundesregierung für ein Gesetz zur strafrechtlichen Rehabilitierung der nach dem 8. Mai 1945 wegen einvernehmlicher homosexueller Handlungen verurteilten Personen, BT-Drs. (Bundestags-Drucksache) 18/12038. Die „Rechte anderer“ sind wichtige Teile der verfassungsmäßigen Ordnung, haben neben dieser aber keine selbstständige Bedeutung, vgl. nur M.  Sachs, Verfassungsrecht II.  Grundrechte, 3.  Aufl. 2017, Kap.  14 Rn. 28 ff. Auch Art. 4 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 formulierte bereits doktrinär nur die Freiheit, alles tun zu können, was keinem anderen schade (Satz 1), überließ die entsprechende Einschränkung der Freiheit aber dem Gesetz (Satz 3, auch Art. 5 Satz 2).

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legitim eingeschränkt“ werden.63 Diese Bedeutung der allgemeinen Verhaltens- und überhaupt Eingriffsfreiheit64 entspricht dem überkommenen rechtsstaatlichen Vorbehalt des Gesetzes:65 Einschränkungen der Freiheit66 sind der Staatsgewalt grundsätzlich verboten, können nur durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetz erfolgen, zumal zum Schutz der Rechte anderer.67 Die im genannten Sinne verstandene verfassungsmäßige Ordnung ist die Grenze der allgemeinen Verhaltensfreiheit; sie lässt gesetzliche Einschränkungen der Freiheit zu, allerdings nur im Rahmen gewisser allgemeiner Anforderungen, vor allem der Verhältnismäßigkeit. Das Grundgesetz68 kennt neben dem Schutz der Freiheit im Allgemeinen einzelne Freiheitsgrundrechte, z. B. bezogen auf die Freiheit der Religion,69 der Meinungsäußerung und der Kunst. Spezielle Freiheitsrechte unterliegen zwei Kategorien von Grenzen: Auf der einen Seite sind diese Freiheitsrechte „begrenzt“ durch ihre tatbestandliche Reichweite – was nicht unter die Tatbestandsmerkmale der jeweiligen Garantien des Grundgesetzes fällt, wird von diesen speziellen Grundrechten von vornherein nicht erfasst.70 Auf der anderen Seite stehen Grenzen aus anderen Verfassungsbestimmungen,71 die in aller Regel nicht den Anwendungsbereich des Grundrechts einengen,72 sondern den Gesetzgeber dazu ermächtigen, die garan BVerfGE 6, 32 (38).  S. nur M. Sachs (o. Fn. 62), Kap. 14 Rn. 3 ff. 65  Die Entsprechung von Vorbehalt des Gesetzes und Freiheitsgarantie, die sich beide als Verbotsnormen gegen staatliche Eingriffe richten, schließt die gängige Gleichsetzung des Vorbehalts des Gesetzes mit Gesetzesvorbehalten aus, die (die Gesetzgebung) von der Bindung an die grundrechtlichen Verbote freistellen, also Erlaubnisnormen sind, dagegen nur M. Sachs (o. Fn. 62), Kap. 9 Rn. 6 ff., Kap. 14 Rn. 7. 66  Und des Eigentums, zusammen als Chiffre für die gesamte individuelle Rechtssphäre, vgl. näher zum Vorbehalt des Gesetzes M. Sachs, in: ders. (o. Fn. 39), Art. 20 Rn. 113 ff. 67  Vgl. M. Sachs (o. Fn. 62), Kap. 14 Rn. 29. 68  Wie viele frühere und ausländische Verfassungen, wobei das allgemeine Freiheitsrecht nicht stets (klar) ausgesprochen ist, wie z. B. in Art. 2 RhPfVerf. (Verfassung für Rheinland-Pfalz) Vgl. zur umstrittenen Begründung des allgemeinen Freiheitsrechts im Rahmen der Weimarer Reichsverfassung einerseits für die Freiheit der Person nach Art. 114 G. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11.  August 1919, Art.  114 Anm.  1  f.; für ein ungeschriebenes Grundrecht R. Thoma, Die juristische Bedeutung der grundrechtlichen Sätze der deutschen Reichsverfassung im allgemeinen, in: H. C. Nipperdey (Hrsg.), Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, 1. Bd., 1930, S. 1 (15 ff.). 69  Diese Formulierung soll Glauben, Bekenntnis und Ausübung von Religion im Sinne des einheitlichen Verständnisses dieses Grundrechts einschließen, vgl. BVerfGE 24, 236 (245); st. Rspr. (ständige Rechtsprechung). 70  Solches Verhalten genießt dann den Schutz der allgemeinen Verhaltensfreiheit als des Auffanggrundrechts, vgl. M. Sachs (o. Fn. 62), Kap. 14 Rn. 43; anders etwa Herbert Bethge, in: Sachs (o. Fn. 39), Art. 5 Rn. 35 m. w. N. 71  Zu den Grundrechtsbegrenzungen allgemein und insbesondere zum kollidierenden Verfassungsrecht Sachs, in: Stern (o. Fn. 40), Bd. III/2, 1994, § 81 S. 494 ff. (551 ff.); aktueller M. Sachs, in: ders. (o. Fn. 39), vor Art. 1 Rn. 96 ff. 72  Zu den quasitatbestandlichen Grenzen der Grundrechte näher M.  Sachs (o. Fn.  62), §  79 S. 230 ff.; aktueller ders., in: ders. (o. Fn. 39), vor Art. 1 Rn. 100. 63 64

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tierten Freiheiten einzuschränken; dies kann ausdrücklich geschehen durch Gesetzesvorbehalte,73 die vielen Grundrechten beigefügt sind, oder die Einschränkungsermächtigung wird anderen Verfassungsbestimmungen entnommen, die erkennen lassen, dass ihre Anliegen, die in ihnen geschützten „Werte“, Grund genug sein sollen, um gesetzliche Einschränkungen auch bei Grundrechten zuzulassen, für die das Grundgesetz das nicht explizit anordnet. Hier spricht man von kollidierendem Verfassungsrecht oder auch  – wenig glücklich  – von verfassungsimmanenten Schranken.74 Die verfassungsrechtlich begründeten Möglichkeiten der Beschränkung grundrechtlicher Freiheiten sind ihrerseits nicht grenzenlos; vielmehr müssen die einschränkenden Gesetze bestimmte Anforderungen erfüllen, die sich aus den einzelnen verfassungsrechtlichen Begrenzungsnormen ergeben können oder aus allgemeinen Bestimmungen und Grundsätzen des Grundgesetzes folgen.75 Auch hier spielt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit die zentrale Rolle.

III. Die Grenzen der drei Freiheiten Auf dieser Grundlage will ich nun die Grenzen der Reichweite der drei Grundrechte einerseits, die verfassungsrechtlich begründeten Einschränkungsmöglichkeiten andererseits in Bezug auf unsere speziellen Problemfelder aufzeigen.

1. Grenzen der Religionsfreiheit der Muslime a) Tatbestandliche Grenzen Der Islam ist ungeachtet einzelner Gegenstimmen76 eine Religion im Sinne des Art. 4 Abs. 1 GG.77 Ob dies für alle Spielarten des Islams gilt, kann eher fraglich sein. So ist etwa der Kalifatstaat von Herrn Kaplan, der ähnlich wie wohl der Isla Zu den Gesetzesvorbehalten allgemein näher M. Sachs (o. Fn. 62), § 80 S. 369 ff.; aktueller ders., in: ders. (o. Fn. 39), vor Art. 1 Rn. 101 ff. 74  BVerfGE 138, 296 Rn. 98; BVerfG, NVwZ 2017, 461 Rn. 58; BVerfG (Kammer), NJW 2017, 381 Rn. 61; vgl. allgemein M. Sachs, in: Stern (o. Fn. 71), § 81 S. 494 ff.; zu Bedenken gegen den Begriff M. Sachs (o. Fn. 62), Kap. 9 Rn. 45. 75  Zu den Anforderungen an Grundrechtsbeschränkungen allgemein nur M.  Sachs, in: ders. (o. Fn. 39), vor Art. 1 Rn. 134 ff; ders. (o. Fn. 62), Kap. 10. 76  Anders K. A. Schachtschneider, Grenzen der Religionsfreiheit am Beispiel des Islam, 2010, passim, S. 122: „Ohne hinreichende Säkularisation ist der Islam keine des Grundrechtsschutzes aus Art. 4 Abs. 2 GG fähige Religion“. 77  Vgl. etwa ganz selbstverständlich BVerfGE 104, 337 (346  ff.); 108, 282 (298  f.); 138, 296 Rn. 83; J. Kokott, in: Sachs (o. Fn. 39), Art. 4 Rn. 33, 35, 37, 62, 65 f., 69, 73; D. Ehlers, in: Sachs (o. Fn. 39), Art. 140 Rn. 6. 73

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mische Staat den Vorrang seiner religiösen Vorstellungen vor jeder Staatsgewalt reklamierte, zwar vom Bundesverwaltungsgericht glatt als Religionsgemeinschaft qualifiziert worden, doch hat das Bundesverfassungsgericht die Richtigkeit dieser Einstufung nicht bestätigt.78 Islamistische Überzeugungen, die ganz diesseitig nach politischer Macht streben, sind jedenfalls dann nicht von Art. 4 GG geschützt, wenn die angeblich transzendenten Bezüge nur als Vorwand dienen.79 Soweit der Islam eine durch Art.  4 GG geschützte Religion ist, schützt das Grundrecht jedenfalls das Haben dieses Glaubens und das auch öffentliche Bekenntnis dazu, insbesondere durch „Gottesdienst, Unterricht oder Praktizieren von Bräuchen und Riten“ (so Art. 9 Abs. 1 EMRK; ähnlich Art. 10 EU-GRCh[Grundrechte-­ Charta]).80 Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte lässt für Art. 9 EMRK jedenfalls nicht jedes religiös motivierte oder inspirierte Verhalten ausreichen.81 Demgegenüber sind für das Bundesverfassungsgericht in neuerer Zeit „nicht allein kultische Handlungen und die Ausübung und Beachtung religiöser Gebräuche“ von Art. 4 GG geschützt, sondern auch „das Recht der Einzelnen, ihr gesamtes Verhalten an den Lehren ihres Glaubens auszurichten und dieser Überzeugung gemäß zu handeln, also glaubensgeleitet zu leben; dies betrifft nicht nur imperative Glaubenssätze.“82 Dieser weite Ansatz eröffnet der Freiheit der Religionsausübung nahezu uferlose tatbestandliche Reichweite; früher angestellte Überlegungen, Verhaltensweisen als missbräuchlich aus dem Grundrechtsschutz auszugrenzen,83 erscheinen nach dem Stand der allgemeinen Grundrechtsdogmatik heute überholt.84

 S. oben Fn. 43.  Vgl. J. Kokott, in: Sachs (o. Fn. 39), Art. 4 Rn. 22. 80  Zur grundsätzlich weiten Auslegung dieser Klausel vgl. etwa C. Grabenwarter/K. Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, 6. Aufl. 2016, § 22 Rn. 114; S. Muckel, in: K. Stern/M. Sachs (Hrsg.), Europäische Grundrechte-Charta, 2016, Art. 10 Rn. 33 m. N. 81  Vgl. EGMR, 18.01.2001, Nr. 41615/98 (Zaoui/Schweiz); C. Grabenwarter/K. Pabel (o. Fn. 80), § 22 Rn. 112, wonach „Propaganda für islamische politische Gruppierungen“ keinen Ausdruck einer religiösen Überzeugung darstelle; ferner S. Muckel, in: Stern/Sachs (o. Fn. 80), Art. 10 Rn. 30 m. w. N. 82  BVerfGE 138, 296 Rn. 85; zuletzt BVerfG (Kammer), NJW 2017, 381 Rn. 58 m. N.; zustimmend etwa C. Franzius (o. Fn. 7), Der Staat 54 (2015), 435 f. 83  BVerfGE 12, 1 (4), hatte noch formuliert: „Das Grundgesetz hat nicht irgendeine, wie auch immer geartete freie Betätigung des Glaubens schützen wollen, sondern nur diejenige, die sich bei den heutigen Kulturvölkern auf dem Boden gewisser übereinstimmender sittlicher Grundanschauungen im Laufe der geschichtlichen Entwicklung herausgebildet hat.“ Da weder den arabischen noch den türkischen Muslimen die Qualität von „Kulturvölkern“ abzusprechen sein dürfte, wäre eine Ausgrenzung nur unabhängig davon möglich, namentlich für Verhaltensweisen, die sich außerhalb „gewisser übereinstimmender sittlicher Grundanschauungen“ bewegen. Welche das sein sollen, ist nach dieser Formulierung äußerst vage; das Schicksal des Sittengesetzes (o. Fn. 62) zeigt auch die Wandelbarkeit solcher Anschauungen. 84  Wenn BVerfGE 12, 1 (4 f.), für den Missbrauch auf die Verletzung der Menschenwürde anderer rekurriert, berührt sich das mit der Vorstellung des kollidierenden Verfassungsrechts, das heute aber durchweg nicht als (quasi-) tatbestandlicher Ausschluss der Grundrechtsgeltung, sondern als Grundlage einschränkender Gesetzgebung verstanden wird (s. oben zu Fn. 72 ff.). 78 79

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Nach der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts verbleiben nur wenige Ansätze für tatbestandliche Einengungen der Religionsfreiheit. Die eine besteht in dem notwendigen Bezug auf die „Lehren ihres Glaubens“, was ganz individuelle, von niemandem geteilte Glaubensüberzeugungen Einzelner ausschließen könnte; allerdings bliebe die Legitimität eines begriffsnotwendigen Gruppenbezugs der Religionsfreiheit zu klären.85 Das Bundesverfassungsgericht will auch selbst für die Abgrenzung der Religionsausübung nicht nur das „Selbstverständnis der jeweils betroffenen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften“ berücksichtigen, son­ dern auch das „des einzelnen Grundrechtsträgers.“ Der andere Ansatz besteht in einem Ernsthaftigkeitstest, nämlich der Prüfung, ob ein Verhalten „tatsächlich eine als religiös anzusehende Motivation hat“,86 was etwa bei maßgeblich politisch oder auch wirtschaftlich angelegten Zielsetzungen fraglich sein könnte. Alle tatsächlich religiös motivierten Verhaltensweisen Einzelner stehen damit unter dem Schutz der Religionsfreiheit; daher kommt es entscheidend auf die Möglichkeiten an, sie gesetzlich einzuschränken. b) Einschränkungsmöglichkeiten Nicht zufällig geben gerade die Konflikte im Zusammenhang mit den als fremd empfundenen Anmutungen des Islams Anlass, auf der Grundlage von Art. 140 GG/ Art. 136 Abs. 1 WRV87 wieder die in der Weimarer Zeit noch selbstverständliche Einfügung auch religiös fundierten Handelns in die allgemeine Rechtsordnung zu propagieren. Damit wäre der Grundrechtsschutz darauf beschränkt, dass nicht gerade die Ausübung der Religionsfreiheit gezielt verkürzt werden darf.88  Immerhin mag sich aus juristischer Sicht der einzelne Gläubige auf eine göttliche Privatoffenbarung berufen, die nur ihm zuteil geworden sei. 86  BVerfGE 138, 296 Rn. 86; BVerfG, NVwZ 2017, 461 Rn. 102. 87  Zu deren Geltung als Gesetzesvorbehalt auch zu Art. 4 GG vgl. nur D. Ehlers, in: Sachs (o. Fn. 39), Art. 140 Rn. 4 m. N. zum Meinungsstand. 88  Diese Einordnung steht eigentlich im diametralen Gegensatz zur heute gängigen Grundrechtsbeschränkungsdogmatik, die auch gar nicht finale Einwirkungen einbezieht (dazu ausführlich M. Sachs, in: Stern [o. Fn. 71], § 78 S. 128 ff., 139 ff.; kürzer M. Sachs, in: ders. [o. Fn. 39], vor Art. 1 Rn. 83 ff., 86), findet aber in vielen Konstellationen auf verschiedene Grundrechte, ggf. auch unabhängig von Gesetzesvorbehalten, Anwendung. So gibt Art. 8 GG zwar das Recht, den Ort einer Versammlung frei zu wählen; dies setzt aber die Verfügungsbefugnis über den Versammlungsort voraus. Auch die Glaubensfreiheit soll kein Zutrittsrecht zu sonst nicht zugänglichen Räumen verschaffen, allerdings grundsätzlich überall ausgeübt werden können, wo sich der Betreffende gerade befindet (so jedenfalls für Schüler in der Schule BVerwGE 141, 223 Rn. 22 ff.; entsprechend für die Meinungsäußerungsfreiheit BVerfGE 128, 226 [265]). S. zum Moscheebau im Rahmen des Baurechts auch o. Fn. 32. Übergreifend zur allgemeinen Rechtsordnung als Vorgabe der Grundrechtsgeltung M. Sachs, Die Grundrechte in der gesetzlichen Rechtsordnung, in: M. Kment (Hrsg.), Das Zusammenwirken von deutschem und europäischem Öffentlichen Recht, Festschrift für H. D. Jarass zum 70. Geburtstag, 2015, S. 235 (240 ff.). Zuletzt anders für die Ausübung von Kunst unter Zugriff auf fremdes Eigentum als von der Kunstfreiheit geschützt BVerfG, NJW 2016, 2247 Rn. 90 unter Aufgabe von BVerfG (Vorprüfungsauschuss), NJW 1984, 1293 (1294) (Sprayer von Zürich). 85

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Bleibt man aber im Rahmen der Dogmatik des Bundesverfassungsgerichts, müssen Beschränkungen der umfassend verstandenen Religionsfreiheit weitestgehend89 mit „kollidierendem Verfassungsrecht“90 oder auch „verfassungsimmanenten Schran­ ken“91 gerechtfertigt werden. Dabei sollen im Rahmen der Einheit der Verfassung92 die mit der Religionsfreiheit in Widerstreit tretenden, durch andere Verfassungsbestimmungen geschützten „Verfassungsgüter“ zu praktischer Konkordanz93 gebracht werden; neuerdings spricht das Bundesverfassungsgericht auch (vielleicht moderner) davon, dass ein für alle zumutbarer Kompromiss gefunden werden müsse.94 Das Spektrum der als Grenzen der Religionsfreiheit herangezogenen Verfassungsgehalte ist breit. In Betracht kommen – in der Reihenfolge der einschlägigen Grundgesetzbestimmungen – insbesondere folgende Elemente, ohne Anspruch auf abschließende Erfassung: • die Menschenwürde, Art. 1 Abs. 1 GG,95 • die körperliche Unversehrtheit, Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG,96 • die Gleichberechtigung der Frauen, Art. 3 Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 Satz 1 GG,97

 Ob das Bundesverfassungsgericht in bestimmten Fällen, etwa beim Zugang zu Örtlichkeiten, wie BVerwGE 141, 223, akzeptieren würde, dass grundsätzlich auch die Religionsfreiheit von vornherein kein die allgemeine Rechtsordnung durchbrechendes Zutrittsrecht gewährt, bleibt abzuwarten, seit diese von ihm früher dort vertretene Sichtweise bei der Kunstfreiheit aufgegeben oder doch durchbrochen wurde, s. oben Fn. 88 und unten Fn. 136. 90  Zu Art. 5 Abs. 3 GG BVerfGE 122, 89 (107); s. auch oben Fn. 75 sowie M. Sachs, in: ders. (o. Fn. 39), vor Art. 1 Rn. 120 m. w. N. 91  BVerfGE 138, 296 Rn. 98; BVerfG (Kammer), NVwZ 2016, 1804 Rn. 53 f.; NJW 2017, 381 Rn. 61; s. auch oben Fn. 75. 92  BVerfGE 107, 104 (118), zu Art. 6 Abs. 2, 3 GG; BVerfG (Kammer), NJW 2004, 47 (47); vgl. kritisch aber BVerfGE 69, 1, 57 (62) (abw. Meinung der Richter E. G. Mahrenholz/E.-W. Böckenförde); s. auch M. Sachs, in: ders. (o. Fn. 39), vor Art. 1 Rn. 123 m. w. N. 93  Vgl. in anderem Kontext zuletzt BVerfG, NJW 2016, 2247 Rn. 70; allgemein M. Sachs, in: ders. (o. Fn. 39), vor Art. 1 Rn. 124 m. w. N. 94  BVerfGE 138, 296 Rn. 98. 95  Nur in concreto gegen die Ausrichtung des religiösen Kopftuchtragens gegen Menschenwürde BVerfGE 138, 296 Rn. 118; für mögliche Unvereinbarkeit der Vollverschleierung mit der Menschenwürde die abw. M. in BVerfGE 108, 282, 314 (334); dafür bei Kalifatstaat BVerwG, NVwZ 2003, 986 (987) im Rahmen von Art. 9 Abs. 2 GG auch für Art. 4 GG; abl. EGMR, NJW 2014, 2925 LS 3 a. E., Rn. 120. Zu BVerfGE 12, 1 (4 f.) schon oben zu Fn. 84. Vgl. auch § 130 Abs. 1 Nr. 2 StGB; dazu OLG Stuttgart, KirchE 57, 419 (für „Menschlichkeit“ [Rn. 27]). 96  Für deren Vorrang im Falle der Beschneidung männlicher Kinder etwa A. Manok (o. Fn. 20), S. 99 ff.; zur Bedeutung gegenüber der Errichtung von Moscheen D. Gaudernack (o. Fn. 33), S 176 ff., 184. 97  Nur bei verfassungskonform restriktiver Gesetzesauslegung ablehnend BVerfGE 138, 296 Rn. 142 ff. mit Rn. 118; anders EGMR, NJW 2014, 2925 LS 3 am Anfang. 89

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• die auf einen Konfrontationsschutz ausgedehnte98 negative Religionsfreiheit, Art. 4 Abs. 1, 2 GG,99 • religiös-weltanschauliche Neutralität im öffentlichen Dienst100 (zum Schutz des Glaubens anderer),101 • das Elternrecht, Art. 6 Abs. 2 GG,102 • die staatliche Schulaufsicht, Art. 7 Abs. 1 GG,103 und als Voraussetzung der Erfüllung des schulischen Erziehungsauftrags der „Schulfrieden“,104 • das Eigentumsgrundrecht von Grundstücksnachbarn, Art. 14 GG,105 • der Tierschutz, Art. 20a GG,106

 In ihrer eigentlichen, jedenfalls primären Bedeutung zielt die negative Religionsfreiheit darauf, einen bestimmten Glauben nicht haben, bekennen oder ausüben zu müssen, vgl. M.  Sachs (o. Fn. 62), Kap. 16 Rn. 9 ff. 99  Dafür beim Kopftuch der Lehrerin in der Schule BVerfGE 108, 282 (301 f.); 138, 296 Rn. 104 f.; für das Kopftuch  der Erzieherin in der Kindertagesstätte BVerfG (Kammer), NJW 2017, 381 Rn. 64 f.; dagegen für Gebet des Schülers in der Schule BVerwGE 141, 223 Rn. 27, 29 f.; „religiösen Einrichtungsfrieden“ auch für Kindertagesstätten führt ohne normative Zuordnung BAG (Bundesarbeitsgericht), NZA-RR 2011, 162 Rn. 22 ff., 29 f., 45, an; auch BVerfG (Kammer), NJW 2017, 381 Rn.  63, 69  f., 73, erkennt grundsätzlich einen „Einrichtungsfrieden“ als insoweit relevant an. 100  Zu diversen Grundgesetzbestimmungen (Art. 4 I, 3 III 1, 33 III, 140 GG iVm Art. 136 I, IV, 137 I WRV) zum Kopftuch der Lehrerin BVerfGE 108, 282 (299 ff.); 138, 296 Rn. 109 ff.; auch zum Kopftuch im städtischen Krankenhaus, EGMR, NZA-RR 2017, 62; dagegen für Gebet des Schülers in der Schule BVerwGE 141, 223 Rn. 27, 34 ff. (für den Fall stringenterer gesetzlicher Regelungen offen, Rn. 38 ff.); allgemein auch mit Rücksicht auf Muslime etwa E. W. W. Busse, Das Prinzip staatlicher Neutralität und die Freiheit der Religionsausübung, 2013. 101  Trifft sich insoweit wohl mit „negativer Religionsfreiheit“. 102  Gegenüber Konfrontationen von Kindern mit religiösen Aussagen für Lehrerin in Schule BVerfGE 108, 282 (301); 138, 296 Rn. 106 f.; für Erzieherin im Kindergarten BVerfG (Kammer), NJW 2017, 381 Rn. 66; dagegen für Gebet des Schülers in der Schule bzgl. der Eltern anderer Schüler BVerwGE 141, 223 Rn. 27, 31 ff. 103  Vgl. zum Kopftuch der Lehrerin nur BVerfGE 108, 282 (302 f.); 138, 296 Rn. 108 ff.; zur Pflicht zur Teilnahme am Schwimmunterricht im Burkini – in Übereinstimmung mit allen Vorinstanzen – zuletzt BVerwGE 147, 362 Rn. 10 ff. („staatliches Bestimmungsrecht im Schulwesen“), gebilligt von BVerfG (Kammer), NVwZ 2017, 227 f.; aus dem Schrifttum dazu etwa A. Uhle, Integration durch Schule, NJW 2014, 541 (542 ff.); S. Huster, Endlich: Abschichtung statt Abwägung, DÖV 2014, 860 (864 ff.); s. auch EGMR, 10.01.2017, Nr. 29086/12 (Osmanoglu et Kocabas/Schweiz), EuGRZ 2017, 249 ff.; zum Verbot der Gesichtsverschleierung BayVGH, NVwZ 2014, 1109 f.; s. auch Presseberichte über den Plan, ein gesetzliches Vollverschleierungsverbot für Schülerinnen und Studentinnen in Baden-Württemberg zu erlassen (FAZ 24.03.2017, S. 6). 104  So die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum Kopftuch der Lehrerin (o. Fn. 103) sowie BVerwGE 121, 140 (144 ff.); 141, 223 Rn. 41 ff. 105  Namentlich beim Moscheebau, vgl. OVG RhPf, KommJur (Zeitschrift Kommunaljurist) 2017, 107 (110), im Anschluss an BVerfG (Kammer), NVwZ 2016, 1804 Rn. 53, 55, 63 ff. (zur Erweiterung einer christlichen Krypta in einem Industriegebiet); auch D.  Gaudernack (o. Fn.  33), S. 171 ff. 106  BVerwGE 127, 183 Rn. 10 ff.; schon vor der Aufnahme des Belangs ins Grundgesetz BVerfGE 104, 337 (347) (allerdings am primären Maßstab nur des Art. 2 Abs. 1 GG gemessen). 98

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• die kommunale Selbstverwaltung, Art. 28 Abs. 2 GG,107 • das Selbstbestimmungsrecht christlicher Kirchen und anderer Religionsgemeinschaften nach Art. 140 GG i.V. mit Art. 137 Abs. 3 WRV,108 • der Feiertagsschutz nach Art. 140 GG i.V. mit Art. 139 WRV;109 • die verfassungsmäßige Ordnung insgesamt im Sinne etwa der freiheitlichen demokratischen Grundordnung;110 • die (vom Grundgesetz vorausgesetzte) Funktionsfähigkeit der Verwaltung.111 Im Hinblick auf das französische Verbot der Vollverschleierung in der Öffentlichkeit hat es der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Rahmen der in Art. 9 Abs. 2 EMRK vorgesehenen Einschränkungsmöglichkeiten als legitimes und in einer demokratischen Gesellschaft notwendiges Ziel angesehen, dadurch das Zusammenleben der Menschen zu garantieren.112 Dies könnte Anlass geben, zur Rechtfertigung entsprechender Verbote in Deutschland das Demokratieprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG ins Feld zu führen. Die Fülle der begrenzungstauglichen Verfassungsgehalte kann hier nicht im Einzelnen analysiert werden, noch viel weniger, wie in solchen Fällen jeweils praktische Konkordanz herzustellen wäre. Die dazu notwendigen Abwägungen der beteiligten Verfassungsgüter sind weitgehend an den besonderen Gegebenheiten der jeweiligen Konstellation, ggf. sogar des Einzelfalls zu orientieren. Exemplarisch sei die Forderung des Bundesverfassungsgerichts genannt, dass für ein Kopftuchverbot „zumindest eine hinreichend konkrete Gefahr für die Schutzgüter“ (hier: Schulfrieden und Neutralität) vorliegen muss.113 Das Schwimmunterrichtsurteil des Bundesverwaltungsgerichts sucht demgegenüber vorsichtig nach übergreifenden Standards. Es misst nicht nur verpflichtend empfundenen Glaubensgeboten größeres Gewicht bei als nur disponiblen Glaubensregeln,114 sondern zieht den Vorrang einer religiösen Position vor Konsequenzen der Schulpflicht „überhaupt nur in Betracht“, 107  Bezüglich der Planungshoheit, vgl. OVG RhPf, KommJur 2017, 107 (108); auch D. Gaudernack (o. Fn. 33), S. 210 ff. 108  LAG (Landesarbeitsgericht) Hamm, KirchE 59, 124 Rn. 62 ff., zum Kopftuchverbot eines Krankenhauses der Evangelischen Kirche gegenüber einer muslimischen Krankenschwester. 109  Für Zulässigkeit der Untersagung einer (unterstellt) zwingenden religiösen Geboten entsprechenden, allerdings nicht termingebundenen Beschneidungsfeier am Karfreitag VG Köln, Urt. v. 10.12.2015, – 20 K 5562/14 – juris; s. im Eilrechtsschutz zuvor auch OVG NRW, DVBl 2015, 721 (722 f.); für Notwendigkeit einer Ausnahme für das rituelle Schächten an einem auf einen Sonntag fallenden muslimischen Feiertag HessVGH (Hessischer Verwaltungsgerichtshof), NVwZ 2004, 890 (891 ff.); für die Notwendigkeit von Ausnahmen zugunsten einer allerdings atheistischen Feier am Karfreitag BVerfG, NVwZ 2017, 461. 110  Vgl. oben bei Fn. 40 ff. zu Art. 9 Abs. 2 GG; hierauf stützt sich die Position von K. A. Schachtschneider (o. Fn. 76). 111  So die Begründung des Entwurfs der Bundesregierung zum oben in  Fn.  18 angesprochenen Gesetzes, BT-Dr. 18/11180, S. 9, zu A. I. 112  EGMR (Große Kammer), NJW 2014, 2925 LS Rn. 6–9, Rn. 121 ff. 113  BVerfGE 138, 296 Rn. 101 ff., wobei allerdings bei entsprechend verbreiteten Gefahren gleichwohl auch allgemeinere Handlungsmöglichkeiten bestehen sollen, Rn. 114. 114  So auch BVerfGE 138, 296 Rn. 112.

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„sofern ein religiöses Verhaltensgebot aus Sicht des Betroffenen imperativen Charakter aufweist“. Demgegenüber sollen die „in unübersehbarer Zahl vorhandenen religiösen Überzeugungen, die lediglich in nicht abschließend bindender Weise Orientierung und Anleitung für eine in religiöser Hinsicht optimierte Lebensführung vermitteln sollen, […] in keinem Fall einen Vorrang der religiösen Position“115 rechtfertigen können. Sogar imperative Glaubensgebote sollen unbeachtlich sein, wenn die Gläubigen „nicht in eine glaubensbedingte Gewissensnot gravierenden Ausmaßes versetzt“116 werden.

2. Grenzen der Freiheit zur Äußerung gegen den Islam gerichteter Meinungen Die Meinungsäußerungsfreiheit wirft dogmatisch im Hinblick auf ihre tatbestandlichen Grenzen und die Einschränkungsmöglichkeiten weniger Schwierigkeiten auf als die Religionsfreiheit. a) Tatbestandliche Grenzen Der Bezug des Grundrechts speziell auf Meinungsäußerungen schließt einen uferlosen Schutz beliebiger Aktivitäten allein aufgrund einer bestimmten Motivation von vornherein aus. Meinungsäußerungsfreiheit umfasst jedenfalls nicht jedes von einer Meinung getragene Verhalten; keine grundrechtsgeschützten Meinungsäußerungen sind, selbst wenn sie konkludent eine Meinung zum Ausdruck bringen, tätliche Übergriffe117 auf Personen oder auch Sachen.118 Teilweise wird eine ungeschriebene tatbestandliche Grenze der Friedlichkeit angenommen, wie sie Art.  8 GG für Versammlungen ausdrücklich ausspricht;119 dies ist fragwürdig. Wird eine  BVerwGE 147, 362 Rn. 21 f.  BVerwGE 147, 362 Rn. 22 (Hervorhebung im Original). 117  H. Bethge, in: Sachs (o. Fn. 39), Art. 5 Rn. 34; H. Schulze-Fielitz, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 1, 3. Aufl. 2013, Art. 5 I, II Rn. 73; zur Indemnität BVerwGE 83, 1 (15 f.). 118  Vgl. speziell § 304 StGB (Gemeinschädliche Sachbeschädigung) und § 306a Abs. 1 Nr. 2 StGB (Schwere Brandstiftung); allgemein C. Grabenwarter, in: T. Maunz/G. Dürig, Grundgesetz, Art. 5 (2013) Rn. 82, gegen den Schutz des Zerstörens fremder Sachen durch die Meinungsfreiheit. 119  Vgl. dafür etwa H. Bethge, in: Sachs (o. Fn. 39), Art. 5 Rn. 35; H. Schulze-Fielitz, in: Dreier (o. Fn. 117), Art. 5 I, II Rn. 73; C. Starck, in: H. v. Mangoldt/F. Klein/C. Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, 6. Aufl. 2012, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 33; R. Wendt, in: I. v. Münch/P. Kunig, Grundgesetz, Bd. 1, 6. Aufl. 2012, Art. 5 Rn. 12; gegen Meinungskundgaben mittels „physischer oder psychischer Gewalt“ auch M. Jestaedt, § 102 Meinungsfreiheit, in: D. Merten/H.-J. Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. IV, 2011, Rn. 41; C. Grabenwarter, in: Maunz/Dürig (o. Fn. 118), Art. 5 (2013) Rn. 85, der sich aber ebd., Rn. 66, für den Schutz „rechtswidrige[r] Äußerung[en]“ ausspricht. Gegen eine allgemeine Friedlichkeitsgrenze aller Freiheitsrechte M. Sachs, in: Stern (o. Fn. 71), S. 537 ff. m. w. N. 115 116

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solche Friedlichkeitsgrenze allerdings eng verstanden, wenn eine Äußerung also auch „rassistisch, sexistisch, blasphemisch, nazistisch oder fremdenfeindlich“ oder auch „hate speech“ sein kann, ohne deshalb schon tatbestandlich aus dem Grundrechtsschutz auszuscheiden,120 geht dies aber kaum über die Grenze der tätlichen Übergriffe hinaus. Keine Meinungsäußerung ist allerdings die bewusste Lüge,121 die ja der Meinung des Lügenden nicht entspricht. Der prinzipielle Grundrechtsschutz auch für gegen den Islam gerichteter Meinungsäußerungen geht im Übrigen nach dem Gesagten durchaus weit. Die Frage einer tatbestandlichen Ausgrenzung bestimmter Meinungsäußerungen aus dem abwehrrechtlichen Grundrechtsschutz ist aber wegen der Einschränkungsmöglichkeiten des Art. 5 Abs. 2 GG (dazu sogleich) praktisch nicht von entscheidender Bedeutung.122 Nicht von der Meinungsäußerungsfreiheit als Abwehrrecht erfasst sind allerdings Ansprüche auf staatliche Leistungen, auch wenn das Bundesverwaltungsgericht solche in neuerer Zeit für die Pressefreiheit proklamiert:123 So gibt es keinen grundrechtlichen Anspruch auf staatliche Anerkennung einer islamfeindlichen Äußerung: Der Antrag auf Eintragung eines Geschmacksmusters für ein Schild, das in einem roten Kreis eine durchgestrichene Moschee zeigt, wurde abgelehnt; die staatliche Gewährung des Geschmacksmusterschutzes für diese Darstellung hätte die Religionsfreiheit der Muslime verletzt.124 b) Einschränkungsmöglichkeiten Die Meinungsäußerungsfreiheit des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG unterliegt dem expliziten Gesetzesvorbehalt des Art. 5 Abs. 2 GG: Der erkennt gesetzliche Schranken der Meinungsäußerungsfreiheit nur an, wenn sie dem Schutz der Jugend oder der Ehre dienen oder wenn die Gesetze „allgemein“ sind. Als allgemein werden nach der Judikatur Gesetze angesehen, die nicht gerade darauf abzielen, die Freiheit der Meinungsäußerung oder bestimmter Meinungsäußerungen einzuschränken, sondern  Vgl. so H. Bethge, in: Sachs (o. Fn. 39), Art. 5 Rn. 25, 35a; C. Grabenwarter, in: Maunz/Dürig (o. Fn. 118), Art. 5 Abs. 1, 2 (2013) Rn. 68. 121  BVerfGE 99, 185 (197), wo nicht nur „bewusst unwahre Tatsachenbehauptungen“, sondern auch solche vom Grundrechtsschutz ausgenommen wurden, „deren Unwahrheit bereits im Zeitpunkt der Äußerung unzweifelhaft feststeht“. 122  Ob „Schmähkritik im engeren Sinne“ durch Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG „nicht geschützt“ ist (so H. Schulze-Fielitz, in: Dreier [o. Fn. 117], Art. 5 I, II Rn. 70) oder ob ein Verbot solcher Äußerungen ohne Güterabwägung als zulässig zu qualifizieren ist (so ebd, Art. 5 I, II Rn. 179), macht im Ergebnis keinen Unterschied, solange der Vorbehalt des Gesetzes jedenfalls eine gesetzliche Grundlage erforderlich macht. 123  Seit BVerwGE 146, 56 Rn. 27 ff. 124  BPatG (Bundespatentgericht), Beschl. v. 14.11.2013 – 30 W 704/13 –, juris, Rn. 23, weil dieser in der „Abwägung“ mit der „allenfalls marginal“ betroffenen „Meinungsfreiheit“ der Vorrang zukomme. 120

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dem Schutz anderer wichtiger Anliegen dienen.125 Da damit jedenfalls Anliegen „von Verfassungsrang“ erfasst sind, hat kollidierendes Verfassungsrecht als Grundlage gesetzlicher Einschränkungen daneben keine eigenständige Bedeutung.126 Im engsten Sinne „allgemeine“ Gesetze sind solche, die sich nicht gerade gegen Meinungsäußerungen richten, sondern etwa gegen übermäßigen Lärm; solche Regelungen können auch gegenüber islamfeindlichen Aktionen durchgreifen, so etwa gegenüber dem über Lautsprecher bei einer Demonstration in kurzer Folge immer wieder abgespielten Ruf des Muezzin auf dem Münchener Marienplatz.127 Möglich sind nach der Rechtsprechung zudem Gesetze gegen islamfeindliche Äußerungen, die die Ehre von Muslimen verletzen, sowie Gesetze, die das Ziel verfolgen, durch Meinungsäußerungen geschürten Unfrieden zwischen Muslimen und anderen Bevölkerungsgruppen zu verhindern. Entsprechende Verbote finden sich einerseits in den allgemeinen, Muslime wie jeden anderen schützenden Ehrschutzgesetzen, §§ 185 ff. StGB; soweit Tatsachenbehauptungen aufgestellt oder Aussagen mit einem Tatsachenkern getroffen werden, kann es darauf ankommen, ob die fraglichen Tatsachen zutreffen.128 Andererseits greifen speziell auf Religionen, also auch den Islam, und religiöse Gruppen, also auch Muslime, bezogene strafrechtliche Bestimmungen ein, § 166 bzw. § 130 StGB,129 die einschlägige, auch islamfeindliche Meinungsäußerungen verbieten. Allerdings ist stets im Rahmen einer Abwägung im Einzelfall die grundsätzlich als sehr hoch eingestufte Bedeutung der Meinungsäußerungsfreiheit zu berücksichtigen, so dass in Deutschland jedenfalls nach dem derzeit geltenden Recht nur in recht extremen Fällen Strafbarkeit anzunehmen sein wird. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte räumt den Vertragsstaaten zwar mangels übereinstimmender Anschauungen in diesen Fragen einen weiten Beurteilungsspielraum für Einschränkungen der Freiheit der Meinungsäußerung zugunsten des Rechts „anderer Personen auf Achtung ihrer Gedanken-, Gewissensund Religionsfreiheit“ ein, fordert aber doch die Bereitschaft Betroffener, Kritik grundsätzlich hinzunehmen, solange nicht Gläubige beleidigt werden oder Heiliges verunglimpft wird.130 Gebilligt wurde in diesem Rahmen eine geringfügige Geld-

 BVerfGE 117, 244 (260); modifizierend BVerfGE 124, 300 (321 ff.); zu Bedenken gegen diese Einheitsformel nur M. Sachs (o. Fn. 62), Kap. 17 Rn. 58 ff. 126  M. Sachs (o. Fn. 62), Kap. 17 Rn. 62. 127  BayVGH, Beschl. v. 17.10.2016 – 10 CS 16.1468 –, juris, Rn. 44 ff. (47). 128  Vgl. etwa gegen einen zivilrechtlichen Unterlassungsanspruch eines Salafisten gegen die Bezeichnung als „Hassprediger“ LG Köln, Urt. v. 21.12.2016 – 28 O 203/16 –, juris; ähnlich OLG Bbg, NVwZ-RR 2007, 1641 f. 129  Vgl. etwa das Verbot eines islamfeindlichen Wahlwerbespots im Fernsehen billigend VG Berlin, Beschl. v. 28.04.2014 – 2 L 59/14 –, juris, Rn. 6 ff.; ferner wurde die Bestrafung von J. M. Le Pen wegen Schmähung der Muslime (Rassendiskriminierung) gebilligt von EGMR, NJW-RR (Neue Juristische Wochenschrift Rechtsprechungs-Report Zivilrecht) 2011, 984 ff.; das Verbot einer Versammlung unter dem Motto „Überfremdung stoppen –keine Moschee in …!“ wegen Volksverhetzung nicht zugelassen hat (im Eilrechtsschutz) VG Meiningen, ThürVBl 2013, 92 (93). 130  EGMR, NVwZ 2007, 314 Rn. 24, 26. 125

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strafe in der Türkei für den Verleger eines Buches, das beleidigende Angriffe auf den Propheten des Islams enthielt.131

3. Grenzen gegen den Islam gerichteter Kunst a) Tatbestandliche Grenzen Tatbestandliche Grenzen der Kunstfreiheit sind angesichts des weiten Verständnisses von Kunst schwer greifbar, am ehesten noch anhand der Ernsthaftigkeit der künstlerischen Absicht zu markieren.132 Dabei schließen zugleich verfolgte politische Absichten die Qualifikation als Kunst nicht aus.133 Bis vor Kurzem galt noch eine im Jahre 1984 von einem damals vorgesehenen Vorprüfungsausschuss des Bundesverfassungsgerichts angenommene tatbestandliche Grenze der Kunstfreiheit dahin, dass eine durchaus künstlerische Betätigung an fremdem Eigentum von vornherein nicht von der Kunstfreiheit geschützt war.134 Dem ist der Erste Senat des Gerichts allerdings jetzt entgegengetreten mit der Annahme, jedes künstlerische Wirken bewege sich im Schutzbereich des Art. 5 Abs. 3 GG, „gleich wie und wo es stattfindet“.135 Damit wären ggf. auch islamfeindliche Bemalungen von Moscheen, wenn sie denn künstlerische Qualität besitzen, im Ausgangspunkt durch die Kunstfreiheit geschützt. Tatbestandliche Einengungen bei Übergriffen auf fremde Persönlichkeitsrechte waren ohnehin nie angenommen worden.136 Wenig klare Formulierungen des Bundesverfassungsgerichts dahin, dass „schwerwiegende Beeinträchtigungen des Persönlichkeitsrechts […] durch die Freiheit künstlerischer Betätigung nicht mehr gedeckt“ seien,137 oder dass „die Kunstfreiheit Grenzen unmittelbar in anderen Bestimmungen der Verfassung finden“ solle,138 zielen nicht auf einen Ausschluss der tatbestandlichen Geltung des Art. 5 Abs. 3 GG, sondern betrafen nur die Frage,

 EGMR, NVwZ 2006, 3263 Rn.  27  ff., 29  f.; zur Judikatur des EGMR im Überblick W. Frenz/E. Casimirvan den Broek, Religionskritische Meinungsäußerungen und Art. 10 EMRK in der Spruchpraxis des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, ZUM (Zeitschrift für Urheber- und Medienrecht) 2007, 815 ff. 132  Vgl. nur M. Sachs (o. Fn. 62), Kap. 17 Rn. 74 ff., 78 m. N. 133  BVerfGE 67, 213 (227 f.). 134  BVerfG (Vorprüfungsausschuss), NJW 1984, 1293 f. 135  BVerfG, NJW 2016, 2247 Rn. 90. 136  Kritisch zu diesem Unterschied M. Sachs (o. Fn. 62), Kap. 17 Rn. 83. 137  BVerfGE 75, 369 (380), wo zugleich ein Eingriff in die Menschenwürde angenommen worden war. 138  BVerfGE 67, 213 (228). 131

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ob Verurteilungen wegen Beleidigung nach § 185 StGB als Verletzungen der vorbehaltlos garantierten Kunstfreiheit unzulässig waren. b) Einschränkungsmöglichkeiten Gegenüber dem Islam kritische Kunst wird sich durchweg zugleich als Meinungsäußerung darstellen; sie unterliegt auch dann aber gleichwohl nicht den Einschränkungsmöglichkeiten nach Art. 5 Abs. 2 GG. Vielmehr gelten für die Kunstfreiheit als vorbehaltlos garantiertes Grundrecht nur die Grenzen aus kollidierendem Verfassungsrecht, das einschränkende gesetzliche Regelungen und deren Anwendung auf künstlerische Betätigungen legitimieren kann. Insoweit sind die zu den Grenzen der Religionsfreiheit angestellten Überlegungen auch hier maßgeblich. Danach sind grundsätzlich die Kollisionen zwischen den verfassungsrechtlichen Positionen im Sinne praktischer Konkordanz schonend aufzulösen; dabei sind meist Abwägungen im Einzelfall erforderlich. Bei zweifelsfrei festgestellten schwerwiegenden Beeinträchtigungen von Persönlichkeitsrechten, zumal bei Verletzungen der Menschenwürde, soll allerdings die Kunstfreiheit ohne Weiteres zurückzutreten haben.139 Nicht als eigenständiges Schutzgut der Verfassung anerkannt sind individuelle Empfindlichkeiten hinsichtlich der Bewertung der eigenen Religion durch andere; doch können sie möglicherweise im Rahmen der Abwägung zwischen Kunstfreiheit und Persönlichkeitsrecht letzterem größeres Gewicht verleihen. So hat das LG Hamburg im Hinblick auf ein satirisches Gedicht über den türkischen Staatspräsidenten Erdogan den für bestimmte Verse angenommenen Vorrang des Persönlichkeitsrechts darauf gestützt, dass ein „Schweinefurz“ erwähnt wurde und das Schwein im Islam als „unreines“ Tier gelte; Art.  4 GG wurde dafür nicht herangezogen.140

IV. Schluss Das Grundgesetz kennt keine unbegrenzte Freiheit. Auch wenn seine Freiheitsgarantien, wie die der Kunst und wohl auch die der Religion Einschränkungsmöglichkeiten nicht ausdrücklich vorsehen, begründet das Grundgesetz doch Möglichkeiten, die für das Zusammenleben in einer Gesellschaft notwendigen Einschränkungen gesetzlich zu regeln, insbesondere die Rechte anderer und Belange der Allgemeinheit vor Freiheitsbetätigungen zu schützen. Für die einem ausdrücklichen Gesetzes-

139 140

 BVerfGE 67, 213 (228); 75, 369 (380).  LG Hamburg, NJW-RR 2017, 36 f.

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vorbehalt unterworfene Meinungsäußerungsfreiheit gilt nichts anderes. Wie weit die gesetzlichen Einschränkungen gehen dürfen, wie sie zu interpretieren und anzuwenden sind, ist immer unter Abwägung der verfolgten Ziele und der eingeschränkten Freiheiten zu bestimmen. Dies gilt für Betätigungen der Religionsfreiheit durch Muslime wie für islamfeindliche Meinungsäußerungen und künstlerische Aktivitäten gleichermaßen; letztere sind allerdings mit ihrer feindlichen Ausrichtung gegen Menschen anderer Überzeugung von vornherein problematisch und unterliegen daher einschlägigen Verboten, erstere sind grundsätzlich, auch wo sie manchen noch fremd erscheinen mögen, unbedenklich und können nur verboten werden, wenn sie in besonderen Fällen andere Verfassungsgüter beeinträchtigen. Prof. Dr. Michael Sachs,  geb. 1951 in Duisburg, 1969 Abitur, Jura-Studium an der Univ. zu Köln, Staatsexamina 1973 und 1978, 1976 Promotion zum Dr.iur. und 1985 Habilitation in Köln, seit 1987 Professuren in Augsburg, Potsdam und Düsseldorf, seit 2001 (bis 2020) Lehrstuhlinhaber für Staats- und Verwaltungsrecht an der Univ. zu Köln, Mitdirektor des dortigen Instituts für Deutsches und Europäisches Wissenschaftsrecht, Herausgeber eines Grundgesetz-Kommentars (8.  Aufl. 2017, 2800 S.), Mitautor des 5-bändigen „Staatsrechts“ seines Lehrers Klaus Stern, Mitherausgeber von „Stelkens/Bonk/Sachs: Verwaltungsverfahrensrecht“ (9.  Aufl. 2017, 2730 S.). Viele Veröffentlichungen zu Grundrechten, Staatsorganisationsrecht, Verwaltungs- und Verwal­ tungsprozessrecht, Wissenschaftsrecht.

Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Fragen der Religions- und Glaubensfreiheit Vom „Aktion Rumpelkammer“-Beschluss zu den „Kopftuch“-Entscheidungen Udo Steiner

Inhaltsverzeichnis I.

Die Grundlagen (1951 bis 2000)  1 . Staatskirchenrecht von Weimar  2. Art. 4 und 140 GG – ein organisches Ganzes  3. Rechtsprechungs-Bilanz bis 2000  a) Weitgefasster Schutzbereich bei Art. 4 GG  b) Selbstbestimmungsrecht der Kirchen  II. Leitentscheidungen und Schwerpunkte (2000 – 2018)  1. Fragen des Religionsunterrichts  a) In Brandenburg LER  b) Vorschlag einer „Vereinbarung“ zu LER durch das BVerfG  c) Zählt nur noch der weltliche Sinn von Feiertagen?  2. Das staatsrechtliche Rätsel: Religionsgemeinschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts  a) Zur Körperschaft des öffentlichen Rechts  b) Das Begehren der Zeugen Jehovas  c) Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts  d) Akzentverschiebung durch diese Entscheidung  3. Religionsneutraler Staat und religiöses Selbstverständnis  a) Das Schächten-Urteil von 2002  b) Zur Bedeutung dieses Urteils für die Rechtsstellung von Muslimen  c) Islamische Rechtsfragen  4. Die Freiheit zum Religionsbekenntnis im staatlich-öffentlichen Raum  a) Zum Kopftuch-Urteil von 2003  b) Der Kopftuch-Beschluss von 2015  I II. Perspektiven 

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U. Steiner (*) Universität Regensburg, Regensburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Häberle (Hrsg.), Islam – Meinungsfreiheit – Internet, https://doi.org/10.1007/978-3-662-59426-1_3

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I. Die Grundlagen (1951 bis 2000) Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Fragen des Verhältnisses von Staat und Kirche und zur Religions- und Glaubensfreiheit allgemein gehört zu den großen Linien seiner Judikatur. Sie haben das deutsche Religionsverfassungsrecht entscheidend geprägt.

1. Staatskirchenrecht von Weimar Als das Bundesverfassungsgericht  – im Folgenden kurz: das Gericht  – in den 1960er-Jahren seine grundlegende Rechtsprechung zu Fragen des Verhältnisses von Staat, Religion und christlichen Kirchen aufnahm, fand es eine einzigartige verfassungsrechtliche Situation vor. Der deutsche Grundgesetzgeber hatte kein eigenständiges Staatskirchenrecht geschaffen, sondern in Art. 140 GG lapidar angeordnet: „Die Bestimmungen der Artikel 136, 137, 138, 139 und 141 der deutschen Verfassung vom 11. August 1919 sind Bestandteil dieses Grundgesetzes.“

Dieser verfassungsrechtliche Zustand – die Übernahme der religionsrechtlichen Bestimmungen der sog. Weimarer Verfassung von 1919 – ist bis heute unverändert. Auch die nach der Herstellung der Deutschen Einheit erfolgte Reform des Grundgesetzes Anfang der 1990er-Jahre hat daran nichts geändert.1 Es gibt in Deutschland keinen politischen Konsens über eine verfassungsrechtliche Neugestaltung der Beziehungen von Staat und Kirche, der von einer Mehrheit getragen würde, die notwendig ist, neues Verfassungsrecht in Deutschland zu schaffen. Diese Mehrheit wären zwei Drittel der Mitglieder des Deutschen Bundestages und der Stimmen des Bundesrates. Sie ist politisch nicht in Sicht. Bewegung kann allenfalls in die Ablösung von Staatsleistungen nach Art. 140 GG i. V. m. (in Verbindung mit) Art. 138 Abs. 1 WRV (Weimarer Reichsverfassung) kommen.

2. Art. 4 und 140 GG – ein organisches Ganzes Das Gericht hat in seiner Rechtsprechung zwei methodisch-interpretatorische Grundentscheidungen getroffen.2 Es hat zum Einen die durch Art. 140 in das Grundgesetz inkorporierten Artikel des Staatskirchenrechts der Weimarer Verfassung als vollgülti Siehe zu den Beratungen der Gemeinsamen Verfassungskommission A. v. Campenhausen/H. de Wall, Staatskirchenrecht, 4. Aufl. 2006, S. 134, 369. 2  Zur Rechtsprechung des BVerfG (Bundesverfassungsgericht) in religionsverfassungsrechtlichen Fragen siehe (statt Vieler) v. Campenhausen/de Wall (o. Fn. 1), passim; P. Unruh, in: H. v. Mangoldt/F. Klein/C. Starck (Hrsg.), Bonner Grundgesetz, Bd. 3, 7. Aufl. 2018, Erl. zu Art. 140 GG (S.  2151  ff). M.  Heckel, Religionsfreiheit und Staatskirchenrecht in der Rechtsprechung des BVerfG, in: P. Badura/H. Dreier (Hrsg.), FS (Festschrift) 50 Jahre BVerfG, 2001, S. 379. 1

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ges Verfassungsrecht behandelt. Es hat zum Zweiten diese staatskirchenrechtlichen Artikel zusammen mit Art. 4 GG – dem Grundrecht der Religions- und Glaubensfreiheit – als ein organisches Ganzes angesehen. Danach erklärt zwar Art. 140 GG die Weimarer Kirchenartikel zu Bestandteilen des Grundgesetzes. Ihre Auslegung hat sich aber nunmehr von den Wertungen des Grundgesetzes leiten zu lassen. Insbesondere sind die Weimarer Kirchenartikel Bestandteil eines Religionsverfassungsrechts des Grundgesetzes, welches das Grundrecht der Religionsfreiheit ohne Gesetzesvorbehalt in den Katalog unmittelbar verbindlicher Grundrechte (Art. 1 Abs. 3 GG) aufgenommen und es so gegenüber der Weimarer Reichsverfassung erheblich verstärkt hat. Die Gewährleistungen der Weimarer Kirchenartikel sind funktional auf die Inanspruchnahme und Verwirklichung des Grundrechts der Religionsfreiheit angelegt.3 Zu den Wertentscheidungen des Grundgesetzes gehören die Religionsfreiheit, aus der Art. 140 GG in Verbindung mit den Weimarer Kirchenartikeln und insbesondere Art. 137 Abs. 5 WRV als Verstärkung der Entfaltung grundrechtlicher Freiheit letztlich seine Rechtfertigung bezieht, das Verbot jeglicher Staatskirche oder Staatsreligion (Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 1 WRV) sowie die Grundsätze der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates und der Parität der Religionen und Bekenntnisse.4 Diese materiellrechtliche Sicht hatte verfassungsprozessual zur Folge, dass die Kirchen sich zur Verteidigung objektiver staatskirchenrechtlicher Rechtspositionen weithin auf das Grundrecht der Religionsfreiheit berufen konnten. Art. 4 GG ist ein Grundrecht des Einzelnen auf Glaubensfreiheit, aber auch ein Grundrecht der christlichen Kirchen auf Religionsfreiheit. Kirchen und Religionsgemeinschaften können sich daher im Wege der Verfassungsbeschwerde an das Gericht wenden (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG i. V. m. §§ 90 ff. BVerfGG [BVerfGGesetz]). Sie können das Bundesverfassungsgericht anrufen und geltend machen, in ihrem Grundrecht aus Art. 4 GG durch gesetzliche, administrative oder judikative staatliche Maßnahmen verletzt zu sein.5 Andererseits war es immer wieder die Berufung Einzelner gegenüber dem Bundesverfassungsgericht auf die sog. negative Glaubensfreiheit, die besonders emotionale Konflikte ausgelöst hat. Der den Kirchen gleichermaßen wie den Kritikern ihrer Rechtsstellung eröffnete Weg der Verfassungsbeschwerde hat es dem Gericht ermöglicht, eine Fülle glaubens- und religionsrechtlicher Fragen aufzugreifen und zu klären. Hinzu kommt eine weitere Besonderheit des deutschen Verfassungsprozessrechts. Nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG entscheidet das Gericht bei Meinungsverschiedenheiten oder Zweifeln darüber, ob Bundesrecht oder Landesrecht förmlich und sachlich mit dem Grundgesetz vereinbar ist oder Landesrecht mit sonstigem Bundesrecht. Den Antrag auf eine derartige Normenkon­ trolle können die Bundesregierung, eine Landesregierung oder ein Drittel der Mitglieder des Bundestages stellen. Dieses sog. abstrakte Normenkontrollverfahren hat ebenfalls in vielen Fällen den Weg eröffnet, Grundfragen des deutschen Religionsverfassungsrechts6 durch das Gericht klären zu lassen.  Vgl. BVerfGE (Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts) 102, 370 (386 f.).  Vgl. BVerfGE 102, 370 (390). 5  Vgl. nur BVerfGE 102, 370 (383); 105, 279 (293). 6  Siehe zu Fragen außerhalb des deutschen Verfassungsrechtskreises G.  Manssen/B.  Banaszak (Hrsg.), Religionsfreiheit in Mittel- und Osteuropa zwischen Tradition und Europäisierung, 2006. 3 4

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3. Rechtsprechungs-Bilanz bis 2000 Die Bilanz der Rechtsprechung des Gerichts bis etwa zum Jahr 2000 lässt sich vereinfacht zusammenfassen: a) Weitgefasster Schutzbereich bei Art. 4 GG Der Schutzbereich des individuellen Grundrechts der Glaubensfreiheit hat eine weite Auslegung erfahren. Art. 4 GG umfasst das Recht des Einzelnen, sein gesamtes Verhalten an den Lehren seiner religiösen oder weltanschaulichen Überzeugung auszurichten und dieser Überzeugung gemäß zu handeln. Beispielhaft steht hier der Beschluss des Ersten Senats vom 16. Oktober 1968 zur „Aktion Rumpelkammer“, die als Leitentscheidung für die Frage des Umfangs der von Art. 4 GG geschützten Religionsfreiheit gilt.7 Dieser Beschluss deutete an: In seiner Religionsfreundlichkeit lässt sich das deutsche BVerfG kaum übertreffen. Auch die Freiheit, keinen Glauben zu haben und nicht im staatlichen Raum konfrontiert zu werden mit christlichen Symbolen (sog. negative Glaubensfreiheit), ist – wie schon erwähnt – von Art. 4 Abs. 1 GG geschützt. Es war vor allem der (politisch und verfassungsrechtlich höchst umstrittene) sog. Kruzifix-Beschluss des Ersten Senats vom 16. Mai 1995, durch den diese Seite der Religionsfreiheit akzentuiert wurde.8 b) Selbstbestimmungsrecht der Kirchen Art. 137 Abs. 3 Satz 1 der Weimarer Verfassung ist vom Gericht großzügig zu Gunsten der christlichen Kirchen ausgelegt worden. Der Artikel gibt jeder Religionsgemeinschaft und damit auch den Kirchen das Recht, ihre Angelegenheiten selbstständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes zu ordnen und zu verwalten. Dieses Selbstbestimmungsrecht ist die notwendige, rechtlich selbstständige Gewährleistung, die der Freiheit des religiösen Lebens und Wirkens der Kirchen und Religionsgemeinschaften hinzufügt, was zur Wahrnehmung ihrer Aufgaben an Freiheit der Bestimmung über Organisation, Normsetzung und Verwaltung unerlässlich ist. In kirchlich-praktischer Hinsicht war vor allem wichtig: Die verfassungsrechtlich auf diese Weise geschützte Autonomie steht auch allen der Kirche in bestimmter Weise zugeordneten Einrichtungen zu. Dabei ist deren Rechtsform ohne Bedeutung. Allein maßgeblich ist, dass die Einrichtung nach dem Selbstverständnis der Kirche ihrem Zweck oder ihrer Aufgabe entsprechend dazu berufen ist, ein Stück des Auftrags der Kirche wahrzunehmen und zu erfüllen. Zu solchen Ein-

 BVerfGE 24, 236 – Es ging um die Sammlung von Altkleidern und Altpapier durch die Katholische Landjugendbewegung im Wettbewerb mit gewerblichen Großabnehmern von Rohstoffen. 8  BVerfGE 93, 1. 7

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richtungen gehören insbesondere kirchliche Krankenhäuser.9 Im Jahre 2008 wird dann das BVerfG an einer besonders sensiblen Stelle des deutschen Staatskirchenrechts die Autonomie der Kirchen selbst im institutionellen-staatlichen Bereich noch einmal eindrucksvoll bestätigen. Es geht um den beamtenrechtlichen Umgang des Dienstherrn mit Mitgliedern staatlicher Theologischer Fakultäten bei Lehrkonflikten mit der Kirche. Das Gericht judiziert: Die Wissenschaftsfreiheit von Hochschullehrern der Theologie findet ihre Grenze am Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaft und an dem durch Art.  5 Abs.  3 GG geschützten Recht der Fakultät, ihre Identität als Theologische Fakultät zu wahren und ihre Aufgaben in der Theologenausbildung zu erfüllen.10 Die staatskirchenrechtliche Praxis bewegt sich  – bisher geräuschlos  – in einem verfassungsrechtlichen Grenzbereich, wenn Professoren der katholischen Theologie ihre Mitgliedschaft in der Fakultät durch Heirat verlieren und ihnen andere Aufgaben in Forschung und Lehre außerhalb der Theologischen Fakultät zugewiesen werden. Solche Fälle haben auch in der Katholischen Kirche immer wieder eine Diskussion der Frage ausgelöst, ob die katholische Theologie sich allgemein außerhalb der staatlichen Universitäten und Hochschulen organisieren sollte.

II. Leitentscheidungen und Schwerpunkte (2000 – 2018)11 1. Fragen des Religionsunterrichts a) In Brandenburg LER Außerhalb der Vorschriften des Staatskirchenrechts, die Art. 140 GG der Weimarer Verfassung in das deutsche Grundgesetz inkorporiert, findet sich eine Norm, die für das Verhältnis von Staat und Religionsgemeinschaften von außerordentlich großer Bedeutung ist. Es handelt sich um Art. 7 Abs. 3 GG. Die Vorschrift betrifft den Religionsunterricht an öffentlichen Schulen und gibt dem Religionsunterricht in den

 Grundsätzlich: BVerfGE 70, 138 (162 ff.) – Außerhalb der folgenden Darstellung der Rechtsprechung des BVerfG bleibt ein ganz wichtiger Aspekt des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts. Es geht um die Möglichkeiten und Grenzen des kirchlichen Arbeitsrechts, insbesondere um die Frage, in welchem Umfang die arbeitsvertragliche Festlegung glaubensbezogener Loyalitätserwartungen durch den kirchlichen Arbeitgeber einer Überprüfung und Beurteilung seitens der staatlichen Gerichte zugänglich ist. Dazu grundlegend BVerfGE 137, 273 und schon BVerfGE 70, 138; jüngst EuGH (Europäischer Gerichtshof), Urt. vom 17.04.2018, NJW (Neue juristische Wochenschrift) 2018, 1869; Urt. v. 11.09.2018, C-68/17, FD-ArbR (Fachdienst Arbeitsrecht) 2018, 408426. Aus dem Schrifttum siehe dazu statt Vieler R.  Richardi, Arbeitsrecht in der Kirche, 7.  Aufl. 2015, §§  2–6.; G.  Thüsing, Österreichisches Archiv für Recht und Religion 2016, 88. Zur Frage des Streikrechts in kirchlichen und diakonischen Einrichtungen siehe BVerfGE 140, 42. 10  BVerfGE 122, 89. 11  Siehe zum Folgenden G. Neureither, Leitentscheidungen zum Religionsverfassungsrecht, 2015. 9

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öffentlichen Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen von Verfassungs wegen den Rang eines ordentliches Lehrfachs. Abweichend davon regelt Art. 141 GG: Art. 7 Abs. 3 Satz 1 findet keine Anwendung in einem Lande, in dem am 1. Januar 1949 eine andere landesrechtliche Regelung bestand.

Diese Vorschrift wird „Bremer Klausel“ genannt, weil sie auf die Besonderheiten der Vermittlung von Religionsunterricht an den bremischen Schulen vor dem Inkrafttreten des Grundgesetzes zugeschnitten ist. Nach der Herstellung der Deutschen Einheit im Oktober 1990 hatte das Bundesland Brandenburg unter Berufung auf diesen Artikel davon abgesehen, den Religionsunterricht als ordentliches staatliches Lehrfach einzuführen.12 Den Kirchen und Religionsgemeinschaften wurde lediglich das Recht zugestanden, Schüler in den Räumen der Schule nach ihrem Bekenntnis zu unterrichten. Statt des Religionsunterrichtes wurde als verpflichtendes Fach der Unterricht in „Lebensgestaltung – Ethik – Religionskunde“ eingeführt („LER“).13 Es soll bekenntnisfrei, und es soll religiös und weltanschaulich neutral unterrichtet werden. Dieser Schritt gilt als Ausdruck einer veränderten religionssoziologischen Situation in Deutschland. Nur etwa 20 Prozent der Bevölkerung der neuen Länder sind als Folge einer konsequent atheistischen Politik der Deutschen Demokratischen Republik noch Mitglied einer der großen christlichen Kirchen. b) Vorschlag einer „Vereinbarung“ zu LER durch das BVerfG Die Christliche Demokratische Union (CDU) im Deutschen Bundestag stellte einen Antrag auf Feststellung der Verfassungswidrigkeit der entsprechenden Regelung des Brandenburgischen Schulgesetzes von 1996. Die betroffene Evangelische und Katholische Kirche und eine Gruppe von Eltern erhoben mit dem gleichen Ziel Verfassungsbeschwerde. In den Beratungen des Ersten Senats zeigte sich, dass eine Mehrheit für einen Erfolg der Klagen nicht gesichert war. Andererseits wollte das Gericht in einer religionspolitisch so sensiblen und brisanten Angelegenheit nicht eine Entscheidung mit 4:4 Richterstimmen treffen; dann wären die Verfassungsklagen erfolglos gewesen (§ 15 Abs. 4 Satz 3 BVerfGG). Zum ersten Mal in der Geschichte des Gerichts hat es deshalb den Beteiligten des Verfahrens einen in die Entscheidungssammlung des Gerichts eingegangenen Vorschlag über eine „Vereinbarung“ zugeleitet,14 der dann angenommen und dessen Inhalt vom brandenburgischen Gesetzgeber in das Landesschulgesetz wörtlich übernommen wurde. Kern des Vorschlags war es, den Religionsunterricht im Ergebnis soweit als möglich ei-

 Siehe u. a. § 9 Abs. 2 und 3, § 11 Abs. 2 bis 4, § 141 des Gesetzes über die Schulen im Land Brandenburg v. 12.04.1996 (BbgSchulG (Gesetz über die Schulen im Land Brandenburg), GVBl. (Gesetz- und Verordnungsblatt) I S. 102). 13  Zum Thema Ethikunterricht siehe auch BVerfG, Kammerbeschl. v. 27.11.2017, NVwZ (Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht) 2018, 728. 14  BVerfGE 104, 305. 12

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nem ordentlichen Lehrfach gleichzustellen. Im Einzelnen ist hervorzuheben: Der Religionsunterricht sollte in die regelmäßige Unterrichtszeit integriert werden. Durch die zeitliche Gestaltung durfte nicht ausgeschlossen werden, dass Schülerinnen und Schüler, die den Unterricht in dem Fach Lebensgestaltung – Ethik – Religionskunde besuchen, zusätzlich am Religionsunterricht teilnehmen können. Die Leistungen der Schülerinnen und Schüler im Religionsunterricht sollten von denjenigen, die diesen Unterricht erteilen, wie in anderen Fächern auch mit Noten bewertet werden, sofern die Kirchen oder Religionsgemeinschaften dies wollten. Die Note wird – so hat das Gericht vorgeschlagen – auf Antrag der Eltern in das staatliche Zeugnis aufgenommen. Schülerinnen und Schüler, deren Eltern gegenüber der Schule erklären, dass ihr Kind wertorientierten Unterricht zu den Gegenstandsbereichen des Faches Lebensgestaltung – Ethik – Religionskunde allein in Form des Religionsunterrichts erhalten soll, und den Besuch eines solchen Unterrichts nachweisen, sind von der Verpflichtung zur Teilnahme am Unterricht in dem Fach LER zu befreien. Brandenburg hat diesen „Vergleich“ wortgleich in sein Gesetz umgesetzt (§ 11 BbgSchulG). c) Zählt nur noch der weltliche Sinn von Feiertagen? Art. 141 GG, die sog. Bremer Klausel also, ist ohne Zweifel eine auslegungsfähige Norm. Dass sie vom Gericht wahrscheinlich nicht mit der erforderlichen Mehrheit zu Gunsten der Kläger und Verfassungsbeschwerdeführer und damit nicht im Sinne einer Verpflichtung des Landes Brandenburg ausgelegt werden würde, den Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach einzuführen, lässt sich vermuten. Möglicherweise stellt der Vergleichsvorschlag das Ende der Rechtsprechung des Gerichts dar, die bisher den christlichen Kirchen im Verhältnis zum Staat und seiner Rechtsordnung im Wesentlichen das gegeben hat, was sie beim Verfassungsgericht eingeklagt hatten. Allgemeiner gesagt: Das Verfahrensergebnis signalisiert den Kirchen, dass sie in Zukunft von der staatskirchenrechtlichen Substanz der bisherigen Rechtsprechung des Gerichts leben müssen.15 Das ist gewiss eine Prognose. Sie ist gewagt, aber nicht fahrlässig formuliert. Als Indiz könnte man anführen: Als das Gericht später in seinem Beschluss vom 4. November 200316 zur Öffnung von Läden zum Verkauf an Sonn- und Feiertagen zu entscheiden hat, ob das Grundrecht der Berufs- und Gewerbefreiheit Ausnahmen vom Schutz der Sonn- und Feiertagsruhe in Art. 139 WRV i. V. m. Art. 140 GG erzwingt, weist es die Klage der Gewerbetreibenden zwar zurück. Es gibt aber der Sonn- und Feiertagsruhe in seiner Entscheidung einen weltlichen Sinn, der unabhängig ist von den religiös-christlichen Wurzeln der Weimarer Verfassungsgarantie. Das Gericht ist ganz offensichtlich um  Die Verfassungsbeschwerde 1 BvR 1017/06 gegen die Einführung des Ethikunterrichts in Berlin als Pflichtfach (ohne Abmeldemöglichkeit) neben dem Religionsunterricht war jedenfalls erfolglos (Beschl. der 2. Kammer des Ersten Senats des BVerfG vom 14.07.2006 – BeckRS [Beck-Rechtsprechung] 2006, 24365). 16  BVerfGE 111, 10 (51). 15

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die Neutralität des Staates in Sachen Religion besorgt. Der Sonntagsschutz als Schutz der Arbeitsruhe wird auf eine möglichst breite weltlich-säkulare Basis gestellt: physische und psychische Regeneration, gemeinsame Ruhetage zum Schutz der Familie, nicht zu vergessen: Aktivitäten im Vereins- und Verbandsleben. Das Grundgesetz ist eine Verfassung der Kompromisse, hat P. Lerche einmal formuliert. Man könnte ergänzen: Das BVerfG muss diese Kompromisse umsetzen in die Konfliktlösung des Einzelfalls. Diese Aufgabe hat das BVerfG in einer weiteren Feier­ tagsschutz-­Entscheidung, dem Beschluss des Ersten Senats vom 24. Oktober 201617 zur Anerkennung des Karfreitags als gesetzlichen Feiertag, geleistet. Die mit diesem gesetzlichen Schutz als sog. stiller Feiertag verbundenen grundrechtsbeschränkenden Wirkungen seien verfassungsrechtlich durch Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV gerechtfertigt. Für grundrechtlich geschützte Veranstaltungen aber, die diesem Stilleschutz zuwiderliefen, wie beispielsweise Versammlungen zur Manifestation der Weltanschauungsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG), müsse der Gesetzgeber die Möglichkeit einer Ausnahme von stilleschützenden Unterlassungspflichten vorsehen. Der Karfreitag würde auf diese Weise nicht säkularisiert (was auch gar nicht möglich wäre); dem Senat ist aber offensichtlich die Feststellung wichtig, dass der Schutz des Karfreitags „niemandem eine innere Haltung“ vorschreibt. Insgesamt ist die umfangreiche Entscheidung ein rhetorisches Meisterstück des juristischen Ausgleichs divergierender weltanschaulicher und religiöser Positionen in einer mehr denn je pluralistischen Gesellschaft.

2. Das staatsrechtliche Rätsel: Religionsgemeinschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts a) Zur Körperschaft des öffentlichen Rechts Zu den Vorschriften des deutschen Staatskirchenrechts, auf deren Interpretation Rechtsprechung und wissenschaftliches Schrifttum hohe Energie aufgewandt haben, ohne dass dies zu einem allgemein akzeptierten Verständnis geführt hätte, gehört Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 5 Sätze 1 und 2 WRV. Der Körperschaftsstatus der Kirchen und der anderen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften gilt nach wie vor als eine Art juristisches Rätsel der deutschen Religionsverfassung.18 Man ist sich einerseits sicher, dass die Kirchen durch den Besitz oder die Verleihung der Körperschaftsrechte im Sinne dieser Vorschrift nicht zu Gliedern der staatlich mittelbaren Verwaltung mit Selbstverwaltungsrechten

 BVerfGE 143, 161; BVerfG, Kammerbeschl. v. 09.11.2007, NVwZ-RR 2018, 249. Dazu etwa K.-A. Schwarz/L. Sairinger, BayVBl (Bayerische Verwaltungsblätter) 2018, 289. 18  Siehe S. Magen, Körperschaftsstatus und Religionsfreiheit, 2004; A. Janssen, Aspekte des Status von Religionsgemeinschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts, 2017; ferner die Beiträge von G.-F. Schuppert und S. Korioth, in: H.-G. Kippenberg/G.-F. Schuppert (Hrsg.). Die verrechtlichte Religion, 2005, S. 11 ff., S. 122 ff. 17

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gehören, wie beispielsweise Universitäten oder Rundfunkanstalten. Kirchen nehmen, von Randbereichen abgesehen, keine staatlichen Aufgaben wahr. Sie unterliegen keiner besonderen staatlichen Aufsicht. Andererseits ist der Körperschaftsstatus mehr als nur der juristische Ausdruck einer besonderen Dignität der Kirchen in der Gesellschaft, geht über einen Ehrentitel hinaus. Außer Streit ist, dass der Körperschaftsstatus eine Reihe öffentlich-rechtlicher Befugnisse vermitteln kann. So sind die öffentlich-rechtlich korporierten Religionsgemeinschaften nach Art. 140 GG – hier i. V. m. Art. 137 Abs. 6 WRV – berechtigt, von ihren Mitgliedern Steuern zu erheben. Die Organisationsgewalt gibt ihnen die Befugnis, öffentlich-rechtliche Untergliederungen und andere Institutionen mit Rechtsfähigkeit zu bilden. Aufgrund ihrer Dienstherrenfähigkeit können sie öffentlich-­rechtliche Dienstverhältnisse begründen. Sie können eigenes Recht setzen und durch Widmung kirchliche öffentliche Sachen schaffen. Eine Vielzahl von Einzelbegünstigungen kommt hinzu. Sie betreffen das Steuerrecht, das Recht der Zwangsvollstreckung, aber auch die Berücksichtigung der Belange religiöser Körperschaften in der gemeindlichen Raumplanung. b) Das Begehren der Zeugen Jehovas Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hatte sich in seinem Urteil vom 19. Dezember 200019 mit der Frage zu befassen, unter welchen Voraussetzungen eine Religionsgemeinschaft nach den genannten Bestimmungen den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts erlangen kann. Diesen Körperschaftsstatus haben nicht nur die großen christlichen Kirchen, sondern auch zahlreiche kleine und kleinere Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften erworben, z. B. die russisch-­orthodoxe Kirche (Moskauer Patriarchat) und der russisch-orthodoxe Metropolit. Im konkreten Streitfall hatte die Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas in Deutschland, bisher ein eingetragener Verein, beim Land Berlin beantragt festzustellen, dass die ihr gegenüber ausgesprochene „staatliche Anerkennung“ in der Deutschen Demokratischen Republik als Verleihung der Körperschaftsrechte anzusehen sei. Hilfsweise beantragte sie eine entsprechende Verleihung des Körperschaftsstatus. Das Land Berlin wies die Anträge zurück. Die dagegen angerufenen Verwaltungsgerichte haben unterschiedlich entschieden. Das Bundesverwaltungsgericht als höchstes Verwaltungsgericht der Bundesrepublik Deutschland hat die Klage abgewiesen.20 Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Von einer Religionsgemeinschaft, die mit ihrem Antrag auf Verleihung der Korporationsrechte die Nähe zum Staat suche und dessen spezifische rechtliche Gestaltungsformen und Machtmittel für ihre Zwecke in Anspruch nehmen wolle, könne erwartet werden, dass sie die Grundlagen der staatlichen Existenz nicht prinzipiell in Frage stelle. Die Gemeinschaft der Zeugen Jehovas sei dem Staatswesen gegenüber zwar grundsätzlich positiv eingestellt, lehne  BVerfGE 102, 370. Siehe auch noch zum Körperschaftsstatus der Zeugen Jehovas BVerfG, Beschl. v. 30.06.2015 (2 BvR 1282/11) und dazu M. Sachs/C. Jasper, NWVBl. (Nordrhein-Westfälische Verwaltungsblätter) 2016, 1. 20  Vgl. BVerwGE (Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts) 105, 117. 19

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aber prinzipiell die Teilnahme an staatlichen Wahlen ab. Diese Ablehnung sei – ebenso wie die Ablehnung des Wehr- und des Ersatzdienstes – Ausdruck eines strikt zu befolgenden Glaubensgebots. Ein Zeuge Jehovas, der auf der Teilnahme an staatlichen Wahlen beharre, könne nicht in der Glaubensgemeinschaft verbleiben. Mit dem Verbot der Wahlteilnahme und dem entsprechenden Verhalten ihrer Mitglieder setzten sich die Zeugen Jehovas in einen verfassungsrechtlich nicht hinnehmbaren Widerspruch zu dem für die staatliche Ordnung im Bund und in den Ländern konstitutiven Demokratieprinzip, das zum unantastbaren Kernbestand der Verfassung gehöre. c) Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts Der vor allem gegen das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts gerichteten Verfassungsbeschwerde hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts einstimmig stattgegeben. Sie sei begründet. Aus den Entscheidungsgründen sind vor allem zwei Aussagen von grundsätzlicher religionsverfassungsrechtlicher Bedeutung. Einmal wird klargestellt: Der Staat und seine Gerichte müssen sich bei der Bewertung von Glaubensaussagen zurückhalten. Zwar könne der Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts nur solchen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften verliehen werden, die auf Dauer angelegt sind und auch dauerhaft bestehen bleiben.21 Der Staat könne aber bei den Zeugen Jehovas dies nicht mit der Begründung in Frage stellen, sie rechneten mit einem bevorstehenden Weltuntergang. Andererseits: Eine Religionsgesellschaft, die den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts erwerben will, müsse insbesondere die Gewähr dafür bieten, dass ihr künftiges Verhalten die in Art. 79 Abs. 3 des Grundgesetzes umschriebenen und unabänderlichen fundamentalen Verfassungsprinzipien, die dem staatlichen Schutz anvertrauten Grundrechte Dritter sowie die Grundprinzipien des freiheitlichen Religions- und Staatskirchenrechts des Grundgesetzes nicht gefährden dürfe. Dieser Anforderung stehe zwar entgegen, dass sich die Mitglieder der Zeugen Jehovas der Mitwirkung an der Demokratie durch Teilnahme an den Wahlen verweigerten. Man müsse aber insoweit auf ihr tatsächlich-praktisches Verhalten abstellen. Dieses sei dadurch geprägt, dass die Zeugen Jehovas den Staat des Grundgesetzes wie andere „obrigkeitliche Gewalten“ als von Gott lediglich geduldete Übergangsordnung ansähen. Dieser Staat werde von den Zeugen Jehovas aber nicht aktiv bekämpft. Eine darüber hinausgehende Zustimmung oder Hinwendung zum Staat verlange das Grundgesetz nicht.22 d) Akzentverschiebung durch diese Entscheidung Die Bedeutung dieser Entscheidung für das deutsche Religionsverfassungsrecht ist nicht eindeutig zu bestimmen. Ihr wichtigstes allgemeines Signal ist es aber vielleicht, dass sie dem Körperschaftsstatus von Religions- und Weltanschauungsge21 22

 BVerfGE 102, 370 (386, 397).  BVerfGE 102, 370 (397).

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meinschaften endgültig die symbolisch-ideelle Nähe zum weltlichen Staat nimmt. Besitz und Verleihung der Körperschaftsrechte verpflichten nach Auffassung des Gerichts nicht zur Kooperation mit dem Staat. Gehört eine ablehnende Distanz zum Staat zu den Glaubenswahrheiten einer Gemeinschaft, hindere dies nicht, in den Besitz des öffentlichen Status zu gelangen. Besitz und Ausübung dieser Sonderrechte setzen Rechtstreue gegenüber der staatlichen Rechtsordnung voraus, nicht aber eine darüber hinausgehende Loyalität gegenüber dem Staat und seiner rechtlichen Verfassung.23 Man könnte – vorsichtig formuliert – in dieser Entscheidung des Zweiten Senats eine Tendenz zur substantiellen Privatisierung des kirchlichen Körperschaftsstatus sehen. Der Körperschaftsstatus drückt nicht (mehr) eine staatstragende Stellung aus. Die religiösen Körperschaften stehen trotz der mit diesem Status verbundenen öffentlich-rechtlichen Befugnisse der Gesellschaft näher als dem Staat und seinen Institutionen. Der Körperschaftsstatus gibt nur noch formal die Grundlage für Sonderberechtigungen im Rechtssystem der Bundesrepublik Deutschland ab.

3. Religionsneutraler Staat und religiöses Selbstverständnis a) Das Schächten-Urteil von 2002 Das Urteil des Ersten Senats des Gerichts vom 15. Januar 200224 betrifft die Frage der Erteilung von behördlichen Ausnahmegenehmigungen für das sog. Schächten, d. h. das Schlachten warmblütiger Tiere ohne vorherige Betäubung. Einem türkischen Staatsangehörigen, nach eigenen Angaben strenggläubiger Muslim, Metzger seit längerer Zeit in Deutschland, hatte derartige Schlachtungen auf der Grundlage entsprechender Ausnahmegenehmigungen durchgeführt. Nach dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 15. Juni 199525 erhielt er solche Ausnahmegenehmigungen nicht mehr. Seine verwaltungsgerichtliche Klage blieb erfolglos. Der für das sich anschließende Verfahren der Verfassungsbeschwerde maßgebliche § 4a des Tierschutzgesetzes hatte folgenden Wortlaut: (1) Ein warmblütiges Tier darf nur geschlachtet werden, wenn es vor Beginn des Blutentzugs betäubt worden ist. (2) Abweichend von Absatz 1 bedarf es keiner Betäubung, wenn

23  Der Rechtsstreit ist beendet. Das BVerwG hat entschieden, die Auffassung des OVG (Oberverwaltungsgericht) Berlin sei revisionsrechtlich nicht zu beanstanden, es bestünden keine greifbaren Anhaltspunkte dafür, dass sich die Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas in der Vergangenheit nicht rechtstreu verhalten habe, insbesondere die staatlichem Schutz anvertrauten Grundrechte oder die in Art.  79 III GG umschriebenen fundamentalen Grundprinzipien des Religions- und Staatskirchenrechts verletzt oder gefährdet habe (Beschl. v. 01.02.2006, NJW 2006, S. 3156). 24  BVerfGE 104, 337. 25  BVerwGE 99, 1; siehe aber auch modifizierend BVerwGE 112, 227.

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1. …, 2. die zuständige Behörde eine Ausnahmegenehmigung für ein Schlachten ohne Betäubung (Schächten) erteilt hat; sie darf die Ausnahmegenehmigung nur insoweit erteilen, als es erforderlich ist, den Bedürfnissen von Ange­ hörigen bestimmter Religionsgemeinschaften im Geltungsbereich dieses Gesetzes zu entsprechen, denen zwingende Vorschriften ihrer Religions­ gemeinschaft das Schächten vorschreiben oder den Genuss von Fleisch nichtgeschächteter Tiere untersagen … Derartige Ausnahmen waren auch nach 1995 Metzgern erteilt worden, die mit geschächtetem Fleisch Anhänger des jüdischen Glaubens versorgten. b) Zur Bedeutung dieses Urteils für die Rechtsstellung von Muslimen Das Urteil enthält im Prinzip drei Aussagen, die über den konkret zu entscheidenden Fall hinausweisen. Da sich der Beschwerdeführer auf Grund seiner türkischen Staatsangehörigkeit nicht auf das allein Deutschen zustehende Grundrecht der Berufsfreiheit des Art. 12 Abs. 1 GG berufen kann, gesteht ihm das Gericht das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG zu. Daneben stellt es ihm Art. 4 Abs. 1 GG zur Seite, aber nicht eigenständig, sondern in Verbindung mit dem Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit. Das Gericht sieht in dem Vorgang des Schlachtens von Tieren ohne Betäubung keine Ausübung von Glaubensfreiheit, sondern nur eine religiös geprägte Handlung. Es weicht dem starken Grundrecht der Religionsfreiheit aus. Dies hatte einen Grund: Das Bundesverfassungsgericht war sichtlich bemüht, einen Weg zu finden im Konflikt zwischen den religiös begründeten Wünschen der Muslime und den Belangen des Tierschutzes, dem in der Bevölkerung ein hoher Stellenwert beigemessen wird. Deshalb akzeptiert es als verfassungsgemäß, dass nach § 4a des Tierschutzgesetzes eine staatliche Ausnahme erforderlich ist, wenn Muslime schächten wollen. Der Staat soll durch seine fachkundigen Behörden Einfluss darauf nehmen, dass dem Tier durch die Methode des Schächtens vermeidbare Schmerzen oder Leiden erspart werden. Die Freiheit zu religiös geprägten Handlungen ist demnach nicht schrankenlos gewährleistet. Der verfassungsändernde Gesetzgeber hat im Übrigen – möglicherweise in Überschätzung der Tragweite dieses Urteils – Art. 20a des Grundgesetzes ergänzt. Nunmehr steht im Grundgesetz: Danach schützt der Staat die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung. Tierschutz und Religionsfreiheit können so flexibler auf der Ebene des parlamentarischen Gesetzes ausbalanciert werden. Für die Religionsfreiheit der Muslime in Deutschland ist wesentlich, dass der Staat, wenn es um religiöse Anschauungen im Islam geht, darauf abzustellen hat, welche Überzeugungen in Bezug auf das Schächten von Tieren in der konkreten islamischen Glaubensgemeinschaft bestehen. Er muss innerhalb des Islam differenzieren. Dabei darf er das Selbstverständnis der jeweiligen Religionsgemeinschaft nicht unberücksichtigt lassen. Damit ist im Prinzip der religionsfreiheitliche Standard, den die christlichen Kirchen in der Rechtsprechung des Gerichts erstreiten konnten, auch den Muslimen zugestanden worden. Das „Selbstverständnis“ einer Religion oder Weltanschauung

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ist zum Schlüsselbegriff der religionsverfassungsrechtlichen Rechtsprechung des BVerfG geworden. Es kommt zum Einsatz auch im Zusammenhang der sog. „Kopftuch-­Entscheidungen“ des Gerichts. Es geht um die religiöse Bewertung des Tragens eines islamischen Kopftuchs durch eine Lehrkraft an einer öffentlichen Schule.26 Der Erste Senat lässt es hier genügen, wenn dieser Zusammenhang „hinreichend plausibel begründet wird“,27 zieht aber zum Nachweis der Plausibilität theologische Quellen heran.28 c) Islamische Rechtsfragen Der Erste Senat war sichtlich um eine abgewogene Entscheidung des in Frage stehenden Konflikts bemüht. Aus der Sicht des deutschen Religionsverfassungsrechts hat das Urteil des Ersten Senats – soweit ersichtlich – die Muslime in Deutschland ermutigt, ihre religiösen Belange über den Bereich des Schächtens hinaus im Verhältnis von Rechtsordnung und Staat einerseits und Religionsfreiheit andererseits hinaus öffentlich und engagiert geltend zu machen. Dies gilt beispielsweise für Gebetsgewohnheiten im Arbeitsleben.29 Die sarglose Bestattung toter Muslime in Richtung Mekka beschäftigt Gesetzgeber und Friedhofsträger. Das Schul(Verfassungs)Recht ist gefordert: islamisches Gebet in der Schule,30 Verweigerung der Teilnahme am Sexualkundeunterricht, am koedukativen Sportunterricht,31 an Aufenthalten in Schullandheimen ohne entsprechende verwandtschaftliche Begleitung,32 Zugang von islamischen Schülern zu (staatlichen) katholischen Bekenntnisschulen.33 Mit dem Islam ist eine nichtchristliche religiöse Kraft wahrnehmbar in den öffentlichen Raum eingetreten. Sie ist sozusagen sichtbar geworden.34 Der Bau zahlreicher Moscheen in Deutschland steht für diese neue Situation.35 Beide Urteile signalisieren nicht, dass das Gericht grundgesetzliche Wertentscheidungen durch religiös oder kulturell begründete Überzeugungen in Frage stellen lässt. Das gilt beispielsweise für die sog. Zwangsheirat, die mit der Eheschließungsfreiheit des Grundgesetzes (Art. 6 Abs. 1 GG) nicht zu vereinbaren und inzwischen unter Strafe gestellt ist (§ 237 StGB).36  BVerfGE 138, 296, 328 Rn. 83 ff.  BVerfGE 138, 296, 328 Rn. 83. 28  BVerfGE 138, 296, 330 Rn. 89. 29  BAG (Bundesarbeitsgericht), Urt. vom 24.02.2011, NJW 2011, 3319. 30  BVerwGE 141, 223. 31  BVerwG, NVwZ 2014, 81. 32  Zu dieser Frage siehe M. Rohe, BayVBl. 2010, 257 Fn. 1, 258; J. Isensee, JZ (Juristenzeitung) 2010, 317, 321 ff. 33  BVerfG, Kammerbeschl. v. 08.09.2017, NVwZ 2018, 156. 34  Siehe dazu B.-O. Bryde, in FS Steiner, 2009, S. 111. 35  Dazu D.  Gaudernack, Muslimische Kultstätten im öffentlichen Baurecht  – Der Bau von Moscheen im Spannungsfeld von Religionsfreiheit und einfachem Recht, 2011. 36  Die Vereinbarkeit der allgemeinen Schulpflicht mit Art. 4 Abs. 1 GG hat das BVerfG bestätigt (1. Kammer des Zweiten Senats, Beschl. v. 31.05.2006, BayVBl. 2006, 633, 634). 26 27

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4. Die Freiheit zum Religionsbekenntnis im staatlich-öffentlichen Raum Zu den wichtigsten religionsverfassungsrechtlichen Urteilen des Gerichts gehören die Entscheidungen der beiden Senate, zunächst das Urteil des Zweiten Senats von 200337 und dann der Beschluss des Ersten Senats vom 27. Januar 2015,38 zur Frage der Verfassungsmäßigkeit eines Verbots für Lehrkräfte, in Schule und Unterricht ein Kopftuch zu tragen. a) Zum Kopftuch-Urteil von 2003 Die politisch-praktische Problematik der ersten Entscheidung besteht darin, dass dieses Urteil nicht wirklich eine Entscheidung des Problems herbeiführte. Die Schulgesetzgebung in den Ländern hat das Urteil des Gerichts unterschiedlich umgesetzt. Eine weitere Entscheidung zur „Kopftuchfrage“ schien unvermeidbar. Der Streit steht für ein kultur- und religionspolitisches Problem, das Europa beschäftigt.39 aa) Erhoben worden war die Verfassungsbeschwerde von einer deutschen Staatsangehörigen, die in Afghanistan geboren wurde und seit 1987 in der Bundesrepublik lebt. Nach Ablegung der erforderlichen Staatsprüfungen wollte sie an einer Hauptschule unterrichten. Das zuständige Schulamt lehnte ihre Einstellung mit der Begründung ab, ihr fehle die für das Amt erforderliche Eignung. Sie habe die erklärte Absicht, in Schule und Unterricht ein Kopftuch zu tragen. Das Kopftuch sei Ausdruck ihrer religiösen Überzeugung (und nicht nur ein Hinweis auf ihr Herkunftsland). Es gehöre zu ihrer islamischen Identität. Amtsträger müssten sich aber religiös neutral verhalten. Die Verwaltungsgerichte bestätigten die Ablehnung der Einstellung. Das Bundesverfassungsgericht hielt die Verfassungsbeschwerde der Frau dagegen für begründet. Es sah die Beschwerdeführerin in ihren Rechten aus Art. 33 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 und 2 und mit Art. 33 Abs. 3 GG verletzt. Die Entscheidung des Gerichts ist mit 5:3 Stimmen ergangen. bb) Die Mehrheit des Senats war der Auffassung, ein Verbot für Lehrkräfte, in Schulen und Unterricht ein Kopftuch zu tragen, bedürfe einer hinreichend bestimmten gesetzlichen Grundlage.40 Da eine solche gesetzliche Grundlage im Zeitpunkt der Entscheidung der Behörde und der Gerichte über den Antrag der Beschwerdeführerin auf Einstellung in den Schuldienst nicht vorhanden war, war nach Auffassung des Senats das Verbot rechtswidrig und verletzte die Be BVerfGE 108, 282.  BVerfGE 138, 296. – Inzwischen ist eine dritte Kopftuch-Entscheidung des BVerfG zu vermelden. Es geht um das Verbot des Tragens eines Kopftuchs im Raum der Justiz (hier: Rechtsreferendarin). Siehe BVerfG, Beschl.v. 14.1.2020 (NJW 2020, 1049; NVwZ 2020, 461). Siehe dazu F. Brosius/H. Gersdorf, NVwZ 2020, 428; C.T. Classen, JZ 2020, 417; W. Hecker, NVwZ 2020, 423; N. von Schwanenflug, NVwZ 2020, 474. siehe schon vorher L. Häberle, DVBl (Deutsches Verwaltungsblatt) 2018, 1263. 39  Siehe dazu S. Mückl, Europäisierung des Staatskirchenrechts, 2005, S. 405 ff. (Zusammenfassung des Länderberichts); F. Hammer, DÖV (Die Öffentliche Verwaltung) 2006, 542. 40  BVerfGE 108, 282, 294 ff. 37 38

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schwerdeführerin in ihren Grundrechten. Das Gericht hat die Landesgesetzgeber auf den Weg verwiesen, die bisher fehlende gesetzliche Grundlage zu schaffen und im Zusammenhang damit eine „Neubestimmung des zulässigen Ausmaßes religiöser Bezüge in der Schule“ vorzunehmen. Dem Gesetzgeber wurde ein konzeptioneller Gestaltungsspielraum zugestanden. Er könne die sich verstärkende religiöse Vielfalt in die Schule aufnehmen und als Mittel für die Einübung gegenseitiger Toleranz nutzen.41 Er sei aber unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten auch nicht gehindert, die staatliche Neutralitätspflicht im schulischen Bereich auch in Bezug auf die Behandlung von Lehrkräften mit religiös begründeter Kleidung strikter durchzusetzen, um Konflikten mit Schülern, Eltern und Lehrkräften vorzubeugen.42 Dabei könnten auch Schultraditionen, die konfessionelle Zusammensetzung der Bevölkerung und ihre mehr oder weniger starke Verwurzelung berücksichtigt werden.43 Das Sondervotum der drei von der Mehrheit abweichenden Richter beanstandet vor allem, dass durch die Anwendung des Grundsatzes des Gesetzesvorbehaltes die dem Gericht unterbreitete grundsätzliche Verfassungsfrage nach der staatlichen Neutralität im Bildungs- und Erziehungsraum der Schule unentschieden geblieben sei. Sie sind der Auffassung, die Lehrkraft verstoße gegen Dienstpflichten, wenn sie im Unterricht mit ihrer Kleidung Symbole verwende, die objektiv geeignet seien, Hindernisse im Schulbetrieb oder gar grundrechtlich bedeutsame Konflikte im Schulverhältnis hervorzurufen. Auch im wissenschaftlichen Schrifttum ist dem Senat vorgeworfen worden, er habe sich durch die Forderung nach einer besonderen gesetzlichen Grundlage der Entscheidung der schwierigen Verfassungsfrage entzogen.44 cc) Für die religionsverfassungsrechtliche Situation in Deutschland ist eine Reihe von Aussagen von Gewicht. Die Mehrheit gibt der in Art. 4 Abs. 1 und 2 GG geschützten aktiven Religionsfreiheit des beamteten Lehrers Raum auch in der staatlichen öffentlichen Schule. Dabei wird die Inanspruchnahme der Religionsfreiheit durch Tragen eines Kopftuchs individualisiert. Es kommt nach Auffassung des Gerichts nicht darauf an, wie die Mehrheit von muslimischen (Pädagogik-)Studentinnen das Tragen des Kopftuches sieht. Wenn diese Bekleidung auf persönlichem religiösem Motiv beruht, ist dies für die rechtliche Beurteilung maßgeblich.45 Dann stehe der Entscheidung für das Kopftuch das Grundrecht auf Entfaltung des Glaubens in Art. 4 Abs. 1 und 2 GG zur Seite. Es ist bekanntlich ein Grundrecht, das im Verfassungsraum des Grundgesetzes stark geschützt ist. Einschränkungen kann der Gesetzgeber nur vornehmen, wenn sie der Verwirklichung von anderen, mit der Glaubensfreiheit gegebenen BVerfGE 108, 282, 310.  BVerfGE 108, 282, 310. 43  BVerfGE 108, 282, 303. 44  Zur Diskussion der Entscheidung v. Campenhausen/de Wall (o. Fn. 1), S. 72 ff. (mit umfangreichen Nachweisen). 45  Zur Maßgeblichkeit der religiösen Selbstsicht siehe auch BVerfG, 2. Kammer des Zweiten Senats, Beschl. v. 24.10.2006, DVBl. 2007, 119 (Einreise Ehepaar Mun). 41 42

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falls im Widerstreit stehenden Verfassungswerten dienen, z. B. der negativen Glaubensfreiheit und dem Grundsatz der religiösen Neutralität des Staates. Das Gericht geht erkennbar von der allgemeinen Vorstellung aus, dass in einem Land, in dem Kinder mit unterschiedlichen Weltanschauungs- und Glaubensrichtungen in den Schulen gemeinsam erzogen werden, ein Ausgleich der verschiedenen religiösen und weltanschaulichen Belange durch den Gesetzgeber in der Form eines Kompromisses gefunden werden muss. Es gilt nicht der Grundsatz, dass die Mehrheitsreligion Vorrang hat. b) Der Kopftuch-Beschluss von 2015 Die von Ersten Senat getroffene zweite Kopftuch-Entscheidung und die sich daran anschließende intensive rechtswissenschaftliche Diskussion46 haben bestätigt, dass es eine allen Grundrechtspositionen und der staatlichen Verantwortung für eine störungsfreie Schulpraxis gleichermaßen gerecht werdende Lösung durch die Rechtsprechung und auch durch die Gesetzgebung nicht gibt.47 Ein Indiz dafür ist, dass es in beiden Senaten nicht zu einstimmigen Entscheidungen gekommen ist. In der Sache geht der Erste Senat einen anderen Weg.48 Der Senat akzentuiert die Religionsausübungsfreiheit der muslimischen Lehrkraft in der Abwägung mit den entsprechenden Grundrechtspositionen der Schüler und Schülerinnen sowie der Eltern, des Elterngrundrechts und des staatlichen Erziehungsauftrags anders und neu als der Zweite Senat. Er formuliert: Ein angemessener Ausgleich dieser verfassungsrechtlichen Positionen erfordert die Einschränkung des Verbots religiös begründeter Kleidung, nach der zumindest eine hinreichende konkrete Gefahr für die Schutzgüter vorliegen müsse. Ein abstraktes Verbot muslimischer Bekleidung von Lehrkräften sei unverhältnismäßig, weil nicht erforderlich.49 Zurecht hat man gegenüber dieser Verweisung auf die individuelle Schulsituation eingewandt, sie überfordere die dann für die Lösung von Konflikten örtlich verantwortlichen Kräfte.50 Für die Anbringung von Kruzifixen in den bayerischen Schulen hat Art. 7 Abs. 4 BayEUG (Bayerisches Gesetz über das Erziehungs- u. Unterrichtswesen) in Konfliktfällen eine Moderation vorgesehen, die nach den persönlichen Erfahrungen des Verfassers mit einer solchen Aufgabe nicht einfach zu handhaben ist.  Siehe die Nachweise in der Anm. von Schwabe zur zweiten Kopftuch-Entscheidung in DVBl. 2015, 569. 47  Dies ist wohl die übereinstimmende Einschätzung im verfassungsrechtlichen Schrifttum. Siehe dazu etwa C. Franzius, Der Staat Bd. 54 (2015), S. 435, 452; H. M. Heinig, RdJB (Recht der Jugend und des Bildungswesens) 2015, 217; H.-J. Papier, RdJB 2015, 213, 215. Siehe auch G. Beaucamp/H. Wißmann, DVBl 2017, 1517. 48  Zurecht wird allgemein beanstandet, dass der Erste Senat nicht das Plenum gemäß § 16 BVerfGG angerufen hat. Siehe dazu Franzius (o. Fn. 47), S. 448; Heinig (o. Fn. 47), S. 225; Papier (o. Fn. 47), S. 214. Er ist dabei der Diskussion mit den Mitgliedern des Zweiten Senates ausgewichen. Das wäre nicht das erste Mal (s. BVerfGE 96, 375, 403 ff. – Leben als Schaden). 49  BVerfGE 138, 296, 342 Rn. 115. 50  Heinig (o. Fn. 47), 229; Papier (o. Fn. 47), 215. 46

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III. Perspektiven Alle referierten Entscheidungen des Gerichts aus jüngerer Zeit stehen für Bewegungen und Entwicklungen im Verhältnis von Staat und Religion in Deutschland. Die deutsche Einheit hat in indirekter Weise das deutsche Staatskirchenrecht tendenziell destabilisiert. Dessen ungeschriebene Grundlage ist die Zugehörigkeit der Mehrheit der in Deutschland lebenden Menschen zu einer der christlichen Kirchen. In den neuen mittel- und ostdeutschen Bundesländern bekennt sich nur noch ein Viertel der Menschen zu den christlichen Kirchen durch Mitgliedschaft. Im Streit um den Religionsunterricht in Brandenburg ist diese Entwicklung verfassungsrechtlich und verfassungsgerichtlich besonders sichtbar geworden. Ein Zweites: Das religiöse Spektrum in Deutschland hat sich erweitert. Man spricht von wachsendem religiösen Pluralismus.51 Insbesondere leben ca. vier bis fünf Millionen Muslime in unserem Land. Sie suchen ihre Rechte auch im staatlich-öffentlichen Raum.52 Der Kopftuchstreit steht für diese Entwicklung. Manche Beobachter der  religionsverfassungsrechtlichen Situation in Deutschland befürchten, dass die Pluralisierung der Ansprüche auf Ausübung der Religionsfreiheit im staatlichen Raum und insbesondere in den öffentlichen Einrichtungen der Bildung und Erziehung den Staat veranlassen könne, diese Bereiche ganz frei von religiösen Einflüssen zu halten. Das kann Auswirkungen haben auf den Unterricht und insbesondere den Religionsunterricht in den Schulen,53 aber auch auf die Militär- und Krankenhausseelsorge. Man spricht von der Gefahr einer laizistischen Entwicklung. Zugleich sind mit einer Pluralisierung der Religion die traditionellen kulturellen Grundlagen des modernen, auf gleiche Geltung des Gesetzes für alle ausgerichteten Staatswesens in Frage gestellt. Zunehmend mehr Religionsgesellschaften stellen neue Forderungen an die staatliche Rechtsordnung oder versuchen, alte Forderungen mit neuer öffentlich sichtbarer Energie durchzusetzen. Sie stützen solche Forderungen auf das Grundrecht der Glaubensfreiheit; es kann zu Abweichungen von gewohnten kulturellen Übungen kommen. Das Urteil des Ersten Senats zum Schächten hatte sich mit dieser Situation auseinanderzusetzen. Die religionsverfassungsrechtliche Lage in Deutschland ist in Bewegung. Dies gilt weniger für die staatskirchenrechtlichen Texte des Grundgesetzes, die formal stabil sind. Es ist nicht ersichtlich, dass für ihre wesentliche Änderung, insbesondere zu Lasten der Kirchen, die dazu erforderliche Mehrheit (Art. 79 Abs. 2 GG) vorhanden ist. Dies schließt aber eine Fortentwick Siehe zum Folgenden näher C. Link, Staat und Kirche in einer sich wandelnden Gesellschaft, in: FS J. Hruschka, 2005, S. 257. 52   Siehe aus der umfangreichen Literatur zu diesem Thema etwa: H. de Wall, in: G.  Hasselfeldt/U.  Männle (Hrsg.), Islam und Staat, 2017, S.  43; L.  Häberle, Der Staat Bd.  57 (2018), 35; M.  Jestaedt, in: Bitburger Gespräche, Jahrbuch 2017, 2018, S.  43; S.  Mückl, in: K. Stüwe (Hrsg.), Religion und Politik in der freiheitlichen Demokratie, 2018, S. 221. 53  Siehe statt Vieler A.  Uhle, Freiheitlicher Verfassungsstaat und kulturelle Identität, 2004, S.  424  ff.; S.  Huster, Kultur im Verfassungsstaat, in: VVDStRL (Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer) Bd. 65 (2006), S. 51 (66 ff.); C. Rathke, Öffentliches Schulwesen und religiöse Vielfalt, 2005. 51

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lung des deutschen Religionsverfassungsrechts nicht aus.54 Die Erfahrungen zeigen, dass das Bundesverfassungsgericht immer wieder von Teilen des wissenschaftlichen Schrifttums dazu gedrängt wird, einen B ­ edeutungswandel der einen oder anderen Verfassungsnorm festzustellen.55 Es bleibt weiterhin gefordert. Prof. Dr. Udo Steiner,  geb. 1939 in Bayreuth, Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen, Saarbrücken und Köln. 1965 Promotion und 1972 Habilitation in Erlangen. Nach Lehrstuhlvertretungen in Erlangen und Göttingen von 1976–1979 Universitätsprofessor an der Univ. Bielefeld (gleichzeitig Richter im Nebenamt am OVG Münster), seit 1979 an der Univ. Regensburg, dort auch zeitweilig Dekan der Fakultät. Von 1995 bis 2007 Richter des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts (Dezernat für Sozialrecht). Seit 2008 Ombudsmann der Deutschen Bahn AG für Opfer und Hinterbliebene von Eisenbahnunglücken. Vorsitzender des Schiedsgerichts der Fußball-Bundesligen. Diverse Veröffentlichungen zum Staats- und Verwaltungsrecht, besonders auch zum Sozial- und zum Baurecht.

 In diesen Zusammenhang gehört auch die Diskussion der Frage „Staatskirchenrecht oder Religionsverfassungsrecht?“ Siehe dazu etwa den Tagungsbericht von C. Traulsen, ZevKR (Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht) Bd. 51 (2006), S. 225. Das Lehrbuch von v. Campenhausen/de Wall (o. Fn. 1) trägt seit der 4. Auflage den Untertitel „Eine systematische Darstellung des Religionsverfassungsrechts in Deutschland und Europa“. 55  Zum Bedeutungswandel im Staatskirchenrecht s. D. Ehlers, in: B. Pieroth (Hrsg.), Verfassungsrecht und soziale Wirklichkeit in Wechselwirkung, 2000, S. 85 ff.; ders., ZevKR Bd. 45 (2000), 201 ff. Ein anderes wichtiges Feld ist Art. 6 Abs. 1 GG und insbesondere der Verfassungsbegriff der Ehe. Siehe dazu etwa M. Bäumerich, DVBl 2017, 1457; T. Blome, NVwZ 2017, 1658; J. Froese, DVBl 2018, 1152; J. Ipsen, NVwZ 2017, 1096; S. Meyer, FamRZ (Z. f. d. gesamte Familienrecht) 2017, 1281; M. Nettesheim, in: M. Jestaedt/H. Suzuki (Hrsg.), Verfassungsentwicklung I, 2017, S. 219; C. Schmidt, NJW 2017, 2225. 54

Toleranz in islambezogenen Konflikten um Religions- und Meinungsfreiheit Islamische Kopfbedeckungen in der Öffentlichkeit, Blasphemie durch Karikatur und Satire sowie der Wunsiedel-Beschluss des BVerfG Lothar Häberle

Inhaltsverzeichnis I. Toleranz  1. Begriff und Abwägung auf dem Weg zum Toleranz-Urteil  2. Toleranz-Grenzen bestimmen  3. Innere und äußere Phase des Toleranz-Urteils  II. Islamisch-motivierte Kopfbedeckungen in der Öffentlichkeit  1. Das islamische Kopftuch in öffentlicher Schule und Universität  a) Zu Entscheidungen des EGMR  b) Entscheidungen des BVerfG  2. Zum islamischen Kopftuch bei Gericht  3. Burka, Niqab und Burkini im öffentlichen Raum  a) Burka und Niqab  b) Burkini  III. Blasphemie durch Karikatur und Satire  1. Einige auch international bekannte Fälle  2. Rechtliche Aspekte der Mohammed-Karikaturen – Vorbemerkungen  a) Physische Gewalt  b) Abwehrrechte des Angreifers  3. Zur Kunstfreiheit  4. Zur Pressefreiheit  5. Meinungsfreiheit  a) Zu Art. 10 EMRK  b) Art. 5 GG: Zur grundsätzlichen Bedeutung der Meinungsäußerungsfreiheit  c) Zum Schutzbereich von Art. 5 I GG  d) Eingriffe und deren verfassungsrechtliche Rechtfertigung (Art. 5 II GG)  e) Rechtspolitische Überlegungen  f) Internationale (außereuropäische) Dimension  IV. Verengung der Toleranz-Grenzen gegenüber dem Vertrauen auf die freie geistige Auseinandersetzung? Zum Wunsiedel-Beschluss des BVerfG  V. Zum Neben- und Miteinander von Toleranz und Freiheitsrechten: Toleranz als Verfassungsvoraussetzung 

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L. Häberle (*) Lindenthal-Institut, Köln, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Häberle (Hrsg.), Islam – Meinungsfreiheit – Internet, https://doi.org/10.1007/978-3-662-59426-1_4

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Ist Toleranz ein politisches Zauberwort, um in Politik und Öffentlichkeit das durchzusetzen, was sonst nur schwer „durchginge“? Wenn man Toleranz weit – und das heißt oft: konturenlos – fasst, passt vieles in diesen Begriff hinein, das eigentlich damit nichts zu tun hat. In diesem Beitrag gilt es deutlich zu machen, dass Toleranz durchaus Konturen und Grenzen haben kann und haben muss. Toleranz hat ihre Wirkmächtigkeit schon im Kontext der Konfessionskriege des 16. und 17. Jahrhunderts gezeigt. Hier geht es jedoch nicht um deren Genese, sondern um einige brisante Rechtsthemen, die unter der abschließenden Fragestellung zu beurteilen sind: Welche Bedeutung kommt angesichts der Andersartigkeit „des“ Islam1 (gegenüber den in Europa verwurzelten Religionen) Toleranz zu im Konflikt um die auf Religion sowie die eigene Meinung bezogenen Freiheitsrechte? Einige Autoren vertreten die Ansicht, Toleranz sei nur Vorstufe zu einem bestimmten Freiheitsrecht,2 das dann als Grundrecht ins GG oder in eine andere Verfassung eingeht oder als Menschenrecht in die EMRK (Europäische Menschenrechtskonvention). Musterbeispiel sei das Edikt von Nantes,3 1598 huldvoll gewährt vom französischen König Heinrich IV., als es ihm opportun erschien, dem Glauben der hugenottischen Minderheit gewisse Freiräume  – ohne Gleichstellung mit der katholischen Mehrheitskonfession – zu gewähren mit dem Ziel, Frieden zu sichern und die Hugenotten im Land zu halten. Als solches Entgegenkommen rund 100 Jahre später nicht mehr politisch opportun erschien, wurde von Ludwig XIV. 1685 dieses Edikt durch ein neues aufgehoben. Aber ist Toleranz wirklich nur eine Vorstufe zu einem bestimmten Grund- oder Menschenrecht oder kommt ihm eine eigene Bedeutung zu auch dann, wenn Grund- und Menschenrechte bereits fest verankert sind? Nachdem die Konturen der Toleranz abgesteckt sind (I.), gilt es Toleranz in den beiden Referenzgebieten islambezogener Konflikte auszudeuten: Kopfbedeckungen in der Öffentlichkeit (II.) sowie Blasphemie durch Karikatur und Satire (III.). In beiden Gebieten ist zweistufig vorzugehen: Zuerst sind die Sachverhalte in ihren Rechtsbezügen durch die Rechtsprechung und die rechtswissenschaftliche Literatur auszuloten, um dann einen Blick werfen zu können darauf, wie Toleranz den Realisierungsgrad des jeweiligen Freiheitsrechts beeinflusst. Auch wenn der Wunsie Auch wenn es gemeinsame Elemente in verschiedenen islamischen Richtungen gibt: Einen monolithischen Islam gibt es nicht, vielmehr viele unterschiedliche Strömungen  – vgl. nur neben L. Häberle, Islam, Scharia, Islamismus – eine Begriffsskizze (in diesem Band) D. Zacharias, Islamisches Recht und Rechtsverständnis, in: S. Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, 43 (156), die Redebeiträge von B. Ucar und L. Wick in der Diskussion in L. Häberle/J. Hattler (Hrsg.), Islam – Säkularismus – Religionsrecht, 2012, 51 f., M. Rohe, Der Islam in Deutschland, 2016, 81 ff. oder L. Häberle, Religionsfreiheit und Toleranz. Herausforderungen durch Islam, Relativismus und Säkularismus, Der Staat 57 (2018), 35 (40 ff.). Deshalb wird mit den Anführungszeichen verdeutlicht, dass es der Sache nach oft engführend ist, vom Islam im Singular zu schreiben, aber vielfach doch unverzichtbar erscheint, um das Gemeinsame zu bezeichnen und sprachliche Komplizierungen zu vermeiden. 2  Besonders markant: M. Kriele, Einführung in die Staatslehre, 6. Aufl., 2003, 106 f. 3  Vgl. L.  Häberle, Toleranz  – Relativismus  – Political Correctness. Zur Toleranz-Position von R. Forst und J. Habermas, in: H. Thomas/J. Hattler (Hrsg.), Glaube und Gesellschaft. Gefährden unbedingte Überzeugungen die Demokratie?, 2009, 19 (23). 1

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del-Beschluss des BVerfG (IV.) prima facie ein Sonderthema darzustellen scheint, arrondiert er die Thematik (vor allem unter III.), indem er die Meinungsfreiheit konturiert und überraschende Einblicke bzgl. Zivilreligion ermöglicht. Der Beitrag schließt mit einer Quintessenz (V.) in einer normativen Verortung der Toleranz als Verfassungsvoraussetzung.

I. Toleranz 1. Begriff4 und Abwägung auf dem Weg zum Toleranz-Urteil Zwei wesentliche Elemente kennzeichnen den Toleranz-Begriff: (1) Es gibt eine Ablehnungskomponente: Die tolerierten Überzeugungen oder Praktiken werden in einem normativ gehaltvollen Sinn5 als falsch bzw. schlecht verurteilt.6 (2) Es muss zudem eine Akzeptanzkomponente geben: Den eigentlich ablehnenden Überzeugungen bzw. Praktiken stehen andere, positive Gründe gegenüber, die diese insofern übertrumpfen, als sie höherer Ordnung sind, die Ablehnung aber bestehen lassen. „Respektiert wird die Person des Anderen, toleriert werden seine Überzeugungen und Handlungen.“7 Toleranz bedeutet mithin nicht Achtung vor der Überzeugung eines Anderen, denn deren Ablehnung bleibt ja gerade bestehen, sondern Achtung vor der Person, die diese abgelehnte Überzeugung hat. Entfällt jedoch die Ablehnung, verschwindet Toleranz, wird aus ihr Indifferenz bzw. Relativismus oder Wertschätzung und Anerkennung. Hieraus wird schon deutlich: Toleranz liegt eine Abwägung zugrunde: in der einen Waagschale die Ablehnungsgründe, die ja bestehen bleiben, in der anderen die (etwas) schwereren Akzeptanzgründe. Toleranz wird geübt, solange die Akzeptanz In diesem Beitrag wird die Toleranz von Bürger zu Bürger (horizontale Toleranz) behandelt, nicht jedoch die von Staat zu Bürger (vertikale Toleranz). Zur horizontalen und vertikalen Toleranz s. H. Hastedt, Toleranz, 2012. 11 f. Letztere, über die es (fast) keine Literatur gibt, muss einer späteren Veröffentlichung vorbehalten bleiben. 5  Vorurteile etwa zählen nicht dazu. 6  Nur, wenn man in derselben Materie eine eigene Überzeugung (oder Praktik) hat, kann man etwas ablehnen. Es bedarf mithin einer Überzeugungskomponente, die eine notwendige Bedingung für jede Ablehnungskomponente darstellt. Diese Komponente mit zu bedenken ist u. a. deshalb sinnvoll, um jedes Abgleiten von Toleranz in Relativismus zu vermeiden. Ausführlicher dazu Häberle, Toleranz (o. Fn. 3), 19 (21 [Anm. 8] und 33 f.). 7  R. Forst, Toleranz im Konflikt. Geschichte, Gehalt und Gegenwart eines umstrittenen Begriffs, Frankfurt/Main 2003, 46 (Hervorh. im Original). – Toleranz sei „auf die Würde der Person und die Entfaltung der Persönlichkeit bezogen und findet ihren Schwerpunkt in der Respektierung der geistig-sittlich-kulturellen Prägung des einzelnen Menschen“ (U. Steiner, Toleranz. II. Rechtlich, Evangelisches Staatslexikon, 31987, Sp. 3630 [3631]). 4

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gründe die der Ablehnung überwiegen. Die Toleranz-Grenzen hingegen sind überschritten, sobald die Ablehnung die Akzeptanz überwiegt (oder zumindest ins Gleichgewicht bringt). Wie bei jedem anderen Urteil auch steht das Toleranz-Urteil am Ende eines Reflexionsprozesses, ist dessen Ergebnis. Es wird immer ein vorläufiges sein, da mit dem Auftreten neuer Daten die Toleranz-Grenzen in die eine – Akzeptanz, Anerkennung, Wertschätzung – oder andere Richtung – Indifferenz bis hin zur Ablehnung, vielleicht sogar Verachtung – überschritten werden können. Da Toleranz zwischen diesen beiden Polen steht, urteilt sie nicht „ein für alle Mal“, sondern ist sehr sensibel für neue Daten. Die Bildung des Toleranz-Urteils stellt nachgerade „ein Entdeckungs-Verfahren“8 dar. Es wäre schön, wenn jeder Bürger zu einem solchen Reflexionsprozess in der Lage wäre, realistisch ist das aber nicht, dazu ist dieser Prozess doch zu anspruchsvoll. Wer sich z. B. mit Hass-Kommentaren im Internet präsentiert, dürfte kaum die für ein Toleranz-Urteil nötige Disposition9 mitbringen. Aber das ist zum Glück bisher nur eine eher kleine radikale, meist lautstarke Minderheit. Die Mehrheit wird immer wieder in der Lage sein, ein Toleranz-Urteil zu bilden, wenn auch oft wohl nicht so explizit wie hier dargestellt.

2. Toleranz-Grenzen bestimmen Mit Toleranz geht zwingend ein Spannungsbogen einher: Die beiden Komponenten der Ablehnung und der Akzeptanz zielen in unterschiedliche Richtungen, sind aber im Toleranz-Urteil miteinander verbunden. Toleranz „relativiert Wahrheits-Behauptungen nicht, sie reibt sich an den Unterschieden, ja hält sich an ihnen lebendig.“10 Die Toleranz-Grenzen lassen sich durch die gerade dargestellte Abwägung intrinsisch bestimmen. Diese Grenzen werden in eine Richtung überschritten, wenn die Ablehnungskomponente die der Akzeptanz ausgleicht und schließlich übersteigt: Zuerst kommt es dann statt zur Toleranz zur Indifferenz (solange beide Komponenten gleiches Gewicht haben). Sollte die Akzeptanzkomponente ganz verschwunden und nur noch die Ablehnung übrig sein, liegt sogar eine Verachtung der Ideen und Handlungen eines Anderen vor. In die andere Richtung werden die Toleranz-Grenzen überschritten, wenn die Ablehnungskomponente gar nicht mehr vorhanden ist, mithin die Akzeptanzkomponente allein übrig bleibt: Dann kommt es statt zur Toleranz zu Anerkennung, Respekt oder Wertschätzung. Um es zu unterstreichen: Das ist etwas anderes als Toleranz. Toleranz ist mithin kein „unförmiges Gedankending“, in das man alles mögliche hineinlesen kann, auch kein „gutmenschlicher Deus ex machina“ für die noch nicht  W. Hassemer, Religiöse Toleranz im Rechtsstaat. Das Beispiel Islam, 2004, 37.  Zur Toleranz als Disposition vgl. ebd., 39 f. 10  Ebd., S. 37. 8 9

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erfüllten Wohltaten der Menschheit, die sich halt als Toleranz besser verkaufen lassen als als das, was sie eigentlich sind (nämlich Anerkennung, Wertschätzung etc.). Einige setzen sich auch gerne den „Heiligenschein der Toleranz“ auf, indem sie meinen, „sich für ihre gute Sache jede Beleidigung und jeden anklägerischen Rundumschlag erlauben zu dürfen“.11 Solch ungerechtfertigte Inanspruchnahmen lassen sich nur vermeiden, wenn man die klaren Konturen der Toleranz verteidigt, die sie hat, die ihr schon begrifflich zukommen. Das impliziert, dass die Toleranz-Reichweite begrenzt ist, nach oben wie nach unten.

3. Innere und äußere Phase des Toleranz-Urteils Die innere Phase der Bildung eines Toleranz-Urteils wurde bereits beschrieben als Abwägung zwischen den beiden Komponenten der Ablehnung und der Akzeptanz. Wie schlägt sich nun äußerlich nieder, wenn einmal ein Toleranz-Urteil gebildet ist? Laut und anhaltend die abgelehnten Positionen – zudem noch die Personen, die sie äußern  – zu kritisieren oder geradezu zu bekämpfen, passt nicht zum wägenden Charakter eines Toleranz-Urteils. Eher zu erwarten ist, dass die abgelehnten Auffassungen oder Verhaltensweisen mit Stillschweigen toleriert werden oder dass der Tolerierende Andere seine Ablehnung wissen lässt, indem er sich dazu gelegentlich (vielleicht sogar innerlich engagiert und „hart in der Sache“) äußert, aber halt nur selten, ohne jede Nachhaltigkeit oder gar Kampfbereitschaft, solange sein Toleranz-Urteil bestand hat, mithin die Toleranzgrenzen für ihn nicht überschritten sind. Wie dürfte die äußere Phase nach Grenz-Überschreitung aussehen? Wenn Toleranz Richtung Akzeptanz, Anerkennung, Wertschätzung überschritten ist, hat Toleranz zu existieren aufgehört, ist aus der bisherigen Toleranz etwas anderes geworden. Das jedoch ist nicht mehr Gegenstand der Überlegungen hier. Wenn aus Toleranz Indifferenz geworden ist, dürfte äußerlich wahrnehmbar gar nichts erfolgen, denn bei Indifferenz gibt es ja nicht einmal eine eigene Position. Etwas anderes ist zu erwarten beim Überschreiten der Toleranzgrenze hin zu Ablehnung oder gar Verachtung. (Auch da darf Toleranz nicht umschlagen in die etwa in den Konfessionskriegen des 16./17. Jahrhunderts gesehene ungebremste Intoleranz, die dann allzu leicht auch auf Personen bezogen wird, denn die Ablehnung gilt ja Haltungen, nicht jedoch der sie einnehmenden Person. Jeder recht verstandenen Toleranz ist ein Menschenwürde-Anker eigen,12 was hier nicht näher erörtert werden kann.) Ist die Toleranz-Grenze in diese Richtung hin überschritten, wird die

11  M. Rhonheimer, Dem Liberalen sind Toleranz und Gleichgültigkeit zweierlei Dinge, in: Neue Zürcher Zeitung vom 11.01.2019 (https://www.nzz.ch/feuilleton/dem-liberalen-sind-toleranz-und-gleichgueltigkeit-zweierlei-dinge). 12  Siehe L. Häberle, Mission und Toleranz – eher Ergänzung als Gegensatz, Forum Katholische Theologie 31 (2015), 58 (69). Unter Menschenwürde-Anker ist zu verstehen, dass Toleranz zu üben ist zwischen Bürgern „auf gleicher Augenhöhe“, also zwischen Bürgern, die sich als Menschen ernst nehmen: Toleranz muss in der Menschenwürde verankert sein.

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abgelehnte Meinung in irgendeiner Form bekämpft: durch unüberhörbare Meinungsäußerung und Gegenrede – möglicherweise auch in besonders nachhaltiger Form, „klare Kante“ nennen das manche – bis hin zu partei- oder betriebsinternem Verbot der abgelehnten Handlungen, Suspension vom Dienst (bei bestimmten Beamten), Partei- oder Vereinsausschluss oder ähnlichem, je nachdem, in welchem rechtlichen Verhältnis beide Personen zueinander stehen.

II. Islamisch-motivierte Kopfbedeckungen in der Öffentlichkeit 1. Das islamische Kopftuch in öffentlicher Schule und Universität Sowohl vor dem EGMR als auch vor dem BVerfG gab es viel diskutierte Entscheidungen zum „islamischen Kopftuch“.13 Beschränken wir uns auf vier: a) Zu Entscheidungen des EGMR Der EGMR bestätigte 2001 das von einer Schweizer Schulbehörde ausgesprochene und anschließend von Schweizer Gerichten bestätigte Verbot gegenüber einer Grundschullehrerin, mit einem solchen Kopftuch zu unterrichten.14 Obwohl der Gerichtshof einen behördlichen Eingriff in die Religionsfreiheit der Lehrerin vorliegen sah, hielt er ihn für gerechtfertigt, da das Kopftuch ein starkes religiöses Symbol darstelle, bei dem man bei Kindern im Grundschulalter eine bekehrende Wirkung nicht ausschließen könne. Zudem sei das islamische Kopftuch nur schwer „mit der Botschaft der Toleranz vereinbar, die Lehrer in einer demokratischen Gesellschaft ihren Schülern vermitteln müssten“. Deshalb hielt der EGMR den staatlichen Beurteilungsspielraum nicht für überschritten und das Kopftuchverbot für ­angemessen.15 Zu einem ähnlichen Urteil kam der EGMR (2004 in der Kammer und 2005 in der Großen Kammer)16 im Fall Sahin vs. Türkei.17 Weil sie sich weigerte das islamische  Mit „islamisch“ wird auf die Hauptmotivation oder zumindest auf eine wichtige Motivation abgestellt, die dem Tragen eines Kopftuchs zugrunde liegt. 14  EGMR (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte), Dahlab vs. Schweiz, RJD 2001-V, NJW (Neue Juristische Wochenschrift) 2001, 2871. 15  D. König, Der Schutz der Religionsfreiheit im europäischen und deutschen Recht, in: S. Kadelbach/P.  Parhisi (Hrsg.), Die Freiheit der Religion im europäischen Verfassungsrecht, 2007, 123 (126). 16  Zu den Besonderheiten der Großen Kammer des EGMR K. Pabel, Die Rolle der Großen Kammer des EGMR bei Überprüfung von Kammer-Urteilen im Lichte der bisherigen Praxis, EuGRZ (Zeitschrift für europäische Grundrechte) 2006, 3 (5 ff.). 17  EGMR, Kammer-Urteil v. 29.06.2004, Sahin vs. Türkei, Nr. 44774/98 und EGMR (Große Kammer), Urteil v. 10.11.2005, Sahin vs. Türkei, Nr. 44774/98. 13

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Kopftuch abzulegen, wurde die Medizinstudentin von Vorlesungen und Prüfungen seitens der Universität von Istanbul ausgeschlossen. Der EGMR wertet diesen Ausschluss zurecht als Eingriff in die Religionsfreiheit der Studentin. Beide Kammern halten ihn im Ergebnis für gerechtfertigt, beanstanden den Ausschluss also nicht. Die Rechtfertigung des Eingriffs stützt sich hauptsächlich auf: (1) den erheblichen Beurteilungsspielraum („margin of appreciation“), der den Mitgliedstaaten bei der Anwendung der Konvention (EMRK) in dieser Thematik zugestanden wird. Dementsprechend beschränkt sich der EGMR auf eine nachprüfende Kontrolle auf europäischer Ebene und reduziert als internationaler Gerichtshof im Vergleich zu nationalen Verfassungsgerichten seine Kontrolldichte;18 (2) die Akzeptanz des in der Türkei (damals) geltenden Laizismus-Prinzips.19 Die in den Mitgliedstaaten grundlegend unterschiedlichen Regelungsmodelle für das Verhältnis von Staat und Kirche/Religionsgemeinschaft,20 die sich u. a. auf historische Entwicklungen oder die konfessionelle Zusammensetzung ihrer Bevölkerung gründen, werden vom EGMR akzeptiert. Das Laizismus-Prinzip sei mit der Konvention in dem Sinne vereinbar, dass es die Sicherung der Demokratie und den Schutz der Religionsfreiheit und der Gleichheit der Bürger zum Ziel habe. Hingegen verlange die Konvention eine strikte Trennung von Kirche und Staat i.  S.  d. Laizismus nicht. Allerdings könnten in Umsetzung dieses Prinzips Beschränkungen der Religionsfreiheit „konventionsrechtlich zulässig sein, wobei bei der Beurteilung der Angemessenheit die besondere Situation in dem betreffenden Mitgliedstaat zu berücksichtigen“ sei.21 Der Staat müsse als neutraler und unparteiischer Organisator die Eintracht zwischen den Anhängern unterschiedlicher Glaubensrichtungen wahren und für gegenseitige Toleranz sorgen.22 Bezogen auf die Toleranz bedeutet das für beide EGMR-Entscheidungen: Kein Bürger kann gegenüber einer Muslima, deren Glauben er zwar ablehnt, den er aber wegen Kopftuchverbot gar nicht zur Kenntnis nehmen kann, Toleranz üben. Denn die Ablehnungskomponente der Toleranz „läuft leer“ – was man nicht kennt, kann

 Dieser Maxime folgt der EGMR allerdings nicht immer, wie die laizistische Kammer-Entscheidung gegen das gar nicht laizistisch geprägte Italien zeigt (EGMR, Entscheidung v. 03.11.2009, Lautsi vs. Italien, Nr.  30814/06), die allerdings durch die Entscheidung der Großen Kammer (EGMR [Große Kammer], Entscheidung v. 18.03.2011, Lautsi vs. Italien, Nr. 30814/06) mit immerhin 15:2 Richterstimmen umgekehrt wurde. Dabei hat die Große Kammer einmal mehr die Bedeutung des Beurteilungsspielraums hervorgehoben. Vgl. C. Walter, Religiöse Symbole in der öffentlichen Schule – Bemerkungen zum Urteil der Großen Kammer des EGMR im Fall Lautsi, EuGRZ 2011, 673; L. Häberle, Zwei konträre Entscheidungen desselben Gerichts zu einem italienischen Schulkreuz-Fall, in: ders./J.  Hattler (Hrsg.), Islam  – Säkularismus  – Religionsrecht, 2012, 121 ff. 19  K. Pabel, Islamisches Kopftuch und Prinzip des Laizismus, EuGRZ 2005, 12. 20  Überblick in Europa: S. Mückl, Europäisierung des Staatskirchenrechts, 2005, 61. 21  Pabel, Islamisches Kopftuch (o. Fn. 19), 12 (16). 22  Vgl. auch König, Der Schutz (o. Fn. 15), 123 (126 f.). 18

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man auch nicht ablehnen. Rein äußerlich – solange man mit der Muslima nicht über deren Religion spricht – bleibt einem deren religiöses Anderssein verborgen, kann mithin keine Toleranz auslösen. Es wird noch zu zeigen sein, wie Toleranz Freiheitsrechte befördern kann. b) Entscheidungen des BVerfG In Deutschland gab es durch das BVerfG zum religiös motivierten Kopftuch-Tragen durch eine Lehrerin in der öffentlichen Schule 2003 – im Fall Ludin – und 2015 Entscheidungen sehr unterschiedlichen Tenors.23 Auch wenn der Zweite Senat 2003 den Landesgesetzgebern anheim gestellt hatte, für die öffentliche Schule durch Gesetz ein generelles Verbot religiöser Kleidung zu erlassen,24 machte der Erste Senat 2015 deutlich, dass eine „bloß abstrakte Gefährdung“ des Schulfriedens „in unangemessener Weise“ das Grundrecht auf Glaubensfreiheit der betroffenen Lehrerinnen „verdrängt“, zumal mit dem Tragen eines Kopftuchs durch einzelne Pädagoginnen „keine Identifizierung des Staates mit einem bestimmten Glauben verbunden“25 sei. Es ist also auf eine Verhältnismäßigkeitsprüfung im Einzelfall abzustellen, bei der der Religionsfreiheit der Lehrerinnen so großes Gewicht zukommt, dass diese Freiheit zurecht gerade nicht durch ein Gesetz, das nur auf eine bloß abstrakte Gefährdung des Schulfriedens abstellt, verdrängt oder gar vollständig „ausgehebelt“ werden darf. Nur so lässt sich zudem verhindern, muslimischen Lehrkräften, die das Kopftuch-Tragen als religiös geboten ansehen, de facto ein Berufsverbot auszusprechen angesichts der kaum vorhandenen islamischen Privatschulen. Gleichwohl wird im Beschluss von 2015 schulischen Konfliktsituationen dahingehend Rechnung getragen, das Tragen des muslimischen Kopftuchs etwa für bestimmte Schulen oder Schulbezirke über eine gewisse Zeit auch allgemeiner zu unterbinden, ggf. auch präventiv durch bereichsorientierte Gesetze, jedoch nur bei Vorliegen konkreter substanzieller Konfliktlagen.26

 Zur sehr umfangreichen Literatur siehe nur A. v. Campenhausen/H. de Wall, Staatskirchenrecht, 4. Aufl. 2006, 72 f. (bes. Anm. 117) für die Zeit bis 2005, zu Ergänzungen seitdem Häberle, Religionsfreiheit (o. Fn. 1), 35 (53 ff.) sowie ders., Vor einer „Kopftuch III“-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, DVBl (Deutsches Verwaltungsblatt) 2018, 1263. 24  Zu den sehr unterschiedlichen Landesgesetzen und der daraufhin erfolgten Rechtsprechung H.  Wißmann, Religiöse Symbole im öffentlichen Dienst, ZevKR (Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht) 52 (2007), 51 (61 ff.) sowie zur zweiten Entscheidung des BVerwG (Bundesverwaltungsgericht) im Fall Ludin, der das Kopftuch-Urteil des BVerfG von 2003 und die daraufhin erfolgte Änderung des baden-württembergischen Schulgesetzes voraus ging, die zurecht kritischen Anmerkungen von E.-W. Böckenförde, JZ (Juristenzeitung) 2004, 1181. 25  BVerfGE 138, 296 (Beschluss vom 27.01.2015, Rn. 112 – Kopftuch II). 26  BVerfG (o. Fn. 25), Rn. 114 unter Verweis auf BVerfGE 108, 282 (306 f.) – Kopftuch I. Somit werden auch amtsbezogene Pflichten, auf die 2003 das Sondervotum der Richter Jentsch, Di Fabio und Mellinghoff (BVerfGE 108, 314 ff.) abstellte, zumindest im real existierenden Konfliktfall berücksichtigt. 23

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Einige Anmerkungen zur rechtlichen Bewertung beider Entscheidungen, insbesondere der von 2015:27 (1) Zu fragen ist, inwieweit das Kopftuchtragen einer Lehrerin auf die religiöse Orientierung von Schulkindern Einfluss hat.28 Im Urteil von 2003 wurde nach Anhörung mehrer Experten festgestellt: Die befürchteten bestimmenden Einflüsse könnten „sich nicht auf gesicherte empirische Grundlagen stützen“, sodass „eine derart ungesicherte Erkenntnislage“ nicht für ein Kopftuchverbot ausreiche.29 Weiter relativierend kommt hinzu sowohl das Auftreten anderer Lehrkräfte mit anderem Glauben bzw. Weltanschauung als auch der seit 2003 zu verzeichnende Verbreitungsgrad des islamischen Kopftuchs in der deutschen Gesellschaft.30 Insgesamt gilt: Zwar ist Religiosität „kein Ziel der Erziehung des neutralen Staates, aber ein positiv zu hegendes Grunddatum der Schule“.31 (2) Anders als in einem Gerichtssaal, wo er Hoheitsfunktionen ausübt, nimmt der Staat in der öffentlichen Schule einen Bereich des gesellschaftlichen Lebens in seine Obhut,32 gibt den anderen mitwirkenden Kräften einen Rahmen. Nur in der Justiz, und auch dort nur im Umgang mit Öffentlichkeit in einem G ­ erichtssaal, ist die strikte oder distanzierende Neutralität geboten – hier würde ein islamisches Kopftuch (wie auch ein anderes religiöses Symbol) nicht hingehören, zur Robe wäre es weder äußerlich noch bzgl. der zu vermittelnden Botschaft „stimmig“.33 Anders in der öffentlichen Schule: In diesem Bereich des gesellschaftlichen Lebens ist auf die offene und übergreifende Neutralität zu rekurrieren, die die Glaubensfreiheit für alle Bekenntnisse gleichermaßen fördert. Der gesellschaftliche Pluralismus dort kann gespiegelt werden durch einen Pluralismus an religiösen Symbolen, wozu natürlich auch das islamische Kopftuch gehört.  Ausführlicher: Häberle, Religionsfreiheit (o. Fn. 1), 35 (54  ff.), ders., Vor einer „Kopftuch III“-Entscheidung (o. Fn. 23). 28  Aufbauend auf sozialpsychologischen und pädagogischen Erkenntnissen hat eine sehr systematische Analyse vorgelegt: S. Röhrig, Religiöse Symbole in staatlichen Einrichtungen als Grundrechtseingriffe, 2017. 29  BVerfGE 108, 282 (306). „Erst bei Hinzutreten von Konflikten zwischen Eltern und Lehrern, die im Zusammenhang mit dem Kopftuch der Lehrerin entstehen können, seien belastende Auswirkungen insbesondere auf jüngere Schülerinnen und Schüler zu erwarten.“ – Ähnliche Argumentation, bezogen auf die Eingriffsqualität von Schulkreuzen in die Grundrechte von Schülern, bei D. Heckmann, Eingriff durch Symbole?, JZ 1996, 880 (889): „Eingriff durch Symbole? Diese Frage lässt sich mit einem ‚im Prinzip nein‘ beantworten. Es hat sich gezeigt, dass die assoziativ-emotionale Wirkung von Symbolen maßgebend von Vorverständnissen abhängt, die außerhalb der Symbolwahrnehmung geprägt werden.“ Eine Diskrepanz zwischen schulischer und elterlicher Erziehung könne sich nachteilig auf das religiöse Empfinden und die Glaubensbildung auswirken. „Hier muss der eigentliche Ausgleich gesucht werden; nicht: Schutz vor geistiger Auseinandersetzung, sondern Schutz in der geistigen Auseinandersetzung ist zu gewährleisten.“ (Hervorh. im Original). 30  BVerfG, Beschluss vom 27.01.2015 (o. Fn. 25), Rn. 100 und 105. 31  Wissmann, Religiöse Symbole (Fn. 24), 51 (70). 32  So die grundlegende Unterscheidung bei E.-W. Böckenförde, Kreuze (Kruzifixe) in Gerichtssälen?, ZevKR 20 (1975), 119 (127 f., 130 f.). 33  Ausführlich M. Eckertz-Höfer, Kein Kopftuch auf der Richterbank?, DVBl 2018, 537 (542 ff.) sowie Häberle, Vor einer „Kopftuch III“-Entscheidung (o. Fn. 23), 1263 (1265 ff.). 27

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(3) Das islamische Kopftuch zu tragen stellt immer eine Entscheidung der Grundrechtsträgerin dar, nicht aber die einer staatlichen Schulbehörde. Dementsprechend – und hierin stimmen beide Entscheidungen überein – macht der „Staat, der eine mit dem Tragen eines Kopftuchs verbundene religiöse Aussage einer einzelnen Lehrerin […] hinnimmt, diese Aussage nicht schon dadurch zu seiner eigenen und muss sie sich auch nicht als von ihm beabsichtigt zurechnen lassen (vgl. BVerfGE 108, 282 ).“34 Einwänden, der Staat handele nur durch seine Amtsträger, lässt sich mit dem Hinweis entgegnen, dass eine staatliche Behörde das Tragen eines Kopftuchs nicht anordnet.35 (4) Da es das Gericht zurecht ablehnt das Kopftuchtragen dem Staat zuzurechnen, kann sich durch die damit verbundene religiöse Bekundung einer einzelnen Lehrkraft „denknotwendig“ keine Gefahr für die staatliche Neutralität ergeben.36 (5) Der Beschluss von 2015 überzeugt in einem wichtigen Punkt nicht: Wenn eine Lehrerin mit Kopftuch eine gewisse Zeit ohne Probleme unterrichtet hat  – in Nordrhein-Westfalen war das 2006 offensichtlich bei mindestens 14 bereits im Dienst befindlichen Lehrerinnen der Fall37  – und plötzlich Probleme für den Schulfrieden auftreten, sind diese meist nicht der Lehrerin anzulasten, sondern überwiegend oder ausschließlich den Störern.38 Folglich ist erst einmal39 von den Störern eine Verhaltensänderung zu verlangen, nicht jedoch von der Lehrerin, wie es aber der Beschluss von 2015 vorsieht.40 Dies kommt einer Einladung zum Stören gleich. Mithin ist die vom BVerfG vorgesehene Gefahrenabwehr in diesem Punkt leider fehlkonstruiert.  – Eine vernünftige Kollisionslösung müsste dies berücksichtigen. Sie müsste zur Gefahrenabwehr die Störer – bspw. andere Schüler, Eltern, andere Lehrer – heranziehen, selbst wenn dies Auseinandersetzungen mit sich bringen sollte.41 Gelingt dies nicht hinreichend oder gar nicht –  BVerfG, Beschluss vom 27.01.2015 (o. Fn. 25), Rn. 104.  Dementsprechend kann auch kein Eingriff vorliegen, denn dieser setzt wesentlich eine Anordnung oder Handeln des Staates voraus. S. auch Röhrig, Religiöse Symbole (o. Fn. 28), 222. 36  U. Volkmann, Dimensionen des Kopftuchstreits, Jura – Juristische Ausbildung 2015, 1083 (1085). 37  Wißmann, Religiöse Symbole (o. Fn. 24), 51 (69). 38  Vgl. auch Röhrig, Religiöse Symbole (o. Fn. 28), 273. 39  Damit soll nicht von vornherein in Abrede gestellt werden, dass sich ein Schulkonflikt so zuspitzen kann, dass ein Notstand entsteht. Im „Notstand, wenn Maßnahmen gegen die Störer keinen Erfolg versprechen oder aus anderen zwingenden Gründen ausscheiden, (kann, LH) auch ein für die Gefahrsituation rechtlich nicht Verantwortlicher zum Zweck der Gefahrenabwehr in Anspruch genommen werden“ (C. Enders, Anmerkung, JZ 2012, S. 363 [365], auch wenn es hier um einen konkreten Berliner Schulgebet-Fall ging), zumal wenn es sich um jemanden im öffentlichen Dienst handelt, der auch Grundrechtsverpflichteter ist. Wendet man die Argumentationsfigur des polizeilichen Notstands auf das Schulverhältnis an, hat dies jedoch in aller Konsequenz zu geschehen; näher dazu ebd., 363 (365 f.). 40  Vgl. auch U. Sacksofsky, Kopftuch als Gefahr – ein dogmatischer Irrweg, DVBl 2015, 801 (806); B.  Rusteberg, Kopftuchverbote als Mittel zur Abwehr nicht existenter Gefahren, JZ 2015, 637 (641). 41  „Mit dem Argument, dass die Störer von ihrer Haltung freiwillig nicht lassen mögen, kann jedenfalls ein Maßnahmenverzicht schlechterdings nie begründet werden, weil sonst nirgendwo mehr Rechtsregeln durchgesetzt werden könnten.“ Enders, Anmerkung (o. Fn. 39), 363 (366). 34 35

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läge mithin ein Notstand vor42 –, müsste für die Lehrerin eine andere Verwendung gesucht werden, sei es in einer anderen Klasse oder gar in einer anderen Schule.43 Dazu jedoch bedarf es einer gesetzlichen Regelung überhaupt nicht. Insgesamt: Führt also das Kopftuch-Tragen einer Lehrerin weder zu einer Gefahr für die staatliche Neutralität noch zu einer für den Schulfrieden, hätte konsequenterweise das BVerfG gar nicht auf ein Kopftuchverbot rekurrieren dürfen, auch nicht bei „hinreichend konkreter Gefahr“. Ein Kopftuchverbot kann keine Nicht-Gefahr beseitigen, es ist als Mittel ungeeignet, letztlich überflüssig.44 Im entscheidenden Punkt ist der Beschluss von 2015 mithin nicht konsequent. Trotz solcher Kritik vermittelt der Beschluss von 2015 einige positive Botschaften: Die Existenz einer pluralistischen Gesellschaft und der Schutz gesellschaftlicher Minderheiten werden ernst genommen; das BVerfG stellt sich „gegen den Trend, die Schule zunehmend als religionsfreien Raum zu begreifen“.45 Auch Muslime, so die Aufforderung zur Gelassenheit des Gerichts, gehören auch mit den sichtbaren Bekundungen ihres Glaubens zu Deutschland; deshalb ist es angebracht, möglichst viele Muslime in das gesellschaftliche Leben einzubeziehen und nicht aus ihm auszugrenzen.46 Dabei wird die Vielfalt gesellschaftlichen Lebens mit ihren Konflikten in der Schule wie unter einem Brennglas sichtbar. Auch wenn gerade in religiösen Fragen Symbolen von vielen eine allzu hohe Bedeutung zuerkannt wird, lohnen die Erfahrungen mit dem religionsfreundlichen deutschen Religionsrecht „die Anstrengung, auch im Fall des Kopftuchs auf den Kopf und nicht auf den Stoff zu schauen“.47 Für die Toleranz bedeutet dies, dass Toleranz die Grundrechtsausübung sowohl der kopftuchtragenden Lehrerin als auch der Schüler und deren Eltern befördern dürfte: Wenn die kopftuchtragende Lehrerin sich – nicht zuletzt wegen der Bekenntnisfreiheit der Schüler und dem (religiösen) Erziehungsrecht von deren Eltern  – zum Tragen ihres Kopftuchs nicht weiter äußern wird, schon gar nicht in missionarischer Absicht, dürften die Schüler und deren Eltern das Tragen des islamischen Kopftuchs durch die Lehrerin ohne Kampf und Störung tolerieren, obwohl sie vielleicht den Islam und dessen Ausdrucksformen ablehnen.

 Siehe hierzu o. Fn. 39.  Auch das BVerfG hält die Suche nach einer alternativen Beschäftigung an einer anderen Schule für angebracht. S. BVerfG, Beschluss vom 27.01.2015 (o. Fn. 25), Rn. 113 und 114. 44  Hierzu ausführlich Rusteberg, Kopftuchverbote (o. Fn. 40), 637 (640 ff.). 45  Rusteberg, Kopftuchverbote (o. Fn. 40), 637 (643), ähnlich H. M. Heinig, Ein neues Kapitel in einer unendlichen Geschichte?, RdJB (Recht der Jugend und des Bildungswesens) 2015, 217 (219) „entdramatisiert“, „im Vergleich zur Entscheidung aus dem Jahre 2003 weist der neuerliche Beschluss eine größere Selbstverständlichkeit im Umgang mit religiöser und kultureller Pluralität auf“. 46  Vgl. Volkmann, Dimensionen (o. Fn. 36), 1083 (1092 f.). 47  Wißmann, Religiöse Symbole (o. Fn. 24), 51 (75). – Nicht behandelt wird hier, inwieweit dem Kopftuchtragen eine „ideologische Komponente“ eigen ist, ob es auch oder gar ausschließlich Ausdruck von Abhängigkeit einer Muslimin von den dominanten Wünschen ihres Mannes ist. Genauso wenig wird in diesem Artikel die Situation in islamischen Ländern betrachtet, sondern nur die in Deutschland. 42 43

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2. Zum islamischen Kopftuch bei Gericht Der staatliche Eingriff in Form eines generellen gesetzlichen Verbots religiöser Bekleidung in der öffentlichen Schule erscheint also nicht gerechtfertigt. Wäre das nun im Bereich der Justiz ähnlich zu sehen? Der Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 27. Juni 2017,48 der den Eilantrag einer Rechtsreferendarin ablehnte, legt sich da noch nicht fest bis zur notwendigen Klärung im Rahmen einer Hauptsache-Entscheidung: ob und unter welchen Umständen das Tragen religiöser Symbole im Gerichtssaal die Neutralitätspflicht, die Unabhängigkeit der Justiz und die negative Glaubens- und Bekenntnisfreiheit der Verfahrensbeteiligten berührt. Die dagegen abzuwägende Position besteht in der positiven Glaubens- und Bekenntnisfreiheit der Rechtsreferendarin, der hinreichend Rechnung zu tragen ist.49 Selbst ein Verbot – einer der stärksten Eingriffe – das islamische Kopftuch zu tragen, käme hier nicht einem faktischen Berufsverbot gleich. Das wäre im Falle eines Kopftuch-Verbots für Lehrerinnen (mangels islamischer Privatschulen) oder umso mehr für Lehramts-Referendarinnen (dann sogar mangels abgeschlossener Ausbildung) anders zu sehen. Die Kammer unterscheidet zwar die beiden Formen der Neutralität (distanzierende sowie übergreifende offene), unterlässt aber die auf Böckenförde50 zurückgeführte Differenzierung nach gesellschaftlichem Bereich, den der Staat in seine Obhut nimmt (öffentliche Schule), und hoheitlichem Handeln des Staates (Justiz). Vielmehr behauptet die Kammer, die „dem Staat gebotene weltanschaulich-religiöse Neutralität“ sei als offene und übergreifende zu verstehen, was „insbesondere auch für den vom Staat garantierten und gewährleisteten Bereich der Justiz“ gelte.51 Diese Zuordnung der übergreifenden offenen Neutralität zur Justiz überzeugt nicht. Sie scheint von der Kammer selbst auch nicht ganz ernst genommen zu werden, da sie ohne Konsequenzen bleibt. Denn nur die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Richter biete die Gewähr für Neutralität und Distanz gegenüber allen Verfahrensbeteiligten und der zu entscheidenden Materie: „Die richterliche Tätigkeit erfordert daher unbedingte Neutralität gegenüber den Verfahrensbeteiligten“, so die Kammer52 – aber was ist die „unbedingte“ Neutralität in der Sache anderes als die distanzierende Neutralität, die bei den Kammer-Überlegungen zur „als dem Staat gebotenen“ Neutralität de facto abgelehnt wurde? Für eine Richterin mit Kopftuch gibt es die Ausweichmöglichkeiten, über die eine Referendarin verfügt (Verzicht auf Sitzungen mit Öffentlichkeit), nicht: Sie muss auch öffentlichen Sitzungen auf der Richterbank beiwohnen oder sie leiten –  BVerfG (1. Kammer des Zweiten Senats), Beschluss v. 27.06.2017, 2 BvR 1333/17.  Ebd., Rn. 34. 50  Böckenförde, Kreuze (o. Fn. 32), 119 (130 f.). – Bei distanzierender Neutralität ist die Rechtsordnung rein weltlich gestaltet, sie weist religiöse Aspekte der Privatheit zu ohne Platz in der Öffentlichkeit, bei offener Neutralität existieren religiöse Entfaltungsmöglichkeiten auch im öffentlichen Raum (Schule, andere Bildungseinrichtungen etc.), allerdings ohne jede Form staatlicher Identifikation mit einer bestimmten Religion. Ders., Der säkularisierte Staat, 2007, 15 f. 51  BVerfG (1. Kammer des Zweiten Senats), Beschluss v. 27.06.2017 (o. Fn. 48), Rn. 47 und 48. 52  Ebd., Rn. 49. 48 49

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sie repräsentiert den Staat auch in seiner Unabhängigkeit und Neutralität. „Das gerade ist der Sinn einer Amtstracht wie der Richterrobe  – Ausdruck der Regel: Funktion vor Person“,53 eine „bewusste Selbstdistanzierung“.54 Das lässt den Umkehrschluss zu: In allen nicht-öffentlichen Tätigkeiten – der weitaus meisten Zeit eines Richters – kann eine Richterin Kopftuch tragen.55 Ihre Grundrechtsposition würde zwar erheblich eingeschränkt, aber nicht völlig verdrängt. So könnte im Sinne der praktischen Konkordanz ein möglichst schonender Ausgleich der verschiedenen Positionen gefunden werden. Die inzwischen ergangene Entscheidung des BVerfG v. 14.01.2020 (Kopftuch III) hingegen lässt das Ergebnis der Abwägung offen und folgt der Entscheidung des (Landes-)Gesetzgebers.56 Beim Kopftuchverbot in der seit 2017 gültigen Fassung von § 21 III AGGVG (Ausführungsgesetz zum Gerichtsverfassungsgesetz) wird so verfahren. Auch bei einzelnen Bundesländern werden ähnliche Verbote diskutiert oder existieren bereits, so etwa in Art. 11 II BayRiStAG (Bayerisches Richter- und Staatsanwaltsgesetz), das Richterinnen und Richtern das Tragen jeglicher religiöser Symbole im Verhandlungssaal verbietet – mit Urteil vom 14.03.2019 wurde es vom BayVerfGH (Bayerischen Verfassungsgerichtshof) bestätigt. Toleranz kann aufgrund des mit ihr verbundenen Reflexionsprozesses bei den nicht-öffentlichen Tätigkeiten einer Richterin und bei allen Tätigkeiten einer Rechtsreferendarin helfen, dass deren Religionsfreiheit, die sich im Tragen des islamischen Kopftuchs niederschlägt, auch von denjenigen ihrer Kollegen nicht beschnitten wird, die den Islam oder dessen öffentliche Sichtbarkeit ablehnen.

3. Burka, Niqab und Burkini im öffentlichen Raum a) Burka und Niqab Burka und Niqab sind besondere Formen der islamisch motivierten Kopfbedeckung: Beim Niqab ist mit Ausnahme der Augen der ganze Körper bedeckt, bei der Burka lassen sich von außen nicht einmal die Augen sehen. Die Trägerin blickt durch ein  U. Di Fabio, Begegnung mit dem Absoluten, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 22.12.2016, 6.  H. Wißmann, Justitia mit Kopftuch?, in: DRiZ (Deutsche Richterzeitung) 2016, 224 (227). 55  Eine Schöffin, die ja nie Amtstracht trägt, kann auch bei einer öffentlichen Verhandlung Kopftuch tragen. Schöffen üben „ihr Amt als Vertreter der Gesellschaft aus“ (A. v.Campenhausen, Religionsfreiheit, in: HStR VII, 32009, § 157 Rn. 116 [Fn. 283]; vgl. auch Eckertz-Höfer, Kein Kopftuch [o. Fn. 33], 537 [545]). Hier hat offensichtlich die Unterscheidung Gesellschaft – staatlicher Hoheitsbereich bereits zu den angemessenen Differenzierungen geführt. 56  Wie die hierzu erforderliche Abwägung aussehen kann, dazu ausführlich Häberle, Vor einer „Kopftuch III“-Entscheidung (o. Fn. 23), 1263 (1265 ff.). Zum Folgenden ebd., 1263 (1266) sowie o.V., VerfGH bestätigt Kopftuchverbot für bayerische Richterinnen, LTO (Legal Tribune Online) v. 18.03.2019. - Von der in ebd., 1263 gezeichneten Linie weicht der erwähnte inzwischen ergangene Beschluss des Zweiten Senats des BVerfG v. 14.01.2020 (2 BvR 1333/17 [Kopftuch III]), Rn. 101 f., 104 in einem wichtigen Punkt ab: Da keiner der kollidierenden Rechtspositionen ein „derart überwiegendes Gewicht“ zukäme, um das Kopftuchtragen zu verbieten oder zu erlauben, sei angesichts der Einschätzungsprärogative des (hessischen) Gesetzgebers dessen Entscheidung aus verfassungsrechtlicher Sicht zu respektieren (ebd., Rn. 102). Damit bleibt das Kopftuchtragen im Gerichtssaal in Hessen verboten. 53 54

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Gitternetz, ohne jedoch selbst gesehen zu werden. In Deutschland – vermutlich in ganz Westeuropa – ist meist ein Niqab gemeint, wenn von einer Burka die Rede ist. Denn werden Personen mit Niqab hier bisher eher selten angetroffen, sind solche mit Burka fast nicht existent.57 Da in beiden Fällen das Gesicht verhüllt ist, erscheint die für Gesellschaft und Staat nötige offene Kommunikation sehr eingeschränkt bzw. fast unmöglich. Was bedeutet dieser Tatbestand für die rechtliche Bewertung? In einem viel diskutierten Urteil des EGMR (Große Kammer) vom 01.07.201458 ist das sogenannte französische Burka-Verbot von 2010 mit großer Mehrheit als mit Art.  8 und  9 EMRK (Europäische Menschenrechtskonvention) vereinbar erklärt worden. Die Kritik daran entzündet sich u. a. an dem dieses Verbot rechtfertigenden Ziel des „Zusammenlebens“, weil dieses sich nicht verantwortbar unter die in Art. 8 II und Art. 9 II EMRK genannten Ziele, die der EGMR bisher tendenziell restriktiv ausgelegt hat, subsumieren lasse.59 Zudem habe die französische Regierung „nicht dargelegt, warum es unmöglich war, mildere Mittel als die Strafbewehrung der ­Verschleierung des Gesichts im gesamten öffentlichen Raum anzuwenden.“60 Das absolute Verbot könnte „als Zeichen eines selektiven Pluralismus und einer eingeschränkten Toleranz gewertet werden“,61 wie im Sondervotum angemerkt wird. Die kleine Minderheit der Niqab-Trägerinnen lässt sich so nicht schützen und schon gar nicht besser in die Gesellschaft integrieren.62 Auf dem Hintergrund derartiger Kritik überrascht es, dass zum 01.10.2017  in Österreich ein „Anti-Gesichtsverhüllungsgesetz“ in Kraft getreten ist, das sich am französischen Gesetz zu orientieren scheint: Das Verbot erfährt kaum Einschränkungen (§ 2 II), sondern gilt „an öffentlichen Orten oder in öffentlichen Gebäuden“, wozu auch der gesamte „Bus-, Schienen-, Flug- und Schiffsverkehr“ zählt (§ 2 I). Als Ziel des Gesetzes wird neben der „Sicherung des friedlichen Zusammenlebens“ die „Integration“, die auf „persönlicher Interaktion beruht“ (§ 1), genannt. Ob dieses Gesetz vor dem EGMR Bestand haben wird? In Deutschland „herrscht Konsens darüber, dass der Staat von seinen Bürgern verlangen kann, das Gesicht zu zeigen, wo dies zwecks Identifikation oder zur Ermöglichung einer offenen Kommunikation erforderlich ist.“63 Davon wären sowohl  Vgl. M. Rohe, Der Islam in Deutschland. Eine Bestandsaufnahme, 2016, 199 (und ff.); T. Barczak, „Zeig mir dein Gesicht, zeig mir, wer du wirklich bist“. Zur religionsverfassungsrechtlichen Zulässigkeit eines Burka-Verbots unter dem Grundgesetz, DÖV (Die Öffentliche Verwaltung) 2011, 54 (61). 58  EGMR (GK), Urteil v. 01.07.2014 – S.A.S. vs. Frankreich, Nr. 43835/11. 59  Siehe nur C. Grabenwarter/K. Struth, Das französische Verbot der Vollverschleierung, EuGRZ 2015, 1 (3). 60  EGMR (GK), Sondervotum der Richterinnen Nußberger/Jäderblom zum Urteil v. 01.07.2014 (o. Fn. 58), Rn. 24 (Hervorh. hinzugefügt). 61  Ebd., Rn. 14. 62  Vgl. ebd., Rn. 14 und 20; S. Ibold, Bei Burka und Nikab hört die Toleranz auf, KJ (Kritische Justiz) 48 (2015), 83 (95). 63  H. M. Heinig, Wenig Orientierung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 01.09.2016, 7; siehe auch Wissenschaftlicher Dienst des Deutschen Bundestages, Verbot der Vollverschleierung, Ausarbeitung v. 27.05.2015, AZ WD 3 – 3000 – 082/15, 4 ff. 57

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Richterinnen und Staatsanwältinnen als auch Lehrerinnen betroffen wegen des Erfordernisses offener Kommunikation.64 Erforderlich wäre das aber auch für das Auto-, Motorrad- oder Fahrradfahren im Straßenverkehr, für Ausweiskontrollen jeglicher Art, zudem auch für Schülerinnen im Unterricht (weil sonst die für den Unterricht erforderliche offene Kommunikation erheblich erschwert würde),65 für Prüfungen in Schule und Hochschule. Ein generelles pauschales Verbot für Niqab und Burka erscheint jedoch verfassungsrechtlich nicht angebracht.66 Das wäre vermutlich anders zu sehen, sobald diese Verhüllungen zu terroristischen Anschlägen missbraucht werden würden, denn dann stünde der Religionsfreiheit der Trägerin bei der Abwägung zusätzlich die Sicherung der öffentlichen Ordnung entgegen.67 An die Toleranz der Bürger stellen Niqab und Burka in dem verbleibenden Toleranz-Raum immer noch hohe Anforderungen wegen deren Behinderung von Kommunikation, aber auch wegen deren Fremdheit:68 Im Vergleich zum Kopftuch-­ Tragen wird die Ablehnungskomponente stärkeres Gewicht haben  – gleichwohl müssen ja die Akzeptanzgründe immer noch überwiegen. b) Burkini Diese islamische Bademode zeichnet sich dadurch aus, dass sie bis auf das Gesicht den ganzen Körper verhüllt, dessen Konturen zugleich möglichst wenig sichtbar werden lässt. Ein Verbot solcher Bademode „wäre mit dem GG nicht vereinbar“, mehr noch: Die Existenz eines solchen Burkini „diente dem Bundesverwaltungsgericht vielmehr als Argument, warum die Teilnahme am koedukativen Schwimmunterricht auch streng gläubigen Muslima zumutbar ist“.69 Welches Argument sollte im GG für das Verbot eines Burkini streiten? Grundrechte anderer sind nicht berührt. Auf Abwege führte es, die negative Religionsfreiheit als ein „etwas nicht sehen müssen“ zu interpretieren, mithin als Konfrontations Vgl. G. Beaucamp/J. Beaucamp, In dubio pro libertate. Überlegungen zur Kopftuch- und Burkaverbotsdebatte, DÖV 2015, 174; L. Michael/D. Dunz, Burka im Gericht. Über die Verpflichtung, dem Gericht „Gesicht zu zeigen“, DÖV 2017, 125; J. Reisgies, Verbot der Vollverschleierung für Verfahrensbeteiligte im Gerichtssaal, ZevKR 62 (2017), 271. 65  So etwa BayVGH, Beschluss v. 22.04.2014 – 7 CS 13.2592, 7 C 13.2593, Rn. 21, 28. 66  Vgl. Heinig, Wenig Orientierung (o. Fn. 63). 67  Auch wenn die ratio legis des österreichischen Gesetzes vermutlich darauf abzielt, einen solchen Fall zu verhindern, wird dem Ergreifen derartiger präventiver Maßnahmen hier nicht gefolgt, weil so Grundrechte ohne erwiesene Not – potenzielle Krisenszenarien sind viele denkbar, und die eigene Phantasie spielt vielen manchen Scherz – überproportional eingeschränkt werden. 68  Einer Person im Niqab zu begegnen, ist schon ein Eindruck erweckendes und Nachhaltigkeit hervorrufendes Erlebnis. Meist dürfte nicht einmal zu erkennen sein, ob es sich um eine Frau handelt, die den Niqab trägt. In Zeiten des Terrorismus beschleichen einen auch Sicherheitsfragen, was sich vielleicht noch alles unter der Verhüllung befinden könnte… Ob und wie schnell sich eine solche Fremdheit abbauen lässt, bleibt eine offene Frage. 69  Heinig, Wenig Orientierung (o. Fn. 63), 7. 64

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schutz, denn die negative Glaubens- und Weltanschauungsfreiheit „gewährleistet Entsagung, deckt aber nicht die Untersagung“.70 Ist schon ein Argument für ein Burkini-Verbot nicht ersichtlich, steht auch noch ein Grundrecht der Burkini-Träge­ rin dagegen: falls nicht das auf Religionsfreiheit nach Art. 4 I, II GG, dann zumindest das Auffang-Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit nach Art. 2 I GG.71 Geradezu bizarr erscheint es, wenn in Frankreich, wo es ein Burka- und Burkini-Verbot gibt, im Sommer 2016 Polizisten an einigen Stränden gegen Burkini tragende Muslimas vorgingen, damit – vermutlich liegt das dem Regelungszweck zugrunde  – die anderen, teils knapp bekleideten Badegäste deren Anblick nicht zu ertragen hätten. Furcht vor zuviel Textil? Es ist schon überraschend, dass in Frankreich Burka und Burkini zumindest in einigen Regionen ähnlich behandelt werden (beide mit Verbot), obwohl es sich um sehr unterschiedliche Sachverhalte handelt und für den Burkini überzeugende Verbotsgründe nicht in Sicht sind. Der französische Laizismus führt offensichtlich – zumindest – manchmal zu Freiheit behindernden Pauschallösungen, lässt auch der Toleranz nicht den angezeigten Spielraum.72 Zur Toleranz: Vor allem für die Bürger, die den Islam ablehnen, kann Toleranz eine Hilfe sein, um das Grundrecht der Religions(ausübungs)freiheit von Muslimas nicht zu behindern, denn Toleranz erfordert ja einen Reflexionsprozess mit der beschriebenen Abwägung von Ablehnungsgründen einerseits und Akzeptanzgründen andererseits. Das nächste große Referenzgebiet islambezogener Konflikte, dem Kapitel III. gewidmet ist, bezieht in Form von Karikatur und Satire die Meinungs- und Medienfreiheit in die Betrachtung ein.

III. Blasphemie durch Karikatur und Satire 1. Einige auch international bekannte Fälle Um den Charakter der durch Karikatur und Satire ausgelösten Streitpunkte leichter erfassen zu können, ist es sinnvoll, zuerst einmal einige bekannte Fälle in chronologischer Reihenfolge aufzulisten:73  S.  Mückl, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art.  4 (2008), Rn.  123; vgl. auch ebd., Rn. 90 und 97; R. Herzog, in: T. Maunz/G. Dürig (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, Art. 4 (1988), Rn. 60: „aus der negativen Religions- und Religionsausübungsfreiheit ein Recht darauf herzuleiten, dass andere auf eine von ihnen gewünschte Religionsausübung verzichten müssen, geht im Ansatz fehl“ (ohne die Hervorh. im Original). 71  U. Di Fabio, in: Maunz/Dürig (o. Fn. 70), Art. 2 Abs. 1 (2001), Rn. 21 ff. 72  R. Steinberg, Religiöse Symbole im säkularen Staat. Kann das multireligiöse Deutschland von der französischen Laicité lernen?, Der Staat 56 (2017), 157. 73  J. Isensee, Meinungsfreiheit im Streit mit der Religion – „Gotteslästerung“ heute, AfP (Archiv für Presserecht) 2013, 189 (191, 189 f., 195) zu den unter (1), (3), (4) und (5) aufgeführten Fällen. Zu Fall (6) K. Polke-Majewski u. a., Drei Tage Terror in Paris (v. 15.01.2015), https://www.zeit.de/ 70

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(1) die Fatwa des Ayatollah Khomeini vom Februar 1989, Salman Rushdie, den Autor des Buches „Die satanischen Verse“, zu töten, selbst wenn dieser sich bekehren sollte; das Kopfgeld betrug schon 3,3 Mio. USD; (2) die dänischen Mohammed-Karikaturen 2005, die erst 2006 zu den bekannten Todesdrohungen gegen die Karikaturisten und zu den gewalttätigen Reaktionen in diversen Ländern mit mehrheitlich islamischer Bevölkerung führten, denen weltweit immerhin 139 Menschen zum Opfer fielen;74 (3) die Comic-Serie „Popetown“ im deutschen Privatsender MTV gegen Papst Benedikt XVI. und die katholische Kirche 2006; (4) der Auftritt der feministischen Punk-Gruppe Pussy Riot in der Moskauer Erlöser-Kathedrale gegen Präsident Putin und den russisch-orthodoxen Patriarchen Kyrill 2012; (5) ebenfalls 2012 das Erscheinen des US-amerikanischen Videos „Innocence of Muslims“, das den Propheten als Kinderschänder, Homosexuellen und blutrünstigen Feldherrn darstellt  – allein dessen Existenz zusammen mit einem 14minütigen Auszug im Internet führte zu Fatwas, die Beteiligten zu töten, sowie zu Lynchjustiz in Lybien, Ägypten und dem Sudan; (6) „Charlie Hebdo“, das wöchentliche Satire-Magazin aus Paris, das durch die islamistisch motivierte Mordserie gegen dessen Redakteure und Zeichner am 7. Januar 2015 – natürlich unbeabsichtigt – unvergleichlich mehr Bekanntheit erlangte als es jemals zuvor hatte; (7) das Böhmermann-Gedicht auf den Präsidenten der Türkei Erdogan 2016, das allerdings auch eine anti-islamische Tönung enthielt. Von den hier erwähnten sieben Vorfällen hatten die vier akut oder potenziell (Todes-­Fatwa) gewalttätigsten mit dem Islam zu tun, das Gedicht auf Erdogan zum gewissen Teil. Ohne dass es sich hier um eine repräsentative Erhebung handelt, hat doch die Mehrheit einen zentralen Konfliktherd mit Islam-Bezug, aber natürlich auch nicht alle.

2. Rechtliche Aspekte der Mohammed-Karikaturen – Vorbemerkungen Es ist nicht möglich, alle sieben Fälle hier rechtlich ausführlich zu kommentieren. Konzentration auf die Mohammed-Karikaturen erscheint sinnvoll: Dieser Fall ist wegen seiner Internationalität der komplizierteste, hat zudem einige Gemeinsamfeature/attentat-charlie-hebdo-rekonstruktion (abgerufen am 02.05.2020); zu Fall (7) o.V., Böhmermann-Affäre – Wikipedia (abgerufen am 02.05.2020). 74  D. Grimm, Nach dem Karikaturenstreit: Brauchen wir eine neue Balance zwischen Pressefreiheit und Religionsschutz?, in: Juristische Studiengesellschaft. Jahresband 2007, 21 (21); s. auch S. Mückl, Freiheit des Glaubens und der ungestörten Religionsausübung. Aktuelle Problemlagen in Deutschland, in: S. Kadelbach/P. Parhisi (Hrsg.), Die Freiheit der Religion im europäischen Verfassungsrecht, 2007, 97 (98).

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keiten mit dem des Videos „Innocence of Muslims“, zumal beide, vor allem der der Karikaturen, nicht ohne erhebliche Gewalt abgegangen sind. a) Physische Gewalt Physische Gewalt ist in keinem Fall zu rechtfertigen, weder aus „Glaubenseifer“ noch um ein Kopfgeld zu kassieren. Schon die Auslobung eines Kopfgeldes (wie gegen Salman Rushdie) wäre in Deutschland rechtlich nicht zulässig.75 Untypischerweise geht physische Gewalt diesmal nicht vom Verletzer oder Störer (etwa den Karikaturisten) aus, sondern von den sich angegriffen Fühlenden – mit der paradoxen Folge, dass der Staat die ursprünglich angegriffenen Muslime (falls sie in Deutschland wären) vor physischer Gewalt in diesem Fall auch nicht schützen könnte, da sie diese inzwischen selbst ausgeübt hätten. b) Abwehrrechte des Angreifers Nehmen wir im folgenden an, die Mohammed-Karikaturen seien in Deutschland entstanden und veröffentlicht worden. Zur abwehrrechtlichen Position des Verletzers: Wer verbal oder bildlich religiöse Gefühle verletzt, kann – trotzdem – für sich erst einmal die Kommunikationsfreiheit reklamieren, konkret die Kunstfreiheit bzgl. der Gestaltung, die Pressefreiheit wegen des Publikationsmediums sowie die Meinungsfreiheit für die inhaltliche Tendenz.76

3. Zur Kunstfreiheit Die Kunstfreiheit ist in Art. 5 III GG normiert und vorbehaltlos verbürgt. Allerdings stellt sich schon bei der Schutzbereichsbestimmung die Frage: Was ist Kunst?77 Sie zu beantworten kann hier in ihrer abstrakten Dimension dahinstehen. Im konkreten Rechtsstreit ist „die Übersetzungsleistung vom künstlerischen in das rechtliche Feld“ Aufgabe des Richters, der u. a. prüfen wird, ob „dem Streitgegenstand vergleichbare Werke gesellschaftlich als Kunst anerkannt“ sind, er wird ggf. Sachverständige hin Siehe nur Isensee, Meinungsfreiheit (o. Fn. 73), 189 (191); H.  Bethge, Meinungsfreiheit, in: H. Kube u. a. (Hrsg.), Leitgedanken des Rechts. FS (Festschrift) für P. Kirchhof, 2013, § 49 Rn. 12 („ungeschriebene Tatbestandsvoraussetzungen bei den Rechten aus Art. 5 I GG“). – Nur in der „weiten Tatbestandstheorie“ findet sogar derartige Gewalt Eingang in den Schutzbereich verschiedener Grundrechte. Zu Grundzügen und Kritik an dieser Theorie siehe nur J. Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: HStR (ders./P. Kirchhof [Hrsg.], Handbuch des Staatsrechts) IX, 32011, § 191 Rn. 82 ff. 76  Vgl. Isensee, Meinungsfreiheit (o. Fn. 73), 189 (191). 77  Hierzu ausführlich A. v. Arnauld, Freiheit der Kunst, in: HStR (o. Fn. 75) VII, 32009, §  167 Rn. 7 ff., 13 ff., 36 ff. 75

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zuziehen.78 Hier geht es um die notwendige, aber dornenreiche Unterscheidung von Kunst und Nicht-Kunst. Hingegen ist jedes staatliche „Kunstrichtertum“ unzulässig, da die freiheitliche Pluralität der Kunst jedes staatliche Kunstideal abwehrt.79 Geschützt werden kann durch Art. 5 III GG sowohl der „Werkbereich“ (Entstehung des Werkes) als auch der „Wirkbereich“ (die soziale Dimension der Kommunikation).80 Die Kunstfreiheit unterliegt allein den verfassungsimmanenten Schranken, nicht jedoch den Schranken aus Art. 5 II GG.81 Kollisionsgefährdet ist dabei der Wirkbereich mit Konfliktfeldern wie Ehrverletzung, Verletzung religiöser Gefühle, Blasphemie, Verletzung staatlicher Symbole, ­Jugendgefährdung, Störung des öffentlichen Friedens, Volksverhetzung82 – dazu mehr im Kontext der Meinungsfreiheit. Auf europäischer Ebene in der Grundrechte-Charta (GrCh) ist Kunstfreiheit in Art. 13 GrCh verbürgt, ebenso wie im GG vorbehaltlos. Demgegenüber gibt es in der EMRK in Art. 10 I keine eigene Erwähnung der Kunst, zudem sind die Schranken nach Art. 10 II zu beachten. Gleichwohl hat der EGMR in seiner neueren Rechtsprechung künstlerischen Ausdrucksformen, selbst wenn sie in einem politischen Kontext Verwendung finden, weitreichenden Schutz angedeihen lassen.83 Religionsbeschimpfung in künstlerischer Form, vor allem als blasphemische Karikatur und Satire, findet in diesem Grundrecht Unterschlupf, „und das besonders leicht, weil es keine Einlasskontrolle nach dem Niveau gibt“.84

4. Zur Pressefreiheit Die Pressefreiheit ist geregelt in Art. 5 I GG, deren Schranken in Art. 5 II GG. Europarechtlich sind einschlägig Art.  10 I EMRK85 mit seinen Schranken aus Abs.  2 sowie – schrankenlos – Art. 11 II GrCh („Die Freiheit der Medien und ihre Pluralität werden geachtet“). Durch den sehr weiten Schutzbereich nach Art. 5 I GG werden Meinungen und Tatsachenbehauptungen, Werbung, sogar ursprünglich rechtswidrig erlangte Informationen geschützt, nur bewusst falsche Tatsachenbehauptungen, also absichtliche Lügen, fallen heraus. Die Weite des Schutzbereichs verlagert die Probleme auf die Schrankenebene, nämlich auf die Schrankentrias nach Art. 5 II GG und die verfassungsimmanenten Schranken. Problembereiche sind dabei der Schutz der Privat Ebd., Rn. 42.  R. Scholz, in: Maunz/Dürig (o. Fn. 70), Art. 5 III Rn. 38. 80  v. Arnauld, Freiheit (o. Fn. 77), Rn. 45. 81  Eine Schrankenleihe bei Art. 5 II GG ist mit Wortlaut und Systematik des GG nicht vereinbar. Ebd., Rn. 57, ähnlich Scholz, Art. 5 III (o. Fn. 79), Rn. 11. 82  v. Arnauld, Freiheit (o. Fn. 77), Rn. 67 ff. 83  R. Grote/N. Wenzel, Meinungsfreiheit, in: O. Dörr u. a. (Hrsg.), EMRK/GG. Konkordanzkommentar, 22013, Kap. 18 Rn. 129. 84  Isensee, Meinungsfreiheit (o. Fn. 73), 189 (192). 85  Vgl. C. Grabenwarter/K. Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, 6. Aufl. 2016, § 23 Rn. 8 f. 78 79

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sphäre, die Verantwortung für unwahre oder nicht bewiesene Tatsachen, Schmähkritik (dazu s.u.) sowie moderne Formen des Prangers.86 Es stellt sich die Frage, ob hierbei nicht die Abwägungsprozesse zwischen Pressefreiheit auf der einen und Persönlichkeitsrechten auf der anderen Seite neu austariert werden müssten.87 Das ist auch vor dem Hintergrund zu beleuchten, dass Provokationen, also auch religiöse, ihr Ziel öffentliche Aufmerksamkeit zu gewinnen, nur über Medien wie Presse, Fernsehen und Internet erreichen. „Manches blasphemische Spektakel wird von vornherein auf die Medien hin inszeniert.“88

5. Meinungsfreiheit Wegen ihrer Bedeutung sei die Meinungsfreiheit etwas ausführlicher betrachtet, beginnend mit ihrer europarechtlichen Einordnung. a) Zu Art. 10 EMRK In Art. 10 I EMRK werden die Kommunikationsfreiheiten umfassend geschützt, vor allem auch hinsichtlich der Meinungsbildung sowie, was hier besonders interessiert, der Meinungsäußerung. (Art. 11 I GrCh ist im Wesentlichen wortgleich und schutzbereichsidentisch mit Art. 10 I EMRK, kennt allerdings keine Schrankenregelung.) Eingriffe in diese Freiheiten sind zulässig, sofern sie sich innerhalb der formellen und materiellen Schranken gemäß Art. 10 II EMRK bewegen. Auch wenn diese viel detailreicher89 formuliert ist als etwa die Schrankenregelung in Art. 5 II GG, sind Eingriffe letztlich nur zulässig, um „Notwendigkeiten in einer demokratischen Gesellschaft“90 zu schützen.91 Die Prüfung der Rechtfertigung eines Eingriffes erfolgt im Wesentlichen in drei Schritten: gesetzliche Grundlage, Legitimität des Eingriffsziels und Verhältnismäßigkeit des Eingriffs.92 Dabei prüft der EGMR nicht  S. hierzu in diesem Band den Beitrag von L. Häberle (Internet-Konflikte ….).  F. Hufen, Presse, in: H. Kube u. a. (Hrsg.), Leitgedanken des Rechts. FS für P. Kirchhof, 2013, § 70 Rn. 5, 6, 14–23. 88  Isensee, Meinungsfreiheit (o. Fn. 73), 189 (192). 89  Von einer „ungewöhnlich detaillierten Schrankenregelung“ sprechen Grote/Wenzel, Meinungsfreiheit (o. Fn. 83), Rn. 26. 90  Dazu passt, dass der EGMR den Mitgliedsstaaten bei Maßnahmen, die negative Auswirkungen auf die politische Rede oder die Erörterung von Fragen öffentlichen Interesses haben, einen nur sehr begrenzten Einschätzungs- und Handlungsspielraum zubilligt. Ebd., Rn. 12. 91  Zur Unterscheidung zwischen Tatsachenbehauptungen und Werturteilen in der Judikatur des EGMR ausführlich Grabenwarter/Pabel, Europäische (o. Fn. 85), § 23 Rn. 28. 92  C. Grabenwarter, in: Maunz/Dürig (o. Fn. 70), Art. 5 I, II GG (2013), Rn. 10–12, 19; ders./Pabel, Europäische (o. Fn. 85), § 18 Rn. 7–24; vgl. auch S. Mückl, Meinungsäußerungsfreiheit versus Religionsfreiheit: Anforderungen aus menschenrechtlicher Sicht, in: E. Klein (Hrsg.), Meinungsäußerungsfreiheit versus Religions- und Glaubensfreiheit, 2007, 81 (104 ff.). 86 87

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nur rechtliche, sondern auch faktische Grundrechtsbeeinträchtigungen, unter letzteren vor allem auch solche, die auf Entfaltung administrativer, politischer oder wirtschaftlicher Macht bzw. physischen oder psychischen Drucks beruhen und geeignet sind, „lähmende Wirkungen“ („chilling effects“) auf zukünftige Meinungsäußerungen einer Person auszuüben.93 Hier dürfte die Schnittmenge mit manchem, was gelegentlich als „Political Correctness“ diskutiert wird, nicht klein sein. Mehrfach hat der EGMR darauf bestanden, Verhaltensweisen zu unterlassen, die „unnötig die religiösen Gefühle anderer verletzen und keinen Beitrag zur Meinungsbildung in einer die Allgemeinheit wesentlich berührenden Frage leisten“. Da kein einheitlicher europäischer Standard über ein „unnötig verletzendes“ Verhalten im Bereich der Religion existiert, räumt der Gerichtshof den Mitgliedstaaten hier einen weiten Beurteilungsspielraum ein.94 Die Beschränkung einer Meinungsäußerung kann dem Schutz des religiösen Friedens im Sinne des gedeihlichen Zusammenlebens von Menschen unterschiedlicher Religionen in einer Gesellschaft dienen. Ein solches „Klima von gesellschaftlicher Toleranz in Glaubensfragen“ ist Voraussetzung für die ungestörte Ausübung der Religion.95 Welche Bedeutung hat Art. 10 EMRK für die Auslegung von Art. 5 GG? Das BVerfG zieht die EMRK „in mittlerweise ständiger Rechtsprechung als Auslegungshilfe heran, freilich nur, soweit das Niveau des Grundrechtsschutzes nicht unter jenes des GG gedrückt wird.“96 Dabei kann es aus verschiedenen Gründen nicht um eine schematische Umsetzung der Entscheidungen des EGMR gehen, aber die Wertungen der Straßburger Entscheidungen sind ohne Abstriche zu beachten. Das gilt für alle Organe der Exekutive und alle Instanzgerichte in Deutschland.97 b) Art. 5 GG: Zur grundsätzlichen Bedeutung der Meinungsäußerungsfreiheit „Meinungsfreiheit ist Risiko“, denn auch rassistische, fundamentalistisch-theokratische oder politisch-extreme Vorstellungen sind „Kinder der Meinungsfreiheit – und wenden sich zugleich gegen diese selbst“. Es ist die „inhaltliche Neutralität des Staates gegenüber allen Meinungen, die ein Verbot wegen der Gefährlichkeit ihrer geisti Grote/Wenzel, Meinungsfreiheit (o. Fn. 83), Rn. 64 und öfter.  Ebd., Rn. 102 (Hervorh. durch LH). – Die Problematik Gefühle zu schützen wird unten unter III.5.d) (4) erörtert. 95  K. Pabel, Grundrechtsbeschränkungen bei grenzüberschreitenden Konfliktlagen, in: JRP (Journal für Rechtspolitik) 2006, 92 (94). 96  Grabenwarter, Art. 5 I, II GG (o. Fn. 92), Rn. 16, auch 17 und 18. 97  H.-J.  Papier, Umsetzung und Wirkung der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte aus der Perspektive der nationalen deutschen Gerichte, EuGRZ 2006, 1. Vgl. auch M. Hong, Caroline von Hannover und die Folgen – Meinungsfreiheit im Mehrebenensystem zwischen Konflikt und Kohärenz, EuGRZ 2011, 214; M.  Jestaedt, Meinungsfreiheit, in: HGR (D. Merten/H.-J. Papier [Hrsg.], Handbuch der Grundrechte) IV, 2011, § 102 Rn. 107 ff.; Mückl, Meinungsäußerungsfreiheit (o. Fn. 92), 81 (114 ff.). 93 94

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gen Wirkung prinzipiell ausschließt.“ Grundsätzlicher gewendet, nämlich in seiner für die Demokratie zentralen Dimension: „Die Meinungsfreiheit gilt nicht nach Maßgabe mehrheitlicher Entscheidungen, sondern mehrheitliche Entscheidungen gelten nach Maßgabe einer freien politischen Diskussion.“.98 Noch grundsätzlicher: „Demokratie ohne die Möglichkeit öffentlicher Meinung kann nicht bestehen; sie bleibt Fassade für einen anderen politischen Gehalt.“ So stellte das BVerfG schon 1958 im grundlegenden Lüth-Urteil99 fest, das Grundrecht der Meinungs-, Presseund Informationsfreiheit sei schlechthin konstituierend für die Demokratie.100 Gleichwohl ist die Meinungsfreiheit nicht nur funktional ­unverzichtbare Voraussetzung eines vitalen demokratischen Willensbildungsprozesses, sondern auch klassisch individualrechtlich Element kommunikativer Selbstentfaltung.101 c) Zum Schutzbereich von Art. 5 I GG In beiden Wirkungsweisen wäre „eine Begrenzung des Schutzbereichs auf ein bestimmtes Spektrum zulässiger Meinungen sinnwidrig bzw. kontraproduktiv“.102 Der Staat hat die Qualität einer Meinungsäußerung nicht zu bewerten. Dieses Grundrecht deckt nicht nur kritische und provozierende, sondern auch alberne, dümmliche und sogar bösartige Meinungsäußerungen.103 Zugespitzt: Jeder darf sich also selbst  Die Zitate dieses Abschnitts bei J. Masing, Meinungsfreiheit und Schutz der verfassungsrechtlichen Ordnung, JZ 2012, 585 (585, 586). 99  BVerfGE 7, 198 (208) – Lüth; vgl. C. Fiedler, BVerfGE 7, 198 – Lüth. Freiheitsrechte, Gesetze und Privatrecht am Beispiel des Art. 5 I, II GG, in: J. Menzel/R. Müller-Terpitz (Hrsg.), Verfassungsrechtsprechung, 32017, 113. 100  E.-W. Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: HStR II, 32004, § 24 Rn. 68. 101  C. Hillgruber, Die Meinungsfreiheit als Grundrecht der Demokratie. Der Schutz des demokratischen Resonanzbodens in der Rechtsprechung des BVerfG, JZ 2016, 495 (495). 102  Hillgruber, Die Meinungsfreiheit (o. Fn. 101), 495 (495). 103  Das BVerfG trennt unter dem Gesichtspunkt des Meinungsschutzes in ständiger Rechtsprechung Werturteile – diese seien stets Meinungen, die darauf zielten, geistige Wirkungen zu erzielen – von Tatsachenbehauptungen, bei denen die objektive Beziehung zwischen der Äußerung und der Realität im Vordergrund stehe und die auch einer Überprüfung auf ihren Wahrheitsgehalt zugänglich seien (Jestaedt, Meinungsfreiheit [o. Fn. 97], Rn. 35.). Zur Kritik an dieser Unterscheidung ebd., Rn. 36 f. sowie in Rn. 35 Anm. 160. In der Praxis jedoch kommt dieser Unterscheidung wenig Bedeutung zu: „Nur Tatsachenbehauptungen, die weder mit Werturteilen verbunden noch für die Bildung von Meinungen relevant sind, fallen aus dem Schutzbereich von Art. 5 I S. 1 he­raus, z. B. Angaben im Rahmen statistischer Erhebungen“ (BVerfGE 65, 1 [41]) (B.  Pieroth/B.  Schlink, Grundrechte. Staatsrecht II, 24. Aufl. 2008, Rn. 554.) Da also, so bezieht B. Rüthers (Meinungsfreiheit und Ehrenschutz bei Kollektivurteilen  – Zur Zulässigkeit von Pauschalbeleidigungen, NJW 2016, 3337 [3340]) eine kritische Position zu dieser Rechtsprechung des BVerfG, gemischte Äußerungen im Zweifel insgesamt als Wertungen behandelt würden, bliebe ein Angegriffener im Ergebnis ohne Abwehrmittel gegen irreführende Tatsachenelemente. Zudem müssten die Medien die Wahrheit der von ihnen aufgestellten Behauptungen nicht beweisen; dem BVerfG genüge es, dass diese die tatsächlichen Umstände, aus denen sie ihre Behauptungen herleiten, substanziiert darlegten. Sieht sich der Einzelne dem „Organisations- und Machtapparat eines Massenmediums“ gegenüber, sei die Chancenungleichheit offensichtlich. Das entspreche einer „grundgesetzwidrige(n) Pri98

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so gut blamieren, wie er kann; dabei darf ihm kein Staatsorgan „über den Mund fahren“. Das BVerfG104 rechnet selbst die „Verbreitung totalitärer und menschenverachtender Ideologien“ mit den Mitteln des geistigen Meinungskampfes dem Schutzbereich von Art.  5 I S.  1 zu.105 Hier ist wichtig, auf die geistige Dimension des Meinungskampfes abzustellen. Jede geistige Auseinandersetzung bedarf eines Diskurses, der in Gewaltfreiheit stattfindet. Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit ist also sehr großzügig dimensioniert, gleichwohl ist er nicht unbegrenzt. Auch Wort und Bild können Waffen darstellen, die in Form von Satire und Karikatur prinzipiell unter den Schutz von Art. 5 I GG fallen,106 obwohl „Kurt Tucholskys Sentenz, Satire dürfte alles, heute einer teleologischen Reduktion bedarf“.107 Denn wer darf schon alles? Darf man wirklich auch auf Kosten anderer unbegrenzt seine  – ggf. künstlerisch Effekt heischend verpackte – Meinung der Öffentlichkeit kundtun? Allerdings fordert das Grundrecht der Meinungsfreiheit, die spezifischen Darstellungsmittel von Karikatur und Satire bei der rechtlichen Bewertung zu berücksichtigen: So sind etwa Aussagekern und satirische Einkleidung jeweils selbstständig zu beurteilen mit der möglichen Folge, dass einer der Teile eine selbstständige Persönlichkeitsverletzung darstellt.108 d) Eingriffe und deren verfassungsrechtliche Rechtfertigung (Art. 5 II GG) Auch bei den Mohammed-Karikaturen stellen sich derartige Fragen. Von muslimischer Seite – immerhin von den in Dänemark residierenden Botschaftern aus insgesamt elf islamischen Ländern  – wurde vom (dänischen) Staat ein massiver Eingriff gefordert, nämlich diese Karikaturen zu verbieten und gegen das Publikationsorgan rechtlich vorzugehen.109 Damit der (deutsche) Staat deren Publikation und Verbreitung – oder die ähnlicher Erzeugnisse – untersagen könnte110 und ein Eingriff verfassungsrechtlich gevilegierung der Medienfreiheit im Verhältnis zum Persönlichkeits- und speziell zum Ehrenschutz“ und stehe „im Widerspruch zu den Grundbedingungen einer funktionsfähigen Demokratie“, die darauf angewiesen sei, dass „freie Frauen und Männer sich in ihr engagierten“, deren „personale Integrität bei diesem Engagement in ausreichendem Maße gewährleistet sei“. 104  BVerfGE 124, 300 (320) – Wunsiedel. 105  Ausführlich Jestaedt, Meinungsfreiheit (o. Fn. 97), Rn. 34 ff. (40). 106  Speziell zu Karikatur und Satire C. Degenhart, in: Bonner Kommentar zum GG, Art. 5 I, II GG (2017), Rn. 130. 107  Bethge, Meinungsfreiheit (o. Fn. 75), Rn. 14 (Hervorh. nicht im Original). 108  Degenhart, Art. 5 I, II GG (Fn. 106), Rn. 130. 109  Mückl, Freiheit des Glaubens (o. Fn. 74), 97 (98). Der dänische Staat hatte diese Forderung abgelehnt. 110  Zu den Schranken der Kommunikationsfreiheit allgemein, zu denen er auch noch Sonderstatus-Verhältnisse wie im Fall von Beamten, Richtern, Lehrern, Hochschullehrern etc. zählt, ausführlich E.  Schmidt-Jortzig, Meinungs- und Informationsfreiheit, in: HStR VII, 32009, §  162 Rn. 48 ff.

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rechtfertigt wäre, sind weitere Kriterien zu beachten: zuerst einmal die durch Art. 5 II GG normierte Schrankentrias,111 konkret auch das Verbreiten von Lüge, das Vorliegen von Hassrede, die Anstiftung zu Straftaten, Volksverhetzung, die Beschimpfung von Religionsgesellschaften, die Beleidigung oder das Vorliegen von „Schmähkritik“. Im folgenden gilt es näher zu beleuchten, in welchen Fällen ein Eingriff in die Meinungsfreiheit prinzipiell gerechtfertigt wäre: (1) Ob die bewusste Verbreitung erwiesener Unwahrheit aus dem Schutzbereich herausfällt oder erst auf Schrankenebene abgewiesen wird, ist umstritten. Ähnliches gilt für das relativ neuartige Phänomen der Hassrede (hate speech).112 Die rechtlichen Grenzen sind bei beiden in Deutschland überschritten (bei hate speech in den USA hingegen meist nicht). (2) Wenn etwa zu Straftaten angeleitet oder aufgefordert wird bzw. zur Volksverhetzung, markieren die §§ 130 a bzw. 130 StGB die vom Staat gesetzten Grenzen. (Auf Kritik an einem Grenzfall, den das BVerfG in seinem „Wunsiedel-Beschluss“ 2009113 markierte, wird am Ende dieses Beitrags unter V. eingegangen.) (3) Ebenfalls klar überschritten ist die Akzeptanzbereitschaft des Staates bei Vorliegen von „Schmähkritik“. Darunter versteht das BVerfG in ständiger Rechtsprechung, wenn bei einer Äußerung nicht mehr die Auseinandersetzung in der Sache, sondern die Diffamierung der Person im Vordergrund steht. „Merkmal der Schmähkritik ist die das sachliche Anliegen völlig in den Hintergrund drängende persönliche Kränkung.“114 Bei Bejahung von Schmähkritik, zu der man erst nach sorgfältiger Auslegung der inkriminierten Äußerung unter Berücksichtigung deren Anlasses und Kontextes gelangen könne, „hat die Meinungsfreiheit ‚regelmäßig‘ hinter dem Ehrschutz zurückzutreten, sodass sich eine umfassende Abwägung erübrigt“.115 Das BVerfG hat offen gelassen, ob sich Schmähkritik auch auf nicht personenbezogene Rechtsgüter beziehen kann, z.  B. im Falle der Blasphemie auf Verhalten und Verkündigung des Propheten Mohammed im Islam.116 Klar ist jedoch, dass es sich bei Schmähkritik um Werturteile handelt, die auf Personen bezogen sind, da die Schmähung einen Angriff auf den Würdekern der Ehre

111  „Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre.“ (Hervorh. durch LH). 112  Vgl. Bethge, Meinungsfreiheit (o. Fn. 75), Rn. 18 und 16; W. Brugger, Verbot oder Schutz von Haßrede? Rechtsvergleichende Beobachtungen zum deutschen und amerikanischen Recht, AöR 128 (2003), 372. 113  Positive Würdigung des „Wunsiedel-Beschlusses“ (BVerfGE 124, 300) im Sinne eines Konsistenzzuwachses der Schrankendogmatik nach Art. 5 II GG durch Jestaedt, Meinungsfreiheit (o. Fn. 97), Rn. 67. 114  BVerfGE 93, 266 (303). 115  B. Rox, Schutz religiöser Gefühle im freiheitlichen Verfassungsstaat?, 2012, 50. 116  Dies ablehnend Rox, Schutz (o. Fn. 115), 49 ff. (52).

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eines Menschen darstellt. Das gilt prinzipiell auch für Personengruppen.117 Damit erscheint Schmähkritik für die Mohammed-Karikaturen nur begrenzt relevant: Sie lässt sich zwar auf die Personengruppe der Muslime beziehen; es müsste jedoch gezeigt werden, inwiefern die einzelne Karikatur ein Werturteil nicht nur über Mohammeds Verhalten und Religion, sondern vor allem über diese einzelnen Gläubigen aufstellt. (4) §  166 StGB stellt die Beschimpfung von Bekenntnissen und Religionsgesellschaften unter Strafe, sofern diese Beschimpfung geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören. Dieser soll geschützt werden, nicht weiterhin – das war bis 1969 anders – ein Bekenntnis. Manche wünschen sich eine Reform dieses Paragrafen, die eher an der Vergangenheit Maß nimmt. Wäre das sinnvoll? Um viele Argumente auf ihren Kern zu reduzieren: Bei der Beschimpfung geht es um eine geistige Auseinandersetzung, möglicherweise auch eine scharfe und polemische, bei der bei den Betroffenen sicher auch religiöse Gefühle verletzt werden. Diese stellen für sich genommen aber keine rechtlich schutzpflichtige Kategorie dar, da die Gefühle der Menschen letztlich nicht prognostizierbar sind. Der Staat kann in einer pluralistischen Gesellschaft nicht die Gefühle – auch nicht die religiösen – aller Menschen schützen, denn was konkret sollte er angesichts solcher Heterogenität dann schützen? Der Sensibelste würde dann das Schutzniveau bestimmen. Der rechtsstaatlichen Anforderung der Vorhersehbarkeit könnte kaum Genüge getan werden. Solange es also bei der geistigen Auseinandersetzung bleibt, selbst wenn sie scharf geführt wird, bedarf sie der Zivilcourage der angegriffenen Gläubigen – oder der Klugheit, die religiöse Provokation im Internet nicht anzuklicken bzw. das Fernsehen auszustellen, wenn man sich damit jetzt nicht auseinandersetzen will. Zudem ist es auch nicht verboten, sich auf religiös scharfe Auseinandersetzungen einzustellen. Denn Konfrontation ist unvermeidliche Folge grundrechtlicher Freiheit. Eines speziellen rechtlichen Schutzes durch einen eigenen Paragrafen für „Religiöses“ bedarf es, über das hinaus, was etwa durch § 130 StGB (Volksverhetzung) oder §  185 StGB (Beleidigung) inkriminiert ist, nicht – zumal § 130 I StGB eine religiöse Komponente enthält. 1929 kommentierte Kurt Tucholsky (unter Pseudonym) eine Blasphemie-Entscheidung des Reichsgerichts: „Die Kirche versuche zu überzeugen – sie siege im Zeichen des Kreuzes, nicht im Zeichen des Landgerichtsdirektors.“ Jenseits allen Zynismus' lohnt es sich, den Gehalt dieser Aussage auf sich wirken zu lassen und gut zu reflektieren.118  Rüthers (Meinungsfreiheit [o. Fn. 103], 3337) kritisiert drei neuere Beschlüsse der 3. Kammer des Ersten Senats des BVerfG, in der der Ehrenschutz gegenüber der Meinungsfreiheit zurück zu stehen habe, wenn wegen der Gruppengröße (bspw. bei Soldaten, Polizisten) die Ehre des einzelnen Gruppenmitglieds nicht tangiert sei. Allerdings ist dies unterhalb der Schmähkritik angesiedelt, denn gegen „herabsetzende Werturteile sind sie (die Mitglieder derartiger Gruppen, LH) bis zur Grenze der Schmähkritik rechtlich wehrlos“ (ebd., 3337 [3340], Hervorh. nicht im Original). 118  Zu diesem Absatz statt vieler: B.  Rox, Vom Wert der freien Rede  – Zur Strafwürdigkeit der Blasphemie, JZ 2013, 30 (32 ff.); dies., Schutz (o. Fn. 115), 223 ff. (250, 254 ff., 257); Grimm, Nach dem Karikaturenstreit (o. Fn. 74), 21 (34); Mückl, Freiheit des Glaubens (o. Fn. 74), 97 (110); Isensee, Meinungsfreiheit (o. Fn. 73), 189 (193 f.). 117

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(5) Da auch § 130 StGB (Volksverhetzung) auf den öffentlichen Frieden abstellt, sei ein näherer Blick auf diesen geworfen. Hier geht es nicht um ein „allgemeines Friedensgefühl“ oder eine Vergiftung „des gesellschaftlichen Klimas“, sondern um das Grenzgebiet hin zur Gewalttätigkeit. Es geht um die Aufrechterhaltung des friedlichen Miteinanders, eine der Früchte von Toleranz zwischen den Bürgern. Es geht, so das BVerfG in seinem Wunsiedel-Beschluss von 2009, um die Außenwirkungen von solchen Meinungsäußerungen, die z.  B. durch Appelle oder Emotionalisierungen bei den Angesprochenen Handlungsbereitschaft auslösen oder Hemmschwellen herabsetzen oder Dritte unmittelbar einschüchtern.119 Wenn mithin Religionsbekenntnis und -ausübung in einem bestimmten Milieu deutlich mehr als die gerade ersuchte Zivilcourage erfordern, nämlich Heldentum und Heroismus (wie etwa seit Jahren von den Christen in der Türkei, im Irak, in Ägypten), kann man von öffentlichem Frieden keineswegs mehr sprechen.120 Die Bedeutung von Toleranz unter Bürgern ist offensichtlich: Je mehr Toleranz, desto breiter und sicherer ist der öffentliche Frieden. e) Rechtspolitische Überlegungen Diese Konturen des öffentlichen Friedens müssen mehr Maßstab auch für die Instanzgerichte werden. E.-W.  Böckenförde fordert, der Staat müsse „Religion und religiöse Lebenskraft“ auch vor „Anfeindungen und Verunglimpfungen, die über freie und offene, auch religionskritische Diskussion und Auseinandersetzung hi­ nausgehen“, schützen.121 D. Grimm sieht keinen Hinderungsgrund dafür, dass der Gesetzgeber im Kontext von § 130 I StGB ein religionsspezifisches Diffamierungsverbot aufstellt, obwohl die Volksverhetzung sich schon jetzt im Wege der Interpretation auf religiöse Diffamierung anwenden lasse.122 J. Isensee hält das Potenzial der polizei- und ordnungsrechtlichen Generalklausel zum Schutz religiöser Belange für keineswegs ausgereizt: Der Rechtstitel der öffentlichen Ordnung biete der Verwaltung eine Grundlage, unter Berücksichtigung „des in der konkreten sozialen Umwelt Üblichen und Zumutbaren“ Ärgernissen vorzubeugen und wilde Provokationen zu unterbinden, auch wenn so „lediglich Konfrontationen im Einzelfall“ gelöst und verhindert werden könnten. Diese Klausel sei jedoch nicht zur breiten Anwendung geeignet.123

 BVerfGE 124, 300 (334 f.).  Isensee, Meinungsfreiheit (o. Fn. 73), 189 (196). 121  Böckenförde, Der säkularisierte Staat (o. Fn. 50), 26. 122  Grimm, Nach dem Karikaturenstreit (o. Fn. 74), 21 (35). 123  Isensee, Meinungsfreiheit (o. Fn. 73), 189 (198). 119 120

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f) Internationale (außereuropäische) Dimension Die Auseinandersetzung um die Mohammed-Karikaturen hatten eine internationale Dimension, da die Gewaltanwendungen gegen europäische Einrichtungen und die meisten Todesfälle im islamisch geprägten Ausland stattfanden. Bis dahin reicht der Arm eines europäischen Staates aber nur sehr begrenzt. Völkerrechtliche Verträge und außenpolitische Bemühungen, etwa die Logik der europäischen Grundrechtspositionen zu verdeutlichen, können dort einiges erleichtern und stabilisieren. Jedoch ist es offensichtlich ohne Mitwirkung der dortigen Staaten meist nicht leicht, die eigenen Botschaften, Konsulate, Goethe-Institute, die dort wirkenden Stiftungen, ja nicht einmal seine dort lebenden Staatsangehörigen gut zu schützen. Denn der Geltungsbereich der Rechtsordnung ist das inländische Staatsgebiet, auch die Hoheitsgewalt des Staates beschränkt sich grundsätzlich auf sein eigenes Staatsgebiet. Insgesamt erscheinen diese Konfliktlösungsmechanismen im Fall der Mohammed-Karikaturen zumindest kurzfristig kaum friedensstiftende Wirkung gehabt zu haben.124 Die Toleranz der ausländischen Bürger  – in islamischen Ländern meist Muslime – in deren Heimat wäre ein unmittelbarer Beitrag zum friedlichen, gewaltlosen Miteinander auch mit den bei ihnen lebenden (z. B. europäischen) Ausländern.

IV. Verengung der Toleranz-Grenzen gegenüber dem Vertrauen auf die freie geistige Auseinandersetzung? Zum Wunsiedel-Beschluss des BVerfG Wie gesehen unterliegt die Meinungsfreiheit einer Schrankentrias nach Art.  5 II GG, deren erstes Element die „Vorschriften der allgemeinen Gesetze“ darstellen. Darunter sind gemäß BVerfG125 in ständiger Rechtsprechung „Gesetze zu verstehen, die nicht eine Meinung als solche verbieten, die sich nicht gegen die Äußerung der Meinung als solche richten, sondern dem Schutz eines schlechthin ohne Rücksicht auf eine bestimmte Meinung zu schützenden Rechtsguts dienen“. Dabei muss „die Norm im politischen Kräftefeld als gegenüber verschiedenen Gruppierungen offen“ erscheinen und sich die „verbotene Meinungsäußerung grundsätzlich aus verschiedenen politischen, religiösen oder weltanschaulichen Grundpositionen ergeben“ können. Für Eingriffe in die Meinungsfreiheit gilt „ein spezifisches und striktes Diskriminierungsverbot gegenüber bestimmten Meinungen“. Negativ formuliert: „An der Allgemeinheit eines Gesetzes fehlt es, wenn eine inhaltsbezogene Meinungsbeschränkung nicht hinreichend offen gefasst ist und sich von vornherein nur gegen bestimmte Überzeugungen, Haltungen oder Ideologien richtet.“  Pabel, Grundrechtsbeschränkungen (o. Fn. 95), 92 (96 f.); grundsätzlich M. Ruffert, Diplomatischer und konsularischer Schutz, in: HStR X, 32012, § 206 Rn. 30 ff.; F. Becker, Grenzüberschreitende Reichweite deutscher Grundrechte, in: HStR XI, 32013, § 240 Rn. 35 ff., 73 ff., 106 ff. 125  Zum folgenden BVerfGE 124, 300 (Rn. 54, 58, 59, 57 und 61). 124

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Bezogen auf § 130 IV StGB, durch den pönalisiert wird, „den öffentlichen Frieden in einer die Würde der Opfer verletzenden Weise dadurch“ zu stören, dass der Beklagte „die nationalsozialistische Gewalt- und Willkürherrschaft billigt, verherrlicht oder rechtfertigt“, ist die Beurteilung des BVerfG nicht überraschend: „Hiervon ausgehend ist § 130 IV StGB kein allgemeines Gesetz.“ Wenn es so steht, kann die Schlussfolgerung nur lauten: § 130 IV StGB ist mit Art.  5 I, II GG nicht vereinbar, also verfassungswidrig. Die Entscheidung des BVerfG126 jedoch lautet: „§ 130 IV StGB ist auch als nichtallgemeines Gesetz mit Art. 5 I und II GG vereinbar.“ Diese Entscheidung ist mehr als nur eine kleine Überraschung. Wie lässt sich ein derartiger gedanklicher Strukturbruch begründen? Aus den weiteren Ausführungen wird schnell deutlich, dass das Gericht dem Gesetzgeber deshalb nicht „in den Arm fallen“ wollte, weil es sich hierbei um eine enge und einmalige Ausnahme handeln soll: • eng, weil sie nicht dem NS-Gedankengut (das GG kennt „kein allgemeines antinationalsozialistisches Grundprinzip“), sondern der historisch verifizierbaren NS-Gewalt- und Schreckensherrschaft von 1933 bis 1945 gilt, und • einmalig, da dieses Gericht selbst verdeutlicht, dass zum einen das GG weithin „geradezu als Gegenentwurf zu dem Totalitarismus des nationalsozialistischen Regimes gedeutet“ werden kann und darauf ausgerichtet ist, „eine Wiederholung solchen Unrechts ein für alle Mal auszuschließen“. Zum anderen stellt das BVerfG klar, diese Ausnahme sei eine „auf andere Konflikte nicht übertragbare einzigartige Konstellation“. Auch wenn der Ausnahmecharakter127 diesen rechtssystematischen Strukturbruch keineswegs heilen, allenfalls kaschieren kann, drängt sich die Frage auf: Ist 60 Jahre nach Ende der NS-Schreckensherrschaft  – Absatz IV von §  130 StGB wurde erst 2005 eingefügt, die Entscheidung des BVerfG stammt von 2009 – die Demokratie nicht gefestigt genug, um auch mit den in § 130 IV StGB inkriminierten Behauptungen hinreichend souverän umzugehen? Wem nützt ein solcher blinder Fleck der Meinungsfreiheit? Immerhin betont dieses Gericht zurecht, dass „die Verantwortung für die notwendige Zurückdrängung […] gefährlicher Ideen der Kritik in freier Diskussion“ belassen bleibe.128 Insgesamt ist es nicht überzeugend, dass sowohl der Gesetzgeber als auch, ihm folgend, das BVerfG in diesem Punkt ihre Toleranz-Grenzen gegenüber dem Vertrauen auf die freie geistige Auseinandersetzung – Kern der Meinungsfreiheit – enger gezogen haben als sonst.

 Zum folgenden BVerfGE 124, 300 (Rn. 64, 67, 65 und 66).  Masing, Meinungsfreiheit (o. Fn. 98), 585 (587 f., 590 f.) zeigt die rechtsdogmatischen Entwicklungslinien dieses BVerfG-Beschlusses aus der in der Weimarer Republik diskutierten Sonderrechtslehre einerseits und der Auffassung von Smend andererseits auf und reklamiert für das BVerfG „eigene Wege“ mit Elementen beider Lehren (ebd., 585 [591]). Vgl. auch M. Hong, Das Sonderrechtsverbot als Verbot der Standpunktdiskriminierung – der Wunsiedel-Beschluss und aktuelle versammlungsgesetzliche Regelungen und Vorhaben, DVBl 2010, 1267. 128  BVerfGE 124, 300 (Rn. 68). 126 127

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Anmerkungen von J. Isensee129 setzen beide Themen – Blasphemie durch Karikatur und Satire sowie Leugnung der NS-Gewaltherrschaft  – in eine interessante Beziehung, die zugleich deutlich macht, dass die Grenzziehungen in beiden Fällen völlig unterschiedlich ausfallen: „Die Schüchternheit, die hierzulande obwaltet, wenn es um den Schutz der christlichen Religion geht, schlägt um in leidenschaftliche, unnachsichtige Härte, mit der ein jeder verfolgt wird, der an die politische Weltanschauung der Deutschen rührt: die Abkehr vom Nationalsozialismus. Diese trägt alle Züge einer Zivilreligion im Sinne Rousseaus.“ Isensee weiter: „‚Nach Auschwitz‘ ist der Beginn einer neuen Zeitrechnung.“ Vor der furchtbaren Wahrheit der NS-Zeit „verstummt selbst die Satire. Die Spaßgesellschaft gelangt wenigsten hier zu heiligem Ernst.“ Und „das BVerfG gibt dem zivilreligiösen Impuls nach“ und nimmt diesen Absatz von § 130 StGB „als extrakonstitutionelles Sonderrecht hin.“ Letztlich sieht Isensee „den Schutz der Zivilreligion als Kontrastfolie zum Schutz der christlichen Religion. Was dort verpönt ist, lebt hier wieder auf: heiliger Eifer, heilige Strenge, gesellschaftliche Überhitzung, rechtsstaatliche Abnormität“. Trotz der überzeichnenden Zuspitzung liegt in diesen Überlegungen doch ein bedenkenswerter Kern: Mit zweierlei so unterschiedlichem Maß zu messen, erscheint weder überzeugend noch angebracht.

V. Zum Neben- und Miteinander von Toleranz und Freiheitsrechten: Toleranz als Verfassungsvoraussetzung Die Ausgangsfrage dieses Beitrags lautete: Können Toleranz und Freiheitsrechte – hier Religionsfreiheit, Meinungsfreiheit, auch Kunst- und Pressefreiheit – auch nebeneinander und sogar miteinander existieren? In diesem Beitrag wurde immer wieder zu zeigen versucht, wie hilfreich und manchmal wichtig Toleranz zwischen Bürgern ist, wie ohne sie in bestimmten Konstellationen selbst ein staatlich verbürgtes Freiheitsrecht „leer liefe“, nicht richtig zum Tragen käme. Der Staat jedoch kann Toleranz unter Bürgern weder herstellen noch verordnen, er kann nur Voraussetzungen schaffen – vor allem auch durch Erziehung und Bildung –, unter denen dieser Geist und ein solches Klima gedeihen können – als eine Bedingung von Toleranz. Mit dem Böckenförde-Theorem130 wurde schon in den 1960er-Jahren der Rahmen grundsätzlich ausgeflaggt.

 Isensee, Meinungsfreiheit (o. Fn. 73), 189 (198 f.).  E.-W. Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: ders., Recht, Staat, Freiheit, 6. Aufl. 2006 (1991), 92 (112 und ff.). Der oft zitierte Kernsatz (im Original kursiv): „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Es lohnt sich aber, über diesen Kernsatz hinaus weiter zu lesen. 129 130

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Viel spricht dafür, Toleranz als eine Verfassungsvoraussetzung131 anzusehen:132 In diesem Sinne stellt horizontale Toleranz unter Bürgern eine Bedingung dafür dar, dass Verfassungsnormen gut erfüllt werden können. Gänzlich ohne Toleranz blieben Freiheitsrechte oft „auf dem Papier“, denn es würde z. B. das friedliche Zusammenleben mit Andersgläubigen oder Nichtgläubigen oder mit Menschen mit akzentuiert anderer Meinung fehlen, ohne das Religion oder Meinungsartikulation nicht ausgeübt werden könnten. Der Wirkungsgrad einer Verfassungsnorm kann höher oder niedriger sein, je nachdem, wie die Verfassungsvoraussetzung Toleranz gelebt wird.133 Dr. Lothar Häberle,  geb. 1954 in Frankfurt/Main, 1973 Abitur, Studium der Staatswissenschaften (bes. VWL) in Bonn und Köln, 1978 Diplom-Volkswirt und 1982 Promotion zum Dr.rer.pol. an der Univ. zu Köln, mehrjährige Tätigkeit in der Politikberatung, u. a. für einen Landesminister. Derzeit wissenschaftlicher Referent und stv. Direktor des Lindenthal-Instituts in Köln sowie Generalsekretär der Lindenthal-­Stiftung. Veröffentlichungen und Seminare zum Religionsrecht, zu Toleranz, Relativismus, zum Spannungsfeld von Sicherheit und Freiheit, zu Ehe und Familie, Migrations- und Flüchtlingspolitik, Internet-Regulierung.

 Zu Verfassungsvoraussetzungen allgemein J. Isensee, Grundrechtsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen an die Grundrechtsausübung, in: HStR IX, 32011, §  190 Rn.  55  ff., 81  ff., 195 ff.; A. Uhle, Verfassungsvoraussetzungen, in: H. Kube u. a. (Hrsg.), Leitgedanken (o. Fn. 75), § 14 Rn. 2 ff. 132  So Hassemer, Religiöse Toleranz (o. Fn. 8), 48; vgl. auch Häberle, Religionsfreiheit (o. Fn. 1), 35 (73 f.). 133  S. Uhle, Verfassungsvoraussetzungen (o. Fn. 131), Rn. 3 (dort Anm. 4). 131

Europäische Presse- und Meinungsfreiheit im Zeitalter des Internets Verena Hoene

Inhaltsverzeichnis I. Problemstellung  II. Situation in Deutschland  1. Die Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste (RL 2010/13/EU vom 10. März 2010 in der Fassung v. 14. November 2018 – RL 2018/1808), kurz AVMD-Richtlinie  2. Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr (RL 2000/31/EG vom 08. Juni 2000), kurz E-Commerce-Richtlinie  3. Umsetzung in nationales Recht  III. Umgang der Rechtsprechung mit Hassreden – einige Beispiele  1. Anwendbares Recht und Gerichtsstand  2. Haftungsprivilegierung  3. Ermittlung der Rechtswidrigkeit durch den Diensteanbieter  4. Haftung für Ergänzungsvorschläge („Auto-Complete“)  5. Presseprivileg  6. Ein Blick nach Straßburg  7. Europäische Rechtsprechung  IV. Zusammenfassung 

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I. Problemstellung Das Internet ist aus unserem Alltag nicht mehr weg zu denken – diese Aussage ist schon zu einer Plattitüde geworden. Wir haben uns längst an den schnellen und unkomplizierten Zugriff auf Informationen jeder Art gewöhnt, seien es Nachrichten, die über die Online-Ausgaben „herkömmlicher“ Medien schneller als je zuvor, aber unter Umständen doch noch langsamer als über einschlägige Social Media-­ V. Hoene (*) Kanzlei Heuking Kühn Lüer Wojtek, Köln, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Häberle (Hrsg.), Islam – Meinungsfreiheit – Internet, https://doi.org/10.1007/978-3-662-59426-1_5

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Angebote verbreitet werden, seien es Übersetzungsdienste, lexikalische Angebote, Videos, Fotos, selbst die Speisekarte des ortsansässigen „Italieners“. Der Austausch mit Familie, Freunden, Kollegen oder Geschäftspartnern kann jederzeit unabhängig von Zeitzonen oder Aufenthaltsorten erfolgen. Schließlich dient das Internet auch als Verbindungs- und Kommunikationsform in Gegenden, in denen ansonsten starke Reglementierungen der Presse- und Meinungsfreiheit herrschen. Es gibt allerdings auch ein anderes Internet; ein Ort mit weitgehend unkontrolliertem und in jedem Fall anonymem Austausch von Informationen jeglicher Art, mit schlimmsten Verwerfungen. Das Internet mäandriert somit zwischen einem Füllhorn und der berüchtigten Büchse der Pandora. Dem Einen zu entsprechen und das Andere einzudämmen, ist eine nur schwer lösbare Aufgabe für Politik und Rechtsprechung. Eine besondere Brisanz hat diese Thematik mit dem Erstarken rechtspopulistischer Parteien einerseits, aber auch zunehmender Radikalisierung muslimischer Jugendlicher und junger Erwachsener andererseits erhalten.

II. Situation in Deutschland Die Landeszentrale für politische Bildung in NRW hat im Jahr 2015 eine Broschüre herausgegeben mit dem Titel „Islamismus  – Propaganda Verstöße Gegenstrategien“.1 Der Inhalt wird wie folgt beschrieben: „Islamismus im Internet ist unter Jugendschutzgesichtspunkten ein großes Problem. Vor allem Angebote aus dem Salafismus sind jugendaffin gestaltet und richten sich an eine junge Zielgruppe. Diese Angebote transportieren Versatzstücke einer totalitären Ideologie, negieren Freiheitsrechte und verunglimpfen die Demokratie. Werte und Lebensformen moderner, pluralistischer Gesellschaften werden abgelehnt. Stattdessen soll eine theokratische Herrschaftsform errichtet werden, in der die Scharia als religiöses Gesetz alle Lebensbereiche bestimmt. Die zugrunde liegende Ideologie der Ungleichwertigkeit teilt Menschen in Gläubige und Ungläubige ein und legitimiert Hass auf Personen, die nicht in das Weltbild passen.“ Rechtsextreme Onlinestrategien etwa der Webseite PI („Politically Incorrect“) oder unzensiert.at waren wiederum Gegenstand eines interaktiven Webtalks der Bundeszentrale für politische Bildung, und der aktuelle Verfassungsschutzbericht2 führt „Hasspostings“ in unterschiedlichen Plattformen, Diskussionsforen oder auf Internetseiten als eine Ursache für persönliche Radikalisierungsprozesse auf.3 Die naheliegende Reaktion, die man sicher an den meisten Stammtischen zu hören bekommt, ist die Forderung nach einem generellen Verbot derartiger Foren. Dies ist allerdings sowohl rechtlich wie auch praktisch schwierig. Kommunika Landeszentrale für politische Bildung Nordrhein-Westfalen, 40190 Düsseldorf Bestellnummer 1603 Z. 2  Verfassungsschutzbericht 2016, Bundesministerium des Inneren. 3  Ebd., S. 60 f. 1

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tion – zumal eine, die über das Internet erfolgt – macht an Landesgrenzen nicht halt. Die Europäische Union hat daher in einigen Rechtsakten das grenzüberschreitende Anbieten und Nutzen von Kommunikationsformen reguliert. Die beiden wesentlichen Richtlinien werden nachfolgend vorgestellt:

1. Die Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste (RL 2010/13/ EU vom 10. März 2010 in der Fassung v. 14. November 2018 – RL 2018/1808), kurz AVMD-Richtlinie Die Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste regelt den gesamten Bereich der redaktionellen Kommunikation, bei der die Bereitstellung von Sendungen zur Information, Unterhaltung oder Bildung der Öffentlichkeit über ein elektronisches Kommunikationsnetz den Hauptzweck darstellt. Dazu gehört also nicht nur das klassische Fernsehprogramm, bei dem der Anbieter die Übertragung festlegt (sog. linearer Dienst), sondern auch nicht-lineare nutzerindizierte Abrufdienste, wie die immer beliebter werdenden Streaming-Angebote. Ferner umfasst der Regelungsbereich der Richtlinie die audiovisuelle kommerzielle Kommunikation, wie etwa Fernsehwerbung, Sponsoring, Teleshopping-Kanäle oder Produktplatzierung.4 Nicht in den Anwendungsbereich der Richtlinie fallen demgegenüber solche Dienste, die der privaten Kommunikation zuzurechnen sind (unabhängig von der potenziellen Empfängerzahl), wie etwa E-Mails, Blogs oder private Webseiten, sofern die audiovisuellen Inhalte dort nur eine Begleiterscheinung darstellen (Bsp.: Einblendung einer Videosequenz auf einer privaten Facebook-Seite), aber auch Werbekanäle auf Video-­Sharing-Plattformen,5 außerdem (Online-)Zeitungen und Zeitschriften,6 auch wenn sie eingebettete Video-Clips enthalten. Online-Informationsdienste, Dienste, die Inhalte Dritter bereithalten, die Zugang zu einem Informationsdienst bieten oder Informationen mittels eines solchen Dienstes anbieten, Social Media-­ Dienste, E-Mail-Dienste oder Suchmaschinenbetreiber fallen vom Grundsatz her ebenfalls nicht unter die AVMD-Richtlinie. Diese (Dienst-)Leistungen werden weitgehend durch die Richtlinie 2000/31/EG v. 8. Juni 2000 („Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr“, auch „E-Commerce-Richtlinie“) erfasst (dazu siehe nachfolgend unter 2.) Der Unterschied ist insofern signifikant, als audiovisuelle Mediendienste anderen regulatorischen Anforderungen unterworfen sind als nach der E-Commerce-Richtlinie, insbesondere bei journalistisch-redaktionellen Angeboten besonderen Informationspflichten unterliegen (Art.  55 RStV[Rundfunk-­ Staatsvertrag]).  S. aber die Vorlagefrage des BGH zur Anwendbarkeit der AVMD-Richtlinie bei Werbevideos auf Online-Videokanälen, BGH (Bundesgerichtshof), Vorlagebeschluss vom 12.01.2017  – I ZR 117/15, CR (Computer und Recht) 2017, S. 403. 5  EuGH (Europäischer Gerichtshof), Urteil vom 21.02.2018, C-132/17, WRP (Wettbewerb in Recht und Praxis) 2018, S. 543 – Peugeot Deutschland/Deutsche Umwelthilfe; BGH, Urteil vom 13.09.2018 – I ZR 117/15, CR (Computer und Recht) 2019, S. 49 – YouTube-Werbekanal II. 6  Begründungserwägung 28 der AVMD-Richtlinie. 4

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Die im Jahr 2010 erstmals in Kraft getretene Richtlinie entsprach nicht mehr der zunehmenden Medienkonvergenz, was sich gerade auch zur Europawahl 2019 am Beispiel des umstrittenen Rezo-Videos7 zeigte. Rezo – ein sog. „YouTuber“ – setzte sich dort bekanntlich redaktionell mit den etablierten Parteien, insbesondere der CDU, auseinander. Als journalistisch-redaktionelles Angebot unterliegt aber auch ein YouTube-Auftritt grundsätzlich den Regelungen des Rundfunkstaatsvertrags und damit auch den Anforderungen an journalistische Sorgfalt (die bezüglich des Rezo-Videos aber nicht beanstandet wurde), der Impressumspflicht und insbesondere dem Trennungsgebot von Werbung und Redaktion. Das Beispiel zeigt, wie sehr die noch 2010 (einigermaßen) abgrenzbare redaktionelle Kommunikation mit der privaten fusioniert, nicht nur hinsichtlich der Zahl der erreichbaren Empfänger, sondern auch speziell hinsichtlich der Inhalte. Gerade das Phänomen, dass über Video-­ Sharing-­Plattformen nicht nur in kurzer Zeit sehr viel mehr Zuschauer, sondern auch ganz andere Zielgruppen erreicht werden können, geriet damit einmal mehr in den Focus. Die Kommission hat dies bereits 2016 aufgegriffen und die Überarbeitung der AVMD-Richtlinie vorangetrieben, weniger allerdings wegen der aktuell erkennbaren Verschmelzung privater und redaktioneller Kommunikation, sondern vor dem Hintergrund zunehmender problematischer Inhalte im Netz, in erster Linie unter dem Gesichtspunkt des Jugendschutzes. Mit der im Jahr 2018 erfolgten Neufassung der AVMD-Richtlinie wurden daher wesentliche Änderungen durchgesetzt. Diese betreffen insbesondere Plattformen wie etwa Online-Videotheken, aber auch Facebook, YouTube oder anderen Video-Sharing-Plattformen. Kapitel IXa enthält daher detaillierte Regelungen gerade zum Schutz von Minderjährigen und zur Trennung der kommerziellen von journalistisch-redaktionellen Inhalten. Zudem werden die Mitgliedstaaten zur Kontrolle rechtswidriger, gewaltverherrlichender oder diskriminierender Inhalte verpflichtet.8 Auch müssen die Video-Sharing-Plattformen effiziente Vorkehrungen treffen, mit denen anstößige Inhalte gemeldet werden können. Diese Regelungen betreffen nunmehr auch Online-Zeitungen, wenn sie audiovisuelle Sendungen in einem von ihrer Haupttätigkeit abgrenzbaren Bereich anbieten. Für audiovisuelle Mediendienste wurden zudem die Vorschriften für Werbung und Produktplatzierung in Kinderprogrammen verschärft. Weiterhin enthält die Richtlinie auch Vorschriften zum Schutz personenbezogener Daten von Kindern. So müssen die Mitgliedstaaten das Sammeln von Daten Minderjähriger unterbinden, sofern diese Daten für nutzungsbasierte Werbung und Profiling verwendet werden sollen. Vorgesehen ist auch, dass wenigstens 30 % der Angebote der Video-on-Demand-­ Plattformen europäische Produktionen enthalten müssen.

7  Abrufbar unter https://www.youtube.com/watch?v=4Y1lZQsyuSQ; Anfang Februar 2020 verfügte das Video über mehr als 16,5 Millionen Abrufe. 8  S. Richtlinie (EU) 2018/1808 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. November 2018 zur Änderung der Richtlinie 2010/13/EU zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Bereitstellung audiovisueller Mediendienste (Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste) im Hinblick auf sich verändernde Marktgegebenheiten, ABl. EU (Amtsblatt der Europäischen Union) 2018 L 303, 69.

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Für audiovisuelle Mediendienste gilt weiterhin das Herkunftslandprinzip (Art. 2 der Richtlinie). Unionsstaaten dürfen die Kommunikation nicht behindern, z. B. durch Störsender. Die Mitgliedstaaten können zwar einen Abrufdienst aus Gründen des Schutzes der öffentlichen Ordnung, z. B. aus Jugendschutzgründen, zur Bekämpfung von rassenfeindlichen oder diskriminierenden Äußerungen, unterbinden, aber nur, wenn der Sitzstaat des jeweiligen audiovisuellen Mediendienstes vorher zur Abhilfe aufgefordert wurde und der betroffene Mitgliedstaat sowie die Kommission über die ergriffenen Maßnahmen informiert werden.9 Gleiches gilt, wenn ein Mitgliedstaat für die in seinem Hoheitsgebiet ansässigen Mediendienste strengere Regeln aufstellt. Bietet ein Mediendienst seine Leistungen vorrangig in diesem Staat an, kann der Dienst unterbunden werden, wenn er den – begründeten – strengeren Regeln nicht entspricht und sich der betreffende Mitgliedstaat nicht mit dem Sitzstaat des Anbieters über vergleichbare strengere Regelungen verständigen konnte.10 Dies gilt aber wiederum nur, wenn die strengeren Regelungen objektiv erforderlich und nicht diskriminierend sind und die Kommission sowie der Sitzstaat des Dienstanbieters über die Zugangsbeschränkungen informiert werden. In beiden Fällen hat die Kommission das Recht, die Entscheidung des jeweiligen Mitgliedstaats zu überprüfen. Um einen möglichst einheitlichen europäischen Rahmen zu schaffen, ist mit der Novellierung der AVMD-Richtlinie auch die Einrichtung einer „Gruppe europäischer Regulierungsbehörden“ (ERGA) verbunden, die die Aufgabe hat, neben einem Erfahrungsaustausch den Mitgliedstaaten u.  a. Fragen, die aus dem Herkunftslandsprozess resultieren, zu koordinieren.

2. Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr (RL 2000/31/EG vom 08. Juni 2000), kurz E-CommerceRichtlinie Die E-Commerce-Richtlinie stellt die praktisch bedeutsamere Regelung dar, weil durch sie alle Telemediendienste erfasst werden, bei der redaktionelle oder kommerzielle Kommunikation nicht der Hauptzweck sind. Sie sieht für die Sperrung eines Dienstes eine der AVMD-Richtlinie vergleichbare Regelung vor.11 Daneben enthält die E-Commerce-Richtlinie aber noch einige Vorschriften, die für das hier zu behandelnde Thema relevant sind: die weitgehende Haftungsfreistellung derjenigen Anbieter, die Informationen nur durchleiten (Art.  12), kurzzeitig speichern (Art. 13) oder hosten (Art. 14). Zudem untersagt die Richtlinie das Auferlegen allgemeiner proaktiver Überwachungspflichten (Art. 15). Die Privilegierungen gelten allerdings nur dann, wenn der Diensteanbieter von einem rechtswidrigen Inhalt keine Kenntnis hat, Informationen nicht auswählt oder sie verändert und bei Kennt Art. 3 Abs. 2 der AVMD-Richtlinie.  Art. 4 der AVMD-Richtlinie. 11  Art. 3 Abs. 4 der E-Commerce-Richtlinie. 9

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nis von einem rechtswidrigen Verhalten sofort (Gegen-)Maßnahmen ergreift.12 Die E-Commerce-Richtlinie gilt im Übrigen ergänzend auch für audiovisuelle Mediendienste.13

3. Umsetzung in nationales Recht Die beiden Richtlinien sind in Deutschland im Wesentlichen im Telemediengesetz (TMG) und im RStV umgesetzt worden. Das TMG trennt anders als die beiden Richtlinien nicht zwischen audiovisuellen Diensten und privater Kommunikation, sondern nimmt in § 1 Abs. 1 nur Negativabgrenzungen zum Rundfunk – für den der Bund keine Gesetzgebungskompetenz hat –, den Telekommunikationsdiensten14 und den telekommunikationsgestützten Diensten15 vor. Im Übrigen sind in richtlinienkonformer Umsetzung der vorgestellten Regelungen Telemediendienste anmelde- und zulassungsfrei. Sie unterliegen dem Herkunftslandprinzip und enthalten in den §§ 7 bis 10 TMG die aus der E-Commerce-Richtlinie übernommenen Haftungsprivilegierungen des Diensteanbieters. Daneben sieht das TMG eine Verpflichtung der Diensteanbieter vor, Nutzern einen anonymen oder pseudonymen Zugang zu ihren Leistungen zu ermöglichen, soweit dies technisch möglich und zumutbar ist.16 Dies ist wiederum ein Ausfluss aus Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG. Eine Verpflichtung, sich namentlich zu einer bestimmten Äußerung zu bekennen, begründet die Gefahr, aus Furcht vor negativen Auswirkungen Selbstzensur vorzuneh­men.17 Der RStV sieht in Telemedien mit redaktionell-journalistischen Inhalten in den Art. 54 ff. Regelungen vor, insbesondere zu Informationspflichten. Eine wesentliche Einschränkung der erst einmal unbeschränkten elektronischen Kommunikation ist jedoch seit dem 1. Oktober 2017 in Kraft. Die zunehmende Verbreitung von „Fake News“, aber auch von Hassreden, diskriminierenden, diffamierenden und strafrechtlich relevanten Inhalten haben nach einiger öffentlicher Diskussion zum Erlass des „Gesetz zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken“ (Netzwerkdurchsetzungsgesetz  – NetzDG) geführt.18 Das NetzDG legt Telemediendiensteanbietern, die mit Gewinnerzielungsabsicht Social

 Näher zum Zusammenspiel von AVMD-Richtlinie und E-Commerce-Richtlinie auch B.  Raji, Kollisionen der Plattformregulierung des Entwurfs der Kommission zur AVMD-Richtlinie mit der geltenden E-Commerce-Richtlinie, AfP (Archiv für Presserecht) 2017, 192. 13  Art. 4 Abs. 7 der AVMD-Richtlinie. 14  S. § 3 Nr. 24 TKG (Telekommunikationsgesetz): in der Regel gegen Entgelt erbrachte Dienste, die ganz oder überwiegend in der Übertragung von Signalen über Telekommunikationsnetze bestehen, einschließlich Übertragungsdienste in Rundfunknetzen. 15  S. § 3 Nr. 25 TKG: Dienste, die keinen räumlich und zeitlich trennbaren Leistungsfluss auslösen, sondern bei denen die Inhaltsleistung noch während der Telekommunikationsverbindung erfüllt wird. 16  § 13 Abs. 6 TMG. 17  BGH, Urt. 23.06.2009 – VI ZR 196/08, WRP 2009, 979, 983 – Spick mich. 18  BT-Drs. 18/12356 v. 16.05.2017. 12

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Media-Plattformen betreiben, besondere Handlungspflichten auf, sofern diese mehr als zwei Millionen registrierte Nutzer haben. Gehen bei einem dieser Anbieter in einem Kalenderjahr mehr als 100 Beschwerden über rechtswidrige Inhalte ein, muss der betroffene Betreiber halbjährlich einen deutschsprachigen Bericht über seinen Umgang mit den Beschwerden erstellen und im Bundesanzeiger sowie auf der eigenen Homepage spätestens einen Monat nach Ende eines Halbjahrs leicht erkennbar, unmittelbar erreichbar und ständig verfügbar veröffentlichen. In dem Bericht ist u. a. darauf einzugehen, welche Anstrengungen unternommen werden, um strafbare Handlungen auf den Plattformen zu überwinden, welche Beschwerdemöglichkeiten gegeben sind, über die Anzahl der im Berichtszeitraum eingegangenen Beschwerden, organisatorische, fachliche und personelle Ausstattung der für die Bearbeitung zuständigen Mitarbeiter, Mitgliedschaft in Branchenverbänden, Anzahl der Beschwerden, bei denen eine externe Stelle konsultiert wurde, Anzahl der Beschwerden, die zu einer Löschung oder Sperrung führten, Zeit zwischen Beschwerdeeingang und Löschung oder Sperrung, gegliedert nach Zeiträumen „innerhalb von 24 Stunden“/„innerhalb von 48 Stunden“/„innerhalb einer Woche“/„zu einem späteren Zeitpunkt“ sowie Maßnahmen zur Unterrichtung des Beschwerdeführers.19 Ferner muss der Anbieter ein wirksames und transparentes Verfahren zum Umgang mit Beschwerden vorhalten, das zeitnahe Löschungen ermöglicht und einer ständigen Kontrolle unterliegt. Verstöße gegen diese Verpflichtungen sind bußgeldbewehrt (bis zu 5  Mio.  EUR).20 Um die Durchsetzbarkeit zu gewährleisten, muss der Anbieter einen inländischen Zustellbevollmächtigten bestimmen. Die Notwendigkeit, gezielt gegen die Verbreitung diffamierender Inhalte im Internet vorzugehen, ist unstreitig und wird auch von Social Media-Anbietern nicht in Frage gestellt. So teilte Facebook mit, allein in Deutschland 600 Prüfer für die Überprüfung von Beschwerden eingesetzt zu haben, und man plante, diese Zahl bis Ende 2017 auf 700 zu erhöhen.21 Das NetzDG wirft allerdings einige Fragen auf. Zunächst einmal muss es sich an den zwingenden Vorgaben der vorgestellten Richtlinien messen lassen, namentlich der E-Commerce-Richtlinie. Zwar sieht die E-Commerce-Richtlinie in Art. 3 Abs. 4 eine Eingriffsmöglichkeit eines Mitgliedstaats gegen Anbieter aus einem anderen EU-Staat zum Schutz der öffentlichen Ordnung vor. Nach Art. 3 Abs. 4 lit a) ii) gilt dies aber jeweils nur für einen be § 2 NetzDG.  Daneben bleibt §  130 OWiG (Gesetz über Ordnungswidrigkeiten) anwendbar. Daher können auch Inhaber eines Social Media-Unternehmens in Anspruch genommen werden, wenn diese ihren Aufsichts- und Kontrollpflichten nicht nachkommen. Über den Verweis in § 4 Abs. 2 NetzDG auf § 30 Abs. 2 S. 3 OWiG erhöht sich das Bußgeld auf 50 Mio. EUR, wenn es gegen juristische Personen oder Personenvereinigungen festgesetzt wird; das Bußgeld kann bei Anwendbarkeit des § 17 Abs. 4 OWiG, auf den § 30 Abs. 3 OWiG verweist, sogar noch höher ausfallen, wenn ein Unternehmen wirtschaftliche Vorteile aus der Ordnungswidrigkeit gezogen hat. In diesem Fall ist sogar die gesetzlich vorgesehene Höchstsumme zu überschreiten. 21  Facebook Germany GmbH, Stellungahme zum Entwurf des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes, abrufbar unter https://www.bmjv.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/Stellungnahmen/2017/ Downloads/05242017_Stellungnahme_Facebook_RefE_NetzDG.pdf?__blob=publicationFile&v=2. 19 20

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stimmten Dienst der Informationsgesellschaft und nicht pauschal für alle Anbieter, die die Hürde von zwei Millionen registrierten Nutzern überschreiten.22 Zudem wer­ den hier Verfahrensvorschriften der Richtlinie missachtet, beispielsweise die Pflicht, vor Ergreifen einer solchen Maßnahme den Sitzstaat des Anbieters und die Kommis­ sion zu benachrichtigen.23 Letztlich ist zwar der Ansatz, die Verbreitung von Hassreden dort zu bekämpfen, wo sie entstehen – bei den Social Media-Anbietern – nach­ vollziehbar. Eine eigentlich hoheitliche Aufgabe, die Bekämpfung von Straftaten, wird damit aber auf eine privatrechtliche Ebene verlagert. Das NetzDG sieht keine Verpflichtung des Social Media-Anbieters vor, Anzeige zu erstatten oder über die allgemeinen Auskunftspflichten hinaus mit Ermittlungsbehörden zu kooperieren. Zudem bürdet das NetzDG den privaten Anbietern die Aufgabe auf, zu entscheiden, was eine (noch zulässige) Meinungsäußerung ist und wann schon ein rechtswidriger Inhalt i. S. der in § 1 Abs. 3 genannten Straftatbestände vorliegt.24 Daher stellt sich die Frage, ob nicht an anderer Stelle gehandelt werden sollte, und zwar bei den Stel­ len, die sich kompetent und effizient um die Verfolgung und Ahndung rechtsverletzender Inhalte kümmern, d. h. der Staatsanwaltschaft oder der Justiz.25 Eine „Erfolgsstory“ scheint das NetzDG auch nicht zu sein. So meldete Facebook in seinem zweiten halbjährlichen Bericht,26 dass insgesamt 159 Beschwerden (von 500) zulässig waren und zur Löschung von 369 Inhalten (von 1048) führten. Erfolgreicher waren immerhin Eingaben bei YouTube oder Twitter. YouTube löschte im zweiten Halbjahr 2018 nach eigenen Angaben rund 55.000 Inhalte bei rund 251.000 Eingaben27 und Twitter veröffentlicht einen umfangreichen, aber auch schwer nachvollziehbaren Transparenzbericht.28 Zumindest konnten die Zahlen nicht die häufig laut gewordene Kritik der Beschnei­ dung von Meinungs- und Informationsfreiheit aufgrund der hohen Bußgeldandrohung in Verbindung mit zeitlichem Entscheidungsdruck der Betreiber – was zu einem sog. Overblocking führen sollte – bestätigen. Denn ausweislich der Transparenzberichte wurde nur ein Bruchteil der beanstandeten Beiträge auch tatsächlich gesperrt.  Kritisch beispielsweise nur G. Spindler, Der Regierungsentwurf zum Netzwerkdurchsetzungsgesetz – europarechtswidrig?, ZUM (Zeitschrift für Urheber- und Medienrecht) 2017, 473; F. Kalscheuer/C. Hornung, Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz – Ein verfassungswidriger Schnellschuss, NVwZ (Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht) 2017, 1721; N.  Guggenberger, Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz in der Anwendung, NJW (Neue Juristische Wochenschrift) 2017, 2577. 23  Zur Europarechtswidrigkeit s. auch T. Hoeren, Netzwerkdurchsetzungsgesetz europarechtswidrig, Beitrag v. 30.03.2017, abrufbar unter https://community.beck.de/2017/03/30/netzwerkdurchsetzungsgesetz-europarechtswidrig. 24  Zu den daraus resultierenden Schwierigkeiten kann auf die zahlreichen Löschungen verwiesen werden, die Kommunikationsdienste wie Twitter nach Ablauf der Übergangsfrist vornahmen und die sogar einen Tweet des verantwortlichen Justizministers umfassten; s. dazu exemplarisch S. Leutheuser-Schnarrenberger, Hebt das NetzDG wieder auf!, Handelsblatt v. 09.01.2018. 25  S. auch G. Nolte, Hate-Speech, Fake-News, das „Netzwerkdurchsetzungsgesetz“ und Vielfaltsicherung durch Suchmaschinen, ZUM 2017, 552. 26  Abrufbar unter https://de.newsroom.fb.com/news/2019/01/facebook-veroeffentlicht-zweiten-­ netzdg-transparenzbericht/. 27  https://transparencyreport.google.com/netzdg/youtube. 28  https://transparency.twitter.com. 22

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Dabei lässt sich natürlich nicht ausschließen, dass die Beschwerdefunktion häufig auch missbräuchlich für Beiträge verwendet wurde, die offensichtlich von der Meinungsfreiheit gedeckt sind.29 Defizite des NetzDG sind mittlerweile erkannt worden. Die Bundesregierung hat einen Gesetzesentwurf zur Änderung des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes30 vorgelegt. Darin sind insbesondere Verbesserungen beim Meldewesen beanstandeter Berichte vorgesehen wie auch ein „­ Gegenvorstellungsverfahren“ und die Möglichkeit einer Schlichtung. Zudem werden nach den Änderungen der AVMD-Richtlinie auch Videoplattformen erfasst.

III. Umgang der Rechtsprechung mit Hassreden – einige Beispiele Entscheidungen zu Hassreden, unwahren Empfehlungen oder Bewertungen, Be­ leidigungen oder sonstigen Rechtsverletzungen namentlich über Social Media-­ Anbieter gibt es unzählige. Nachfolgend können daher nur einige Grundsätze aufgezeigt werden, die nach und nach durch die Rechtsprechung entwickelt wurden. Vorrangige Frage bei grenzüberschreitenden Sachverhalten ist neben der Zuständigkeit deutscher Gerichte zunächst die Frage des anwendbaren Rechts. Hier hat die Rechtsprechung erfreulicherweise in den letzten Jahren einige Grundsätze entwickelt. Ferner stellt sich regelmäßig die Frage der Verantwortung eines Plattformbetreibers und seiner Handlungspflichten.

1. Anwendbares Recht und Gerichtsstand Unter den zahlreichen Entscheidungen zu Zuständigkeitsfragen bietet sich die „blogspot“-Entscheidung an. Dieser lag zusammengefasst folgender Sachverhalt zugrunde: Der Kläger war Geschäftsführer einer in Deutschland ansässigen GmbH, die nach Abweisung eines Antrags auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens mangels Masse aufgelöst wurde. Nunmehr ist der Kläger Geschäftsführer einer anderen Gesellschaft. Die Beklagte mit Sitz in Kalifornien stellt die Infrastruktur und die Plattform für die Webseite www.blogger.com bereit. Nutzer können dort eigene Blogs einrichten. Ein Blogger nutzt diese Funktion zur Einrichtung eines eigenen Blogs und veröffentlichte dort einen Eintrag „Hat Pleitier [der Kläger] ein Intelligenzproblem“. In dem Blog wurde sodann berichtet, dass die Visakarte des Klägers gesperrt wurde, die dieser im Wesentlichen zur Begleichung von Sex-Club-Rechnungen genutzt habe. Der Kläger begehrt von der Beklagten, die weitere Verbreitung dieser Aussage zu unterlassen.31  Vgl. L. I. Löber/A. Roßnagel, Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz in der Umsetzung, MMR (MultiMedia und Recht) 2019, 73. 30  abrufbar unter https://www.bmjv.de. 31  BGH, Urteil vom 25.10.2011 – VI ZR 93/10, AfP 2012, 50 – blogspot.com. 29

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Der BGH entschied, dass die deutschen Gerichte gemäß §  32 ZPO zuständig sind, weil der als rechtsverletzend beanstandete Inhalt objektiv einen deutlichen Bezug zum Inland hatte. Dies sei immer dann zu bejahen, wenn eine Kenntnisnahme der beanstandeten Meldung nach den Umständen des konkreten Falls im Inland erheblich näher liegt, als es aufgrund der bloßen Abrufbarkeit des Angebots der Fall wäre, und die vom Kläger behauptete Beeinträchtigung seines Persönlichkeitsrechts durch eine Kenntnisnahme von der Meldung (auch) im Inland eintreten würde.32 Desgleichen sei materielles deutsches Recht anwendbar. Dies bestimmt sich nach den Art.  40  ff. EGBGB (Einführungsgesetz zum BGB).33 NachArt.  40 EGBGB hat der Verletzte ein Wahlrecht zwischen dem Recht des Handlungs- und dem des Erfolgsorts, sofern der Handelnde und der Verletzte zum Zeitpunkt der Handlung ihren Wohnsitz in unterschiedlichen Staaten haben.

2. Haftungsprivilegierung Der BGH stellte sodann fest, dass die Beklagte nicht der Haftungsprivilegierung des TMG unterliegt. Dies überrascht zunächst, denn die Haftungsfreistellung des Host Providers stellt gerade eine der Grundsätze der E-Commerce Richtlinie dar. Nach ständi­ ger Rechtsprechung gilt die Haftungsfreistellung aber nicht für Unterlassungsansprüche, da nach dem TMG lediglich die strafrechtliche Haftung und die Schadensersatzhaftung ausgenommen sind.34 Für den Unterlassungsanspruch kommt es hingegen darauf an, ob der Host Provider (also der Beklagte im genannten Fall) als Störer an der Verletzungshandlung mitgewirkt hat. Störer ist nach der Rechtsprechung des VI. Zivilsenats des BGH, wer, ohne Täter oder Teilnehmer zu sein, in irgendeiner Weise willentlich und adäquat kausal zur Beeinträchtigung des Rechtsguts beiträgt.35 Begrenzt wird die Störerhaftung aber durch die Frage, inwieweit diesem unter Berücksichtigung seiner Funktion und Aufgabenstellung sowie mit Blick auf die Eigenverantwortung desjenigen, der die eigentliche rechtswidrige Handlung begangen hat, eine Prüfung zuzumuten ist.

 Vgl. auch BGH, Urteil vom 02.03.2010 – VI ZR 23/09, AfP 2010, 167 – New York Times; BGH, Urteil vom 29.03.2011  – VI ZR 111/10, AfP 2011, 265  – womenineurope.de; EuGH, Urteil v. 25.10.2011 – C-509/09, NJW 2012, 137 – eDate-advertising; s. dazu auch die Schlussanträge des Generalanwalts i.S. BolagsupplysningenOÜ u. a./. Svensk Handel AB v. 13.07.2017 – C-194/16. 33  Gemäß Art. 1 Abs. 2 lit g) der an sich auf außervertragliche Schuldverhältnisse anwendbaren Rom II-Verordnung, die hier vorrangig anwendbar wäre, sind Ansprüche aus der Verletzung des Persönlichkeitsrechts ausgenommen. 34  St. Rspr. (ständige Rechtsprechung), s. nur BGH, Urteil vom 27.03.2007 – VI ZR 101/06, AfP 2007, S. 350; BGH, Urteil vom 01.03.2016 – VI ZR 34/15, AfP 2016, S. 253 – Ärztebewertungsportal III. 35  BGH, Urteil vom 30.06.2009 – VI ZR 210/08, GRUR (Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht) 2009, 1093. 32

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3. Ermittlung der Rechtswidrigkeit durch den Diensteanbieter Ein Hostprovider ist nicht verpflichtet, Beiträge Dritter vor Veröffentlichung proaktiv zu prüfen. Erlangt er jedoch Kenntnis von einer Rechtsverletzung, muss er künftig derartige Verletzungen verhindern, vorausgesetzt, die Rechtsverletzung ist offenkundig. Lässt sich die Rechtswidrigkeit nicht ohne weiteres feststellen, ist der Hostprovider zu einer Abwägung zwischen dem Recht des Betroffenen auf Schutz seiner Persönlichkeit (Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 GG, Art. 8 EMRK) und dem Recht des Äußernden auf Meinungs- und Medienfreiheit (Art. 5 GG, Art. 10 EMRK) verpflichtet.36 Der Hostprovider muss daher die Beanstandung an den Äußernden zur Stellungnahme weiterleiten. Bleibt eine Stellungnahme aus, ist von der Berechtigung der Beanstandung auszugehen und die Äußerung zu löschen. Wird die Beanstandung substantiiert in Abrede gestellt, muss sich der Hostprovider wiederum an den Betroffenen wenden und Nachweise verlangen, aus denen sich die Rechtsverletzung ergeben könnte. Erst nach Einholung dieser Informationen ist der Beitrag zu löschen, wenn sich danach eine rechtswidrige Verletzung des Persönlichkeitsrechts herausstellt. An die Prüfungspflicht des Hostproviders sind dabei strenge Anforderungen zu stellen. Es genügt beispielsweise bei einem Bewertungsportal nicht, es bei einer unsubstantiierten Stellungnahme des Äußernden zu belassen. Vielmehr müssen konkrete Nachweise für die Kritik des Bewertenden angefordert werden.37 Des Weiteren haftet der Hostprovider dann, wenn er sich eine Äußerung zu eigen macht. Davon ist auszugehen, wenn ein Portalbetreiber nach außen hin die inhaltliche Verantwortung für die auf seiner Internetseite veröffentlichten Inhalte übernommen hat.38 Überprüft der Portalbetreiber beispielsweise eine Äußerung und nimmt daran Veränderungen vor, übernimmt er eine eigene aktive Rolle, die zur Eigenhaftung führt.

4. Haftung für Ergänzungsvorschläge („Auto-Complete“) Der BGH hielt in einer weiteren Entscheidung fest, dass Ergänzungsvorschläge eines Suchmaschinenbetreibers eine Persönlichkeitsrechtsverletzung begründen können. Dies ist nach dem BGH dann der Fall, wenn der Suchmaschinenbetreiber eine rechtsverletzende Suchwortergänzung nach Kenntnis von der dadurch bewirkten  BGH, Urteil vom 01.03.2016 – VI ZR 34/15, AfP 2016, S. 253 – Ärztebewertungsportale III.; zur Haftung eines Suchmaschinenbetreibers s. BGH, Urteil vom 29.04.2010 – I ZR 69/08, AfP 2010, S. 265 – Vorschaubilder. 37  St. Rsp. BGH, AfP 2018, 230 – Jameda III; BGH, Urteil vom 01.03.2016 – VI ZR 34/15, AfP 2016, 253 – Ärztebewertungsportal II; s. auch LG (Landgericht) München I, Urt. v. 03.03.2017 – 25 O 1870/15. 38  BGH, Urteil vom 04.04.2017 – VI ZR 123/16, AfP 2017, 316 – klinikbewertungen.de; BGH, AfP 2010, 369; BGH, Urteil vom 19.03.2015 – I ZR 94/13, AfP 2015, 543 – Hotelbewertungsportal. 36

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Rechtsverletzung nicht beseitigt. Dies gilt ausdrücklich für computergenerierte ­Ergänzungsvorschläge.39

5. Presseprivileg Das OLG Saarbrücken hatte unlängst über eine Veröffentlichung auf einer Pressewebseite zu entscheiden. Dort wurde wie folgt über einen Facebook-Eintrag des Schriftstellers A.P. berichtet:40 „P. provoziert Mordaufruf EXTREMISMUS Ein Bestsellerautor hetzt auf Facebook gegen eine P. – und findet Beifall. Den „Genderlesben 8x9 mm in das Gehirn zu jagen“, fordert ein Kommentator. „Noch vor dreißig Jahren hätte man so eine Alte in den Knast gesteckt und sie so lange dort behalten, bis sie verrottet wäre. Heute werden die Eltern der Kinder, welche diese Arschfick-Affine ganz offiziell verderben darf, von unserer ebenfalls arschgefickten Regierung gezwungen, mit ihren Steuergeldern ihr monatlich ein Gehalt in Höhe eines Chefarztes zu zahlen – sonst kommen sie ins Gefängnis“. Wer schreibt so etwas? A. P. Der ist Schriftsteller. Und Bestsellerautor. Mit seinem neuen Buch „Deutschland von Sinnen. Der irre Kult um Frauen, Homosexuelle und Zuwanderer“ hat er eine Hass-­ Debatte angefacht …“

Der Kläger – der in dem Beitrag mit Klarnamen genannte E. S. – begehrte von der Beklagten Unterlassung mit der Begründung, hier liege eine identifizierende Berichterstattung vor. Die Berichterstattung beeinträchtige sein Privatleben, indem sein Fehlverhalten öffentlich gemacht werde und ihn negativer Reaktionen aussetze. Das OLG wies die Klage unter anderem mit der Begründung ab, bei der gebotenen Abwägung des Rechts des Klägers auf Schutz seiner Persönlichkeit und Achtung seines Privatlebens aus Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 GG, Art. 8 Abs. 1 EMRK (Recht auf Achtung der Privatsphäre) mit dem in Art. 5 Abs. 1 GG, Art. 10 EMRK verankerten Recht der Beklagten auf Meinungs- und Pressefreiheit überwiege letztere. Es gehöre zu den Aufgaben der Presse, Verfehlungen aufzuzeigen. Dies erlaube in Einzelfällen auch eine personalisierte Darstellung, wenn dies ein geeignetes Mittel sei, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf den Missstand von Hassbotschaften im Internet zu lenken. Der Kläger sei zudem aus freien Stücken mit seinem Post auf der Facebook-Seite des Schriftstellers P an die Öffentlichkeit gegangen. Darin liege eine Selbstöffnung.

 BGH, Urteil vom 14.05.2013  – VI ZR 269/12, NJW (Neue Juristische Wochenschrift) 2013, 2348 – Google Autocomplete. 40  OLG (Oberlandesgericht) Saarbrücken, Urteil vom 30.06.2017  – 5 U 17/16, MDR (Monatsschrift für Deutsches Recht) 2017, 1122. 39

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6. Ein Blick nach Straßburg Verfahren, die Internetportale oder dort eingestellte Posts betreffen, werden auch beim EGMR (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) immer häufiger behandelt. Ein paar Beispiele: Der EGMR musste im Jahr 2016 über einen Fall entscheiden, in dem auf einem ungarischen Webportal Nachrichten eingestellt wurden, die von Nutzern kommentiert werden konnten. Die Kommentare wurden vor Einstellung nicht überprüft, die Beschwerdeführer – die Betreiber des Webportals – stellten ein Informationssystem bereit, über das auf bedenkliche Einträge hingewiesen werden konnte. Zu einem Beitrag der Beschwerdeführer „Wieder ein unethisches Geschäftsgebaren im Netz“ erfolgten einige Kommentare, die sich zu den beschriebenen Immobilien-­Webseiten verhielten und diese teilweise als „Mist“ oder als „noch ein verbrecherischer Skandal“ bewerteten. Die Beschwerdeführer wurden von ihrem (ungarischen) Heimatgericht wegen dieser Kommentare zur Leistung von Schadensersatz verurteilt. Anders der EGMR. Der EGMR prüfte, ob die ungarischen Gerichte einen gerechten Ausgleich zwischen den Rechten der Beschwerdeführer nach Art. 10 EMRK auf Presse- und Kommunikationsfreiheit und dem Interesse der klagenden Gesellschaften aus Art. 8 EMRK hergestellt hatten.41 Dies verneinte der EGMR. Dabei müsse berücksichtigt werden, dass das Internet wegen seiner Zugänglichkeit und der Fähigkeit, große Datenmengen zu speichern und zu verbreiten, eine bedeutende Rolle dabei spiele, den allgemeinen Zugang zu Nachrichten zu verbessern und die Verbreitung von Nachrichten insgesamt zu erleichtern. Dem müsse man die mögliche Wirkung der angegriffenen Meldung bei der Beurteilung der Pflichten und der mit der Verbreitung einhergehenden Verantwortung gegenüber stellen. Vorliegend seien diese noch nicht in den Bereich von Hassreden einzuordnen. Dies habe das ungarische Gericht nicht ausreichend berücksichtigt. Anders der EGMR in einem etwas älteren Fall.42 Die Beschwerdeführerin, eine estnische Gesellschaft, betreibt das Internet-Nachrichtenportal „Delfi“, das ebenfalls über eine Kommentarfunktion verfügt. Auch hier gibt es einen Informationsdienst, an den man bedenkliche Einträge melden konnte. Zu einem bei den Beschwerdeführern erschienenen Beitrag werden teilweise beleidigende Kommentare veröffentlicht, die die Beschwerdeführerin sechs Wochen nach der Veröffentlichung löschte. Die automatische Filterfunktion war nur begrenzt in der Lage, Hassreden und Aufforderung zur Gewalt durch Nutzer herauszufiltern. Der EGMR kritisierte, dass ohne aktive Beanstandung eines Nutzers keine Beseitigung der Hass-Einträge erfolgte und bestätigte damit die Verurteilung des Portalbetreibers durch die estnischen Gerichte.

 EGMR (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte), Urteil v. 02.02.2016 – Az.: 22947/13, NJW 2017, 2091. 42  EGMR, Urteil vom 16.06.2015 – 64569/09, NJW 2015, S. 2863. 41

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7. Europäische Rechtsprechung In die doch sehr unterschiedliche Rechtsprechung könnte in den nächsten Monaten Bewegung durch den EuGH kommen. Dieser hat aktuell über die Frage zu entscheiden, ob ein Host Provider (im konkreten Fall Facebook) verpflichtet werden kann, sämtliche Kommentare, die mit einem als rechtswidrig festgestellten Inhalt wortoder sinngleich sind, zu entfernen, sofern sie vom selben Facebook-Nutzer herrühren.43 Dies ist deswegen eine schwierige Rechtsfrage, weil die Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr,44 deren Bestimmungen in Deutschland im Wesentlichen im TMG enthalten sind, keine Prüfungs-, sondern nur Reaktionspflichten im Falle einer zutreffenden Beanstandung vorsieht. So sieht § 10 TMG vor, dass ein Anbieter eines Mediendienstes für fremde Informationen, die für einen Nutzer gespeichert werden, dann nicht verantwortlich ist, wenn der Diensteanbieter keine Kenntnis von der rechtswidrigen Handlung oder Information hat, ihm auch keine Tatsachen oder Umstände bekannt sind, aus denen die rechtswidrige Handlung oder Information offensichtlich wird und er im Falle einer Kenntniserlangung unverzüglich tätig wird, um die Information zu entfernen oder zu sperren. Eine allgemeine Überwachungspflicht gibt es hingegen nicht. Der EuGH hat nunmehr über einen Sachverhalt zu entscheiden, bei dem ein Nutzer auf Facebook einen Artikel aus einem österreichischen Nachrichtenmagazin postete, der unter anderem eine Abbildung einer Politikerin, Mitglied der „Grünen“, enthielt zusammen mit herabwürdigenden Kommentaren („miese Volksverräterin“, „korrupter Trampel“, Mitglied einer „Faschisten-Partei“). Die Politikerin, Klägerin in dem aktuellen Verfahren, begehrte nach erfolgloser Löschungsaufforderung, Facebook zu verurteilen, ein  die Klägerin zeigendes  Foto zu unterlassen, wenn gleichzeitig dazu wörtlich oder sinngleich die genannten Äußerungen erfolgten. Das OLG Wien bestätigte die bereits erstinstanzlich erlassene einstweilige Verfügung und lehnte auch den Antrag Facebooks ab, die Verfügung nur auf Österreich zu begrenzen. Hingegen hielt es zu den „sinngleichen“ Äußerungen fest, dass dies nur die betreffe, auf die Facebook von der Klägerin oder Dritten aufmerksam gemacht worden sei. Der Oberste Gerichtshof (OGH) legte dem EuGH sowohl die Frage der territorialen Reichweite von Löschungsverpflichtungen wie auch die Problematik der „sinngleichen“ Äußerung zur Klärung der Vereinbarkeit mit der RL 2000/31/EG vor. In seinem Schlussantrag v. 4. Juni 2019 hielt der Generalanwalt fest, dass die RL 2000/31/EG die allgemeine Überwachung eines Telemediendienstes untersagt. Ein Host Provider könne aber verpflichtet werden, zum einen rechtswidrige Inhalte nicht nur des ursprünglichen Verursachers selbst zu löschen, sondern auch wortgleiche Inhalte bei anderen Nutzern zu durchsuchen und diese zu löschen, also „geteilte“ Facebook-Inhalte. Eine Überprüfung der Accounts anderer Nutzer auf solche

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 EuGH Rechtssache C18/18 – Glawischnig-Piesczek.  RL 2000/31/EG. (Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr).

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sinngleichen Inhalte liefe aber auf eine Überwachung hinaus und sei daher nicht zulässig. Hingegen bestätigte der Generalanwalt auch die Entscheidung des OLG Wien, Facebook zu einer weltweiten Löschung zu verpflichten. Mit dieser doch sehr weitreichenden Entscheidung würde Betroffenen – sollte die Auffassung des Generalanwalts vom EuGH übernommen werden  – künftig deutlich bessere Rechtschutzmöglichkeiten zugute kommen, als es aktuell der Fall ist.

IV. Zusammenfassung Der Verbreitung von Hass-Posts ist nur schwer beizukommen. Ein strafrechtliches Vorgehen gegen die Portalbetreiber ist nur bei einer Gefährdung der öffentlichen Ordnung möglich. Die zivilrechtliche Beurteilung der einzelnen Einträge richtet sich regelmäßig nach deutschem materiellen Recht, wenn die Beiträge bestimmungsgemäß auch hier abgerufen werden und der Handlungserfolg hier eintritt. Da Blogs und Posts anonym erfolgen können, stellt sich aber die Frage, wann der Portalbetreiber haftet. Dies ist regelmäßig nach deutschem Recht nur dann der Fall, wenn er als sog. „Störer“ zur Verantwortung gezogen werden kann, also eigene Sorgfaltspflichten verletzt hat. In aller Regel kann man davon nur ausgehen, wenn ein Portalbetreiber nach Kenntnis von einem potenziell rechtswidrigen Beitrag keine ausreichenden Maßnahmen zur Aufklärung des Sachverhalts und erforderliche Abhilfemaßnahmen trifft oder sich einen Beitrag zu eigen macht. Der EGMR verfolgt eine vergleichbare Linie. Der europäische Rechtsrahmen mit den für die elektronische Kommunikation zentralen Richtlinien über audiovisuelle Mediendienste und zum E-Commerce erlaubt nur in sehr begrenztem Umfang eine Untersagung einzelner Mediendienste. Das NetzDG zielt demgegenüber auf die Verursacherverantwortung ab. Ob die auf die Privatrechtsebene verlagerte Kontrolle den angestrebten Erfolg einer Eindämmung von Hass-Posts und Fake-News erreichen wird, kann bezweifelt werden. Die Vereinbarkeit des NetzDG mit den genannten Richtlinien wird selbst unter Befürwortern des Gesetzes im Übrigen kritisch gesehen. Ein sinnvoller Ansatz wäre ein einheitlicher europäischer Rechtsrahmen, der zum einen den Zugang zu Angaben über den Urheber einer Äußerung erleichtert und zum anderen stets unter Wahrung der EU-Grundrechts-Charta und nationaler presserechtlicher Bestimmungen die Möglichkeiten eines regulativen Einschreitens erweitert. Ob dieser mit Hilfe der neu etablierten „ERGA“ erreicht werden kann, ist zweifelhaft. Mehr Aussichten bietet der Ansatz des Generalanwalts im Verfahren C-18/18, bei rechtswidrigen Inhalten deutlich weitergehende Unterlassungsgebote vorzusehen und die Anbieter verstärkt in die Pflicht zu nehmen, kontrollierend  – nicht überwachend  – einzugreifen.

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Dr. Verena Hoene,  geb. 1966 in Köln, Studium der Rechtswissenschaften, 1994 Master of Law (LL.M.) an der University of Washington School of Law, 1995 Zweites Staatsexamen. 1996 Dr. jur. (Universität Trier). Fachanwältin für Gewerblichen Rechtsschutz. Rechtsanwältin und Partnerin der Kanzlei Heuking Kühn Lüer Wojtek (mit Büros in 8 deutschen Städten sowie in Zürich) in Köln u. a. für Presse- und Äußerungsrecht, Informationstechnologie. Seit der 5. Aufl. 2013 Co-Autorin in Soehring/Hoene „Presserecht“ (derzeit 6. Aufl. 2019, 900 S.). Diverse Veröffentlichungen und Vorträge zum Presserecht und Markenschutz.

Neue Herausforderungen für die Meinungsfreiheit in Europa Zur ambivalenten Rolle des Internets und zu den Auseinandersetzungen um „den“ Islam Klaus F. Gärditz

Inhaltsverzeichnis I. Funktion und Schutz der Meinungsfreiheit  II. Veränderungen der Kommunikationsinfrastruktur und der Kommunikationskultur  1. Verschiebung gesellschaftlicher Diskursgrenzen  2. Das Internet als Katalysator zentrifugaler Disaggregation  3. Islam – Matrix eines Meinungskulturkampfes?  III. Chancen und Herausforderungen des Rechts  1. Von der befreienden Last, die Meinungen anderer ertragen zu müssen  a) Rechtskraft ist kein Meinungsverbot  b) Meinungsfreiheit als Zumutung  c) Keine Garantie gesellschaftlicher Ernstnahme oder Wertschätzung  2. Wertungen und Tatsachenbehauptungen  3. Sonderrecht des Internets?  IV. Meinungsfreiheit nichtrechtlich 

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Das Grundrecht der Meinungsfreiheit gehört zum Kernbestand liberaler Freiheitsrechte und ist insbesondere auf nationaler, regionalvölkerrechtlicher sowie unionsrechtlicher Ebene verbürgt (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Grundgesetz [GG]; Art. 10 Abs. 1 Europäische Menschenrechtskonvention [EMRK]; Art. 11 Abs. 1 EU-Grundrechtecharta [GRCh]). Eine dichte und sedimentierte Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte [EGMR] und des Bundesverfassungsgerichts [BVerfG] machen die Meinungsfreiheit – ungeachtet ihrer wertungsbedingten Abhängigkeit von den Feinheiten konkreter Fälle  – zu einem vergleichsweise gut strukturierten Grundrecht. Wenn hier nach neuen Herausforderungen für die Mei-

K. F. Gärditz (*) Fachbereich Rechtswissenschaft, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Bonn, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Häberle (Hrsg.), Islam – Meinungsfreiheit – Internet, https://doi.org/10.1007/978-3-662-59426-1_6

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nungsfreiheit in Europa gefragt werden soll, geht es daher vornehmlich um gesellschaftliche Veränderungen, die neue Probleme an eine eingeschliffene Dogmatik herantragen.

I. Funktion und Schutz der Meinungsfreiheit Mögliche neue Herausforderungen der Meinungsfreiheit lassen sich nur vor dem Hintergrund der verfassungsrechtlichen Funktionen der Meinungsfreiheit diskutieren. Grundrechtsschutz genießen Meinungen, was grundsätzlich weit zu verstehen ist. Meinungen enthalten eine wertende Komponente, also „Elemente der Stellungnahme, des Dafürhaltens oder Meinens“.1 Die Meinungsfreiheit ist nicht nur ein individuelles Freiheitsrecht. Sie hat auch Systemrelevanz, ist – so das BVerfG – für ein freiheitliches demokratisches Gemeinwesen schlechthin konstituierend.2 Demokratische Herrschaft als freiheitliche Ordnung gründet nicht auf objektiver Richtigkeit, sondern auf subjektiver Freiheit.3,4 Demokratie kennt keine politischen Wahrheiten, ist also wertrelativ:5 Der Inhalt einer sozialen Ordnung auf Zeit6 bleibt stets verhandelbar und  – demokratisch verzeitlicht7  – zukunftsoffen.8 Funktionsbedingung der Demokratie ist also, dass ein offener Diskurs stattfinden kann, dessen Teilnehmer wiederum des Schutzes durch ein individuelles Grundrecht bedürfen. Die Meinungsfreiheit ist daher die andere Seite demokratischer Wahrheitsabstinenz des Staates.9 Meinungen sind wertende Kommunikationsbeiträge; es gibt keine „richtigen“ oder „falschen“ Meinungen.10 Gerade auch Meinungen, die anstößig, für breite Mehrheiten absurd oder nicht anschlussfähig sind, bedürfen des Schutzes.11 Denn Grundrechte werden nicht im diskursiven Normal-, sondern gerade im Konfliktfall relevant, in den Randpositionen eher geraten (oder geraten wollen) als Mainstream-­  BVerfGE (Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts) 61, 1 (9).  BVerfGE 7, 198 (208); 62, 230 (247); 93, 266 (292 f.); 128, 226 (266). 3  Zum verfassungstheoretischen Kontrast D. Grimm, Das Öffentliche Recht vor der Frage seiner Identität, 2012, 31. 4  H. Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 2. Aufl. (1929), 3 ff., 58 ff. 5  H. Kelsen, Vom Wesen (o. Fn. 4), 101 ff. 6  H. Kelsen, Allgemeine Staatslehre, 1925, 369. 7  BVerfGE 79, 311 (343); 119, 247 (261); 121, 205 (220); 141, 1 (53); E.-W. Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. II, 3. Aufl. (2004), § 24 Rn. 50; H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. II, 3. Aufl. (2015), Art. 20 (Demokratie) Rn. 73. 8  Legitimationstheoretisch K.  F. Gärditz, Temporale Legitimationsasymmetrien, in: H. Hill/U. Schliesky (Hrsg.), Management von Unsicherheit und Nichtwissen, 2016, 253 ff. 9  S. Müller-Franken, Meinungsfreiheit im freiheitlichen Staat, 2013, 16 ff. 10  Müller-Franken, Meinungsfreiheit (o. Fn. 9), 31 f. 11  Vgl. nur H.  Schulze-Fielitz, in: H.  Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd.  I, 3.  Aufl. (2013), Art. 5 I Rn. 65. 1 2

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Meinungen. Meinungsfreiheit braucht, wer nicht einverstanden ist und einen politischen Gegenentwurf formulieren will. Potentielle Minderheitenrechte gewährleisten hierbei immer auch die Freiheit, anderen Menschen eine Zumutung zu sein. Sie schützen gleichberechtigt die hässlichen Seiten einer Gesellschaft, kennen keine „wertlose“ oder „wertvolle“ Freiheitsausübung. Der Freiheit – hier die Möglichkeit, eine Meinung unabhängig von einer Qualitätsbeurteilung äußern zu dürfen – ist als solcher Eigenwert beizumessen. In Zeiten härterer politischer Auseinandersetzungen muss auch dies immer wieder in Erinnerung gerufen werden. Der gesamtgesellschaftliche Ertrag liegt hierbei nicht darin, durch eine bestimmte Meinung „bereichert“ zu werden. Der Schutz der Meinungsfreiheit ist kein „Gütesiegel“12 und rationalisiert die politische Auseinandersetzung auch nicht automatisch. Das Ertragen auch anstößiger oder unsinniger Meinungen verdeutlicht jedoch fortwährend Grundbedingungen, auf die eine freiheitliche Ordnung nicht verzichten kann:13 die epistemische Offenheit, die Fehlbarkeit menschlicher Erkenntnis und die zukunftsoffene Unabgeschlossenheit demokratischer Prozesse. Dies schließt es ein, Hergebrachtes und Gewohntes auch in Konfrontation mit Neuem und Irritierendem behaupten zu müssen. Meinungsfreiheit ist die Basis gesellschaftlicher Evolution und institutioneller Ausdruck, dass es keine „gute Ordnung“, keine feste Matrix für ein Miteinander gibt, sondern die Frage, wie wir miteinander frei leben wollen, immer wieder neu zu beantworten ist. In dieser Offenheit, in der Zulassung von Gegensätzen und Antagonismen, liegt gerade die Stärke einer freiheitlichen Verfassung.14 Ohne hinreichende – meinungskonfliktgetriebene – Politisierung des demokratischen Prozesses lässt sich die fallbezogene Entscheidung der mit Mehrheit rechtlich vorstrukturierten Sachfragen kaum auf entpolitisierte Institutionen – auf eine unparteiische Verwaltungsbürokratie15 und auf eine unabhängige Justiz – auslagern. Denn eine solche institutionelle Entkopplung setzt hinreichenden „Sinn für ergebnisoffene Verfahren“ voraus,16 der nicht dekretiert werden kann, sondern in gesellschaftlichen Prozessen immer wieder zu vermitteln ist.17 Und ohne offene Meinungskonfrontation werden Konfliktlinien schon nicht sichtbar, was dann aber Kompromisse und eine Entfundamentalisierung von Konflikten18 unmöglich macht. Viele der gegenwärtigen Verschärfungen der politischen Auseinandersetzung zei-

 J. Isensee, Solidarität wofür?, Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 22.01.2015, 6.  Vgl. H. Kelsen, Vom Wesen (o. Fn. 4), 101. 14  A. Voßkuhle, Die Verfassung der Mitte, 2016, 49 f. 15  Hierzu BVerfGE 39, 196 (201); 99, 300 (315); 107, 218 (237); 114, 258 (288); 119, 247 (260 f.); J. Isensee, Amt in der Republik, in: R. Gröschner/O. W. Lembcke (Hrsg.), Freistaatlichkeit, 2011, 163 (168 ff.); M. Kenntner, Sinn und Zweck des hergebrachten Berufsbeamtentums, DVBl. (Deutsches Verwaltungsblatt) 2007, 1321 (1326 ff.); H. Landau/M. Steinkühler, Zur Zukunft des Berufsbeamtentums in Deutschland, DVBl. 2007, 133 (135); W. Leisner, Grundlagen des Berufsbeamtentums, 1971, 15 ff. 16  C. Möllers, Wir, die Bürger(lichen), Merkur 71 (818), 2017, 5 (6 f.). 17  Vgl. zur edukativen Herausforderung der Demokratie bereits H. Kelsen, Vom Wesen (o. Fn. 4), 91. 18  Vgl. J. White/L. Ypi, The Meaning of Partisanship, 2016, 145. 12 13

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gen dies: Wenn in den politischen Institutionen und der medialen Öffentlichkeit bestimmte Sachfragen – etwa die Flüchtlingspolitik – als nicht mehr hinreichend politisiert wahrgenommen werden, ventiliert sich Protest anderweitig und dann oft in einer kompromisslosen, destruktiven und fundamentalistischen Form. Die Meinungsfreiheit hat also – als Bedingung des politischen Kompromisses – auch eine stabilisierende Funktion; sie ermöglicht (innerhalb verfassungskonformer Grenzen) ein Sich-Aussprechen.

II. Veränderungen der Kommunikationsinfrastruktur und der Kommunikationskultur Gibt es nun Veränderungen in der öffentlichen Kommunikation, die die rechtlich vorausgesetzten Funktionen der Meinungsfreiheit herausfordern? Es scheint immerhin so, als ob gesellschaftliche Konfliktlinien  – nach zwei Jahrzehnten eines gefühlten Konsenses der Mitte – in jüngster Zeit wieder stärker aufbrechen. Entgegen einer verbreiteten Deutung geht es bei den zunehmenden Meinungskonflikten nicht darum, eine vermeintlich unterdrückte Meinungsfreiheit „zurückzuerobern“. Aus rechtlicher Sicht geht es durchweg um grundrechtlich geschützte Meinungen (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG; Art. 10 Abs. 1 EMRK, Art. 11 GRCh), deren Äußerung – sofern nicht als Verleumdung, Beleidigung, Volksverhetzung usf. im Rahmen der Schranken des Freiheitsgrundrechts (Art.  5 Abs.  2 GG, Art.  10 Abs.  1 EMRK; Art. 52 Abs. 1 GRCh) unter Achtung der Verhältnismäßigkeit verboten – erlaubt ist. Innerhalb des Spektrums des rechtlich Erlaubten werden jedoch derzeit die Grenzen dessen neu definiert, was moralisch sagbar und verhandelbar ist – bisweilen auch mit verstörenden Folgen.

1. Verschiebung gesellschaftlicher Diskursgrenzen Der hier zum Thema gemachte kommunikative Umgang mit Religiosität in einer säkularisierten Einwanderungsgesellschaft und die ambivalente Rolle des Internets sind nur zwei – freilich markante – Beispiele, wie Diskurse eskalieren und die Meinungsfreiheit mit neuen Herausforderungen konfrontiert wird. Auf der einen Seite steht eine Vertrollung der Gesellschaft. Der raue Ton des Internets mit seinen fragmentierten Gegenöffentlichkeiten schwappt auf die Gesellschaft über und hat – wie die letzten Wahlen zu Landtagen und zum Deutschen Bundestag zeigen – auch die demokratischen Institutionen erreicht. Gleichzeitig dominiert gegenwärtig eine bisweilen an Hysterie grenzende Hyper-Moralisierung die politischen Diskurse, die nicht die argumentative Auseinandersetzung sucht, sondern mit selbstgewissem

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Gestus der Unfehlbarkeit abweichende Meinungen aus dem Spektrum des Sagbaren herausdrängen will.19 Eine – als politische Agenda teils bewusst vorangetriebene – Hyper-Sensibilisierung schließlich geht einher mit Forderungen, vor den Zumutungen der Anderen möglichst verschont zu bleiben – kulminierend in (im Anliegen verständlichen, aber in den Konsequenzen freiheitsunverträglichen) Konzepten wie micro-­aggression oder safe space. Dass sich diese – im Kern freiheitsunverträgliche – Sehnsucht nach einem neuen Biedermeier der akademisch geprägten Wohlfühlrückzugsecken für die Aufgeklärten in einer zeitgleich konfliktreicher werdenden Welt nicht befriedigen lässt, ist offensichtlich. Solche Ermüdungserscheinungen einer zu selbstsicher gewordenen Liberalität, die nicht unbedeutende Teile der Bevölkerung kulturell abgehängt hat20 und auf Provokationen in der Manier eines Klassenkampfes von oben reagiert, stellen die urliberale Meinungsfreiheit jedoch zunehmend unter Rechtfertigungsdruck. Zugleich erscheinen gegenläufig einer nicht minder lautstarken „Das-wird-manwohl-noch-sagen-dürfen“-Diaspora schon basale Bedingungen der gegenseitigen Anerkennung in gleicher Würde als Zumutung. Antipluralistisch sind beide Zeitgeistphänomene. Integrierende Politisierung, Kompromissfindung und Verständigung wird in diesem Klima erheblich erschwert.

2. Das Internet als Katalysator zentrifugaler Disaggregation Das Internet hat hierbei oft nur Schmuddel-Ecken der Gesellschaft sichtbar(er) gemacht, die schon immer vorhanden, aber für die politischen Akteure unsichtbar waren. Es ist aber auch ein Katalysator zentrifugaler Kräfte in der politischen Kommunikation. Handeln, Herrschen und Kommunizieren in einer Gesellschaft hängt entscheidend von den verfügbaren Technologien und den mit ihnen verbundenen sozialen Praktiken ab.21 Die Rolle des Internets ist hierbei ambivalent. Gewiss eröff­ net es Kommunikationsräume, die anderweitig nicht zur Verfügung stehen. Die Konvergenz von Individual- und Massenkommunikation sowie die Streubreite erlauben es, dass wahrnehmbare Gegenöffentlichkeit auch jenseits der tradierten In­ stitutionen (Parteien, Rundfunk, Presse, Vereinigungen) und Formen (Versammlungen, Stammtische, Campuszirkel) entsteht. Demokratietheoretisch ist dies gewiss ein Vorteil, weil Diskursbarrieren abgebaut werden.22 Das Internet ist aber ganz  F. Schorkopf, Staat und Diversität – Agonaler Pluralismus für die liberale Demokratie, 2017, 40 f.  Hierzu A. Reckwitz, Die alte und neue Mittelschicht, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 22.10.2017, S.  46; A.  Schäfer, Kultur statt Ökonomie, Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 16.10.2017, 6. 21  A. Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten, 2017, 225. 22  K. F. Gärditz, Der digitalisierte Raum des Netzes als emergente Ordnung und die repräsentativ-demokratische Herrschaftsform, Der Staat 54 (2015), 113 (130); C. R. Sunstein, Republic.com 2.0, 2007, 214. 19 20

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o­ ffensichtlich auch ein Katalysator, Diskurse zu disaggregieren und zu verrohen. Die Gründe hierfür sind vielfältig: • Kurzlebigkeit und mangelnde Reflexion der Argumente sowie fehlende Verzögerungen zwischen Gedankenfindung und öffentlicher Entäußerung gehen un­ vermeidbar auf Kosten der Reflexionsqualität und des gegenseitigen Ernstnehmens:23 ein erotisierendes Lebensgefühl des Dampfablassens mit Rechtschreibund Grammatikfehlern. Extremster Exzess kommunikativer Blitzgefechte ist die universelle Vereinfachungsmaschine Twitter. • Das Internet verbindet zudem weniger als es fragmentiert, durchaus gegenläufig zu seiner (oft naiv idealisierten) Vernetzungsidee:24 Viele kleine Filter Bubbles von Mikrogemeinschaften der Gleichgesinnten sind entstanden, die ihre jeweiligen Weltsichten ausleben können, ohne sich von Gegenansichten (oder gar faktischen Evidenzen) irritieren lassen zu müssen – ein Nebeneinander in Sprachlosigkeit.25 • Die extrem selektive Vernetzung und der Schutz der Anonymität lassen soziale Hemmschwellen fallen. • Erfolgte Persönlichkeitsverletzungen lassen sich aufgrund der Persistenz und Permanenz einmal veröffentlichter Aussagen faktisch kaum beseitigen. • Anstößige Äußerungen haben potenziell eine beinahe globale Breitenwirkung. Das Internet macht es leicht, eine Atmosphäre der Aggression, der Missachtung und des Misstrauens zu erzeugen. Dabei geht es nicht notwendigerweise immer auch um reale Mobilisierung, zumal wenn kleine Gruppen – mit den notwendigen zeitlichen Ressourcen ausgestattet – eine Massenbewegung schlicht simulieren, hierdurch aber die öffentliche Meinungsbildung manipulieren. • Indem jede und jeder Einzelne nicht nur Empfänger von Meinungen ist, sondern individuelle Meinungen auch ohne technischen Aufwand einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden können, werden zugleich institutionelle Differenzen eingeebnet. Organisierte Verantwortung politischer Parteien, soziale Rücksichtnahme und journalistische Sorgfaltspflichten werden ersetzt durch individuelles Dafürhalten. Kurzum: Gelebte Meinungsfreiheit wird konfliktreicher, unversöhnlicher. Empfindlichkeit und kommunikative Verrohung treffen mit voller Wucht aufeinander, oftmals sogar personenidentisch: Das Internet ist voller empfindsamer Trolle, mit deren Meinungsstärke die Fähigkeit, auch starke Meinungen anderer auszuhalten, nicht mithalten kann. Die Tendenz zur kommunikativen Abkapselung Gleichgesinnter macht es zudem nicht leichter, Funktionsbedingungen demokratischer Verständigung zu vermitteln, die es gerade erfordert, Kompromisse zu finden, sich zu verständigen und aufeinander zuzugehen. Netzwerk ist eben nicht demokratische  F. Ekardt, Kurzschluss – Wie einfache Wahrheiten die Demokratie untergraben, 2017, 162.  Vgl. E. Morozov, Back to the Roots: Cyberspace als öffentlicher Raum, Blätter für deutsche und internationale Politik 09/2011, 114 (117). 25  U. Di Fabio, Wie reagiert Demokratie auf den Wandel der Öffentlichkeit?, in: Bitburger Gespräche Jahrbuch 2013, 11 (15). 23 24

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Öffentlichkeit. Inhalt und Funktion der Meinungsfreiheit ändern sich hierdurch zwar nicht, jedoch werden verfassungsrechtlich weder garantierte noch garantierbare (und vielleicht auch einfach oft überzogene) Erwartungen an die Demokratizität des freien Meinungsaustausches leichter enttäuscht.

3. Islam – Matrix eines Meinungskulturkampfes? Dass in diesem Rahmen auch neue „Kulturkämpfe“ ausbrechen, überrascht nach alledem nicht. Gegenwärtig fungiert insbesondere ein  – schablonenhaft simplifizierter – Islam als Projektionsfläche kulturalisierender Auseinandersetzungen, dem dann meist ein diffuses – ebenfalls kulturalistisch verkitschtes – „Abendland“ gegenübergestellt wird. Zugleich treffen religiöse Empfindlichkeiten auf aggressivere Meinungsforen. Auf die Frage, ob insoweit religiöse Gefühle im geltenden Recht besser geschützt werden sollen, wird zurückzukommen sein. Um islamspezifische Reaktionsinstrumente kann es hierbei aber von vornherein nicht gehen. Nicht selten fungiert „der“ Islam als Chiffre für kulturell essentialisiertes Fremdes,26 um hintergründige rassistische Stereotypen zu maskieren und gleichzeitig auf eine Gruppe projizieren zu können. Unter den vielen sozialen, kulturellen und sicherheitspolitischen Herausforderungen einer Einwanderungsgesellschaft, die ernst zu nehmen sind, spielen im eigentlichen Sinne interreligiöse Konflikte eine zwar symbolmächtige, aber praktisch doch immer noch eher randständige Rolle. Dies gilt erst recht für spezifische Herausforderungen der Meinungsfreiheit, die ohnehin rechtlich von vornherein keine Rolle spielt, wenn es um die Bewertung von Reaktionen auf Meinungsäußerungen aus religiöser Empörung geht. Dass sich islamistischer Extremismus gerade des Internets als Propagandamaschine bedient, ist offensichtlich, aber keine wirkliche Herausforderung der Meinungsfreiheit, geht es doch insoweit durchweg entweder um provokative religiöse Positionierung, die grundrechtlich hinzunehmen und sozialkommunikativ durch gelebte gesellaftliche Gegenentwürfe  zu beantworten ist, oder um meinungsindifferent strafbare Handlungen. Die in diesem Rahmen diskutierten Fragen – etwa der Vorfeldkriminalisierung27 – sind Wiedergänger alter Diskurse, die uns seit den Zeiten der RAF begleiten, weisen aber allenfalls am Rande Fragen der Meinungsfreiheit auf. Häufiger entwickelt eine sozial durchsäkularisierte Gesellschaft ihre eigenen Überempfindlichkeiten gegen gelebte Alltagsreligiosität, die für das Selbstwertgefühl nicht weniger Einwanderer oder ihre deutschen Nachkommen berechtigterweise einen anderen (hohen) Stellenwert hat.28 Politische Allianzen fundamentalistischer  Vgl. A. Reckwitz, Die Gesellschaft (o. Fußn. 21), 404.  Dazu S. Großmann, Liberales Strafrecht in der komplexen Gesellschaft, 2016, 179 ff.; J. Kaspar, Verhältnismäßigkeit und Grundrechtsschutz im Präventionsstrafrecht, 2014, 233  f., 386  f.; J. Puschke, Legitimation, Grenzen und Dogmatik von Vorbereitungstatbeständen, 2017; M. Steinsiek, Terrorabwehr durch Strafrecht? Verfassungsrechtliche und strafrechtssystematische Grenzen der Vorfeldkriminalisierung, 2012. 28  Vgl. H. Bude, Anerkennung durch Differenz, Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 21.08.2017, 6. 26 27

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Christen mit den anti-religiösen Traditionen der untergegangenen DDR – vielleicht ein Markenkern der irrlichternden „Pegida“-Bewegung und ihres politischen Armes – legen den Verdacht nahe, dass Religion oft nur Hülse ist, diffuse Ressentiments im aggressiven Meinungskampf zu bündeln. Das Internet mit seinem Drang zur äußeren Fragmentierung und damit zugleich zur inneren Homogenisierung vernetzter Gruppen erleichtert es zudem perspektivisch, Weltanschauungsgemeinschaften geschlossen zu halten und Dritte zu kulturessenzialistischen Schablonen zu reduzieren. Identitäre Bewegungen einer neo-völkischen extremen Rechten und linke Identitätspolitik überschneiden sich hierbei nicht unerheblich, wenn sie Gruppenzugehörigkeiten essentialisieren und das Besondere an die Stelle pluralistisch-­liberaler Gleichheit setzen.29 Differenzierung geht ebenso verloren wie ein notwendiger Blick auf die Vielgestaltigkeit, Ambivalenz und nicht zuletzt Individualität religiösen Lebens. Die Antwort der Verfassung besteht freilich nicht darin, solche „neo-tribale“30 Ordnungsentwürfe aus dem Schutz der Meinungsfreiheit auszugrenzen. Das Grundgesetz beharrt vielmehr einfach gegenläufig auf der Individualität von Freiheit, Gleichheit und Verantwortungszurechnung – ein Schutzversprechen, auf das für ihre Positionen wohl weder linke noch rechte Identitäre verzichten wollen.

III. Chancen und Herausforderungen des Rechts Inwiefern fordern die beschriebenen Entwicklungen des politischen Meinungsangebots das Recht überhaupt heraus? Bedarf es meinungsspezifischer Reaktionen? Und bietet das Recht, das zuvörderst die Offenheit des Meinungsbildungsprozesses schützt, überhaupt Chancen, kommunikativer Eskalation etwas entgegenzusetzen? Zunächst einmal ist Verrechtlichung ein Instrument der Entkulturalisierung. Verwaltungs- und Gerichtsverfahren individualisieren Konflikte und reduzieren sie zugleich auf Fragen des abstrakt-generellen Rechts, was kulturelle Elemente erledigt bzw. in das Politische demokratischer Verfahren der Gesetzgebung verlagert.31 Recht ent-essentialisiert, weil es die oder den Einzelnen nicht als Mitglied einer (unentrinnbaren) Kultur, sondern als selbstbestimmtes Individuum ernst nimmt, das an Normen gemessen wird, die für alle gelten und auf der Grundlage gleicher Freiheit gesetzt wurden. Gerade in den oftmals kulturalistisch geführten Auseinandersetzungen mit dem Religiösen, zumal dem vermeintlich Fremden, ist dies ein kaum zu überschätzender Vorteil. Gesetzgebung kann hierbei durchaus partikular-ethisch  Glänzende Studie: F.  Schorkopf, Staat (o. Fußn. 19), 27  ff. und passim; im Anschluss auch H. M. Heinig, Was ist der Zweck eines – islamischen – Feiertags?, Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 26.10.2017, 6; parallel A. Nassehi, Hautfarbe, Geschlecht, Nation – Überall Identitäre: Wie links und rechts auf einer Einteilung der Gesellschaft in Menschengruppen bestehen, Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 31.08.2017, 13. 30  Treffend F. Schorkopf, Staat (o. Fußn. 19), 40. 31  C. Möllers, Pluralität der Kulturen als Herausforderung an das Verfassungsrecht?, in: H. Dreier/E.  Hilgendorf (Hrsg.), Kulturelle Identität als Grund und Grenze des Rechts, 2008, S.  223 (230 f.). Überzeugend für eine differenzierte Verrechtlichung auch A. Voßkuhle, Religionsfreiheit und Religionskonflikt  – Zur Verrechtlichung religiöser Konflikte, EuGRZ (Europäische Grundrechte-Zeitschrift) 2010, 537 ff. 29

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imprägniert sein, erhebt insoweit aber keine vorpositiven Wahrheitsansprüche.32 Die rechtsethischen Grenzen konfliktbeladener Meinungsäußerungen können daher immer wieder neu verhandelt und bestimmt werden. Die Methode, die Grenzen der Meinungsfreiheit auf der Grundlage allgemeiner  – meinungsindifferenter33  – Gesetze zu ziehen, erweist sich gerade in Zeiten aggressiverer Politisierung als erpro­ bter und trittsicherer Königsweg. Unter den verschiedenen Herausforderungen, die sich gegenwärtig stellen, sollen exemplarisch drei Problemkreise herausgegriffen werden: (1.) die Bestimmung der Empfindlichkeitsschwelle, (2.) die verschwimmende Differenz zwischen Wertungen sowie Tatsachen und (3.) die Frage nach einem Sonderrecht des Internets.

1. Von der befreienden Last, die Meinungen anderer ertragen zu müssen Angesichts des erheblichen Einschlags von Hasskampagnen, Verleumdung und öffentlicher Bloßstellung, die das Internet ermöglicht, werden sich künftig möglicherweise  – bislang eher vernachlässigte  – Fragen staatlicher Schutzpflichten gegen private Meinungsäußerungen unter neuen Vorzeichen stellen. Freilich bestehen auch Gefahren einer Überreaktion. Der Staat kann und muss Rechtsgüter und Institutionen selbstverständlich gegenüber kommunikativen Angriffen schützen, namentlich Verletzungen des Persönlichkeitsrechts, der Menschenwürde oder der Religionsfreiheit unterbinden bzw. sanktionieren.34 Der Staat hat aber keine eigene Wahrheitskompetenz,35 darf sich also auch von absurden Meinungen nicht zur hoheitlichen Wahrheitspflege provozieren lassen.36 Eskalierender Meinungskampf, Radikalisierung und Entrationalisierung der politischen Öffentlichkeit führen zur Versuchung, den Staat als Entscheider in den Meinungskampf eingreifen zu lassen, wogegen aber gerade die Meinungsfreiheit schützen soll.

 M. Nettesheim, Liberaler Verfassungsstaat und gutes Leben, 2017, 36.  Zuletzt BVerfGE 113, 63 (79); 124, 300 (323 f.). 34  Müller-Franken, Meinungsfreiheit (o. Fußn. 9), 48 f. 35  Für Glaubensfragen etwa H. Dreier, Säkularisierung und Sakralität, 2013, 33 ff.; M. Heckel, Zur Zukunftsfähigkeit des deutschen „Staatskirchenrechts“ oder „Religionsverfassungsrechts“?, AöR (Archiv des öffentlichen Rechts) 134 (2009), 309 (348, 364 f., 375). Für wissenschaftliche Wahrheiten K. F. Gärditz, Hochschulorganisation und verwaltungsrechtliche Systembildung, 2009, 304, 597; ders., Wissenschaftlicher Dissens als Rechtsproblem: Zwischen institutionalisiertem Freiheitsschutz und der Bewältigung epistemischer Kontingenz in Verfahren, DÖV (Die Öffentliche Verwaltung) 2017, 41  ff.; H.-H.  Trute, Die Forschung zwischen grundrechtlicher Freiheit und staatlicher Institutionalisierung, 1994, 60. 36  Dazu K.  F. Gärditz, Umwelt-Aufklärung der Öffentlichkeit als wissenschaftliche Wahrheitspflege?, EurUP (Zeitschrift für Europäisches Umwelt- und Planungsrecht) 2017, 112 ff. 32 33

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a) Rechtskraft ist kein Meinungsverbot Selbst formalisierte Entscheidungen staatlicher Organe erheben keinen Totalitätsanspruch über die Kommunikation. Das BVerfG hat dies in einer jüngeren Kammerentscheidung verdeutlicht: Respekt vor der Meinungsfreiheit bedeutet auch, dass eine Betroffene, die für sich in Anspruch nimmt, Opfer zu sein, im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang einen Freispruch des Angeklagten kritisieren und ihre abweichende Sicht der Dinge darstellen darf.37 Oder etwa die bestandskräftige Zulassung eines ungeliebten Vorhabens hindert nicht fortgesetzten Protest.38 Und Kritik an konkretem Verwaltungshandeln darf sich gerade dann, wenn es um eine Angelegenheit im öffentlichen Interesse geht, polemischer Zuspitzungen bedienen.39 b) Meinungsfreiheit als Zumutung Meinungsfreiheit ist immer wechselseitige Zumutung von Freiheit.40 Freiheitskonformes Recht ist keine Komfortzone und kein Schutzraum gegen die Unbilden öffentlicher Diskurse, die eben auch ihre hässlichen Seiten haben. Alle müssen lernen, mit den Risiken gegenseitiger Freiheit unter dem Dach freiheitlichen Pluralismus zu leben.41 Die befreiende Last, Meinungen anderer ertragen zu müssen, haben alle zu schultern. Das BVerfG hat dies beinahe lyrisch klargestellt: „Ein vom Elend der Welt unbeschwertes Gemüt des Bürgers ist kein Belang, zu dessen Schutz der Staat Grundrechtspositionen einschränken darf […]. Unerheblich sind folglich Belästigungen Dritter, die darin liegen, dass diese mit ihnen unliebsamen Themen konfrontiert werden“.42 Eine freiheitliche Ordnung mutet allen Menschen zu, Konflikte in den Grenzen allgemeiner Gesetze auszuhalten, die gegen Rechtsgutsangriffe einschließlich individueller Diskriminierungen hinreichenden Schutz bieten. Eine letztlich Sozialität schlechthin in Frage stellende Kultur der Empfindlichkeit, die geistig-kommunikative Auseinandersetzung schon als solche ablehnt und den Schutz gegen subjektiv empfundene Verletzungen auf ein Niveau herabsenken möchte, bei dem jede Konfrontation mit Unangenehmem zur verbotenen Mikroaggression wird, ist keine Grundlage für verhältnismäßige Einschränkungen der Kommunikation.

 BVerfG-K (Kammerentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts), Beschl. v. 10.03.2016 – 1 BvR 2844/13, NVwZ (Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht) 2016, 761. 38  K. F. Gärditz, Angemessene Öffentlichkeitsbeteiligung bei Infrastrukturplanungen als Herausforderung an das Verwaltungsrecht im demokratischen Rechtsstaat, GewArch (Gewerbe-Archiv) 2011, 273. 39  Anschaulich BVerfG-K, Beschl. v. 24.07.2013 – 1 BvR 444/13, DVBl 2013, 1382. 40  B.  Kempen, Anspruchsvolle Zumutung: Über die Freiheit in Staat, Gesellschaft und Wissenschaft, Forschung und Lehre 2017, 390 (391); Müller-Franken, Meinungsfreiheit (o. Fußn. 9), 49. 41  J.  Isensee, Grundrechtsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen an die Grundrechtsausübung, in: ders./P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. IX, 3. Aufl., § 190 Rn. 309. 42  BVerfGE 128, 226 (266). 37

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Dies gilt gleichermaßen gegenüber religiösen Empfindlichkeiten.43 Die jeder Religion inhärenten, ihrem Gegenstand nach nicht rationalisierbaren Wahrheitsansprüche bleiben konfessionelle Binnenperspektive. Die Religionsfreiheit schützt nicht vor der Zumutung, andere „Wahrheiten“, Religionskritik, Ablehnung und Meinungen ertragen zu müssen, selbst wenn dies religiöse Gefühle verletzt. Gefühle sind auch dann kein tauglicher Schutzgegenstand,44 wenn man diese nicht subjektiviert und damit die Bestimmung der Grenzen von Freiheit der subjektiven Beliebigkeit überlässt; wenn man objektiv-normative Kriterien für ein schutzbedürftiges Gefühl fände, was bei Religion als rational nicht aufzuhellender Sinndeutung kaum gelingen wird, liefe ein Schutz vor Unbehagen den Grundbedingungen von Sozialität in kommunikativer Freiheit zuwider und kann kein Eingriffstitel sein. Dies mag man als integrationshinderlich ansehen;45 jedoch wird über Inhalt und Bedarf an Integration im demokratischen Meinungskampf entschieden,46 der sich nicht im Interesse integrativer Ruhe sedieren lässt, ohne die Voraussetzungen preiszugeben, unter denen ein friedliches Miteinander auf der Grundlage des Rechts überhaupt akzeptabel erscheint. Für ein sozial verträgliches Miteinander wichtiger ist es, statt religiöse Gefühle gegen unangenehme Meinungen die Trägerinnen und Träger der Religionsfreiheit vor Diskriminierungen aufgrund von Ressentiments zu schützen. Ausreichende Instrumente hierfür stellt die Rechtsordnung längst zur Verfügung. Dies schließt einen Schutz gegen Störungen des öffentlichen Friedens nicht aus,47 sofern dieses Schutzgut meinungsfreiheitskonform definiert wird, was es ausschließt, allein in einer Meinung als solcher bereits eine Friedensstörung zu sehen; es kann nur um manifeste Angriffe mit qualifizierter Neigung zur Eskalation und zu Verletzungen von konkreten Rechtsgütern gehen (paradigmatisch § 130 Abs. 1 StGB). Auch der Schutz der freien Religionsausübung und der Persönlichkeitsrechte Betroffener bleibt selbstverständlich möglich,48 kann aber nicht schon bei gefühlten Unannehmlichkeiten greifen. Meinungsklimapflege ist keine materiale Eingriffsrechtfertigung. Hierbei wird nicht verkannt, dass auch ein verschärftes Meinungsmakroklima negative gesellschaftliche Effekte haben kann und gerade diejenigen in ihrer unbefangenen Lebensführung trifft, die zum Objekt kommunizierter Ressentiments werden.  J. Isensee, Nachwort. Blasphemie im Koordinatensystem des säkularen Staates, in: ders. (Hrsg.), Religionsbeschimpfung  – Der rechtliche Schutz des Heiligen, 2007, 105 (117, 138  f.); Müller-Franken, Meinungsfreiheit (o. Fußn. 9), 49; B. Rox, Vom Wert der freien Rede – Zur Strafwürdigkeit der Blasphemie, JZ 2013, 30 (33 f.). 44  Gegen einen Schutz bloßer Gefühle mit Recht z. B. A. von Arnauld de la Perrière, Grundrechtsfreiheit zur Gotteslästerung?, in: J.  Isensee (Hrsg.), Religionsbeschimpfung  – Der rechtliche Schutz des Heiligen, 2007, 63 (76). 45  C.  Hillgruber, Zulässige Religionskritik: Ein Integrationshindernis ersten Ranges, in: FAZ v. 28.01.2015, 6. 46  In diesem Sinne auch T. Hörnle, Bekenntnisbeschimpfung (§ 166 StGB [Strafgesetzbuch]): Aufheben oder Ausweiten?, JZ 2015, 293 (296 f.), in Bezug auf die Anerkennung von Identitätsschutz. 47  D. Grimm, Freedom of Speech in a Globalized World, in: I. Hare/J. Weinstein (Hrsg.), Extreme Speech and Democracy, 2009, 11 (19). 48  Hierzu m. w. Nachw. P.  M. Schmidt, Meinungsfreiheit und Religion im Spannungsverhältnis, 2014, 24 ff. 43

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Zum Aushalten dieses Unbehagens besteht jedoch keine Alternative, ohne die epistemischen Grundlagen einer freiheitlichen Ordnung preiszugeben, auf deren Schutz alle und auch die Meinungsopfer angewiesen bleiben. c) Keine Garantie gesellschaftlicher Ernstnahme oder Wertschätzung Die Meinungsfreiheit als Freiheitsgrundrecht kann nicht die gesellschaftliche Akzeptanz von Meinungen garantieren. Im Gegenteil: Eine bestimmte Meinung abzulehnen, auszugrenzen oder zu ignorieren, ist seinerseits geschützte Inanspruchnahme von Meinungsfreiheit. Wer eine anstößige Meinung äußert, riskiert eben selbst, hiermit auf gesellschaftlichen Widerstand zu stoßen. Ein Forum oder eine Zuhörerschaft ist ebenso wenig gewährleistet wie Applaus. Freiheitsrechte vermitteln keinen Anspruch auf positive Wertschätzung. Und freier Meinungsstreit kann eben auch bedeuten, mit der eigenen Belanglosigkeit konfrontiert zu werden. Das populäre Lamentieren, es gäbe keine Meinungsfreiheit mehr, ist ausgelebter Narzissmus, ein Sehnen nach Aufmerksamkeit und Anerkennung für die jeweils eigene Meinung. Geschmackloses, Verletzendes oder Amoralisches kann gesellschaftlich geächtet werden. Es gibt hierbei – wie das BVerwG bereits in einer weitsichtigen Entscheidung (übrigens zur Religionsausübung) aus dem Jahr 1968 treffend feststellte – „keinen staatlichen Ersatz für mangelnde Zivilcourage“.49

2. Wertungen und Tatsachenbehauptungen Die Rechtsprechung hat Meinungen von Tatsachenbehauptungen unterschieden, die sich auf „die objektive Beziehung zwischen Äußerung und Wirklichkeit“ beziehen.50 Meinungen liegen jedenfalls auch dann vor, wenn sich wertende Elemente „mit Elementen einer Tatsachenmitteilung oder -behauptung verbinden oder vermischen“51 oder Tatsachenbehauptungen Grundlage der Meinungsbildung sein können.52 Eine bewusst falsche Tatsachenbehauptung soll nach der Rechtsprechung nicht unter die Meinungsfreiheit fallen, „weil sie zur verfassungsmäßig ­vorausgesetzten Meinungsbildung nicht beitragen kann“.53 Schon hier fangen die Unsicherheiten an, weil die Kategorien „falsch“ und „richtig“ auf ein Verfahren verweisen müssen, welches eine entsprechende Tatsache konstruiert, also letztlich die Zuständigkeit zur Wahrheits BVerwGE 30, 29 (33). Das Gericht sah daher in der offensiven Haustürwerbung eines Polizisten in seiner Freizeit in Zivil für seine Religionsgemeinschaft zu Recht kein Dienstvergehen, weil es jedem Angesprochenen zumutbar ist, unerwünschtes Werben zurückzuweisen. 50  BVerfGE 94, 1 (8). 51  BVerfGE 61, 1 (9). 52  BVerfGE 90, 1 (15); 94, 1 (7). 53  BVerfGE 90, 1 (15). Alle übrigen Tatsachenbehauptungen mit Meinungsbezug genießen den Grundrechtsschutz, auch wenn sie sich später als unwahr herausstellen. So BVerfGE 99, 185 (197). 49

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feststellung bestimmt.54 Was als Tatsache anerkannt wird, ist hierbei – unbeschadet aller epistemologischen Unsicherheiten  – immer auch ein wertungsabhängiger Konstruktions- und Selektionsprozess.55 Die Abgrenzung zwischen Wertung und Tatsache ist also brüchig und eher auf alltagstheoretische Evidenzen zugeschnitten. Dies ist unzulänglich, wenn Wahrheit selbst zum Politikum wird. Auseinandersetzungen über Wahrheiten werden gegenwärtig wieder vermehrt zum weltanschaulichen Kulturkampf, der sich in einer – oft internetbasierten – Gegenöffentlichkeit abspielt, die von formalen Institutionen der Wahrheitsfeststellung abgekoppelt ist. Von Klimaskeptikern, über Fake News, Verschwörungstheorien bis „Team Gina Lisa“ geht es um Meinungskriege, die sich nicht entpolitisieren und durch formale Entscheidung, wer Recht hat, erledigen lassen. Lässt sich die Zuständigkeitsfrage „Quis iudicabit?“ aber nicht mehr sicher beantworten, sollte sich eine freiheitsverträgliche Grundrechtsdogmatik nicht implizit selbst Wahrheitskompetenz anmaßen und vermeintliche Tatsachenfragen bereits aus dem Schutzbereich verdrängen. Letztlich geht es um die Verteilung von Kommunikationsrisiken, um Darlegungslasten, um adäquate Feststellungskompetenzen und um die Vermeidung von chilling effects. Auch wenn es unverzichtbar bleibt, postmodernen Versuchungen zu widerstehen und in rechtsgebundenen Institutionen weiterhin zwischen richtigen und falschen Tatsachen zu unterscheiden, kann die Wahrheitsfrage nicht die entscheidende Weichenstellung für den Meinungsfreiheitsschutz sein, der vornehmlich die Offent­ heit, nicht die Bonität der Kommunikation sichern soll. Diese Fragen freiheitskonform auszutarieren, ist aber ein Problem der Grundrechtsschranken. Die differenzierte Bestimmung des Strafgesetzbuches (StGB) zum Schutz der persönlichen Ehre (§§ 185 ff. StGB) mit dem grundrechtlich angereicherten56 Auffangtatbestand der Wahrnehmung berechtigter Interessen (§ 193 StGB) kann hier als Vorbild dienen.

3. Sonderrecht des Internets? Bedarf es angesichts dieser Eskalationspotenziale eines Sonderrechts zur Regulierung der Meinungskundgabe im Internet? Es kann für das Internet jedenfalls keinen Technikbonus geben. Nur weil die kommunikativen Rahmenbedingungen eine Verrohung befördern, muss das Recht keine meinungsfreundlicheren Maßstäbe für die Internetkommunikation entwickeln. Ist es damit aber auch  – umgekehrt  –  Vgl. H. Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. (1960), 244 ff.  Verfahrenstheoretisch M. Breidenstein, Zur Methodik der Verfahrensrechtsvergleichung, 2012, 22  f.; W.  Hoffmann-Riem, Methoden einer anwendungsorientierten Verwaltungsrechtswissenschaft, in: E.  Schmidt-Aßmann/ders. (Hrsg.), Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft, 11 (37); ders., Verwaltungsverfahren und Verwaltungsverfahrensgesetz – einleitende Problemskizze, in: ders./E. Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Verwaltungsverfahren und Verwaltungsverfahrensgesetz, 9 (23 ff.); P. Reimer, Verfahrenstheorie, 2015, 285, 334 ff.; H.-H. Trute, Staatsrechtslehre als Sozialwissenschaft?, in: H. Schulze-Fielitz (Hrsg.), Staatsrechtslehre als Wissenschaft, 2007, 115 (130). 56  BVerfGE 12, 113 (125 f.); 42, 143 (152); 93, 266 (290 f.); 99, 185 (196); 114, 339 (347). Nachweise zur strafrechtlichen Diskussion K. Lackner/K. Kühl/M. Heger, StGB, 28. Aufl. (2014) § 193 Rn.  1; R.  Zaczyk, in: U.  Kindhäuser/U.  Neumann/H.-U.  Paeffgen (Hrsg.), Nomos-Kommentar Strafgesetzbuch, Bd. 2, 5. Aufl. (2017), § 193 Rn. 4 ff. 54 55

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ausgeschlossen, auf die besonderen Gefährdungen des Internets technikspezifisch zu reagieren? Mit der Technologieneutralität insbesondere des Kommunikationsstrafrechts ist man bislang nicht schlecht gefahren. Freilich bleibt das Recht hier gegenüber den Eskalationspotenzialen globaler Kommunikation sprachlos, obgleich die Einzelnen – etwa als Opfer von Hassbotschaften, Rassismus, organisierten Kampagnen oder Verleumdungen  – gerade hier besonders in ihren Persönlichkeitsrechten betroffen und auf Schutz angewiesen sind. Das gewählte Medium ist mehr als nur Trägerinfrastruktur, es determiniert auch den Kommunikationsinhalt, der sich nicht ohne die angesprochenen Adressaten und die Form der Wahrnehmbarkeit bestimmen lässt. Über das Medium werden etwa gesteuert: die wahrscheinlichen Rezipienten, die Wahrnehmbarkeit, die Geschwindigkeit und die kommunikative Streubreite. Die Schranken der Meinungsfreiheit (Art.  5 Abs.  2 GG) stehen einer folgenbezogenen Differenzierung nach Verbreitungsform und -medium jedenfalls nicht entgegen. Schon bislang war es üblich, das jeweilige Kommunikationsformat und die sozialen Kontexte in rechtliche Tatbestände einzupflegen. Etwa den Privilegien der Presse57 korrespondieren besondere Sorgfaltspflichten (vgl. etwa § 6 PresseG NRW).58 Oder als Volksverhetzung ist nur strafbar, was nach der Art und Weise der Kommunikation den öffentlichen Frieden zu stören geeignet ist (§  130 Abs. 1 StGB).59 In Bezug auf das Internet ergeben sich freilich rein praktisch weniger Subsumptions- als Durchsetzungsschwierigkeiten. Bei allen Problemen im Detail, die hier nicht zu vertiefen sind,60 enthält das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG),61 das die Kommunikationsmittler zur Störungsbeseitigung bei strafbaren Inhalten in Social Media in die Mitverantwortung nimmt, durchaus einen sinnvollen Ansatz. Im Übrigen wäre es schon jetzt möglich, die besonders schwerwiegenden Folgen von Äußerungen im Internet bei der Strafzumessung oder bei Interessenabwägungen angemessen zu berücksichtigen.

 Im Überblick R.  Ricker/J.  Weberling, Handbuch des Presserechts, 6.  Aufl. (2012), Kap.  10 Rn. 1 ff. 58  Hierzu etwa F. Fechner/A. Wössner, Journalistenrecht, 2. Aufl. (2012), 70 ff. 59  Vgl. zur kontextbezogenen Öffentlichkeit der Äußerung BGHSt (Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Strafsachen) 46, 36 (42); T. Fischer, StGB, 64. Aufl. (2017), § 130 Rn. 14. 60  Hierzu etwa N. Guggenberger, Das Netzdurchsetzungsgesetz in der Anwendung, NJW (Neue Juristische Wochenschrift) 2017, 2577 (2580, 2581 f.); K.-E. Hain/F. Ferreau/T. Brings-Wiesen, Regulierung sozialer Netzwerke revisited, K&R (Kommunikation & Recht) 2017, 433 (434 f.); G. Spindler, Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz, K&R 2017, 533 (544). 61  Netzwerkdurchsetzungsgesetz v. 01.09.2017 (BGBl. [Bundesgesetzblatt] I S. 3352). 57

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IV. Meinungsfreiheit nichtrechtlich Mit Blick auf die gegenwärtigen Herausforderungen lässt sich festhalten: Die Meinungsfreiheit braucht kein Update. Die gegenwärtigen Konflikte betreffen keine neuen, sondern die alten Herausforderungen, an denen sich die Meinungsfreiheit schon immer zu bewähren hatte. Anzupassen ist aber der politische Umgang mit einer veränderten Öffentlichkeit. Die gegenwärtigen Herausforderungen, wie mit einer diffusen, schnelllebigen und zu Radikalisierung neigenden Internet-­ Öffentlichkeit umzugehen ist und wie wir Pauschalierung, Panikmache sowie antireligiösen Affekten begegnen, betreffen vornehmlich die Rationalisierung von öffentlichen Diskursen in einer Welt, die sich zunehmend postmodernem Irrationalismus verschrieben hat und diesen auch genussvoll auslebt. Es ist hierbei keine Aufgabe des Rechts, sondern des politischen Systems, innerhalb der verfassten In­ stitutionen gesellschaftlich ausgetragene Konflikte aufzugreifen, öffentlich zu thematisieren und zu rationalisieren. Ohne eine selbstbewusstere Entkopplung institutionengebundener Politik vom diffus vernetzten Meinungsrauschen des Internets wird dies nicht funktionieren. Um politisch zu entscheiden und Entscheidungen zu vermitteln, bedarf es kommunikativer Reduktion, einer Filterung, die aber durch eine geordnete Staatswillensbildung zu leisten ist, nicht durch die Meinungsfreiheit, die  – wie jedes Freiheitsrecht  – als Freiheit zur individuellen Beliebigkeit62 kein Rationalitätsversprechen ist und als diskursives Verflüssigungsmittel kein die eigene Freiheitlichkeit transzendierender Entwurf einer Ethik des Miteinanders sein kann.63 Wir müssen uns daran gewöhnen, dass die Meinungsfreiheit kein Schönwettergrundrecht ist, auch wenn wir lange Schönwetterperioden des Meinungsklimas genießen durften. Liberal-demokratische Ordnungen müssen aus Eigeninteresse lernen, mit einem raueren, konfrontativeren und stärker fragmentierten Meinungsklima konstruktiv umzugehen. Schon die globale Vernetzung der Kommunikation über das Internet konfrontiert uns mit Meinungen, die unter dem Schutz von Rechtsordnungen stehen, die Persönlichkeitsschutz und Meinungsfreiheit anders austarieren. Ein aggressiver Ton der Auseinandersetzungen wird uns daher auf absehbare Zeit erhalten bleiben. Ein Rückzug in die Wohlfühlecken der harmoniebedürftigen64 Aufgeklärten – in ein Ghetto apolitisch dem Meinungskampf entrückter Rechte – reicht nicht mehr aus, weil nicht repräsentierte Gegenöffentlichkeiten über den brodelnden Meinungshexenkessel Internet heute andere Wege finden, sich Relevanz zu verschaffen. Und hysterischer Empörungsgestus hat den Aufständchen der Unanständigen bislang nichts entgegenzusetzen vermocht, außer ihnen zusätzliche Aufmerksamkeit zu verschaffen. Die kommunikative (und damit auch die epistemische) Offenheit einer Gesellschaft wird nicht nur durch eine dysfunktionale Tabuisierung, durch ausgrenzende  H. H. Klein, Die Grundrechte im demokratischen Staat, 1974, 10.  W. Kahl, Die Schutzergänzungsfunktion von Art. 2 Abs. 1 Grundgesetz, 2000, 34 ff. 64  Vgl. analytisch F. Schorkopf, Staat (o. Fußn. 19), 40 f. 62 63

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Abschottung der Meinungsmärkte und Diskursverweigerung beeinträchtigt. Diskursive Offenheit kann auch dadurch gefährdet werden, dass Konflikte bis zu einer Temperatur angeheizt werden, bei der ein Miteinandersprechen nicht mehr möglich ist. Jenseits der Meinungsfreiheit benötigt jede Gesellschaft auch soziale Schranken des Unsagbaren. Christoph Möllers hat jüngst bissig festgestellt: „Auch der Wunsch nach mehr ‚Politisierung‘ klingt nur solange schön, wie er nicht in Erfüllung geht“.65 Dies ist freilich kein Problem der Meinungsfreiheit, die sich – als Konsequenz der epistemologischen Prämissen von Demokratie – gerade dagegen richtet, politische Ideen wegen ihrer vermeintlichen „Gefährlichkeit“ zu unterdrücken.66 Mit eruptiver Politisierung fertig zu werden, gehört zum politischen Kerngeschäft jeder – auch unserer lange verwöhnten – Demokratie. Das Recht kann hierzu wenig beitragen, außer die Foren der Auseinandersetzung offen zu halten und „Gegensätzen Raum“ zu bieten.67 Schon in der Möglichkeit zur gleichberechtigten Äußerung objektiviert sich demokratische Gemeinschaft.68 Gerade Streitkultur, Gelassenheit und Provokationsresistenz gehörten bislang indes leider nicht zu den Stärken urban-bürgerlichen Lebensgefühls.69 Nach alledem verbleibt nur eine demokratiepolitische Handlungsempfehlung: Mehr Demokratie durch weniger Twitter wagen! Prof. Dr. Klaus F. Gärditz,  geb. 1975 in Trostberg (Oberbayern), Studium der Rechtswissenschaft in Bonn. Staatsexamina 1999 u. 2001. 2002 Dr. jur. Universität Bonn. Nach Tätigkeiten als Verwaltungsrichter in Rheinland-Pfalz und als Rechtsanwalt in der Bonner Kanzlei Boesen Wissenschaftlicher Assistent am Institut für Öffentliches Recht und Europarecht der Universität Bayreuth, dort 2009 Habilitation. Seit 2009 Lehrstuhl für Öffentliches Recht an der Universität Bonn. Seit 2014 stellvertretender Richter am VerfGH des Landes Nordrhein-Westfalen, seit 2015 Richter im Nebenamt am 8. Senat des OVG für das Land Nordrhein-Westfalen. Viele Veröffentlichungen u. a. zum Verwaltungsprozessrecht, dem Umweltrecht, Wissenschaftsrecht, Strafprozessrecht, Völkerrecht, Lebensrecht.

 C. Möllers, Wir (o. Fußn. 16), 15.  J. Masing, Meinungsfreiheit und Schutz der verfassungsrechtlichen Ordnung, JZ 2012, 585 (586). 67  A. Voßkuhle, Die Verfassung (o. Fußn. 14), 49. 68  A. Reichman, Criminalizating Religiously Offensive Satire: Free Speech, Human Dignity, and Comparative Law, in: I. Hare/J. Weinstein (Hrsg.), Extreme Speech and Democracy, 2009, 331 (335); B. Rox (o. Fußn. 43), 33 f. 69  Pointierte Diagnose bei C. Möllers, Wir (Fn. 16), 5 ff. 65 66

Internet-Konflikte zwischen Meinungsfreiheit und Recht auf persönliche Ehre Anonymität im Netz, Hate Speech-Bekämpfung, Netzwerkdurchsetzungsgesetz und alternative Regulierungsansätze für das Internet Lothar Häberle

Inhaltsverzeichnis I. Zwei Phasen der Internet-Entwicklung und deren Wahrnehmung  1. Phase 1: Das Internet als Medium revolutionierender Möglichkeiten und neuer Freiheit  2. Phase 2: Unerwünschte Internet-Entwicklungen und neue Nachdenklichkeit über das Netz  a) Private Datenmacht  b) Bei Facebook häufige Änderungen der Settings ... immer in eine Richtung  c) Digitale Technosteuerung durch Echo-Kammern bzw. Filterblasen  d) Problemfelder auf der Verursacher-Seite: Hate Speech, Fake News, Deep Web/Darknet  e) Problemfelder auf der Betroffenen-Seite  II. Anonymität als das grundlegende Spezifikum des Internets  1. Anonymität: Inhalt, Grade, technische Anmerkungen  2. Vor- und Nachteile von Anonymität (Pseudonymität)  3. Recht auf Anonymität – verfassungsrechtlicher Schutz von Anonymität und dessen Schranken  III. Weitere Spezifika des Internets  1. Mehrpoligkeit von (Grund-)Rechtsverhältnissen bei Konflikten im Internet  2. Entgrenzte Kommunikationsräume  3. Verflechtung von User und informationstechnischem System  4. Technologische Fremdsteuerung  5. Vergessen(werden) im Netz  6. Persönlichkeitsprofile (auch) durch „Big Data“  IV. Verfassungsrechtliche Verortungen  1. Zur digitalen Dimension von Art. 2 I GG  a) Recht auf persönliche Ehre  b) Recht auf informationelle Selbstbestimmung  c) Zum „IT-Grundrecht“ 

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L. Häberle (*) Lindenthal-Institut, Köln, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Häberle (Hrsg.), Islam – Meinungsfreiheit – Internet, https://doi.org/10.1007/978-3-662-59426-1_7

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2. Art. 5 I GG: digitale Meinungs- und Medienfreiheit  a) Meinungsfreiheit internet-spezifisch  b) Internet als Teil der Medienfreiheit  c) Echo-Kammern als Problem der Informations- und Meinungsvielfalt im Internet  d) Online-Bewertungsportale als Ausdruck der Meinungsäußerungsfreiheit  3. Schutzpflichten – mittelbare Drittwirkung  a) Schutzpflichten des Staates  b) Mittelbare Drittwirkung: Ausstrahlung der Grundrechte auf das Verhältnis zwischen Privaten im Zivilrecht  4. Zur Lösung typischer Grundrechtskonflikte zwischen Privaten im Internet  a) Daten-Nutzung durch Private  b) Urheberrechtskonflikte  c) Meinungsäußerungsfreiheit vs. allgemeines Persönlichkeitsrecht (Schutz der persönlichen Ehre)  V. Zum NetzDG  1. Kritik am NetzDG  2. Massives Overblocking zu Lasten der Meinungsfreiheit? Ein zweiter Blick und erste empirische Ergebnisse für 2018  3. Vorläufige Bewertung des NetzDG  a) Auskunft über Verursacher-Daten im TMG  b) Ergänzungen (de lege lata und) de lege ferenda  c) Anti-Kritik zum NetzDG  d) Vorläufige Bewertung  VI. Policy-Mix zum Abbau von Internet-Konflikten zwischen Privaten  1. Allgemeine Überlegungen  a) Recht und Technik  b) Beitrag der klassischen Medien zur Vielfalt-Sicherung  c) Internationalität des Cyberspace  2. Rechtliche Ansatzpunkte de lege lata  a) „Regulierte Selbstregulierung“  b) Kontrahierungszwang bei allgemeinen Foren aufgrund mittelbarer Drittwirkung  3. Rechtlicher Aufriss de lege ferenda  a) Gegenmacht-Potenziale  b) „Cyber Courts“  c) Strafprozessuale Verschärfung bei Beleidigungsdelikten im Internet  d) Vielfaltsichernde Generalklausel für Intermediäre  e) Bewertungsportale  f) Zwei Alternativen zum NetzDG  g) Jugend-Medienschutz  h) Beauftragte: zum einen konzern-intern, zum anderen europaweit  i) Internationale Verträge  4. Nicht-rechtliche Verbesserungsansätze  a) Selbstfestlegung und „Netiquette“  b) Förderung einer Community-Bildung durch Website-Betreiber  c) Stärkung der Medienkompetenz  VII. Fazit in 12 Thesen 

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Die geistige, publizistische und politische Auseinandersetzung um den Islam in Deutschland und Europa findet zu guten Teilen im Internet statt. Auch wenn der starke Internet-Bezug dieses Themas mit dem Islam unmittelbar nichts zu tun hat,

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ist dies schon mittelbar anders. Denn das Internet wirkt als Konflikt-Verstärker: Das Netz wird vielfach anonym genutzt, man kennzeichnet selten seine Beiträge mit Klarnamen, will sie sich nur ausnahmsweise zurechnen lassen. So wirkt das Internet enthemmend: nicht nur wegen der mangelnden Zurechenbarkeit und Verantwortlichkeit für Duktus und Inhalt seines Beitrags, sondern auch und mehr noch, weil der Andere, zumal der Kritisierte und oft auch Angegriffene, unsichtbar bleibt. Der attackierte Muslim bspw. sitzt nicht vor seinem Kontrahenten, sodass er auf das gesprochene oder geschriebene Wort reagieren könnte, sondern man schreibt „in den Äther hinein“, hat vielleicht die eigenen Gesinnungsfreunde vor Augen und erwartet deren Beifall. Das mit dem Internet verbundene Phänomen der Filterblase bzw. Echo-Kammer spielt dabei eine erhebliche Rolle. „Das Recht regelt das Leben, der Blick des Juristen wechselt zwischen Wirklichkeit und Norm immer wieder hin und her.“1 Dieser grundlegenden Erkenntnis soll in diesem Beitrag dadurch Rechnung getragen werden, dass zuerst einmal die sich schnell wandelnde Wirklichkeit in den Blick genommen wird (I., II. und III.), anschließend deren verfassungsrechtliche Verortung, besonders die in Konflikt miteinander geratenden Grundrechte der Meinungsfreiheit und des Persönlichkeitsrechts, besonders des Rechts auf Ehre (IV.). Aus der wirklichkeitsgerecht ausgelegten Norm sind im letzten Teil unterschiedliche Regulierungsansätze zu diskutieren: das NetzDG (Netzwerkdurchsetzungsgesetz)2 (V.) sowie rechtliche und nicht-rechtliche Alternativen (VI.). Im Fazit (VII.) werden die Hauptlinien des Beitrags ausgezogen und Schlussfolgerungen in zwölf Thesen präsentiert.

I. Zwei Phasen der Internet-Entwicklung und deren Wahrnehmung Fast scheint es, als wollte das Internet in seiner technisch-wirtschaftlichen Entwicklung und öffentlichen Wahrnehmung die Französische Revolution nachzeichnen: Auf eine euphorische Phase folgt eine, die allzu klar Gefährdungen, ja bereits eingetretene Fehlentwicklungen deutlich werden lässt. In Frankreich folgte auf die erste Epoche mit der die Freiheit und Gleichheit fördernden Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 (und der Verfassung von 1791) eine zweite, von den „Jakobinern“ unter Robespierre dominierte, die im Zeichen der Guillotine Frankreich einer „fürchterlichen Diktatur“ unterwarf (1793/94). Die Napoléons Handschrift tragende Verfassung von 1799 enthielt kaum mehr die freiheitsfördernden Elemente der Erklärung von 1789, stattdessen weitreichende Polizeigesetze. Diese Verfassung wurde zur Grundlage der napoleonischen Militärdiktatur.3  Statt vieler G.  Kirchhof, Kumulative Belastung durch unterschiedliche staatliche Maßnahmen, NJW (Neue Juristische Wochenschrift) 2006, 732 (736). 2  NetzDG v. 01.09.2017 (BGBl. I S. 3352). 3  Historische Daten bei W. Frotscher/B. Pieroth, Verfassungsgeschichte, 6. Aufl. 2007, Rn. 52 ff. (insbes. 54, 58, 63 ff., 74, 80–85, Zitat in 81). 1

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1. Phase 1: Das Internet als Medium revolutionierender Möglichkeiten und neuer Freiheit Auch das Internet hat bisher zwei Phasen durchschritten. In der ersten wurden die weitreichenden Möglichkeiten entwickelt und verdeutlicht, die diesem neuen Medium innewohnen und die es – auch heute noch – keineswegs ausgeschöpft hat: In der „digitalen Welt erlebt der moderne Mensch Befreiung (...) durch technischen Fortschritt. Er gewinnt Wissen und Gedächtnis, Analyse-, Kombinations- und Kommunikationsmöglichkeiten, Verteilungs-, Begegnungs- und Vereinigungschancen, Kontroll- und Planungskapazitäten ungeahnten Ausmaßes.“4 Es entstehen ganz neue Anwendungen und Bereiche wie soziale Netzwerke, zudem Blogs zu allgemein politischen, zu speziellen alltagspraktischen wie auch zu wissenschaftlichen Themen, an denen jeder mit eigener Meinungsäußerung mitwirken kann. Es entstehen Bewertungsforen für Ärzte, Anwälte, Hotels und Restaurants, Lehrer und Professoren. Es entsteht eine neue virtuelle Welt. Es entsteht aber auch eine nachhaltige Transformation der „alten“, der realen Welt mit bisher ungeahntem Potenzial: • für die Verbraucher mit neuen Produktangeboten und deren Transaktionskosten senkenden Einkaufsmöglichkeiten, auch das „Internet of Things“ verspricht viele ungeahnte Nutzanwendungen; • für viele Unternehmen aufgrund des direkten Zugangs zum Verbraucher, gezielterer und kostengünstigerer Werbung, oft auch die Erschließung weiterer Märkte sowie neuer Technologien; • auch für die Wissenschaft, denn sie „gewinnt durch die Digitalisierung den weltweiten Zugriff auf Informationen, nutzt Techniken fast beliebiger Forschungszusammenarbeit, erschließt sich Wissenskombinationen und Wissensvertiefungen, die dem einzelnen Forscher oder Labor nicht möglich wären“;5 • last, not least für die Demokratie mit neuen Möglichkeiten der Meinungsäußerung und Information, mit „Druck auf die abgeriegelten Informationsräume der Diktaturen“ und der „Zukunftserwartung einer digitalen Agora“.6 Das Internet dient also vielen wesentlichen Bereichen der realen Welt system­ übergreifend als Operationsplattform. Rasantes Wachstum und kurze Innovationszyklen prägen Internet und IT. „Beim Internet dürfte es sich daher um die entscheidende Infrastruktur der nächsten Jahrzehnte handeln, damit verbunden ist dann auch ein Bedeutungszuwachs der digitalen Dimension der Grundrechte“.7 Deshalb ist es  P. Kirchhof, Der Bürger in Zugehörigkeit und Verantwortung, in: HStR (J. Isensee/P. Kirchhof [Hrsg.], Handbuch des Staatsrechts, Band) XII, 32014, § 283 Rn. 37. Dieses Zitat entspricht allerdings nicht der Gesamtsicht dieses Autors auf das Internet. 5  Ebd., Rn. 38. 6  U. Di Fabio, Grundrechtsgeltung in digitalen Systemen. Selbstbestimmung und Wettbewerb im Netz, 2016, 14 f. (Zitate auf 14, Hervorh. im Original). 7  C. Hoffmann/A. D. Luch u. a., Die digitale Dimension der Grundrechte, 2015, 21 (Hervorh. im Original). 4

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nicht übertrieben, die Bedeutung der Evolution von Digitalisierung, Computertechnologie und Internet für die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung mit der „industriellen Revolution des 19. Jahrhunderts“ zu vergleichen.8 So kann es auch kaum verwundern, dass Phase 1 keineswegs abgeschlossen ist, sondern – anders als bei der Französischen Revolution – in Phase 2 sich ungebrochen weiterentwickelt. Vor allem die sozialen Netzwerke stellen eine Kombination von technologischen und sozialen Innovationen dar, wodurch „eine neuartige Qualität von distanzierter und doch niedrigschwelliger Kommunikation entstanden“ ist.9 Auch hierin zeigt sich das Einwirken der technologie-getriebenen virtuellen Welt auf die reale. Daraus entwickeln sich u. a. einige interessante Innovations-Fel­der: • das Projekt „autonomes Fahren“,10 bei dem Unternehmen der Automobil-Industrie mit IT-Unternehmen zusammen arbeiten; • in den USA ist der Einsatz von „Legal Technology“ deutlich verbreiteter als in Deutschland, wobei es auch um online-basierte Rechtsberatung, den IT-Einsatz bei (Standard-)Verträgen, die Vorhersage gerichtlicher Entscheidungen durch Auswertung früherer geht;11 • das internet-gestützte Aufdecken von Plagiaten in wissenschaftlichen Arbeiten speziell von Politikern;12 • beim „denkenden Zuhause“ (Google nest labs) wird die Bedürfnisbefriedigung antizipiert: Der geleerte Kühlschrank gibt selbstständig Ergänzungsbestellungen auf;13 • das „Whistleblowing“. Es wird immer dann auch rechtlich positiv bewertet, wenn dem anonymen Veröffentlichen von Missständen in einem Unternehmen bzw. in einer Behörde voran gegangen war, dass der Whistleblower versucht hatte, Verantwortliche der jeweiligen Institution auf die entsprechenden Missstände aufmerksam zu machen.14

 W. Hoffmann-Riem, Der grundrechtliche Schutz der Vertraulichkeit und Integrität eigengenutzter informationstechnischer Systeme, JZ (Juristenzeitung) 2008, S. 1009 (1010) (Hervorh. durch LH). 9  C. Bieber/M. Eifert u. a., Soziale Netzwerke in der digitalen Welt, in: dies. (Hrsg.), Soziale Netzwerke in der digitalen Welt, 2009, 11 (21). 10  S. Di Fabio, Grundrechtsgeltung (o. Fn. 6), 30; W. Hoffmann-Riem, Verhaltenssteuerung durch Algorithmen  – eine Herausforderung für das Recht, AöR (Archiv des öffentlichen Rechts) 142 (2017), 1 (18 f.). 11  Ebd., 1 (16 f.). 12  W. Hoffmann-Riem, Regelungsstrukturen für öffentliche Kommunikation im Internet, AöR 137 (2012), 509 (517). 13  Di Fabio, Grundrechtsgeltung (o. Fn. 6), 30 f. 14  O.  Griess, Klarnamenpflicht im Internet  – verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen einer staatlichen Schutzpflicht, 2016, 75 ff.; C. Grabenwarter, in: T. Maunz/G. Dürig (Hrsg.), Kommentar zum GG, Art. 5 I, II GG (Stand 2013) Rn. 183 ff.; C. Degenhart, in: BK (Bonner Kommentar zum GG), Art. 5 I, II GG (Stand 2017) Rn. 499. 8

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2. Phase 2: Unerwünschte Internet-Entwicklungen und neue Nachdenklichkeit über das Netz Die zweite Phase führte vom „Land unbegrenzter Möglichkeiten und Freiheiten“, von dem nicht nur Netzaktivisten träumten, zu neuer Nachdenklichkeit in der Öffentlichkeit. Dabei bekämpf(t)en erhebliche Teile der Netzcommunity Schutzvorkehrungen jeglicher Art als „paternalistisch“. „Diese Position darf sich der Staat nicht zu eigen machen.“15 Die Enthüllungen von Edward Snowden über die weltweiten Tätigkeiten des US-Geheimdienstes NSA werden manche erschüttert haben. „Für die Frage, ob das Recht sich im Netz durchsetzen kann oder nicht, ist diese Erschütterung bedeutsam.“16 Die Snowden-Zäsur zeigte, dass auch im Internet völlig ohne Recht und Regulierungen nicht auszukommen ist.17 a) Private Datenmacht Aber nicht nur mit der Snowden-Zäsur im staatlichen, sondern mehr noch im privaten Bereich wurden eingetretene Fehlentwicklungen deutlich: Einige Unternehmen gewannen „private Datenmacht“18 durch eine große Menge z. T. auch persönlicher Daten, die die Nutzer ihrer Angebote ihnen per Einwilligungserklärung überließen. Diese Datenmacht ließ sich für sie in wirtschaftliche Macht19 umsetzen, sodass inzwischen von einer umfassenden Macht einiger Unternehmen wie Google, Facebook, YouTube etc. und einer asymmetrischen Konkurrenzlage in großen Teilen der Internetökonomie zu sprechen ist.20 b) Bei Facebook häufige Änderungen der Settings ... immer in eine Richtung Das große soziale Netzwerk Facebook änderte im Laufe der Jahre die Nutzungsbedingungen erheblich.21 Begonnen hatte es als lokales Netzwerk nur für Harvard-­ Studenten, später auch für Studenten anderer amerikanischer Colleges, danach auch  Hoffmann-Riem, Regelungsstrukturen (o. Fn. 12), 509 (528).  Vgl. Di Fabio, Grundrechtsgeltung (o. Fn. 6), 19, auch 11, 21. 17  Von den folgenden Ausführungen beziehen sich a) – c) auf das Handeln privater Intermediäre, d) auf das der Verursacher verschiedenartiger Angriffe und e) auf die (Rechts-)Position der Angegriffenen bzw. Geschädigten. 18  Begriff bei H. Kube, Persönlichkeitsrecht, in: HStR VII, 32009, § 148 Rn. 145. 19  „Eine Suchmaschine wie Google hat schon nominell Marktanteile von 90 %, die sich faktisch erhöhen, wenn man berücksichtigt, dass andere Suchmaschinen auf Google-Leistungen zurückgreifen.“ Di Fabio, Grundrechtsgeltung (o. Fn. 6), 80. 20  Stellvertretend für viele: Hoffmann-Riem, Regelungsstrukturen (o. Fn. 12), 509 (533 ff.), ders., Verhaltenssteuerung (o. Fn. 10), 1 (22 f.), Di Fabio, Grundrechtsgeltung (o. Fn. 6), 69 ff. 21  Zum Folgenden: I. Brodnig, Der unsichtbare Mensch. Wie die Anonymität im Internet unsere Gesellschaft verändert, 2013, 153 ff. 15 16

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für High-School-Schüler und noch später für jeden ab 13 Jahren, schließlich erfolgte die Internationalisierung über die USA hinaus – am Anfang also familiär, fast elitär, mit der Verbreitung das zwar verwässernd, aber immer noch vom Image des Anfangs oder zumindest von dem der letzten Stufe lebend. Facebook verbreitete sich offline durch den Bekanntenkreis, denn man will ja gerade – fast als „zweites Wohnzimmer“ – Inhalte und Fotos mit seinen Freunden teilen. Dann gilt es in Kauf zu nehmen, sich mit seinem richtigen Namen anzumelden (Facebook räumte 2012 aber selbst ein, dass von seinen mehr als 1 Milliarde Mitgliedern – 2016 sollen es bereits 2,1 Mrd. gewesen sein22 – vermutlich auf 83 Millionen Accounts Pseudonyme angegeben waren). Diese Transparenz verteidigt das Netzwerk mit der erfolgreichen Eindämmung von Hass-Kommentaren sowie mit der Forderung, dass jeder nur eine einzige Identität haben und zu seinem Tun stehen solle, eine für Netz-Aktivisten keineswegs selbstverständliche Forderung. Dieses hohe Ethos kontrastiert jedoch sowohl mit dem gerade skizzierten Verwässerungseffekt23 als auch mit der Tatsache, dass Facebook Jahr für Jahr die Privatsphäre-­Standardeinstellungen so änderte, dass die User standardmäßig immer mehr auch persönliche Daten teilten (das Wohnzimmer bekam ständig mehr Glasfenster). Der User kann zwar diese Änderungen vermeiden, muss dazu aber Zeit investieren und Wissen mitbringen. Da das nur einige tun, werden insgesamt viel mehr Daten geteilt und damit auch Facebook preisgegeben als von den Usern eigentlich intendiert. „‚Bait and switch‘, ködern und dann die Settings umstellen“24 – diesen kritischen Kommentar hat sich Facebook redlich verdient. c) Digitale Technosteuerung durch Echo-Kammern bzw. Filterblasen Die kostenlosen Angebote von sozialen Diensten und Internet-Plattformen erfordern keinen Geldtransfer, haben aber sehr wohl ihren Preis: Er besteht in der Nutzung der User-Daten für eine höhere Zielgenauigkeit der angebotenen Nachrichten und Werbung. Denn je länger der Nutzer den entsprechenden Dienst in Anspruch nimmt, desto höher sind die Werbeeinnahmen des Anbieters, wobei die Zielgenauigkeit der eingespielten Werbung deren Effizienz – und damit letztlich wieder die Werbeeinnahmen – erhöht. Die Problematik derartiger Geschäftsmodelle von Anbietern liegt darin, dass Algorithmen speziell von Suchmaschinen auf diese Weise den Wahrnehmungs-Horizont der Nutzer verengen: Dieser lebt immer mehr nur noch in „seiner“ Welt, die ständig kleiner und spezieller wird; so bekommt etwa ein Islam-Kritiker sehr aktuell Informationen über Vorfälle aus der islamischen Welt, die ihn in seiner Haltung bestärken, denn es denken scheinbar alle so wie er selbst. Andere Themen oder gar Vorfälle aus der islamischen Welt, die diese Haltung rela Vgl. A. Lang, Netzwerkdurchsetzungsgesetz und Meinungsfreiheit. Zur Regulierung privater Internet-Intermediäre bei der Bekämpfung von Hassrede, AöR 143 (2018), 220 (239). 23  Er wird noch dadurch verstärkt, dass man inzwischen „auch auf unzähligen anderen Websites mittels Facebook kommentieren und interagieren“ kann. Brodnig, Der unsichtbare Mensch (o. Fn. 21), 154. 24  Ebd., 155. 22

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tivieren oder konterkarieren könnten, erhält er nicht. Das für den Nutzer „instrumentell vorgeformte Bild der Wirklichkeit“ stellt nur einen „Ausschnitt der Wahrheit (dar), der wie das vollständige Bild wirkt.“ Solche filter bubbles oder Echo-Kammern bewirken beim User Selbstbestärkungseffekte und führen so tendenziell zu (weiterer) Fragmentierung von Weltbildern, politischer Polarisierung und zur Segregation der Gesellschaft.25 „Die Möglichkeiten digitaler Technosteuerung gehen (mithin) quantitativ und qualitativ erheblich über die tradierten Formen medialer Beeinflussung hinaus.“26 d) Problemfelder auf der Verursacher-Seite: Hate Speech, Fake News, Deep Web/Darknet aa) Vor der Beschäftigung mit einzelnen Problemfeldern gilt es der Frage nachzugehen, aus welchen durch das Medium Internet verursachten, also inneren Gründen Kommunikation im Internet oft aggressiver erscheint als im realen Bereich.27 Selbst für sehr private Inhalte erlaubt das Internet „eine relativ anonyme Kommunikation und kann dadurch den Abbau von Hemmschwellen verursachen, die sonst in anderen Kontexten wirksam werden könnten“.28 Dabei stellt sich allerdings die Frage, ob ein solcher Enthemmungseffekt wirklich ausschließlich oder zumindest überwiegend auf Anonymität zurückzuführen ist – das erscheint zwar plausibel, denn da der Angreifer für seine Taten (in den nächsten Abschnitten wird deutlich, für welche) nicht belangt werden kann, ist seine Verantwortlichkeit für sein Tun meist stark vermindert. Ein anderer bedeutender Faktor für diesen Effekt besteht aber in der Unsichtbarkeit eines möglichen Gegenübers: Es fehlen die non-verbalen Signale, der Blick in die Augen, mithin die unmittelbare Rückkoppelung auf das eigene Tun. Angesichts der ausfallenden Reaktion fehlt zugleich die Möglichkeit, seine Handlung reflektieren zu können. So hat man das Gefühl, keine Konsequenzen seines Verhaltens fürchten zu müssen.29 – Da eine derartige Enthemmung viele Problemfelder auf Verursacher- bzw. Angreifer-Seite prägt, gehört sie an den Anfang dieser Problemfelder-­Skizze.

 Di Fabio, Grundrechtsgeltung (o. Fn. 6), 55 f. (Zitat auf 55).  Hoffmann-Riem, Verhaltenssteuerung (o. Fn. 10), 1 (11 ff., Zitat auf 12) (Hervorh. durch LH). – S. auch unten unter IV.2.c). 27  Stellvertretend für viele: D.  Heckmann, Persönlichkeitsschutz im Internet. Anonymität der IT-Nutzung und permanente Datenverknüpfung als Herausforderungen für Ehrschutz und Profilschutz, NJW 2012, 2631. 28  Hoffmann-Riem, Regelungsstrukturen (o. Fn. 12), 509 (518). 29  Brodnig, Der unsichtbare Mensch (o. Fn. 21), 70 ff., die sich stützt auf J. Suler, The Online Disinhibition Effect, in: CyberPsychology and Behavior 7 (2004), online. Suler benennt 6 Bausteine für diesen Effekt, wobei Unsichtbarkeit und Anonymität neben der Asynchronität (kein direktes, sondern bestenfalls ein zeitverzögertes Feedback) die wichtigsten darstellen. 25 26

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bb) Zu den wichtigsten Problemfeldern auf Angreifer- bzw. Verursacherseite im Einzelnen: • Seit Beginn der Internet-Phase 2 kennzeichnen Hass-Kommentare (Hate Speech) ein besonderes Problemfeld. In den letzten Jahren wurde es stark thematisiert und diente zur Begründung des vom Gesetzgeber 2017 beschlossenen NetzDG. Nach den aufgrund des NetzDG von den Unternehmen vorgelegten Zahlen wurden im Jahr 2018 in Deutschland bei Facebook 2750 Beschwerden (Inhalte) gemeldet, bei Twitter 521.000 und bei YouTube 466.000, insgesamt also 990.000. Von diesen Beschwerden wurde 165.000 im Jahr 2018 stattgegeben, die entsprechenden Beiträge gelöscht oder gesperrt.30 Mithin existiert mit Hate Speech ein sehr augenfälliges Problem, das an die (deutsche) Politik besondere Anforderungen stellt. • Befördert werden kann Hate Speech durch Cyber-Mobbing:31 Von den Beleidigungen, Bedrohungen, Bloßstellungen oder Belästigungen mit Hilfe von E-Mails, Websites, Foren oder Chats sind meist in der Öffentlichkeit unbekannte Personen betroffen. Unterschiede zu früheren Mobbing-Aktionen bestehen darin, dass nun durch das Internet alle Angriffe sowohl prinzipiell durch Suchmaschinen überall hin und sehr schnell verbreitet werden (können) als auch nur schwer wieder zu löschen sind, nicht zuletzt wegen der häufigen Verlinkungen mit anderen Seiten.32 • Ähnlich sind die Fälle gelagert, die unter dem Begriff „Shitstorm“ bzw. „Sturm der Entrüstung“ firmieren.33 Dabei handelt es sich um eine meist ungeplante, anhaltende, über soziale Netzwerke und Blogs verbreitete Welle der Entrüstung über das Verhalten öffentlicher Personen und Institutionen, aber auch über unbekannte Bürger. Sie verselbstständigt sich schnell, entfernt sich vom sachlichen Kern des auslösenden Ereignisses und greift auch in die traditionellen Medien über. Kennzeichen ist die große Dynamik dieser Welle. Die Verhältnismäßigkeit zwischen dem Gewicht des auslösenden Ereignisses und der Sanktion im Netz gerät dabei regelmäßig aus den Fugen,

 Eigene Zusammenstellung der Zahlen nach L.  I. Löber/A.  Roßnagel, Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz in der Umsetzung. Bilanz nach den ersten Transparenzberichten, MMR (Multimedia und Recht) 2019, 71 (72  f.) sowie D.  Berger, Netzwerkdurchsetzungsgesetz: Die große Zensur durchs NetzDG blieb bislang aus, in: Heise online, 31.01.2019. Weiteres zu den Zahlen s. u. unter V.2. 31  A. Glaser, Grundrechtlicher Schutz der Ehre im Internetzeitalter, NVwZ (Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht) 2012, 1432 (1432). 32  Hoffmann/Luch u. a., Die digitale Dimension (o. Fn. 7), 91, 94. In Extremfällen hat Cyber-Mobbing sogar zu Suiziden geführt (ebd., 115). 33  Glaser, Grundrechtlicher Schutz (o. Fn. 31), 1432 (1432); Griess, Klarnamenpflicht (o. Fn. 14), 14 f.; den gleichen Sachverhalt, zudem mit eindrucksvollen Beispielen, jedoch unter dem Begriff „Cybermob“ beschreibt Brodnig, Der unsichtbare Mensch (o. Fn.  21), 75  ff., bes. 85., ähnlich A. Roßnagel, Persönlichkeitsentfaltung zwischen Eigenverantwortung, gesellschaftlicher Selbstregulierung und staatlicher Regulierung, in: Bieber/Eifert u. a. (Hrsg.), Soziale Netze (o. Fn. 9), 271 (272 f.). 30

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wobei bei manchen Beteiligten Selbstjustiz eine Rolle spielen dürfte.34 Ergebnis ist fast immer die Schädigung der persönlichen Ehre des Opfers. Hinzu kommt, und das wiegt sicher nicht weniger, dass bei vielen unbeteiligten Internet-Usern eine „diffuse Ängstlichkeit und Vorsicht, wie sie eigentlich nur für totalitäre Systeme kennzeichnend ist“, entstehen könnte, durch die sie auf jeden Fall zu vermeiden trachten, irgendwann einmal selbst Gegenstand einer solchen Empörungswelle zu werden.35 Fake News, falsche Nachrichten, werden in die Welt gesetzt überwiegend von Einzelpersonen und Interessengruppen, die die Öffentlichkeit manipulieren möchten für bestimmte politische oder wirtschaftliche Ziele. In Wahlkampfzeiten mit aufgeheizter Stimmung verbreiten sich solche News rasant.36 Nicht nur wegen seiner Reichweite und Schnelligkeit ist das Internet ein dafür gesuchtes Medium, sondern auch, weil die journalistischen Sorgfaltspflichten hier leichter als bei anderen Medien umgangen werden können. Unter Social Bots versteht man Computerprogramme, die vortäuschen, ein Mensch würde gerade im Internet kommunizieren, obwohl es sich um eine durch Algorithmen ausgelöste automatische Kommunikation handelt. Aufgrund der anonymen (oder pseudonymen)37 Internetnutzung werden sowohl die Identitätstäuschung als auch die Manipulationsabsicht vom Kommunikationsempfänger nicht erkannt. Sie enthalten des öfteren Fake News. Urheber derartiger Kommunikation können Einzelpersonen, aber auch Geheimdienste und andere staatsnahe Akteure sein. Social Bots werden eingesetzt, um eine stärkere Unterstützung entweder eines Produkts (in der Werbewirtschaft) oder eines Politikers bzw. einer Partei in der Politik, speziell in Wahlkämpfen, vorzutäuschen.38 Fake News können auch von Trollen stammen. Als Troll werden Leute bezeichnet, die das Internet als Plattform nutzen, um zu stören. Trolle können auch vom Ausland (z. B. Russland) aus gezielt in anderen Staaten tätig werden.39 Ihre Zielsetzung ist eine negative. Viren und Würmer stellen die bekannteste Schadsoftware dar. Auch diese könnte von Trollen verursacht sein. Der Nutzen solcher Malware besteht in der Schädigung des Empfängers. Aus Verbrauchersicht geht die größte Gefahr derartiger Schadsoftware von Vandalismus und Datendiebstahl aus. Der

 „Es ist kein Tool für Gerechtigkeit, sondern für Rache. Der Cybermob verliert das Gefühl dafür, wann es zu viel wird, wann ein größeres Unrecht entsteht als jenes, das man eigentlich vergelten wollte. Selbstjustiz par excellence.“ Brodnig, Der unsichtbare Mensch (o. Fn. 21), 81. 35  Di Fabio, Grundrechtsgeltung (o. Fn. 6), 38 (Hervorh. durch LH). 36  Vgl. P. Specht, Die 50 wichtigsten Themen der Digitalisierung, 2018, 146 ff. 37  Zur Abgrenzung zwischen Anonymität und Pseudonymität s. nur P. W. Brunst, Anonymität im Internet – rechtliche und tatsächliche Rahmenbedingungen, 2009, 17 ff., 27 ff. 38  A. Steinbach, Social Bots im Wahlkampf, ZRP (Zeitschrift für Rechtspolitik) 2017, 101 (102); O. Wolf, Social Bots im Wahlkampf – das UrhG als Handhabe gegen „Meinungsroboter“?, WRP (Wettbewerb in Recht und Praxis) 2019, 440 (441). 39  Vgl. Specht, Die 50 wichtigsten Themen (o. Fn. 36), 150 ff. 34

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Einsatz von Trojanern und anderer Spyware kann vor allem auch von Strafverfolgungsbehörden und Verfassungsschützern etwa zur Online-Durchsuchung eingesetzt werden.40 • Durch illegales Herunterladen von künstlerischen, publizistischen oder wissenschaftlichen Produkten wird vor allem das Urheberrecht verletzt.41 • Das Darknet ist Teil des Deep Web. Unter Letzterem versteht man Web-Angebote, die nur durch spezielle Browser erreicht werden können, denn „für Whistleblower, investigative Journalisten und Menschenrechtsaktivisten in autokratischen Regimen steht bei der Kommunikation im Internet viel auf dem Spiel – im schlimmsten Fall das eigene Leben“. Auch Islamisten bspw. rekrutieren so neue Mitglieder und potenzielle Kämpfer für den IS. Dazu gehören passwortgeschützte Mitgliederbereiche, Datenbanken, Bibliotheken. Dazu gehört aber auch das Darknet, auf dessen anonymen Marktplätzen illegal Waffen, Sprengstoff, auch Drogen und ähnliches mehr gehandelt und Anleitungen zu Straftaten weitergegeben werden.42 e) Problemfelder auf der Betroffenen-Seite Es ist noch ein – zumindest flüchtiger – Blick zu werfen auf diejenigen, die von Hate Speech, Fake News, Social Bots-Aktivitäten etc. betroffen werden, auf die derartige Äußerungen bzw. Aktivitäten direkt oder indirekt zielen. • Mit dem großen Problem der Hass-Kommentare wird das Persönlichkeitsrecht (Ehre) verletzt (Art. 2 I i. V. m. [in Verbindung mit] Art. 1 I GG).43 Auch bei Fake News und den Aktivitäten von Trollen kann dieses Recht betroffen sein. Das gilt für „einfache“ Bürger wie für Prominente, für in der Wirtschaft Tätige wie für diejenigen, die in der Politik als Abgeordnete bereits tätig sind oder dafür kandidieren. • Fake News, Social Bots und Verletzungen des Urheberrechts können die in der Wirtschaft Tätigen schädigen, vor allem ihr Grundrecht auf Berufsfreiheit aus Art. 12 I GG44 (sofern sie Deutsche sind, sonst die allgemeine Handlungsfreiheit nach Art.  2 I GG). Für Berufsparlamentarier, zu denen die Abgeordneten des

 Specht, Die 50 wichtigsten Themen (o. Fn. 36), 153 ff.  Bieber/Eifert u. a., Soziale Netzwerke (o. Fn. 9), 11 (17 f.), ausf. zur Verletzung von Urheberrechten im Internet T. Nietsch, Anonymität und die Durchsetzung urheberrechtlicher Ansprüche im Internet, 2014, 120 ff. 42  Vgl. Specht, Die 50 wichtigsten Themen (o. Fn. 36), 166 ff. (Zitat auf 169). 43  S. nur Kube, Persönlichkeitsrecht (o. Fn. 18), Rn. 28 ff. U. Schliesky/C. Hoffmann u. a., Schutzpflichten und Drittwirkung im Internet, 2014, 80 (Anm. 311) wollen die Verbindung mit Art. 1 I GG reserviert sehen für Fälle, in denen der Menschenwürdegehalt des allg. Persönlichkeitsrechts betroffen oder zumindest Prüfungsmaßstab ist. Zu Achtung und Schutz der persönlichen Ehre ausführlich Hoffmann/Luch u. a., Die digitale Dimension (o. Fn. 7), 88 ff. 44  Vgl. R. Scholz, in: Maunz/Dürig (o. Fn. 14), Art. 12 Rn. 18 ff., 29 ff. 40 41

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Bundestages zu zählen sind,45 ist Art. 12 I GG nicht einschlägig, da es sich hierbei nur um Tätigkeiten auf Zeit handelt, es mithin am Erfordernis der Dauerhaftigkeit dieser Berufsausübung fehlt.46 Für Bundestagsabgeordnete gilt ein „verfassungsrechtlicher Status“ aus Art. 38 I S. 2, 46 bis 48 GG, der einen amts-, nicht jedoch einen grundrechtlich begründeten Rechts- und Pflichtenstatus umschreibt.47 • Die bei Darknet-Aktivitäten Geschädigten sind ex ante nicht auszumachen, sondern hängen vom Zweck der Darknet-Operation ab. Neben konkreten Personen dürfte meist auch auf die öffentliche Ordnung und ggf. auf systemrelevante In­ frastruktur abgezielt werden. Mit vielen der in Phase 2 sichtbar gewordenen Problemfelder gilt es sich in den folgenden Ausführungen zu beschäftigen unter dem Aspekt, welche staats- und privatrechtlichen, aber auch welche tatsächlichen, also nicht-rechtlichen, Regulierungsansätze unter den diskutierten Erfolg versprechen. Um Probleme abbauen oder sogar beseitigen zu können, müssen sie zuerst einmal benannt werden (so geschehen unter Internet-Phase 2). Dabei gilt es Lösungen zu finden, die das enorme Innovations- und Leistungspotenzial des Internets (dargestellt unter Phase 1) nicht beschneiden, sondern kanalisieren und möglichst fördern. Zuvor sind die Spezifika zu analysieren, die die „virtuelle oder digitale Welt“ (vom Internet gebildet) von der anderen, der „realen Welt“ unterscheidet.

II. Anonymität als das grundlegende Spezifikum des Internets 1. Anonymität: Inhalt, Grade, technische Anmerkungen Auch wenn dem Internet „die anonyme Nutzung nicht immanent“ ist, „sondern nur eine dort regelmäßig eröffnete Möglichkeit“ darstellt,48 sind Anonymität oder Pseudonymität doch „notwendiger Bestandteil einer offenen, freiheitlichen Gesellschaftsordnung“.49 Während unter Anonymisieren ein derartiges Verändern personenbezogener Daten zu verstehen ist, dass die Einzelangaben über persönliche oder sachliche Verhältnisse gar nicht mehr oder nur mit unverhältnismäßigem Aufwand an Zeit oder Kosten einer bestimmten natürlichen Person zugeordnet werden können, bezeichnet Pseudonymisierung das Ersetzen des Namens durch ein Kennzei-

 Vgl. H. H. Klein, Status des Abgeordneten, in: HStR III, 32005, § 51 Rn. 7 f. Für Landtagsabgeordnete schon kann man nicht mehr von Berufsparlamentariern sprechen. 46  Scholz, Art. 12 (o. Fn. 44), Rn. 29 f., 238. 47  H. H. Klein, in: Maunz/Dürig (o. Fn. 14), Art. 38 Rn. 193. 48  M. Eifert, Freie Persönlichkeitsentfaltung in sozialen Netzen, in: Bieber/ders. u. a. (Hrsg.), Soziale Netze (o. Fn. 9), 253 (264). 49  A. Dix, Das Recht auf Anonymität als Eckpfeiler einer offenen Gesellschaft, in: H. Bäumler/A. v. Mutius (Hrsg.), Anonymität im Internet, 2003, 52 (60). 45

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chen zu dem Zweck, die Namensbestimmung auszuschließen oder wesentlich zu erschweren.50 Die DSGVO (Datenschutz-Grundverordnung) stellt auf den Begriff der Pseudonymisierung ab, durch den personenbezogene Daten so verarbeitet werden, dass sie „ohne Hinzuziehung zusätzlicher Informationen nicht mehr einer spezifischen betroffenen Person zugeordnet werden können, sofern diese zusätzlichen Informationen gesondert aufbewahrt werden“ und Maßnahmen verhindern, dass diese Daten einer konkreten Person zugewiesen werden (Art. 4 V DSGVO). Wenn umgangssprachlich von Anonymität die Rede ist, handelt es sich oft um Pseudonymität, um ein „fälschlich so genannt“-Werden. Dabei gibt man sich entweder einen Fantasie-Namen (Aristoteles oder Beethoven oder Kurt Hausenstein) oder verwendet eine Nummer. Auch wenn bei Pseudonymität der Schutz vor Identifizierung schwächer ausgeprägt ist als bei Ersterem, gibt es manche Gründe für eine solche Wahl: etwa in Zeugenschutzprogrammen, bei verdeckter Ermittlung im Netz, bei gewünschter Zuordnung anderer Handlungen unter diesem Pseudonym.51 Die Grade von Anonymität liegen zwischen absoluter Anonymität und „völlig identifiziert“, z. B. „unmöglich zuzuordnen“ bis „sicher zuzuordnen“ oder „außer Verdacht“, „wahrscheinlich unschuldig“ bis hin „nachweisbar schuldig“,52 wobei absolute Anonymität eine Illusion ist.53 Technisch betrachtet ist seit einigen Jahren das IPv6 (Internet-Protokoll Version 6) eingeführt. Seitdem werden statische IP-Adressen vergeben. „Auch unter IPv6 sollte in erster Linie eine vergleichbar verlässliche Anonymisierung (wie vorher bei IPv4 mit dynamischen IP-Adressen, LH) gewährleistet werden, d. h. eine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit, dass die gekürzten Adressen (Adressen-­Kürzung als Verfahren zur Anonymisierung, LH) nicht mehr bestimmten Personen zugeordnet werden können.“54 Möglichkeiten zur Anonymisierung sind etwa technische Verfahren zur automatisierten Löschung von Daten mittels Verfallsdatum, ein „digitaler Radiergummi“, die „Privacy Extensions for Stateless Adress Autoconfiguration“ oder die freiwillige, nicht aufgrund technischer Notwendigkeit erfolgende Ausgabe dynamischer IP-Adressen.55 Darüber hinaus haben sich spezielle Anonymisierungsdienste entwickelt. Oft verwendet werden als Anonymisierungstechniken Tor („The Onion Router“) oder AN.ON („Anonymität Online“).56  N. Härting, Anonymität und Pseudonymität im Datenschutzrecht, NJW 2013, 2065 (2065 f.). Vgl. auch Brunst, Anonymität (o. Fn. 37), 6 ff., 27 ff., Nietsch, Anonymität (o. Fn. 41), 14 ff. 51  Brunst, Anonymität (o. Fn. 37), 27. 52  Brunst, Anonymität (o. Fn. 37), 24 f. 53  Härting, Anonymität (o. Fn. 50), 2065 (2069). 54  B. Freund/C. Schnabel, Bedeutet IPv6 das Ende der Anonymität im Internet? Technische Grundlagen und rechtliche Beurteilung des neuen Internet-Protokolls, MMR 2011, 495 (498). 55  T. Hoeren, Anonymität im Web – Grundfragen und aktuelle Entwicklungen, ZRP 2010, 251 (253). 56  S. M.  Rau/M.  Behrens, Catch me if you can ... Anonymisierungsdienste und die Haftung für mittelbare Rechtsverletzungen, K&R (Kommunikation und Recht) 2009, 766 (766), ausführlich Brunst, Anonymität (o. Fn. 37), 138 ff. 50

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2. Vor- und Nachteile von Anonymität (Pseudonymität) Selbst in der realen alltäglichen Welt wird oft im Anonymitätsmodus agiert: Alle Rechtsgeschäfte, bei denen Ware und Geld unmittelbar ausgetauscht werden, sicher auch Bar-Zahlungsgeschäfte (für Getränke, Benzin, Kleidung, ein Bahnticket etc.), erfolgen anonym, aber auch etwa die Kommunikation auf der Straße und auf öffentlichen Plätzen. Die – nicht wenigen – Ausnahmen von dieser Regel sind (meist) durch Gesetz geregelt, soweit es sich um Identifizierungspflichten gegenüber Behörden handelt (so etwa im PersAuswG [Personalausweisgesetz], AufenthG, StPO [Strafprozessordnung]). Anonym oder pseudonym im Wirtschaftsverkehr aufzutreten, ist nur den Verbrauchern möglich, wobei es auch dort Einschränkungen gibt (Konto-Eröffnung, bei Kredit- und EC-Karten, durch das Geldwäschegesetz, etc.). Gewerbsmäßige Anbieter und Unternehmer sind allein schon vom HGB (Handelsgesetzbuch) her zum Eintrag in das Handelsregister verpflichtet.57 Die Einschätzung „wer nichts zu verbergen hat, braucht auch keine Anonymität“ ist zwar nicht völlig falsch – erinnert sei an die Phänomene Darknet, Cybermobbing usw. –, verkennt aber die große Bedeutung anonymer Internetnutzung bspw. im Kontext des bereits erwähnten Whistleblowing58 oder bei politischen Aktivitäten in autoritären Regimen. Auch in Deutschland wird man manche Meinungsäußerung nur anonym tätigen, wenn sie einem beruflich oder politisch schaden könnte, weil sie den neu geschaffenen Sprachkonventionen nicht hinreichend entspricht.59 Zudem gibt es anonyme Beratungsangebote zu medizinischen, familiären oder anderen persönlichen Fragen, die mit anonymer Nutzungsmöglichkeit gezielt werben.60 Die Bekanntgabe von Klausurergebnissen erfolgt oft im Internet pseudonym unter Verwendung der Studentenausweis-Nummern. Darüber hinaus nutzen auch Strafverfolgungsbehörden zumindest Pseudonymität etwa bei verdeckten Ermittlungen im Netz.61

 Vgl. nur J. Bizer, Das Recht auf Anonymität in der Zange gesetzlicher Identifizierungspflichten, in: Bäumler/v. Mutius, Anonymität (o. Fn. 49), 78 (82 ff.). 58  S. o. unter I.1. 59  Zum Phänomen der Political Correctness s. etwa S. Müller-Franken, Meinungsfreiheit im freiheitlichen Staat, 2013, 60  ff.; L.  Häberle, Toleranz  – Relativismus  – Political Correctness, in: H. Thomas/J. Hattler (Hrsg.), Glaube und Gesellschaft, 2009, 19 (40 f.); ausführlich I. v. Münch, Meinungsfreiheit gegen Political Correctness, 2017. 60  Vgl. Griess, Klarnamenspflicht (o. Fn. 14), 72. 61  Vgl. C. Rosengarten/S. Römer, Der „virtuelle verdeckte Ermittler“ in sozialen Netzwerken und Internetboards, NJW 2012, 1764; A. Henrichs, Anonymität im Web, ZRP 2011, 155. 57

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3. Recht auf Anonymität – verfassungsrechtlicher Schutz von Anonymität und dessen Schranken Explizit erwähnt ist ein Recht auf Anonymität im GG62 nicht, auch in der Rechtsprechung des BVerfG gibt es keine allgemeingültigen Aussagen dazu. Anonyme Äußerungen werden im GG zunächst durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 I i. V. m. Art. 1 I GG) geschützt. Es ist Ausfluss der Selbstbestimmung eines jeden zu entscheiden, ob jemand und ggf. wer erfahren soll, welches Handeln er zu verantworten hat.63 Da das Recht auf informationelle Selbstbestimmung  – eine Ausprägung des Persönlichkeitsrechts im Sinne einer interpretatorischen Fortschreibung des Selbstdarstellungsschutzes aus Art.  2 I i.  V.  m. Art.  1 I GG64  – „grundsätzlich ein umfassendes Recht auf Anonymität gewährt, wird ein darüber hinausgehendes Recht auf Anonymität zum Schutz des Bürgers nicht erforderlich sein“.65 Ein eigenes Recht auf Anonymität als Teil des allgemeinen Persönlichkeits­ rechts würde den gleichen Schranken unterliegen wie das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, mithin würde es auch insofern keinen weiterreichenden Schutz gewähren.66 So oder so unterliegt das allgemeine Persönlichkeitsrecht den Schranken des Art. 2 I GG. Ein Eingriff dergestalt, dass Personen zur Aufdeckung ihrer Identität verpflichtet werden, kann also gerechtfertigt sein. Der Schutz anderer – etwa gegenüber Hate Speech – und der Schutz der Allgemeinheit werden immer dann, wenn im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung bei der Abwägung zwischen den jeweils betroffenen Rechtsgütern diesem Schutz größeres Gewicht zukommt, die Aufhebung der Anonymität rechtfertigen und somit erforderlich machen.67 Auch die Frage, ob ein Portalbetreiber einem Betroffenen die Identität eines Verletzers mitteilen darf, ist bei Verstößen gegen das UrhG (Urheberrechtsgesetz) durch § 101 IX UrhG geregelt. Bis 2017 war die Auskunftspflicht bei Persönlichkeitsrechtsverletzungen nicht analog anwendbar, weil eine solche Verletzung oft-

 Zur europarechtlichen Fundierung eines solchen Rechts durch Art. 8 EMRK (Europäische Menschenrechtskonvention) sowie Art.  7,  8 GrCh (Grundrechtecharta) s. nur Nietsch, Anonymität (o. Fn. 41), 24 ff. 63  Müller-Franken, Meinungsfreiheit (o. Fn. 59), 34, Brunst, Anonymität (o. Fn. 37), 197 ff., 257 ff. 64  S. nur U. Di Fabio, in: Maunz/Dürig (o. Fn. 14), Art. 2 I, Rn. 173. 65  Nietsch, Anonymität (o. Fn.  41), 43. Ein eigenständiges „allgemeines Recht auf Anonymität“ befürwortet hingegen A. v. Mutius, Anonymität als Element des allgemeinen Persönlichkeitsrechts  – terminologische, rechtssystematische und normstrukturelle Grundfragen, in: Bäumler/ ders. (Hrsg.), Anonymität (o. Fn. 49), 12 (21 f.). 66  Nietsch, Anonymität (o. Fn. 41), 43. 67  Nietsch, Anonymität (o. Fn. 41), 43 ff. Zu den „Schranken-Schranken“ der verfassungsmäßigen Ordnung s. nur Di Fabio, Art. 2 (o. Fn. 64), Rn. 40. 62

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mals nur nach Abwägung festgestellt werden konnte.68 Dies wurde im Kontext der Einführung des NetzDG 2017 geändert.69

III. Weitere Spezifika des Internets 1. Mehrpoligkeit von (Grund-)Rechtsverhältnissen bei Konflikten im Internet Während sich bei Rechtskonflikten in der realen Welt meist – wenngleich nicht immer70 – zwei Personen direkt, also ohne ein spezielles Medium, begegnen, handelt es sich beim Internet immer mindestens um drei Beteiligte: den Störer oder Angreifer, den Betroffenen oder Angegriffenen und den Intermediär oder Betreiber, der Verantwortung trägt für die Suchmaschine oder das soziale Netzwerk, auf dem die (rechtliche) Auseinandersetzung stattfindet.71

2. Entgrenzte Kommunikationsräume „Das Internet ist ein Medium der Grenzüberschreitung und Entgrenzung, so dass sein gesellschaftliches Potenzial, aber auch seine Risiken nicht an bestimmten Erscheinungsformen der Kommunikation festgemacht werden können.“72 Denn die Kommunikationsräume des Internets sind geografisch, inhaltlich und personell entgrenzt. Bedeutendes und Unbedeutendes, lokale Ereignisse und Weltereignisse, Privates und Öffentliches vermischen sich, konfigurieren sich in ganz kurzer Zeit neu – der „Cyberspace“ ist längst zum „globalen Dorf“ geworden, wo in Ist-Zeit weltweit über alles kommuniziert werden kann. Auch die Unterscheidung zwischen Massenund Individualkommunikation erscheint überholt, denn in der „virtuellen Agora“ kann man sich austauschen in Rede und Gegenrede mit Menschen aus aller Welt und daran wenige oder viele teilhaben lassen.73

 K.-N.  Peifer, Auskunftsansprüche bei Persönlichkeitsrechtsverletzungen. Zwischen effektiver Rechtsdurchsetzung und anonymer Meinungsäußerung, NJW 2014, 3067 (3069). 69  S. unten unter V.3. 70  Ausnahmen wären bspw. während eines Telefongesprächs gegeben: neben den Telefonierenden das Medium Telefon. Speziell wäre die Rechtsbeziehung während einer Schwangerschaft: das wehrlose ungeborene Kind befindet sich in der Mutter und ist völlig abhängig von ihr; deshalb bedarf es des Schutzes durch den Staat. 71  Vgl. nur Griess, Klarnamenspflicht (o. Fn. 14), 58 f. 72  Hoffmann-Riem, Regelungsstrukturen (o. Fn. 12), 509 (516). 73  Vgl. ebd., 509 (517 f.); S. Hobe, Cyberspace – der virtuelle Raum, in: HStR XI, 32013, § 231 Rn. 7 ff.; Hoffmann/Luch u. a., Die digitale Dimension (o. Fn. 7), 186 ff. 68

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So sind im „Mitmach-Netz“74 Bewertungsforen beliebt, bei denen der Verbraucher bzw. Nutzer Produkte und Dienstleistungen beurteilen und Verbesserungen vorschlagen kann. Die Allermeisten gehen mit diesen Möglichkeiten verantwortlich um, stimulieren so kleinere Verbesserungen bis hin zu größeren Innovationen. Für die Anderen, denen an „Rachefeldzügen“, Selbstjustiz oder persönlicher Bereicherung viel liegt, sind rechtliche Grenzziehungen und deren Durchsetzung unverzichtbar, um andauernden Schädigungen Dritter durch sie Einhalt zu gebieten.

3. Verflechtung von User und informationstechnischem System Der Computer stellt nicht bloß ein Werkzeug dar, das vom Nutzer einfach bedient wird, sondern „einen kontingenten Anderen, mit dem der Nutzer kommunikativ interagiert“, was zu einem veränderten Verhältnis zwischen Nutzer und Maschine führt.75 Beide bleiben natürlich zwei Entitäten, bleiben Subjekt und Objekt, aber sie hören auf, zwei unabhängig voneinander existierende Entitäten zu sein. Es kommt also zu einer Verflechtung von Menschlichem und Nicht-Menschlichem76 wie etwa von Brillenträger und Brille (sofern er sie ständig trägt oder gar auf sie angewiesen ist, weil er ohne sie nichts mehr sehen kann). Die Brille und deren Träger bleiben natürlich selbstständige Entitäten, sind jedoch eng verflochten: Viele Brillenträger können ohne ihre Brille nur sehr eingeschränkt agieren. Entsprechend diesem Sinne existiert heute – anders als früher – ein Assoziationszusammenhang zwischen User und dem von ihm genutzten und auf seine Bedarfe eingerichteten informationstechnischen System. So, wie etwa Menschen im Falle einer Verbandsklage für Tierrechte als Agenten der Interessen der Tiere auftreten, handeln Menschen auch als Agenten des Assoziationszusammenhangs zwischen Nutzer und dessen informationstechnischem System bzgl. dessen Vertraulichkeit und Integrität.77 Derartige Überlegungen mögen dem Urteil des BVerfG (Bundesverfassungsgericht) von 2008 zur „Online-Durchsuchung“ zugrunde gelegen haben, als es das IT-Grundrecht „Recht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme“ als Einzelausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus der Taufe hob.78

 Roßnagel, Persönlichkeitsentfaltung (o. Fn. 33), 271 (271).  V. Karavas, Grundrechtsschutz im Web2.0: Ein Beitrag zur Verankerung des Grundrechtsschutzes in einer Epistemologie hybrider Assoziationen zwischen Mensch und Computer, in: Bieber/ Eifert u. a. (Hrsg.), Soziale Netze (o. Fn. 9), 301 (307). 76  Ebd., 301 (313). 77  Ebd., 301 (319). 78  BVerfGE (Entscheidungen des BVerfG) 120, 274; dazu nur Hoffmann/Luch u. a., Die digitale Dimension (o. Fn. 7), 69 ff., Karavas, Grundrechtsschutz (o. Fn. 75), 301 (317 ff.). 74 75

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4. Technologische Fremdsteuerung Im „Internet der Dinge“ zeigt sich besonders deutlich, wie die neuen Technologien den realen, physischen Raum mehr und mehr durchdringen. Unser Leben ist vielfach weder online noch offline, eine neue Welt hat sich zu bilden begonnen: die Onlife-Welt. Wie beim Kühlschrank, der automatisch das Entnommene nachbestellt, können Computersysteme online weitgehend menschliche Entscheidungen ersetzen. Dieser Zugewinn an Lebensqualität bringt jedoch mit sich, dass der Mensch in der Onlife-Welt zum Objekt unbewusster Steuerung werden kann. Denn solange sich etwa der Kühlschrank-Besitzer nicht entscheidet, bisherige Produkte nach Verzehr durch neue ersetzen zu wollen, und dies auch dem Kühlschrank kommuniziert, wird für ihn entschieden. Die Handlungsautonomie nach Art.  2 I GG (allg. Handlungsfreiheit) bleibt rechtlich zwar erhalten, wird faktisch aber durch nicht oder nur schwer erkennbare high tech-Fremdsteuerung unterlaufen.79 Gefordert ist immer wieder eine kritische Reflexion über die Folgen ihrer IT-Nutzung seitens der Betroffenen, damit sich jeder im Sinne informationeller Selbstbestimmung bewusst ist, welche Datenspur er im Netz zu ziehen bereit ist. Die „spielerisch-einfache Gestaltung von IT-Umgebungen (Plug and play)“80 erschwert eine solche Reflexion  erheblich, lässt Nützlichkeitsüberlegungen in den Vordergrund treten: Die fortschreitende Digitalisierung des täglichen Lebens, die moderate Preisgestaltung bei Hard- und Software, die einfache Bedienbarkeit vieler Programme etc. lässt viele Menschen allzu wenig auf die erhebliche und oft unmerkliche Erhebung, Verarbeitung und Übermittlung personenbezogener Daten sehen. „Von einer Plug and Play-Falle lässt sich deshalb sprechen, weil diesem System ein hoher Verführungsgrad innewohnt, der sich auf die Einwilligungsfähigkeit zur Datenverarbeitung auswirkt.“81 Die Einwilligungsfreiheit ist aber nicht nur durch Verführung, durch die Plug and Play-Falle eingeschränkt, sondern auch durch die asymmetrische Konkurrenzsituation, die große Teile der Internetökonomie kennzeichnet, da  – wie gesehen82 – Datenmacht zu wirtschaftlicher Macht geführt hat.

5. Vergessen(werden) im Netz Im Mitmach-Internet kann veröffentlicht werden, ohne dass vorher der Wahrheitsgehalt der Veröffentlichung überprüft worden ist. „Diese Publikationen können ganze Lebenswege zerstören“ angesichts der Tatsache, dass vor einem näheren Kennenlernen man selbst erst einmal „gegoogelt“ wird, auch durch potenzielle Arbeitgeber, Schriftleiter oder Herausgeber, Mieter bzw. Vermieter usw. Denn diese Nachrichten  Hoffmann-Riem, Verhaltenssteuerung (o. Fn. 10), 1 (6).  Heckmann, Persönlichkeitsschutz (o. Fn. 27), 2631 (2633). 81  Ebd., 2631 (2634) (Hervorh. im Original). 82  S. o. unter I.2.a). 79 80

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sind oft nicht mehr erfolgreich zu löschen: Selbst wenn eine Plattform einen Beitrag löschen sollte, sogar auf Basis eines Gerichtsurteils, bleibt er aufgrund der schnellen Verbreitung und Verlinkung irgendwo im Internet gespeichert und ist über Suchmaschinen für alle weiterhin auffindbar. Das Internet vergisst nichts, der Nutzer verliert die Kontrolle über seine Daten.83 Auch hier zeigt sich wieder die Ambivalenz des Internets: Die neuen Möglichkeiten der Freiheitsausübung etwa in sozialen Netzwerken und anderen Plattformen bieten auch neue Formen möglichen Freiheitsmissbrauchs.84 Gleichwohl hat ein viel beachtetes Urteil des EuGH (Europäischer Gerichtshof) 2014 die Suchmaschine Google verpflichtet, auf Verlangen des Betroffenen bestimmte Ergebnisse aus dem Suchindex zu entfernen.85 Ein Rechtstitel gegen die führende Internet-Suchmaschine (Google) wird einem zwar kein vollständiges Vergessenwerden des angefochtenen Beitrags im Internet garantieren,86 wird aber das Wiederauffinden oder gar spätere Verbreiten dieses Beitrags deutlich reduzieren. 2019 hat sich auch das BVerfG mit zwei Entscheidungen, die „fraglos als bedeutend“ einzuordnen sind, mit dem Recht auf Vergessen beschäftigt. Sein Standpunkt „verdichtet sich in dem ikonischen Satz, zur Zeitlichkeit der Freiheit gehöre die Möglichkeit des Vergessens“.87 In diesem Sinne heißt es in Art. 17 II DSGVO, dass vom zur Löschung Verpflichteten „unter Berücksichtigung der verfügbaren Technologie und der Implementierungskosten“ angemessene (auch technische) Maßnahmen zu ergreifen sind, um die für die Verarbeitung dieser Daten Verantwortlichen darüber zu informieren, dass ein Betroffener „von ihnen die Löschung aller Links zu diesen personenbezogenen Daten oder von Kopien oder Replikationen der personenbezogenen Daten verlangt hat.“ Mithin sind angemessene, auch technische Maßnahmen zu ergreifen, ob sie jedoch ein vollständiges Vergessenwerden ermöglichen, bleibt offen, jedenfalls beim derzeitigen Stand der Technik.  Roßnagel, Persönlichkeitsentfaltung (o. Fn. ), 271 (273 f., Zitat auf 273).  Ebd., 271 (274). 85  EuGH, Urteil v. 13.05.2014 – C-131/12, ausführlich kommentiert in Hoffmann/Luch u. a., Die digitale Dimension (o. Fn. 7), 54 ff. 86  Inwieweit ein Recht auf Vergessenwerden technisch realisierbar ist, wird diskutiert in S. Gerling/R. W, Gerling, Wie realistisch ist ein „Recht auf Vergessenwerden“?, DuD (Datenschutz und Datensicherheit) 2013, 445. – Das erwähnte EuGH-Urteil v. 13.05.2014 hat auch Auswirkungen auf die Verdachtsberichterstattung in Online-Archiven: Hat der Verdacht sich später als nicht haltbar erwiesen, sind Berichte über den damaligen Verdacht wegen der massiven Rufschädigung des damals Verdächtigten zu löschen (Hoffmann/Luch u. a., Die digitale Dimension [o. Fn. 7], 95 ff.). 87  F. Schorkopf, Botschaft aus Karlsruhe. Das Bürgergericht hält sich im Spiel, Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 05.12.2019, 7. Vgl. auch C. van Lijnden, Eine Magna Charta für das Internet, Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 28.11.2019, 2; M. Honer, Recht-auf-Vergessen-Entscheidungen: Wie das BVerfG die Grundrechtsprüfung neu ordnet, LTO (Legal Tribune Online) v. 04.12.2019, https://www.lto.de/persistent/a_id/39061/; ders., BVerfG zu Recht auf Vergessen I und II Teil 2: Was bedeuten die Entscheidungen für Bürger, Gerichte und den EuGH?, LTO v. 04.12.2019, https:// www.lto.de/persistent/a_id/39109/. Die beiden Entscheidungen des BVerfG v. 06.11.2019 (1 BvR 16/13 und 1 BvR 276/17) sind nicht nur für das Internet von Bedeutung, sondern auch für das Verhältnis des deutschen Grundrechtsschutzes zum europäischen (Grundrechte-Charta und EMRK) sowie für eine Erweiterung der Anwendungsfälle für eine Urteilsverfassungsbeschwerde. 83 84

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6. Persönlichkeitsprofile (auch) durch „Big Data“ „Die Bedeutung von Algorithmen zur Selektion und Steuerung von Verhalten wird durch die Verfügbarkeit von ‚Big Data‘ vorangetrieben“.88 Dabei handelt es sich bei Big Data „um Datenbestände höchst unterschiedlicher Art und Qualität,89 die meist aus unterschiedlichen Quellen stammen und sowohl privatwirtschaftlichen als auch hoheitlichen Verwendungen zugeführt werden können und werden. Erfasst sind auch – aber keineswegs nur – personenbezogene Daten. Deren Bezug auf konkrete Personen wird aber bei der Auswertung im Rahmen von Big Data häufig irrelevant“, sodass auch das traditionelle Datenschutzrecht dafür nur begrenzt hilfreich ist. „Vielfach ist die Auswertung von den Kontexten der Generierung der Einzeldaten abgelöst“,90 wobei „Big Data Analytics“ unterschiedlichen Zwecken dienen kann. In der prädiktiven Analytik etwa wird zukünftiges Verhalten von Verbrauchern vorherzusagen versucht oder die Wahrscheinlichkeit von Straftaten an bestimmten Orten, bei bestimmten Gelegenheiten oder Tätergruppen.91 Aus der Zusammenführung von Daten aus unterschiedlichen Internetdiensten, wie sie für Big Data typisch ist, lassen sich u. a. Persönlichkeitsprofile „neuartiger Tiefe und Breite“92 erstellen, die den Betroffenen „in seiner persönlichen Lebensführung entblößen“93 können. Mehr denn je besteht die „Gefahr der Totalerfassung94 mit der Folge, dass der Einzelne zum ‚Datenobjekt‘ degradiert wird“. Mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung kann dieser Gefahr sachgerecht begegnet und in Form des Menschenwürdegehalts aus Art. 1 I GG, der eine „Persönlichkeitsprofilerstellung delegitimiert, eine letzte nicht zu überschreitende Grenze“95 aufgezeigt werden. Jetzt ist das Terrain hinreichend bereitet, um zentrale rechtliche Fragen, insbesondere die der Grundrechtsdogmatik, angehen zu können.

IV. Verfassungsrechtliche Verortungen In vielen der hier beschriebenen Konstellationen gehen von einem Angreifer oder Verursacher Angriffe auf einen Betroffenen vermittels eines sozialen Netzwerks oder eines sonstigen Providers bzw. Intermediärs aus. Im nächsten Analyseschritt  Hoffmann-Riem, Verhaltenssteuerung (o. Fn. 10), 1 (6).  Wenn die in die Auswertung einbezogenen Daten unrichtig oder inkonsistent sind, wird darunter auch die Qualität der Verarbeitung von Big Data leiden. Ebd., 1 (7, dort Anm. 21). 90  Ebd., 1 (7 f.). 91  Ebd., 1 (8, 15). 92  So schon 2008 Hoffmann-Riem, Der grundrechtliche Schutz (o. Fn. 8), 1009 (1017). 93  T.  Böckenförde, Auf dem Weg zur elektronischen Privatsphäre. Zugleich Besprechung von BVerfG, Urteil v. 27.02.2008 – „Online-Durchsuchung“, JZ 2008, 925 (928). 94  Ähnlich Di Fabio, der um die „Gefahr der totalen Registrierung und Katalogisierung und damit um die Gefahr der Abrufbarkeit eines umfassenden Persönlichkeitsprofils einer betroffenen Person“ weiß. Di Fabio, Art. 2 (o. Fn. 64), Rn. 173 (Hervorh. im Original). 95  Hoffmann/Luch u. a., Die digitale Dimension (o. Fn. 7), 35. 88 89

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soll untersucht werden, welche Grundrechte und ggf. weiteren Verfassungsrechte hier betroffen sind oder sein könnten.

1. Zur digitalen Dimension von Art. 2 I GG In Art. 2 I GG sind sowohl das allgemeine Persönlichkeitsrecht – nach herrschender Lehre Art. 2 I i. V. m. Art. 1 I GG96 – als auch die allgemeine Handlungsfreiheit als Auffanggrundrecht verankert. Über das Persönlichkeitsrecht erfolgt der Schutz der persönlichen Ehre, ein im Internet häufig angegriffenes Rechtsgut. Seit 1983 hat das BVerfG zudem bei Konflikten um die Verarbeitung persönlicher Daten das „Recht auf informationelle Selbstbestimmung“ entwickelt, 2008 im Kontext der Online-Durchsuchung das „Recht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme“ – wegen der komplizierten Benennung und der klaren Ausrichtung darauf, dass es sich hier um die digitale Dimension des allgemeinen Persönlichkeitsrechts handelt, kurz – und im Folgenden – als „IT-­Grundrecht“ bezeichnet. a) Recht auf persönliche Ehre In verfassungsrechtlicher Perspektive erweist sich als besonders konfliktiv die Meinungsfreiheit einerseits und andererseits das Recht auf Achtung der persönlichen Ehre durch einen anderen Privaten bzw. der Schutz der persönlichen Ehre durch den Staat.97 Bei der persönlichen Ehre wird  – im Sinne der äußeren Ehre98  – ein sozialer Geltungsanspruch geschützt. Unter den Schranken zur Meinungs- und Medienfreiheit wird in Art. 5 II GG das Recht der persönlichen Ehre ausdrücklich normiert.99 Der Sache nach soll verhindert werden, dass der Betroffene in seinem gesellschaftlichen Ansehen geschmälert, dadurch seine sozialen Kontakte geschwächt und sein Selbstwertgefühl untergraben werden.100 Dies gilt für die Behauptung unwahrer ­Tat­sachen, soweit deren Inhalt Bedeutung für die Persönlichkeit zukommt und deren Bild in der Öffentlichkeit nachteilig beeinflusst. Aber auch die Veröffentlichung „objektiv richtiger, aber demütigender Informationen, etwa über die Gründe für eine Entmündigung“, kann auf das Schutzgut der Ehre bezogen werden.101  Zu abweichender Ansicht s. o. Fn. 43.  Hoffmann/Luch u. a., Die digitale Dimension (o. Fn. 7), 88. 98  „Die innere Ehre ist mit dem Begriff der Menschenwürde zutreffend umschrieben.“ Hoffmann/ Luch u. a., Die digitale Dimension (o. Fn. 7), 89. Ausführlich zur inneren Ehre Kube, Persönlichkeitsrecht (o. Fn. 18), Rn. 61, 64. 99  Kube, Persönlichkeitsrecht (o. Fn. 18), Rn. 63; Glaser, Grundrechtlicher Schutz (o. Fn. 31), 1432 (1432). Ausführlich Grabenwarter, Art. 5 (o. Fn. 14), Rn. 195 ff. 100  Di Fabio, Art. 2 (o. Fn. 64), Rn. 169. 101  Kube, Persönlichkeitsrecht (o. Fn.  18), Rn.  63; Glaser, Grundrechtlicher Schutz (o. Fn.  31), 1432 (1433). 96 97

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Im Internet mit seiner schnellen und ubiquitären Verbreitung bekommen beleidigende und diffamierende Darstellungen durch Wort und Bild mehr Gewicht als in anderen Medien. Das ist im Falle einer Abwägung zu berücksichtigen: Sie wiegen im Internet schwerer.102 b) Recht auf informationelle Selbstbestimmung Bereits in den 1980er-Jahren wurde vom BVerfG das Recht auf informationelle Selbstbestimmung formuliert, um damit auf die Gefährdung des Einzelnen durch Speicherung, Verarbeitung, Nutzung und Vernetzung der von ihm erhobenen Daten zu reagieren. So wird der Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts konkretisiert. Dieses Recht umfasst die Befugnis des Einzelnen, „grundsätzlich selbst zu entscheiden, wann und innerhalb welcher Grenzen persönliche Lebenssachverhalte offenbart werden“.103 Für die Datenverarbeitung folgt hieraus der Anspruch eines jeden auf Schutz gegen unbegrenzte Erhebung, Speicherung, Verwendung und Weitergabe seiner persönlichen Daten. Die dahinter liegende Sorge besteht darin, dass die integrierten Informationssysteme jederzeit die Erstellung eines Persönlichkeitsbildes ermöglichen, ohne dass der Betroffene dessen Richtigkeit und Verwendung zureichend kontrollieren könne, woraus Drohpotenziale aufgebaut werden und psychischer Druck entstehen könnten.104 Dabei steht dann der Menschenwürdegehalt von Art. 1 I GG auf dem Spiel. Deshalb wäre mit der Erstellung eines solchen Persönlichkeitsprofils die letzte, zu queren verbotene Grenze überschritten  – der Bürger würde zum „Datenobjekt“ durch Totalerfassung.105 Einzubeziehen sind dabei  – der Begriff „Totalerfassung“ weist schon darauf hin – wechselseitige Beziehungen, so etwa bei Privaten die Zusammenführung von Daten aus unterschiedlichen Internetdiensten: Es ist immer die kumulative Belastung im Blick zu behalten, die dadurch entsteht, dass Maßnahmen gleichzeitig wirken und – mit Blick auf die belastende Gesamtwirkung – den gleichen Adressaten in vergleichbaren Gegenständen betreffen.106 Bedrohungen im Internet gehen auch und zunehmend von Privaten aus, allen voran von global und digital operierenden Unternehmen.107 Dabei ist der grund-

 Vgl. Grabenwarter, Art. 5 (o. Fn. 14), Rn. 513 f.  BVerfGE 65, 1 (41 f.) – Volkszählung. 104  Zu diesem Absatz Di Fabio, Grundrechtsgeltung (o. Fn. 6), 44 ff. S. auch Schliesky/Hoffmann u. a., Schutzpflichten (o. Fn. 43), 133 ff. 105  Schliesky/Hoffmann u. a., Schutzpflichten (o. Fn. 43), 138. 106  Kirchhof, Kumulative Belastung (o. Fn.  1), 732 (734). Er analysiert eine Entscheidung des BVerfG von 2005 zur Rundumüberwachung (NJW 2005, 1338). 107  H.-J.  Papier, Rechtsstaatlichkeit und Grundrechtsschutz in der digitalen Gesellschaft, NJW 2017, 3025 (3025); M. Bäcker, Grundrechtlicher Informationsschutz gegen Private, Der Staat 51 (2012), 91 (91). 102 103

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rechtliche Datenschutz108 gegenüber Privaten dogmatisch anders zu konstruieren als gegenüber staatlichen Einrichtungen: Da Private nicht in Grundrechte eingreifen, jedoch Übergriffe auf andere Private begehen können, ist  der Gesetzgeber gefordert, seiner Schutzpflicht nachzukommen für den Fall, dass ein grundrechtliches Schutzgut tangiert wird. Dabei muss er nicht jede denkbare punktuelle Gefährdung eigenständig normieren, kann  vielmehr auch grundrechtlich sensible Informationshandlungen Privater durch Generalklauseln von einer Abwägung abhängig machen und damit der Rechtsprechung überantworten. Denn mit detaillierten Regelungen wäre er gegenüber der Variabilität und Dynamik des Internets vielfach überfordert.109 c) Zum „IT-Grundrecht“ Das IT-Grundrecht – „Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme“ – hatte das BVerfG in seinem Urteil vom 27.02.2008110 aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht abgeleitet. Ein schwerwiegender Eingriff in dieses Grundrecht durch heimliche Infiltration der informationstechnischen Systeme des Observierten kann nur gerechtfertigt sein, wenn tatsächliche Anhaltspunkte einer konkreten Gefahr für ein überragend wichtiges Rechtsgut vorliegen. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz erfordert zudem, dass der Wahrscheinlichkeitsgrad und die Tatsachenbasis der Gefahrenprognose in einem angemessenen Verhältnis zur Art und Schwere der Grundrechtsbeeinträchtigung stehen. Ermittlungen „ins Blaue“ rechtfertigen solche Eingriffe nicht, damit stehen sie etwa Verfassungsschutzbehörden zu deren Aufgaben der Vorfeldaufklärung nicht zur Verfügung.111 Das IT-Grundrecht hat Bedeutung auch in Privatrechtsverhältnissen: Die Vernetzung der Systeme und das Zusammenspiel diverser Komponenten für eine effiziente Internet-Nutzung überfordern in ihrer komplexen Technizität die allermeisten User. So muss der Nutzer Betreibern, Anbietern und Herstellern vertrauen (können), dass diese für die nötige Datensicherheit und den Schutz vor Schadsoftware des von ihm genutzten Systems sorgen. Dazu sind häufig unmittelbare Zugriffe auf sein System unvermeidbar. Diese Zugriffe müssten generell im Vorfeld durch eine Einwilligung legitimiert werden ähnlich den Nutzungsbestimmungen zu Apps.112 Diese BVerfG-Entscheidung ist kritisiert worden: Unter anderem seien die Konturen des neuen IT-Grundrechts, darunter auch dessen Abgrenzung zum Grundrecht  Bäcker, Grundrechtlicher Informationsschutz (o. Fn.  107), 91 (93) sieht den Datenschutz als Teil des umfassenderen Informationsschutzes; wenn Grundrechte dessen Regulierung erfordern, spricht er von grundrechtlichem Datenschutz. 109  Bäcker, Grundrechtlicher Informationsschutz (o. Fn. 107), 91 (99 f.). 110  BVerfGE 120, 274 = NJW 2008, 822. 111  S. Papier, Rechtsstaatlichkeit (o. Fn. 107), 3025 (3028). 112  S. Schliesky/Hoffmann u. a., Schutzpflichten (o. Fn. 43), 139 ff. 108

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auf informationelle Selbstbestimmung, nicht klar; es stelle sich auch die Frage, ob es eines weiteren, aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht abgeleiteten Grundrechts, bedürfe.113 Dieser Kritik steht vor allem entgegen, dass der Systemcharakter der Informationstechnik und ganz besonders die Verflechtung der User mit dem von ihnen genutzten informationstechnischen System114 neue Gefährdungslagen – Datenabgriff per Infiltration durch staatliche Behörden bzw. durch Private – hat entstehen lassen, dadurch auch einen eigenständigen Schutzbereich ausgewiesen erhalten hat, um diesen neuen Bereich grundrechtlich besser schützen zu können.115

2. Art. 5 I GG: digitale Meinungs- und Medienfreiheit a) Meinungsfreiheit internet-spezifisch Die Meinungsfreiheit ist in jeder Demokratie eines der zentralen Grundrechte.116 Auch eigene Meinungen, die im Internet geäußert werden, unterfallen dem Schutz dieser Freiheit, ebenso Bilder, Videos und andere Medien, sofern sie geeignet sind, „eine Meinungsäußerung zu transportieren“. Bei typischen Internet-Handlungsweisen wie dem Verlinken auf fremde Inhalte oder dem Zitieren fremder Äußerungen kann man nur dann sicher117 sein, dass dies in den Schutzbereich des Art. 5 I GG fällt, wenn man über das hinaus seine Zustimmung irgendwie – als „favorisierter“ Retweet oder als mit „gefällt mir“ bewerteter Beitrag – zum Ausdruck gebracht hat.118

 Zu dieser und anderer Kritik G.  Britz, Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme, DÖV (Die Öffentliche Verwaltung) 2008, S.  411; M.  Eifert, Informationelle Selbst­ bestimmung im Internet. Das BVerfG und die Online-Durchsuchung, NVwZ 2008, S.  521; U. Volkmann, Anmerkung zum Urteil des BVerfG vom 27.02.2008, 1 BvR 370/07 und 595/07, DVBl. (Deutsches Verwaltungsblatt) 2008, 590; T. Hoeren, Was ist das „Grundrecht auf Integrität und Vertraulichkeit informationstechnischer Systeme“?, MMR 2008, 365; M. Sachs/T. Krings, Das neue „Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme“, JuS (Juristische Schulung) 2008, 481. 114  S. o. unter III.3. Böckenförde (Auf dem Weg [o. Fn. 93], 925 (938) spricht eindringlich vom eigenen informationstechnischen System als „einem Vehikel der Persönlichkeitsentfaltung“. 115  Bei einiger Detailkritik im Ganzen positiv zu diesem BVerfG-Urteil und zum IT-Grundrecht: Böckenförde, Auf dem Weg (o. Fn.  93), 925; Hoffmann-Riem, Der grundrechtliche Schutz (o. Fn. 8), 1009; Karavas, Grundrechtsschutz (o. Fn. 75), 301 (315 ff.). 116  S. nur in diesem Band die Beiträge von K. F. Gärditz und L. Häberle. – Gewährleistungsgehalte bzgl. Verbreitung von und Zugang zu Inhalten im Internet diskutiert ausführlich K. v. Lewinski, Recht auf Internet, RW (Rechtswissenschaft) 2011, 70 (78 ff.). 117  Degenhart, Art. 5 I, II GG (o. Fn. 14), Rn. 132 sieht generell die Verbreitung von Meinungen Dritter als geschützt an unter Verweis auf den Schutzzweck der Grundrechtsnorm: Selbst wenn der Mitteilende sie sich nicht zu eigen mache, trage die Mitteilung einer fremden Meinung oder Tatsachenbehauptung zum grundrechtlich geschützten Kommunikationsprozess bei. 118  Hoffmann/Luch u. a., Die digitale Dimension (o. Fn. 7), 130 f. 113

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Die Auffassung, dies gelte nur, wenn es sich nicht um eine falsche Tatsachenäußerung handele,119 führt nach anderer Ansicht zu einer Schutzbereichsverengung, da die Wahrheitspflicht – zu Recht – erst auf der Rechtfertigungsebene (als Ausdruck einer Schutzpflicht gegenüber Dritten) erstarke: Die geminderte Schutzwürdigkeit faktenwidriger Kommunikation werde auf der Abwägungsebene mit gegenläufigen Grundrechtspositionen berücksichtigt.120 Da die „Sonne der Freiheitsrechte über Gerechte wie Ungerechte“ (Isensee) scheine, könnten alle – der Unwissende, der Lügner, der Leugner – „den diskriminierungsfreien Schutz der Meinungsfreiheit in Anspruch nehmen, dies umso mehr, wenn man als postfaktische Eigenart die Amalgation von Tatsachen und Werturteilen akzeptiert. Wohl aber genießt die unwahre Tatsachenbehauptung in der Abwägung mit verletzten Persönlichkeitsrechten geringes Gewicht und führt dann zu einem nuancierten Sorgfaltsregime.“121 b) Internet als Teil der Medienfreiheit Gewährleistet wird in Art. 5 I GG die Medienfreiheit, die neben der Presse-, Rundfunk- und Filmfreiheit auch die des Internets erfasst. Es lassen sich einige Meinungsverbreitungsarten im Internet unter diese Tatbestandsalternativen subsumieren. Zwar sind Internet-Zeitungen und Nachrichten-Portale keine Presse und Video-Portale wie YouTube kein Film gemäß Art. 5 I GG, können aber unter den Begriff Rundfunk gefasst werden, wenn sie sich als „1 zu n-Kommunikation“ an die Allgemeinheit richten. Telemedien sind zwar für die Allgemeinheit erreichbar, haben aber eine Individualkommunikation „1 zu 1“ zum Gegenstand und fallen deshalb nicht unter „Rundfunk“.122 Dieser Einordnung kommt Bedeutung zu bei der Frage, für welche Regelung welche Schranken verfügbar sind und für wen der Bund bzw. die Länder Regelungskompetenz haben123 – kontrovers diskutiert bei der Entstehung des NetzDG.

 So v. Lewinski, Recht (o. Fn. 116), 70 (85).  A. Steinbach, Meinungsfreiheit im postfaktischen Umfeld, JZ 2017, 653 (659). Für eine Beurteilung des NetzDG bedeutet das, dass Gegenstand der Löschung bzw. Sperrung „keine Kommunikationsinhalte im grundrechtsfreien Raum, sondern geschützte Inhalte (sind), die der Ausbalancierung mit anderen Rechtsgütern bedürfen. Das beschränkt die Handlungsspielräume des Providers.“ (Ebd.). Zum NetzDG unten unter V. 121  Ebd., 653 (661). Nach überwiegender Rechtsprechung des BVerfG hingegen liegen „bewusst unwahre Tatsachenbehauptungen und solche, deren Unwahrheit bereits im Zeitpunkt der Äußerung unzweifelhaft feststeht“ (BVerfGE 99, 185 [197]), außerhalb des Schutzbereichs von Art. 5 I GG, auch wenn das nicht ganz eindeutig erscheint. S. Degenhart, Art.  5 I, II GG (o. Fn.  14), Rn. 117 f. 122  Die Frage, ob ein eigenes Recht auf Internet-Freiheit, das neben die Rundfunk- und Pressefreiheit treten sollte, notwendig wäre, ist zu verneinen: Die einzelnen Nutzungsformen des www seien zu unterschiedlich, um unter ein einheitliches Grundrecht gefasst zu werden; es wäre auch neben Presse- und Rundfunkfreiheit schwer konturierbar; usw. Degenhart, Art. 5 (o. Fn. 14), Rn. 48. 123  Zu diesem Abschnitt s. v. Lewinski, Recht (o. Fn. 116), 85 f. (auch Anm. 84). 119 120

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c) Echo-Kammern als Problem der Informations- und Meinungsvielfalt im Internet Als eines der vordringlichsten Probleme der Meinungsfreiheit im Internet erscheint das der Echo-Kammern oder Filter-Blasen.124 Diese Auffassung teilt jedoch nicht jeder: „Der Umfang der Personalisierung bei der Google-Internetsuche ist nicht geeignet, eine Filterbubble zu erzeugen oder zu manifestieren. Nur bei einem sehr geringen Prozentsatz von Suchanfragen spielt die Personalisierung überhaupt eine Rolle.“125 Keineswegs würden Suchmaschinen „antipluralistische Tendenzen“ fördern, sondern ganz im Gegenteil Vielfalt, weil sie einen Zugang zu einer Vielzahl unterschiedlicher Informationsquellen eröffneten.126 Diese Auffassung ist insoweit zutreffend, als sie nur die Angebotsseite der Suchmaschine Google beleuchtet, schon bei sozialen Netzwerken wie Facebook kann man ihr nicht mehr folgen. Die Gesamtproblematik trifft sie jedoch nicht, denn sie geht an dem vorbei, was eine Echo-Kammer bzw. Filterblase ausmacht: Viele Nutzer sind dankbar, wenn sie Werbung eingespielt bekommen, die sie interessiert, und nicht solche, die sie nicht interessiert. Ähnliches gilt allzu oft seitens der Nutzer auch für Nachrichten: Sehr viele lesen lieber, was ihnen gefällt, als etwas, das im Widerspruch zu ihrer Einstellung steht. Das Zustimmungsspektrum – verstanden als Abweichung von der eigenen Meinung in einer Sachfrage – verengt sich. Zudem verzichtet man immer öfter auf Nachrichten aus Themenfeldern, die einen nicht besonders interessieren, mit dem Ergebnis, dass sich auch die Zahl der wahrgenommenen Themenfelder reduziert. So lässt man in beiden Koordinaten (Breite und Tiefe des Meinungsspektrums) immer weniger Wirklichkeit „an sich heran“ und unterliegt in gleichem Maße der Täuschung, dies sei bereits das Gesamt der Wirklichkeit. Diese Wahrnehmungsverengung auf Nachrichten und andere Informationen aufgrund des eigenen vorherigen Informationskonsum-Musters transformiert diese Nutzer „zu einer endlosen Zeitschleife ihrer selbst, zu ihrem immerwährenden Status quo“.127 Es fehlt der Austausch und damit die Wahrnehmung anderer Teil-Welten, das Nachrichten-Echo bricht sich an den Wänden dieser kleinen Kammer, es bleibt die Binnen-Kommunikation unter Gleichgesinnten, die (permanente) Selbstbestätigung. So spinnen sich dann bspw. Islamisten einerseits und Islamgegner andererseits jeder in ihrer kleinen Schein-Welt ein und halten sie für das Ganze. Zwar könnte einem das Internet die oben behauptete „Vielzahl an Informationsquellen“ zur Verfügung stellen, durch die „mundgerechte“ Informationsauswahl der Personalisierung seitens der Betreiber von sozialen Netzwerken oder Plattformen ist das Interesse jedoch (zu) gering diese wahr zu nehmen. Diesen „Mechanismus“  S. o. unter I.2.c).  G. Nolte, Hate-Speech, Fake-News, das „Netzwerkdurchsetzungsgesetz“ und Vielfaltsicherung durch Suchmaschinen, ZUM (Zeitschrift für Urheber- und Medienrecht, Film und Recht) 2017, 552 (564). Ausweislich der dortigen ∗-Anm. ist der Autor Senior Legal Counsel bei der Google Germany GmbH. 126  So Nolte, Hate-Speech (o. Fn. 125), 552 (562). 127  M. Meckel, Vielfalt im digitalen Medienensemble, 2012, 17. 124 125

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könnte man als Selbstverstümmelung des Informationsprozesses bezeichnen. Dieser psychologische Ablauf, für den die betroffenen Nutzer selbst mitverantwortlich sind, wird gesteuert und befeuert durch die Betreiber sozialer Netzwerke und von Plattformen (konkret: durch deren Vorgaben für die von ihnen verwendeten Algorithmen). So hatte Google Ende 2009 seinen Suchalgorithmus umgestellt von generell auf personalisiert.128 Oben wurde bereits ausgeführt,129 welches Geschäfts­ modell dem zugrunde liegt. Hingegen wäre es zugunsten „der demokratischen Konsensfindung und des Erhalts einer in einer demokratischen Gesellschaft notwendigen Toleranz“ wichtig, dass Bürger sich auch mit solchen Informationen und Meinungen auseinandersetzen können (und sollen), die nicht ihren eigenen Meinungen, Einstellungen und Verhaltensweisen entsprechen. Auch in dieser Hinsicht kommt dem Pluralismus im Medienensemble eine erhebliche Bedeutung zu.130 Anderenfalls drohte der freie Informationsprozess – notwendige Voraussetzung freier Meinungsbildung – tendenziell in sich zusammen zu fallen, die Meinungsfreiheit zu implodieren.131 d) Online-Bewertungsportale als Ausdruck der Meinungsäußerungsfreiheit Bewertungsportale existieren für viele Berufe (Lehrer, Uni-Professoren, Ärzte, Anwälte, Handwerker, auch für Branchen wie Reise- und Hotelbuchungen, Produktauktionen, etc.). Sie können – ähnlich der Mund-zu-Mund-Propaganda – Informationen und Erfahrungen weitergeben, die beim Leser Vertrauen generieren.132 Nahezu alle menschlichen Interaktionen, auch in Wirtschaft und Politik, funktionieren nur mit einem Mindestmaß an Vertrauen. Wer mehr Vertrauen hat, kann höhere Risiken eingehen und seinen Handlungsspielraum deutlich erweitern, bspw. für den Abschluss von Verträgen. „Information und Transparenz sind deshalb wichtige Faktoren, die die Entstehung und Weiterentwicklung von Vertrauen begünstigen“, umso mehr, da Pseudonymität und mehr noch Anonymität, die das Internet weitgehend prägen, dem diametral entgegenstehen.133 Hier stellt sich zum einen die Frage der Qualität der gewonnenen Informationen: Stellen die den Bewertungen zugrunde liegenden Fragen mehr auf Tatsachen ab oder auf subjektive Empfindungen, Sympathie etc.? Wie groß muss die Mindestzahl  Meckel, Vielfalt (o. Fn. 127), 16.  Unter I.2.c). 130  Meckel, Vielfalt (o. Fn. 127), 16. 131  Zu diesem Abschnitt vgl. auch J. Drexl, Bedrohung der Meinungsvielfalt durch Algorithmen. Wie weit reichen die Mittel der Medienregulierung?, ZUM 2017, 529; B. P. Paal/M. Hennemann, Meinungsbildung im digitalen Zeitalter. Regulierungsinstrumente für einen gefährdungsadäquaten Rechtsrahmen, JZ 2017, 641 (644); dies., Meinungsvielfalt im Internet. Regulierungsoptionen in Ansehung von Algorithmen, Fake News und Social Bots, ZRP 2017, 76; B. P. Paal, Vielfaltsicherung im Suchmaschinensektor, ZRP 2015, 34; W. Schulz/K. Dankert, Die Macht der Informationsintermediäre. Erscheinungsformen, Strukturen und Regulierungsoptionen, 2016, 35, 39 f. 132  Hoffmann/Luch u. a., Die digitale Dimension (o. Fn. 7), 131 und ff. 133  V. Boehme-Neßler, Vertrauen im Internet – Die Rolle des Rechts, MMR 2009, 439 (441). 128 129

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an Antworten sein, damit eine Bewertung ins Netz gestellt wird? Ist die Zahl zu gering, müsste eine Missbrauchsgefahr durch Einzelne beachtet werden.134 Zum anderen sind die Rechte des Bewerteten zu beachten, vor allem das auf persönliche Ehre: Solche Bewertungen dürfen nicht zum „digitalen Pranger“ werden. Die Rechtsprechung der letzten Jahre in Deutschland, aber auch in Österreich oder vom EGMR (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) hat allerdings (fast) immer zugunsten der Bewerter und deren Recht auf Meinungsäußerungsfreiheit entschieden,135 die bewerteten Lehrer, Ärzte usw. mit dem von ihnen geltend gemachten Persönlichkeitsrecht oder dem Datenschutzgesetz konnten ihren Löschanspruch nicht durchsetzen.136 Prominente Ausnahme war eine Entscheidung des BGH (Bundesgerichtshof) von 2016, in der der betroffene Arzt geltend machte, die vom Patienten geschilderte Behandlung hätte gar nicht stattgefunden: In solchem Fall sei der Portalbetreiber zumindest zu Recherchen verpflichtet und müsse sich die Behandlung durch Vorlage von Rechnungen, Rezepten o. ä. nachweisen lassen, ohne jedoch festgelegt zu sein, wie er als Betreiber dann darauf reagieren müsse, ob er etwa die Anonymität des Patienten weiterhin wahren wolle.137 – Sollten jedoch einem Bewerter falsche Tatsachenbehauptungen nachweisbar sein, könne Unterlassung verlangt werden. Sollte ein Portal irreführende Angaben machen, könne der Betroffene Ansprüche gegen das Bewertungsportal durchsetzen.138 Ebenfalls als Ausnahme erwies sich, dass ein Portalbetreiber in Haftung genommen wird; wurde er jedoch auf die Rechtswidrigkeit einer Bewertung bzw. eines Eintrags zu Recht hingewiesen, muss dessen Löschung zeitnah erfolgen.139

 Vgl. K.-H. Ladeur, Die Zulässigkeit von Lehrerbewertungen im Internet – zugleich eine Anmerkung zum Urteil des OLG Köln vom 27.11.2007, RdJB (Recht d. Jugend und d. Bildungswesens) 2008, 16 (28 ff.). 135  A. A. (andere Auffassung) H. Greve/F. Schärdel, Der digitale Pranger – Bewertungsportale im Internet, MMR 2008, 644 (648): Auch anonyme Meinungsäußerungen fallen in den Schutzbereich von Art. 5 I GG; bei der Abwägung sei zwar zu berücksichtigen, dass Art. 5 I GG das „herausragendste unter den Kommunikationsgrundrechten“ ist, eine Kommunikation aber bei Bewertungsportalen unmöglich sei wegen der Anonymität des Bewertenden. Nur „wem die Möglichkeit eingeräumt ist, sich gegen schmerzliche Meinungsäußerungen zu verteidigen, kann zugemutet werden, bis zur hohen Grenze der Formalbeleidigung alles zu ertragen.“ (Ebd., 644 [649]). Prima facie ist diese Argumentation nachvollziehbar. 136  P. Breun-Goerke, Die Rechtsprechung zu Bewertungs- und Vergleichsplattformen – muss ich mir das gefallen lassen?, WRP (Wettbewerb in Recht und Praxis) 2017, 383 (383, Rn.  3; 385, Rn. 16 f.). 137  BGH, Entscheidung vom 01.03.2016 – VI ZR 34/15 – Jameda II = NJW 2016, 2106; BraunGoerke, Die Rechtsprechung (o. Fn. 136), 383 (384, Rn. 9 ff.). 138  Breun-Goerke, Die Rechtsprechung (o. Fn. 136), 383 (386, Rn. 26, 28). 139  Breun-Goerke, Die Rechtsprechung (o. Fn. 136). 383 (387, Fn. 38 ff.). 134

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3. Schutzpflichten – mittelbare Drittwirkung a) Schutzpflichten des Staates Gerade im Internet werden Grundrechte nicht nur vom Staat durch staatliche Eingriffe, sondern in besonderer Weise auch durch andere Private in Form privater Übergriffe140 gefährdet oder verkürzt. Dazu zählt die widerrechtliche Nutzung von Daten, die sich ja wie Sedimente der Kommunikation im Netz ablagern, durch private Unternehmen ohne Einverständnis der Datensverursacher. Diese Verschiebung hat Auswirkungen auch auf den verfassungsrechtlichen Fokus: Nicht mehr Abwehrrechte gegen den Staat stehen im Mittelpunkt, sondern staatliche Schutzpflichten und Regelungen zum Freiheitsausgleich zwischen Privaten. Anders als für den Staat gilt für Private: Erlaubt ist ihnen alles, was nicht auf Grund eines Gesetzes ausnahmsweise verboten ist.141 Um derartigen Konstellationen gerecht zu werden, wurden vom BVerfG bereits in den 1970er-Jahren staatliche bzw. grundrechtliche Schutzpflichten formuliert:142 Der Staat hat mit zwecktauglichen rechtsstaatlichen Mitteln (potenzielle oder aktuelle) Übergriffe eines privaten Störers auf ein Grundrecht wirksam abzuwehren. Diese staatliche Verpflichtung steht unter dem Vorbehalt des faktisch und verfassungsrechtlich Möglichen;143 absolute Sicherheit lässt sich nicht herstellen. Welche Mittel er dazu einsetzt, unterliegt seinem Gestaltungsermessen. Aber er ist aus dem Untermaßverbot verpflichtet, ein Mindestmaß an Schutz herzustellen.144 Bei weniger schwerwiegenden Gefährdungen kann sich der Staat auch gerechtfertigterweise für ein Nicht-Handeln entscheiden, indem er bestimmte Beeinträchtigungen einzelner Grundrechte sowie eine gewisse Schadenswahrscheinlichkeit als allgemeines Lebensrisiko einstuft, das hinzunehmen sei.145

 Da Eingriffe immer staatliches Handeln voraussetzen – vgl. nur C. Hillgruber, Grundrechtlicher Schutzbereich, Grundrechtsausgestaltung und Grundrechtseingriff, in: HStR IX, 32011, §  200 Rn.  84 –, wäre es nicht sinnvoll, von „privaten Eingriffen“ zu sprechen. Deshalb wird hier im Folgenden von „privaten Übergriffen“ gesprochen. Ähnlich C. Calliess, Schutzpflichten, in: HGR (D. Merten/H.-J. Papier [Hrsg.], Handbuch der Grundrechte) II, 2006, § 44 Rn. 18. 141  J. Masing, Herausforderungen des Datenschutzes, NJW 2012, 2305 (2306 f.). 142  BVerfGE 39, 1 – Schwangerschaftsabbruch I; 46, 160 (164) – Schleyer; auch 33, 303 (333) – numerus clausus I. 143  J. Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: HStR IX, 32011, § 191 Rn. 274 ff. 144  Isensee, Das Grundrecht (o. Fn.  143), Rn.  218  f.; Schliesky/Hoffmann u.  a., Schutzpflichten (o. Fn. 43), 47 ff. 145  Schliesky/Hoffmann u.  a., Schutzpflichten (o. Fn.  43), 55. Zur Kritik an der Schutzpflichten-Konzeption s. ebd., 49 sowie – mit eigenem Vorschlag – Calliess, Schutzpflichten (o. Fn. 140), Rn. 8 ff., 18 ff. 140

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b) Mittelbare Drittwirkung: Ausstrahlung der Grundrechte auf das Verhältnis zwischen Privaten im Zivilrecht Die Schutzpflichten des Staates bilden „ein verfahrensmäßiges Dach über der materiellen Grundrechtsbindung des Zivilrechtsgesetzgebers und der mittelbaren Drittwirkung, die beide davon umfasst sind, es aber nicht vollständig ausfüllen.“146 Unter mittelbarer147 Drittwirkung wird eine Prägung des Zivilrechts durch die Grundrechte verstanden. Diese entfalten – über die vertikale Staat-Bürger-Beziehung hi­ naus – auch eine horizontale Wirkung in den privaten Rechtsbeziehungen. Bei der „Durchsetzung privatrechtlicher Ansprüche sind die grundrechtlichen Gewährleistungen im Zuge der offen formulierten Generalklauseln des Privatrechts zu berücksichtigen“.148 Dabei stehen sich meist zwei Private mit konträren Forderungen gegenüber, die zusammen mit dem Staat eine tripolare Konstellation bilden und zwischen deren Rechtspositionen der schonendste Ausgleich im Wege der praktischen Konkordanz149 zu suchen ist.150 Gerade im Internet kommt es oft vor, dass ein deutlich stärkerer mit einem deutlich schwächeren Privaten einen Vertrag schließt, z. B. einen Nutzungsvertrag bei Facebook, YouTube, Twitter etc. Hier geht es nicht um Abwehr einer Störung, sondern um einen gerechten Ausgleich zwischen sehr ungleichen Partnern („unechte Schutzpflicht“). Sind die Maßstäbe (wenngleich oft leider schon diffus) bei der Störung von der Verfassung vorgegeben, werden sie beim Ausgleich vom Gerechtigkeitsempfinden des Gerichts bestimmt. Eine derartige „Billigkeitsjustiz“151 vermag keineswegs immer zu befriedigen noch zu befrieden. Verschärft stellt sich die Situation dar,152 wenn ein privates Unternehmen „die Bereitstellung schon der Rahmenbedingungen öffentlicher Kommunikation selbst (übernimmt)“: Dann kann „die mittelbare Grundrechtsbindung Privater einer Grundrechtsbindung des Staates [...] nahe oder auch gleich kommen“.153 Hat ein Unternehmen aufgrund eigener Entscheidung eine (Groß-)Veranstaltung einem breiten Publikum ohne Ansehen der Person geöffnet, darf es seine Entscheidungsmacht (resultierend aus einer Monopolstellung oder struktureller Überlegenheit) aufgrund gleichheitsrechtlicher Anforderungen aus Art. 3 I GG nicht dazu nutzen, Personen ohne sachlichen Grund von einem Ereignis auszuschließen.154 Hieran sind  H.-J. Papier, Drittwirkung der Grundrechte, in: HGR II, 2006, § 55 Rn. 10.  Zur Abgrenzung unmittelbare – mittelbare Drittwirkung s. nur Papier, Drittwirkung (o. Fn. 146), Rn. 11 ff., 23 ff. 148  Schliesky/Hoffmann u. a., Schutzpflichten (o. Fn. 43), 61. 149  K.  Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1999, Rn. 72. 150  Schliesky/Hoffmann u. a., Schutzpflichten (o. Fn. 43), 62. 151  J. Isensee, Privatautonomie, in: HStR VII, 32009, § 150 Rn. 119 ff. (Zitat 124). 152  Vgl. zum Folgenden auch Lang, Netzwerkdurchsetzungsgesetz (o. Fn. 22), 220 (243 f.). 153  BVerfGE 128, 226 (249, Rn. 59) – Fraport = JZ 2011, 568 (570, Rn. 59 [vgl. auch Rn. 56]). 154  BVerfG, Beschluss v. 11.04.2018  – 1 BvR 3080/09  – Stadionverbot = JZ 2018, 930 (933, Rn. 38, 41). 146 147

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auch verfahrensrechtliche Anforderungen geknüpft.155 Gleiches gilt etwa für soziale Netzwerke, die aufgrund eigener Entscheidungen ein öffentliches Forum156 – nicht zu Spezialthemen wie Gartenpflege, gesundes Kochen oder Fußball, sondern zu allgemein-politischen Themen – für ein breites Publikum, d. h. ohne Ansehen der Person, geschaffen haben. Auch in einer solchen strukturell-überlegenen Position darf der Überlegene seine Macht nicht zur willkürlichen Benachteiligung nutzen, sondern muss seine Ausschluss- oder Lösch-Entscheidung auf sachliche Gründe zurückführen (können).157 Er begibt sich somit in gewissem Umfang seiner Willkürfreiheit und unterliegt einem Kontrahierungszwang, da er seine Privatautonomie bereits dadurch ausgeübt hat, dass er ein solches allgemeines Forum installierte.158 Weitere Konsequenzen werden unten aufgezeigt.159

4. Zur Lösung typischer Grundrechtskonflikte zwischen Privaten im Internet Drei typische Grundrechtskonflikte zwischen Privaten im Internet seien im Folgenden kurz analysiert. a) Daten-Nutzung durch Private Private stehen sich in Freiheit gegenüber. Das gilt prinzipiell auch für Rezeption, Verarbeitung und Austausch von Daten: Verfassungsrechtlich ist nicht die Erlaubnis zur Datenverarbeitung zu rechtfertigen, sondern primär deren Einschränkung, die – wie jeder Freiheitseingriff – verhältnismäßig sein muss. „Für einen Ausgleich gegenseitiger Freiheit ist das Kriterium der Einwilligung naturgemäß zentral. Es bildet ein Scharnier des privaten Datenschutzrechts.“160 Dieses ist vom Gesetzgeber so zu gestalten, dass u. a. dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung im Privatrechtsverhältnis Rechnung getragen wird. Soweit Unternehmen nicht nur an der Kommunikation teilnehmen, sondern auch noch deren Rahmen bereitstellen, sind sie strengen rechtlichen Regelungen zu unterwerfen.161 Das gilt umso mehr, wenn es sich um Akteure mit Marktmacht handelt wie bei den großen Unternehmen im  BVerfG, Beschluss v. 11.04.2018 (o. Fn. 154), 930 (934, Rn. 46).  Weil sie in “Kommunikationsraumkonkurrenz“ zu öffentlichen Foren stehen, gilt das auch für privat betriebene Foren, so zurecht in seinem abweichenden Votum Schluckebier, in: BVerfGE 128, 226 (274). 157  B. Raue, Meinungsfreiheit in sozialen Netzwerken. Ansprüche von Nutzern sozialer Netzwerke gegen die Löschung ihrer Beiträge, JZ 2018, 961 (965). 158  Raue, Meinungsfreiheit (o. Fn. 157), 961 (969). 159  S. unten unter VI.2.b). 160  Masing, Herausforderungen (o. Fn. 141), 2305 (2307). 161  Masing, Herausforderungen (o. Fn. 141), 2305 (2307 f.). 155 156

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I­ nternet (Google, Facebook, YouTube, Amazon etc.), wo der Nutzer dem Anbieter keineswegs auf gleicher Augenhöhe gegenüber steht (so etwa drohte Google „Presseverlegern mit Auslistung ihrer digitalen Presseerzeugnisse, wenn sie den Umfang des Presseleistungsschutzrechtes gerichtlich klären lassen wollen“!).162 In dieser asymmetrischen Wettbewerbsordnung,163 in der es zu einem so marktmächtigen Anbieter keine wirkliche Alternative gibt, sind Einwilligungen in konkrete Daten-Nutzung nicht wirklich freiwillig, mithin wertlos. Dass hier, um Abhilfe zu schaffen, Not zu wenden ist, wird auch an der großen Gefahr der Zusammenfügung von persönlichen Daten zu Persönlichkeitsprofilen164 deutlich – dies gilt es, auf jeden Fall rechtlich zu verhindern.165 b) Urheberrechtskonflikte Der Konflikt besteht zwischen Durchsetzung urheberrechtlicher Ansprüche und Anonymität der User; er tritt besonders bei der Nutzung von Fileservern (Dateiserver, die von mehreren genutzt werden) hervor.166 Da sich überzeugende Lösungen aus hier nicht zu behandelnden Gründen nicht anbieten, könnte über pauschale Lizenzgebühren nachgedacht werden, die entweder für den Internetanschluss des Kunden fällig würden oder für den Access-Provider, der diese Kosten auf seine Kunden abwälzen könnte.167 Mit der Richtlinie (EU) 2019/790 vom 17.04.2019,168 die bis Juni 2021 in nationales Recht umzusetzen ist, wurde das Urheberrecht digitalen Realitäten angepasst. Dabei geht es um einen Ausgleich zwischen den Interessen der Urheber eines Werkes bzw. einer Produktion (Künstler, Produktionsfirmen etc.) und denen der User. In einem Teilbereich, dem digitaler Kulturtechnik (referenzielle Kunst), hat das BVerfG169 Akzentverschiebungen vorgenommen:170 inhaltlicher und zeitlicher Abstand zum Originalwerk; beim Kunstbegriff müssten auch genre-typische Besonderheiten anerkannt werden; statt ein Werk absolut zu schützen, seien Zahlungen eines angemessenen Entgelts Kernbestandteil des Leistungsschutzrechts. „Insgesamt liegt der Entscheidung ein ‚offener Abwägungsprozess‘ zugrunde, der auch an  Di Fabio, Grundrechtsgeltung (o. Fn. 6), 80.  Ebd., 81. 164  S. o. unter III.6. 165  Masing, Herausforderungen (o. Fn. 141), 2305 (2308); Hoffmann-Riem, Regelungsstrukturen (o. Fn. 12), 509 (533 ff.); Schliesky/Hoffmann u. a., Schutzpflichten (o. Fn. 43), 161 f.; Hoffmann/ Luch u. a., Die digitale Dimension (o. Fn. 7), 117 ff. 166  Nietsch, Anonymität (o. Fn. 41), 244. 167  Nietsch, Anonymität (o. Fn. 41), 269. 168  Abl. L 130 vom 17.05.2019, 92 ff. 169  BVerfG, Entscheidung vom 31.05.2016 – 1 BvR 1585/13 – Sampling und Kunst. 170  S. Papastefanou, „Fair-Use“ im Zeitalter digitaler Kulturtechniken. Die Wandlung des Urheberrechts in Bezug auf referenzielle Kunst, WRP 2019, 171. 162 163

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die Fair-Use-Doctrine171 erinnert und nicht mehr die klassische verfassungsrechtliche Struktur von Rechten und Schranken verfolgt.“172 c) Meinungsäußerungsfreiheit vs. allgemeines Persönlichkeitsrecht (Schutz der persönlichen Ehre) Diese klassische Konflikt-Situation hat im Zeitalter des Internets an Bedeutung noch gewonnen.173 An die weltweite Verbreitung, die Anonymität der Internetnutzer, die nahezu endlose Dauerhaftigkeit und die weltweit große Auffindbarkeit durch Suchmaschinen sei erinnert.174 Beleuchtet wurden oben auch Meinungsäußerungsfreiheit – Art. 5 I GG sowie als Schranke in Art. 2 I GG – und Ehrschutz – Art. 2 I GG sowie als Schranke in Art. 5 II GG.175 Diese beiden wechselseitig aufeinander bezogenen Rechtsgüter bedürfen der Abwägung im Einzelfall. Dabei ging das BVerfG seit dem Lüth-Urteil 1958176 von einer Vermutung zugunsten der freien Rede aus: Der Ehrschutz überwog die Meinungsfreiheit in der Regel nur, wenn eine Äußerung einen Angriff auf die Menschenwürde, eine Schmähkritik (Diffamierung) oder eine Formalbeleidigung darstellte, die Intim­ sphäre betroffen war oder wenn  – bei Übergriffen in die Sozialsphäre  – dadurch eine Stigmatisierung, soziale Ausgrenzung oder Prangerwirkung erzeugt wurde. Selbst wahre Tatsachenbehauptungen waren bei einem berechtigten Informationsinteresse der Öffentlichkeit dann hinzunehmen, wenn dadurch die Intim-, Privat- oder Vertraulichkeitssphäre betroffen war. Der EGMR hingegen stellt statt der Vermutung zugunsten der freien Rede bei der Abwägung darauf ab, ob eine Veröffentlichung (Foto oder Meinung) zu einer Diskussion über eine Frage von allgemeinem Interesse beiträgt. „Dadurch wird u.  a. der Besonderheit des Internets Rechnung getragen, wonach private Kommunikation in Internetforen praktisch nicht möglich ist, da sich jedermann Zugang verschaffen kann. Dieser Auffassung hat sich das BVerfG mittlerweile im Grundsatz angeschlossen.“ Zunächst ist zu ermitteln, ob eine Äußerung einen Beitrag zur öffentlichen Willensbildung leistet. Bei offensichtlich rechtswidrigen Äußerungen ist dies nicht anzuerkennen. Nach der Rechtsprechung des EGMR hat die Meinungsfreiheit auch gegenüber Politikern und Personen des öffentlichen Lebens dann zurück zu treten, wenn sich eine Meinungsäußerung auf ehrenrührige Einzelheiten des Privatlebens bezieht und nur die öffentliche Neugierde befriedigen soll.177

 Ebd., 171 (176 f., Rn. 37 ff.).  Ebd., 171 (172, Rn. 10). 173  S. o. unter I.2. die Phänomene Hate Speech, Cybermobbing, Shitstorm sowie unter IV.2.d) zu Bewertungsportalen. 174  Glaser, Grundrechtlicher Schutz (o. Fn. 31), 1432 (1432); s. o. unter III.2., II., III.5. und I.1. 175  S. o. unter IV.2.a) und IV.1.a). 176  BVerfGE 7, 198 (212). 177  Zu diesem Absatz Glaser, Grundrechtlicher Schutz (o. Fn. 31), 1432 (1433 f., Zitat 1434). 171 172

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Bei allen Konflikten im Internet ist der Breitenwirkung des Netzes Rechnung zu tragen. Die Unterscheidung zwischen privat und öffentlich ist dabei meist nicht mehr sinnvoll. Der staatlichen Schutzpflicht kommt gerade in diesen Konflikten angesichts der Breitenwirkung und der nachhaltigen Zugriffsmöglichkeit für jedermann im Netz besondere Bedeutung zu. Der Staat kommt ihr zivilrechtlich mit §§ 823 I, II, 1004 und 826 BGB, strafrechtlich mit §§ 185 (Beleidigung), 186 (üble Nachrede) und 187 StGB (Verleumdung) nach. Es liegt an den Gerichten, der mittelbaren Drittwirkung des Rechts auf persönliche Ehre über die „Einbruchstellen“ in Form dieser Generalklauseln und unbestimmten Rechtsbegriffe hinreichend Bedeutung bei der konkreten Abwägung zu verschaffen. Angesichts der Anonymität der für Verletzungen Verantwortlichen stellte sich die Frage, ob und inwieweit die Internetintermediäre für derartige Verletzungen haften und zur Verantwortung gezogen werden sollen und können.178 Mit dem NetzDG hat der Gesetzgeber darauf 2017 eine Antwort gegeben.

V. Zum NetzDG Angesichts der Vielzahl an Veröffentlichungen, die sich schwerpunktmäßig mit dem NetzDG beschäftigt hat, ist hier Zurückhaltung angesagt. Deshalb werden viele Aspekte lediglich zusammenfassend nachgezeichnet und nur wenige Konfliktpunkte ausführlich behandelt. Zunächst aber ein kurzer Blick auf drei alternative Modelle der Lösung von Konflikten im Internet, die vor Verabschiedung des NetzDG entwickelt worden waren:179 Schweden hatte 1998 ein Gesetz implementiert über die Verantwortung von Netzbetreibern, gekennzeichnet von einer strikten Löschungsverpflichtung bei zugleich restriktiver Auswahl inkriminierter Inhalte und einer Haftungsbeschränkung auf grobe Fahrlässigkeit. In den USA wird mit dem Millenium Copyright Act ein formalisierter Weg ohne inhaltliche Prüfpflichten beschritten (für Urheberrechtsverletzungen, gut übertragbar auf andere Rechtsverletzungen zum Nachteil Dritter). Dabei hat der Provider in drei Phasen – neben dem Löschen und ggf. Wiedereinstellen von Material – vor allem zügig zwischen dem Verletzer und dem Betroffenen zu kommunizieren, bis ggf. der Rechtsweg eröffnet ist. Das Modell des deutschen BGH knüpft am schwedischen an: Sämtliche Rechtsverletzungen sind vom Provider zu beseitigen, soweit sie plausibel dargelegt sind, eine Stellungnahme des Verletzers und eine eigene Abwägungsentscheidung eingeholt ist. Ggf. kann der Provider zivilrechtlich auf Löschung des Beitrags in Anspruch genommen werden. Mit dem NetzDG hat die Bundesregierung einen anderen Weg beschritten: Auf den großen Kommunikationsplattformen wie Facebook, YouTube und Twitter ist  Auch zu diesem Absatz Glaser, Grundrechtlicher Schutz (o. Fn. 31), 1432 (1436 f.).  Zum Folgenden B. Holznagel, Das Compliance-System des Entwurfs des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes. Eine kritische Bestandsaufnahme aus internationaler Sicht, ZUM 2017, 615 (617 ff.). 178 179

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Hate Speech verbreitet. Zu dessen Bekämpfung werden alle größeren privaten Internet-Intermediäre zur Vorhaltung eines Verfahrens verpflichtet, durch das rechtswidrige Inhalte (bezogen auf diverse Normen des StGB) innerhalb bestimmter Fristen zu löschen sind. Zudem sind halbjährlich (begrenzte) Berichtspflichten zu erfüllen und ist ein Zustellungsbevollmächtigter im Inland zu benennen. Verstöße gegen die Installierung des Lösch-Verfahrens und gegen die Berichtspflichten können mit z. T. hohen Geldbußen belegt werden.180

1. Kritik am NetzDG Die Schnelligkeit der Entstehung des NetzDG („völlig übereiltes Verfahren“)181 – alle Stufen vom ersten Entwurf bis zur Verabschiedung durchlief es im ersten Halbjahr 2017 wegen des Endes der Legislaturperiode im deutschen Bundestag – hatte die rechtswissenschaftliche Begleitung unter erheblichen Zugzwang gesetzt: Wollte man am Entwurf noch etwas verbessern, musste man sich schnell positionieren. Für sehr differenzierte Analysen war in dieser Phase keine Zeit. Es ist wohl auch so zu erklären, dass die ersten Stellungnahmen durchwegs sehr kritisch ausfielen,182 erst 2018 differenziertere Bewertungen erfolgten. Das NetzDG verpflichtet im Kern soziale Netzwerke zu einem wirksamen Beschwerde-Management mit festgelegten Compliance-Standards; flankiert wird es durch erhebliche Bußgeld-Androhungen. Nicht zuletzt die kritischen Stellungnahmen haben dazu geführt, dass im Verlauf des (kurzen) parlamentarischen Verfahrens „zahlreiche Nachbesserungen und Veränderungen“ vorgenommen wurden, erhebliche Kritikpunkte verbleiben aber.183 Dazu zählen vor allem:184  Vgl. nur Lang, Netzwerkdurchsetzungsgesetz (o. Fn. 22), 220 (220 f.).  Nolte, Hate-Speech (o. Fn. 125), 552 (554, bes. Anm. 4). 182  Siehe nur J. Wimmers/B. Heymann, Zum Referentenentwurf eines Netzwerkdurchsetzungsgesetzes (NetzDG) – eine kritische Stellungnahme, AfP (Archiv für Presserecht) 2017, 93; Holznagel, Das Compliance-System (o. Fn.  179), 615; H.  Gersdorf, Verfassungswidrigkeit des NetzDG-Entwurfs und grundrechtliche Einordnung der Anbieter sozialer Netzwerke, MMR 2017, 439; K.-H. Ladeur/T. Gostomzyk, Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz und die Logik der Meinungsfreiheit. Ergebnisse eines Gutachtens zur Verfassungsmäßigkeit des Regierungsentwurfs, K&R (Kommunikation und Recht) 2017, 390; G.  Spindler, Der Regierungsentwurf zum Netzwerkdurchsetzungsgesetz – europarechtswidrig?, ZUM 2017, 473; N. Guggenberger, Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz – schön gedacht, schlecht gemacht, ZRP 2017, 98; A. Koreng, Entwurf eines Netzwerkdurchsetzunsgesetzes: Neue Wege im Kampf gegen „Hate Speech“?, GRUR-Prax (Zeitschrift für Gewerbliches Recht und Urheberrecht  – Praxis) 2017, 203; Nolte, Hate-Speech (o. Fn. 125), 552; vgl. auch Steinbach, Meinungsfreiheit (o. Fn. 120), 653 (659 ff.). 183  G. Spindler, Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz, K&R 2017, 533 (533). 184  Ebd., 533; ders., Rechtsdurchsetzung von Persönlichkeitsrechten. Bußgelder gegen Provider als Enforcement?, GRUR 2018, 365; S.  Müller-Franken, Netzwerkdurchsetzungsgesetz: Selbstbehauptung des Rechts oder erster Schritt in die selbstregulierte Vorzensur? Verfassungsrechtliche Fragen, AfP 2018, 1; K.-E.  Hain/F.  Ferreau/T.  Brings-Wiesen, Regulierung sozialer Netzwerke revisited, K&R 2017, 433; A. Peukert, Gewährleistung der Meinungs- und Informationsfreiheit in 180 181

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(1) Das NetzDG sei nicht notwendig, da dessen Ziele auch de lege lata erreichbar gewesen wären bei konsequenterer und personell deutlich aufgestockter Strafverfolgung; (2) die Gesetzgebungskompetenz in dieser Rechtsmaterie habe nicht beim Bund, sondern bei den Ländern gelegen; (3) auch wenn aggressive, verletzende und hasserfüllte Rede gesellschaftlich unerwünscht und verpönt sei, unterfalle sie doch dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit – damit jedoch sei die Zielsetzung des NetzDG, gerade derartige Beiträge aus dem Netz zu verbannen, nicht vereinbar;185 (4) da nur das unterbleibende Löschen und Blockieren bestimmter Beiträge sanktionsbewehrt sei, nicht jedoch ein übermäßiges Löschen, sei das NetzDG asymmetrisch, führe zu massivem Overblocking, beinträchtige die für jede Demokratie so wichtige Meinungsfreiheit und sei deshalb verfassungswidrig; (5) über dieses Löschen bzw. Blockieren zu entscheiden, sei den Netzwerk-Betreibern, also Privaten, anvertraut; damit trete an die Stelle eines staatlichen Meinungswächtertums ein privates; über das Vorliegen einer Straftat dürfe jedoch eigentlich nur ein Richter entscheiden; zudem sei die Regulierung der Meinungsfreiheit nach dem NetzDG im Kern einer privatwirtschaftlichen (statt einer öffentlich-rechtlichen) Rationalität verhaftet, was ebenfalls zum Overblocking beitrage; (6) auch der durch das NetzDG aufgebaute Zeitdruck führe leicht zur Devise „löschen statt prüfen“; (7) es sei zwingend, den Urheber einer Äußerung, über deren Löschung zu urteilen ist, anzuhören, da nur so der bei der vorzunehmenden Abwägung zu berücksichtigende Gesamtzusammenhang, in dem die Äußerung steht, berücksichtigt werden könne; das NetzDG verpflichte jedoch dazu nicht (nur „kann“ statt „muss“); (8) da das NetzDG nur Unternehmen ab einer bestimmten Größe in die Pflicht nehme, verstoße es gegen das Gleichbehandlungsgebot aus Art. 3 I GG und sei verfassungswidrig;

sozialen Netzwerken. Vorschlag für eine Ergänzung des NetzDG um sog. Put-back-Verfahren, MMR 2018, 572; N. Guggenberger, Das Neztwerkdurchsetzungsgesetz in der Anwendung, NJW 2017, 2577; F.  Höld, Das Vorabentscheidungsverfahren nach dem neuen NetzDG, MMR 2017, 791; F.  Kalscheuer/C.  Hornung, Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz  – ein verfassungswidriger Schnellschuss, NVwZ 2017, 1721; M. Liesching, Die Durchsetzung von Verfassungs- und Europarecht gegen das NetzDG. Überblick über die wesentlichen Kritikpunkte, MMR 2018, 26; F. Fechner, Fake News und Hate Speech als Gefahr für die demokratische Willensbildung, in: A. Uhle (Hrsg.), Information und Einflussnahme, 2018, 157; J. N. Steinhöfel, Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz in der Praxis – erste Erfahrungen und mögliche Gegenmaßnahmen, IPRB (IP[Intellectual Property]-Rechtsberater) 2018, 212; M. Hong, Das NetzDG und die Vermutung für die Freiheit der Rede, in: VerfBlog (Verfassungsblog), 09.01.2018. 185  Vgl. Müller-Franken, Netzwerkdurchsetzungsgesetz (o. Fn. 184), 1 (2 f.). – Hasserfüllte Äußerungen dürften sich jedoch spätestens bei der Abwägung gegen die Rechte anderer, die sie verletzen, nicht durchsetzen.

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(9) das NetzDG statuiere einen eigenen Rechtswidrigkeitsbegriff, der mit dem des StGB nicht identisch sei, was zu erheblichen Beurteilungsproblemen führen könne; (10) nicht fehlerhafte Einzelfall-Entscheidungen, sondern nur fall-übergreifende Systemfehler seien bußgeldbewehrt; dadurch sei die praktische Relevanz des NetzDG als eher gering einzuschätzen; (11) das Vorabentscheidungsverfahren gemäß §  4 V NetzDG  – „ein juristisches Novum und dem Ordnungswidrigkeitsverfahren prinzipiell fremd“186  – verdränge als lex specialis die allgemeinen Vorschriften des OWiG (Ordnungs­ widrigkeiten-­Gesetz). Die dabei durch das AG Bonn getroffenen Entscheidungen seien für die Verwaltungsbehörde bindend. Dagegen allerdings könnten die üblichen Rechtsmittel eingelegt werden; (12) das NetzDG verstoße u.  a. gegen das Herkunftslandprinzip gemäß Art.  3 ECRL (Richtlinie 2000/31/EG v. 08.06.2000) sowie gegen die Dienstleistungsfreiheit nach Art. 56 AEUV (Vertrag über die Arbeitsweise der EU) und sei deshalb europarechtswidrig. Vor allem die auch nach den Verbesserungen durch das parlamentarische Verfahren verbleibenden Vorwürfe der Europarechtswidrigkeit und der Verfassungswidrigkeit wiegen schwer. Hier erscheinen prima facie Nachbesserungen des NetzDG durch den Gesetzgeber angebracht, vor allem dann, falls BVerfG und EuGH diese fordern sollten.187

2. Massives Overblocking zu Lasten der Meinungsfreiheit? Ein zweiter Blick und erste empirische Ergebnisse für 2018 Der Vorwurf des Overblocking sei näher untersucht, da er im Zentrum der hier beleuchteten Auseinandersetzungen im Internet zwischen Meinungsfreiheit und Recht auf persönliche Ehre steht. Prima facie ist die obige Kritik (4) zutreffend: Da nur das unterbleibende Löschen und Blockieren bestimmter Beiträge sanktionsbewehrt sei, nicht jedoch ein übermäßiges Löschen, sei das NetzDG asymmetrisch, führe zu massivem Overblocking, beinträchtige die für jede Demokratie so wichtige Meinungsfreiheit und sei deshalb verfassungswidrig. Das gilt umso mehr, wenn man die Kritikpunkte (5), (6) und (7) hinzunimmt.

 Höld, Das Vorabentscheidungsverfahren (o. Fn. 184), 791 (793).  Zu den dafür zu beschreitenden Verfahren Liesching, Die Durchsetzung (o. Fn. 184), 26 (30). – Allerdings bereitet die Bundesregierung von sich aus einen Gesetzentwurf vor (o.V., Kabinett beschließt Maßnahmen gegen Rechtsextremismus: Gesetzentwurf gegen Hass im Netz bis Jahresende, LTO v. 30.10.2019, https://www.lto.de/persistent/a_id/38471/). 186 187

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Das Overblocking hat eine Kehrseite: das Underblocking.188 Dabei wird das Persönlichkeitsrecht des Betroffenen über Gebühr verletzt. Somit sind beide Konstellationen problematisch, denn in beiden Fällen wird ein Grundrecht verletzt: beim Overblocking die Meinungsfreiheit des Äußernden, beim Underblocking das allg. Persönlichkeitsrecht des Betroffenen. Es gilt, beide problematischen Konstellationen – was nicht leicht ist – zu vermeiden. Dem kommt entgegen, dass das Overblocking nicht so zwingend ist wie von vielen Kritikern des NetzDG befürchtet.189 Zum einen darf nicht jeder Fall von Overblocking dem Gesetzgeber zugerechnet werden, stellt doch das NetzDG ausschließlich auf rechtswidrige Beiträge ab. Jedoch geht das „virtuelle Hausrecht“ (AGBs [Allg. Geschäftsbedingungen]) einzelner Betreiber zum Teil darüber hinaus – dadurch verursachte Löschungen sind dann natürlich ausschließlich den Unternehmen zuzurechnen. Zum anderen hängen die ökonomischen Anreize zum Overblocking von verschiedenen, teilweise gegenläufigen Faktoren ab: vom Bußgeldregime, wobei von erheblicher Bedeutung sein dürfte, dass ein Bußgeld nur für systemisches Versagen (was nachzuweisen aufwändig ist), nicht jedoch für Fehler im Einzelfall erhoben wird (und damit nicht ausgeschlossen ist, dass es sich als „stumpfes Schwert“ erweist). Darüber hinaus verbleiben einerseits beim Overblocking weniger Nutzer auf den Sites des Netzwerks, was tendenziell weniger Werbe-­Einnahmen mit sich bringen dürfte, andererseits könnten ohne Overblocking viele aggressive und hasserfüllte Äußerungen auf den Sites potenzielle Nutzer und Werbende davon abhalten, dort tätig zu werden bzw. dort zu werben. Wie der Netto-­Effekt ausfällt, ist ex ante nicht klar. Overblocking dürfte bei den großen US-­amerikanischen Unternehmen noch einmal dadurch reduziert werden, dass deren Unternehmenskultur „durch den sehr weitreichenden Schutz des free speech im US-amerikanischen Verfassungsrecht geprägt ist“190 (auch wenn natürlich für eine Analyse der US-Rechtsdogmatik hier kein Raum ist). Dadurch jedoch wird die Meinungsfreiheit tendenziell gefördert. Gemäß § 3 II Nr. 3 b) NetzDG können Anbieter die Lösch-Entscheidung vermeiden, indem sie sie einer anerkannten Einrichtung der Regulierten Selbstregulierung übertragen und sich deren Entscheidung unterwerfen. Dieses im Recht des Jugendmedienschutzes bewährte Verfahren einzusetzen hat für sie den Vorteil, so jedem Bußgeldvorwurf zu entgehen – so lassen sich zusätzlich übereilte Meinungsverkürzungen vermeiden.191 Aus all dem wird deutlich: Eine abschließende verfassungsrechtliche Beurteilung lässt sich derzeit schwerlich treffen,192 es sind aber erhebliche Zweifel an der These massiven Overblockings (oder gar eines Zwangs dazu) angebracht.  S. zum Folgenden Lang, Netzwerkdurchsetzungsgesetz (o. Fn. 22), 220 (232 ff.).  S. nur Lang, Netzwerkdurchsetzungsgesetz (o. Fn. 22), 220 (234). 190  Lang, Netzwerkdurchsetzungsgesetz (o. Fn. 22), 220 (235). 191  R. Schwartmann, Verantwortlichkeit Sozialer Netzwerke nach dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz, GRUR-Prax 2017, 317 (318 f.). 192  Ähnlich die Quintessenz von Lang, Netzwerkdurchsetzungsgesetz (o. Fn. 22), 220 (237). Kritisch zum Overblocking-Argument auch M. Eifert, Rechenschaftspflichten für soziale Netzwerke und Suchmaschinen. Zur Veränderung des Umgangs von Recht und Politik mit dem Internet, NJW 2017, 1450 (1452); A. Schiff, Meinungsfreiheit in mediatisierten digitalen Räumen, MMR 2018, 366 (369); Löber/Roßnagel, Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (o. Fn. 30), 71 (73). 188 189

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Inzwischen liegen erste der von § 2 NetzDG verlangten Berichte vor. Danach gingen, wie schon erwähnt,193 bei Facebook, Twitter und YouTube im ganzen Jahr 2018 in Deutschland insgesamt 990.000 Beschwerden ein. Gelöscht bzw. geblockt wurden davon 165.000, was einer gesamten Löschquote von 16,6 % entspricht. Lassen diese Zahlen auf einen Zwang zu massivem Overblocking schließen? Eher nicht. Die Online-Plattformen prüfen zuerst, ob die gemeldeten Inhalte gegen ihre eigenen Regeln verstoßen und löschen den Inhalt bejahendenfalls weltweit. Anderenfalls prüfen sie zusätzlich die Inhalte gemäß NetzDG am deutschen StGB. Bei allen Plattformen bleibt offen, ob die aufgrund eigener Regeln entfernten Inhalte auch rechtswidrig im Sinne des NetzDG waren. „Dies verlangen die Mindestangaben zur Berichterstattung aber auch nicht.“ Genauso wenig verlangt das NetzDG zu vermerken, ob ein Inhalt aufgrund NetzDG oder eigener Regel gelöscht wurde; lediglich YouTube differenziert so.194 Mit so wenigen und unscharfen Daten lässt sich die Effektivität des NetzDG noch nicht annähernd beurteilen. Wohl aber fällt schon jetzt auf, dass die Löschquoten der drei Unternehmen unterschiedlich sind (Twitter nur 10 %, YouTube und Facebook 24 bzw. 26,5 %). Zudem ist unübersehbar, dass Twitter und YouTube ungefähr das 200fache an gemeldeten Inhalten aufweisen wie Facebook. Das könnte daran liegen, dass das von Facebook gestaltete Meldeformular deutlich komplizierter ist als das der anderen.195 Es dürfte aber vor allem daran liegen, dass Facebook von Anfang an ein deutlich anderes Hausrecht (AGB) hat als die beiden anderen, beginnend bei dessen Einstellung zur Anonymität196 und der damit verbundenen Erwartung an einen freundlicheren Umgangston in dem sozialen Netzwerk.

3. Vorläufige Bewertung des NetzDG a) Auskunft über Verursacher-Daten im TMG Im Kontext des NetzDG wurde eine – zu Recht lange geforderte – Ergänzung des § 14 TMG (TelemedienG) vorgenommen, wonach Dienste-Anbieter in Einzelfällen Auskunft über die Bestandsdaten von Nutzern erteilen können, damit gegen sie zivilrechtliche Ansprüche wegen schwerwiegender Verletzungen des Persönlichkeitsrechts durch rechtswidrige Inhalte gemäß § 1 III NetzDG durchgesetzt werden kön S. o. unter I.2.d). Zur Berechnung der Zahlen s. o. Fn. 30.  Zu diesem Absatz Löber/Roßnagel, Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (o. Fn. 30), 71 (71 f., Zitat 72). – Im 1. Halbjahr 2018 wurden bei YouTube wegen Hassrede oder pol. Extremismus 6,4T nach Eigenregel und nur 1,4 T nach NetzDG gelöscht, wegen Persönlichkeitsverletzung 8,7 T bzw. 3,2 T. Auf der 1. Prüfstufe (eigene Regel) wurden also weit mehr als doppelt so viele Inhalte gelöscht als auf der 2. Stufe (NetzDG). 195  So die (einzige) Vermutung von Löber/Roßnagel, Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (o. Fn. 30), 71 (72). 196  Vgl. die von Brodnig, Der unsichtbare Mensch (o. Fn. 21), 148 ff. (bes. 149) referierte südkoreanische Studie, die deutliche Verhaltensunterschiede aufzeigt zwischen Usern mit Klarnamen und anonymen Usern. 193 194

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nen. Diese Erlaubnis steht unter einem Richtervorbehalt. Auch hier jedoch ist eine Beteiligung des Nutzers leider nur fakultativ („unterrichten kann“), es wird unterlassen, dem User verbindlich die Gelegenheit einzuräumen sich verteidigen zu können.197 b) Ergänzungen (de lege lata und) de lege ferenda Mit dem NetzDG ist – sinnvollerweise – etabliert worden, dass jeder Netzwerkbetreiber einen verantwortlichen Ansprechpartner und Zustellungsbevollmächtigten im Inland zu benennen hat. Vorgeschlagen wird, im NetzDG ein Verfahren zur Wiedereinstellung zu Unrecht entfernter Inhalte („Put-Back“-Verfahren) zu verankern.198 So könnten Verkürzungen der Meinungsfreiheit institutionell abgesichert korrigiert werden. Das wäre sehr hilfreich, wenngleich angesichts der als gering einzuschätzenden Gefahr des Overblocking nicht strikt notwendig. Angesichts der nur auf aggregierte Zahlen bezogenen Vorschriften im NetzDG wird gefordert, die Berichtspflichten auch der Einzelentscheidungen im Sinne größerer Transparenz fortzuentwickeln.199 Im NetzDG sollte festgelegt werden, dass die Möglichkeit einer Meldung direkt neben dem Inhalt zu finden sein muss. Durch das NetzDG sollte eine Kooperation der Plattformen mit den Strafverfolgungsbehörden vorgesehen werden, indem diese verpflichtet werden, Straftaten gemäß §  1 III NetzDG, die keine Antragsdelikte sind, an diese Behörden weiterzuleiten.200 c) Anti-Kritik zum NetzDG Schon bei obiger Untersuchung des Vorwurfs Verkürzung der Meinungsfreiheit durch massives Overblocking wurden erhebliche Zweifel an einem der Hauptkritikpunkte gegen das NetzDG deutlich.201 Darüber hinaus ist auch eine in diversen wesentlichen Punkten andere Sicht auf das NetzDG formuliert worden:202  Vgl. Müller-Franken, Netzwerkdurchsetzungsgesetz (o. Fn. 184), 1 (11); Spindler, Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (o. Fn.  183), 533 (542  ff.); Fechner, Fake News (o. Fn.  184), 157 (175 f.); Lang, Netzwerkdurchsetzungsgesetz (o. Fn. 22), 220 (245). 198  Schwartmann, Verantwortlichkeit (o. Fn. 191), 317 (318); Peukert, Gewährleistung (o. Fn. 184), 572 (572 f., 574, 576), Lang, Netzwerkdurchsetzungsgesetz (o. Fn. 22), 220 (247 f.); Löber/Roßnagel, Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (o. Fn. 30), 71 (75). 199  Dies fordert mit interessanten Argumenten Eifert, Rechenschaftspflichten (o. Fn.  192), 1450 (1452 ff.). 200  Löber/Roßnagel, Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (o. Fn. 30), 71 (75). 201  S. o. unter V.2. 202  K.-N. Peifer, Netzwerkdurchsetzungsgesetz: Selbstbehauptung des Rechts oder erster Schritt in die selbstregulierte Vorzensur? Zivilrechtliche Aspekte, AfP 2018, 14 (18 ff.). 197

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a) Gerade im Bereich des Persönlichkeitsschutzes, wo dessen Verletzungen wegen der schnellen großflächigen Verbreitung besonders gefährlich seien, müsse jeder Rechtsschutz schnell wirken – Löschen und Sperren erfüllten dies, langwierige strafrechtliche Ermittlungen und Gerichtsverfahren nicht. Nach §  3 NetzDG müsse der Betreiber ein wirksames und transparentes Löschmanagementsystem nutzen, um rechtswidrige oder gar offensichtlich rechtswidrige Inhalte innerhalb kurzer Fristen zu löschen oder zu blockieren. b) Die Rechtsdurchsetzung werde deshalb nicht, wie befürchtet, privatisiert, weil die sozialen Netzwerke ohnehin die Entscheidungsgewalt über Löschen und Sperren in ihren AGB verankert hätten; das NetzDG verpflichte sie vielmehr Rechenschaft abzulegen über ihre Löschungen. „Das fördert nicht private Rechtsdurchsetzung, sondern begrenzt sie.“203 Der gewaltigen Masse an Hasskommentaren ließe sich ohne die Nutzbarmachung der Kapazitäten der Internet-­ Intermediäre nicht wirksam begegnen: Diese treffen die Erst-Entscheidung über die Löschung eines Inhalts, staatliche Gerichte die Letzt-Entscheidung über Klagen wegen ungerechtfertigter Löschungen. So könnten die Gerichte auch die unternehmerische Löschpraxis an staatliche Normen rückkoppeln, ohne jede Löschentscheidung selbst treffen zu müssen. c) Es gebe bei Anwendung des NetzDG „klare Fälle der Rechtsverletzung, für deren Subsumption kein Pressesenat erforderlich“ sei. Darunter seien nicht selten als strafbar zu qualifizierende Netzkommentare, die reine Herabsetzungen ohne sachlichen Anlass (Schmähkritik) darstellten. Allerdings habe der Straftaten-Katalog „Elemente des Zufälligen“ und könne „eine ordnende und vielleicht auch ausräumende Hand vertragen“.204 d) Ziel des NetzDG seien Compliance-Vorschriften, „die Anforderungen an die Transparenz einer geschäftlich relevanten Selbstverpflichtung und ihrer Durchsetzung“ enthielten. Es gehe also nicht um Inhaltsdelikte, sondern um Organisationspflichten.205 Für diese habe der Bund eine Gesetzgebungskompetenz. e) Die sich auf das Herkunftslandprinzip beziehende Kritik sei gewichtig und nicht leicht wegzudiskutieren. Aber auch dazu gebe es „zwei marginale Auswege“,206 die hier jedoch nicht diskutiert werden können.

 Peifer, Netzwerkdurchsetzungsgesetz (o. Fn. 202), 14 (20). Zum Folgenden Lang, Netzwerkdurchsetzungsgesetz (o. Fn. 22), 220 (240 f.). 204  Peifer, Netzwerkdurchsetzungsgesetz (o. Fn.  202), 14 (20  f., Hervorh. durch LH); vgl. auch B. Holznagel, Das Compliance-System des Entwurfs des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes. Eine kritische Bestandsaufnahme aus internationaler Sicht, ZUM 2017, 615 (622 f.). 205  Peifer, Netzwerkdurchsetzungsgesetz (o. Fn. 202), 14 (22). 206  Peifer, Netzwerkdurchsetzungsgesetz (o. Fn. 202), 14 (22). 203

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d) Vorläufige Bewertung Das NetzDG sei ein „notwendiges Gesetz, um schnelle und effektive Rechtsdurchsetzung im Bereich des Persönlichkeitsschutzes zu bewirken“. Dem kann man sich dann anschließen, wenn man hinzufügt, dass die diversen Defizite – etwa die Kritikpunkte (7), (8), (11) und ganz besonders (12) –, die auch dann noch bestehen, wenn man der gerade referierten Anti-Kritik folgt, eine baldige profunde Überarbeitung rechtfertigen. Inwieweit der Gesetzentwurf, den die Bundesregierung zum Jahreswechsel 2019/20 vorlegen will, hier schon erhebliche Verbesserungen bringen, wird sich zeigen.207 Es erstaunt, dass Zielsetzung und Methodik des NetzDG gerade in seiner „Geburtsphase“ durch das federführende BMJV (Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz) offensichtlich so unzureichend kommuniziert wurden, dass es auf so breite Ablehnung der rechtswissenschaftlichen Politkberatung gestoßen war. Wenngleich stark defizitär, ist das NetzDG doch besser, als es nach der massiven ersten Kritik den Anschein hatte.

VI. Policy-Mix zum Abbau von Internet-Konflikten zwischen Privaten 1. Allgemeine Überlegungen Dass es Alternativen zum NetzDG gibt, gilt es in diesem Kapitel aufzuzeigen. Einzelne Maßnahmen detailliert zu diskutieren, wird nicht möglich sein. Versucht wird aber, Einzelmaßnahmen in einen Kontext staatlichen wie auch privaten Handelns zu stellen, sodass sich ein zielführender Policy-Mix aus rechtlichen (de lege lata sowie de lege ferenda) und nicht-rechtlichen Maßnahmen ergibt. a) Recht und Technik Jeder Einsatz von Technik erweitert oder schränkt die Möglichkeiten der Grundrechtsausübung ein. „Technik schafft somit gesellschaftliche Ordnung.“208 Dies gilt es bei der Technikgestaltung zu berücksichtigen. „Will demokratisch gesetztes Recht neben der gesellschaftsgestaltenden Kraft der Technik bestehen, muss es die Technik selbst gestalten und die Wirkungen der Technik für die Verwirklichung seiner Ziele nutzen.“ Um diese Aufgabe zu erfüllen, müssen folgende vier Elemente  Das Zitat in diesem Absatz in Peifer, Netzwerkdurchsetzungsgesetz (o. Fn.  202), 14 (22). Lang, Netzwerkdurchsetzungsgesetz (o. Fn. 22), 220 (248): „Das NetzDG ist jedenfalls in seinen Grundstrukturen mit dem Grundgesetz vereinbar.“ – Zum Gesetzesvorhaben der Bundesregierung s. o. Fn. 187. 208  Zu diesem Absatz (incl. Zitate) Roßnagel, Persönlichkeitsentfaltung (o. Fn. 33), 271 (283). 207

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zusammen genutzt werden: rechtliche Normsetzung und zielorientierte Technikgestaltung, Eigenverantwortung und Selbstregulierung – „wobei vor allem im Zusammenspiel von Recht und Technik die besten Ergebnisse zu erwarten sind“. Dabei ist zu beachten, dass durch Recht die Dynamik des Internets209 möglichst wenig geschmälert wird. In diesem Sinne sollte das Recht innovationsoffen sein – fähig, Innovationen zu ermöglichen und zu stimulieren  – und innovationsverantwortlich: der Sicherung einer hinreichenden Gemeinwohlverträglichkeit von Innovationen dienend.210 b) Beitrag der klassischen Medien zur Vielfalt-Sicherung Wie aufgezeigt,211 hängt zur Sicherung der Meinungsbildungsfreiheit viel von der Vielfalt-Sicherung ab. Das sollte Implikationen haben auch für die klassischen Medien: das „vorhandene Stimmengewirr in die Bahnen eines Diskurses zu lenken, so dass neben zahllosen Teilöffentlichkeiten weiterhin eine gemeinsame öffentliche Sphäre die gesellschaftliche Willensbildung ermöglicht“. Über die „autistischen Cyber Ghettos“ und Echo-Kammern hinweg tatsächlichen Meinungsaustausch ermöglichen  – ein solcher öffentlicher Moderationsauftrag würde den klassischen Medien neue journalistische Kompetenzen und neue mediale Formate abverlan­gen.212 c) Internationalität des Cyberspace Vor allem aufgrund der Internationalität des Cyberspace stellt die Rechtsdurchsetzung im Internet ein Problem dar.213 Eine „allseits greifende Maßgeblichkeit hoheitlich gesetzten Rechts“ scheitert sowohl an der globalen Ausdehnung des Netzes als auch am Fehlen global zuständiger Träger von Hoheitsmacht zur Sanktionsdurchsetzung bei Rechtsverletzungen.214 Beide Effekte verstärken sich zudem. Auch deshalb ist die Einbeziehung nicht-rechtlicher Regelungen unverzichtbar.

 S. o. unter I.1.  W.  Hoffmann-Riem, Soziale Innovationen. Eine Herausforderung auch für die Rechtswissenschaft, Der Staat 47 (2008), 588 (594, auch 603 f.). 211  S. o. unter I.2.c) und IV.2.c). 212  Meckel, Vielfalt (o. Fn. 127), 25 f. (Zitate 25 [Hervorh. durch LH]). 213  Hobe, Cyberspace (o. Fn. 73), Rn. 14 ff., Schliesky/Hoffmann u. a., Schutzpflichten (o. Fn. 43), 164 ff. 214  Hoffmann-Riem, Regelungsstrukturen (o. Fn. 12), 509 (530). 209 210

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2. Rechtliche Ansatzpunkte de lege lata Im bestehenden Recht existieren durchaus Ansatzpunkte für eine bessere Regulierung. a) „Regulierte Selbstregulierung“ Gerade weil die Entwicklung von Netzwerken und Plattformen „von einer Vielzahl schwer bestimmbarer Faktoren“ so abhängt, „dass die Formulierung stabiler Standards für die Abstimmung der kollidierenden Rechte und ‚Regimes‘ nicht tragfähig erscheint“, sollte bei der Notwendigkeit einer Regulierung wo immer möglich auf die „regulierte Selbstregulierung“ gesetzt werden, wie sie beim privaten Fernsehen, Film oder beim „duale(n) System Deutschlands“ etabliert sind. Dabei gibt der Staat „Ordnungspflichten für die Unternehmen“ vor und erlaubt ihnen – verbunden mit finanziellen oder anderen Anreizen – zu deren Erfüllung eine gemeinsame Organisation mit anderen Unternehmen zu bilden.215 b) Kontrahierungszwang bei allgemeinen Foren aufgrund mittelbarer Drittwirkung Aus dem Kontrahierungszwang (als Folge mittelbarer Drittwirkung bei Eröffnung eines allgemeinen Forums)216 ergibt sich für jeden potenziellen Nutzer der Anspruch, zu den üblichen Bedingungen zu einem allgemein zugänglichen Netzwerk bzw. Intermediär zugelassen zu werden, sofern es keinen sachlichen Grund für eine Ablehnung gibt. Das Gewicht der rechtfertigenden Gründe hängt zum einen davon ab, welche Bedeutung die Leistungsverweigerung für den Verpflichteten hat, zum anderen, welche Bedeutung die Leistungserbringung für die Grundrechtsentfaltung des Berechtigten hat. Ohne hinreichenden sachlichen Grund für eine Ablehnung „entsteht mit dem Vertragsbegehren des Berechtigten ein gesetzliches Schuldverhältnis“, das das Netzwerk „dazu verpflichtet, ein entsprechendes Vertragsangebot anzunehmen“.217 Aus diesem Nutzungsvertrag ergibt sich der Anspruch des Nutzers, seine Äußerung auf der in der Plattform üblichen Form veröffentlichen zu können. Beschränkungen dieses Rechts bedürfen der sachlichen Rechtfertigung; AGB-Klauseln, eine Nutzung „aus beliebigem Grund“ zu versagen, sind nach § 307 I BGB unwirksam, da sie den Nutzer „unangemessen“ benachteiligen. Die unangemessene Benachteiligung ergibt sich u. a. durch die „mittelbare Bindung der Platt-

 K.-H. Ladeur, Neue Medien brauchen neues Medienrecht! Zur Notwendigkeit einer Anpassung des Rechts an die Internetkommunikation, in: Bieber/Eifert u. a. (Hrsg.), Soziale Netze (o. Fn. 9), 23 (29 f., Zitate 30 [Hervorh. durch LH]); vgl. auch Schulz/Dankert, Die Macht (o. Fn. 131), 78. 216  S. o. unter IV.3.b). 217  Raue, Meinungsfreiheit (o. Fn. 157), 961 (970) (Hervorh. durch LH). 215

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form an die Grundrechte ihrer Nutzer, insbesondere der Verpflichtung zur Gleichbehandlung und Achtung ihrer Meinungsfreiheit“. Vor der Löschung eines Beitrags ist der ihn verfassende Nutzer anzuhören (§ 241 II BGB), nach Löschung sind ihm die Gründe – zumindest in Multiple-Choice-Begründungsform – so mitzuteilen, dass er gegen die Löschung gerichtlich vorgehen kann.218 Sollte nun etwa – in justiziabler Form – Google „Presseverlegern mit Auslistung ihrer digitalen Presseerzeugnisse (drohen), wenn sie den Umfang des Presseleistungsschutzrechtes gerichtlich klären lassen wollen“,219 sind diese Presseverleger gut beraten, sehr gelassen zu reagieren, weil diese Drohung und deren Verwirklichung nach der hier vorgetragenen Ansicht als unrechtmäßig zu werten ist.

3. Rechtlicher Aufriss de lege ferenda a) Gegenmacht-Potenziale Um Machtungleichgewichte zu verringern, könnte das europäische Kartellrecht, anknüpfend an Art. 101, 102 AEUV (Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union), eingesetzt werden – weltweiten Global Playern kann man nur international begegnen, also zumindest europäisch. Im internationalen Kontext wurde es gelegentlich angewendet, so durch die Kommission 2013 gegen Microsoft wegen der Vorinstallierung des hauseigenen Internet Explorers.220 Ob jedoch die Entwicklung eines auf Digital-Güter abgestimmten europäischen Kartellrechts zielführend wäre, wird mit Verweis auf die Notwendigkeit spezifisch medienpolitischer Instrumente eher skeptisch gesehen.221 Zu suchen sind darüber hinaus andere Gegenmacht-Potenziale, so etwa zum Folgen-Ausgleich fehlender Vertragsparität die Einführung oder stärkere Profilierung einer auf den IT-Bereich abgestimmten AGB-Kontrolle (mit inhaltlichen Restriktionen, Opt-in-Lösung [Erfordernis einer ausdrücklich erklärten Einwilligung] für die Datenverwendung in weiteren Kontexten, effektiver Befristungen der Datenaufbewahrung, Zertifizierungspflicht der AGBs wichtiger Unternehmen durch ­öffentlich anerkannte Stellen, etc.). So ließen sich auch mittelbare Drittwirkungen effektivieren.222

 Raue, Meinungsfreiheit (o. Fn. 157), 961 (970).  So Di Fabio, Grundrechtsgeltung (o. Fn. 6), 80. 220  Schliesky/Hoffmann u. a., Schutzpflichten (o. Fn. 43), 161 f. 221  So Schliesky/Hoffmann u. a., Schutzpflichten (o. Fn. 43), 162; Paal/Hennemann, Meinungsbildung (o. Fn. 131), 641 (648); dies., Meinungsvielfalt (o. Fn. 131), 76 (77). 222  Hoffmann-Riem, Verhaltenssteuerung (o. Fn. 10), 1 (39); ders., Regelungsstrukturen (o. Fn. 12), 509 (540); Schliesky/Hoffmann u. a., Schutzpflichten (o. Fn. 43), 158. 218 219

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b) „Cyber Courts“ Vorgeschlagen wurde die Einrichtung von „Cyber Courts“ – also keine staatlichen Spezialgerichte, sondern auf die Besonderheiten der Internetkommunikation eingestellte privat organisierte Instanzen, die eine kostengünstige und zügige Kontrolle von Transaktionen erlauben. Der Zugang zu staatlichen Gerichten bliebe nach Durchlaufen eines dieser Courts offen.223 Diese sinnvolle Innovation dürfte nicht dadurch überflüssig werden, dass staatliche Gerichte für besondere Internet-Gefährdungen etwa durch eine „deklaratorische Verdeutlichung“ des Ehrschutzes hinreichend sensibilisiert würden.224 c) Strafprozessuale Verschärfung bei Beleidigungsdelikten im Internet Interessant erscheint in jedem Fall eine strafprozessuale Verschärfung bei Beleidigungsdelikten: Wie ausgeführt225 stellen sie über das Internet einen deutlich schwereren Übergriff in das Persönlichkeitsrecht des Betroffenen dar als durch andere Medien. Bisher wird öffentliche Klage gemäß § 376 i. V. m. § 374 I Nr. 2 StPO nur erhoben, wenn dies „im öffentlichen Interesse“ liegt. Deshalb sollte dem deutlich gewichtigeren Übergriff dadurch Rechnung getragen werden, dass die Begehung von Beleidigungsdelikten nach §§  185–189 StGB im Internet von Privatklage in Offizialdelikte überführt wird.226 d) Vielfaltsichernde Generalklausel für Intermediäre Angesichts der demokratie-theoretischen Bedeutung der Meinungsvielfalt227 wird vorgeschlagen, in den Rundfunk-Staatsvertrag – bei Zuständigkeit der Landesmedienanstalten – eine vielfaltsichernde Generalklausel für Intermediäre einzuführen. Deren Elemente wären Meinungsbildungsrelevanz des Anbieters und dessen Marktstellung. Sie zielte auf Kennzeichnungs- und Transparenzpflichten für Algorithmen, speziell auch für deren Einsatz zur Personalisierung.228

 Ladeur, Neue Medien (o. Fn. 215), 23 (36, auch 33, 39).  So aber Glaser, Grundrechtlicher Schutz (o. Fn. 31), 1432 (1438). 225  S. o. unter IV.1.a). 226  Glaser, Grundrechtlicher Schutz (o. n. 31), 1432 (1438). 227  S. o. unter IV.2.c). 228  Paal/Hennemann, Meinungsbildung (o. Fn. 131), 641 (652); dies., Meinungsvielfalt (o. Fn. 131), 76 (78). 223 224

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e) Bewertungsportale Bewertungsportale erweisen sich als sensibel für Persönlichkeitsrechts-­Verletzun­ gen (mögliche Prangerwirkungen). Um dies zu vermeiden, sind strikte Zugangsbeschränkungen erforderlich, um die Deckungsgleichheit von Wirkungskreis und Diskussionsraum herzustellen: Viele Portale bewerten Ärzte in einer Stadt, Lehrer an einer Schule, Professoren an einer Universität, mithin lokal verortete Dienstleister – demgemäss ist auch der Zugang zur entsprechenden Bewertung lokal zu begrenzen.229 Darüber hinaus wäre es zur Vertrauensbildung sinnvoll, Bewertungs- und Vergleichsportale durch eine vom Gesetzgeber einzurichtende Stelle zu zertifizieren.230 f) Zwei Alternativen zum NetzDG Vorgeschlagen wurde auch,231 in der ZPO zwei Paragrafen (§§ 940a und 940b) folgenden Inhalts einzufügen: Antrag auf einstweilige Verfügung zur Sperrung strafbarer oder rechtswidriger Inhalte könne über die Antragsplattform www.rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken.de gestellt werden mit Link zum angegriffenen Inhalt und Legitimation des Antragstellers. Dem Antragsgegner werde vor der Entscheidung nur dann rechtliches Gehör geschenkt, „wenn ein Rechtsverstoß auf der Grundlage der Behauptungen des Antragstellers nicht unschwer bejaht werden kann“. Ergehe binnen 6 Wochen nach Zustellung der einstweiligen Verfügung kein Widerspruch, sei der beanstandete Inhalt zu löschen. Dieser Vorschlag versteht sich als Alternative zum NetzDG, um so diese aufwendige Regulierungslösung zugunsten der Privatautonomie vermeiden zu können. Die Attraktivität dieses Vorschlags dürfte von der Ausgestaltung der Antragsplattform abhängen.232 Ebenfalls als Alternative zum NetzDG wurden Rahmenbedingungen für eine Co-Regulierung skizziert: Die Bundesländer können zwischen einer rein behördlichen und einer Co-Regulierung wählen, wobei Letztere sowohl eine Selbstkon­ trollebene umfasst als auch eine behördliche Ebene. Auf der Selbstkontrollebene sollten gesellschaftliche Kräfte beteiligt werden, zudem werden Verfahrenskautelen definiert. Besondere Überlegungen gelten dem Herkunftslandprinzip, an das dieses Modell zumindest auf der Selbstkontrollebene nicht gebunden wäre.233

 Eifert, Freie Persönlichkeitsentfaltung (o. Fn. 48), 253 (263 ff.).  Nur auf Vergleichsportale bezogen Breun-Goerke, Die Rechtsprechung (o. Fn.  136), 383 (387 f.). Weitere Gesichtspunkte bei Schulz/Dankert, Die Macht (o. Fn. 131), 77. 231  R.  Köbler, Fake News, Hassbotschaft und Co.  – ein zivilprozessualer Gegenvorschlag zum NetzDG, AfP 2017, 282 (284). 232  Köbler, Fake News (o. Fn. 231), 282 (284). 233  Zu diesem Absatz Hain/Ferreau/Brings-Wiesen, Regulierung (o. Fn. 184), 433 (436 ff.). 229 230

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g) Jugend-Medienschutz Zum Jugend-Medienschutz wird vorgeschlagen, dass Dienste mit besonderen Risiken für Kinder und Jugendliche nur unter Einsatz einer elektronischen Signatur verwendet werden dürfen, verbunden mit der Einführung einer Gefährdungshaftung durch soziale Netzwerke, falls diese Signatur von (jugendlichen) Nutzern nicht verlangt worden sein sollte. Eltern könnten dann solche Dienste sperren lassen, die nicht die grundlegenden Sicherheitsstandards beachten. Zudem könnten alle Pornografie-Anbieter – verknüpft mit einer strafrechtlichen Sanktion – verpflichtet werden, eine besondere Top-Level-Domain-Adresse (.xxx) zu nutzen, die leichter durch Filter zu blockieren wäre.234 h) Beauftragte: zum einen konzern-intern, zum anderen europaweit Vorgeschlagen wurde, bei Informationsintermediären einen konzerninternen Beauftragten zu ernennen, der dort als Sachwalter der Nutzer-Interessen fungiert und die Einhaltung von Selbstfestlegungen, sofern erfolgt, überwacht. Vielfaltziele ließen sich leichter erreichen, wenn ihm ein „perspektivenplurale(s) Gremium“ zur Seite stünde.235 Ein Beauftragter für Europäische Datenschutzpolitik sollte eingerichtet werden, der politisch substanziell verantwortlich wäre. Mit einfacher Mehrheit gewählt vom Europäischen Parlament, wäre er diesem rede- und antwortpflichtig. Er sollte mit Initiativbefugnissen ausgestattet sein und gegenzeichnungspflichtig für alle Datenschutzentscheidungen der Kommission. Er könnte für den Datenschutz eine Brücke in den politisch-demokratischen Diskurs bauen.236 i) Internationale Verträge Es wäre einen Versuch wert, zwischen den Unternehmen, die derzeit die digitale Welt dominieren, und anderen europäischen Unternehmen einerseits sowie staatlichen Akteuren andererseits internationale Verträge über einheitliche Standards zum Schutz der Menschenwürde und des Persönlichkeitsrechts abzuschließen. Sie könnten Standardisierungswirkungen haben und so zu einem wirksameren Schutz führen. Ohne „sanften“ staatlichen Druck wird das jedoch kaum gelingen.237

 Ladeur, Neue Medien (o. Fn. 215), 23 (44 f.). Vgl. auch Eifert, Freie Persönlichkeitsentfaltung (o. Fn. 48), 253 (258 ff.). 235  Schulz/Dankert, Die Macht (o. Fn. 131), 75 f. (Zitat 76). 236  Zu diesem Absatz Masing, Herausforderungen (o. Fn. 141), 2305 (2311). 237  Schliesky/Hoffmann u. a., Schutzpflichten (o. Fn. 43), 166 f. 234

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4. Nicht-rechtliche Verbesserungsansätze a) Selbstfestlegung und „Netiquette“ Intermediäre und andere Internet-Unternehmen können von sich aus Rahmendaten setzen, indem sie per Selbstfestlegung sich selbst in die Pflicht nehmen oder mittels „Netiquette“, AGBs oder Nutzergrundsätzen ihre Vertragspartner auf ein bestimmtes Verhalten festzulegen suchen. Selbstverpflichtungen werden meist nicht ganz freiwillig erfolgen: Oft will das Unternehmen das Heft des Handelns in der Hand behalten und einer drohenden staatlichen Regulierung entgehen. Mittels Selbstfestlegung können Informationsintermediäre sich selbst bei der Formulierung ihrer Maximen (Ziele, die durch die Programmierung angestrebt werden) begrenzen, z. B. keine manuelle Veränderung der Datengrundlage vorzunehmen, auf Hervorhebung oder Besser-Platzierung eines gelisteten Angebots zu verzichten, bei den Maximen der Programmierung bestimmte politische oder religiöse Meinungen weder zu privilegieren noch zu diskriminieren usw. Sollte der Anbieter hingegen eine bestimmte politische oder weltanschauliche Tendenz haben, müsste er das kenntlich machen.238 Durch „Netiquette“ (Umgangsregeln im Netz), aber auch durch die Facebook-Grundsätze oder die Wikipedia-Richtlinien versucht ein Unternehmen, das Verhalten seiner Nutzer zu prägen: Dadurch lassen sich Vertrauenserwartungen bilden, die der Funktionsfähigkeit des Netzes und einzelner Dienste dienen.239 b) Förderung einer Community-Bildung durch Website-Betreiber Es gibt Website-Betreiber, die genau hinsehen, was auf ihren Foren passiert. Sie greifen ein, lange bevor Inhalte strafrechtlich relevant werden könnten. Das ist personell aufwendig und somit teuer. Wird ein Beitrag gelöscht, begründen sie dies kurz. Sie bitten um Belege für eine aufgestellte Behauptung, der entsprechende Beitrag bleibt bis zur Nachlieferung gesperrt. Bei einer anderen Online-Redaktion werden kluge Beiträge durch eine „Redaktionsempfehlung“ prämiert.240 Dadurch kann ein hohes Argumentationsniveau erreicht werden. Verstöße gegen das Recht auf Ehre lassen sich so in engen Grenzen halten. Aufgrund der niedrigschwelligen Löschungen könnte jemand allerdings die Meinungsfreiheit stark gefährdet sehen. Dem ist jedoch doppelt zu entgegnen: Zum einen wollen diese Websites ausweislich ihrer „Netiquette“ oder AGBs kein allgemeines Forum für ein breites Publikum anbieten, unterliegen mithin keinem Kontrahierungszwang – wer mit einem Beitrag hier nicht zum Zuge kommt, kann es bei einem der anderen Anbieter versuchen. Zum anderen kann mit der Strategie einer solchen Site das  Schulz/Dankert, Die Macht (o. Fn. 131), 74 f.  Hoffmann-Riem, Regelungsstrukturen (o. Fn. 12), 509 (532 f.). 240  Brodnig, Der unsichtbare Mensch (o. Fn. 21), 159 ff. (Zeit online), 165 ff. (New York Times online). 238 239

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­Argumentationsspektrum insgesamt zugunsten eines höheren Argumentationsniveaus erweitert werden, was der Meinungsvielfalt entgegenkommt. c) Stärkung der Medienkompetenz Durch Stärkung der Medienkompetenz soll der Selbstschutz nicht nur von Jugendlichen, sondern in allen Altersklassen verbessert werden: die erforderlichen Selbstschutzmaßnahmen ergreifen lernen, wobei der Datenschutz, soweit es den Nutzer betrifft, einbezogen zu sein hat. Ob dazu ein „Medienpass“ oder ein „Medienführerschein“ eingeführt werden sollte, mag hier dahinstehen.241

VII. Fazit in 12 Thesen 1) Durch Verwendung personalisierter Suchalgorithmen entstehen Echo-Kammern. Wer sich in einer solchen „einrichtet“ und keine (politischen) Nachrichten auch außerhalb sucht, dessen Meinungsfreiheit droht zu implodieren. So spinnen sich dann bspw. Islamgegner und Islamisten jeder in seiner eigenen kleinen Schein-Welt ein und halten sie für das Ganze. 2) Das Internet fördert Enthemmungseffekte, die neben der Anonymität vor allem von der Unsichtbarkeit eines Gegenübers herrühren. So „in den Äther hinein­ zuschreiben“ stellt den Nährboden von Hate Speech und manchem Sturm der Entrüstung (Shitstorm) dar. 3) Anonymität ist das hervorstechendste Spezifikum des Internets. Kommunikation in einem autoritären Regime, aber auch Whistleblowing wären gar nicht möglich ohne Anonymität. Es gibt ein Recht auf Anonymität, das aber Schranken unterliegt, so etwa bei schweren Verletzungen des Rechts auf Ehre eines Anderen – dann ist Anonymität aufzuheben. 4) Wegen der schnellen, ubiquitären und auf Nachhaltigkeit angelegten Verbreitung im Netz wiegen beleidigende und diffamierende Darstellungen im Inter­ net wesentlich schwerer – auch bei der Abwägung – als in anderen Medien. 5) Im Spannungsfeld zwischen Meinungsfreiheit und Ehrschutz galt jahrzehntelang die „Vermutung zugunsten der freien Rede“. Das ist gerade mit Blick auf das Internet inzwischen relativiert worden, sodass das Recht auf Ehre bei der Abwägung mehr Chancen hat sich durchzusetzen. 6) Aus der Zusammenführung von Daten aus unterschiedlichen Internetdien­s­ ten – typisch für Big Data – lassen sich u. a. Persönlichkeitsprofile erstellen, die den Betroffenen in seiner persönlichen Lebensführung entblößen und ihn durch Totalerfassung zum „Datenobjekt“ degradieren können. Mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung kann und muss dieser erheblichen Gefahr sachgerecht begegnet werden. 241

 Schliesky/Hoffmann u. a., Schutzpflichten (o. Fn. 43), 171 ff.

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7) Durch mittelbare Drittwirkung strahlen die Grundrechte ins Privatrecht aus. Die großen Internet-Intermediäre, die von monopolartiger Stellung oder struktureller Überlegenheit profitieren oder die ein allgemeines Forum für eine breite Öffentlichkeit eingerichtet haben, unterliegen jedoch schon de lege lata einem Kontrahierungszwang  – nur bei Vorliegen hinreichender sachlicher Gründe können sie einen Nutzer abweisen oder ausschließen. 8) Auch nach den Verbesserungen im parlamentarischen Verfahren erscheint das NetzDG noch stark defizitär, aber zugleich deutlich besser als sein schlechter Ruf nach der ersten Kritik. Vom vielfach befürchteten Overblocking zulasten der Meinungsfreiheit ist nicht auszugehen, auch die ersten Zahlen (für 2018) legen etwas anderes nicht nahe. 9) Es existieren sowohl alternative als auch komplementäre Vorschläge zum NetzDG. Am diskussionswürdigsten erscheinen de lege ferenda: a) zum Folgen-Ausgleich fehlender Vertragsparität die Einführung oder stärkere Profilierung einer auf den IT-Bereich abgestimmten AGB-Kontrolle, b) die Einführung von „Cyber Courts“ als Vorstufe zu gerichtlicher Klärung, c) die strafprozessuale Verankerung von im Internet begangenen Beleidigungsdelikten als Offi­ zialdelikte, d) die Einführung einer vielfaltsichernden Generalklausel für Internet-Intermediäre, e) im Jugend-Medienschutz Einführung einer elektronischen Signatur für problematische Sites sowie einer speziellen Domain für pornografische Sites, die mit einem Filter leicht zu blockieren wären. 10) Unter den nicht-rechtlichen Innovationen erscheinen die Vorschläge bemerkenswert, mit denen einerseits die Internet-Intermediäre von sich aus Rahmendaten setzen entweder für sich als Selbstfestlegung oder für ihre Nutzer als „Netiquette“ bzw. durch ihre AGBs, andererseits in kleineren Foren durch Intervention weit vor Erreichen strafrechtlicher Relevanz für ein hohes Argumentationsniveau sorgen und so zur Meinungsvielfalt beitragen. 11) Nur durch viele kleine Schritte lassen sich Internet-Konflikte zwischen Meinungsfreiheit und dem Recht auf Ehre verringern. 12) Durch die Snowden-Zäsur wurde das öffentliche Bewusstsein für die Ambivalenz des Internets und die Notwendigkeit auch rechtlicher Regulierung geschärft. Durch ein Policy-Mix aus diversen rechtlichen Maßnahmen verbunden mit nicht-rechtlichen Instrumenten lässt sich auch in Zukunft erreichen, dass die positiven Effekte des Internets weiter wirken, und verhindern, dass das Internet sich in seiner zweiten Phase so einseitig negativ entwickelt wie seinerzeit die Französische Revolution. Das setzt hohe Aufmerksamkeit bei Staaten wie Privaten weltweit voraus. Dr. Lothar Häberle,  geb. 1954 in Frankfurt/Main, 1973 Abitur, Studium der Staatswissenschaften (bes. VWL) in Bonn und Köln, 1978 Diplom-Volkswirt und 1982 Promotion zum Dr.rer.pol. an der Univ. zu Köln, mehrjährige Tätigkeit in der Politikberatung, u. a. für einen Landesminister. Derzeit wissenschaftlicher Referent und stv. Direktor des Lindenthal-Instituts in Köln sowie Generalsekretär der Lindenthal-­Stiftung. Veröffentlichungen und Seminare zum Religionsrecht, zu Toleranz, Relativismus, zum Spannungsfeld von Sicherheit und Freiheit, zu Ehe und Familie, Migrations- und Flüchtlingspolitik, Internet-Regulierung.

Stichwortverzeichnis

A Abbau von Internet-Konflikten 158 AVMD-Richtlinie 87–90 Anonymität im Internet. 128–131

F Facebook 87, 88, 91, 92, 96, 98, 122, 123, 125, 142, 146, 148, 155, 165 Fake News 90, 99, 113, 124, 126, 127

B Big Data 136 Bildung/Erziehung 11, 53, 83 Blasphemie 55, 79 Bundesverfassungsgericht (BVerfG) 20, 21, 23, 26–30, 34, 37, 101, 133

G Glaubensfreiheit (s. Religionsfreiheit) Grundrechtsschranken/-grenzen 113 H Hassrede / Hate Speech 32, 78, 90, 93, 124, 127, 131, 166

C “Cyber-Courts” 162,167 D Darknet 124,127 Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) 129,135 Digitale Dimension von Grundrechten 137 Drittwirkung 145, 146, 160, 167 E Echokammer V, VII E-Commerce 87, 89–91, 99 Ehre, Recht auf persönliche Ehre 137, 150, 153 Enthemmungswirkung des Internets 124, 166 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) 135 Europäischer Gerichtshof (EuGH) 97, 144

I Informationelle Selbstbestimmung Islam Burka (Siehe Niqab) Burkini 67, 69 Gewaltfrage 3 Islam in der Schule 49 Islamismus (politischer Islam) 9 Islamkritiker / Islamfeinde VI Kopftuch 49, 50 Koran 2, 4, 5, 9, 10, 12 Muezzin 22 Niqab 67 Schächten 18, 49 Scharia 3–5, 9 Scharia in islamischen Ländern 6 Scharia in Deutschland 8 Vielgestaltigkeit des Islam 8, 11

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Häberle (Hrsg.), Islam – Meinungsfreiheit – Internet, https://doi.org/10.1007/978-3-662-59426-1

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Stichwortverzeichnis

170 J Jugend-Medienschutz 164, 167 K Karikatur 22, 55, 70, 71, 77, 79, 81, 83 Körperschaften des öffentlichen Rechts 44 Kontrahierungszwang 147, 160, 165, 167 Kunstfreiheit 15, 22, 34, 35, 72 L LER. Siehe Religionsunterricht M Medienfreiheit 70, 95, 137, 140, 141 Meinungsfreiheit 55, 72–78, 81–85, 93, 101–117, 119, 137, 140–143, 149, 152–156, 161, 165–167 N „Netiquette“ 165, 167 Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) 90, 93, 114, 117, 119 Neutralität des Staates 39, 44, 52, 75 O Online-Bewertungsportale 143 Online-Durchsuchung 11, 127, 133, 137 Overblocking 92, 152, 153, 154–156, 167 P Persönlichkeitsprofile im Internet 136, 148, 166 Pressefreiheit 32, 72–74, 83, 96 Pseudonymität. Siehe Anonymität R „Regulierte Selbstregulierung“ 160 Religionsfreiheit 7, 8, 15, 16, 18–20, 25, 27–29, 31–33, 35, 36, 39, 40, 48, 49, 51, 53, 60–62, 67, 69, 70, 83, 109, 111

Religionsbekenntnis. Siehe Religionsfreiheit Religionsgemeinschaften 4, 9, 12, 20, 21, 26, 30, 39–45, 48, 61 Religionsunterricht 21, 41–43, 53

S Satire 55, 56, 70, 71, 73, 77, 83 Schmähkritik 74, 78, 79, 149, 157 Schutzpflichten 109, 139, 141, 145, 146, 150 Selbstbestimmung, informationelle 131, 134, 136, 138, 147 Selbstbestimmungsrecht der Kirchen 40 Selbstregulierung, regulierte 160

T Telemediengesetz (TMG) 90 Terror/Terrorbekämpfung 11, 12 Toleranz 3, 51, 55–62, 65, 67–70, 75, 80–84, 143 Trennung zwischen Religion und Politik/Staat 4, 12

U Urheberrecht 127, 131, 148

V Vereinigungsverbot 20 Verfassungsvoraussetzung 57, 83, 84 Vergessenwerden, Recht auf 135 Vielfalt-Sicherung in Medien 159 Volksverhetzung 22, 73, 78–80, 104, 114

W Weimarer Reichsverfassung (WRV) 8, 38, 39 Whistleblowing 121, 130, 166 Z Zivilreligion 57, 83