Informationelle Strategien im Arbeitsrecht: Instrumente zur rechtlichen Gestaltung der Informationsbeziehungen bei strukturellen Informationsdefiziten einer Vertragspartei [1 ed.] 9783428462759, 9783428062751


110 31 27MB

German Pages 271 Year 1988

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Recommend Papers

Informationelle Strategien im Arbeitsrecht: Instrumente zur rechtlichen Gestaltung der Informationsbeziehungen bei strukturellen Informationsdefiziten einer Vertragspartei [1 ed.]
 9783428462759, 9783428062751

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

ULRIeH HAUG

InformationeUe Strategien im Arbeitsrecht

Schriften zum Sozial- und Arbeitsrecht Band 92

Informationelle Strategien im Arbeitsrecht Instrumente zur rechtlichen Gestaltung der Informationsbeziehungen bei strukturellen Informationsdefiziten einer Vertragspartei

Von Priv.-Doz. Dr. inr. UIrich Hang

Duncker & Humblot · Berlin

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Haug, Ulrich: Informationelle Strategien im Arbeitsrecht: Instrumente zur rechtl. Gestaltung d. Informationsbeziehungen bei strukturellen Informationsdefiziten e. Vertragspartei / von Ulrich Haug. Berlin: Duncker u. Humblot, 1988 (Schriften zum Sozial- und Arbeitsrecht; Bd. 92) Zugl.: Hamburg, Univ., Habil.-Schr., 1986 ISBN 3-428-06275-2 NE: GT

Alle Rechte vorbehalten

© 1988 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41

Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany

ISBN 3-428-06275-2

Vorwort Information über Relevanz und Verfügbarkeit von Information in unserem Zivilrechtssystem am Beispiel des Arbeitsrechts - so ließe sich das Erkenntnisinteresse des vorliegenden Buches umreißen. Materiellrechtlich durch Ansprüche geschützt zu sein und faire prozessuale Verfahrensregeln vorzufinden, sind rechtlich zentrale Problematiken. Über die notwendigen Informationen für eine erfolgreiche Rechtsdurchsetzung zu verfügen oder diese wenigstens erlangen zu können, ist aber für die Praxis ein nicht weniger gravierendes Rechtsproblem. Berechtigte Zweifel bestehen, ob diesem altbekannten, aber heute zunehmend relevanten Gesichtspunkt in Rechtswissenschaft, Rechtspraxis oder Rechtspolitik immer die gebührende Aufmerksamkeit zuteil wird. Ausgehend von der - nach den zugrundeliegenden Modellen, den informationellen Strategien fragenden - Analyse der Bearbeitung informationeller Schwierigkeiten in einer Reihe typischer, moderner Zivilrechtskonflikte ist Ziel der vorliegenden Untersuchung die Aufarbeitung der Wirkungsweise, der Effektivität und der Einsetzbarkeit dieses informationellen (materiellrechtlichen wie prozessualen) Instrumentariums im Arbeitsrecht als Paradigma eines Vertragsrechts mit typischen Informationsasymmetrien zwischen den Vertragsparteien. Das Interesse an dieser Thematik resultiert ursprünglich aus der juristischen Praxis - aus der Beratertätigkeit für eine Hamburger Anwaltssozietät - und nicht etwa aus dem wissenschaftlichen Alltag. Dort war nahezu in jedem Verfahren zu spüren, wie sehr gerade die informationelle Seite eines Konflikts den Alltag des Rechtspraktikers bestimmt, ja bestimmen muß. Deshalb möchte ich mir besonders wünschen, daß das vorliegende (theoretische) Buch nicht nur der rechtswissenschaftlichen Diskussion dieser Problematik förderlich sein, sondern ebenso für die praktische Bewältigung der hier bestehenden rechtlichen Schwierigkeiten einen Beitrag leisten möge. Das vorliegende Buch ist die in einigen Passagen erweiterte und veränderte Fassung einer vom rechtswissenschaftlichen Fachbereich II der Universität Hamburg im Rahmen meines Habilitationsverfahrens als Habilitationsleistung angenommenen Arbeit. Rechtsprechung und Literatur sind bis zum März 1986 berücksichtigt; nach diesem Zeitpunkt konnten nur noch einzelne Literaturund Rechtsprechungsbeiträge in den Fußnoten nachgetragen werden. Mein Dank gilt den Mitgliedern des Lehrkörpers dieses Fachbereichs für die vielfältigen Anregungen in sechs Jahren wissenschaftlicher Forschung und Lehre an diesem Fachbereich sowie dessen Studenten für ihre vielen kriti-

6

Vorwort

schen Fragen und Hinweise. Ganz besonderen Dank für Geduld und Präzision bei der Anfertigung des Manuskripts zu diesem Buch schulde ich Frau Elke Stedtler und Frau Karin Geyer, ohne deren Können die Fertigstellung kaum möglich gewesen wäre. Schließlich danke ich dem Verlag Duncker & Humblot für die Aufnahme dieser Arbeit in seine Schriftenreihe zum Sozial- und Arbeitsrecht. Stuttgart, im Juli 1988

Ulrich Haug

Inhaltsübersicht 1. Einführung

17

1.1 Das Problem der informationellen Grundstrukturen in Betrieb und Unternehmen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

17

1.2 Informationelle Aspekte im Prozeß .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 1.3 Materiellrechtliche Regelungen der Informationsbeziehungen

18

1.4 Zum Gang der Untersuchung

21

20

Teil I Denkbare Strategien zur Gestaltung informationeUer Rahmenbedingungen 2. Zum Hintergrund: Rechtsberatung bzw. Rechtsdurchsetzung im Arbeitsrecht 2.1 Empirische Daten zur Relevanz dieser Phänomene im Arbeitsrecht ....

23 24

2.2 Der besondere Hintergrund im Arbeitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

25

3. Zur Bewältigung informationeller Probleme in typischen zivilrechtUchen Konflikten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

32

3.1 Die Ausgangslage im allgemeinen Zivilrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

32

3.2 Das Verhältnis von Arzt und Patient . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

48

3.3 Haftung des Herstellers für fehlerhafte Waren (Produzentenhaftung) . ..

56

3.4 Probleme mit der Information im Erbrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

61

3.5 Zur familienrechtlichen Lösung von Informationskonflikten .... . . . ..

67

4. Zwischenergebnis: Drei Modellvarianten zur Gestaltung von Informationsbeziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 4.1 Abhängige Variable: Informationsbedarf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

75

4.2 Unterschiede der prozessualen und materiellrechtlichen Lösungsmodelle

76

4.3 Die drei Mechanismen zur Gestaltung von Informationsbeziehungen

83

Teil II Zur Gestaltung der informationeUen Rahmenbedingungen im Arbeitsrecht S. Prozeßmodell I: Stärkung der Richtermacht und Ausweitung der Kommunikation im Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

85

5.1 Zur Abgrenzung: Richterliche Untersuchung oder Aufklärungspflicht der Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

85

Inhaltsübersicht

8

5.2 Zur stärkeren Einbindung des Richters in die prozessuale Informationsermittlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

87

5.3 Generelle prozessuale Pflicht der Parteien zur Aufklärung im Prozeß . ..

96

6. Prozeßmodell 11: Der arbeitsrechtliche Einsatz des Beweislastmechanismus zur Gestaltung der Informationsbeziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 6.1 Beweislast, Behauptungslast und Substantiierungserfordernis ........ 107 6.2 Grundprinzipien der Verteilung der objektiven Beweislast . . . . . . . . .. 116 6.3 Einsatzfelder des Beweislastmechanismus im Arbeitsrecht .......... 126 6.4 Beweislastmechanismus und Informationsbeziehungen bei der betriebsbedingten Kündigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 6.5 Beweislastmechanismus und Informationsbeziehungen bei der sozialen Auswahl des gekündigten Arbeitnehmers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 6.6 Der Beweislastmechanismus bei der krankheitsbedingten Kündigung ... 150 6.7 Würdigung des Einsatzes des Beweislastmechanismus zur Gestaltung der informationellen Rahmenbedingungen beim arbeitsrechtlichen Kündigungsschutz ...... .. ' . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 159 6.8 Der verbleibende Informationsbedarf des Arbeitnehmers und die anderen Strategien zur Gestaltung der informationellen Rahmenbedingungen ... 169 7. Materiellrechtliches Modell: Der Einsatz arbeitsrechtlicher Auskunftsansprüche zur Gestaltung der Informationsbeziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . .. 179 7.1 Informationsansprüche im Arbeitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 7.2 Zum weiteren Gang der Untersuchung: Informationsproblematik bei Planungsprozessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 196 7.3 Informationsbedarf in Abhängigkeit von Prämissen, Struktur und Ablauf von Planungsprozessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 197 7.4 Die Gestaltung der Informationsbeziehungen bei Planungspartizipation durch den Einsatz des materiellrechtlichen Modells . . . . . . . . . . . . . . 209 7.5 Interne Kommunikation der Informationsadressaten und Schutz der Geheimsphäre in Betrieb und Unternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 7.6 Würdigung des Einsatzes der materiellrechtlichen Strategie zur Gestaltung der informationellen Rahmenbedingungen bei Planungsprozessen 248 8. Zusammenfassung der Ergebnisse Literaturverzeichnis

250

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253

Inhaltsverzeichnis ...........................................

17

1.1 Das Problem der informationellen Grundstrukturen in Betrieb und Unternehmen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

17

1.2 Informationelle Aspekte im Prozeß .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

18

1.3 Materiellrechtliche Regelungen der Informationsbeziehungen

20

1.4 Zum Gang der Untersuchung

21

1. Einführung

Teil I Denkbare Strategien zur Gestaltung informationeUer Rahmenbedingungen

2. Zum Hintergrund: Rechtsberatung bzw. Rechtsdurchsetzung im Arbeitsrecht

23

2.1 Empirische Daten zur Relevanz dieser Phänomene im Arbeitsrecht ....

24

2.2 Der besondere Hintergrund im Arbeitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

25

2.2.1 2.2.2

Zur Beratungssituation im Bereich des Arbeitsrechts ........ Zur besonderen Rolle der Gewerkschaften im Betrieb .......

25 27

2.2.2.1 Zutrittsrechte für Gewerkschaftsbeauftragte . . . . . . . . . . . . ..

28

2.2.2.2 Gewerkschaftliche Beratung durch Betriebsräte . . . . . . . . . . ..

29

2.2.2.3 Gewerkschaftliche Information und Werbung im Betrieb

30

3. Zur Bewältigung informationeUer Probleme in typischen zivilrechtlichen Konflikten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3.1 Die Ausgangslage im allgemeinen Zivilrecht

32 32

3.1.1 Die Regelungen der §§ 259ff. BGB 3.1.1.1 Vollständigkeit der Information .......... . . . . . . . . . . ..

33

3.1.1.2 Verpflichtung zur eidesstattlichen Versicherung statt Ergänzung.

35

3.1.1.3 Möglichkeit der Stufenklage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

36

3.1.1.4 Verhältnis VerfahrensregelniAnspruchsgrundlagen .........

36

3.1.2

Materielle Ansprüche auf Informationserteilung im Zivilrecht ..

37

3.1.2.1 Systematisierung materiell-rechtlicher Auskunftsansprüche ....

37

34

10

Inhaltsverzeichnis 3.1.2.2 Die Ausweitung der Informationsansprüche durch die Rechtsprechung über eine Generalklausel aus § 242 BGB ...........

40

3.1.3

Die informationellen Folgen bei §§ 282, 285 BGB ..........

42

3.1.3.1 Grundparameter eines Beweislastmechanismus ........ . . ..

42

3.1.3.2 Spezielle Funktionsvoraussetzungen eines Beweislastmechanismus

44

3.1.3.3 Inhalt der §§ 282, 285 BGB und Gefahrenbereichslehre ......

44

3.1.3.4 Die Ausdehnung der Beweislastregel der §§ 282, 285 BGB auf Kausalität und Verletzungshandlung durch die Rechtsprechung .

46

3.2 Das Verhältnis von Arzt und Patient . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

48

3.2.1

Die Bewältigung der Informationsprobleme im Kunstfehlerprozeß

50

3.2.2

Die ärztliche Aufklärungspflicht

52

3.2.3

Die Ausformung einer ärztlichen Dokumentationspflicht

.....................

3.3 Haftung des Herstellers für fehlerhafte Waren (Produzentenhaftung) . ..

54 56

3.3.1

Das informationelle Problem

.......................

57

3.3.2

Lösungsansatz: Beweislastumkehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

57

3.4 Probleme mit der Information im Erbrecht 3.4.1 3.4.2

61

Die erbrechtlichen Auskunftsansprüche

61

Zum heute gestiegenen Informationsbedarf und dessen Bewältigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.2.1 Das überkommene erbrechtliche Leitbild . . . . . . . . . . . . . . .

62 63

3.4.2.2 Miterbe ohne kenntnis der Erbmasse . . . . . . . . . . . . . . . . . .

64

3.4.2.3 Pflichtteilsberechtigter ohne Kenntnis von Ergänzungstatbeständen

66

3.5 Zur familienrechtlichen Lösung von Informationskonflikten . . . . . . . ..

67

3.5.1

Materielle Auskunftsansprüche im Familienrecht

..........

68

3.5.2

Die Stärkung der Richtermacht zur Bewältigung von Informationsdefiziten im Familienrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

70

3.5.2.1 Das besondere Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit . . . .. 3.5.2.2 Die spezielle Regelung des Versorgungsausgleichs . . . . . . . . ..

70 71

3.5.2.3 Die besondere Stellung des Gerichts im informationellen Bereich des Versorgungsausgleichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

72

4. Zwischenergebnis: Drei ModeUvarianten zur Gestaltung von Informationsbeziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

75

4.1 Abhängige Variable: Informationsbedarf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

75

4.2 Unterschiede der prozessualen und materiellrechtlichen Lösungsmodelle 4.2.1 Informationen in dritter Hand ...... : . . . . . . . . . . . . . . . .

76 76

4.2.2

Informationsbedarf bei Fehlen oder Disfunktionalität eines Hauptprozesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

77

Inhaltsverzeichnis 4.2.3

Prozeßökonomische Folgewirkungen

11 ..................

79

4.2.4

Das Risiko der Unaufklärbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

80

4.2.5

Sanktionierung bei Verstößen gegen das vorgeschriebene Informationsverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

82

4.3 Die drei Mechanismen zur Gestaltung von Informationsbeziehungen '"

83

Teil 11 Zur Gestaltung der informationeUen Rahmenbedingungen im Arbeitsrecht 5. ProzeßmodeU I: Stärkung der Richtermacht und Ausweitung der Kommunikation im Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

85

5.1 Zur Abgrenzung: Richterliche Untersuchung oder Aufklärungspflicht der Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

85

5.2 Zur stärkeren Einbindung des Richters in die prozessuale Informationsermittlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

87

5.2.1

Die Arbeitsgemeinschaft zwischen Parteien und Gericht ......

87

5.2.2

Zur ideologischen und zur technischen Seite einer Begründung der Verhandlungsmaxime (Weyers) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

90

5.2.3

Einordnung dieser Strategie im Verhältnis zu den beiden anderen Lösungsmodellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

93

5.2.4

Verhandlungs- bzw. Untersuchungsmaxime im arbeitsgerichtlichen Urteils- und Beschlußverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

93

5.3 Generelle prozessuale Pflicht der Parteien zur Aufklärung im Prozeß ...

96

5.3.1

Abgrenzung der Problemkreise Ausforschungsbeweis und Beweislastmechanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

5.3.1.1 Ausforschungsbeweis 5.3.1.2 Beweislastmechanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.2 5.3.3

97 97 99

Frühe Lehren zur Aufklärungspflicht (von Hippel / Lüderitz)

99 Die prozessuale Aufklärungspflicht nach Stürner. . . . . . . . . .. 101

5.3.3.1 Die Stürner'sche Konzeption

101

5.3.3.2 Die Kritiker der Lehre Stürners

103

5.3.4

105

Arbeitsrechtliche Streitigkeiten

6. ProzeßmodeU 11: Der arbeitsrechtliche Einsatz des Beweislastmechanismus zur Gestaltung der Informationsbeziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ., 107 6.1 Beweislast, Behauptungslast und Substantüerungserfordernis ........ 107 6.1.1

Die objektive und die subjektive Beweislast . . . . . . . . . . . . . . 107

12

Inhaltsverzeichnis 6.1.2

Beweislast und Darlegungslast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 110

6.1.2.1 Die Verteilung der subjektiven Darlegungslast und das Verhältnis zur Verhandlungswürdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 6.1.2.2 Zur Funktionsweise des Beweislastmechanismus bei der Darlegungslast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 113 6.1.3

Die Erforderlichkeit der Substantiierung des Parteivortrags . . .. 113

6.2 Grundprinzipien der Verteilung der objektiven Beweislast . . . . . . . . .. 116 6.2.1

Die Normtheorie der Beweislastverteilung (Rosenberg) ...... 117

6.2.2

Beweislastverteilung nach Wahrscheinlichkeit (Reinecke) ..... 120

6.2.3

Die Verteilung der objektiven Beweislast nach Gefahrenbereichen (Prölls, BGH) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123

6.2.4

Schlußfolgerungen für den Einsatz des Beweislastmechanismus

124

6.3 Einsatzfelder des Beweislastmechanismus im Arbeitsrecht .......... 126 6.3.1

Arbeitsrechtliche Abweichungen vom allgemeinen Grundprinzip der Beweislastverteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126

6.3.2

Der Einsatz des Beweislastmechanismus im Kündigungsschutzprozeß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127

6.3.2.1 Die Zuweisung der Klagelast an den Arbeitnehmer ......... 127 6.3.2.2 Beweislastnormen im Kündigungsschutzgesetz ............ 129 6.3.3 Typische Konfliktgruppen im Kündigungsschutzprozeß 130 6.3.3.1 Zur empirischen Verteilung der Fallgruppen

............. 131

6.3.3.2 Zur betriebsbedingten und zur Krankheitskündigung ........ 131 6.3.4

Zum weiteren Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . 132

6.4 Beweislastmechanismus und Informationsbeziehungen bei der betriebsbedingten Kündigung ............ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 133 6.4.1

Die Voraussetzungen einer betriebsbedingten Kündigung ..... 133

6.4.1.1 Die "betrieblichen Erfordernisse"

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133

6.4.1.2 Die Zweckmäßigkeit und Notwendigkeit der getroffenen betrieblichen Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 6.4.1.3 Die Dringlichkeit der betrieblichen Erfordernisse

.......... 137

6.4.1.4 Das Fehlen anderweitiger Beschäftigungsmöglichkeiten ...... 137 6.4.2

Zur Verteilung der Informationslasten bei der betriebsbedingten Kündigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139

6.4.2.1 Die Informationslastverteilung bei den betrieblichen Erfordernissen 140 6.4.2.2 Die Informationslastverteilung bei der Willkürkontrolle ...... 141 6.4.2.3 Informationslasten hinsichtlich der Dringlichkeit ........... 142 6.4.2.4 Informationslastverteilung für Umsetzungsmöglichkeiten 6.4.3

142

Zwischenergebnis: Der Einsatz des Beweislastmechanismus bei der betriebsbedingten Kündigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143

Inhaltsverzeichnis

13

6.5 Beweislastmechanismus und Informationsbeziehungen bei der sozialen Auswahl des gekündigten Arbeitnehmers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 6.5.1

Die Kriterien der sozialen Auswahl

6.5.2

Zur Verteilung der Informationslasten bei der sozialen Auswahl . 148

6.5.3

Zwischenergebnis: Der Einsatz des Beweislastmechanismus bei der sozialen Auswahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145

6.6 Der Beweislastmechanismus bei der krankheitsbedingten Kündigung ... 150 6.6.1 Die Voraussetzungen einer krankheitsbedingten Kündigung. . .. 151 6.6.1.1 Die krankheitsbedingten Fehlzeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 6.6.1.2 Negative Zukunftsprognose

152

6.6.1.3 Betriebliche Auswirkungen

154

6.6.1.4 Anderweitige Beschäftigungsmöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . 154 6.6.2

Zur Verteilung der Informationslasten bei der krankheitsbedingten Kündigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155

6.6.2.1 Informationslasten hinsichtlich der Fehlzeiten . . . . . . . . . . . .. 155 6.6.2.2 Informationslastverteilung bei der Prognose . . . . . . . . . . . . . . 155 6.6.2.3 Informationslasten für die betrieblichen Erfordernisse

....... 157

6.6.2.4 Informationslasten für anderweitige Beschäftigungsmöglichkeiten 157 6.6.3

Zwischenergebnis: Der Einsatz des Beweislastmechanismus bei der krankheitsbedingten Kündigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158

6.7 Würdigung des Einsatzes des Beweislastmechanismus zur Gestaltung der informationellen Rahmenbedingungen beim arbeitsrechtlichen Kündigungsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 6.7.1

Grundprinzipien der von der herrschenden Meinung befürworteten Gestaltung der Informationsstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . 161

6.7.1.1 Gesichtspunkte der Normtheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 6.7.1.2 Das Kriterium der Sachnähe oder des Gefahrenbereichs ...... 161 6.7.1.3 Das Prinzip der Vermeidung von Negativdarlegungen

162

6.7.1.4 Das Kriterium der Wahrscheinlichkeit 163 6.7.2 Die Anwendung dieser vier Grundprinzipien in Rechtsprechung und Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 6.7.2.1 Verstöße gegen den beweisrechtlichen Sphärengedanken

164

6.7.2.2 Verstöße gegen die Kriterien der Normtheorie . . . . . . . . . . . . 164 6.7.2.3 Verstöße gegen das Kriterium der Vermeidung von Negativdarlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 165 6.7.2.4 Verstöße gegen das Wahrscheinlichkeitskriterium .......... 166 6.7.3

Zusammenfassende Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166

6.8 Der verbleibende Informationsbedarf des Arbeitnehmers und die anderen Strategien zur Gestaltung der informationellen Rahmenbedingungen ... 169 6.8.1

Der verbleibende Informationsbedarf . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170

14

Inhaltsverzeichnis 6.8.2

Zum ergänzenden Einsatz der beiden anderen Lösungsstrategien 171

6.8.2.1 Pflicht zur Mitteilung der Kündigungsgründe

............. 172

6.8.2.2 Die Unterrichtungspflicht nach § 81 BetrVG

173

6.8.2.3 Die Unterrichtungspflicht nach § 110 BetrVG

174

6.8.2.4 Anhörung des Betriebsrats nach § 102 Abs. 1 BetrVG ....... 175

177

6.8.2.5 Kündigungseinspruch nach § 3 KSchG

7. MaterieUrechtliches ModeU: Der Einsatz arbeitsrechtlicher Auskunftsansprüche zur Gestaltung der Informationsbeziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179

7.1 Informationsansprüche im Arbeitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 7.1.1

Auskunftspflichten des Arbeitgebers/Unternehmers gegenüber staatlichen Stellen und Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181

7.1.1.1 Informationspflichten gegenüber Behörden . . . . . . . . . . . . . . 181 7.1.1.2 Angaben gegenüber der Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 7.1.2

Auskunftspflichten des Arbeitgebers gegenüber den Arbeitnehmern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184

7.1.2.1 Informationspflichten im Zusammenhang der Durchführung des Arbeitsverhältnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 7.1.2.2 Informationspflichten gegenüber der Betriebsöffentlichkeit aller beschäftigten Arbeitnehmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 7.1.3

Auskunftspflichten des Arbeitgebers/Unternehmers gegenüber dem Betriebsrat und dem Wirtschafts ausschuß ............ 185

7.1.3.1 Allgemeine Grundregel zur Information des Betriebsrats

186

7.1.3.2 Spezielle Informationspflichten in bestimmten Aufgabenbereichen des Betriebsrats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 7.1.3.3 Die Informationsrechte des Wirtschaftsausschusses

......... 188

7.1.3.4 Informationsschranken und Geheimhaltung .............. 189 7.1.3.5 Sanktionierung von Verstößen 7.1.4

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190

Auskunftspflichten des Unternehmers gegenüber dem Aufsichtsrat und seinen Arbeitnehmervertretem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191

7.1.4.1 Informationsrechte des Aufsichtsrats

191 7.1.4.2 Informationsschranken und Geheimhaltung . . . . . . . . . . . . . . 193 7.1.4.3 Zur Sanktionierung von Verstößen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 193 7.1.5

Informationsansprüche des Arbeitgebers gegenüber Arbeitnehmern oder Betriebsrat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194

7.2 Zum weiteren Gang der Untersuchung:- Informationsproblematik bei Planungsprozessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 196 7.3 Informationsbedarf in Abhängigkeit von Prämissen, Struktur und Ablauf von Planungsprozessen .... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 197

15

Inhaltsverzeichnis 7.3.1

Beteiligung und Beteiligungsformen der Arbeitnehmer und ihrer Interessenvertretung an Planungsprozessen .............. 198

7.3.2

Strukturen von Planungsprozessen in Betrieb und Unternehmen. 199

7.3.2.1 Die Teilpläne und deren Interdependenz ... . . . . . . . . . . . .. 200 7.3.2.2 Ungewißheit als Grundproblem jeglicher Planung .......... 202 7.3.3

Zum Ablauf von Planungsprozessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205

7.4 Die Gestaltung der Informationsbeziehungen bei Planungspartizipation durch den Einsatz des materiellrechtlichen Modells . . . . . . . . . . . . . . 209 7.4.1

Der Umfang der Informationsverpflichtung des Arbeitgebers

211

7.4.1.1 Umfassende Information nach der Grundregel des § 80 11 1 BetrVG 211 7.4.1.2 Umfassende Information nach den konkretisierenden Regelungen für einzelne Aufgabenbereiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 7.4.2

Die Vorlegung von Unterlagen

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217

7.4.2.1 Grundsätze der Vorlage von Unterlagen an den Betriebsrat

217

7.4.2.2 Die Besonderheiten beim Wirtschaftsausschuß und bei der Per219 sonalakte 7.4.3

Die Rechtzeitigkeit der Information . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222

7.4.3.1 Maßgebliche Gesichtspunkte für die Rechtzeitigkeit

........ 222

7.4.3.2 Rechtzeitige Unterrichtung des Wirtschaftsausschusses ....... 224 7.4.3.3 Rechtzeitige Unterrichtung über geplante Maßnahmen, § 111 BetrVG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 7.4.3.4 Rechtzeitige Unterrichtung über die Planung, §§ 90,92 BetrVG . 227 7.4.3.5 Schlußfolgerungen aus den Regelungen zum Informationszeitpunkt für das materiellrechtliche Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 7.4.4

Die Sanktionierung von Verstößen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229

7.4.4.1 Rechtstatsächliches Material zum Sanktionssystem

......... 230

7.4.4.2 Schlußfolgerungen für den Einsatz des materiellrechtlichen Modells . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 7.5 Interne Kommunikation der Informationsadressaten und Schutz der Geheimsphäre in Betrieb und Unternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 7.5.1

Zur Reichweite der Verschwiegenheitspflichten der Informationsadressaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ., 234

7.5.1.1 Geheimhaltung im Rahmen der Betriebsverfassung ......... 234 7.5.1.2 Geheimhaltung beim Aufsichtsrat 7.5.2

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236

Interne Kommunikation zwischen zur Verschwiegenheit verpflichteten Organen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240

7.5.2.1 Informationsweitergabe von Betriebsrat oder Wirtschaftsausschuß an den Aufsichtsrat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 241 7.5.2.2 Informationsweitergabe vom Aufsichtsrat an den Betriebsrat . .. 241 7.5.2.3 Informationsweitergabe vom Aufsichtsrat an den Wirtschaftsausschuß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244

16

Inhaltsverzeichnis 7.5.3

Zugrundeliegende Deutungsmuster der Informationsbeziehungen und Schlußfolgerungen für die materiellrechtliche Strategie .... 245

7.6 Würdigung des Einsatzes der materiellrechtlichen Strategie zur Gestaltung der informationellen Rahmenbedingungen bei Planungsprozessen ..... 248

8. Zusammenfassung der Ergebnisse

Literaturverzeichnis

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253

1. Einführung Wissen ist Macht - so lautet eine gängige Redensweise. Ob sie immer zutrifft, ist fraglich. Im Arbeitsleben jedenfalls beschreibt sie eine häufig unumstößliche Tatsache. Sind im Betrieb oder Unternehmen mehrere zur Mitwirkung bei einer Entscheidung, bei einem Planungsprozeß oder bei der Durchsetzung einer Maßnahme berufen, so hat derjenige, der rechtzeitig im Besitz der einschlägigen Informationen ist, fast immer größere Chancen, sich entsprechend einzustellen und seine Pläne und Interessen durchzusetzen. Das ist plausibel. Wer von den relevanten Kommunikationskanälen ausgeschlossen ist und keine anderweitigen Informationsquellen besitzt, wird trotz allergrößter Mühe bei der Darlegung seiner Argumente häufig vor vollendeten Tatsachen stehen und Entscheidungen nicht mehr in seinem Sinne beeinflussen können.

1.1 Das Problem der informationellen Grundstrukturen in Betrieb und Unternehmen Quelle von Auseinandersetzungen werden informationelle Rahmenbedingungen von Entscheidungssituationen deshalb so lange kaum sein, als allen zu der Mitwirkung bei einer bestimmten Entscheidung Berufenen der gleiche Zugang zu den relevanten Informationen offensteht. Im Arbeitsleben ist dies aber grundsätzlich gerade nicht der FalL In Unternehmen und Betrieb, bei der arbeitsteiligen Produktion von Gütern und Dienstleistungen liegt der Hort aller Informationen bei der Unternehmensleitung, beim Vorstand, beim Management. Hier laufen sämtliche Kommunikationskanäle zusammen, hier stehen die Daten und Ergebnisse des betrieblichen Rechnungswesens zur Verfügung, hier werden alle relevanten Unternehmensdaten analysiert und aufbereitet. Alle nicht der Unternehmensleitung zuzurechnenden Entscheidungs-, Mitbestimmungs- oder Mitwirkungsträger sowie die Aufsichts- und Kontrollinstanzen, selbst der Abschlußprüfer und das Finanzamt sind für ihre Tätigkeit auf die Bereitstellung der benötigten Informationen durch diese Instanz angewiesen. Damit ist vor allem ein Konflikt um die Gewinnung und Erhaltung der informationellen Basis der Artikulation - und im Streitfalle der Durchsetzung - der Interessen der Arbeitnehmerseite vorgezeichnet. Dieser Konflikt betrifft insbesondere die Tätigkeit der Mitbestimmungsträger bei der Wahrnehmung ihrer Interessenvertretungsaufgabe im Rahmen der gesetzlichen Mitbestim2 Haug

18

1. Einführung

mungsinstitutionen, seien es die Betriebsräte im Rahmen der Betriebsverfassung oder die Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat im Rahmen der wirtschaftlichen Mitbestimmung auf Unternehmensebene. Dieser Konflikt betrifft aber auch den einzelnen Arbeitnehmer als Vertragspartei des Arbeitsvertrages, soweit er im Einzelfall seine Interessen zum Tragen bringen will, sei es beispielsweise im Streit um eine innerbetrieblich angeordnete Umsetzung, eine Änderungskündigung oder die soziale Rechtfertigung einer Kündigung aus betrieblichen Gründen. Damit stellt sich die Frage, von wem und wie diese Personen bzw. Funktionsträger die notwendigen Informationen erhalten, um die in ihrem Interesse normierten Schutzrechte bzw. die ihnen übertragenen Partizipationsaufgaben auch effektiv wahrnehmen zu können. Die vorliegende Arbeit will diese Frage der Bewältigung strukturell bestehender Informationsdefizite im Arbeitsleben näher untersuchen, um dadurch einen Beitrag zur juristischen Aufarbeitung und zur Strukturierung der juristischen Diskussion zu leisten. Sie soll - soweit möglich - die unterschiedlichen Strategien denkbarer juristischer Lösungsansätze für diese informationelle Problematik aufzeigen und in ihrer je spezifischen Wirkungsweise und Leistungsfähigkeit transparent machen.

1.2 Informationelle Aspekte im Prozeß Für den Juristen kommen zunächst die Folgen solcher Informationsdefizite ins Blickfeld, wenn nämlich im Konfliktfall um die Durchsetzung bestimmter Rechtspositionen oder um die Zulässigkeit bestimmter Handlungen gestritten wird. Dies lenkt den Blick zunächst auf den Prozeß, in dem diese Schutzrechte und Partizipationsaufgaben ja verwirklicht, rechtlich durchgesetzt werden. Hier ist die entscheidende Frage, wie oder ob überhaupt für die einzelnen Schutzrechtsadressaten bzw. die Partizipationsträger eine ausreichende informationelle Basis zur Wahrnehmung und zur prozessualen Durchsetzung ihrer Rechte bzw. Aufgaben abgesichert ist und wer gegebenenfalls welche Informationen in einen Prozeß einzuführen oder zu beweisen hat. Die informationellen Rahmenbedingungen im deutschen Zivilprozeß werden von einigen wesentlichen Grundsätzen gesteuert, die traditionell den deutschen Zivilprozeß beherrschen: Es sind dies die Maximen der Parteiherrschaft und des Beibringungsgrundsatzes bzw. der Verhandlungsmaxime. Der Zivilprozeß - und von ihm abgeleitet der arbeitsgerichtliche Prozeß - ist danach zu allererst einmal Parteiprozeß; im Spannungsfeld zwischen Richtermacht und Parteiautonomie entscheidet sich die deutsche ZPO grundsätzlich für die freie Verantwortung der Parteien. Den Parteien obliegt es damit, durch ihre Anträge den Rahmen des Streitgegenstandes zu bestimmen, den Prozeßstoff durch entsprechenden Sachvortrag beizubringen und Beweismög-

1.2 InformationeIle Aspekte im Prozeß

19

lichkeiten durch Beweisangebote zu eröffnen. Ganz offensichtlich bricht sich die in dieser Arbeit verfolgte Problematik eines strukturell angelegten Informationsdefizits einer der beiden Vertragsparteien des Arbeitsverhältnisses schon an diesen (traditionellen) Grundprinzipien der prozessualen Informationsbeziehungen. Dieses Grundverständnis eines von den Parteien beherrschten und gestalteten Zivilprozesses hat sich trotz verschiedenster Einschränkungen im Detail und teilweise heftiger Angriffe bis heute über alle gesellschaftlichen Wandlungen seit dem ersten Erlaß der Zivilprozeßordnung im Rahmen der Reichsjustizgesetzgebung von 1879 gehalten. Es steht in der Folge einer liberalistischen Rechts- und Gesellschaftstheorie mit ihren Eckpfeilern eines individuellen Freiheitsdenkens im Verhältnis von Gesellschaft und Staat sowie der Garantie von Eigentumsfreiheit und Privatautonomie der Rechtssubjekte. Das wirtschaftliche Leitbild ist eine freie Marktgesellschaft basierend auf der Chance zu freier Konkurrenz, zu Informations- und Machtgleichheit für alle Marktteilnehmer. Immer mehr Stimmen werden laut, die entgegen einer weitgehenden Überlassung der Prozeßherrschaft an die Parteien der StärkuJ?g der 'Rolle des Richters auch im Zivilverfahren das Wort reden. Er soll eingebunden werden in die Verantwortung für die Durchsetzung, für die Verwirklichung materieller Gerechtigkeitsaspekte im prozessualen "Kampf" der Parteien. In den Vordergrund der Diskussionen tritt zunehmend, daß das Zivilverfahren vor allem praktischen Zwecken dient, daß es die Frage nach der Verwirklichung der gesetzlich normierten Ordnungsvorstellungen des materiellen Rechts in der gesellschaftlichen Realität zu beantworten hat. Prozeßleitung wird dabei nicht nur als ein technischer Parameter des Verfahrens gesehen, sondern die Frage wird gestellt, inwieweit richterliche Prozeßleitung letztlich ebenso eine wesentliche Determinante der Entscheidungsfindung ist, wie die materiellrechtliche Seite der richterlichen Urteilsbildung. Richterliche Prozeßleitung bezieht dabei genauso die Gestaltung des äußeren Verfahrensgangs ein, wie die richterliche Aufklärungsarbeit und die Ermittlungstätigkeit hinsichtlich des tatsächlichen Lebensvorgangs, der - von den Parteien kontrovers vorgetragen - den Ausgangspunkt der zur Entscheidung anstehenden Konflikte darstellt. Diese Einschätzung reflektiert wohl am treffendsten den Wandel der AufgabensteIlung (und damit der Forschungsinteressen) im Bereich des Zivilund Arbeitsgerichtsverfahrens. Andere Gesichtspunkte kommen hinzu: Je vielfältiger die Aufgabensteilung, je komplexer die Struktur, je variantenreicher das Steuerungspotential, desto wichtiger werden naturgemäß die informationellen Rahmenbedingungen - das Problem der Verfügbarkeit und Aufarbeitung relevanter Informationen, der Erfassung von Lebenssachverhalten im Rechtsstreit, der Schaffung und Erhaltung des Überblicks, des Durchblicks. Auf den einzelnen Bürger, 2*

20

1. Einführung

den Vertragspartner als Produzent, Gesellschafter, Kaufmann oder Arbeitnehmer, als Verbraucher oder Kreditnehmer, als Bauherr, Immobilienbesitzer oder Mieter strömt heute eine Unzahl von Informationen ein - bei weitem nicht immer relevante, richtige oder gar verstandene. Andererseits sind wiederum häufig für den jeweiligen Vertragspartner in seiner Rolle äußerst wichtige und zentrale Informationen nur sehr schwer oder überhaupt nicht verfügbar. Man denke beispielsweise nur an das Verhältnis von Arbeitgeber und Arbeitnehmer in Phasen einschneidender Veränderungen in Betrieb oder Unternehmen (etwa bei Betriebsaufspaltungen, Betriebsstillegungen und Produktionsverlagerungen) oder beim Streit um die soziale Rechtfertigung einer betriebsbedingten Kündigung. Auch im Hinblick auf diese neue Herausforderungen ist der moderne Zivilprozeß (Arbeitsgerichtsprozeß) gefordert, muß reagieren. Entsprechen die mit der Maxime von der Parteiherrschaft und dem Beibringungsgrundsatz strukturierten Informationsbeziehungen im Prozeß, das dadurch vorgezeichnete Informationsverhalten der Parteien noch einem modernen Prozeßverständnis? Welche Modifizierungen sind seit dem Erlaß der ZPO schon erfolgt, welche sind heute erforderlich? Was können die Figuren von Darlegungsund Beweislast angesichts struktureller Informationsdefizite des Arbeitnehmers, des Betriebsrats im heutigen Arbeitsgerichtsprozeß leisten, und wo sind Verbesserungen zu suchen?

1.3 Materiellrechtliche Regelungen der Informationsbeziehungen Indes soll sich die vorliegende Thematisierung der Informationsstrukturen im Arbeitsleben nicht auf diesen Aspekt der informationellen Basis der Parteien des arbeitsgerichtlichen Prozesses beschränken. Denn gerade für den arbeitsrechtlichen Bereich wäre dies eine wenig an den betrieblichen Realitäten orientierte Eingrenzung. Hier sind häufig Situationen zu bewältigen, bei denen eine prozessuale Austragung des Konflikts nicht im Vordergrund steht, für die also ein prozessualer Lösungsansatz der informationellen Problematik wenig helfen könnte. Derartige Situationen sind beispielsweise immer dann gegeben, wenn Mitbestimmungsträger zur gemeinsamen Regelung, Planung oder Beratung mit dem Arbeitgeber bzw. Unternehmer berufen sind, wenn also zukunftsgerichtet Partizipationsaufgaben bei der Gestaltung bislang offener Situationen oder offener betrieblicher Zustände übertragen sind. Lösungsansätze im Zusammenhang prozessualer Informationslastverteilungen können die dabei relevanten informationellen Defizite der Arbeitnehmer oder ihrer Vertretungsorgane nicht adäquat erfassen und handhaben. Hier kann deshalb nur der Ansatz an einer direkten, inhaltlichen Gestaltung der Informationsbeziehungen zwischen den Beteiligten aufgrund entsprechender gesetzlicher Normierungen weiterhelfen. Auch diese Dimension muß deshalb neben der

1.4 Zum Gang der Untersuchung

21

prozessualen Problematik für die Thematisierung der arbeitsrechtlichen Informationsstrukturen in der vorliegenden Untersuchung behandelt werden. Nicht zuletzt wird sich im übrigen zeigen, daß auch im Rahmen der prozessualen Überlegungen zur Bewältigung struktureller Informationsdefizite im Arbeitsrecht einzelne Bereiche verbleiben, in denen die Figuren der Darlegungs- und Beweislast oder die Möglichkeit einer stärkeren Einbindung des Richters in die prozessualen Informationsbeziehungen nur unzureichende Lösungsmöglichkeiten bieten. Auch für diese Bereiche wird daher zu untersuchen sein, wieweit zum Ausgleich verbliebener Defizite möglicherweise über eine entsprechende Ausgestaltung materiellrechtlicher Normen wie Informationsrechten, Auskunftspflichten, Planungsbeteiligungen oder Rechenschaftslegungen ein Ausgleich gesucht werden muß bzw. gefunden werden kann.

1.4 Zum Gang der Untersuchung Die folgende Untersuchung gliedert sich in zwei Hauptteile. Der erste Hauptteil dient der Suche nach denkbaren Lösungsansätzen. Nach der notwendigen Abgrenzung der in dieser Untersuchung weiterzuverfolgenden Aspekte der Informationsproblematik werden zunächst einige Gesichtspunkte zum Hintergrund der weiteren Überlegungen und insbesondere zu den - im Vergleich zum allgemeinen Zivilrecht - arbeitsrechtlichen Spezifika dieses Hintergrundes dargestellt. Dabei interessieren insbesondere die allgemeine Bereitschaft zur prozessualen Durchsetzung von Schutzrechten sowie die Beratungssituation im Arbeitsrecht (Abschnitt 2.). Anschließend richtet sich der Blick auf die Bewältigung vergleichbarer informationeller Probleme in einer Reihe von modernen Zivilrechtskonflikten und den zu ihrer Bewältigung jeweils in Rechtsprechung und Literatur erarbeiteten Lösungsansätzen. Ausgehend von den allgemeinen Regelungen über Informationsbeziehungen in §§ 259 ff. BGB sowie in §§ 282, 285 BGB wird die besondere Gestaltung der Informationsbeziehungen im Verhältnis von Arzt und Patient, bei der Haftung des Herstellers für fehlerhafte Waren, im Erbrecht sowie im Familienrecht untersucht (Abschnitt 3.). Den ersten Hauptteil der Arbeit abschließend werden im folgenden Abschnitt die dabei gewählten Lösungsansätze systematisiert, verglichen und drei Modellvarianten denkbarer Problem bewältigung für die weitere arbeitsrechtliche Untersuchung herausgearbeitet (Kapitel 4.). Der zweite Hauptteil ist der Analyse des Einsatzes dieser drei Modelle zur Bewältigung der strukturellen Informationsdefizite im arbeitsrechtlichen Bereich gewidmet. Der erste Abschnitt behandelt das Prozeßmodell I, das an der Stärkung der Richtermacht und einer Ausweitung der Kommunikation im Verfahren

22

1. Einführung

ansetzt. Hier liegen die Schwerpunkte bei einer Stärkung der Richtermacht durch Ausweitung der richterlichen Aktivitäten zur Untersuchung des für den Prozeß relevanten Konfliktsachverhalts sowie bei deF Diskussion um eine allgemeine prozessuale Aufklärungspflicht der Parteien (Abschnitt 5.). Im folgenden Abschnitt geht es um das Prozeßmodell II, den arbeitsrechtlichen Einsatz eines Beweislast- oder Darlegungslastmechanismus zur Gestaltung der prozessualen Informationsbeziehungen. Nach der Klärung der Relevanz der Figuren von Beweislast und Darlegungslast sowie den allgemeinen Grundprinzipien ihrer Verteilung zwischen den Prozeßparteien wird die Wirkungsweise dieses Lösungsmodells am praktisch mit weitem Abstand dominierenden Fall des Kündigungsschutzprozesses im einzelnen untersucht (Abschnitt 6.). Der letzte Abschnitt des zweiten Hauptteils dient der Erörterung des materiellrechtlichen Modells, dem Einsatz direkter arbeitsrechtlicher Auskunftsansprüche zur Gestaltung der Informationsbeziehungen. Nach der Darstellung des breiten Spektrums der gesetzlich normierten Auskunftsansprüche im arbeitsrechtlichen Bereich wird der Einsatz dieses materiellrechtlichen Modells wiederum am praktisch wohl wichtigsten Fall einer Beteiligung von Interessenvertretungsorganen der Arbeitnehmerseite bei betrieblichen bzw. unternehmerischen Planungsprozessen näher untersucht (Abschnitt 7.). Abschließend sind die wichtigsten Ergebnisse der Untersuchung kurz zusammengestellt (Abschnitt 8.).

TEIL I

Denkbare Strategien zur Gestaltung information eller Rahmenbedingungen 2. Zum Hintergrund: Rechtsberatung bzw. Rechtsdurchsetzung im Arbeitsrecht Im Vordergrund der vorliegenden Untersuchung sollen die informationellen Probleme bei arbeitsrechtlichen Konflikten stehen, die aufgrund der speziellen Informations- und Kommunikationsbedingungen im Arbeitsverhältnis entstehen. Diese müssen bei der Gestaltung der materiellen Rechtsbeziehungen zwischen den einzelnen Arbeitnehmern oder den Mitbestimmungsträgern und dem Arbeitgeber jeweils berücksichtigt und bewältigt werden, sollen die vorgesehenen Rechtsregeln in der Praxis auch umgesetzt werden und Effektivität entfalten. Dabei soll im Sinne einer Abgrenzung des Themas der vorliegenden Arbeit wenigstens darauf hingewiesen sein, daß es im übrigen eine ganze Reihe von allgemeinen informationellen Gesichtspunkten gibt, die generell bei der Gestaltung und Steuerung von gesellschaftlicher Wirklichkeit mit den Mitteln des Rechts eine Rolle spielen. Gemeint sind Problemkreise wie etwa die Verbreitung von Wissen über Recht und dessen Durchsetzung in der Bevölkerung oder die Effektivität von Versuchen, entsprechende Defizite beispielsweise per Rechtsberatung zu bearbeiten. Dieser Fragenkreis hat nicht nur für das Zivilrecht allgemein Relevanz, sondern ist für die arbeitsrechtliche Rechtsverfolgung im arbeitsgerichtlichen Verfahren in gleichem Maße einschlägig und beschreibt häufig gleichermaßen drängende Defizite wie im Zivilrecht allgemein. Dabei führen die Überlegungen hier allerdings in ganz andere institutionelle wie inhaltliche Problemdimensionen und Denkzusammenhänge und haben insbesondere die Rechtssoziologie und die Rechtstatsachenforschung interessiert. Diese Seite der informationellen Problematik im Arbeitsrecht muß für den weiteren Gang der Untersuchung daher zwar als Hintergrund immer mitgedacht und mitberücksichtigt werden, bleibt aber als Thema selbst ausgegrenzt und kann nicht ihrerseits zum Gegenstand der weiteren Überlegungen in dieser Untersuchung selbst gemacht werden. Immerhin soll die Relevanz dieser allgemeinen Para-

24

2. Hintergrund: Beratung bzw. Rechtsdurchsetzung im Arbeitsrecht

meter im folgenden anhand einiger Daten zur Wahrnehmung zentraler arbeitsrechtlicher Schutzrechte kurz illustriert werden. Wie fast immer, so ergeben sich im übrigen aber auch bei diesen allgemeinen informationellen Dimensionen im Arbeitsrecht - etwa im Vergleich zum allgemeinen Zivilrecht - sofort wieder einige arbeitsrechtliche Spezifika, auf die im folgenden zur Beleuchtung des besonderen Hintergrunds im Arbeitsrecht ebenfalls kurz eingegangen werden soll. Sie beruhen im wesentlichen auf tatsächlichen Besonderheiten im Arbeitsbereich, beispielsweise den großen Beratungsaktivitäten von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden.

2.1 Empirische Daten zur Relevanz dieser Phänomene im Arbeitsrecht Die Relevanz von Gesichtspunkten wie Rechtsberatung und Rechtsdurchsetzung für die alltägliche Rechtspraxis im Arbeitsrecht läßt sich eindrucksvoll anhand der Ergebnisse der in Hamburg und Berlin erstellten beiden großen Untersuchungen zum arbeitsrechtlichen Beendigungsschutz illustrieren. Nach der Hamburger Studie belief sich die Klagebereitschaft gekündigter Arbeiternehmer im Erhebungsjahr 1978 auf ca. 8 % aller Kündigungen. Dabei wurde gegen außerordentliche Kündigungen deutlich häufiger (17 %) das Arbeitsgericht angerufen als bei ordentlichen Kündigungen (6 % )1. Im Bereich der ordentlichen Kündigung werden darunter interessanterweise Kündigungen aus betriebsbedingten Gründen mit einer Quote von 4 % vor dem Arbeitsgericht angefochten, während gegen solche aus verhaltens- oder personenbedingten Gründen mehr als doppelt so häufig, nämlich in ca. 10 % der Fälle, geklagt wird2 . Zu beachten ist dabei natürlich, daß diese Ergebnisse hinsichtlich der Klagebereitschaft nicht monokausal allein durch informationelle Aspekte ihre Erklärung finden, sondern daß dabei verschiedene andere Gesichtspunkte eine wichtige Rolle spielen. Zu denken ist insofern neben fehlenden Informationen über die rechtliche Situation und die rechtlichen Durchsetzungsmöglichkeiten an Faktoren wie die Furcht vor dem Verlust des Arbeitsplatzes, insbesondere in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit, oder an Hemmungen vor dem Weg zur Institution Justiz, oder ähnliches. In diesem Zusammenhang ist aus der Berliner Untersuchung zu entnehmen, daß bei zunehmender absoluter Arbeitslosigkeit der Anteil der eingereichten Kündigungsschutzklagen sinkt. Dabei läßt sich in diesem Trend der Jahre 1955 - 1981 allerdings ein Bruch in 1 Falke / Höland / Rhode / Zimmermann, Kündigungspraxis und Kündigungsschutz in der Bundesrepublik Deutschland, Forschungsbericht des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung, Bd. 47,1981, S. 660, Tab. IV/n. 2 Ebenda, S. 686, Tab. IV/85.

2.2 Der besondere Hintergrund im Arbeitsrecht

25

der Zeit um 1970 erkennen; seit diesem Zeitpunkt hat sich die Klagebereitschaft der von Kündigungen betroffenen Arbeitnehmer deutlich erhöhP. Empirisch untermauert ist auch die Alltagstheorie, daß sich Arbeitnehmer zumeist erst dann zum Gang zum Arbeitsgericht entschließen können, wenn sie ihren Arbeitsplatz endgültig verloren haben. Egal, ob sich die Klage auf Entgelt oder auf den Schutz gegen eine Kündigung richtet - zum Zeitpunkt ihrer Einreichung haben 78 % der Arbeitnehmer ihren Arbeitsplatz beim beklagten Arbeitgeber verloren. Zum Zeitpunkt der Erledigung hat sich diese Quote noch weiter verschoben: Dann haben 90 % (in Kündigungsschutzverfahren 91 %) der Kläger keinen Arbeitsplatz beim verklagten Arbeitgeber mehr4.

2.2 Der besondere Hintergrund im Arbeitsrecht Die herausragendsten Unterschiede zum allgemeinen Zivilrecht im hier verfolgten Zusammenhang ergeben sich im Bereich der Beratung, insbesondere der Rechtsberatung im Arbeitsrecht. Dies folgt aus den besonderen Aktivitäten, aber auch aus der verfassungsrechtlich wie in vielen arbeitsrechtlichen Einzelgesetzen verankerten besonderen Stellung der Verbände im Arbeitsrecht mit der Folge einer besonderen Verantwortung der Verbände für die Gestaltung der Wirtschafts- und Arbeitsbedingungen.

2.2.1 Zur Beratungssituation im Bereich des Arbeitsrechts Beratungsleistungen sind im Bereich der arbeitsrechtlichen Rechtsfragen in besonderer Weise organisiert und institutionalisiert. Traditionell erbringen die Gewerkschaften für ihre Mitglieder über ihre Rechtsschutzsekretariate solche Beratungsleistungen, wobei zumeist sogar, über die Mitgliedsbeiträge finanziert, in bestimmten Grenzen ein Kostenschutz eingeschlossen ist. Entsprechende Beratungsleistungen erbringen für Unternehmensleitungen, Vorstände und Management ihrer Mitgliedsunternehmen die entsprechenden Arbeitgeberverbände - soweit hier der Beratungsbedarf durch eigene Rechts-

3 Vgl. Estermann in: Rottleuthner (Hrsg.), Rechtssoziologische Studien zur Arbeitsgerichtsbarkeit, 1984, S. 95ff. mit Abb. 13 und 14 sowie Rottleuthner, Der arbeitsgerichtlIChe Kündigungsschutz - Rechtstatsachen und offene Fragen in: EllermannWitt / Rottleuthner / Russig (Hrsg.), Kündigungspraxis, Kündigungsschutz und Probleme der Arbeitsgerichtsbarkeit, 1983, S. 85 ff., hier S. 93 mit Tab. 1; vgl. dazu weiter Blankenburg / Schönhoiz, Zur Soziologie des Arbeitsgerichtsverfahrens - Die Verrechtlichung von Arbeitskonflikten, 1979, S. 64 ff. 4 Vgl. Rottleuthner, Der arbeitsgerichtliche Kündigungsschutz - Rechtstatsachen und offene Fragen in: Ellermann-Witt / Rottleuthner / Russig (Hrsg.), Kündigungspraxis, Kündigungsschutz und Probleme der Arbeitsgerichtsbarkeit, 1983, S. 86.

26

2. Hintergrund: Beratung bzw. Rechtsdurchsetzung im Arbeitsrecht

abteilungen oder Syndici und ständige Rechtsberater nicht ohnehin abgedeckt ist. Diese Beratungstätigkeiten haben eine wichtige praktische Kanalisierungsund Filterfunktion im vorgerichtlichen Bereich bzw. beim Einstieg in das gerichtliche Verfahren in arbeitsrechtlichen Streitigkeiten5 . Sie stehen dabei nicht etwa in Widerspruch zu den Regelungen des Rechtsberatungsgesetzes6 über die Erlaubnisbedürftigkeit der Besorgung fremder Rechtsangelegenheiten einschließlich der Rechtsberatung. Sie sind ohne Erlaubnis zulässig im Rahmen des § 7 Satz 1 RB erG und das heißt, nach verbreiteter Auffassung, nicht nur in arbeitsrechtlicher Angelegenheiten der Mitglieder gegenüber dem Arbeitgeber (den Arbeitnehmern) oder gegenüber der gegnerischen Koalition, sondern auch in den Angelegenheiten der Mitglieder, etwa der Gewerkschaften, in denen diese Beratung satzungsgemäß in Erfüllung der gewerkschaftlichen Aufgabe zur Prüfung von Ansprüchen gegenüber Dritten gewährt wird 7 . Diese in der Beratung besonders aktiven Zusammenschlüsse von Arbeitgebern bzw. Arbeitnehmern sind dann unter den Voraussetzungen des § 11 I ArbGG auch zur erstinstanzlichen und, trotz Anwaltszwangs vor dem LAG, unter weiterer Eingrenzung gern. § 11 11 ArbGG auch zur zweitinstanzlichen Vertretung ihrer Mitglieder im arbeitsgerichtlichen Verfahren zugelassen8 . Im übrigen wird den spezifischen arbeitsrechtlichen Besonderheiten dadurch Rechnung getragen, daß das Kostenrisiko im Arbeitsgerichtsprozeß durch die Regelungen der §§ 12, 13 ArbGG beschränkt und dadurch besser überschaubar ist. Weiter brachte das Prozeßkostenhilfegesetz9 auch Neuregelungen in § 11 a ArbGG für den arbeitsgerichtlichen Bereich. Angesichts der geschilderten Sondersituation bei der Beratung findet nach dem Willen des Gesetzge-

5 Rechtssoziologische Daten hierzu lassen sich vergleichen bei Camin, Rechtsberatung und Rechtsvertretung von Arbeitnehmern vor dem ArbG Berlin in: Rottleuthner (Hrsg.), Rechtssoziologische Studien zur Arbeitsgerichtsbarkeit, 1984, S. 137 ff. und Blankenburg I Schönholz, Zur Soziologie des Arbeitsgerichtsverfahrens, 1979, S. 84 ff., 87 ff. 6 So die neue Überschrift des alten "Gesetzes zur Verhinderung von Mißbräuchen auf dem Gebiet der Rechtsberatung" vom 13. Dez. 1935, RGBl. I, S. 1478. 7 So zuletzt BGH NJW 1982, S. 1882 f. Dabei ging es um einen Fall aus dem Bereich der Deutschen Postgewerkschaft, die einem Briefträger, der in Ausübung seines Berufs von einem Hund gebissen wurde, Rechtsberatung bei der Prüfung und Geltendmachung seiner Ansprüche gegen den Tierhalter gewährt hat; ganz h. M., vgl. früher schon so BGH NJW 1955, S. 422 (424); OLG Celle NJW 1973, S. 2028 f.; Altenhoff I Busch I Kappmann RBerG, Art. 1 § 7 Rn 131; Erbs I Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, Art. 1 § 7 RBerG, Anm. 6; Schorn, Die Rechtsberatung, 1972, S. 257,263 f., für steuerrechtliche Fragestellungen; vgl. BFH BB 1982, S. 420 8 Ähnliches gilt auch für die Verfolgung von Ansprüchen im Verfahren vor den Sozialgerichten. 9 Vgl. das Gesetz über die Prozeßkostenhilfe vom 13. Juni 1980, BGBl. I, S. 672.

2.2 Der besondere Hintergrund im Arbeitsrecht

27

bers wiederum das Beratungshilfegesetz lO auf arbeitsrechtliche Fragestellungen keine Anwendung (§ 2 II Nr. 1 BerHG).

2.2.2 Zur besonderen Rolle der Gewerkschaften im Betrieb Ein zweites wichtiges arbeitsrechtliches Spezifikum im Beratungsbereich ergibt sich aus einigen wenigen betriebsverfassungsrechtlichen Regelungen über das besondere Verhältnis der Gewerkschaften zur betriebsverfassungsrechtlichen Mitbestimmung und zu den betriebsverfassungsrechtlichen Mitbestimmungsträgern. Der Betriebsrat ist dabei grundsätzlich ein von den Gewerkschaften unabhängiges Organ, der mit Ausnahme des in § 5 II und III BetrVG umschriebenen Personenkreises alle Betriebsangehörigen im Betrieb vertritt - während die Gewerkschaften die Interessen ihrer Mitgliedschaft wahrnehmen. In der Praxis ist nun der gewerkschaftliche Organisationsgrad der Betriebsratsmitglieder mit über 80 % (und noch mehr bei den Betriebsratsvorsitzenden) sehr großl1, wobei die Äußerungen aus der Praxis recht einheitlich dahingehend lauten, daß viele Betriebsräte ohne entsprechende Kontakte zur Gewerkschaft, ohne gewerkschaftliche Unterstützung oder Beratung in der Effektivität ihrer Arbeit sehr beschränkt wären12 . Die Konkretisierung der gewerkschaftlichen Rechte im Betrieb, die Reichweite gewerkschaftlicher Rechte auf Zutritt, Information und Mitgliederwerbung, die Arbeit gewerkschaftlicher Vertrauensleutekörper im Betrieb gehört zu den seit langem am meisten umstrittenen Problemen des Betriebsverfassungsrechtes und hat zu einer großen Anzahl von Rechtsstreitigkeiten, höchstrichterlichen Entscheidungen sowie Stellungnahmen der Arbeitsrechtswissenschaft geführt 13. Dadurch scheint mittlerweile eine Reihe von Anhaltspunkten besser geklärt. 10 Gesetz über die Rechtsberatung und Vertretung für Bürger mit geringem Einkommen vom 18. Juni 1980, BGBl. I, S. 689. 11 Vgl. die Angaben in AuR 1985, S. 92, zur Betriebsratswahl 1984, in der 77,4 % der Betriebsratssitze an Mitglieder von DGB-Gewerkschaften und 3 % der Sitze an Mitglieder der DAG fielen. 12 Vgl. Däubler, Das Arbeitsrecht, Bd. 1, erw. Auf!. 1985, S. 378, mit Hinweis auf Blume und dessen Ergebnisse einer Befragung von Betriebsratsvorsitzenden. 13 Für einen Einstieg in die Problematik vgl. Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, 2. Auf!. 1985; Casper, Die gesetzliche und verfassungsrechtliche Stellung der Gewerkschaften im Betrieb, 1980, sowie Säcker, Inhalt und Grenzen des gewerkschaftlichen Zutrittsrechts zum Betrieb, 1975. Rechtsvergleichende Informationen zu diesem Problem finden sich bei Müller-Guercke, Gewerkschaftliche Betätigung in den Betrieben - Eine rechtsvergleichende Untersuchung im Rahmen der EG, 1980. Zur soziologischen Seite dieser Problematik vgl. Treu, Dualistisches System der Interessenvertretung und Einheitsgewerkschaft - Eine Studie über das Verhalten von Gewerkschaft und Betrieb, 1980.

28

2. Hintergrund: Beratung bzw. Rechtsdurchsetzung im Arbeitsrecht

2.2.2.1 Zutrittsrechte für Gewerkschaftsbeauftragte

Zunächst haben nach § 2 II BetrVG die Beauftragten der im Betrieb vertretenen Gewerkschaften ein Zutrittsrecht zur Wahrung der im Betriebsverfassungsgesetz genannten Aufgaben und Befugnisse. Dabei ist heute auch überwiegende Auffassung, daß hierzu nicht nur der Kontakt im Betriebsratsbüro, sondern auch der Kontakt am Arbeitsplatz ermöglicht werden muß, soweit dies für eine sinnentsprechende Wahrung der betriebsverfassungsrechtlichen Befugnisse notwendig ist 14. Soweit der Betriebsrat aufgrund seines Unterrichtungs- und Beratungsrechts nach § 2 I BetrVG Gewerkschaftsvertreter heranziehen möchte und einlädt, muß der Arbeitgeber auch diesen Zutritt gewähren 15 . Einschränkungen ergeben sich nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts hier allerdings hinsichtlich einer intendierten Erörterung rein tarifpolitischer Themen 16 . Zutrittsrechte für die Gewerschaftsbeauftragten ergeben sich weiter - wenn auch nicht ganz unstreitig 1? - im Bereich der Ausübung der gewerkschaftlichen Kontrollbefugnisse, etwa im Rahmen der §§ 23 III (BR-Amtsenthebung), 19 II (BR-Wahlanfechtung) oder 119 II BetrVG (Strafantrag gegen den Arbeitgeber, der den Betriebsrat in seinen gesetzlichen Aufgaben behindert)18. Als Voraussetzung ist dabei nach ganz überwiegender Auffassung gewöhnlich zu verlangen, daß konkrete Anhaltspunkte für einen Verstoß gegen die gesetzlichen Vorschriften vorhanden sind. Unzweifelhaft ist zuletzt das Zutrittsrecht der Gewerkschaftsvertreter zur Teilnahme an einer Betriebs-

14 Vgl. LAG Hamm EZA Nr. 1 zu § 2 BetrVG; Dietz-Richardi, BetrVG, § 1 Rn 12; Fitting / Auffarth / Kaiser, BetrVG, § 2 Rn 14; GK-Kraft, BetrVG, § 2 Rn 49; Gnade / Kehrmann / Schneider / Blanke, BetrVG, § 2 Rn 24; Weiss, BetrVG, § 2 Rn 8; DäubIer, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, S. 103 ff; Säcker, Inhalt und Grenzen des gewerkschaftlichen Zutrittsrechtes zum Betrieb, S. 18; Kremp, AuR 1973, S. 198; Schwerdtner, JZ 1974, S. 459; differenzierend Klosterkemper, Das Zugangsrecht der Gewerkschaften zum Betrieb, 1980, S. 50 ff.; unentschieden BAG AP Nr. 5 zu § 2 BetrVG 1972; aA Galperin / Löwisch, BetrVG, § 2 Rn 8. 15 BAG AP Nr. 5 zu § 2 BetrVG 1972; noch etwas weiter für alle Fälle erwünschter Beratung LAG Hamm EZA Nr. 1 zu § 2 BetrVG und LAG Hamm DB 1973, S. 141; ihm folgend Dietz-Richardi, BetrVG, § 2 Rn 98; Galperin / Löwisch, BetrVG, § 2 Rn 79; GK-Kraft, BetrVG, § 2 Rn 48; Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, S. 103; Säcker, Inhalt und Grenzen des gewerkschaftlichen Zutrittsrechts zum Betrieb, S. 19; Kremp, AuR 1973, S. 197; Schwerdtner, JZ 1974, S. 458. 16 BAG AP Nr. 2 zu § 2 BetrVG 1972. 17 Nicht akzeptieren oder nur unter stark restriktiven Voraussetzungen zulassen wollen dies Hanau, BB 1971, S. 486, und Kammann / Hess / Schlochauer, BetrVG, § 2 Rn 95; teilweise auch Reuter, ZfA 1976, S. 145. 18 Dietz / Richardi, BetrVG, § 2 Rn 93; Fitting / Auffarth / Kaiser, BetrVG, § 2 Rn 18; Däub1er, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, S. 100; Säcker, Inhalt und Grenzen des gewerkschaftlichen Zutrittsrechts zum Betrieb, S. 18; Müller, ZfA 1972, S. 320; Kremp, AuR 1973, S. 197; Schwerdtner, JZ 1974, S. 457.

2.2 Der besondere Hintergrund im Arbeitsrecht

29

ratssitzung gern. § 31 BetrVG (für eine im Betriebsrat vertretene Gewerkschaft) oder zur Teilnahme an einer Betriebs- bzw. Abteilungsversammlung gern. § 47 BetrVG. 2.2.2.2 Gewerkschaftliche Beratung durch Betriebsräte

Einen zweiten Fragenkomplex bildet die gewerkschaftliche Arbeit durch die Mitglieder des Betriebsrats selbst, soweit diese Gewerkschaftsmitglieder sind. Schon § 74 III BetrVG 1972 regelt im Gegensatz zum alten BetrVG 1952 insofern, daß die Betätigung eines Arbeitnehmers für seine Gewerkschaft im Betrieb durch die Übernahme betriebsverfassungsrechtlicher Funktionen nicht beschränkt wird. Das Bundesarbeitsgericht forderte früher zum alten BetrVG 195219 , teilweise gegen den Widerstand der Literatur20 , daß der betreffende Funktionsträger deutlich machen müsse, daß er insofern nicht in Ausübung seines Amtes tätig werde - wobei im Zweifel anzunehmen sei, daß der Funktionsträger nicht als Gewerkschafter, sondern in Ausübung seines Amtes handle. Diese Auffassung scheint heute durch die gesetzliche Neuregelung überwunden - nicht zuletzt auch aus der Erkenntnis, daß ein solcher explizierter Ausschluß die gewerkschaftliche Organisation des Betreffenden ja gerade erst ins Spiel bringt, betont und somit im Sinne dieser alten Rechtsprechung "kontraproduktive" Wirkungen hat. Richtig erscheint es demgegenüber, inhaltlichen Mißbrauch zu beschneiden, soweit er einmal vorliegt, etwa in den Fällen, in denen ein betriebsverfassungsrechtlicher Funktionsträger Gewerkschaftsmitgliedern oder, bei einer Werbeaktion, Neueintretenden ein bestimmtes Handeln im Rahmen in Ausübung seiner betriebsverfassungsrechtlichen Funktion in Aussicht stellen möchte 21 • Ansonsten aber fällt die gewerkschaftliche Betätigung des Funktionsträgers unter den Schutz des § 74 III BetrVG. Dieser Schutz von Arbeitnehmernvertretern, insbesondere von Gewerkschaftsvertretern und deren Zusammenarbeit mit betrieblichen Vertretern der Arbeitnehmer, wird dabei weiter noch durch das Abkommen Nr. 135 der internationalen Arbeitsorganisation (ILO) vom 23. Juni 1971 über den Schutz und Erleichterungen für Arbeitnehmervertreter im Betrieb garantiert, das in seinem Art. 5 regelt: "Sind in einem Betrieb sowohl Gewerkschaftsvertreter BAG AP Nr. 10 zu Art. 9 III GG. Vgl. Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, S. 182 ff; Casper, Die gesetzliche und verfassungsrechtliche Stellung der Gewerkschaften im Betrieb, S. 102 ff.; Dietz / Richardi, BetrVG, § 74 Rn 76; Fitting / Auffarth / Kaiser, BetrVG, § 74 Rn 14, alle mwN 21 So auch die hM, vgl. Fitting / Auffarth / Kaiser, BetrVG, § 74 Rn 15; Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, S. 185; Müller-Guerke, Gewerkschaftliche Betätigung im Betrieb, S. 174; Müller, ZfA 1972, S. 243. 19

20

30

2. Hintergrund: Beratung bzw. Rechtsdurchsetzung im Arbeitsrecht

als auch gewählte Vertreter tätig, so sind nötigenfalls geeignete Maßnahmen zu treffen, um zu gewährleisten, daß das Vorhandensein gewählter Vertreter nicht dazu benutzt wird, die Stellung der beteiligten Gewerkschaften oder ihrer Vertreter zu untergraben, und um die Zusammenarbeit zwischen den gewählten Vertretern und den beteiligten Vertretern in allein einschlägigen Fragen zu fördern." Dieses Abkommen gilt in der Bundesrepublik Deutschland aufgrund seiner Ratifizierung durch Ratifizierungsgesetz vom 23. Juli 197322 . Dadurch wird die Bundesrepublik Deutschland jedenfalls im Verhältnis zu den Staaten gebunden, mit denen durch das Abkommen Verpflichtungen eingegangen wurden - während bei solcher Ratifizierung fraglich bleibt, ob dadurch auch innerstaatliches Recht geschaffen wird, auf das sich der einzelne Bürger berufen kann. Als Voraussetzung dafür wird gewöhnlich gefordert, daß es sich bei den entsprechenden Abkommen nicht um bloße programmatische Erklärungen handeln darf, sondern daß es sich um konkrete, umsetzbare und durch die Gerichte anwendbare Normsätze handelt23 . Das BAG zieht solche Abkommen gewöhnlich für seine Interpretations- und Entscheidungstätigkeit heran und füllt Lücken oder interpretatorische Spielräume im Sinne der entsprechenden Bestimmungen der Abkommen24 . Auch die Literatur will mit ähnlichen Formulierungen eine so eingeschränkte Geltung derartiger Abkommen akzeptieren25 . 2.2.2.3 Gewerkschaftliche Information und Werbung im Betrieb

Einen letzten und bis heute weitgehend umstrittenen Fragenkomplex in diesem Bereich bildet die Zulässigkeit von Information und Werbung der Gewerkschaften im Betrieb. Ein solches Recht hat der Gesetzgeber im BetrVG 1972 weder vorgesehen noch ausgeschlossen26 . Es ergibt sich nach überwiegender Auffassung grundsätzlich aus dem Schutz der Betätigung der Koalitionen in Art. 9 III GG27.

BGB!. 11, S. 953, 1596. Vg!. Schnorr, Das Arbeitsrecht als Gegenstand internationaler Rechtssetzung, 1960, S. 178 ff.; zur Rspr. vg!. BVerfGE 29, S. 348,360. 24 Vg!. so BAGE 11, S. 338, 342 ff. (bei einer Frage der Lohngleichheit von Mann und Frau in Ausfüllung von Art. 311 GG); neuerdings insofern etwas vorsichtiger BAG DB 1982, S. 1016. 25 Eingehend wurde dies für die Fragen von Streik und Aussperrung diskutiert, vg!. dazu näher Seiter, Streikrecht und Aussperrung, 1975, S. 138; Zöllner, Aussperrung und arbeitskampfrechtliche Parität, 1974, S. 11 ff., und Säcker, Gruppenparität und Staatsneutralität, 1974, S. 82 ff., alle mwN 26 BAG AP Nr. 10 zu Art. 9 III GG; Dietz / Richardi, BetrVG, § 2 Rn 143; Fitting / Auffarth / Kaiser, BetrVG, § 2 Rn 20; Weiss, BetrVG, § 2 Rn 12; alle mwN 22 23

2.2 Der besondere Hintergrund im Arbeitsrecht

31

Streit besteht aber darum, wie weit diese Befugnisse der Gewerkschaft reichen sollen, wie weit besondere inhaltliche Anforderungen bei der Ausübung dieser Tätigkeit (z. B. hinsichtlich der Themen, über die informiert wird, des Tons, des Ortes, der Zulässigkeit von Konkurrenz gegen andere, im Betrieb vertretene oder im Betrieb nicht vertretene Organisationen, der Ausübung durch Mitglieder des Betriebs oder externe etc.) zu beachten sind und wann sich einzelne Informations- und Werbemaßnahmen im Betrieb noch zu den zum Kern des Art. 9 III GG gehörenden und damit "unerläßlichen" koalitionsmäßigen Betätigungen rechnen lassen28 • Nachdem das Bundesverfassungsgericht im Jahre 198129 aufgrund einer sehr viel restriktiveren Beurteilung dieses Kriteriums ein Urteil des Bundesarbeitsgerichts zu einer Streitfrage in einer kirchlichen Einrichtung aufgehoben hat, sind hier schon viele geklärt geglaubte Fragen bezüglich Art, Form und Inhalt der informierenden und werbenden Tätigkeit der Gewerkschaften wieder umstritten 3o • Für den Zusammenhang des Themas der vorliegenden Arbeit läßt sich hier von einer weiteren Vertiefung dieser in der Praxis allerdings höchst relevanten Detailfragen absehen; die Besonderheiten im Beratungsbereich beim Vergleich der arbeitsrechtlichen mit den sonstigen zivilrechtlichen Streitigkeiten sowie die besonderen Strukturen und Einflußfaktoren der betrieblichen Informations- und Beratungstätigkeit der Gewerkschaften sind als notwendige und jederzeit mitzudenkende Hintergrundinformation hinreichend skizziert.

27 BVerfGE 28, S. 295 ff.; BAG AP Nm. 10, 11 und 14 zu Art. 9 III GG; BAG DB 1982, S. 1327; BAG DB 1984, S. 462; Dietz / Richardi, BetrVG, § 2 Rn 146; GKKraft, BetrVG, § 2 Rn 80; Weiss, BetrVG, § 2 Rn 8; Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, S. 117; Säcker, Inhalt und Grenzen des gewerkschaftlichen Zutrittsrechts zum Betrieb, S. 23; Kremp, AuR 1973, S. 201; Reuter, ZfA 1976, S. 160. 28 Vg!. die Einschränkungen in den Entscheidungen BVerfGE 57, 220 ff.; BAG AuR 1979, S. 254 f.; BAG DB 1979, S. 1185; BAG AuR 1982, S. 293 mit Anmerkung Hersehe!. 29 BVerfGE 57, 220 ff.; dabei ging es um das Sonderproblem des Zutritts zu einer kirchlichen Einrichtung; die Verallgemeinerungsfähigkeit und die Prognose über eine möglicherweise im Ergebnis andere Stellungnahme des BVerfG im nichtkirchlichen Bereich sind offen; vg!. eingehend dazu Dütz, Gewerkschaftliche Betätigung im kirchlichen Einrichtungen, 1982, S. 112 ff., 28 ff, 41 ff. 30 Vg!. dazu ausführlich einerseits Säcker, Inhalt und Grenzen des gewerkschaftlichen Zutrittsrechts zum Betrieb, S. 30 ff., und andererseits Däubler, Gewerkschaftsrechte im Betrieb, S. 162 ff.

3. Zur Bewältigung informationeller Probleme in typischen zivilrechtlichen Konflikten Das Problem, überhaupt die für eine erfolgversprechende Rechtsverfolgung nötigen Informationen verfügbar zu haben oder zu erlangen, ist kein spezifisches Problem des Arbeitsrechts. Es taucht vielmehr in unterschiedlichsten Bereichen des Zivilrechts auf - wie wir sehen werden, zumeist bedingt durch die immer rasantere Entwicklung unserer Gesellschaft in der Familie, bei der Produktion von Güter- und Dienstleistungen, in Technik und Wissenschaften. Auch die Antworten, die der Gesetzgeber, die Rechtswissenschaft oder die Gerichte im Umgang mit diesem Problem gefunden haben oder um die aktuell gerade gerungen wird, zeigen ein erhebliches Spektrum unterschiedlicher Möglichkeiten auf. Die Palette der Differenzierungen reicht von Unterschieden in den für eine Problemlösung gewählten Ansatzpunkten bis hin zu Unterschieden in den für geeignet befundenen Instrumenten. Da berechtigte Hoffnung besteht, für die arbeitsrechtliche Thematisierung hiervon einiges profitieren zu können, sollen die zivilrechtlichen Grundregeln sowie ihre Fortbildung in einer Reihe von typischen Beispielen aus verschiedenen Bereichen des Zivilrechts mit den jeweils dazu entwickelten Mechanismen hier zunächst erörtert werden. Abschließend zu diesen Überlegungen sollen im nächsten Kapitel für die arbeitsrechtliche Untersuchung drei Modellvarianten, drei denkbare Anknüpfungspunkte herausgearbeitet werden, deren je spezifischer Beitrag zur Gestaltung der informationellen Rahmenbedingungen im Arbeitsrecht, deren Wirkungsweise und Effektivität, deren Vorteile und Schwächen dann im folgenden interessieren werden.

3.1 Die Ausgangslage im allgemeinen Zivilrecht § 253 ZPO verlangt vom Kläger einen bestimmten Antrag in seiner Klagschrift gegen einen bestimmten Beklagten zur Verfolgung seines Rechtsschutzbegehrens. In der Praxis kann daraus ein Problem entstehen, denn der Kläger weiß bei weitem nicht immer, wen er verklagen soll, oder verfügt über die Informationen, die eine gen aue Berechnung seines Anspruchs zulassen. Weiter müssen für den Prozeß die für eine Schlüssigkeit erforderlichen Tatsachenbehauptungen sowie die Angriffs- und Verteidigungsmittel vorgetragen werden, §§ 253 IV, 130 Nr. 3,4 ZPO und die Beweismittel benannt werden,

3.1 Die Ausgangslage im allgemeinen Zivilrecht

33

§§ 253 IV, 130 Nr. 5 ZPO. Die Partei hat ihren Sachvortrag substantiiert darzulegen, und zwar nach § 282 ZPO so rechtzeitig, wie es einer sorgfältigen und prozeßfördernden Führung des Verfahrens entspricht - gegebenenfalls durch vorbereitende Schriftsätze, so daß sich auch der Gegner auf den Sachvortrag vorbereiten und sich entsprechend informieren kann (§ 282 Ir ZPO). Verstöße gegen diese Pflichten sind in § 296 ZPO, eventuell iVm § 528 III ZPO, durch eine Präklusion des verspäteten Vortrags auch für die weiteren Instanzen sanktioniert. Dabei hat sich die Partei nach § 138 I, Ir ZPO vollständig und wahrheitsgemäß zu erklären, insbesondere auch über die vom Gegner behaupteten Tatsachen. Nichtwissen ist insoweit nur im Ausnahmefall eine zulässige Antwort, § 138 IV ZPO. Kommt eine darlegungs- und beweisbelastete Partei diesen Anforderungen nicht nach, so droht ihr mangels Schlüssigkeit, mangels Beweisantritt oder wegen der Geständnisfiktion des § 138 IrI ZPO der Prozeßverlust.

Häufig werden die benötigen Informationen in der Hand des Prozeßgegners sein oder bei Dritten, die mit der Sache befaßt sind, ermittelt werden müssen. Teilweise kann insofern das materielle Zivilrecht helfen, dessen Regelungen im informationellen Bereich leider sehr partikulär - und anders als sonst bei der gesetzlichen Systematik der BGB-Kodifikation - nur wenig durchstrukturiert erscheinen.

3.1.1 Die Regelungen der §§ 259 tJ. BGB Zunächst finden sich im Schuldrecht in §§ 259 - 261 BGB und in §§ 809 811 BGB jeweils einige Regelungen, die sozusagen Verfahrensfragen regeln, wenn feststeht, daß von einer bestimmten Person ggf. Rechenschaft, Auskunft, Urkundeneinsicht oder auch die Besichtigung einer Sache verlangt werden kann. Kosten- und Haftungsfragen sind nur in § 811 Ir BGB für die Besichtigung nach § 809 BGB und die Urkundeneinsicht nach § 810 BGB geregelt; danach können auch entsprechende Vorschüsse oder Sicherheitsleistungen verlangt werden. Solche Bestimmungen finden sich bei §§ 259 ff. BGB nicht, während dort aber iVm § 261 BGB durch die Möglichkeit der Erzwingung einer eidesstattlichen Versicherung ein besonderer Verfahrensgang für die Durchsetzung einer vollständigen Rechenschaftsablegung über sämtliche Einnahmen und Ausgaben nach § 259 BGB oder die Vorlage eines vollständigen Bestandsverzeichnisses über den "Inbegriff von Gegenständen"! im Rahmen des § 260 BGB geschaffen ist. 1 Vgl. für diesen Begriff und seine weite Auslegung als "Sachgesamtheiten und Sondervermögen, jede Mehrheit von Vermögensgegenständen, Sachen wie Rechten oder Forderungen, bei einheitlichem Rechtsgrund", RGZ 90, S. 139; seither st. Rspr., vgl. etwa BGHZ 55, S. 201 (Die Gesamtheit der Provisionsforderungen eines Agenten); BGHZ 49, S. 11 (alle unter Eigentumsvorbehalt gelieferten Waren); BGHZ 41, S. 318

3 Haug

34

3. Informationelle Probleme in typischen Zivilrechtskonflikten

Die Verpflichtung zur Rechenschaftsablegung nach § 259 I BGB geht dabei noch über die bloße Pflicht zur Rechnungslegung hinaus. Es ist eine sehr umfassende Auskunftsverpflichtung. Sie erfordert neben der Zusammenstellung von Ausgaben und Einnahmen2 , ggf. mit entsprechenden Belegen als Anlagen 3 , auch noch die Darstellung aller derjenigen Informationen, deren ergänzende Kenntnis für die Einschätzung der Geschäftsvorgänge durch den Auskunftsberechtigten wichtig und erforderlich sein können 4 • Die Effektivität dieses schuldrechtlichen Instrumentariums wird in der Praxis immer wieder kritisiert. 3.1.1.1 Vollständigkeit der Information

Schwierigkeiten ergeben sich häufig mit dem in §§ 259 ff. BGB gewählten Instrument der Abgabe einer eidesstattlichen Versicherung zur Durchsetzung vollständiger Auskünfte. Die Rechtsprechung geht davon aus, daß nach dieser gesetzlichen Regelung zu unterscheiden ist, ob die vorgelegte Rechnung, das vorgelegte Bestandsverzeichnis schon formal den Ansprüchen nicht genügt, oder ob der Informationsberechtigte materiell, inhaltlich die Richtigkeit oder Vollständigkeit der Teilinformation bezweifelt. Nur im ersteren Falle ist dann ein Verlangen nach Ergänzung der Rechenschaft oder des Bestandsverzeichnisses, nach Vorlage von Belegen oder ähnliches zulässig5 . Mit der Abgabe einer formal ordnungsgemäßen Auskunft ist die Informationsverpflichtung erfüllt. Inhaltliche Unrichtigkeit, sachliche Beanstandungen kann der Auskunftsberechtigte nur auf dem Wege über die Verpflichtung zur Abgabe einer eidesstattlichen Versicherung weiter verfolgen 6 •

(Aufgaben eines Architekten); OLG Hamburg, OLGE 45, S. 184 (Gesamtheit von Papieren, die weggenommen wurden); RGZ 137, S. 206 ff. (Nutzungen einer herauszugebenden Sache); es gibt eine Fülle weiterer Beispiele aus der Rechtssprechung, vgl. dazu MüKo-Keller, § 260 BGB Rn 3 und Staudinger-Selb, § 260 BGB Rn 3, beide mwN. 2 BGH LM Nr. 4 zu § 1042 ZPO; BGH GRUR 1957, S. 336; OLG Stuttgart MDR 1958, S. 513; LG Mannheim NJW 1969, S. 1856. 3 BGHZ 33, S. 373,378; BGHZ 39, S. 87,94 f.; BayOLG MDR 1976, S. 225; Staudinger-Selb, § 259 BGB Rn 12 f.; RGRK-Alff, § 261 BGB Rn 11 ff.; MüKo-Keller, § 259 BGB Rn 27 f.; Erman-Sirp, § 259 BGB Rn 12. 4 BGH NJW 1982, S. 574; BGH LM Nr. 4 zu § 1042 ZPO; OLG Stuttgart MDR 1958, S. 513; RGZ 108, S. 1,7; Palandt-Heinrichs, § 261 BGB Anm 4 b; MüKo-Keller, § 259 BGB Rn 27 ff.; Locher, NJW 1968, S. 2324 f. 5 RGZ 84, S. 44; RGZ 100, S. 150; BGHZ 39, S. 87,96; BGH NJW 1962, S. 245; RGRK-Alff, § 261 BGB Rn 13; Palandt-Heinrichs, § 261 BGB Anm 4 b. 6 Ganz hM, siehe neben den Fn 5 Zitierten BGH LM Nm. 3 und 6 zu § 254 BGB; BAG AP Nr. 26 zu § 611 BGB-Kontrollklausel; etwas einschränkend nunmehr BGH DB 1982, S. 2393 f.; OLG Braunschweig OLGE 30, S. 235 f.; MüKo-Keller, § 259 BGB Rn 29; Staudinger-Selb, § 259 BGB Rn 16, und § 260 BGB Rn 16.

3.1 Die Ausgangslage im allgemeinen Zivilrecht

35

Dies wird im Einzelfall sorgfältig zu prüfen sein. So nahm schon das Reichsgericht an, daß eine Ergänzung jedenfalls dann verlangt werden kann, wenn ein ganzer Vermögensteil bei der Rechenschaftslegung nicht berücksichtigt wurde7 oder wenn die Rechenschaftslegung auf Fälschungen gründet8 • Gleiches muß im Rahmen des § 260 BGB für ein Bestandsverzeichnis gelten, wenn aufgrund entschuldbaren, subjektiven Rechtsirrtums des Informationsverpflichteten ein ganzer Teil des Inbegriffs von Gegenständen nicht aufgeführt wurde9 oder wenn dieser aus sachlichen Gründen in zeitlicher Staffelung Teilverzeichnisse vorlegen möchte lO • 3.1.1.2 Verpffichtung zur eidesstattlichen Versicherung statt Ergänzung

Die Pflicht zur Abgabe dieser eidesstattlichen Versicherung ist an die Darlegung eines Verdachts auf mangelnde Sorgfalt und Unvollständigkeit sowie an Verhältnismäßigkeitserwägungen gebunden. Zur Begründung des Verdachts hat der Informationsberechtigte Tatsachen anzugeben und gegebenenfalls zu beweisen, aus denen sich die Zweifel an der Sorgfalt und Vollständigkeit ergeben. Das heißt also nicht die Tatsachen, aus denen sich die Unvollständigkeit der Information selbst ergibt, sondern die Tatsachen, aus denen sich der Verdacht einer Unvollständigkeit ableiten läßtl1 . Verhältnismäßigkeitsüberlegungen sind in §§ 259 III, 260 III BGB für Angelegenheiten geringer Bedeutung ins Gesetz aufgenommen. Weitere Gesichtspunkte können sich insofern aus § 242 BGB ergeben. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn das Ergebnis einer Rechenschaftslegung auf andere Weise leichter erreichbar ist, der Informationsberechtigte also beispielsweise eigene Informationsquellen hat, diese aber nicht ausschöpft 12 . Mit ähnlicher Argumentation dürfte das Rechtsschutzinteresse für einen Antrag auf eidesstattliche Versicherung fehlen, wenn der Informationsberechtigte, etwa im Wege der Einsicht in Urkunden oder Bücher gern. § 810 BGB, auf einfache und leichte Weise Klarheit erlangen kann - beispielsweise im Handelsvertreterrecht aufgrund von § 87 c IV HGB gegenüber einer eidesstattlichen Versicherung über die Vollständigkeit eines Auszugs nach § 87 c 11 RGZ 84, S. 44; ebenso BGH NJW 1983, S. 2244. RG HRR 1933, Nr. 465. 9 BGH LM Nr. 1 zu § 260 BGB. 10 BGH LM Nr. 14 zu § 260 BGB; BGH NJW 1962, S. 245. 11 RGRK-Alff, § 261 BGB Rn 20 f.; MüKo-Keller, § 259 BGB Rn 32; StaudingerSelb, § 259 BGB Rn 18 f.; Ikels, Die Rechnungslegung gemäß § 259 I BGB, 1976, S. 125 ff. 12 BGHZ 58, S. 237; BGH WPM 1970, S. 1118; BGH WPM 1959, S. 206; PalandtHeinrichs, § 259 BGB Anm 5; zu weitgehend LAG Baden-Württemberg AP Nr. 1 zu § 260BGB. 7

8

3"

36

3. Infonnationelle Probleme in typischen Zivilrechtskonflikten

HGB13. Eine Verpflichtung auf Abgabe der eidesstattlichen Versicherung wird von der Rechtsprechung auch dann verneint, wenn nach allem schon vor der Abgabe der Versicherung feststeht, daß der Informationsberechtigte nach der erfolgten Rechenschaftslegung überhaupt nichts zu fordern haben kann 14 . Durch die Versagung eines Auskunftsergänzungsanspruchs bei jedenfalls formal korrekter Auskunftserteilung mag der Weg des Informationsberechtigten zur Gewinnung eines vollständigen Bildes manchmal dornenreich sein. Ob der Weg über drohende strafrechtliche Konsequenzen dem Informationsberechtigten hier wirklich weiterhilft, mag mit Fug und Recht bezweifelt werden. Nachdem der Informationsberechtigte gerade aufgrund seiner Ungewißheit gegen den Auskunftsverpflichteten vorgeht, wird er kaum über zutreffende Situationseinschätzungen verfügen. Er wird also kaum in der Lage sein, Sinn, Vertretbarkeit und Verhältnis von Aufwand und Ertrag der Einleitung eines strafrechtlichen Verfahrens zu beurteilen. Sein schon im Antrag auf Abgabe einer entsprechenden eidesstattlichen Versicherung zum Ausdruck kommendes Bedürfnis nach sorgfältiger Information allerdings besteht. 3.1.1.3 Möglichkeit der Stufenklage

Prozessual kann der Anspruch auf Abgabe einer eidesstattlichen Versicherung im Wege der Stufenklage nach § 254 ZPO zusammen mit dem Antrag auf Auskunftserteilung und sogar - abweichend vom Bestimmtheitserfordernis nach § 253 ZPO - mit dem auf der Basis der erteilten Auskunft noch näher zu beziffernden Leistungsanspruch verfolgt werden 15 . Dies entspricht vor allem prozeßökononomischen Überlegungen. Eine Verurteilung auf Abgabe der eidesstattlichen Versicherung kommt allerdings vor der Erteilung einer formalen korrekten Auskunft nicht in Betracht16 • 3.1.1.4 Verhältnis Verfahrensregeln I Anspruchsgrundlagen

Zur Effektivität der Gestaltung der Informationsbeziehungen im materiellen Zivilrecht ist weiter zu beachten, daß die §§ 259 ff. BGB keinesfalls umfassende zivilrechtliche Informationsmöglichkeiten schaffen. Es handelt sich dabei lediglich um Verfahrensvorschriften, die ihrerseits einen Auskunfts-,

13 BGHZ 55, S. 201 f. und 206; OLG Köln BB 1971, S. 331; zum Handelsvertreterrecht vgl. näher BGHZ 32, S. 302 mwN. 14 BAG AP Nr. 3 zu § 87 c HGB. 15 Die im Text vertretene Ansicht entspricht der ganz herrschenden Meinung; vgl. BGHZ 10, S. 385; MüKo-Keller, § 259 BGB Rn 32; Zöller-Stephan, ZPO § 254 ZPO, Rn 1; jeweils mwN; anders insbesondere Fett, Die Stufenklage, 1978, S. 35 ff. 16 RGZ 73, S. 238 ff.; BGHZ 10, S. 385 f.; OLG München OLGE 32, S. 50 f.

3.1 Die Ausgangslage im allgemeinen Zivilrecht

37

Rechnungslegungs- oder Rechenschaftslegungsanspruch voraussetzen. Lediglich für § 260 I 1. Alt. BGB, also für den Fall eines Herausgabeanspruchs bezüglich eines Inbegriffs von Sachen, wird diskutiert, ob darin nicht ein eigenständiger Auskunftsanspruch zu sehen ist 17 . Anders liegt dies bei §§ 809 ff. BGB, die jeweils für eine Reihe von Fällen materielle Vorlegungsansprüche für den Informationsberechtigten normieren. Dabei ist insbesondere § 810 BGB von großer Bedeutung für den Urkundenbeweis im Zivilprozeß, nachdem die §§ 422, 429 ZPO die prozessuale Verpflichtung zur Vorlegung beweis erheblicher Urkunden an das Bestehen einer bürgerlich-rechtlichen Verpflichtung zur Vorlegung der betreffenden Urkunde knüpfen. Diese ergibt sich häufig aus § 810 BGB18.

3.1.2 Materielle Anspruche auf Informationserteilung im Zivilrecht Das Zivilrecht kennt im übrigen eine große Vielfalt einzelner Auskunftsansprüche, für die ein überzeugender, einheitlicher Systematisierungsgesichtspunkt nicht ersichtlich ist. Eine Reihe von Auskunftsrechten ist gesetzlich zunächst für verschiedene schuldrechtliche Vertragstypen vorgesehen, etwa in §§ 510, 666, 716, 740 11 oder 799 11 BGB. Auch im Familien- und Erbrecht findet sich eine ganze Palette von Informationsverpflichtungen, etwa in §§ 1361 IV, 1379 I, eventuell iVm 1386 III, 143511, 1580, 1587 e, 1605, 1634 III, 179911,1840 BGB oder in §§ 1978 I, 2005 11, 2027, 2028 1,2057,2121 f., 2127, 2130 11, 2218, 2314, 2362 11 BGB. Nichts anderes gilt für zivilrechtliche Nebengesetze wie § 34 VVG, § 24 VerlG und § 97 I 2 UrhG, § 146 PatG oder § 28 WEG. 3.1.2.1 Systematisierung materiell-rechtlicher Auskunftsansprüche

Eine gewisse Systematisierung läßt sich im Anschluß an Stürner19 dadurch erreichen, daß man unterscheidet: (1) Auskunftsansprüche aus speziellen vertraglichen Abreden, wenn diese ausdrücklich oder konkludent20 die Erteilung von Informationen vorsehen.

17 Zum Meinungsstand vgl. ausführlich Hellmann, Materiellrechtlicher Auskunftsanspruch und prozessuale Auskunftspflicht, 1978, S. 52 ff.; Stürner, Die Aufklärungspflicht der Parteien des Zivilprozesses, 1976, S. 290. 18 Vgl. zu den Vorlegungsfällen des § 810 BGB im einzelnen RGRK-Steffen, § 810 BGB Rn 6 f., 11 ff. 19 Vgl. Stürner, Die Aufklärungspflicht der Parteien des Zivilprozesses, S. 287 ff. 20 Dazu näher BGH BB 1976, S. 55.

38

3. Informationelle Probleme in typischen Zivilrechtskonflikten

(2) Auskunftsansprüche, meist auf Rechenschaftslegung, aus Auftrag und auftragsähnlichen Verhältnissen mit der Grundnorm in § 666 BGB. Auftragsähnliche Ansprüche finden sich beispielsweise bei der Regelung für den Vereinsvorstand nach § 27 III BGB, im Ehegüterrecht bei § 1435 n BGB, der Eltern hinsichtlich des Kindesvermögens in §§ 1667, 1698 BGB, für Vormund oder Pfleger nach §§ 1890, 1915 BGB, beim Nachlaßverwalter in § 1978 I BGB und beim Testamentsvollstrecker in § 2218 BGB. Eine Reihe ähnlicher Ansprüche kennt das Handelsrecht; etwa beim Handelsvertreter in §§ 68 n, 87 c HGB, der oHG und der KG in §§ 118, 166 HGB, der stillen Gesellschaft in §§ 338, 340 III HGB und der Kommission in § 348 n HGB. Die Rechtsprechung sieht hinter all diesen Einzelvorschriften einen allgemeinen Rechtssatz und leitet iVm § 242 BGB daraus die allgemeine Regel ab, daß derjenige, der fremde Rechtsangelegenheiten besorgt oder derjenige, der Rechtsangelegenheiten besorgt, die zugleich fremde und eigene Angelegenheiten sind, auskunfts- und rechenschaftspflichtig ist21 • Dies soll sogar dort gelten, wo nicht nur eine Verwaltung mit Einnahmen und Ausgaben für einen anderen geführt wird, sondern wo aufgrund einer bestehenden Interessengemeinschaft der eine Vertragspartner ständig auch die Interessen des anderen wahrnimmt22 • (3) Auskunftsansprüche aus Eingriffen in fremde Rechte mit der Grundregel in §§ 687 1,681 n, 666 BGB. Hierunter lassen sich beispielsweise die Auskunftsrechte des Erben gegen den Scheinerben nach § 2362 n BGB oder den Erbschaftsbesitzer nach § 2027 BGB rubrizieren23 • Hier sind auch die praktisch äußerst wichtigen Informationsverpflichtungen im Bereich des gewerblichen Rechtsschutzes und des Wettbewerbsrechts einzuordnen. So muß der Patent- oder Urheberrechtsverletzer alle Einzelheiten angeben, die zur Kontrolle seiner Rechnungslegung und zur konkreten Berechnung der Schadenshöhe des Verletzten erforderlich sind 24 . Im Wettbewerbsrecht muß ein früherer Arbeitnehmer, der einem vertraglichen Wettbewerbsverbot unterliegt, seinen neuen Arbeitgeber

21 Seit RGZ 110, S. 1, 15 ff., und RGZ 168, S. 348 ff.; st. Rspr., vgl. etwa BGHZ 10, S. 386 f.; BGH NJW 1959, S. 1963; BGH LM Nr. 1 zu § 740 BGB. 22 BGH NJW 1957, S. 1026; Staudinger-Selb, § 259 BGB Rn 5; MüKo-Keller, § 259 BGB Rn 6 ff.; RGRK-Alff, § 259 BGB Rn 4. 23 Vgl. hierzu näher Stürner, Die Aufklärungspflicht der Parteien des Zivilprozesses, S.289. 24 BGH NJW 1973, S. 1837; BGH NJW 1978, S. 1002; BGH MDR 1962, S. 459; BGH LM Nr. 15 zu § 47 PatG; OLG Frankfurt WRP 1972, S. 474 (zu § 14 GeschmacksMG); zu dieser Rechtsprechung vgl. ausführlich Pietzner, Auskunft, Rechnungslegung und Schadensersatz für wettbewerbsschädigende Eingriffe in fremde Firmenrechte, GRUR 1972, S. 151 ff.

3.1 Die Ausgangslage im allgemeinen Zivilrecht

39

offenbaren25 und über verbotswidrig abgeschlossene Verträge Auskunft erteilen 26 . Eine öffentliche Körperschaft muß gegebenenfalls die Adressaten ihres Boykottaufrufs anführen 27 . Besondere Probleme ergeben sich allerdings bei diesen von der Rechtsprechung im Anschluß an § 687 I BGB entwickelten Auskunftsansprüchen deshalb, weil hier häufig die Gefahr besteht, daß die Auskunft ihrerseits vom Auskunftsberechtigten zu vertragsfremden Zwecken, zu eigenem Wettbewerb oder zum Kennenlernen des Kundenstamms eines Mitbewerbers etc. eingesetzt wird. Hier dient die Auskunft nicht zur Nachprüfung, sondern zur Ausforschung. Die Rechtsprechung hilft sich in solchen Fällen durch eine Versagung der begehrten Informationserteilung aufgrund von Treu und Glauben 28 oder verweist den Informationsberechtigten darauf, Auskunft an eine zur Vertraulichkeit verpflichtete Person zu fordern 29 . (4) Auskunftsansprüche zur Klärung von Anspruchsvoraussetzungen, der Anspruchsberechnung oder von Einwendungen des Schuldners. Hier lassen sich beispielsweise einordnen die Auskunftsrechte nach § 1379 BGB oder im Erbrecht beim Pflichtteilsberechtigten nach § 2314 BGB bzw. nach der Rechtsprechung auch des Beschenkten nach §§ 2325, 2324 BGB30. Eine andere Einteilung abgeleiteter Informationsverpflichtungen befürwortet nunmehr Winkler v. Mohrenfels31 . Er orientiert sich dafür weniger an zugrundeliegenden typischen Grundmodellen, sondern stellt stärker auf den jeweiligen Zweck der Gewährung eines Auskunftsanspruchs ab. Die Informationsverpflichtungen aus der zweiten Gruppe der vorstehenden Einteilung zunächst nennt er relatorisch, weil sie insbesondere dazu dienen, Handlungen des Informationsverpflichteten im Interesse des Informationsberechtigten zu kontrollieren 32 . Davon werden als andere wichtige Hauptgruppe die sogenannten präparatorischen Informationsverpflichtungen unterschieden, die insbesondere der Vorbereitung und Festlegung von Ansprüchen oder Einreden BAG AP Nr. 12 zu § 242 BGB. BGH NJW 1957, S. 1026. 27 BGHZ (GS) 67, S. 81 ff. 28 BGHZ 10, S. 387; BGHZ 14, S. 58; BGH NJW 1966, S. 1117; BGH JZ 1976, S. 318; BGH GRUR 1974, S. 53; dazu näher Gottwald, BB 1979, S. 1784 ff., und Pietzner, GRUR 1972, S. 151 f. 29 St. Rspr., vgl. BGHZ 10, S. 388 f.; BGH GRUR 1957, S. 336. 30 So die st. Rspr., vgl. BGHZ 33, S. 373; BGHZ 55, S. 378 und BGHZ 61, S. 184. 31 Winkler v. Mohrenfels, Abgeleitete Informationspflichten im deutschen Zivilrecht, Habilschrift, unveröff. Manuskript; vgl. auch die Einteilung bei Hellmann, Materiellrechtlicher Auskunftsanspruch und prozessuale Auskunftspflicht, Diss. 1978, S. 50 ff., 67 ff., 83 ff. 32 Winkler v. Mohrenfels, Abgeleitete Informationspflichten im deutschen Zivilrecht, S. 72 ff. 25 26

40

3. Informationelle Probleme in typischen Zivilrechtskonflikten

dienen33 • Es sind hier also die typischen Hilfsansprüche aut Information gemeint, die der Durchsetzung oder Abwehr eines Hauptanspruchs gewidmet sind und die vorstehend der vierten Gruppe zugeordnet wurden. Im übrigen sind noch kompletorische, kompensatorische und testatorische Auskunftsverpflichtungen gesondert aufgeführt. Kompletorische Informationsverpflichtungen dienen dazu, dem Leistungsempfänger im Hinblick auf die Hauptleistung eine zweckentsprechende Nutzung bzw. einen uneingeschränkten Leistungsgenuß zu ermöglichen34 • Hier wären also beispielsweise Ansprüche des Mieters auf Information über das Funktionieren der Heizungsanlage im gemieteten Haus einzuordnen. Kompensatorische Informationsverpflichtungen hingegen werden die Auskunftsansprüche genannt, die im Zusammenhang von Schadensersatzansprüchen oder Ansprüchen auf Beseitigung von Störungen stehen35 . Im wesentlichen sind dies die Ansprüche aus dem dritten Bereich der vorstehenden Einteilung. Die testatorische Informationsansprüche 36 zuletzt sind diejenigen abgeleiteten Ansprüche, die wie zum Beispiel § 2028 BGB für die Hausgenossen des Erblassers oder § 810 BGB für den Urkundenbesitzer Informationsverpflichtungen im Drittinteresse normieren. Hier ist die Situation die einer quasi materiell-rechtlichen Zeugnisverpflichtung, die insbesondere durch fehlende Rechtsverfolgung gegenüber den AuskunftsverpfIichteten gekennzeichnet ist. 3.1.2.2 Die Ausweitung der Informationsansprüche durch die Rechtsprechung über eine GeneraIklausel aus § 242 BGB Trotz der - besonders im Bereich der Ansprüche auf Auskunft als Nebenanspruch zur Klärung von Anspruchsinhalten - festzustellenden Tendenz zur Ausweitung der Informationsansprüche unter Heranziehung von § 242 BGB betont die Rechtsprechung immer wieder, daß dem Zivilrecht eine nicht aus besonderen Rechtsgründen abgeleitete, generelle Informationsverpflichtung fremd sei37 • Insbesondere soll nicht jeder Eingriff in fremde Rechte, jeder Schadensersatzanspruch oder jede Unsicherheit über das Bestehen bzw. über den Umfang eines Rechtes generell mit einem Nebenanspruch auf entsprechende Auskunft durch den Schuldner verbunden sein. Allein die Kenntnis von Tatsachen, die für jemand anders von rechtlicher Bedeutung sein können, verpflichtet noch nicht zur Auskunftserteilung. Ebenda, S. 21 ff. Ebenda, S. 81 ff. 35 Ebenda, S. 94 ff. 36 Ebenda, S. 85 ff. 37 Allgemeine Ansicht, vgl. etwa BGH NJW 1981, S. 1773; Soergel-Knopp, § 242 BGB Rn 143 maN; MüKo-Keller, § 260 BGB Rn 8 ff. 33

34

3.1 Die Ausgangslage im allgemeinen Zivilrecht

41

Diesseits der Grenze bestehender Rechtsbeziehungen zwischen zwei Personen hat die Rechtsprechung § 242 BGB aber durchgängig im Sinne einer "Generalklausel" für Auskunftsansprüche in den Fällen angesehen, in denen es dieses Rechtsverhältnis "seiner Natur nach" mit sich bringt, daß "der Berechtigte in entschuldbarer Weise über das Bestehen und dem Umfang seines Rechts im ungewissen, der Verpflichtete aber in der Lage ist, unschwer solche Auskünfte zu erteilen"38. Diese Formel hat inzwischen Eingang in alle Rechtsbereiche des materiellen Zivilrechts gefunden 39 . Um eine uferlose Ausdehnung materieller Informationsansprüche zu vermeiden, hat die Rechtsprechung den besonderen Zusammenhang zum Bestehen eines Rechtsverhältnisses und damit eines Hauptanspruches betont, sodaß sichergestellt sein muß, daß ein Anspruch des Informationsbegehrenden dem Grunde nach besteht und sich nur das Ausmaß, der Umfang dieses Anspruchs aus der Auskunft ergeben so1l40. In einigen Bereichen geht aber die Rechtsprechung trotz der immer wieder betonten Nichtannahme einer generellen Auskunftsverpflichtung (als eines Fremdkörpers im materiellen deutschen Zivilrecht) doch über die geschilderte Voraussetzung des Feststehens eines Hauptanspruchs hinaus. Dies tut etwa der BGH insbesondere im Erbrecht, wenn er Auskunftsansprüche gegen den "möglicherweise" Beschenkten über § 242 BGB zuerkennt - in Fällen also, in denen nicht nur der Umfang, sondern auch das Bestehen eines Rechtes ungeklärt ist und deshalb dem Erben ein Auskunftsrecht gegen den bloß möglicherweise Beschenkten zugebilligt wird, soweit dieser dadurch nicht unbillig belastet wird41 . Auf dieser Linie liegt auch die Rechtsprechung des BAG, das innerhalb vertraglicher Beziehungen schon den Verdacht auf eine zum Schadensersatz verpflichtende Handlung als ausreichende Basis der 38 So RGZ 108, S. 1,7; seither st. RspI., vgl. etwa BGHZ 10, 387; BGH NJW 1978, S. 1002; Soergel-Schmidt, § 259 ff. BGB Rn 6; MüKo-Keller, § 259 BGB Rn 2 und § 260 BGB Rn 8; Palandt-Heinrichs, § 261 BGB Anm 2 d. 39 Zum praktisch besonders wichtigen Bereich des gewerblichen Rechtsschutz und bei Wettbewerbsverstäßen siehe die Nachweise oben, Fn 24 und 25 ff.; zur Informationsverpflichtung des Arztes vgl. BGH NJW 1983, S. 328, und Kern / Laufs, Die ärztliche Aufklärungspflicht, 1983, S. 53 ff.; zum Auskunftsrecht im Bereich des Handelsvertreterrechts bei Provisionen, Umsatzbeteiligung etc. vgl. BAG AP NI. 24 und § 74 HGB; BAGE 7, S. 51 ff.; BAG AP NI. 1 und 3 zu § 242 BGB-Auskunftspflicht; BGHZ 55, S. 201, und Wolff, BB 1978, S. 1246 ff.; im Versicherungsrecht vgl. Lorenz, Die Auskunftsansprüche der Versicherten zur Überschußbeteiligung in der Lebensversicherung, 1983, S. 27 ff.; 39 ff.; Angerer, Information durch Rechenschaftslegung, FS für H. Gerhardt, 1975, S. 5 ff.; zur Haftpflichtversicherung vgl. Wussow, NJW 1962, S. 420 ff. 40 St. RspI., vgl. BGHZ 74, S. 379; BGHZ 81, S. 21, 24; BGHZ 82, S. 132, 137; BGH NJW 1983, S. 2318, und zuletzt BGH NJW 1986, S. 423; OLG Celle GRUR 1977, S. 262. 41 So insbesondere BGHZ 61, S. 184; vgl. auch BGHZ 58, S. 237 ff. und BGHZ 55, S.378.

42

3. Informationelle Probleme in typischen Zivilrechtskonflikten

Gewährung eines Informationsanspruchs genügen läßt42 • Dies ist in der Lehre mit der Argumentation kritisiert worden, daß hier der Auskunftsanspruch nicht mehr zur Klärung des Inhalts oder Umfangs eines Anspruchs gewährt wird, sondern auf diesem Wege dem Informationsberechtigten ein Weg zur Gewinnung zu Auskünften über die anspruchsbegründenden Tatsachen selbst eröffnet wird43 .

3.1.3 Die informationeUen Folgen bei §§ 282, 285 BGB Im Bereich der §§ 282 und 285 BGB läßt sich ein gänzlich anderer Mechanismus zur Bewältigung informationeller Probleme studieren als bei den vorstehend besprochenen materiellen Informationsansprüchen des Zivilrechts. Hier wird der einleitend zum Ausgangspunkt genommene Konflikt um die informationellen Dilemmata eines potentiellen Anspruchsstellers nicht dadurch zu lösen versucht, daß für diesen möglichst die notwendigen Informationen beschaffbar gemacht werden, daß er diese etwa beim Anspruchsgegner oder bei Dritten abrufen kann. Der im Bereich der §§ 282, 285 BGB gewählte Ausgangspunkt läßt sich vielmehr dahingehend beschreiben, daß für die potentiellen Anspruchssteller eine Lösung solcher Probleme dadurch gesucht wird, daß im Wege der Beweislastüberwälzung an der Notwendigkeit, sich überhaupt entsprechende Informationen zu beschaffen, selbst angesetzt wird. 3.1.3.1 Grundparameter eines Beweislastmechanismus

Um die Wirkungsweise eines solchen Beweislastmechanismus zu begreifen, müssen zunächst einige wesentliche Parameter auseinandergehalten werden. Zunächst gilt es, die objektive (materielle) Beweislast von der subjektiven (formellen) Beweislast oder Beweisführungslast zu unterscheiden. Diese subjektive Beweislast betrifft die Frage, welche Partei für einen bestimmten Sachvortrag oder ein bestimmtes Tatbestandsmerkmal Beweis zu führen hat oder genauer, Beweis anzubieten hat44 • Sie betrifft also insbesondere die uns interessierende Frage der Informationserbringung im Prozeß. Darauf wird später 42 Vgl. SAG DB 1972, S. 1831 f.; BAG AP Nm. 12, 13 zu § 242 BGB-Auskunftspflicht; ähnlich auch OLG Frankfurt OLGZ 1974, S. 460, und BGH NJW 1983, S.2318. 43 Vgl. Lüderitz, Ausforschungsverbot und Auskunftsanspruch bei Verfolgung privater Rechte, 1966, S. 32 ff.; Stümer, JZ 1976, S. 320 ff., und in: Die Auskunftspflicht der Parteien des Zivilprozesses, S. 297 f. 44 Vgl. dazu Rosenberg, Die Beweislast auf der Grundlage des BGB und der ZPO, 5. Auflage, 1965, S. 16, 24; Grunsky, Grundlagen des Verfahrensrechts, 2. Auflage, 1974, § 41 11; Prütting, Gegenwartsprobleme der Beweislast, 1983, S. 24 ff.; zur Geschichte vgl. Musielak, Die Grundlagen der Beweislast im Zivilprozeß, 1975, S. 196 ff., 203 ff.

3.1 Die Ausgangslage im allgemeinen Zivilrecht

43

noch zurückzukommen sein 45 • Demgegenüber betrifft die objektive Beweislast die davon zu unterscheidende Frage, welche Partei das Risiko zu tragen hat, wenn eine bestimmte Tatsache nicht beweisbar ist, also im Prozeß endgültig unaufklärbar bleibt. Bei dieser objektiven Beweislast (Beweisrisiko, Beweisgefahr) geht es also um die Verteilung der prozessualen Folgen eines non liquet46 . Ihre Aufgabe ist damit die Erhaltung der Entscheidungsfähigkeit des Gerichts trotz unaufklärbaren Sachverhalts. Sie ist daher immer nur ein letztes Mittel des Gerichts, doch noch zu einer Entscheidung des Konflikts zu kommen und die Situation des non liquet zu überwinden47 • Es dürfte einleuchtend sein, daß diese Frage der Verteilung des Unaufklärbarkeitsrisikos unabhängig von der Verfahrensart und der Verteilung der Aufklärungsarbeit zwischen den Parteien oder zwischen Parteien und Gericht auftritt, also insbesondere auch im Verfahren unter der Herrschaft des Untersuchungsgrundsatzes und nicht nur bei Geltung der Verhandlungsmaxime48 • Weiter stellt sich die Frage, wie man sich das Verhältnis der Beweislast im vorbezeichneten Sinn zur Darlegungs- und Substantiierungslast der Parteien bei Geltung der Verhandlungsmaxime vorzustellen hat. Wie bei der Frage der Bestimmung der Einzelheiten der Figur der Beweislast soll uns das hier, wo es um das Kennenlernen der Wirkungsweise und des Funktionierens der verschiedenen zivilrechtlichen Instrumente bei der Lösung einzelner Aspekte unseres Problems geht, noch nicht in allen Einzelheiten interessieren 49 • Wichtig ist hier zunächst nur, daß die Darlegungs- und die Substantiierungslast in allen wesentlichen Bereichen gewöhnlich der jeweiligen Verteilung der Beweislast folgen. Sie sind eigentlich nichts anderes, als eine an die Verteilung des Beweisrisikos anknüpfende Verteilung des Risikos für die beiden Parteien eines Rechtsstreites, bestimmte Tatsachenbehauptung zur schlüssigen Stützung ihres Rechtsbegehrens aufzustellen, vorzutragen und gegebenenfalls im notwendigen Umfange zu spezifizieren50 • Dazu ausführlich unten Abschnitt 6.1. Rosenberg, Die Beweislast auf der Grundlage des BGB und der ZPO, S. 24 ff., 74 ff.; Rosenberg I Schwab, Zivilprozeßrecht, 13. Auflage, 1981, § 118 I, Prütting, Gegenwartsprobleme der Beweislast, S. 14 ff.; Musielak, Die Grundlagen der Beweislast im Zivilprozeß, S. 31 ff., 41 ff. 47 Vgl. dazu insbesondere Peters, Ausforschungsbeweis im Zivilprozeß, 1966, S. 98 mit eingehenden Nachweisen. 48 Heute wohl allgemein akzeptierte Ansicht, vgl. Leipold, Beweislastregeln und gesetzliche Vermutungen, 1966, S. 127; Rosenberg, Die Beweislast auf der Grundlage des BGB und der ZPO, S. 24; Rosenberg I Schwab, Zivilprozeßrecht, § 118 I 2; Musielak, Die Grundlagen der Beweislast im Zivilprozeß, S. 31 f.; Prütting, Gegenwartsprobleme der Beweislast, S. 7. 49 Vgl. ausführlich dazu unten Abschnitt 6.1 und 6.2. 50 Dazu neuerdings Brehm, Die Bindung des Richters an den Parteivortrag und die Grenzen freier Verhandlungswürdigung, 1982, S. 51 ff. und passim; Rosenberg, Die Beweislast auf der Grundlage des BGB und der ZPO, S. 43 ff.; Rosenberg I Schwab, 45

46

44

3. Informationelle Probleme in typischen Zivilrechtskonflikten

3.1.3.2 Spezielle Funktionsvoraussetzungen eines Beweislastmechanismus

Besonderes Kennzeichen der in §§ 282, 285 BGB gewählten Strategie gegenüber den zuvor geschilderten materiellen Auskunftsansprüchen ist, daß dabei auch die Situationen bewältigbar erscheinen, bei denen entsprechende Informationen überhaupt nicht verfügbar sind, also die sonst denkbare Informationsbeschaffung über den Anspruchsgegner oder Dritte ins Leere gehen müßte. In anderer Hinsicht ergeben sich allerdings wiederum Einschränkungen für die Anwendungsmöglichkeiten dieser Strategie. Die hier beschäftigenden Informationsnotwendigkeiten resultieren, wie gesehen, je wesentlich aus einer Reihe von grundsätzlichen Gestaltungsfaktoren im Zivilprozeß der ZPO und der Stellung der Parteien in diesem Verfahren. Setzt man also an der Pflicht der Parteien zur schlüssigen Darlegung der anspruchsbegründenden Tatsachenbehauptungen bzw. der Angriffs- und Verteidigungsmittel sowie deren substantiierten Vortrag an, setzt man an der Pflicht zur genauen Bestimmung ihrer Anträge und Ansprüche oder der Beibringung der Beweismittel an, so werden entsprechend verminderte Anforderungen auf der einen Seite insbesondere Wirkungen im Verhältnis zum Anspruchs- oder Prozeßgegner entfalten. Dies ist inhaltlich häufig gerade gewollt und auch ohne weiteres funktional, wenn die informationellen Gegebenheiten so sind, daß gerade der Anspruchsgegner bestens Bescheid weiß oder sich über die erforderlichen Tatsachen leicht orientieren kann. Befinden sich diese Informationen aber bei Dritten oder geht es sogar um die detaillierte Gestaltung und Planung komplexerer Abläufe (wie verschiedentlich im Arbeitsrecht) und nicht einfach um Zahlungsansprüche, so werden hier zusätzliche Probleme entstehen, zusätzliche Überlegungen zu einer sinnvollen Risikoverteilung erforderlich oder doch andere Ansatzpunkte und Strategien zur Bewältigung der Probleme (ergänzend) heranzuziehen sein. 3.1.3.3 Inhalt der §§ 282, 285 BGB und Gefahrenbereichslehre

Aus §§ 282, 285 BGB ergibt sich nun, daß im Falle der Unmöglichkeit oder des Verzugs 51 der Gläubiger nicht die Beweislast für Vertretenmüssen oder Verschulden des Schuldners hat, sondern daß diese Beweislast den Schuldner Zivilprozeßrecht, § 118 V; Leipold, Beweislastregeln und gesetzliche Vermutungen, S. 99 ff.; Prütting, Gegenwartsprobleme der Beweislast, S. 44 ff.; gegen die strenge Bindung der Behauptungslast an die Beweislastverteilung Musielak, Die Grundlagen der Beweislast im Zivilprozeß, S. 50 ff.; dagegen Prütting, Gegenwartsprobleme der Beweislast, S. 45 f. 51 So die ganz herrschende Lesart von § 285 BGB, vgl. etwa BGH VersR 1983, S. 61 ff.; BGH NJW 1982, S. 635.

3.1 Die Ausgangslage im allgemeinen Zivilrecht

45

trifft, der sich insofern im Sinne eines Befreiungsgrundes entlasten muß. Sehr schnell haben sich im Bereich dieser Vorschriften um die Frage ihrer Reichweite, um ihre Analogiefähigkeit für ähnlich gelagerte Konfliktsituationen, ja sogar um das Bestehen eines durch diese beiden Vorschriften im Gesetz zum Ausdruck gekommenen allgemeinen Rechtsgrundsatzes und um die dieser Verteilung der Beweislast zugrunde liegenden Sachgründe eine Reihe von Kontroversen ergeben. Zunächst bestand im Bereich der vertraglichen Leistungsstörungen eine ähnlich gelagerte Situation bei der Schlechterfüllung vertraglicher Verpflichtungen, bei der sich sehr schnell Befürworter einer Analogie zu §§ 282, 285 BGB fanden 52 , nachdem sich ein Ersatzanspruch nach den Regelungen über das Institut der positiven Vertragsverletzung (pVV) durchgesetzt hatte 53 . Heute ist diese Analogie für die p VV ebenso anerkannt wie für die Haftung aus culpa in contrahendo54 oder für sonstige vertragliche Ansprüche aus nahezu allen Arten von schuldrechtlichen Verträgen 55 , bei denen eine ähnliche Interessenlage besteht. Die Rechtsprechung hat sich für diese sehr extensive Anwendung der Beweislastverteilungsregel in §§ 282, 285 BGB darauf berufen, daß es sachgerecht sei, dem Schuldner insoweit die Beweislast aufzuerlegen, weil dieser in der Regel den zu beweisenden Tatsachen am nächsten steht und diese deshalb auch zumeist am besten aufklären kann. Dieser Gesichtspunkt der Sachnähe zu den Aufklärungsmöglichkeiten und den Beweismitteln wurde weiter verdichtet zu einer Lehre von der Beweislastverteilung nach Gefahrenbereichen oder entsprechenden "Einflußsphären" der beiden Vertragspartner56 . Die Lehre ist dem überwiegend nicht gefolgt, sondern orientiert sich statt an einer Verteilung nach Gefahrenbereichen stärker an der Analogie zum Regelungsinhalt von §§ 282,285 BGB57. Zwar wird

52 Vgl. Raape, Die Beweislast bei positiver Vertragsverletzung, AcP 147 (1941), S. 212 ff.; für die entsprechende Rechtsprechung des Reichsgerichts vgl. RGZ 148, S. 148, 150; RGZ 169, S. 97; RGZ 112, S. 42. 53 Im Anschluß an die Schrift von Staub, Die positiven Vertragsverletzungen, 1904; neu herausgegeben mit Jhering, cic, und einem Nachwort von Eike Schmidt, 1969. 54 BGHZ 66, S. 64; BGHZ 67, S. 387; BGH NJW 1962, S. 31; BAG DB 1977, S. 1323. 55 BGHZ 27, S. 238; BGHZ 34, S. 321; BGHZ 48, S. 312; BGH WPM 1972, S. 584; OLG Köln MDR 1983, S. 402; vgl. auch Palandt-Heinrichs, § 282 BGB Anm 2; MüKoEmmerich, vor § 275 BGB Rn 295 ff. 56 Seit RGZ 148, S. 148 ff., st. Rspr., vgl. ausführlich BGH NJW 1980, S. 2186; am weitestgehenden in der Lehre hier wohl Prölls, ZZP 82 (1969), S. 468, 471 (Urteilsanmerkung) und in seiner Monographie zu: Beweiserleichterungen im Schadensrecht, 1966, S. 65 ff, 83, der diese Lehre zur Beweislastverteilung nach den "tatsächlichen Lebensbereichen" im Schadensersatzrecht verdichten möchte; vgl. dazu Reinecke, Die Beweislastverteilung im Bürgerlichen Recht und Arbeitsrecht als rechtspolitische Entwicklungsaufgabe, 1976, S. 48 ff., 150 ff., sowie Hübner, Schadenzurechnung nach Risikosphären, 1974, S. 97 ff.

46

3. Infonnationelle Probleme in typischen Zivilrechtskonflikten

auch dort angenommen, daß sich die Beweislastverteilung in §§ 282, 285 BGB sachlich dadurch rechtfertigen läßt, daß gewöhnlich am ehesten der Schuldner beurteilen kann, ob die Gründe der Nicht-, Spät- oder Schlechtleistung auf ein ihm zurechenbares Verhalten zurückzuführen sind oder nicht - daß also eine gewisse Sachnähe des Schuldners vorliegt. Regelmäßig wird jedoch ergänzend darauf verwiesen, daß als weitere sachliche Legitimation für die Beweislastverteilung nach §§ 282, 285 BGB die vertragliche Verbundenheit von Gläubiger und Schuldner eine wesentliche Rolle spielt58 • Sie führt erst zur Herausbildung einer gewissen Leistungserwartung beim Gläubiger, bei deren Durchbrechung vom Schuldner Darlegungen und Beweismittel dahingehend zu erwarten sind, ob die entsprechenden Störungen auf sein Verhalten zurückzuführen sind oder nicht. Besondere Kritik an der Gefahrenbereichslehre entzündet sich auch daran, daß das Kriterium des "Gefahrenbereichs" oder der "Sphäre" nur sehr vage und diffus ist, sich also schwer abgrenzen läßt und sich deshalb im Kern dahinter letztlich unter einem anderen Etikett nichts anderes als eine umfassende Interessenabwägung der vertraglichen Ptlichten- und Risikokonstellation verbirgt, die dann für die Zuordnung von Beweislastrisiken und von Verantwortungsbereichen ausschlaggebend ist59 • 3.1.3.4 Die Ausdehnung der Beweislastregel der §§ 282, 28S BGB auf Kausalität und Verletzungshandlung durch die Rechtsprechung

Unter dem hier verfolgten Blickwinkel der Beschäftigung mit der Beweislastverteilung entsprechend §§ 282, 285 BGB ist weiter von großem Interesse, ob man die Beweislast des Schuldners auf den Bereich seiner Verantwortung (Verschulden) für sein Verhalten beschränkt. Häufig werden entsprechende 57 Vgl. schon Raape, Die Beweislast bei positiver Vertragsverletzung, AcP 174 (1941), S. 217; Reischauer, Der Entlastungsbeweis des Schuldners, 1974, S. 93 ff.; Stoll, Die Beweislastverteilung bei positiven Vertragsverletzungen, FS für Hippel, 1967, S. 517 ff.; Musielak, Beweislastverteilung nach Gefahrenbereichen, AcP 176 (1976), S. 471 ff., und Musielak / Stadler, Grundfragen des Beweisrechts, 1984, S. 127; Prüuing, Gegenwartsprobleme der Beweislast, S. 190 ff., 213 ff, 217 f; Schwab, Zur Abkehr moderner Beweislastlehren von der Nonntheorie, FS für J. Bruns, 1978, S. 505 ff., 514; MüKo-Emmerich, vor § 275 BGB Rn 295, 305 ff. 58 Dazu Musielak, Beweislastverteilung nach Gefahrenbereichen, AcP 176 (1976), S. 473 ff.; Musielak / Stadler, Grundfrage des Beweisrechts, S. 129 f., und Gottwald, Grundprobleme der Beweislastverteilung, Jura 1980, S. 225 ff., 232. 59 So eindrucksvoll Musielak, Beweislastverteilung nach Gefahrenbereichen, AcP 176 (1976), S. 471 ff.; Stoll, Haftungsverlagerung durch beweisrechtliche Mittel, AcP 176 (1976), S. 154 ff.; Walter, Freie Beweiswürdigung, 1979, S. 248; Schwab, Zur Abkehr moderner Beweislastlehren von der Nonntheorie, FS für H. J. Bruns, S. 515. Eine begriffliche Klärung versucht auch die Monographie von v. Schenk, Der Begriff der "Sphäre" in der Rechtswissenschaft, 1977, wobei aber letztlich eher die Bedenken gegen diese Begrifflichkeit und ihre Trennschärfe belegt werden.

3.1 Die Ausgangslage im allgemeinen Zivilrecht

47

Informationsdilemmata beim Gläubiger nicht nur hinsichtlich der Verantwortung des Schuldners, sondern auch hinsichtlich der entsprechenden Verletzungshandlung gegeben sein. Während die Rechtsprechung in einigen Fällen eine derartige Ausdehnung über Erwägungen aus der Gefahrensbereichslehre eher anerkennen möchte 60 , wird die sachliche Notwendigkeit solcher Ausdehnung von der Literatur bestritten61 . Die durch eine solche Ausdehnung mögliche Verschiebung in der Gestaltung der informationellen Rahmenbedingungen läßt sich besonders gut anhand der Rechtsprechung zur Haftung wegen positiver Vertragsverletzung im Mietrecht erkennen: Die übliche Anwendung von § 282 BGB führt hier dazu, daß beispielsweise der Mieter für seinen pVV-Anspruch zunächst die Beweislast hinsichtlich der objektiven Vertragsverletzung durch den Vermieter sowie der Kausalität dieser vermieterseitigen Handlung im Hinblick auf den eingetretenen Schaden trägt. Der Vermieter hat sich danach gemäß § 282 BGB für sein Verschulden zu entlasten. Während diese Anwendung des § 282 BGB für Ansprüche des Mieters aus p VV im Mietrecht allgemein ohne weiteres anerkannt wird62 , wird allerdings die Situation im gegenteiligen Fall - bei einem Anspruch des Vermieters gegen den Mieter aus positiver Vertragsverletzung des Mieters - von Rechtsprechung und herrschender Lehre ganz abweichend beurteilt. In diesem Falle soll der Vermieter weder die Ursache, Verletzungshandlung etc. noch deren Kausalität für den eingetretenen Schaden am Mietgegenstand darlegen und beweisen müssen, sondern seine Beweislast beschränkt sich darauf, daß er dem Mieter die Sache in ordnungsgemäßem Zustand übergeben hat 63 . Für alle anderen Gesichtspunkte hat sich der Mieter zu entlasten, nachdem feststeht, daß der Schaden während seiner Nutzung der Mietsache eingetreten ist. Der Mieter hat also den objektiven Tatbestand der Schadensursache oder der schädigenden Handlung, dann die Kausalität dieser Ursache für den eingetretenen Schaden sowie nicht zuletzt den Nachweis, daß ihn insofern kein Verschulden trifft (weil etwa der Schaden aus dem vertragsgemäßen Gebrauch

60 Vgl. BGHZ 27, S. 236, oder die gleich folgenden Rechtsprechungsbeispiele zum Mietrecht, insbesondere so BGHZ 66, S. 349 ff.; zu diesen Tendenzen eingehend Larenz, Zur Beweislastverteilung nach Gefahrenbereichen, FS für Hauß, 1978, S. 228 ff. 61 Vgl. insbesondere Musielak, Beweislastverteilung nach Gefahrenbereichen, AcP 176 (1976), S. 473 ff. mit eingehenden Nachweisen; StolI, Haftungsverlagerung durch beweisrechtliche Mittel AcP 176 (1976), S. 153. 62 BGH NJW 1978, S. 2197. 63 Eingehend BGHZ 66, S. 349 ff.; BGHZ MDR 1980, S. 278 ff.; hM, vgl. OLG Hamburg MDR 1966, S. 846 f.; OLG Düsseldorf OLGZ 1975, S. 318 f.; Wichardt, ZMR 1979, S. 197; Tondorf, Wohnungswirtschaft und Mietrecht 1975, S. 237; Hoepfner, ZMR 1962, S. 289; RGR-Gehlhaar, § 548 BGB Rn 12 f.; Staudinger-Emmerich / Sonnenschein (2. Bearbeitung), § 537 BGB Rn 24 d; Sternei, Mietrecht, V 20.

48

3. Informationelle Probleme in typischen Zivilrechtskonflikten

der Sache gern. § 548 BGB entstanden sei), substantiiert darzulegen und erforderlichenfalls dafür auch Beweis anzubieten. Etwa im Falle eines Brandes mit der Folge einer Beschädigung oder Zerstörung der Mietsache führt die Unaufklärbarkeit der Brandursachen so zu großen Informationsrisiken des Mieters, wenn er sich entsprechenden Ansprüchen des Vermieters ausgesetzt sieht. Dies wird noch dadurch verschärft, daß im umgekehrten Fall dem Mieter für seine Ansprüche gegen den Vermieter nach dieser allzu extensiven Auffassung zu § 282 BGB keine vergleichbare Überwälzung seiner informationellen Risiken wie dem Vermieter zugebilligt wird64 . Überwiegend wird deshalb in der Lehre diese auf Gefahrensbereichsüberlegungen gestützte Lösung der informationellen Probleme im Wege einer extensiven Anwendung von § 282 BGB auf die Ansprüche des Vermieters vermieden bzw. jedenfalls für solche Schäden abgelehnt, bei denen aufgrund einer gewissen Langfristigkeit durchaus in Betracht kommt, daß sie Folge der vertragsgemäßen Abnutzung der Mietsache sein können. Zumindest im Bereich dieser Schäden solle deshalb der anspruchstellende Vermieter auch die Darlegungs- und Beweislast dafür haben, daß eine über den vertragsgemäßen Gebrauch hinausgehende, schädigende Handlung des Mieters kausale Schadensursache sei65 .

3.2 Das Verhältnis von Arzt und Patient Eine gewaltige Entwicklung hat sich bei der rechtlichen Ausgestaltung des Verhältnisses von Arzt und Patient ergeben. Sie erfolgte nicht durch den Gesetzgeber, sondern im Wege der Rechtsfortbildung der Arzthaftung im Kunstfehlerprozeß, der ärztlichen Aufklärungspflicht sowie der ärztlichen Dokumentationspflicht durch Rechtsprechung und Lehre. Diese Entwicklung im Verhältnis von Arzt und Patient mag als erster Beleg für die einleitend aufgestellte These dienen, daß informationelle Probleme im zivilrechtlichen Bereich insbesondere dort entstehen und in den Vordergrund der Diskussion drängen, wo besonders rasche Entwicklungen in unserer Gesellschaft, in der Technik oder in der Wissenschaft stattgefunden haben. Der Patient ist heute sehr viel weniger bereit, sich der ärztlichen Autorität auf Gedeih und Verderb auszuliefern. Er hat heute viel mehr Fragen an den Arzt, 64 So insbesondere BGHZ 66, S. 349 ff., für Ansprüche des Vermieters und BGH NJW 1978, S. 2197 ff., für Ansprüche des Mieters; beide mwN. Der BGH weist dabei von sich, daß er so contra legern eine Zufallshaftung des Mieters konstruiere, vgl. BGHZ 66, S. 349,353 f. 65 Vgl. dazu Hoepfner, ZMR 1962, S. 289; Wichardt, ZMR 1979, S. 197; Sternel, Mietrecht, V 31; Staudinger-Emmerich / Sonnenschein (2. Bearbeitung), § 548 BGB Rn 23; Firgau, Aufklärungspflichten im Mietverhältnis, 1979, S. 19 ff.; zweifelnd auch OLG Düsseldorf OLGZ 1975, S. 320.

3.2 Das Verhältnis von Arzt und Patient

49

handelt stärker aus dem Bewußtsein, daß beim ärztlichen Heileingriff etwas mit ihm und seinem Körper passiert und will deshalb wissen, was der Arzt plant, welche Risiken dabei entstehen können, welche alternative Behandlungsmöglichkeiten in Frage kommen. Der Arzt muß sich heute diesem Wunsch nach mehr eigener Verantwortung und eigener Entscheidung des Patienten in einem (idealerweise für den mündigen Bürger) angestrebten und von Vertrauen getragenen PartnerschaftsverhäUnis stellen. So kann auch nicht wundem, daß Mißerfolge, fehlgeschlagene ärztliche Heileingriffe oder Therapien mit negativem Ausgang von den Betroffenen kaum je als unabänderliche Schicksalschläge akzeptiert werden, sondern daß - ähnlich wie übrigens schon bei der Krankheit selbst (Umwelt, Arbeitsbedingungen) - nach Ursachen und nach Verantwortlichen gesucht wird, die zur Verantwortung gezogen werden sollen und gegebenenfalls entstandene finanzielle Nachteile möglichst auch tragen sollen. Nicht nur im Bewußtsein der Patienten und ihrer Einstellung zum Arzt und zur Medizin haben sich allerdings Änderungen ergeben, sondern auch die medizinische Wissenschaft selbst hat sich - insbesondere in diesem Jahrhundert - ungeahnte Diagnose-, Behandlungs- und Therapiemöglichkeiten geschaffen und eine immense Entwicklung genommen. Ganz neue Perspektiven und Vorgehensmöglichkeiten, aber auch Kostenfolgen sind entstanden; ganz neue Risiken und völlig andere Gefährdungspotentiale sind zu berücksichtigen. Denn durch diese modemen technischen Möglichkeiten und die Kompliziertheit der damit verbundenen Geschehensabläufe sind natürlich auch die Ursachen für Mißerfolge unüberschaubarer und schwieriger aufzuklären, wodurch gegebenenfalls ein riesiger Informationsbedarf ausgelöst wird. Dieser Informationsbedarf wird noch ausgeweitet, soll das mit Verfassungsrang ausgestattete Grundrecht auf Selbstbestimmung, auf körperliche Unversehrtheit in der Praxis Wirkungen entfalten und gegen eine weitgehende Aushöhlung verteidigt werden. Der Schutz des Selbstbestimmungsrechts in Art. 2 GG und seine Drittwirkung für den zivilrechtlichen Bereich setzen deshalb wesentliche Maßstäbe für die rechtliche Beurteilung des Umfangs der notwendigen ärztlichen Aufklärung66 . Der Patient kann selbst eine sinnvolle Wahl zwischen Behandlungsalternativen, eine sinnvolle Entscheidung über die Vornahme eines Eingriffs, eine sinnvolle Entscheidung über die Durchführung einer bestimmten Therapie nur treffen, wenn er sich über die Tragweite seiner Entscheidung und deren Folgen soweit als möglich klar ist. Hierzu in Stand setzen kann ihn aber fast immer nur der Arzt.

66 Leitentscheidung ist die Entscheidung des BVerfG vom 25. Juli 1979, vgl. BVerfGE 52, S. 131 ff.

4 Haug

50

3. Informationelle Probleme in typischen Zivilrechtskonflikten

3.2.1 Die Bewältigung der Informationsprobleme im Kunstfehlerprozeß Die zentralen Fragen im Prozeß um einen ärztlichen Kunst- oder Behandlungsfehler67 gehen dahin, ob zunächst ein solcher Behandlungsfehler tatsächlich überhaupt vorliegt, dann, ob er ursächlich für den Mißerfolg der Behandlung, des Heileingriffs, der Therapie war und zuletzt, ob der der behandelnde Arzt diesen Fehler verschuldet und die erforderliche Sorgfalt, die von ihm zu erwarten war, verletzt hat. Der Patient, der von seinem Arzt entsprechenden Schadensersatz verlangt, befindet sich in einem großen Dilemma: Er weiß die Antwort auf diese drei Fragen nicht. Gewöhnlich kann er nicht einmal den objektiven Pflichtverstoß substantiiert darlegen, geschweige denn, die relevanten Tatsachen zum Bereich der Kausalität oder des Verschuldens vortragen. Auf der Suche nach Lösungsstrategien zur Bewältigung dieses Informationsproblems fallen sehr schnell die §§ 282, 285 BGB und ihr Ansatzpunkt an der Darlegungs- und Beweislast ins Auge. So wurde auch die Anwendbarkeit dieser Vorschriften und ihres Mechanismus auf Störungen des vertraglichen Verhältnisses zwischen Arzt und Patient von einigen Stellungnahmen in der Literatur befürwortet68 • Die Rechtsprechung hat dies unter Berufung auf Besonderheiten bei Art und Umfang der ärztlichen Leistung verneint69 • Die Diskussion hat sich an der generellen Anwendbarkeit des § 282 BGB allerdings zu Recht nicht weiter festgebissen, weil sehr schnell erkannt wurde, daß in der Praxis dem Patienten mit einer Beweiserleichterung gemäß § 282 BGB kaum zu helfen ist. Denn dies verlangt eine Darlegung des objektiven Behandlungsfehlers und der Kausalität durch den Patienten, ehe gemäß § 282 BGB für das Verschulden die Beweiserleichterung Platz greifen kann. Die Hauptschwierigkeit liegt indes vielmehr beim objektiven Fehler in der Behandlung als beim Arztverschulden. Somit stellt sich die Frage, ob man dem Patienten zur Bewältigung seiner Informationsnot durch Anwendung des Beweislastmechanismus insbesondere beim objekten Behandlungsfehler und beim Kausalzusammenhang helfen will, also seinen Informationsbedarf in diesen beiden Punkten herabsetzt. 67 Zum Begriff des Behandlungsfehlers vgl. näher Weyers, Gutachten zum 52. DIT 1978, Teil A, S. 16 f.; Bodenberg, Der ärztliche Kunstfehler als Funktionsbegriff zivilrechtlicher Dogmatik, 1983. 68 StolI, Haftungsverlagerung durch beweisrechtliche Mittel, AcP 176 (1976), S. 106; Gaupp, Beweisfragen im Rahmen ärztlicher Haftungsprozesse, Diss. 1969, S. 67 ff.; Laufs, Arztrecht, 3. Aufl., 1984, S. 141 ff.; Uhlenbruck, NJW 1965, S. 1059; MüKoMertens, § 823 BGB Rn 411 ff. 69 So schon RGZ 165, S. 338; vgl. weiter BVerfGE 52, S. 131; BGH NJW 1978, S. 584; BGH NJW 1969, S. 553.

3.2 Das Verhältnis von Arzt und Patient

51

Gerade bei schweren Behandlungsfehlern wird immer wieder Kritik an der einseitigen Überbürdung des informationellen Risikos auf den Patienten laut7°. Im Bereich der Kausalität bei Vorliegen grober Behandlungsfehler hat auch die Rechtsprechung die allgemeine Beweislastverteilung für unbillig gehalten und dem Patienten durch eine Umkehr der Beweislast (und damit der Behauptungs- und Darlegungslast) geholfen71 . Die Lehre hat dies insbesondere wegen der Abgrenzungsschwierigkeiten "grober" von einfachen Behandlungsfehlern kritisiert72 • Beim Kausalzusammenhang zwischen Fehlschlag, Schaden und Behandlungsfehler lassen sich teilweise noch anders Ergebnisse erzielen - nämlich wenn der Fall so gelagert ist, daß der eingetretene Schaden typischerweise nach aller ärztlicher Erfahrung auf den entsprechenden Behandlungsfehler zurückgeht. Obwohl dies bei weitem nicht immer gegeben sein dürfte, könnte in diesem Falle eine Verlagerung der Informationserbringung auf den Arzt nach den Regeln über den Beweis des ersten Anscheins einschlägig sein73 • Ist so prima facie ein Kausalzusammenhang bewiesen, muß der Arzt diesen Zusammenhang erschüttern, also beispielsweise substantiieren, daß andere, und speziell welche Ursachen denkbar sind, oder daß der Schaden schicksalhaft, unvermeidlich war74 • Die wesentlichen informationellen Schwierigkeiten des Patienten lassen sich allerdings durch diese nur manchmal einschlägi-gen Erleichterungen bei der Kausalität nicht ausräumen. Trotzdem bleibt es nach herrschender Meinung im übrigen bei den allgemeinen Regelungen, die so auch das Bundesverfassungsgericht mit dem Argument der notwendigen Vermeidung einer ärztli-

70 Weyers, Gutachten zum 52. DJT 1978, S. 32 f. mit ausführlichen Nachweisen; Kaufmann, Die Beweislastverteilung im Arzthaftungsprozeß, S. 90 f.; Laufs, Arztrecht, S. 141 ff.; MüKo-Mertens, § 823 BGB Rn 413 ff. 71 Vgl. insbesondere BGH NJW 1956, S. 1835; BGH NJW 1968, S. 2291 f.; BGH LM Nr. 21 zu § 823 (Aa) BGB; zur Abgrenzung des "groben" Behandlungsfehlers zuletzt zwei Entscheidungen des OLG Düsseldorf, vgl. VersR 1984, S. 446 und VersR 1985, S. 189,171. 72 Vgl. Kleinewefers / Wilst, VersR 1967, S. 617 ff., 625; Kleinewefers, VersR 1962, S. 197 ff.; Stoll, FS für v. Hippel, S. 552; Hofmann, Die Umkehr der Beweislast in der Kausalfrage, S. 28; Baumgärtel / Wittmann, JA 1979, S. 113 ff., 115; deutlich werden diese Schwierigkeiten in den schon zitierten beiden Entscheidungen des OLG Düsseldorf VersR 1984, S. 446, und VersR 1985, S. 171. 73 Im einzelnen dazu Weyers, Gutachten zum 52. DJT 1978, S. 35 ff.; Weissauer, Sitzungsbericht I zum 52. DIT 1978, S. 36 f.; Laufs, Arztrecht, S. 38 f., 141 ff.; Baumgärtei, Das Wechselspiel der Beweislastverteilung im Arzthaftungsprozeß, FS für R. Bruns, 1980, S. 93 ff.; Stürner, NJW 1979, S. 2335; Walter, ZZP 90 (1977), S. 270 ff.; Frantzki / Frantzki, NJW 1975, S. 2228. 74 Zur Rechtsprechung vgl. BGH NJW 1956, S. 1835; BGH NJW 1971, S. 243 f.; BGH NJW 1978, S. 1682; zur Lit. vgl. Nachweise Fn 73.

4*

52

3. Informationelle Probleme in typischen Zivilrechtskonflikten

chen Erfolgshaftung grundsätzlich für zulässig erachtet hat75 . Für das Vorliegen eines Behandlungsfehlers durch den Arzt ergeben sich über den Beweislastmechanismus somit also keine Erleichterungen für den Patienten im informationellen Bereich. Auffällig ist dabei allerdings, daß das Argument, Folge einer weitergehenden Gewährung einer Beweislastumkehr sei eine ärztliche Erfolgshaftung, kürzer greift, als es den Anschein hat. Es trifft nämlich nur die objektive Beweislast, also die Risikoverteilung bei endgültiger Unaufklärbarkeit von objektivem Fehler oder Kausalzusammenhang. Für die vor solcher Feststellung gegebenen informationellen Dilemmata des Patienten wäre durchaus eine Lösung über den "Beweislastmechanismus" denkbar gewesen. Die in diesem Stadium relevante subjektive Beweis(führungs)last oder die Darlegungs- bzw. Substantiierungslast ließe sich von der Verteilung der Last des objektiven Unaufklärbarkeitsrisikos abkoppeln und auf den Arzt überwälzen. Das Unaufklärbarkeitsrisiko mit ·der Folge der befürchteten Erfolgshaftung des Arztes bliebe dann aufgrund der besonderen Gegenheiten im Verhältnis von Patient und Arzt nach wie vor anders zugeordnet. Wie insofern aber gleich zu sehen sein wird, ist man im Arzthaftungsrecht auf zwei andere Lösungsansätze zur Entschärfung der informationellen Problematik des Patienten ausgewichen, nämlich auf ärztliche Aufklärung und ärztliche Dokumentation, die hier aus anderen - bei der ärztlichen Aufklärungspflicht insbesondere verfassungsrechtlichen - Gründen näher lagen.

3.2.2 Die ärztliche Aufklärungspflicht Eine wesentliche Informationsquelle für den Patienten liegt in der Aufklärungsverpflichtung des Arztes. Dieser hat nicht etwa nur im Sinne eines Auskunftsanspruchs auf die Fragen des Patienten zu antworten, sondern er muß von sich aus über die Notwendigkeit eines Heileingriffs oder die Risiken einer Operation aufklären. Im Sinne des vorliegenden Untersuchungsinteresses wird hier strategisch also nicht an der Herabsetzung des Informationsbedarfs des Patienten wie bei einer Beweislastregel angesetzt, sondern an der Ausweitung der Chance zur Erlangung der Information, der Erfüllung des Informationsbedürfnisses. Dies bietet sich hier schon deswegen an, weil dafür nicht nur Gesichtspunkte der Darlegungs- und Beweislast des Patienten sprechen, sondern weil entsprechende Risikoaufklärung im Dienste des Patienten schon verfassungsrechtlich geboten ist. Bei der Bestimmung des Umfangs dieser Aufklärungspflicht ergeben sich nun viele Schwierigkeiten76 . Dabei entstehen Fragen um die Zulässigkeit von

75 BVerfGE 62, S. 232 ff.; zur verfassungsrechtlichen Seite der Argumentation vgl. auch Stürner, NJW 1979, S. 2334 ff., und Weyers, Gutachten zum 52. DJT 1978, S. 25 ff., 98 ff.

3.2 Das Verhältnis von Arzt und Patient

53

Einwendungen des Arztes wie des rechtmäßigen Alternativverhaltens (das den Patienten nicht von der Einwilligung in den Heileingriff abgehalten hätte 77 ), oder der überholenden hypothetischen Kausalität7S , die vorliegend nicht im einzelnen besprochen zu werden brauchen. Im Grundsatz darf man davon ausgehen, daß der Arzt sich aufgrund einer bedachtsamen Abwägung bei der Aufklärung über die ganz allgemeinen Risiken, die mit jedem Eingriff verbunden sind, eher zurückhalten darf, während er auf spezifische Gefahren, die gerade mit dem geplanten Eingriff einhergehen, jedenfalls ausführlich hinweisen muß79. Zulässig ist auch eine Aufklärung in mehreren Stufen, bei der zunächst nur allgemein gehaltene Basisinformationen gegeben werden, die später näher konkretisiert werdenso. Weiter ist der Umfang der Aufklärungspflichten nach der herrschenden und vom Bundesverfassungsgericht akzeptierten Rechtsprechung in Abhängigkeit von der Dringlichkeit des Eingriffs zu sehen. Danach muß beispielsweise bei kosmetischen Operationen eingehend aufgeklärt und auch auf ganz seltene Risiken einzeln hingewiesen werdens1 , während bei Eingriffen, bei denen die Vornahme aus medizinischen Gründen zur Beseitigung einer erheblichen Gesundheitsstörung erforderlich ists2, oder bei Eingriffen mit "vitaler Indikation"S3 - bei der dem heilungssuchenden Patienten ohnehin wenig Wahl bleibt - eine Einschränkung des Aufklärungsumfangs denkbar istS4 . Ein weiterer Grund für die Wahl der Strategie der Informationsverschaffung für den Patienten und nicht der Herabsetzung seines Informationsbedarfs 76 Vgl. Laufs, Arztrecht, S. 49 ff.; Kern / Laufs, Die ärztliche Aufklärungspflicht, 1983, S. 53 ff.; Tempel, Inhalt, Grenzen und Durchführung der ärztlichen Aufklärungspflicht, NJW 1980, S. 612, alle mwN; zur Rechtsprechung insbesondere RGZ 163, S. 128 ff.; BGHZ 29, S. 181; BGHZ 90, S. 96 ff.; BGH NJW 1979, S. 1930. 77 BGH NJW 1984, S. 139 f. mwN und Anm Deutsch; Laufs, NJW 1979, S. 1233, und Kern / Laufs, Die ärztliche Aufklärungspflicht, S. 160 ff. 78 BGHZ 29, S. 187; BGH NJW 1959, S. 816; BGH VersR 1979, S. 1012; dazu Laufs, NJW 1979, S. 1233; Kern / Laufs, Die ärztliche Aufklärungspflicht, S. 157 ff.; Tempel, NJW 1980, S. 616; aM Deutsch, NJW 1965, S. 1989. 79 BGHZ 90, S. 96 ff.; BGHZ 29, S. 46 ff.; BGH NJW 1978, S. 587; BGH NJW 1963, S. 393; Tempel, NJW 1980, S. 612 ff., und Laufs, Arztrecht, S. 56 ff. 80 BGH NJW 1976, S. 363; BGH NJW 1974, S. 1422; Diehl / Diehl, VersR 1982, S. 716; Weissauer, Sitzungsbericht I zum 52. DJT 1978, S. 36 ff. 81 Dazu BGH NJW 1972, S. 335, und BGH NJW 1980, S. 663; OLG Düsseldorf NJW 1963, S. 1679. 82 BGH NJW 1977, S. 337; BGH NJW 1979, S. 1933; BGH NJW 1984, S. 1803; OLG Stuttgart NJW 1973, S. 560. 83 BGH NJW 1959, S. 825; BGH NJW 1966, S. 1855; Kern / Laufs, Die ärztliche Aufklärungspflicht, S. 68 ff. 84 Zu dieser sog. Dringlichkeitsthese vgl. Laufs, Arztrecht, S. 57 ff.; Kern / Laufs, Die ärztliche Aufklärungspflicht, S. 68 ff.; Stürner, NJW 1979, S. 2336 (in Besprechung von BVerfGE 62, 232 ff.); Tempel, NJW 1980, S. 611 ff.; Weyers, Gutachten zum 52. DJT 1978, S. 24 f.; Weissauer, Sitzungsbericht I zum 52. DJT 1978, S. 40 ff.

54

3. Informationelle Probleme in typischen Zivilrechtskonflikten

durch einen Beweislastmechanismus dürfte in der schon oben gefundenen Erkenntnis liegen, daß die Anwendung des Beweislastmechanismus immer wenig geeignet erscheint, wenn es um noch anstehende Entscheidungen, um Planung und Gestaltung von Sachverhalten geht - wie dies hier bei der Sicherung des Selbstbestimmungsrechts des Patienten aus Art. 2 I GG sicherlich der Fall ist. Trotzdem spielt dieser Mechanismus bei der weiteren Gestaltung des Informationsverhaltens von Arzt und Patient noch eine wesentliche Rolle, nämlich bei der Sanktionierung von Verstößen gegen die Aufklärungspflicht durch den Arzt. Nach herrschender Auffassung in der Rechtsprechung ist nämlich der Arzt für das Vorliegen einer ausreichenden Aufklärung darlegungs- und beweispflichtig. Dies soll selbst dann gelten, wenn er sich darauf berufen möchte, daß der Patient schon durch den vorbehandelnden Arzt ausreichend informiert worden sei85 . Diese Folgerung ergibt sich daraus, daß mit dem Fehlen der erforderlichen Aufklärung über die möglichen Risiken eines Heileingriffs die erforderliche Einwilligung des Patienten in die Heilbehandlung fehlt, die den heilenden Eingriff des Arztes rechtfertigt. Die Last dieser Rechtfertigung trifft nach dem allgemeinen Regel / Ausnahmeschema zur Verteilung der Beweislast den Arzt, der sich bei fehlender Rechtfertigung schadensersatzpflichtig macht. Im Ergebnis kann nicht verwundern, daß von Fehlschlägen betroffene Patienten aufgrund dieser Gestaltung der informationellen Rahmenbedingungen vor einem Kunstfehlerprozeß mit dem Nachweis eines ärztlichen Behandlungsfehlers zurückschrecken und statt dessen versuchen, über den Vorwurf unzulänglicher Aufklärung (fast schon im Wege eines Auffangtatbestandes) den gewünschten Erfolg herbeizuführen - auch wenn dieser Effekt von Rechtsprechung und Rechtswissenschaft als Mißbrauch heftig beklagt wird86 .

3.2.3 Die Ausformung einer ärztlichen Dokumentationspflicht In der Lehre ist immer wieder kritisiert worden, der Ansatzpunkt des BGH an der Rechtswidrigkeit des ärztlichen Heileingriffs sei verfehlt und das für die Beweislastverteilung anzulegende Regel / Ausnahmeschema gehe deshalb dahin, daß in der Regel von der Einwilligung des Patienten in den ärztlichen Eingriff auszugehen sei - mit der Folge, daß die Beweis- und Darlegungslast für die Rechtswidrigkeit vom Patienten zu tragen sei, das Fehlen der Einwilli85 So zuletzt BGH NJW 1984, S. 1397; ebenso BGHZ 29, S. 180; BGHZ 67, S. 48; BGH NJW 1980, S. 1905; OLG Celle NJW 1979, S. 1251; dazu Tempel, NJW 1980, S. 613, und Laufs, Arztrecht, S. 63. 86 Vgl. dazu die Ausführungen des BGH in BGH NJW 1978, S. 587,588, und BGHZ 72, S. 132; aus der Literatur vgl. Weyers, Gutachten zum 52. DJT 1978, S. 112; Laufs, Arztrecht, S. 52; Baumgärtei, Das Wechselspiel der Beweislastverteilung im Arzthaftungsprozeß, FS für Bruns, 1980, S. 93 ff., 103.

3.2 Das Verhältnis von Arzt und Patient

55

gung und damit der erforderlichen Aufklärung vom Patienten zu beweisen sei87 • Aufgrund der geschilderten informationellen Lage des Patienten ist diese Kritik der Lehre aber nach meiner Auffassung nur in der Kaufmann' sehen Variante diskutabel, der eine Kompensation der Risiken des Patienten durch eine starke Ausdehnung der in der Rechtsprechung erst relativ neu entdeckten und entwickelten Pflicht des Arztes zur Dokumentation von Behandlungsverlauf, Diagnose und Medikamentation, Aufklärung und Beratung des Patienten vorschlägt. Die Rechtsprechung allerdings hatte diese ärztliche Dokumentationspflicht in ganz anderem Zusammenhang entwickelt. Ihr ging es darum, zusätzlich und nicht anstatt der Aufklärungsverpflichtung des Arztes als Erleichterung für die Beweisnöte des Patienten beim Kunstfehlerprozeß weitere Darlegungs- und Beweismöglichkeiten zu eröffnen und zu erhalten88 • Nachdem die Rechtsprechung zunächst davon ausgegangen war, daß die Dokumentation des Behandlungsverlaufs durch den Arzt in Krankenblättern, Röntgenaufnahmen, Operationsberichten und Patientenkarteien nur behandlungsinterne Bedeutung habe, auf die dem Patienten aber kein materieller Anspruch zustehe89 , geht neuerdings der BGH auf die Forderung der Wissenschaft90 nach Anerkennung einer rechtlichen Pflicht des Arztes zur Dokumentation gegenüber dem Patienten ein91 . Der Arzt hat dabei sowohl den Behandlungsverlaufim einzelnen durch Krankenblätter zu dokumentieren, als auch diese zusammen mit weiteren Originalunterlagen aufzubewahren, etwa entsprechenden Operationsberichten, Röntgenaufnahmen, EKGs oder aufbewahrbaren Operationspräparaten92 • Für den Zusammenhang der vorliegenden Untersuchung ist in den von der Rechtsprechung geforderten Dokumentationserfordernissen ein weiterer Mechanismus zur Lösung informationeller Probleme gefunden. Zur Entschär87 Zur Kritik der Rechtsprechung vgl. insbesondere Kaufmann, Die Beweislastverteilung im Arzthaftungsprozeß, S. 91 ff. mwN; Laufs, Arztrecht, S. 52 f.; Nüßgen, FS für Hauß, 1978, S. 291 ff.; 294; Baumgärtel, FS für v. Hippel, S. 104 f. 88 Dazu vgl. Wasserburg, Die ärztliche Dokumentationspflicht im Interesse des Patienten, NJW 1980, S. 617 ff., und Danie1s, Die Ansprüche des Patienten hinsichtlich der Krankenunterlagen des Arztes, NJW 1976, S. 345 ff. 89 Vgl. z. B. BGH NJW 1963, S. 389. 90 Insbesondere vorgetragen durch Weyers, Gutachten zum 52. DJT 1978, S. 33, 115 f., im Anschluß an Steindorff, JZ 1963, S. 369. 91 Leitentscheidungen sind BGHZ 72, S. 132 ff., und BGH NJW 1983, S. 332; OLG Celle VersR 1982, S. 500; dazu Hohloch, NJW 1982, S. 2577 ff.; Walter, JZ 1978, S. 806; Lilie, Ärztliche Dokumentation und Informationsrecht des Patienten, S. 180, 187 ff., und MüKo-Emmerich (Nachtrag) vor § 275 BGB Rn 299. 92 Zu den in diesem Bereich zu stellenden Anforderungen vgl. näher BGH NJW 1978, S. 1682; BGH NJW 1978, S. 2337, und BGH NJW 1982, S. 2577 ff.; dazu Stürner, NJW 1979, S. 1228, und Lilie, Ärztliche Dokumentation und Informationsrecht des Patienten, S. 189.

56

3. Informationelle Probleme in typischen Zivilrechtskonflikten

fung spezifischer Informationsdefizite läßt sich sozusagen auf das "Prinzip der Aktenmäßigkeit" zurückgreifen, das es ermöglicht, einer Partei die Informationslast im Prozeß zwar aufzuerlegen, ihr aber gleichzeitig durch entsprechende Dokumentationspflichten der Gegenpartei doch Möglichkeiten zu einer praxisgerechten und angemessenen Warhnehmung der ihr auferlegten Last zu eröffnen. Als Sanktion für eine Verletzung dieser Dokumentationspflicht des Arztes im Verhältnis zum Patienten hat der BGH entsprechend den allgemeinen Grundsätzen zur Beweisvereitelung durch eine Partei eine Beweiserleichterung für den Patienten in Betracht gezogen, die bis zur Umkehr der Beweislast für einen Behandlungsfehler wegen der vom behandelnden Arzt verschuldeten Aufklärungshindernisse oder Nichtaufklärbarkeit führen kann93 • Natürlich führt eine derartige Entdeckung des Prinzips der Aktenmäßigkeit nur dann zu einer entsprechenden Lockerung im Bereich der Informationsbeziehungen, wenn die regelmäßig in Informationsnot befindliche Partei auch einen garantierten Zugriff auf die aktenmäßig dokumentierten Sachverhalte hat. Sehr schnell hat sich in diesem Sinne die Rechtsprechung mit Forderungen der Patienten auf Einsicht in die betreffenden Krankenunterlagen konfrontiert gesehen und nur konsequent hat sie dem Patienten auch einen entsprechenden Anspruch gewährt, soweit diese Aufzeichnungen über objektive physische Befunde und Berichte, über Behandlungsmaßnahmen, Medikamentation oder eine Operation den Patienten selbst betreffen94 • Dabei soll der Anspruch nicht dazu führen, daß der Arzt bei besonderer therapeutischer Situation dem Patienten gewisse Erkenntnisse nicht mehr vorenthalten darf oder daß dokumentierte subjektive Einschätzungen, etwa im Bereich der Diagnose, dem Patienten unter allen Umständen zugänglich gemacht werden müssen95 .

3.3 Haftung des Herstellers für fehlerhafte Waren (Produzentenhaftung) Ähnlich rasante Entwicklungen wie in der Medizin und im Verhältnis von Arzt und Patient haben sich bei der Produktion von Gütern und Dienstleistungen ergeben. Nicht nur die Produktionstechniken, sondern auch die Palette produzierbarer Güter sind einem raschen Wandel unterworfen.

93 So BGHZ 72, S. 132 ff.; BGH NJW 1983, S. 332; MüKo-Emmerich (Nachtrag) vor § 275 BGB Rn 299. 94 Vgl. BGHZ 85, S. 399 ff.; dazu Hohloch, NJW 1982, S. 2577 ff. 95 Vgl. BGHZ 85, S. 327, und BGHZ 85, S. 339 ff.; OLG Düsseldorf NJW 1984, S. 670; dazu Lilie, Ärztliche Dokumentation und Informationsrecht des Patienten, S. 197 ff., sowie Wachsmuth / Schreiber, JZ 1983, S. 307 f.; Laufs, Arztrecht, S. 119 f.

3.3 Herstellerhaftung für fehlerhafte Waren (Produzentenhaftung)

57

3.3.1 Das informationelle Problem Die einzelnen Güter, aber auch die Vertriebswege weisen heute häufig hochkomplizierte Strukturen auf. Eine Qualitätskontrolle, ja auch bloß eine Einschätzung der möglicherweise von einem bestimmten Produkt ausgehenden Gefahren und Folgen für die Güter und das Vermögen eines Käufers sind dem Konsumenten zunehmend unmöglich. Er kann sich insoweit nur auf die heute möglichen, umfangreichen Kontroll-, Prüf- und Überwachungsverfahren der Hersteller verlassen. Häufig wird zu einer entsprechenden Kontrolle sogar der Händler, von dem der Konsument meist seine Ware bezieht und mit dem allein ihn vertraglichen Beziehungen verbinden, nicht mehr in der Lage sein. Will man nun weder den Verbraucher generell auf den Schäden, die durch fehlerhafte Ware entstanden sind, sitzenlassen, noch zur Begründung von Schadensersatzansprüchen quasi-kontraktliche, letztlich gesetzliche Schuldverhältnisse zwischen Konsument und Hersteller konstruieren, so ist diese Problematik als eine Frage an das De1iktsrecht aufzufassen. Dort allerdings ist grundsätzlich der Geschädigte zur Darlegung von Verletzungshandlungen, Kausalität und Verschulden des Herstellers verpflichtet - und darin liegt das hier interessierende informationelle Problem. Der Konsument nämlich kennt gewöhnlich weder die vom Hersteller angewandte spezielle Produktionsmethode noch dessen Kontroll- und Prüfungsverfahren~ er kennt weder dessen Organisations- und Überwachungsprinzipien noch hat er die Möglichkeit, entsprechende Verletzungshandlungen oder eine subjektive Verantwortlichkeit, Sorgfaltslosigkeit oder Vermeidbarkeit schädigender Folgen durch den Hersteller oder dessen Angestellte und Hilfspersonen zu überschauen oder zu ermitteln.

3.3.2 Lösungsansatz: Beweislastumkehr Im Anschluß an das amerikanische und diverse andere nationale Rechte96 , die diese Problematik durch eine verschuldensunabhängige Deliktshaftung (product liability) in den Griff zu bekommen versuchen, haben Rechtsprechung und, ihr immer stärker zustimmend, auch die Lehre in der Bundesrepublik ebenfalls eine Lösung über das Deliktsrecht gesucht. Damit werden die vertragsrechtlichen Ansätze über vertrags ähnliche Beziehungen aus besonderem Warenvertrauen, aus besonderem sozialen Kontakt oder aus stillschwei-

96 Dazu der Überblick bei Schmidt-Salzer, Produkthaftung im französischen, belgisehen, deutschen, schweizerischen, englischen, kanadischen und US-amerikanischen Recht, 1974; zum amerikanischen Recht weiter von Hülsen, RIW 1982, S. 1 ff.

58

3. Informationelle Probleme in typischen Zivilrechtskonflikten

gen den Garantieverträgen als generalisierbare Lösung verworfen97 . Der BGH hat sich mit all diesen Ansätzen in einer Grundsatzentscheidung "Hühnerpest" auseinandergesetzt und eine deliktsrechtliche Lösung in der Folge des Beweislastmechanismus befürwortet98 . Nach der allgemeinen Regel hat der Geschädigte bei der Geltendmachung deliktischer Ersatzansprüche nach § 823 Abs. 1 BGB die anspruchs begründenden Tatsachen darzulegen und zu substantiieren, also insbesondere schädigende Handlung, Schaden, Kausalität und Verschulden des Schädigers. Für die hier vorliegende Fallgruppe allerdings soll hinsichtlich des Verschuldensnachweises aufgrund der spezifischen Informationsprobleme des Konsumenten eine Ausnahme gelten und eine Beweisl~st­ umkehr zu Lasten des herstellenden Schädigers stattfinden, wenn "bei bestimmungsgemäßer Anwendung eines Industrieerzeugnisses eine Person oder Sache dadurch geschädigt wurde, daß das Produkt fehlerhaft hergestellt wurde". In diesem Fall muß der Hersteller darlegen und beweisen, daß "ihn hinsichtlich des Fehlers kein Verschulden trifft", wenn nach dem Vortrag des Geschädigten feststeht, daß "sein Schaden im Organisations- und Gefahrenbereich des Herstellers durch die Herbeiführung eines verkehrswidrigen oder mangelhaften Zustandes der Ware ausgelöst worden ist"99. Die Palette denkbarer Fallgestaltungen, die Ursachen und Beherrschbarkeit denkbarer Fehlentwicklungen sind jedoch sehr vielschichtig. Es fragt sich beispielsweise, ob der Hersteller nach diesen Regeln des Informationsverhaltens auch dann behandelt werden kann, wenn nach dem allgemeinen Erkenntnisstand zum Zeitpunkt der Konstruktion und Produktion eines bestimmten Gutes keinerlei Fehler oder Mängel feststellbar waren, sich aber im Lauf der Zeit trotzdem eine Reihe von Gefährdungsmöglichkeiten für Sachen des Konsumenten bzw. Mängel herausstellen oder durch wissenschaftlichen Fortschritt erstmals erkennbar werden. Zwar kann der Hersteller seine Produkte nun weiterentwickeln, alte Produkttypen beobachten und gegebenenfalls zurückrufen 1°O, aber solange niemand derartige Gefahren erkennen konnte, konnte der Hersteller sie schlechterdings auch nicht vermeiden 101 •

97 Vgl. BGHZ 86, S. 256; BGHZ 80, S. 186 ff.; BGHZ 80, S. 199 ff.; BGHZ 51, S. 97 ff.; BGH BB 1981, S. 1913; MüKo-Mertens, § 823 BGB Rn 279 ff.; Palandt-Thomas, § 823 BGB Anm 16; Schmidt / Salzer, Produkthaftung - Die Haftung der an der Warenherstellung und am Warenvertrieb beteiligten Personen und Unternehmen, 1973; Lukes, Reform der Produkthaftung, 1979; Brüggemeier, WPM 1982, S. 1294; Diederichsen, NJW 1978, S. 1298. 98 BGHZ 51, S. 91 ff. 99 BGHZ 51, S. 91 ff., 105. 100 Zu einer solchen Produktbeobachtungspflicht und ggf. der Pflicht, dem Konsumenten Warnungen oder neue Instruktionen zukommen zu lassen, vgl. BGHZ 80, S. 199, 201 ff. mwN; aus der Literatur vgl. Brüggemeier, WPM 1982, S. 1294; Schmidt / Salzer, BB 1981, S. 1041; zum Rückruf vgl. Löwe, DAR 1978, S. 288. 101 Der BGH lehnt hier deshalb eine Haftung ab, vgl. BGHZ 80, S. 181,195 ff.

3.3 Herstellerhaftung für fehlerhafte Waren (Produzentenhaftung)

59

Hier führt eine Beweislastumkehr nicht zur Bearbeitung eines informationellen Defizits beim Konsumenten, sondern zu einer strikten Gefährdungshaftung des Herstellers und somit in ganz andere Problemzusammenhänge. Bei Arzneimitteln beispielsweise hat der Gesetzgeber eine solche Haftung für angemessen angesehen und seit 1978 in § 84 AMG102 vorgesehen. Auch für die übrigen Fälle der Produzentenhaftung wird eine solche Herstellerhaftung als Gefährdungshaftung in naher Zukunft verabschiedet werden. Die EG-Richtlinie vom 25. Juli 1985 103 wurde den Mitgliedsstaaten am 30. Juli 1985 bekanntgegeben und schreibt in ihrem Art. 19 I die Einführung einer solchen Haftung innerhalb von drei Jahren seit ihrer Bekanntmachung vor. Damit entfällt das Verschuldenselement, wobei sich aber ansonsten gemäß Art. 4 der Richtlinie an der Beweislast des Geschädigten für Verletzungshandlung, Schaden und Kausalität nichts ändert. Diese insbesondere wegen des Kausalitätsnachweises gegen den heftigen Widerstand der Verbraucherverbände getroffene Regelung soll die Hersteller vor ungerechtfertigten Ansprüchen schützen 104 . Die Gestaltung der informationellen Beziehung nach geltendem Recht über den Beweislastmechanismus zwischen Produzent und Konsument beim Streit um Schädigungen durch Warenfehler muß so je nach Fehlerursache und Beherrschbarkeit noch differenzierter ausgestaltet werden. Dafür hat sich eine Klassifizierung der denkbaren Fehlerquellen in vier Gruppen als recht geeignet erwiesen 105 :

(1) Fabrikationsfehler sind zunächst Mängel, die an einem einzelnen Produkt infolge eines Fehlers des an seiner Herstellung beteiligten Arbeitnehmers oder infolge des Versagens einer Maschine auftreten. (2) Konstruktionsfehler sind Mängel, die bei der Entwicklung und Planung der Produktionsabläufe eines Produkts gemacht werden. Typischerweise treten sie bei allen Waren einer bestimmten Produktionsserie und eines bestimmten Herstellers auf. (3) Instruktionsfehler sind die Fehler, die sich daraus ergeben, daß bei einem fehlerfrei hergestellten und korrekt konstruierten Produkt der Konsument auf gleichwohl entstehende Gefahren beim Gebrauch der betreffenden Ware nicht hingewiesen wurde oder, daß solche Gebrauchsgefahren im Laufe der Zeit bekannt geworden sind und der Hersteller nunmehr die Konsumenten darauf nicht hinweist. 102 Arzneimittelgesetz vom 24. August 1976 (BGBI I, S. 2445 und BGBI 1983 I, S. 169); dazu auch Diederichsen, NJW 1978, S. 1281 ff., 1289. 103 Vgl. AblEG L 210 vom 7. August 1985, S. 29. 104 Zum neuen Recht vgl. Taschner, Die künftige Produzentenhaftung in Deutschland, NJW 1986, S. 611 f. 105 Im Anschluß an Simitis, Gutachten zum 47. DJT 1968, Teil C, S. 12 ff.; gute Darstellung auch bei Palandt-Thomas, § 823 BGB Anm 16 D c bb; MüKo-Mertens, § 823 BGB Rn 295 ff.; Kötz, Deliktsrecht, 3. Auf!. 1983, S. 192.

60

3. Informationelle Probleme in typischen Zivilrechtskonflikten

(4) Entwicklungsgefahren sind zuletzt die Gefährdungspotentiale, die einem ordnungsgemäß hergestellten und korrekt konstruierten Produkt trotzdem noch innewohnen, ohne daß nach dem gegenwärtigen Stand der Wissenschaft jemand in der Lage wäre, sie zu erkennen und dementsprechend Instruktionen an den Konsumenten zu geben.

In diesen vier Gruppen ist plausibel, daß insbesondere bei Fabrikationsfehlern und Instruktionsfehlern den Informationsproblemen beim Konsumenten entsprechende Informationen und eine Beherrschbarkeit der Gefahrenquellen beim Hersteller gegenüberstehen. Hier vor allem scheint die Überwälzung der Informationslast für das Verschulden des Herstellers mit der Folge einer Entlastungspflicht angemessen. Häufig wird es dabei um das sogenannte Organisationsverschulden gehen, also eine Entlastung des Herstellers für sich oder über § 31 BGB bei juristischen Personen für die gesetzlichen Vertreter, sowie in der Folge des § 831 BGB um die Entlastung wegen Auswahlverschuldens der bei der Produktion etc. der Ware herangezogenen Hilfskräfte. Der oben demgegenüber schon herausgearbeitete Bereich von Gefahrenquellen, bei dem eine solche Gestaltung des Informationsverhältnisses kaum angemessen erscheint, liegt hier in Gruppe vier bei den Entwicklungsgefahren. Wendet man diesen Rekurs auf Gefahrenkreise und Beherrschbarkeit von Gefahrenquellen - der im übrigen schon bei der Anwendung des Beweislastmechanismus durch die Rechtsprechung in der Folge des § 282 BGB kennenzulernen war - auf die zweite Gruppe der Konstruktionsfehler an, so ergibt sich kein einheitliches Bild. Hier ergeben sich Überschneidungen zwischen der (für die Überwälzung in Frage stehenden) Darlegung des Verschuldensvorwurfs und der Darlegung einer fehlerhaften Konstruktion, die im Bereich des § 823 Abs. 1 BGB ja immer Sache des Geschädigten ist. Es ist hier zu beachten, daß bei der Konstruktion einer Ware nur ganz selten auch sämtliche Risiken für einen sachgemäßen Gebrauch dieser Ware ausgeschlossen werden können. Somit ist abzugrenzen, ob die Ware sachgemäß konstruiert ist und die verbleibenden Risiken solche sind, über die der Hersteller den Konsumenten aufzuklären hat, oder ob die Konstruktion der Ware in dem Sinne fehlerhaft ist, daß die in Kauf genommenen Restrisiken für den Verbraucher als nicht mehr akzeptabel, als unvernünftig groß, als unangemessen beurteilt werden müssen. Dafür werden Wahrscheinlichkeitsprognosen über die Verwirklichung des durch die Konstruktion in Kauf genommenen Restrisikos sowie die Intensität der zu erwartenden Schäden wesentliche Beurteilungskriterien sein. Hat der Konsument allerdings darlegen können, daß in diesem Sinne bei der Konstruktion ein zu großes Restrisiko eingeplant war und demgemäß eine fehlerhafte Konstruktion vorliegt, so ist dann eine Überwälzung des informationellen Risikos für das Verschulden auf den Hersteller nur konsequent im Sinne der obengenannten Grundsätze zur Verteilung von Informationsrisiken bei der Produzentenhaftpflicht 106 •

3.4 Probleme mit der Information im Erbrecht

61

3.4 Probleme mit der Information im Erbrecht Ganz anders gelagert ist die Situation im Erbrecht. Sie ist zunächst vor allem dadurch gekennzeichnet, daß die PersOn mit den besten Informationen über die Zusammensetzung der Erbmasse und die gewünschte Verteilung dieses Nachlasses auf die Erben nicht mehr als Informationsquelle zur Verfügung steht: Der Erblasser ist gestorben. 3.4.1 Die erbrechtIichen Auskunftsansprüche Der oder die Berechtigten müssen sich deshalb alle im Zusammenhang der Erbschaft erforderlichen Informationen anderweitig beschaffen, und so kann es nicht wundern, daß das Erbrecht eine ganze Fülle VOn Auskunftsansprüchen normiert. Materiellrechtliche Auskunftsansprüche liegen als Instrument hier schon deshalb nahe, weil der oder die Erben, Pflichtteilsberechtigten oder Vermächtnisnehmer gegebenenfalls zunächst nicht einmal wissen, ob sie überhaupt Ansprüche haben oder wer überhaupt als Anspruchgegner für sie in Betracht kommen könnte. Hier bietet sich nach Wegfall des Erblassers als Informationsquelle jedenfalls generell kaum die Möglichkeit, im Sinne eines Beweislastmechanismus die Informationsmöglichkeit dieses Personenkreises zu Lasten eines anderen, der "näher an den Informationen dran" wäre, herabzusetzen. Es müssen vielmehr Möglichkeiten für die Erben, Pflichtteilsberechtigten oder Vermächtnisnehmer eröffnet werden, sich nach Möglichkeit die notwendigen Kenntnisse verschaffen zu können - es muß also darum gehen, ihr Informationsbedürfnis zu erfüllen. Solche Auskunftspflichten bestehen einmal gegenüber einer Reihe von Dritten: Dem Erbschaftsbesitzer nach § 2027 BGB, den Hausgenossen des Erblassers nach § 2028 BGB und dem Scheinerben nach § 2362 BGB. Eine Reihe von Personen, die möglicherweise Angelegenheiten in Ansehung der Erbmasse wahrgenommen haben, müssen über bloße Auskunft hinaus Rechenschaft legen wie ein Beauftragter gemäß § 666 BGB, etwa der Nachlaßverwalter gemäß § 1978 I BGB, der Testamentsvollstrecker gemäß § 2218 BGB oder der Vorerbe gemäß § 2130 II BGB und, während des Verlaufs der Vorerbschaft, ergänzt durch §§ 2121 f., 2127 BGB. Eine Reihe VOn Auskunftsansprüchen besteht weiter im Interesse Dritter zur Klärung ihrer Ansprüche gegenüber dem Erben, etwa für den Pflichtteilsberechtigten gemäß § 2314 BGB, zur Feststellung und Abrechnung VOn Ausgleichsansprüchen unter Miterben nach § 2057 BGB, für die Nachlaßgläubiger 106 Vgl. so BGHZ 80, S. 186 ff.; 195 f.; BGH JZ 1971, S. 1929; BGH BB 1972, S. 13; MüKo-Mertens, § 823 BGB Rn 295 ff.; Palandt-Thomas, § 823 BGB Anm 16 D c bb und Anm 16 D c ff.; Lukes, Reform der Produkthaftung, S. 93 ff.

62

3. Infonnationelle Probleme in typischen Zivilrechtskonflikten

gegen den Fiskus als Erben nach § 2011 BGB oder bei Nachlaßverwaltung bzw. -pflegschaft nach § 2012 BGB. Sonst können die Nachlaßgläubiger gegenüber dem Erben ihr Informationsbedürfnis mittels Inventarfristsetzung gemäß § 1994 BGB bzw. Inventarergänzung gemäß § 2005 11 BGB durchsetzen, wobei hier allerdings Verstöße durch die Folge unbeschränkter Erbenhaftung sanktioniert werden und nicht über eine Durchsetzung des Informationsanspruchs des Nachlaßgläubigers selbst. Zuletzt sind für Dritte noch eine Reihe von Einsichtsrechten wichtig, die es gestatten, den Inhalt von Erklärungen, die gegenüber dem Nachlaßgericht abgegeben wurden, gemäß §§ 1953 III, 195711,208111,214611,2228 und 2384 11 BGB kennenzulernen oder den Inhalt eines eingereichten Inventars bzw. eines gerichtlich eröffneten Testaments gemäß § 2264 BGB zu erfahren. Voraussetzung ist nach § 2010 BGB für diese öffentlich-rechtlichen Einsichtsrechte jeweils die Geltendmachung eines rechtlichen Interesses an der Information 107 •

3.4.2 Zum heute gestiegenen Informationsbedarf und dessen Bewältigung Wenn es danach auch so aussieht, als ob durch diese Auskunftsrechte dem Informationsbedürfnis aller potientiell Beteiligten hinreichend Genüge getan sei, soweit dieses Bedürfnis nach Information in irgendeiner Form rechtlich anerkennenswert ist, so zeigen sich heute dabei doch eine Reihe von typischen Lücken, die wiederum durch einen geschichtlichen Wandel in unseren gesellschaftlichen Verhältnissen seit dem Erlaß des BGB ihre Erklärung finden. Zwei solche typischen Lücken finden sich bei der Ausformung der Informationsregeln für Miterben. Der Informationsbedarf eines Miterben wird sich gewöhnlich zuerst auf den Bestand des tatsächlich vorhandenen Nachlasses richten, denn dieses Vermögen ist der Gesamtbestand, auf den sich sein Erbteil bezieht108 • Zum zweiten werden ihn daneben diejenigen Vermögenswerte genauer interessieren, die zwar in der Erbmasse nicht mehr vorhanden, die aber im Wege der Ausgleichung unter den Miterben (§§ 2050 ff. BGB) oder im Wege der Pflichtteilsergänzung (§§ 2325 ff., 2329 BGB) der tatsächlich vorhandenen Erbmasse bei der Berechnung seiner entsprechenden Ansprüche gegebenenfalls zuzuschlagen sind. Auch andere Lücken sind typisch: Inwieweit solche Schenkungen in den letzten 10 Jahren stattgefunden haben, wird im übrigen jeden Pflichtteilsberechtigten interessieren, sei er Erbe, Nacherbe oder gar nicht als Erbe berücksichtigt worden. Dazu BGHZ 51, S. 193, und OLG Hamm NJW 1968, S. 169. Vgl. §§ 2032 ff., 2047 BGB; aus dem gleichen Vennögensstand berechnet sich auch der restliche Pflichtteil gemäß §§ 2303 ff., 2305 BGB. 107 108

3.4 Probleme mit der Information im Erbrecht

63

Wie wir gesehen haben, hat im Erbrecht nun praktisch jeder, der in Ansehung des Nachlasses Rechte geltend machen zu können glaubt, besonders ausgeformte Informationsmöglichkeiten gegenüber dem Erben zur Ermittlung der Berechnungsgrundlagen oder zur Klärung und Beurteilung des Grundes seines Anspruchs. Allein der Miterbe hat bezüglich des Vermögensbestandes der Erbschaft zur Berechnung seines Erbteils keinen solchen gesonderten Anspruch gegen die anderen Erben. Der Pflichtteilsberechtigte kann vom Erben gemäß § 2314 BGB Auskunft über den Nachlaß, die Vorlage eines Bestandsverzeichnisses nach § 260 BGB und die Ermittlung des Werts der Nachlaßgegenstände verlangen - allerdings nur, wenn er nicht selbst (Mit-) Erbe ist, so der wenig mißverständliche Wortlaut des § 2314 I 1 BGB. Dem Nacherben helfen gegebenenfalls §§ 2121 f. BGB, während für den Miterben, der seinen Pflichtteilsrest nach § 2305 BGB verlangen will, eine derartige Möglichkeit nicht vorgesehen ist. Zuletzt können alle Pflichtteilsberechtigte nach § 2329 BGB gegebenenfalls gegen Beschenkte wegen Herausgabe der Geschenke Ansprüche erheben, aber gesonderte Informationsrechte über solche Geschenke haben sie gegen diese nach den Regeln des BGB nicht - egal, ob es sich um pflichtteilsberechtigte Mit-, Nach- oder Nichterben handelt. 3.4.2.1 Das überkommene erbrechttiche Leitbild

Wir stoßen hier auf die informationellen Folgen eines überkommenen gesellschaftlichen Leitbilds des Gesetzgebers des BGB-Erbrechts, das wohl schon seinerzeit nicht mehr ganz mit der Realität harmonisiert haben dürfte. Er ging von der Vorstellung einer zusammenlebenden Familie aus - einem "Ganzen Haus", in dem die Familienangehörigen aus den verschiedenen Generationen zusammenleben, wirtschaften und arbeiten. Das Leitbild war die Konzentration der Familie, man könnte sagen, ein Lokalitätsprinzip: Die in Betracht kommenden Erben kennen sich, kennen die wirtschaftliche Situation der Familie, kennen die in Betracht kommenden Schenkungen an Dritte, haben Zugriff auf die entsprechenden Unterlagen usw. Tritt ein Erbfall ein, scheinen entsprechende Auskunftsansprüche deshalb nicht erforderlich. Zwar waren sich auch die Verfasser des BGB durchaus darüber klar, daß bei der Erbfolge erhebliche Störungen eintreten können und sahen demgemäß Minimalansprüche der von der Erbfolge ganz oder teilweise Ausgeschlossenen in Form von Pflichtteilsansprüchen vor. Sie sahen auch voraus, daß in vielen Fällen "die Verwirklichung des Pflichtteilsanspruchs" häufig "kaum ausführbar sein (werde), wenn nicht dem Erben eine Auskunftspflicht über den Bestand des Nachlasses auferlegt" werde 109 • Trotzdem meinten sie auf der Basis ihres 109 Mugdan, Die gesammelten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, 1899, V, S. 217 f.

64

3. Informationelle Probleme in typischen Zivilrechtskonflikten

familialen Leitbildes, daß die von ihnen gewählte Fassung der Auskunftsnorm (Entwurf I, § 1988) alle Fälle informationeller Schwierigkeiten erfasse, meinten "der Eingang der Vorschrift, gegenüber dem Pflichtteilsberechtigten, weicher nicht Miterbe ist', umfasse alle in Betracht kommenden Fälle"llo. Ob dies gesellschaftliche Leitbild damals wirklichkeitsnah war, mag dahinstehen. Heute jedenfalls sieht die Realität anders aus; von einem familiären Lokalitätsprinzip kann heute keine Rede sein und ein entsprechender Informationsbedarf unter Miterben zur Durchsetzung ihrer Ansprüche ist heute wohl unbestritten. Mangels gesetzgeberischer Korrekturen waren daher die Gerichte zur Anpassung aufgerufen und haben mittlerweile im Wege richterlicher Rechtsfortbildung Mechanismen zur Lösung dieser Schwierigkeiten entwickelt. 3.4.2.2 Miterbe ohne Kenntnis der Erbmasse

Gewisse Informationsmöglichkeiten des Miterben gegenüber den anderen Erben ergeben sich aus den Vorschriften über die Verwaltung bei der Miterbengemeinschaft. Zunächst besteht hier eine besondere Auskunftsverpflichtung nach § 2057 BGB, auf die jeder Miterbe zurückgreifen kann, soweit er zu den Ausgleichsberechtigten nach §§ 2050 ff. BGB gehört. Diese Auskunft erstreckt sich jedoch nur auf die gegebenenfalls nach §§ 2051 ff. BGB ausgleichspflichtigen Zuwendungen 111 • Soweit weiter ein Miterbe nur Erbschaftsbesitzer im Sinne von § 2018 BGB ist, kommen die allgemeinen Auskunftsrechte über §§ 2027, 2028 BGB auch unter Miterben in Betracht112 • Hier erhält der Miterbe Informationen über den Bestand des Nachlasses und gegebenenfalls ein Bestandsverzeichnis nach § 260 BGB. Als Grundlage einer Auskunftspflicht über den Bestand kommen zuletzt noch § 666 oder §§ 687 iVm 666 BGB in Betracht, wenn ein Miterbe den Nachlaß alleine verwaltet 113 • Liegen diese besonderen Voraussetzungen jedoch nicht vor, so stellt sich die Frage nach einer allgemeinen Auskunftspflicht unter Miterben. Hierzu werden in Rechtsprechung und Literatur drei Wege diskutiert: Auskunftsrecht nach § 2038 I BGB, nach den allgemeinen Grundsätzen der Rechtsprechung zur Informationspflicht gemäß § 242 BGB oder in analoger Anwendung des § 2314 BGB auch für den Miterben.

Ebenda Dazu im einzelnen MüKo-Dütz, § 2057 BGB Rn 4 ff.; Erman-Schlüter, § 2057 BGB Rn 3; Soergel-Wolf, § 2057 BGB Rn 5; Palandt-Edenhöfer, § 2057 BGB Anm 2 f. 112 RGZ 293, S. 295; OLG Karlsruhe MDR 1972, S. 424; Staudinger-Grunsky, § 2027 BGB Rn 4; MüKo-Jülicher, § 2027 BGB Rn 3; Palandt-Edenhöfer, § 2027 BGB Rn 2. 113 Dazu ausführlich oben Abschnitt 3.1.2; vgl. auch Lange / Kuchinke, Lehrbuch des Erbrechts, 12. Auf!. 1978, § 45 11 7 c. 110 111

3.4 Probleme mit der Information im Erbrecht

65

Eine generelle Auskunftsverpflichtung unter Miterben nach § 2038 BGB wird dabei insbesondere von der Rechtsprechung abgelehnt 1l4 • Eine in der Literatur im Vordringen begriffene Meinung stimmt dem zwar insoweit zu, als die Erfüllung einer derartigen Informationspflicht nicht als gemeinsame Verwaltungsmaßnahme begriffen werden könne, will aber aus der Erkenntnis, daß auch die Erbengemeinschaft und ihre Verwaltung unter dem Prinzip von Treu und Glauben stehen, unter Heranziehung von § 242 BGB iVm § 2038 I 2 BGB doch eine umfassende Auskunftspflicht bejahen 115 • Die Rechtsprechung will demgegenüber eine Auskunftspflicht nach § 242 BGB unter Miterben nur unter den von ihr entwickelten, allgemeinen Einschränkungen einer Auskunftspflicht nach Treu und Glauben im Einzelfall anerkennen - also insbesondere dann, wenn der auskunftsbegehrende Miterbe für die Durchsetzung seiner Ansprüche dringend auf die Information angewiesen ist, sich diese selbst ohne eigenes Verschulden aber nicht anders verschaffen kann und der in Anspruch genommene Miterbe dem Informationsbedürfnis auch ohne große Anstrengungen nachkommen kann 116 • Zur Bewältigung der informationellen Schwierigkeiten einer zweckentsprechenden Verfolgung der Informationsinteressen wird zuletzt von einer Meinung im Schrifftum eine analoge Anwendung des § 2314 BGB auf den Miterben befürwortet l17 • Der besondere Vorteil liegt hier für den Miterben darin, daß nach § 2314 I BGB auch eine Wertermittlung der Nachlaßgegenstände verlangt werden kann und daß die Auskunftskosten für die Erstellung des Bestandsverzeichnisses bzw. für die Wertermittlung der Nachlaßgegenstände gemäß § 2314 11 BGB dem Nachlaß zur Last fallen 118 . Alle im Miterbenbereich problematischen Fälle lassen sich durch diesen Vorschlag des Absehens von der Einschränkung des § 2314 I BGB auf Nichterben aber nicht lösen. Keine Informationsmöglichkeit bietet sich insofern dem Miterben ohne Pflichtteils- bzw. Pflichtteilsrestanspruch. 114 St. Rspr., vgl. RGZ 81, S. 30; BGH FamRZ 1973, S. 599 f.; OLG Karlsruhe MDR 1972, S. 424; ebenso Palandt-Edenhöfer, § 2028 BGB Anm 4. 115 So insbes. Erman-Schlüter, § 2038 BGB Rn 18; MüKo-Dütz, § 2038 BGB Rn 48; Speckmann, NJW 1973, S. 1869 f.; ähnliche Formulierungen bei Gudian, JZ 1967, S.592. 116 Dazu vgl. ausführlich oben Abschnitt 3.1.2.2 mit eingehenden Nachweisen; zur erbrechtlichen Umsetzung vgl. ferner BGHZ 55, S. 578 ff., 580; OLG Celle NJW 1966, S. 1636; Lange / Kuchinke, Erbrecht, § 45 11 7 c. 117 So insbes. Gudian, JZ 1967, S. 593, und ihm folgend Coing, NJW 1970, S. 733, und NJW 1983, S. 1298; Palandt-Edenhöfer, § 2314 BGB Anm 1 c; MüKo-Frank, § 2314 BGB Rn 18; aus der Rechtsprechung OLG Celle NJW 1966, S. 1663; kritisch Speckmann, NJW 1973, S. 1869; Kempfler, NJW 1970, S. 1534; KG OLGZ 19.73, S. 214; ablehnend RGZ 84, S. 204 ff.; BGHZ 61, S. 180 ff., und BGH WPM 1981, S. 175 f.; bejahend iVm § 242 BGB Lange / Kuchinke, Erbrecht, § 39 IX 5; RGRKJohannsen, § 2314 BGB Rn 4. 118 Darauf hat im Vergleich zu §§ 2038, 2057 oder 242 BGB schon Coing, NJW 1970, S. 733, besonders hingewiesen.

5 Haug

66

3. Informationelle Probleme in typischen Zivilrechtskonflikten

Da kein Grund zur entsprechenden Privilegierung des pflichtteilsberechtigten Miterben ersichtlich ist, scheint mir dem berechtigten Informationsbedarf unter Miterben am zweckentsprechendsten durch die Bejahung einer allgemeinen Auskunftspflicht unter Miterben in der Folge von §§ 2028 I, 2057 BGB iVm § 242 BGB Rechnung getragen. Eine Ext,ension des § 2314 I BGB auch auf einen nicht pflichtteilsberechtigten Personenkreis führte zu einer weder von der Sache her notwendigen noch begründbaren Ausdehnung dieser gesetzlichen Sondervorschrift . Soweit ein Miterbe allerdings Pflichtteilsrechte geltend machen kann, sollte er auch über § 2314 BGB vorgehen können, da er insofern ein spezifisches, anderen Pflichtteilsberechtigten vergleichbares Informationsbedürfnis bei ebenfalls vergleichbarer Interessenlage hat. Dieses spezifisch pflichtteilsbezogene Informationsbedürfnis wird dabei auch nicht etwa durch die allgemeinen Informationsmöglichkeiten als Miterbe abgedeckt, denn hier muß man die gleich noch zu besprechende notwendige Ausdehnung der Informationsrechte eines Pflichtteilsberechtigten gegenüber Dritten wegen Ergänzungstatbeständen im Sinne von §§ 2325 f., 2329 BGB berücksichtigen. Dies wird häufig verkannt, wenn insoweit gegen eine Analogie zu § 2314 BGB auf die allgemeinen Informationsmögichkeiten des Erben oder Miterben bzw. die Informationsrechte des Nacherben gemäß §§ 2121 f. BGB verwiesen wird 119 • 3.4.2.3 Pßichtteilsberechtigter ohne Kenntnis von Ergänzungstatbeständen

Ein Pflichtteilsberechtigter kann gegen den Erben einen Geldanspruch auf Pflichtteilsergänzung nach §§ 2325 f. BGB aufgrund einer ,vom Erblasser in den letzten 10 Jahren vor dem Erbfall gemachten Schenkung an Dritte erheben. Subsidiär dazu kann er vom beschenkten Dritten gemäß § 2329 BGB Herausgabe des Geschenkes verlangen. Auskunftsansprüche gegen den Erben oder den Dritten sind im Zusammenhang dieser Pflichtteilsergänzungsansprüche nicht gesetzlich normiert. Offensichtlich ging auch hier der Gesetzgeber aufgrund des Lokalitätsprinzips davon aus, daß solche Schenkungen und deren Empfänger der Familie jeweils ohne weiteres bekannt seien. Einhelligkeit besteht deshalb darin, daß die Auskunftspflicht des Erben nach § 2314 BGB sich nicht nur auf die Angabe des tatsächlich vorhandenen Nachlasses beschränken kann, sondern daß dieser den Pflichtteilsberechtigten auch über alle nur rechnungsmäßig für den Pflichtteil interessierenden Tatbestände informieren muß - also insbesondere über ausgleichspflichtige Zuwendungen und Schenkungen an Erben oder Dritte 120 . Häufig wird aber der Erbe So aber BGH WPM 1981, S. 176 (für Nacherben); BGHZ 61, S. 180, 183 f. RGZ 73, S. 369, 372 ff.; BGHZ 33, S. 373 ff.; BGH NJW 1962, S. 245; BGH FamRZ 1965, S. 135; BGH FamRZ 1975, S. 87; OLG Celle NJW 1966, S. 1663; 119

120

3.5 Zur familienrechtlichen Lösung von Informationskonflikten

67

mangels eigener Erkenntnisse zur Auskunft gar nicht in der Lage sein. Im Wege der Rechtsfortbildung wird deshalb dem Pflichtteilsberechtigten nach §§ 2314 iVm 2329 BGB auch ein spezielles Auskunftsrecht gegenüber dem beschenkten Dritten selbst zugebilligt121 • Obwohl diese Erweiterung der Informationsbeschaffungsmöglichkeiten auch für die Rechtsprechung ihre Rechtfertigung darin findet, daß zumeist der Erbe selbst über Vorhandensein und Umfang entsprechender Drittschenkungen des Erblassers nicht im erforderlichen Maße informiert ist, will sie dem pflichtteilsberechtigten Miterben 122 oder Nacherben 123 dieses Vorgehen über §§ 2314, 2329 BGB analog versagen. Die Begründung hierfür ist die gleiche, mit der die Rechtsprechung zuvor. allgemein eine Ausdehnung der Informationsrechte des § 2314 I BGB auf diesen Personenkreis zurückgewiesen hat. Dies erscheint allerdings schon deshalb angreifbar, weil ja gerade insofern häufig die besonderen Informationsmöglichkeiten versagen, die aus der Stellung als Erbe resultieren 124 . Allenfalls will die Rechtsprechung hier einen allgemeinen Auskunftsanspruch nach § 242 BGB und den dazu von ihr entwikkelten Grundsätzen gewähren l25 .

3.5 Zur familienrechtlichen Lösung von Informationskonflikten Auch im Familienrecht müssen immer wieder Konflikte'rechtlich bewältigt werden, bei denen die Frage der Beibringung der relevanten Informationen eine wichtige Rolle spielt. Häufig ergeben sich solche Situationen nach dem Auseinanderbrechen von Familien infolge der Zerrüttung einer Ehe und führen im Scheidungsverfahren dann zu großen Problemen bei der Bewältigung Palandt-Edenhöfer, § 2314 BGB Anm 1 a; MüKo-Frank, § 2314 BGB Rn 3; RGRKJohannsen, § 2314 BGB Rn 10. 121 BGHZ 55, S. 378; BGHZ 58, S. 257; BGHZ 61, S. 180; BGH WPM 1976, S. 1089; OLG Celle NJW 1966, S. 1633. Anders noch früher BGHZ 18, S. 67, 69 f., oder RGZ 84, S. 204 ff.; 208; in Übereinstimmung mit der neueren Rechtsprechung Palandt-Edenhöfer, § 2329 BGB Anm 1; Erman-Schlüter, § 2314 BGB Rn 2; RGRKJohannsen, § 2314 BGB Rn 10; MüKo-Frank, § 2329 BGB Rn 7; Speckmann, NJW 1973, S. 1870; Coing, NJW 1970, S. 733, und NJW 1983, S. 1298. 122 BGHZ 55, S. 378; BGHZ 61, S. 180; ebenso schon BGHZ 18, S. 67. 123 BGH WPM 1981, S. 175 f.; anders wohl noch BGHZ 58, S. 237 ff., wo für den Nacherben § 2314 BGB analog gegen den Beschenkten herangezogen wurde. 124 Anders deshalb die wohl überwiegende Meinung in der Literatur, die eine Ausdehnung auch auf Mit- und Nacherben befürwortet; Palandt-Edenhöfer, § 2329 BGB Al\m 1; Erman-Schlüter, § 2314 BGB Rn 2; MüKo-Frank, § 2329 BGB Rn 7, und § 2314 BGB Rn 20; Speckmann, NJW 1973, S. 1870; Coing, NJW 1983, S. 1300; Gudian, JZ 1967, S. 594; auch OLG Celle NJW 1966, S. 1636. 125 So insbes. BGHZ 61, S. 180 ff., 183 f.; allgemein zu den Voraussetzungen der Rechtsprechung vgl. näher oben Abschnitt 3.1.2.1 mwN. 5'

68

3. Informationelle Probleme in typischen Zivilrechtskonflikten

der im Scheidungsverbund nach § 623 ZPO gleich mitabzuhandelnden Folgesachen. Dabei sind gegebenenfalls aufgrund entsprechender Wirtschaftsgemeinschaft ehegüterrechtliche Auseinandersetzungen vorzunehmen. Häufig ist Streit um die Sicherung des Lebensunterhalts aller Beteiligten und über die Verteilung von Hausrat und Ehewohnung zu entscheiden sowie die Frage der angemessenen gegenseitigen Beteiligung an der während der Ehezeit erworbenen Altersversorgung zu regeln. Ebenso wie im Erbre~ht bietet sich hier der Weg über materiell-rechtliche Auskunftsansprüche als Lösungsstrategie an, da hier wie dort die Anspruchsvoraussetzungen selbst unklar sind, also eine offene Situation erst gestaltet werden muß, verfügbare Ressourcen und denkbare Verteilungsmöglichkeiten erst ermittelt werden müssen. Eine Lösung über die Mechanismen zur Herabsetzung des Informationsbedarfs denkbarer AnspruchssteIler bei der Geltendmachung ihrer Ansprüche scheint daher wenig geeignet. Die Situation im Familienrecht ist durch rege Aktivität des Gesetzgebers gekennzeichnet, der hier anders als etwa im Erbrecht, beim Verhältnis VOn Arzt und Patient oder bei der fehlerhaften Herstellung von Waren selbst die Antwort auf den gesellschaftlichen Wandel und die Entwicklung der modernen Familie in die Hand genommen hat. Gerade auch die Normierung der informationellen Rahmenbedingungen hat dabei eine neue Ausgestaltung erfahren, so daß wir im Familienrecht erstmals über modernes Normenmaterial im hier interessierenden Bereich verfügen. Bei dessen Untersuchung wird sich nun gleich eine dritte Lösungsstrategie zur Bewältigung informationeller Konflikte kennenlernen lassen, die sozusagen eine MittelsteIlung einnimmt zwischen den beiden bislang untersuchten Strategien mit ihrem Ansatz entweder an der Erfüllung oder an der Herabsetzung eines als berechtigt anerkannten Informationsbedürfnisses eines potientiellen Anspruchsstellers: Der Einsatz des Richters zur Beibringung der für eine sinnvolle Gestaltung der Rechtsbeziehungen der Parteien erforderlichen Informationen und die Stärkung seiner Macht im Verfahren. Mit diesem Hebel - zusätzlich zu der bekannten Strategie der materiellen Auskunftsrechte - setzt der moderne Gesetzgeber zur Bewältigung familienrechtlicher Informationsprobleme an. 3.5.1 Materielle Auskunftsansprüche im Familienrecht Auskunftsansprüche sind zunächst dort vorgesehen, wo ein Familienangehöriger für einen anderen Vermögen verwaltet, Geschäfte besorgt oder solche wenigstens beeinfiußt. Solche Ansprüche finden sich im ehelichen Güterrecht bei der Auskunftspflicht (gegebenenfalls sogar zur Rechnungslegungspflicht erstarkt 126) des das Gesamtgut verwaltenden Ehegatten nach § 1435 BGB. Ein 126

Dazu OLG Celle NJW 1976, S. 1568.

3.5 Zur familienrechtlichen Lösung von Informationskonflikten

69

ähnliches Informationsinteresse steht hinter der Auskunftspflicht des § 1379 I BGB im Falle der Beendigung des gesetzlichen Güterstandes der Zugewinngemeinschaft, wenngleich hier jeder Ehegatte sein Vermögen selbst verwaltet (§ 1363 BGB) und nicht fremde Geschäfte besorgt. Hierbei ist ähnlich wie bei § 2314 BGB und Pflichtteilsergänzungsansprüchen wegen Drittschenkungen im Erbrecht fraglich, ob bei der Auskunft über den Bestand des Endvermögens nach § 1379 BGB auch auf Vermögensminderungen im Sinne von § 1375 11 BGB hinzuweisen ist. Die Rechtsprechung verneint dies aufgrund eines Umkehrschlusses aus § 1377 BGB, bei dem die entsprechenden Vermögensteile für die Aufstellung eines Vermögensverzeichnisses des Anfangsvermögens im Gegensatz zu § 1379 BGB ausdrücklich erwähnt werden 127 • Das Informationsinteresse des Ehegatten will die Rechtsprechung insoweit wie im Erbrecht durch Rekurs auf Auskunftsrechte nach Treu und Glauben entsprechend den von ihr dazu entwickelten Grundsätzen befriedigen l28 . Dagegen wird von einer starken Meinung eine ausdehnende Interpretation des § 1379 BGB vertreten und auf die entsprechende Rechtsprechung zur Extension von § 2314 I BGB im Erbrecht verwiesen 129 • Eine zweite Gruppe von Auskunftsregeln hat quasi öffentlich-rechtlichen Charakter und verpflichtet zur Auskunft bzw. Rechenschaftslegung gegenüber dem Vormundschaftsgericht wegen dessen Fürsorge- und Aufsichtskompetenz im Zusammenhang mit der Vermögenssorge der Eltern (§§ 1667 11, 1683, 1689, 1705 iVm 1667 BGB bzw. gegenüber dem Kind nach § 1698 BGB), oder mit der Stellung als Vormund (§§ 1799, 1839 ff., 1890 ff. BGB) bzw. als Pfleger (§§ 1915 iVm 1839 ff. BGB). Informationsmöglichkeiten über die persönlichen Verhältnisse des Kindes bestehen gegebenenfalls auch für den nicht sorgeberechtigten Elternteil infolge von § 1634 111 BGB. Ein dritter Komplex notwendiger Informationserteilung ist seit 1977 nunmehr ebenfalls gesetzlich normiert 130 , nachdem dieser vorher lange Zeit durch Richterrecht auf der Basis von § 242 BGB ausgestaltet worden war: Die Auskunftspflicht zur Vorbereitung eines Unterhaltsanspruchs. Nach § 1605 BGB müssen sich Verwandte gerader Linie zur Feststellung der Unterhaltsansprüche die erforderlichen Informationen über ihre Einkünfte und ihr Vermögen 127 BGH FamRZ 1982, S. 27 f.; offengelassen noch in BGH FamRZ 1976, S. 516; ebenso MüKo-Gernhuber, § 1379 BGB Rn 13 f.; RGRK-Finke, § 1379 BGB Rn 19; Gemhuber, Lehrbuch des Familienrechts, 3. Auf!. 1980, § 36 V 5. 128 BGH FamRZ 1982, S. 27 f.; Erman-Heckelmann, § 1379 BGB Rn 2, und Winkler v. Mohrenfe1s, Abgeleitete Informationsleistungspflichten im deutschen Zivilrecht, unveröff. MS, S. 40. 129 OLG Bamberg FamRZ 1980, S. 573, 575, und OLG Kalrsruhe FamRZ 1980, S. 1119 f.; Staudinger-Thiele, § 1379 BGB Rn 14; Soergel-Lange, § 1379 BGB Rn 8; Beitzke, Familienrecht, 22. Auf!. 1981, § 14 III 3 b. 130 Durch das l. Gesetz zur Reform des Ehe- und Familienrechts vom 14.6.1976 (BGBI I, S. 1421) in Art. 1 Nr. 2l.

70

3. Informationelle Probleme in typischen Zivilrechtskonflikten

erteilen. Durch Verweisung auf diese Vorschrift gelten die gleichen Grundsätze für getrennt lebende Ehegatten nach § 1361 IV 4 BGB und geschiedene Ehegatten nach § 1580 BGB. Diese Informationsansprüche sind rechtspolitisch durch das besondere Informationsinteresse des Unterhaltsberechtigten gerechtfertigt, der ansonsten häufig außerstande wäre, den ihm zustehenden Unterhalt zu berechnen und in einem Klagantrag zu beziffern. Sie dienen aber auch der Herabsetzung des Prozeßrisikos und der Vermeidung unnötiger Unterhaltsprozesse 131 • Ein vierter Komplex von Informationsansprüchen besteht zur Vorbereitung der Durchführung des Versorgungsausgleichs gemäß §§ 1587 e und k I BGB.

3.5.2 Die Stärkung der Richtermacht zur Bewältigung von Informationsdefiziten im Familienrecht Eine besondere Stellung des Richters in einem bestimmten Verfahren ist immer dann zu vermuten, wenn für bestimmte Angelegenheiten spezielle Verfahrensarten angeordnet werden oder gar auf eine ganz andere Verfahrensordnung übergewechselt wird. Im Bereich des Familienrechts (und des Erbrechts) ist dies gewöhnlich der Fall, wenn der Gesetzgeber bei einer bestimmten Angelegenheit von einem besonderen Fürsorge- und Aufsichtsbedürfnis ausgeht und deshalb für die Angelegenheit anstatt einer Anwendung zivilprozessualer Verfahrensvorschriften eine Behandlung nach den Grundsätzen der freiwilligen Gerichtsbarkeit anordnet. Der Grundsatz der Rechtsfürsorge, wohl aber auch Überlegungen der Verfahrensökonomie und der Zweckmäßigkeit lassen eine Zuordnung dieser Materie zu Verfahren der ZPO nicht mehr als sachgerecht erscheinen, weil die Verhandlungsmaxime als wesentlicher Grundsatz des Zivilprozesses mit der Herrschaft der Parteien über den Prozeßstoff und der richterlichen Bindung an den Vortrag der Parteien hier nicht mehr als Mittel geeignet ist, eine ausreichende Klärung ds Sachverhaltes, eine ausreichende Tatsachenbasis für die rechtliche Entscheidung dieser Angelegenheit durch den Richter zu schaffen132 • 3.5.2.1 Das besondere Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit

Dabei finden sich unter dem Dach der freiwilligen Gerichtsbarkeit eine große Anzahl unterschiedlicher Verhandlungsgegenstände. Kurzgefaßt ließe sich sagen, daß es den eigentlichen Kernbereich der Rechtsfürsorgeangelegen131 Vgl. amtliche Begründung in BT-Drucks. 7/650, S. 172; Soergel-Lange, § 1605 BGB Rn 2; Palandt-Diederichsen, § 1605 BGB Anm 1. 132 Keidel/ Kuntze / Winkler, Kommentar zum FGG, 11. Aufl. 1978, § 1 FGG Rn 1,2; MüKo-Maier, Anlage 11 zu §§ 1587 -1587 P BGB Anm 1; Habscheid, Freiwillige Gerichtsbarkeit, 7. Aufl. 1983, S. 18 ff.

3.5 Zur familienrechtlichen Lösung von Informationskonflikten

71

heiten gibt, etwa bei den Aufgaben des Vormundschaftsgerichts, des Nachlaßgerichts sowie den grundbuch- und registerrechtlichen Sachen. Hier stehen eine in die Zukunft wirkende Fürsorge und Hilfestellung für den Bürger, der Schutz der Familie sowie die staatliche Aufzeichnung und Kontrolle grundlegender Rechtsvorgänge im Vordergrund 133 . Daneben gibt es als zweiten großen Bereich die sogenannten privatrechtlichen Streitigkeiten, die der freiwilligen Gerichtsbarkeit neben Fürsorgegesichtspunkten auch aus Zweckmäßigkeitsüberlegungen zugewiesen worden sind. Hier sind ebenfalls die speziellen Verfahrensmaximen der freiwilligen Gerichtsbarkeit, insbesondere der Grundsatz der Amtsermittlung durch den Richter, in der Folge von § 12 FGG anzuwenden. Diese Angelegenheiten können und gegebenenfalls müssen aber doch noch in gewisser Weise auch von den Beteiligten dirigiert werden: Durch ihre Anträge und deren Zurücknahme oder gegebenenfalls durch vergleichsweise Einigung134 • Die zentrale Abweichung von den Verfahrensgrundsätzen der ZPO liegt trotzdem auch hier im informationellen Bereich des Verfahrens, nämlich in der starken Stellung des Richters und seiner Pflicht zur Amtsermittlung. Dies enthebt allerdings nach ganz einhelliger Meinung trotzdem die Beteiligten nicht der Pflicht, durch eingehende Tatsachendarstellung an der Aufklärung des Sachverhalts mitzuwirken 135 • Eine formelle Wahrheit wie im Bereich der ZPO, eine für den Richter bindende Wirkung von Anerkenntnis, Verzicht oder Geständnis sowie ein Versäumnisverfahren unter fiktiver Annahme eines bestimmten Sachverhalts gibt es aber im Bereich der freiwilligen Gerichtsbarkeit keinesfalls. Das Gericht ist bei der Feststellung der Wahrheit einer Behauptung in keiner Weise an das Verhalten oder die Erklärungen der Beteiligten gebunden 136 • 3.5.2.2 Die spezielle Regelung des Versorgungsausgleichs

Diese besondere Verfahrensart mit ihrer starken Stellung des Richters durch Ermessen und Amtsermittlung wurde nun im Familienrecht gezielt zur Sicherung der informationellen Seite eines Kernbereichs der großen Eherechtsreform von 1977 eingesetzt: Der Versorgungsausgleich hat in diesem Reformwerk neben der Einführung des Zerrüttungsprinzips eine besonders 133 Vgl. dazu näher Keidel / Kuntze / Winkler, FGG, § 1 Rn 2 und 4 f.; Habscheid, Freiwillige Gerichtsbarkeit, S. 32 ff. 134 Vgl. dazu näher Keidel / Kuntze / Winkler, FGG, § 1 Rn 2 und 4 f.; Habscheid, Freiwillige Gerichtsbarkeit, S. 35 ff. 135 St. Rspr., vgl. z. B. BGHZ 16, S. 378 ff., 383; OLG Düsseldorf FamRZ 1982, S. 431 f.; BayObLG FamRZ 1982, S. 638; dazu im einzelnen Keidel / Kuntze / Winkler, FGG, § 12 Rn 2, und Janssen, FGG, § 12 Anm 6. 136 Siehe Nachweise Fn 119.

72

3. Informationelle Probleme in typischen Zivilrechtskonflikten

herausragende Stellung, sollten mit diesem Instrument doch erstmals die bei einer Scheidung gewöhnlich auftretenden Nachteile eines die Familie betreuenden Ehegatten bei seiner Altersversorgung gegenüber den Vorteilen der Altersversorgung des während der Ehezeit beschäftigten Ehegatten ausgeglichen werden 137 • Grundvoraussetzung hierfür ist zweifellos, diese Vorteile erst einmal kennenzulernen, sie zu berechnen und zu beziffern. Sowohl die Durchführung dieses Versorgungsausgleichs als auch die entsprechende Informationsbeschaffung sind nun als Familiensache dem Familiengericht im Rahmen der freiwilligen Gerichtsbarkeit zugewiesen, § 1 FGG iVm § 23 b I 2 Nr. 7 GVG sowie §§ 621 I Nr. 6 iVm 621 aI ZPO. Die materiellen Regelungen zum Versorgungsausgleich finden sich in §§ 1587 - 1587 P BGB. Die Auskunftspflicht beim öffentlich-rechtlichen Versorgungsausgleich findet danach gemäß § 1587 I BGB statt, wenn für beide geschiedenen Ehegatten oder für einen von ihnen in der Ehezeit Anwartschaften oder Aussichten auf eine Alters-, Berufsunfähigkeits- oder Erwerbsunfähigkeitsversorgung begründet oder aufrechterhalten worden sind 138 • Die einzelnen Regelungen haben im wesentlichen vor dem Bundesverfassungsgericht Bestand gehabt139 • Soweit § 1587 b III BGB für nichtig befunden wurde l40 , sind inhaltlich an seine Stelle die Regelungen der §§ 1- 3 des Gesetzes zur Regelungen von Härten im Versorgungsausgleich vom 21. Februar 1983 (VAHRG)141 getreten. Im Mittelpunkt des gesamten Versorgungsausgleichs stehen die während der Ehezeit erworbenen Versorgungsanwartschaften, so daß zentrale Vorbedingung der Sicherung des gesamten Komplexes deren genaue Kenntnis ist. 3.5.2.3 Die besondere Stellung des Gerichts im informationellen Bereich des Versorgungsausgleichs

Zunächst besteht hier eine Auskunftspflicht unter den Ehegatten. Sie haben sich gemäß § 1587 e bzw. k BGB über alle die Tatsachen zu informieren, die für die Ausgleichsberechtigung, -verpflichtung und deren Umfang wichtig

Vgl. dazu BT-Drucks. 7/650, insbes. S. 155. BGHZ 81, S. 196, und BGH FamRZ 1983, S. 661; Soergel-v. Homhardt, § 1587 BGB Rn 2 ff.; Palandt-Diederichsen, § 1587 BGB Anm 1 ff. 139 BVerfGE 53, S. 257, allerdings mit einer Reihe von Auflagen, dazu jetzt §§ 410 des Gesetzes zur Regelung von Härten im Versorgungsausgleich (VAHRG); zu Fundstelle und Literatur zum VAHRG vgl. Fn 141. 140 BVerfG FamRZ 1983, S. 342, im Gegensatz zur Rechtsprechung des BGH, vgl. BGH NJW 1983, S. 336. 141 BGBI I, S. 105; dazu Rolland, Kommentar zum VAHRG, 1983; Friderici, NJW 1983, S. 785 ff., Hahne / Glöckner, FamRZ 1983, S. 221 ff., sowie Ruland, FamRZ 1983, S. 566. 137 138

3.5 Zur familienrechtlichen Lösung von Informationskonflikten

73

sind142 • Die Ehegatten können derartige Informationen nur geben, wenn sie ihrerseits genaue Kenntnis über ihre Anwartschaften haben. Jeder Ehegatte hat insofern aus dem zugrunde liegenden Versorgungsverhältnis Anspruch auf entsprechende Auskunft gegen seine Versorgungsträger: Beamte wegen der allgemeinen Fürsorgepflicht des Dienstherrn nach § 79 BBG bzw. Landesvorschriften in der Folge von § 48 BRRG. Bei der gesetzlichen Rentenversicherung bestehen Ansprüche auf der Basis der ersten und der zweiten Auskunftsverordnung 143 • Auch bei privaten Rentenversicherungen oder bei betrieblichen Altersversorgungen sind Auskunftsverpflichtungen als Nebenpflichten einschlägig 144 . Bis zu diesem Punkt entspricht also alles dem bekannten Informationsmechanismus über Auskunftsrechte. Das Besondere ergibt sich nun aus der verfahrensmäßigen Ausgestaltung mit der starken Einbindung des Richters in die Informationsbeschaffung. Zunächst handelt es sich trotz der von Amts wegen erfolgenden Durchführung des öffentlich-rechtlichen Versorgungsausgleichs nach mittlerweile einhelliger Ansicht um eine privatrechtliche Streitigkeit in der freiwilligen Gerichtsbarkeit 145 , wobei auch hier das Verfahren insbesondere von der Amtsermittlung durch das Gericht dominiert wird 146 . Diese Stellung des Gerichts wird weiter verstärkt durch die §§ 53 b 11 2 und 3 FGG, die die Ermittlungstätigkeit des Familiengerichts weiter erleichtern. Das Gericht der freiwilligen Gerichtsbarkeit kann danach selbst von den zuständigen Behörden, Arbeitgebern oder Versicherungsträgern Auskünfte einholen und diese Stellen sind - gegebenenfalls über § 33 FGG mit Zwangsgeld erzwingbar147 - zur Erteilung der begehrten Informationen verpflichtet 148 •

142 Ausführlich dazu Soergel-v. Homhardt, § 1587 e BGB Rn 4 - 8; zur Reichweite vgl. auch BGH NJW 1982, S. 1646. 143 Erste Verordnung über die Erteilung von Rentenauskünften an Versicherte der gesetzlichen Rentenversicherungen v. 22. Dez. 1975 (1. AuskunftsVO, BGBI I, S. 3184) und Zweite Verordnung für die Erteilung von Rentenauskünften an Versicherte der gesetzlichen Rentenversicherungen v. 5. Aug. 1977 (2. AuskunftsVO, BGBI I, S. 1486); jeweils abgedruckt und kommentiert bei Soergel-v. Homhardt, § 1587 e BGB Rn 13 ff. 144 Dazu ausführlich Soergel-v. Homhardt, § 1587 e BGB Rn 11 f. mwN. 145 Nunmehr vom BGH klargestellt, vgl. BGH NJW 1983, S. 173. 146 Vgl. dazu insbesondere BGH FamRZ 1983, S. 262. 147 MüKo-Strobel, Anhang 11 nach §§ 1587 - 1587 P BGB Rn 8 f. zu § 53 b FGG; Keidell Kuntze I Winkler, FGG, § 53 b Rn 9, und § 53 Rn 53; Diederichsen, NJW 1977, S. 649,657. 148 Keidell Kuntze I Winkler, FGG, § 53 b Rn 9; MüKo-Strobel, Anhang 11 nach §§ 1587 - 1587 P BGB Rn 8 zu § 53 b FGG und MüKo~Strobel (Ergänzungsband), Anhang 11 nach §§ 1587 - 1587 P BGB Rn 8 zu § 53 b FGG; Bastian I Roth-Stielow I Schmeiduch, Das neue Ehe- und Scheidungsrecht, 1978, § 53 b FGG Anm 5; vgl. auch Vogel, FamRZ 1978, S. 391 ff, und MDR 1979, S. 270 ff.

74

3. Informationelle Probleme in typischen Zivilrechtskonflikten

Streitig blieb insofern, ob das Familiengericht selbst auch Auskünfte von den beteiligten Ehegatten erzwingen könnte, etwa nach § 12 FGG149, nach § 13 Satz 2 FGG150 oder aus Analogie zu § 53 b 11 2 FGG151. Solche extensive Auslegung wird aber wohl schon deshalb zu Recht abgelehnt, weil der Gesetzgeber beim Erlaß der Vorschriften über den Versorgungsausgleich ausdrücklich die Auskunftspflicht nach § 1587 e und k BGB auf die Ehegatten untereinander beschränkt und nicht auf das Familiengericht ausgedehnt hat 152 . Offensichtlich wurde damals eine solche, noch weitergehende Stärkung der Position des Richters im Bereich der Informationserteilung für zu weitgehend gehalten. Entsprechende Bedenken hat der Gesetzgeber allerdings zwischenzeitlich überwunden und erachtet nunmehr eine solch u,mfassende Stärkung der Richterrolle als sachgerecht. So wurde 1983 in § 11 V AHRG der Anwendungsbereich von §§ 53 b 11 2, 3 FGG auch auf die Auskunftspflicht der Ehegatten ausgedehnt 153 . Damit hat die Strategie der Verlagerung der Informationsermittlung zur Bewältigung von informationellen Schwierigkeiten auf Richteraktivitäten und die Normierung einer starken Rolle des Richters beim Versorgungsausgleich eine entscheidende Abrundung erfahren. Die Auskunftsrechte unter den Ehegatten selbst dürften bei tatsächlicher Wahrnehmung dieser starken Position durch das Gericht in der Praxis eher an Bedeutung verlieren 154 .

149 Überwiegend abgelehnt, vgl. OLG Frankfurt FamRZ 1979, S. 150 f.; Vogel, FamRZ 1978, S. 392; Soergel-v. Homhardt, § 1587 e BGB Rn 21. f. 150 So AG Lörrach FamRZ 1978, S. 1267; § 13 FGG ist aber gern. § 621 aI ZPO auf Familiensachen gar nicht anwendbar. 151 Der allerdings nach seinem Wortlaut dem Familiengericht gerade kein Recht auf Auskunft durch die Ehegatten gibt; dagegen Soergel-v. Homhardt, § 1587 e BGB Rn 25 mwN; Vogel, MDR 1979, S. 270. 152 Vgl. BT-Drucks. 7 14361, S. 45. 153 Dazu Rolland, V AHRG, § 11 Rn 1 f.; Friderici, NJW 1983, S. 790 f.; Hahne I Glöckner, FamRZ 1983, S. 226. 154 Zur entsprechenden Entwicklung in der Praxis vgl. Soergel-v. Homhardt, § 1587 e BGB Rn 26 ff.

4. Zwischenergebnis: Drei Modellvarianten zur Gestaltung von Informationsbeziehungen Die Analyse der Bewältigung der informationellen Probleme in einer Reihe von typischen modernen Zivilrechtskonflikten läßt drei generelle Ansatzpunkte der eingesetzten Problemlösungsstrategien erkennen. Sie bietet gleichzeitig eine Fülle von Material, von Gesichtspunkten und Argumenten zu einer ersten Beurteilung der Funktionsmechanismen und der. Leistungsfähigkeit, der Stärken und der Schwächen dieser drei Modellvarianten.

4.1 Abhängige Variable: Informationsbedad Ausgangspunkt unserer Überlegungen war die Diagnose strukturell angelegter Informationsdefizite der Arbeitnehmerseite und ihrer Interessenvertretung in der Arbeitswelt. Die Kommunikationsstränge und der Zugang zu den entsprechenden Informationen ist dort so ausgestaltet, daß diese zur Wahrnehmung ihrer Aufgaben und zur Durchsetzung ihrer Interessen und Rechte prinzipiell auf eine Informationsweitergabe durch die andere Seite, den Arbeitgeber, die Unternehmensleitung, den Vorstand oder das Management angewiesen sind. Eigene Informationsquellen bestehen demgegenüber nur in eingeschränktem Umfang, teilweise auch über die Gewerkschaften, oder sind, wie zum Beispiel im ganzen Bereich der Planung oder der Organisationsentwicklung, gar nicht gegeben. Bei dieser Ausgangslage sollte man meinen, daß der gegebene Informationsbedarf objektiv bestimmbar ist und für die weiteren Überlegungen als feststehendes Datum, als unabhängige Variable zugrundegelegt werden kann. Man sollte meinen, daß man für dessen Erfüllung nur noch nach einem geeigneten Instrumentarium mit funktionalen Informationsmechanismen zu fragen hat. Wie wir allerdings bei der Diskussion ähnlich gelagerter zivilrechtlicher Konflikte mit strukturell angelegten Informationsdefiziten eines Vertragspartners, eines AnspruchssteIlers etc. sehen konnten, würde ein solcher Untersuchungsansatz zu kurz greifen. Nicht zuletzt aufgrund der dualistischen Struktur der Steuerung gesellschaftlicher Lebenssachverhalte durch Recht mit ihrer spezifischen Wirkungsweise der Umsetzung und Durchsetzung solcher Steuerungsversuche im Prozeß, eröffnen sich hier weitergehende oder ganz anders ansetzende Möglichkeiten einer Bewältigung der Informationsproblematik und fordern angemessene Berücksichtigung: Ansetzen läßt sich nicht nur materiellrechtlich, durch die Ausformung materiellrechtlicher Ansprüche

76

4. Zwischenergebnis: Drei Modellvarianten

auf Erteilung notwendiger Informationen und deren Durchsetzung im Prozeß auf Information. Ansetzen läßt sich dabei auch prozessual, durch eine besondere Ausgestaltung der informationellen Beziehungen der Parteien im Hauptprozeß, also im Prozeß um die eigentlich im Zentrum stehende Angelegenheit selbst. Aufgrund dieser speziellen Wirkungsbedingungen ergeben sich Ansatzmöglichkeiten für Lösungsstrategien nicht nur bei der Frage der erforderlichen und angemessenen Instrumente einer Befriedigung vorausgesetzter, akzeptierter Informationsbedürfnisse, sondern dadurch ergibt sich die Möglichkeit, das Informationsbedürfnis selbst oder zumindest doch den Umfang des Informationsbedarfes zur Disposition zu stellen. Das Bedürfnis nach Information wird dadurch selbst zu einer abhängigen Variablen und verliert seinen Charakter als unumstößliches, unbeeinflußbares Datum. Da die Strategie der Herabsetzung des Informationsbedarfs allerdings prozessual ansetzt und an den Hauptprozeß gebunden ist, ist ihr Einsatz mit völlig anderen Voraussetzungen und Folgen verbunden, die bei der Optimierung der Wahl einer Lösungsstrategie in den im folgenden zu besprechenden arbeitsrechtlichen Konfliktsituation natürlich in Rechnung zu stellen sind.

4.2 Unterschiede der prozessualen und materieUrechtlichen LösungsmodeUe Läßt sich die materiellrechtliche Strategie als die einer Erfüllung des Informationsbedarfs ansprechen, so wäre als vergleichbare Überschrift für die prozessualen Modelle die einer Strategie zur Herabsetzung des Informationsbedarfs geeignet.

4.2.1 Informationen in dritter Hand Wichtig ist dabei zunächst die Erkenntnis, daß aufgrund der Gebundenheit eines prozessualen Ansatzes an den Hauptprozeß zwischen den konfligierenden Partnern eine solche Herabsetzung des Informationsbedarfs eines Konfliktbeteiligten aufgrund des Prozeßverhältnisses nur zu Lasten des anderen Prozeßteilnehmers gehen kann. Das schränkt die Einsatzmöglichkeiten dieser Strategie erheblich ein. Sinnvoll erscheint dies als Weg einer Gestaltung gegenseitiger Kommunikationspflichten nur, wenn der Gegenspieler, zu dessen Lasten das Informationsbedürfnis eines Konfliktbeteiligten herabgesetzt wird, seinerseits über die in Frage stehenden Informationen auch verfügt oder sich diese leicht (jedenfalls leichter als der andere Beteiligte) verfügbar machen kann - ohne daß dabei im übrigen schon darüber entschieden wäre, ob er hierzu überhaupt verpflichtet ist.

4.2 Prozessuale und materiellrechtliche Lösungsmodelle

77

Demgegenüber ergeben sich bei der materiellrechtlichen Lösungsstrategie insoweit keine notwendigen Beschränkungen. Hier ist ohne weiteres denkbar, nicht nur den unmittelbaren Konfliktgegner zur Erfüllung des Informationsbedürfnisses zu verpflichten, sondern - bei entsprechend gelagerter Verfügbarkeit von Informationen - auch Dritte, z. B. im Erbrecht den vom Erblasser mit Geschenken bedachten Personenkreis 1 oder im Familienrecht beispielsweise Vormund und Pfleger, Eltern oder Behörden und Versicherungsträger2 . Im Familienrecht haben wir außerdem bei der gesetzlichen Normierung der informationellen Rahmenbedingungen im Bereich des Versorgungsausgleichs noch eine andere prozessuale Strategie kennengelernt 3 , die insoweit quasi eine Mittelstellung einnimmt. Durch entsprechende Verfahrensgestaltung wird hier zwar der Informationsbedarf des einen Konfliktbeteiligten herabgesetzt. Dies geschieht aber nicht zu Lasten des anderen VerJahrensbeteiligten, sondern die Last der Schaffung einer zweckentsprechenden informationellen Basis zur Klärung und Bewältigung des Konfliktes wird auf das Gericht verlagert. Dessen Stellung im Verfahren wird entsprechend gestärkt und unter dessen Leitung die Kommunikation im Verfahren erheblich ausgeweitet. Dabei läßt sich wiederum ergänzend auf materiellrechtliche Möglichkeiten zurückgreifen, so daß für den Richter gegebenenfalls auch gegenüber Dritten entsprechende Informationskanäle geschaffen werden, auf denen er die erforderlichen Tatsachen ermitteln kann.

4.2.2 Informationsbedarf bei Fehlen oder Disfunktionalität eines Hauptprozesses Die Verknüpfung des prozessualen Ansatzes mit dem Hauptprozeß hat weitere Folgen: Es ist in gewisser Weise eine ex post-Strategie. Der Informationsbedürftige muß hier immer seinen Angriff erst einmal führen, ehe diese Strategie greifen kann. Dies setzt aber regelmäßig schon eine gewisse Informiertheit voraus. So muß der Betroffene zum einen erst einmal wissen, daß seine Interessen und Rechte überhaupt tangiert sind, daß also ein entsprechender Angriff überhaupt in Frage kommt bzw. notwendig oder berechtigt sein könnte. Weiter muß er wissen, in welcher Form, in welchem Umfang und riüt welchem Ausmaß ein solches Vorgehen in Betracht zu ziehen sein könnte. Wie wir insbesondere im Erbrecht gesehen haben, ist dies aber durchaus nicht immer der Fa1l4 • So nützt es dem Pflichtteilsberechtigten, der wegen vom

1 2 3 4

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

dazu oben Abschnitt 3.4.2.3. dazu oben Abschnitt 3.5. dazu oben Abschnitt 3.5.2. dazu oben Abschnitt 3.4.2.3.

4. Zwischenergebnis: Drei Modellvarianten

78

Erblasser bewirkten Schenkungen Rückforderungsansprüche geltend machen will, wenig, wenn gegebenenfalls im Herausgabeprozeß sein Informationsbedarf gesenkt wird, er aber nicht weiß, wem entsprechende Geschenke gemacht wurden und ihm kein Recht eingeräumt wird, den in Betracht kommenden Personenkreis einfach zu befragen und entsprechende Auskunft zu verlangen. Hierbei ist weiter zu berücksichtigen, daß die Wirkung der oben5 angesprochenen allgemeinen Faktoren als Barriere für die Bürger im Hinblick auf eine Durchsetzung ihrer Interessen mit den Mitteln des Rechts um so größer wird, je weniger kalkulierbar und überschaubar die Risiken eines rechtlichen Vorgehens sind. Dies muß sich hier um so mehr auswirken und negative Folgen zeitigen, weil hier ja bei dem Einstieg in den Hauptprozeß - sollte er im Einzelfall doch einmal möglich sein - eine kalkulierte Uninformiertheit und somit notgedrungen eine Unsicherheit in der Prognose zum Prinzip erhoben ist. Daneben gibt es eine Vielzahl von Situationen, wo ein Hauptprozeß sich vorerst gar nicht abzeichnet, nicht angestrebt wird oder zur Interessenwahrung zunächst einmal gar nicht geeignet wäre. Dies ist häufig dann der Fall, wenn die informationellen Befugnisse im Zusammenhang mit einer offenen Situation bestehen, die von beiden Seiten erst gemeinsam geplant und ausgestaltet werden soll. Gleiches gilt, wenn eine der beiden Seiten zur Beteiligung an der Entscheidung der anderen Seite oder wenigstens zur Schaffung von bestimmten Voraussetzungen für diese Entscheidung der anderen Seite berufen ist. In diesem Sinne war im Verhältnis von Arzt und Patient zu sehen, daß Strategien einer Herabsetzung des Informationsbedarfs des Patienten im Hauptprozeß zur Schaffung der Rahmenbedingungen für eine verantwortliche Patientenentscheidung infolge seines verfassungsmäßigen Selbstbestimmungsrechts nicht geeignet erschien6 • Interessanterweise war hierbei ein Ausweichen der Rechtsprechung auf Lösungsstrategien im Zusammenhang des Prinzips der Aktenmäßigkeit zu beobachten. Ähnlich ergeht es einem Betriebsrat, ,der die Umgestaltung der Arbeitsorganisation durch weitgehende Einführung von Bildschirmarbeitsplätzen unter Ausschluß seiner Beteiligung durch den Arbeitgeber befürchtet. Er wird sein Interesse an Einflußnahme auf die Entscheidung, auf das geWählte System, den Einsatzumfang, die veranlaßten personellen Folgewirkungen etc. kaum gewahrt sehen, wenn er hier auf einen Hauptprozeß um den Nichteinsatz des letztlich vom Arbeitgeber ausgewählten oder schon beschafften oder gar schon installierten Systems verwiesen bliebe, in dem ihm dann durch Erleichterungen beim Umfang der von ihm geforderten sachlichen Fundierung seines Begehrens letztlich gewisse nachträgliche Verhinderungschancen eingeräumt sind. Bei derartigen Konflikttypen bietet sich eine Lösungsstrategie über materiellrechtliche Mechanismen nachgerade an. 5

6

Vgl. dazu oben Abschnitt 2. Vgl. dazu oben Abschnitt 3.2.2.

4.2 Prozessuale und materiellrechtliche Lösungsmodelle

79

4.2.3 Prozeßökonomische Folgewirkungen Bei einer Gegenüberstellung von prozessualen und materiellrechtlichen Mechanismen dürfen ferner die Folgen für die Prozeßökonomie nicht unbeachtet bleiben, insbesondere die Wirkungsweise hinsichtlich der Vermeidung von unnötigen bzw. aussichtslosen Prozessen. Hier zeigt sich ein prinzipieller Nachteil der prozessualen Lösungsmechanismen, die wegen der Herabsetzung des Informationsbedarfs bei dem uninformierten Konfliktteilnehmer einen gewissen Zwang zur Einleitung eines Hauptprozesses bei unsicherer Prognose über dessen Ausgang und dessen Erforderlichkeit herbeiführen. Wird infolge der materiellrechtlich ansetzenden Mechanismen der akzeptierte Informationsbedarf dieses Konfliktteilnehmers dagegen gesättigt, so wird dieser zur rationalen Abwägung seiner Chancen sowie von Kosten und Nutzen eines Prozesses sehr viel eher in der Lage sein. Deshalb steht zu hoffen, daß insofern die Zahl unnötiger oder aussichtsloser Prozesse deutlich kleiner ausfällt. In diesem Zusammenhang ist aber noch zweierlei zu bedenken: 4.2.3.1 Zum einen darf nicht vergessen "(erden, daß infolge eines materiellrechtlichen Ansatzes möglicherweise zwei Verfahren erforderlich sein können - nämlich zunächst gegebenenfalls ein Verfahren zur Durchsetzung des Anspruchs auf Erteilung der berechtigterweise verlangten Auskünfte und dann je nach Ausgang dieses Verfahrens anschließend eventuell noch ein zweites in der Hauptsache selbst. Prozeßökonomisch kennt hier der Zivilprozeß, wie wir gesehen haben, mit dem Instrument der Stufenklage schon längst ein Mittel, dadurch veranlaßte prozessuale Doppelarbeit zu vermeiden7 • Dies bietet jedoch einen Ausweg aufgrund des gegenseitigen Prozeßverhältnisses nur innerhalb der gleichen Restriktionen an, die vorhin im Zusammenhang mit prozessualen Lösungsstrategien schon kennenzulernen waren. Voraussetzung solcher Vereinfachung ist die Gleichheit von Anspruchs- und Informationsschuldner. Anderenfalls muß in einem getrennten Verfahren vorher der Informationsanspruch gegen den Dritten verfolgt werden, ehe es gegebenenfalls dann zu einem zweiten Verfahren in der eigentlich umstrittenen Hauptsache zwischen den Konfliktbeteiligten selbst kommen kann. Auch die materiellrechtlichen Lösungsstrategien bieten also nicht immer prozeßökonomische Vorteile. Wie besonders im Familienrecht zu sehen war, schätzt aber auch der Gesetzgeber diese prozeßökonomischen Vorteile des Ansatzes am materiellen Recht hoch ein - jedenfalls in den Fällen, in denen prinzipiell eine Stufenklage denkbar erscheint: Im Unterhaltsrecht beispielsweise hätte es doch schon deshalb nahegelegen, eine prozessuale Bewältigung des Informationsproblems zu

7

Vgl. dazu oben Abschnitt 3.1.1.

80

4. Zwischenergebnis: Drei Modellvarianten

suchen, weil hier im Konfliktfalle ohnehin häufig ein Hauptprozeß mit dem Resultat eines Unterhaltstitels wird folgen müssen. Trotzdem hat der Gesetzgeber hier nicht eine Regelung über die Mechanismen von Darlegungs-, Substantiierungs- und Beweislast in den Vordergrund gestellt, sondern in der geschilderten Weise - sogar ausdrücklich infolge prozeßökonomischer Überlegungen - umfängliche materielle Informationsverpflichtungen geschaffen, um den Zwang zum Unterhaltsprozeß herabzusetzen und aus bloßer Nichtinformiertheit resultierende Verfahren möglichst zu vermeiden8 . 4.2.3.2 Zum anderen ist zu bedenken, daß der Einsatz prozessualer Mittel zur Gestaltung der Informationsbeziehungen sich nicht ausschließlich in der eingangs geschilderten Wirkung erschöpft, so daß der prinzipielle prozeßökono mische Nachteil dieser Lösungsstrategie nicht immer nachteilig zum Tragen kommen muß. Eine Herabsetzung des Informationsbedarfs des Klägers durch Überwälzung der Informationslasten auf den Beklagten im Prozeß hat gewöhnlich weitreichendere Folgen beim Beklagten. Er wird versuchen, dem für ihn gestiegenen Prozeßrisiko durch vorbeugende, schadensvermeidende oder wenigstens schadensvermindernde Maßnahmen Rechnung zu tragen, sei es durch entsprechende Änderung seines Informationsverhaltens gegenüber den Betroffenen im vorprozessualen Bereich, sei es durch möglichst weitgehende Beseitigung der konfliktauslösenden Ursachen - beides würde sich letztlich prozeßökonomisch vorteilhaft auswirken. Dieser Effekt dürfte in den Fallgruppen sogar im Vordergrund stehen, in denen die konfliktauslösenden Faktoren nahezu vollständig von einer Seite beherrscht werden, eine Beseitigung dieser Konfliktursachen dort aber deshalb nicht geschieht, weil aufgrund des gegebenen Informationsdefizits der Gegenseite die dort eintretenden negativen Folgen nicht auf die verursachende Seite zurückgewälzt werden. Bei dieser Sachlage entsteht dort kein Anreiz zur Vermeidung solcher nachteiliger Folgen. Ein so gelagerter Konflikttyp wurde oben mit dem Verhältnis des Konsumenten zum Hersteller fehlerhafter Waren analysiert, bei dem solche Überlegungen für die Gestaltung der Informationsbeziehungen nicht nur in bezug auf ihre prozeßökonomischen Folgewirkungen, sondern weit darüber hinausgreifend ganz unmittelbar aufgrund ihrer wohlfahrtsökonomischen Vorteilhaftigkeit eine bedeutende Rolle spielen9 •

4.2.4 Das Risiko der Unaufklärbarkeit Anders als bei dem prozessualen Ansatz ist das Risiko der Unaufklärbarkeit bei einem materiellrechtlichen Lösungsansatz immer von vornherein gleich 8 9

Vgl. dazu oben Abschnitt 3.5.l. Vgl. dazu oben Abschnitt 3.3.

4.2 Prozessuale und materiellrechtliche Lösungsmodelle

81

mitverteilt. Kann der Auskunftspflichtige mangels eigener Information oder der Chance eigener Informationsverschaffung keine Auskunft geben, so ist dem Anspruchsteller, der aus einem materiellen Auskunftsrecht vorgeht, nicht weiterzuhelfen. Diente das Informationsbegehren der Vorbereitung eines Anspruchs, so wird er diesen eben nicht erfolgreich verfolgen und durchsetzen können. Ausnahmen müssen hier allerdings für die Fälle der Beweisvereitelung des Auskunftspflichtigen gemacht werden10 • Demgegenüber erlaubt eine prozessuale Regelung der Informationsbeziehungen im Wege eines Darlegungs- oder Beweislastmechanismus differenziertere Überlegungen zur Verteilung des Unaufklärbarkeitsrisikos. Hier können Informationslasten wie Darlegungs- und Substantiierungslast oder die subjektive Beweislast (Beweisführungslast) durchaus unabhängig und gegebenenfalls verschieden von der objektiven Beweislast, dem Risiko eines non liquet im Prozeß, verteilt werden. Die prozessualen Mechanismen erweisen sich damit hinsichtlich der Verteilung des Risikos der Unaufklärbarkeit bestimmter Sachverhalte als wesentlich flexibler als materiellrechtlich ansetzende Lösungsstrategien. Wir haben oben bei der Erörterung der Bewältigung des Informationsproblems bei Kunstfehlerprozessen im Verhältnis von Arzt und Patient solche Überlegungen kennengelernt ll . Dort wurde von einer erstarkten Meinung mit der Argumentation, daß das vertraglich übernommene Leistungsprogramm des Arztes verhaltens bezogen und nicht erfolgsbezogen sei und demgemäß jegliche ärztliche Erfüllungshaftung den gegenseitigen Verpflichtungen nicht angemessen sein könne, die Anwendung eines Beweislastmechanismus zu Lasten des Arztes zur Erleichterung der informationellen Schwierigkeiten des Patienten im Kunstfehlerprozeß abgelehnt. Dagegen war darauf hinzuweisen, daß diese Gesichtspunkte allenfalls die Verteilung der objektiven Beweislast, des Risikos der Unaufklärbarkeit, zu Lasten des Patienten zu tragen geeignet sind - wohingegen sie für die Gestaltung der Informationsbeziehungen, für die Verteilung der Aufklärungs- und Substantiierungslast so nicht einschlägig sein können. Eine andere Verteilung dieser subjektiven Lasten im Prozeß hätte nahe gelegen. Wie dort zu sehen war, wurde jedoch insoweit von der ganz herrschenden Meinung aus anderen (guten) Gründen ein solcher Weg nicht beschritten, sondern statt dessen wurden zur Bewältigung dieser Probleme dort materiellrechtliche Gestaltungsformen herangezogen. Die Flexibilität des prozessualen Ansatzes geht dabei noch weiter. Man könnte sich hier sogar eine Art "stimulus and response-Verfahren" bei der Gestaltung eines prozessualen Informationslastmechanismus vorstellen. Dies 10 Zur Beweisvereitelung und deren Sanktionierung vgl. unten Abschnitt 5.3.4 mit Fn 73. 11 Vgl. dazu oben Abschnitt 3.2.1.

6 Haug

4. Zwischenergebnis: Drei Modellvarianten

82

führte dazu, die subjektiven Informationslasten nicht ein für alle Mal auf eine Seite zu verlagern, sondern je nach Informationsmäglichkeiten und je nach der tatsächlichen Darlegung von Informationen im Prozeß ein Wechselspiel gegenseitiger Informationslasten vorzusehen. Jede Partei ist bei einer derartigen abgestuften Verteilung von Darlegungs- und Substantiierungslasten dann gegebenenfalls in Abhängigkeit von den erbrachten Informationen der Gegenseite zu zusätzlichen eigenen Angaben und zur weiteren Aufklärung von strittigen Details in dem von ihr beherrschten Bereich verpflichtet.

4.2.5 Sanktionierung bei Verstößen gegen das vorgeschriebene Informationsverhalten Neben den Flexibilitätsnachteilen weisen materiellrechtlich ansetzende Mechanismen gegenüber prozessualen noch in einer weiteren Hinsicht Defizite auf. Während bei prozessual festgelegten und ausgestalteten Informationsmechanismen Verstöße immer unmittelbar mit prozessualen Nachteilen für die belastete Partei sanktioniert sind und ein drohender Prozeßverlust zu befürchten ist, erfordern materellrechtlich normierte Informationsstrukturen immer ein gesondertes Sanktionierungsprogramm gegen Verstöße. Zwar kommt zunächst generell eine Durchsetzung der Informationsbeziehungen im Wege einer Klage auf Informationserteilung in Betracht, doch gestaltet sich diese Durchsetzung auch mit Hilfe der Vollstreckung immer dann schwierig, wenn Aktenmäßigkeit nicht üblich ist und deshalb auf Urkunden, Unterlagen oder sonstige Informationsträger nicht zurückgegriffen werden kann. Wie soll man bei Tatsachen, die nur dem Informationsverpflichteten selbst persönlich bekannt sind, die Richtigkeit oder Vollständigkeit der letztlich erteilten Information überblicken und kontrollieren? Wann ist deshalb ein solcher Anspruch auf Information als erfüllt anzusehen? Derartige nur sehr schlecht beherrschbare Situationen tauchen etwa bei Informationsansprüchen im Erbrecht oder hinsichtlich der Unterhaltspflicht Selbständiger immer wieder auf und führen zu großen praktischen Schwierigkeiten. Wie gezeigt, hat sich der Gesetzgeber auf diese allgemeinen Durchsetzungsmöglichkeiten ebenfalls nicht verlassen, sondern bei entsprechendem Verdacht zusätzliche Sanktionen eingeführt. Zumeist wird dabei, ähnlich wie bei §§ 259, 260 BGB im Wege einer Pflicht zur Abgabe einer eidesstattlichen Versicherung über Vollständigkeit und Richtigkeit der erteilten Information, auf strafrechtliche Sanktionen zurückgegriffen 12. In diesem Zusammenhang bringt eine andere Ausgestaltung der zivilrechtlichen Rechtsfolge wiederum eine interessante Modifikation. Denkbar ist es nämlich nicht nur, im Rahmen der materiellrechtlichen Strategie dem Infor12

Vgl. dazu oben Abschnitt 3.1.1.

4.3 Drei Mechanismen zur Gestaltung von Informationsbeziehungen

83

mationsberechtigten einen direkten Anspruch oder Nebenanspruch auf Erteilung der Information zu geben, sondern denkbar ist auch, eine Informationsweitergabe zivilrechtlich auf dem Weg einer Gewährung von Schadensersatzansprüchen zu erreichen. Solche Schadensersatzansprüche sind allgemein im Zivilrecht durchaus üblich, als Beispiele können die bekannten Ansprüche aus culpa in contrahendo oder positiver Vertragsverletzung dienen. Ziel der Gewährung solcher materiellrechtlicher Schadensersatzansprüche ist ja nicht nur der Ausgleich finanzieller Nachteile beim Ersatzberechtigten, sondern Ziel der Gewährung solcher Ansprüche ist es ja mindestens genauso, den Schadensersatzverpflichteten möglichst zur Vorbeugung und Schadensvermeidung anzuhalten - und das heißt bei einem Einsatz dieses Instruments im hier verfolgten Zusammenhang zur rechtzeitigen und vom Umfang her angemessenen Informationsbereitschaft.

4.3 Die drei Mechanismen zur Gestaltung von Informationsbeziehungen Bei der Analyse typischer zivilrechtlicher Konfliktlagen haben sich drei unterschiedliche Strategien zur Bewältigung struktureller Informationsdefizite herauskristallisiert, deren Eignung, Leistungsfähigkeit und Folgen für die Bewältigung arbeitsrechtlicher Informationsprobleme und die Gestaltung der informationellen Rahmenbedingungen in der Arbeitswelt im folgenden zu untersuchen sind: (1) Prozeßmodell I "Stärkung der Richtermacht und Ausweitung der Kommunikation im Verfahren" mit der Folge der Einbindung des Richters in die Ermittlung der für seine Entscheidung des Konflikts erforderlichen informationellen Basis und einer Modifizierung wesentlicher Prozeßmaximen des Zivilrechts, insbesondere der Verhandlungsmaxime. (2) Prozeßmodell II "Beweislastmechanismus" mit der Folge einer gezielten Herabsetzung des Informationsbedarfs eines Anspruchstellers zu Lasten des Prozeßgegners, wenn dieser im Gegensatz zum Anspruchsteller aufgrund der konflikttypischen Strukturen allein über die entsprechenden Informationen oder Informationsquellen verfügt. (3) Materiellrechtliches Modell "Auskunftspflicht" mit der Folge der Gewährung eines Rechtsanspruchs für den Informationsbedürftigen auf Auskunft zum Zweck der Wahrung seiner rechtlichen Interessen, wenn deren Durchsetzung schon prinzipiell aufgrund der gegebenen konflikttypischen Informations- und Kommunikationsstrukturen gefährdet erscheint. Ergänzend kommen hier Pflichten des Informationsgebers zur Führung von Akten und zur Dokumentation wesentlicher Vorkommnisse oder zu Schadensersatz in Betracht13 • 6'

4. Zwischenergebnis: Drei Modellvarianten

84

Der nun folgende Teil 11 der Arbeit hat die Aufgabe, den möglichen Einsatz dieser drei aufgefundenen Modellvarianten zur Gestaltung der informationellen Rahmenbedingungen im Arbeitsrecht zu untersuchen und dabei Reichweite wie Grenzen ihrer Effektivität und ihrer Leistungsfähigkeit jeweils näher darzustellen. Abschließend ist nach verbliebenen Defiziten und notwendigen Änderungen oder Ergänzungen der so gekennzeichneten informationellen Gegebenheiten im Arbeitsrecht zu fragen.

13

Vgl. dazu oben Abschnitt 3.2.3 (ärztliche Dokumentationspflicht).

TEIL 11

Zur Gestaltung der informationellen Rahmenbedingungen im Arbeitsrecht 5. ProzeßmodeD I:

Stärkung der Richtermacht und Ausweitung der Kommunikation im Verfahren Im Mittelpunkt des Interesses einer Strategie der Stärkung der Rolle des Richters im Verfahren und der Ausweitung der verfahrensmäßigen Kommunikation sowohl zwischen den Parteien wie im Verhältnis von Parteien und Richter steht die Frage nach der Verhandlungsmaxime als insoweit zentralem Verfahrensgrundsatz des Prozeßrechts. Diese Frage nach dem Verhältnis von Parteiherrschaft und Richtermacht im Prozeß ist in der Prozeßrechtswissenschaft bis heute heftig umstritten.

5.1 Zur Abgrenzung: Richterliche Untersuchung oder Aufklärungspflicht der Parteien Modifikationen der Verhandlungsmaxime sind grundsätzlich in zwei verschiedenen Richtungen denkbar: Entweder der Richter wird zu Lasten der Parteiverimtwortlichkeit für die Einführung des Prozeßstoffes und für den Vortrag bzw. die Aufklärung der tatsächlichen Grundlagen des Prozesses mit der eigenständigen Ermittlung, der Untersuchung der für seine Entscheidung relevanten Tatsachen beauftragt. Das führt letztlich zur Arntsermittlung durch das Gericht, wie sich dies im Falle der gesetzlichen Gestaltung der Informationsbeziehungen für die Durchführung des familienrechtlichen Versorgungsausgleiches ergeben hat. Oder die Verhandlungsmaxime wird dahingehend modifiziert, daß zwar nicht der Richter zur selbständigen Ermittlung berufen wird, daß aber umfassende prozessuale Verpflichtungen oder Lasten der Parteien zur Aufklärung, zur Weitergabe aller ihnen zugänglichen und für den Prozeßgegenstand relevanten Informationen geschaffen werden. Dies führt dazu, daß die freie Entscheidung der Partei über die Preisgabe ihr zur Verfügung stehender Informationen und deren Einführung in den Prozeß aufgegeben oder jedenfalls durch die Folge drohender Nachteile bei Informationszurückhaltung empfindlich eingeschränkt wird.

86

5. Prozeßmodeli I: Ausweitung der Kommunikation im Verfahren

Obwohl beide Vorgehensweisen an einer Einschränkung der Verhandlungsmaxime anknüpfen und eine Änderung der informationellen Struktur im Prozeß im Sinne haben, setzen sie doch ganz unterschiedlich an und bringen völlig verschiedene Wirkungen hervor. Ist das Gericht zur Ermittlung berufen, kann es nach eigenem Ermessen Informationen von den Parteien, aber auch von Dritten, wie Arbeitskollegen, Betriebsräten, Geschäftspartnern, Behörden usf. einholen. Werden hingegen die Parteien zur gegenseitigen Aufklärung verpflichtet!, so bleibt die Informationsermittlung doch an die Parteien selbst und ihre Zugangsmöglichkeiten zu den gewünschten Informationen gebunden. Sie wird nur im Verhältnis der Parteien zueinander anders verteilt und bleibt weniger den eigenen Dispositionen der Parteien vorbehalten. Auch diese Änderung im Bereich der Verhandlungsmaxime führt aber zu einer erheblichen Aufwertung der Rolle und der Macht des Gerichtes im informationellen Bereich - insbesondere bei der auf den Einzelfall bezogenen Definition und Konkretisierung der jeweiligen Aufklärungsverpflichtung der einzelnen Partei. Eine gewisse Verknüpfung ergibt sich hier zu dem im folgenden Kapitel zu erörternden zweiten prozessualen Mechanismus der Gestaltung der informationellen Rahmenbedingungen, der kurz als "Beweislastmechanismus" gekennzeichnet wurde. Dort handelt es sich aber - anders als hier - um eine punktuelle Reaktion auf einzelne, strukturell angelegte Informationsdefizite einer Partei im Arbeitsrecht oder in den dazu geschilderten zivilrechtlichen Konfliktlagen. Im Gegensatz dazu handelt es sich vorliegend um eine generelle Verschiebung der verfahrensrechtlichen Grundbeziehungen im Dreiecksverhältnis von Parteien und Gericht. Diese Verschiebung soll deshalb hier im Zusammenhang der Diskussion um eine Änderung der Verhandlungsmaxime mit der Folge einer Aufwertung von Rolle und AufgabensteIlung des Gerichtes im informationellen Bereich und der Veränderung der verfahrensmäßigen Kommunikationsstrukturen erörtert werden. Beide Möglichkeiten einer Einschränkung oder Verabschiedung der Verhandlungsmaxime werden in der Zivilprozeßrechtswissenschaft seit langem diskutiert, vertreten, aber auch heftig abgelehnt".

1 Verpflichtung ist hier untechnisch gemeint: Sowohl im Sinne einer rechtstechnischen Verpflichtung, die der Gegenseite ein Recht zur Erlangung von Informationen gewährt, als auch im Sinne einer prozessualen Last, bei der der belasteten Partei ähnlich wie bei einer Obliegenheit aus einer Verletzung der Pflicht unabhängig von einem Verschulden Nachteile drohen, ohne daß der Gegenseite gleichzeitig durchsetzbare Rechte auf Erfüllung eingeräumt wären; zum Streit um die Einordnung vgl. näher Stürner, Die Aufklärungspflicht der Parteien des Zivilprozesses, 1976, S. 71 ff., mwN.

5.2 Einbindung des Richters in die Informationsermittlung

87

5.2 Zur stärkeren Einbindung des Richters in die prozessuale Informationsermittlung Eine Ablösung der Verhandlungsmaxime durch eine andere Art der Gestaltung der Informationsbeziehungen im Prozeß unter Stärkung der Rolle des Gerichts haben insbesondere die Befürworter eines sogenannten "sozialen Zivilprozesses" vertreten 2 •

5.2.1 Die Arbeitsgemeinschaft zwischen Parteien und Gericht In ihrer Argumentation gehen sie von dem Wandel des Zivilprozesses in der langen Reihe der Prozeßrechtsnovellen seit der Verabschiedung der ZPO aus, der mit wesentlichen Einschränkungen der Verhandlungsmaxime verbunden war. Deutlichste Anzeichen dieser Entwicklung sind dabei die Einführung und Konkretisierung der Wahrheits- und Erklärungspflicht der Parteien nach § 138 ZPO zusammen mit der Pflicht zum persönlichen Erscheinen der Parteien gemäß § 141 ZPO (im arbeitsrechtlichen Prozeß gemäß § 51 ArbGG), die richterliche Aufklärungs- und Fragepflicht nach § 139 ZPO (im Arbeitsgerichtsprozeß in Verbindung mit § 46 Abs. 2 ArbGG) und die Pflicht des Richters zur Prozeßleitung und vorbereitenden Sachverhalts aufklärung gemäß §§ 272, 273 ZPO (im arbeitsgerichtlichen Verfahren gemäß § 56 Abs. 1 ArbGG)3. Im arbeitsgerichtlichen Verfahren hat hier noch das Güteverfahren nach § 54 ArbGG eine besondere Bedeutung. Dabei wird dem eigentlichen streitigen Verfahren eine mündliche Verhandlung vor dem Vorsitzenden (nicht vor der Kammer mit den ehrenamtlichen Richtern) vorgeschaltet, die den besonderen sozialen Gegebenheiten in arbeitsrechtlichen Streitigkeiten Rechnung tragen soll. Zu diesem Zweck hat der Vorsitzende "das gesamte Streitverhältnis mit den Parteien unter freier Würdigung aller Umstände zu erörtern. Zur Aufklärung des Sachverhalts kann er alle Handlungen vornehmen, die sofort erfolgen können" (§ 54 I 2, 3 ArbGG), also insbesondere auch Aufklärungshandlungen, die dem Vorsitzenden sonst nicht gestattet sind, wie etwa Telefonate 4 . Schon vor dem ersten Weltkrieg wurde in einer Novelle der Parteibetrieb und die Verantwortlichkeit der Parteien für die Einhaltung der technischen 2 So insbesondere Wassermann, Der soziale Zivilprozeß, 1978, S. 49 ff., in Auseinandersetzung mit Anton Menger, Recht und die besitzlosen Volksklassen, 4. Auf!., 1908, sowie Franz Klein, Zeit und Geistesströmungen im Prozesse, Vortrag 1901, 2. Auf!. , 1958; ähnliche Positionen zur Verhandlungsmaxime bei Bender in Bender / Beiz / Wax, Das Verfahren nach der Vereinfachungsnovelle, 1977, S. 6 ff., und Weyers, über Sinn und Grenzen der Verhandlungsmaxime im Zivilprozeß, S. 200, sowie Schönfeld, Zur Verhandlungsmaxime im Zivilprozeß und in den übrigen Verfahrensarten - Die Modifikation durch das Sozialstaatspostulat, 1981, S. 168 ff. 3 Wassermann, Der soziale Zivilprozeß, S. 57 ff. 4 Näher dazu Grunsky, Arbeitsgerichtsgesetz, 4. Auf!. , 1981, § 54 Rn 12.

88

5. Prozeßmodell I: Ausweitung der Kommunikation im Verfahren

Formen des Prozesses beim Amtsgericht aufgehoben - Resultat der Erkenntnis, daß dies von Parteien ohne Anwälte einfach zuviel verlangt war5 . In der Weimarer Zeit wurde dies durch zwei Novellen auch für das landgerichtliehe Verfahren abgeschafft. Gleichzeitig wurden der formale Parteieid durch die Parteivernehmung abgelöst, eine Wahrheitspflicht der Parteien eingeführt, sowie die Pflicht des Gerichts zur Terminsvorbereitung und Erörterung ausgedehnt und, aufgrund prozeßökonomischer Überlegungen, Regelungen zur Verfahrenskonzentration unter Leitung des Richters etwa bei der Sachverhaltsermittlung erlassen - unter Einführung von Präklusionsmöglichkeiten bei Verschleppungsabsicht einer Partei6 • Den Abschluß dieser Entwicklung in neuerer Zeit mit einer noch viel weitergehenden Stärkung der Richtermacht zu Lasten der Parteiherrschaft und der Verhandlungsmaxime bilden die Vorschriften der Vereinfachungs- und Beschleunigungsnovelle zur ZPO von 1977 sowie für das arbeitsgerichtliche Verfahren die Beschleunigungsnovelle von 1979 zum Arbeitsgerichtsgesetz mit den noch in bester Erinnerung befindlichen Änderungen insbesondere hinsichtlich der richterlichen Kompetenz zur vorbereitenden Sachaufklärung, zur Konzentration und Beschleunigung des Verfahrens sowie zur Sanktionierung entsprechender Verstöße7 • Für das dadurch geschaffene Zusammenwirken von Gericht und Parteien hat Wassermann im Anschluß an Levin8 den Begriff der "Arbeitsgemeinschaft" aufgegriffen9 , die ein Verhandlungsgespräch einschließe, das sich als "offene und argumentative Kommunikation zwischen den Verfahrensbeteiligten in bezug auf Information, Meinungsbildung und Entscheidungsfindung bestimmen" lasse 10 . Die neue Macht, die dem Richter aus den neuen Vorschriften der Prozeßnovelle erwächst, die neue aktive und prozeßgestaltende Rolle, die ihm dadurch zugewiesen ist, wird entsprechend dem Zweck der Gesetzesnovellierungen konkretisiert in Abgrenzung zum Selbstbestimmungsrecht der Parteien und ihrer Freiheit in der Prozeßführung. Eingriffe in die Parteiherrschaft und die Verhandlungsmaxime zur Sicherung eines ökonomischen, sinnvollen und auf die Erreichung der Prozeßziele ausgerichteten Ver5 Diese Novellen werden eingehend dargestellt und besprochen von Damrau, Die Entwicklung einzelner Prozeßmaximen seit der Reichszivilprozeßordnung 1877, 1975, hier S. 179 ff. 6 Ebenda, S. 268 ff., 351 ff. 7 Aus der Fülle der Literatur vgl. Bender / Beiz / Wax, Das Verfahren nach der Vereinfachungsnovelle; zur Novellierung der ZPO sowie zur ArbGG-Novelle vgl. Wlotzke / Schwedes / Lorenz, Das neue ArbGG 1979, Erläuterungen zu den geänderten Vorschriften, 1979; Dütz, Aktuelle Fragen zur ArbGG-Novelle, RdA 1980, S. 81 ff.; Haug / Pfarr / Struck, Möglichkeiten der Beschleunigung des arbeitsgerichtlichen Verfahrens, 1985. 8 Levin, Richterliche Prozeßleitung und Sitzungspolizei, 1913, S. 56 f. 9 Wassermann, Der soziale Zivilprozeß, S. 88; dazu auch Schönfeld, Zur Verhandlungsmaxime im Zivilprozeß und in den übrigen Verfahrensarten, S. 146 ff. 10 Wassermann, Der soziale Zivilprozeß, S. 88.

5.2 Einbindung des Richters in die Informationsennittlung

89

fahrens finden dementsprechend auch und gerade im Interesse der Parteien statt, nicht etwa gegen sie. Eingeschränkt wird lediglich die Möglichkeit der Kontrahenten, die Prozesse nach ihrem Gutdünken zu steuern und damit die staatlichen Gerichte für manchmal zusätzliche und abliegende Individualziele zu funktionalisieren, Verfahren zu verschleppen, Überraschungseffekte anzustreben, Informationen nach Belieben zurückzuhalten und dann gegebenenfalls doch noch einzuführen. Die Parteien werden insoweit zu sachgemäßen, effizienten und verfahrensfördernden Aktivitäten - wie entsprechenden Anträgen, Sachverhaltsvortrag oder Kommunikation - insbesondere auch im Verhältnis zum Gericht, angehalten, wollen sie ihr Prozeßziel erreichen. Dies soll allerdings nicht so weit gehen, daß der Zivilprozeß seinen kontradiktorischen Charakter verliert. Es bleibt bei der Disposition der Parteien über die Verfahrenseinleitung und die Bestimmung des Verfahrensgegenstandes. Es bleibt auch bei der allgemeinen Zulässigkeit von Verzicht und Anerkenntnis, Klagerücknahme und Vergleich als prozessualen Gestaltungsmitteln der Parteien. Nicht die Ablösung der Verhandlungsmaxime durch die Inquisitionsmaxime, sondern entsprechend den Anforderungen eines sozialen und demokratischen Rechtsstaats eine zeitgemäße Verschmelzung bei der Maximen in einer modernen "Kooperationsmaxime" als Verhaltenstendenz zwischen Gericht und Parteien ist Resultat dieser Überlegungen ll . Noch etwas weiter in der Verschiebung der Verhandlungsmaxime hinsichtlich der Sachverhaltsermittlung durch das Gericht geht Bender12 • Nach seiner Auffassung darf der Richter ohne aus der Verhandlungsmaxime irgendwelchen immanenten Schranken unterworfen zu sein, jedwelche Maßnahmen zur Ermittlung des Sachverhalts verfolgen, die er in unmittelbarem Zusammenhang mit dem erklärten Rechtsschutzbegehren der Parteien für erforderlich hält, um zu einer richtigen Entscheidung zu kommen. Ausnahmsweise bleibt der Macht der Parteidisposition vorbehalten, andere als die nichtverzichtbaren Beweismittel Sachverständigengutachten, amtliche Auskunft und Augenschein beizubringen sowie den Tatsachenvortrag des Gegners mit der Folge einer Geständnisfiktion nicht zu bestreiten. Selbst die Zurückhaltung ganzer Sachverhaltskomplexe beschränkt sich nach Bender durch die Wahrheitspflicht der Parteien gemäß § 138 ZPO, so daß die Partei hier nur so lange frei taktieren kann, als nicht dadurch anderer Sachvortrag im Prozeß verfälscht erscheinen könnte 13 .

Wassennann, Der soziale Zivilprozeß, S. 109. Bender / Beiz / Wax, Das Verfahren nach der Vereinfachungsnovelle, S. 7 f.; vgl. weiter Bender / Schumacher, Erfolgsbarrieren vor Gericht, S. 118 und Bender, JZ 1982, S. 709 ff.; zur Kritik vgl. Leipold, JZ 1982, S. 441 ff., 446 f. 13 Bender / Beiz / Wax, Das Verfahren nach der Vereinfachungsnovelle, S. 7. 11

12

90

5. Prozeßmodell I: Ausweitung der Kommunikation im Verfahren

5.2.2 Zur ideologischen und zur technischen Seite einer Begründung der Verhandlungsmaxime (Weyers) Zu ganz ähnlichen Resultaten einer weitgehenden Überwindung der Verhandlungsmaxime führen die Überlegungen von Weyers l4 • Er differenziert und bespricht zwei verschiedene Seiten einer gängigen Rechtfertigung der Verhandlungsmaxime. Die eine, hier einleitend schon ausführlich dargestellte, und infolge der gesellschaftlichen Entwicklung im letzten Jahrhundert mit kritischen Fragezeichen versehene VarianteIS des Verständnisses der Verhandlungsmaxime als eines prozessualen Gegenstücks zur Privatautonomie des materiellen Rechts wird dabei als die ideologische Begründung bezeichnet. Die Beibringung des Sachverhalts im Prozeß ist danach deshalb Sache der Parteien, weil diese in den Grenzen der Privatautonomie ebenso wie über ihre Rechte auch darüber verfügen können sollen, von welchem Prozeßsachverhalt ein Gericht bei seiner Entscheidung auszugehen hat. Ob die Sachverhaltsermittlung für den Prozeß dann zu einer historisch zutreffenden Feststellung des Verlaufs der Dinge führt, ist sekundär - ja, die Parteien können dem Gericht die Verwendung schon vorhandener Informationen unter Umständen sogar verbieten 16. Im Gegensatz dazu geht die technische Begründung der Verhandlungsmaxime von der Voraussetzung aus, Ziel sei dabei die Feststellung der zutreffenden Tatsachenlage. Die Überlassung der Beibringung der Tatsachen an die Parteien im Gegensatz zur Ermittlungstätigkeit des Richters beruht dann auf funktionalen Erwägungen: Man vertraut darauf, daß das gegenseitige Interesse der Parteien letztlich für vollständige Informationen und gegebenenfalls für entsprechende Korrekturen sorgen wird und daß dies auf lange Sicht im Durchschnitt auch die ökonomischste und wirksamste Methode der Gewinnung der tatsächlichen Entscheidungsgrundlage darstellt l7 . Weyers vertritt nun mit überzeugender Argumentation die These, daß rechtspolitisch davon auszugehen ist, daß für den Prozeß durchaus vom Ziel der Erforschung des wirklichen Sachverhalts, aus dem eine Rechtsfolge von den Parteien begehrt wird, auszugehen ist l8 • Dies entspreche auch der Absicht 14 Weyers, Über Sinn und Grenzen der Verhandlungsmaxime im Zivilprozeß, in: Dogmatik und Methode, FS für J. Esser, 1975, S. 192 ff. 15 Vgl. dazu oben Abschnitt 1.2. 16 Weyers, Über Sinn und Grenzen der Verhandlungsmaxime im Zivilprozeß, S.200. 17 Ebenda, S. 200. 18 Kritisch dazu als "Verabsolutierung" des Ziels der Wahrheit Brehm, Bindung des Richters an den Parteivortrag und Grenzen freier Verhandlungswürdigung, 1982, S. 27; Arens, Aufklärungspflicht der nicht beweisbelasteten Partei, ZZP 96 (1983), S. 12; ausführliche Auseinandersetzung mit den Prozeßzwecken des Zivilprozesses bei Gaul, Zur Frage nach dem Zweck des Zivilprozesses, AcP 168 (1968), S. 27 ff., hier insbesondere S.50.

5.2 Einbindung des Richters in die Informationsermittlung

91

des Gesetzgebers, soziale Lebenssachverhalte durch von ihm erlassene Normen zu steuern, nicht aber fiktive Sachverhaltsmodelle, die gegebenenfalls . von den Parteien vorgetragen werden. Auch die Gerichte, die zum Zwecke der Umsetzung dieser Normen bei Konflikten im Einzelfall staatlich eingerichtet seien, könnten ihre Aufgaben nur erfüllen, wenn klar werde, ob der vom Gesetzgeber gemeinte Fall auch vorliege. Angesichts des Aufwandes, den ein Zivilprozeß verursache, dürften die Gerichte von den Parteien nicht dazu eingesetzt werden, Entscheidungen über fiktive Sachverhalte zu treffen, um dann den Urteilsspruch als Mittel zur Verfügung über ihre Rechte zu funktionalisieren 19 • Damit ist die Parallele zur privatautonomen Verfügungsbefugnis der Parteien für das Prozeßrecht nicht mehr haltbar. Ein Prozeß dient zur Klärung, wenn die Parteien ihren Konflikt nicht anders zu bewältigen vermögen, nicht aber dazu, dem Gericht nach Beliebigkeit Sachverhalte vorzulegen und dann mittels Urteil darüber zu verfügen. Zur Setzung von Tatsachen, die die Gerichte zugrunde zu legen haben, sind die Parteien vielmehr auf Rechtsgeschäfte im Rahmen ihrer Privat autonomie verwiesen oder auf die offenen Dispositionsmittel wie Anerkenntnis, Verzicht oder Rücknahme der Klage im Prozeß - nicht aber auf prozessualen Sachverhaltsvortrag, prozessuales Informationsverhalten und damit die Schaffung entsprechender Urteilstatbestände2o • Dies lenkt den Blick zurück auf die technischen Begründungselemente einer Verhandlungsmaxime. So verstanden handelt es sich um einen Grundsatz ökonomisch sinnvoller Strukturierung der Informationsverhältnisse im Prozeß auf der Basis der Einschätzung, der Interessengegensatz der Parteien werde dafür sorgen, daß eine zutreffende und zureichende tatsächliche Basis für die Konfliktentscheidung durch das Gericht geschaffen wird. Die Richtigkeit dieser Prognose kann man bezweifeln: Es geht dabei nicht nur um die Verfügbarkeit der Information für die Parteien, sondern ein wichtiger Umstand ist in diesem Zusammenhang schon das Bedenken, ob die Parteien überhaupt intellektuell in der Lage sind, ihren Tatsachenvortrag nach den Erfordernissen der Verhandlungsmaxime einzurichten - also den Sachverhalt juristisch durchzuarbeiten, das juristisch Relevante herauszuschälen und nach anspruchsbegründenden und anspruchsvernichtenden Tatsachen zu sortieren, gar diese wiederum von anspruchshemmenden oder einredebegründenden Tatsachen zu unterscheiden, usf. Im Anwaltsprozeß mag dies unter Umständen noch denkbar sein, für Nichtjuristen scheint es allerdings ausgeschlossen. Will man aber keinen allgemeinen Anwaltszwang, 19 Weyers, Über Sinn und Grenzen der Verhandlungsmaxime im Zivilprozeß, S.202. 20 Ebenso die Schlußfolgerungen von Weyers, Über Sinn und Grenzen der Verhandlungsmaxime im Zivilprozeß, S. 203.

92

5. Prozeßmodeli I: Ausweitung der Kommunikation im Verfahren

läßt sich hier zwar durch Maßnahmen im Bereich der angesprochenen allgemeinen informationellen Rahmenbedingungen - wie verstärkter Beratung und Herabsetzung von Zugangsbarrieren unter Berücksichtigung ihrer arbeitsrechtlichen Besonderheiten21 - etwas gegensteuern, aber auch dies kann nicht zum uneingeschränkten Akzeptieren der einer technischen Begründung zugrunde liegenden Prognose führen. Hier ist eine stärkere Einbindung des Richters in die Informationsermittlungzu Lasten einer rigoros gehandhabten Verhandlungsmaxime nicht verzichtbar. Bedenken gegen diese Prognose ergeben sich weiter aus Problemen beim Informationszugang der Parteien. Die aus ökonomischen Gründen so in den Vordergrund gestellte prozessuale Informationsstruktur kann nicht funktionieren, kann keine anforderungsgerechte Sachverhaltsbasis im Prozeß schaffen, wenn die Parteien oder wenn auch nur eine Partei nicht in der Lage ist, die zur Wahrung ihrer Interessen erforderlichen Informationen zu ermitteln und im Prozeß vorzutragen. Zwar mag man hier darauf verweisen, daß dies eine auch für die Privatautonomie in gleicher Weise relevante Funktionsvoraussetzung darstellt, die eben entsprechend in Kauf zu nehmen sei. Aber gerade die sich in materieller Hinsicht bei zivilrechtlichen Materien wie dem Arbeitsrecht, dem Mietrecht, dem Verbraucherrecht oder dem Familienrecht ergebenden, durchaus vergleichbaren informationellen Probleme hat der Gesetzgeber durch zwingende Schutznormen bzw. Regeln zur Mißbrauchsverhütung beantwortet. Genausowenig also wie man deswegen der Abschaffung der Parteiautonomie im materiellen Recht das Wort reden will, folgt aus entsprechender Modifikation der Verhandlungsmaxime im Prozeß schon schlicht die Abschaffung des Parteieinflusses 22 . Jede Partei bleibt berufen, den Prozeß in Freiheit und Selbstverantwortung zu führen und behält entsprechende Einflußmöglichkeiten auf dessen inhaltlichen Ablauf - ohne indessen allerdings in jedem Fall und in allen Einzelpunkten auf der informationellen Seite bzw. bei der Sachverhaltserfassung gänzlich frei disponieren zu können. Ebenso wie der soziale und demokratische Rechtsstaat im materiellen Recht auf strukturell einseitige Verteilung von Markt- und Informationsmacht zu reagieren hatte, können solche Begebenheiten auch im prozessualen Bereich nicht folgenlos sein. Die prozessuale Reaktion und deren Intensität wird in der Folge der technischen Argumentation zur Verhandlungsmaxime dann davon abhängig sein, wie weit die zugrunde liegende Prognose einer kostengünstigen und prozeßangemessenen Sachverhaltserbringung durch Partei vortrag im Sinne der Verhandlungsmaxime "stimmig" ist und das wird jeweils insbesondere in Abhängigkeit von Vgl. oben Abschnitt 2.2. Dies befürchten offenbar Arens, ZZP 96 (1983), S. 21 und Leipold, JZ 1982, S. 441 ff., 448. 21

22

5.2 Einbindung des Richters in die Informationsermittlung

93

dem zugrunde liegenden Konflikttypus und dessen strukturellen Voraussetzungen in bezug auf Gleichartigkeit der Informations-, Kommunikations- und Durchsetzungschancen variieren.

5.2.3 Einordnung dieser Strategie im Verhältnis zu den beiden anderen LösungsmodeUen Der Kreis zu den im vorherigen Kapitel herausgearbeiteten Lösungsstrategien beginnt sich zu schließen. Anhand der vorstehenden Überlegungen zu der technischen Begründung der Verhandlungsmaxime wird es möglich, zu einer näheren Zuordnung der drei Wirkungsmechanismen zu gelangen: Die Verhandlungsmaxime als Informationsmodell im Prozeß ist dort sinnvoll und funktional, wo aufgrund der konflikttypischen Strukturen die Erwartung berechtigt ist, daß die Parteien grundsätzlich zur Schaffung einer angemessenen und ausreichenden Sachverhaltsbasis für die Entscheidung des Konflikts in der Lage sind. Gerade in Bereichen wie dem Arbeitsrecht mit seinem typischen Ungleichgewicht im informationellen Bereich heißt dies aber noch keinesfalls, daß damit eine sinnvolle Gestaltung der prozessualen Informationsbeziehungen nach dem Modell der Verhandlungsmaxime von vornherein ausgeschlossen sei und durch entsprechende Verschiebungen überwunden werden müsse. Dies ist vielmehr nur eine von drei Möglichkeiten: Die informationellen Nachteile einer Konfliktsituation lassen sich ebenso materiell beheben. Wir haben dies als die Strategie der (nicht unbedingt vorprozessualen) Erfüllung berechtigter Informationsbedürfnisse bezeichnet. Außerdem lassen sie sich unter gewissen Voraussetzungen prozessual beheben, indem der Informationsbedarf der insoweit berechtigten Partei gezielt für den Prozeß herabgesetzt wird. Dies funktioniert am besten bei auf Einzelpunkte begrenzten Schwierigkeiten einer Partei im Verhältnis zur anderen. Wir haben dies verkürzend als "Beweislastmechanismus" bezeichnet. Die dritte Strategie, die als eine "Stärkung der Richtermacht" bei der Sachverhaltsermittlung bezeichnet wurde, fügt sich hier nun dergestalt ein, daß Aktivitäten infolge dieser Strategie erforderlich werden, wenn entsprechende informationelle Defizite weder materiellrechtlich noch punktuell prozessual bearbeitet sind, demgemäß die zugrunde liegende Einschätzung kostengünstiger Sachverhaltsbeibringung im Prozeß nicht eingelöst werden kann.

5.2.4 Verhandlungs- bzw. Untersuchungsmaxime im arbeitsgerichtlichen Urteils- und Beschlußvedahren Mit diesen Überlegungen erklärt sich auch, warum in Verfahren mit Untersuchungsgrundsatz, wie etwa im Bereich der freiwilligen Gerichtsbarkeit, des

94

5. Prozeßmodell I: Ausweitung der Kommunikation im Verfahren

Verwaltungsprozesses oder des gleich noch zu besprechenden arbeitsgerichtlichen Beschlußverfahrens (§ 83 ArbGG) die Verpflichtung der Parteien zum Sachvortrag und zur Einbringung der ihnen zugänglichen Informationen nach wie vor eine bedeutende Rolle spielt. Dabei sind teilweise streitähnliche, kontradiktorische Elemente in den Informationsstrukturen erhalten geblieben oder von der Rechtsprechung erst ausgestaltet worden, die trotz Geltung des Untersuchungsgrundsatzes der Beibringungsmaxime zuzuordnen sind. Dies wurde oben etwa für die Auskunftsbeziehungen beim Versorgungsausgleich deutlich23 und ging auch dort auf prozeßökonomische Überlegungen zurück. Noch sehr viel deutlicher wird diese Tendenz in der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zum Untersuchungsgrundsatz im arbeitsgerichtlichen Beschlußverfahren nach §§ 80 ff ArbGG. Diese Geltung der Untersuchungsmaxime wurde in der Beschleunigungsnovelle 1979 zum ArbGG in § 83 I 1 ArbGG klargestellt, nachdem dies schon vorher allgemein so praktiziert worden war24 • Schon § 83 12 ArbGG verpflichtet dann aber die Beteiligten, zur Sachverhaltsaufklärung mitzuwirken. So muß beispielsweise der Antragsteller all diejenigen Tatsachen vortragen, die zur Bestimmung des Streitgegenstandes erforderlich sind25 . Nichts anderes gilt nach der Rechtsprechung für die Beteiligten, die (nur konsequent) jeweils diejenigen Tatsachen vorzutragen haben, auf die sie sich mit ihrem Begehren stützen26 • Die Rechtsprechung läßt sich dahingehend zusammenfassen, daß die Beteiligten jeweils so viel Tatsachen vorzutragen bzw. Beweisangebote zu machen haben, daß das Gericht Anlaß für weitere, eigene Aufklärung hat. Spezielle Sanktionen, wie etwa die Zurückweisung zurückgehaltenen Beteiligtenvorbringens scheint allerdings wegen der Pflicht des Gerichts zur eigenen Ermittlungstätigkeit kaum denkbar27 . Gleiches gilt für ein Geständnis oder die Geständnisfiktion bei Nichtbestreiten über § 138 Abs. 3 ZPO. Zu bedenken ist allerdings, daß bei übereinstimmendem Vortrag beider Seiten für das Gericht gewöhnlich kaum Anlaß zur Aufnahme eigener Ermittlungstätigkeit bestehen dürfte. Unterschiedlich handhabt die Rechtsprechung die Frage der Verwertung von Tatsachenkomplexen, auf die der Antragsteller sein Begehren zwar nicht gestützt hat, die aber im Laufe des Verfahrens bekannt geworden sind28 . Dabei erscheint es

23

Vgl. dazu oben Abschnitt 3.5.2; vgl. weiter Baur, Freiwillige Gerichtsbarkeit,

§ 18 III 2 b; Keidel / Kuntze / Winkler, FGG, § 53 b Rn 9.

24 BAGE 12, S. 244 ff., 250; BAGE 17, S. 165 ff., 169; Körnich, Das arbeitsgerichtliche Beschlußverfahren im Betriebsverfassungsgesetz, 1978, S. 94 ff.; Wichmann, AuR 1973, S. 202. 2S BAG AP Nr. 6 zu § 83 ArbGG. 26 BAG AP Nm. 20, 21 zu § 37 BetrVG 1973; BAG AP Nr. 3 zu § 97 ArbGG; BAGE 17, S. 165 ff., 169; Kömich, Das arbeitsgerichtliche Beschlußverfahren im Betriebsverfassungsgesetz, S. 97. 27 Bejahen wollen dies für krasse Fälle des Verstoßes gegen die Mitwirkungspflicht Grunsky, ArbGG, § 83 Rn 6; Dütz RdA 1980, S. 98.

5.2 Einbindung des Richters in die Informationsermittlung

95

problematisch, wenn das Bundesarbeitsgericht die Verwertung von Tatsachen aus bekannt gewordenen neuen Tatsachenkomplexen davon abhängig machen will, ob sich die begünstigte Partei diese zu eigen machen möchte 29 • Dies war schon oben bei der Diskussion um die Rechtfertigung der Verhandlungsmaxime selbst bedenklich. Zutreffend wird diese stark auf die Parteimitwirkung bei der Sachverhaltsermittlung zugeschnittene Ausgestaltung des Untersuchungsgrundsatzes in der Folge von § 83 ArbGG als Mischform zwischen Inquisitions- und Verhandlungsmaxime bezeichnet3o • Wie wir anhand der einzelnen Elemente einer Begründung der Verhandlungsmaxime gesehen haben, ist diese Mischform mit grundsätzlichem Ausgangspunkt bei der Untersuchungsmaxime gerade für den Typus des arbeitsrechtlichen Konflikts mit seinen speziellen Informationsund Kommunikationschancen der beiden Kontrahenten adäquat, um nicht die - auch unter der Geltung der Untersuchungsmaxime zu erzielenden - prozeßökonomischen Vorteile einer Einbindung der Parteien in die Sachverhaltsermittlung zu verspielen. Anders liegt es im arbeitsgerichtlichen Urteilsverfahren, in dem im Gegensatz zum Beschlußverfahren nicht vorwiegend kollektivrechtliche Streitigkeiten abgehandelt werden, sondern Individualkonflikte im Vordergrund stehen. Im Gegensatz zum Beschlußverfahren sind dabei regelhaft nicht eine größere Anzahl von Kontrahenten beteiligt, sondern gewöhnlich zwei Konfliktteilnehmer vorhanden, so daß für die Gestaltung der Informationsbeziehungen über § 46 ArbGG die Vorschriften der ZPO und die Verhandlungsmaxime unmittelbar Anwendung finden können. Bei dieser Ausgangssituation lassen sich die Probleme bei der Sachverhaltsermittlung damit - ausgehend von den prozeßökonomischen Vorteilen der Verhandlungsmaxime - über den anderen prozessualen Mechanismus mit seinem Weg einer punktuellen Herabsetzung des Informationsbedarfs einer Partei zu Lasten der anderen Partei oder über einzelne materielle Informationsrechte gezielter bearbeiten als durch ein generelles Umschwenken auf eine modifizierte Untersuchungsmaxime. Ausgehend von der Verhandlungsmaxime liegt hier also durchaus sachgerecht der Schwerpunkt bei der Frage notwendiger Modifikationen, also der Stärkung der Richtermacht bei der vorbereitenden Sachverhaltsermittlung zur effektiven Gestaltung des Prozesses, bei der Ausgestaltung und Konkretisie28 HAG AP Nr. 3 zu § 18 BetrVG, BAG AP Nr. 7 zu § 103 BetrVG; BAG 12, S. 244 ff., 250; dazu Auffarth, Neuerungen im arbeitsgerichtlichen Beschlußverfahren nach dem ArbGG 1979, FS für Gerhard Müller, 1981, S. 3 ff., 6: Wichmann, AuR 1979, S. 202. 29 BAG AP Nr. 1 zu § 20 BetrVG; BAG AP NR. 7 zu § 103 BetrVG 1972. 30 So Auffarth, Neuerungen im arbeitsgerichtlichen Beschlußverfahren nach dem ArbGG 1979, S. 8; Fenn, Effizientere Gestaltung des Beschlußverfahrens durch verstärkte Dispositionsbefugnisse der Parteien, Festschrift 25 Jahre BAG 1979, S. 91.

96

5. Prozeßmodell I: Ausweitung der Kommunikation im Verfahren

rung materieller Informationsansprüche oder bei einer den Elementen der technischen Begründung der Verhandlungsmaxime entsprechenden Verteilung der prozessualen Informationslasten auf die beiden Parteien. Ehe uns Effektivität und Funktionieren dieser Strategien im folgenden beim arbeitsrechtlichen Einsatz des Beweislastmechanismus oder materieller Auskunftspflichten in den arbeitsrechtlichen Einzelkonflikten näher beschäftigen und eine abschließende Beurteilung der informationellen Rahmenbedingungen im Arbeitsrecht und damit auch der notwendigen Reichweite der Verhandlungsmaxime auf der Basis ihrer technischen Begründung ermöglichen, ist vorab noch der Vorschlag einer generellen prozessualen Aufklärungspflicht der Parteien im kontradiktorischen Prozeß zu erörtern.

5.3 Generelle prozessuale Pflicht der Parteien zur Aufklärung im Prozeß In der Prozeßrechtswissenschaft sind immer wieder Versuche unternommen worden, eine allgemeine prozessuale Aufklärungspflicht dogmatisch zu begründen. Im Zentrum des Interesses und gleichzeitig in einem deutlichen Spannungsverhältnis zur Verhandlungsmaxime steht dabei naturgemäß die Aufklärungspflicht der nichtbeweisbelasteten Partei. Den theoretischen Ausgangspunkt all dieser Überlegungen bildet die prozessuale Wahrheitspflicht der Partei, wie sie im Laufe der Prozeßrechtsnovellen in die ZPO eingeführt und dort immer stärker verankert wurde: Die Parteien haben gemäß § 138 I ZPO ihre Erklärungen über tatsächliche Umstände vollständig und der Wahrheit gemäß abzugeben. Zusammen mit der Erklärungspflicht der Parteien gemäß § 138 II, IV ZPO über die vom Gegner erklärten Tatsachen hat sie wesentliche Einschränkungen der freien Prozeßführung der Parteien entsprechend der Verhandlungsmaxime gebracht. Dies wird allgemein anerkannt, auch von den Kritikern einer Lehre von der allgemeinen prozessualen Aufklärungspflicht31 • Umstritten ist allerdings, ob die Reichweite dieser Vorschriften ausdehnend zu interpretieren ist, das heißt insbesondere, ob über § 138 II ZPO mit seiner Erklärungspflicht der Parteien zu den vom Gegner konkret behaupteten Tatsachen hinaus weitergehende Aufklärungspflichten bestehen. Dies kommt insbesondere dann in Betracht, wenn eine Partei Tatsachen nicht konkret zu erklären vermag, sondern auf Tatsachenkomplexe nur pauschal verweisen oder sie andeutungsweise ansprechen kann, während die insofern nach allgemeinen Regeln nicht beweis- oder darlegungsbelastete Gegenpartei gegebenenfalls zur detaillierten Aufklärung und Sachverhaltsdarstellung in der Lage ist. 31 Vgl. Leipold in Stein / Jonas / Leipold, Zivilprozeßordnung, 20. Aufl., 1983, § 138 Rn 22 f.; Brehm, Bindung des Richters an den Parteivortrag, S. 27 f. Arens, ZZP 96 (1983), S. 12; Rosenberg / Schwab, Zivilprozeßrecht, 13. Aufl. 1981, § 119 VI; Jauernig, Zivilprozeßrecht, 20. Aufl. 1983, § 52 11 und 55 III.

5.3 Generelle prozessuale Aufklärungspflicht der Parteien

97

5.3.1 Abgrenzung der Problemkreise Ausforschungsbeweis und Beweislastmechanismus Nicht verwechselt werden darf das Problem einer generellen prozessualen Auskunftspflicht mit den Fragen des Ausforschungsbeweises oder des Funktionierens des prozessualen Beweislastmechanismus in der oben abgeleiteten Form einer Strategie zur Bewältigung von Informationskonflikten. 5.3.1.1 Ausforschungsbeweis

Die Problematik des Ausforschungsbeweises ist eng verbunden mit der Konkretisierung der Substantiierungspflicht des tatsächlichen Parteivortrags. Die vorliegend untersuchte Problematik struktureller Informationsdefizite des Arbeitnehmers in bestimmten arbeitsrechtlichen Streitigkeiten und die Schwierigkeiten, die ein den Anforderungen aus der Verhandlungsmaxime entsprechender Sachvortrag an die Parteien stellt, ließen sich auch ganz anders angehen: Die uninformierte Partei kann versuchen, den Weg des Ausforschungsbeweises zu gehen. Die Klärung des Sachverhaltes bei unklarem, pauschalen Vortrag oder nur global gehaltenen Vermutungen der Parteien soll dann in der Beweisaufnahme erfolgen. Man muß allerdings sehen, daß dies weitreichende Auswirkungen auf die Vorbereitungsaktivitäten für den Prozeß bei Parteien und Anwälten zur Folge hat. Denn können diese damit rechnen, daß unvollständiger Vortrag in der sowieso stattfindenden Beweisaufnahme ohnehin ergänzt und geklärt wird, wird die Notwendigkeit sorgfältiger Prozeßvorbereitung nicht mehr bestehen oder zumindest herabgesetzt. Dabei ist nicht zu vergessen, daß gewöhnlich die Informationsbeschaffung für einen soliden und sauberen Sachvortrag bei den Anwälten die größte Schwierigkeit darstellt. Die Rechtsprechung hat solche Beweisanträge (insbesondere auf Parteivernehmung) auf der Basis lediglich pauschalen Sachvortrags oder unter Aufstellung von Vermutungen immer wieder mit der Begründung zurückgewiesen, eine Partei sei nicht dazu verpflichtet, der Gegenpartei durch die Zurverfügungstellung von - dieser selbst nicht zugänglichen - Informationen zum Prozeßerfolg zu verhelfen 32 • In der Tat entspricht eine Beweisaufnahme zur Ausforschung des Sachverhalts auch nicht dem Modell der zivilprozessualen Beweisaufnahme. Die ZPO geht davon aus, daß Beweis nur über die streitigen Behauptungen der Parteien erhoben wird, zumeist nachdem ein Beweisbeschluß aufgrund der Beweisantritte der Parteien erlassen worden ist, §§ 358 32 St. Rspr., vgl. insbesondere RGZ 63, S. 410; BGH NJW 1958, S. 2888 f.; BGH VersR 1984, S. 429, 430; weitere Nachweise bei Lüderitz, Ausforschungsverbot und Auskunftsanspruch bei der Verfolgung privater Rechte, 1966, S. 16 und Brehm, Bindung des Richters an den Parteivortrag, S. 83.

7 Haug

98

5. Prozeßmodell I: Ausweitung der Kommunikation im Verfahren

ff. ZPO. Zum Beweisantritt gehört dabei die präzise Bestimmung des Beweis-

themas, also die Angabe der tatsächlichen Behauptungen, die durch das Beweismittel bestätigt werden sollen, §§ 371, 373, 403, 445 ZPO. Die genaue Bestimmung der tatsächlichen Behauptungen der Parteien ist schon deshalb erforderlich, um beurteilen zu können, was konkret zwischen den Parteien streitig und somit beweisbedürftig ist33 • Eine Beweisaufnahme erfolgt danach grundsätzlich nur, wenn die zu beweisenden Tatsachen von der belasteten Partei substantiiert dargelegt worden sind. Damit ist gleichzeitig deutlich, daß die Probleme um dem Ausforschungsbeweis in der Folge der Geltung der Verhandlungsmaxime stehen, in Verfahren mit Geltung der Untersuchungsmaxime können sich keine vergleichbaren Probleme ergeben34 . Die Probleme um Substantiierungslast und Ausforschung erhalten dabei deshalb eine besondere Stellung im Verfahren, weil die Wertung eines Vortrags als unsubstantiiert zur Entbehrlichkeit einer Beweisaufnahme und damit gegebenenfalls direkt zu einer Prozeßabweisung führt, die den Parteien manchmal als Rechtsschutzverweigerung erscheinen mag. In diesem Zusammenhang mag auch die Beobachtung in einer neueren Untersuchung35 durchaus Wirkungen entfalten, daß nämlich die Gerichte neben anderen Techniken auch die Beurteilung eines Sachverhalts als nicht hinreichend substantiiert dazu einsetzen, zu einem handhabbaren Urteilssachverhalt zu gelangen36 • Sicherlich darf hier für die Parteien keinesfalls der Anschein entstehen, die Konkretisierung der Substantiierungspflicht sei auch von arbeitsökonomischen Erwägungen nicht frei. Überhaupt bestehen insofern in der ständigen Rechtsprechung Tendenzen, die Bedeutung der Substantiierungspflicht und des Ausforschungsbeweises vorsichtig zu handhaben und nicht allzu weit über die Fälle offensichtlichen Mißbrauchs einer Beweisaufnahme hinaus auszudehnen. Im allgemeinen tendieren die Gerichte auch dann zur Beweisaufnahme, wenn der Tatsachenvortrag nicht in jeder Hinsicht strengen Anforderungen an die Substantiierung standhält, aber trotzdem Anhaltspunkte für eine relative Wahrscheinlichkeit der ziemlich allgemein vorgetragenen Behauptungen bestehen37 und eine Beweisaufnahme eine relevante Klärung des Sachverhalts verspricht38 • 33 Rosenberg / Schwab, Zivilprozeßrecht, § 11911; Stürner, Die Aufklärungspflicht der Parteien des Zivilprozesses, S. 112 ff.; Brehm, Die Bindung des Richters an den Parteivortrag, S. 64; Kuchinke, Die vorbereitende richterliche Sachaufklärung (Hinweispflicht) im Zivil- und Verwaltungsprozeß, JuS 1967, S. 296 ff. 34 Vgl. Rosenberg / Schwab, Zivilprozeßrecht, § 11911 2, dazu auch Kuchinke, JuS 1967, S. 296 f. 35 Brehm, Die Bindung des Richters an den Parteivortrag, S. 53. 36 Ebenda, S. 54; zustimmend Arens, ZZP 96 (1983), S. 3. 37 Fallgruppen aus der Rechtsprechung bei Lüderitz, Ausforschungsverbot und Auskunftsanspruch bei der Verfolgung privater Rechte, S. 28 f.; Stürner, Die Aufklärungspflicht der Parteien des Zivilprozesses, S. 106 ff.; vgl. dazu auch Peters, Ausforschungsbeweis im Zivilprozeß, 1966, S. 71 ff.

5.3 Generelle prozessuale Aufklärungspflicht der Parteien

99

5.3.1.2 Beweislastmechanismus

Bei der Herabsetzung des Informationsbedarfs durch Anwendung des Beweislast- und Darlegungsmechanismus in der oben abgeleiteten Form geht es um die punktuelle Überwälzung der prozessualen Informationslasten auf die Gegenpartei bei bestimmten Einzelfragen in konkreten, genau festgelegten Konfliktlagen äufgrund eines festgestellten, spezifischen Informationsdefizits einer Seite im Verhältnis zur Gegenseite. Dabei .geht es also nicht wie bei der Lehre von der allgemeinen prozessualen Aufklärungspflicht der Parteien um eine generelle Prozeßregel, um einen von typischen materiellrechtlichen Konfliktlagen abstrahierten allgemeinen Grundsatz des Zivilprozeßrechts. Beruht das Eingreifen des Beweislastmechanismus auf Überlegungen zur notwendigen Gestaltung und Regulierung dieses typischen Einzelkonflikts - entweder durch den Gesetzgeber, der eine entsprechende Norm erlassen hat, oder durch Rechtsprechung und Rechtswissenschaft, die im Wege der Analogie oder Rechtsfortbildung zu einer solchen speziellen Norm gefunden haben - so kann sich die allgemeine Lehre von der prozessualen Aufklärungspflicht der Parteien allein aus generellen prozeßrechtlichen Argumentationszusammenhängen ergeben und rechtfertigen. Der wesentliche Unterschied liegt also darin, daß die Lehre von der Aufklärungspflicht anders als die Strategie des Beweislastmechanismus nicht zu einer Einzelbeurteilung anhand des zugrunde liegenden Konflikttyps, zu einer konkreten Interessenabwägung der jeweiligen materiellrechtlichen Rechtsbeziehungen zwischen den Kontrahenten zur Bearbeitung der informationellen Seite des Konflikts finden kann, sondern auf einheitlichen, prozessualen Überlegungen beruht39 •

5.3.2 Frühe Lehren zur Autldärungspflicht (von Hippel / Lüderitz) Der erste umfassende Versuch der Begründung einer generellen prozessualen Aufklärungspflicht der nicht beweisbelasteten Prozeßpartei erfolgte im Jahre 1939 durch von Hippel 40 • Er geht von einem naturrechtlichen, ethisch 38 Lüderitz, Ausforschungsverbot und Auskunftsanspruch bei der Verfolgung privater Rechte, S. 29 ff., 35; Brehm, Die Bindung des Richters an den Parteivortrag, S. 100; kritisch Rosenberg I Schwab, Zivilprozeßrecht, § 119 11 2 c; Gaul, ZZP 83 (1970), S. 234 ff.; Anhalt, Allgemeine Verfahrensgrundsätze und Ausforschungsbeweis, 1966, S. 41 f.; Peters, Ausforschungsbeweis im Zivilprozeß, S. 73. 39 So ausdrücklich Stümer, Die Aufklärungspflicht der Parteien des Zivilprozesses, S. 16 der für diese grundsätzlich prozessuale Orientierung seines Ansatzes viel Kritik erhalten hat, vgl. Arens, ZZP 96 (1983), S. 22; Stein / Jonas I Leipold, ZPO, § 138 Rn 23; Rosenberg I Schwab, Zivilprozeßrecht, § 119 VI; Gottwald, ZZP 92 (1979), S. 34 ff; Stümer zustimmend allerdings Schlosser, Zivilprozeßrecht I, 1983, Rn 426 ff. und Henckel, ZZP 92 (1979), S. 100 ff. 40 Fritz von Hippel, Wahrheitspflicht und Aufklärungspflicht der Parteien im Zivil. prozeß, 1939.

7"

100

5. Prozeßmodell I: Ausweitung der Kommunikation im Verfahren

begründeten Verständnis des Prozesses aus und lehnt aus dieser Sicht die Verhandlungsmaxime als Konzept zur prozessualen Informationsermittlung vehement ab. Ihm geht es um das zutreffende, das richtige Ergebnis am Verfahrensende, um die "richtige Einsicht" im Prozeß, die er durch die Prämisse einer gewissen Selbständigkeit der Parteien bei weitgehender Abstinenz des Richters im Bereich der Sachverhaltsermittlung wegen der gegenseitigen Rücksichtslosigkeit der Parteien gefährdet und nicht eingelöst sieht 41 • Im Gegensatz zur Verhandlungsmaxime geht er deshalb davon aus, daß die Parteien alle Aktivitäten zu unterlassen haben, die sich auf das Zustandekommen eines richtigen Prozeßergebnisses negativ auswirken. Das ist für ihn der eigentliche Inhalt der prozessualen Wahrheitspflicht. Diese wird nach seiner Auffassung ergänzt durch die Aufklärungspflicht, die den Parteien über das Verbot von Störaktionen hinaus eine Pflicht zur aktiven Förderung eines gerechten Verfahrensergebnisses durch Mitteilung aller einer Partei zugänglichen Informationen auferlegt42 • Grenzen dieser Pflicht ergeben sich nun konsequent für von Hippel immer dann, wenn das Aufklärungsbedürfnis einer Partei fehlt oder nicht gerechtfertigt erscheint, die Aufklärung unzumutbar ist oder Dritte zur Aufklärung näher berufen sind. Hierzu entwickelt von Hippel eine Reihe von Fallgruppen43 , während sich eine dogmatische Ableitung der Aufklärungspflicht und die Entwicklung von Sanktionen für Verstöße bei von Hippel nicht findet 44 • Andere Autoren haben in der Auseinandersetzung um die nähere Bestimmung von Voraussetzungen und Grenzen des Ausforschungsbeweises zur Befürwortung einer allgemeinen Auskunftspflicht der nicht beweisbelasteten Prozeßpartei gefunden. Ähnlich wie die oben angesprochene Rechtsprechung zum Ausforschungsbeweis45 möchte Lüderitz die Berücksichtigung des Informationsinteresses einer Partei davon abhängig machen, ob die von dieser Partei nicht hinreichend substantiierten Tatsachen oder nur allgemein gehaltenen Behauptungen einen durch bestimmte Anhaltspunkte untermauerten Grad von Wahrscheinlichkeit haben46 , der unterhalb dem des Anscheinsbeweises oder gar des normalen Beweises anzusetzen sei 47 • Hierzu entwickelt er Fallgruppen je nach Grad der Unsubstantiiertheit des Vortrags und Schwere des

Ebenda, S. 23 ff., 235 f., 237 ff. Ebenda, S. 336 f., 287. 43 Ebenda, S. 287 ff. 44 Dazu dann ausführlich Stürner, Die Aufklärungspflicht der Parteien des Zivilprozesses, S. 85 ff., der darauf auch die geringe Resonanz auf die Arbeit von Hippels zurückführt. . 45 Vgl. oben Abschnitt 5.3.1.1 am Ende. 46 Lüderitz, Ausforschungsverbot und Auskunftsanspruch bei der Verfolgung privater Rechte, S. 27 f. 47 Ebenda, S. 29. 41

42

5.3 Generelle prozessuale Aufklärungspflicht der Parteien

101

Eingriffs in die (Geheimhaltungs-)Interessen der Gegenseite durch die geforderte Aufklärung, denen jeweils ein entsprechend größeres Maß an Wahrscheinlichkeit des Vortrags der informationsbegehrenden Partei gegenüberstehen müsse 48 . Eine andere Lösung befürwortet Peters, der eine Abstufung in Fallgruppen nach Wahrscheinlichkeitsanzeichen für nicht praktikabel hä1t49 . Er befürwortet entgegen einer Aufklärungspflicht der Partei die Zulässigkeit einer Beweisaufnahme in den Fällen, in denen die beweisbelastete Partei zwar zur weiteren Substantiierung ihres Vortrags nicht in der Lage ist, aber die zur Klärung des Sachverhalts geeigneten Beweismittel durchaus bezeichnen kann 50 . In diesen Fällen seien die zur Rechtfertigung der Verhandlungsmaxime anzuführenden Zweckmäßigkeitsüberlegungen erschöpft, so daß aufgrund der Ausrichtung des Verfahrens auf Gerechtigkeit und Wahrheit eine Beweisaufnahme notwendig zu erfolgen habe 51 . 5.3.3 Die prozessuale Aufklärungspflicht nach Stürner Die bislang eingehendste Untersuchung zur allgemeinen prozessualen Aufklärungspflicht hat Stürner52 vorgelegt. 5.3.3.1 Die Stümer'sche Konzeption

Auch Stürner geht - in der Folge verfassungsrechtlicher Überlegungen zum Justizgewährungsanspruch - davon aus, daß Sinn und Zweck des zivilprozessualen Verfahrens die Prüfung der wahren Rechtslage sei53 . Der auf Wahrheitsfindung angelegte Individualrechtsschutz im zivilprozessualen Verfahren gilt dabei einem Streitstoff, der in besonderem Maße die Sphäre der Parteien betrifft. "Wissen und Beweisgegenstände der Parteien sind deshalb unverzichtbare Aufklärungsmittel. Wahrheitsfindung ohne umfassende Aufklärungspflicht der nicht risikobelasteten Partei ist undenkbar"54. Danach fragt Stürner nach schutzwürdigen Interessen der aufklärungspflichtigen Partei, die prinzipiell ihre Heranziehung zur Aufklärung verbieten könnten und verneint

Ebenda, S. 29 ff., 32 ff. Peters, Ausforschungsbeweis im Zivilprozeß, S. 115 f. Ebenda, S. 100. Ebenda, S. 100, 102 ff. Stürner, Die Aufklärungspflicht der Parteien des Zivilprozesses, 1976; Winkler v. Mohrenfels grenzt für seine Habilschrift diesen Komplex gänzlich aus, vgl. Abgeleitete Informationspflichten im deutschen Zivilrecht, unveröffentlichtes Manuskript, S. 10. 53 Stürner, Die Aufklärungspflicht der Parteien des Zivilprozesses, S. 39 ff., 48 ff. 54 Ebenda, S. 56. 48

49 50 51 52

102

5. Prozeßmodeli I: Ausweitung der Kommunikation im Verfahren

das Bestehen höherwertiger Rechtsgüter . So sei insbesondere der Schutz der nicht risikobelasteten Partei vor Aufklärung zu ihren Lasten insoweit schon aufgrund der Vollständigkeitspflicht nach § 138 I ZPO, der Erklärungspflicht nach § 138 II, IV ZPO und eventuell-deren Kontrolle durch Parteivernehmung sowie aufgrund der Urkundenvorlagepflicht nach §§ 421 f. ZPO nicht anerkannt. Auch sei der Hinweis auf das Verweigerungsrecht des Zeugen nach § 384 Ziff. 1 ZPO aufgrund der unterschiedlichen Interessenlage verfehlt, denn dabei gehe es nicht um ein Verfahren, wo gegen den Aufklärungspflichtigen Recht gesucht wird, sondern dabei werde ein Dritter in ein fremdes Verfahren hereingezogen und solle sich dort nicht selbst belasten müssen 55 . Ein im Einzelfall einmal gegebener notwendiger Schutz höherwertiger Geheimhaltungsinteressen des Aufklärungspflichtigen sei dann bei der inhaltlichen Ausgestaltung der Aufklärungspflicht und deren Struktur zu berücksichtigen56 . Die dogmatische Grundlage der Aufklärungspflicht der nicht beweisbelasteten Partei findet Stürner in einer Analogie zu den gesetzlich geregelten Fällen in §§ 138 I und II, 423, 445 ff., 372 a und 654 ff. ZPO. Diese Vorschriften seien keine Regelungen mit Ausnahmecharakter , sondern Ausprägungen eines allgemeinen zivilprozessualen Grundgedankens57 . Eine dogmatische Ableitung aus dem Grundgedanken der freien Beweiswürdigung nach § 286 ZP058 oder dem allgemeinen Grundsati von Treu und Glauben verwirft Stürner, da insbesondere § 242 BGB und die daran anschließenden richterlichen Billigkeitserwägungen der Einzelfallgerechtigkeit zuzuordnen, aber zur Begründung einer allgemeinen prozessualen Aufklärungspflicht nicht tragfähig seien59 . Inhaltlich fordert Stürner für das Entstehen der Aufklärungsverpflichtung bei unsubstantiiertem Parteivortrag der risikobelasteten Partei ähnlich wie Lüderitz, daß die risikobelastete Partei ihren Vortrag durch Anzeichen untermauert, die zusammen mit einem Erfahrungssatz die aufgestellten Behauptungen als vernünftige und nicht willkürliche Vermutungen ausweisen 60 • Diese teleologische Reduktion der Substantiierungspflicht über eine Plausibilitätskontrolle sei aufgrund der typischen Sachverhaltsunkenntnis insbesondere angebracht bei Vorgängen aus der fremden Geschäfts- oder Persönlichkeitssphäre61 . Zur Reichweite der so veranlaßten Aufklärung der nicht risiko belasteten Partei entwickelt Stürner dann einzelne Fallgruppen zumutbarer Aufklärungs beiträge über rechtserhebliche Tatsachen und Existenz von Beweismöglichkeiten. Dabei ergeben sich dann konflikttypische Einschränkungen 55 56

57 58 59 60 61

Ebenda, Ebenda, Ebenda, Ebenda, Ebenda, Ebenda, Ebenda,

S. S. S. S. S. S. S.

59 f. 6l. 92. 85 ff. 87 ff., 92. 123 ff., 133. 119 ff.

5.3 Generelle prozessuale Aufklärungspflicht der Parteien

103

etwa beim Schutz der gewerblichen Geheimsphäre mit den Unternehmensund Geschäftsgeheimnissen62 • Folge der Verletzung der Aufklärungspflicht ist nach Stürner in Anlehnung an §§ 138 III, 427, 444, 446 ZPO die durch Beweis des Gegenteils widerlegbare Fiktion der Wahrheit der behaupteten Tatsache63 . Freie richterliche Beweiswürdigung allerdings soll der Fiktion vorgehen, so daß diese nur bei Fehlen einer richterlichen Überzeugung zum Zuge kommen kann 64 • 5.3.3.2 Die Kritiker der Lehre Stümers Die Konzeption einer allgemeinen prozessualen Aufklärungspflicht der nicht risikobelasteten Prozeßpartei hat in der Prozeßrechtswissenschaft teilweise Zustimmung65 , aber auch heftige Kritik erfahren66 , während einige Autoren eine allgemeine Aufklärungspflicht zwar für zu weitgehend erachten, aber punktuelle Analogien zu den gesetzlich geregelten Aufklärungspflichten der ZPO durchaus befürworten wollen67 • Soweit sich die Kritiker gegen die Annahme eines auf Wahrheitsfindung angelegten Zivilprozesses wenden und darauf hinweisen, das Ziel der Wahrheit dürfe nicht verabsolutiert werden, denn der Zivilprozeß ziele nur auf förmliche, verfahrensgemäße Wahrheit ab, soll darauf nicht erneut eingegangen werden 68 . Der Hauptvorwurf der Kritik geht ansonsten dahin, daß schon der Rückgriff auf das materielle Recht zu befriedigenden Lösungen führe und so für die Annahme einer prozessualen Aufklärungspflicht kein Bedarf mehr bestehe69 • Damit kann allerdings durchaus zweierlei gemeint sein, nämlich einerseits der

62 Dazu näher Stürner, Die Aufklärungspflicht der Parteien des Zivilprozesses, S. 208 ff., 218 ff. 63 Ebenda, S. 235 ff.; zustimmend insoweit Walter, Freie Beweiswürdigung, S. 245 und Prütting, Gegenwartsprobleme der Beweislast, 1983, S. 188 f. 64 Stürner, Parteipflichten bei der Sachverhaltsaufklärung im Zivilprozeß, ZZP 98 (1985), S. 253. 65 Henckel ZZP 92 (1979), S. 100 ff., 104 f.; Schlosser Zivilprozeßrecht I, Rn 426 ff. 66 Arens, ZZP 96 (1983), S. 1 ff.; Gottwald, ZZP 92 (1979), S. 34 ff. (Entscheidungsanmerkung); Prütting, Gegenwartsprobleme der Beweislast, S. 137 ff.; Brehm, Die Bindung des Richters an den Parteivortrag, S. 27 und Schönfeld, Zur Verhandlungsmaxime im Zivilprozeß und in den übrigen Verfahrensarten, S. 168 ff. 67 Rosenberg / Schwab, Zivilprozeßrecht, § 119 VI; Jauernig, Zivilprozeßrecht, § 52 11; noch vorsichtiger Leipold in Stein / Jonas / Leipold, ZPO, § 138 Rn 22 f. 68 So Arens, ZZP 96 (1983), S. 12; Brehm, Die Bindung des Richters an den Parteivortrag, S. 27; Gaul, AcP 168 (1968), S. 50; Prütting, Gegenwartsprobleme der Beweislast, S. 138; Stein / Jonas / Leipold, ZPO, § 138 Rn 23; dazu vgl. schon Abschnitt 5.2. 69 So am weitestgehenden Arens, ZZP 96 (1983), S. 21 ff.; ihm folgend Prütting, Gegenwartsprobleme der Beweislast, S. 138 f. und Konzen, Rechtsprobleme zwischen Prozeßparteien, 1976, S. 234 ff.

104

5. Prozeßmodell I: Ausweitung der Kommunikation im Verfahren

Verweis auf materiellrechtliche Auskunftsansprüche, die als Informationsmöglichkeiten der darlegungsbelasteten Prozeßpartei für ausreichend gehalten werden- so insbesondere die Kritiker der Stürner'schen Lehre 70 - oder andererseits ein Hinweis auf die punktuelle Überwälzung der prozessualen Informationslasten auf die Gegenpartei in Abhängigkeit von materiellrechtlichen Erwägungen anhand der Interessenstruktur des zugrundeliegenden Konflikttypus, wie sie in der vorliegenden Arbeit oben bei der Abgrenzung zwischen prozessualen Aufklärungspflichten und Beweislastmechanismus vertreten wurde 71. Die These der Kritiker Stürners ist hier nach der Erörterung der Bewältigung der Informationsprobleme in typischen Zivilrechtskonflikten, etwa im Verhältnis von Hersteller und Warenkäufer, von Arzt und Patient oder in der Folge von § 282 BGB, kaum mehr zu akzeptieren 72 • Zutreffend und wichtig erscheint aber auch vorliegend die Kritik an der globalen Rechtfertigung einer prozessualen Einheitslösung im Vergleich zu der Lösung über den aufgezeigten, punktuellen Mechanismus der Darlegungs- und Beweislast in der Folge materiellrechtlicher Interessenabwägung im Zusammenhang des jeweils konkret rechtshängigen Grundkonflikts. So lassen sich die erheblichen Schwierigkeiten einer ziemlich unübersichtlichen Fallgruppenbildung aufgrund allgemeiner prozessualer Erwägungen anhand abgestufter Plausibilitätserfordernisse vermeiden und durch konkrete, auf den jeweiligen Konflikttyp und die dabei relevanten speziellen informationellen Rahmenbedingungen bezogene Überlegungen im Einzelfall ersetzen. Für die Erwägungen spielen dann naturgemäß die materiellrechtlichen Auskunftsansprüche eine wichtige Rolle, die sich so wesentlich einfacher in einer Gesamtkonzeption berücksichtigen lassen. Eine weitere Hauptlinie der Kritik wendet sich gegen die vorgesehene Sanktionierung von Aufklärungsverstößen durch eine widerlegbare Fiktion der ungünstigen Wahrheit. Als Alternative hierzu kommt eine Anwendung der von Rechtsprechung und Rechtswissenschaft entwickelten Regeln über die Beweisvereitelung in Betracht, wenn nämlich eine Partei durch pflichtwidrige Vorenthaltung von Informationen oder Beweismitteln die mangelnde Substantiierung oder Beweismöglichkeit des Prozeßgegners selbst verursacht hat und nun daraus im Prozeß Vorteile erzielen will73 • An solch treuwidriges VerInsbesondere Arens, ZZP 96 (1983), S. 21,23. Dazu vgl. oben Abschnitt 5.3.1.2. 72 Dazu vgl. oben Abschnitte 3.1.2, 3.2 und 3.3. 73 Dazu Baumgärtei, Treu und Glauben, gute Sitten und Schikaneverbot im Erkenntnisverfahren, ZZP 69 (1956), S. 89 ff.; Blomeyer, Die Umkehr der Beweislast, AcP 158 (1959/60), S. 97 ff.; Peters, Beweisvereitelung und Mitwirkungspflicht des Gegners, ZZP 82 (1969), S. 200 ff.; Gerhardt, Beweisvereitelung im Zivilprozeß, AcP 169 (1969), S. 289 ff.; Schneider, Die Beweisvereitelung, MDR 1969, S. 4 ff. 70

71

5.3 Generelle prozessuale Aufklärungspflicht der Parteien

105

halten (venire contra factum proprium) knüpft die Rechtsprechung bei der Beweiswürdigung die flexible Konsequenz einer Beweiserleichterung für die risiko be lastete Partei bis hin zu einer Umkehr der Beweislast14 • Durch diese sehr flexible Regelung bleibt die Möglichkeit des Gerichts zur freien Überzeugungsbildung im Rahmen der freien Beweiswürdigung im Gegensatz zur starren Regelung einer Unterstellung der ungünstigen Wahrheit weitgehend erhalten.

5.3.4 Arbeitsrechtliche Streitigkeiten Betrachten wir die Lehre von der generellen prozessualen Aufklärungspflicht der nicht risikobelasteten Prozeßpartei unter arbeitsrechtlichem Blickwinkel, läßt sich zunächst festhalten, daß sie für das arbeitsgerichtliehe Beschlußverfahren kaum Relevanz erlangen kann. Dies ergibt sich neben der möglichen Vielzahl der Beteiligten schon aufgrund der oben dargestellten modifizierten Geltung der Untersuchungsmaxime. Für das arbeitsgerichtliche Urteilsverfahren dagegen scheint eine Relevanz dieser Lehre ohne weiteres denkbar. Eine besondere Rolle spielt für die Gestaltung der informationellen Grundlagen der dort typischen arbeitsrechtlichen Individualkonflikte allerdings die Abwägung des Geheimhaltungsinteresses hinsichtlich der Betriebs- und Unternehmensgeheimnisse mit den aus der individuellen Rechtswahrung des Einzelarbeitnehmers folgenden Aufklärungsinteressen. Zwar handelt es sich hier zumeist um Situationen mit sachverhaltstypischen Informationsdefiziten, für die auch Stürner seine Fallgruppen einer Aufklärungspflicht bei plausiblen, aber unsubstantiierten Sachvortrag der uninformierten Partei abgeleitet hat, doch spielt hier regelmäßig gerade die an den materiellen Rechtsbeziehungen orientierte Güter- und Interessenabwägung zwischen Aufklärungsinteresse des Arbeitnehmers und Geheimhaltungsinteresse des Arbeitgebers eine wesentliche Rolle für die Verteilung der Informationslasten im Prozeß. Insoweit ist es naheliegend, Aufklärungspflichten nicht über allgemeine prozessuale und verfassungsrechtliche Erwägungen generell abzuleiten und in einem aufwendigen Prozeß der Fallgruppenbildung nach Plausibilitätskriterien abzustufen, sondern die Verteilung der Informationslasten punktuell in direkter Argumentation um die zugrundeliegenden materiellrechtlichen Rechtsbeziehungen und die konflikttypischen Informations- und Kommunikationsstrukturen festzulegen. Wo im Einzelfall eine derartige punktuelle Überwälzung der prozessualen Informationslasten - aus welchen Gründen auch immer - nicht angemessen, funktional oder ausreichend erscheint, helfen allgemeine prozessuale Erwägungen im Sinne Stürners mit dem praktisch wenig trennscharfen Kriterium der Plausibi74

Leitentscheidung ist BGH NJW 1978, S. 2337.

106

5. Prozeßmodell I: Ausweitung der Kommunikation im Verfahren

litätsanzeichen des Vortrags im arbeitsgerichtlichen Prozeß kaum weiter. Dann ist vielmehr ein offenes Bekenntnis zu einer Stärkung der Richtermacht bei der Sachverhaltsermittlung und rechtspolitisch zur Einführung eines modifizierten Untersuchungsgrundsatzes wie im arbeitsgerichtlichen Beschlußverfahren angezeigt, weil dann die an prozeßökonomischen Vorteilen und an Zweckmäßigkeitsüberlegungen orientierte Rechtfertigung der Verhandlungsmaxime ohnehin ihre Basis verloren hat.

6. ProzeßmodeH ll:

Der arbeitsrechtliche Einsatz des Beweislastmechanismus zur Gestaltung der Informationsbeziehungen Die folgenden Überlegungen knüpfen an die Analyse ausgewählter Informationsprobleme bei typischen Zivilrechtskonflikten und die Überlegungen zu deren Bewältigung durch einen Beweislast- bzw. Behauptungslastmechanismus an l . Wie sich aus den daran anschließenden Schlußfolgerungen ergab, liegt der Bereich der Anwendung dieser Strategie im Schwerpunkt bei den arbeitsrechtlichen Individualkonflikten und damit bei dem arbeitsrechtlichen Urteilsverfahren mit seiner im vorangegangenen Abschnitt dargestellten, modifizierten Form der Verhandlungsmaxime. Ehe nun der konkrete Einsatz dieser Strategie zur Gestaltung der informationellen Beziehungen in diesen arbeitsrechtlichen Individualkonflikten dargestellt werden kann, sollen vorab kurz das Verhältnis zwischen objektiver und subjektiver Beweislast, zwischen Beweislast und Behauptungs- oder Darlegungslast sowie zwischen Beweislast und Substantiierungspflicht der Parteien näher geklärt werden und die allgemeinen Grundregeln einer Beweislastverteilung im Zivil- und Arbeitsrecht erörtert werden.

6.1 Beweislast, Behauptungslast und Substantiierungserfordernis Schon bei der Analyse der drei Modellvarianten wurde betont, daß der Einsatz des Beweislastmechanismus gegenüber der materiellrechtlich ansetzenden Strategie den Vorteil bietet, differenzierend neben der Gestaltung der Informationsbeziehungen auch Überlegungen zur Verteilung des Unaufklärbarkeitsrisikos bestimmter Sachverhalte anzustellen2 . Dem liegt die Unterscheidung zwischen der sogenannten objektiven und der subjektiven Beweislast zugrunde.

6.1.1 Die objektive und die subjektive Beweislast Die Unterscheidung zwischen objektiver und subjektiver Beweislast ist bei der Besprechung der §§ 282, 285 BGB schon kurz angesprochen worden. Als 1 2

Vgl. oben Abschnitt 3.1.3. Oben Abschnitt 4.2.4.

108

6. Prozeßmodell 11: Zum Beweislastmechanismus im Arbeitsrecht

objektive (materielle) Beweislast oder Beweisgefahr wurde dabei die Risikoverteilung bei einer entscheidungserheblichen, aber unaufklärbaren Prozeßtatsache, also beim Vorliegen eines non liquet im Prozeß bezeichnet3 . Sie war für das Gericht ultima ratio zur Erhaltung der Entscheidungsfähigkeit in einer solchen Situation. Dabei wurde auch schon festgestellt, daß die Frage der Verteilung der objektiven Beweislast in allen Verfahrensarten, egal ob unter der Herrschaft des Untersuchungsgrundsatzes oder bei Geltung der Verhandlungsmaxime, auftreten kann und entsprechend bewältigt werden muß. Als subjektive (formelle) Beweislast oder Beweisführungslast war demgegenüber die Aufgabe der Parteien bezeichnet worden, dem Gericht die Beweismittel für ihren Sachvortrag zu benennen, Beweis für ihre Tatsachenbehauptungen anzutreten4 • Sie steht im deutlichen Zusammenhang mit der Verhandlungsmaxime, ist sozusagen der Ausdruck der Verhandlungsmaxime im beweisrechtlichen Bereich. Trotzdem bleibt nach den Überlegungen des vorigen Kapitels zur Stärkung der Macht des Gerichts im Bereich der Sachverhaltsbeibringung ausgehend von Einschränkungen bei der Verhandlungsmaxime bis hin zur modifizierten Anwendung des Untersuchungsgrundsatzes in bestimmten gegenständlich begrenzten Verfahrensbereichen (etwa im arbeitsgerichtlichen Beschlußverfahren)5 zu beachten, daß auch dabei immer die Parteien zur Angabe der ihnen bekannten oder zugänglichen Beweismittel gegenüber dem Gericht gehalten sind. Selbst in Verfahren mit (modifizierter) Untersuchungsmaxime ist also eine subjektive Beweisführungslast der Parteien durchaus vorstellbar und funktional 6 . Dabei droht allerdings als Sanktionierung dieser Last nicht unmittelbar der Verlust des Prozesses, sondern diese subjektiven Beweisführungsregeln erhalten hier durch Auswirkungen auf Struktur und Intensität der veranlaßten Ermittlungsaktivitäten des Gerichts ihr prozessuales Gewicht? Für die in der vorliegenden Untersuchung gestellte Frage nach der Gestaltung der prozessualen Informationsstrukturen interessiert demnach also vor

Vgl. oben Abschnitt 3.1.3.1 mit ausführlichen Nachweisen. V gl. ebenda. S Vgl. oben Abschnitt 5.2.3. 6 Häufig wird dies im Verwaltungsprozeß auch als "faktische Beweislast" bezeichnet; vgl. dazu Musielak, Grundlagen der Beweislast im Zivilprozeß, S. 39; Seeliger, Beweislast, Beweisverfahren, Beweisarten und Beweiswürdigung im Steuerverfahren, 1981, S. 43; Redeker, Beweislast und Beweiswürdigung im Zivil- und Verwaltungsprozeß, NJW 1966, S. 1777; aA Grunsky, Grundlagen des Verfahrensrechts, § 41 11; Rosenberg, Die Beweislast auf der Grundlage des BGB und der ZPO, S. 24; Prütting, Gegenwartsprobleme der Beweislast, S. 25. 7 Vgl. oben Abschnitt 5.2.3 mit ausführlichen Nachweisen; dies wird zu wenig beachtet bei Prütting, Gegenwartsprobleme der Beweislast, S. 25, dessen ablehnende Haltung deshalb insoweit nicht überzeugen kann; zutreffend dagegen Musielak, Grundlagen der Beweislast im Zivilprozeß, S. 39. 3

4

6.1 Beweislast, Behauptungslast und Substantiierungserfordernis

109

allem die subjektive Beweislast und ihre Verteilung. Naheliegend ist dabei, daß die Verteilung der subjektiven Beweisführungslast im Grundsatz der Zuweisung des Unaufklärbarkeitsrisikos durch die objektive Beweislast folgt. Dafür sprechen zunächst schon die Gründe, die zur Zuweisung des Risikos der Nichtaufklärbarkeit an eine bestimmte Partei führen. Naturgemäß hat auch gerade die mit dem objektiven Beweisrisiko belastete Partei ein besonderes Interesse an der Vermeidung eines non liquet. Zwingend ist diese Parallelität allerdings nicht, so daß hieraus der Schluß auf eine Unselbständigkeit der subjektiven Beweislast - als bloßen Annex der Verteilung des Unaufklärbarkeitsrisikos - verfehlt wäre 8 . Zu berücksichtigen ist, daß es sich bei der subjektiven Beweisführungslast um ein Gestaltungselement der prozessualen Informationsbeziehungen und damit um einen ganz anderen Gegenstand handelt als die Bewältigung der Folgen einer Situation, in der alle prozessualen Kommunikations- und Aufklärungsmittel erschöpft sind, aber der Richter trotzdem zu keiner vollen Überzeugung hinsichtlich der tatsächlichen Basis seiner Entscheidung gelangt ist. Die subjektive Beweisführungslast bezieht sich demgegenüber auf ein viel früheres Verfahrensstadium, in dem die endgültige Würdigung der Verhandlungsergebnisse gerade noch aussteht. Dabei kann der Richter je nach dem konkreten Verlauf des Prozesses schon ganz unterschiedliche Sachinformationen besitzen, so daß Umfang und Verteilung der Beweisführungslast letztlich nur im Zusammenhang von Entwicklung und Stand der richterlichen Überzeugungsbildung zu verstehen sind. In Abhängigkeit davon kann die subjektive Beweislast, darauf hat schon Musielak eindringlich hingewiesen9 , durchaus zwischen den Parteien hin und her wandern, bis alle gegebenenfalls einschlägigen und erforderlichen Beweismittel erschöpft sind, die den Parteien zur Verfügung stehen mögen. Auch der Hinweis auf die angebliche Sanktionslosigkeit der subjektiven Beweislast bei einem Auseinanderfallen von Beweisführungslast und objektiver Beweislast vermag nicht vom Gegenteil zu überzeugen, denn dabei wird verkannt, daß für die subjektive Beweislast auch in diesem Fall durchaus die ansonsten einschlägige Sanktion, der drohende Prozeßverlust, denkbar bleibt lO • Man muß insofern nämlich bedenken, daß die entsprechenden Pro8 So aber Dubischar, Grundsätze der Beweislastverteilung im Zivil- und Verwaltungsprozeß, JuS 1971, S. 385 ff., 386; auch Redeker, NJW 1966, S. 177 f., und Zöller / Stephan, vor § 284 ZPO Anm. V, 2. 9 Musielak, Grundlagen der Beweislast im Zivilprozeß, S. 45 ff.; ähnlich HugueninDumittan, Behauptungslast, Substantiierungspflicht und Beweislast, 1980, S. 84: Schmeling, Die Rechtsnatur der Beweislastfrage, Diss: 1953, S. 36 ff. 10 Dies verkennt Prütting, wenn er meint, für die subjektive Beweislast komme danach nur eine gesonderte, vom Prozeßveriust als Sanktion der objektiven Beweislast abweichende Sanktion in Betracht, die dann aber mangels entsprechenden Gewichts der subjektiven Beweislast den Charakter einer "echten" prozessualen Last vollständig nehme; vgl. Prütting, Gegenwartsprobleme der Beweislast, S. 28; ähnlich Leipold, Beweislastregeln und gesetzliche Vermutungen, S. 18.

110

6. Prozeßmodell 11: Zum Beweislastmechanismus im Arbeitsrecht

bleme eben in unterschiedlichen Verfahrensstadien auftreten. Bei der Sanktionierung von Verstössen gegen die subjektive Beweislast sind deshalb Überlegungen zu den Folgen eines non liquet noch gar nicht veranlaßt - ob letztlich eine Situation der Unaufklärbarkeit entstanden wäre, bleibt mangels Beweisführung der Partei offen, und der Prozeß wird aus anderen Gründen schon vorher abgebrochen. Die Situation ist am ehesten der prozessualen Lage bei fehlendem oder mangelhaft substantiiertem Vortrag einer Partei vergleichbar, wo ebenfalls ein Prozeß in einem früheren Stadium als dem einer Entscheidung aus Gründen der objektiven Beweislast zu Ende sein kann, ohne daß man auf den Gedanken käme, die Sanktion, den Prozeßabbruch, auf Überlegungen zur objektiven Beweislast und deren Verteilung zu stützen oder eine notwendige Parallelität zwischen der Verteilung der prozessualen Informationslast zur Substantiierung und der Verteilung des Unaufklärbarkeitsrisikos nach der objektiven Beweislast zu konstruieren. Es ist etwas anderes, ob eine Partei von vornherein gar nicht vorträgt, gar nicht substantiiert oder einen Beweis gar nicht antritt, oder ob sie aufgrund der konkreten Umstände und der informationellen Gegebenheiten eben gar nicht vortragen, gar nicht substantiieren oder gar keinen Beweis antreten kann bzw. der angetretene Beweis für das Beweisthema unergiebig bleibt. Zutreffend ist deshalb entgegen der These von der notwendigen Parallelität, daß bei der Zuweisung der subjektiven Beweislast ähnlich wie bei der Zuweisung der Darlegungs- bzw. der Substantiierungslast andere Gestaltungselemente der prozessualen Informations- und Kommunikationsbeziehungen betroffen sind und verteilt werden, als bei der Zuweisung des Risikos der Nichtaufklärbarkeit im Rahmen der objektiven Beweislast - wobei allerdings beide Risiken eben häufig nach denselben Grundsätzen und Überlegungen und deshalb häufig mit gleichem Ergebnis zugewiesen werden.

6.1.2 Beweislast und Darlegungslast Die Darlegungs- und Behauptungslast steht in vergleichbarer Abhängigkeit von der Verhandlungsmaxime wie die subjektive Beweisführungslast. Sie betrifft die Erforderlichkeit der Einführung der für eine Entscheidung des konkreten Konflikts notwendigen Tatsachen durch die Parteien. Dabei läßt sich wiederum - wie bei der Beweislast - nach objektiven bzw. subjektiven Elementen differenzieren. Die objektive Behauptungslast zielt dann auf die Handlungsmöglichkeiten des Gerichts, wenn diesem nicht ausreichend Tatsachenmaterial zur Entscheidung des Rechtsstreits vorgetragen ist, während die subjektive Behauptungslast die Gestaltung der Informationsstrukturen betrifft und Antwort auf die Frage gibt, was eine Partei zur Vermeidung von prozessualen Nachteilen mindestens vorzutragen haU!. Denk-

6.1 Beweislast, Behauptungslast und Substantiierungserfordemis

111

bare Modifizierungen eines strikt an der Verhandlungsmaxime orientierten Konzepts der Darlegungs- und Beweislast wurden schon bei der Diskussion um die Stärkung der Richtermacht, um die richterliche Hinweispflicht nach § 139 ZPO sowie bei der Diskussion um eine generelle prozessuale Aufklärungspflicht der insofern nicht risikobelasteten Partei erörtert 12 • Deshalb können sich nun die Überlegungen auf das Verhältnis zwischen der hier besonders interessierenden subjektiven Darlegungslast und der Beweislastverteilung konzentrieren sowie auf die Relevanz dieser Figuren für das Funktionieren des Beweislastmechanismus als Prozeßmodell einer Bewältigung spezifischer Informationsprobleme. 6.1.2.1 Die Verteilung der subjektiven Darlegungslast und das Verltältnis zur Verhandlungswürdigung

Im Regelfall folgt die Verteilung der Darlegungslast zwischen den Parteien ohne weiteres der Verteilung der Beweislast. Es sind grundsätzlich dieselben Gründe dafür ausschlaggebend, daß eine Partei bestimmte Sachverhaltsbehauptungen beweisen soll, wie dafür, daß sie diese Tatsachen zur Begründung ihres prozessualen Rechtsschutzbegehrens dem Gericht vortragen soll13. Trotzdem wird aber auch bei der Behauptungslast eine eigenständige Last zwischen den Parteien verteilt, die nicht lediglich als Reflex der Verteilung der Beweislast begriffen werden kann. Dies zeigt sich wiederum deutlich an den Folgen eines Verstoßes gegen diese Last. Denn dann kommt es, ohne weitere Überlegungen zur Beweissituation oder zur Aufklärbarkeit des möglicherweise zugrunde liegenden Sachverhalts, gegebenenfalls zu einem für die belastete Partei negativen Verfahrensergebnis - allerdings nur im Rahmen der besprochenen Grenzen, also etwa nur nach entsprechenden richterlichen Hinweisaktivitäten gemäß § 139 ZPO. Auch hier ist somit eine Abhängigkeit der Verteilung von der objektiven Beweislast keinesfalls zwingend. Die Verteilung der subjektiven Darlegungslast kann ähnlich wie die Verteilung der subjektiven Beweisführungslast nicht unabhängig vom Stand des Verfahrens, von dem bislang erreichten Informationsstand des Richters und von den bisherigen prozessualen Aktionsaktivitäten der Parteien erfolgen. Sie kann sich dadurch auch im Verlauf eines Prozesses zwischen den Parteien ver11 Vgl. Rosenberg / Schwab, Zivilprozeßrecht, § 118 IV 2; Brehm, Die Bindung des Richters an den Parteivortrag, S. 48 ff. 12 Vgl. oben Abschnitte 5.2 und 5.3. 13 Vgl. Rosenberg, Die Beweislast auf der Grundlage des BGB und der ZPO, S. 49 f.; Rosenberg / Schwab, Zivilprozeßrecht, § 118 IV; Grunsky, Grundlagen des Verfahrensrechts, § 1811; Jauemig, Zivilprozeßrecht, § 50 I; Prütting, Gegenwartsprobleme der Beweislast, S. 46; Leipold, Beweislastregeln und gesetzliche Vermutung, S. 98 ff.; Brox, Die Bedeutung der Beweislast im Zivilprozeß, JA 1979, S. 590 f.

112

6. Prozeßmodell 11: Zum Beweislastmechanismus im Arbeitsrecht

schieben, sogar zwischen ihnen hin und her wandern bis eine hinreichende informationelle Basis für die Beweiserhebungs- oder Entscheidungsaktivitäten des Gerichts geschaffen ist oder sich die Vortragsmöglichkeiten beider Parteien erschöpft haben 14 • Damit sind aber nicht alle Verbindungslinien zwischen Darlegungslast und Beweislast aufgedeckt. Es gibt nämlich insbesondere in der alltäglichen Prozeßpraxis partielle Überschneidungen zwischen subjektiver Darlegungslast und subjektiver Beweislast. Kaum eine Partei wird sich praktisch mit der Darlegung allein der Tatsachen begnügen können, die den Anspruch oder ein Gegenrecht schlüssig begründen 15 • Vielfach wird sie im Hinblick auf die richterliche Würdigung und Überzeugungs bildung, die sich nach § 286 ZPO auch auf den Verhandlungsinhalt zu stützen hat, gehalten sein, nähere Umstände und Einzelheiten der zur bloßen Rechtsanwendung erforderlichen Tatsachenbehauptungen mitzuteilen. Die Parteien sollen also Anhaltspunkte vortragen, die dem Richter eine Würdigung der Plausibilität der aufgestellten Tatsachenbehauptungen ermöglichen. Entsprechende Darlegungsanforderungen beinhalten so eine Chance der Parteien zur Beeinflussung der richterlichen Ü~er­ zeugungsbildung zu ihren Gunsten. Sie sind damit nicht nur der subjektiven, prozessualen Darlegungslast der Parteien zuzuordnen, sondern stellen gleichzeitig auch Anforderungen im Rahmen der subjektiven Beweisführungslast dar. Gelingt es den Parteien nicht, solche näheren Umstände und Einzelheiten zu ihren Tatsachenbehauptungen darzulegen und ihren Vortrag für das Gericht plausibel und wahrscheinlich zu machen, droht ihnen ebenso der Prozeßverlust ohne weitere Prüfung der angebotenen Beweise, wie bei einer Nichteinhaltung der Darlegungspflichten hinsichtlich des Tatsachenvortrags, der unmittelbar zur Subsumtion, zur tatsächlichen Ausfüllung der begehrten Anspruchsgrundlage erforderlich ist 16 • Gewöhnlich wird die in dieser Hinsicht erfolgende nähere Bestimmung des Umfangs der subjektiven Darlegungslast (und im angegebenen Sinne auch von Teilen der subjektiven Beweisführungslast) unter dem Stichwort der notwendigen "Substantiierung" des Vortrags diskutiert. Dies soll dann im nächsten Abschnitt noch etwas genauer interessieren. 14 'So zutreffend insbesondere Musielak, Die Grundlagen der Beweislast im Zivilrecht, S. 50 ff., mit eingehenden Nachweisen; für die konkrete Darlegungslast ähnlich auch Brehm, Die Bindung des Richters an den Parteivortrag, S. 51 ff.; aA die hM, vgl. dazu die Nachweise oben Fn 13. 15 So aber die hM, vgl. BGHZ 42, S. 53 ff., 56; BGH LM Nm. 5, 11 und 12 zu § 282 BGB; BGH NJW 1980, S. 1577 f.; zur Lehre vgl. Rosenberg / Schwab, Zivilprozeßrecht, § 118 IV; Rosenberg, Die Beweislast auf der Grundlage des BGB und der ZPO, S. 50; Grunsky, Grundlagen des Verfahrensrechts, § 1811; Brehm, Die Bindung des Richters an den Parteivortrag, S. 48, und Prütting, Gegenwartsprobleme der Beweislast, S. 44 ff. 16 Darauf hat insbesondere hingewiesen, Brehm, Die Bindung des Richters an den Parteivortrag, S. 50 f., mwN; nach Auffassung der herrschenden Meinung zur Darlegungslast ist eine solche Plausibilitätskontrolle kaum zulässig.

6.1 Beweislast, Behauptungslast und Substantiierungserfordernis

113

6.1.2.2 Zur Funktionsweise des Beweislastmechanismus bei der Darlegungslast

Der Beweislastmechanismus als Gestaltungselement der informationellen Beziehungen der Prozeßparteien bringt eine Herabsetzung des Informationsbedürfnisses der in Informationsnot befindlichen Partei dadurch zustande, daß gegenüber der sonst zur Regel erhobenen Verteilung der subjektiven Darlegungslast und der gegebenenfalls geforderten Substantiierung durch die belastete Partei eine Verschiebung und Überwälzung auf die (informierte) Gegenpartei bewirkt wird. Dies kann entweder zusammen mit der Beweislast oder unabhängig von deren Zuweisung geschehen. Erfolgt diese Überwälzung in der Folge einer entsprechenden (ausdrücklichen) Beweislastnorm im Gesetz, so bedeutet dies gewöhnlich eine Überwälzung der Beweislast wie der Darlegungslast. Eine solche Verschiebung kann sich aber auch aufgrund entsprechender Rechtsfortbildung in Rechtsprechung und Rechtswissenschaft durchsetzen. Dabei wird dann zumeist neben der gleichzeitigen Beweislastumkehr auch der weniger gravierende, weniger weitreichende Weg einer bloß partiellen Überwälzung einzelner Informationslasten erwogen und zum Teil auch eingeschlagen. Teilweise wird dabei sogar manchmal eine Lösung nur durch eine abweichende Festlegung des Umfangs der Darlegungslast im Wege der Veränderung der Anforderungen an die erforderliche Substantiierung gesucht. Die Beweislast mag dabei unverändert bei einer Partei bleiben, während die gesamten Informationsbeziehungen der Parteien bei der Darlegung des Prozeßsachverhalts im Vorfeld einer Beweiserhebung nunmehr in Abhängigkeit von der richterlichen Verhandlungswürdigung sowie vom Sachvortrag der jeweiligen Gegenpartei und dessen Differenziertheit gesteuert werden. Dieser hier sogenannte Beweislastmechanismus kann bis zum Hin und Her eines gegenseitigen Hochschaukelns der Informationsbeibringung im Prozeß verfeinert werden und damit zu einem differenzierten Reaktionsinstrument auf strukturelle Informationsprobleme einzelner Parteien in ihrer Rolle als Teilnehmer in typisierten Konfliktfällen ausgestaltet werden. Er wird im Arbeitsrecht tatsächlich auch so eingesetzt. Für diesen, im folgenden noch eingehend zu untersuchenden arbeitsrechtlichen Einsatz des Beweislastmechanismus bei der Darlegungslast hat sich dort die Bezeichnung als "modifizierte" oder "abgestufte" Darlegungslast eingebürgert.

6.1.3 Die Erforderlichkeit der Substantüerung des Parteivortrags Substantiierung ist ein Blankettbegriff. Dahinter verbirgt sich zunächst die konkrete Bestimmung des prozeßordnungsgemäßen Umfangs der subjektiven Darlegungslast der Parteien. Es handelt sich dabei um ein recht hohes Risiko 8 Haug

114

6. Prozeßmodell 11: Zum Beweislastmechanismus im Arbeitsrecht

für die betroffene Partei, denn bei mangelnder Substantiierung droht der prozessuale Nachteil eines Verstoßes gegen die Darlegungslast. Die aufgestellte Behauptung wird im Prozeß ohne Beweisaufnahme nicht weiter berücksichtigt, ja gegebenenfalls wird sich die mangelnde Substantiierung der aufgestellten Behauptungen im Rahmen der Würdigung der Verhandlung sogar gegen die Partei wenden können. Dies wird dann der Fall sein, wenn das Gericht zu der Überzeugung kommt, die Partei wolle ihre Tatsachenbehauptung nicht näher spezifizieren und konkrete Umstände im Sachverhaltsumfeld vortragen, weil sie dadurch für ihren Anspruch negative Folgen befürchtet oder weil sie einen Verstoß gegen die prozessuale Wahrheitspflicht des § 138 I ZPO vermeiden möchte 17 . Die genaue Festlegung des Umfangs, die Bestimmung des konkreten Inhalts der subjektiven Darlegungslast durch die Erfordeniisse der Substantiierung führt nun im einzelnen zur Festlegung der gegenseitigen Kommunikationspflichten und des prozessualen Informationssystems, in dem durch Behauptung und Gegenbehauptung der Kontrahenten die zwischen ihnen streitigen Sachverhaltskomplexe präzise herausgearbeitet werden. Die zunächst subjektiv darlegungspflichtige Partei steuert insoweit durch ihre Angaben zur Prozeßmaterie und deren Substantiierung das Informationsverhalten der Gegenpartei, die gemäß § 138 11 ZPO zur Erklärung auf die aufgestellten Behauptungen verpflichtet ist. Auch bei dieser Erklärungspflicht nach § 13811 ZPO handelt es sich dabei nicht um eine echte Verpflichtung, sondern um eine prozessuale Last 18 mit der Folge des Rechtsnachteils aus § 138 111 ZPO, daß nämlich die Behauptung des Gegners ohne Beweis als wahr, als zutreffende Grundlage für die Entscheidung angesehen wird. Dieses Kommunikationssystem wird ergänzt durch die erörterte Stellung des Gerichts bei der Sachverhaltsermittlung, insbesondere infolge der Frage- und Hinweispflicht nach § 139 ZPO. Die Gegenpartei wird in diesem System verpflichtet, detaillierten Tatsachenvortrag nicht nur pauschal zu bestreiten, sondern auf die vorgetragenen Einzeltatsachen einzugehen und hierzu ihrerseits speziellere Angaben zu machen. Gegebenenfalls wird dadurch die andere Partei wiederum ihren ursprünglichen Sachvortrag näher zu präzisieren haben 19 . 17 Zur hM vgl. Rosenberg / Schwab, Zivilprozeßrecht, § 114 VII; Stein / Jonas / Leipold, § 138 ZPO Rn 28; kritisch dazu Stümer, Die Aufklärungspflicht der Parteien des Zivilprozesses, S. 85 f.; Brehm, Die Bindung des Richters an den Parteivortrag, S. 51; Brüggemann, Judex statutor und judex investigator, Untersuchung zum Verhältnis von Richterrecht und Parteifreiheit, 1968, S. 334 f. 18 Dazu Stein / Jonas / Leipold, ZPO, Ein!. Rn 233 ff.; Lent, Zur Unterscheidung von Lasten und Pflichten der Parteien im Zivilprozeß, ZZP 67 (1954), S. 344 ff.; Stürner, Die Aufklärungspflicht der Parteien im Zivilprozeß, S. 76 ff., 152 ff.; ohne diese Differenzierung Baumbach / Lauterbach / Albers / Hartmann, ZPO, 42. Auf!. 1984, Grundzüge vor § 128, Anm. 2 D, E. 19 Ganz hM, vg!. BGH GRUR 1982, S.683, mwN; Baumbach / Lauterbach / Albers / Hartmann, § 138 ZPO, Anm. 4 A; Stein / Jonas / Leipold, § 138 ZPO Rn 28; Brehm, Die Bindung des Richters an den Parteivortrag, S. 60 f.

6.1 Beweislast, Behauptungslast und Substantiierungserfordernis

115

Diese notwendige Substantiierung der Einlassung der Gegenpartei wird dabei neben dem Substantiierungsgrad der Tatsachenbehauptung, auf die sie sich bezieht, schon nach der Konzeption der ZPO in § 138 ZPO auch wesentlich durch den bei der Gegenpartei vorhandenen Informationshorizont bestimmt. Einen ersten Hinweis hierauf enthält die Pflicht zum vollständigen Vortrag der tatsächlichen Umstände in § 138 I ZPO, wobei allerdings im Zusammenhang der Wahrheitspflicht sinnvollerweise nur der subjektiv vollständige Vortrag gemeint sein kann 20 • Weiter darf sich die Gegenpartei nach § 138 IV ZPO auf Behauptungen, die weder eigene Handlungen der Partei oder Gegenstand ihrer Wahrnehmung gewesen sind, mit Nichtwissen erklären. Je nach den Umständen des Einzelfalls und dem Informationszugang werden also dann von der Partei Angaben über nähere Umstände·erwartet werden können, wenn es bei den bestrittenen Behauptungen um Tatsachen ihrer eigenen Wahrnehmung, eigene Handlungen oder Vorgänge im eigenen Geschäftsbetrieb, Haus oder Familie etc. geht21 • Selbst zu § 138 IV ZPO wird angenommen, daß auch dann eine substantiierte Erklärung abzugeben ist, wenn die Partei bzw. deren Anwalt oder deren Streitgenosse sich die erforderlichen Informationen selbst leicht beschaffen können 22 • Nach allem ist deutlich, daß ein enger Zusammenhang zwischen den Substantiierungserfordernissen von Parteibehauptung bzw. Bestreiten und der Diskussion um eine generelle Aufklärungspflicht der nicht risikobelasteten Partei wegen der Einbringung der ihr zugänglichen Informationen in den Prozeß besteht. Trotzdem bestätigt sich hier der oben schon angesprochene Unterschied in der Zielrichtung dieser beiden Strategien. Die These von der generellen prozessualen Aufklärungspflicht zielt aus abstrakt prozessualen Überlegungen generell auf eine Schaffung der tatsächlichen Basis zur Gewährleistung einer richtigen Entscheidung, während die im Rahmen und mit Hilfe der Substantiierungserfordernisse erzielten Ergebnisse im informationellen Bereich ganz wesentlich unter Berücksichtigung der speziellen Gegebenheiten des zugrunde liegenden Konflikts, der dort typischen Kommunikationsstrukturen, des typischen Informationszugangs der Parteien sowie der zugrunde liegenden materiellrechtlichen Regelungen zustande kommen23 • Stein I Jonas I Leipold, § 138 ZPO Rn 3. So auch die Beurteilung der Anforderungen an die Substantiierung des Bestreitens durch die hM, vgl. BGH NJW 1970, S. 806; BGH NJW 1974, S. 1710; BGH WPM 1977, S. 1380; BGH NJW 1981, S. 2062 ff., 2064; BAG AP NT. 14 zu § 87 b HGB; OLG Schleswig SchlHA 1981, S. 189; Stein I Jonas I Leipold, § 138 ZPO Rn 28; Zöller I Stephan, § 138 ZPO, Anm. 2; Baumbach / Lauterbach / Albers / Hartmann, § 138 ZPO, Anm. 4 A; aA allerdings Blunck, MDR 1969, S. 99 ff., der einfaches Bestreiten außer bei § 138 IV ZPO generell als unbeachtlich qualifiziert. 22 BGHZ 63, S. 51; OLG Köln BB 1974, S. 1227; OLG Frankfurt NJW 1974, S. 1473; Stein / Jonas / Leipold, § 138 ZPO Rn 34; Baumbach / Lauterbach / Albers / Hartmann, § 138 ZPO, Anm. 5 A, in Zusammenhang mit der Prozeßförderungspflicht nach § 282 ZPO; Brehm, Die Bindung des Richters an den Parteivortrag, S. 90 ff.; Stürner, Die Aufklärungspflicht der Parteien des Zivilprozesses, S. 119 ff. 20

21

8"

116

6. Prozeßmodell 11: Zum Beweislastmechanismus im Arbeitsrecht

Dabei ist allerdings nicht zu verkennen, daß bei den Substantiierungserfordernissen durch die fließenden Übergänge zwischen dem Interesse an der Erlangung einer zureichenden tatsächlichen Basis im Prozeß und der richterlichen Würdigung der Verhandlung auch erhebliche Gefahren entstehen. Insbesondere Brehm hat in diesem Zusammenhang auf die Beobachtung aus der Praxis verwiesen, daß vor allem von den Tatsacheninstanzen das Instrument der erforderlichen Substantiierung von Parteivortrag und Bestreiten gegebenenfalls auch dafür verwendet werden kann, zu einem praktikablen, erwünschten, oder besonders gut handhabbaren Urteilssachverhalt zu kommen, während querliegende, wenig wahrscheinliche oder solche Elemente des Sachvortrags einer Partei, die zu einer mit unverhältnismäßigem Aufwand verbundenen Beweisaufnahme führen, als zu pauschal und nicht hinreichend substantiiert für die Entscheidung des Konflikts außer Betracht bleiben24 . Brehm meint zu Recht, daß es mitunter wie ein Griff in die Trickkiste wirken könnte, wenn die Entscheidungsreife eines Rechtsstreites mit noch erforderlicher umfangreicher Beweisaufnahme kurzerhand dadurch herbeigeführt werde, daß ein Teil des Streitstoffs als unsubstantiiert übergangen wird25 • Derartiger Mißbrauch der Substantiierungsanforderungen dürfte von der Partei eher als Rechtsschutzverweigerung empfunden werden, denn der Überzeugung förderlich sein, der Rechtsstreit sei unparteilich und unvoreingenommen entschieden.

6.2 Grundprinzipien der Verteilung der objektiven Beweislast Die für eine Gestaltung der informationellen Rahmenbedingungen mit Mitteln des hier sogenannten Beweislastmechanismus besonders relevanten prozessualen Informationslasten sind also die subjektive Darlegungslast mit den an ihre Erfüllung nach dem Substantiierungsgrundsatz zu stellenden Anforderungen sowie die subjektive Beweisführungslast. Sie sind die Hebel, derer sich diese Strategie bedient, um als Reaktion auf strukturelle Schwierigkeiten den Informationsbedarf eines Konfliktteilnehmers herabzusetzen und ihm dadurch eine Wahrung und Durchsetzung seiner berechtigten Interessen und Schutzrechte zu ermöglichen. Sowohl die subjektive Beweisführungslast wie die subjektive Darlegungslast sind dabei nach allgemeiner Ansicht auf die Parteien in ihrem Ausgangspunkt zunächst in Ableitung von den Regeln über die Verteilung der objektiven Beweislast verteilt. Von diesem Ausgangspunkt aus können sich dann spezifische Verschiebungen in typischen Fallgruppen, in Abhängigkeit von den 23

24 25

Vgl. so schon die Ergebnisse oben in Kap. 5.3.1.2. Vgl. Brehm, Die Bindung des Richters an den Parteivortrag, S. 52 ff. Ebenda, S. 52.

6.2 Grundprinzipien der Verteilung der objektiven Beweislast

117

gegenseitigen Einlassungen und in Abhängigkeit von dem erreichten Informationsstand des Gerichts in der jeweiligen Verfahrenssituation ergeben. Um solch typische Verschiebungen infolge des Einsatzes des Beweislastmechanismus, um seine Funktionsweise und deren Folgen im Arbeitsrecht erfassen zu können, muß nun zunächst die Grundregel bekannt sein, das heißt die ausschlaggebenden Gesichtspunkte für die Verteilung der objektiven Beweislast. Für diese Verteilung der objektiven Beweislast sind eine Reihe von Grundprinzipien vorgeschlagen worden. Für die Zwecke der vorliegenden Untersuchung ist es dabei völlig ausreichend, die wesentlichen Gesichtspunkte herauszustellen, ohne dabei sämtliche, in der Lehre entwickelten und diskutierten Mischformen oder Einzelmeinungen im Detail zu referieren. Die wohl wichtigste und heute in Rechtsprechung und Prozeßwissenschaft weitgehend akzeptierte Auffassung ist die von Rosenberg entwickelte Normtheorie26 • Sie geht davon aus, daß für die Beweislast als Grundregel ausschlaggebend ist, daß jede Partei die Beweislast für die tatsächlichen Voraussetzungen der für sich in Anspruch genommenen günstigen Norm zu tragen hat. Die Grundregel wird dabei in engem Zusammenhang mit dem materiellen Recht gesehen, so daß insbesondere Wortlaut und Satzbau der einschlägigen Norm, also Formulierungen wie "es sei denn" oder "wenn nicht" als wichtige Anzeichen einer Verschiebung oder Abweichung interpretiert werden. Dem stehen Konzeptionen gegenüber, die sich für die Beweislastverteilung an besonderen inhaltlichen Kriterien orientieren wollen, beispielsweise an der abstrakten Wahrscheinlichkeit oder an bestimmten Gefahrenbereichen, die jeweils einem der Kontrahenten zugeordnet werden.

6.2.1 Die Normtheorie der Beweislastverteilung (Rosenberg) Die Normtheorie (bei Rosenberg Normentheorie) bietet eine allgemeine Regel zur Verteilung der objektiven Beweislast. Die vorstehend schon referierte Grundformel einer Beweislast für die tatsächlichen Voraussetzungen der jeweils für die Partei günstigen Norm wird ergänzt durch die Einsicht, daß für die anspruchsstellende Partei die anspruchsbegründenden Normen günstig sind und für die sich verteidigende Partei die rechtshemmenden, rechtshindernden und rechtsvernichtenden Normen. So findet man zu der gebräuchlichen Fassung der Grundregel der Normtheorie, daß der Anspruchsteller für die tatsächlichen Voraussetzungen der anspruchsbegründenden Tatbestandsmerkmale die Beweislast trägt und der Anspruchsgegner für die tatsächlichen Voraussetzungen der rechtshemmenden, rechtshindernden und rechtsvernich-

26 In seiner Monographie: Rosenberg, Die Beweislast auf der Grundlage des BGB und der ZPO; vgl. zu den Grundsätzen S. 12 und S. 8. Rosenberg spricht von Normentheorie.

118

6. Prozeßmodell 11: Zum Beweislastmechanismus im Arbeitsrecht

tenden Tatbestandsmerkmale27 • Eine Abgrenzung rechtsbegründender von rechtsvernichtenden Elementen wird dabei in enger Anlehnung an Satzbau und Wortlaut der materiellrechtlichen Grundlage vorgenommen, denen bei entsprechender Formulierung durch den Gesetzgeber Hinweise auf eine spezielle Verteilung der objektiven Beweislast für einzelne Tatbestandsmerkmale entnommen wird. Die Kritik an dieser Festlegung eines allgemeinen Grundprinzips der objektiven Beweislastverteilung hat verschiedene Einwände und praktische Anwendungsschwierigkeiten herausgearbeitet: Immer wieder wurde zunächst der Vorwurf der Tautologie erhoben. Die Grundregel sei wertlos, da jede für eine Partei günstige tatsächliche Voraussetzung gleichzeitig für die andere Partei ungünstig sei: Etwa das Angebot der Arbeitsleistung oder die VolljährigKeit für die eine Partei und die Arbeitsverweigerung oder die Minderjährigkeit für die andere Partei28 . Dieser Vorwurf kann so aber nicht geteilt werden, denn der Normtheorie liegt schon ein präziseres Verständnis von Günstigkeit / Ungünstigkeit zugrunde, nämlich die Differenzierung von anspruchs begründenden und anspruchsvernichtenden Tatbestandsmerkmalen. Dieser Vorwurf zielt besser, wenn er auf die allerdings erheblichen praktischen Schwierigkeiten einer Differenzierung von rechtsbegründenden und rechtsvernichtenden Tatbestandsmerkmalen verweist, denn insofern ist jedenfalls für die materiellrechtliche Seite kein Unterschied zwischen einer positiven oder negativen Formulierung, zwischen dem tatsächlichen Vorliegen der Voraussetzung eines Tatbestandsmerkmals oder dem Nichtvorliegen des Gegenteils festzustellen 29 • Damit stellt sich praktisch die Frage, ob die von der Normtheorie hierbei vorgeschlagene Orientierung am Satzbau und am Wortlaut der materiellrechtlichen Norm, sowie natürlich an ausdrücklichen gesetzlichen Beweislastnormen, eine Einordnung der entsprechenden Merkmale in rechtsbegründende oder rechtsvernichtende, etc. jeweils zureichend gewährleistet. Diejenigen, die dies bestreiten oder meinen, solche sprachlichen 27 Vgl. Rosenberg, Die Beweislast auf der Grundlage des BGB und der ZPO, S. 100; Rosenberg / Schwab, Zivilprozeßrecht, § 118112. 28 Grunsky, Grundlagen des Verfahrensrechts, § 41 (S. 426); Wahrendorf, Die Prinzipien der Beweislast im Haftungsrecht, 1976, S. 55; Fenge, JA 1970, S. 551; auch Huguenin-Dumittan, Behauptungslast, Substantiierungspflicht und Beweislast, S. 123 f. 29 Dies ist heute unbestritten, vgl. Rosenberg / Schwab, Zivilprozeßrecht, § 105 11 2; Musielak, Die Grundlagen der Beweislast im Zivilprozeß, S. 296; Leipold, Beweislastregeln und gesetzliche Vermutungen, S. 38 ff.; Kur, Beweislast und Beweisführung im Wettbewerbsprozeß, 1981, S. 27 ff.; Reinecke, Die Beweislast im Bürgerlichen Recht und im Arbeitsrecht als rechtspolitische Regelungsaufgabe, 1976, S. 30; Prütting, Gegenwartsprobleme der Beweislast, S. 266 ff.; Huguenin-Dumittan, Behauptungslast, Substantiierungspflicht und Beweislast, S. 110 ff.

6.2 Grundprinzipien der Verteilung der objektiven Beweislast

119

Formulierungen gehen bei heutigen Gesetzen auf deren Kompromißcharakter oder vergleichbare Ursachen, jedenfalls nicht auf entsprechende gesetzgeberische Intentionen hinsichtlich der Beweislast zurück, werden deshalb eine Beweislastverteilung nach der Grundregel der Normtheorie ablehnen und andere, zumeist sachlich - inhaltliche Verteilungsprinzipien favorisieren 3o . Ein zweites wichtiges Anliegen der Kritik betrifft methodische Schwächen der dogmatischen Ableitung der Grundregel der Normtheorie und ihrer praktischen Anwendung. Jedenfalls ist die von Rosenberg geäußerte Auffassung31 , die Grundregel dieser Lehre zur Verteilung der objektiven Beweislast sei nichts anderes als eine zwangsläufige Folge der Anwendung des materiellen Rechts, so heute nicht mehr akzeptabel32 • Insbesondere Schwab mit seinem Versuch eines Rückgriffs auf eine ungeschriebene Norm33 und Musielak, der an der Ableitung einer negativen Grundregel ansetzt34 , haben insoweit eine Ergänzung und methodische Fundierung der Normtheorie vorgeschlagen ohne allerdings eine zwingende methodische Ableitung der Ergebnisse der Normtheorie zu erreichen35 • Für den vorliegend verfolgten Zusammenhang bleibt die methodische Frage jedoch weitgehend folgenlos. Sie soll deshalb hier nicht weiter vertieft werden36 .

30 Vgl. so insbesondere Reinecke, Die Beweislast im Bürgerlichen Recht und im Arbeitsrecht, S. 85, und passim; Wahrendorf, Die Prinzipien der Beweislast im Haftungsrecht, S. 53 fund Dütz, Zur Beweislastverteilung beim Tendenzschutz, RDA 1976, S. 18 ff., 21. 31 Rosenberg, Die Beweislast auf der Grundlage des BGB und der ZPO, S. 2 f., 5 ff., 11 ff. 32 Grundlegend Leipold, Beweislastregeln und gesetzliche Vermutungen, S. 17 ff.; Schwab, Festschrift für H. J. Bruns, S. 505 f., 519; Musielak, Grundlagen der Beweislast im Zivilprozeß, S. 26; Prütting, Gegenwartsprobleme der Beweislast, S. 148 ff.; noch weitergehend Reinecke, Beweislastverteilung im Bürgerlichen Recht und im Arbeitsrecht, S. 25 ff.; Wahrendorf, Die. Prinzipien der Beweislast im Haftungsrecht, S. 51 ff. 33 Schwab, FS für H. J. Bruns, S. 505 f.; Rosenberg / Schwab, Zivilprozeßrecht, § 105 11. 34 Musielak, Die Grundlagen der Beweislast im Zivilprozeß, S. 292 f.: Ein Rechtssatz gilt als nicht ausgefüllt, wenn seine tatsächlichen Voraussetzungen nicht vorliegen. So wird versucht, das methodische Problem der Subsumtion eines ungeklärten Sachverhalts unter eine materielle Norm zu überwinden, die bei Rosenbergs These einer zwangsläufigen Folge bloßer Anwendung materieller Normen noch zugrunde lag, vgl. Rosenberg, Die Beweislast auf der Grundlage des BGB und der ZPO, S. 12 ff., und die eingehende Kritik von Leipold, Beweislastregeln und gesetzliche Vermutungen, S. 17 ff. 35 Vgl. dazu insbesondere die eingehende Prüfung bei Prütting, Gegenwartsprobleme der Beweislast, S. 157 ff., 161 ff. und 164 ff. 36 Vgl. eingehend dazu Prütting, ebenda.

120

6. Prozeßmodell 11: Zum Beweislastmechanismus im Arbeitsrecht

6.2.2 Beweislastverteilung nach Wahrscheinlichkeit (Reinecke) Insbesondere Reinecke 37 hat bestritten, daß aus der Formulierung moderner Gesetzestexte Schlußfolgerungen für die Verteilung der objektiven Beweislast gezogen werden können, weil der Gesetzgeber auf die Verteilung der Beweislast bei der Formulierung dieser Gesetzestexte gar nicht mehr achte, diese folglich hierfür auch keine Aussagekraft haben könnten. Dem ist ein Teil des Schrifttums, gerade im Arbeitsrecht, aus der Überlegung heraus gefolgt, daß insbesondere arbeitsrechtliche Gesetzestexte auf einen mühsamen Gesetzgebungsprozeß unter Ausleuchtung aller erdenklichen Kompromißlösungen in Abhängigkeit von den durch Anhörungen und öffentliche Diskussion artikulierten Vorstellungen der Beteiligten, Betroffenen und ihrer Interessengruppen zurückgehen. Typischerweise würden auch einzelne Probleme im Gesetzgebungsverfahren gar nicht gelöst und einfach der Bewältigung durch Rechtsprechung und Wissenschaft überlassen. Insgesamt spiele dabei eine beweislastspezifische Durchstrukturierung der zu erlassenden Normtexte kaum eine Rolle 38 . Im Ansatzpunkt stimmt Reinecke im übrigen durchaus der Normtheorie und ihrer Grundregel zur Verteilung der objektiven Beweislast zu39 . Auch der Auffassung der Normtheorie zur Verschiebung der Ergebnisse dieser Grundregel bei speziellen gesetzlichen Regelungen der Beweislast in gesonderten Beweislastnormen, bei entsprechender sprachlicher Fassung der materiellrechtlichen Normen oder bei Formulierung gesetzlicher Vermutungen stimmt Reinecke zu 40 • In deutlicher Abgrenzung zur Normtheorie verlangt Reinecke dann allerdings für die Annahme einer gesetzlichen Beweislastverteilung ganz präzise Anhaltspunkte. Neben entsprechend ausdrücklich formulierten gesetzlichen Sonderregelungen will er materiellrechtlichen Normen anhand ihrer sprachlichen Formulierungen Beweislastqualität nur dann zuerkennen, wenn dieser sprachliche Ausdruck im Normtext eindeutig ist oder wenn sich anhand der Gesetzesmaterialien eine entsprechende gesetzgeberische Intention eindeutig nachweisen läßt41 . In allen übrigen Bereichen, also insbesondere auch im Bereich der Grundregel der Normtheorie, für die er gewohnheitsrechtliche Geltung annimmt42 , 37 Reinecke, Die Beweislastverteilung im Bürgerlichen Recht und im Arbeitsrecht, S. 85 ff., 165 f. 38 So vgl. insbesondere im Bereich des § 118 BetrVG, Dütz, RDA 1976, S. 21 f.; Ranau, BB 1973, S. 902; Galperin / Löwisch, BetrVG, § 118 Rn 96; Dietz / Richardi, BetrVG, § 118 Rn 104 f.; vgl. auch Wahrendorf, Die Prinzipien der Beweislast im Raftungsrecht, S. 55. 39 Reinecke, Die Beweislastverteilung im Bürgerlichen Recht und im Arbeitsrecht, S. 22 f., 30 ff. 40 Ebenda, S. 32. 41 Ebenda, S. 73 ff.

6.2 Grundprinzipien der Verteilung der objektiven Beweislast

121

hält Reinecke die Beweislastverteilung für eine Frage der richterrechtlichen Rechtsfindung43 • Den Maßstab für die Entwicklung richterrechtlicher Regeln in diesem (sehr großem) Bereich des Beweislastsystems findet Reinecke in einer Analogie zu den Sachgründen der in gesetzlichen Normen aufzufindenden Beweislastregeln. Die Prüfung dieser Gründe zeigt für ihn in erster Linie eine Verteilung der objektiven Beweislast nach abstrakten Wahrscheinlichkeitsüberlegungen. Im übrigen findet er daneben noch eine Reihe sonstiger Sachgründe, insbesondere das Motiv einer Vermeidung von Negativbeweisen und die Aufteilung nach Gefahrenbereichen und Beweismöglichkeiten44 • Das von Reinecke in den Vordergrund gestellte Abgrenzungskriterium der abstrakten Wahrscheinlichkeit zur Verteilung des Unaufklärbarkeitsrisikos ist dabei im Sinne einer vom konkreten Einzelfall abstrahierenden statistischen Wahrscheinlichkeit gemeint. Die Entscheidung der objektiven Beweislastfrage hat sich danach also daran zu orientieren, ob in der zugrunde liegenden Grundgesamtheit - zu deren Abgrenzungen Reinecke allerdings keine genauen Kriterien entwickelt45 - die nicht aufklärbare Tatsachenbehauptung wahrscheinlicher ist als das Nichtvorliegen der vorgetragenen Sachverhaltskonstellation46 • Die Kritik hat dieser Lehre insbesondere methodische Inkonsequenz bei der Bestimmung von Gesetzes-, Gewohnheits- und Richterrecht vorgehalten47 • Weiter wurde die Tauglichkeit der vorgeschlagenen abstrakten Wahrscheinlichkeitsüberlegungen zur Verteilung der objektiven Beweislast bezweifelt 48 • Dabei ist zunächst in methodischer Hinsicht der Kritik zuzustimmen. In der Tat bleibt unerklärlich, wieso der Richter in seiner Urteilsfindung an gesetzliche Normen gebunden sein soll, im Bereich der gewohnheitsrechtlich geltenden Rechtssätze dagegen zu einer freien richterlichen Rechtsfortbildung wie beim Vorliegen einer gesetzlichen Regelungslücke befugt sein soll. Hinsichtlich des vorgeschlagenen Wahrscheinlichkeitskriteriums wird eingewandt, daß die vorgeschlagene Operationalisierung dieses Kriteriums der abstrakten Wahrscheinlichkeit für eine praktische Anwendung zur Verteilung Ebenda, S. 3l. Ebenda, S. 85 ff. 44 Ebenda, S. 40 ff., 51 ff., 65 ff. 45 Ebenda, S. 40 ff. 46 Ebenda, S. 43. 47 Musielak, Grundlagen der Beweislast im Zivilprozeß, S. 290; Rosenberg, Die Beweislast auf der Grundlage des BGB und der ZPO, S. 186 ff.; Schwab, FS für H. J. Bruns, S. 511 ff.; Prütting, Gegenwartsprob1eme der Beweislast, S. 199 ff. 48 Schwab, FS für H. J. Bruns, S. 509, 512; Leipold, Besprechung von Reinecke, AcP 179 (1979), S. 520; Nüßgens, FS für Hauß, S. 295 ff.; Prütting, Gegenwartsprobleme der Beweislast, S. 202 ff.; Kur, Beweislast und Beweisführung im Wettbewerbsführungsprozeß, S. 45 ff.; wie Reinecke insbesondere Stahlmann, Sozialwissenschaftliche Überlegungen zur zivilprozessualen Beweislehre, JA 1978, S. 157 ff., 164 und JA 1978, S. 216 ff., 217; Wolff, Gerichtliches Verfahrensrecht, 1978, S. 231 ff. 42

43

122

6. Prozeßmodell 11: Zum Beweislastmechanismus im Arbeitsrecht

der objektiven Beweislast nicht geeignet ist. Schwierigkeiten ergeben sich schon bei der Festlegung der Grundgesamtheit, von der zur Bildung eines Wahrscheinlichkeitsurteils ausgegangen werden muß49. Die erforderlichen statistischen Urteile lassen sich häufig bei den alltäglichen Konfliktlagen des Zivilprozesses nicht aufstellen, so daß zu befürchten steht, daß - ähnlich wie bei der Diskussion um das erforderliche Beweismaß - auch die Verteilung der objektiven Beweislast von Wahrscheinlichkeitsschätzungen abhängig wird. Diese wiederum können das ganze Spektrum von methodisch anhand der empirischen Sozialforschung abgesicherten Schätzungen bis hin zu lediglich ganz subjektiven Einschätzungen durch den entscheidenden Richter abdekken 50 • Neben den Zweifeln an der Tauglichkeit des Wahrscheinlichkeitskriteriums für die objektive Beweislastverteilung richtet sich die Kritik auf eine drohende Vermengung der Konfliktentscheidung aufgrund der objektiven Beweislast und aufgrund der richterlichen Beweiswürdigung. Eine Entscheidung nach der objektiven Beweislast, also die Zuweisung des Risikos bei einer nicht aufklärbaren Tatsache, kann aber erst dann erfolgen, wenn die richterliche Überzeugungsbildung und die freie Würdigung der erhebbaren Beweise mit negativem Ausgang abgeschlossen wurde. Diese beiden ganz unterschiedlichen Bereiche der richterlichen Entscheidungsarbeit werden hier letztlich vermischt und fließen ineinander51 . Zwar kommt es für die Beweiswürdigung auf die konkrete Überzeugung des Richters von der entscheidungserheblichen Tatsache an, aber regelmäßig spielen dabei auch Gesichtspunkte der abstrakten Wahrscheinlichkeit und der allgemeinen Erfahrungssätze eine Rolle. Teilweise sind dann die gleichen Gesichtspunkte und Überlegungen an zwei unterschiedlichen Punkten ausschlaggebend, obwohl es bei der Entscheidung über die objektive Beweislast im Gegensatz zur Beweiswürdigung gar nicht mehr um den Nachweis der behaupteten Tatsache gehen kann. Insofern ist auch die Abgrenzung eines unterschiedlichen Maßes des Vorliegens dieser Gesichtspunkte für die beiden Bereiche unabdingbar. Im Kern liegt dem die Tendenz zugrunde, trotz Feststellung der Unaufklärbarkeit, trotz eines non liquet, den tatsächlichen Sachverhalt doch noch für die Entscheidung zum Tragen zu bringen. So wird gerade nicht ein an die Unaufklärbarkeit anschließendes Risiko verteilt, sondern, sozusagen abstrakt, eine Beweiswürdigung zweiter Klasse eingeführt52 • 49 Schwab, FS für H. J. Bruns, S. 512; Leipold, Beweislastregeln und gesetzliche Vermutungen, S. 48; Prütting, Gegenwartsprobleme der Beweislast, S. 204 f.; Kur, Beweislast und Beweisführung im Wettbewerbsprozeß, S. 50. 50 Vgl. dazu insbesondere Gottwald, Schadenszurechnung undSchadensschätzung, 1979, S. 191; Leipold, Beweislastregeln und gesetzliche Vermutungen, S. 48; Schwab, FS für H. J. Bruns, S. 512; Musielak, Grundlagen der Beweislast im Zivilprozeß, S. 111 f.; Prütting, Gegenwartsprobleme der Beweislast, S. 204; Walter, Freie Beweiswürdigung, S. 88. 51 Vgl. Nachweise in Fn 50.

6.2 Grundprinzipien der Verteilung der objektiven Beweislast

123

6.2.3 Die Verteilung der objektiven Beweislast nach Gefahrenbereichen (Prölls, BGH) Als weiteres Grundprinzip für die Verteilung der objektiven Beweislast ist von Pröllss3 im Anschluß an die Rechtsprechung des BGHs4 die Lehre von der Beweislastverteilung nach Gefahrenbereichen entwickelt. Grundidee dieser Verteilungsregel für die objektive Beweislast ist, sie demjenigen aufzuerlegen, der in der Regel den zu beweisenden Tatsachen am nächsten steht, in dessen "Sphäre" oder "Gefahrenbereich" sich mithin die behaupteten Vorgänge oder Tatsachen abgespielt haben. Diese Form einer Zuweisung des Unaufklärbarkeitsrisikos wurde schon oben bei der Besprechung der Grundlagen und Folgen der Beweislastverteilung gemäß §§ 282, 285 BGB besprochen55 . Dort wurde auch schon gezeigt, daß die Lehre dem überwiegend nicht folgt, sondern die Orientierung am tatsächlichen Lebensbereich, an der Einflußsphäre oder an dem Gefahrenbereich eines der beiden Kontrahenten mit der Folge entsprechender Zurechnung der Unaufklärbarkeit von Tatsachen als generelles Prinzip zur Verteilung der Beweislast ablehnt. Haupthinderungsgrund war insofern, daß die Abgrenzung von Gefahrenbereichen wenig Trennschärfe hat, so daß letztlich eine generelle Orientierung der Beweislastentscheidung an diesem Kriterium nichts anderes mit sich bringt als eine umfassende Interessenabwägung der Beziehungen der beiden Kontrahenten, aus der dann letztlich die Zuweisung von Gefahrenbereichen und damit die Verteilung der objektiven Beweislast folgt. In der konkreten Anwendung dieser Grundregel durch die Rechtsprechung am Beispiel der Beweislastverteilung bei positiven Vertragsverletzungen im Mietrecht ließ sich diese Einschätzung der Kritiker dieser Beweislastregel recht gut bestätigen56 • Trotzdem lassen sich mit einer Verteilung der objektiven Beweislast anhand von Gefahrenbereichsüberlegungen und Einflußsphären bei bestimmten Konfliktlagen, etwa im Deliktsrecht, ausgesprochen positive Abgrenzungen erzielen. Hier kommt zumeist als besonderer Vorteil dieses Beweislastkriteriums zum Tragen, daß es die typische Beweisnot oder die typische Sachnähe eines der beiden Kontrahenten besonders in den Vor52 Dies betonen insbesondere Prütting, Gegenwartsprobleme der Beweislast, S. 84 ff., und Brehm, Die Bindung des Richters an den Parteivortrag, S. 194. 53 Prölls, Beweiserleichterungen im Schadensrecht, 1966, S. 65 ff., 83, und Urteilsanmerkung, in: ZZP 82 (1969), S. 468, 471; dazu Hübner, Schadenszurechnung nach Risikosphären, 1974, S. 97 ff.; Musielak, Beweislastverteilung nach Gefahrenbereichen, AcP 176 (1976), S. 471 ff.; Schwab, FS für H. J. Bruns, S. 514; Gottwald, Jura 1980, S. 225 ff., 232. 54 St. Rspr. seit RGZ 148, S. 148 ff.; zuletzt ausführlich BGH NJW 1980, S. 2186. 55 Vgl. dazu oben Abschnitt 3.1.3.3. 56 Vgl. dazu oben Abschnitt 3.1.3.4.

124

6. ProzeBmodell 11: Zum Beweislastmechanismus im Arbeitsrecht

dergrund der Zuweisung der Beweislast stellt. Wird dieses Kriterium also durch Generalisierung nicht überfordert, so scheint es durchaus geeignet, in bestimmten Fällen wichtige Gesichtspunkte für die Verteilung der objektiven Beweislast herauszuarbeiten und für die Entscheidung über die Zuteilung des Unaufklärbarkeitsrisikos an eine der beiden Parteien fruchtbar zu machen.

6.2.4 Schlußfolgerungen für den Einsatz des Beweislastmechanismus Die vorstehenden Überlegungen zur Verteilung der objektiven Beweislast interessieren für den vorliegenden Zusammenhang aufgrund ihres nach allgemeiner Ansicht präjudizierenden Charakters für die (Ausgangs)- Verteilung der subjektiven Informationslasten der Parteien. Doch sind für eine Verteilung dieser subjektiven Informationslasten zum Teil durchaus noch andere Gesichtspunkte zu berücksichtigen als bei der Verteilung der objektiven Beweislast. Während es dort um die Zuweisung eines Risikos nach endgültig gescheiterter Aufklärung des Sachverhaltes geht und um die Erhaltung der Entscheidungsfähigkeit des Gerichts, so daß eine Vermengung mit den Gesichtspunkten der Wahrheitsfeststellung, Aufklärung und Beweiswürdigung kaum tolerierbar erscheint, liegt all dies bei den subjektiven Informationslasten anders. Sie dienen geradezu der Aufklärung, der Informationsbringung im Prozeß und haben infolge der für die freie Beweiswürdigung wichtigen gerichtlichen Würdigung der Verhandlung auch eine wesentliche Funktion für die richterliche Überzeugungsbildung. Im Bewußtsein dieser Unterschiede liegt es nahe, sich zunächst für die Ausgangsverteilung und die Strukturierung eines prozessualen Informationssystems zwischen den Parteien und dem Gericht an der Grundregel der Normtheorie zu orientieren. Damit wird angeknüpft an deren Differenzierung zwischen anspruchsbegründenden und rechtsvernichtenden Tatbestandsvoraussetzungen, die in der dargestellten Weise durch explizite gesetzliche Beweislastregeln, durch gesetzliche Vermutungen oder durch aus der Sprachstruktur der einschlägigen materiellrechtlichen Normen hergeleitete Verschiebungen modifiziert wird. Die methodischen Fragen einer Ableitung dieser Grundregel und ihrer Modifikation sind vorliegend von geringem Interesse. Jede Partei ist danach zunächst gehalten, die tatsächlichen Voraussetzungen der für sie günstigen Normen im Sinne und in den Grenzen der Normtheorie in den Prozeß einzuführen. Die bei der Verteilung der objektiven Beweislast diffizilen praktischen Schwierigkeiten der Zuordnung eines Sachverhaltskomplexes zum rechtsbegründenden oder zum rechtsvernichtenden Bereich lassen sich zudem bei den subjektiven Informationslasten sehr viel leichter bewältigen. Denn hier besteht schon deswegen kein Anlaß zu extensiver Untersuchung auch kleinster sprachlicher Formulierungsdifferenzierungen auf ihre Beweisqualitäten,

6.2 Grundprinzipien der Verteilung der objektiven Beweislast

125

weil für die Verteilung der subjektiven Informationslasten sowieso weitere Überlegungen veranlaßt sind. Dafür kommt es zusätzlich an auf die Beherrschung bestimmter Lebensbereiche durch die Parteien, auf Überlegungen zur Plausibilität des in den Prozeß eingeführten Sachverhalts im Hinblick auf die Verhandlungswürdigung sowie auf die gegenseitige Abstimmung der verbleibenden Informationslasten und der jeweils noch erforderlichen Informationsbeiträge. Insofern wird also bei der Verteilung der subjektiven Informationslasten der Kritik an der manchmal zu weitgehenden Satzbauanalyse der Normtheorie ohnehin aus anderen Gründen Rechnung zu tragen sein. Denn gerade diese Suche nach Beweislastindizien - selbst in den gesetzlichen Normformulierungen, für die der Gesetzgeber solche Überlegungen eigentlich gar nicht berücksichtigt hat - war es vor allem, die die Kritiker zur Abkehr von der Normtheorie und zur Entwicklung sachlich-inhaltlicher Kriterien veranlaßt hat. Soweit sich unter diesen herabgesetzten Anforderungen allerdings Hinweise auf eine Modifikation der Grundregel der Normtheorie aus expliziten Beweislastnormen des Gesetzgebers, aus gesetzlich normierten Vermutungen oder aus Formulierungen ergeben, die auf Überlegungen des Gesetzgebers zu einer Beweislastverteilung zurückgehen, werden diese auch bei der Verteilung der subjektiven Informationslasten zu berücksichtigen sein.

Im übrigen scheint mir die in der Kritik an der Normtheorie formulierte These einer ganz überwiegenden Nichtbeachtung von Beweislastfragen in modernen Gesetzestexten und insbesondere in arbeitsrechtlichen Gesetzesformulierungen, weit über das Ziel hinauszuschießen. Solche Überlegungen werden häufig auch vom modernen Gesetzgeber und auch im arbeitsrechtlichen Bereich durchaus berücksichtigt und finden auch heute noch häufig Eingang in die letztlich verabschiedete Formulierung solcher Gesetze. Dabei scheint es besonders verfehlt, die mangelnde Beweislastqualität dieser neuen Gesetzestexte auf die Besonderheiten des Gesetzgebungsverfahrens und den dadurch oft veranlaßten Charakter eines gesetzgeberischen Kompromisses stützen zu wollen. Gerade Überlegungen zu den informationellen Grundstrukturen des zu regelnden Konfliktbereichs und die dadurch gesteuerte Chance einer Wahrnehmung arbeitsrechtlicher Schutzrechte sind häufig im Gesetzgebungsverfahren bei arbeitsrechtlichen Schutzgesetzen umstritten und ihrerseits selbst Gegenstand von langen Verhandlungen um gesetzgeberische Kompromisse. Die Richtigkeit dieser Einschätzung wird nunmehr untermauert durch die eingehende Analyse einer ausgewählten Reihe besonders strittiger arbeitsrechtlicher Beispiele von Prütting. Seine Untersuchung der einschlägigen Normen im Hinblick auf eine Verteilung der objektiven Beweislast hat zum Nachweis erheblicher Beweisqualitäten dieser Normen bei vielen der von ihm untersuchten, arbeitsrechtlich umstrittenen Beweislastfragen geführt57 • 57

Vgl. eingehend Prütting, Gegenwartsprobleme der Beweislast, S. 289 ff., 307 ff.

126

6. Prozeßmodell 11: Zum Beweislastmechanismus im Arbeitsrecht

6.3 Einsatzfelder des Beweislastmechanismus im Arbeitsrecht Bei der Besprechung der Analyse der Informationsbeziehungen bei einigen modernen Zivilrechtskonflikten ergab sich oben58 als Haupteinsatzfeld des Beweislastmechanismus im hier verstandenen Sinne der Bereich der arbeitsrechtlichen Individualkonflikte. Prozessual werden diese durch das Arbeitsgeri~ht im Urteilsverfahren überprüft. In diesem Bereich sind die Anwendungsmöglichkeiten des subjektiven Beweislastmechanismus als Strategie zur Bewältigung der Informationsprobleme im Prozeß sehr zahlreich. Nirgends spielt dieser Mechanismus jedoch eine so dominierende Rolle wie im Kündigungsschutzprozeß.

6.3.1 Arbeitsrechtliche Abweichungen vom allgemeinen Grundprinzip der Beweislastverteilung Verschiebungen der Beweislast gegenüber der allgemeinen Grundregel der Normtheorie finden sich überall im Arbeitsrecht. Teilweise handelt es sich um ausdrückliche Beweislastnormen, teilweise handelt es sich um Verschiebungen, die der arbeitsrechtliche Gesetzgeber durch entsprechende Formulierung seiner Normtexte ausgedrückt hat. Als wichtigste Beispiele für explizite arbeitsrechtliche Beweislastnormen lassen sich die §§ 1 11 4, 1 III 3 oder 1411 2 KschG nennen, §§ 611 aI 3, 612 III 3 BGB, §§ 60 1,61 SchwerbG, § 40 11 BBiG oder § 2113 ArbplSchG. Die Liste ließe sich noch erheblich verlängern, sie ist in keiner Weise vollständig59 . Ähnlich liegt die Situation bei der Vielzahl der Fälle, in denen der Gesetzgeber durch einen entsprechenden sprachlichen Ausdruck Verschiebungen in der Beweislastverteilung angestrebt hat60 • Wichtige Beispiele finden im Arbeitsrecht mit Formulierungen wie "soweit nicht", "sofern nicht", "dies gilt nicht, wenn", "ist zu versagen, wenn", "die Vorschrift findet keine AnwenVgl. dazu oben Abschnitte 4.2 und 4.3. Vgl. dazu auch die (allerdings ebenfalls nicht vollständige) Aufzählung bei Prütting, Gegenwartsprobleme bei der Beweislast, S. 292 ff., wo sich auch zahlreiche Beispiele zu sonstigen Rechtsgebieten finden. 60 Vgl. etwa zum Streit um die Formulierung des § 118 BetrVG die Gesetzesmaterialien: Ausschußbericht, BT-Drucks. VI / 2729, S. 17, und Gegenentwurf CDU / CSU, BT-Drucks. VI / 2806; zur Diskussion um die Beweislastfolgen der gegenüber dem BetrVG 1952 abweichenden Formulierung Frey, Der Tendenzschutz im BetrVG 72, AuR 1972, S. 161 f., Dütz, RdA 1876, S. 21, und Prütting, Gegenwartsprobleme der Beweislast, S. 317 ff. Danach kann das Argument, der Gesetzgeber habe die Beweislast nicht berücksichtigen können, oder das Argument, die Formulierung mit Beweislastqualität sei versehentlich gewählt, nicht mehr überzeugen; vgl. so aber Dütz ebenda, ihm zustimmend Reinecke, Die Beweislastverteilung im Bürgerlichen Recht und im Arbeitsrecht, S. 85. 58

59

6.3 Einsatzfelder des Beweislastmechanismus im Arbeitsrecht

127

dung, wenn", "es sei denn, daß", usw. in §§ 2 11, 19 I, 27 III 2, 2811 2,37 V, 4311 3, 44 I 1,77 I 1, 99 11, 10611, 118 I BetrVG, §§ 14 I, 15 I-IV, 23 I 2 KSchG, §§ 611 b, 613 a I1I, 622 IV BGB; § 12 VII 2 ArbGG, § 6 I BUrlG, §§ 3 11, I1I, 11 I 3, III 3, 1711, III SchwerbG, §§ 1 I, I1I, 2 I 2,5 LFZG und viele andere mehr61 • Die Beispiele zeigen in einigen Fällen des BetrVG, daß der Gesetzgeber diese Technik nicht allein auf die Streitigkeiten beschränkt, die im Urteilsverfahren arbeitsgerichtlieh zu überprüfen sind, sondern auch manchmal für Konflikte einsetzt, für die das Arbeitsgericht im Beschlußverfahren zuständig ist. Natürlich ist es hier nicht zu leisten, für alle diese Fälle von Beweislastverschiebungen die Auswirkungen auf die Gestaltung der Informationsbeziehungen im Prozeß zwischen den Konfliktbeteiligten im einzelnen zu erörtern. Dies ist für die Untersuchung des Einsatzes der Strategie des Beweislastmechanismus als Element der Gestaltung der' informationellen Rahmenbedingungen im Arbeitsrecht aber auch gar nicht nötig. Diese Untersuchung soll deshalb im folgenden in dem praktisch bei weitem wichtigsten Bereich erfolgen: dem Einsatz dieser Strategie im arbeitsrechtlichen Kündigungsschutzprozeß. 6.3.2 Der Einsatz des Beweislastmechanismus im KÜßdigungsschutzprozeß Um den Einsatz des Beweislastmechanismus im Kündigungsschutzprozeß richtig einschätzen zu können, gilt es zunächst, die typische Konfliktsituation besser zu klären. Der erste wichtige Gesichtspunkt ist hier die durch den Gesetzgeber getroffene Verteilung der Klagelast. 6.3.2.1 Die Zuweisung der Klagelast an den Arbeitnehmer

Der arbeitsgerichtliehe Kündigungsschutz nach dem Kündigungsschutzgesetz soll inhaltlich dem Bestandschutz des Arbeitnehmers gegenüber sozialwidrigen Kündigungen des Arbeitgebers dienen. Ausgelöst wird eine gerichtliche Überprüfung gemäß § 4 KSchG dadurch, daß der Arbeitnehmer binnen drei Wochen nach Zugang der Kündigung beim zuständigen Arbeitsgericht Klage auf Feststellung erhebt, daß das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung nicht aufgelöst ist. Die Klagelast trifft also den gekündigten Arbeitnehmer. Eine solche Verteilung der Klagelast im Bereich des vertraglichen Bestandschutzes bei Dauerschuldverhältnissen ist nicht zwingend - das zeigen die ver61 Vgl. wiederum die (ebenfalls unvollständige) Liste mit Beispielen zu sonstigen Rechtsgebieten bei Prütting, Gegenwartsprobleme der Beweislast, S. 303 ff.

128

6. Prozeßmodell 11: Zum Beweislastmechanismus im Arbeitsrecht

gleichbaren Regelungen des Mietrechts. Dort ist die gesetzliche Regelung so, daß dem Vermieter gemäß § 556 BGB ein Anspruch gegen den gekündigten Mieter auf Rückgabe der gemieteten Sache, Wohnung etc. eingeräumt wird, dessen Voraussetzungen durch die Vorschriften über den mietrechtlichen Bestandschutz, etwa durch § 564 b BGB, weiter ausgeformt werden. Die Klagelast trägt demgemäß der kündigende Vermieter, der seinen Anspruch auf Rückgabe der Sache oder Räumung der Wohnung gerichtlich durch Klage durchzusetzen hat. Daß das Ziel eines arbeitsrechtlichen Bestandschutzes in der Praxis durch die vom Gesetzgeber mit dem Kündigungsschutz erlassenen Regelungen bekanntlich nicht erreicht wird, ist in der rechtspolitischen Diskussion immer wieder besprochen und erörtert worden. Dies läßt sich auch anhand einiger Daten aus den empirischen Studien zum arbeitsrechtlichen Kündigungsschutz illustrieren: (1) Danach wurde im Jahre 1978 insgesamt 1,23 Millionen Arbeitnehmern gekündigt62 . In 7,9 % dieser Fälle wurde überhaupt durch eine Klage das Arbeitsgericht angerufen 63 • (2) Von diesen Klägern wiederum erreichten 1,7 %64 auf streitigem gerichtlichen Wege eine Rückkehr auf den Arbeitsplatz. Das sind 0,13 % aller im Vergleichszeitraum GekÜndigten65 • Dies entspricht, grob gesprochen, gut jedem 1000sten gekündigten Arbeitnehmer. (3) Bezieht man insofern die Arbeitnehmer ein, die im Laufe des Verfahrens aufgrund eines außergerichtlichen oder gerichtlichen Vergleichs eine gütliche Einigung erzielt haben, erhöht sich der Anteil der letztlich weiterbeschäftigten Arbeitnehmer auf 9 % aller Kläger66 , das sind 0,7 % der im Vergleichszeitraum gekündigten Arbeitnehmer 67 • Grob gesprochen entspricht dies knapp jedem 150sten gekündigten Arbeitnehmer. Über die Gründe solcher Verfehlung des Bestandschutzziels ist hier für die Analyse der informationellen Rahmenbedingungen nicht weiter zu diskutieren. Sicherlich ist dafür nicht nur die Zuweisung der Klagelast an den gekündigten Arbeitnehmer ausschlaggebend, wenngleich festzuhalten bleibt, daß durch diese spezielle Ausgestaltung des Verfahrenszugangs besondere Zugangsbarrieren entstehen und die Beratungsproblematik eine besondere Relevanz erhält. Diese Phänomene wurden schon oben bei der Erörterung des all62 Vgl. Falke / Höland / Rhode / Zimmermann, Kündigungspraxis und Kündigungsschutz in der Bundesrepublik Deutschland, S. 61, Tab. I / 613. 63 Ebenda, S. 660, Tab. IV / 72, 71 und S. 965. 64 Ebenda, vgl. S. 858, Tab. IV / 161. 65 Ebenda, S. 975. 66 Ebenda, S. 860, Tab. IV / 162. 67 Ebenda, S. 975.

6.3 Einsatzfelder des Beweislastmechanismus im Arbeitsrecht

129

gemeinen arbeitsrechtlichen Hintergrundes angesprochen und illustriert68 . Für die vorliegende Untersuchung der informationellen Rahmenbedingungen im arbeitsgerichtlichen Prozeß bildet diese gesetzliche Zuweisung der Klagelast jedenfalls einen ersten wichtigen Parameter für das gesamte weitere prozessuale Kommunikationssystem. 6.3.2.2 Beweislastnormen im Kündigungsschutzgesetz

Die zentrale Bestimmung über die Ausgestaltung des arbeitsrechtlichen Kündigungsschutzes findet sich in § 1 KSchG. Nach § 1 KSchG ist die Kündigung eines Arbeitsverhältnisses gegenüber einem Arbeitnehmer, dessen Arbeitsverhältnis in demselben Betrieb oder Unternehmen ohne Unterbrechung länger als 6 Monate bestanden hat, "rechtsunwirksam, wenn sie nicht sozial gerechtfertigt" ist. Nach Absatz II derselben Vorschrift ist eine Kündigung sozial "ungerechtfertigt, wenn sie nicht" durch Gründe, die in der Person oder im Verhalten des Arbeitnehmers liegen, oder durch dringende betriebliche Erfordernisse bedingt ist, die einer Weiterbeschäftigung eines Arbeitnehmers in diesem Betrieb entgegenstehen. Diese gesetzlichen Formulierungen deuten schon durch die sprachliche Fassung der in Anführungszeichen gesetzten Teile ein bestimmtes Regel / Ausnahme-Schema an, das Folgerungen für die Verteilung der Informationslasten im Prozeß nahelegt. Begehrt deshalb ein Arbeitnehmer mit seiner Klage die Feststellung, daß das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung des Arbeitgebers nicht aufgelöst wurde, so ist im Sinne der Normtheorie zu folgern, daß die vom Arbeitnehmer darzulegenden und zu beweisenden tatsächlichen Voraussetzungen der Regel sowohl das Bestehen eines Arbeitsverhältnisses in demselben Betrieb oder Unternehmen als auch die Dauer dieses Arbeitsverhältnisses von mindestens 6 Monaten umfassen. Eine zusätzliche Voraussetzung ergibt sich noch aus § 23 I KSchG, nach dem diese Vorschriften nicht für Betriebe gelten, in denen in der Regel 5 oder weniger Arbeitnehmer ausschließlich der Auszubildenden beschäftigt werden. Die tatsächlichen Voraussetzungen für die Nichteinschlägigkeit der Regel, also das Vorliegen der Ausnahme der sozialen Rechtfertigung der Kündigung treffen dann den Arbeitgeber. Diese ersten Anzeichen zur Verteilung der hier interessierenden Lasten anhand der sprachlichen Formulierung werden völlig klargestellt durch § 1 II 4 KSchG, wo ausdrücklich normiert ist, daß der Arbeitgeber die Tatsachen zu beweisen hat, die die Kündigung bedingen. Für den Fall der betriebsbedingten Kündigung schreibt § 1 II KSchG vor, die Kündigung sei "trotzdem sozial ungerechtfertigt, wenn" vom Arbeitgeber bei der Auswahl des Arbeitnehmers 68

Vgl. dazu näher oben Abschnitt 2.

9 Haug

130

6. ProzeßmodelllI: Zum Beweislastmechanismus im Arbeitsrecht

soziale Gesichtspunkte nicht oder nicht ausreichend berücksichtigt worden sind. Auch hier wird der Hinweis in der speziellen Wahl der sprachlichen' Formulierung einer Ausnahme von der Ausnahme durch die explizite Anordnung des Gesetzgebers in § 1 III 3 KSchG bekräftigt, nach der der Arbeitnehmer die Tatsachen zu beweisen hat, die die Kündigung insofern als sozial ungerechtfertigt erscheinen lassen. Neben einer ganzen Reihe von Vorschriften des KSchG zu Detailfragen, die durch entsprechenden Satzbau oder Wortwahl Hinweise auf die Verteilung der Beweislast zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer enthalten, trifft § 14 II 2 KSchG noch eine ausdrückliche Regelung der Behauptungslast in einem Spezialfall. Danach bedarf der Antrag des Arbeitgebers auf Auflösung des Arbeitsverhältnisses nach § 9 I 2 KSchG keiner Begründung bei Geschäftsführern, Betriebsleitern und ähnlichen leitenden Angestellten, soweit diese zur selbständigen Einstellung oder Entlassung von Arbeitnehmern berechtigt sind. Man sollte nun denken, daß in Folge dieser doch relativ klaren gesetzlichen Regelungen nun bei der Verteilung der objektiven Beweislast sowie bei der Verteilung der subjektiven Informationslasten im Kündigungsschutzgesetz keine praktischen Schwierigkeiten mehr entstehen könnten. Dieser Eindruck wäre indes völlig unzutreffend, denn gerade über die Verteilung dieser prozessualen Lasten anhand der vorbezeichneten Normen des KSchG besteht an zahlreichen Punkten heftiger Streit, der zu einer Flut richterlicher Entscheidungen und Stellungnahmen der Rechtswissenschaft geführt hat. Die Probleme mit der Verteilung dieser Lasten und der Gestaltung der informationellen Rahmenbedingungen im Kündigungsschutzprozeß lassen sich dabei nur in direktem Zusammenhang mit dem jeweils zugrunde liegenden Konflikttypus der verschiedenen Fallgruppen einer Kündigungsbegründung durch den Arbeitgeber verstehen. 6.3.3 Typische Konfliktgruppen im KÜDdigungsschutzprozeß

Gewöhnlich werden die Kündigungsfälle zunächst nach den ordentlichen und den außerordentlichen Kündigungen sortiert. Eine solche außerordentliche, also fristlose Kündigung ist bekanntermaßen nur im Ausnahmefall nach § 626 I BGB dann gerechtfertigt, wenn Tatsachen vorliegen, bei denen dem Arbeitgeber die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses nicht zugemutet werden kann. Die ordentlichen Kündigungen werden dann üblicherweise dem Einteilungsschema des § 1 KSchG folgend nach betriebsbedingten, personenbedingten und verhaltensbedingten Kündigungen unterschieden.

6.3 Einsatzfelder des Beweislastmechanismus im Arbeitsrecht

131

6.3.3.1 Zur empirischen Verteilung der FaUgruppen Die quantitative Erfassung der Kündigungsfälle ergibt folgendes Bild: (1) Ca. 80 % der Kündigungen in der Bundesrepublik Deutschland werden von den Arbeitgebern als ordentliche Kündigungen ausgesprochen. Dem stehen etwa 15 % außerordentliche Kündigungen gegenüber, während 5 % der Kündigungen außerordentlich und zugleich hilfsweise ordentlich ausgesprochen werden69 • Im gerichtlichen Alltag verschiebt sich dieses Verhältnis hin zu einem höheren Anteil der außerordentlichen Kündigungen, bei denen also die Klagequote deutlich höher ist. Der Anteil der mit einer Klage angegriffenen außerordentlichen Kündigungen beläuft sich beim Arbeitsgericht auf durchschnittlich 35 % 70. (2) Innerhalb der ordentlichen Kündigungen nehmen zunächst die betriebsbedingten Kündigungen einen Anteil von einem Drittel ein71 • Bei den restlichen 67 % der Kündigungen, die aus Gründen in der Person oder im Verhalten des Arbeitnehmers erfolgen, werden zumeist mehrere Begründungen gegeben. Die Grenze zwischen personenbedingten und verhaltensbedingten Begründungen ist dabei fließend; im statistischen Durchschnitt werden ca. zwei Begründungen pro Kündigung angegeben. (3) Am häufigsten finden sich innerhalb der Gruppe der personen- oder verhaltensbedingten Kündigungsgründe die Kündigung wegen unentschuldigtem Fernbleiben (34,8 % der personen- oder verhaltensbedingten Kündigungen), der mangelhaften Leistung (31,7 %) oder der krankheitsbedingten Kündigung (30,4 % )72. In einer speziellen Auswertung der Hamburger Kündigungsschutzstudie für die Krankheitskündigung durch eine der Projektteilnehmerinnen wird der absolute Anteil der Krankheitskündigungen an allen Kündigungen, die im Jahre 1978 von Arbeitgebern der privaten Wirtschaft ausgesprochen wurden mit der Quote von 20 % angegeben 73. 6.3.3.2 Zur betriebsbedingten und zur Krankheitskündigung Aufgrund der herausragenden Stellung der betriebsbedingten Kündigung und der Kündigung wegen Krankheit des Arbeitnehmers sollen im folgenden 69 Falke / Höland / Rhode / Zimmermann, Kündigungsschutz und Kündigungspraxis in der Bundesrepublik Deutschland, S. 61, Tab. I / 13. 70 Ebenda, S. 660, Tab. IV / 72. 71 Ebenda, S. 99 f. 72 Ebenda, S. 101, Tab. 1/27 und S. 962. 73 Zimmermann, Krankheitskündigung in der Praxis, in: Ellermann-Witt / Rottleuthner / Russig, Kündigungsschutz, Kündigungspraxis und Probleme der Arbeitsgerichtsbarkeit, S. 46.

9'

132

6. Prozeßmodell 11: Zum Beweislastmechanismus im Arbeitsrecht

der Untersuchung des arbeitsrechtlichen Einsatzes des Beweislastmechanismus und der prozessualen Gestaltung der Informationsbeziehungen diese beiden typischen Kündigungssituationen zugrunde gelegt werden. Zu diesen Fallkonstellationen lassen sich noch einige weitere Angaben machen: (1) Bei der betriebsbedingten Kündigung verteilen sich die Begründungen so, daß knapp eine Hälfte dieser Kündigungen auf Arbeitsmangel (48 %) gestützt werden, mehr als ein Viertel der genannten Gründe auf die Rubrik Rationalisierungen (26,4 %) entfällt, gefolgt von mangelnder Rentabilität (9,6 %), Betriebseinschränkungen (6,4 %) und Betriebsstilllegungen bzw. Betriebsveräußerungen (4,4 %)74. Betroffen werden von diesen betriebsbedingten Kündigungen vor allem ältere Arbeitnehmer75 mit längerer Betriebszugehörigkeit16 • (2) Zur Kündigung des Arbeitnehmers wegen Krankheit ergibt sich, daß der Anteil der Kündigungen wegen häufiger kurzer Erkrankungen etwa doppelt so hoch ist wie der Anteil der Kündigungen w~gen lang anhaltender Krankheit77 • Die Verteilung der Krankheitskündigungen auf Geschlecht, Nationalität und beruflichen Status der Arbeitnehmer ist sehr unterschiedlich. Bezogen auf die jeweilige Quote der angefochtenen Kündigungen in den einzelnen Arbeitnehmergruppen ergibt sich bei Frauen ein Anteil von 29,3 % gegenüber 22,9 % bei Männern, bei Ausländern ein Anteil von 45,6 % gegenüber 17,5 % bei deutschen Arbeitnehmern und bei Arbeitern ein Anteil von 32,5 % gegenüber 13,4 % bei Angestellten78 . (3) Von Krankheitskündigungen betroffen sind überwiegend Arbeitnehmer in Großbetrieben. Bezogen auf die Häufigkeit der Kündigungsgründe ergibt sich eine Quote von 15,1 % der Krankheitskündigungen in Betrieben bis zu 20 Beschäftigten, von 35,1 % bei 101 - 500 Beschäftigten und 59,5 % bei über 500 Beschäftigten pro Betrieb79 •

6.3.4 Zum weiteren Gang der Untersuchung Nachdem der empirische Hintergrund des Konflikts um die betriebsbedingte Kündigung bzw. die Krankheitskündigung des Arbeitgebers so näher beschrieben ist, soll in diesem zentralen Bereich der Individualkonflikte des 74 Falke / Höland / Rhode / Zimmermann, Kündigungspraxis und Kündigungsschutz in der Bundesrepublik Deutschland, S. 105, mit Tab. I / 28. 75 Ebenda, S. 95, mit Tab. 1/25. 76 Ebenda, S. 729 f., mit Tab. IV / 97 und S. 95, Tab. I /25. 77 Ebenda, S. 101, Tab. I / 27 und S. 962. 78 Ebenda, S. 710 f., Tab. IV /9l. 79 Ebenda, S. 706 f., Tab. IV /90.

6.4 Beweislastrnechanisrnus bei der betriebsbedingten Kündigung

133

arbeitsgerichtlichen Urteilsverfahrens exemplarisch der Einsatz des Beweislastmechanismus im Arbeitsrecht untersucht werden. Dabei soll zunächst die betriebsbedingte Kündigung und die entsprechende Gestaltung der Informationsbeziehungen bei Berufung des Arbeitgebers auf diesen Kündigungsgrund im Vordergrund stehen. Dann soll dieselbe Frage für die Problematik um die soziale Auswahl des Arbeitnehmers bei diesem Kündigungstypus behandelt werden, ehe anschließend die Konstellation bei der Kündigung eines Arbeitnehmers wegen Krankheit untersucht wird. Abschließend werden die Untersuchungsergebnisse zu würdigen und die Frage nach Lösungsmöglichkeiten diagnostizierter Mängel bei der Gestaltung der Informationsbeziehungen der Parteien zu stellen sein.

6.4 Beweislastmechanismus und Informationsbeziehungen bei der betriebsbedingten Kündigung Nach dem Kündigungsgesetz ist eine ordentliche Kündigung des Arbeitgebers dann sozial nicht gerechtfertigt, wenn sie nicht durch dringende betriebliche Erfordernisse bedingt ist, die der Beschäftigung des Arbeitnehmers in diesem Betrieb entgegenstehen. Das Gesetz verzichtet dabei auf eine nähere Definition solcher dringenden betrieblichen Erfordernisse und ihrer einzelnen Merkmale. Sicher ist jedenfalls, daß es sich bei der betriebsbedingten Kündigung anders als bei den personen- oder verhaltensbedingten Kündigungsgründen um solche, eine Kündigung rechtfertigende Umstände handelt, die aus der betrieblichen Sphäre resultieren und damit dem Einflußbereich des Arbeitgebers in dessen Eigenschaft als Unternehmer zuzuordnen sind. Die Intention des Gesetzes ließe sich dahingehend formulieren, daß das Interesse des Arbeitnehmers am Erhalt des Arbeitsplatzes gegenüber einem aus betrieblichen Gründen veranlaßten Abbau des Personalbestandes nicht durchgreifen soll.

6.4.1 Die Voraussetzungen einer betriebsbedingten Kündigung Rechtsprechung und Rechtswissenschaft haben mangels präziser Hinweise des Gesetzgebers in Auslegung von § 1 KSchG eine Reihe von Voraussetzungen einer sozialen Rechtfertigung der betriebsbedingten Kündigung entwikkelt. 6.4.1.1 Die "betrieblichen Erfordernisse"

Derartige betriebliche Erfordernisse für eine Kündigung können sich aus innerbetrieblichen Umständen wie z. B. Rationalisierungsmaßnahmen und Veränderungen in der Arbeitsorganisation, Produktionsumstellungen, Verla-

134

6. Prozeßmodell 11: Zum Beweislastmechanismus im Arbeitsrecht

gerungen von Betriebsteilen oder der Produktion, Änderung der Betriebsan-. lagen und Einführung neuer Arbeitsmethoden, Einschränkung und Stillegung des Betriebs bzw. einzelner Betriebsteile oder Zusammenschluß mit anderen Betrieben ergeben. Sie können aber auch durch außerbetriebliche Gründe, etwa eine Änderung der Marktdaten oder der betrieblichen Wettbewerbsposition, branchenspezifischen Strukturveränderungen, währungs- und finanzpolitischen Entwicklungen sowie durch Auftragsmangel und Umsatzrückgänge bedingt sein8o . Im Gegensatz zu den innerbetrieblichen Ursachen und Entscheidungen des Arbeitgebers können außerbetriebliche Ursachen kaum unmittelbar den Wegfall eines Arbeitsplatzes bewirken. Sie können für die Betriebs- und Unternehmensführung lediglich Anlaß sein, innerbetriebliche Maßnahmen mit dem Ziel zu ergreifen, diesen außerbetrieblichen Gegebenheiten nunmehr durch die veranlaßten Entscheidungen im Betrieb Rechnung zu tragen. Außerbetriebliche Gründe können demgemäß eine betriebsbedingte Kündigung des Arbeitgebers sozial nur rechtfertigen, wenn dadurch innerbetriebliche Folgen veranlaßt sind, die ihrerseits als Auswirkung den Wegfall des Arbeitsplatzes des Gekündigten zur Folge haben81 . Der Nachprüfung durch das Gericht unterliegen daher sowohl die Frage, ob die zur Begründung der dringenden betrieblichen Erfordernisse und für die getroffene mganisatorische oder technische Unternehmerentscheidung maßgeblichen inner- sowie außerbetrieblichen Umstände, also Absatzschwierigkeiten, Umsatzrückgang, Gewinnverfall, Produktinnovationen am Markt etc. tatsächlich vorliegen, als auch die Frage, wie sich diese Umstände im betrieblichen Bereich tatsächlich auswirken, das heißt in welchem Umfang dadurch Arbeitsplätze ganz oder teilweise weggefallen sind82 • Ob sich durch die getroffenen technischen oder organisatorischen Maßnahmen der Arbeitsanfall für 80 Vgl. BAG AP Nm. 6,22 zu § 1 KSchG 1969 - betriebsbedingte Kündigung, BAG EZA Nr. 14 zu § 1 KSchG - betriebsbedingte Kündigung; Berkowsky, Die betriebsbedingte Kündigung, 2. Aufl. 1985 Rn 86; Herschel! Löwisch, Kommentar zum Kündigungsschutzgesetz, 6. Aufl. 1984, § 1 Rn 171; KR-Becker, Gemeinschaftskommentar zum Kündigungsschutzgesetz, 2. Aufl. 1984, § 1 Rn 291; G. Schmidt, AR Blattei-Kündigungsschutz IV, Abschnitt A; kritisch dazu Ranke, Anmerkung zu BAG EZA Nr. 10 zu § 1 KSchG - betriebsbedingte Kündigung. 8l BAG AP Nm. 6, 14 zu § 1 KSchG 1969 - betriebsbedingte Kündigung; BAG EZA Nr. 13 zu § 1 KSchG - betriebsbedingte Kündigung; Hueck, Kommentar zum KSchG, 10. Aufl. 1980, § 1 Rn 101 ff.; Herschel! Löwisch, § 1 KSchG Rn 176; KR-Wolf, KSchG, Grds. Rn 50 f; Berkowsky, Betriebsbedingte Kündigung, Rn 85. 82 BAG AP Nm. 6, 8, 10 zu § 1 KSchG 1969 - betriebsbedingte Kündigung; BAG EZA Nm. 10, 13, 14 zu § 1 KSchG - betriebsbedingte Kündigung; BAG BB 1983, S. 1667; Hueck, KSchG, § 1 Rn 101 c; KR-Becker, KSchG, § 1 Rn 298; Herschel! Löwisch, KSchG, § 1 Rn 178; Stahlhacke, Kündigung und Kündigungsschutz im Arbeitsverhältnis, 4. Aufl. 1982, Rn 499; Schaub, Aktuelle Fragen im Kündigungsschutzrecht unter besonderer Berücksichtigung der betriebsbedingten Kündigung, RdA 1981, S. 374.

6.4 Beweislastmechanismus bei der betriebsbedingten Kündigung

135

die betroffenen Arbeitnehmer im Arbeitsumfang oder in den Arbeitsanforderungen tatsächlich geändert hat, ist daher jeweils im Prozeß festzustellen. Erst wenn feststeht, daß aufgrund dieser Feststellungen für die Arbeitsleistung der betreffenden Arbeitnehmer kein Bedürfnis mehr besteht, liegen betriebliche Erfordernisse im Sinne von § 1 KSchG vor83 • Für diese Feststellungen reichen schlagwortartige Umschreibungen wie Umsatzrückgang oder Gewinnverlust oder einschneidende Rationalisierungsmaßnahmen nicht aus. Eine solche Beurteilung ist nur aufgrund konkreter Zahlen zur Umsatzentwicklung oder zur Entwicklung der Auftragsbestände und deren Auswirkungen auf die Arbeitsplätze der von der Kündigung im Einzelfall betroffenen Arbeitnehmer möglich84 . 6.4.1.2 Die Zweckmäßigkeit und Notwendigkeit der getroffenen betrieblichen Maßnahmen

Fast immer wird es so sein, daß zu den - wegen der außer- wie innerbetrieblichen Faktoren getroffenen - Unternehmerentscheidungen Alternativen denkbar sind. So hat ein Unternehmen, das von Auftrags- und Umsatzmängeln betroffen ist, in der Regel eine ganze Palette von Reaktionsmöglichkeiten. Denkbar ist, daß es preispolitische Maßnahmen ergreift oder den Werbeetat erhöht, anstatt personalpolitische Maßnahmen zu ergreifen. Selbst wenn personalpolitische Maßnahmen ergriffen werden sollen, sind nicht nur Kündigungsentscheidungen denkbar, sondern beispielsweise ebenso Kürzungen bei Sonderzahlungen und Gratifikationen oder Einführung von Kurzarbeit, der Abbau von Überstunden oder die Einschränkung der Beschäftigung von Leiharbeitern. Deshalb stellt sich die Frage, ob für die Feststellung des Vorliegens betrieblicher Erfordernisse auch die betriebswirtschaftliche Rationalität der getroffenen Entscheidung des Unternehmers zu prüfen ist. Rechtsprechung und herrschende Meinung haben hier zwischen der Entscheidung über die Auswahl innerhalb verschiedener personalpolitischer Maßnahmen und allen anderen Gesichtspunkten der betriebswirtschaftlichen Rationalität, insbesondere Zweckmäßigkeit und Erforderlichkeit der gewählten Reaktion auf die außeroder innerbetrieblichen Faktoren, differenziert. Dabei wird die Frage der Wahl zwischen alternativen personalpolitischen Maßnahmen der Frage der Dringlichkeit der betrieblichen Erfordernisse zugeordnet85 • Für alle anderen Aspekte der Zweckmäßigkeit und Notwendigkeit der unternehmerischen Reaktion auf die Veränderungen der betrieblichen Rahmenbedingungen geht 83 BAG AP Nm. 14,22 zu § 1 KSchG 1969 - betriebsbedingte Kündigung; BAG AP Nr. 8 zu § 13 KSchG; KR-Becker, § 1 KSchG Rn 298. 84 So ausdrücklich BAG AP Nr. 6 zu § 1 KSchG 1969 - betriebsbedingte Kündigung. 85 Dazu sogleich unten, Abschnitt 6.4.1.3.

136

6. Prozeßmodell 11: Zum Beweislastmechanismus im Arbeitsrecht

die ganz überwiegende Ansicht dahin, daß es sich dabei um eine freie Unternehmerentscheidung handelt, die der arbeitsgerichtlichen Überprüfung auf ihre betriebswirtschaftliche Zweckmäßigkeit und Notwendigkeit hin entzogen sei86 . Damit sind sowohl die unternehmerischen Anpassungsentscheidungen im Hinblick auf die Veränderung der Marktdaten - wie Auftrags- und Absatzplanung, Werbung, Finanzierungsmethoden und Einkaufspolitik - der arbeitsgerichtlichen Überprüfung ebensowenig zugänglich wie unternehmensinterne Entscheidungen über Betriebsstillegungen, Betriebsverlagerungen oder Betriebseinschränkungen, Änderungen des Produktionsprogramms, der Fertigungsmethoden und Arbeitsorganisation oder des Investitionsprogramms. Anders wird dies nur hinsichtlich der Umstände beurteilt, die die aufgrund einer Unternehmerentscheidung getroffene betriebliche Maßnahme als offenbar unsachlich, unvernünftig oder willkürlich erscheinen lassen. Hinsichtlich des Vorliegens offenbaren Mißbrauchs soll also das unternehmerische Gestaltungsermessen einer gerichtlichen Überprüfung zugänglich sein87 • Zur Begründung dieser' Nichtüberprüfbarkeit eines weitgehenden unternehmerischen Gestaltungsermessens wird auf die verfassungsrechtlich gewährleistete Unternehmerfreiheit88 und die Ausgestaltung der dem Betriebsrat im Falle der Betriebsänderungen nach §§ 111 f. BetrVG zustehenden Beteiligungsrechte verwiesen. Doch bei §§ 111 f. BetrVG gibt es insofern hinsichtlich der Durchführung der unternehmerischen Entscheidung lediglich das freiwillige Institut des Interessenausgleichs, während betriebsverfassungsrechtliche Mitbestimmungsrechte nur beim Sozialplan im Hinblick auf die Bewältigung der wirtschaftlichen Nachteile der getroffenen Maßnahmen bestehen89 . 86 St. Rspr., eingehend BAG AP Nr. 22 zu § 1 KSchG - betriebsbedingte Kündigung; BAG AP Nm. 6, 8, 9 zu § 1 KSchG 1969 - betriebsbedingte Kündigung; BAG AP Nr. 8 zu § 13 KSchG; BAG BB 1983, S. 1665; Hueck, KSchG, § 1 Rn. 104 a; KRBecker, KSchG, § 1 Rn 294 f.; Herschel / Löwisch, KSchG, § 1 Rn 176; Stahlhacke, Kündigung, Rn 426; G. Schmidt, AR-Blattei, Kündigungsschutz IV, B IV; Berkowsky, Betriebsbedingte Kündigung und soziale Auswahl, BB 1983, S. 257 ff., 295; Schaub, RdA 1981, S. 374; G. Müller, Gedanken zum arbeitsrechtlichen Kündigungsrecht, ZfA 1982, S. 502. 87 St. Rspr., BAG AP Nr. 22 zu § 1 KSchG - betriebsbedingte Kündigung; BAG AP Nm. 1, 5 zu § 1 KSchG 1969 - betriebsbedingte Kündigung; LAG Bad.-Württ. DB 1968, S. 1588; ArbG Münster BB 1977, S. 144; weitergehend ArbG Bocholt DB 1982, S. 1938 mit kritischer Einschätzung Vollmer, DB 1982, S. 1933; KR-Becker, KSchG, § 1 Rn 294; Herschel / Löwisch, KSchG, § 1 Rn 179; Hueck, KSchG, § 1 Rn 104 a; Schmidt, AR-Blattei, Kündigungsschutz IV, B IV; Stahlhacke, Kündigung, Rn 498 f.; Weitnauer, SAE 1975, S. 138, Neumann, Haushaltsrechtlich bedingte Kündigung und öffentlicher Dienst, RdA 1979, S. 372; Berkowsky, Betriebsbedingte Kündigung, NJW 1983, S. 1293. 88 Dazu insbesondere Herschel / Löwisch, KSchG, vor § 1 Rn 15; KR-Becker, KSchG, § 1 Rn 295.

6.4 Beweislastmechanismus bei der betriebsbedingten Kündigung

137

6.4.1.3 Die Dringlichkeit der betrieblichen Erfordernisse

Nach herrschender Auffassung ist das Tatbestandsmerkmal der Dringlichkeit der betrieblichen Erfordernisse als Ausdruck des das ganze Kündigungsschutzrecht beherrschenden Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zu verstehen. Der Arbeitgeber darf eine betriebsbedingte Entlassung nur als ultima ratio aussprechen - also wenn er zuvor versucht hat, die Entlassung von Arbeitnehmern durch andere zumutbare Maßnahmen wie die Einführung von Kurzarbeit, den Abbau von Überstunden oder die Vorverlegung von Werksferien und Maßnahmen zur Arbeitsstreckung zu vermeiden 90 • Die so vorzunehmende Dringlichkeitsprüfung führt also nicht zur Überprüfung der Unternehmerentscheidung selbst, sondern nur zur Notwendigkeit der Beachtung einer Rangfolge der betrieblichen Maßnahmen im personellen Bereich je nach der Schwere der dadurch veranlaßten Nachteile für den Arbeitnehmer. Die genannten personellen Maßnahmen und insbesondere Änderungskündigungen haben demgemäß Vorrang vor solchen betriebsbedingten Kündigungen, die das Arbeitsverhältnis endgültig auflösen91 . In diesen engen Grenzen findet mithin doch eine - gegenständlich beschränkte arbeitsgerichtliehe Kontrolle der unternehmerischen Entscheidung statt. 6.4.1.4 Das Fehlen anderweitiger Beschäftigungsmöglichkeiten

Auch wenn durch außer- oder innerbetriebliche Gründe der bisherige Arbeitsplatz eines Arbeitnehmers entfällt, ist nach ganz herrschender Ansicht eine Kündigung nur dann durch dringende betriebliche Erfordernisse bedingt, wenn dem Arbeitgeber eine andere Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers nicht möglich oder nicht zumutbar ist92 .

89 Dazu näher BAG DB 1978, S. 1650; BAG EZA Nm. 7, 11 zu § 111 BetrVG 1972; BAG EZA Nr. 21 zu § 112 BetrVG 1972; KR-Wolf, KSchG, Grds. Rn 632 f.; G. Müller, ZfA 1982, S. 502. 90 BAG AP Nm. 5, 15, 18, 20 zu § 1 KSchG - betriebsbedingte Kündigung; BAG EZA Nm. 14, 15 zu § 1 KSchG - betriebsbedingte Kündigung; LAG Düsseldorf DB 1977, S. 1370; ArbG Münster DB 1983, S. 444 mit Anmerkung Gagel; Hueck, KSchG, § 1 Rn 103; G. Schmidt, AR-Blattei, Kündigungsschutz IV, Teil A; Stahlhacke, Kündigung, Rn 502; Berkowsky, Betriebsbedingte Kündigung, Rn 140. 91 Vgl. insbesondere BAG AP Nr. 18 zu § 1 KSchG - betriebsbedingte Kündigung und BAG AP Nr. 4 zu § 1 KSchG 1969 - betriebsbedingte Kündigung; LAG Düsseldorf DB 1982, S. 1118; ArbG Münster DB 1983, S. 444; Herschel / Löwisch, KSchG, § 1 Rn 181; KR-Becker, KSchG, § 1 Rn 296. 92 BAG AP Nm. 14, 19, 22 zu § 1 KSchG - betriebsbedingte Kündigung; BAG AP Nm. 2, 4 zu § 1 KSchG 1969 - betriebsbedingte Kündigung; Stahlhacke, Kündigung, Rn 507; kritisch Hueck, KSchG, § 1 Rn 114 b.

138

6. Prozeßmodell 11: Zum Beweislastmechanismus im Arbeitsrecht

Zur Begründung wird entweder auf das ultima ratio-Prinzip im Rahmen der Dringlichkeitsprüfung93 oder auf die Rechtsprechung zur Notwendigkeit einer umfassenden Interessenabwägung zurückgegriffen, nach der eine betriebsbedingte Kündigung nur dann sozial gerechtfertigt ist, wenn die betrieblichen Gründe bei verständlicher Würdigung in Abwägung der Interessen der Vertragsparteien und des Betriebs die Kündigung als billigenswert und angemessen erscheinen lassen94 • Nachdem zunächst streitig war, ob auch bei Fehlen eines Widerspruchs des Betriebsrats die in den Widerspruchstatbeständen des § 1 11 2 und 3 KSchG erwähnten Merkmale zu berücksichtigen sind, ist dies heute praktisch durchgehend anerkannt. Damit ist klargestellt, daß unabhängig von dem Vorliegen eines Widerspruchs des Betriebsrats und auch für die betriebsratslosen Betriebe von einer unternehmensbezogenen Weiterbeschäftigungspflicht im Sinne dieser Vorschriften auszugehen ist95 • Dies wird ganz überwiegend mit den gesetzgeberischen Zielvorstellungen bei der Neufassung der §§ 1 11 2 und 3 KSchG begründet, nach denen allgemein der individuelle Kündigungsschutz der Arbeitnehmer durch diese Vorschriften verbessert werden sollte96 • Die zusätzliche Ausdehnung der Weiterbeschäftigungsmöglichkeit auf den Konzern ist für den Fall einer kündigungsrechtlich relevanten Organisationsveränderung im Konzernbereich heftig umstritten und wird mit guten Gründen nur als rechtspolitisches Anliegen anerkannt97 • Kann der Arbeitgeber im Betrieb oder Unternehmen, gegebenenfalls nach Durchführung einer entsprechenden Umschulung, nur einen anderen freien Arbeitsplatz mit schlechteren Arbeitsbedingungen zur Verfügung stellen, so ist die betriebsbedingte Kündigung sozial gerechtfertigt, wenn sich der Arbeitnehmer nicht spätestens in der Kündigungsschutzklage zum Wechsel auf diesen Arbeitsplatz bereit erklärt oder sein Einverständnis zumindest unter 93 So insbesondere Berkowsky, Betriebsbedingte Kündigung, Rn 156 und Herschel / Löwisch, KSchG, § 1 Rn 180. 94 BAG AP Nr. 14 zu § 1 KSchG - betriebsbedingte Kündigung; BAG AP Nr. 2 zu § 1 KSchG 1969 - betriebsbedingte Kündigung; BAG EZA Nm. 14, 15 zu § 1 KSchGbetriebsbedingte Kündigung; KR-Becker, KSchG, § 1 Rn 304 ff.; Stahlhacke, Kündigung, Rn 507; Löwisch, DB 1975, S. 349. 95 Klargestellt seit BAG DB 1983, S. 2635, vgl. auch BAG AP Nr. 1 zu § 1 KSchG 1969 - Krankheit; KR-Becker, KSchG, § 1 Rn 306 f., Herschel / Löwisch, KSchG, § 1 Rn 186; Stahlhacke, Kündigung, Rn 507; Schaub, Handbuch des Arbeitsrechts, 5. Auf!. 1983, § 131 I 4; Löwisch, DB 1975, S. 350; Coen, Der Kündigungsschutz im Konzern, RdA 1983, S. 350 f.; aA Hueck, KSchG, § 1 Rn 114 a ff. 96 Vgl. BT-Drucks. VI/ 1786, S. 32 f. und BT-Drucks. IV / 2729, Abschnitt IV 3, S.7. 97 So BAG DB 1983, S. 2635; Hueck, KSchG, § 1 Rn 143; Berkowsky, Betriebsbedingte Kündigung, Rn 161 ff.; Stahlhacke, Kündigung, Rn 507; Dietz / Richardi, BetrVG, § 102 Rn 140; Fitting / Auffarth / Kaiser, BetrVG, § 102 Rn 16; Gnade / Kehrmann / Schneide / Blanke, BetrVG, § 102 Rn 82; aA Konzern ZfA 1982, S. 295, 305 ff.; Coen, RdA 1983, S. 354; Martens, FS 25 Jahre BAG, S. 367,376 ff.

6.4 Beweislastrnechanisrnus bei der betriebsbedingten Kündigung

139

dem Vorbehalt der sozialen Rechtfertigung der Vertragsänderung zum Ausdruck gebracht hat98 . 6.4.2 Zur Verteilung der Informationslasten bei der betriebsbedingten Kündigung Nachdem, wie gesehen, aufgrund der ausdrücklichen Beweislastnorm des

§ 1 11 4 KSchG der Arbeitgeber die Gründe für die Kündigung zu beweisen

hat, scheint die Frage nach der Verteilung der Informationslasten für das Vorliegen der Voraussetzungen einer betriebs bedingten Kündigung schnell beantwortet:

Der Arbeitgeber hat das Vorliegen der betrieblichen Erfordernisse darzulegen und hierfür Beweis anzubieten. Er hat also insbesondere vorzutragen, daß die innerbetriebliche organisatorische Maßnahme tatsächlich ergriffen wurde oder daß die außerbetrieblichen Faktoren wie Auftragsrückgang etc. tatsächlich vorliegen und unmittelbare Auswirkungen auf den Arbeitsplatz des Gekündigten haben. Auch die Umstände, daß die unternehmerische Entscheidung nicht willkürlich oder offensichtlich unsachlich und dringend betrieblich erforderlich ist, daß also die Beendigungskündigung nicht durch mildere personalpolitische Maßnahmen ersetzt werden konnte, sind offensichtlich Kündigungstatsachen im Sinne von § 1 11 4 KSchG. Auch hierfür treffen deshalb den Arbeitgeber die prozessualen Informationslasten, so daß er für diese Tatsachen darlegungs- und beweisführungspflichtig ist. Nichts anderes kann für die im Rahmen der Interessenabwägung zu berücksichtigenden Umsetzungsmöglichkeiten des gekündigten Arbeitnehmers im Betrieb und Unternehmen des Arbeitgebers gelten - auch hier handelt es sich um Kündigungstatsachen im Sinne von § 1 11 4 KSchG. Somit ergäbe sich eine Strukturierung der Informationsbeziehungen der Parteien im Kündigungsschutzprozeß um die betriebs bedingte Kündigung dahingehend, daß der Arbeitnehmer die formellen Voraussetzungen einer Anwendung des KSchG in den Prozeß einzuführen hat, nämlich das Bestehen eines Arbeitsvertrages, eine längere Dauer der Beschäftigung als 6 Monate und eine Betriebsgröße von regelmäßig 6 und mehr Arbeitnehmern unter Ausschluß der Auszubildenden, während der Arbeitgeber mit der Beibringung der Informationen zu den tatsächlichen Voraussetzungen des von ihm geltend gemachten Kündigungsgrundes belastet wäre. 98 BAG AP Nr. 2 zu § 1 KSchG - betriebsbedingte Kündigung; BAG AP Nr. 2 zu § 1 KSchG 1969 - betriebsbedingte Kündigung; BAG EZA Nr. 13 zu § 1 KSchG -

betriebsbedingte Kündigung: LAG Düsseldorf DB 1982, S. 1118; Herschel / Löwisch, KSchG, § 1 Rn 183, 189 (unter Aufgabe der abweichenden Auffassung in Galperin / Löwisch, BetrVG, § 102 Rn 77); KR-Becker, KSchG, § 1 Rn 308; Berkowsky, Betriebsbedingte Kündigung, Rn 166 ff.

140

6. Prozeßmodell 11: Zum Beweislastmechanismus im Arbeitsrecht

In der Tat befürworten einige Stimmen in der Literatur diese Gestaltung der informationellen Rahmenbedingungen im Kündigungsschutzprozeß um die betriebs bedingte Kündigung mit dem Hinweis auf die gesetzliche Regelung und der Überlegung, daß diese Verteilung der Informationslasten auch den Zugangsmöglichkeiten der beiden Parteien zu den relevanten Informationen am ehesten Rechnung trage99 • Im Sinne der vorliegenden Untersuchung wäre diese Argumentation dahingehend zu formulieren, daß so der Beweislastmechanismus sinnvoll zum Tragen kommt, daß also so dem strukturellen Informationsdefizit des Arbeitnehmers durch entsprechende Herabsetzung seines Informationsbedarfs für den Kündigungsschutzprozeß im erforderlichen Maße Rechnung getragen wird. Demgegenüber kommen allerdings die herrschende Meinung und die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zu einer völlig anderen Verteilung der Informationslasten zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Diese ist im folgenden darzustellen: 6.4.2.1 Die Informationslastverteilung bei den betrieblichen Erfordernissen Nach der herrschenden Meinung und der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts hat aufgrund der Beweislastverteilung in § 1 11 4 KSchG der Arbeitgeber das Vorliegen der betrieblichen Erfordernisse darzulegen und dafür gegebenenfalls Beweis zu führen 1oo . Dabei ist vom Arbeitgeber zu verlangen, daß er die zumeist recht schwierige Tatsachenkonstellation so detailliert darlegt, daß das Gericht sich eine eigene, fundierte Meinung über den Sachverhalt zu bilden imstande ist. Schlaglichtartige oder stichwortartige Umschreibungen genügen dafür regelmäßig nicht101 • Im einzelnen muß deutlich werden, ob die betriebsbedingten Erfordernisse auf innerbetriebliche Maßnahmen zurückgehen oder durch außerbetriebliche Faktoren bedingt sind 102 • Soweit der Arbeitgeber sich auf innerbetriebliche Maßnahmen stützt, muß deutlich werden, inwieweit die entsprechenden technischen, organisatorischen, etc. Maßnahmen auch tatsächlich getroffen wurden und eine weitere So insbesondere KR-Becker, KSchG, § 1 Rn 311- 314. Allgemeine Ansicht, vgl. BAG AP Nm. 2, 6 zu § 1 KSchG 1969 - betriebsbedingte Kündigung; LAG Hamm, DB 1984, S. 886; KR-Becker, KSchG, § 1 Rn 311; Herschel / Löwisch, KSchG, § 1 Rn 252; Berkowsky, Betriebsbedingte Kündigung, Rn 497. 101 BAG AP Nr. 6 zu § 1 KSchG 1969 - betriebsbedingte Kündigung; LAG Hamm DB 1984, S. 886; allgemeine Ansicht, vgl. die Kommentarstellen Fn 100 mwN. 102 BAG AP Nm. 2, 12 zu § 1 KSchG 1969 - betriebsbedingte Kündigung; ArbG Münster BB 1983, S. 444; KR-Becker, KSchG, § 1 Rn 311; Berkowsky, NJW 1983, S. 1292; Berkowsky, Betriebsbedingte Kündigung, Rn 500. 99

100

6.4 Beweislastmechanismus bei der betriebsbedingten Kündigung

141

Beschäftigung des Arbeitnehmers auf seinem Arbeitsplatz entfallen lassen!03. Soweit sich der Arbeitgeber auf außerbetriebliche Faktoren beruft, ist darzulegen und gegebenenfalls zu beweisen, daß diese außerbetrieblichen Faktoren tatsächlich gegeben sind, sowie, daß sie sich im betrieblichen Bereich tatsächlich auf den Arbeitsplatz des Gekündigten so auswirken, daß für seine Weiterbeschäftigung kein Bedarf mehr besteht104 • 6.4.2.2 Die Informationslastverteilung bei der WillkürkontroUe

Nach der dargestellten verbreiteten Meinung zur Freiheit der unternehmerischen Entscheidung findet eine justitielle Prüfung der Zweckmäßigkeit und Notwendigkeit der vom Arbeitgeber getroffenen organisatorischen Entscheidung nicht statt. Entsprechende Informationslasten bestehen demgemäß nicht. Selbst wenn der Arbeitnehmer also Tatsachen zur Zweckmäßigkeit und Notwendigkeit der getroffenen Unternehmerentscheidung und zur Rationalität alternativer betrieblicher Maßnahmen in den Prozeß einführt, sind solche Darlegungen unerheblich. Platz greift nur die Willkürkontrolle dahin, ob die entsprechende Maßnahme offenbar unsachlich, unvernünftig oder willkürlich ist. Mit dem Hinweis, daß grundsätzlich von der Unternehmerentscheidung als Datum auszugehen sei, bürdet die Rechtsprechung und ihr folgend die herrschende Ansicht in der Lehre die Informationslasten für die Willkürtatsachen dem Arbeitnehmer auf. Ihm obliegt die Darlegung und Beweisführung für die hier einschlägigen SachverhaltskomplexelOS. Der Arbeitgeber ist dabei wegen der einer gerichtlichen Überprüfung entzogenen Unternehmerentscheidung nach dieser Auffassung grundsätzlich nicht dazu verpflichtet, die maßgeblichen Überlegungen, Prognosen oder Kalkulationen offenzulegen, die ihn zu der Wahl der angegriffenen Maßnahme gebracht haben 106 •

Siehe Nachweise Fn 100. BAG AP Nm. 6, 12 zu § 1 KSchG 1969 - betriebsbedingte Kündigung; LAG Hamm BB 1984, S. 886; ArbG Münster BB 1983, S. 444; Herschel / Löwisch, KSchG, § 1 Rn 252 und Berkowsky, NJW 1983, S. 1292, mwN. 105 BAG AP NT. 22 zu § 1 KSchG - betriebsbedingte Kündigung; BAG AP NT. 1 zu § 1 KSchG 1969 - betriebsbedingte Kündigung; BAG EZA Nm. 10, sehr ausführlich 13 und 15 zu § 1 KSchG - betriebsbedingte Kündigung; Herschel / Löwisch, KSchG, § 1 Rn 252; Hueck, KSchG, § 1 Rn 106; Stahlhacke, Kündigung, Rn 510; G. Schmidt, ARBlattei, Kündigungsschutz IV, B IV mwN; kritisch KR-Becker, KSchG, § 1 Rn 313; Berkowsky, BB 1983, S. 2058 f. und NJW 1983, S. 1292, mit eingehenden Nachweisen zurhM. 106 So insbesondere Hueck, KSchG, § 1 Rn 106 bund Meisel, Dringende betriebliche Erfordernisse und BeTÜcksichtigungen von Leistungsmängeln bei der betriebsbedingten Kündigung, BB 1963, S. 1059, beide mwN. 103

104

142

6. Prozeßmodell 11: Zum Beweislastmechanismus im Arbeitsrecht

6.4.2.3 Informationslasten hinsichtlich der Dringlichkeit

Bei der Prüfung der Dringlichkeit der betrieblichen Erfordernisse geht es darum, ob die vom Arbeitgeber ausgesprochene betriebsbedingte Beendigungskündigung im Sinne des ultima-ratio-Prinzips nicht durch andere, mildere betriebliche Maßnahmen wie Arbeitsstreckung, Überstundenabbau, Einführung von Kurzarbeit oder Abbau von Leiharbeit vermeidbar gewesen wäre. Nach der Rechtsprechung, der die herrschende Meinung in der Literatur gefolgt ist, ist der Arbeitnehmer darlegungs- und gegebenenfalls beweisführungspflichtig für die insofern relevanten tatsächlichen Gegebenheiten 107 • Das Bundesarbeitsgericht läßt sich für diese Verteilung der Informationslasten von der These leiten, daß einem Arbeitsmangel gewöhnlich nur durch Entlassungen abzuhelfen ist, wohingegen andere Maßnahmen, wie Kurzarbeit etc., nur ausnahmsweise zur Bewältigung solcher Probleme denkbar seien. Demgegenüber vertritt eine Mindermeinung eine abgestufte Verteilung der Informationslasten. Danach soll dem Arbeitnehmer allenfalls auferlegt sein, pauschal darzulegen, daß durch eine andere, mildere personalpolitische Maßnahme seine Beendigungskündigung vermeidbar gewesen sei. Die Gründe dafür, daß eine solche Maßnahme im Betrieb nicht durchführbar oder nicht zumutbar gewesen ist, hat dann der Arbeitgeber konkret darzulegen und erforderlichenfalls entsprechende Beweise dafür anzubieten 108 • 6.4.2.4 Informationslastverteilung für Umsetzungsmöglichkeiten

Bei der Einführung der tatsächlichen Grundlagen einer anderweitigen Beschäftigungsmöglichkeit im Betrieb oder Unternehmen, auf die der gekündigte Arbeitnehmer umgesetzt werden könnte, ist nach herrschender Ansicht von einer abgestuften Darlegungslast auszugehen. Hier trifft zunächst den Arbeitnehmer die Last der Darlegung, wie er sich eine solche anderweitige Beschäftigungsmöglichkeit vorstellt, welche Unternehmensbereiche und möglichst welche freien Arbeitsplätze im Betrieb oder Unternehmen dafür in Betracht kommen, auf denen er zur weiteren Erbringung seiner Arbeitsleistung eingesetzt werden könnte. Hat er dies substantiiert dargelegt, so verschiebt sich die weitere Informationslast auf den Arbeitgeber. Dieser hat nun unter konkreter Angabe von Einzeltatsachen zu erklären, warum die Weiter107 BAG AP Nr. 14 zu § 1 KSchG - betriebsbedingte Kündigung; LAG Düsseldorf DB 1984, S. 565; Stahlhacke, Kündigung, Rn 511; Berkowsky, Betriebsbedingte Kündigung, Rn 501 (der allerdings Dringlichkeit anders faßt); Bleistein, Kündigung und Kündigungsschutz im Arbeitsverhältnis, 2. Aufl. 1978, S. 184. 108 So G. Schmidt, AR-Blattei Kündigungsschutz IV, Teil B I; Herschel / Löwisch, KSchG, § 1 Rn 253 aE; dies erwägt hilfsweise KR-Becker, KSchG, § 1 Rn 312.

6.4 Beweislastmechanismus bei der betriebsbedingten Kündigung

143

beschäftigung des gekündigten Arbeitnehmers auf entsprechenden, freien Arbeitsplätzen des Betriebs oder des Unternehmens nicht in Betracht kommen 109 . Vom Arbeitnehmer kann dabei aber nach der herrschenden Auffassung zur Erfüllung der Informationslast jedenfalls nicht verlangt werden, daß er ganz konkret die gerade nicht besetzten Arbeitsplätze desselben Betriebs oder eines anderen Betriebs desselben Unternehmens kennt und bezeichnet, die für eine solche Umsetzung in Betracht kommen 110 .

6.4.3 Zwischenergebnis: Der Einsatz des Beweislastmechanismus bei der betriebsbedingten Kündigung Dem Einsatz des Beweislastmechanismus bei der betriebsbedingten Kündigung, so wie er vom Gesetzgeber in der Beweislastnorm des § 1 11 4 KSchG mit der Folge einer weitgehenden Herabsetzung des Informationsbedarfs des gekündigten Arbeitnehmers hinsichtlich der tatsächlichen Voraussetzungen der Kündigungsgründe vorgesehen ist, wird von der Rechtsprechung und der herrschenden Ansicht in der Literatur an einigen ausschlaggebenden Punkten die Gefolgschaft versagt. Die Überwälzung der Informationslasten auf den Arbeitgeber wird zum Teil dadurch korrigiert, daß für eine Reihe von Einzelelementen des betriebsbedingten Kündigungsgrundes die Darlegungs- und Beweislast dem Arbeitnehmer aufgebürdet wird und diesem insoweit eine Herabsetzung seines Informationsbedarfs für den Kündigungsschutzprozeß verweigert wird. Zum Teil erfolgt die Korrektur dadurch, daß die Darlegungs- und Beweislast zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer aufgeteilt oder "abgestuft" wird. Zu diesem Mittel wird vor allem dort gegriffen, wo der Arbeitgeber, beispielsweise bei Fehlen einer anderweitigen Weiterbeschäftigungsmöglichkeit des gekündigten Arbeitnehmers, mit der Darlegung bzw. Beweisführung für das Nichtvorliegen einer bestimmten Tatsache oder eines bestimmten Sachverhaltskomplexes belastet wäre. Die Abstufung der Informationslasten funktioniert dabei so, daß dem Arbeitnehmer nur eine eingeschränkte Herabsetzung seines Informationsbedarfs gewährt wird. Hinsichtlich der sonst durch Negativdarlegungen des Arbeitgebers auszuschließenden Bereiche soll der Arbeitnehmer nun doch zur 109 BAG AP Nm. 1,4 zu § 1 KSchG 1969 - betriebsbedingte Kündigung; BAG BB 1983, S. 1665; ArbG Münster DB 1983, S. 724; kritisch ArbG Stade DB 1984, S. 514; KR-Becker, KSchG, § 1 Rn 314; Herschel / Löwisch, KSchG, § 1 Rn 254; Neumann, Kündigung bei Krankheit, NJW 1978, S. 1840. 110 BAG AP Nr. 1 zu § 1 KSchG 1969 - Krankheit.

144

6. Prozeßmodell 11: Zum Beweislastmechanismus im Arbeitsrecht

konkreten Bezeichnung der Sachverhaltskomplexe und Einzeltatsachen verpflichtet bleiben, aus denen sich positiv das Vorliegen des jeweils auszuschließenden Merkmals ergeben soll. Die Folge für den ansonsten zu einer Negativdarlegung verpflichteten Arbeitgeber ist danach, daß er lediglich für die so eingegrenzten konkreten Tatsachen und Sachverhaltsbereiche das Vorliegen des umstrittenen Merkmals durch Darlegung und Beweisführung konkreter Einzeltatsachen auszuschließen hat. Im einzelnen ergibt sich nach allem folgende Strukturierung der Informationsbeziehungen bei der betriebsbedingten Kündigung: Der Arbeitgeber hat Informationen und Beweismittel zu den tatsächlichen Voraussetzungen der folgenden Tatbestandsmerkmale in den Prozeß einzuführen: (1) Das "betriebliche Erfordernis" (die innerbetriebliche Maßnahme muß tatsächlich ergriffen sein, die außerbetrieblichen Faktoren müssen tatsächlich vorliegen und entsprechende Auswirkungen auf den Arbeitsplatz des Gekündigten haben). Der Arbeitnehmer hat Informationen über äie tatsächlichen Voraussetzungen der folgenden Tatbestandsmerkmale in den Prozeß einzuführen: (2) Die "Willkürlichkeitskontrolle" (die unternehmerische Entscheidung ist nicht offensichtlich unsachlich, unvernünftig oder willkürlich). (3) Das "Dringlichkeitserfordernis" (die Beendigungskündigung ist ultima ratio, an ihrer Stelle ist keine andere Maßnahme wie Arbeitsstreckung, Kurzarbeit, Überstundenabbau, etc. sinnvoll und möglich).

Arbeitnehmer und Arbeitgeber haben im Wege einer abgestuften Informa-· tionslast die tatsächlichen Voraussetzungen folgender Tatbestandsmerkmale in den Prozeß einzuführen: (4) Die "Umsetzungsmöglichkeit" (für den Arbeitnehmer, dessen Arbeitsplatz durch die betriebliche Maßnahm~ weggefallen ist, besteht keine anderweitige Beschäftigungsmöglichkeit ,im Betrieb oder in einem anderen Betrieb des Unternehmens.

6.5 Beweislastmechanismus und Informationsbeziehungen bei der sozialen Auswahl des gekündigten Arbeitnehmers Machen betriebliche Erfordernisse eine Entlassung notwendig, so kann gemäß § 1 III 1 KSchG die Kündigung gleichwohl sozial ungerechtfertigt sein, wenn der Arbeitgeber bei der Auswahl unter mehreren Arbeitnehmern, bei denen eine Entlassung in Frage kommt, soziale Gesichtspunkte nicht oder

6.5 Beweislastmechanismus bei der sozialen Auswahl

145

nicht ausreichend berücksichtigt hat. Satz 2 des § 1 III KSchG normiert hierzu mit der Formulierung "Satz 1 gilt nicht, wenn" eine Ausnahme in den Fällen, in denen betriebstechnische, wirtschaftliche oder sonstige berechtigte betriebliche Bedürfnisse die Weiterbeschäftigung eines oder mehrerer sozial bessergestellter Arbeitnehmer bedingen. Diese sind bei der Auswahl nach sozialen Gesichtspunkten dementsprechend nicht zu berücksichtigen. Der folgende Satz 3 der Norm weist dem Arbeitnehmer die Beweislast für die Tatsachen zu, die "die Kündigung als sozial ungerechtfertigt im Sinne des Satzes 1 erscheinen lassen". Die Regelungen über die soziale Auswahl des gekündigten Arbeitnehmers bei betriebsbedingten Kündigungen haben die Aufgabe, sozusagen die personelle Konkretisierung der - nach den vorbezeichneten Merkmalen einer betriebs bedingten Kündigung anzuerkennenden - betrieblichen Anpassungsprozesse zu steuern. Anders als bei der verhaltens- oder personenbedingten Kündigung ist ja bei der betriebsbedingten Kündigung häufig zunächst durch die betrieblichen Erfordernisse nicht abschließend determiniert, welche Arbeitnehmer dadurch konkret betroffen sind. Diese Steuerung soll sich nun nach der Konzeption des Gesetzes an sozialen Gesichtspunkten orientieren. Dies bedeutet, daß demzufolge demjenigen, Arbeitnehmer gekündigt werden soll, der im Vergleich zu anderen Arbeitnehmern durch die Kündigung in seiner Lebensexistenz weniger schwer getroffen wird, das heißt in Relation zu den anderen in Betracht kommenden Arbeitnehmern auf seinen Arbeitsplatz am wenigsten angewiesen ist.

6.5.1 Die Kriterien der sozialen Auswahl Wie bei der Frage nach den dringenden betrieblichen Erfordernissen ist auch für den Bereich der sozialen Auswahl grundlegender Bezugspunkt der Betrieb. Die herrschende Auffassung lehnt daher alle Versuche zur Beschränkung des auswahlrelevanten Arbeitnehmerkreises auf einen bestimmten Betriebsteil oder dessen Ausweitung auf Arbeitnehmer in einem anderen Betrieb desselben Unternehmens ab 111 • In die soziale Auswahl sind dabei alle diejenigen Arbeitnehmer eines Unternehmens einzubeziehen, bei denen sich nach arbeitsplatzbezogenen 111 LAG Berlin EZA Nr. 20 zu § 1 KSchG - betriebsbedingte Kündigung; LAG Düsseldorf DB 1975, S. 1180; Hueck, KSchG, § 1 Rn 123; KR-Becker, KSchG, § 1 Rn 345; Herschel / Löwisch, KSchG, § 1 Rn 215; Galperin / Löwisch, BetrVG, § 102 Rn 58; Schaub, Handbuch des Arbeitsrechts, S. 825; Weng, Die soziale Auswahl bei der betriebsbedingten Kündigung, DB 1978, S. 884; aM (Betriebsteil) LAG Frankfurt AP Nm. 45,46 zu § 1 KSchG - betriebsbedingte Kündigung; Adomeit, AR-Blattei Kündigungsschutz I, B III 1; G. Müller, Zum Bereich der sozialen Auswahl bei § 1 III KSchG, DB 1956, S. 965; aM (Unternehmen) ArbG Rheine ARSt 1982, S. 190.

10 Haug

146

6. Prozeßmodell 11: Zum Beweislastmechanismus im Arbeitsrecht

Merkmalen eine Vergleichbarkeit ergibt 112 • Dabei geht es allerdings nicht um eine völlige Identität der Aufgabenbereiche und der Qualifikation, sondern es geht darum, ob von einer Austauschbarkeit, einer Substituierbarkeit in dem Sinne ausgegangen werden kann, daß der Arbeitnehmer, dessen Arbeitsplatz aufgrund der betrieblichen Gegebenheiten weggefallen ist, nach Art und Qualifikation auf dem anderen Arbeitsplatz, gegebenenfalls nach einer kurzen Einarbeitungszeit, weiterbeschäftigt werden könnte 113 . Nicht in den auswahlrelevanten Personenkreis fallen Arbeitnehmer, für deren Kündigung besondere Schutzvorschriften - etwa tarifliche Rationalisierungsschutzabkommen oder § 15 KSchG für betriebsverfassungsrechtliche Funktionsträger - einschlägig sind oder für die eine behördliche Genehmigung erforderlich ist, wie etwa nach § 9 MSchG und § 12 SchwerbG114. Die im Rahmen der sozialen Auswahl zu berücksichtigenden Auswahlkriterien dienen der Auffindung des Arbeitnehmers, der nach seiner sozialen Stellung unter mehreren vergleichbaren Arbeitnehmern am wenigsten dringend auf den Arbeitsplatz angewiesen ist. Diese Entscheidung, welchem Arbeitnehmer zu kündigen ist, soll unter Berücksichtigung und Abwägung aller vernünftigerweise in Betracht kommenden Einzelumstände erfolgen, die für die soziale Stellung des Arbeitnehmers kennzeichnend sind. Das Gesetz bietet weder ein feststehendes Kriteriensystem noch gibt es Hinweise darauf, welche allgemein geltende Rangfolge der zu berücksichtigenden sozialen Gesichtspunkte anzuwenden sein könnte. Nach allgemeiner Ansicht ist insofern eine Gesamtabwägung aller individuell relevanten Gesichtspunkte im jeweiligen Ei~zelfall zu treffen 115 . Zu den wichtigsten für die Sozialwahl relevanten Fak-

112 LAG Hamm DB 1983, S. 420; LAG Düsseldorf EZA Nr. 3 zu § 1 KSchG betriebsbedingte Kündigung; Herschel/ Löwisch, KSchG, § 1 Rn 217; Berkowsky, Betriebsbedingte Kündigung, Rn 173 ff.; Schaub, RdA 1981, S. 375; Weng, DB 1978, S. 885; Dudenborstel, Vergleichbarkeit und Leistungsbeurteilung bei der sozialen Auswahl, DB 1984, S. 826 ff., 828; Meisel, BB 1963, S. 1060; teilweise auch Wigo Müller, Die betriebsbedingte Kündigung im Kündigungsschutzprozeß, DB 1975, S. 2130. 113 KR-Becker, KSchG, § 1 Rn 347; Herschel / Löwisch, KSchG, § 1 Rn 218; Berkowsky, Betriebsbedingte Kündigung, Rn 180 ff.; Weng, DB 1978, S. 885. 114 Das ist unstreitig, vgl. KR-Becker, KSchG, § 1 Rn 349 f.; Herschel/ Löwisch, KSchG, § 1 Rn 222 f.; Berkowsky, Betriebsbedingte Kündigung, Rn 194 mwN; streitig ist, ob ein Arbeitnehmer mit einzelvertraglich vereinbartem Kündigungsausschluß ausscheidet, vgl. dazu weiter Gift, Vertragliche Kündigungsbeschränkungen, RdA 1969, S. 76 f. Dies darf jedenfalls nicht dazu führen, daß der Arbeitgeber so die Möglichkeit erhält, durch die Vereinbarung arbeitsvertraglicher Bestimmungen über den auswahlrelevanten Personenkreis zu disponieren. 115 BAP AP Nm. 1,7, 15 zu § 1 KSchG - betriebsbedingte Kündigung; BAG AP Nr. 12 zu § 1 KSchG 1969 - betriebsbedingte Kündigung; LAG München DB 1975, S. 1177; LAG Düsseldorf DB 1973, S. 2307; Hueck, KSchG, § 1 Rn 116 a, 127; KRBecker, KSchG, § 1 Rn 352 f.; Herschel / Löwisch, KSchG, § 1 Rn 130 f.; Berkowsky, Betriebsbedingte Kündigung, Rn 198 ff.; Rost, Die Sozialwahl bei der betriebsbedingten Kündigung, ZIP 1982, S. 1396; Weng, DB 1978, S. 886.

6.5 Beweislastmechanismus bei der sozialen Auswahl

147

toren zählen dabei das Lebensalter, die Dauer der Betriebszugehörigkeit sowie die Zahl der unterhaltsberechtigten Personen 116 . Weiter können die Vennögensverhältnisse, Schulden, Unterhalts ansprüche oder Nebeneinkünfte des betroffenen Arbeitnehmers genauso eine Rolle spielen wie seine Berufsaussichten auf dem Arbeitsmarkt oder das Bestehen von Gesundheitsschädigungen. Um die erheblichen Schwierigkeiten und Unklarheiten besser in den Griff zu bekommen, wurde in der Praxis versucht, Kriterienkataloge in der Fonn von außergerichtlichen Punktesystemen aufzustellen - etwa in Gestalt von Auswahlrichtlinien im Sinne des § 95 BetrVG117. Nach allgemeiner Ansicht können derartige Punktesysteme im betrieblichen Bereich im Interesse einer möglichst korrekten Durchführung der sozialen Auswahl und einer nachvollziehbaren Entscheidungsfindung durchaus angewandt werden, haben aber grundsätzlich, wegen der erforderlichen Abwägung aller Gesichtspunkte im Einzelfall, vor allem die Funktion einer Vorauswahl 118 . Für den gerichtlichen Bereich hat das Bundesarbeitsgericht neuerdings entschieden, daß die arbeitsgerichtliehe Überprüfung der Sozialauswahl nicht anhand eines schematischen Punktesystems erfolgen darf1 19 • Lange Zeit war weiter umstritten, inwieweit und auf welchem Wege besondere betriebliche Erfordernisse des Arbeitgebers gegenüber den sozialen Gesichtspunkten bei der Auswahl des zu kündigenden Arbeitnehmers zur Geltung zu bringen sind. Die ältere Rechtsprechung und eine starke Meinung im Schrifttum gingen davon aus, daß solche betrieblichen Belange, insbesondere Leistungsgesichtspunkte, im Rahmen der sozialen Auswahl nicht bedeutungslos seien, sondern zu den bei der Interessenabwägung zu berücksichtigenden Merkmalen zählen 12o • Neuerdings hat das Bundesarbeitsgericht diese Rechtsprechung aufgegeben und vertritt mit den Kritikern einer Berücksichtigung von betrieblichen Belangen im Rahmen der sozialen Auswahl nunmehr

116 BAG AP Nm. 7, 12 zu § 1 KSchG 1969 - betriebsbedingte Kündigung; BAG EZA Nr. 11 zu§ 1 KSchG - betriebsbedingte Kündigung; BAG EZA Nr. 1 zu § 95 BetrVG 1972; LAG Bad.-Württ. BB 1978, S. 1362; LAG Düsseldorf DB 1982, S. 1118; KR-Becker, KSchG, § 1 Rn 352; Herschel / Löwisch, KSchG, § 1 Rn 225 ff.; Schaub, RdA 1981, S. 376; Rost, ZIP 1982, S. 1396; Weng, DB 1978, S.886. 117 Vgl. etwa neuerdings den Versuch von Berkowsky, Betriebsbedingte Kündigung, Rn 207 b oder früher das System bei Wigo Müller, DB 1975, S. 2133; für gerichtliche Tabellen vgl. LAG Hamm DB 1982, S. 2195 oder LAG Düsseldorf DB 1982, S. 1935. 118 Dazu Rost, ZIP 1982, S. 1398; ebenso KR-Becker, KSchG, § 1 Rn 357; Berkowsky, Betriebsbedingte Kündigung, Rn 207 a und NJW 1983, S. 1296. 119 So 1983 BAG AP Nr. 12 zu § 1 KSchG 1969 - betriebs bedingte Kündigung. 120 BAG AP Nm. 1,7 zu § 1 KSchG - betriebsbedingte Kündigung, Hueck, KSchG, § 1 Rn 117 b ff.; Stahlhacke, Kündigung, Rn 523; Berkowsky, Leistungsbezogene oder verhaltensbedingte Gesichtspunkte bei der sozialen Auswahl im Rahmen der betriebsbedingten Kündigung, DB 1983, S. 388.

10'

148

6. Prozeßmodell 11: Zum Beweislastmechanismus im Arbeitsrecht

die Ansicht, daß betriebliche Belange ausschließlich im Rahmen der Ausnahmevorschrift des § 1 In 2 KSchG Relevanz entfalten. Somit besteht also eine Verpflichtung zur sozialen Auswahl nur dann nicht, wenn betriebstechnische, wirtschaftliche oder sonstige berechtigte betriebliche Bedürfnisse die Weiterbeschäftigung bedingen 121.

6.5.2 Zur Verteilung der Informationslasten bei der sozialen Auswahl Nach der Regelung in § 1 In 3 KSchG trifft den Arbeitnehmer hinsichtlich der sozialen Auswahl einer betriebsbedingten Kündigung die Beweislast. An dieser Beweislastregel hat sich rechtspolitisch seit langem aufgrund der Überlegung Kritik entzündet, daß der Arbeitgeber häufig die der sozialen Auswahlentscheidung zugrunde liegenden Tatsachen sehr viel besser kenne, als der beweisbelastete Arbeitnehmer l22 . Zur Linderung der dem Arbeitnehmer insofern auferlegten Last wurde 1969 die Vorschrift des § 1 In 1 letzter Halbs. KSchG in das Kündigungsschutzgesetz eingeführt, nach der der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer auf Verlangen die Gründe anzugeben hat, die zu der durch ihn getroffenen sozialen Auswahl geführt haben l23 . Nach ganz überwiegender Ansicht ist aus dieser gesetzlichen Norm, die dem Arbeitnehmer einen materiellrechtlichen Auskunftsanspruch einräumt, für den Kündigungsschutzprozeß der Schluß auf eine von der objektiven Beweislast abweichende Darlegungslast zu ziehen. Danach ist eine abgestufte Verteilung der Darlegungslast für die tatsächlichen Voraussetzungen der sozialen Auswahl zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer wie folgt vorzunehmen l24 :

121 Dazu BAG AP Nr. 12 zu § 1 KSchG 1969 - betriebsbedingte Kündigung mit ausführlichen Nachweisen; vgl. auch die Nachweise zur früheren Rechtsprechung bei Berkowsky, BB 1983, S. 2059; vorher insbesondere so KR-Becker, KSchG, § 1 Rn 363 ff. mwN; ebenso LAG Hamm DB 1976, S. 1822; ArbG Wetzlar BB 1983, S. 1607; Herschel / Löwisch, KSchG, § 1 Rn 213 aE; Rost, ZIP 1982, S. 1401; Schaub, RdA 1981, S.376. 122 LAG DüsseldorfDB 1982, S. 1935; ArbG Münster BB 1981, S. 912; KR-Becker, KSchG, § 1 Rn 373; Wigo Müller, DB 1975, S. 2130; Westhoff, Die Sozialauswahl- zur Darlegungs- und Beweislast im Kündigungsschutzprozeß, DB 1983, S. 2465. 123 Durch das erste Arbeitsrechtsbereinigungsgesetz vom 14. Aug. 1969, BGBl. I, S. 1106. 124 BAG AP Nr. 12 zu § 1 KSchG 1969 - betriebsbedingte Kündigung, LAG Bremen AuR 1983, S. 216; LAG Hamm DB 1971, S. 1575; KR-Becker, KSchG, § 1 Rn 369 ff.; Herschel / Löwisch, KSchG, § 1 Rn 254; Wigo Müller, DB 1975, S. 2135; Rost, ZIP 1982, S. 1405; Weng, DB 1978, S. 889; aM LAG Berlin EZA Nr. 16 zu § 1 KSchGbetriebsbedingte Kündigung; LAG München DB 1982, S. 2302; Hueck, KSchG, § 1 Rn 151 a; Stahlhacke, Kündigung, Rn 524; Berkowsky, Betriebsbedingte Kündigung, Rn 509 ff., die der materiellen Auskunftspflicht keinerlei Bedeutung zumessen wollen.

6.5 Beweislastmechanismus bei der sozialen Auswahl

149

Den Arbeitnehmer trifft hier in informationeller Hinsicht zunächst lediglich die Last, den Arbeitgeber aufzufordern, die Gründe für seine Sozialauswahl mitzuteilen. Danach hat der Arbeitgeber die tatsächlichen Voraussetzungen der von ihm getroffenen sozialen Auswahl in den Prozeß einzuführen. Auf dieser Basis trifft dann wiederum den Arbeitnehmer die abgestufte Darlegungslast, vorzutragen, weIche der vom Arbeitgeber mit ihren Sozialdaten benannten Arbeitnehmer sozial weniger schutzwürdig sind als der Gekündigte oder inwiefern der Arbeitgeber den für die Sozialauswahl heranzuziehenden Personenkreis mit vergleichbaren Arbeitsplatzmerkmalen unzutreffend abgegrenzt hat 125 • Der Ausnahmetatbestand des § 1 111 2 KSchG ist in der Beweislastregel des § 1 111 3 KSchG nicht genannt. Daraus sowie aus der systematischen Stellung

des Satzes 2 in dieser Norm ergibt sich, daß der Arbeitgeber die tatsächlichen Voraussetzungen dieses Ausnahmetatbestandes in den Prozeß einzuführen hat. Er hat also jeweils im einzelnen die konkreten Tatsachen darzulegen, die eine Weiterbeschäftigung eines oder mehrerer" Arbeitnehmer aus betriebstechnischen, wirtschaftlichen oder sonstigen berechtigten betrieblichen Bedürfnissen bedingen 126.

6.5.3 Zwischenergebnis: Der Einsatz des Beweislastmechanismus bei der sozialen Auswahl Die Beweislastnorm des § 1 111 3 KSchG bringt in ihren Auswirkungen für die Gestaltung der Informationsbeziehungen im Prozeß eine Herabsetzung des Informationsbedarfs des allerdings ohnehin informierten Arbeitgebers. Deshalb liegt es nahe, ihren wesentlichen Sinn in einer gesetzlichen Normierung der objektiven Beweislast zu sehen. Dieser Gesichtspunkt wird dadurch verstärkt, daß der Gesetzgeber in dieselbe Norm des § 1 111 KSchG eine ergänzende Regelung für die Gestaltung der Informationsbeziehungen zwischen den Konfliktbeteiligten eingefügt hat. Die überwiegende Auffassung geht deshalb davon aus, daß im Bereich des Tatbestands von § 1 111 1, letzter Halbs. KSchG neben materiellrechtlichen Ansprüchen auch prozessuale Folgewirkungen veranlaßt sind. Danach ergibt sich im einzelnen für die Verteilung der Informationslasten bei der sozialen Auswahl:

Arbeitnehmer und Arbeitgeber haben abgestuft die Informationen über die tatsächlichen Voraussetzungen der folgenden Tatbestandsmerkmale in den Prozeß einzuführen: Vgl. Nachweise Fn 124. Ganz hM, BAG AP Nm. 25 und 26 zu § 1 KSchG; Hueck, KSchG, § 1 Rn 151 b; KR-Becker, KSchG, § 1 Rn 374; Herschel/ Läwisch, KSchG, § 1 Rn 255; Prütting, Gegenwartsprobleme der Beweislast, S. 325. 125

126

150

6. Prozeßmodell II: Zum Beweislastmechanismus im Arbeitsrecht

(1) Die "Berücksichtigung sozialer Gesichtspunkte" (der Arbeitgeber hat bei der Auswahl des gekündigten Arbeitnehmers soziale Gesichtspunkte nicht oder nicht ausreichend berücksichtigt). Der Arbeitgeber hat Informationen über die tatbestandlichen Voraussetzungen der folgenden Tatbestandsmerkmale in den Prozeß einzuführen: (2) Die "besonderen betrieblichen Bedingungen" (bestimmte Arbeitnehmer sind aus besonderen betriebstechnischen, wirtschaftlichen oder sonstigen berechtigten betrieblichen Bedürfnissen bei der Sozialauswahl nicht zu berücksichtigen) .

6.6 Der Beweislastmechanismus bei der krankheitsbedingten Kündigung Die krankheitsbedingte Kündigung ist einer der praktisch wichtigsten Fälle einer personenbedingten Kündigung. Eine solche krankheitsbedingte Kündigung setzt voraus, daß aufgrund der bisherigen Erkrankung bzw. der bisherigen Erkrankungen des Arbeitnehmers der Schluß berechtigt ist, eine langfristige Besserung des Gesundheitszustandes des Arbeitnehmers werde nicht mehr eintreten. Eine so begründete Kündigung kommt dabei immer dann in Betracht, wenn durch die Gründe in der Person des Arbeitnehmers die betrieblichen Interessen in nicht zumutbarer Weise beeinträchtigt werden 127 • Maßgeblich für die Beurteilung dieser Gesichtspunkte ist aber immer die Situation zum Zeitpunkt des Zugangs der krankheitsbedingten Kündigung 128 • Als typische Formen lassen sich dabei nach allgemeiner Ansicht eine krankheits bedingte Kündigung wegen lang anhaltender Krankheit, eine Kündigung wegen häufiger Kurz127 BAG AP Nr. 7 zu § 1 KSchG 1969 - Krankheit; BAG EZA Nr. 6 zu § 1 KSchG - Krankheit, BAG BB 1982, S. 805, BAG BB 1983, S. 1988; KR-Becker, KSchG, § 1 Rn, 210; Herschell Löwisch, KSchG, § 1 Rn 141; Lepke, Kündigung bei Krankheit, 6. Auf!. 1984, S. 19; Popp, Häufige Kurzerkrankungen als Kündigungsgrund, AuR 1979, S. 42; Popp, Materiellrechtliche und prozessuale Probleme bei der krankheitsbedingten Kündigung, DB 1981, S. 2611 ff.; Weller, Kündigung bei Krankheit, Das Arbeitsrecht der Gegenwart, 20 (1983), S. 77; Birkner-Kuschyk I Tschöpe, Neue Aspekte zur krankheitsbedingten Kündigung, DB 1981, S. 264; OUow, Kündigung wegen lang andauernder Krankheit, DB 1977, S. 306; Neumann, Kündigung bei Krankheit, NJW 1978, S. 1838 ff.; Adam, Die Kündigung bei lang anhaltender Krankheit im Großbetrieb, RdA 1981, S. 280 und Baumann, Krankheitsbedingte Kündigung aus der Sicht des Praktikers, BB 1982, S. 1308. 128 BAG AP Nr. 1 zu § 1 KSchG - Krankheit; BAG EZA Nr. 5 zu § 1 KSchG Krankheit; KR-Becker, KSchG, § 1 Rn 211; Hueck, KSchG, § 1 Rn 83; Lepke, Kündigung bei Krankheit, S. 24; Weller, Das Arbeitsrecht der Gegenwart, 20 (1983), S. 77 ff., 79; Denck, Kündigung des Arbeitnehmers wegen häufiger Kurzerkrankungen, JuS 1978, S. 156.

6.6 Beweislastmechanismus bei der krankheitsbedingten Kündigung

151

erkrankungen und eine Kündigung wegen krankheitsbedingter Minderung der Leistungsfähigkeit unterscheiden 129 •

6.6.1 Die Voraussetzungen einer krankheitsbedingten Kündigung Bei den Tatbestandsmerkmalen einer Krankheitskündigung des Arbeitnehmers ergeben sich in den drei typischen Fallgruppen teilweise Unterschiede, teilweise aber auch Gemeinsamkeiten. Die Besprechung der einzelnen Merkmale erfolgt hier zusammengefaßt, wobei jeweils an entsprechender Stelle auf unterschiedliche Anforderungen bei diesen drei Falltypen extra hingewiesen wird. 6.6.1.1 Die krankheitsbedingten Fehlzeiten

Voraussetzung für eine krankheitsbedingte Kündigung ist zunächst das Vorliegen krankheitsbedingter Fehlzeiten des Arbeitnehmers im Betrieb, die nach Dauer, Ausmaß und betrieblichen Auswirkungen ohne absehbare Änderung in der Zukunft so gravierend geworden sind, daß dem Arbeitgeber eine weitere Hinnahme dieser krankheitsbedingten Arbeitsausfälle nicht länger zugemutet werden kann. Der entsprechende Zeitraum, der bis zum Zeitpunkt der Kündigung des Arbeitgebers verstrichen sein muß, läßt sich nicht schematisch festlegen, sondern nur aufgrund einer Abwägung der konkreten Umstände des Einzelfalles bestimmen. Daß der Arbeitgeber allerdings in bestimmtem Umfang krankheitsbedingte AusfallzeiteIi hinzunehmen hat, ergibt sich schon aus den gesetzlichen Vorschriften über die Lohnfortzahlung in §§ 616 II BGB, 1 I LFZG, 63 HGB, 133 c GewO. Für die Kündigung wegen einer lang anhaltenden Krankheit des Arbeitnehmers wird daraus geschlossen, daß jedenfalls ein Zeitraum von 6 Wochen noch nicht die Voraussetzungen einer krankheitsbedingten Kündigung erfüllen kann. So lange soll der Arbeitgeber in jedem Falle abwarten müssen130 • Ande129 Vgl. BAG AP Nr. 5 zu § 1 KSchG - Krankheit und BAG AP Nr. 5 zu § 1 KSchG 1969 - Krankheit (zur lang anhaltenden Krankheit); BAG AP Nr. 4 zu § 1 KSchG 1969 - Krankheit (zu häufigen Kurzerkrankungen); Hueck, KSchG, § 1 Rn 83; KR-Becker, KSchG, § 1 Rn 211; Herschel / Löwisch, KSchG, § 1 Rn 141 ff.; Popp, AuR 1979, S. 42; Birkner-Kuschyk / Tschöpe, DB 1981, S. 264. 130 BAG EZA Nr. 5 zu § 1 KSchG - Krankheit; LAG Düsseldorf BB 1976, S. 646; LAG Frankfurt AP Nr. 1 zu § 72 HGB; KR-Becker, KSchG, § 1 Rn 312; Herschel / Löwisch, KSchG, § 1 Rn 142; Lepke, Kündigung bei Krankheit, S. 31; Neumann, NJW 1978, S. 1840; Denck, JuS 1978, S. 159; teilweise so auch das BAG, das vor allem die Unmöglichkeit jeglicher Generalisierung und Schematisierung in den Vordergrund stellt, vgl. BAG AP Nr. 7 zu § 1 KSchG 1969 - Krankheit; ebenso Weller, Das Arbeitsrecht der Gegenwart, 20 (1983), S. 84; aA Ottow, DB 1977, S. 306, der eine Anbindung an die Kündigungsfrist nahelegt; dagegen Hueck, KSchG, § 1 Rn 83 b; BirknerKuschyk / Tschöpe, DB 1981, S. 264; dagegen auch BAG AP Nr. 7 zu § 1 KSchG 1969 - Krankheit.

152

6. Prozeßmodell 11: Zum Beweislastmechanismus im Arbeitsrecht

rerseits kann man auch nicht daraus, daß der Arbeitgeber eine Aushilfskraft unbefristet eingestellt hat, schließen, daß 6 Monate die äußerste Grenze der erforderlichen Hinnahme darstellen, weil sonst für diese Aushilfskraft der arbeitsrechtliche Kündigungsschutz einschlägig würde l3l . Ähnlich wird für die Kündigung wegen häufiger Kurzerkrankungen des Arbeitnehmers angenommen, daß zusammenaddierte Fehlzeiten von nicht mehr als insgesamt 6 Wochen jährlich nichts ausmachen. Eine gewisse Schematisierung wird teilweise dahingehend angenommen, daß bei einer zusammengefaßten Dauer der Fehlzeiten von mehr als dem lOfachen des gewöhnlichen Krankenstandes 132 oder ab einer Fehlzeitquote von 15 - 25 % der regelmäßigen Arbeitszeit jedenfalls von einem Vorliegen "häufiger Kurzerkrankungen" auszugehen ist 133 • Die Rechtsprechung geht zwar bei entsprechenden Fehlzeitquoten zumeist ebenfalls von einer Häufigkeit der Kurzerkrankungen aus 134, lehnt dabei aber in Übereinstimmung mit vielen Stimmen der Literatur l35 die Festlegung von generalisierten Maßstäben ab 136 • 6.6.1.2 Negative Zukunftsprognose

Aus dem besonderen Charakter einer betriebsbedingten Kündigung erkiärt sich schon, daß eine solche Kündigung immer dann nicht mehr sozial gerechtfertigt ist, wenn im Zeitpunkt der Kündigung - als maßgeblichem Beurteilungszeitpunkt - schon feststeht, daß ein baldiges Ende der Krankheit abzusehen ist. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn die Krankheit annähernd ausgeheilt ist und keine Wiederholungsgefahr besteht, also umgehend wieder mit einer vollumfänglichen, andauernden Arbeitsaufnahme des Arbeitnehmers zu rechnen ist 137 • Ein personenbedingter Kündigungsgrund liegt demgemäß nur 13l So Schaub, Handbuch des Arbeitsrechts, § 129 11 5 c, ähnlich Herschel/ Löwisch, KSchG, § 1 Rn 142, der Schaubs Vorschlag zwar ablehnt, aber meint, daß bei Nichtabsehbarkeit des Krankheitsendes nach 6 Monaten der Arbeitgeber Gelegenheit zur Schaffung klarer Verhältnisse und Disposition über den Arbeitsplatz ermächtigt werden müsse; dagegen die hM, vgl. die Nachweise Fn 130. 132 Herschel / Löwisch, KSchG, § 1 Rn 143. 133 LAG Hamm EZA Nr. 8 zu § 1 KSchG - Krankheit, LAG Hamm BB 1981, S. 733 und BB 1983, S. 701; Weisemann, Krankheit und Kündigungsschutzrecht, BB 1977, S. 1647 ff.; Schukai, Kündigung wegen häufiger Fehlzeiten, DB 1976, S. 2015 ff. 134 BAG BB 1983, S. 1988; BAG EZA Nm. 4, 5 zu § 1 KSchG - Krankheit; LAG Düsseldorf DB 1983, S.723 und DB 1972, S. 2023; LAG BadenWürtt. DB 1965, S. 223; LAG Schleswig-Holstein DB 1981, S. 5974; ArbG Berlin DB 1976, S. 2076 und ArbG Wuppertal AuR 1979, S. 186. 135 KR-Becker, KSchG, § 1 Rn 215; Lepke, Kündigung bei Krankheit, S. 38; Stahlhacke, Kündigung, Rn 474; Weller, Das Arbeitsrecht der Gegenwart 20 (1983), S. 83; Popp, AuR 1979, S. 45; Birkner-Kuschyk / Tschöpe, DB 1981, S. 265. 136 Vgl. Nachweise Fn 134. 137 Allgemeine Ansicht, vgl. BAG EZA Nr. 5 zu § 1 KSchG mwN.

6.6 Beweislastrnechanisrnus bei der krankheitsbedingten Kündigung

153

vor, wenn aufgrund der lang anhaltenden oder häufigen kurzen Erkrankungen des Arbeitnehmers davon auszugehen ist, daß der Arbeitnehmer seinen Arbeitsplatz in absehbarer Zeit nicht wieder ausfüllen können wird und deshalb dem Arbeitgeber ein weiteres Zuwarten nicht mehr zuzumuten ist. Hierfür ist eine negative Prognose über die zukünftige Entwicklung des Gesundheitszustandes des Arbeitnehmers ab dem Zeitpunkt der Erklärung der Kündigung erforderlich. Bei der krankheitsbedingten Kündigung wegen häufiger Kurzerkrankungen ist zur Ausfüllung dieses Merkmales nach allgemeiner Ansicht zu fordern, daß nach Art, Dauer und Häufigkeit der bisherigen Erkrankungen im Zeitpunkt der Kündigungserklärung keine Besserung absehbar ist, sondern für die Zukunft Wiederholungsgefahr besteht, also mit weiteren krankheitsbedingten Arbeitsausfällen zu rechnen ist 138 . Bei einer Kündigung wegen lang anhaltender Erkrankung des Arbeitnehmers kommt es demgegenüber naturgemäß nicht auf die Gefahr einer Wiederholung an, sondern insofern ist eine Prognose dahingehend erforderlich, ob zum Zeitpunkt der Kündigungserklärung eine Wiederherstellung der Arbeitskraft des Arbeitnehmers nicht mehr in einem Zeitraum absehbar ist, für den dem Arbeitgeber die Durchführung von Überbrückungsmaßnahmen wie die Einstellung von Aushilfskräften, die Durchführung von personellen Umorganisationen oder die Anordnung von Überstunden noch zumutbar oder noch möglich ist 139 • Bevor der Arbeitgeber aus Anlaß einer Krankheit des Arbeitnehmers die Kündigung ausspricht, ist er verpflichtet, sich über den Gesundheitszustand des Arbeitnehmers und dessen voraussichtliche Weiterentwicklung zu informieren 140 • Eine Kündigung soll nach nunmehr herrschender Ansicht jedoch nicht schon allein deswegen sozialwidrig sein, weil der Arbeitgeber seiner Erkundigungspflicht nicht nachgekommen ist 141 , weil in kündigungsrechtlicher 138 BAG AP Nm. 2, 4 zu § 1 KSchG 1969 - Krankheit; BAG EZA Nr. 5 zu § 1 KSchG - Krankheit; Herschel / Löwisch, KSchG, § 1 Rn 143; Hueck, KSchG, § 1 Rn 83; KR-Becker, KSchG, § 1 Rn 214; Stahlhacke, Kündigung, Rn 476; Lepke, Kündigung bei Krankheit, S. 32 f. rnwN, zur instanzgerichtlichen Rspr. Fn 134. 139 BAG EZA Nr. 5 zu § 1 KSchG - Krankheit; BAG AP Nr. 4 zu § 1 TVG - Tarifverträge; BAG AP Nm. 4, 7 zu § 1 KSchG 1969 - Krankheit; BAG BB 1983, S. 1988; Neumann NJW 1978, S. 1840; Birkner-Kuschyk / Tschöpe, DB 1981, S. 265; Meisel, Kündigung wegen Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit, DB 1981, S. 1724; Schukai, DB 1976, S. 2015; Weller, Arbeitsrecht der Gegenwart 20 (1983), S. 79 f.; KR-Becker, KSchG, § 1 Rn 213; Herschel / Löwisch, KSchG, § 1 Rn 141; Lepke, Kündigung wegen Krankheit, S. 30. 140 BAG AP Nr. 1 zu § 1 KSchG - Krankheit; BAG AP Nm. 4,6 zu § 1 KSchG 1969 - Krankheit; KR-Becker, KSchG, § 1 Rn 212; Meisel, DB 1981, S. 1724; ÜUow, DB 1977, S. 306; Schukai, DB 1976, S. 2015 f.: aA Lepke, Kündigung wegen Krankheit, S. 25 ff. 141 BAG EZA Nr. 4 zu § 1 KSchG - Krankheit; BAG AP Nr. 14 zu § 102 BetrVG 1972; Hueck, KSchG, § 1 Rn 83 a; KR-Becker, KSchG, § 1 Rn 212; Popp, AuR 1979, S. 45; Birkner-Kuschyk / Tschöpe, DB 1981, S. 267; Neumann, NJW 1978, S. 1839.

154

6. Prozeßmodell 11: Zum Beweislastmechanismus im Arbeitsrecht

Hinsicht allein auf die objektive Rechtslage zum Zeitpunkt der Kündigung abzustellen ist. 6.6.1.3 Betriebliche Auswirkungen

Die soziale Rechtfertigung einer krankheitsbedingten Kündigung ist neben den entsprechenden krankheitsbedingten Fehlzeiten bzw. dem Vorliegen einer negativen Prognose über den weiteren Gesundheitsverlauf des Arbeitnehmers auch davon abhängig, ob die eingetretenen Fehlzeiten überhaupt konkret nachteilige Auswirkungen auf den Betriebsablauf haben. Während dies für die Kündigung wegen häufiger Kurzerkrankungen allgemeiner Ansicht entspricht 142 , wird dies für eine Kündigung wegen lang anhaltender Erkrankung des Arbeitnehmers vereinzelt bestritten und die Meinung vertreten, das alleinige Vorliegen einer lange andauernden Erkrankung des Arbeitnehmers führe ohne weiteres zur sozialen Rechtfertigung der arbeitgeberseitigen Kündigung 143 . Nach herrschender Auffassung trägt dies aber dem Charakter der Krankheitskündigung als einer personenbedingten Kündigung nicht hinreichend Rechnung. Für diese sei zu fordern, daß der Arbeitgeber Überbrückungsmaßnahmen trifft, soweit sich nicht aus betrieblichen Gründen eine anderweitige Disposition als erforderlich erweist. 6.6.1.4 Anderweitige Beschäftigungsmöglichkeiten

Wie bei der betriebsbedingten Kündigung ist auch eine Kündigung wegen Krankheit des Arbeitnehmers nur dann sozial gerechtfertigt, wenn die Beendigungskündigung im Sinne des ultima ratio-Prinzips unabdingbar ist. Dies ist insbesondere dann nicht der Fall, wenn der gekündigte Arbeitnehmer auf einem anderen Arbeitsplatz desselben Betriebs bzw. auf einem Arbeitsplatz eines anderen Betriebs desselben Unternehmens weiterbeschäftigt werden kann. Bei der Kündigung wegen lang anhaltender Krankheit wird sich diese Frage insbesondere dann stellen, wenn der Arbeitsplatz des betreffenden Arbeitnehmers mittlerweile endgültig besetzt werden mußte. Bei der Kündigung wegen häufiger Kurzerkrankungen des Arbeitnehmers werden im Hinblick auf dieses Merkmal besonders eingehende Anforderungen zu stellen sein, wenn zwischen dem speziellen Anforderungsprofil des Arbeitsplatzes des gekündigten 142 BAG AP NI. 7 zu § 1 KSchG 1969 - Krankheit; BAG EZA NI. 5 zu § 1 KSchG - Krankheit; KR-Becker, KSchG, § 1 Rn 213; Herschel / Löwisch, KSchG, § 1 Rn 142; Stahlhacke, Kündigung, Rn 473; Lepke, Kündigung bei Krankheit, S. 40; Berkowsky, Interessenabwägung bei der krankheitsbedingten Kündigung, DB 1981, S. 910. 143 So insbesondere Aden, RdA 1981, S. 280 ff.; dagegen ausdrücklich BAG DB 1982, S. 1048; zweifelnd Birkner-Kuschyk / Tschöpe, DB 1981, S. 268.

6.6 Beweislastmechanismus bei der krankheitsbedingten Kündigung

155

Arbeitnehmers und den Krankheitsursachen der häufigen Fehlzeiten des gekündigten Arbeitnehmers ein sachlicher Zusammenhang gegeben ist 144 • Darüber hinaus hat dieses Merkmal der sozialen Rechtfertigung einer krankheitsbedingten Kündigung besondere Relevanz für die Kündigung wegen einer Minderung der Leistungsfähigkeit des betroffenen Arbeitnehmers. Dies ist insbesondere dann gegeben, wenn dieser absehbar auf Dauer oder auf längere Zeit die von ihm geschuldete Arbeitsleistung ganz oder teilweise nicht mehr wird erbringen können 144 • Beruht eine derartige Minderung der Leistungsfähigkeit des Arbeitnehmers auf einem Betriebsunfall, so sind besonders strenge Anforderungen an die Prüfung der Möglichkeit einer anderweitigen Beschäftigung des Arbeitnehmers zu stellen 145 •

6.6.2 Zur Verteilung der Informationslasten bei der krankheitsbedingten Kündigung Ebenso wie bei der betriebsbedingten Kündigung gilt für die krankheitsbedingte Kündigung grundsätzlich die Beweislastnorm des § 1 11 4 KSchG. Danach hat der Arbeitgeber die Kündigungstatsachen zu beweisen. 6.6.2.1 Informationslasten hinsichtlich der Fehlzeiten

Das Vorliegen der Kündigungstatsachen einer lang andauernden Krankheit des Arbeitnehmers bzw. häufig wiederkehrender Kurzerkrankungen hat nach allgemeiner Ansicht der Arbeitgeber im Kündigungsschutzprozeß darzulegen und gegebenenfalls Beweis dafür zu führen. 6.6.2.2 Informationslastverteilung bei der Prognose

Zunächst trifft den Arbeitgeber grundsätzlich auch die Last, in den Prozeß die Informationen einzuführen, aus denen sich ergibt, daß bei lang anhaltender Krankheit eine völlige Wiederherstellung des Gesundheitszustandes des Arbeitnehmers nicht absehbar ist bzw. bei häufigen Kurzerkrankungen eine Besserung nicht zu erwarten steht, sondern eine Wiederholung der häufigen

144 BAG AP Nr. 1 zu § 1 KSchG 1969 - Krankheit; BAG AP Nr. 18 zu § 1 KSchG; BAG AP Nr. 1 zu § 626 BGB - Krankheit; LAG Frankfurt AuR 1978, S. 51; LAG DüsseldorfDB 1979, S. 607; LAG Berlin DB 1955, S. 834; Hueck, KSchG, § 1 Rn 115; Herschel / Löwisch, KSchG, § 1 Rn 145; KR-Becker, KSchG, § 1 Rn 217; Lepke, Kündigung bei Krankheit, S. 3; Stahlhacke, Kündigung, Rn 477; Schaub, Handbuch des Arbeitsrechts, S. 803. 145 LAG Düsseldorf DB 1979, S. 607; LAG Köln BB 1982, S. 1731.

156

6. Prozeßmodell 11: Zum Beweislastmechanismus im Arbeitsrecht

Kurzerkrankungen in der Zukunft zu befürchten ist l46 • Hat allerdings der Arbeitnehmer in eine ärztliche Begutachtung nicht eingewilligt oder dem Arbeitgeber Einsicht in das ärztliche Gutachten verwehrt, so sind keine strengen Anforderungen an diese Inforrnationslasten des Arbeitgebers zu stellen 147 • Nach herrschender Auffassung besteht bei den Prognosetatsachen insofern eine abgestufte Darlegungslast zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, daß nach den Darlegungen des Arbeitgebers zur Art, Dauer und Häufigkeit der bisherigen Erkrankungen der Arbeitnehmer die Informationslast dafür trägt, daß aus den vom Arbeitgeber dargelegten Gesichtspunkten nicht der Schluß gezogen werden kann, daß mit keiner baldigen Wiederherstellung seines Gesundheitszustandes bzw. mit einer Gefahr der Wiederholung weiterer Erkrankungen in seiner Person gerechnet werden könne 148 • Der Arbeitnehmer genügt dabei seinen Informationspflichten nicht schon dadurch, daß er seine Ärzte von der Schweigepflicht entbindet 149 • Verhindert der Arbeitnehmer allerdings die Beweisführung, etwa indem er von der ärztlichen Schweigepflicht der behandelnden Ärzte nicht entbindet, so kann dies nach den Regelungen über die Beweisvereitelung dazu führen, daß das Gericht vom Vorliegen der negativen Prognose ausgeht 150 • Teilweise wird eine generelle Überwälzung der Informationslasten für die Zukunftsprognose auf den Arbeitnehmer für die Fälle befürwortet, in denen bei einer Kündigung wegen häufiger Kurzerkrankungen eine erhebliche Fehlquote von mindestens 15 - 25 % vorliegt151 • Die herrschende Meinung geht demgegenüber davon aus, daß allein aus einer hohen Fehlquote nicht zwingend auf eine Wiederholungsgefahr geschlossen werden kann. Ein dahinge-

146 BAG DB 1983, S. 1988; BAG AP NT. 4 zu § 1 KSchG 1969 - Krankheit; Hueck, KSchG, § 1 Rn 83 a; KR-Becker, KSchG, § 1 Rn 213 a; Weller, Das Arbeitsrecht der Gegenwart 20 (1983), S. 88 f.; Osthold, Die Beweislage bei Kündigung wegen Krankheit, BB 1982, S. 1306; Popp, BB 1980, S. 684; Konzen, ZfA 1978, S. 538. 147 Vgl. dazu KR-Becker, KSchG, § 1 Rn 213 a; Lepke, Kündigung bei Krankheit, S. 52 mwN.; Popp, BB 1980, S. 684; Osthold, BB 1982, S. 1306. 148 BAG DB 1983, S. 1047; BAG AP NT. 4 zu § 1 KSchG 1969 - Krankheit; BAG EZA NT. 4 zu § 1 KSchG - Krankheit; BAG EZA NT. 30 zu § 102 BetrVG 1972; Hueck, KSchG, § 1 Rn 83 a; KR-Becker, KSchG, § 1 Rn 213 a; Lepke, Kündigung bei Krankheit, S. 52; Weller, Das Arbeitsrecht der Gegenwart 20 (1983), S. 90; Popp, DB 1981, S. 2615 f.; Osthold, BB 1982, S. 1306. 149 BAG AP Nr. 4 zu § 1 KSchG 1969 - Krankheit; KR-Becker, KSchG, § 1 Rn 213 a; Lepke, Kündigung bei Krankheit, S. 53; aA Popp, DB 1981, S. 2616 und Weller, Das Arbeitsrecht der Gegenwart 20 (1983), S. 89 f. 150 LAG Hamm BB 1982, S. 496; KR-Becker, KSchG, § 1 Rn 213 a; Lepke, Kündigung bei Krankheit, S. 53; Weller, Das Arbeitsrecht der Gegenwart 20 (1983), S. 90. 151 Denck, JuS 1978, S. 156 ff.; Schukai, DB 1976, S. 2015; Weisemann, BB 1977, S. 1967; vgl. auch LAG Hamm EZA NT. 8 zu § 1 KSchG - Krankheit und ArbG Berlin DB 1976, S. 2072.

6.6 Beweislastmechanismus bei der krankheitsbedingten Kündigung

157

hender medizinischer Erfahrungssatz läßt sich in der Praxis nicht feststellen, so daß insofern von einem typischen Geschehensablauf nicht gesprochen werden kann. Eine Anwendung der Grundsätze des Anscheinsbeweises wird deshalb zutreffend abgelehnt 152 . 6.6.2.3 Informationslasten für die betrieblichen Erfordernisse

Hinsichtlich der infolge der krankheitsbedingten Fehlzeiten des Arbeitnehmers zu erwartenden unzumutbaren betrieblichen oder wirtschaftlichen Beeinträchtigungen und der Art und Weise, in der sich diese Fehlzeiten bislang bzw. in naher Zukunft störend auf den Betrieb auswirken, obliegt dem Arbeitgeber die Last der Einführung der entsprechenden Tatsachen in den Prozeß. Dabei sind nach herrschender Auffassung wegen der Sachnähe und der besonderen Sachkenntnis des Arbeitgebers hohe Anforderungen an seine diesbezügliche Darlegungs- und Beweisführungslast zu stellen I53 . Ebenso wie bei der Einführung der tatsächlichen Grundlagen der Zukunftsprognose wird deshalb entgegen einer Mindermeinung auch für die betrieblichen Auswirkungen der krankheitsbedingten Fehlzeiten der bloße Hinweis des Arbeitgebers darauf, daß eine Fehlquote von mehr als 15 -25 % vorliege, zur Erfüllung seiner Informationspflicht für nicht ausreichend gehalten I54 . Mangels eines entsprechenden Erfahrungssatzes wird auch insofern eine Anwendung der Grundsätze des Anscheinsbeweises für ausgeschlossen er achtet 155 • 6.6.2.4 Informationslasten rur anderweitige Beschäftigungsmöglichkeiten

Die Verteilung der Informationslasten für die Möglichkeit einer Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers auf einem anderen Arbeitsplatz im Betrieb oder Unternehmen wird bei der krankheitsbedingten Kündigung ebenso beurteilt wie bei der betriebsbedingten Kündigung 156 • Auch hier greift demnach 152 BAG BB 1983, S. 1988; BAG EZA Nr. 4 zu § 1 KSchG - Krankheit; LAG Hamm EZA Nr. 7 zu § 1 KSchG - Krankheit; Lepke, Kündigung bei Krankheit, S. 53 ff.; KR-Becker, KSchG, § 1 Rn 213 a; Stahlhacke, Kündigung, Rn 474; Weller, Das Arbeitsrecht der Gegenwart 20 (1983), S. 92; Osthold, BB 1982, S. 1307; Popp, AuR 1979, S. 47; Birkner-Kuschyk / Tschöpe, DB 1981, S. 265. 153 BAG DB 1983, S. 1048; LAG Baden-Württ. BB 1980, S. 1425; LAG Frankfurt BB 1983, S. 61; Lepke, Kündigung bei Krankheit, S. 55; KR-Becker, KSchG, § 1 Rn 213 a; Weller, Das Arbeitsrecht der Gegenwart 20 (1983), S. 91; Berkowsky, BB 1981, S. 910; Popp, DB 1981, S. 2617. 154 So aber Osthold, BB 1982, S. 1308 und die in Fn 151 zitierten Stellen. 155 KR-Becker, KSchG, § 1 Rn 214 a; Lepke, Kündigung bei Krankheit, S. 55; Popp, DB 1981, S. 2610, alle mwN. 156 Vgl. oben Abschnitt 6.4.2.4.

158

6. Prozeßmodell 11: Zum Beweislastmechanismus im Arbeitsrecht

eine abgestufte Darlegungslast in der Form Platz, daß der Arbeitnehmer das Feld der insofern relevanten tatsächlichen Aspekte durch substantiierten Vortrag dahingehend einzugrenzen hat, wie er sich seine weitere Beschäftigung vorstellt und welche Art der Tätigkeit in welchem Bereich des Unternehmens für ihn in Betracht kommt. Im Anschluß daran hat dann der Arbeitgeber die Informationslast dafür, daß entsprechende Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten insofern mangels freier Arbeitsplätze nicht gegeben sind bzw. aus welchen anderen Gründen eine entsprechende Umsetzung nicht in Betracht kommt. Bei der Kündigung wegen einer krankheitsbedingten Minderung der Arbeitsfähigkeit ist eine Abstufung weiter dahingehend vorzunehmen, daß vom Arbeitnehmer neben der Art und dem Bereich der nach seinen Informationen denkbaren Tätigkeit gegebenenfalls auch dargelegt werden muß, daß seine Beschäftigung auf diesem anderen Arbeitsplatz trotz Minderung seiner Arbeitsfähigkeit möglich sei und daß dabei auf dem anderen Arbeitsplatz eine weitere Krankheitsanfälligkeit oder ein Arbeitsausfall nicht oder nur in geringem Umfang zu erwarten sei.

6.6.3 Zwischenergebnis: Der Einsatz des Beweislastmechanismus bei der krankheitsbedingten Kündigung Ähnlich wie bei der betriebsbedingten Kündigung zeigt sich bei der krankheitsbedingten Kündigung, daß die Rechtsprechung und die herrschende Meinung in der Literatur der Herabsetzung des Informationsbedarfs des Arbeitnehmers für eine erfolgreiche Wahrung seiner Interessen im Prozeß durch den Beweislastmechanismus in § 1 11 4 KSchG teilweise nicht gefolgt sind. Insbesondere hinsichtlich der Prognose der zukünftigen Entwicklung der Gesundheit des Arbeitnehmers und hinsichtlich einer anderweitigen Beschäftigungsmöglichkeit wird durch die insofern befürwortete Abstufung der Informationslasten zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer eine prozessuale Informationsstruktur geschaffen, nach der im Bereich der tatsächlichen Voraussetzungen der Kündigungsgründe ein erheblicher Informationsbedarf beim Arbeitnehmer bestehen bleibt. Teilweise wird in der Literatur vorgeschlagen, diese Informationsstruktur noch weitergehend zu Lasten des Arbeitnehmers zu ändern. Danach soll sein Informationsbedarf für den gesamten Bereich der Zukunftsprognose und für den gesamten Bereich der durch die krankheitsbedingten Fehlzeiten veranlaßten betrieblichen Folgen überhaupt nicht durch einen Einsatz des Beweislastmechanismus herabgesetzt werden, soweit die Fehlquote mehr als 15 - 25 % der regelmäßigen Arbeitszeit beträgt. Dem wird allerdings ganz überwiegend nicht zugestimmt. Im einzelnen ergab sich folgende Verteilung der Informationslasten bei der krankheitsbedingten Kündigung:

6.7 Würdigung des Einsatzes des Beweislastmechanismus

159

Der Arbeitgeber hat Informationen über die tatsächlichen Voraussetzungen der folgenden Tatbestandsmerkmale in den Prozeß einzuführen: (1) Die "Fehlzeiten" (das tatsächliche Vorliegen einer lang andauernden Krankheit oder die Häufigkeit und Dauer der Kurzerkrankungen). (2) Die "betrieblichen Folgen" (störende Auswirkungen der Fehlzeiten auf Betriebsablauf und Arbeitsorganisation, die weitere Überbrückungsmaßnahmen unzumutbar erscheinen lassen). Arbeitnehmer und Arbeitgeber haben abgestuft die Informationen über die tatsächlichen Voraussetzungen der folgenden Tatbestandsmerkniale in den Prozeß einzuführen: (3) Die "negative Zukunftsprognose" (objektive Faktoren über die Entwicklung des Gesundheitszustandes, nach denen bei lang anhaltender Krankheit in absehbarer Zeit keine völlige Wiederherstellung zu erwarten ist oder nach denen bei häufigen Kurzerkrankungen künftig keine Besserung absehbar ist, sondern Wiederholung droht). (4) Die "anderweitigen Beschäftigungsmöglichkeiten" (andere freie Arbeitsplätze im Betrieb und Unternehmen mit Eignung für eine Umsetzung des Arbeitnehmers, wenn bei lang andauernder Krankheit der Arbeitsplatz mittlerweile besetzt wurde oder wenn bei häufigen Kurzerkrankungen der andere Arbeitsplatz den Arbeitnehmer insofern weniger beansprucht bzw. bei dem die häufigen Kurzerkrankungen weniger gravierende Folgen auf den Betriebsablauf haben).

6.7 Würdigung des Einsatzes des Beweislastmechanismus zur Gestaltung der informationeUen Rahmenbedingungen beim arbeitsrechtlichen Kündigungsschutz Die vorliegende Untersuchung stellt die Frage, wie den strukturell vorhandenen Informationsdefiziten des Arbeitnehmers bei der Wahrung seiner Interessen und der Durchsetzung seiner Schutzrechte durch eine entsprechende Gestaltung der informationellen Rahmenbedingungen Rechnung getragen werden kann. Nachdem nunmehr exemplarisch für die arbeitsrechtlichen Individualkonflikte als eine denkbare Strategie der Einsatz des Beweislastmechanismus am Beispiel des arbeitsrechtlichen Kündigungsschutzes konkret dargestellt wurde, ist deutlich, daß sich diese Strategie durchaus differenziert und präzise zu solcher Gestaltung einsetzen läßt und im untersuchten Bereich auch eingesetzt wird. Die informationellen Schwierigkeiten des Arbeitnehmers resultieren zunächst daraus, daß ihn beim arbeitsrechtlichen Kündigungsschutz die Klage-

160

6. Prozeßmodeli 11: Zum Beweislastmechanismus im Arbeitsrecht

last trifft. Zur Kompensation des durch diese Ausgangslage veranlaßten hohen Informationsbedarfs des Arbeitnehmers gibt das Gesetz Hinweise auf eine prozessuale Informationsstruktur mit spezifizierterer Verteilung der Informationslasten zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Durch Satzbau und sprachliche Formulierungen des § 1 KSchG sowie durch die speziellen Beweislastnormen der §§ 1 11 4, 111 3 KSchG bleibt der Arbeitnehmer zunächst in der Folge seiner Klagelastfür die formellen Voraussetzungen eines Eingreifens des arbeitsrechtlichen Kündigungsschutzes in vollem Umfang informationsbelastet. Der Informationsbedarf des Arbeitnehmers, die zwingende Notwendigkeit bei Sanktion des Prozeßverlustes über die entsprechenden Informationen zu verfügen und diese in den Prozeß einzubringen, wird nach diesen Vorschriften aber für die Kündigungsgründe und die materiellen Anforderungen an deren soziale Rechtfertigung durch den Einsatz des Beweislastmechanismus herabgesetzt und auf den Arbeitgeber überwälzt. Ausgehend von diesen gesetzlichen Gegebenheiten befürworten Rechtsprechung und Rechtswissenschaft allerdings eine Reihe von Modifikationen des Einsatzes dieses Beweislastmechanismus zur Gestaltung der prozessualen Informationsbeziehungen. Teilweise soll dem Arbeitnehmer dabei eine Herabsetzung seines Informationsbedarfs im Bereich der Kündigungsgründe und der tatsächlichen Voraussetzungen einer sozialen Rechtfertigung der Kündigung gänzlich verwehrt werden. Teilweise soll der Umfang dieser Herabsetzung des Informationsbedarfs des Arbeitnehmers durch eine Abstufung des Einsatzes des Beweislastmechanismus eingeschränkt werden. Fälle eines gegenüber der gesetzlichen Ausgangslage ausdehnenden Einsatzes des Beweislastmechanismus, also einer Informationsstruktur mit weitergehender Überwälzung der Informationslasten auf den Arbeitgeber, sind demgegenüber nicht gegeben. Der einzige Fall, in dem dies überhaupt in Betracht gezogen wird, betrifft die tatsächlichen Voraussetzungen der sozialen Auswahl des gekündigten Arbeitnehmers bei der betriebsbedingten Kündigung. Die von der herrschenden Meinung hier befürwortete Abstufung des Einsatzes des Beweislastmechanismus, die doch zur Ansiedelung gewisser Informationslasten im Bereich der sozialen Auswahl beim Arbeitgeber führt, geht selbst wieder auf eine spezielle Regelung der Informationsstrukturen zwischen den Konfliktbeteiligten in § 1 111 3, letzter Halbsatz KSchG zurück und folgt deshalb aus einer grundsätzlichen Entscheidung des Gesetzgebers. Welche Grundprinzipien führen nun die herrschende Meinung zu den von ihr befürworteten Modifikationen beim Eingreifen oder beim Umfang des Eingreifens des Beweislastmechanismus und wie sind sie im Hinblick auf die gesetzliche Ausgangslage zu beurteilen? Welche Folgen haben sie für den prozessualen Informationsbedarf des Arbeitnehmers im Bereich der Kündigungstatsachen und wie ist der insofern verbleibende Informationsbedarf des Arbeitnehmers zu beurteilen? Wie verhält sich weiter der Einsatz des Beweis-

6.7 Würdigung des Einsatzes des Beweislastmechanismus

161

lastmechanismus zu den beiden anderen Strategien einer Gestaltung der informationellen Rahmenbedingungen und können oder gar müssen diese Mechanismen aufgrund der herrschenden Auffassung zur Gestaltung der Informationsstruktur im Kündigungsschutzprozeß ergänzend eingesetzt werden? Zum Abschluß der Überlegungen zum Einsatz des Beweislastmechanismus im Arbeitsrecht sind diese Fragen im folgenden zu erörtern.

6.7.1 Grundprinzipien der von der herrschenden Meinung befürworteten Gestaltung der Informationsstruktur Die herrschende Ansicht begründet die von ihr befürwortete Gestaltung der Informationsstruktur mit einer Reihe von Einzelprinzipien. Es handelt sich dabei im wesentlichen um diejenigen vier Grundprinzipien, die vorstehend bei der Erörterung der objektiven Beweislastverteilung im arbeitsgerichtlichen Kündigungsschutz besprochen wurden 157 . 6.7.1.1 Gesichtspunkte der Normtheorie1S8 Den Ausgangspunkt der Verteilung der Informationslasten bilden zumeist die Grundregel der Normtheorie und deren Modifizierung aufgrund Satzbau und Formulierung des Normtextes, wie sie in § 1 KSchG zum Ausdruck kommen. Dies zeigt sich zunächst deutlich bei der befürworteten Informationslast des Arbeitgebers für das Vorliegen der betrieblichen Erfordernisse einer betriebsbedingten Kündigung oder der Fehlzeiten bzw. der betrieblichen Auswirkungen der krankheitsbedingten Kündigung. Diese Gesichtspunkte liegen auch der befürworteten Informationsbelastung des Arbejtnehmers für die soziale Auswahl bei der betriebs bedingten Kündigung zugrunde und bei der abgestuften partiellen Überwälzung der Darlegung auf den Arbeitgeber für die Gründe der won ihm getroffenen sozialen Auswahl infolge von § 1 III 1, letzter Halbsatz KSchG. 6.7.1.2 Das Kriterium der Sachnähe oder des Gefahrenbereichs Der Gesichtspunkt der Sachnähe oder des beweisrechtlichen Sphärengedankens wird zumeist als der Gesichtspunkt angesehen, der inhaltlich für die Normierung der Beweislastverteilung in § 1 KSchG durch den Gesetzgeber ausschlaggebend gewesen ist. Er wird deshalb zumeist in den auch mit Gesichtspunkten der Normtheorie begründeten Fällen zusätzlich herangezoVgl. oben Abschnitt 6.3.2. Für Nachweise zu diesen Prinzipien vgl. jeweils oben bei der Besprechung der Informationslastverteilung hinsichtlich der einzelnen Tatbestandsmerkmale. 157 158

11 Haug

162

6. Prozeßmodell 11: Zum Beweislastmechanismus im Arbeitsrecht

gen. Offensichtlich steht der Arbeitgeber den Informationen über die dringenden betrieblichen Erfordernisse und deren Auswirkungen auf den Arbeitsplatz des Gekündigten näher, und auch die negativen betrieblichen Auswirkungen der personenbedingten Gründe bei der Krankheitskündigung fallen in seinen Gefahrenbereich. Gesichtspunkte des beweisrechtlichen Sphärengedankens spielen weiter häufig bei der Abstufung der Informationslasten zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer insofern eine Rolle, als damit häufig eine gänzliche Überwälzung der Informationslast auf den Arbeitnehmer und damit eine völlige Verweigerung einer Herabsetzung seines Informationsbedarfs durch einen Beweislastmechanismus abgelehnt wird. Dies ist etwa der Fall bei dem Tatbestandsmerkmal einer anderweitigen Beschäftigungsmöglichkeit, wo eine völlige Überwälzung der Informationslasten auf den Arbeitnehmer aufgrund der Sachnähe und der Informationen des Arbeitgebers über anderweitige Beschäftigungsmöglichkeiten im Betrieb oder im Unternehmen abgelehnt wird. Ebenso wird bei der negativen Prognose über die Entwicklung des Gesundheitszustands im Hinblick auf die Hinnehmbarkeit betrieblicher Überbrückungsmaßnahmen eine weitergehende Überwälzung der Informationslasten auf den Arbeitnehmer zugunsten einer Abstufung der Darlegungslast abgelehnt wegen der Sachnähe des Arbeitgebers zu den betrieblichen Faktoren, dem Anforderungsprofil des Arbeitsplatzes oder der Zumutbarkeit von Überbrückungsmaßnahmen. Das Kriterium der Sachnähe oder des Gefahrenbereichs spiegelt mithin inbesondere die vermuteten Informationsermittlungsmöglichkeiten der beiden Parteien wider. 6.7.1.3 Das Prinzip der Vermeidung von Negativdarlegungen

Dieses Kriterium spielt eine wesentliche Rolle bei der gänzlichen Verweigerung einer Herabsetzung des Informationsbedarfs des Arbeitnehmers nach dem Beweislastmechanismus. Eine solche vollständige Zuweisung der Informationslasten an den Arbeitnehmer erfolgt bei der Willkürkontrolle sowie beim Dringlichkeitserfordernis im Rahmen der betriebsbedingten Kündigung. Dabei soll der Arbeitgeber vor den Negativdarlegungen geschützt werden, daß die von ihm getroffene unternehmerische Entscheidung nicht offenbar unsachlich, unvernünftig oder willkürlich ist, bzw. daß anstelle der Kündigung mildere personalpolitische Maßnahmen wie Arbeitsstreckungen, Kurzarbeit oder Überstundenabbau sinnvoll und möglich sind. Dieses Kriterium spielt weiter eine Rolle bei der Befürwortung einer Abstufung der Informationslasten zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer in dem Sinne, daß in diesen Fällen der Arbeitnehmer nicht in den Genuß der vollen Wirkung des Beweislastmechanismus kommen soll, also dem Arbeitgeber in diesen Fällen nicht die volle Informationslast aufgebürdet bleiben soll. Dies

6.7 Würdigung des Einsatzes des Beweislastmechanismus

163

gilt zunächst für das Tatbestandsmerkmal einer anderweitigen Beschäftigungsmöglichkeit bei betriebs- wie krankheitsbedingter Kündigung. Dies gilt ebenso für die negative Prognose bei der krankheitsbedingten Kündigung wegen der nicht völligen Wiederherstellung des Gesundheitszustands bei lang anhaltender Krankheit oder wegen der nicht absehbaren Besserung nach Art, Dauer und Häufigkeit der bisherigen Kurzerkrankungen. 6.7.1.4 Das Kriterium der Wahrscheinlichkeit

Auf Gesichtspunkte der Wahrscheinlichkeit wird zur Begründung der Verweigerung des Beweislastmechanismus zugunsten des Arbeitnehmers bei der Willkürkontrolle und dem Dringlichkeitserfordernis bei der betriebsbedingten Kündigung verwiesen. Dabei wird von der höheren Wahrscheinlichkeit dafür ausgegangen, daß eine unternehmerische Entscheidung nicht offensichtlich unsachlich, unvernünftig oder willkürlich ist, sowie dafür, daß gewöhnlich außerbetriebliche Faktoren wie Auftragsrückgänge etc. oder innerbetriebliche organisatorische bzw. technische Maßnahmen mit einer Beendigungskündigung bewältigt werden müssen. Das heißt, daß also die Möglichkeit und Rationalität milderer betrieblicher Maßnahmen als gewöhnlich unwahrscheinlich angesehen werden. Wahrscheinlichkeitsüberlegungen führt weiter die Mindermeinung ins Feld, die beim Vorliegen einer betrieblichen Fehlquote von mehr als 15 - 25 % der regelmäßigen Arbeitszeit auf Darlegungen des Arbeitgebers zur negativen Prognose über die Entwicklung des Gesundheitszustands und zu den betrieblichen Folgen der Fehlzeiten verzichten will, somit in diesen Fällen dem Arbeitnehmer die Einführung der tatsächlichen Voraussetzungen dieser Tatbestandsmerkmale in den Prozeß zuweisen will.

6.7.2 Die Anwendung dieser vier Grundprinzipien in Rechtsprechung und Lehre Die Anwendung der geschilderten vier Grundprinzipien durch die Vertreter der herrschenden Ansicht in Rechtsprechung und Rechtswissenschaft zur Begründung ihrer Ergebnisse läßt jegliche Stringenz vermissen. So werden weder für die Begründung der Ergebnisse im Einzelfall alle vier Prinzipien gleichwertig nebeneinander herangezogen, noch wird eine Reihenfolge der Relevanz dieser vier Kriterien für die Begründung der Informationslastentscheidungen aufgestellt. Aus dem Fehlen solcher Gewichtung wird weiter auch nicht wenigstens der Schluß gezogen, daß bei der konkreten Begründung einer Verteilung der Informationslast dann für jedes einzelne Tatbestandsmerkmal eine Abwägung unter Würdigung der konkreten Relevanz 11'

164

6. Prozeßmodeli 11: Zum Beweislastmechanismus im Arbeitsrecht

aller vier Grundprinzipien und ihrer Aussagekraft für dieses spezielle Merkmal erfolgen muß. Dies läßt sich nahezu für jenen Fall der Begründung einer Informationslastentscheidung nach der herrschenden Meinung zeigen: 6.7.2.1 Verstöße gegen den beweisrechtlichen Sphärengedanken

Orientiert sich die Frage der vollständigen oder teilweisen Gewährung des Beweislastmechanismus zur Herabsetzung des Informationsbedarfs des Arbeitnehmers an der Sachnähe, dem Gefahrenbereich, dem beweisrechtlichen Sphärengedanken, so bleibt der Ausschluß des Beweislastmechanismus bei der Willkürkontrolle und dem Dringlichkeitserfordernis bei der betriebsbedingten Kündigung unerklärlich. Die Willkürlichkeit, offensichtliche Unsachlichkeit oder Unvernünftigkeit der unternehmerischen Entscheidung fällt sicherlich ebenso wie die Rationalität und die Möglichkeit milderer personalpolitischer Maßnahmen kaum in die Sphäre des gekündigten Arbeitnehmers. Der Arbeitgeber steht diesen unternehmerischen und betrieblichen Gesichtspunkten, die er im Rahmen seiner Unternehmerentscheidung ohnehin berücksichtigt haben wird, näher und verfügt auch über die entsprechenden Informationsmöglichkeiten. Nichts anderes ergibt sich nach dem Kriterium der Sachnähe für die anderweitige Beschäftigungsmöglichkeit des Arbeitnehmers. Auch den hier relevanten Gegebenheiten - freier anderer Arbeitsplatz im Betrieb, im Unternehmen, Vergleichbarkeit des Anforderungsprofils der bei den Arbeitsplätze, Möglichkeit einer Durchführung von Umschulungsmaßnahmen - steht der Arbeitgeber näher. Danach ist aus Erwägungen des Sphärengedankens nicht zu begründen, wieso hinsichtlich dieser Gegebenheiten den Arbeitnehmer eine abgestufte Darlegungslast treffen sollte. Aus Gesichtspunkten des Gefahrenbereichskriteriums ist weiter auch die (gesetzliche) Informationsverteilung bei der sozialen Auswahl nicht zu erklären. Auch hier steht der Arbeitgeber den Sozialdaten der anderen Arbeitnehmer und den für eine Vergleichbarkeit mit dem Gekündigten ausschlaggebenden Gesichtspunkten näher. Geht man allerdings von der (gesetzlichen) Zuweisung der Informationslast an den Arbeitnehmer aus, so ist nach dem beweisrechtlichen Sphärengedanken die von der herrschenden Meinung befürwortete Abstufung der Darlegungslast zu Lasten des Arbeitgebers hinsichtlich der von ihm zugrunde gelegten Gesichtspunkte der sozialen Auswahl konsequent. 6.7.2.2 Verstöße gegen die Kriterien der Normtheorie

Die konsequente Anwendung der Grundregel der Normtheorie bzw. ihrer Modifikation durch Satzbau und sprachliche Formulierung von § 1 KSchG läßt

6.7 Würdigung des Einsatzes des Beweislastmechanismus

165

naturgemäß die von der herrschenden Meinung befürworteten Abweichungen von der gesetzlichen Ausgangslage inkonsequent erscheinen. Dies ist aufgrund der strikten Orientierung der Kriterien der Normtheorie an der gesetzlichen Ausgangslage eine petitio principii und inhaltlich deshalb ohne jegliche Aussagekraft. 6.7.2.3 Verstöße gegen das Kriterium der Vermeidung von Negativdarlegungen

Noch relativ am wenigsten Widersprüchlichkeiten zeigen sich bei der Verwendung des Kriteriums der Vermeidung von Negativdarlegungen. So werden gerade Negativdarlegungen durch die Überwälzung der Informationslasten für die Möglichkeit einer anderweitigen Beschäftigungsmöglichkeit des Arbeitnehmers vermieden. Auch die (gesetzeskonforme ) Zuweisung der Informationslasten für die betrieblichen Erfordernisse und deren Auswirkungen auf den Arbeitsplatz des Gekündigten bei der betriebsbedingten Kündigung sowie für die Fehlzeiten der krankheitsbedingten Kündigung an den Arbeitgeber entsprechen diesem Kriterium. Gegen den Gesichtspunkt der Vermeidung von Negativbeweisen verstößt allerdings die von der herrschenden Meinung geschaffene Informationslast des Arbeitnehmers bei der Willkürlichkeitskontrolle und beim Dringlichkeitserfordernis der betriebsbedingten Kündigung. Hier wird, der Intention dieses Kriteriums diametral entgegengesetzt, der Arbeitgeber von der Informationslast für die positive Sachlichkeit und Vernünftigkeit sowie die positive Dringlichkeit der von ihm getroffenen Unternehmerentscheidung befreit und durch Verweigerung der Anwendung des Beweislastmechanismus für den Arbeitnehmer eine Last zur Negativdarlegung überhaupt erst geschaffen. Dieser hat nach der von der herrschenden Ansicht befürworteten Verteilung eine Informations- und Beweisführungslast dahingehend, daß die unternehmerische Entscheidung auf keinerlei sachlichen Gründen beruht und also beispielsweise nur deshalb getroffen wurde, um einen betriebsbedingten Kündigungsgrund zu schaffen. Nicht dem Kriterium einer Vermeidung von Negativdarlegungen entspricht weiter die befürwortete Zuweisung der Informationslasten für die Nichtüberbrückbarkeit der betrieblichen Folgen der krankheits bedingten Fehlzeiten an den Arbeitgeber. Danach hat der Arbeitgeber darzulegen, daß die eingetretenen Störungen im Betriebsablauf nicht auf andere Ursachen zurückzuführen sind und eine weitere Hinnahme dieser Störungen für den Betrieb nicht mehr zumutbar ist.

166

6. Prozeßmodell 11: Zum Beweislastmechanismus im Arbeitsrecht

6.7.2.4 Verstöße gegen das Wahrscheinlichkeitskriterium Gegen eine Verteilung der Informationslasten nach dem Prinzip der Wahrscheinlichkeit mit der Folge der Zuweisung der Informationslast an die Partei, die sich auf ein gewöhnlich weniger wahrscheinliches Tatbestandsmerkmal berufen möchte, wird verschiedentlich verstoßen. Dies geschieht etwa bei der krankheitsbedingten Kündigung mit der Zuweisung der Informationslast an den Arbeitgeber für die negative Prognose und die betrieblichen Folgen auch bei hoher Fehlzeitquote im Sinne der dargestellten Mindermeinung. In diesen Fällen dürften regelmäßig eine negative Prognose und erhebliche betriebliche Folgen für den Betriebsablauf wahrscheinlicher sein als das Gegenteil- ohne daß dies allerdings heißt, daß beides deswegen schon zu vermuten sei. Die Folge wäre hier lediglich, daß die unwahrscheinlichere Tatsache im Prozeß vom Arbeitnehmer dargelegt werden muß und nicht die wahrscheinlichere Tatsache vom Arbeitgeber ausgeschlossen werden kann. Bei der betriebsbedingten Kündigung entspricht die Verweigerung des Beweislastmechanismus bei der Willkürlichkeitskontrolle und dem Dringlichkeitserfordernis durchaus der Verteilung der Beweislast nach Wahrscheinlichkeitsgesichtspunkten. Ein Verstoß gegen dieses Kriterium liegt bei der betriebs bedingten Kündigung aber in der Informationslast des Arbeitgebers für die Auswirkungen der betrieblichen Erfordernisse auf den Arbeitsplatz des gekündigten Arbeitnehmers, da hier somit die wahrscheinlichere Fallkonstellation darzulegen ist. Für die Verteilung der Informationslasten bei der sozialen Auswahl und bei der anderweitigen Beschäftigungsmöglichkeit im Betrieb oder Unternehmen erscheint das Wahrscheinlichkeitskriterium kaum anwendbar. Hier wäre schon fraglich, anhand welcher Grundgesamtheit denn die Wahrscheinlichkeit des Vorhandenseins eines dem Gekündigten vergleichbaren weniger schutzbedürftigen Arbeitnehmers oder das Vorhandensein eines freien, vergleichbaren Arbeitsplatzes im Betrieb odel" Unternehmen festzustellen sein sollte.

6.7.3 Zusammenfassende Würdigung Faßt man die Kritik an der Anwendung dieser vier Grundprinzipien für eine Verteilung der Informationslasten nach dem Beweislastmechanismus zusammen, so ergibt sich für die einzelnen Tatbestandsmerkmale und die dazu befürwortete Verteilung folgendes Bild: Fast alle von der herrschenden Meinung befürworteten Modifikationen der gesetzlichen Ausgangslage in § 1 II 4, III 3 KSchG bei den verschiedenen Tatbestandsmerkmalen mit der Folge einer teilweisen oder ganzen Vermeidung der Anwendung des Beweislastmechanismus zur Herabsetzung des Informationsbedarfs des Arbeitnehmers verstoßen gegen die Kriterien der Normtheo-

6.7 Würdigung des Einsatzes des Beweislastmechanismus

167

rie. Einzige Ausnahme ist insofern die Annahme einer abgestuften Darlegungslast des Arbeitgebers hinsichtlich der Gründe der von ihm getroffenen Sozialauswahl.

Fast alle von der herrschenden Meinung befürworteten Modifikationen widersprechen dem Kriterium der Sachnähe bzw. der Beherrschbarkeit und Verfügbarkeit der einschlägigen Informationen im Sinne der Gefahrenbereichslehre. Einzig beim Erfordernis einer negativen Prognose bei der krankheitsbedingten Kündigung ist diese Zurechnung möglicherweise zweifelhaft. Gesichtspunkte der Sachnähe sprechen darüber hinaus auch für die Zuweisung der Informationslasten bei der sozialen Auswahl des gekündigten Arbeitnehmers an den Arbeitgeber entgegen § 1 III 3 KSchG und entgegen der Abstufung durch die herrschende Ansicht. Ergänzt durch die anderen beiden Prinzipien ergeben sich bei den einzelnen Tatbestandsmerkmalen damit folgende Ergebnisse: (1) Den geringsten Bestätigungsgrad weist die Informationslastverteilung bei der Willkürkontrolle der betriebsbedingten Kündigung auf. Sie widerspricht auch dem dritten Kriterium der Vermeidung von Negativbeweisen und wird lediglich durch das vierte, das Wahrscheinlichkeitskriterium gestützt. Die Verteilung der Informationslasten sollte hier deshalb neu überdacht und geändert werden. (2) Die Verteilung beim Dringlichkeitserfordernis der betriebsbedingten Kündigung wird wenigstens durch die zwei weiteren Kriterien der Vermeidung von Negativdarlegungen und der überwiegenden Wahrscheinlichkeit bestätigt. Diese Verteilung sollte im Hinblick auf die Gewichtung der vier Kriterien neu überdacht werden. Dabei ist zu überlegen, ob dem Arbeitgeber nicht ausnahmsweise Negativdarlegungen zur ultima ratio der von ihm getroffenen Maßnahmen aufgrund seines insoweit herausragenden Informationszugangs zumutbar sind. Will man dagegen eine gleichgewichtige Berücksichtigung aller vier Kriterien befürworten, sollte eine Abstufung der Informationslasten zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer erwogen werden. (3) Die Verteilung hinsichtlich einer anderweitigen Beschäftigungsmöglichkeit des gekündigten Arbeitnehmers im Betrieb oder Unternehmen bei der betriebs- wie bei der krankheitsbedingten Kündigung wird entgegen der beiden vorweg dargestellten Kriterien einzig aus dem Gesichtspunkt einer Vermeidung von Negativdarlegung~n bestätigt. Das vierte Kriterium der überwiegenden Wahrscheinlichkeit ist dafür ohne Aussagekraft. Diese Verteilung der Informationslasten sollte deshalb überdacht und geändert werden.

168

6. Prozeßmodell 11: Zum Beweislastmechanismus im Arbeitsrecht

(4) Die Verteilung bei der sozialen Auswahl des betriebsbedingt gekündigten Arbeitnehmers wird durch das Kriterium der Sachnähe bestätigt, widerspricht aber dem Kriterium der Vermeidung von Negativdarlegungen. Das Wahrscheinlichkeitskriterium ist hierfür ohne Aussagekraft. Danach sind für die Gestaltung der Informationsbeziehungen bei der sozialen Auswahl die Gesichtspunkte der Normtheorie und damit die Verteilung der Darlegungslast aufgrund der Beweislastnorm des § i fu 3 KSchG ausschlaggebend. Auf der Basis dieser Grundentscheidung des Gesetzgebers ist die herrschende Verteilung der Informationslasten bestätigt. Ob diese gesetzgeberische Beweislastnorm in § 1 IU 3 KSchG den informationellen Gegebenheiten im Verhältnis von Arbeitnehmer und Arbeitgeber im Hinblick auf Kenntnis und Zugang zu den bei der Sozialauswahl abzuwägenden tatsächlichen Voraussetzungen angemessen ist, bleibt als eine von der Rechtspolitik zu erörternde Frage. Die Abstufung der Informationslasten hinsichtlich der vom Arbeitgeber zugrunde gelegten Sozial auswahl ist hingegen durch Gesichtspunkte der Normtheorie und der Gefahrenbereichslehre bei Aussagelosigkeit der beiden anderen Kriterien gut bestätigt. (5) Die Informationslastverteilung hinsichtlich der Fehlzeiten bei der krankheitsbedingten Kündigung und hinsichtlich der betrieblichen Erfordernisse mit ihren Auswirkungen auf den Arbeitsplatz des gekündigten Arbeitnehmers werden durch die Kriterien der Normtheorie, der Sachnähe und der Venneidung von Negativdarlegungen gut bestätigt. Wahrscheinlichkeitsgesichtspunkte können allenfalls hinsichtlich der Auswirkungen der betrieblichen Erfordernisse auf den Arbeitsplatz des gekündigten Arbeitnehmers in Betracht kommen, fallen gegenüber den anderen Kriterien jedoch nicht ins Gewicht. (6) Die Zuweisung der Informationslasten bei der negativen Prognose über die zukünftige gesundheitliche Entwicklung und über die Wiederholungsgefahr häufiger Kurzerkrankungen allein an den Arbeitgeber wird durch die Kriterien der Normtheorie bekräftigt. Die Folgerungen aus dem Kriterium der Sachnähe des beweisrechtlichen Sphärengedankens sind eher zweifelhaft. Auch das Kriterium der Vermeidung von Negativdarlegungen ist für das Merkmal der negativen Prognose nicht aussagekräftig, denn bei der Nichtabsehbarkeit einer Besserung bei lang anhaltender Krankheit müßte der Arbeitgeber negativ darlegen - bei der Wiederholungs gefahr häufiger Kurzerkrankungen träfe eine negative Darlegungslast dagegen den Arbeitnehmer. Wahrscheinlichkeitsüberlegungen lassen sich allenfalls in der von der Mindermeinung vorgetragenen Form bei Vorliegen besonders hoher Fehlquoten anstellen.

6.8 Zur Bewältigung des verbleibenden Informationsbedarfs

169

Die von der herrschenden Meinung befürwortete Abstufung der Darlegungslast zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer wird danach nicht bestätigt. Das einzige aussagefähige Kriterium der Normtheorie bestätigt eine volle Anwendung des Beweislastmechanismus mit entsprechender Informationsbelastung des Arbeitgebers. Die hier überwiegend befürwortete Verteilung sollte deshalb überdacht und geändert werden. Dabei ist zu berücksichtigen, daß ein Verstoß des Arbeitnehmers gegen seine Mitwirkungspflicht, etwa durch Nichtbefreiung seiner behandelnden Ärzte von der Schweigepflicht, nicht genef611 bei der Verteilung der Informationslasten durch eine entsprechende Abstufung in Rechnung zu stellen ist, sondern im Einzelfall gezielt nach den Grundsätzen über die Beweisvereitelung bewältigt werden sollte. (7) Bei der Verteilung der lnformationslasten für die betrieblichen Folgen der Fehlzeiten wegen der Krankheit des Arbeitnehmers wird die überwiegend befürwortete Anwendung des Beweislastmechanismus durch die Kriterien der Normtheorie und der Sachnähe getragen. Hinsichtlich der Darlegung der konkreten Störungen im Betriebsablauf und der dadurch veranlaßten wirtschaftlichen Belastung des Arbeitgebers wird dies auch durch das Kriterium der Vermeidung von Negativdarlegungen bestätigt. Soweit hierfür Darlegungen zur Zumutbarkeit von Überbrückungsmaßnahmen relevant werden können, ergibt sich insofern nach dem Kriterium der Vermeidung von Negativdarlegungen eine gegenteilige Informationslastverteilung. Auch für das Wahrscheinlichkeitskriterium dürfte sich ein Widerspruch ergeben. Nach allem ist somit die von der herrschenden Meinung getroffene Verteilung im Ergebnis überwiegend bestätigt.

6.8 Der verbleibende Informationsbedarf des Arbeitnehmers und die anderen Strategien zur Gestaltung der informationeUen Rahmenbedingungen Die vorstehende Untersuchung zum Einsatz des Beweislastmechanismus bei den arbeitsrechtlichen Individualkonflikten am Beispiel des arbeitsrechtlichen Kündigungsschutzes hat gezeigt, daß dieses zweite prozessuale Modell einer Gestaltung der informationellen Rahmenbedingungen eine sinnvolle Lösungsstrategie darstellt. In ihrem konkreten Einsatz beim arbeitsrechtlichen Kündigungsschutz ist sie durchaus geeignet, den strukturellen Informationsdefiziten des Arbeitnehmers in vielen Bereichen Rechnung zu tragen. Die Analyse hat weiter gezeigt, daß der von der herrschenden Meinung befürwortete konkrete Einsatz dieser Strategie im Bereich einiger Tatbestandsmerkmale verbesserungsbedürftig ist. Hier waren erhebliche Inkonsequenzen

170

6. Prozeßmodell 11: Zum Beweislastmechanismus im Arbeitsrecht

in der Beurteilung und Anwendung der im Einzelfall dem Einsatz dieser Strategie zugrunde liegenden Grundprinzipien festzustellen, die zumeist eine durch diese Grundprinzipien nicht zu rechtfertigende Ablehnung des Einsatzes dieser Strategie bei den jeweiligen Tatbestandsmerkmalen zur Folge hatten. Daraus ergab sich im Einzelfall eine Informationsbelastung des Arbeitnehmers im Kündigungsschutzprozeß, die bei konsequenter Anwendung dieser Grundprinzipien wegen eines entsprechenden Einsatzes des Beweislastmechanismus abzulehnen gewesen wäre. Dies hätte zur Folge, daß für den Arbeitnehmer auch hinsichtlich dieser Tatbestandsmerkmale eine Herabsetzung seines Informationsbedarfs eintreten würde.

6.8.1 Der verbleibende Informationsbedarf Nach der überwiegend befürworteten Verteilung der Informationslasten bei den Kündigungstatsachen im arbeitsrechtlichen Kündigungsschutzprozeß treffen den Arbeitnehmer im Bereich mehrerer Tatbestandsmerkmale der materiellen Kündigungsvoraussetzungen erhebliche Informationslasten. Dies ergibt sich daraus, daß die herrschende Meinung in diesen Fällen die ganze oder teilweise Herabsetzung des Informationsbedarfs des Arbeitnehmers durch Anwendung des Beweislastmechanisillus ablehnt. Ein solcher, dem Arbeitnehmer verbliebener Informationsbedarf im Kündigungsschutzprozeß besteht zunächst bei der betriebsbedingten Kündigung. Hier geht es für den Arbeitnehmer um Informationen hinsichtlich der tatsächlichen Umstände der unternehmerischen Entscheidung, um prüfen und darlegen zu können, ob diese offensichtlich unsachlich, unvernünftig oder willkürlich ist. Dasselbe gilt beim Merkmal des Dringlichkeitserfordernisses. Hier geht es um die tatsächlichen Umstände im Hinblick auf die Frage, ob im Sinne des ultima-ratio-Prinzips eine andere betriebliche Maßnahme sinnvoll und möglich ist. Gleiches gilt zuletzt bei der sozialen Auswahl des gekündigten Arbeitnehmers hinsichtlich der tatsächlichen Umstände der Abgrenzung des auswahlrelevanten Kreises vergleichbarer Arbeitnehmer und der Beurteilung ihrer Schutzbedürftigkeit aufgrund ihrer Sozialdaten. Bei der krankheitsbedingten Kündigung verbleibt ein entsprechender Informationsbedarf des Arbeitnehmers im Rahmen der abgestuften Darlegungslast für die negative Prognose hinsichtlich der tatsächlichen Umstände, daß bei lang anhaltender Krankheit eine Wiederherstellung der Gesundheit des Arbeitnehmers absehbar und eine entsprechende betriebliche Hinnahme der Überbrückung bis zu diesem Zeitpunkt zumutbar ist, sowie daß bei häufigen Kurzerkrankungen nach ihrer Art, Dauer und Häufigkeit keine Besserung absehbar und Wiederholungen zu befürchten sind. Bei der krankheits- wie bei der betriebsbedingten Kündigung verbleibt ein entsprechender Informationsbedarf des Arbeitnehmers hinsichtlich seiner ander-

6.8 Zur Bewältigung des verbleibenden Informationsbedarfs

171

weitigen Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten auf einem anderen Arbeitsplatz desselben Betriebs oder in einem anderen Betrieb desselben Unternehmens. Häufig wird der Arbeitnehmer insofern trotz seines verbliebenen Informationsbedarfs aufgrund der betrieblichen Informations- und Kommunikationsstruktur niCht in der Lage sein, die zur Erfüllung seiner entsprechenden prozessualen Informationslast erforderlichen Informationen in den Prozeß einzuführen. Im folgenden ist daher zu prüfen, inwieweit der ergänzende Einsatz der anderen Strategien einer Gestaltung der informationellen Rahmenbedingungen im Arbeitsrecht möglich und geeignet ist, diese prozessualen Schwierigkeiten des Arbeitnehmers im informationellen Bereich zu vermindern.

6.8.2 Zum ergänzenden Einsatz der beiden anderen Lösungsstrategien Zur Lösung der verbleibenden Probleme im arbeitsgerichtlichen Kündigungsschutz kann zunächst das oben geschilderte Prozeßmodell I mit seinem Hebel einer stärkeren Einbindung des Richters bei der Ermittlung der informationellen Gegebenheiten im Kündigungsschutzprozeß159 uneingeschränkt zum Einsatz kommen. Insbesondere hat also das Arbeitsgericht die ihm zur Verfügung stehenden Aktionsmöglichkeiten auszuschöpfen, durch entsprechende Fragen und Hinweise die Parteien zum vollständigen und wahrheitsgemäßen Vortrag und zur Erklärung über die vom Gegner in den Prozeß eingeführten Tatsachenbehauptungen anzuhalten. Es hat schon im Gütetermin den Sach- und Streitstand mit den Parteien eingehend zu erörtern und in Arbeitsgemeinschaft mit den Parteien in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht den Kern des zwischen ihnen bestehenden Konflikts sowie die für dessen Bewältigung geeigneten Lösungsmöglichkeiten herauszuarbeiten. Wie hinsichtlich dieser Aktionsmöglichkeiten des Arbeitsgerichts oben gezeigt wurde, darf aber die hier in Auseinandersetzung mit den einzelnen Tatbestandsmerkmalen der jeweiligen Kündigungsgründe spezifisch herausgearbeitete Informationsstruktur dadurch nicht überspielt werden. Es kann insofern nicht aufgrund allgemeiner, einheitlicher und generalisierender prozessualer Erwägungen auf eine umfassende Aufklärungspflicht der nicht risikobelasteten Parteien zurückgegriffen werden. Für den hier bei den einzelnen Tatbestandsmerkmalen jeweils konkret analysierten restlichen Informationsbedarf des Arbeitnehmers wird deshalb eine relevante Abhilfe zumeist nur über den noch zu besprechenden dritten Mechanismus einer Gestaltung der informationellen Rahmenbedingungen l60 159

160

Vgl. dazu oben Abschnitt 5. Vgl. dazu unten Abschnitt 7.

172

6. Prozeßmodell 11: Zum Beweislastmechanismus im Arbeitsrecht

zu erwarten sein. Im Sinne dieser Strategie können sich bei Vorliegen materieller In[ormationsansprüche Möglichkeiten ergeben, die dem Arbeitnehmer Chancen zur Befriedigung seines verbliebenen und durch den Einsatz der Beweislaststrategie nicht herabgesetzten Informationsbedarfs eröffnen. Diese sollen hier als Ausblick noch angesprochen werden. 6.8.2.1 Pflicht zur Mitteilung der Kündigungsgründe

Eine Mitteilung der Kündigungsgründe durch den Arbeitgeber schon vor dem Kündigungsschutzprozeß könnte es dem Arbeitnehmer erleichtern, sich rechtzeitig auf den Prozeß einzustellen und vorzubereiten. So könnte er schon vor dem Prozeßbeginn versuchen, sich die für ihn notwendigen Informationen zu beschaffen. Nach § 1 KSchG ist der Arbeitgeber aber nicht dazu verpflichtet, beim Ausspruch der Kündigung konkrete Kündigungstatsachen anzugeben. Die Nichtangabe der Kündigungsgründe führt nicht zur Sozialwidrigkeit der Kündigung l61 . Eine generelle Mitteilungspflicht auf Verlangen des Arbeitnehmers besteht bei der ordentlichen Kündigung nur hinsichtlich der Gründe der sozialen Auswahl des betriebsbedingt gekündigten Arbeitnehmers nach § 1 III 1 letzter Halbsatz KSchG. Nach, allerdings umstrittener, Ansicht ergibt sich aus der arbeitgeberischen Treue- und Fürsorgepflicht 162 oder aufgrund einer Nebenpflicht aus dem Arbeitsvertrag 163 auf Verlangen des Arbeitnehmers doch eine Pflicht zur Mitteilung der Kündigungsgründe durch den Arbeitgeber. Die Verletzung dieser Pflicht führt bei dieser dogmatischen Herleitung aber nicht zur Sozialwidrigkeit der Kündigung, sondern zu einer Schadensersatzpflicht des Arbeitgebers hinsichtlich des Schadens, der durch die verspätete Mitteilung der Kündigungsgründe eingetreten ist l64 . Ansonsten kann die Mitteilung der Kündigungsgründe bei der mündlichen Kündigungserklärung oder im schriftlichen Kündigungsschreiben als Wirksamkeitsvoraussetzung im Einzelarbeitsvertrag, in Betriebsvereinbarungen oder in Tarifverträgen enthalten sein. Ein Verstoß führt dann zur Nichtigkeit wegen Formmangels nach § 125 BGBI65. 161 BAG AP Nm. 55, 56 zu § 1 KSchG; allgemeine Ansicht, vgl. auch Hueck, KSchG, § 1 Rn 157; KR-Becker, KSchG, § 1 Rn 159. 162 So Hersehe! / Löwisch, KSchG, § 1 Rn 78; Maus, Kündigungsschutzgesetz, 1973, § 1 Rn 149; Löwisch, Die Verknüpfung von Kündigungsschutz und Betriebsverfassung nach dem BetrVG 1972, DB 1975, S. 394 ff., 355; auch Hueck, KSchG, § 1 Rn 158 (allerdings eingeschränkt für Vorliegen besonderer Voraussetzungen). 163 Vgl. KR-Becker, KSchG, § 1 Rn 160; Zöllner, Arbeitsrecht, 3. Auf!. 1983, § 22 I 5. 164 Allgemeine Ansicht, vgl. eingehend statt aller Hueck, KSchG, § 1 Rn 158f. 165 BAG DB 1978, S. 258; BAG AP Nr. 12 zu § 54 BMT G 11; BAG EZA Nr. 5 zu § 125 BGB; LAG Düsseldorf EZA Nr. 4 zu § 125 BGB; Herschel / Löwisch, KSchG, § 1 Rn 77; KR-Becker, KSchG, § 1 Rn 161 f.; Hueck, KschG, § 1 Rn 159.

6.8 Zur Bewältigung des verbleibenden Informationsbedarfs

173

Für die Praxis ist bekannt, daß die Arbeitnehmer die Kündigungsgründe in der Regel schon vor Prozeßbeginn vom Arbeitgeber erfahren. In der Hamburger Kündigungsschutz-Studie ergab sich bei der Arbeitgeberbefragung, daß 88 % der befragten Arbeitgeber ihre Kündigungen gegenüber dem Arbeitnehmer begründen. Dabei erfolgte bei 40 % der Arbeitgeber diese Begründung aufgrund einschlägiger tariflicher Vorschriften, während 48 % der Arbeitgeber die Kündigung ohne ausdrückliche Rechtsgrundlage begründet haben 166 • Auch die Befragung von gekündigten Arbeitnehmern ergab, daß 88 % dieser Arbeitnehmer mindestens einen Kündigungsgrund nennen konnten, der ihnen vom Arbeitgeber mitgeteilt worden war167 • Bei der Beurteilung der Auswirkungen einer vorprozessualen Mitteilung der Kündigungsgründe für den verbleibenden Informationsbedarf des Arbeitnehmers ist allerdings zu berücksichtigen, daß die Möglichkeit des Arbeitnehmers, sich rechtzeitig um die Beschaffung der erforderlichen Informationen kümmern zu können noch nicht heißt, daß ihm dies auch tatsächlich gelingen wird. Eine gewisse Hilfe für die Bemühungen des Arbeitnehmers um die Erfüllung seines verbliebenen Informationsbedarfs wird die rechtzeitige Mitteilung der Kündigungsgründe aber jedenfalls geben. 6.8.2.2 Die UnterrichtungspDicht nach § 81 BetrVG Nach § 81 I BetrVG hat der Arbeitgeber den Arbeitnehmer unter anderem über dessen Aufgabe und Verantwortung sowie über die Art seiner Tätigkeit und deren Einordnung in die Arbeitsorganisation des Betriebes zu unterrichten. Daß diese Unterrichtungspflicht nicht nur bei Eintritt in den Betrieb besteht, sondern auch bei Veränderungen im Arbeitsbereich des Arbeitnehmers, ergibt sich aus § 81 II BetrVG. Ratio dieser Unterrichtungspflicht ist, dem Arbeitnehmer die Funktion seiner Arbeit im Sinne des arbeitsteiligen betrieblichen Produktionsprozesses deutlich zu machen 168 • Im Hinblick auf die Erfüllung des hier interessierenden, verbleibenden Informationsbedarfs des Arbeitnehmers im Zusammenhang eines anstehenden Kündigungsschutzprozesses wird diese Unterrichtung des Arbeitgebers dem Arbeitnehmer wenig helfen. Gewöhnlich wird die Unterrichtung eine allgemeine Beschreibung des betrieblichen Produktionsprozesses und des speziellen Anforderungsprofils des Arbeitsplatzes des Arbeitnehmers oder insofern eintretende Änderungen umfassen. Sie wird aber dem Arbeitnehmer 166 Falke / Höland / Rhode / Zimmermann, Kündigungspraxis und Kündigungsschutz in der Bundesrepublik, S. 104. 167 Ebenda, S. 323. 168 Vgl. Dietz / Richardi, BetrVG, § 81 Rn 2; Fitting / Auffarth / Kaiser, BetrVG, § 81 Rn 1; Galperin / Löwisch, BetrVG, § 81 Rn 1.

174

6. Prozeßmodell 11: Zum Beweislastmechanismus im Arbeitsrecht

beispielsweise kaum Aufschluß darüber geben, wieviele Beschäftigte des Betriebs aufgrund vergleichbarer Beschäftigungsmerkmale in den auswahlrelevanten Personenkreis bei der sozialen Auswahl einzubeziehen sind oder wo im Hinblick auf denkbare Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten vergleichbare Arbeitsplätze im Betrieb frei sind oder eingerichtet werden. Auf unternehmensspezifische Aspekte erstreckt sich die Unterrichtungspflicht nach § 81 BetrVG ohnehin nicht. 6.8.2.3 Die Unterrichtungspflicht nach § 110 BetrVG

Mindestens einmal im Kalendervierteljahr hat der Unternehmer nach § 110 BetrVG die Arbeitnehmer über die wirtschaftliche Lage und Entwicklung des Unternehmens zu unterrichten. Nach § 110 I BetrVG hat diese Unterrichtung in Unternehmen mit in der Regel mehr als tausend ständig beschäftigten Arbeitnehmern schriftlich zu erfolgen, während nach Absatz II dieser Vorschrift bei Unternehmen mit in der Regel mehr als zwanzig wahlberechtigten, ständigen Arbeitnehmern eine mündliche Unterrichtung genügt.

In der Praxis werden 48,4 % aller Kündigungen in Betrieben ausgesprochen, die nicht mehr als zwanzig Arbeitnehmer beschäftigen. Von den restlichen Kündigungen erfolgen 6,9 % in Betrieben mit mehr als tausend Beschäftigten 169 • Damit liegen bei etwa der Hälfte der gekündigten Arbeitnehmer die Voraussetzungen einer Unterrichtung nach § 110 BetrVG vor, wobei lediglich 6,9 % der gekündigten Arbeitnehmer schriftlich zu unterrichten sind. Nach Inhalt und Umfang dieser Unterrichtungspflicht steht zu vermuten, daß auch daraus der Arbeitnehmer wenig zur Erfüllung seines Informationsbedarfs im Zusammenhang eines anstehenden Kündigungsschutzprozesses profitieren kann. Das Unterrichtungsrecht geht vor allem dahin, dem Arbeitnehmer die wirtschaftliche Entwicklung des Unternehmens seit dem letzten Bericht deutlich zu machen, über die Vermögenslage, die Position am Markt und den Absatz des Unternehmens zu informieren sowie zu verdeutlichen, wie der Arbeitgeber die wirtschaftlichen Aussichten des Unternehmens in der Zukunft beurteilt 170 • Für den Umfang dieser Unterrichtungspflicht wird eine Darstellung der wirtschaftlichen Lage und Entwicklung des Unternehmens in groben Zügen als ausreichend erachtet, da aufgrund des Fehlens einer Verschwiegenheitspflicht sowie des weiten Adressatenkreises des § 110 BetrVG vom Unternehmer nur solche Angaben verlangt werden können, bei denen eine Beeinträchtigung der Wettbewerbsposition des Unternehmens nicht zu befürchten steht 171. 169 Falke / Höland / Rhode / Zimmermann, Kündigungsschutz und Kündigungspraxis in der Bundesrepublik, S. 74, Tab. I / 18. 170 Vgl. Dietz / Richardi, BetrVG, § 110 Rn 8; Galperin / Löwisch, BetrVG, § 110 Rn2.

6.8 Zur Bewältigung des verbleibenden Informationsbedarfs

175

Somit wird ein gekündigter Arbeitnehmer allenfalls in Einzelfällen und bei einer Begründung der Kündigung mit betriebsbedingten Erfordernissen einmal konkrete Erkenntnisse oder für seine Informationslasten im Kündigungsprozeß relevante Informationen erhalten (etwa über Neueinstellungen, Überstunden, Einsatz von Leiharbeitern, Einführung von Kurzarbeit in anderen Betriebsstellen, Teilstillegungen oder Durchführung von Rationalisierungsprojekten). 6.8.2.4 Anhörung des Betriebsrats nach § 102 Abs. 1 BetrVG Eine ohne Anhörung des Betriebsrates ausgesprochene Kündigung ist nach

§ 10211 BetrVG unwirksam. Nach Satz 1 dieser Vorschrift ist der Betriebsrat

vor jeder Kündigung zu hören und gemäß Satz 2 hat der Arbeitgeber ihm dabei die Gründe seiner Kündigung mitzuteilen.

Hierfür genügt es nicht, wenn der Arbeitgeber bloße Werturteile ohne Angabe der maßgeblichen Tatsachen mitteilt oder die Kündigungsgründe nur stichwortartig und pauschal bezeichnet 172 . Vom Arbeitgeber ist eine konkrete Unterrichtung über die Personalien des Arbeitnehmers, den Kündigungstermin, die Art der Kündigung und die tatsächlichen Voraussetzungen für die einzelnen Merkmale des betreffenden Kündigungsgrundes zu verlangen. Die Unterrichtungspflicht gegenüber dem Betriebsrat geht dabei aber nicht so weit wie die Darlegungspflicht des Arbeitgebers im Kündigungsschutzprozeß173. Er ist deshalb nach allgemeiner Auffassung nicht verpflichtet, dem Betriebsrat Beweismaterial und Unterlagen zur Verfügung zu stellen oder Einsicht in die Personalakten zu gewähren 174 . Der Arbeitgeber hat den Betriebsrat bei einer betriebsbedingten Kündigung dabei weiter über die Gründe zu unterrichten, nach denen er die getroffene soziale Auswahl des gekündigten Arbeitnehmers getroffen hat, also die Gesichtspunkte zur Abgrenzung des auswahlrelevanten Personenkreises vergleichbarer Arbeitnehmer sowie deren jeweilige Sozialdaten175 . Die Recht-

171 Fitting / Auffarth / Kaiser, BetrVG, § 110 Rn 5; Dietz / Richardi, BetrVG, § 110 Rn 8, jeweils mwN. 172 BAG AP Nr. 16 zu § 102 BetrVG; BAG BB 1985, S. 321 f; Dietz / Richardi, BetrVG, § 102 Rn 62; KR-Etzel, KSchG, § 102 BetrVG Rn 64; Fitting / Auffarth / Kaiser, BetrVG, § 102 Rn 5 b; Galperin / Löwisch, BetrVG, § 102 Rn 28 f. 173 Vgl. ausführlich BAGE 34, S. 309 ff., 320 und BAG NZA 1984, S. 93 f.; dazu kritisch Schumann, Zur Anhörung des Betriebsrats bei einer Kündigung wegen häufiger Kurzerkrankungen, DB 1984, S. 1878 ff. 174 Vgl. Nachweise Fn 172. 175 Galperin / Löwisch, BetrVG, § 102 Rn 28; Becker-Schaffner, Zum Anhörungsrecht des Betriebsrats bei einer Kündigung aus dringenden betrieblichen Erfordernissen, BlStSozArbR 1977, S. 193 ff., 194 f., beide mit ausführlichen Nachweisen.

176

6. Prozeßmodell 11: Zum Beweislastmechanismus im Arbeitsrecht

sprechung will dies jedoch erst nach einem entsprechenden Verlangen des Betriebsrates auf Unterrichtung über die Gründe der sozialen Auswahl annehmen 176 , wobei das Bundesarbeitsgericht allerdings in einer neueren Entscheidung von dieser Voraussetzung abgerückt ist 177 • Hat nun der Betriebsrat gegen eine ordentliche Kündigung Bedenken, so hat er diese dem Arbeitgeber unter Angabe der Gründe nach § 102 11 BetrVG schriftlich mitzuteilen, wobei der Betriebsrat erforderlichenfalls vor seiner Stellungnahme den betroffenen Arbeitnehmer hören soll. Der Betriebsrat kann aber auch unter Berufung auf die besonderen Widerspruchs gründe in § 102 111 Nr. 1 - 5 der ordentlichen Kündigung widersprechen. Kündigt der Arbeitgeber nun trotz Widerspruchs des Betriebsrats, so hat er gemäß § 102 IV BetrVG dem Arbeitnehmer mit der Kündigung eine Abschrift der Stellungnahme des Betriebsrats zuzuleiten. Aus dem Anhörungsverfahren vor dem Betriebsrat eröffnen sich also für den gekündigten Arbeitnehmer mit seinem verbliebenen Informationsbedarf erhebliche Chancen zur Erlangung der erforderlichen Informationen. In der Praxis machen die Betriebsräte bei beabsichtigten Kündigungen des Arbeitgebers allerdings recht selten schriftliche Bedenken geltend oder erheben Widerspruch. Überwiegend stimmen sie den beabsichtigten Kündigungen ausdrücklich oder stillschweigend zu. Die Gerichtsanalyse bei der Hamburger Kündigungsschutzstudie ergab, daß in 6,6 % der Fälle vom Betriebsrat schriftlich Bedenken erhoben wurden und in 10,3 % der Fälle Widerspruch eingelegt wurde 178 • Sonst wurde ausdrücklich oder stillschweigend zugestimmt. Die Befragung der Unternehmen ergab in 6,2 % der Fälle schriftliche Bedenken und in 8,2 % Widerspruch 179 • Die Befragung der Betriebsräte ergab in 14,8 % der Fälle schriftliche Bedenken und in 15,3 % Widerspruch 180 • Mindestens bei zwei Dritteln aller Kündigungen haben die Betriebsräte den Kündigungen also ausdrücklich oder stillschweigend zugestimmt. Abgesehen von den Informationschancen ergeben sich bei einem Widerspruch des Betriebsrats für den gekündigten Arbeitnehmer noch weitere entscheidende Erleichterungen im Kündigungsschutzprozeß. Der Arbeitnehmer kann sich dann gegebenenfalls auf die absoluten Gründe der Sozialwidrigkeit 176 Vgl. BAG AP Nr. 4zu § 102 BetrVG, mwN; aA teilweise die Instanzgerichte, vgl. LAG Hamburg DB 1978, S. 644; LAG Baden-Württ. BB 1977, S. 294; ähnlich Dietz / Richardi, BetrVG, § 102 Rn 57; Fitting / Auffarth / Kaiser, BetrVG, § 102 Rn 17. 177 BAG AuR 1984, S. 186; vgl. zur BR-Anhörung auch eingehend BAG NZA 1984, S. 93 ff. und die ausführliche Besprechung von Rummel, Die Anhörung des Betriebsrats bei krankheitsbedingten Kündigungen, NZA 1984, S. 76 ff. 178 Falke / Höland / Rhode / Zimmermann, Kündigungsschutz und Kündigungspraxis in der Bundesrepublik, S. 739, Tab. IV / 101. 179 Ebenda, S. 118, Tab. I / 31. 180 Ebenda, S. 189, Tab. 11 / 11.

6.8 Zur Bewältigung des verbleibenden Informationsbedarfs

177

nach § 1 II 2 und 3 KSchG berufen. Ist der Widerspruch des Betriebsrats ordnungsgemäß, das heißt insbesondere form- und fristgerecht eingelegt worden, so ist die ausgesprochene Kündigung absolut sozialwidrig, wenn der oder die Widerspruchsgründe, auf die der Betriebsrat seinen Widerspruch gestützt hat, zum Zeitpunkt der Kündigungserklärung objektiv gegeben waren 18l . Die prozessualen Erleichterungen für den gekündigten Arbeitnehmer liegen in diesen Fällen nicht nur in einer Beschränkung des Prozeßstoffs auf den vom Betriebsrat in seinem Widerspruch angeführten absoluten Grund der Sozialwidrigkeit der Kündigung, sondern sie ergeben sich weiter durch die unstreitige Anwendung der Regel des § 1 II 4 KSchG für die Verteilung der Informationslasten mit der Folge einer weitgehenden Reduzierung des Informationsbedarfs des Arbeitnehmers. Beruft er sich auf die im Widerspruch enthaltenen Angaben, so trägt der Arbeitgeber die prozessualen Informationslasten dafür, daß die im Widerspruch enthaltenen Sachverhaltsangaben zu den Voraussetzungen der absoluten Sozialwidrigkeitsgründe zum Zeitpunkt der Kündigung des Arbeitgebers objektiv nicht vorgelegen haben 182 • 6.8.2.5 Kündigungseinspruch nach § 3 KSchG Der Arbeitnehmer kann binnen einer Woche nach der Kündigung beim Betriebsrat Einspruch einlegen, wenn er die Kündigung für sozialwidrig erachtet. Auf Verlangen hat der Betriebsrat seine Stellungnahme zu dem Einspruch dem Arbeitnehmer und dem Arbeitgeber schriftlich mitzuteilen, § 3 KSchG. Dies gilt unabhängig von der Entscheidung des Betriebsrats über den Einspruch. Die Stellungnahme des Betriebsrats darf sich nicht in der Mitteilung der Entscheidung des Betriebsrats erschöpfen, sondern soll entsprechend der Funktion dieser Stellungnahme eine Begründung enthalten. Dies ist schon deshalb zutreffend, weil sonst die ratio des § 3 KSchG verfehlt würde, nämlich den Beteiligten im Hinblick auf eine Einigung oder Durchführung eines Kündigungsschutzprozesses eine Entscheidungshilfe zu geben 183 . Damit soll die besondere betriebliche Sachkunde und der Überblick des Betriebsrates über 181 BAG EZA NI. 7 zu § 102 BetrVG; KR-Becker, KSchG, § 1 Rn 139; Dietz / Richardi, BetrVG, § 102 Rn 166; Fitting / Auffarth / Kaiser, BetrVG, § 102 Rn 12. Zu den Anforderungen an die Ordnungsmäßigkeit des Widerspruchs ausführlich KREtzel, KSchG, § 102 BetrVG Rn 142 ff. mwN. 182 Vgl. BAG DB 1983, S. 180; Hueck, KSchG, § 1 Rn 150; Meisel, Die Mitwirkung und Mitbestimmung des Betriebsrats in personellen Angelegenheiten, 5. Aufl. 1984, S.186. 183 Hueck, KSchG, § 3 Rn 10; KR-Rost, KSchG, § 3 Rn 24, Galperin / Löwisch, BetrVG, § 102 Rn 8; Schaub, Handbuch des Arbeitsrechts, § 135 IV; Brill, Kündigungseinspruch trotz Anhörung des Betriebsrats, AuR 1977, S. 109.

12 Haug

178

6. Prozeßmodell 11: Zum Beweislastmechanismus im Arbeitsrecht

die betrieblichen Gegebenheiten für die Entscheidung der Parteien nutzbar gemacht werden. Der Einspruch kann mündlich oder schriftlich erfolgen und bedarf keiner Begründungl84 . Aufgrund der Begründungspflicht der Betriebsratsstellungnahme kann der Arbeitnehmer hinsichtlich des bei ihm verbliebenen Informationsbedarfs für einen Kündigungsschutzprozeß aus den Ausführungen des Betriebsrats wertvolle Informationen darüber erlangen, warum die vom Arbeitgeber vorgetragenen Gründe nach Auffassung des Betriebsrats die Kündigung rechtfertigen bzw. nicht rechtfertigen. Bei dieser Stellungnahme zum Kündigungseinspruch des Arbeitnehmers sind gegebenenfalls auch Ausführungen dazu erforderlich, ob nach Meinung des Betriebsrats bei der Auswahl eines betriebsbedingten gekündigten Arbeitnehmers soziale Gesichtspunkte ausreichend berücksichtigt worden sind. Eine besondere Bedeutung erlangt der Kündigungseinspruch für den Arbeitnehmer naturgemäß vor allem in den Fällen, in denen der Betriebsrat gegen die Kündigung des Arbeitgebers keinen Widerspruch eingelegt hat.

184 Hueck, KSchG, § 3 Rn 7; Schaub, Handbuch des Arbeitsrechts, § 135 I; Brill AuR 1977, S. 109 f.

7. Materiellrechtliches Moden:

Der Einsatz arbeitsrechtlicher Auskunftsansprüche zur Gestaltung der Informationsbeziehungen Im Vergleich zum Modell des Beweislastmechanismus mit seiner Funktionsweise einer Herabsetzung des Informationsbedarfs des strukturell schlechter informierten Konfliktbeteiligten wurde oben das materiellrechtliche Modell als Strategie einer Erfüllung des berechtigten Informationsbedarfs dieses Konfliktbeteiligten entwickeltl. Dabei hat sich gezeigt, daß zwischen beiden Modellen keine,schlichte Substituierbarkeit mit der Folge einer einfachen Wahlmöglichkeit des Einsatzes der' einen oder der anderen Strategie besteht, sondern daß jede ihre spezifische Wirkungsweise und ihre spezifischen Einsatzmöglichkeiten aufweist, soll jeweils der Einsatz einer solchen Strategie eine effektive und sinnvolle Lösung der Informationsproblematik bieten. Beide Modelle sind deshalb aber keinesfalls inkompatibel. Schon, bei der Besprechung des arbeitsrechtlichen Einsatzes des Beweislastmechanismus hat sich gezeigt2 , daß verbleibende informationelle Schwierigkeiten des Arbeitnehmers - als gewöhnlich insofern benachteiligtem Konfliktbeteiligten - durchaus im Wege eines den Beweislastmechanismus ergänzenden Einsatzes der Strategie materiellrechtlicher Ansprüche auf Erteilung der in Frage stehenden Informationen angegangen und gelöst werden können. Als Hauptanwendungsfeld der materiellrechtlichen Strategie hat sich im übrigen bei der Analyse der Bewältigung entsprechender Informationsprobleme in typischen, modernen Zivilrechtskonflikten - im Gegensatz zum Beweislastmechanismus, mit seinem besonderen Bezug zum Prozeß und zu dem anderen Konfliktbeteiligten als Prozeßpartei - der Bereich beiderseitiger Gestaltung und beiderseitiger Steuerung "offener Situationen" ergeben. Dies sind vor allem die Fallkonstellationen, in denen eine Seite zur Beteiligung an der Entwicklung von Strategien und der Ausarbeitung von Maßnahmen zur künftigen Gestaltung bestimmter Sachkomplexe, also an Planungsprozessen der anderen Seite, berufen ist. Zur Wahrung derartiger Beteiligungsrechte ist eine Herabsetzung des Informationsbedarfs keine sinnvolle Strategie. Ohne Erlangung der relevanten planungs- oder entscheidungserheblichen Informa-

1 2

12'

Vgl. oben Abschnitt 4. Vgl. oben Abschnitt 6.8.

180

7. Materiellrechtliches Modell: Auskunftsansprüche im Arbeitsrecht

tionen ist es nicht möglich, an irgendwelchen Planungsprozessen sinnvoll teilzunehmen, denkbare Alternativen zu verstehen, einzuordnen und zu bewerten, jeweils die Folgen abzuschätzen und darauf aufbauend Übereinstimmung mit der favorisiserten Stategie oder Maßnahme festzustellen bzw. sinnvolle und beratungsfähige Vorschläge zur Verbesserung, zur Änderung oder zu einer Neukonzeption zu machen. Beteiligungsrechte in solchen Zusammenhängen und deren praktisch effektive Ausbildung - so läßt sich formulieren stehen und fallen also mit dem Einsatz der materiellrechtlichen Strategie zur Gewinnung einer entsprechenden informationellen Kompetenz.

7.1 Informationsansprüche im Arbeitsrecht Das Arbeitsrecht bietet eine ganze Fülle von Informations-, Auskunfts-, Melde- und Dokumentationspflichten. Sie ergeben sich aus einer Vielzahl von Vorschriften des Bundesrechts. Daneben ergeben sich weiter solche Ansprüche (oder nähere Ausformungen der bundesrechtlich normierten Ansprüche) aus Vorschriften der Länder, aus Tarifverträgen und Betriebsvereinbarungen, aus Arbeitsverträgen und Sonderregelungen für einzelne Berufsgruppen oder Ehrenämter. Informationsverpflichtet ist überwiegend der Arbeitgeber (Unternehmer). Diese Verpflichtungen bestehen dabei einerseits gegenüber innerbetrieblichen Stellen, insbesondere gegenüber den Arbeitnehmern, dem Betriebsrat, dem Wirtschaftsausschuß oder dem Aufsichtsrat mit seinen Arbeitnehmervertreterno Sie bestehen aber auch andererseits gegenüber bestimmten öffentlichen Stellen und Behörden sowie allgemein gegenüber der Öffent!ichtkeit. Auskunftspflichten treffen aber nicht nur den Arbeitgeber, sondern auch den Arbeitnehmer - insbesondere im Hinblick auf außerbetriebliche Stellen, wenn die Arbeitnehmer staatliche Leistungen in Anspruch nehmen wollen. Die Auskunftsverpflichtungen sind teilweise VOn einem Verlangen des Informationsberechtigten abhängig, teilweise sind sie durch den Informationsverpflichteten ohne Aufforderung zu erfüllen. Sie lassen sich in ihrer Fülle kaum vollständig aufzählen. Allerdings ist dies im Zusammenhang der hier verfolgten Frage nach dem Einsatz der materiellrechtlichen Strategie zur Gestaltung der arbeitsrechtlichen Informationsbeziehungen auch kaum von zentralem Interesse. Im folgenden sollen deshalb lediglich die einzelnen Fallgruppen mit ihren wichtigsten Informationsansprüchen aufgezeigt werden.

7.1 Informationsansprüche im Arbeitsrecht

181

7.1.1 Auskunftsptlichten des Arbeitgebers / Unternebmers gegenüber staatlichen Stellen und Öffentlichkeit In diesem Bereich findet sich eine besondere große Anzahl verschiedenster Informationspflichten, die insbesondere an die Personalverwaltung der Betriebe und Unternehmen nicht selten große Anforderungen stellen und die zum rasanten Siegeszug der computergestützten Datenverarbeitung in den Unternehmen geführt haben. 7.1.1.1 Informationspflichten gegenüber Behörden

Häufig bestehen solche gesetzlichen Informationspflichten gleichzeitig gegenüber einer Behörde und gegenüber betrieblichen Stellen wie dem Betriebsrat oder Arbeitnehmern, beispielsweise beim Arbeitsschutz nach § 89 BetrVG und §§ 11, 12 ASiG (Arbeitssicherheitsgesetz) oder bei Massenentlassungen nach § 17 KSchG. (1) Gerade hinsichtlich des Arbeitsschutzes und potentieller Gefährdungen der Gesundheit des Arbeitnehmers am Arbeitsplatz finden sich besonders viele Informationspflichten: Hier bestehen neben den genannten Vorschriften weiter besondere Mitteilungspflichten gegenüber dem Gewerbeaufsichtsamt oder den allgemeinen Polizeibehörden nach §§ 105 c 11, 139 b V, Va GewO, für die sogar besondere Geheimhaltungspflichten in § 139 bI3 GewO und § 30 VwVfG einschlägig sind3 • Andere Vorschriften sollen eine spezielle Kontrolle des Schutzes der Arbeitnehmer in besonderen Einzelfällen gewährleisten: § 10 SchwerbG durch Informationen und Verzeichnisse über Schwerbehinderte an die Bundesanstalt für Arbeit und die zuständige Hauptfürsorgestelle, §§ 11, 14 SchwerbG für die Kündigungsgründe bei Schwerbehinderten; §§ 41 I, 49, 50 JArbSchG mit Informationen an die Berufsgenossenschaft und die zuständige Aufsichtsbehörde über Gesundheitszustand (ärztliche Bescheinigungen), Verzeichnisse über Name, Alter, Adresse, Beschäftigungsbeginn und Einnahmen von Jugendlichen sowie nach §§ 33 11 Nr. 1 und 45 I BBiG an die zuständige Kammer zur Überwachung der B~rufsausbildung; §§ 5 I 3, 19 MSchG durch Auskunft über Schwangerschaft, Entbindungstag, Beschäftigungsart und -zeit, Lohn- und Gehaltszahlung der werdenden Mutter; §§ 6 iVm 9 der 1. DVO zum HAG, 8, 9 III und 28 I 1 HAG mit Informationen über Beschäftigungsdaten und Entgelt der Heimarbeitnehmer an die oberste Arbeitsbehörde des Landes und ihre Entgeltprüfer , § 15 HAG mit Meldungen über die Namen und Beschäftigung von Heim3 Zu diesem Problemkreis ausführlich Knarr, Geheimhaltung und Gewerbeaufsicht, 1982, S. 9 ff., 30 ff.

182

7. Materiellrechtliches Modell: Auskunftsansprüche im Arbeitsrecht

arbeitern an Gewerbeaufsicht und Polizeibehörde; §§ 7, 8 I, 11 I AÜG an die Erlaubnisbehörde über die Anzahl, die Personal- und Beschäftigungsdaten der Leiharbeitnehmer; §§ 8 iVm NT. 10 der AusfVO, 19 iVm NT. 22 der AusfVO und 24 II AZO iVm Nr. 37 der AusfVO zur AZO mit Informationen zu Arbeitszeitverlagerungen , Schichtverlegungen bzw. Arbeitszeit und Lohndaten aller beschäftigten Arbeitnehmer gegenüber der Bewerbeaufsicht; wohl auch hierzu zu rechnen sind die Informationspflichten nach § 11 BetrAVG an den Träger der Insolvenzversicherung über betriebliche Versorgungszusagen und gegenüber der Bundesanstalt nach § 132 a AFG bei der Feststellung von Beschäftigungsverhältnissen bei Außenprüfungen, § 144 AFG wegen Informationen zur Durchführung des AFG bzw. gegenüber dem Arbeitsamt nach § 141 g AFG wegen Informationen zur Berechnung des Konkursausfallgeldes. (2) Spezielle Informationsmöglichkeiten bei bestimmten Beschäftigungsgruppen: Neben der praktisch herausragenden Fallgruppe des Arbeitsschutzes und dessen Kontrolle bestehen noch viele andere Einzelvorschriften, von denen lediglich einige zur Verdeutlichung der ganzen Spannweite von Informationsverpflichtungen des Arbeitgebers bzw. Unternehmers genannt sein sollen: §§ 10, 17, 18 III HandwerksO (Angaben zu Betrieb, Beschäftigten und Ausbildungsverhältnissen gegenüber der Handwerkskammer); § 21 LadenSchlG (Beschäftigungsdaten und -zeiten an zuständige Verwaltungsbehörde), § 22 GaststättenG (Auskunft über beschäftigte Personen an Aufsichtsbehörde); § 4 111, V des Gesetzes über das Fahrpersonal im Straßenverkehr und § 10 der VO über die Beschäftigung von Frauen auf Fahrzeugen, Art. 1 der DurchfVO zum ArbeitszeitG in Bäckereien und Konditoreien (Lohn- und Gehaltsangaben bzw. Personaldaten an Verwaltungsbehörde bzw. Gewerbeaufsicht). (3) Spezielle Informationspflichten bei bestimmten Sachkomplexen: § 17 KSchG (Anzeige von Massenentlassungen beim Arbeitsamt); § 46 GWB (erforderliche Angaben über wirtschaftliche Verhältnisse an Kartellbehörde, oberste Landesbehörde oder Bundesminister für Wirtschaft) und die Anzeigepflicht nach § 23 GWB; § 10 BStatG iVm einer Reihe von Ausführungsgesetzen (statistische Angaben an das Statistische Bundesamt); §§ 30, 32, 3911 iVm 6 bis 8 BDSG (Auskunft, Aufzeichnung oder Meldung aller für eine Datenschutzkontrolle erforderlichen Angaben, wie bestimmte Funktionsträger beim Datenschutz, Arten der gespeicherten personenbezogenen Daten, regelmäßige Übermittlungen und deren Empfänger, berechtigtes Interesse an Datenüberrnittlungen etc); §§ 11 ArbplSchG, 24 ArbSichStG, 20 UntSichG, 9 MustVO, 18 ZDG und 9 II KatSG (Angaben über Wehrdienst- bzw. ersatzdienstleistende Arbeitnehmer, Verdienstausfall oder erforderliche Angaben zur Feststellung der für eine Unterhaltssicherung erforderlichen Leistungen); §§ 14, 31 Spreng-

7.1 Informationsansprüche im Arbeitsrecht

183

stoffG, 2 WaffenG, 39, 66, 68 StrahlenschutzVO, 40, 41, 43 RöntgenVO, 19 DruckluftVO (zur Ausführung der Gesetze erforderliche Angaben an zuständige Aufsichtsbehörde bzw. Gewerbeaufsichtsämter); § 53 b II FGG (Angaben an das Familiengericht über Versorgungsanwartschaften zur Durchführung des Versorgungsausgleichs). (4) Spezielle Informationspflichten im Bereich von Sozialabgaben und Besteuerung: §§ 317,317 a und 318 a, 393 a, 519 RVO (Information des Trägers der Krankenversicherung bzw. der zuständigen Ersatzkasse zur Durchführung der Krankenversicherung und des Beitragseinzugs); §§ 611 Nr. 2, 741 I, 742 iVm 1581 I, 744, 807 RVO (Auskunft und Meldungen über Unfallversichertenzahlen, Lohn-, Arbeits- und Unternehmensverhältnisse, Vorlage von Geschäftsbüchern und anderen entsprechenden Unterlagen mit personenbezogenen Informationen an die Berufsgenossenschaft); §§ 1401 RVO, 123 AVG iVm der 2. DEVO und der 2. DÜVO, 1427 RVO, 149 AVG (Personaldaten, Entgeltsbescheinigungen, Beschäftigungszeiten an Träger der gesetzlichen Kranken-, Arbeitslosenund Rentenversicherung); §§ 16 II BSHG, 10 V LFZG, 19 III BKGG (Bundeskindergeldgesetz), 16 g BundesversorgungsG (erforderliche Angaben zur Durchführung der Gesetze an Sozialhilfeträger , Krankenversicherungsträger, Arbeitsamt bzw. Versorgungsamt); §§ 93 1- III, 134 f., und 208 iVm 200 AO (Angaben zur Grundlage der Besteuerung und zu den für die Festlegung der Besteuerung erforderlichen Sachverhalten an das Finanzamt oder die Steuerfahndungsbehörde); §§ 41 b, 42 f., 50 a und 73 d EStG, 7 LStDVO (Angaben über Beschäftigungszeiten, Entgelt und einbehaltene Lohnsteuer an die Finanzämter); §§ 2 III, 12 VII des 4. VermBG, 3, 11, 12 VermBGVO, 11 a SparprämienGVO (Informationen über vermögenswirksame Leistungen, Arbeitnehmersparzulagen und weitere zur Durchführung der Gesetze erforderlichen Angaben gegenüber Finanzamt bzw. Kreditinstituten). 7.1.1.2 Angaben gegenüber der Öffentlichkeit

Gegenüber der Öffentlichkeit ergeben sich für den Arbeitgeber Informationspflichten häufig im Zusammenhang der Angaben, die zur Eintragung bestimmter Vorgänge ins Handelsregister beim Registerrecht erforderlich sind. Die Eintragungen werden gemäß § 10 HGB iVm § 1 I des Gesetzes über Bekanntmachungen zumeist durch Veröffentlichung im Bundesanzeiger und mindestens einem weiteren Presseorgan bekannt gemacht. Nach § 19 MitbestG sind die Namen der Mitglieder und Ersatzmitglieder des Aufsichtsrats im Bundesanzeiger zu veröffentlichen. Im übrigen ergeben sich solche Pflichten im Zusammenhang der Publizitätspflichten insbesondere hinsichtlich Jahresabschluß und Geschäftsbericht, §§ 157 Nr. 16 ff. iVm 148 AktG, §§ 177

184

7. Materiellrechtliches Modell: Auskunftsansprüche im Arbeitsrecht

iVm 178, 160 AktG, für den Konzern nach §§ 338 iVm 178, 160 AktG sowie nach § 5 PublG in Anhang zur Jahresbilanz. Änderungen bringt für Aufbau und Gestaltung hier künftig das neue EG-Recht.

7.1.2 Auskunftspflichten des Arbeitgebers gegenüber den Arbeitnehmern Die Informationspflichten des Arbeitgebers gegenüber den Arbeitnehmern dienen entweder der ordnungsgemäßen Durchführung des Arbeitsverhältnisses oder der Information über die allgemeinen Verhältnisse des Unternehmens bzw. über wichtige Vorschriften und Verordnungen zum Schutze des Arbeitnehmers. 7.1.2.1 Informationspmchten im Zusammenhang der Durchführung des Arbeitsverhältnisses

Zur ordnungsgemäßen Durchführung und Abwicklung des Arbeitsverhältnisses hat der Arbeitgeber zu Beginn eines Arbeitsverhältnisses den Arbeitnehmer nach § 81 BetrVG über seine Aufgabe, Verantwortlichkeit und Einordnung in die Arbeitsorganisation, die potentiellen Gefahren des Arbeitsplatzes durch Unfälle oder Gesundheitsbeeinträchtigungen des Arbeitnehmers zu informieren. Ähnliches gilt nach §§ 7 a, 8, 9 I, 29 HAG für die Heimarbeitnehmer. Bei Beschwerden des Arbeitnehmers hat der Arbeitgeber weiter nach § 84 11 BetrVG den Arbeitnehmer über die Behandlung der Beschwerde zu unterrichten. Nach § 1111 Satz letzter Halbsatz KSchG hat der Arbeitgeber den betriebsbedingt gekündigten Arbeitnehmer über die Gründe für die von ihm getroffene soziale Auswahl zu informieren. Nach Abschluß des Arbeitsverhältnisses sind dem Arbeitnehmer ein Nachweis über Beschäftigungszeiten und eventuell die erworbenen Fähigkeiten sowie ein qualifiziertes Zeugnis zu erteilen, §§ 630 BGB, 73 HGB (Handlungsgehilfe), 8 BBiG (Auszubildender), 113 GewO. Gleiches gilt für die Urlaubsbescheinigung nach § 611 BUrlG, die ärztlichen Bescheinigungen bei Jugendlichen nach § 41 11 JArbSchG und die Arbeitsbescheinigung über Arbeitszeiten und Entgelt nach §§ 133, 143 I AFG sowie ergänzend nach § 11 der 2. DÜVO. Ähnliche Regelungen finden sich in §§ 13411,133 GewO. Weitere Mitteilungspflichten bestehen beim Entgelt nach §§ 41 b EStG, § 11 I des 4. VermBG, § 2 VI BetrAVG und §§ 1401 RVO, 123 AVG iVm der 2. DEVO und der 2. DÜVO. Im Zusammenhang mit dem Schutz des Arbeitnehmers bestehen spezielle Pflichten zur Information nach §§ 68 111 StrahlenschutzVO, 40 11, V Röntgen VO und 19 der VO über gefährliche Arbeitsstoffe. Aufgrund der Beson-

7.1 Informationsansprüche im Arbeitsrecht

185

derheiten des Arbeitsverhältnisses hat der Arbeitgeber darüber hinaus zusätzliche Informationsverpflichtungen bei der Beschäftigung von Schwerbehinderten nach §§ 12, 14 SchwerBG über die Kündigungsgründe, bei Leiharbeitnehmern über den wesentlichen Inhalt des Arbeitsverhältnisses nach § 11 I AÜG, bei Seeleuten über die Arbeitszeit nach § 101 SeemannsG und bei Wehrpflichtigen oder Kriegsdienstverweigerern nach §§ 9 VI MustVO bzw. 18 ZDG. Umfassende Informationspflichten ergeben sich zuletzt bei der Personal datenverwaltung mit dem Einsichtsrecht des Arbeitnehmers in die Personalakte nach § 83 I BetrVG und den gemäß § 45 BDSG nachrangigen, umfassenden Auskunftsrechten aus dem BDSG für alle zur Person gespeicherten Daten gemäß §§ 4 Nr. 1 iVm 26 II - IV, bzw. iVm 34 II - IV BDSG sowie für alle neu gespeicherten, personenbezogenen Daten nach §§ 26 I, 34 I BDSG. 7.1.2.2 Informationspmchten gegenüber der Betriebsöfl'entlichkeit aller beschäftigten Arbeitnehmer

Bei der anderen Gruppe der Informationsrechte von Arbeitnehmern ist zumeist nicht der einzelne Arbeitnehmer Informationsgläubiger , sondern sozusagen die Betriebsöffentlichkeit. Hinsichtlich der wirtschaftlichen Lage und Entwicklung des Unternehmens ergibt sich unter gewissen Voraussetzungen eine Berichtspflicht des Unternehmers nach § 110 BetrVG. Über Personal- und Sozialwesen des Betriebs sowie die Lage und die Entwicklung des Betriebs hat der Arbeitgeber - soweit nicht Geheimnisse gefährdet werden mindestens einmal jährlich nach § 43 II 2 BetrVG auf einer Betriebsversammlung zu berichten. Pflichten zur Bekanntgabe durch Aushang oder Auslage an allgemein zugänglicher Stelle im Betrieb treffen den Arbeitgeber bezüglich der jeweils maßgeblichen Tarifverträge nach § 8 TVG, der geltenden Betriebsvereinbarungen nach § 77 II 3 BetrVG, der Arbeitszeitordnung nach § 24 I AZO iVm der AusführungsVO zu § 24 I Nr. 1 AZO, des Mutterschutzgesetzes nach § 19 MSchG sowie des Wortlauts der §§ 611 a, 611 b, 612 III, 612 a BGB gemäß Art. 2 des arbeitsrechtlichen EG-AnpassungsG vom 13. August 1980.

7.1.3 Auskunftsptlichten des Arbeitgebers / Unternehmers

gegenüber dem Betriebsrat und dem Wirtschaftsausschuß

Auskunftspflichten des Arbeitgebers oder Unternehmers gegenüber bestimmten betrieblichen Stellen sind orientiert an den Aufgaben, die diese Stellen jeweils wahrzunehmen haben. Zumeist bilden diese Informationsrechte die Basis für jegliche effektive Erfüllung der gesetzlich definierten Aufgaben dieser betrieblichen Stellen.

186

7. Materiellrechtliches Modell: Auskunftsansprüche im Arbeitsrecht

7.1.3.1 AUgemeine Grundregel zur Information des Betriebsrats

Die allgemeinen Aufgaben des Betriebsrats sind in § 80 BetrVG näher umschrieben. Der Betriebsrat hat in Erfüllung dieser Aufgaben die Interessen der im Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer gegenüber dem Arbeitgeber gemäß § 2 Abs. 1 BetrVG zum Wohle der Arbeitnehmer und des Betriebes wahrzunehmen. Zur Absicherung der entsprechenden informationellen Basis der Betriebsratsarbeit formuliert § 80 11 BetrVG, daß der Betriebsrat "zur Durchführung seiner Aufgaben nach diesem Gesetz" vom Arbeitgeber "rechtzeitig und umfassend zu informieren" ist. "Ihm sind auf Verlangen jederzeit die zur Durchführung seiner Aufgaben erforderlichen Unterlagen zur Verfügung zu stellen". Weiter haben Arbeitgeber und Betriebsrat nach § 74 I BetrVG mindestens einmal im Monat zu einer Besprechung zusammenzukommen und über strittige Fragen "mit dem ernsten Willen zur Einigung zu verhandeln und Vorschläge für die Beilegung von Meinungsverschiedenheiten" zu machen. Durch diesen allgemeinen Informationsanspruch des Betriebsrats sollen die informationellen Voraussetzungen einer effektiven und sinnvollen Wahrnehmung der Betriebsratsaufgaben und seiner Mitbestimmungs-, Mitwirkungsund sonstigen Beteiligungsrechte, insbesondere nach §§ 87 ff., 90 f., 92 ff., 106 ff., 111 ff. BetrVG geschaffen werden. 7.1.3.2 SpezieUe InformationspOichten in bestimmten Aufgabenbereichen des Betriebsrats

Im übrigen wird die Kommunikationsstruktur zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat im Betriebsverfassungsgesetz bereichsspezifisch weiter ausdifferenziert und ergänzt. Bei Arbeitsunfällen ist zunächst auch dem Betriebsrat gemäß § 89 11 BetrVG eine Durchschrift der Unfallanzeige gemäß § 1552 RVO auszuhändigen. Bei Arbeitnehmerbeschwerden hat der Arbeitgeber den Betriebsrat nach § 85 11 B,etrVG über die Behandlung der Beschwerde zu unterrichten. Nach § 90 BetrVG hat der Arbeitgeber den Betriebsrat weiter rechtzeitig über die Planung von Neu- und Erweiterungsbauten von betrieblichen Räumen und technischen Anlagen, über die Planung von Arbeitsverfahren und -abläufen sowie über die Planung der Arbeitsplätze zu informieren und die vorgesehenen Maßnahmen insbesondere hinsichtlich der Auswirkungen auf die Art der Arbeit bzw. auf die Arbeitsanforderungen mit dem Betriebsrat zu beraten. Über die Personalplanung, insbesondere über den gegenwärtigen bzw. künftigen Personalbedarf, sich daraus ergebende personelle Maßnahmen und Ausbildungsmaßnahmen hat der Arbeitgeber den Betriebsrat gemäß § 92 I BetrVG umfassend, rechtzeitig, anhand von Unterlagen zu unterrichten und

7.1 Informationsansprüche im Arbeitsrecht

187

mit ihm über die erforderlichen Maßnahmen und deren Folgen zu beraten. Dabei kann der Betriebsrat nach § 92 11 BetrVG Vorschläge zur Schaffung und Durchführung einer betrieblichen Personalplanung machen. Im Bereich der personellen Einzelmaßnahmen4 hat der Arbeitgeber den Betriebsrat gemäß § 99 Abs. 1 BetrVG vor jeder Einstellung, Eingruppierung, Umgruppierung und Versetzung zu unterrichten, ihm die erforderlichen Bewerbungsunterlagen vorzulegen und Auskunft über die Person der Beteiligten zu geben. Er hat dem Betriebsrat weiter unter Vorlage der erforderlichen Unterlagen Auskunft über die Auswirkungen der geplanten Maßnahme zu geben und die Zustimmung des Betriebsrats einzuholen. Bei Einstellungen und Versetzungen sind dabei insbesondere der in Aussicht genommene Arbeitsplatz und die vorgesehene Eingruppierung mitzuteilen. Bei Kündigungen ist in § 102 Abs. 1 BetrVG ein spezielles Anhörungsverfahren vorgesehen5 . Im Bereich der wirtschaftlichen Angelegenheiten erhält der Betriebsrat Informationen nicht direkt vom Arbeitgeber, sondern über den Wirtschaftsausschuß, der seinerseits den Betriebsrat gemäß § 106 I 2 aE BetrVG zu unterrichten hat. Hier stehen weiter dem Betriebsrat besondere Unterrichtungsund Beratungsrechte gegenüber dem Arbeitgeber im Bereich der Betriebsänderungen im Sinne des § 111 BetrVG zu, also insbesondere bei Einschränkungen, Stillegungen oder Verlegungen des ganzen Betriebs oder wesentlicher Betriebsanteile, beim Zusammen schluß mit anderen Betrieben,bei grundlegenden Änderungen des Betriebszwecks, der Betriebsorganisation oder der Betriebsanlagen bzw. bei der Einführung grundlegend neuer Arbeitsmethoden oder Fertigungsverfahren. Diese für bestimmte einzelne Aufgabenbereiche über die allgemeine Grundregel des § 80 11 BetrVG hinaus näher spezifizierten Informationsregeln des BetrVG werden wiederum ergänzt durch entsprechende Auskunftsrechte des Betriebsrats nach anderen Gesetzen, etwa für den Bereich der Betriebsratswahlen durch § 2 der Wahlordnung (1. DurchführungsVO zum BetrVG) iVm § 16 I BetrVG, wonach Namen, Geburtsdatum und Gruppenzugehörigkeit der Arbeitnehmer zur Aufstellung der Wählerliste dem Betriebsrat bzw. dem Wahlvorstand durch den Arbeitgeber anzugeben sind. Ein anderer ähnlicher Bereich ist beispielsweise die Beschäftigung Schwerbehinderter: Hier ist der Betriebsrat durch ein Verzeichnis nach § 10 11 3 SchwerbG über die beschäftigten Schwerbehinderten zu unterrichten. Nach § 11 I 2 SchwerbG sind ihm die Einstellungsunterlagen und nach §§ 12, 14 SchwerbG die besonderen Gründe für die Kündigung eines Schwerbehinderten mitzuteilen.

4

Voraussetzung ist ein Betrieb mit mehr als 20 wahlberechtigten Arbeitnehmern,

5

Dazu siehe oben Abschnitt 6.8.2.4.

§ 99 I 1. Halbsatz BetrVG.

188

7. Materiellrechtliches Modell: Auskunftsansprüche im Arbeitsrecht

7.1.3.3 Die Informationsrechte des Wirtschaftsausschusses

Für die Unterrichtung und Beratung in wirtschaftlichen Angelegenheiten des Unternehmens durch den Unternehmer ist in allen Unternehmen mit in der Regel mehr als 100 ständig beschäftigten Arbeitnehmern nach § 106 I BetrVG ein Wirtschaftsausschuß zu bilden, der seinerseits den Betriebsrat nach §§ 106 I 2,108 IV BetrVG unverzüglich und vollständig unterrichtet. Die Mitglieder sollen die erforderliche persönliche und fachliche Eignung besitzen. Es können auch leitende Angestellte dem Wirtschaftsausschuß angehören, jedoch immer mindestens ein Betriebsratsmitglied, § 107 Satz 1 BetrVG. Weitere Arbeitnehmer oder Sachverständige können ergänzend herangezogen werden. Die Aufgaben des Wirtschaftsausschusses können nach § 107 III BetrVG auch einem Ausschuß des Betriebsrats übertragen werden. Der Wirtschaftsausschuß soll nach § 108 I, II BetrVG monatlich einmal unter Teilnahme des Arbeitgebers oder seines Vertreters zusammentreten. Empirisch ist bekannt, daß die Bildung von Wirtschaftsausschüssen oftmals selbst dann unterlassen wird, wenn hierfür die erforderlichen gesetzlichen Voraussetzungen gegeben sind6 . Eine in Baden-Württemberg durchgeführte Fragebogenaktion bei 1780 Betrieben ergab, daß nach Angaben der Betriebsräte in ca. 45 % der Betriebe kein Wirtschaftsausschuß besteht? Die Informations- und Beratungsrechte des Wirtschaftsausschusses gehen nach § 106 II BetrVG dahin, daß der Unternehmer rechtzeitig und umfassend über die wirtschaftlichen Angelegenheiten unter Vorlage der erforderlichen Unterlagen zu unterrichten hat sowie die sich daraus ergebenden Auswirkungen auf die Personalplanung darzustellen hat. Der lahresabschluß ist nach § 108 V BetrVG dem Wirtschaftsausschuß unter Beteiligung des Betriebsrats zu erläutern. Im einzelnen werden zu den Informationsrechten noch zwei Punkte näher geregelt: Soweit einerseits nach den Vorschriften Unterlagen vorzulegen sind, dürfen nach § 108 III BetrVG die Mitglieder des Wirtschaftsausschusses Einsicht nehmen. Andererseits zählt das Gesetz in § 106 III Nrn. 1 10 BetrVG die wichtigsten Fallgruppen der wirtschaftlichen Angelegenheiten eingeleitet mit "insbesondere" enumerativ auf. Es handelt sich dabei im wesentlichen um Gegenstände der unternehmerischen Planungs- und Entscheidungs befugnis. Zur Beilegung von Meinungsverschiedenheiten über die Auskunftspflicht des Unternehmers, wenn der Wirtschaftsausschuß die Erfüllung eines Infor6 Dazu die Ergebnisse der Untersuchung von Gege, Die Funktion des Wirtschaftsausschusses im Rahmen der wirtschaftlichen Mitbestimmung, DB 1979, S. 647 ff., 650; Bösche, Die Informationsrechte der Wirtschaftsausschußmitglieder, in: Brehm I Pohl (Hrsg.), Interessenvertretung durch Information, 1978, S. 154 ff., 155. 7 Vgl. Schmidt, Edgar, Betriebsrätearbeit bei krisenhafter Entwicklung, Die Mitbestimmung 1983, S. 113 ff., 114.

7.1 Informationsansprüche im Arbeitsrecht

189

mationsverlangens durch den Unternehmer für nicht rechtzeitig oder genügend hält, entscheidet nach § 109 BetrVG die Einigungsstelle, die ihrerseits wiederum Sachverständige anhören kann. 7.1.3.4 Informationsschranken und Geheimhaltung

Spezielle Einschränkungen der geschilderten Kommunikationsbeziehungen zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat ergeben sich aus § 118 BetrVG, der für Tendenzbetriebe eine Reihe von Unterrichtungs-, Beratungs- und Beteiligungsrechte des Betriebsrats ausschließt. § 5 III BetrVG nimmt weiter die leitenden Angestellten aus dem Geltungsbereich des BetrVG aus. Im Bereich der leitenden Angestellten ist der Betriebsrat gemäß § 105 BetrVG lediglich bei personellen Einzelmaßnahmen wie Einstellung oder Veränderung der Beschäftigung zu unterrichten. Zu den Informationsbarrieren wird man auch die Beschränkung der Errichtungsmöglichkeit eines Betriebsrats auf Betriebe mit in der Regel fünf ständig beschäftigten (wahlberechtigten, davon drei wählbaren) Arbeitnehmern nach § 1 BetrVG zählen müssen. Gleiches gilt für die Begrenzung der Errichtungsmöglichkeit eines Wirtschaftsausschusses nach § 106 BetrVG auf Betriebe mit regelmäßig mehr als 100 Arbeitnehmern. Bei der Geheimhaltungsbedürftigkeit findet sich ähnlich wie bei den Informationsrechten zunächst eine recht allgemeine Grundnorm in § 79 BetrVG mit der Pflicht zur Geheimhaltung bei Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen, die aufgabenbereichsspezifisch weiter differenziert bzw. ergänzt wird. Diese allgemeine Geheimhaltungspflicht trifft nicht nur den Betriebsrat und dessen Ersatzmitglieder , sondern § 79 11 BetrVG erweitert den Personenkreis auch auf die Mitglieder oder Ersatzmitglieder des Wirtschaftsausschusses sowie aller anderen betrieblichen Organe der Interessenvertretung der Arbeitnehmer. Weiter besteht diese Geheimhaltungspflicht nach § 79 I 2, 3 BetrVG auch nach dem Ausscheiden des Mitglieds aus dem Betriebsrat fort, während andererseits eine Geheimhaltung innerhalb des Betriebsrats, etwa gegenüber einzelnen Mitgliedern ausdrücklich ausgeschlossen wird. Spezielle Regelungen zur Geheimhaltungspflicht ergeben sich insbesondere bei personellen Einzelmaßnahmen; so in § 99 I 3 BetrVG, der Stillschweigen des Betriebsrats anordnet über ihm im Rahmen dieser Aufgaben bekanntgewordene persönliche Verhältnisse und Angelegenheiten der Arbeitnehmer, die ihrer Bedeutung